Erdkundliche Aufsätze.
Erdkundliche
JT 266
für dir
oberen Klaffen höherer Lehranstalten
Dr. Rudolf Hanncke,
Professor am Königlichen Gymnasium ;u Köslin.
Mit 12 Abbildungen.
G logan, 1900.
Carl Flemming, Verlag,
Buch- und Kunstdruckerri, R. G.
Georg-Eckert-lnstltut
fur international«
Schulbuchforschung
Braunschweig
-Schulbuchbibtrothek -
Druck von Carl Flemming. Verlag. Buch- und Kunstdruckerei, A. G., Glogam
Vorwort.
JäHit dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert ist unser Vater-
land in eine ganz neue politische Phase eingetreten. Deutschland
will sich seinen Platz an der Sonne erkämpfen und nimmt jetzt teil
an Weltverkehr und überseeischem Besitz. Ja, es ist vielleicht ein
überwundener Standpunkt, das Erdganze wie bisher von einer „anglo-
centrischen Perspektive" zu betrachten, also England die tonangebende
Macht in allem Seeverkehr zu nennen, und allmählich tritt eine ger-
manocentrische Perspektive an ihre Stelle, d. h. Deutschlands Einfluß
auch in Bezug aus die oceanischen Verhältnisse wird mehr und mehr
steigen.
Jedenfalls hat die Erdkunde als Unterrichtszweig den geänderten
Verhältnissen Rechnung zu tragen; die Schüler müssen mit besserem
geographischen Wissen und größerer Klarheit in der Auffassung erd-
kundlicher Übersichten und Vergleiche ins Leben treten, und unter
diesem Gesichtspunkte sind die nachfolgenden Aufsätze geschrieben.1
Mit vollem Bedacht ist die Reihenfolge der Artikel gewählt worden.
Nach einer eingehenden Würdigung der fremden Erdteile folgt Europa,
zuletzt unser Deutschland mit sorgfältiger Hervorhebung seiner mari-
timen Interessen. Dem Schüler soll es zum Bewußtsein gebracht
werden, daß wir in einer fröhlich auswärts strebenden Zeit leben
und daß wir mit Verständnis und frischester Teilnahme an unsere
neuen dankbaren Aufgaben zu treten haben. Unsere Generation hat
vollen Grund, das Ovidische
pi'isca iuvent alios ego me nunc denique natum
gratulor
auch zu ihrem Bekenntnis zu machen.
1 Der Aufsatz Asien ist zum größten Teil bereits in der „Z. f- d. Gyinnasial-
wesen" Bd. LII, die Kapitel Afrika und Australien ebenso in den neuen Jahrbüchern
für Philologie und Pädagogik veröffentlicht worden.
VI
Die Verwertung des Buches denke ich mir als die eines Repe-
titions- und Lesebuches für die oberen Klassen höherer Lehranstalten.
Die geographische Nomenklatur, wie sie in den unteren und mitt-
leren Klassen gelehrt wird, kann ja daneben allerdings nicht entbehrt
werden; aber es ist für den reiferen Schüler eine wahre Erquickung,
bei den Repetitionen nicht einfach das gelernte Pensum wiederholen
zu müssen, sondern angeleitet zu werden, den ganzen Wissensstoff
jetzt nach dem Prinzip des Vergleichs und der Analogie selbstthntig
zu verarbeiten, das Weltganze in dem Getriebe der Wechselbeziehungen
und Übertragungen besser zu verstehen.
Hoffentlich tragen die Aufsätze dazu bei, die Lust und Liebe zu
dem erdkundlichen Wissen in unserer Jugend mehr zu kräftigen.
Der Verlagsanstalt gebührt noch ein besonderer Dank für die
vornehme Ausstattung des Buches.
Köslin, im September 1900.
Rudolf Hannckr.
I nh al t.
Scite
Asien........................................................................... 1
Afrika..........................................................................16
Australien......................................................................30
Amerika.........................................................................41
Europa..........................................................................51
Deutschland.................................................................... 67
Der Sternenhimmel und unser Sonnensystem........................................81
A si e n
msien steht aus einmal im Mittelpunkte der politischen Interessen
für die civilisierten Nationen Europas. Lange Zeit hatte die
Jungfrau Europa dem hinterwärts gelegenen Asien den Rücken zu-
gedreht, und ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den westwärts flu-
tenden Oceau und aus die amerikanische Hemisphäre gerichtet gewesen.
Jetzt ist plötzlich ein bedeutsamer Wandel eingetreten, und die alte
Erdfeste heischt gebieterisch das ihm lange vorenthaltene politische
Interesse wie ein Kapital mitsamt den aufgespeicherten Zinsen zurück.
Wie konnten wir Europäer Asien gegenüber auch nur so un-
dankbar sein. Asien ist ja in der That Europas Mutterland.
Schon in geographisch-physikalischer Hinsicht erscheint Europa
als ein halbinselartiger Annex an das kompakte Erdganze des asia-
tischen Kontinents, als ein unselbständigeres, nicht recht abgegrenztes
Gebilde dem gewaltigen Länderleib Asia gegenüber. •—- Die Men-
schen, die Bewohner Europas, also die Jndogermanen, die Semiten
und die Vertreter der mongolischen Rasse, Türken, Magyaren, Fin-
nen re. sind aus Asien nach Europa eingewandert und haben in
Märchen, Sagen oder bei den jüngsten Ankömmlingen in geschicht-
lichen Erinnerungen Andenken an die asiatische Urheimat mit-
gebracht. — Und nun die kulturellen Einflüsse, die Europa so ganz
abhängig von dem mütterlichen Asien erscheinen lassen! Alles Gute
und alles Schlimme der Erde, hat man gesagt, ist hier entstanden.
Unsere Getreidearten, unser Wein, die Kirsche, die Gewürze haben
in Asien ihren Ursprung, die monotheistischen Religionen des Christen-
tums, Judentums und Islams sind in Asien zuerst der gläubigen
Menschheit offenbart worden, und als die Völkerstämme aufhörten
von dem gewaltigen Kontinent herab über Europa hinzubrausen,
drangen als unheimliche Erbschaft von dem Mutterleibe Asiens her
die Miasmen und Kontagien der verschiedenen Pestseuchen in die
Verkehrsadern der europäischen Länder.
Und schließlich kann Asien auch darum den Löwenanteil des
Interesses beanspruchen, weil es die Hälfte aller Erdbewohner beher-
bergt. Schon Napoleon mit seinem weltumspannenden Ehrgeiz
Hanncke, Erdlundl. Aufsätze.
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brach in den Stoßseufzer aus, Europa erscheine ihm wie ein Mg^il-
wurfshügel, erst Asien sei für ihn eine imposante Ländermasse, dort
gebe es große Reiche!
Wir gehen nun dazu über, die geschichtlich-ethnographischen
Verhältnisse Asiens uns wieder etwas in Erinnerung zu bringen.
Asien zerfällt seiner Bevölkerung nach in zwei deutlich von
einander geschiedene Gruppierungen, eine kleinere südwestliche und
die unverhältnismäßig große und ausgedehnte des Nordostens. Die
erstere weist Völker und Stämme der mittelländisch-kaukasischen Rasse
ans, die zweite die eigentlichen Repräsentanten Asiens, die Mongolen.
Dort am Pamirplateau, am Dache der Welt, treffen sich im letzten
Vorstoß und Anprall Kaukasiertum und Mongolismus.
Bei den Mongolen spricht man von zwei Hauptstämmen. Ein
dritter, der Tschuktische an der Behringsstraße, kann wohl süglicher-
weise seiner Unbedeutendheit wegen übergangen werden. Übrigens
fand Nordenskiöld dort in den Jurten, die der eisige Buran um-
heult, ein fast idyllisches Familienglück und -— die artigsten Kinder
von der Welt. Die beiden Hauptstämme der Mongolen sind
also der uralisch-tatarische und der südliche indochinesische. Von
dem ersteren ragen Ausläufer bis nach Europa hinein, und
zwar die Finnen, Ungarn und Türken. Die Finnen haben nie
geschichtlich eine Rolle gespielt, aber es sind tapfere Soldaten,
und die karelischen Volkslieder zeugen von hoher Begabung dieses
nördlichsten europäischen Kulturvolkes. Desto empfindlicher waren
die Berührungen Europas mit den Magyaren und Türken: das
wilde Treiben des Czikos auf den Pußten der Theiß und alle
die verwegenen Bravourstückchen der Husarenwaffe erinnern an die
einstigen verheerenden Ungarneinfälle des frühen Mittelalters, und
der Nngbärtige, stolz und ruhig in sein Kismet ergebene Muselmann
in Konstantinopel ist der Abkömmling jener furchtbaren Türken, vor
denen im 16. und 17. Jahrhundert die europäische Christenheit unter
stehendem Glockengeläut die Hilfe des höchsten Gottes inbrünstig an-
flehte. Auch die nordmongolischen Kernvölker aus der Gobi haben
vor Zeiten Europa einen Besuch abgestattet. Wer erinnert sich nicht
der Mongolenschlacht auf der Walstatt von Liegnitz 1241 und der
langen Herrschaft der goldenen Horde! Es ist besonders interessant,
bei diesen hochasiatischen Mongolen das Einst und Jetzt vergleichend
nebeneinander zu stellen; wir wollen zunächst mit der Schilderung
der heutigen Mongolen beginnen, wie sie uns in den Reiseberichten
des vorzüglichsten Kenners Jnnerasiens, Prschewalskis, entgegentritt.
Es giebt kein harmloseres und friedlicheres Treiben als das der
Kalchamongolen innerhalb und außerhalb ihrer Filzjurten. Der
Mongole scheut derart die aufregende Bewegung und jede Thätig-
keit, die entfernt nach Arbeit schmeckt, daß er es sogar vorzieht, sich
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gar nicht einmal zu waschen und seinen Leib und seine Kleider von
dem zahlreichen Ungeziefer zu säubern. An dem mistgenährten Feuer
des Herdes wird der Ziegelthee bereitet, und bei den Hauptmahl-
zeiten werden außer diesem Nationalgetränk fast fabelhafte Mengen
Hammelfleisches vertilgt — Prschewalski spricht von fünf Kilogramm
auf eine Mahlzeit. Dabei sind die Mongolen die gläubigsten Bud-
dhisten, und neben dem eifrigen Abhaspeln ihrer Rosenkränze und
Gebetstrommeln kennen sie kein anderes Interesse als die Pflege
ihrer stattlichen Viehherden. Unter der chinesischen Herrschaft ver-
sinken sie mehr und mehr in Feigheit und erleiden überhaupt mo-
ralische Einbuße jeglicher Art. Und doch singen ihre fahrenden
Sänger noch immer von der einstigen Zeit der Mongolenherrlichkeit,
da „vor dem Blicke ihrer Chane die zehntausend Völker der Erde
erstarrten und die Erde erzitterte, wenn sie sich rührten". Der erste
Mongolenchan, von dem die Geschichte erzählt, war Temudschin,
später Dschingischan genannt, der Chan aller Chane. Östlich von
Urga, dem heutigen Sitze des zweiten großen Mongolenpapstes, des
Bogdalama, an den Quellen des Onon wurde Temudschin geboren,
und zu Beginn des 13. Jahrhunderts begann er seine welthistorische
Laufbahn. Auf dem Kuriltai, dem Reichstage, neben der Fahne,
von der vier schwarze Hengstschweife herabhingen, schworen die Mon-
golenhäuptlinge ihm blinden Gehorsam, und nun brauste das Völker-
unwetter hinab in die westlichen Tiefebenen, Dschingischan gab seinen
Kriegern eine furchtbare Lehre. Als bei der Einnahme von Herat
nicht alle Einwohner umgebracht waren, wurde er zornig und äußerte,
Mitleid wohne nur in schwächlichen Gemütern; von Milde und
Barmherzigkeit dürfe und solle niemals die Rede sein. Und so er-
klärt es sich auch, daß später bei der Eroberung von Bagdad
20000 Menschen ihr Leben verloren haben. Zudem bereitete es dem
Nomadenchan eine rechte Herzensfreude, seiner tiefen Verachtung
aller Büchergelehrsamkeit den unzweideutigsten Ausdruck zu geben.
Unter den Hufen der Rosse, auf denen die Mongolen in die Moscheen
ritten, wurden die heiligen Bücher der mohamedanischen Religions-
weisheit zertreten, oder es fraßen gar die hungrigen Gäule, da
zwischen die Blätter der Bücher Hafer geschüttet war, alle die tief-
sinnigen Sprüche vom großen Allah gleichmütig in sich hinein. —
Der zweite große Mongoleneroberer war wenigstens nach dieser
Seite hin eine gemildertere Erscheinung — denn er liebte die
Gelehrten, namentlich die Ärzte und Gesetzeskundigen —, aber
sonst war Tamerlan, der lahme Timur, ein weit entsetzlicherer Mensch
als Temudschin. Leider war sein Ehrgeiz und sein Genie womög-
lich noch bedeutender als bei dem ersten Mongolenchane. So wie
es nur einen Gott gebe, so solle, sagte er, auch nur ein Herrscher
auf Erden sein, und wirklich bei seinem Tode 1405 seufzte und zitterte
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fast ganz Asien unter der neuen Despotenherrschaft. Zu Samarkand
auf dem berühmten grünen Steine, der noch heute zu sehen ist,
stand der Thron des übergewaltigen Mongolenfürsten, und stets
diente ihm ein vornehmer Gefangener als Schemel seiner Füße.
Es war, als ob die Genialität des seltsamen Mannes sich auch als
besonders erfinderisch erwies in der Bestrafung der eroberten Städte.
Ein Massengemetzel unter den unglücklichen Einwohnern hatte auch
Dschingischan veranstalten lassen, aber Timur wußte in die Eintönig-
keit der Blutscenen noch einige entsetzliche Abwechselungen zu bringen.
In Persien wurden auf seinen Befehl die Gefangenen lebendig über-
einander geschichtet, mit Lehm und Kalk verputzt und zu Mauern
und Türmen kunstmäßig als Baumaterial verwertet. Ein andermal
ließ er in einer großen Grube die kugelförmig gefesselten Feinde
nebeneinander legen, dann Bretterlagen darüber befestigen und so
wie bei den Schichten einer Pastete oder Fruchttorte Menschenleiber
und Balkengezimmer in grausigem Gemische abwechseln. Jeder seiner
Krieger mußte eine bestimmte Anzahl Köpfe erschlagener Feinde ab-
liefern, und aus den übereinander gehäuften Schädeln — in Indien
waren es neunzigtausend — wurden Siegespyramiden errichtet, bei
deren Anblick wohl das Blut der Bezwungenen erstarren mochte.
Wenn gegenüber diesen Mongolenstürmen und Eroberungszügen
Europa als der leidende Teil erschien, so hat es auch nicht an An-
griffskriegen gefehlt, die Europa gegen Asien geführt hat. Schon
in den ältesten griechischen Mythen fordert Europa kampfgerüstet
Asien zum Kampfe heraus, und in der troischen Ebene maßen sich
zuerst Europäer und Asiaten in erbittertem Streite. Westasien wurde
dann durch die Feldzüge Alexanders des Großen und die Kreuzzüge
des Mittelalters heimgesucht. Der Einfluß des milderen Klimas,
die Einwirkung einer ästhetisch so bezaubernden und als Augenlust
dienenden Vegetation sänftigte und veredelte, wie Alexander von
Humboldt sagt, die rauheren europäischen Nordländer und hat nach
dieser Hinsicht trotz Kampf und Krieg unsäglichen Segen gestiftet. -
Dann haben die Engländer sich in Asien ein großes Reich gegründet,
und unter den stolzen Titeln der britischen Majestät prangt die wert-
volle Bezeichnung einer Kaiserin von Indien. Neuerdings ist nun
der gefährlichste Bedränger Asiens erstanden, der langsam und sicher
in Asien vordringt —' das ist Rußland. Kaiser Nikolaus pflegte
zu sagen, Rußland habe in Asien keine Grenzen, und in der That
beherrscht ja heute der Zar aller Reußen drei Fünftel des asiatischen
Länderleibes. So lvie die Trancheen gegen die belagerte Festung
mehr und mehr vorrücken uní) dem Angegriffenen Raum und Be-
wegung abgewinnen, so weiß Rußland von seinem kolossalen nord-
asiatischen Länderbesitz her gegen Mittel- und Lmdasien vorsichtig
vorzudringen.
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Man denkt sich den russischen Landbesitz in Asien gewöhnlich
als die unwirtlichsten Gegenden; die Bezeichnung Sibirien wird un-
willkürlich zum Gesamtnamen aller russisch-asiatischen Besitzungen, und
vage Vorstellungen von ungeheurer Kalte, Verbrechertransporten und
weltverlassener Einöde begleiten die Erwähnung russischer Kolonial-
territorien in Asien. Natürlich trifft ja aller Graus der hergebrachten
Traditionen zu auf die echtsibirischen Stationen, wie etwa Beresow
am Ob, wo einst der allgewaltige Menzikosf nach seiner Verbannung
ein elendes Dasein führte und sich nur damit hätte trösten können,
daß gleichgewaltige Günstlinge, wie die Dolgoruki und Ostermann
bald nach ihm ebenfalls als Insassen der Stadt mit den Fischhaut-
fenstern einpassieren würden, — oder die Ansiedlungen in dem höher
gelegenen und rauheren Ostsibirien, wo das Quecksilber eine feste
Masse wird, mit donnerähnlichem Krachen der gefrorene Boden springt
und die Bäume des Urwaldes auseinanderplatzen. Aber man wende
sich einmal zum Amurgebiet, und sofort wird man freundlichere Ein-
drücke empfangen. Wird doch der Amur von neueren Reisenden fast
einstimmig für den malerischten aller Flüsse gehalten. Er hat klares
Wasser, Tausende von Jnselchen, einen sich schlängelnden Lauf mit
pittoresken Ufern, die bald wild und steil absallen, bald in ihrem
Laubmantel fast die gesamte Pflanzenwelt des Erdballs an dem ent-
zückten Blicke des Beschauers vorübergleiten lassen, llnd schließlich ist
die ganze Atmosphäre gesättigt von den intensivsten Wohlgerüchen. —
Eine zweite interessante Region des russischen Asiens ist Transbaikalien
und die Striche nordwärts bis Irkutsk hinauf. Hier windet sich von
Kiachta eine der wichtigsten Handelsstraßen aus China hervor, wo
namentlich früher Thee eingetauscht wurde. Dann kommt man an
den Baikalsee mit seinen schwarzen, fast unergründlichen Wassern, die
merkwürdig genug als einziges Süßwasserbecken Seehunde beherbergen,
und endlich folgt man der mächtigen Strömung der Angara hinab
nach Irkutsk, dem sibirischen Paris mit seinen Gold-, Thee- und
Pelzmillionären. — Will der Russe oder Sibirier hier Anklänge an
das westeuropäische Babel mit seinem Übermaß des Luxus und
raffinierten Vergnügens wiederfinden, so nennt er wiederum andre,
weiter westlich gelegene Striche: das sibirische Italien. Es ist dies
der Distrikt von Semipalatinsk bis zum 400 Quadratmeilen großen
Balkaschsee und dem zu ihm hinabführenden sogenannten Sieben-
stromland der hochasiatischen Gebirgsabhänge. Nordwärts an den
Oberläufen des Jrtisch und Ob beginnt die Bergwerksregion des
Altai, wo an Gold der zehnte Teil der Gesamtausbeute auf der
ganzen Erde gewonnen wird. Vor der Entdeckung der kalifornischen
Goldfelder wurde hier sogar so viel Gold gewaschen als in ganz
Amerika zusammen. Was wollen gegenüber diesem Reichtum unsre
badischen Goldwäschen des Rheinlandes besagen, die so sparsam das
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sagenhafte Rheingold der Nibelungenzeit wieder ans Tageslicht fördern,
oder gar das Gold des Schwarzaflusses, das gerade genügt, um den
Schwarzburgifchen Fürsten die Trauringe zu liefern! Deshalb ziehen
auch die sibirischen Goldsucher, von ihrem Glücke berauscht, im Herbste
nach Tomsk, übrigens der heutigen sibirischen Universität, und zechen
dort wacker in Champagner, der natürlich entsprechend teuer ist und
bis über 7 Rubel die Flasche gelten soll. — Der sibirische Besitz
Rußlands hängt durch die Kirgisensteppe mit dem centralasiatischen
zusammen. Hier in der Steppe kann man noch völlig echtasiatisches
Tierleben beobachten. Wo in Nordasien die Renntierherden am Milz-
brand auszusterben anfangen, ähnlich wie ja auch in Nordamerika
die Büffel jetzt verschwunden find, gewährt es hier ein recht typisches
Bild, wenn der russische Kurier in seinem Gefährte dahinfliegt und
der kirgisische Kutscher die vierelang gespannten Kamele zur größten
Eile anspornt. Man nennt die Kirgisen die Franzosen Westasiens,
und unermüdlich ertönt ihre plappernde Unterhaltung in den zerstreut
stehenden Jurten oder Kibitken. —- Und nun sind die Russen erobernd
in das alte Baktrien vorgedrungen. Da, wo einst die Nordgrenze
auf dem Feldzuge Alexanders des Großen war, wo er am Jaxartes
sein Alexandria eschate gründete, haben die Russen schon längst die
Grenze passiert und treten von diesem nördlichen Eingangsthore her-
ein in die terra eo^nita der Alten. Jaxartes und Oxus, die heutigen
Syr und Amu, sind zu russischen Flüssen geworden, in Taschkent
residiert der Gouverneur des russischen Turkestan, und Chiwa, Mcrw
und Samarkand sind russische Militärstationen geworden. Wo hätten
sich das die persischen Dichter träumen lassen, die Samarkand, die
Stadt des gewaltigen Timur, mit ihren Kuppeln und Moscheen, mit
ihren lachenden Gärten und ihrer herrlichen Umgebung „das Schatz-
kästlein der ganzen Erde" nannten, daß einst dieser Wunderort des
Orients ein gehorsames Landstädtchen des weißen Zaren sein sollte.
Und das entschieden zum Vorteil der ganzen Landschaft, denn die
Reisenden sind froh, mitten unter dem Schmutz und Verfall der frü-
heren Herrlichkeit auf die Spuren europäischer Civilisation zu stoßen.
Von Samarkand und dem Thale des Amudarja aus steigt Asiens
Boden zu seinen berühmten centralen Erhebungen. Dort, wo die
gewaltigen Hochländer von Hinterasien und Vorderasien etwa um den
73. Längengrad zusammenstoßen, finden sich riesenhafte Ausrichtungen
der Erdoberfläche, Bergzüge, Plateaus1 und unweit davon der zweit-
größte Gipfel der Erde, der Dapsang in der Karakorumkette mit
8619 Meter Höhe, also fast doppelt so hoch als Europas höchster
Berg, der Montblanc. Die dominierende Stellung innerhalb dieser
auseinander stoßenden Erhebungen hat das Pamirplateau inne, das
S. Anhang 1.
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deshalb auch den Ehrentitel trägt: Dach der Erde. Und hier an
dieser interessantesten physikalisch-geographischen Stelle unseres Erd-
planeten bereiten sich auch politische Ereignisse von entschieden welt-
historischer Wichtigkeit vor. So wie etwa im lO. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung Unteritalien den Tummelplatz und das Konfliktgebiet für
die drei damaligen Weltmächte abgab, die Deutschen, die Griechen und
die Araber, so haben sich hier auf dem Pamirplateau, zunächst aller-
dings mit Protesten und völkerrechtlichen Streitpunkten, gegenüber-
gestanden die drei Weltmächte Asiens: die Russen, Chinesen und
Engländer. Wenn der alte lateinische Spruch des Seipio noch gilt,
«plus animi est inferenti quam propulsanti periculum», so hat Ruß-
land den Vorteil der größeren Kampfesfreudigkeit und wohl auch des
Erfolges für sich. Denn planmäßig und ununterbrochen ist die russische
Eroberung vorgedrungen, den Russen fällt die Rolle des siegreichen
Angreifers zu, China und England müssen sich verteidigen, natürlich
mit verschiedener Widerstandsfähigkeit. — In der letzten Zeit hat
Rußland viel für die strategischen Sicherungen eines späteren An-
griffskrieges gethan. Das Wichtigste ist natürlich der Bau einer
Eisenbahn. Wenn wir die ganze Richtungslinie derselben verstehen
wollen, so müssen wir schon einige westlichere Anschlußlinien auf-
zählen. Demnach haben die Russen zunächst von Tiflis im Siiden
des Kaukasus, der Stadt des Mirza Schaffy, eine Bahn gebaut nach
Baku am Kaspischen Meere. Es ist das die heilige Stätte der alten
Parsen oder Feueranbeter, wo die Naphthaquellen ihre flammenden
Gase aus der Erde auflohen lassen und wo ringsherum Tempel zur
Verehrung dieses Naturwunders einladen. Von Baku fahren Dampf-
schiffe quer über den Kaspischen See nach Michailowsk im Turkmenen-
lande, und dann beginnt jene merkwürdige Bahn im Wüstensande,
deren beschwerlicher Bau wohl seines Gleichen gesucht haben mag.
Dicht am persischen Gebiete entlang — und Grenzstreitigkeiten und
Reibungen sind auch da schon vorgekommen — führt die Bahn nach
der Oase Merw, dann wendet sie sich etwas nordwärts, überschreitet
den Amu oder alten Oxus und mündet in Buchara und Samarkand.
Von Merw ist es leicht, einen Vorstoß gegen Afghanistan zu machen,
und von hier wird dann zum letzten Schlage gegen Indien ausgeholt.
Den Amudarja befahren jetzt regelmäßig russische Dampfschiffe, und
bis an die afghanische Grenze sind kreuzende russische Kriegsschiffe vor-
geschoben. Da liegt in unmittelbarster Nähe Batch, das alte Bactra,
und von Balch nach Kabul zum berühmten Eingangspasse Indiens, durch
den schon Alexander der Große zog, rechnet man nur zehn Tagemärsche.
Rußland hat sich den Grundsatz des alten Macedonierkönigs
Philipp angeeignet, in seinem großen Eroberungswerke sich mehrere
stellen zum Angriffe zugleich offen zu halten und die Gegner, wenn
man an der einen Seite Einbuße erleidet, schnell wieder auf der
andern mit mehr Glück zu beschäftigen. Ein ernster Vorstoß gegen
England am Pamirplateau wird wohl noch etwas auf sich warten
lassen, denn England ist ein gefürchteter Gegner, und die europäischen
Begleiterscheinungen eines Krieges in Indien wären für Rußland
doch recht unbequem. Darum rüstet sich vielleicht Rußland, an einer
ganz anderen Stelle einen Angriff vorzubereiten. — Das ist in Ost-
asien im Amurgebiet gegen das altersmorsche Reich der Chinesen.
Wenn dieser Zweck ins Auge gefaßt werden sollte, so galt es
vor allem, in dem kolossalen Sibirien mit seiner breitgelagerten Aus-
dehnung von Ost nach West den Schnellverkehr und die Schnell-
beförderung zu ermöglichen. An der europäisch-asiatischen Grenze
gab es bisher nur eine kurze Eisenbahnstraße von Jekaterinenburg
nach Tjumen. Von hier begann der große sibirische Trakt, das ist
die nach dem Osten führende Karawanen- und Heeresstraße über
Jschim, Omsk, Tomsk nach Irkutsk. Dort gabelt sich der Weg und
geht entweder nördlich nach Jakutsk und Ostsibirien oder südlich nach
Kiachta und weiter östlich in das Amurgebiet und mündet in
Wladiwostok am Japanischen Meere. Für den Handel hatte die
kleine Eisenbahnstrecke eine große Bedeutung, die sibirischen Ausfuhr-
erzeugnisse waren aus Wagen oder mit Benutzung der großen Ströme
aus Barschen herangeschafst worden, und in Jrbit an der europäischen
Grenze fand aus der berühmten Messe jährlich der europäisch-sibirische
Tauschhandel statt. Der Umsatz belief sich wohl aus 50 Millionen
Rubel. Und was könnte bei besseren Verkehrswegen und Wetter-
führung der Bahn allein das sibirische Getreide für eine Rolle spielen,
da in Westsibirien 4 Millionen Hektar unter dem Pfluge sind und
reichlich die Bearbeitung lohnen. Neuerdings ist übrigens auch ein
anderes Projekt ausgetaucht, um dem reichen Ertrage an sibirischem
Getreide ein Absatzgebiet in den überseeischen Handelshäfen zu sichern.
Man hat dabei die schöne Wasserstraße des Ob ins Auge gefaßt, die
im Sommer eisfrei und für Dampfschiffe befahrbar ist. Jrtisch und
Ob in seinem oberen Lause reichen bis in die gctreidereichen Striche,
und die befrachteten Lastschiffe können in zehn Tagen das Getreide
bis Obdorsk hinabbringen. Um nun den Weitertransport um die
ausgedehnte Samojedenhalbinsel mit ihrer selten eisfreien Passage zu
vermeiden, will man von Obdorsk über die letzten fast flachen Aus-
läufer des Ural eine kurze Eisenbahn an das russische eisfreie Waigatsch-
meer bauen. Der Transport des Getreides aus dieser Bahn würde
zwei Tage dauern, und in spätestens 14 Tagen könnte dann nach
entsprechender Seefahrt das Getreide auf dem Londoner Markte ver-
kauft werden, so daß. der ganze Transport etwa von Barnaul bis
London 26 Tage beanspruchte. Man sieht, der Weltverkehr will
immer riesigere Dimensionen annehmen.
Wir kommen nun zu dem eigentlichen Riesenunternehmen, das
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dazu dienen soll, Sibirien in seiner ganzen Richtung von Ost nach
West zu erschließen und eine rasche Truppenvorschiebung bis an die
Küste des stillen Oceans zu ermöglichen, — das ist der Bau der
sogenannten sibirischen Eisenbahn, die in Wladiwostok am Japanischen
Meere und auch in Port Arthur am Golf von Petschili münden
wird. Hier sind ja schon langst die Vorarbeiten in Angriff genommen,
und Sträflinge schaffen im Schweiße ihres Angesichts an dieser eminent
civilisatorischen und zugleich strategisch wichtigen Bauarbeit. Hoffentlich
wird das Riesenwerk, das in seiner Kühnheit und in der kolossalen
Schwierigkeit der Herstellung wohl den Durchstichen der Suez- und
Panama-Landengen, den Tunnelbauten der Alpen und den gewaltigen
Eisenbrücken, die in Amerika und England über breite Meeresarme
führen, an die Seite gesetzt werden kann, langsam aber sicher seiner
Vollendung entgegengehen. Bereits werden Schnellzüge von Peters-
burg bis Tomsk, der sibirischen Universität, abgelassen. Sie fahren
ununterbrochen sechs Tage und sechs Nächte und sollen an Luxus
und Komfort noch die amerikanischen Expreßzüge überflügeln. Jen-
seits des Tom beginnt Urwald von Cedern oder Espen, und die
Ingenieure haben die Arbeit des Vermessens in dieser fürchterlichen
Gegend als eine Höllenqual geschildert. Man sinkt Schritt für Schritt
in dem Espendickicht in den Sumpf ein, und Myriaden von Insekten
verfolgen die kühnen Pioniere.
Wird die große sibirische Eisenbahn fertig, so umklammert das
eiserne Band der Schienen zuletzt unmittelbar das große chinesische
Weltreich, und wir müssen uns also weiterhin mit der Bedeutung
und Würdigung des Chinesenreiches beschäftigen.
Der größte jetzt lebende Sinologe, von Richthosen, gesteht ein,
daß China ein sehr wenig bekanntes Land sei und abschließende
Urteile sich kaum werden abgeben lassen. Dies gilt allerdings nur
für die eigentlichen Bewohner des Reiches der Mitte. Denn die
Chinesen besitzen einen regen Auswanderungstrieb — man hat sie
darum mit den Normannen des Mittelalters verglichen —, und die
Eigenart der chinesischen Kulis kann man in San Francisco, Australien
und in der ganzen Südsee genugsam studieren. Sie sind ja dort so
verbreitet, daß man bereits den stillen Ocean als chinesisches Meer
bezeichnen will. — Die Russen haben als Nachbargebiet zunächst die
Mandschurei mit Mulden, der ehemaligen Hauptstadt der Mandschu-
dynastie und jetzt der Totenstadt der Kaiser, in welcher jeder neue
Beherrscher die Annalen seines Vorgängers niederlegt. Dann beginnt
vom Busen von Petschili ab das eigentliche China mit seinem ganz
beispiellosen Volksgewimmel. Das Mündungsland der Flüsse Hoangho
und Jantsee —- letzterer der Gürtel Chinas und der eigentlich heilige
Strom der Chinesen —, also die Provinz Kiangsu, hat einen Flächen-
raum nur viermal so groß wie Pommern, und doch wohnen dort
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37mal soviel Einwohner, nämlich etwa 55 Millionen. Man kann
sich denken, wie eifersüchtig man in diesem Gebiete auf die Ausnützung
des Raumes ist. Die ganze Gegend ist wie ein Garten, aber freilich
baumlos und bar aller Zier. Die Menschen benutzen Kanäle als
Verkehrsstraße und wohnen womöglich aus dem Wasser, um der Er-
tragsfähigkeit des Bodens nicht Abbruch zu thun. Und wie ist nun
die Sorge für den Ackerbau auf die Spitze getrieben! Schon Schiller
rühmt es ja, daß hier „der Pflug des höchsten Kaisers Hand ziere",
und wie in Venedig sich der Doge auf dem Bucentauro mit dem
Meere vermählte, so verrichtet hier der Kaiser symbolisch die Handlung,
die dem Lande am meisten frommt. Nirgend ist natürlich auch so eine
raffinierte Verwertung, ja man könnte sagen eine solche Jagd auf
Dungstoffe gebräuchlich wie hier in China, wo in der Aufsaugung
tierischer und menschlicher Exkremente eine ebenso lächerliche wie ekel-
erregende Beflissenheit an den Tag gelegt wird. Überall verpesten diese
sorgfältig angelegten Reservoirs der Fäkalien die Luft, und so erklärt
es sich auch, daß z. B. Shanghai, bei dem nun noch die niedrige
Lage in dem Alluvialboden dazu kommt, mit voller Wahrheit „das
Grab der Europäer" genannt ist.
Natürlich dreht sich hier aller Ackerbau um die Neiskultur,
Chinesen und Japaner gehören zu jenem großen Bruchteil der
Menschheit — es ist fast die Hälfte —, der sich von Reis nährt.
Und wie gefährlich ist es nun, wenn hier eine Mißernte eintritt!
Wir in Deutschland haben seit der Einführung des Kartoffelbaus im
18. Jahrhundert doch immer die zwiefache Grundlage der Volks-
ernährung durch Roggen und Kartoffeln, eine völlige Hungersnot ist
darum bei uns erheblich unmöglicher geworden; aber in China bringt
der Mißwachs des Reis sofort die ungeheuerlichsten Zustände des Elends
und der Verzweiflung zu Wege. Alle die Schreckensschilderungen, wie
wir sie aus dem Simplicissimus und den Chroniken des 30jährigen
Krieges kennen, werden dann wieder lebendig. Die Menschen nähren
sich von Baumrinde, ihre Haut wird schwarz und runzelig, und man
hört hie und da, daß Eltern ihre Kinder lebend verbrennen, um sie
dem Hungertode zu entreißen. Überhaupt tritt hier bei der mon-
golischen Rasse eine viel größere Fühllosigkeit zu Tage. Das Ans-
setzen der Kinder, die dann von den Missionen aufgelesen und gerettet
werden, ist ein scheußlicher Brauch in China. Bekundet so der
Chinese Stumpfsinn den eigenen Angehörigen gegenüber, so muß
man auch anerkennen, daß er persönlich in der Ertragung von
Schmerzen das denkbar Möglichste leistet. it Es ist staunenswert, was
für entsetzliche Operationen Vonseiten der Ärzte die Chinesen geduldig
über sich ergehen lassen. Darin prägen sich eben die Rassenunter-
schiede von dem Europäertum ganz auffällig aus.
