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Reise, wie von Londonbridge bis Gravesend; nicht mehr Milesend ist
die längste Straße Londons, sondern der prächtige Themsestrom selbst:
statt der Kabs und der Omnibus befahren ihn Hunderte von Böten und
Dampfern, Greenwich und Woolwich sind Anhaltepunkte, und Gravesend
ist die letzte Station.
Der Zauber Londons ist — seine Massenhaftigkeit. Wenn
Neapel durch seinen Golf und Himmel, Moskau durch seine funkelnden
Kuppeln, Rom durch seine Erinnerungen, Venedig durch den Zauber seiner
meerentsteigenden Schönheit wirkt: so ist es beim Anblick Londons das Ge¬
fühl des Unendlichen, was uns überwältigt — dasselbe Gefühl, was uns
beim ersten Anschauen des Meeres durchschauert. Die überschwengliche
Fülle, die unerschöpfliche Masse: das ist die eigentliche Wesenheit, der
Charakter Londons. Ob man von der Paulskirche oder der Greenwicher
Sternwarte herab seinen Blick auf dies Häusermeer richtet, ob man die
Citystraßen durchwandert und, von der Menschenmenge halb mit fortgerissen,
den Gedanken nicht unterdrücken kann, jedes Haus sei wohl ein Theater,
das eben jetzt seine Zuhörerschwürme wieder in's Freie strömt — überall
ist es die Zahl, die Menge, die uns Staunen abzwingt, aber auch die Kraft
und Energie, die all' dem groß sich entfaltenden Leben zu Grunde liegt.
Gravesend liegt hinter uns; noch sehen wir das Schimmern seiner
Hellen Häuser und schon taucht Woolwich, die Arsenalstadt, vor unfern
Blicken auf. Rechts und links liegen die Wachtschiffe; drohend weisen sie
die Zähne, hell im Sonnenschein blitzen die Geschütze aus ihren Luken
hervor. Vorbei! Wir haben nichts zu fürchten: Altenglands Flagge weht
vor unserem Mast; friedlich nur dröhnt ein Kanonenschuß über die Themse
hin und verhallt jetzt in den stillen Lüften der Grafschaft Kent. Weiter
schaufelt sich der Dampfer an Ostindienfahrern vorbei, die jetzt eben mit
vollen Segeln und voller Hoffnung in Meer und Welt hinausziehen; seht,
die Matrosen grüßen und schwenken ihre Hüte! Wenn wieder Land unter
ihren Füßen ist, so sind es des Indus oder Ganges Ufer. Glückliche
Fahrt! Und jetzt, ein Jnvalidenschiff sperrt uns fast den Weg. Alles
daran ist zerschossen — es selbst und seine Bewohner. Ein Dreidecker
ist's; seine Kanonenluken sind friedliche Fenster geworden, hinter denen
die Sieger von Abukir und Trafalgar, die alte Garde Nelsons, ihre
traulichen Kojen haben.
Aber lassen wir die Alten! das junge frische Leben jubelt eben jetzt
an uns vorüber. Eine wahre Flottille von Dampfböten, nur heimisch im
Themsefahrwasser, kommt unter Sang und Klang den Fluß hinunter.
In Gravesend ist Jahrmarkt oder ein Schifferfest. Da darf der Londoner
Junggesell, der Commis und Handwerker nicht fehlen; die halbe City,
scheint es, ist flügge geworden und will in Gravesend tanzen und springen
und sich einmal gütlich thun nach der Melodie des Dudelsacks. Kein.
Ende nimmt der Festzug; bis hundert Hab' ich die vorbeifliegenden
Dampfer gezählt, ohne zu Ende gekommen zu sein.