Hatgeber für deutsche Lehrer und Erzieher
Von A. Hemprich, Seminaroberlehrer, Merseburg
Die außerdeutschen Länder Europas von T.H. Franke
Georg-Eckert-Institut BS78
Ratgeber für deutsche Lehrer und
Erzieher
l. Reihe . IV. Band • II. Teil
Ratgeber für deutsche
Lehrer und Erzieher
Wissenschaftliches Sammelwerk für alle
Unterrichtsfächer und zur Fortbildung
herausgegeben von
K. Hemprich
in Merseburg
Erste Reihe. Vierter Band
Erdkunde
Vorbereitungen für den Unterricht nach
den Grundsätzen der neueren Pädagogik
Zweiter Teil: Die außerdeutschen Länder Europas
Julius Beltz ÄÄ* Langensalza
1914
Erdkunde
Vorbereitungen für den Unterricht
nach den Grundsätzen der neueren
Pädagogik
Bearbeitet von
$1)' S’töufc I i'f.p."/
h&rmtm .......
rC'--% ^ * •>
uruunscrtWGftf
II. Teil:
Die außerdeutschen Länder Europas
Ein Beitrag zur deutschen-Erdkunde
Julius Belh Langensalza
1914
Inventarisiorf!
- ..../Ui.
Alle Rechte Vorbehalten.
/ISLlA^ViV-
Vorwort.
Den Gedanken, daß die Erdkunde der Fremde auch als ein Beitrag zur
deutschen Erdkunde auszubauen ist, vertrete ich schon seit rund 1900. In diesem
Sinne habe ich auch die außerdeutschen Länder Europas dargestellt. Doch halte
ich es nicht für zweckmäßig, den deutschen Gesichtspunkt an die Spitze zu stellen;
er soll sich am Ende als reife Lehrfrucht ergeben. Dazu nötigt mich das einge-
schlagene entwickelnde Verfahren. Ich denke mir einen begabten Jungen, der
mit kindlichem, aber wachsendem Verständnis die Reise durch die außer-
deutschen Länder Europas an meiner Seite unternimmt und sich zuerst in
die Betrachtung der Fremde vertieft, um sich dann auf sein deutsches Vater-
land zu besinnen und nachzudenken, was uns die Fremde ist und was
wir ihr sind.
Dies wolle jeder Benutzer und Beurteiler bedenken; denn deshalb mußte
die wissenschaftliche Darstellungsweise in eine kindertümlich darlegende, allmäh-
lich aufbauende sich wandeln. Die ursächlichen Beziehungen sind nirgends außer
acht gelassen worden, aber sie treten auch nie zu stark hervor; denn so ursachbegie-
rig sind Kinder des Alters noch nicht, daß sie alle und auch die letzten Gründe
erforschen wollten. Ihr Kenntnistrieb ist lebendiger als ihr Erkenntnistrieb.
Dazu kommt der praktische Gesichtspunkt in Betracht, der die Beschneidung alles
rein Wissenschaftlichen erheischt. Die meisten Zahlen sind für den Lehrer be-
rechnet, den Schülern gebe man nur einige Hauptzahlen. Sie sind zumeist
abgerundet, da sie ja so wie so recht beträchtlich schwanken. Man lasse die wich-
tigsten Handels- und Flottenzahlen zeichnerisch darstellen. Das erhöht das Inter-
esse und vertieft das Verständnis des Kindes. Als Beispiel dafür gelte unsere
Handelsflotte:
Tonnenraum der deutschen
Segelflotte 520 000 t Dampferslotte 2,3 Mill. t
Ähnlich lassen sich alle merkenswerten Zahlenverhältnisse darstellen. Gute
Zeichner mögen ihre Künste zeigen. Dem Hausfleiß kann man die Anfertigung
VI
eines erdkundlichen Zeichenheftes überlassen, das namentlich alle wichtigen Be-
ziehungen darstellt.
Die Stofftnenge ist zu kürzen, obwohl der Namen- und Zahlenstofs be-
reits möglichst beschränkt ward.
Möge auch der neue Band sich geeignet erweisen, den erdkundlichen
Unterricht zu beleben.