Diese Fühllosigkeit bringt es mit sich, daß die juristischen Exeku-
11
ttonen noch heutzutage mit ganz beispiellos barbarischer Grausamkeit
sich abspielen und in den Martern der Hingerichteten an die klassischen
Folterprozeduren eines Atilius Regulus erinnern, und daß bei den
Empörungskriegen im Lande Menschenopfer gefordert werden, die
für unsere europäischen Begriffe etwas Schwindelerregendes haben.
So sollen bei der letzten Taipingrevolution vom Jahre 1850
dreißig Millionen Menschen umgekommen sein, und von Richthofen,
der 1868 nach China kam, überzeugte sich, als er die verwüsteten
und entvölkerten Länderstriche sah, daß diese Zahl nicht zu hoch ge-
griffen sei. Auch hier konnten wohl einem Napoleon, in dessen
Kriegen doch nur drei Millionen Soldaten ihr Leben eingebüßt hatten,
die asiatischen Verhältnisse etwas Sympathisches und für fein Ge-
wissen Beruhigendes haben. Wir müssen sodann noch zwei Stammes-
eigentümlichkeiten der Chinesen berühren, das ist ihr Schmutz und
der Bienenfleiß ihrer Gelehrsamkeit.
In San Francisco und in Australien spricht man ja schlecht-
hin von einer Chinesenpest und meint damit das zähe Vordringen
der unheimlichen bezopften Mongolen in den großen Verkehrcentren.
Etwas Pestartiges hat dieses Vordringen, weil da, wo Chinesen in
größerer Masse Hausen, die Europäer wegen der kolossalen Unreinlich-
keit der Söhne des Reiches der Mitte einfach flüchten müssen. So
werden z. B. in dem schönen gesunden San Francisco stattliche
Straßen nach und nach bei der zunehmenden massenhaften Einwan-
derung der Chinesen den Europäern entrissen und chinesiert. Schon
an und für sich hat der Chinese einen süßlichen, moschusartigen
Geruch, der ähnlich wie die Ausdünstung der Neger für europäische
Nasen fatal wird. Nun Heizen die Chinesen in ihrer Heimat nicht,
sondern ziehen es im Winter vor, durch mehrfache Umhüllungen
ihrer wattierten Kleidung dem Körper die nötige Wärme zu erhalten.
Die Kleider werden aber nicht weiter gewechselt, Reinigungsbäder
kennt man auch nicht, was Wunder also, daß unter 20 Chinesen
sicher 12 —14 hautkrank sind und daß dem Umsichgreifen dieser
ekelhaften Ausschläge das Rasieren in den unsäglich schmutzigen
Barbierstuben noch allen denkbaren Vorschub leistet.
Ein Grundzug des Chinesentums ist, wie ich schon sagte, der
Trieb zur Bildung und Gelehrsamkeit. Lesen und Schreiben ist
allen Chinesen geläufig, und mit Ehrgeiz drängt sich der begabtere
Teil zu den Ämtern der Staatsverwaltung, die aber nur den Ge-
lehrten offen gehalten werden. Diesen Grad der Gelehrsamkeit
müssen die Chinesen durch Prüfungen Nachweisen, und so ist mit
Recht China als Land der Prüfungen und Examina bezeichnet
worden. _ Die letzte Prüfung findet unter Vorsitz des Kaisers in
Peking statt, und unter den 5 — 6000 Angemeldeten erhalten nur
die 270 besten Prüflinge das Zeugnis als Staatsperson und damit
12
den Zugang zur irdischen Glückseligkeit. Man will ja den Grund
zu manchen Christenversolgungen darin suchen, das; aus den Reihen
dieses gelehrten Proletariats sich der Haß gegen alle Fremden,
denen eine Wettbewerbung um die einflußreichen Stellen zugetraut
wird, auf das furchtbarste entladen hat.
Aus diesem Stolze auf die nationale Bildung und im Bewußtsein
einer uralten Kultur entwickelt sich nun bei den Chinesen ein äußerst
starkes Selbstgefühl, das sich namentlich auch ablehnend gegen die
Mission des Christentums verhält. Der Wilde Afrikas kommt der
höheren Kultur und Glaubenstiefe des Christentums empfänglich ent-
gegen, der stolze, in sich kulturfertige Ostasiat zeigt sich leider sehr
spröde gegen die Bekehrung.
Jedenfalls bleibt der Russe Chinas gefährlichster Gegner, weil
er eben am Amur unmittelbarer Nachbar ist und auf dem Landwege
jederzeit große Truppenmassen vorschieben kann. Und wiederum die
europäische Macht, die von einem siegreichen Vordringen des Russen-
tums ebenso hier wie an der Grenze Indiens am meisten zu fürchten
hat, ist die britische, die seit längerer Zeit sich die großen Vorteile
der Handelsbeziehung und kommerziellen Beeinflussung Chinas fast
ausschließlich zu wahren gewußt hat. Fast die Hälfte des chinesischen
Außenhandels ist in Hongkong festgelegt. — Einen wirksamen
Bundesgenossen sucht sich England in dem mächtig aufstrebenden
Jnselreich der Japaner zu gewinnen, das in dem jüngsten Kriege
mit China gezeigt hat, wie energisch das begabte Volk sich
die europäischen Kulturgaben nutzbar zu machen verstand. Die
Halbinsel Korea bildet zunächst noch in vielfacher Hinsicht sozu-
sagen das Stoßkissen zwischen russischem und japanisch-englischem
Einfluß.
Und nun hat sich in unseren Tagen neben der russisch-slavischen
Pfiffigkeit und Findigkeit und der egoistischen Habgier des Eng-
länders hier in Nordchina noch als dritter Bewerber um Einfluß
und Handelsvorteil die solide Gründlichkeit des Deutschen ein-
gefunden, der sich in Kiautschou auf der Halbinsel Schantung fest-
gesetzt hat. Deutschland wollte zunächst nur eine Eingangspforte für
seine Handelsbeziehungen haben und hoffte in Schantung, das ja vor
Shanghai und Hongkong die Gunst des Klimas voraus hat, durch
Eisenbahn und Kohlenbergbau solide Grundlagen für die Lebens-
fähigkeit der neuesten deutschen Kolonie zu finden.
Da ereigneten sich die Schreckensthaten vom Juni 1900,
und Deutschland, das bis dahin den näher beteiligten Nationen
den Vortritt überlassen hatte, übernahm jetzt, um den frevelhaften
Mord seines Gesandten zu rächen, auf einmal die Führung in dem
wuchtigen Kampfe gegen das im Zustande der völligen Anarchie
befindliche chinesische Reich. Somit stehen wir am Vorabend großer
13
Ereignisse, und wer will sich vermessen, die Zukunft vorauszusagen.
Sollte es Deutschland zufallen, sich in Asien gleich den Engländern
etwa ein Indien zu erkämpfen, oder sich doch wenigstens mit aller
Energie „einen Platz in der Sonne zu verschaffen"? China ergeht
es wie den Südsee-Jnsulanern, was Beurteilung und Wertschätzung
anbetrifft. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte
man nicht genug thun im Lobe ihrer einfach patriarchalischen Sitten,
und seit Voltaire galt China als ein Land der Gerechtigkeit, der
Gelehrsamkeit und friedlichen Kultur, an dem sich die europäischen
Nationen immer von neuem ein Muster nehmen sollten. Heutzutage
kann man sozusagen die Kehrseite der Medaille betrachten, und die
„gelben Teufel" nennt man nur mit Abscheu. Während aber die
Südsee-Jnsulaner, von deren enthusiastischer Bewunderung man längst
zurückgekommen ist, meist absterbende Generationen sind, hat man es
in China mit einer Nation von 400 Millionen zu thun, und wir
können im Zweifel sein, ob sich die Chinesen in ihrem Schiking1 in
melancholischer Resignation ein richtiges Prognostikon gestellt haben:
Wir bau'n mit glänzenden Altanen
Gedächtnistempel unfern Ahnen;
Wir bau'n mit Kunst an jeder Wissenschaft,
Die uns're Weisen einst gegründet,
lind wo sie uns ein Licht der Einsicht angezündet,
Das hüten wir gewissenhaft.
Es blieb von unsrer Geisteskraft
Nichts Feinstes unerspäht, nichts Tiefstes unergründet;
Doch Untergang ist uns verkündet,
Denn unserm Wesen fehlt's am innern Haft.
Der Hase mag wohl zierlich hüpfen,
Dem Hunde wird er nicht entschlüpfen!
Auf dem Wege des Verkehrs und Handels hat sich Deutschland
noch an einer anderen Stelle Asiens vorgeschoben, loas wir schließ-
lich doch nicht unerwähnt lassen wollen. Wir meinen die anatolische
Bahn in Kleinasien, die neuerdings die Konzession zur Erweiterung
des Eisenbahnbaus bis Bagdad und zum persischen Golf erhalten
hat. Die Türken sind jetzt die Freunde Deutschlands, und man be-
zeichnet die Türken Kleinasiens, in denen sich das Osmanentum am
unverfälschtesten erhalten hat, geradezu als „Deutsche des Orients".
Hier in Kleinasien ist nun die von deutschem Kapital gegründete
und von deutschen Ingenieuren gebaute anatolische Bahn schon seit
einigen Jahren im Betrieb und trägt deutsche und abendländische
Kultur in die weltfremden Dorfschaften des kleinasiatischen Hochlandes.
Wiesehr hatte doch die „Mutter der Welt", 2 wie die Türken ihr * 2
' Bon Rückert übersetzt.
2 umma ed dünja.
14
Konstantinopel nannten, ihre Mission, die Fackel des Lichts und
der Kultur ihren Kindern zuzutragen, träge versäumt; erst die
Deutschen haben sich dieser dankbaren Ausgabe unterzogen und sind
mit so großem Segen hier vorgedrungen, daß man schon davon
sprechen will, Kleinasien wäre das geeignetste Land für deutsche
Kolonisation. In Haidar Pascha bei Scutari, wo demnächst große
Quaibauten den Schiffsverkehr erleichtern und den Import und Export
der Waren steigern sollen, beginnt die Bahn. Den Berg am User
haben die Türken Bismarckberg getauft, und das soll der deutsche
Reisende und Kulturpionier als gutes Omen ansehen. Bis jetzt war
Kleinasien — wenigstens soweit die Spurweite der anatolischen
Bahn geht — als Waren erzeugendes und ausführendes Land nur
in geringem Maße vertreten; am gesuchtesten waren noch der Meer-
schaum aus den Gruben von Eskischehr und die Mohairwolle der
Angoraschafe; daneben spielten die Seide des Karasuthales, das
Opium in Afium und die Fayencen der Kunsttöpfer nur eine unter-
geordnete Rolle. Wie ganz anders wird sich aber das Land ent-
wickeln, wenn die Osmanen auf die Musterwirtschaften der Deutschen
längs des Bahnkörpers achten lernen und vor allen Dingen einen
intensiveren Landbau einführen und so einen reichlicheren Getreide-
export erzielen. Ein Uebelstand würde ja allerdings zunächst immer
bleiben, das ist der Mangel an genügendem Brennmaterial und
Waldesschatten. Die indolente türkische Wirtschaft hat die Wald-
bestünde schonungslos vernichtet, die Ziegen haben den aufkeimenden
Sprößlingen und Baumtrieben bald den Garaus gemacht, und so
braucht der kleinasiatische Türke wie der Mongole in Hinterasien den
Mist als willkommenes Heizungsmaterial.
Abgesehen von der merkantilen Bedeutung, die sich je länger
je mehr für die anatolische Bahn ergiebt, flößt das Land, das dieser
neue Bahnbau durchzieht, dem Europäer ein eminent historisches
Interesse ein. Schon auf der Strecke nach Jsmid begegnen wir
Stätten, wo Kaiser Konstantin der Große gestorben ist und wo die
Reste des großen Hannibal bestattet sein sollen. Der letztere hatte ja
schließlich seine Zuflucht bei dem Könige Prusias von Bithynien
genommen und schied mit den stolzen Worten aus dem Leben: „Er
wolle die Römer vor der Furcht vor einem alten Manne befreien."
Konstantin wiederum, der über 500 Jahre später lebte, hat das
Christentum in dem Römerreiche zur Staatsreligion erhoben und so
diesem zum weltüberwindenden Siege verholfen. In Jsmid erkennen
wir das alte Nikomedien wieder, und hier weisen imposante Spuren
aus einen zweiten römischen Kaiser, den verdienten Diokletian, der
allerdings sich den Christen furchtbar gemacht hat durch die letzte
und grausamste aller Christenverfolgungen. — Westlich vom Salaria,
dem alten Sangarius, in dessen Thal die Bahn verläuft, liegen die
15
Ruinen Nicäas, und mit den Erinnerungen an diese Stätte treten
wir in die Geschichte des christtichen Mittelalters, namentlich des
Kreuzzugszeitalters. In Nicäa war 325 das ökumenische Konzil,
das sich endgültig für die Homousie, also die Gottgleichheit Christi
entschied, und hier fand später die denkwürdige Belagerung während
des ersten Kreuzzuges statt, bei der 500000 Menschen in der Ebene
gelagert haben sollen. Bald ersteigt dann die Bahn das Hochland,
und dies ist die Stätte namenloser Leiden für unsere deutschen
Kreuzfahrer gewesen, die sich in stetem Kampfe mit den seldschukifchen
Reiterscharen elend durch die wüsten Striche vorwärts zu bewegen
suchten. Von Doryläon an, der alten phrygischen Stadt, gabelt
sich die Bahn; der eine Strang geht nach Iconium, der andere
nach Angora. Konia (Iconium des Mittelalters) ist berühmt durch
die Heldenthaten des alten Barbarossa; gleichzeitig belebt die zierliche
Ornamentik der Fayencekacheln die Ruinen der Paläste und Moscheen,
die hier die Seldschukensultane in ihrer mittelalterlichen Residenz
aufgerichtet hatten. Noch interessanter ist das Stadtbild Angoras,
wo vorläufig der andere Arm der deutschen Eisenbahn sein Ende
findet. Angora liegt in dem alten Galaterlande, das wir aus den
Zeiten Cäsars und Ciceros kennen und das auch in der Missions-
thätigkeit des Apostels Paulus seine Rolle gespielt hat. Ebenfalls
finden wir hier in den Ruinen des Augustustempels das merk-
würdige monumentum Ancyranum, eine der interessantesten Urkunden
des kaiserlichen Roms, das uns in selbstgefälligem Berichte die
Thaten des Augustus erzählt.
Von hier aus nun soll die neuerdings konzessionierte Bahn
ihre Trace verfolgen bis Bagdad und zum persischen Meerbusen und
so den Schätzen Indiens einen neuen bequemen Weg ins Herz
Europas hinein ermöglichen. Der „Landdampfer" Karawapor, wie
der Türke die Lokomotive nennt, trägt dann die modernste Kultur
in das alte Mesopotamien, von dem ja alle Kultur der Welt ihren
Ursprung genommen hat. Die Thontäfelchen der sogenannten
Bibliothek Asurbanipals versetzen uns in ihren litterärischen Denk-
mälern zurück in ferne Zeiten, und die sumerisch -akkadischen Bau-
denkmäler bezeugen uns das Dasein von Staaten in Südbabylonien
schon um die Mitte des fünften Jahrtausends v. Chr. Jetzt kehrt
also unsere modernste Kultur zurück zu jenen Urzeiten der Civilisation,
und es geht uns mit dieser neuesten Thatsache des Kulturfortschritts
wie mit jenem mystischen Symbol, wo die Schlange sich in den
Schwanz beißt.
Afri It ñ
14|lürbe Ulrich von Hutten noch einmal auf die Erde zurückkehren
und den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erleben, so
könnte er mit vollster Überzeugung seinen Ruf wiederholen: „O Jahr-
hundert, es ist eine Lust, in dir zu leben!" Denn ebenso wie beim
Anfang des sechzehnten Säkulums macht sich der Anbruch eines
neuen Kulturzeitalters mit bedeutend erweitertem Horizonte in un-
seren Tagen geltend. Wir entdecken zwar nicht neue Erdteile und
Seewege wie ein Kolumbus und Vasco de Gama, aber es haben
die geographisch-merkantilen Riesenprojekte unserer Zeit und die
Voraussicht ihrer zukünftigen Wirkung entschieden etwas Analoges
mit den geographischen Thaten Europas um das Jahr 1500. Schon
naht sich der Riesenbau der sibirischen Eisenbahn seiner Vollendung,
Nordamerika ist von Schienensträngen durchquert, und ihnen ganz
ebenbürtig oder vielleicht noch staunenswerter beschäftigt ein neues
kolossales Eisenbahnprojekt die Aufmerksamkeit Europas, nämlich die
Kap-Kairobahn zur Durchmessung des gesamten Afrikas von Nord
nach Süd. Ähnlich wie die angeblichen Kanäle des Mars durch-
schneiden die Schienen dieser Riefenbahnen ganze Kontinente, und
wenn diese Bauten vollendet sind, wird die moderne Menschheit auf
die bautechnischen Großthaten des Altertums mit ihrer mühsamen
Zusammenfügung von Steinmassen wie auf die Arbeiten von Pyg-
mäengeschlechtern stolz herabsehen können. Das, was dem neuen
Eisenbahnprojekte noch das besonders Interessante verschafft, ist die
Richtung der Baulinie. Zum ersten Male ist ein solches Riesenprojekt
geplant in der Richtung des Längengrades, durch 70 Breitengrade
hindurch und quer über den Äquator. Wer sich in Kairo auf die
Bahn setzt, sieht nachts am Sternenhimmel den Großen Bären fun-
keln, und wenn er endlich in der Kapstadt an langt, strahlt ihm das
Kreuz des Südens in mächtigem Glanze entgegen. Desgleichen
kann er die schon von Herodot bei Erwähnung der Umschiffung
Afrikas durch die Phönicier ausgesprochene Verwunderung teilen,
daß während der Reise die Sonne ihre gewohnte Bahn zu verlassen
scheint; in Nordafrika beschrieb sie südlich ihren Tagesbogen, in Süd-
17
afrika dagegen nördlich. Überhaupt kommt der Reisende in Afrika
aus den Rätseln und der Verwunderung gar nicht heraus. Flüsse,
Temperatur, Regenzeit, Flora und Fauna bieten so viel Staunens-
wertes und Unerklärliches, daß noch heute der Zuruf der alten
Römer gelten kann: Quid novi ex Africa? Der ganze Erdteil
macht den Eindruck des Ungeschlachten, wozu auch hauptsächlich die
geringe Zugänglichkeit der Küste beiträgt. Schon Sallust spricht von
dem „ungestümen, hafenlosen" Meer um Afrika herum, an der West-
seite der Sahara treibt der Passat den Flugsand in das Meer, so
daß man hier wie bei dem dänischen Stagen von einem Grab der
Schisser sprechen möchte; an der Küste von Guinea tobt eine un-
bändige Brandung, und das Rote Meer ist westwärts eingesäumt
durch gefährliche Korallenriffe. — Die Flüsse haben ferner meist die
fatale Eigentümlichkeit der Wasserfälle und Stromschnellen, und
größtenteils stellen sich die Fälle nahe der Flußmündung ein; denn
Afrika erscheint mit seinem Hochlandspanzer wie eine riesige Schild-
kröte; vom Hochlande herab ergießt sich der Strom in Fällen zum
Rande und ist also für die Schiffahrt unbrauchbar geworden. Zu-
dem war man bis vor kurzem über Ursprung und Kauf der Flüsse
völlig im Unklaren. Nicht allein der Nil erschien als sphinxartig,
so daß das Oapnt Nili quaerere geradezu die Bedeutung bekam, sich
den Kopf mit unergründlichen Dingen zermartern, sondern auch der
Niger galt als der „Fluß der Rätsel". Der Gegensatz der trockenen
und der Regenzeit trug viel zur Verwirrung bei. Bald erschienen
Flußverbindungen, die später nicht mehr vorhanden waren, und man
war im Ungewissen, ob nun wirklich der Benne zum Tschadsee ab-
fließe, ob Zambese und Kongo eine Bifurkation hätten und Schari
und Weißer Nil in Zusammenhang stünden. — Staunenswert waren
die Temperaturexcesse. Bei Murzuk, dem „Glutosen", war das
Wärmemaximum vorhanden, man fand also das Wortspiel für Afrika
ävEv 9vQÍxrjg (ohne Frostschauer) sehr glaubhaft, — und doch war
wieder in den Nächten die Abkühlung so stark, daß man diese Nächte
als den „Winter der Tropen" bezeichnen konnte. Drei Viertel des
Erdteils lagen in der Tropenzone, und dabei der Mangel an Wasser.
Allerdings mutmaßt man ja richtig in der Wüste1 das „Meer unter
der Erde", also das Quellwasser, und die Franzosen sprechen es
ganz deutlich aus, daß man Afrika mit dem Bohrer erobern müsse.
Das hervorsprudelnde Naß erscheine den verschmachtenden Neger-
stämmen als überzeugendste Kulturthat, und der Tuareg, der in
seinen blauen Shawl sein Antlitz vergräbt, damit doch nur nicht
die Feuchtigkeit des Atems entweiche, schone das liquid gold, das
Wasser, wie eine Zaubergabe und reinige sich nur mit Sand.
1 S. Anhang 2.
H a n fl cf e, Erdkundl. Aufsätze.
L
18
__ Denken wir nun, das Riesenprojekt der Engländer, also die
große Transversalbahn von Kairo bis zum Kap, wäre bereits voll-
endet,^ — allerdings wird der- jetzige Krieg die Ausführung wohl
verzögern — und fahren auf dieser Zukunftsbahn von Norden
nach Süden, um so die geographischen Eigentümlichkeiten des schwar-
zen Erdteils in konkretester Weise kennen zu lernen!
In Kairo, „der Perle des Orients", wird gerade das Fest der
Schleusenöffnung gefeiert. Um die Mitte des August ist der Nil
bei seiner jährlichen Überschwemmung so hoch gestiegen, daß die
Schleuse des großen Kanals durchstochen werden kann. Es ist das
ein für Ägypten hochbedeutsames Fest. Denn bekanntlich sind ja
Ägypten und Nubien eigentlich Wüsten mit Oasenstellen, d. h. sie
fallen in die Region des großen regenarmen Wüstengürtels, der sich
vom atlantischen Rande der Sahara über Arabien, Jnnerpersien bis
zur Gobi hinzieht. Diese Lande entbehren also fast gänzlich den
wohlthätigen Regen, und Kairo selbst, mehr aber noch Suez machen
sich in der Bauart ihrer Häuser diese klimatische Eigentümlichkeit zu
nutze. Denn da inan darauf rechnen kann, daß es z. B. in Suez
im Jahre durchschnittlich nur eine Viertelstunde regnet, hat man die
Häuser aufs schlechteste aus ungebrannten Steinen zusammengefügt,
und bei tagelang anhaltendem Regenwetter müßten ganze Dörfer
und Städte in sich zusammenstürzen. Die einzige Rettung für das
ägyptische Nilthal, dem Wüstenelend zu entrinnen, liegt also darin,
daß „Vater Nil" durch seine Überschwemmung die staubigen Lande
erquickt und fruchtbar macht. Wenn die tropischen Regengüsse den
oberen Nil erfüllen, beginnt in Ägypten das Wasser des Stromes
zu schwellen, Mitte August aber ist der kritische Augenblick gekom-
men, wo man ersieht, ob der Strom hinlänglich gestiegen ist, um
die Jnundation zu ermöglichen. Die Munadis^ eilen in den Kanal,
vieltausendstimmiger Jubel erfüllt die Luft, und endlich sind die
letzten Spatenstiche geschehen, der Strom stürzt brausend durch die
Schleusen. — Eine Eisenbahnfahrt durch Ägypten um diese Zeit
läßt das ganze Land als einen großen See erscheinen, wenig später
beginnt dann die dem zweiten Gleichnis des bilderreichen Ärabers
entsprechende Erscheinung, wo die Gegend wie ein lachender Garten
aussieht, um zuletzt wieder den trostlosen Charakter der Wüste an-
zunehmen. In der Zeit der üppigen Vegetation macht Ägypten,
da vorher das befruchtende Naß überall durch Kanäle und Sakien
(Schöpfräder) hingeleitet ist, einen gesegneten Eindruck. ^Getreide-
und Baumwollenfelder reifen der Ernte entgegen, und Sykomoren 1 2
1 Die Neger sollen sich recht untüchtig und ungeschickt als Arbeiter anstellen.
Alles tragen sie ans dem Kopfe, selbst die Karre, wenn sie sie entleert haben und
zurückkehren.
2 „Nilausrufer".
— 19 —
und Datteln bilden die charakteristischen Bäume. Die Behausungen
der Fellachen sind zahlreich umhergestreut, und es ist unglaublich,
wie kümmerlich der durch harte Steuern gedrückte Fellah leben muß, —
heißt es doch, „die Taube wohnt in Ägypten besser als der Mensch".
Dabei hat das Land eine Volksdichtigkeit, wie sie selten beobachtet
wird. Auf einem Raume so groß etwa lute Pommern leben gegen
7 Millionen Menschen. Sonst ist das ägyptische Wüstenklima nicht
ungesund, und gerade Brustkranke finden hier Genesung. Der seine
Staub in der Luft erzeugt allerdings anderseits die berüchtigten
ägyptischen Augenkrankheiten.
Bei Assuan 1 erreicht der Bahnzug die Landesgrenze. Hier sind
die Stromschnellen, die jetzt durch großartige Strombettregulierungen
beseitigt werden sollen, und wir betreten, indem wir stromaufwärts
fahren, das zweite Stusenland des Nil, Nubien.
Hier tritt der Charakter der Wüste viel augenfälliger zu Tage.
Es fehlen die einengenden Gebirgszüge, die Ägypten das Ansehen
eines Sarges geben, ihm aber auch zugleich die segenspendende
Überschwemmung ermöglichen; das Land ist breiter gelagert und liegt
schon südlich vom Wendekreise. Die Hitze ist daher der Art groß,
daß man Eier im glühenden Sande kochen kann. Die Bahn hat
die Umwege der 8-artigen Schleifen des Flusses abgekürzt und sucht
in gerader Richtung Berber zu erreichen, von wo ein Schienenstrang
nach Suakin am Roten Meere projektiert ist. Hier in diesen Strichen
hat der Islam die letzten verzweifelten Anstrengungen gemacht, um
seine Vorherrschaft über die Neger dem Christentum gegenüber zu
behaupten, und zweimal haben die Engländer mit den ägyptischen
Truppen schwere Kämpfe gegen die Scharen des Mahdi bestehen
müssen, unter Gordon und zuletzt unter Lord Kitchener. Während
im westlichen Sudan die Fulbe oder Fellata mit Energie und Erfolg
den Islam unter die ackerbautreibenden Neger getragen und überall
Despotieen aufgerichtet haben, ist hier im Osten der Mahdi erstanden,
der, gestützt auf die angebliche Prophezeiung Muhameds, daß im
dreizehnten Jahrhundert der muhamedanischen Zeitrechnung ein Mahdi
erscheinen und den Islam wieder beleben werde, wirklich im Jahre
1260 oder 1882 der christlichen Ära unter fanatischen Verheißungen
für die Kämpfer des Propheten „den Engel des schwarzen Todes",
das Banner des Halbmondes, 2 unheimlich flattern ließ. Östlich von
diesen blutgetränkten Gefilden liegt die afrikanische Schweiz, das
Alpenland Äbessiuien, mit seiner semitischen, christlichen Bevölkerung.
Es sind hier ebenso wie in Armenien Urformen eines monophysi-
tischen Christentums vorhanden, und leider haben die modernen
1 S. Anhang 3.
2 Die große schwarze Fahne des Mahdi.
20
Missionsbestrebungen der europäischen christlichen Völker von diesen
versteinerten Kirchengemeinschaften in Afrika keine Unterstützung zu
erwarten. Der „Löwe vom Stamme Inda", wie sich der äthiopische
Kaiser nennt, betrachtet im Gegenteil occidentalisches Christentum
mit dem größten Mißtrauen.
Von Berber an schließt sich die Bahn wieder enger an den Nil
und überschreitet den Atbara in großartigem Brückenbau. Wenn
die Sprengungen bei Assuan vollendet sind, so ist der Nil weithin
aufwärts für Dampfschiffe zugänglich. Er ähnelt darin unserer
Donau, die von Donauwörth an von Dampfschiffen befahren wird,
und die ebenfalls in dem jetzt regulierten Paß von Orfova ihre
Stromenge hatte. Allerdings hat die Nilfahrt ein erhebliches Hin-
dernis zu überwinden, wie sie die Donau iu unseren gemäßigten
Klimastrichen nicht kennt. Das ist die verfilzte metertiefe Pflanzen-
barre des Sßedd, die bei der jahrelangen Vernachlässigung zu
einem recht bösen Hindernis der Dampfschiffahrt sich ausgewachsen
hat. Jedenfalls hat der Neger hier auf dem Flusse doch schon
längst den Zeugen und Träger unserer abendländischen Kultur, den
gehorsamen Boten des allmächtigen „Königs Dampf" bewundern
können, eben das Dampfschiff, und ebenso werden Niger und
Benue und sogar der Kongo zwischen Stanley- und Livingstone-
fällen von den Rädern unserer europäischen Dampfschiffe durch-
furcht; auf letzterem sollen schon vierzig dieser modernsten Leviathane
Verkehren.
Bei Chartum vereinigen sich der Weiße und der Blaue Nil.
Chartum, in dessen Nähe sich Omdurma, wohlbekannt aus der Ge-
schichte des Mahdi, befindet, ist zur Zeit des ersten Aufstandes zer-
stört worden. Etwas oberhalb am Nil liegt Faschoda, bis zu dem
die Franzosen von Westen her vorgedrungen waren, und noch weiter
aufwärts ist Redjaf nennenswert, wo die Kongoleute den Nil zu
erreichen suchen. Denn der „heilige Strom" ist hier, wie das Meer
im hanseatischen Mittelalter, der heißersehnte Zielpunkt der Europäer,
seine riesige Handelsstraße erscheint als Inbegriff verheißungsvollster
Zukunftsträume. Während aber England dem Kongostaat gegenüber
ein Auge zudrückt, das Vordringen stillschweigend geschehen läßt, ist
es bei Frankreich voll wachsamen Argwohns gewesen, und Faschoda
hat den Anlaß zu sehr gereizten diplomatischen Erörterungen ge-
geben. Der eine Quellarm des Nil wird also der Weiße genannt
wegen des milchigen Wassers, und ostwärts ergießt sich in ihn der
von Abessinien herabströmende Blaue Stil mit fchlammreicher grüner
Farbe. Über Sennaar und Fafogel leitet uns dieser letztere Fluß
in das Gebiet einer ganz anderen Flora und Fauna. Bisher bil-
deten Dattelpalme und Kamel die charakteristischen Typen der Land-
schaft, jetzt kommen wir in den Tropengürtel, wo die riesigen Adan-
21
fonicn und die echt afrikanischen Erscheinungsformen der Pachydermen
sich als Vertreter der durchwanderten Gebiete darbieten. Die Adan-
sonien oder Affenbrotbäume, Baobabs, gehören zu den kolossalsten
Pflanzen, man nennt sie den Elefanten unter den Gewächsen und
kann dies malvenartige Pslanzengebilde ebenso wie die Mammut-
bäume in Kalifornien und die 300 m langen Algen der Oceane
unter die Zeugen einer staunenswerten Schaffenskraft vegetativer
Natur rechnen. Mau mißt den Umfang der Baobabs bis zu 24 m,
den Durchmesser der kurzen Stämme bis zu 8 m und hat an ein-
zelnen Exemplaren 5000—6000 Jahresringe aufgefunden. — Dort
wo sich die hamitischen Bewohner mit den eigentlichen Negerstämmen,
zuerst den Haussanegern und weiter südlich den Bantus berühren,
begegnen uns auch schon Sterkulien, die kakaobaumähnlichen Kola-
oder Gurunußgewächse, die den „Kaffee von Sudan" liefern. Die
Kolanüsse zeichnen sich durch ihren starken Gehalt an Koffein aus
(sie übertreffen darin den stärksten Javakaffee) und dienen den Negern
als unentbehrliches Anregungsmittel, das sie z. B. wach erhält, wenn
sie ihre nächtlichen Orgien feiern. Wie unser Wegerich den Indianern
als „Fuß des weißen Mannes" gilt und westwärts den Europäer
als Kulturpionier begleitet, so ist die Kolanuß überall da zu ffndcn,
wo Neger wohnen, also auch in Brasilien. Sie bildete in Jnner-
afrika einen wichtigen Handelsartikel und wurde buchstäblich mit
Gold (Sudan war vor Entdeckung der südamerikanischen Goldländer
der ergiebigste Fundort) ausgewogen. — Zu erwähnen ist ferner die
Negerhirse oder Durra, das afrikanische Hauptgetreide. Der träge
Neger baute bisher so unzulänglich das Getreide, daß Afrika, obschon
es 57 mal so volkreich ist wie Australien, dem Welthandel nicht so
viel Ware bietet wie dieser meist dürre Erdteil. — Den Riesen des
Pflanzenwuchses entsprechen die Vertreter der Fauna. Schon quan-
titativ muß diese Fauna imponieren, denn Afrika ist der säugerreichste
Erdteil, aber auch die Qualität der einzelnen Arten erfüllt uns mit
staunender Verwunderung über dies seltsame Spiel einer strotzend
fruchtbaren Naturkraft. Elefanten, Rhinocerosse und Nilpferde ragen
durch ihre Kolossalität hervor, Krokodile, Giraffen, Riesenschlangen,
Löwen und Strauße dienen weiter dazu, das Tiergewimmel des tro-
pischen Afrika recht buntscheckig zu machen, und dazu kommen dann
in den westasrikanischen Urwäldern die seltsamen Vertreter der Affen-
welt, der Schimpanse und der Gorilla. — Nur ein zur Nahrung
so notwendiges Mineral hat die Natur diesem östlichen Afrika
versagt, nämlich das Salz, und so bildet hier das Salz der
Wüste Sahara die übliche Tauschware. In Abessinien ersetzen
Steinsalzstäbe das nötige Courantgeld und erinnern in der un-
mittelbar verwertbaren Nützlichkeit an die ursprüngliche Form und
Bedeutung des griechischen obolos und des römischen U8 (Brat-
22
spieß und Stangen, also Stäbe von Metall, die zerteilt werden
konnten)?
