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Ebbe und Flut dringen bis Obydos 100 Meilen aufwärts in den
Strom, und umgekehrt will man wahrnehmen, daß noch auf 40
Meilen (doch wohl Seemeilen) Entfernung das Seewasfer von der
Gewalt des Muffes zurückgetrieben wird. Natürlich geht es bei einem
solchen Riesenkampfe der ausströmenden und hineinfließenden Wasser-
massen auch nicht ohne ein grandioses Naturschauspiel ab, das ist die
Flutwelle der Pararoka, die als eine Riesenwand von 10 m Höhe und
donnernd wie ein brausender Wasserfall den Fluß hinaufdringt und
den begegnenden Booten die äußerste Gefahr bringt, so daß man
von dieser Eigenschaft des Flusses seinen Namen Amassonas —
Bootzerstörer herleitet. Bei dem Amazonas muß man schließlich wie
bei allen tropischen Flüssen zwei Daseinsformen unterscheiden, den
zurückgetretenen Fluß, wenn er, ungestört zwischen seinen Ufern fließt,
und den Fluß zur Zeit der Überschwemmung. Dann fluten seine
Wogen weithin durch die Wälder, die Indianer leben auf den Bäumen,
und in einer solchen Regenperiode wird man die Bezeichnung erst
völlig verstehen, wenn man von einem Binnenmeer und dem Süß-
wasserocean Südamerikas sprechen hört. Die Brasilianer haben auch,
scherzweise könnte man ja sagen, weil das Meer frei sein soll,
(mure liberum) — die Schisfahrt auf dem Amazonas allen Nationen
frei gegeben, und die mit den Wimpeln der seefahrenden Völkerschaften
geschmückten Dampfer dehnen ihre Reisen bis an den Fuß der Anden aus.
Ebenso gewaltig und unvergleichbar nützlicher erscheint der zweite
Riesenstrom Amerikas, der Mississippi mit dem Missouri. 67 000 Jahre,
so wird berechnet, soll der gigantische Strom gebraucht haben, um
mit den heruntergeführten Sinkstoffen sein über 3000 sZ Meilen
großes Delta bilden zu können. 80 m ist der Mississippi bei New-
Orleans tief, fast 500 Meilen aufwärts vermitteln Dampfer den
Verkehr, und man schätzt ihre Zahl auf über ein halbes Tausend.
Die mächtigen Baumstämme, die der Fluß an seinen Ufern abreißt,
schwimmen, wenn sie nicht als häßliches Hindernis der Schiffahrt,
als sogenannte snags, sich im Fahrwasser festbohren, hinaus in den
Busen von Mexiko, und von da trägt sie der Golfstrom als heiß er¬
sehntes Treibholz bis an die Küsten Islands und sogar Spitzbergens.
Daß diese Riesenströme auf für europäische Schätzungen so
enorme Strecken hin der Schiffahrt zugänglich sind, unterscheidet sie
aufs vorteilhafteste von den großen Flüssen Afrikas, die, weil sie auf
einem Hochlande fließen, meist nach der Küste hin ihre Wasserfälle
haben. Doch fehlt es auch in Amerika nicht an gewaltigen Stürzen,
wie beim Columbia und beim Bogota in Neu-Granada, wo das
Wasser 170 m hinabfällt; zudem ist ja der majestätischte aller Wasser¬
fälle eine echt amerikanische Berühmtheit, nämlich der Niagara.
Dort brausen in jeder Minute 15 Millionen Kubikfuß Wasser her¬
ab, und den Donner des Sturzes hört man 9 Meilen weit bis