Wurzen,
Th. Franke.
Inkalt.
Stile
I. Die Alpen...................................................................9
II. Die Schweiz...............................................................39
III. Österreich-Ungarn.........................................................45
Die österreichischen Alpenländer.........................................45
Die Sudetenländer........................................................4®
Die Donaulandschaften....................................................51
Die Karparhenlandschaften................................................56
Die Balkanländer.........................................................57
Österreich-Ungarn als Donaustaat.........................................58
IV. Die Niederlande...........................................................73
V. Das Königreich Belgien und das Großherzogtum Luxemburg ... 84
VI. Die Republik Frankreich...................................................88
VII. Das Königreich Dänemark................................................104
VIII. Großbritannien und Irland.................................................Hl
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen....................................127
X. Das Kaiserreich Rußland..................................................138
XI. Das Königreich Rumänien.................................................162
XII. Die Staaten auf dem Balkan................................................165
XIII. Das Königreich Italien................................................. I75
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel....................................................190
XV. Europa im allgemeinen...................................................201
I. Die fUpen.
1. Ihre gewaltige Ausdehnung.
Im Süden von Bayern erhebt sich ein gewaltiges Gebirge. Es sind die
Alpen. Sie beginnen am Mittelmeere, im Golf von Genua. Hier reichen sie
bis an die Küste heran. In einem großen Bogen ziehen sie nun um die Nord-
grenze von Italien. Zunächst streichen sie fast genau nach Norden, dann biegen
sie nach Osten um. Im Osten teilen sie sich. Der nördliche Flügel reicht bis W i e n
an der Donau. Der südliche Flügel biegt sich bis ans Adriatische Meer. _ Bei
Triest erreicht er dessen Küste. Die östlichen Ausläufer der Alpen verlieren
sich im Donautieflande, die südlichen Ausläufer der Alpen verschwinden im
Tieflande des Pos; die westlichen Ausläufer der westlichen Alpen gehen in das
Tiefland der Rhone über. Die nördlichen Ausläufer der nördlichen Alpen gehen
in die schweizerische und schwäbisch-bayrische Hochebene über.
Die Alpen bilden einen gewaltigen Gebirgsgürtel. Im Westen ist er schmäler,
nach Osten zu verbreitert er sich. Seine Länge ist sehr groß. Von Genua
(oder Nizza oder Toulon oder Marseille) am Mittelmeer bis W i e n sind es rund
1000 km. Im Westen sind die Alpen etwa 150 km breit, im Osten bis zu 300 km
und darüber. Die Alpen sind demnach viel größer als irgend ein deutsches Mittel-
gebirge. Sie umfassen ein Gebiet, das dreimal so groß als Bayern ist (220 000
qkm). Würden die Alpen nach Norddeutschland versetzt, so reichten sie von
Aachen bis Königsberg und bedeckten alles Land nördlich von Berlin bis zur
Küste. Man vergleicht die Alpen gern mit einem Füllhorn. Die Spitze des
Horns liegt bei Nizza, das breite Ende zwischen Wien und T r i e st
(340 km).
2. Ihre mannigfaltige Gliederung.
Die Alpen bilden eine gewaltige Gebirgsmauer, aber sie ist nicht gleichmäßig
hoch und stark. Die Alpen sind mannigfaltig gegliedert. Sie zerfallen in viele
Abteilungen. Sieht man sie von weitem, dann erblickt man eine lange Kette,
gleichsam einen einzigen Gebirgszug. Wandert man in die Alpen, dann erkennt
man viele Einschnitte und Abschnitte in diesem Gebirgswall. Wir zerlegen die
Alpen zunächst in zwei Hauptteile. Im Westen erheben sich die W e st a l p e n,
im Osten die O st a l p e n. Die Ostalpen sind etwas länger als die Westalpen.