Die Bahn soll den Nil aufwärts begleiten und besindet sich bei
Lado, von wo der Nil schiffbar wird, in echt tropischem Sumpfland,
„das zur Zeit der Überschwemmung meilenweit mit Wasser bedeckt
ist". Hier wohnen zwischen Nil und Kongo die hochentwickelten Niam-
Niam und Mougbuttus, die aber trotz ihrer Intelligenz und manu-
ellen Geschicklichkeit Menschenfresser sind und in dem Glauben stehen,
sich durch die entsetzliche Mahlzeit die Kraft der gefallenen Feinde
anzueignen. — Bald ist der Äquator erreicht, und südostwärts
liegt der Wunderberg des Kilimandscharo.1 2 Der Rübezahlberg
(ober Berg — kilima des Dämons der Kälte) steigt kegelartig empor
und ragt mit seinem Schneehaupte Kibo bis zu einer Höhe von
6000 m. Anschaulich schildert uns Dr. Hans Meyer — der den
Gipfel bestiegen hat — die Eindrücke, wenn man nach Durch-
wanderung der Steppen der Njikawüste zuerst den Bergriesen wahr-
nimmt. „Unten die Glut des Äquators und tropisches Leben,
neben uns der nackte Neger und vor uns Palmenhaine 6m Rande
des Tawetawaldes; dort oben die Eisluft der Pole, die überirdische
Ruhe einer gewaltigen Hochgebirgsnatur, ewiger Schnee auf er-
loschenen Vulkanen!" Hier kann man recht erkennen, welche Fülle
des Segens Schneeberge in sich bergen, zumal in einem tropischen
Klima, und man versteht den Stoßseufzer des Geographen, „wie
anders würde es um Äfrika stehen, wenn seine Gebirge von Schnee
belastet wären". Der Schnee speist die Bäche und Rinnsale, und
es entwickelt sich die entzückende Vegetation der Dschaggaländer, die
diesen Erdenfleck zu einem „Garten Gottes" stempelt. Der Reiz
der Gegend wird erhöht durch die Pflanzung der Bananen oder
des Pisangs, dessen Beeren ja Millionen Menschen der heißen Erd-
striche die mehlreichen Getreidearten des Nordens ersetzen und dessen
Stämme, wie Humboldt sagt, den Menschen seit der frühesten
Kindheit seiner Kultur begleiten.
Die Bahn ist jetzt überhaupt in das äquatoriale Seengebiet
Afrikas eingetreten, und man will bekanntlich Äfrika den Erdteil der
größten Binnenseen nennen. In ziemlicher Nähe von dem Schienen-
geleise liegt der Viktorianyanza von der Größe Bayerns, der also
an Flächenraum wenig dem oberen See Amerikas, dem größten
Binnensee, nachsteht. Seine Ufer sind meist flach, und darin unter-
scheidet er sich von den schlauchartigen südlichen Seen des Tanganyka
und Nyassa, von denen ersterer eine Reliktenfauna beherbergen soll,
1 Im Sudan selbst bilden die Kauris, die kleinen Muscheln der indischen
Porzellanschnecken, das Tanschgeld. Ein Huhn kostet etwa 250 Kauris, also un-
gefähr 30 Pf.
2 S. Anhang 4.
23
was auf ursprünglichen Zusammenhang mit dem Meere hindeuten
würde. Das Zwischenland dieser Seen ist Deutschostafrika in der
Größe des gedoppelten Deutschlands, und durch seinen Westrand sott
die projektierte Eisenbahn hindurchgelegt werden. In dem Lande
kann man wie in allen dem Äquator benachbarten Breitengraden
nicht von eigentlichen Jahreszeiten sprechen, dies sind klimatische
Erscheinungen unserer gemäßigten Zone. Über dem Äquator-
bewohner steht die Sonne zweimal im Jahre senkrecht oder direkt
im Zenith, das ist an unseren Tag- und Nachtgleichen des 21. März
und 23. September, in den zwischenliegenden Zeiten beschreibt sie
zuerst nordwärts ihren Tagesbogen, und dann südwärts. Für die
heiße Zone gilt das Gesetz, daß „die Regen dem Zenithstande der
Sonne folgen", und demnach müßten diese Gegenden wenigstens in
unmittelbarer Nähe des Äquators zweimal Regenzeiten haben. Dies
klang auch aus einer neuerlichen beweglichen Bitte der Zeitungen
heraus, wonach für unsere Kolonie gesammelt werden sollte, weit
wegen Ausbleibens der kleinen Regenzeit und anhaltender Dürre
Mißwachs und Hungersnot eingetreten sei. Das Fatale ist, daß
Afrika größtenteils Hochland ist, und daß z. B., was unsere Kolonie
Ostafrika betrifft, die regengeschwängerten Monsuns bereits an den
Küstenrändern zerreißen und sich ihrer Segensfülle entladen (ganz
wie an der Ostküste Australiens), so daß in den Trockenzeiten höchstens
an den das Land durchstreichenden Gebirgszügen Steigungsregen (wie
in Heidelberg) sich findet und üppigeres Wachstum zuläßt. Daraus
erklärt sich in dem östlichen Afrika das Park- und, Savannenähnliche
der Landschaft, das für den Europäer etwas Ödes und Fremd-
artiges in sich schließt. Statt unseres weichen Rasens sprossen
büschelähnlich zusammenstehende harte und steife Halmgräser, und
nur vereinzelt wachsen Strauch- und Baumarten, die lauge Trocknis
aushalten, wie Dornsträucher und kaktusähnliche Euphorbien (Wolfs-
milchgewüchse). Hier sind die Jagdgründe und Tummelplätze der
Antilopen, Giraffen und Strauße, und die Userwälder an dem Sicker-
wasser der Flüsse „ziehen sich wie dunkelfarbige Schlangen durch die
fahle Steppe".
Lange Zeit wurde in diesen Gebieten scheußlicher Sklavenraub
getrieben. Überhaupt schien der Erdteil schon seit dem grauesten Alter-
tum dazu verdammt zu sein, als vornehmste und fast einzige Aus-
fuhrware das Ebenholz, wie die ihrer Freiheit beraubten, unglücklichen
schwarzen Menschen genannt wurden, zu liefern. Karthago schickte
seine Karawanen südwärts, die Araber des Mittelalters legten dem
Hinterlande schonungslos diese Blutsteuer auf, und als Amerika ent-
deckt war und Las Casas seine menschenfreundlichen Vorschläge machte,
kam der Sklaventransport aus dem unglücklichen Kontinente erst
recht in Flor. Man will nachrechnen, daß bisher in etwa zweieinhalb
24
Jahrhunderten 40 Millionen Menschen Afrika entzogen seien, und
staunt über die trotzdem schier unerschöpfliche Menschensülle (man
schätzt die Einwohnerzahl Afrikas auf etwa 170 Millionen). Das
Los der amerikanischen Neger war ja traurig genug — man er-
innere sich der Schilderungen aus Onkel Toms Hütte —, aber
scheußlicher noch waren die Sklavenjagden hier in Ostafrika. Wenn
die arabischen Händler ihren nichtswürdigen Einkauf oder Raub ge-
macht hatten, so trieben sie die Neger in den Dschebas erbarmungs-
los zur Küste, und dann ging es an die Verpackung in den Dhaus,
aus denen endlich die zu Totengerippen abgemagerten Überlebenden
— und waren es auch nur fünfzig Prozent — an der asiatischen
Küste herauskletterten, um auf die Sklavenmärkte gebracht zu werden.
Die Besitzergreifung des Landes durch Deutschland hat diesen ent-
würdigenden Jagden ein Ende gemacht, und der ostafrikanische Abd-
elkader, der Araber Buschiri, hat seinen Aufruhr und Widerstand
gegen die deutsche Humanität mit dem Tode am Galgen büßen
müssen. Statt des Ebenholzes wird jetzt Elfenbein zur Küste ge-
bracht, das von hier aus im stärksten Prozentsatz als Ausfuhrware
in den Handel kommt, und charakteristisch wie die langen Kamel-
reihen in der nordafrikanischen Wüste und die Ochsenwagen in Süd-
afrika erscheinen hier als einzig mögliche Art des Transportes die
mit ihren Lasten bepackten, einzeln hintereinander in den schmalen
Steppenpfaden einherschreitenden schwarzen Träger. Es ist eben die
einzig mögliche Art der Fortschaffung der Lasten, denn die Haus-
tiere Europas oder Nordafrikas können entweder das heiße Klima
nicht vertragen oder fallen als Opfer der hier einheimischen giftigen
Tsetsefliege.
Zwischen Tanganyka- und Nyassasee, wo die Eingeborenen eine
Art Mückenkuchen wie unseren Kaviar verzehren, verläßt die Bahn
deutsches Gebiet und bleibt nun, ebenso wie nordwärts bis an den
Äquator der Einfluß Englands reichte, ausschließlich auf englischem
Territorium. Es ist das eine stolze Genugthuung für den energischen
Kolonisationsgeist des angelsächsischen Volkstums, in so breiter
Lagerung von Nord nach Süd durch einen gewaltigen Erdteil hin
den Einfluß seines Namens und seiner Flagge gewahrt zu wissen
und sich nur für eine kurze Strecke genötigt zu sehen, mit den
Dutchmen sich zu vereinbaren. Es war ja in den letzten Jahr-
zehnten auch keine allzuschwere Ausgabe, sich hier größere Territorien
zu erwerben, und unter etwas veränderten Verhältnissen schienen die
mittelalterlichen Zustände der fränkisch-byzantinischen Zeit des
Archipelagus ausgelebt zu sein, wo mühelos die occidentalischen
Grafen und Barone im Kreuzzugszeitalter sich Herzogtümer und
Königreiche erwarben und Dynastieen begründeten. — Die Bahn läuft
also jetzt in den Steppen und Waldungen des neu erworbenen und
25
fast ganz ungekannten Rhodesia, und allmählich wird der Reisende,
je weiter er südwärts fährt, den Einfluß einer geänderten Jahres-
zeit gewahr werden. Der Nordrand Afrikas hatte feine Sommerzeit
im Mai bis September, in Südafrika umgekehrt tritt die begünstigte
Jahreszeit vom November bis Mai ein. Noch komplizierter wird ja
der Gegensatz zweier Punkte auf der Erdoberfläche, wenn zu dem
Unterschiede der Jahreszeiten noch der der Tageszeiten tritt, so daß
man sich das Maximum dieses gegensätzlichen Zustandes derart kon-
struieren kann: wenn wir zwölf Uhr mittags im heißen Sommer
haben, ist es für die Leute auf den Antipodeninseln bei Neuseeland
Mitternacht und obenein Winterszeit. — Die Bahn nähert sich
dem Zambese, dem viertgrößten unter den afrikanischen Strömen.
Natürlich .hat auch dieser Fluß in den Livingstoneschen Viktoria-
fällen seinen Absturz, und besonders prächtig, denn über dreißig
Meter tief stürzt sich das breite Wasser in eine enge Spalte, und
mächtige Dampfsäulen verkünden bis auf zehn Kilometer den ge-
waltigen Naturvorgang, — aber es geht ihm wie den anderen
Flüssen in Afrika, für die Schiffahrt ist er größtenteils unbrauchbar.
Die oft majestätische Breite des Strombettes behindern wiederholt
Sandbänke und Katarakte, und namentlich die Mündungsarme sind
leider fast wie verstopft. So hat er die Erwartungen, die man an
seine Entdeckung knüpfte,„nicht erfüllt. Während die zweiundzwanzig
Mündungsarme, die „Olflüsse" des Nigers oder Kworras einen
intensiven Handel mit Palmöl ermöglicht haben, ist das Zambese-
delta unbewohnt und ungesund geblieben. Etwa fünf Grad südlich
vom Zambese liegt Buluwayo, die Hauptstadt von Rhodesia, bis zu
dem von der Kapstadt her schon die Bahn fertig und im Betriebe
ist. Je mehr sich der afrikanische Kontinent nach Süden zuspitzt,
desto schroffer, kann man sagen, werden die klimatischen Gegensätze.
Die Ostküste hat reichlichen Regen, üppige Vegetation und alle
Mängel eines tropischen Klimas, wie denn die Delagoabai durch
ihre Mangrowewaldungen und ihre Sumpfsieber berüchtigt ist.
Binnenwärts auf den Hochflächen haben wir ein überaus trockenes
Klima und die Erscheinung der Regenflüsse, die also nur bei Regen-
zeit sich mit Wasser füllen; ja man will behaupten, daß in Süd-
afrika in den letzten Jahrzehnten sich der Wasserstand noch erheblich
gemindert hat. Das Land trocknet also immer mehr ein, und wenn
nicht die civilisatorische Anpflanzung der Kulturgewächse Südafrika
aufhilst, werden die Lebensbedingungen dort ungünstiger werden.
Früher konnte man doch den Ngamisee Nachweisen, dessen Wasser
allerdings ein periodisches Einschlürfen beobachten ließen — die
Eingeborenen sagten, das Wasser ziehe sich zurück, „um zu fressen"
- heute soll er beinahe verschwunden sein, ebenso wie die Salz-
pfannen auch solche ehemaligen Seemulden darstellen. Also das
26
ausgesprochene Kontinentalklima und die Dürre prägen hier dem
südlichen Erdteil größtenteils den Charakter der Steppe oder geradezu
der Wüste auf, wie das die große Kalahariwüste im Inneren des
Landes bezeugt. Bei dem Vorherrschen des Busches oder des
„Niederwaldes", eines niedrigen strauchartigen Gehölzes, macht sich
der Mangel an Holz und Brennmaterial sehr empfindlich geltend,
und man wartet sehnsüchtig auf die Entdeckung von größeren Stein-
kohlenflözen. In den Breiten der Kalahari tritt der klimatische
Gegensatz der einzelnen durch die Längengrade geschiedenen Gürtel
und Vegetationstypen recht augenfällig zu Tage. An der Ostküste
liegt das englische Natal, benannt nach dem Tage seiner Entdeckung
durch Vasco de Gama, dem Weihnachtstage 1497. Hier an dem
feuchtheißen Uferstriche gedeiht neben Kaffee und Baumwolle sogar
das Zuckerrohr, und der Regenmesser zeigt die erstaunliche Fülle der
Niederschläge von 5 m an. Uberboten wird diese Regenmenge wohl
nur von Assam in Hinterindien, wo 570" (also etwa 15 m) Nieder-
schläge stattfinden sollen, während wir in Deutschland nur 700 mm
messen. Aber diese Entleerungen und Güsse der mit Wasserdunst
übersättigten Wolken bringen andererseits auch zahlreiche Gewitter
mit sich, und wir entsinnen uns, daß Bartholomäus Diaz die Süd-
spitze Afrikas das Cabo tormentoso nannte, wobei Gewitterstürme
wohl auch eine Rolle gespielt haben. — Nach Westen zu folgen die
beiden Boerenrepubliken mit gemäßigterem Klima, dann die Kalahari
und endlich am Rande des Atlantischen Oceans unser deutsches Süd-
westafrika mit seiner fast vegetationslosen Stranddünenküste. Die
Kalahari trägt den Namen einer Wüste, entbehrt doch aber nicht
ganz des Pflanzenwuchses. Der Boden ist hier und da bekleidet mit
verschiedenen Salzpflanzen, den Aasblumen und Eispflanzen, und
namentlich charakteristisch ist das absonderliche Gebilde der Welwitschia,
einer polypenartig an der Erde hinkriechenden Pflanze, die den
Stamm als Wurzel in der Erde stecken hat und an der Oberfläche
zweimeterlange Blätter treibt. Während sich also die Pflanzenwelt
von diesen Strichen zurückgezogen hat, sind sie um so mehr der
Tummelplatz zahlreicher Tiere geworden, die aus den bewohnten
Gegenden leider Vertrieben sind. Antilopen, Strauße und Giraffen
haben hier ihre Jagdgründe, und auch der Löwe ist noch zu finden.
Und gleichermaßen wie die klimatischen Verhältnisse sich hier nach
Ost und West scheiden, so haben wir auch bedeutsame ethnologische
Unterschiede. Die Ostküste zeigt noch bis Natal in den schönen
Sulukafsern die letzten Ausläufer der Bantuneger, sowie im Nord-
westen die Duallavölker in Kamerun als letzte nördliche Vertreter
erscheinen. In den Wüsten der Kalahari und weiter südwestlich
finden wir dagegen die Betschuanen, Buschmänner und Hottentotten
mit ihren Schnalzlauten (nach denen sie benannt sein sollen), wahr-
27
scheinlich die Überbleibsel der Ureingeborenen Afrikas, wie man auch
in den zwischen die Neger eingestreuten kümmerlichen Zwergvölkern
in den äquatorialen Strichen diese Ureinwohner erkennen will.
Diese Stämme Südafrikas stehen auf der untersten Stufe der Ge-
sittung, sind überaus faul, diebisch und bis zu erschreckendem Grade
bedürfnislos in Bezug auf Nahrung und Wohnung, wie man denn
sagt, der Buschmann kenne keine anderen Haustiere als den Hund
und die Laus.
Die Bahn umgeht geflissentlich das Gebiet der beiden süd-
afrikanischen Republiken, und das hat seinen guten Grund. England
ist neidisch auf das Emporblühen dieser beiden Boerenstaaten, des
Oranjefreistaats und der Transvaalschen Republik, und legt ihnen
gern Hindernisse in den Weg, scheut auch vor offenen Gewaltstreichen
nicht zurück. 1 Die holländischen Boeren haben aber eine gewaltige
Zähigkeit und Thatkraft und bauen sich im Lande ihre eigenen Eisen-
bahnen, von denen die wichtigste die Hauptstadt Pretoria mit dem
viel umstrittenen Delagoahafen verbindet. Die Bewohner der Repu-
bliken sind Bauern und Viehzüchter, zwei Fundobjekte haben aber
dem Lande weit über Afrika hinaus eine große Bedeutung und An-
ziehungskraft verliehen, das sind die Diamanten und das Gold. Das
Dasein der sogenannten „Vaalgesteine" war insofern von großer
Wichtigkeit, als in sie die kostbaren Diamanten eingebettet lagen.
Man fand sie durch Waschen und Sortieren entweder in den River-
Diggings, also im Flußbett des Baal selbst — in den Usergeländen
arbeiteten unzählige „Wiegen" —, oder man grub sie auf den er-
worbenen „Claims" in den schnell berühmt gewordenen „Diamant-
kratern", vor allem in Kimberley, wo die Vertiefungen der in den
Gruben schürfenden Arbeiter übersponnen waren mit einem Spinnen-
webenuetz von Drahtseilen, an denen die Eimer herabgelassen und
heraufgezogen wurden. 2 Berühmt geworden ist „der Stern von Süd-
afrika", ein Diamant von 83 Karat, für den einst ein Preis von
500000 Mark gezahlt wurde. Die Diamanten haben mehrfach einen
Stich ins Gelbliche und imponieren durch ihre Größe, so daß man
bereits einen Stein von über 900 Karat gefunden hat. — Eine zweite
ansehnliche Rolle im Wirtschaftsleben der Erde spielt das Gold der
Transvaalbergwerke, dessen Ausbeute gegenwärtig die bedeutendste in
der Welt ist, so daß Amerika überflügelt ist, wenn nicht noch Clondyke
allmählich reichere Erträge liefert. Nach einer neuerlichen Berechnung
ist die Gesamtausbeute an Gold auf der Erde 350000 kg, was einem
Wert von einer Milliarde Mark gleichkommt. Afrika liefert eine
1 Gegenwärtig tobt ja ein beklagenswerter Krieg zwischen England und den
Republiken.
* Kimberley wurde 1869 abzubauen angefangen und ist später von England
annektiert.
28
Viertelmilliarde an Wert, i Ein Viertel der gesamten Goldgewinnung
findet im Kunstgewerbe Verwendung, das übrige wandert in die
Münzen.
Da die Geographen in Afrika sehr freigebig mit signifikanten
Vergleichen gewesen sind und wir z. B. „ein afrikanisches Rom" in
Timbuktu und ein „London Afrikas" in dem sudanischen Kano be-
sitzen, so könnten wir eigentlich für Transvaal den alten halb mythischen
Begriff „Eldorado" wieder aufleben lassen.
So überschreitet nun endlich die Bahn den letzten großen afri-
kanischen Strom, den Oranjefluß; wir durchfliegen die Wüstengebiete,
darunter die Carroo, die durch Freiligraths Gedicht „Der Löwenritt",
das allerdings alle möglichen geographischen und zoologischen Verstöße
darbieten soll, hinlänglich bekannt ist, und befinden uns am Ziel
unserer Fahrt, in der englischen Kapkolonie. Wenn wir Ende August
uns in Kairo auf die Bahn gesetzt haben und eine solche Trans-
versierung des Erdteils doch wohl zwei bis drei Wochen Zeit be-
ansprucht, so langen wir demnach im September in der Kapstadt an.
Dort, wo wir abfuhren, war es Spätsommer, hier, wo wir ein-
treffen, ist es Beginn des Frühlings mit dem Reiz der erwachenden
guten Jahreszeit. Man nennt den September hier am Kap den
Blumenmonat, und alle Pracht der berühmten kapischen Flora ist
hier zu schauen. An den „Kindern der verjüngten Au" sind die
Verheißungen der Ceres in vollstem Maße erfüllt:
Euer Kelch soll überfließen
Von des Nektars reinstem Tau, —
Tauchen tvill ich euch in Strahlen,
Mit der Iris schönstem Licht
Will ich eure Blätter malen
Gleich Aurorens Angesicht. 2
Die Wunder einer farbenreichen Vegetationskraft sind am besten
auf der Rückseite des Tafelberges zu beobachten, da, wo die alte
Bnrgunderrebe hier den feurigen Kapwein erzeugt. Unter dem Ge-
äste der Proteaceen, der Silberbäume und Zuckerbüsche erglühen die
Polster der Eriken und die mannshohen herrlichen Pelargonien. Noch
ist nicht die heißeste Zeit da, der Januar und Februar — „wo
Metallgegenstände so heiß werden, daß man sie kaum in der Hand
halten kann, und wo dunkle Wollenkleidungen einen Geruch ver-
breiten, als wären sie versengt" —, noch ist es herrliches Frühjahr,
wo der Südostpassat mit seiner auffrischenden antarktischen Luft-
strömung als „Kapdoktor" seine Herrschaft angetreten hat.^ Über-
haupt will man der Kapstadt das gesündeste Klima der Welt zu-
' Nach neuester Berechuuug 28 '/2 % alles jährlich produzierter: Goldes.
* Fritsch, Südafrika S. 127.
29
erkennen und ihr Klima dem des paradiesischen Neapel gleichsetzen,
nur daß eine gewisse Erschlaffung des Thätigkeitstriebes als unwill-
kommene Beigabe mit in den Kauf genommen werden muß. — Alle
diese südafrikanischen Staaten, auch unsere Kolonie Weftasrika, sind
gewaltige Viehzüchter, und namentlich in der Schafzucht (1875 in
der Kapkolonie zehn Millionen Schafe!) wird Südafrika nur von
Australien und den La Plata-Staaten überholt, so daß Wolle neben
den Erträgen der Straußenzucht die hauptsächlichste Ausfuhrware
bildet.
Wohl bei keinem anderen Erdteil hat der Zeitraum der letzten
dreißig Jahre eine solche Bereicherung der Kenntnis gebracht, ein
solches Eindringen in das äußere und innere Leben des Landes.
Vor dreißig Jahren brauchte man den Vergleich, Afrika wäre wie
ein Trauermantel, der nur an den Rändern seiner Flügel licht er-
scheint; heute überzieht man den Erdteil mit Telegraphendrähten,
und die Bewegungskraft des Dampfes soll die entmutigende Schwer-
fälligkeit des inneren Ausgleichs und der Beziehungen der einzelnen
Landschaften zu einander besiegen. Vielleicht ist auch der Negerrasse
noch einst ein intensiver Anteil an dem Ausbau der Menschenkultur
beschieden.
Australie n.
jj*)er eigentliche antipodische Erdteil Europa gegenüber ist Australien,
sowohl im buchstäblichen Sinne des Wortes als in übertragener
Bedeutung. So rechnet man die drei Chataminseln als die Anti-
podeninseln Pon Berlin, wo also entgegengesetzte Jahres- und Tages-
zeiten herrschen, und der deutsche Kaiser kann als Besitzer der Südsee-
kolonieen den Ausspruch Karls V. wiederholen, daß in seinem Reiche
die Sonne nicht untergehe. Wiederum liegt Europa als Centrum
inmitten der Festlandshalbkugel, während Australien die gleiche Stel-
lung inmitten der Wasserhalbkugel innehat.
Man hatte sich früher, schon darum, weil Australien zuletzt ent-
deckt wurde, gewöhnt, sich Australien als den jüngsten, „gleichsam
noch unentwickelten Erdteil" vorzustellen. Umgekehrt sieht man ihn
heute als die älteste Landmasse an, die entweder wie Polynesien nie
Zusammenhang mit den übrigen Ländern gehabt oder wie Neu-
holland sich schon in frühtertiären Zeiten von den Erdteilen der so-
genannten alten Welt abgelöst hat, so daß wir hier die niedrigsten
Entwickelungsstufen der Säugetiere finden. Man hat demnach
Australien als ein Asyl für Tier- und Pslanzentrachten der Vorzeit
bezeichnet, und Australien ist bei den Beuteltieren stehen geblieben,
wo sonst die niedrigen durch höher entwickelte Arten verdrängt sind
und man zum mindesten die Hufetiere vorfindet. In der Vorwelt
waren die Beuteltiere die ersten Säugetiere und bildeten neben den
riesigen Echsen die Fauna. Ihre Fortpflanzung läßt sie die Mitte
halten zwischen den Vögeln und den vollkommeneren Säugetieren,
und wir hören voll Staunens, daß die Känguruhs ganz unent-
wickelte Embryonen zur Welt bringen, die erst in dem Beutel ihre
Gliedmaßen erhalten und den Zustand erreichen, in dem andere
Tiere geboren werden, und daß man sogar die Schnabeltiere, jene
absonderliche Vierfüßergestalt mit breitem Schnabel und dem Aus-
sehen einer Ente, als eierlegende Tiere ansehen wollte.
Zu der Annahme, daß wir in Australien den richtigen „Kontrast-
erdteil" in Bezug aus Europa haben, nötigt uns auch seine Lage
am und im großen Pacisic-Ocean. Uns Europäer will dieses gewal-
31
tige Meer doch ganz fremdartig berühren? Schon die Wasserfläche
dünkt uns ungeheuerlich; er nimmt ein Areal ein, das doppelt so
groß ist als der Atlantische Ocean, und bedeckt also ungefähr den
dritten Teil der Erdoberfläche. 1 2 Natürlich durchziehen auch ihn
gleich wie Flüsse gewaltige Strömungen, von denen die interessan-
testen die warme, dunkelblaue des Kuroschiwo ist, die die Wärme
des Sommers und das gemäßigte Klima des Winters in Japan
verursacht — also ähnlich wirkt wie unser Golfstrom —, und die
kalte Peru- oder Humboldtströmung an der Westküste Amerikas. Der
gewaltigen Ausdehnung entspricht die Tiefe des Oceans. Durch-
schnittlich ist er 3870 m tief, und bei den Kermandecinseln hat man
die größte Seetiefe der Welt gemessen, 9400 m, also mehr als die
Gaurisankarhöhe, so daß dieser Teil des Oceans das tiefste Depressions-
gebiet der ganzen Erdoberfläche darstellt. Uns Deutschen, die wir
an unsere flachen deutschen Meere gewöhnt sind, wo die Ostsee nur
300 m und die Nordsee gar nur 200 m tief ift,3 schwindelt bei
Wassermassen der Art fast der Blick. Dort trifft des Dichters Wort
Und unter mir lag's noch bergetief
In purpurner Finsternis
nicht mehr zu; eiskalt ruhen die Wasser in dem lichtarmen Raume,
der Druck des Wassers beträgt 1000 Atmosphären, und bei den
heruntergelassenen Thermometern zieht man die Messinghülsen zer-
quetscht wieder herauf.
Eine zweite Seltsamkeit weist der Pacific darin aus, daß er das
vulkanischste Gebiet der Erde umschließt. Namentlich an seinen
Rändern, also entlang dem ostasiatischen Jnselkranz und an der
westamerikanischen Küste, ziehen sich erstaunlich zahlreiche Vulkane
hin. An der westlichen Seite, die uns zunächst am meisten interessiert,
folgen auf die Vulkane der nördlichen Neuseelandinsel, um nur die
größeren hervorzuheben, die Eruptionskegel in Neuguinea und am
Bismarckarchipel, dann der schönste von allen, der Fusinoyama in
Japan, und endlich als letzter und mächtigster der Kliutschewsk in
Kamschatka.
Diese gewaltige Wassermasse ist nun erfüllt mit einer beispiellos
dichten Inselwelt. Das australische Festland selbst, — ein Mittel-
ding zwischen Kontinent und Insel, das in seiner Gliederlosigkeit
den afrikanischen Erdteil nachahmt, wobei man in Tasmanien Süd-
afrika und in dem Karpentaria- und Australgolf die Meerbusen der
Syrien und des Guineagolss erkennen will, — Neuguinea, die
1 In dem Meere (Meridian der Bebringstraße) liegt auch die Datumsscheide,
so daß der von 0 nach W segelnde Seefahrer hier einen Tag überspringt.
2 Größer als alles Land der Erde.
3 Im Durchschnitt ist sie 50 in tief.
32
größte aller Inseln überhaupt, und die „australische Schweiz" der
Inseln Neuseelands stehen an der Spitze und beginnen im Westen
den Aufmarsch dieser einem gewaltigen Heere gleichenden Eilande,
und daran schließen sich über 000 Inseln, mit etwa 350 basaltischen
und 290 Koralleninseln.1 Wäre nicht das Wasserbecken so groß, so
könnte sich hier in der Südsee derselbe Eindruck wiederholen wie im
Archipelagus der alten Griechenwelt, wo der des Kompasses ent-
behrende Schiffer sich von Insel zu Insel tappte und an den immer
neu in seinem Horizonte aufsteigenden Eilanden sich leicht orientierte.
Gegenüber dieser belebten Inselwelt zwischen den Tropen kontrastiert
allerdings eigentümlich der Teil des Pacific zwischen Äqnatorial-
strömung und Humboldtstrom, den man auch „die öde Region"
nennt. „Dort ist Luft und Wasser ohne jede Spur von Leben.
Die Vögel, die sonst gern das Schiff begleiten, selbst die sturm-
liebenden Albatros und die Kaptauben, verlassen hier das Fahrzeug,
so daß Schweigen und Ode, ohne irgend ein Zeichen von belebten
Wesen, diese Region charakterisieren."
Es ist ein allgemein menschlicher, in den Märchen ausgeprägter
Zug, daß man den Riesen vielfach eine gutmütige Natur beilegt,
und so ist es auch dem Großen Ocean gegangen. Diese gewaltige
Wasserfläche mit ihrer Breite von 160 Längengraden oder über
17000 Kilometern ist von vornherein in den Ruf gekommen, ein
stilles Wasser zu sein, und hat die Bezeichnung des „Pacific" er-
halten (Stiller Ocean). In Wahrheit scheinen diesem Riesen unter
den Oceanen, soweit Wind und Wellen eine Rolle spielen, auch die
Tücken zu fehlen; nur im chinesischen und philippinischen Meere
bis zu den Marianen hin wüten mitunter die Taifune, bei denen
man zum Glück beobachtet haben will, daß sie selten mehr als ein-
mal in 3 — 4 Jahren auftreten. Dann allerdings ist der Mensch
dem entfesselten Element gegenüber fast machtlos, und von der Kraft
der Orkane zeugt die furchtbare Thatsache, daß z. B. 1825 in Gua-
deloupe Ziegel durch dicke Thüren geschleudert wurden.
Das eigentlich Gefährliche beim Ausbruch dieser Stürme auf
offener See sind die versteckten Riffe, auf die das Schiff geworfen
werden kann, und an diesen ist der Große Ocean leider allzureich;
haben wir doch in ihm das klassische Meer für die Bauten der
Korallentierchen. Der nördliche Teil des Meerarmes zwischen Neu-
guinea, Neuseeland und dem Festland heißt schlechthin das Korallen-
meer, und in seinem Westen ist der ganzen Ostküste Neuhollands
das furchtbare Barriereriff vorgelagert.
Das Gewimmel der polynesischen Inselwelt erklärt man vielfach
1 Natürlich nur die größeren gezählt. Die Karolinen allein enthalten
652 kleinere Inseln.
33
fo, daß man annimmt, ein ganzer urweltlicher Erdteil Pacificia sei
in dem Meere untergegangen und sinke noch immer weiter. Die
bereits unter der Oberfläche des Wassers verschwundenen Ränder der
Bergkuppen haben die Korallentierchen, die nur in seichten Wassern
und nur bei 20 0 Celsius Wassertemperatur (also beschränkt auf die
tropischen Meere) leben können, zu bebauen angesangen, und da die
Senkung sich fortsetzte, so ragen ringförmige Atolls entweder um
einen Erdkern in der Mitte, oder auch dieser ist verschwunden, und
nur die Atollinseln sind übrig gebliebenT Die Korallenpolypen sind
nämlich bald abgestorben, wenn die Luft die Bauten bestreichen kann.
Zugetragene Sämereien haben auf diesen Ringinseln Vegetation ent-
stehen lassen, und so ist das heutige Polynesien gebildet. Übrigens
soll, wenn man auf einer Koralleninsel landet, bald alle vorgefaßte
Meinung von ihrer Schönheit schwinden. Der Boden enthält nur
„Flecken drahtartigen Grases, und die Bäume bleiben niedrig"?
Aber wir haben ja auch höhere und vulkanische Inseln, und
obgleich diese sämtlich in der heißen Zone gelegen sind, mäßigen die
herrschenden Passatwinde die Hitze, und durch den Einfluß des
Meeres werden die Unterschiede in den Jahreszeiten gemildert. Hier
herrscht ein ewiger Sommer, mild und angenehm, und wegen der
Niederschläge aus den Passaten eine reichliche Pflanzenbekleidung.
Da tritt uns zunächst der Kokosbaum entgegen, „der Kosmopolit der
Tropenländer". Strömungen haben von Amerika her die Fruchte
über ganz Océanien hingesührt, und da das Seewafser ihre Keim-
kraft nicht verdarb, so ist überall die stehende Vegetation dieser
Palmen erzeugt worden, die der Volkssage nach zu 90 Dingen nütz-
lich sein sollen. Sodann ist der Brotfruchtbaum der eigentlich
charakteristische Baum der australischen Inselwelt. 1 2 3 Acht bis neun
Monate ist der schöne Baum mit Früchten bedeckt, und drei Bäume
sollen hinreichen, um einen Menschen während dieser Zeit zu er-
nähren. Der Weltumsegler Cook urteilt, „hat dort jemand nur zehn
Vrotbäume gepflanzt, so hat er seine Pflicht gegen sein eigenes und
gegen sein nachfolgendes Geschlecht ebenso vollständig und reichlich
erfüllt als ein Einwohner unseres rauhen Himmelsstriches, der sein
Leben hindurch während der Kälte des Winters gepflügt, in der
Sommerhitze geerntet und nicht nur seine jetzige Haushaltung mit
Brot versorgt, sondern auch seinen Kindern etwas an barem Gelde
kümmerlich erspart hat".
Diese polynesischen Inseln mit ihrem gesunden Klima und ihrer
1 Aioli = Gruppe. „Jedes Aioli ist ber Grabstein einer oersunkenen Jnsel."
2 Koralleuinseln sind die Karoliueu, Marschallsinseln und nameutlich die
Pomotuinseln.
“ Auherdem Taro, eine Koralleufrucht, = „Stab des Lebens". Ratzel,
Volkerkunde I, 238.
Hanncke, Erdkundl. Aufsatze.
3
34
glückseligen Natur bewohnen teils Papuas, teils Malayen, die nur
dort, wo sie sich mit den Papuas Neuhollands gemischt haben, also
nach den Marschallsinseln und Marianen hin, dunkler sind und
Mikronesier genannt werden. Die Papuas sind äußerst roh, und
die Vitiinsulaner hatten früher den Menschenfraß zu einer wahren
Feinschmeckerei entwickelt. Entgegen den sonstigen Erfahrungen des
Kannibalismus bevorzugten sie weibliche Leichname, und an diesen
Gehirn, Oberarm und Oberschenkel. Es war noch ein wahres Glück,
daß ihnen das Fleisch der Weißen nicht sonderlich schmeckte. Da-
gegen machen die Malayen einen ansprechenden Eindruck, ihr Charakter
erscheint sanft, und den Seefahrern erregen sie fast Sympathieen,
umsomehr da die Samoainsulaner hellfarbig und die Marquesas-
bewohner und Kannten fast schön zu nennen sind.
