197 Mensch auch hier schon Manches nicht mehr pflanzen, was den Bewoh¬ ner der Ebene mit reicher Ernte erfreut, so ist doch dieser Naturgarten Gottes für ihn ein herzerhebender Ersatz. Der Inn durchströmt vom bescheidenen Anfänge der Quelle bis in die Thalsohle hinab, immer mächtiger werdend, das Thal seiner Wiege, und die reizendsten Seen, wie sie nirgends ein Hochalpthal aufzuweisen hat, spiegeln in ihrer krystallenen Fluth die schneebedeckten Berge, die grünen Wälder und die schönen Wohnungen einer Bevölkerung, welche in allen großen Städten Europa's durch Redlichkeit, Geschicklichkeit und Arbeitslust bekannt, ein langes freiwilliges Exil aus dem geliebten Heimath- lande gern erträgt, um den Abend des Lebens dort zu verleben, wo sie nicht blos der Zauber unübertrefflicher Naturschönheiten hinzieht, sondern wo sie als Kinder und Knaben geweilt, wo sie ihre Eltern, Verwandte und Freunde geliebt und geehrt haben, wo der gemeinschaftliche Friedhof noch die Reste Vieler von denen einschließt, welche ihnen theuer waren und deren Andenken sie begleitet, bis auch sie einst von ihrem schönen Alpenthale für immer Abschied nehmen. Ist zwar scheinbar das Engadin nur ein Theil des großen Jnntha- les, so ist es doch so bestimmt nach Osten und Westen abgegrenzt, daß die volle Eigenthümlichkeit der Bevölkerung auch hier im Einklänge mit schroff scheidenden Naturgrenzen steht. Eine fast senkrechte, 600 Fuß hohe Fels- mauer, an welche sich das enge Vergelt-Thal anlehnt, sondert das Ober- Engadin von den lombardischen Nachbarn, und die tiefe schauerliche Schlucht von Finstermünz am unteren Thaleingange trennt mit so mächtiger Ge¬ walt das romanische Rhätien von dem germanischen Tyrol, daß Jahr¬ hunderte dazu gehört haben, um stete Fehden und Feindschaft nur in gleichgültiges, entfremdetes Nebeneinanderleben umzuwandeln. Hat man an der einsamen Martinsbrücke das Bündtner Gebiet be¬ treten, so gelangt man, nach zuerst mühsamem Wandern in einer traurig öden Bergschlucht, erst eigentlich bei Remüß in den schönen romantischen Theil des Engadins. Das unheimliche Brausen des in tiefem Abgrunde strömenden Inns, die finsteren Wälder der steilen Bergabhänge, das Heu¬ len des Windes machen jetzt den lieblichen Alpenwiesen, den sonnenreichen, vom Gesänge des Menschen und dem Geräusche der Arbeit belebten Trif¬ ten und Dörfern Platz, und heiterer schauen die hohen Berggipfel auf den anmuthigen Thalgrund herab, ein Eindruck, welcher an den erinnert, den der ermüdete Wanderer empfindet, wenn er von den wilden Schluchten der Teufelsbrücke durch den langen finsteren Gang des Urner Lochs auf einmal in die grünenden Matten des heiteren Urseren - Thals tritt. ^ Das untere Engadin zeichnet sich durch seine ganz eigenthümlichen Thalverengungen und Erweiterungen aus, welche terrassenartig in drei verschiedenen Plateaux über einander liegen: die drei Thalkessel von Remüß, von Schuls-Tarasp und von Ardez, welche der Inn in tiefen Felsenriffen durchzieht.