Die Grenze oder Scheide liegt in der Schweiz. Gehen wir vom Bodensee aus
am Hochrhein aufwärts, so durchschreiten wir ein tiefes Tal, das von Norden
nach Süden streicht. Es geht quer zur Längsrichtung der Alpen; es ist ein tief-
eingeschnittenes Quertal. Dann gehen wir den Hinterrhein aufwärts und kom-
men zu einem Paß, dem Splügenpaß. Hier überschreiten wir den Kamm
der Alpen. Nun geht es wieder abwärts, und wir gelangen durch ein tiefes
Flußtal an den Komer-See. So findet sich zwischen dem Bodensee und dem
Komersee eine tiefe Querspalte. Sie zerschneidet die Alpen in die W e st - und
O st a l p e n. Westlich von dieser nordsüdlichen Furche liegen die W e st -
alpen, östlich dagegen die Ost alpen. Der südliche Teil der Ostalpen
bildet einen Bogen genau wie die Westalpen; beide zusammen bilden fast
genau einen Halbkreis um die Lombardei herum. Die Westalpen und die nörd-
lichen Ostalpen bilden ein langgezogenes Fragezeichen. Wir zeichnen dies:
10
I. Die Alpen.
Bode n-S.
Berg der Alpen; er ist über 4800 m hoch, also viermal höher als der Fichtelberg
im Erzgebirge und dreimal höher als die Schneekoppe im Riesengebirge. Vom
Mittelmeer bis zum Montblanc streichen die Westalpen von Süden nach Norden.
Hier an diesem Bergriesen ändern sie aber ihre Richtung; sie machen ein Knie
und streichen nun von Südwesten nach Nordosten. Diese nordöstliche Richtung
behalten die nördlichen Ostalpen bei, aber die südlichen Ostalpen wenden sich
in einem großen Bogen nach dem Adriatischen Meere hin.
Diese großen Alpenketten zerlegen sich nun abermals in einzelne Abschnitte,
in kleinere Gebirgsketten und Gebirgsstöcke. Da gibt es Se ealpen, die an der
Küste des Mittelmeeres beginnen; da gibt es BernerAlpenim Berner Lande,
Glarner Alpen in Glarus, Algäuer Alpen im Algäu, Tiroler Alpen
in Tirol, Salzburger Alpen in Salzburg, Österreichische Alpen in
Österreich, Steirische Alpen in Steiermark und viele andere. Lest ihre Namen
von derMarte ab!
3. Die Höhenstufen der Alpen.
Gehen wir von Bayern aus über die Alpen, so sehen wir, daß sich die Alpen
in Stufen erheben.
a)Die Voralpen sind die niedrigste Stufe des Gebirges Sie
beginnen mit niedrigen Hügeln und Vorbergen. Die Täler sind warm und
I. Die Alpen.
11
fruchtbar und lassen außer dem Getreide sogar Wein, Kastanien und Nußbäume
gedeihen. Steigt man höher hinauf, dann verschwinden die Reben, die
Kastanien und die Nußbäume. Aus der nördlichen Seite der Alpen geschieht das
bei einer Höhe von 500 in, an den sonnigen warmen Südabhüngen erst bei
800 ui. Bis zu diesen Höhenstufen sind die Täler trefflich angebaut. Überall
erblickt das Auge saftige Wiesen, wogende Getreidefelder, fruchtreiche Wein-
und Obstgärten. Selbst die steilen Berghänge müssen dem Menschen Früchte
tragen. Freilich muß er den Dünger oft in Butten auf dem Rücken hinauftragen,
und den Boden kann er nicht Pflügen, sondern nur hacken.
Da die schwäbisch-bayrische Hochebene schon bis 700 m ansteigt, so gibt
es auf der bayrischen Seite keine Reben mehr. Steigen wir höher, dann tritt
in den Wäldern die Buche an die Stelle des Ahorns und des Nußbaumes. Später
machen die frischen Laubwälder düstern Nadelwäldern Platz. Tannen, Lärchen
und Kiefern herrschen vor. Namentlich eine Art der Kiefer, die Zirbelkiefer,
gedeiht in den Alpen sehr gut. Sie liefert ein gutes Holz, das sich leicht schnitzen
läßt. Die unteren Strecken der Voralpen sind noch ziemlich dicht besiedelt. Je
höher man hinaufsteigt, desto seltener und kleiner werden die Ortschaften. Da
muß man dann oft lange wandern, ehe man ein Dorf erreicht. Die Voralpen
sind das Gebiet, wo die Menschen sich dauernd angesiedelt haben. Sie reichen
ungefähr bis 1506 (oder 1800) in hinauf; also soviel wie die Schneekoppe. An
der obersten Grenze wächst natürlich nur wenig. Man muß daher viele Lebens-
mittel aus den tieferen Tälern hinaufschaffen. Das kostet viel Mühe und viel
Geld. Doch sind einzelne dieser hochgelegenen Ortschaften recht gesund, z. B.