Diese Südseeinsulaner haben seit dem vorigen Jahrhundert bei
den Europäern ein ganz eigentümliches Interesse erregt; verdanken
wir doch auch die ersten genaueren Nachrichten über sie so berühmten
Männern wie Cook, Chamisso und Darwin. Zudem kommt ihnen
der Reiz der weltentlegenen Entfernung wesentlich zu Hilfe. Das,
was man nicht so leicht erreichen kann, umfließt immer ein eigener,
romantischer Zauber. Selbst heute braucht ein Dampfer von Plymouth
nach Wellington (Neuseeland) 44 Tage, und von Bremerhaven nach
Sydney rechnet man 54 Tage, i Ein Segelschiff fuhr vor der
Durchstechung der Landenge von Suez um das Kap der guten
Hoffnung von Hamburg nach Sydney 3 — 4 Monate. ? Damals
baute man auch den Riesendampfer Great Eastern, um den Passagieren
ans der langen Fahrt den möglichsten Komfort zu bieten. — Also
diesen weltentlegenen Eilanden brachte man im vorigen Jahrhundert,
seitdem die Reiseberichte der beiden Förster, der Begleiter Cooks, er-
schienen waren, eine fast krankhaft überschwengliche Bewunderung
und enthusiastische Verehrung entgegen. In den überfeinerten
Kulturmenschen des 18. Jahrhunderts erwachte die Sehnsucht nach
der paradiesischen Unschuld dieser einfachen, wunschlosen Urbewohner,
und so gehörte es zum Charakter jenes vorrevolutionären Zeitalters,
daß man sich den glückseligen Zustand jener Naturmenschen in den
glühendsten Farben ausmalte. Aus demselben Grunde ergötzte sich
ja auch die gebildete europäische Welt an den packenden Schilderungen
in „Paul und Virginie" des Franzosen Saint Pierre und verschlang
mit Heißhunger die deutsch-englischen Erzählungen der Robinsonaden.
Weber in seinem Demokritus treibt die Ekstase noch weiter und be-
richtet, daß in dem paradiesischen Leben der Südseeinsulaner selbst die 1
1 Der Weg von Sydney nach Berlin beträgt um das Kap Hoorn 26000 km.
Von der Südspitze Australiens bis Falinonth liegt ein Kabel von 20000 km Länge.
* Ein Brief von Europa nach Jaluit braucht auf dein kürzesten Wege über
Francisco 50 Tage.
Greise nur äußerst wenige Runzeln haben; seltsam wirkt daneben die
Notiz, daß die christlichen Eingeborenen statt des Weines den Kokos-
nußsaft beim Abendmahl gebrauchen, ähnlich wie auf dem alten
Glasgemälde der Wiesenkirche zu Soest statt des Osterlammes der
westfälische Schinken erscheint. In Wirklichkeit ist es aber mit dem
Paradiesesbilde, das die Südseeinseln in Natur und Menschentum
darbieten sollen, wesentlich anders. In Tahiti z. B., das doch den
charakteristischen Typus für alle die begeisterten Dithyramben Cooks
und der Förster bildete, ist die Pflanzenwelt an Arten auffällig arm.
Es giebt dort nur 500 Phanerogamen, nicht einmal halb soviel
als im nördlichen Deutschland, und das Rechenexempel, daß, während
in der kalten Zone erst von je 100 Pflanzen eine und in der ge-
mäßigten doch auch nur unter 80 eine ein Baum ist, in der heißen
Zone dagegen die Triebkraft der Natur ein enormes Wachstum zeigt
und schon unter je 5 Pflanzen sich einen Baum befinden läßt —
und zwar sind es Bäume, etwa wie unsere Eichen, mit Blüten
prangend, ähnlich unseren Lilien —, dürfte hier nicht zutreffen.
Auch über die paradiesische Unschuld der Menschen wird man das
Urteil wohl einschränken müssen. Die berauschenden Getränke und
die europäischen Krankheiten haben unter den Eingeborenen tüchtig
aufgeräumt, und so ist von den Kanaken auf den Sandwichinseln,
die Cook noch auf 400000 schätzte, jetzt nach 100 Jahren nur ein
Drittel übrig.1 Der Mißbrauch, den Priester und Häuptlinge mit
der Tabuerklärung treiben, wodurch also beliebigen Gegenständen der
Charakter des „heilig und unverletzlich" beigelegt wird, spricht gerade
nicht für eine hohe Stufe der Gesittung. Und was die Intelligenz
betrifft, so ist ja das Geschick der Insulaner zur Schiffahrt ganz
außerordentlich. Die Boote mit ihren Ausliegern fahren weit in die
See hinaus, und ihre Reisen zeugen von der Kühnheit und Umsicht
der Bemannung. Ja, Ratzel behauptet,* 2 die Kolonisationsthätigkeit
der pacifischen Vikinger müsse erstaunlich gewesen sein, ausgedehnt
über einen Raum, der das Reich Alexanders oder Roms übertrifft,
und nennt diese That der wandernden Besiedelung „die größte
Leistung vor der Entdeckung Amerikas". Aber es ist doch zu be-
achten, daß diese oeeanischen Stämme noch größtenteils sich in dem
Steinzeitalter befinden, also unsere Metalle entbehren, ja daß sie
die Webekunst und Thonbereitung nicht kennen und sich mit den
Tapazeugen aus Rindenbast begnügen und, wo Thon sich findet,
ihn lieber zum Essen benützen.
Ich sagte schon, Neuholland erscheine diesem Jnselgewimmel
gegenüber tute der primus inter pares, wie der Heerführer, der
' In den ersten Zeilen nach Cook siedelten sich Europäer in der Südsee an,
die im schlimmsten Rufe standen und als Auswurf der Menschheit aalten.
2 Völkerkunde S. I, 162.
36
feinen Soldaten voraufmarschiert. Man kann es auch wirklich nicht
als einen neuen Kontinent, gleichberechtigt mit den vier übrigen
Erdteilen, ansehen. Ungeschlacht und rätselhaft wie es ist, könnte
es am ehesten noch mit Grönland verglichen werden, wenn nicht die
tropische Lage des Landes von einem solchen Vergleich abschrecken
möchte. Jedenfalls trifft zu, was man gesagt hat, daß es nämlich
in landschaftlicher Beziehung die allerschwächste Leistung der Natur
ist. In Bezug auf vertikale Gliederung erscheint es wie eine Pfanne
mit aufgestülptem Rande, so daß z. B. an der ganzen Australbucht
sich eine Steilküste hinzieht, die noch dazu meist hafenlos ist. Auch
das erhöht natürlich noch den Eindruck des Ungeschlachten. Bevor-
zugt in jeder Beziehung ist die Ost- und Südostküste, also der Teil
Australiens Neuseeland gegenüber und die südliche Ecke an der Baß-
straße. Zu Anfang unseres Jahrhunderts sammelten sich hier die
Walfischsahrer und fanden ihre Mühen durch die beispiellos zahl-
reiche Anwesenheit der Robben und „See-Elefanten" belohnt, und am
Ende des Säkulums sehen wir eben hier zwei Weltstädte, die zu-
sammen eine Million Einwohner haben, Sydney und Melbourne.
Einen größeren Fluß hat ebenfalls das östliche Australien auf-
zuweisen, nämlich den Murray, der eigentlich aus Murray und
Darling sich zusammensetzt und wenig kleiner als unsere Donau ist.
Der Darling bietet aber während der größten Zeit des Jahres keinen
zusammenhängenden Wasserfaden, und der Murray wird zwar mit
Dampfschiffen befahren, aber die Mündung ist wegen der Versandung
kaum benutzbar. Also auch hier tritt das Unzulängliche des Erdteils
zu Tage. Wenn Kolumbus, als er die Orinokomündung entdeckte,
ansries, was muß das für ein Land sein, das solche Ströme ent-
sendet, wenn man an die Riesenflüsse der anderen Erdteile denkt, an
den Amazonas, der 80000 cbm Wasser in der Sekunde vorwärts
fließen läßt, an den Iantsekiang, der wohl 1300 km aufwärts
von Kriegsschiffen befahren wird, an den Kongo, dessen schlammiges
Wasser man noch drei Meilen nach seiner Mündung im Ocean er-
kennen kann, wird man zugeben, daß Australien auch in Bezug auf
die Wafferverhältniffe erheblich zurücksteht. Das, was schon beim
Darling erwähnt wurde, die Periodicität des Fließens, ist überhaupt
das Kennzeichen auch der kleineren australischen Flüsse, der sogenannten
Creeks, so z. B. des Schwanenflusses. Sie können bei eingetretener
Regenzeit innerhalb weniger Stunden um ca. 30 m steigen und
richten dann große Verheerungen an. So kann man sagen, im
Winter ertrinken die Flüsse in ihrer Wasserfülle, und im Sommer,
wenn Melbourne seine heißesten Tage hat, also im Dezember,
Januar, Februar, erleiden sie die Qual des Verdurstenden. Australien
hat überhaupt Zeiten arger Dürre durchzumachen. „Die Schrauben
fallen aus den Geräten, der Graphit aus den Bleistiften, die Horn-
37
griffe zersplittern, die Fingernägel werden glasspröde, und man kann
fast nicht mehr schreiben, so rasch trocknet die Tinte in den Federn."
Daher ist es zu erklären, daß das Innere Australiens vielfach
den Eindruck der Wüste macht. Was sonst die Vegetation betrifft,
so sindet man zahlreich die sogenannten Scrubs mit ihrem undurch-
dringlichen Akazien- und Spinifexdickicht; der eigentlich charakteristische
australische Baum aber ist der Eukalyptus, ein myrtenartiges Ge-
wächs, das sich durch seine kolossale Höhe auszeichnet (über 130 m
hoch). Man kann es darum zu den Riesen des Pflanzenwuchses
rechnen, und die Eukalyptusbäume wetteifern mit den Mammut-
kiefern in Kalifornien in dem Streben, es den größten Bauwerken
der Erde gleichzuthun. Die Wurzeln der Eukalypten senken sich tief
in die Erde und ziehen das vorhandene Wasser an sich; deshalb ist
man in neuester Zeit auch auf den Gedanken gekommen, sie in
Italien zur Austrocknung der Maremmen, z. B. der pontinischen
Sümpfe, zu verwenden. Da die Bäume in Australien parkartig
vereinzelt dastehen und ihre Blätter sich senkrecht gegen die Sonne
kehren, so geben die Wälder leider keinen Schatten. Es fehlten dem
Lande, ehe die europäischen Ansiedler ankamen, völlig die Nahrung
spendenden Bäume der übrigen Tropenländer, wie die Bananen und
Brotfruchtbäume; nur Wurzeln und Beeren ernährten kümmerlich die
Eingeborenen, die demnach auch auf der tiefsten Stufe der Gesittung
stehen. Sie sind den Papuas verwandt und ein negerartiges Ilr-
volk; ihre Haare sind aber nicht wollig wie bei den afrikanischen
Negern, sondern schlicht. Die Bewohner, die jetzt allerdings mehr
und mehr aussterben, haben etwas tierisch Rohes. Früher wurde
den gefangenen Feinden bei lebendigem Leibe das Nierenfett heraus-
gerissen, und mit erstaunlicher Geschicklichkeit handhabten sie ihren
Bumerang, eine furchtbare Wurfwaffe, die gräßliche Wunden hervor-
bringt. Auch das herrliche Sterngewölbe ihres Landes zogen sie in
ihre rohe Vorstellung. Sie bevölkerten das Himmelszelt sonderbarer-
weise mit ihren Vorfahren, die dort auf Känguruhs und Emus wilde
Jagd veranstalteten. — Wir haben schon gehört, daß die Wälder in
Australien keinen Schatten geben, aber unter den Bäumen ist Gras-
wuchs vorhanden, und da auch die in den wüsteren Strichen vor-
kommenden Salzpflanzen den Schafen besonders behagen, so steht
Australien in Bezug auf Zucht des Kleinviehs, also vorzugsweise
der Schafe, obenan. Man rechnet dort 100 Millionen Schafe, und
mancher Squatter (d. i. Schafzüchter) besitzt 200000 Schafe. Das
australische Schaf ist feinwolliger als das südafrikanische, wird aber
durch hinübergeholte deutsche (pommersche) Zuchtböcke fortwährend
veredelt. Das Sprichwort: das Schaf hat goldene Füße — trifft
recht in Australien zu; an Stelle des früheren Elends, wo kein
Ackerbau getrieben wurde, ist jetzt der britische Wohlstand getreten,
38
und Südaustralien wird „Neuhollands Kornkammer" genannt. Das
aber, was „die langsame Bewegung des Bevölkerungsfortschrittes in
Galopp gebracht", sind hier wie überall zwei Funde, die Kohlen und
vor allen Dingen — das Gold. Fast das ganze Neusüdwales soll
ein.ununterbrochenes Kohlenfeld darstellen, und das Vorhandensein
dieser „schwarzen Diamanten" befördert das Emporblühen der In-
dustrie. Viel einflußreicher noch war es, als 1851 der erste Gold-
fund gemacht wurde. In einem Jahrzehnt wuchs die Bevölkerungs-
ziffer um 400/0, über Viktoria strömte in Wahrheit ein Goldregen
nieder, und Melbourne wurde „die Goldstadt". Bis 1887 sollen
die Golderträge sieben Milliarden Mark betragen haben/ und
man erachtet das dort gewonnene Ballarat? als das feinste Gold
der Erde.
Die Entstehungsgeschichte der englisch-australischen Kolonieeu ist
ganz eigentümlich. Als sich 1783 nach Beendigung des nord-
amerikanischen Freiheitskrieges der bis dahin verwendete Transport-
platz der Verbrecher in Amerika verschloß, mußte man sich nach einer-
anderen Stelle für die Deportierten umsehen, und so ist der austra-
lische Kolonialbesitz ursprünglich aus den Verbrechertransporten her-
vorgegangen. Man hat früher in Sydney auch die Spuren dieser
peinlichen Abstammung an den Bewohnern vielfach wahrnehmen
wollen. Heutzutage trägt Sydney mit Stolz ihren Namen „Königin
des Südens"* * 3 ebenso wie Cincinnati „die Königin des Westens"
und Kairo „die Perle des Orients" ist. Wenn also die Herkunft
der ältesten Insassen recht fragwürdig war, so ist ein in neuerer
Zeit zngezogenes Bevölkerungselement noch fragwürdiger, das sind
— die Chinesen. Die bezopften Söhne des Reiches der Mitte be-
trachten den ganzen Pacific als einen ihnen vorbehaltenen Besitz
und nisten sich an den Userrändern überall mit aufdringlicher Zähig-
keit ein, zum Entsetzen der europäischen Ansiedler, denen diese Mongolen
mit ihrem Schmutz und ihren fatalen Eigentümlichkeiten durchaus
zuwider sind. Da ist ein dritter Zuzug neuer Bürger um so er-
freulicher, nämlich der der Deutschen.
Es ist, als wenn es die Siidsee den Deutschen ganz besonders
angethan hätte. Zahlreich sind die Einwanderungen in Neuholland,
und vielfach sucht der Deutsche die Erinnerung an seine Heimat
festzuhalten. So giebt es in Südaustralieu ein Neuschlesien, und
nun gar in dem Kreisrund unserer australischen Kolonieen finden sich
die Landschaften unserer preußischen Monarchie in gehäufter Weise
vertreten, da giebt es Neupommern, Neuhannover, Braunschweig-
' Im Jahre 1852 allein für 120 Millionen Mark Gold gefunden.
* Ballarat ist die Bergwerksstadt.
3 Sydney an einem der schönsten Häfen der Erde, der kaum dem berühmten
von Rio de Janeiro nachsteht.
39
Hafen, Neulauenburg, Neumecklenburg, und in Neuguinea sind unsere
großen Männer verewigt, wir haben eine Bismarckkette, Kaiser
Wilhelmland, Stephansort, Moltkekap, Kantberg u. s. w.; daneben
finden sich Hansemannküste, Herbertshöhe, Hatzfeldhafen, Schleinitz-
küste u. s. w. Durch die Erwerbung der Karolinen, Marianen,
Palauinseln ist der große Zirkel unseres Besitzes geschlossen. Die
neueste aus den Verwickelungen der Samoawirren uns beschiedene
Erwerbung der Samoainseln, darunter das schöne Opalu, liegt
etwas seitab nach Osten. Die Karolinen* und Marianen gehören
zu den am frühesten gekannten der Südsee. Der Spanier Lazeana ent-
deckte die ersteren 1686, und bereits Magelhaens ist auf den Ma-
rianen gelandet und hat sie wegen der unangenehmen Berührungen,
die er mit den Eingeborenen gehabt hatte, Ladronen oder Diebs-
inseln genannt. In den Salomonsinseln glaubte der Spanier Men-
dana 1562 das biblische Land Ophir gefunden zu haben, nach wel-
chem Salomo seine Schiffe sandte, um sich Gold zu verschaffen. In
Neuguinea besitzen die Deutschen an der Ostseite der Insel einen
Flächenraum etwa halb so groß wie das Königreich Preußen. Der
reichliche Regen — fast zwei Drittel des Jahres Regentage — er-
zeugt üppiges Wachstum, aber das hyperthermische Klima erschwert
doch für den Europäer die Bewohnbarkeit. Dagegen haben wir
hier einen ostwärts fließenden schiffbaren Riesenstrom, den Kaiserin
Augusta-Fluß, der die Rinnsale unserer ostafrikanischen Kolonie an
Mächtigkeit und Wasserfülle beschämt. Das Land eignet sich vor-
züglich zum Plantagenbau; Kaffee, Tabak, Baumwolle sichern den
Kompagnieen und Handelsgesellschaften lohnende Einnahmen, nur
müssen statt der einheimischen Papuas, * 2 die, durch den vegetabilischen
Reichtum ihres Landes — Jams und Brotfruchtbäume — verwöhnt,
zur Arbeit nicht zu bewegen sind und von ihren Pfahldörfern aus
aus den Fischfang ausziehen, Eingeborene der Salomonsinseln ge-
dungen werden. An einheimischer Handelsware liefern unsere Südsee-
kolonieen hauptsächlich den Kern der Kokosnuß, die Kopra, die zur
'weisen- und Kerzenbereitung massenhaft verbraucht wird.
Einen besonderen Vorzug der Lage genießen die Marschallinseln,
kleine Atolle, deren Flächenraum nur etwa dem Hamburger Freistadt-
gebiet gleichkommt. Ebendarum ist aber eine große Dichtigkeit der
Bevölkerung eingetreten, so daß wir wohl 15000 Insulaner zählen.
Außerdem hat sich hier eine Art Centralmarkt für Polynesien ent-
wickelt, und Jaluit ist Kohlenstation für die deutsche Kriegsmarine
geworden.
Die Zukunft unseres Besitzes in der Südsee hängt mit zweierlei
' Mit ihren merkwürdigen Steinburgen und dein mühlsteinähnlichen Gelde.
2 Papuas — Krausköpfe.
40
innig zusammen. Einmal ist zu erwarten, daß die Segnungen des
Christentums hier erfolgreich gegen den weit verbreiteten Kannibalis-
mus ankämpfen und die meist gut gearteten, aber mißtrauischen
Polynesier und Mikronesier zu brauchbaren und zuverlässigen Bevöl-
kerungen umbilden, lind zweitens eröffnen sich für unseren Besitz
ganz erstaunliche Aussichten, wenn endlich das Projekt des mittel-
amerikanischen Kanals zur Ausführung kommt. Denn unzweifelhaft
wird einst dies Riesenunternehmen, von dem schon Goethe sagte, er
wünsche nur noch 50 Jahre zu leben, um es realisiert zu sehen,
vollendet werden, ebenso sicher wie Suezkanal, Wilhelmskanal und
Kanal von Korinth. Und dann ist der Verkehr Deutschlands mit
der Südsee ein ganz anderer, die Schiffahrt etwa um die Hälfte der
Zeit abgekürzt, und Obst und Getreide können frühzeitiger aus
Australien in Europa eintreffeu.
Unserer deutschen Handelsflotte, die jetzt schon (neben 2500 Segel-
schiffen) über 1100 Dampfer mit fast einer Million Registertons1
und gegen 30000 Mann Besatzung zählt und die nur von der
englischen und amerikanischen numerisch übertroffen wird, blüht dann
vielleicht ein zweites Hansezeitalter, ebenso wie Deutschland die be-
sondere Bevorzugung in der geschichtlichen Entwickelung aufweist,
daß es zwei Kaiserzeiten und zwei Blütezeiten seiner Litteratur an
sich ersehen läßt. Der politischen und litterarischen Doppelung
seiner Machtstellung würde also die wirtschaftliche folgen, und die
Südsee hätte dieselbe dominierende Lage wie im 14. und 15. Jahr-
hundert die Ostsee.
1 Das größte Schiff der Welt, der englische „Oceanic", hat 17000 Tons,
dann folgen zwei deutsche Schnelldampfer „Deutschland" und „Wilhelm der Große"
mit ungefähr 15000 Tons. „Jetzt tummelt sich auf dem Erdball eine Flotte von
12000 Dampfern herum."
Amerrk a
Jnt Mittelalter sah mein das jenseits der Säulen des Herkules
flutende Meer als etwas Unheimliches, als ein grausige Gefahren
in sich bergendes Wasser an; die Magnetberge und das Lebermeer
drohten dem Schiffer, und auf den alten Karten bevölkerten schreck-
liche Ungetüme die gefährliche Wasserfläche. Aber andererseits regte
sich doch auch schon frühe die Sehnsucht, die geographischen Rätsel dieser
Wasserwüste zu lösen, und eine sozusagen unbewußte wissenschaftliche
Überzeugung machte sich wiederholt geltend, „daß Thetis neue Erd-
teile enthüllen werde und daß Thule dann nicht mehr das äußerste
Land fei“.1 Uns ist heutzutage die Erfüllung dieser Prophezeiungen
beschert worden, und der Atlantische Ocean erscheint uns schon längst
wie ein guter und traulicher Bekannter, eigentlich wie ein großer
Fluß mit einer regelmäßigen Zeichnung der Uferlinien, dessen Besonder-
heiten in Strömungen, Stürmen und Beschaffenheit des Meeres-
grundes wir genau kennen, so daß wir, wie Alexander von Humboldt
sagt, fast sicherer auf seinem Rücken dahinfahren, als wenn wir uns
einem Frachtwagen von Berlin nach Paris anvertrauten. Und in
wie kurzer Zeit tragen uns die heutigen Riesendampfer an das jen-
seitige Ufer. In noch nicht sechs Tagen erreicht „Wilhelm der Große"
mit seinen 15000 Tons Tragkraft die amerikanische Küste, und in
staunenswerter Schnellfahrt durchfurcht er den Ocean; nördlich bleiben
die reichsten Fischereigründe der Welt liegen, die Bank um New-
foundland herum, wo jährlich gegen 260 Schiffe dem Fange der
Stocksische obliegen und ein Ertrag von 36 Millionen Mark erzielt
wird, südlich liegt weit in den Ocean hinaus bei den Bermudas die
tiefste Stelle des Oceans mit über 7000 m und unweit davon die
berühmten Meeresgründe mit ihrer Durchsichtigkeit des Wassers, wo
die Schwämme der Bahamainseln bei der Klarheit des Ausblicks mit
langen Zangen von den Bänken abgerissen werden können und wo
man bei den Antillen die Gärten der Semiramis ffndet. Da leuchten
tief auf dem Meeresgründe die Seepflanzen, Korallen und tausenderlei
1 Seneka in der Medea.
Gewürm verleihen dem Bilde ein farbenprächtiges Aussehen, und dem
Seefahrer will es scheinen, als schwebe er in der Luft und sehe herab
auf die wunderschönste Vegetation.
Der Erdteil selbst, an dem wir landen, tritt uns wie eine
Riesengestalt entgegen. Er erstreckt sich durch 125 Breitengrade und
hat seine Länder durch vier Zonen verteilt. Es ist, als N'enn er
den Ankömmlingen die Arme entgegenhält, ihnen sein freundliches
Antlitz zukehrt und in allem und jedem als der jüngere Bruder
Europas sich gebärden will, der völlig die europäische Civilisation
übernommen hat und mit uns wetteifert in den Kultursortschritten
der Menschheit. Die parallele Gegenüberstellung der beiden Ufer-
seiten des Atlantischen Oceans hat etwas Überraschendes. Gleichwie
die Jungfrau Europa alle ihre gewinnenden Reize nach Westen kehrt
und der Erdteil Afrika sozusagen den gewaltigen Sockel bildet, auf
dem sie sitzt, so ist Nordamerika die menschlich entgegenkommende
und fühlende Brusthälfte des Erdteils, und Südamerika fließt wie
eine gleichförmige Gewandung herab von der hehren Gestalt. Manches
deutet auch auf den früheren Landzusammenhang mit der alten Welt
über die Brücke der Behringsstraße, während erst „im Tertiärzeitalter
durch vulkanischen Aufwurf der Landenge von Panama" die Ver-
bindung mit Südamerika hergestellt ist. So treffen wir in Nord-
amerika aus alte Bekannte, wie den Wachholderstrauch und das Nenn-
tier und die vertrauten Gestalten der Kiefernarten, während Süd-
amerika uns viel fremdartiger berührt und als der eigentliche Tropen-
kontinent, als reichstes und fruchtbarstes Gelände und als „Treib-
haus" der Erde sich darstellt.
Dennoch betrachten wir Nord- und Südamerika zusammen als
eine Kontinentaleinheit, sie haben ja auch ihre gemeinsamen Sonder-
thpen, die für den ganzen Erdteil charakteristisch sind, so den Kolibri
und die Kakteen. Es erscheint nun bei dem jüngeren Bruder, wie
ich vorhin in Bezug auf die Civilisation Amerika Europa gegenüber
nannte, alles kolossalischer wie in Europa. Der Hauptvorzug Europas
in physikalisch-geographischer Beziehung ist, daß wir hier durchweg
auf eine reichere Individualisierung stoßen; so hat z. B. Deutsch-
land seine charakteristische Stufenbildung vom Tieflande her über
die Mittelgebirgslandschaften und Plateaus hin zur alpinen Hoch-
gebirgsnatur. Desgleichen erscheinen die Flüsse in viel reicherer
Gliederung, und nun gar die überall aufgelockerten,, Küstenränder
und eindringenden Binnenmeere geben Europa die Ähnlichkeit mit
einem riesigen Polypen, der nach allen Richtungen hin seine Fang-
arme ausstreckt, um die mannigfachsten Kultureindrücke aufzusaugen
und in sich zu verarbeiten. In Amerika dagegen fehlen zumeist die
Mittelstufen. Am ganzen Westrande des Erdteils haben wir das
kolossale Hochgebirge, das namentlich in Südamerika seine staunens-
43
werten Erhebungen zeigt. Dazu ist das ganze Hochgebirge besetzt
mit einer reichen Fülle von Vulkanen, die wie riesige Leuchttürme
das gewaltige Wasserbecken des Pacific umsäumen. Man zählt an
56 Vulkane, von denen 26 noch heutzutage thätig sind. Und un-
mittelbar neben diese westlichen Hochgebirge treten nach Osten hin
die gewaltigen Tiefebenen, für deren Riesenströme die Schneemassen
der Hochgebirge, die sich selbst in der Tropenzone finden, die präch-
tigsten Quellenreservoirs bilden. Daher entbehrt Amerika zum wohl-
thätigsten Unterschiede von der alten Welt fast ganz der Wüsten-
gegenden; und nur die Atakama in Südamerika und die Plateaus
westlich vom Felsengebirge können einigermaßen den Charakter der
Wüstenstriche beanspruchen. Was nun die Tiefebenen betrifft, so
umgürtet zunächst die Hudsonsbai ein gewaltiges Tiefland mit einer
zahlreichen Seenkette; man hat mit vollem Rechte diesen Erdenfleck
mit der Ostsee und seinen baltischen seenreichen Uferländern ver-
glichen. Weiter nach Süden folgt das Mississippigebiet mit seinem
Prairieengürtel, und die östliche Oceanküste weist etwa von der Hudson-
mündung ab eine vollständige Flachküste aus mit ihren charakteristischen
Sümpfen, den Swamps, und den Pinebarrens, Fichtenwaldungen,
die so lebhaft an die norddeutschen Landschaftsbilder erinnern. Selbst
Florida ist eine flache Halbinsel, und dieser Typus der ebenen Land-
schaft setzt sich auch noch in den vorgelagerten Sandinseln, den Keys,
fort. Übrigens bringt dieser fast ununterbrochene Zusammenhang
meridionaler Tiefebenen in der Osthälfte Nordamerikas den fatalen
Nachteil mit sich, daß das ganze Landgebiet, in das von dem ark-
tischen Norden her die Kälte ungehindert eindringen kann, klima-
tisch rauher geworden ist. Die europäischen Ansiedler müssen an der
Ostküste Amerikas etwa 10° südlicher ihre Wohnsitze aufschlagen als
in der Heimat; der Lorenzstrom friert in seinem oberen Teile zu, so
daß die Schiffahrt erst mit dem Mai beginnt, und während Pennsyl-
vanien im Sommer die Hitze von Afrika hat, besitzt es im Winter
die Kälte von Norwegen. In Südamerika setzt sich dieser ununter-
brochene Zusammenhang der Tiefebenen noch augenfälliger fort, die
Llanos des Orinoko gehen unmittelbar über in die Hyläa des
Amazonas, und im Süden schließen sich daran die Pampas Argen-
tiniens. Und seinen völlig tropischen Charakter bewahrt Südamerika
auch darin, daß, während in Nordamerika sich doch noch hie und
da, namentlich in den arktischen Ebenen von Kanada nordwärts die
Barrengrounds (unfruchtbare Gründe mit Felsgestein) finden, in den
Selvas des Amazonas auf Hunderte von Meilen hin ein Kieselstein
so selten wie ein Diamant ist. — Natürlich sind demnach in
Amerika die Wasserscheiden oft kaum nachzuweisen; bekannt ist in Süd-
amerika die berühmte von Humboldt nachgewiesene Bifurkation zwischen
Amazonas und Orinoko (durch den Cassiquiare), und in Nordamerika
44
sind charakteristisch die Portages, Stellen, wo zwischen den Quellen
bekannter Flüsse die Boote auf kurze Strecken hinübergetragen werden.
Wo Tiefebenen vorhanden sind, entwickeln sich naturgemäß
Stromsysteme, vorausgesetzt, daß eine genügende Feuchtigkeit dies
ermöglicht, und so ist Amerika „der Erdteil des Wasserüberflusses"
und der klassische Boden für alle die Vehikel auf dem flüssigen
Elemente geworden, also für den Cajak des Eskimos, das Kanu des
Indianers und endlich das Mississippi-Dampfschiff. Schon daß in
Nordamerika die kanadischen Seen die größte vereinigte Masse süßen
Wassers darstellen, die übrigens auch klimatisch von großem Ein-
flüsse ist und den sogenannten Jndianersommer im Oktober und No-
vember erzeugt, — ist überaus charakteristisch; den erstaunlichsten
Reichtum der Wasserbahnen rufen doch aber die großen Tiefebenen
hervor. Hier haben wir die Könige unter allen Strömen der Erde,
einen Mississippi und einen Amazonas. Die Breitengrade, in denen
diese Flüsse fließen (der Mississippi allerdings nur in seinem unteren
Lauf) und die Thatsache, daß sich ungeheure Tiefebenen ungehindert
nach Osten öffnen, bewirken, daß fast bis an die Hochgebirge des
Westens heran die feuchtheißen Passatwinde vom Atlantischen Ocean
einströmen und in den Regenzeiten gewaltige Wasserdunstmassen sich
entladen lassen. Natürlich wird für manche tropischen und subtropischen
Striche an der Ostküste Amerikas diese Regenfülle überwältigend.
In Florida mißt der Regenmesser oft in wenigen Stunden fast
100 mm Regen, in Cayenne stürzen ungeheure Wassermassen herab
und machen das Klima so ungesund, daß man von einer „trockenen
Guillotine" spricht,1 2 aus dem feuchtheißen Klima von Vera Kruz in
Mexiko, der verrufenen Terra ealiente und dem Ausgangsherd des
gelben Fiebers, rettet sich der Mensch auf die höheren Terrassen des
Landes, ^ und erst da wo in etwa 900 m Höhe die mexikanische
Eiche ihr Regiment ausrichtet, hört auch die schreckliche Krankheit
auf. Man will übrigens auch den Indianern, die in den Selvas
des Amazonas leben, nachsagen, daß sie selten länger als 50 Jahre
alt werden. Wir kehren nun zu den Wasseradern zurück. Kein
anderer Erdteil hat solche Riesenströme wie Amerika. Der Amazonas
hat ein Stromsystem, das mehr als der Hälfte Europas entspricht,
mit 20 Nebenflüssen, von der Ansehnlichkeit des Rheins, wie denn
überhaupt Amerika Flüsse wie den Rhein zu Hunderten hat. Dabei
erscheint das Gefälle des Riesenstromes so winzig, daß man vom
Fuße der Anden bis zum Meere nur einen Niveau-Unterschied von
80 m berechnen kann, und noch zwei Elblängen aufwärts ist er
stundenbreit. Das Senkblei hat bei 100 m noch keinen Grund,
1 S. Anhang 7.
2 S. Anhang 5.
45
Ebbe und Flut dringen bis Obydos 100 Meilen aufwärts in den
Strom, und umgekehrt will man wahrnehmen, daß noch auf 40
Meilen (doch wohl Seemeilen) Entfernung das Seewasfer von der
Gewalt des Muffes zurückgetrieben wird. Natürlich geht es bei einem
solchen Riesenkampfe der ausströmenden und hineinfließenden Wasser-
massen auch nicht ohne ein grandioses Naturschauspiel ab, das ist die
Flutwelle der Pararoka, die als eine Riesenwand von 10 m Höhe und
donnernd wie ein brausender Wasserfall den Fluß hinaufdringt und
den begegnenden Booten die äußerste Gefahr bringt, so daß man
von dieser Eigenschaft des Flusses seinen Namen Amassonas —
Bootzerstörer herleitet. Bei dem Amazonas muß man schließlich wie
bei allen tropischen Flüssen zwei Daseinsformen unterscheiden, den
zurückgetretenen Fluß, wenn er, ungestört zwischen seinen Ufern fließt,
und den Fluß zur Zeit der Überschwemmung. Dann fluten seine
Wogen weithin durch die Wälder, die Indianer leben auf den Bäumen,
und in einer solchen Regenperiode wird man die Bezeichnung erst
völlig verstehen, wenn man von einem Binnenmeer und dem Süß-
wasserocean Südamerikas sprechen hört. Die Brasilianer haben auch,
scherzweise könnte man ja sagen, weil das Meer frei sein soll,
(mure liberum) — die Schisfahrt auf dem Amazonas allen Nationen
frei gegeben, und die mit den Wimpeln der seefahrenden Völkerschaften
geschmückten Dampfer dehnen ihre Reisen bis an den Fuß der Anden aus.
Ebenso gewaltig und unvergleichbar nützlicher erscheint der zweite
Riesenstrom Amerikas, der Mississippi mit dem Missouri. 67 000 Jahre,
so wird berechnet, soll der gigantische Strom gebraucht haben, um
mit den heruntergeführten Sinkstoffen sein über 3000 sZ Meilen
großes Delta bilden zu können. 80 m ist der Mississippi bei New-
Orleans tief, fast 500 Meilen aufwärts vermitteln Dampfer den
Verkehr, und man schätzt ihre Zahl auf über ein halbes Tausend.
