Nordamerikanische Landschaft. 497 Seeen des Alpenlandes oder Oberitaliens verglichen werden. Selbst Lake George im nördlichen New-York, der in der Menge seiner be— waldeten Eilande und Klippen kaum seinesgleichen haben dürfte, würde doch erst in vierter oder fünfter Reihe kommen, wenn man die bekannten Seeen nach ihrer landschaftlichen Schönheit ordnen wollte. Die Gebirgslandschaften Nordamerikas diesseit der Felsengebirge entbehren zwar der Großartigkeit und wilden Erhabenheit, welche dem Hochgebirge eigen zu sein pflegen, aber sie sind nicht ganz ohne eigen— artige Reize. Die große Ausdehnung der Wälder, verbunden mit der Fruchtbarkeit ihres Bodens, erzeugt in einem Gemisch von Wildheit uünd Kultur Bilder von außergewöhnlicher Schönheit. Fast in jedem der älteren Staaten sind weite Distrikte zu finden, die diesen Charakter haben. So wie die Kultur eindringt, wird mit der Zeit eine Linie von Gebirgslandschaften sich vom Maine bis nach Georgia ziehen, und dieselbe wird ihresgleichen nirgend in der alten Welt finden. Nord— amerika ist reich an Flüssen und damit auch reich an dem Reize, den dieselben der Landschaft zu verleihen imstande sind. Die nördlichen Staaten der Union sind sogar ungewöhnlich reich bewässert, und die Gleichstellung des Hudson mit dem Rhein ist in manchen Teilen nicht ganz unberechtigt, wiewohl beider Charakter sehr verschieden ist. Der Rheinfall kann nur mit amerikanischen Fällen zweiten Ranges verglichen werden, und die Hudsonmündung bei New-York steht sicherlich weit über dem Verlaufen in Sand und Schlamm, welches das Schicksal des Rheins in seinem untersten Abschnitt ist. „Wir gestehen“, schließt Cooper, „Europa die größte landschaftliche Schönheit in seinen Alpen, Apenninen, Pyrenäen, in seinen Werken von Menschenhand, in allen jenen Wirkungen zu, die von Zeit und Arbeit abhängen, in dem Hauch von Reife, der über alle seine Scenerien gebreitet ist; aber für Amerika wahren wir die Frische einer vielversprechenden Jugend und einer Art gesunder natürlicher Heiterkeit.“ Dieses Urteil eines der feinsten Beobachter und größten Natur— schilderers ist von anderen kompetenten Amerikanern immer nur be— stätigt worden. Es läßt wenig Variationen zu, und es wäre nutzlos, weitere Stimmen anzuführen, die mit anderen Worten dasselbe sagen. Doch möge noch dem Nächstberechtigten, Bayard Taylor, diesem Welt— wanderer, das Wort vergönnt sein, der von den neuenglischen Bergen sagt: „Worin steht diese Scenerie hinter dem schottischen Hochland, dem Jura oder den Voralpen zurück? In nichts; sie ist eher noch schöner. Es ist wahr, daß sie des magischen Reizes der alten Gedanken— Associationen ermangelt, aber dieser Mangel, wenn es einer ist, vergißt sich bald. Der Hauptunterschied ist einer, der in allen amerikanischen Scenerien wiederkehrt. Eine jungfräuliche Natur hat einen Reiz, der nur ihr gehört, und ebenso hat auch wieder die unterworfene, civilisierte, polierte Natur, die ganz Wohnstätte des Menschen geworden ist, ihre eigene Schönheit, wogegen sie allerdings in jenem Übergangszustand, in dem sie das eine nicht mehr und das andere noch nicht ist, einen Meyer, Lesebuch der Erdkunde L. 9 9