D a v o s in Graubünden und St. M o r i tz in Oberengadin. Im Winter scheint
dort fast immer die Sonne, fast nie gibt es Nebel wie in den tiefer gelegenen
Orten. Diese reine, klare, sonnige Luft bekommt vor allem den Lungenkranken.
Sie gehen daher im Winter gern dahin.
5) Die Mittelalpen sind die zweite Höhenstufe und beginnen
etwa bei 1500 in Höhe. Die großen Wälder hören auf. Selbst die Nadelbäume
gedeihen nicht mehr recht. Sie bleiben kleiner, sind krumm und verkrüppelt und
heißen daher Krumm- oder Knieholz. Selbst dieses niedrige Gehölz wächst nur
an geschützten Stellen. Hier trifft man auf nackte Felsen mit schroffem, steilem
Abfall und auf schauerliche Abgründe; dort sieht man weite Flächen mit ver-
wittertem Gestein überdeckt. Solche Strecken heißen Schutthalden (Schratten-
felder). Daneben gibt es hübsche Grasflächen oder Almen, Matten. Bon diesen
Alpenweiden hat das ganze Gebirge seinen Namen erhalten. Die Alpenweiden
sind dicht mit duftenden Gräsern bewachsen. Zur Zeit ihrer Blüte erblickt das
Auge eine wundervolle Farbenpracht. Die roten Alpenrosen bedecken oft ganze
Matten. Das Edelweiß klettert auf kahle Felsen hinauf. Die Mittelalpen sind
das Gebiet der Almen, wo die Viehhirten während des Sommers weilen. Hier
leben Murmeltiere, Gemsen und Steinböcke. Hier hausen auch noch Wölfe, Bären
und Luchse. Hier haben sich auch Lämmergeier und Steinadler ihre Horste
erbaut. Bis zur Schneegrenze reichen die Mittelalpen hinauf, also etwa bis zu
2 500 oder 2700 in Höhe, rund 1000 in höher als die oberste Grenze der Voralpen.
e) Die Hochalpen sind die dritte Höhenstufe und beginnen an der
Grenze des ewigen Schnees. Darum gibt es in dem Gebiet der Hochalpen keine
Bäume und Sträucher mehr. Nur Moose und Flechten trotzen der Kälte. An
geschützten Stellen bilden sie ganze Rasenteppiche. Sonst ist das Hochgebirge
völlig kahl und öde. Alles Tierleben ist erstorben. Wird ein Schmetterling oder
ein anderes Kerbtier durch den Wind in diese eisige Gegend verschlagen, dann
muß es erfrieren. Selbst Steinböcke und Adler wagen sich nur selten in die un-
12
I. Die Alpen.
teren Striche der Hochalpen. Selbst zur Sommerszeit vermag die Sonne nicht
den Schnee wegzutauen; was in den Mittagsstunden schmilzt, das gefriert in
den Nachmittagsstnnden schon wieder. Die Hochalpen sind das Gebiet des ewigen
Schnees und des ewigen Eises. Nur einzelne kühne Bergsteiger wagen sich
hinauf. Sie wollen die Ruhe der Hochalpen genießen und die seltsamen Fels-
bildungen und Bergformen bewundern. Nur wenn sich Geröll vom Felsen löst und
in die Tiefe hinabstürzt, nur wenn ein Wasserfall seine Fluten donnernd über Ab-
gründe brausen läßt, nur wenn Eismassen bersten, nur wenn ein Gießbach über
Felsen rauscht, wird die erhabene Ruhe des Hochgebirges unterbrochen. Wunder-
voll ist das Farbenspiel, wenn die Sonne die Gipfel und die Eisströme und die
Schneefelder bestrahlt, Die Hochalpen sind das Gebiet, das die Fremden, die Alpen-
wanderer, gern besuchen.