Die mächtigen Baumstämme, die der Fluß an seinen Ufern abreißt,
schwimmen, wenn sie nicht als häßliches Hindernis der Schiffahrt,
als sogenannte snags, sich im Fahrwasser festbohren, hinaus in den
Busen von Mexiko, und von da trägt sie der Golfstrom als heiß er-
sehntes Treibholz bis an die Küsten Islands und sogar Spitzbergens.
Daß diese Riesenströme auf für europäische Schätzungen so
enorme Strecken hin der Schiffahrt zugänglich sind, unterscheidet sie
aufs vorteilhafteste von den großen Flüssen Afrikas, die, weil sie auf
einem Hochlande fließen, meist nach der Küste hin ihre Wasserfälle
haben. Doch fehlt es auch in Amerika nicht an gewaltigen Stürzen,
wie beim Columbia und beim Bogota in Neu-Granada, wo das
Wasser 170 m hinabfällt; zudem ist ja der majestätischte aller Wasser-
fälle eine echt amerikanische Berühmtheit, nämlich der Niagara.
Dort brausen in jeder Minute 15 Millionen Kubikfuß Wasser her-
ab, und den Donner des Sturzes hört man 9 Meilen weit bis
46
Toronto. Wir haben übrigens in Amerika auch einen Hochlgnds-
fluß, und wie alles dort ins Kolossalische sich erhebt, so bilden die
Canons dieses Flusses wiederum eine der größten Sehenswürdig-
keiten der Welt. Tiefe Schluchten des Stromlaufs haben wir z. B.
auch beim Tajo, dort aber beim Colorado erscheinen der Monument
cañón und der Grand Canon als wahre Riesenbauten.1 2 3 Die User-
wände der Schlucht, in der der Strom fließt, stürzen senkrecht bis
zu 2300 in herab, und die buntschillernden Gesteinsmassen der Marmor-
wände haben dem ganzen Distrikt den Namen Colorado gegeben.
Man kann sich denken, daß bei dieser Einwirkung der Wasser-
sülle und der feuchtheißen Winde die Vegetation eine wieder ins
Kolossalische gehende Üppigkeit und einen strotzenden Reichtum auf-
weisen wird. Daher hat man auch „die Frondosität" oder die
Laubfülle als ein besonderes Charakteristikum des Erdteils hervor-
gehoben und nennt Amerika schlechthin „den Pflanzenkontinent", oder
man behauptet, es sei „bei der großen Dünnheit der Bevölkerung
vielfach eine Einöde, nur bestimmt zur Entwickelung des Pflanzen-
wuchses". Wie sind bei den Llanos des Orinoko alle Vorbedingungen
gegeben, um hier bei dem tropischen Sonnenbrände eine geographische
Typenform sich entwickeln zu lassen, ähnlich der afrikanischen Saharah!
Während aber dort die Regenarmut dem Landstrich den Fluch und
Stempel der ewigen Wüstensorm aufdrückt, zaubert hier die Regen-
zeit wenigstens auf drei Monate Fruchtbarkeit und schwellende Vege-
tation hervor. Das staunenswerteste Bild der Pflanzensiille bieten
aber doch die Selvas des Amazonas mit ihrem Flächenraum von
über 100000 Meilen.52 An den Bäumen hängen hier statt unseres
nordischen Mooses und der Flechten die Lianen und Orchideen;
Fuchsien lassen noch in 30 ui Höhe ihre blütenreichen Gehänge herab-
sallen, überall blüht und leuchtet es in schönstem Farbenschmucke, so
daß wir an unsere eintönigen nordischen Wälder gewöhnten Euro-
päer ganz starr vor Staunen sind, und hier in der Hyläa entwickelt
sich der edelste aller Bäume, die Palme, zu ungezwungenstem Wachs-
tum, so daß die Wachspalmen und Bombaceen über den Laubkronen
des Waldesgrüns sozusagen noch einen besonderen Wald in höherer
Etage aufbauen, b
Auch kommt es vor, daß einzelne Pflanzen sich zu wahren
Monstrositäten des üppigen Gedeihens auswachsen, wie denn in
Peru einst vier Pferde im Schatten einer Rübe gestanden haben
sollen. Die Triebkraft der vegetativen Natur ist schier unerschöpflich:
man sieht mitunter eine Kathedrale bis in die obersten Spitzen mit
Gebüsch überwachsen, selbst in den Vulkankegeln grünt und blüht es
1 S. Anhang 8.
2 Zwölfmal so groß als Deutschland.
3 Der Wald über dem Walde (St. Pierre). S. Anhang 6.
47
noch, und in Quito, wo ein ewiger Frühling herrscht, sind Sämann
und Drescher gleichzeitig beschäftigt. Echt charakteristisch klimmt die
Vegetation hier auch noch zu Höhen hinan, wo bei uns in Europa
bereits alles Leben erstorben ist. Die Hochebenen der Anden liefern
reiche Getreideerten und sind von stark bewohnten Städten besetzt,
wie in Potosi bei 4000 m Höhe, obschon dem Fremdling in der
dünnen Lust das raschere Gehen bereits Atembeschwerden macht. In
Peru, ihrem eigentlichen Heimatlande, wächst die Kartoffel bei 4300 m
Höhe, unweit der Grenze des ewigen Schnees. Und nun erst der
Gras- und Wiesenteppich der Prairieen mit ihren leuchtenden Farben-
tönen, wo rote Blumen, vor allem die Georginen, dem Auge die
seltenste Augenweide bieten. Da spricht man mit vollem Recht von
„einem grünen Ocean", der jetzt allerdings vor der mächtig vorschreiten-
den Ackerbaukultur westwärts zurückweichen muß. Nichts ist daher
auch bezeichnender für Amerika, als die so häufig wiederkehrenden
Bezeichnungen einzelner Landschaften als eines Gartengeländes und
eines Blumenangers, wie Chile der Garten der neuen Welt heißt
und Chicago die Gartenstadt, Paramaribo der Blumengarten, die
vom Golfstrom umflossene Halbinsel Florida von den Blumen ihren
Namen hat und selbst ins Meer hinaus noch St. Croix und Haiti
Garten der Antillen und Westindiens genannt werden.
Der Frondosität des Erdteils entspricht der Reichtum an Tieren,
nur daß bei der großen Feuchtigkeit, die wir wenigstens in Süd-
amerika haben beobachten müssen, mehr Vögel, Insekten und Rep-
tilien gedeihen und die Tiere höherer Ordnung schwächer vertreten
sind als in der alten Welt. Namentlich in der trockenen Jahreszeit
wimmeln die Landschaften Südamerikas von Getier aller Art; Hum-
boldt schrieb von Cumana aus an seinen Bruder: Welche Farben
der Vögel, der Fische, ja selbst der Krebse (himmelblau und gelb)!
Wie die Narren laufen wir bis jetzt herum, und Bonpland versichert,
daß er von Sinnen kommen werde, wenn die Wunder nicht bald
aufhörten. In der Nacht erhebt sich ein Höllenlärm im Urwald,
die Heultöne der Affen bilden den Grundton in dem infernalischen
Konzert, und dazu gesellt sich bei Tage das Gekreisch der grünen
Papageien, die in den Waldbäumen sitzen und Kapseln und Beeren
von ihrem Fräße wie ein Schloßenwetter auf die harten Blätter
herunterfallen lassen. Der Europäer wird den anmutigen Gesang
unserer Waldvögel sehr vermissen, und auch in Nordamerika entbehren
die Wälder die süßen Melodieen unserer gefiederten Lieblinge. Für
die Anmut muß hier wiederum die Kolossalität der Erscheinungs-
formen entschädigen. Der Kondor, „der Bote der Sonne", mit 4 m
Flügelspannung weilt am liebsten in den höchsten Luftschichten der
Anden (bis zu 7000 na), und wenn er „aus solcher Höhe in die
glühende Ebene hinabschießt, fährt er in einer Minute durch alle
48
Temperaturen der Erde". Am wunderbarsten erscheinen in Nord-
amerika die riesigen Züge der Wandertaube, die man den „Hering
des Luftmeers" genannt hat. So wurde ein vier Stunden ununter-
brochen fliegender Zug von einer Viertelmeile Breite gesehen, den man
aus 2230 Millionen Stück berechnete. Und nun die Rinderherden
auf den Pampas, die teilweise in die Estancias eingefriedigt werden
und nach Millionen zählen, und die wilden Mustangs in Texas,
die von Andalusierrossen abstammen sollen. Der Büffel allerdings
hat von den Prairieen Abschied genommen, das Tier ist dort aus-
gerottet und wird nur als Rarität noch in den Nationalparks
gehegt.
Wie steht es endlich mit der Krone der Schöpfung, dem Menschen,
in Amerika? Der Eingeborene, also der Indianer, ist meistens auf
den Aussterbeetat gesetzt^ und zeigt dadurch, daß er mit Recht als
die schwächste der Menschenrassen gilt. Statt dessen haben sich die
anderen Rassen in Amerika eingebürgert, die weiße oder kaukasische,
die Neger und in neuester Zeit mit unheimlicher Findigkeit die
mongolische der Chinesen, so daß sich z. B. in San Francisco oder
New-Orleans das tollste Rassengemisch ergiebt. Für die Weißen
waren von den ältesten Zeiten der Puritaner an bis in die neuesten
Perioden der Europamüdigkeit die zahlreichen Umschreibungen des
Napoleonischen Ausspruchs: oette vieille Europe m’ennuie maß-
gebend; die Neger wurden zur Zeit der Sklaverei als schwarze Ware
importiert, und in den Baumwollenplantagen der nordamerikanischen
Südstaaten, als der übermütige Ausruf galt ootton is king, arbeiteten
über 800000 Schwarze als Sklaven, und noch mehr wimmelt es
von Negern in den Kaffeepflanzungen Brasiliens, die die Hälfte des
Kaffeekonsums in der Welt erzeugen; endlich den Chinesen leitet die
Erwerbssucht, und wie ein häßliches Ungeziefer schieben sich die
Zopfträger mit ihrem Schmutz und ihrer Gier, aber auch ihrer An-
stelligkeit ostwärts an dem Geleise der Pacisicbahn immer weiter in
den Kontinent vor. Dennoch sind die ungeheuren Flächenräume
Amerikas als Ganzes nur dünn bevölkert. Man rechnet im Durch-
schnitt 3 Menschen auf den □ km, wo in Europa auf der gleichen
Fläche 39 Menschen wohnen.
Bei den Einwanderungen der Europäer scheidet sich deutlich der
Norden Amerikas von dem Süden oder die germanische und romanische
Kolonisation. A. v. Humboldt wollte es als ein Glück bezeichnen,
daß Kolumbus kurz vor Erreichung seines Zieles den Kurs seines
Schiffes änderte und also statt nach Nordamerika zu kommen Mittel-
und Südamerika entdeckte und kennen lernte. Er meinte, damit
wäre die romanische Einwanderung nach der Mitte und dem Süden
1 Wenn er nicht zu cimlifiertev Lebensart übergeht.
49
Amerikas abgelenkt und hätte der germanischen in Nordamerika den
nötigen Spielraum gelassen. Das ist sehr geistreich geurteilt, aber
es wäre doch immer so gekommen, daß die golddurstigen Spanier
und Portugiesen sich die reichen tropischen Gegenden aufsuchten und
die genügsameren Germanen sich die Ackerbaudistrikte auswählten.
Und nun hat es sich wie immer gezeigt, daß der vegetative Reichtum
der Landstriche in „ umgekehrtem Verhältnis steht zu der Tüchtigkeit
der Bewohner. Überall in den kreolischen Republiken (Kreole —
Nachwuchs, also der eingewanderten Spanier) hat der Reichtum des
Landes und der mühelose Erwerb und Unterhalt anarchische politische
Zustände hervorgerufen, und vielleicht mit Ausnahme von Chile und
Argentinien wandelt man wirklich in Mittel- und Südamerika „nicht
ungestraft unter Palmen".
Im Gegensatz dazu hat die germanische Einwanderung in den
mittleren Partieen Nordamerikas — man hat mit Recht von gewerb-
lichen Kreuzzügen gesprochen — die allergrößten Erfolge aufzuweisen,
und heutzutage fangen die Bereinigten Staaten von Amerika an, in
jeder Beziehung auf dem Welttheater ein gewichtiges Wort mitzu-
sprechen. Das mittlere Drittel Nordamerikas ist ja diejenige Region,
die am meisten Ähnlichkeit mit Europa hat, und hier besteht jetzt die
große Jankeerepublik auf 170000 fisjM. mit 72 Millionen Einwohnern,
also fast 1^/zMal soviel als im Deutschen Reich. Der Weiße hat sich
hier recht als der geborene Herrscher der Erde bewiesen. Von den
Zeiten der Cooperschen Romane an, wo Franzosen und Engländer
sich um die Freundschaft der romantischen Indianer bewarben, wo in
den ausgesprochensten Zuständen des Sguattertums ein Farmer den
Platz, auf dem jetzt das riesige Cincinnati steht, um ein Pferd ver-
kaufen konnte, hat sich dies gewaltige Gemeinwesen in einer beispiel-
losen Schnelligkeit des Wachstums entwickelt. Die Vorbedingung zu
dieser blühenden Entwickelung ist die staunenswerte Anpassungs-
fähigkeit des weißen Mannes, „der jedes Klima erträgt, vor keiner
Arbeit zurückschreckt und alle Hindernisse besiegt, der, wie das geist-
voll ausgeführt ist, in der Bai von Fundy seine Netze auswirft, in
den Thälern des Sacramento nach Gold grübt, in Florida Datteln
und Orangen pflanzt, in Oregon Biber jagt, in Texas Herden von
Schafen zieht, in Massachusetts Zwirn spinnt, in Washington den
Staatsmann spielt und in New-Jork die Feder führt. Er ist zu
Hause unter den Palmen wie unter den Fichten, in jeder Breite der
Führer, Arbeitgeber und Herrscher". Und diese Assimilierungskraft
erzeugt das einheitliche Jankeetum der großen Republik, in dessen
ausgesprochenen Volkscharakter alle eingewanderten Familien schon
mit der dritten Generation hineinwachsen, selbst die Inden. Das
neue Volkstum prägt sich sowohl äußerlich charakteristisch aus in den
hageren Gestalten mit dem dünnen Halse und der fieberhaften Ge-
Hanncke, Erdkundl. Aufsätze.
4
50
schästigkeit, ^ als auch in der ganzen Lebensauffassung. Recht
charakteristisch hat der Jankee in New-Jork seine Börse nach dem
Musterstil des Parthenons in Athen erbaut; wo die alte Welt ihr
ästhetisches Genügen fand an der Pflege der Kunst und in den
künstlerischen Bethätigungen sich ruhiger und idealer auslebte, ist
hier der Erwerb und die Hast und Jagd nach dem Reichtum getreten,
und der Dollar2 ist sozusagen der Gott, dem man huldigt. 3
Diesem zwingenden Einfluß der neuen Heimat und des neuen
Volkstums hat sich bisher leider auch der Deutsche bedingungslos
unterworfen. Was für eine Nationalkraft wurde dadurch dem euro-
päischen Mutterlande entzogen! In 70 Jahren sollen aus Deutsch-
land in die Vereinigten Staaten gegen 5 Millionen neue Bürger
eingewandert sein, so daß man Pennsylvanien z. B. das amerikanische
Deutschland nennt, in Texas 1/3 Deutsche rechnet und in den großen
Städten New-Iork der 10. Einwohner ein Deutscher ist, in Chicago
der 8., St. Louis der 7., Cincinnati der 6., Milwaukee der 4. und
in Buffalo der 2. Die Kühnheit und den Wagemut ihrer euro-
päischen Heimat haben die Deutschen auch in Amerika bewiesen.
Während der Engländer Whymper den zuerst von Humboldt besuchten
Chimborazzo allerdings bis zum Gipfel erstieg, hat 1873 der Deutsche
Wilhelm Reiß sogar aus dem Gipfel des Cotopaxi, des höchsten aller
thätigen Vulkane, gestanden,4 und der Schweizer Bergführer Zur-
briggen ist bis zum Gipfel des Aconcagua, 7000 m, vorgedrungen,
womit die höchste Bergbesteigung zu verzeichnen ist, die se gemacht
wurde.
Es ist nun, als wenn alles in Amerika die Kühnheit kaufmän-
nischer Energie hervorzurusen gleichsam von Hause aus prädestiniert
sei. Schon die konstanten Winde, die die europäischen Schiffe nach
Amerika tragen und die die Spanier Passate oder Reisewinde nannten,
haben die Engländer umgetauft in tl-aäecviulls — Handelswinde.
Dann besitzt Amerika die schönsten Häsen der Welt. In Rio de
Janeiro, eigentlich dem Januarfluß, weil die Einfahrt in die geräu-
mige Bucht zunächst die engen User eines Flußlauss darzubieten
scheint, können bequem sämtliche Kriegsflotten der Erde ankern; in
Habanas Hafen ist Platz für 1000 Schiffe, und diese fahren gerades-
wegs in bte Straßen hinein; aus der Westseite haben wir die schöne
Fonsecabai und das „goldene Thor" von San Francisco; am be-
* Bei aller Wassermenge des Klimas durch Regen, Schnee rc. haben die
Vereinigten Staaten doch eine charakteristische Trockenheit der Luft, die auch ihren
Einfluß auf die physischen Eigentümlichkeiten der Bewohner haben soll.
* Unser „Thaler".
3 Der amerikanische Dichter Walt Whitman erkennt nur die exakten Wissen-
schaften an; „Mathematiker, Chemiker, Geologen — euch immer die ersten Ehren!"
4 Den Donner seines Ausbruchs hörte Humboldt 1803 in Guayaquil,
33 Meilen entfernt.
51
kanntesten und für den Zuwachs der Bevölkerung einflußreichsten
sind doch aber die Osthäfen der Vereinigten Staaten und^ allen
voran New-Jork; man rechnet jährlich an 20000 einlausende Schiffe.
Die eigene Handelsflotte der Bereinigten Staaten ist die zweite der
Welt und wird nur von der englischen übertroffen, die deutsche
dürste sie aber bald erreichen. 1 2
Das, was die Europäer immer von neuem reizen wird, Amerikas
Küsten aufzusuchen, ist der unerschöpfliche Reichtum des Landes.
In seinen Mineralschätzen steht der Erdteil geradezu unerreicht da.
Wir sehen von den früheren Zeiten ab, wo die Silbergruben von
Potosi ergiebig genug waren, ganze Silberflotten zu befrachten, die
dann Spanien alljährlich das Danaergeschenk unproduktiven Reich-
tums brachten, wo man Landstriche und Flüsse nach den Funden
des edlen Metalls ohne weiteres benannte, wie Argentinien und
La Plata (Plata — Silber); wo endlich Mexiko als Herberge fabel-
hafter Bodenschätze galt — und in Mexiko liegt das Gold wie
Stroh 2 —r um nur die Jetztzeit gebührend zu berücksichtigen. Das
Hochgebirge, das den ganzen Erdteil durchzieht, birgt unermeßliche
Mineralschätze. Cordilleras de lo8 Andes heißt es ja darum, das wir
Erzgebirge übersetzen; Chile ist der Fundort für Kupfer, und die
Sierra Nevada (in Kalifornien) hat den reichsten Silbergang der
Erde. Das benachbarte Kalifornien galt lange Zeit wegen seiner
Goldfunde als „das Ophir der heutigen Zeit", und ebendarum konnte
man den Sacramento als den Strymon oder Paktolus der neuen
Welt bezeichnen. Und merkwürdig, wo jetzt die Goldfunde allmählich
zu versiegen scheinen, eröffnen sich dem paradiesischen Lande durch
den Anbau von Getreide und Obstbäumen Einnahmequellen, die die
frühere Zeit der Goldsunde weit hinter sich zurücklassen. Das Ge-
treide leitet uns zu der Vertreterin der mittleren Landbaustriche der
Vereinigten Staaten über, zu Chicago, das als der erste Getreide-
markt der Welt gerechnet werden muß. Chicago, das mitten im
Kontinente liegt, ist zugleich Seestadt, da mit Benutzung der kana-
dischen Seen und der Kanäle das Getreide gleich auf dem Wasser-
wege verschifft werden kann. Überhaupt ist Europa von Amerika
in kaufmännischer Beziehung ganz abhängig. Mit Recht ertönt das
stolze Wort, daß das amerikanische Petroleum die Welt erobert hat,
desgleichen ist der Kaffee Südamerikas und Kubas für Europa un-
entbehrlich. Der Zucker, der als Extrakt des Zuckerrohrs früher
ebenfalls unentbehrlich war, — Kaffee und Zucker aus Amerika
1 Als wichtige oeeanische Zwischenstation auf dem Wege von Europa nach
Mittelamerika ist die dänische Jungferninsel St. Thomas zu bezeichnen, die darin
Apia in den Samoainseln auf dem Wege von San Francisco—Honolulu — Sydney
ähnelt.
2 Auch „erstes Silberland der Erde".
52
waren die wichtigsten Importe in Europas und für sie erfand man
das Wort Kolonialwaren — ist jetzt allerdings durch den Rüben-
zucker völlig verdrängt. Endlich sind noch als weitere wichtige Han-
delswaren der neuen Welt und insbesondere der Vereinigten Staaten
zu nennen: die Baumwolle, der Tabak 1 2 und der Kautschuk Ama-
zoniens. Ja es will scheinen, als ob selbst offenbare klimatische
Mängel in diesem glücklichen Erdteile nur wieder dazu dienen, dem
Lande neue kostbare Erzeugnisse zu verschaffen, wie denn die Ab-
wesenheit des Regens in der Atakama und im nördlichen Chile es
ermöglicht, den Salpeter und die Guanolager auszubeuten.
Für den einheimischen Aufschwung der Industrie, des Handels
und Verkehrs ist es schließlich von weittragendster Bedeutung, daß
die Vereinigten Staaten Kohlenschätze aufzuweisen haben, wie sie in
so riesiger Fülle und Ausdehnung die alte Welt nicht kennt.3 Die
Ausnutzung dieses für unser Zeitalter des Dampfes und der Schlote
unentbehrlichsten Feuerungsmaterials ermöglicht vor allem den Ausbau
eines Eisenbahnnetzes, wie es staunenswerter nicht gedacht werden
kann. Die Schienenlänge der Verkehrsbahnen übertrifft die in Deutsch-
land um mehr als das Sechsfache. Und zu dieser riesigen Aus-
dehnung 4 5 kommt nun die echt amerikanische Kühnheit des Oberbaues.
Die Bahn aus den Washingtonberg hat eine Steigung von 1 km
aus 4 km Strecke, und auf schwindelnden, von Holzstämmen errich-
teten Viadukten donnern die Züge hinweg über grausige Abgründe?
So tragen auch alle sonstigen Bauten in den Vereinigten
Staaten das Gepräge der ausgesprochensten Rücksicht auf das Nütz-
liche und praktisch Verwertbare. Einer so romantischen Sage wie
in Mittelamerika, daß Puebla (übrigens die älteste von Europäern
gegründete Stadt auf dem amerikanischen Festlande) von Engeln
erbaut sei, begegnet man hier nicht mehr; beinahe werden die Städte
wie die Droschken numeriert, und es giebt 140 Washingtons, 14 Ber-
lins rc. Auch den Eindruck pittoresker Schönheit des Stadtbildes,
wie in den südlicheren Breiten Amerikas, wo Mexiko als schönste
Stadt des Erdteils und Rio sogar als entzückendste Stadt der ganzen
Welt gilt, sucht man in den Bereinigten Staaten meist wohl ver-
gebens. Das mag sich auch daher schreiben, daß in diesen südlicheren
Breiten die Furcht vor den Erdbeben dazu zwingt, die Häuser ein-
1 Der Kaffee aus dem französischen Domingo bildete für Frankreich im anden
régime eine der vornehmsten Einnahmequellen, Zucker aus dem euglischeu Jamaika.
* Auf den Tabak soll man zuerst dadurch aufmerksam geworden sein, weil die
Eingeborenen in Bariuas (Venezuela) Tabak rauchten, um die Moskitos zu ver-
scheuchen.
* In Pennsylvauien, überhaupt im Osten sind 5800 sffsM. Kohlenflöze, wäh-
rend Großbritannien nur deren 480 sZdA. und das Saarbecken 6 Os M. hat.
4 Es giebt noch Bahnen in der Höhe des Montblanc.
5 Höchstes hölzernes Bauwerk der Welt, 70 in über dem Wasser.
53
stockig zu bauen und daß diese Bauart zu der Behaglichkeit des
ganzen Anblicks beitragen mag.1 * In der Jankeerepublik dagegen
zwingt die Rücksicht auf möglichst praktische Raumausnutzung dazu,
20 — 30 Stockwerke hohe Häuser zu errichten, und die Bekanntschaft
mit diesen modernen babylonischen Turmbauten in den schnurgeraden
und rechtwinklig sich schneidenden Straßen wirkt beängstigend. ■—
Und wie alles in Amerika kolossalisch erscheint, so haben die nüch-
ternen Jankees auch von Staatswegen einen ganz einzig dastehenden
Erholungspark bestimmt. Der Nationalpark der Jellowstoneschen
Geysirgebiete, wo der Riesen-Geysir 81 m hoch springt, hat eine
Ausdehnung wie etwa das Herzogtum Schleswig, und seine Länge
entspricht einer Distanz von Berlin bis Stettin. ^
Und damit nehmen wir Abschied von Amerika und seinen Be-
wohnern. Es fehlt ja nicht an besonnenen Männern, die Amerika
das Land der Zukunft nennen und die berechnen, daß, wenn wir
aus dem potamischen Zeitalter der Urzeiten hinübergeglitten sind in
das thnlassische der Griechen, Römer und der mittelalterlichen Völker
und jetzt stehen sollen in einem eminent oceanischen, — daß dann
eben Amerika alle Vorbedingungen zum Idealbild eines oceanischen
Erdteils in sich erfüllt. Das Fehlen aller historischen Erinnerungen,
wie wir sie in der alten Welt gewohnt sind, begeisterte selbst einen
Goethe zu den Versen:3
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Aber das wird immer Sache des Gefühls bleiben, und trotz
Goethe wollen wir Deutschen uns die Freude an unseren Burgen und
Märchen, au unseren Eichen und blauen Seen nicht nehmen lassen.
Wir leben des Glaubens, daß auch unsere deutsche Heimat noch
„ein Land der Zukunft" sei.
1 Auch die Einwohnerschaft mag diesen Eindruck der Behaglichkeit erwecken,
wie denn in Buenos Ayres selbst der Bettler vom Pferde herunter betteln soll.
3 Die Mammuthöhle iu Kentucky hat eiue Ausdehnung von 75 km.
3 Sprüche in Reimen: Den Vereinigten Staaten.
E u r v p ñ.
giebt Geographen, die verächtlich von dem „Erdteilchen"
Europa sprechen, weil sie seine Ebenbürtigkeit den andern Kon-
tinenten gegenüber bezweifeln, und Peschel äußert sich spöttisch,
Europa sei unter die übrigen Erdteile gekommen wie Pilatus in das
Kredo. Schon die Semiten, denen natürlich unsere Scheidung in
Kontinentalindividuen ganz fern lag, nannten es nur Ereb, das
Land des Sonnenuntergangs, dem Ayu, Land des Sonnenaufgangs,
gegenüber, und daher schreibt sich der Name Europa her. Aber es
hat doch mehr für sich, Europa trotz seiner Kleinheit, — es ist nur
2^ mal so groß wie Indien —, als einen eigenen Erdteil zu be-
trachten; neben den plumpen Gesellen, die sich seine Brüder nennen,
ist es der individuell gestaltetste, und was ihm an Größe abgeht,
ersetzt es durch die Beweglichkeit und Gewecktheit seines ganzen
Habitus. Auf 119 sillín kommt 1 km Küstenlänge; es liegt fast
ganz in der gemäßigten Zone und läßt auch in seinen Bodenerhebungen
das Maßvolle erkennen, so daß, wenn wir die ganze Masse des
Erdteils über seine Fläche gleichmäßig ausgebreitet uns dächten, also
seine mittlere Höhe berechneten, wir nur 975 in erhielten, während
selbst Australien eine mittlere Höhe von 470 m aufweist, von den
anderen Kontinenten ganz zu geschweigen. Wir sprachen vorhin von
einer Gewecktheit des ganzen kontinentalen Individuums und könnten
die Parallele mit einem begabten Menschenkinde noch weiterführen.
Europa ist der am dichtesten bevölkerte Erdteil; fast der vierte Teil
der Menschheit wohnt in ihm, 39 Menschen auf den Okm, und
diese Bewohner sind so rührig, daß 7/10 des gesamten Außenhandels
der Erde sich in den Händen der Europäer befindet. Aber die Ge-
wecktheit hängt auch oft mit einer gewissen gesteigerten Lebendigkeit
zusammen, und so will man Europa den geologisch unruhigsten Erd-
teil nennen. Während Afrika schon völlig seine äußere Ruhe erlangt
hat, sind für Europa die noch immer fortgesetzten Hebungen und
Senkungen der Landräume charakteristisch, die wie nervöse Zuckungen
den Kontinent durchzittern. Das „reichgestaltete" nennt Strabo
Europa no^vo/jj/ioveorárr], und ein anderer Beurteiler rühmt es als
55
eine „Modellkammer von Erdgebilden". Dieser fast pädagogische
Wert des Erdteils wird bedingt durch ein interessantes Durcheinander
geographischer Typen, und wir wollen im folgenden versuchen, Gegen-
überstellungen dieser einzelnen Besonderheiten zu geben.
Europa zerfallt zunächst in zwei grundverschiedene geologische
Regionen. Die südeuropäische Faltenzone liegt südlich von Pyrenäen,
Alpen, Karpathen mit ihren alpinen Hochgebirgen und den ein-
geschlossenen Senkungsfeldern, wie Po-Niederung, ungarisches Becken
und das ganz in die Tiefe versunkene Gebiet des tyrrhenischen Meeres.
Im Norden und Westen von Europa haben wir das große Schollen-
land mit seinen horizontal gelagerten Tafeln, mit seinen Einbrüchen
und als Gebirge erscheinenden stehengebliebenen Horsten und mit den
Schuttanhäufungen der Eiszeit. Die 18 Hauptströme Europas durch-
ziehen strahlenförmig das Schollenland und haben größtenteils in
der Faltenzone ihren Ursprung. Der „baltische Schild" der skan-
dinavischen Granittafel erstreckt sich im äußersten Nordwesten des
Schollenlandes wie eine riesige Festungsmauer dem Weltmeere ent-
gegen. Merkwürdig ist, daß die das Schollenland umgebenden
Meeresteile im Norden und Westen Europas alle flach sind, und
man hat berechnet, daß eine Hebung Europas nur um 200 m ge-
nügen würde, um sämtliche Binnenmeere von Nowasa Semlja bis
zum Biskayischen Meerbusen trocken zu legen. Andererseits zeigt
das Mittelmeer bedeutende Tiefen, bis zu 4000 na in seinen süd-
lichen Teilen; aber gerade diese Tiefe läßt es als Heizreservoir für
seine Umgebung im Winter erscheinen. „Es vermag die im Winter
sich abkühlenden, folglich schwerer werdenden Wasserteilchen der Ober-
fläche Schicht für Schicht in die Tiefe einsinken und wärmeres
Wasser an die Oberfläche emporsteigen zu lassen, so daß die darüber
lagernde Luft erwärmt wird." Mit den geologischen Unterschieden
treffen auch klimatische Gegenüberstellungen zusammen. In dem
Schollenlande haben wir die Zone des vorherrschenden Sommer-
regens; Wiesen und Kornfelder sind die charakteristischen Bestandteile
des Landschaftsbildes. In den südlichen Teilen der südlichen Halb-
inseln dagegen treten Winterregen auf, und wir begegnen dem Acker-
bausystem der Gartenlandschaften, wie es sich am ausgeprägtesten in
den spanischen V6ga8 und huertas findet. In dem trockenen Som-
mer, wo die Nordwinde vorherrschen (vergl. die Etesien der Alten),
ist die Vegetationsruhe für die einjährigen Pflanzen, wie bei uns
im Winter, während gerade der Winter sich das Getreide entwickeln
läßt, das man bei Beginn der Sommerdürre im Mai erntet, worauf
oft noch Reis gesät und zur Reife gebracht wird.
Der Westen Europas hat ein ausgesprochen oeeanisches Klima
mit feuchten und warmen West- und Südwestwinden. Dazu kommt
noch der Einfluß des Golsstromes, der die Temperatur der westlichen
56
Küstenränder Europas erhöht, so daß wir in Norwegen „die größte
Temperaturanomalie auf Erden" haben, d. h. ein trotz der hohen
Breitengrade warmes oder gemäßigtes Klima. Natürlich müssen
diese westlichen Länder mit der Wärme auch den Regen in den Kauf
nehmen, so daß man in Bergen scherzt, die Kinder kämen mit ge-
krümmten Fingern zur Welt, um später den Regenschirm halten'zu
können. Mit derbem Spott nennen die Spanier aus eben dieser
Ursache Santiago den Urinal (Nachtgeschirr) des Landes, und im
englischen Cumberland int Seendistrikt mißt man die höchste Nieder-
schlagshöhe Europas mit 472 cm. Irland kann, weil es zu feucht ist,
nur aus einen zuverlässigen Ertrag der Kartoffeln rechnen. Die Begleit-
erscheinung des Regens ist oft stürmisches Wetter und Nebel, und
berüchtigt in dieser Beziehung sind die Highländer in Schottland,
wo der gälische Dichter Ossian seine schwermütigen Weisen dichtete. —
Merkwürdig kontrastiert mit dieser Regenfülle der Westküste der phre-
näischen Halbinsel das Innere Spaniens, das zu den trockensten
Ländern Europas gerechnet wird und das in Satamanka mit 24 cm
den regenärmsten Ort Europas besitzt. Natürlich ist der Winter
auch entsprechend kalt; in Madrid friert das Wasserbassin im Buen-
retiro zu, so daß Schlittschuh darauf gelaufen wird. Rußland natür-
lich mit seinem kontinentalen Klima hat eine so excessive Winter-
kälte, daß im Januar oft das Quecksilber hämmerbar wird und man
Messungen nur mit Alkohol vornehmen kann.
