458 Fast möchte man das ganze ägäische Meer wegen seines Reichthums an Ankerplätzen und Rheden als einen einzigen großen Hafen betrachten. Und recht wohl könnte man das gesammte Griechenland ein Europa im Kleinen nennen. Wie Europa durch seine vielfache Gliederung, seine wunderbare Verkettung des Flüssigen und des Festlandes allen anderen Theilen der Erde überlegen ist, so ist es Griechenland dem übrigen Europa. Und wie die europäischen Völker, nachdem sie einmal erwacht waren, es allen anderen Völkern der Welt in Schifffahrt, Handel, Ver¬ kehr, Thätigkeit, Energie, Cultur und Wissenschaft zuvorthun mußten, so war, scheint es, das ägäische oder griechische Meer von Haus aus dazu bestimmt, die erste Wiege und Schule dieser europäischen Thatkraft und Blüthe zu werden. Wann und wie sich die erste menschliche Bevölkerung in dieses wun¬ dervolle Becken, über jene anmuthigen Inseln und Halbinseln ergoß, ist in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. Doch scheint aus der Sprache der Hellenen so viel ersichtlich, daß sie und ihre Stammväter oder Vor¬ fahren, als welche man die Pelasger zu nennen pflegt, aus Osten über Kleinasien gekommen sein mußten und dem großen indogermanischen Völker¬ stamm angehörten, der unserm Europa alle seine vornehmsten und geist¬ reichsten Völker gegeben hat. Ihre Sprache zeigt sie uns innig verwandt mit den keltischen, romanischen, germanischen und slavischen Völkern. Wie diese, so haben die Griechen ihre Ur- und Herzwurzeln in Indien und am Himalaya. Unter welcher Anführung, unter welchen nähern Umständen und Be¬ gebenheiten sich die Altvordern der Hellenen, die sogenannten „Pelasger", von dort ablösten, wie sie sich schon in dieser ihrer Urzeit hervorthun und auszeichnen mochten, und wie sie sich dann durch die asiatischen Westlän¬ der und durch Kleinasien hindurch schlugen — dies Alles hat uns Nie¬ mand so genau überliefert, wie z. B. ein Moses die ersten Anfänge und Ursprünge der Israeliten. Gerade die beiden Völker, welche im Alter¬ thum die größte Bildung und Bedeutung errangen, die Griechen und Römer, theilen das Schicksal, daß über ihre Urgeschichte und über die frühesten Bewohner ihrer Länder noch größere Ungewißheit herrscht, als über manche andere, minder cultivirte Racen, und dies ist zum Theil eine natürliche Folge eben ihrer frühzeitiger gereiften Cultur und Blüthe, die alles Vorgefundene und vor Alters dagewesene Barbarische verdunkelte, überstrahlte, verachtete und bald in Vergessenheit brachte. Alles, was wir sagen können, ist, daß die sogenannten Pelasger, namentlich aber ihre Nachfolger — oder Kinder? —, die Hellenen, ein von vornherein mit trefflichen Anlagen versehenes Barbarengeschlecht gewesen sein müssen, und daß sie durch ihr gutes Glück in ein Vaterland, in ein Haus eingesührt wurden, welches zur Entwickelung solcher trefflichen Grundeigenschaften so günstig wie möglich eingerichtet war, nämlich in jenes bunt gestaltete Bassin des ägäischen Meeres, das wir soeben mit einigen Zügen charakterisirten.