4. Die Gletscher.
a) Ihre Entstehung. Die hohen Alpen halten die Wolken an und
zwingen sie, sich abzuregnen. Deshalb haben die Alpen reichliche Niederschläge.
In den oberen Strichen, oberhalb der Schneegrenze, fällt nicht bloß im Winter,
sondern auch im Sommer Schnee. Der Schnee ist ganz fein und trocken und
sieht aus wie Staub. Er besteht aus lauter feinen Eisnadeln und Eiskristallen.
Deswegen kann ihn der leiseste Luftzug verwehen. Gefährlich ist ein Schnee-
sturm. Man kann da kaum atmen und gar nichts sehen. Wer in einen solchen
Schneesturm gerät, der muß sich unter eine Felsenwand flüchten, sonst ist er
verloren. Da dieser Schnee so leicht und trocken ist, bleibt er nicht auf den schroff
abfallenden Berghängen liegen. Er rieselt hinab, und der Wind häuft ihn in
Schluchten und Milden an. Dort bilden sich große und tiefe Schneefelder. Da
der Schnee nicht wegtaut, wächst die Schneemasse immer mehr. Jährlich fällt
nun beinahe 1 m Schnee. Denkt nun, er bliebe ewig liegen! Da müßten sich die
Hochalpen schon längst in einen tiefen Schneemantel gehüllt haben! Da dürfte
man überhaupt keinen Felsen, kein Erdreich mehr sehen, wenn der gefallene
Schnee ewig dort oben liegen bliebe! Wir sehen aber viele nackte Felsen. Der
Schnee bleibt eben gar nicht ewig dort oben. Kann er oben tauen? Wie kommt er
nach unten? Zunächst bleibt der Alpenschnee gar nicht immer so leicht und staub-
förmig. Die strahlende Sonne erwärmt die obersten Schichten ein wenig. So
wird der Schnee feucht und gefriert dann wieder. Das wiederholt sich nun in
einem Jahre sehr oft. Dadurch verwandelt sich der ursprünglich staubartige
Schnee allmählich in eine feste, feinkörnige Masse. Sie wird Firn genannt,
d. h. alter Schnee. Der Alpenbewohner weiß ganz genau, was Neuschnee und
was Firnschnee ist. Der Firnschnee sammelt sich in Milden und Tälern. Die
von Firnschnee bedeckten Mulden und Täler nennt er Firnfelder oder Firnmeere.
Die obere Decke ist oft so fest und hart, daß man darüber schreiten kann, ohne
einzusinken. Darunter liegt der Schnee in gewaltiger Tiefe, 50 m tief, ja 100,
200 und an manchen Stellen sogar bis zu 500 m tief. Da seht ihr gleich, was das
für tiefe Schluchten wären, wenn sie nicht vom Firn ausgefüllt wären! Viele
dieser Schluchten wären gänzlich unzugänglich oder höchst gefährlich.
Ist auch der Schnee nur leicht, ein Gewicht hat er doch. So drücken die oberen
Schneeschichten auf die unteren. Welchen Druck mögen da die untersten Firn-
schichten auszuhalten haben, wenn das Firnfeld 300 oder gar 500 m tief ist!