Spanien und Rußland, die wir eben erwähnten, konstrastieren
noch in einer anderen Beziehung. Zunächst hat ja allerdings das
Wasser für beide Länder insofern Bedeutung gehabt, als zu jener
Zeit, da die spanischen Fahrzeuge das Meer beherrschten (im 16. Jahr-
hundert), man Spanien als „das Ruder Europas" bezeichnete und
wiederum Rußland seinen Namen von den normännischen Gefährten
Ruriks, den Ruß oder Ruderern, herleiten soll. Sonst aber beruht
gerade auf dem Wasser der einschneidendste Gegensatz, in dem beide
Länder zu einander stehen. Charakteristisch für Spanien ist der un-
gleiche Wasserstand der meisten Flüsse. Man begreift im Hoch-
sommer nicht, wozu die hochbogigen Brücken dienen sollen, die sich
über ein winziges Wässerchen spannen, „in dem kaum ein Sperling
ein Flußbad nehmen könnte"; selbst dem berühmten Kaiserkanal, der
sich schon seit den Zeiten Karls V. 88 km längs des Ebro hinzieht,
fehlt es zuweilen an Wasser. Im Herbste allerdings, wo es oft
à cantaros, in Krügen (wie der Spanier sagt) gießt, und im Früh-
jahr ist es anders,' dann wälzen sich in den Wasseradern gewaltige
Fluten. Diese periodische Wasserarmut bedingt es auch, daß die
iberische Meseta, das centralspanische Tafelland, das die stolzen
Spanier „das Antlitz Europas" nannten, zu Zeiten einen trostlosen
Eindruck macht, und daß man fast versucht ist, „dieser Wüstenei
57
gegenüber das reizlose Brandenburg als eine Art von Garten zu
bezeichnen". Auch das aragonische Becken enthält Steppen und Salz-
wüsten von schauerlicher Öde. Wenn wir also in Spanien meist Trocken-
heit und Wasserarmut finden, so haben wir in Rußland ein Land
des Wasserreichtums, eine Länge und Güte der Wasserwege, die bei-
spiellos auf der Erde dasteht. In Rußland allein haben wir Riesen-
ströme wie in Asien; die Wolga, „das Mütterchen", wird in ihrem
ganzen langen Laus von Twer an bis zur Mündung mit Dampf-
schiffen befahren, und der Dniepr ist ihr ebenbürtiger Genosse. Da-
zu kommt die Flachheit der Wasserscheiden. Die Stromsysteme der
Newa, Wolga und Dwina verflechten sich miteinander, und eben
darauf beruht die Bedeutung Petersburgs, das ebensowohl mit der
nordrussischen Tiefebene als mit dem oberen Wolgagebiet, dem Haupt-
produktionsbezirk Rußlands, in Verbindung steht. Von der Petschora
kann man auf Schleppwegen Boote in die Dwina und Kama
bringen, und bei Hochwasser gelangt man auf Kähnen ins Weiße
Meer. Schließlich verfügt man hier in Rußland über kolossale
Wassermassen; die Newa fließt so stark und wasserreich dahin, daß
die Kronstädter Bucht zum Süßwassersee geworden ist, und von dem
Wassergehalt des Landes zeugt es doch auch, daß die Rokitnosümpfe
das größte Sumpfland Europas sind. Natürlich wird diese wunder-
bare Gabe des Landes auch in gewissem Sinne wieder beschränkt.
Wohl zu beachten ist es z. B., daß die Wolga, dieser Riesenstrom,
in ein Binnenmeer mündet, statt wie etwa der asiatische Jantsekiang
sich in das Weltmeer zu ergießen, das durch seine Fluterscheinungen
den Kriegsschiffen es ermöglicht, viele Meilen lang stromaufwärts zu
fahren. Zudem haben alle südrussischen Flüsse die Eigentümlichkeit
der Limans, d. h. schlauchartigen Mündungen, die wieder durch
Meeresanschwemmungen verengt sind, so daß der Verkehr der See-
schiffe sehr erschwert ist. Deshalb ergiebt sich auch die ungeheure
Bedeutung Odessas, das unmittelbar an der Steilküste liegt und
weithin den besten Hafen Südrußlands bildet. — Eine zweite Be-
hinderung, den Wasserreichtum in Rußland auszunutzen, ergiebt sich
durch die strenge Winterkälte des ganz unter dem Einflüsse eines
kontinentalen Klimas stehenden Landes. Selbst das Asowsche Meer,
das übrigens in seinem nördlichen Teile so seicht ist, daß nur flache
Schiffe verkehren können und der Don und Donez zu richtigen
Steppenslüssen gemacht werden, friert in der Winterszeit zu, und
die Petersburger find in ihrem Eise so blockiert, daß sie froh sind,
im Frühjahr von Reval, dessen Hafen eher auftaut, die Apfelsinen
beziehen zu können. Immerhin ist der Russe auf sein Vaterland
ebenso stolz als der Spanier, und das russische Sprichwort ist be-
zeichnend, Gott habe den Himmel erhöht, damit des Zaren Haupt
nicht daran stößt.
Eine andere Gegenüberstellung kann man in Bezug auf die
Küsten und deren Relief machen. Gewisse Punkte in Europas Um-
randung sind ja allerdings von vornherein als besonders begünstigt
für eine welthistorische Beherrschung des Seeverkehrs hervorzuheben. Zu
ihnen gehört Konstantinopel, das schon im Altertum den Chalcedo-
niern die Bezeichnung als Blinde eintrug, weil sie seine dominierende
Stellung für Handel und Seeverkehr verkannten. Das Goldene Horn
muß als der ausgezeichnetste Naturhafen gelten, und die ganze Fahr-
straße ist, nüe neuere Strategiker hervorheben, leicht durch Torpedos
zu sperren. Wenn demnach die Tiirkei „die glücklichste Lage unter
allen Ländern des Erdkreises" besitzt, so ist Konstantinopel wiederum
das Juwel in dieser berühmten Krone aller Erdengebiete. Eine
zweite bevorzugte Lage hat Brindisi in Ostitalien, das man als „den
Borposten des Morgenlandes" bezeichnen kann. Hier ist der Aus-
gangspunkt alles Schnellverkehrs nach Indien, Australien und Ost-
asien; denn die Dampferlinien können sich unmittelbar an die Rücken-
eisenbahn von Brindisi nach Mailand und von da nach den west-
lichen und nordischen Hauptstädten Europas anschließen. — Ein
Jnselhafen wie Hermupolis auf Syra im Ägäischen Meer kann in
der modernen Zeit seine günstige Lage mehr und mehr ausnützen,
weil die Dampfschiffahrt einer solchen Kohlenstation bedarf, ebenso
wie heutzutage Liverpool und in älterer Zeit Sevilla emporkamen
und als merkantile Berkehrscentren gelten mußten, weil sie als
nächstgelegene Küstenplätze den ganzen Warenverkehr mit Amerika an
sich rissen. Wesentlich auf allgemein geographischen Thatsachen be-
ruht wieder die Bedeutung solcher Häfen wie London und Hamburg;
denn die innersten Winkel eines Golfes, also hier der Nordsee, sind
in Zeiten starker Handelsbewegung ohne weiteres die besuchtesten
und bevorzugtesten. London ist ohnedies die volksreichste Stadt der
Erde, und Großbritannien beherrscht den vierten Teil der Mensch-
heit; so darf es auch nicht wunder nehmen, daß die Themsestadt als
größter Handelsplatz der Erde bezeichnet werden kann. Hamburg
sodann, das schon jetzt einen immensen Verkehr zeigt, hat noch eine
bedeutende Zukunft, was mit dem Emporkommen des Deutschen
Reiches und der deutschen Betriebsamkeit eng zusammenhängt. Solche
Handelsplätze mußten wir also vorweg herausheben und ihre Aus-
nahmestellung besonders betonen; wir gehen jetzt dazu über, den
Küstenrand Europas in Bezug aus den Gegensatz seiner Beschaffen-
heit genauer zu untersuchen. Die Küsten zerfallen in Steilküsten
und Flachküsten und können beide in ihrer Unausgeschlossenheit dem
Seeverkehr und dem Handel gleich hinderlich sein. Bon Calais z. B.
bis Jütland zieht sich eine Flachküste, und darunter ist die „eiserne
Westküste Jütlands mit ihrem hasenlosen, von Sandbänken begleiteten
flachen Strande eines der gesürchtetsten Gestade der Erde". Ähnlich
59
sind die Landes in Frankreich von Adour bis zur Garonne ein
Gebiet ungeheurer Ablagerungen von Meeressand, das die Westwinde
hier im innersten Golfe des biskayischen Meerbusens angehäuft jhaben.
Wiederum hat die hohe Steilküste von der Somme bis zur Seine-
mündung keine günstigen Hafenbildungen, und die steile Küste Nord-
spaniens bis zum Kap Bares weist nur geringe Einbuchtungen auf.
Am günstigsten erscheint es, wenn die Steilküste durch busenartiges
Eindringen des Meeres aufgelockert ist und wenn die Flachküste durch
Mündungen wasserreicher Ströme die beste Vorbedingung für eine
Hasenbildung giebt. An Steilküsten finden wir diese begünstigte
Gestaltung bei der norwegischen Küste, in der Bretagne, in dem
spanischen Westgalizien, an dem dalmatinischen Littoral und natürlich
in dem Handels- und Hafengebiet xar e^oxrjv, in Großbritannien,
namentlich an der kreidigen Südküste. In Norwegen heißen die
Einbuchtungen des Meeres Fjorde, und seit den Zeiten der Vikinger
hat sich hier ein äußerst reger Handelsverkehr entwickelt; die Nor-
weger sind eins der tüchtigsten seefahrenden Völker. Dasselbe kann
man von den Bretonen sagen, die mit ihren Fischerslotten Reisen
bis nach Island unternehmen. Westgalizien hat in seinen fjord-
artigen Rias berühmte Häfen, wie Ferrol und Corunna; dort ist der
Hauptsitz der spanischen Marine, und von Corunna fuhr der eigentliche
wissenschaftliche Entdecker Amerikas aus, Al. v. Humboldt. Endlich
hat Dalmatiens Küste zu allen Zeiten gute Seefahrer entsendet, in
der Neuzeit finden wir hier Häfen und Mannschaften der österreichischen
Flotte, im Altertum die bekannten illyrischen Seeräuber. — Daß
auch Flachküsten bei entsprechend günstiger Lage und offenem Einfluß
der Flutbewegung des Meeres ein ausgezeichnetes Hafenleben auf-
weisen können, zeigen Holland und Belgien, die man schon seit den
Zeiten des niederländischen Freiheitskampfes als Seemächte zu
nennen gewohnt ist. Bis Antwerpen gehen Seeschiffe, Amsterdam
ist der größte Rohtabaksmarkt, und Rotterdam hat einen kolossalen
Schiffsverkehr, es verzimmert das Holz des Schwarzwaldes und
Skandinaviens.
Wenn der Jranier durch die Natur seines Landes darauf ge-
führt wurde, in den entzückenden Randthälern das Walten eines
guten Gottes Ormuz und in der öden Steppe des Innern die
Wirksamkeit des bösen Prinzips, des Ahriman, anzunehmen, so
können wir ähnlich in Europa oft in geringer Entfernung von einander
Erdstellen Nachweisen, die wie Paradies und Holle in ihrem Ein-
druck den denkbar schroffsten Gegensatz darstellen. Natürlich finden
wir solche landschaftlichen Widerspiele recht häufig in den Hochgebirgen
vertreten, und schauerliche Öde und anmutiger Reiz der Scenerie sind
mitunter recht nahe nebeneinander zu beobachten, wie z. B. auf der
weltbekannten St. Gotthardsstraße, wo der Wanderer nach den grausigen
60
Eindrücken der Teufelsbrücke und des Urner-Loches die Lieblichkeit des
freundlichen Urserenthales auf sich wirken lassen kann. Aber auch
sonst tritt uns in Europa ein solcher auffälliger Wechsel landschaft-
licher Scenerie vielmals entgegen. Einer der entzückendsten Erden-
winkel ist die Riviera di Ponente von Savona bis Cannes. In
anmutigen Gehängen fällt das Gebirge zum Meere ab, und der
Küstenrand ist geschmückt mit der herrlichsten südländischen Vegetation,
besetzt von Parks, Landhäusern und malerischen Städtchen. Die
immergrüne Vegetation erreicht hier eine seltene Üppigkeit, und das
überaus milde Winterklima lockt von weither Leidende aller Art an
diese bevorzugte Erdstelle. Etwa drei Längengrade westlich tritt uns
in dem Mündungsgebiet der Rhone ein wahres Teuselsland entgegen.
Sowohl die Kieswüste der Crau wie die sumpfige und fast nur von
halbwilden Pferden und Büffeln bewohnte Camargue erschweren den
Zugang zu dieser seit den ältesten Zeiten hochwichtigen Vekehrs- und
Heerstraße. Auch weiter westlich nach den Pyrenäen zu ist die ganze
Haffküste durch die Miasmen der Strandseen (Etangs) recht ungesund
und vielfach durch staubige Sommer und dürre Flächen in bösester
Weise ausgezeichnet. — Spanien hat ebenso zwischen östlichem
Küstenrand und innerer Hochfläche auffälligste Kontraste. Während
für Kastilien das Sprichwort gilt: drei Monate Winter und neun
Monate Hölle, und nur die Wanderschafe der Merinos sich dort mit
ihrer Anspruchslosigkeit in Bezug aus Futter durchschlagen können,
haben wir an der Ostküste und in Südspanien paradiesische Punkte:
Valencia mit seinen künstlich bewässerten llnertas und der ent-
zückenden Umgebung, Murcia mit dem herrlichsten Himmelsblau (il
reino serenissimo) und endlich die Vega von Granada, reichlich be-
wässert von dem durch die Schneegipfel der Sierra Nevada gespeisten
Jenil, wo der Acker vierundzwanzigfältig trägt und die Mohren
vordem glaubten, das himmlische Paradies müsse gerade über dem
Scheitelpunkte dieses gesegneten Erdenwinkels sich befinden. •— An
dritter Stelle begegnen wir dem auffälligsten Kontraste in der Halb-
insel Krim und dem nördlich davor gelagerten Südrande von Ruß-
land. Südlich vom Jaila Dagh, etwa von Sudak bis Balaklawa,
haben wir an den Abhängen und Schluchten des Gebirges eine
paradiesische Region mit ewigem Frühling und einer überaus üppigen
Vegetation von Wäldern, Obstbäumen und Weinreben, die im Winter
unbedeckt bleiben. Die „Krimsche Schweiz" ist daher der Lieblings-
aufenthalt der russischen vornehmen Welt.1 Der übrige Teil der
Halbinsel nördlich vom Gebirge zwischen Totem Meer und Faulem
Meer ist eine dürre baumlose Steppe und verrät ganz den Charakter
der pontischen Steppe, die den ganzen Südrand Rußlands erfüllt.
1 Namentlich Alexanders I., der auch 1825 in Taganrog starb.
61
Im Frühjahr und Herbst erscheint sie wenigstens als Kräutermeer
mit mannshohen Gräsern, in dem man kaum die zahlreichen Herden
oder den Tabuntschik mit seiner drei Klafter langen Peitsche gewahr
wird. Ganz anders erscheint die Steppe im Hochsommer und im
Winter. Die verbrannten Gräser entsenden dicke Staubwolken, und
dieser Steppenstaub dringt z. B. in Odessa durch alle Thür- und
Fensterfugen in die Häuser und wird zur wahren Plage des
Lebens. Östlich von der Wolga nimmt die Steppe einen ganz
trostlosen Charakter an, da wir hier die offenbare Salzsteppe vor-
finden, wo eine Vegetation zur Unmöglichkeit geworden ist.
Wir haben bisher die Bilder der Lieblichkeit mit denen der Er-
starrung verglichen; wir können den Gegensatz noch weiter führen
und die Gesilde der Fruchtbarkeit den sterilen Landschaften gegen-
überstellen. Bevorzugt als Länder des Getreidebaues sind Rußland,
Rumänien und die ungarische Ebene. Nördlich von dem Steppen-
gebiet liegt in Rußland das Tschernosem, die Schwarzerde oder die
eigentliche Kornkammer des Landes. Ein Drittel der europäischen
Getreideernte entfällt auf Rußland, und die schwarze moorige Humus-
erde dieses gewaltigen Gebietes von Kischinew bis zur Wolga ist von
erstaunlicher Fruchtbarkeit. Man baut Weizen, Roggen und Mais
ohne je zu düngen, und die Futterkräuter zeigen ein erstaunliches
Wachstum. Klee soll bis zu 5 m und Hanf bis zu 6 m Höhe auf-
geschossen sein; der Burjan, das sind die trockenen halb verholzten
Krüuterstengel, muß ja auch in dem holzarmen Landstriche das
Brennmaterial vertreten. Eisenbahnen führen jetzt direkt nördlich
nach Libau und südlich nach Ödessa. Nach dorthin geht der Roggen,
und Odessa ist mit seinem Odessaer Weizen ein wichtiger Faktor der
Ernährung für die Mittelmeerländer. Allerdings ist der Ertrag in
dem Tschernosem bei den wechselnden Niederschlagsverhältnissen
einigermaßen unsicher; es kann in einem Jahre unermeßliche Fülle
geben, im anderen wieder gänzliche Mißernte. — Als zweites be-
deutendes Getreideland muß Rumänien erwähnt werden, der nördliche
Teil jener großen bulgarisch-walachischen Niederung, die sich zwischen
sylvanischen Alpen und Balkan erstreckt. Während die südlichere
bulgarische Tafel höher gelegen ist und mit einem Steilrand von
100 — 200 m Höhe gegen die Donau abfallt, ist die walachische
Seite niedrig und überaus einförmig. Man sieht Wasser- und baum-
lose Flächen, soweit das Auge reicht. „Nach Regenwetter unergründ-
lich kotig, sonnendurchglüht im Sommer", kalt im Winter, ist dennoch
das Land eines der fruchtbarsten und erzeugt massenhaft Mais und
Weizen. In Galatz ist dann der Verschiffungshafen, von wo die
Donau hinab Getreide nebst Mastochsen und Salz auf das Schwarze
Meer gebracht wird. — Endlich haben wir in den ungarischen
Ebenen, namentlich in dem ungarischen Mesopotamien und in dem
62
Banat (Donau, Theiß, Maros), mit ihrem Lößaufschutt, sowie in
den östlicheren tafelglatten und völlig steinlosen Pußten (= öde
Flächen) eine Bodenfruchtbarkeit, die sie als ebenbürtig dem russischen
Tschernosem an die Seite setzen läßt.1
Es handelt sich nun um den Kontrast, also um Vorführung
solcher Landschaften, die durch Sterilität in hervorragender Weise
gekennzeichnet sind. Wir sehen ab von den Flächen, die vermöge
ihrer hohen Breite oder ihrer vertikalen Erhebung selbstverständlich
unter die unfruchtbaren Gefilde zu rechnen sind, wie die Tundren in
Nordrußland, die Granitßelder in Skandinavien und die Eisregionen
der Hochalpen, wo der arme Wildheuer sich kümmerlich ein karges
Futter für seine Kuh zusammensucht, („Strafe genug ist sein entsetz-
lich Handwerk") — und wenden uns Erdenstellen zu, die um ihrer
südlicheren Lage willen wohl geeignet wären, ein freundliches Bild
zu gewähren. Ein solches kulturfeindliches Gebiet ist die Karstland-
schaft des dinarischen Faltengebirges, das in seiner eigentümlichen
Streichungslinie, von Nordwest nach Südost, an das benachbarte
Asien erinnert, z. B. an das südwestliche Randgebirge Irans. Hier
haben wir ein breitgelagertes Kalkgebirge mit parallelen Fältelungen,
die wie die Wellenzüge einer bewegten Wasserfläche erscheinen. Eben
darum ist die ganze Landschaft schwer zugänglich, da man Hoch-
flächen und Ketten mühsam nacheinander überklimmen muß, und sie
ist von je' ein Rückzugsplatz verdrängter und unterdrückter Völker-
schaften gewesen, wie z. B. der Montenegriner. Die löchrige Natur
des kalkigen Karstes läßt das Regenwasser in die Tiefe versinken,
bildet die unterirdischen Wasserläufe und macht die Oberfläche zu
öden mit Schutt und Trümmern übersäten Hochflächen. Nur in den
Einsturztrichtern, den Dolmen, wo die Verwitterungserde des Kalk-
steins zusammengespült wird und wo die eisige Bora auch nicht so
ungehindert dahinsegen kann, finden wir die einzigen Stätten des
Anbaus. Während in dem nördlicheren Bosnien wenigstens der
öden Innenfläche in dem dalmatischen Küstensaum ein entzückenderes
Gelände vorgelagert tft,2 ist in dem südlicheren Albanien auch die
Küste wegen der ungesunden Miasmen fast verlassen, und Albanien
ist eines der ungünstigsten und traurigsten Länder Europas.
Wenn die Fruchtbarkeit des Bodens noch durch den Fleiß der
Bewohner unterstützt wird, so können wir daraus vorbereitet sein, be-
sonders sympathischen Erdstellen zu begegnen. Fleiß macht überall
einen gewinnenden Eindruck und empfiehlt uns z. B. den Katalanen,
dem nachgesagt wird, daß er „Brot aus Felsen zieht"; wir bewun-
dern darum auch das französische Volk, das wie kein zweites Volk
1 S. Anhang 10.
2 S. Anhang 11.
63
Europas die Hälfte des Landes in Ackerland umgewandelt und in
den sogenannten Kornkammern von Touraine und Toulouse Muster-
wirtschaften wie etwa in Ägypten geschaffen hat. Den staunens-
wertesten Eindruck aber einer zugleich durch Fruchtbarkeit und Fleiß
der Bewohner begünstigten Landschaft gewährt doch die Po-Ebene,
die als die „fruchtbarste Niederung Europas" bezeichnet werden muß.
Man nennt sie auch „das italienische Paradies" und sindet in ihr
beinahe die Hälfte aller Bewohner Italiens. Die Fruchtbarkeit ist
erstaunlich; Wiesen werden sechsmal gemäht, massenhaft gedeiht Weizen,
Mais, Reis, wobei ein Feld meist zwei Ernten hintereinander giebt,
da der Mais auf die abgeernteten Äcker des Winterweizens gesät
wird. Die Ackerflächen werden von Maulbeerbäumen und Ulmen
eingehegt, zwischen ihnen rankt sich die Rebe, und von den Blättern
ernährt sich die Seidenraupe, so daß ein und dasselbe Feld „Speise,
Trank und feinsten Kleiderstoff" hergeben kann. Im Winter kann
es ziemlich kalt werden, kälter z. B. als am Niederrhein, auch friert
zuweilen das nördliche Adriameer zu; aber die erstaunliche Ertrags-
fähigkeit wird erzielt durch die reiche Bewässerung, da die nördlichen
Zuflüsse des Po durch die Schneegipfel der Alpen gespeist werden
und der Fleiß der Bewohner für zahlreiche Berieselungen gesorgt
hat. Es ist interessant, zu verfolgen, wie wir hier einem seit alters
her bevorzugten Erdenfleck gegenüberstehen. Die Po-Ebene mit ihren
dicht gesäten Städten hat im ganzen Mittelalter die bedeutendste
Rolle gespielt. Hierher wurden alle Waren des Orients gebracht,
weil man sich natürlich gerade den Stapelplatz ausgesucht hatte, zu
dem mau am längsten die Ware auf Schiffen verfrachten und fahren
konnte. So entstand hier die ganze Terminologie des Handelsver-
kehrs, die wir einfach als kaufmännische Tradition übernommen haben,
und Brutto, Agio, lombardieren k. erinnern an ihre italienische
Heimat. Italien ist sich iibrigens noch heute dieser geschichtlichen
Fingerzeige bewußt und unterhält eine der größten Handelsflotten
des europäischen Festlandes.^
Diesem paradiesischen Erdenfleck gegenüber, der durch Fleiß und
Tüchtigkeit der Bewohner sich seine seit alters bekannte Bevorzugung
erhalten hat, macht Griechenland, das einst so berühmte und viel
genannte, heutzutage einen recht verkommenen Eindruck. Ein neuerer
Reisender schildert die Landschaft als eine kahle, steinerne Welt,
düster und unwirtlich, ein Labyrinth von Kette an Kette, Rücken an
Rücken hingeschichteten Gebirgsstöcken, ausgetrocknete Flußbette, steile
Wege, kurzum, äußert er: ein Ritt durch die Berge des Mondes
kann nur wenig trostloser sein! Und ein anderer klagt, die Sonne
Griechenlands sei alles, was ihm geblieben. Die Trostlosigkeit des S.
S. Anhang 9.
64
heutigen Bildes soll abgesehen von der Indolenz der Bewohner ver-
schuldet sein durch die unvernünftige Entwaldung, der auch noch
heute aller Vorschub geleistet wird, da die vorzugsweise gehegten
Ziegen keinen Waldwuchs aufkommen lassen. Sv teilt Griechenland
das Schicksal vieler alter Kulturstätten des östlichen Mittelmeerbeckens,
wo durch die Trägheit der Bewohner statt lachendster Gefilde Wüsten
und Steppen erscheinen; Antiochia und das Thal des Orontes,
Pierien und Saloniki machen gleichermaßen heute den Eindruck trost-
loser VerfallenheitT Störend sind auch die klimatischen Eigentüm-
lichkeiten; im Juli gehört Ostgriechenland zu den heißesten Gebieten
der Erde. Im Schatten zählt man bis zu 40 °, und der Dünensand
von Phaleron soll sich bis zu 71 0 erhitzen. Die Einheimischen
schlagen dann alle ihr Nachtlager im Freien auf, schon um der
dumpfen Luft und dem Ungeziefer der Häuser zu entgehen. Dagegen
wird wiederum die Winterkälte vermehrt durch die von keinem höheren
Gebirge abgewehrte Winterluft, die aus Rußland über das Schwarze
Meer hereinzieht.
Natürlich setzt sich diese Zerklüftung im Innern auch in der
nördlich von Griechenland gelagerten Balkanhalbinsel fort; aber gerade
diefes vielgestaltige Relief der Bodenformation bedingt die Auf-
geschlossenheit und leichtere Zugänglichkeit von Norden und Südosten
her und macht die Balkanhalbinsel zu dem hochwichtigen Übergangs-
land zwischen Europa und Vorderasien. Wie ganz anders erscheint sie
damit gegenüber der starren Einheitlichkeit der pyrenäischen Halb-
insel, die sich wenig zum Durchgangsgebiet nach Afrika hin geeignet
hat. Griechenland selbst mit seinem ausgelockerten Küstenrande unl
der wiederholten Einschnürung der ganzen Halbinsel hat entschieden
in seinem geographischen Typus Ähnlichkeit mit Großbritannien.
Und doch wieder ist eine einschneidende Gegensätzlichkeit bemerkbar;
für Griechenland ist in politischer Beziehung die Zersplitterung in
zahlreiche Kantone charakteristisch geblieben, und England hat in
seiner breiten ostwärts vorgelagerten Ebene mit ihrer Landwirtschaft
und zahlreichen g6n1ry den beherrschenden monarchischen Schwerpunkt
des ganzen Gebiets erhalten.
Wir haben bisher von geologischen und geographischen Gegen-
sätzen in Europa gesprochen und den Ausdruck „Modellkammer von
Erdgebilden" als berechtigt Nachweisen wollen; es erübrigt noch, aus
gewisse merkantile Besonderheiten der einzelnen Länder hinzudeuten,
durch die der zum Ausgleich dienende lebhafte Handelsverkehr her-
vorgerufen wird.
Was zunächst das in den Handel gebrachte Holz betrifft, so
steht Skandinavien obenan. Südeuropa mit seiner Mittelmeerflora
1 Der Kopaissee ist ausgetrocknet, Therinopylae ein breites Sumpfland.
65
wird ja natürlich zurücktreten; eigentümlich sind z. B. Korsika die
immergrünen Buschbestände der Maquis. In Slavonien bewundert
man die Eichenwälder und will behaupten, daß ihr Holz „ausreiche
für die mächtigsten Flotten, für die Schwellen von Welteisenbahnen
und für die Fässer aller Weinländer des Erdteils". Aber den
Löwenanteil im Handelsverkehr beansprucht doch Skandinavien, da
es die Hälfte alles verhandelten Holzes liefert. Damit kommt es
hochentwickelten Kulturländern, die eben darum aber von Wald ent-
blößt sind, zu Hilfe, wie Britannien, Niederlande, Dänemark und
wohl auch Frankreich. Für Britannien ist charakteristisch das Park-
artige der Landschaft, die durch zerstreuten Baumwuchs belebt wird
und deren Rasenfläche sich durch saftiges Grün auszeichnet, i da kein
Punkt weiter vom Meere als ein Äquatorgrad liegt; im übrigen gilt
es als der waldärmste Teil Europas. Auch die Franzosen haben,
um Ackerland zu gewinnen, zu unvorsichtig den Waldbestand ver-
mindert. Das hat sogar seine großen physikalischen Nachteile gehabt,
da der Regen das Erdreich herniederspült und die Flüsse, besonders
die Loire, versanden. 2
Skandinavien hat außer dem Holze in seinen Gebirgen viel
Mineralschätze, aber auch ein in heutiger Zeit doppelt schmerzlich
empfundenes Manko, es besitzt nämlich keine Steinkohlen. Es geht
ihm also ebenso wie dem Lande Italien, das durch seine Handels-
thätigkeit sonst eine so hervorragende Rolle spielt und das dichter
bevölkert ist als das Deutsche Reich. Während es demnach eifrigst
den Landbau treibt und namentlich durch seine Seidenzucht hervor-
ragt, ermangeln ihm zur Maschinenindustrie die Kohlen, die es erst
von Britannien auf Schiffen herbeiholen muß. Denn England besitzt
in seinen unerschöpflichen Kohlenflözen, namentlich in den mittel-
englischen und denen von Newcastle und Glasgow, eine Quelle er-
staunlichen Reichtums. Fördert es doch jährlich 180 Millionen
Tonnen Kohlen, worin ihm nur die Vereinigten Staaten von Amerika
gleichkommen, während Deutschland noch nicht die Hälfte erzeugt.
Wesentlich auf dieser Kohlenförderung beruht die bedeutsame In-
dustrie Englands, die es in der verschiedenartigsten Fabrikation die
erste Stelle einnehmen läßt, wie es denn in Eisen den dritten Teil
der Gesamtproduktion der Erde liefert, wie seine Landschaft Lanca-
shire die „Völker aller Erdteile kleiden hilft" und wie endlich Bir-
mingham mit seinen Allerweltswaren und Nadeln und Stahlfedern
als „Tandladen der Welt" gelten kann. — Kohlen verbürgen im-
mer ihrem Fundorte industrielle Thätigkeit und große Wohlhaben-
1 Irland heißt eben deshalb auch die Smaragdinsel.
* Seeschiffe können nicht mehr bis Nantes gelangen. Der gefürchtetste Fluß
in Frankreich ist übrigens die Garonne wegen ihrer verheerenden Hochfiuten. Die
Rhone ist wiederum sehr reißend, wird aber von Dampfschiffen befahren.
Hanncke, Erdkundl. Aufsätze.
5
66
heit, und das bewahrheitet sich in den aufblühenden kantabrisch-
baskischen Strichen Spaniens, in dem französischen St. Etienne, in
den belgischen und böhmischen Distrikten in auffälligster Weise.
Schließlich hat auch, abgesehen von Deutschland, über dessen Kohlen-
förderung wir noch besonders sprechen wollen, Rußland seinen Kohlen-
reichtum; darauf beruht die berühmte Eisen- und Lederfabrikation des
Tulaer Gebiets, während die Donezkohlen noch einer intensiveren
Verwertung harren.
Mit der Wohlhabenheit und der gesteigerten Industrie einer
Gegend hängt naturgemäß die Verdichtung des Eisenbahnnetzes und
die größere Volksmenge zusammen. Belgien und Britannien haben
in dem europäischen Eisenbahnnetz, dessen Schienenlänge den sechs-
fachen Umfang des Äquators übertrifft, die engsten Maschen, und
in entsprechender Weise natürlich auch die größte Volksdichtigkeit.
Britannien zählt gegenwärtig 30 Städte, die über hunderttausend
Einwohner haben, und in dem mittelenglischen Jndustriecentrum
wohnen über 500 Bewohner auf 1 Qkm. Um hier gleich das
Extrem zu erwähnen, so haben manche Lappen in Schweden und
Finnland 100 km bis zur Kirche, und doch sollen sie sich fast voll-
zählig „jeden Sonntag zum Gottesdienst einfinden.
Überhaupt deckt sich Reichtum des Landes und Fruchtbarkeit des
Bodens nicht mit der Sittlichkeit und Intelligenz der Bewohner.
Während in Island, wo kaum hie und da eine kümmerliche Eberesche
gedeiht, alle Kinder über acht Jahre unter dem Einflüsse der moder
; Mutter) lesen und schreiben können und Reykjavik noch seine öffent-
liche Bibliothek von 8000 Bänden hat, ist der Prozentsatz der An-
alphabeten in Rußland 96 %, in Spanien 58 % und auch in Frank-
reich fast 30 %• Schließlich wird aber doch das Volk als das
mächtigste gelten, das zwar nicht das meiste Gold und die größten
Kohlenschätze besitzt, das aber die besten Schulen zu haben sich rüh-
men kann.
Deutschland
jfyie alten Römer konnten sich nicht genug thun, ihren Abscheu
vor dem unwirtlichen Germanien auszudrücken; sie bedauerten
die Menschen, die dort leben müssen, das Land sei, wie Tacitus
sagt, silvis horrida paludibus foeda, starre von Sumpf und Wald.
Ihnen behagte mehr die am06nita8, die fruchtbare, anmutige Land-
schaft, und sie lobten Sicilien und das ruolls Tarentum. Nun, ist
denn auch heute noch ein solches Urteil zutreffend zu nennen? Was
spielen Tarent und Sicilien für eine Rolle, und wie gewaltig hat
sich Deutschland in dem Rate der Völker gehoben! Die alten
Paradiesesstätten, Babylonien, Antiochien, Pierien sind zu öden
Wüstenstrichen geworden, und in der oberrheinischen Tiefebene ist
„das deutsche Italien" aufgelebt.
An Wäldern fehlt es ja auch heutzutage in Deutschland nicht,
und ihr Dasein bedingt einen der Hauptvorzüge des Landes. Nur
Schweden, Rußland, Österreich-Ungarn und Serbien haben größeren
Waldreichtum; Deutschlands Waldungen bedecken aber immerhin den
vierten Teil der Bodenfläche. Entbehren wir auch die charakteristischen
Bäume Südeuropas, wie den Ölbaum und die Pinie, so haben wir
doch wundervolle und poesiereiche Gestalten in unserer Waldvegetation.
Zu einem Drittel ist das Laubholz vertreten, und es finden sich in
demselben die durch edelste Plastik der Formen ausgezeichneten: Eiche,
Buche, Linde und Birke. An jeden dieser Bäume heftet sich ein
eigenes Stück Poesie, und das tiefernste Gemüt des Deutschen ist
mit seinen Bäumen auf das innigste verwachsen. Die Jungfräulich-
keit des zitternden Birkenlaubes mit der zartweißen Baumrinde, der
majestätische Eindruck des Buchendomes, wo durch die Abwesenheit
alles Unterholzes und die säulenartigen, geraden Baumstämme der
Ausdruck Dom sich rechtfertigt, der kernige und sympathische Eindruck der
knorrigen Eiche, in deren Wipfel die alten Gottheiten wohnten, und
endlich der anheimelnde Charakter der Dorflinde, um die sich alles Wohl
und Wehe der Gemeinschaft abgespielt hat, — was kann gegen diesen
Schatz poesievollster Erinnerung aufkommen, doch nicht etwa der Anblick
der englischen Parks, oder der kultivierten Strecken der amerikanischen
68
Union, ober der waldkahlen Flächen der süd- nnd westenropäischen
Romanen! — Ganz abgesehen von aller Poesie des Waldeszaubers
haben die Holzbestände für Deutschland ihren hervorragenden klima-
tischen und merkantilen Nutzen. Wie sehen Landschaften ans, wo
einst sinnlos die Wälder abgeholzt sind, und welche wirtschaftliche
und klimatische Einbuße haben sie erlitten! Wir mögen nur an die
Lüneburger Heide denken, die noch im Mittelalter von Eichen und
Buchen bestanden sein soll, und an die schauerlichen Sanddünen-
wüsten, die entlang der Frischen und namentlich der Kurischen Nehrung
ziehen und die gleichfalls noch bis in das 17. Jahrhundert hinein
Wald getragen haben. Jetzt zeigen die Regierungen überall Ein-
sehen und verbieten die schonungslose Abholzung. Und so giebt es
zwar heutzutage keine Urwälder mehr — höchstens könnte der
Böhmerwald noch als solcher gelten, der sa ebendarum auch seit den
„Räubern" seine sprichwörtliche Geltung als Räuberherberge behalten
hat (böhmische Wälder) —; aber die einzelnen Staaten ziehen aus
ihren namhaften Forsten, die in Hessen-Nassau z. B. 40% des
Bodens bedecken, bedeutenden Nutzen und führen, wie Preußen, aus
ihren Seehäfen bis nach Memel hinauf große Mengen Holzes aus.
Allerdings kann Deutschland bei dem heutigen kolossalen Holzver-
brauch, so auch zur Cellulosebereitung, den Bedarf nicht selbständig
decken und mutz auch wiederum Holz einführen.1
Der zweite Vorwurf, den die alten Römer Deutschland machen,
daß es nämlich reich an Sümpfen sei, trifft heute erst recht nicht mehr
zu. Allerdings hat hier die emsige Fürsorge der Fürsten und Aufsichts-
behörden, namentlich der Hohenzollern, die durch Entwässerung der
Moore ihres Tieflandes mitten im Frieden ganze Provinzen eroberten,
und die zunehmende Volksdichtigkeit, die mehr und mehr den Zwang
auferlegte, jede Erdstelle irgendwie ausznnutzen, die Odländereien er-
heblich eingeschränkt. Zwar haben auch die Hochflächen und Gebirgs-
landschaften ihren Anteil an den Mooren, so z. B. Bayern und die
große Fläche des Hohen Venn, aber vorzugsweise charakteristisch sind
die Moore doch für die Tiefebenen und namentlich für das nord-
westliche Deutschland. Dort finden sich die ungeheuren Moorflächen
wie das Bourtanger Moor und das zwar kleinere, aber ebenso öde
Saterland, die zu den einförmigsten und ärmlichsten Strichen Deutsch-
lands gehören. Es ist möglich, daß die Römer, die ja aus ihren
Feldzügen des Drusus und Germanikus gerade diese Gegenden der
Ems bis nach der Weser hin kennen lernten, ans dieser Bekannt-
schaft heraus zu ihrem verallgemeinernden absprechenden Urteil ge-
kommen sind. Dort wird weithin wie in einer richtigen Wüste der
ebene Boden am Horizonte von einer völligen Kreislinie abgegrenzt;
* Ein Drittel des Bedarfs mit 160 Mill. Mark Bewertung.
69
kein Baum, kein Strauch, keine Hütte zeigt sich den Blicken; nur
der Kiebitzschrei unterbricht die tiese Stille der ungeheuren Ode.
Neuerdings hat man mit Erfolg auch diesen Feind wirtschaftlicher
Erstarkung zu bekämpfen gesucht. Man verwandelt die Moore all-
.mählich in Fehne, die einen sparsamen Ertrag, namentlich an Buch-
weizen, gewähren, und verwertet die inneren Flächen zur Torf-
gewinnung. Der Urbarmachung geht das Abbrennen der Moore
voraus, es entsteht der häßliche Höhenrauch, dessen dunstige Massen
über das ganze Deutschland ziehen, ja sogar 1863 noch am Genfer
See gespürt sein sollen, und der Dichter ruft klagend aus: Ganz
Deutschland riecht's, wenn unsre Moore rauchen!
Abgesehen von diesen kulturfeindlichen Gebieten ist Deutschland
ein hervorragendes Getreideland, und der Fleiß seiner dichten Be-
völkerung, die noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu zwei
Dritteln sich mit Landwirtschaft beschäftigte, hat es erreicht, daß ganz
wie in Frankreich die Hälfte der Bodenfläche zur Feldslur geworden
ift.1 Die aus den Vergletscherungen der Eiszeit zurückgebliebene
Grundmoräne des Geschiebelehms hat in den den Alpen vorgelagerten
Hochebenen Süddeutschlands und in dem gesamten Norddeutschland
eine willkommene Ackerkrume ergeben, und so entwickelt sich ein ge-
deihliches Wachstum der Brotfrucht, namentlich des Roggens, den
man als die eigentlich deutsche Cerealie bezeichnen kann. Dazu
kommt, daß die klimatischen Verhältnisse im allgemeinen in Deutsch-
land günstig sind. Die Hauptscheide der klimatischen Gegensätze ist
nicht etwa der Norden und Süden unseres Vaterlandes, wie man es
wohl erwarten möchte, — vielmehr hat wegen der süddeutschen
Bodenerhebung der Hochebene sich dieser Gegensatz ausgeglichen, und
München hat wie Königsberg im Juli ein Jahresmittel von 17 0 —,
sondern der Osten und Westen. Westdeutschland hat oceanisches
Klima und steht noch unter dem Einfluß des Golfstromes, der wie
ein gewaltiger Heizapparat wirkt; Ostdeutschland, je mehr und mehr
es sich Rußland nähert, ist mit kontinentalem Klima bedacht. Die
nordöstlichsten Provinzen Preußens haben also eine Mittelwärme von
nur 60, während dagegen am Mittelrhein (Karlsruhe) Schwalben,
Stare und Störche so früh eintreffen, wie sonst nirgends in Deutsch-
land, und in den Marschen das Vieh den ganzen Winter über
draußen bleibt.
Das deutsche Mittelgebirge, das den Zwischenraum zwischen den
süddeutschen Hochebenen und der norddeutschen Tiefebene ausfüllt, beein-
trächtigt nicht weiter den Eindruck des Maßvollen und Sympathischen,
wie er durchweg in Deutschlands Bodenbeschafsenheit zu spüren ist.
Mit Ausnahme der Zugspitze in Südbayern und der Schneegruben im
1 Ungefähr ein Zehntel sind Wiesen.
70
Riesengebirge kann man nirgends in Deutschlands Gebirgen im Sommer
Schnee entdecken, und nach einem glücklichen Vergleiche erscheinen
die deutschen Gebirgsterritorien wie Kammern, zwischen denen Treppen
und Gänge die Verbindung wie in einem altdeutschen Familienhause
lebendig erhalten. Es giebt ja arme Landschaften in Deutschland,,
wie den Spessart und die Rhön, wo die Leute sich von Kartoffeln
nähren, die Sandstriche in H^nterpommern und Westpreußen, wo
der boshafte Scherz behauptet, daß den Gutsbesitzern bei dem fliegen-
den Sande die Ackerflächen immer „unterwegs sind", und die moorigen
Flächen am Ku,rischen Haff, die wochenlang der schreckliche «schaktarp»
(litauisch — Überschwemmung) bedeckt, — aber es finden sich doch
auch zahlreiche recht gesegnete Stellen und Erdenwinkel in unserem
Vaterlande. Ich erinnere nur an die Wetterau mit ihrem Obstreich-
tum, der in dem Frankfurter Apfelwein verwertet wird, an die
Magdeburger Börde und ihren Zuckerrübenbau, der dort zu Hunderten
die Zuckerfabriken entstehen ließ, an die fetten Marschen, „wo des
Marsen Rind sich streckt", die das ungeheure London mit Schlacht-
vieh versorgen, endlich an den Danziger Werder, jenes geographische
Unikum eines durch die Sinkstoffe eines großen Stromes gebildeten
Humusbodens, der die zuverlässigsten Ernten bietet, wenn nicht
gerade der „eisreichste Strom Deutschlands", eben die Weichsel, durch
ihre Überschwemmungen Unheil anrichtet.
Da der Niederschlag oder die Regenmenge in Deutschland „die
Mitte hält zwischen der Überfülle westeuropäischer Küsten und der
Steppendürre Südosteuropas und meistens 5 — 600 mm beträgt, so
liefern namentlich die weiten ebenen Flächen unseres Vaterlandes,
sowohl die süddeutschen Hochebenen wie die große norddeutsche Tief-
ebene, vorzugsweise „Ostelbien", schöne Getreideernten.
Das Korn wächst dort in langen schönen Auen,
Und wie ein Garten ist das Land zn schauen.
Deutschlands Ernteertrag wird innerhalb Europas nur von Ruß-
land übertroffen. Wichtige Getreidemärkte sind in Süddeutschland
München, das die Alpenlande bis nach der Schweiz hin mit Getreide
versorgt, in Westdeutschland Mannheim, das sich mächtig empor-
gearbeitet hat, weil es am Endpunkt der großen Rheinschiffahrt
liegt und nun zur bedeutenden Speditionsstadt geworden ist. In
Norddeutschland sammeln sich außer Berlin natürlich in den Hafen-
städten die Getreidemassen an, denn Deutschland führt neben Holz
auch Getreide aus; allerdings geht die Menge des exportierten Ge-
treides von Jahr zu Jahr zurück.
Im Gemüsebau und in der Handelsgärtnerei steht Deutschland
hinter Frankreich zurück, doch sieht man in der Nähe der großen
Städte recht anerkennenswerte Leistungen. Die Vierlande bei Hamburg
71
rufen mit ihrem fleißigen Gemüsebau und ihrer Abhängigkeit von
der Großstadt Erinnerungen wach an das alte Megara, das in
seiner Existenzfähigkeit sich ja auch ganz abhängig von Athen gemacht
hatte. Die Blumenzucht in Erfurt und die Gurkenfelder in Liegnitz
sind weithin berühmt. In der Umgegend von Brannsberg wird
bis zu 30/0 der Bodensläche Flachs gebaut, Bayern hat um Nürn-
berg und Bamberg herum seine Hopfenmärkte, und das Juwel
unserer deutschen Lande, das Rheingebiet, liefert in edeln Weinsorten
und in dem exotischen Gewächs des Tabaks ansehnliche Erträge (Pfalz).
Neben den so zahlreich in Kultur befindlichen Feldfluren finden
sich auch umfangreiche Wiesen, und darauf beruht ein neuer Vorzug
des Landes, nämlich die hervorragende Viehzucht. Auf je 100 Be-
wohner rechnet man 8 Pferde, 35 Rinder und 20 Schweine. Die
Pferdezucht auf den saftigen Pregel- und Memelwiefen Ostpreußens
ist weltberühmt, aber auch kleinere Staaten, wie Oldenburg und
Lippe mit den Pferden der Sennerheide, sind mit Ehren zu nennen.
In der Rindviehzucht ragen hervor das deutsche Alpenland und die
Marschen des Nordseegebiets; Schweine werden vorzugsweise in
Westfalen gehalten, wo schon seit dem Mittelalter die Eichelmast ge-
pflegt wird und wo der ominöse Vergleich gebraucht ist, daß man
bei dem Übergang aus der westfälischen Landschaft nach Holland aus
einem Schweinestall in einen Blumengarten tritt. Durch seine
Schafherden zeichnet sich Pommern aus, das neben iy2 Millionen
Bewohnern doppelt soviel Schafe zählt. Die Geflügelzucht könnte
bedeutender sein, da über 70 Millionen Eier, namentlich aus Italien,
eingeführt werden.
Die Wasserverhältnisse find in Deutschland äußerst günstig, man
zählt an 40000 Gewässer, darunter 60 schiffbare. In Bezug aus
die Brauchbarkeit der Wasseradern stehen am meisten zurück Hinter-
pommern, Westpreußen und Oberbayern, wo die Flüsse winzig oder
von starkem Gefälle sind, so daß sie nur zum Holzflößen benutzt
werden können. Der deutscheste größere Fluß ist die Weser, die in
der Werra (Wir-aha) ihren eigentlichen Quellarm hat und von
Wanfried an schiffbar wird. Der andere Quellarm, die Fulda, ent-
springt auf der Rhön, jenem moorigen, nebeligen Gebirge von wahr-
haft „skandinavischer" Sterilität, wo schon die eigentümlichen Dorf-
namen wie Sparbrot, Wüstensachsen, Kaltennordheim re. von der
Unwirtlichkeit des Aufenthalts zeugen. Auf der westlichen Seite der
Fulda liegt der Vogelsberg, das hessische Sibirien, wo es drei Viertel-
jahre Winter und ein Vierteljahr kalt ist, wo drei Männer, wie man
scherzt, zu einer Pelzkappe gehören, nämlich einer, der sie trägt, und
zwei, die sie halten. Auch über das ganze Hessenland, das der Fluß
weiter durcheilt, wird gespöttelt: Daß es da hohe Berge und nichts
zu essen gebe, große Krüge und sauren Wein. Wenn Schlehen und
72
Holzäpfel nicht geraten, haben sie nichts zu sieden und zu braten!
An den uralten historischen Ruhmesstätten des Teutoburger Waldes
und der Ebene von Jdisiaviso vorbei sließt die Weser dann ins
Tiefland, ins Land der Windmühlen, die bei dem schwachen Gefälle
der Flüsse jetzt die Stelle der Wassermühlen übernehmen müssen.
Der unteren Weser will man sogar Vorzüge vor der Elbmündung
nachsagen, da sie mehr eisfrei ist und in ihrem Klima viel von den
holländischen Gewässern hat. Störend ist allerdings die zunehmende
Versandung.
Bon den drei deutschen Flüssen, deren verlängerte Mündungs-
linien sich in Helgoland schneiden würden, der Weser, Elbe und
Eider, ist der mittelste der wichtigste für den deutschen Handel ge-
worden, — es ist die Elbe. Sie entspringt in Böhmen und zieht
durch verschiedene deutsche Staaten, was ihr in alten Zeiten wahrlich
nicht zum Segen gereichte, denn von Magdeburg bis zur Mündung
zählte man 17 Zollstätten. Die beiden Uferländer des Flusses sind
grundverschieden; linker Hand im Westen haben wir eine Bodenzone
mit fruchtbarster, schwarzer Dammerde, üppigen Getreidesluren und
schönem Laubwalde, im Osten ist Sand die vorherrschende Bodenart,
was der Mark Brandenburg den Spott eingetragen hat, die Streu-
sandbüchse von Deutschland zu sein. Wie bei allen polwärts ge-
richteten meridionalen Flüssen ist die Ostseite des Stromes die mit
tieferem Fahrwasser bedachte, und hier liegt an der Stelle, bis wo-
hin noch die Flutwelle der Nordsee zu spüren ist, Hamburg, der
erste Seehandelsplatz des europäischen Kontinents.
Von sonstigen deutschen Flüssen des Nordseegebietes sind noch
Jade und Ems zu erwähnen. Die nur drei Meilen lange Jade mit
ihrem großen Busen erscheint, wie witzig bemerkt wird, gleich einem
kleinen Menschen mit großem Maul; an dem Busen liegt Wilhelms-
hafen, der Kriegshafen des Deutschen Reiches. Die Ems, die schon
das lebhafteste Interesse Friedrichs des Großen erregte, als er Ost-
friesland erworben hatte, — er stiftete in Emden eine Handelsgesell-
schaft für Bengalen, — tritt auch jetzt mehr und mehr in den
Vordergrund. Gebaut ist bereits der Dortmund-Emskanal, um den
Export der Ruhrkohle über deutsche Häsen zu leiten, und geplant
wird im Anschluß an diesen Kanal der große Mittellandkanal bis
zur Elbe. Die Einrichtungen, den Handel und Verkehr auf die Ems
überzuleiten, da die Häfen des Rheinmündungsgebiets holländisch
sind, erinnern an die Maßnahmen Friedrichs des Großen, der, da
Danzig nicht preußisch war — es wurde erst 1793 erworben —,
den Weichselverkehr auf die Nogatstraße und Elbing hinüberzu-
leiten suchte.
Unter den Ostseeflüssen ist als wichtigster noch die Oder zu
nennen. Sie ist, soweit sie schiffbar ist, ein ganz preußischer Fluß
73
und hat darum in der preußischen Geschichte immer eine große Rolle
gespielt. Auch hier ist Friedrichs des Großen Fürsorge zu erwähnen,
da er die Swinestraße ausbaggern ließ und Swinemünde anlegte,
um den Oderverkehr ganz aus preußisches Gebiet zu ziehen und die
Schiffe von den schwedischen Zöllen in Wolgast zu befreien — erst
1815 wurde Neuvorpommern preußisch. Den Ostseeflüssen sind die
großen flachen Strandseen, in die sie münden, sehr hinderlich. Dies
sind die sogenannten Haffe, durch die mühsam eine Fahrrinne aus-
gebaggert werden muß. Daß hier immer von neuem fatale Be-
hinderungen entstehen, muß namentlich die Weltreederei des „Vulkan"
in Stettin zu ihrem großen Leidwesen erfahren; denn die modernen
Riesendampser mit ihrem bedeutenden Tiefgang können wohl in Stettin
gebaut werden, fahren sich aber regelmäßig im Haff fest und werden
nur unter den namhaftesten Anstrengungen und Kosten wieder flott.
Zu des Augustus Zeiten bildeten Rhein und Donau die Grenz-
flüsse Germaniens gegen das Römische Reich. Die Römer hatten
also an diesen Flüssen ein bedeutendes politisches Interesse und
suchten durch Gründung von Kastellen, aus denen später berühmte
Städte erwuchsen, die Grenze zu schützen. Bei uns tritt heutzutage
die politische Frage etwas zurück, und es knüpfen sich an diese
Flüsse ästhetische und merkantile Interessen in hervorragender Weise.
Namentlich der Rhein ist uns recht ans Herz gewachsen, und wir
stimmen subelnd dem alten Volksspruch zu: Aller Wasser König der
Rhein, die Donau soll seine Gemahlin sein. Allerdings müssen wir
auch beim Rhein die bedauerliche Wahrnehmung machen, daß er
nicht in seinem ganzen Laufe deutsches Territorium durchfließt.
Schon das Quellgebiet, die Schweiz, ist uns entfremdet, und leider
gehört namentlich das Mündungsgebiet anderen Staaten an, nämlich
den Königreichen Holland und Belgien. Mit Beschämung erinnern
wir uns, daß erst seit 250 Jahren das Deutsche Reich sich dieser
Gebietsteile endgültig entäußert hat, und daß noch unter Kaiser
Max die Niederlande den zehnten der deutschen Kreise, nämlich den
burgundischen, bildeten. Es hat sich hier in der Geschichte gezeigt,
daß seit dem Teilungsvertrag von Verdun 843 sich immer von
neuem das Bestreben geltend gemacht hat, zwischen französischem
und deutschem Territorium selbständige Staatenbildungen enfftehen
zu lassen, die sich im wesentlichen mit dem einstigen Reichsanteil
Lothars deckten. Gerade das Schwemmland des Rheins und seiner
in dem Delta zusammenfließenden Ströme, der Maas und der
Schelde, sind seit alten Zeiten „der Marktplatz des Weltverkehrs",
und daher schreibt sich der schier unerschöpfliche Reichtum dieser Lande
her. Schon im Mittelalter konnte Gent 80000 Bewaffnete stellen,
und Antwerpen an der Schelde, die zu einem Drittel ihres Laufes
Meerschiffahrt gestattet, erklärte noch Napoleon für einen der wichtigsten
74
Plätze des Kaiserreichs. Heute machen Rotterdam und .Amsterdam
Hamburg und Bremen die empfindlichste Konkurrenz.
Der Rhein hat aus deutschem Gebiet schwere Ausgaben zu
überwinden, er durchbricht die Jurakette und später das Rheinische
Schiefergebirge. Man nennt ihn deshalb auch „den heroischen
Strom". Er kann diese Riesenthaten vollführen, weil er, von
Gletschern gespeist, den wasserreichsten Lauf hat und zumal auf der
Strecke bis Bingen ein ansehnliches Gefälle, so daß Basel und
Nahe eine Meereshöhe von 250 und 80 m haben. Gerade der
Durchbruch durch die Felsen verleiht dem Flusse seine größten Natur-
schönheiten. Bekannt ist der Rheinfall bei Schaffhausen, und noch ent-
zückender gestaltet sich die Strecke des Flußlaufs von Bingen bis Bonn.
Nachdem noch in der Tertiärzeit die ganze oberrheinische Tiefebene
einen See gebildet hatte — den größten See in Deutschland —, er-
folgte später der Durchbruch durch den Binger Felsenkessel. Es ist
das eine der schönsten Erdenstellen, das rheinische Paradies, und der
Blick von dem alten Turme im Wasser aus gemahnt einen begeister-
ten Besucher an den „neapolitanischen Strand". Von hier befördern
die Dampfschiffe alljährlich einen so dichten Schwarm reisender
Menschen rheinabwärts, dag man sehr bezeichnend von „einer euro-
päischen Promenade" spricht. Das alles macht den Rhein für die
Deutschen „zum Herzblatt unter den Strömen", und sein Name
schon, wie Schenkendorf sagt, „labt wie Wein die Seele"? Als letzte
deutsche Warte steht an dem Strome noch der gewaltige Dom in
Köln, dem heiligen, das schon im Mittelalter 50000 Einwohner
zählte, und dann durchfließen seine Wasser holländische Territorien.
Die Donau hat für das heutige Deutschland nicht dieselbe Be-
deutung wie der Rhein. Sie ist nur in ihrem Oberlauf bis Passau
deutsch, hat entschieden malerische Schönheiten; ihren eigentlichen
Ruf als „schöne, blaue Donau" erhält sie doch aber erst im Öster-
reichischen und in Wien. Kulturhistorisch und in neuester Zeit
strategisch war sie viel genannt. An ihr entlang ging die Kreuzzugs-
straße, und das Nibelungenlied, das sonst aller lokalen Festlegung
gern ausweicht, zählt hier die Stationen an der Donau in auffälliger
Vollständigkeit auf. Dann ist die Donaustraße in den Kämpfen
Österreichs mit den Franzosen recht bekannt geworden, schon in den
Zeiten des Prinzen Eugen, dann aber namentlich bei den Feldzügen
Napoleons I. Von Ulm ab, dessen Münster ja den höchsten Turm
der Erde ^ besitzt, wird die Donau schiffbar, von Regensburg beginnt
die Dampfschissahrt, deren Richtung und Verkehr bis zum Schwarzen
Meer hin eine für Europa beispiellose Länge bemißt.
1 0. Anhang 12.
2 162 m, natürlich der höchste gemauerte Turm.
75
Die Binnenschiffahrt ist in Deutschland geringfügiger als in
Frankreich, England oder gar Rußland. Das hat seinen Grund
wohl auch in der politischen Zersplitterung gehabt, die bis 1870
lähmend sich in unserem Vaterlande geltend machte. Man war
auch längere Zeit überhaupt vom Kanalbau abgekommen. Das
17. und 18. Jahrhundert, namentlich das erstere, sind die eigent-
lichen Begünstiger der künstlichen Wasserstraßen; dann folgte das Zeit-
alter der Eisenbahnen, und erst neuerdings wendet man dem Kanal-
bau allgemein wieder erhöhte Aufmerksamkeit zu. Die Flußsysteme
namentlich unserer norddeutschen Tiefebene fordern ja sozusagen un-
mittelbar zum Kanalbau heraus, Berlin liegt, so wie eine Spinne
zwischen zwei Bäumen hängt, in gleichem Abstande von den beiden
Flüssen Oder und Elbe, und seit dem großen Kurfürsten sind
die Hohenzollern bemüht, diesem Centrum von beiden Seiten die
Wasserstraßen zuznführen. Schon heute kann ein Lastkahn immer
auf dem Wege der Flüsse und Kanäle — allerdings mit Benutzung
des Frischen Haffes von Königsberg bis zur Nogatmündung —
von Memel bis Hamburg und, wenn der mittelländische Kanal
gebaut werden sollte, durch den Rhein in die Nordsee gelangen oder
durch den Ludwigskanal in das Schwarze Meer hinausschiffen. Das
Üble ist nur, die alten Kanäle reichen für den heutigen Tiefgang der
Fahrzeuge nicht mehr ausZ und deshalb baut man neuerdings die
Riesenkanäle, auf denen Kriegspanzerschiffe fahren können, wie den
Wilhelmskanal mit 8 iu Tiefe und den Elbe-Travekanal mit 2 bis
2,50 m. Geplant sind in der deutschen Regierung Verbindungen
des Rheins mit dem Dortmund-Emskanal, der Großschiffahrts-
weg Berlin-Stettin und der masurische Kanal, der die Holzflöße
aus Russisch-Polen durch die Narew und die masurischen Seen
in die Alle und von da nach Königsberg leiten soll. Als Haupt-
stück des neuen kolossalen Kanalprojekts bleibt natürlich der so-
genannte mittelländische Kanal zu erwähnen, der Westdeutschland in
seiner ganzen Breite durchziehen soll. — Das Bestechende bei diesen
Kanalprojekten ist die bedeutende Kostenminderung des Transportes,
die bei der zunehmenden Volksdichtigkeit und der gesteigerten Massen-
zufuhr von Kohlen, chemischen Dungstoffen und Fabrikaten aller
Art gebieterisch eine immer größere Beachtung verlangt. Das Eisen-
bahnnetz ist ja in Deutschland ungemein verdichtet, und doch können
die Bahnen einen solchen Massentransport nicht mehr bewältigen.
Da bieten Wasserstraßen eine willkommene Ergänzung. Schon auf
der flachen Werra fahren Lastkähne mit 30 wus (600 Centnern)
Tragfähigkeit. Um eine solche Last sortzuschaffen, wären drei Eisen- 1
1 Daher geht der Ertrag des einst so berühmten Ludwigskanals auch twn Jahr
zu Jahr zurück.
bahnwaggons nötig. Ebenso berechnet man, daß mit Benutzung des
neuen Elb-Travekanals ein Lastkahn von 800 tons Staßfurter Kainits
die Aufgabe von 80 Doppelwaggons erfüllen würde. Und was für
Kosten wären dadurch erspart! Schließlich kann auch Deutschland hinter
anderen Staaten nicht Zurückbleiben, Frankreich plant den canal des
deux mers, eine zeitgemäße Erneuerung des canal du midi, durch den
seine Kriegsschiffe, ohne sich um Gibraltar zu kümmern, vom Meerbusen
von Biskaya ins Mittelländische Meer gelangen können, und Ruß-
land eine Kanalverbindung zwischen seinen Stromsystemen der Ostsee
und des Schwarzen Meeres, ebenfalls für Kriegsschiffe. Die Unter-
suchungen über die Binnenschiffahrt führen uns zu der weiteren
Frage, wie ist der Anteil Deutschlands an der Seefahrt? Deutsch-
land hat bei einem Flächenraum von 544000 Qkm eine Küstenlänge
von etwa 3000 km, und zwar zum größten Teile am Rande der
Oftfee.1 1 Diese war im Zeitalter der Hanse das eigentlich klassische
Meer des Handels und Verkehrs, da man von den oceanischen See-
beziehungen noch gar keine Ahnung hatte. Heutzutage ist diese Be-
deutung sehr zurückgegangen, alles drängt zum Weltmeere, und die
Ostsee ist abgelegen. Immerhin verbürgt der Warenaustausch mit
Rußland und den skandinavischen Reichen, sowie die zur See erfolgende
Zufuhr fremdländischer Erzeugnisse an die ostdeutschen Küstenlande
und ihr Hinterland noch eine ganz ansehnliche Bethätigung des
Schiffsverkehrs, und Stettin, Danzig, Königsberg und Lübeck werden
ihren Platz als Seehandelsplätze zu behaupten wissen.
Der Schwerpunkt der nautischen Zukunft des deutschen Volkes
liegt aber doch in der Nordsee und dem Anteil, den Nordwest-
deutschland an der Seefahrt nimmt. Leider hat Deutschland auch
hier von vornherein mit gewissen Unzulänglichkeiten zu kämpfen.
Die Nordsee ist nur ein Busen des Weltmeeres, und die Straße
von Calais, der Zugang zu demselben, ist „einerseits durch fremde
Seemächte leicht zu sperren und schreckt durch ihre Gefahren". Zu-
dem ist die Nordsee das aufgeregteste der Meere, die wahre „Mordsee",
und die Nordseeküste zählt zu den schlechtesten in Europa. Der Zu-
gang zu den Flußmündungen ist vom Meere aus durch Sandbänke
und die Wattenmeere, die bei der Ebbezeit trocken liegen, äußerst
behindert, und eine Menge von Leuchttürmen, Leuchtschiffen und
Kugelbaken bezeichnen die gefährliche Einfahrt. Die Nordsee, die
überhaupt zu den flachsten aller Meere gerechnet werden muß, hat
erst in einem beträchtlichen Abstand von der Küste 20 m Fahrtiefe,
und größere Seeschiffe laufen Gefahr, auf den Strand geworfen zu
werden. Man sieht, der Küstenbevölkerung ist die Liebe zum See-
1 Deutschlands Küstenentwicklung im Verhältnis zum Flächenraum etwa wie
1 :25, das alte Griechenland 1 :4, Italien 1 : 13.
77
Wesen nicht leicht gemacht, aber dennoch zieht es sie unwiderstehlich
zum Meere. Die Niederdeutschen sind, wie ihre skandinavischen
Brüder, die geborenen Wasserratten, und ebenso wie die Skandinavier-
schön seit den Zeiten der Frithsofssage und der berühmten Ellida
die Kunst erfunden haben, durch richtige Segelstellung auch wider
den Wind zu fahren, der Ruder zu entbehren und in den Océan
hinauszusteuern, so gehören unsere Friesen zu den tüchtigsten und
gesuchtesten Seeleuten der Welt. Sie gleichen darin sozusagen den
Phöniciern der alten Welt. Der schmale Küstenrand, den binnen-
wärts ein Gebirge abschloß, wies diese notgedrungen auf die See,
und die öden Sandinseln unserer Nordseeküste, die den Bewohnern
höchstens eine Wohnstätte bieten, legten es den Niederdeutschen nahe,
auf dem Meere ihr Glück zu versuchen. Namentlich die breite Trichter-
mündung der Elbe ließ ein Gemeinwesen entstehen, von dem aller
Antrieb zum Seewesen ausging und zu dem gleichermaßen aller
Vorteil der Schiffahrtskunst zusammenlief, und so ist unser Hamburg
entstanden, gewachsen und heute mit seinen 700000 Einwohnern der
erste Seehandelsplatz des europäischen Kontinents geworden.
Trotz der, wie wir gesehen haben, nicht günstigen Küstenverhält-
nisse hat sich Deutschlands Handel mächtig entwickelt und wird inner-
halb Europas nur von England übertroffen. Deutschlands Lage
ist doch andererseits sehr bevorzugt, es ist das Land der Mitte und
das Herz Europas, und so ist es zu einem Gebiet des Völkeraus-
tausches und des großen Verkehrs geworden. Die Deutschen ähneln
darin den alten Griechen, daß sie mit ausgezeichneter Rührigkeit und
Energie ihre Kolonisation seewärts verbreiten, überall als Pioniere
erscheinen und in der Gesamtbevölkerung der Erde mit ihren 70 Mil-
lionen den wohl zu beachtenden Kulturfaktor abgebenL Die deut-
schen Handelssirmen haben sich einmal Westindien und Südamerika
und dann Ostasien und die Südsee als lohnenden Tummelplatz für
ihre merkantilen Beziehungen ausersehen.
Der Handelsverkehr muß das im Auge haben, Deutschland die
überseeischen Rohstoffe zuzuführen und wiederum für Absatzgebiete in
Bezug auf deutsche Waren und Fabrikate zu sorgen. Es ist eine
interessante Thatsache, daß überall da in Deutschland, wo eine karge
Natur den lohnenden Anbau versagt, sich eine rührige Industrie ent-
wickelt hat. Das sehen wir zunächst an Nürnberg. „Die geringe
Fruchtbarkeit der sandigen, von weiten Kieferwäldern bedeckten Um-
• gegend drängte auf Gewerbfleiß", und schon seit dem Mittelalter
war Nürnberg eine der vornehmsten Gewerbe- und Handelsstädte.
Da die Juden aus dem Stadtgebiete ausgetrieben wurden, kam das 1
1 Die angelsächsische Rasse hat 100 Mill. Mitglieder, nächstdem sind die
Russen die zahlreichsten (80 Mill.).
78
in der Nähe gelegene Fürth, wohin sie nnn zogen, mächtig empor
nnd zeichnet sich ebenso durch Industrie ans. Ein zweites überzen-
gendes Beispiel bietet der südöstliche Teil des Königreichs Sachsen.
Die Unfruchtbarkeit des Erzgebirges zwang die zahlreichen Bewohner
zur gewerblichen Handarbeit, und seit alters her ist hier die Spitzen-
klöppelei zu Hause. In neuerer Zeit ist daneben eine Großindustrie
erwachsen, die sowohl das starke Gefälle der Flüsse zum Maschinen-
betrieb benützt, als auch namentlich die Steinkohlen zu verwerten
verstanden hat. Dort sind die Distrikte der Spinnerei und Weberei,
namentlich in seinen weißen Baumwollwaren, wie Plauen, Chemnitz,
das deutsche Manchester, nnd Zittau. Ähnlich ist es in Schlesien,
wo sich in den Gebirgen die langzeiligen Weberdörfer hinziehen und-
in Hirschberg der schlesische Leinwandhandel blüht. Haben wir hier
die Textilindustrie in ihren verschiedenen gewerblichen Äußerungen
gehabt, so ist wiedernm in dem westlichen Westfalen und mehr rhein-
wärts zu die Eisenindustrie vertreten, dort „wo der Märker Eisen
reckt". Solingen verhandelt seine Schwertklingen bis nach Afrika,
nnd in Essen ist die gewaltige Werkstätte des Kriegsgottes, wo
Kanonenrohre gegossen nnd Panzerplatten geschmiedet werden. Kre-
feld ist mit seinen Seidenwaren „das deutsche Lyon", und Stuttgart
ist der Mittelpunkt der süddeutschen Maschinenindustrie. Endlich
steht der Elsaß, namentlich Mühlhausen, groß da in der Verarbeitung
der Baumwolle, vorzugsweise zur Kattundruckerei, und Bremen hat
berühmte Tabakfabriken.
Daß Deutschland eine so bedeutende Rolle in der Industrie
spielt, hat seinen Grund in dem Vorhandensein der Bodenschätze,
namentlich des Roheisens und des fossilen Brennmaterials, der
Stein- und Braunkohlen. Auch in diesem wohl zu beachtenden
Reichtum wird Deutschland innerhalb Europas nur von Großbritan-
nien übertroffenT Preußen hat ausgedehnte Kohlenflöze in Schlesien,
im Ruhrbecken nnd an der Saar, wozu noch die Kohlenreviere im
Königreich Sachsen kommen. Die Gesamtförderung der Kohlen hat
einen Wert von gegen 600 Millionen Mark. Weiter ist es inter-
essant, daß, während noch Tacitus bezweifelt, ob die erzürnten oder
wohlmeinenden Götter Deutschland das Silber versagt hätten, wir
gegenwärtig hören müssen, gerade Deutschland bringe die Hälfte des
in Europa gewonnenen Silbers hervor. Daneben muß Deutschland
für 2OO Millionen Mark Baumwolle einführen; aber man hofft,
sich durch Erstarkung des kolonialen Nutzungswertes allmählich auch *
in dieser Ware vom Auslande emancipieren zu können.
Alles ist seit den letzten Jahrzehnten in Deutschland in fröh-
lichstem Aufblühen begriffen, Handel und Industrie sind in den
Siehe oben S. 65.
79
langen Friedensjahren mächtig emporgekommen. Natürlich hat sich
auch die Volksdichtigkeit innerhalb Deutschlands stetig vermehrt. Man
zählt 2500 Städte, und durchschnittlich wohnen 9l Menschen auf
dem □ km. Am dichtesten bevölkert sind außer der Umgegend der
Großstädte, wie Berlin, Hamburg, Magdeburg, Stuttgart, und der
schlesischen Kohlendistrikte die oberrheinische Tiefebene mit über
150 Menschen auf den □ km, Königreich Sachsen mit 234 und gar
der Düsseldorfer Regierungsbezirk mit 361 Menschen auf den □km.