Drückt man auf den Schnee, so entweicht die Luft und die Schneekristalle ge-
frieren zu einer festen Masse. Ihr wißt das aus eigener Erfahrung. Drückt man
den Schneeball fest und lange, so wird er eisig. Je dichter und stärker der Sckmee
zusammengepreßt wird, desto härter wird er. Ihr preßt den Schnee vielleicht
I. Die Alpen.
13
eine Minute lang; die Firnfelder haben den Druck nicht nur einen Tag, einen
Monat lang, sondern viele Jahre lang auszuhalten. So geht der Firnschnee
allmählich in Eis über. Am Montblanc dauert das 18 Jahre. In dieser langen
Zeit ist aus lockerem Schnee festes Eis geworden. Aus dem Firnfelde ist ein
Gletscher geworden. Natürlich ist der Gletscher nicht mehr so tief wie das
Firnmeer. Die Schneemasse ist ja zusammengedrückt. Doch sind viele Gletscher
noch sehr tief; 20—30 m tief sind viele; andere haben eine Tiefe von 30—50 in;
die großen Gletscher sind 50—100 in und einige sogar 100—200 in tief. Dazu
haben diese Eisströme eine bedeutende Länge; sie sind 1—6 Stunden lang.
Manche Gletscher nehmen daher eine stattliche Fläche ein. Der größte Gletscher
(ber Aletschgletscher in den Berner Alpen) ist 24 km lang und bedeckt eine Fläche
von 115 qkm. Dabei ist er stellenweise bis zu 2000 m breit. Da könnt ihr ahnen,
welch ungeheure Eismassen ein solcher Gletscher in sich birgt!
5) JhreBewegung. Wir nennen die Gletscher Eisströme. Sie be-
stehen ja aus Eis; sie bewegen sich auch wie ein Strom. Freilich ist ihre Abwärts-
bewegung sehr gering; sie ist wie ein Gleiten oder Glitschen. Daher rührt auch
ihr Name. Das Wasser der Bäche und Flüsse fließt nicht gleich schnell. Je größer
das Gefälle ist, desto schneller fließt es, desto größer ist die Strömung; je kleiner
das Gefälle ist, desto geringer ist die Strömung. Im Niederlande sieht man oft
gar keine Bewegung des Wassers, und doch fließt es noch, aber nur sehr lang-
sam, fast unmerklich. Die Gletscher fließen erst recht langsam; denn sie bestehen
ja aus festem Eis; das kann gar nicht so fließen wie Wasser, sondern nur rutschen,
gleiten, sich langsam nach unten vorschieben wie dickflüssiger Honig. Manche
Gletscher gleiten in einem Jahre nur wenig Meter abwärts, andere aber 100
bis 250 m. Täglich rücken die langsamsten nur einige Zentimeter vor, die schnell-
sten aber einen halben bis 3/4 m. Das ist nicht viel; aber im Laufe der Zeit ge-
langt so alles Eis nach unten. Sehen wir an einem großen Gletscher Eisstücke
am Ende, dann ist der Schnee, woraus diese entstanden sind, vielleicht schon vor
100—500 Jahren gefallen.
Der Gletscher besteht aus Eis; aber dies ist nicht so fest wie das Eis, das
sich auf unseren Teichen bildet. Das Gletschereis ist locker und besteht aus zahl-
losen einzelnen Körnern und Stückchen. Diese Körner können sich leicht ver-
schieben. Die oberen Schichten drücken auf die unteren. Nun sind aber die Firn-
und Gletscherbetten nach unten geneigt. So entsteht ein doppelter Druck nach
unten, nämlich:
ein senkrechter und ein schräger von der Höhe nach
dem Tale zu. Dazu kommt sehr oft noch ein seitlicher Druck, wenn sich das Glet-
schertal verengt;