Das ist eine Menschenfülle wie im Thale Ägyptens, und sie wird
im Erdenrund nur überboten durch das englische Kohlen- und Eisen-
revier von Manchester, wo 500 Menschen auf dem □km wohnen, oder
durch das Schwemmland der chinesischen Flüsse, wo die Menschen
es vielfach schon vorziehen, auf den Flüssen zu wohnen, um doch
nur ja den Besitz der Landscholle recht ausnutzen zu können. Daneben
kommen natürlich in Deutschland auch volksarme Gegenden vor; die
Lüneburger Heide hat z. B. 37 Menschen, Regierungsbezirk Köslin
40 Menschen auf 1 □km.
Das Deutsche Reich befindet sich in jeder Beziehung in gesun-
dem Wachstum, das zeigt auch die jährliche Zunahme der Bevöl-
kerung durch Geburtsüberschüsse. So wie in ganz Europa, betragen
diese auch in Deutschland 0,96 %, also fast 1 °/0. Bei einer Ge-
samtbevölkerung von 50 Millionen hat der jährliche Zuwachs
480000 Menschen betragen. Für Europa rechnet man bei ruhiger
Weiterentwickelung, wo also nicht durch Krieg, Pest oder Mißwachs
abnorme Minderungen der Volkszahl entstehen, in etwa 70 Jahren
eine Verdoppelung der Bevölkerung heraus; in Deutschland müßte
also etwas Analoges eintreten. Wie gesund diese Vevölkerungsver-
hältnisse für Deutschland sind, sieht man erst ein, wenn man sie sich
abheben läßt von Frankreich. Dort findet eine jährliche Zunahme
der Volkszahl um nur 0,18 % statt, in Rußland allerdings um
1,45o/o und in den Vereinigten Staaten von Ämerika um 2°/0.
Wir haben ferner in Deutschland den Vorzug, daß wir in sprach-
licher Beziehung ein fast einheitliches Volk sind. Nur etwa 3 % der Be-
völkerung sprechen nicht deutsch, und zwar zum größten Teil sind diese
Reichsangehörigen Polen. Das ist ein großer Gewinn, und wie können
wir um dieser verhältnismäßigen Geschlossenheit der Nationalität willen
von anderen Staaten beneidet werden, z. B. von Österreich-Ungarn,
dem richtigen „Völkermang", wie der alte Jahn sagte, „wo um die
Gesundheit des Kaisers in sieben Sprachen gebetet wird"U — Nicht so
günstig steht es in Deutschland um die konfessionelle Einheit. Wir
haben zwei Drittel Protestanten und ein Drittel Katholiken.
1 Im Süden der Donau wohnen in Deutschland viel dunkeläugige und schwarz-
haarige Menschen, weil sich Deutsche hier mit den keltischen Ureinwohnern mischten,
in Nordwestdeutschland die unverfälschten Germanen, blauäugig und blondhaarig.
80
Man hatte früher vielfach darauf hingewiesen, daß Deutschland,
in der Mitte Europas gelegen, „niemandem gefährlich, allen wohl-
thätig," sozusagen „das Gemüt von Europa" fei und sich in diesem
etwas weichlichen Vergleich gar sehr gefallen. Aber schon Klopstock
hatte davor gewarnt, sich nicht zu sehr aus diese Selbstgenügsamkeit
zurückzuziehen und dem Ausland gegenüber immer den Nachsichtigen
zu spielen.
Sei nicht allzugerecht!
Sie denken nicht edel genug, zu sehen,
■ Wie schön dein Fehler sei!
Die fremden Nationen gewöhnten sich, Deutschland über die
Achsel anzusehen und es hochmütig zu verachten. Ja, die Königin
Christine von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs, verflieg sich
sogar in einem Briefe zu folgendem Urteil, das wir uns doch immer
Vorhalten wollen, um zu ermessen, was einst das Ausland sich gegen
uns herausgenommen hat. Nachdem sie, wie sie schreibt, glücklich
das „verödete, stinkende uud barbarische Deutschland" durchreist hat,
fährt sie fort, „es ist besser ein Ketzer als ein Deutscher sein. Denn
ein Ketzer kann doch katholisch werden, ein Beest kann nie vernünftig
werden. Verflucht sei das Land und die dummen Beester, die es
hervorbringt!" In neuester Zeit ist man gründlich aus dieser
Stumpfsinnigkeit des „deutschen Michels" erwacht, und Deutschland
versäumt es nicht, dem Auslande gegenüber stets und immer mit
Nachdruck aufzutreten. Wir wollen gern, nachdem wir uns selbst
gefunden und uns unserer Kraft bewußt geworden sind, zu dem alten
Vergleich zurückkehren, Deutschland als das „Herzland" des ganzen
Planeten bezeichnen und hinzufügen, „wie der Körper im Herzschlag
seinen Lebenspunkt hat, so ist der ganzen Welt in Deutschland der
Einheitspunkt gegeben". Und beim Herzen denken wir an die schöne
Definition Jmmermanns, „ich meine das volle, starke Herz, vom
Atem Gottes und göttlicher Notwendigkeiten durchweht und begeistert!"
Dann können wir den Zuruf zur Wahrheit machen:
Erwach', mein Volk, mit neuen Sinnen,
Blick' in des Schicksals gold'nes Buch,
Lies ans den Sternen dir den Spruch,
Du sollst die Welt gewinnen!
Der Sternenhimmel nut> unser
Sonnensystem.
^l^as Zwanzigste Jahrhundert hat begonnen, und wenn dein vorauf-
gehenden durch die Bevorzugung der ideellen und humanistischen
Wissenschaften die Signatur ausgeprägt war, hat es allen Anschein,
als ob bei dem gegenwärtigen Säkulum die Erstndungen der Technik
und der experimentellen Erfahrungen die vornehmste Rolle über-
nehmen werden. Das voraufgehende Jahrhundert war groß in der
Ausgabe von Büchern — jährlich rechneten z. B. die deutschen Buch-
händlerkataloge über 15000 Nummern — und in der Riesenzahl
der Zeitungen; das gegenwärtige sucht seinen Vorgänger zu über-
trumpfen und verewigt nicht nur den toten Buchstaben, sondern gal-
vanisiert sozusagen die abgeschiedenen Menschen, so daß ihr Gebärden-
spiel im Kinematographen für alle Zukunft festgehalten ist und der
Tonfall und Klang der Rede noch nach Jahrhunderten vermittelst
des Phonographen fast gespensterhast das Ohr des Hörers trifft.
Gleichwie in der alexandrinischen Bibliothek unzählige Rollen die
Säle füllten und den Wissensstoff der vorangegangenen Geschlechter
ausspeicherten, wird man in Zukunft Tausende und aber Tausende
von Walzen nebeneinander lagern, und die Neugier der Nachkommen
kann sich den Genuß verschaffen, durch Einstellung derselben in die
akustische Maschine die Reden unserer Parlamentarier, die Vorträge
der Koryphäen der Wissenschaft, die Arien berühmter Sänger rc.
sich einfach reproduzieren zu lassen. Wenn man weiter die Perspek-
tive verfolgt, die sich an die Entdeckung der flüssigen Lust und ihrer
in Aussicht gestellten Benutzbarkeit als Vewegungsmittel und Ex-
plosivstoff knüpft, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es schließlich
doch noch gelingen wird, die Kraft irgendwie aufzuspeichern und sie
wie eine Ware in beliebigen Quantitäten zu verkaufen, — so schwin-
delt es uns fast bei diesem Zukunstsbilde stets sich erneuernder
Entdeckungen, stets sich wandelnder Bedingungen äußern Daseins
und materieller Wohlfahrt, und mehr denn je wird der Spruch des
alten Philosophen zur Wahrheit navra gel. In dieser stets fluk-
tuierenden Bewegung der äußeren menschlichen Geschicke sehnt sich
H anncke, Erdkundl. Aufsätze. u
der Mensch nach der Anschauung anscheinender Ruhe und ewiger
Gleichförmigkeit, und da leuchtet ihm eine Schrift entgegen mit
strahlenden goldenen Lettern, nachts zu lesen in ihrem milden
Glanze — das ist das Heer der Sterne, zu denen seit dem grauesten
Altertum die Menschen ehrfurchtsvoll ausgeschaut haben, hoch und
niedrig, arm und reich: und selbst der größte unter den Philosophen
muß es in Anerkennung aussprechen, daß zweierlei die meiste Be-
wunderung verdiene, der gestirnte Himmel über uns und das mo-
ralische Gesetz in uns.
Der äußere Eindruck lehrt zunächst, daß das Firmament unsere
Erde, an deren Kugelgestalt schon die alten Pythagoräer und Stoiker
sesthielten, ebenfalls in hohler Kugelgestalt, wie die Schale den Kern
umschließt. Wir sehen von unserem Standpunkte aus der Erde nur
die nördliche Hälfte der Himmelskugel und müßten erst weite Reisen
nach dem Süden unternehmen, um die Sterne der anderen Hälfte
zu erblicken. Das ist entschieden ein ästhetischer Nachteil für uns,
denn wie Alexander von Humboldt berichtet, soll nichts über die
landschaftliche Anmut des südlichen Himmels gehen. Dort leuchtet
in den Tropennächten der prachtvolle Schmuck des Zodiakallichtes,
eines, wie er erklärt, zwischen Erde und Mars rotierenden Nebel-
ringes; um den sonst sternenleeren Südpol kreisen die wunderbaren
Sternenhaufen der Magelhanischen Wolken, und in dem intensiveren
Blau des Himmelsgewölbes strahlt das prachtvolle Sternbild des
südlichen Kreuzes, das Dante zu erschauen sich vergebens gesehnt
hatte. Diesem Nachteil steht aber ein Gewinn gegenüber. Denn
wir blicken in unseren nördlichen Breiten zu denselben Sternen empor
wie die Kulturvölker des Altertums und können in mehrfacher Be-
ziehung ihre Anschauungen verwerten.
Die alten Griechen, die ihre astronomischen Elementaranschau-
ungen teilweise schon von den Chaldäern und Babyloniern über-
kommen hatten, nahmen von ihrem geocentrischen Standpunkte aus
an, daß die Planeten sich um die Erde drehten, und zwar rechneten
sie 7, nach denen auch die Wochentage benannt sind/ wie wir dies
noch heute an den französischen Namen erkennen. Dies solis ist der
Sonntag, denn auch Sonne und Mond galten als Planeten; dies
lunae der Montag: martis — mardi, Dienstag; Mercurii — mcreredi,
Mittwoch; Jovis, jeudi, Donnerstag; Yeneris, vendredi, Freitag,
und Saturni, Sonnabend. Den Merkur, den sonnennächsten Planeten,
müssen die Alten mit bloßem Auge ganz gut gesehen haben, — wie in
südlicheren Gegenden die Reinheit des Himmels dies auch ermöglicht.
Bei uns hat die Beobachtung dieses Planeten große Schwierigkeit,
' Die Namen der Wachentage kamen im Anfang des römischen Kaiserreichs
in Gebranch. Jeder Tag stand unter dem Schutzgotte seiner ersten Stunde, der
ein Planetengatt war.
83
und Kopernikus klagte noch auf seinem Sterbebette, nie den Merkur
erblickt zu haben. — Die Venus mit ihrem intensiv weißen Licht
hat von je die Aufmerksamkeit des sinnenden Menschen erregt, sie
erscheint als Abendstern und vor Sonnenaufgang als Morgenstern,
als Hesperus und Lucifer; Homer nennt sie den schönsten Stern,
xáUioxog âorrjQ, und profane und fromme Poesie hat diesen Stern
mit Vorliebe besungen, wie denn das Andachtslied „Wie schön leuchtet
der Morgenstern" zu den beliebtesten der evangelischen Kirche
gehört; Mars, „der alte Schadenstifter", wie ihn noch der Schillersehe
Wallenstein in seinen astrologischen Grübeleien nennt, leuchtet mit
trübrötlichem Glanze, Jupiter, der ebenfalls in den Tafeln der
Sterndeuter von je eine wichtige Rolle gespielt hat, im gelblichen
Lichte. Saturn blieb mit seinen Ringen, deren Natur und Form
erst die neueren Jahrhunderte erkannt haben, eine rätselhafte Gestalt,
man nannte ihn tei-Asirüuus und dichtete ihm sogar Henkelgriffe an.
Endlich mußten es sich noch Sonne und Mond gefallen lassen, als
gehorsame Trabanten um die kleine Erde zu kreisen und die Zahl
der 7 Planeten zu vervollständigen. Dafür wurden sie aber einiger-
maßen dadurch entschädigt, daß der poetische Sinn der Menschen sie
mit schier unerschöpflichen und zahllosen Hymnen und Metaphern
angesungen hat, und bis in unsere deutschen Litteraturerzeugnisse
hinein sind beide Gestirne fast unentbehrliche Requisite der echten
Dichter sowohl wie der Dichterlinge. Übrigens macht der Mond,
„der Gedankenfreund" oder wie Goethe ihn geringschätziger nennt
„trübseliger Freund", es seinen Verehrern unter den Tropen leichter,
die schmale Sichel als einen Kahn anzusehen, der durch das Fir-
mament gleitet; denn dort steht die abnehmende Sichel ganz wagrecht.
Außer diesen Wandelsternen beobachteten die Alten die Fixsterne,
das sind eigentlich an dem blauen Himmelszelt angeheftete Sterne
(figo), und die Betrachtung dieses Sternenmantels hat von je den
denkenden Menschen angeregt. Als imposantester Sternenkomplex
bot sich der Orion dar, der schon im Buche Hiob neben dem Wagen
und der Glucke (mit den Küchlein = Plejaden) Erwähnung findet.
Wenn übrigens ein niedrig stehendes Naturvolk, die Papuas in
Australien, seine Vorfahren als Jäger an das Firmament versetzt,
die dort auf Emus und Känguruhs ihre Bumerangs werfen, so ist
auch nach den ältesten griechischen Anschauungen Jagd und land-
wirtschaftliche Verrichtung am Hinunelszelt vertreten. Homer nimmt
alle Sternbilder für Jagdtiere des Orion, und die Etymologie der
Sternnamen giebt uns deutliche Fingerzeige. Die große Bärin
(ägxTog sWagenj; daher die Bezeichnung arktisch für den hohen
Norden) ist das Gegenstück zum Jägersmann Orion; sie lauert aus
ihn. Arkturos ist der Bärenhüter, Hyaden und Plejaden als
Schweinchen und Täubchen vervollständigen die Jagdscene. Gleich-
84
zeitig sind die landwirtschaftlichen Anschauungen am Firmament ver-
ewigt. Der große Wagen hat die sieben Dreschochsen (triones); daher
septemtrio zu der Bedeutung Norden kommt; Bootes endlich ist der
Ochsenknecht. — Der ursprünglich naiven Anschauung und Benennung
der Sterne folgt die mythologische Epoche, wo die durch Linien ver-
bundenen Sterne in der Schöpferkraft der poetischen Phantasie der
Griechen zu Sternbildern wurden und nun auch ihre gelehrten
Interpreten fanden, wie den Eratosthenes und Aratus, dem Ovid
gleichwie der Sonne und dem Mond ein ewiges Andenken prophezeit.
Die Alten kannten 48 Sternbilder, die sogenannten hipparchischen,
und auch in modernen populären Sternkarten, wie in denen des
großen Stielerschen Atlas, sind die Umrisse dieser phantastischen
Bilder noch gezeichnet.^
Bald verband man auch mit dem Aufgange der Gestirne ge-
wisse meteorologische und orientierende Beobachtungen. Und da ge-
wann größte Bedeutung ein Fixstern, der wegen seiner Größe und
Leuchtkraft unter die ausgezeichnetsten gerechnet werden muß, ich
meine den Sirius. Wir bewundern sein weißes Licht, im Altertum
strahlte er aber rötlich, wie Seneka sagt aerior oarnmilas nibor
quam Martis, denn allgemein hieß er der Hundsstern, und weil er
mit der Sonne zusammen im Juli aufging, sollte er wütende Hitze
erzeugen, so daß noch heutzutage daher die Hundstage ihren ominösen
Ruf haben und Horaz singen konnte: eanern iliiim invisum agricolis
sidus. -— Wichtig waren ferner die Plejaden ^ als Schiffahrts-
gestirn. Die Spanier nennen sie oadritas, Zicklein, und, wie
schon erwähnt, sah man im grauesten Altertum dies Siebengestirn
als Glucke mit ihren Küchlein an. Als Schisfahrtsgestirn galten
sie darum, weil die Schiffahrt im Mittelmeer vom Mai bis An-
fang November dauerte, vom Frühaufgange bis Frühuntergange
dieser Sterne.
Einen bösen Ruf in meteorologischer Beziehung haben ferner
die Hyaden; es ist das eine Gruppe kleiner Sterne in der Nähe der
Plejaden, wie ja denn auch die mythologische Deutung besagte, daß
sich die Plejaden, die sieben Töchter des Atlas, den Tod gegeben haben
sollen aus Gram über den Verlust ihrer Schwestern, eben der Hyaden.
Das Gestirn hat engen Zusammenhang mit Regenwetter, sie heißen
darum auch pluviae, und Horaz nennt sie in feinen Oden tristes. —
Am bekanntesten endlich, um von dem W der Cafsiopeja, dem
Procyon und den Zwillingen zu gefchweigen, ist der Wagen oder
Große Bär mit dem von diesem Sternbilde aus leicht auffindbaren
Polarstern, weil sie von je zur Orientierung gedient haben und dem
1 Der südliche Sternhimmel hat Raum gelassen für neuere Sternbilder.
2 Vorhin als wilde Tauben erklärt.
85
Schiffer auf hoher See und dem Wanderer in der Wüste die Nord-
weisung am Firmamente vermittelten.
Die geocentrische Anschauung wurde auf Grund des Almagest,
der ¡usydhi ovvra&g des alexandrinischen Geographen Ptolemäus, das
ganze Mittelalter hindurch sestgehalten und schien ja auch durch das
Wort Josuas: „Sonne, stehe still!" ihre biblische Bestätigung zu finden.
Scharfsinnigeren Geistern mochte sie wohl nicht genügt haben, und
Alfons X. von Kastilien im 13. Jahrhundert sprach das anscheinend
blasphemische Wort: si a principio creationis dei altissimi consilio
interfuisset nonnulla melius ordinatiusque condita fuisse, d. h.
wenn er unfern Herrgott bei der Erschaffung der Welt beraten hätte,
wäre manches verständiger eingerichtet gewesen. Und die Ehren-
rettung des astronomischen Weltenplanes kam bald. Kopernikus aus
Thorn warf die geocentrische Anschauung über den Haufen und er-
setzte sie durch die heliocentrische, wonach die Erde ebensogut ein
Planet ist wie die früher schon bekannten und mit ihren Planeten-
geschwistern um die Sonne kreist. Kepler ergänzte diese großartige
Reform noch dadurch, daß er statt der Kreisbahnen für die Planeten
die elliptischen annahm, und so ist das Sonnensystem dieser beiden
großen Deutschen die Grundlage unserer heutigen astronomischen
Weltanschauung geworden. — Die gleichzeitige Erfindung der Fern-
rohre unterstützte und ermöglichte die genauen Beobachtungen am
Firmamente und hat namentlich in Bezug auf die Fixsternwelt zu
ganz ungeahnten Entdeckungen geführt. Die Alten, die die Stei-
gerung der Sehschärfe durch die optischen Gesetze der Linse nicht
kannten oder nicht weiter verwerteten — denn allerdings soll ja der
kurzsichtige Nero sich bei den Cirkusspielen eines linsenartigen Sma-
ragds bedient haben; Beryll — Brille —, ersahen mit bloßem Auge
etwa 4000 Sterne am Himmel, — in Mitteldeutschland erblickt man
4200, in Berlin ca. 4022; heutzutage ist durch die teleskopische Besich-
tigung des Firmaments die Zahl der Sterne in überraschendster Weise
angeschwollen. Man rechnet im ganzen etwa 20 Millionen, wovon
allein aus die via lactea oder Milchstraße nach Herschels Berechnung
18 Millionen kommen. (Der minutiöse Fleiß der Astronomen hat
Sternkataloge angefertigt, und die Namen Bessel, Argelander müssen
hier in ehrendster Weise erwähnt werden.) Wenn die Erde also
nach dem neuen astronomischen System sich um die Sonne dreht,
so galt es, den Umfang dieser Bahn festzustellen, und man fand
eine Bahn Von fast 130 Millionen MeilenA In jeder Sekunde
legt die Erde also 43/20 Meilen 2 zurück, und man macht den Scherz,
daß, wenn zwei Herren sich grüßen, sie über Vier Meilen mit un-
‘ 936 Millionen Kilometer.
- 29l/2 Kilometer.
86
bedecktem Haupte dahinfliegen, ohne sich zu erkälten. Die Gegner
des neuen Systems wandten ein, daß, wenn die Erdbahn einen so
ungeheuren Umfang habe, man doch irgendwie im Laufe des Jahres
Veränderungen in der Stellung der Fixsterne beobachten müsse.
Aber schon der alexandrinische Astronom Aristarch, der in völlig un-
beachteter wissenschaftlicher Isoliertheit ein heliocentrisches System
aufzustellen gesucht hatte, antwortete mit Recht, die Entfernung der
Fixsterne ist so ungeheuer, daß selbst der Erdbahndurchmesser, vom
Fixstern aus gesehen, zum Punkte einschrumpfe und wir Veränderungen
in der Stellung der Fixsterne gar nicht wahrzunehmen vermögen. In
neuerer Zeit ist es nun doch gelungen, eine Parallaxe der Fixsterne
nachzuweisen, d. h. eine wenn auch noch so unmerkliche Stellungs-
verschiedenheit oder Bewegung, namentlich nach den glänzenden
Untersuchungen Bessels an dem 61. Sterne im Bilde des Schwanes.
Man hat demnach die Entfernung auch durch Zahlenwerte aus-
drücken können * und herausgefunden, daß vom nächsten Fixstern zu
uns hin 8 Billionen Meilen Zwischenraum beständen, und daß ein
Dampfwagen, der täglich 200 Meilen machte, 200 Millionen Jahre
nötig hätte, um von uns zu dem Fixsterne zu gelangen. — Beob-
achtungen des mimdus Jovialis, der Jupiterswelt, also des Planeten
Jupiter mit seinen vier Monden, erwiesen sich sowohl im allgemeinen
äußerst lehrreich, „da sie dem geistigen Auge ein vollkommenes Bild
des großen Planeten- und Sonnensystems darbot" und sich die
Keplerschen Gesetze aufs vortrefflichste an diesem Anschauungsmaterial
deduzieren ließen, als auch führten sie zu den wichtigsten Ent-
deckungen über das Licht. Die. Aberration des Lichtes, d. h. die
Wahrnehmung, daß wir den Stern in einer veränderten Richtung
sehen, weil bei der Bewegung oder Revolution der Erde der Licht-
strahl, der eine gewisse Zeit braucht, um die ganze Entfernung bis
zur Erde zu durchlaufen, eine solche Verschiebung herbeiführt, war
ein glänzender Beweis für die Lehre des Kopernikus und sozusagen
„der Schlußstein seines ganzen Systems". Hand in Hand mit diesen
Untersuchungen ging die Messung des Lichtweges und die Berechnung,
in wieviel Zeit der Lichtstrahl den Weltenraum durchdringt. Hier
kam man zu den überraschendsten Ergebnissen. Ein Lichtstrahl durch-
eilt in einer Sekunde 300000 km oder 40000 Meilen. Während
also das Sonnenlicht 8 Minuten Zeit braucht, um zu uns zu dringen,
trifft es den Planeten Neptun erst in 4 Jahren. Ganz ungeheuer- 1
1 Aus der jährlichen periodischen Schwankung eines Sternortes oder, mit
anderen Worten, aus der Größe des Bildes, unter welchem von einem Sterne aus
die jährliche Erdbewegung erscheint, ermißt man das Verhältnis seiner Entfernung
zu den Dimensionen der Erdbahn. Förster: Die Wandlungen des astronomischen
Weltbildes bis zur Gegenwart, in Mitteilungen der Vereinigung von Freunden der
Astronomie. 1900.
87
lich werden die Angaben über den Lichtweg der Fixsterne. Das
Licht des nächsten Fixsterns dringt zu uns in 9 Jahren, das des
Polarsterns in 16 Jahren. Welch em Fortschritt gegen die räum-
lichen Anschauungen des Altertums. Während in der Hesiodischen
Théogonie, sagt Humboldt,1 der eherne Amboß nur 9 Tage und
9 Nächte zu fallen braucht, um zu der Erde zu gelangen, berechnet
der ältere Herschel, daß das Licht fast 2 Millionen Jahre durch-
wandern müsse, um von den fernsten Lichtnebeln endlich aus die
Erde zu treffen. Wir messen also, fährt er fort, mit unfern Fern-
rohren ebensowohl den Raum wie die Zeit, sehen am Himmel Un-
gleichzeitiges, und Thatsachen, die einer grauesten Vergangenheit
angehören, bekommen wir jetzt erst zu sehen. So können Sterne,
die längst erloschen sind, uns jetzt noch entgegenblinken, und ein
Schauer vor den Wundern des Weltalls durchbebt uns.
Man konnte ferner an dem Planeten Venus Phasen beobachten
wie an unserm Trabanten, dem Monde. Die Planeten leuchten
also in erborgtem Lichte, die Fixsterne sind selbstleuchtend wie die
Sonne. Diese Wahrnehmungen wurden durch optische Gesetze be-
stätigt, denn das Licht der Planeten erscheint polarisiert, ist also er-
borgt, das Licht der Fixsterne dagegen unpolarisiert, also selbst-
leuchtend wie unsere Sonne. Das Funkeln der Sterne wird durch
unsere Atmosphäre hervorgerufen, soll also, wenn man z. B. den
Ätna bestiegen hat, aufhören. Vom Monde aus gesehen erscheint,
weil der Mond keine Atmosphäre hat, der Himmel schwarz; überhaupt
muß der Mond sich von den Astronomen einige anzügliche Benennungen
gefallen lassen. Er heißt der Faulenzer unter den Himmelskörpern
wegen seiner langsamen Bewegung und soll als planète en retraite
gelten, wenn man die dreifache Stusenordnung festhalten will, wo-
nach die Himmelskörper zunächst als glühende Masse erscheinen, wie
die Sonne, dann als bewohnte Sterne, wie unsere Erde, und endlich
als starre Schlackenmasse wie eben der Mond. Zum Ersatz für diese
Anzüglichkeiten könnte der Mond allerdings seinen etwa existierenden
Bewohnern den Vorteil bieten, daß alle Körper, weil er geminderte
Anziehungskraft besitzt, um so leichter wären, und daß demnach, wer
hier aus der Erde nur 1 na springt, mit Leichtigkeit aus dem Monde
6 na wagen könnte. Die Sonne natürlich hat wieder bedeutend
größere Anziehungskraft wie die Erde, ein Körper würde dort in der
ersten Sekunde 466' fallen. ? Daß bei einer so kolossalen Anziehung
nicht die Himmelskörper, die um sie kreisen, allmählich in sie hinein-
fallen, beruht auf dem Gesetze Newtons von dem Parallelogramm
der Kräfte, wonach der Anziehungskraft entgegenwirkt die Centrifugal- 1 2
1 Kosmos 1, 161.
2 Andere Angaben besagen, das; ein Körper ans der Sonne 28 mal schwerer
sei als auf der Erde.
— 88 —
kraft, die vom ersten Anstöße her (primum mobile) dem Körper die
Richtung giebt, sich in die Unendlichkeit zu entfernen. Das Gegen-
wirken bieder beiden Kräfte zwingt die Himmelskörper, sich in Run-
dungen um ihren Centralkörper, die Sonne, zu bewegen.
Es ist nun von der höchsten Wichtigkeit, die Entfernung unserer
Erde von der Sonne, dem Centralkörper unseres Sonnensystems, zu
bestimmen, d. h. die genaue Kenntnis des Halbmessers der Erdbahn uns
zu vermitteln. Denn mit ihm messen wir alle übrigen planetarischen
Raumbestimmungen und dringen mit dieser Maßeinheit auch in die
Tiefen der Fixsternwelt. Jeder Fehler in der Berechnung dieses
Maßes überträgt sich natürlich aus die übrigen Abstände. Man
pflegt die Entfernung durch die Sonnenparallaxe zu ersetzen und
hat versucht, diesen Winkel, unter dem der Halbmesser des Erd-
äquators von der Sonne aus erscheint, genau zu berechnen. Die trigono-
metrischen Berechnungen wollten wegen der großen Entfernung kein
rechtes Ergebnis haben, und man verfiel daraus, die Sonnenparallaxe
durch Vermittelung eines Planeten festzustellen. Am zweckmäßigsten
erschien es, den Planeten Venus in seiner Konjunktur zur Sonne
dazu zu benutzen. Diese Durchgänge der Venus oder die Vorüber-
gänge vor der Sonnenscheibe, auf der der Planet als kleiner
schwarzer Punkt erscheint, sind äußerst selten, in 243 Jahren nur 4,
von denen je zwei sich in 8 Jahren folgen. Die letzten waren
1874 und 1882, und es waren das aufregende Zeiten für die
Astronomen und die ganze gebildete WeltA Die Venusparallaxe ist
das Vierfache der Sonnenparallaxe, und man hat den Wert dieser
Sonnenparallaxe gegenwärtig berechnet auf 8,8 Bogensekunden, was
einer mittleren Entfernung der Erde von der Sonne in runder Zahl
von 149 Millionen km oder 20 Millionen Meilen entspricht.
Mitten in dieses ruhige und gleichmäßige Spiel der Himmels-
körper unseres Sonnensystems dringen nun auf unsere Erde wie
Boten anderer Welten mannigfache Boliden als Feuerkugeln und
Meteore, und es ist für uns eine der denkwürdigsten Thatsachen,
wenn wir einen aus die Erde gefallenen Meteoriten wie einen Gruß
aus fernen Himmelsräumen in der Hand halten können, ihn befühlen
und genau besichtigen. Solche Meteoriten fallen zu allen Zeiten und
an allen Orten gar häufig auf unfern Planeten, wenn wir auch die
lakonische Notiz der wundergläubigen alten Autoren lapidibus pluit
meist aus Auswürflinge aus Vulkanen beziehen müssen. Die Meteor-
steine als einzige Berührung mit dem Außerirdischen, die wir haben,
lagern in unseren Museen und sind aus ihre Beschaffenheit hin
genau untersucht. Ein Hauptbestandteil derselben ist Eisen, und die
Kalifen sollen sich in abergläubischer Befangenheit Schwerter aus 1
1 Der nächste Venusdurchgang findet erst wieder 2004 statt.
89
demselben haben schmieden lassen. Übrigens ist ja auch der heilige
Stein in der Kaaba der Muhamedaner höchstwahrscheinlich ein
Meteorstein. Außer den Steinen fällt von den zahlreichen Ärolithen
und Feuerkugeln Meteorstaub hinab auf unfern Planeten, derselbe
ist natürlich auch eisenhaltig, und Nordenskjöld hat, als er Schnee
in Spitzbergen schmolz, der weit weg von allen menschlichen Ansie-
delungen gelegen war und aus den der Staub aus Himmelshöhen regel-
mäßig sich hinuntergesenkt hatte, ein seines Eisenpulver erhalten.
Als richtige Fremdlinge drängen sich in unser Planetensystem
endlich die Haarsterne oder Kometen, die mitunter aus ungeheuren
Fernen kommen und früher einen furchtbaren Schreck verursachten.
Sie machen mit ihren parabolischen und hyperbolischen Bahnen
weite Reisen durchs Firmament — so berechnete man für den be-
rühmten Kometen von 1811 eine Umlaufszeit von 3065 Jahren
und gar für den einen Kometen von 1844 102050 Jahre —
so daß ein jüngst verstorbener Astronom den Wunsch aussprach,
wenn es ihm einmal vergönnt wäre, auf einem Sterne zu leben,
möchte er sich einen Kometen aussuchen; denn dann bekäme er doch
wirklich etwas zu sehen und steure durch die entlegensten Sternen-
räume. Also der Mond, wohin z. B. Jules Verne seine phantastische
Reise unternahm, die Sonne und die Planeten sind ihm nicht mehr
interessant genug. — Seit Christi Geburt hat man 500 Kometen
beobachtet; wer noch weiter zurückrechnen will, muß die genauen
Kometentafeln der Chinesen, dieses merkwürdigen, abgeschlossen für
sich denkenden und untersuchenden VolkesP einsehen. Überhaupt aber,
sagt schon Kepler, wimmelt es im Himmelsraum von Kometen, wie
in den Tiefen des Oceans von Fischen.
Das Schreckhafte der ganzen Kometenerscheinung liegt in dem
Schweife oder, wie die Chinesen sagen, in dem Besen, der meist von
der Sonne abgewandt ist, so daß schon die Alten meldeten, comae
radios solis effugiunt (Seneka). Diese „Rute, drohend am Himmels-
fenster ausgesteckt," erregte zumeist ein abergläubisches Entsetzen.
Einmal machte die Menschen die Länge dieses Schweifes betroffen,
so maß der Komet von 1680 20 Millionen Meilen; dann blendete
sein ungewohnter Glanz, der manchmal so stark war, daß die Bäume
Schatten warfen. Kurzum, die angsterfüllte Phantasie hatte hier
einen willkommenen Spielraum, und die Abbildungen in den alten
Chronikanten ergeben, was man alles unter diesen Kometen-
erscheinungen zu sehen vermeinte, schreckliche Fratzen, Schwerter und
Dolche, Vahren und schauriges Leichengepränge.
Gegenüber diesen abergläubischen Furchtgefühlen sei noch aus 1
1 Sie legen auch bei jeder Thronbesteigung eine Reichsqeoqraphie an: die
von 1368 umfaßt 360 Bände.
einen großen Triumph der Wissenschaft hingewiesen. Halley ersah
ans seinen Berechnungen, daß der Komet, den er 1682 erblickte,
identisch sei mit dem von 1607 nnd 1531, wahrscheinlich auch dem
von 1456. Er erkannte die elliptische Bahn dieses schönen Gestirns,
das sich bis 5000 Millionen Km von der Sonne entfernt, also
noch über die Neptunsbahn hinansgeht und sich dann wieder in
75 Jahren bis aus 100 Millionen der Sonne nähert, also noch
innerhalb der Venusbahn erscheint. Das Packende an diesen Berech-
nungen war, daß Halley für das Jahr 1758 die Wiederkehr voraus-
sagen konnte. Und wo früher Türken und Christen ihre Vernichtung
aus dem schreckhaften Ereignis folgerten nnd Papst Calixtus II.
Gebete anordnete, bemächtigte sich im 18. Jahrhundert eine fieber-
hafte Unruhe der wissenschaftlichen Kreise, um den vorausgesagten
Kometen wirklich auszufinden und den glänzenden Triumph zuver-
lässigster Berechnung anznstaunen. Und der Komet erschien nnd
bereitete so dem bereits im Grabe ruhenden Halley eine seltene Genug-
thuung. Er ist später 1835 in noch genauerer Weise vorausgesagt
und beobachtet worden und wird wieder 1910 erscheinen.
An Stelle der angsterfüllten Prophezeiungen, mit denen man
früher dies Lichtphänomen am Himmelszelt beobachtete, trat in
neuester Zeit eine mehr wissenschaftliche Befürchtung, daß bei einem
Zusammenstoß mit einem Kometen die Erde ihren Untergang finden
könne. Der Durchgang durch Kometenteile des Schweifes würde
uns allerdings nur Sternschnuppenschauer eintragen, gefährlicher aber
wäre es, wenn wir mit dem Kerne selbst zusammenstießen. Man
hat über diese Möglichkeit Wahrscheinlichkeitsberechnungen angestellt
und herausgefunden, daß in 220 Millionen Jahren einmal ein Komet
mit der Erde zusammentrefsen könne.1 Danach bleibt es also einem
jeden unbenommen, sich zu ängstigen oder unbefangen zu bleiben. 1
1 Valentiner Kometen und Meteore in „Wissen der Gegenwart" S. 226.
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