dann pressen sich die Eiskörner nach der Mitte zu zu-
sammen; wir haben dann vielerlei Druck: D—> \ \ ® . Dadurch
verschieben sich die einzelnen Körner und kommen stets ein wenig weiter nach
unten. Unaufhörlich bilden sich im Gletscher kleine Risse und Spalten. Doch ge-
frieren die Körner immer wieder zusammen. Ist das Gletschertal sehr eng,
dann staut sich das Eis auf und erreicht daher eine große Tiefe. So verengt sich
das Tal des Rhonegletschers einmal von 2400 m auf 800 m. Da könnt ihr euch
denken, wie das dort knacken und krachen mag, wenn die Eismassen bersten und
brechen. Kommt der Gletscher an eine Biegung, dann staut sich das Eis an der
inneren Seite, während die äußere viele größere Risse erhält. Zuweilen muß der
14
I. Die Alpen.
Gletscher über einen Felsenriegel gleiten. Zunächst stößt er daran und staut
sich an. Immer höher pressen sich oberhalb die Eismassen. Dabei schieben sich die
unteren über den Felsenriegel vor. Endlich bekommen sie das Übergewicht und
stürzen in die Tiefe. Donnernd reißen sich diese Massen los. Dadurch sind breite
Spalten und Klüfte entstanden. Das obere Eis fällt später nach, und nach einiger
Zeit haben sich die Spalten wieder geschlossen. Kommt der Gletscher an eine
weite Stelle im Tale, so breitet er sich ans und wird flacher. Dadurch entstehen
auch viele Spalten. Sie gehen der Länge nach. So gibt es in jedem Gletscher
zahllose Längs- und Querspalten. Diese klaffen zuerst immer mehr
auseinander, dann schließen sie sich wieder. Manche sind kaum so breit wie ein
Messerrücken; andere klaffen einen Fuß breit, ja einen Meter und zuweilen
sogar mehrere Meter auseinander. Manche gehen nicht tief; andere gehen fast
bis auf den Grund und sind daher 20—200 m tief. An manchen Stellen sind
wenig Spalten, an anderen so viele, daß nmn gar nicht wandern kann. Gefährlich
sind die großen und tiefen Spalten. In sie kann leicht ein Wanderer Hinein-
stürzen. Da werdet ihr sagen: Da muß man die Augen aufmachen und sehen,
wo eine Spalte ist. Das tut schon jeder Gletscherwanderer. Aber die Spalten
sind oft gar nicht zu sehen. Es hat sich nämlich oft über sie eine Schneebrücke
geschlagen. Tritt nun der Wanderer auf diese dünne Schneebrücke, dann bricht
sie zusammen, und er stürzt in die Spalte. Das ist eine gefährliche Sache. Schon
beim Sturz kann er sich an vorstehenden Eiszacken sehr verletzen. Ist er aber tief
hineingefallen, wie soll er da wieder herauskommen? Schon mancher kühne
Alpenwanderer ist in den Gletscherspalten ums Leben gekommen und fand
darin ein kühles Grab. Nach vielen Jahren fand man seinen Leichnam oder
seine Kleider weit unten. Sie waren vom abwärts gleitenden Eise mit ins Tal
hinab getragen worden. Deswegen geht niemals ein Wanderer allein über einen
Gletscher. Dazu binden sie sich an starke Seile. Fällt einer in eine verborgene
Spalte, dann wird er durch das Seil gehalten. Zuweilen reißt aber das Seil
entzwei. Dann kann man ihm ein neues Seil hinablassen, er bindet es um seinen
Körper und läßt sich dann emporziehen. Trotzdem verunglücken alle Jahre noch
viele Gletscherbesteiger.
o) Die Moränen. Die Gletscher bringen nicht bloß viel Eis ins Tal
hinab. Sie tragen auch zahlloses Geröll auf ihrem riesigen Eisrücken. Frost und
Hitze macht selbst den härtesten Felsen mürbe. Unaufhörlich bröckeln kleine oder
größere Stückevon den Felsenkuppen ab und rollen den steilen Abhang hinunter.
Sie fallen auf das Firnseld oder den Gletscher. Dort bleiben sie liegen und werden
nun langsam mit abwärts bewegt. Diese Geröllmassen heißen Moränen.
Zunächst finden sich an den Seiten des Gletschers Moränen, denn hier sammelt
sich das herabgefallene Geröll an. Man nennt diese Steinlinien Setten-
moränen. Mündet nun ein Seitengletscher in einen Hauptgletscher, dann
stoßen die beiden inneren Seitenmoränen in der Mitte zusammen. _ Sie ver-
einigen sich zur M i t t e l m o r ä n e. Hat ein Hauptgletscher recht viel Neben-
gletscher, dann hat er auch viele Mittelmoränen. Nun geraten viele Steine
unter den Grund des Gletschers; sie bilden die Grundmoräne. Die Steine
der Grundmoräne haben den größten Druck auszuhalten. Sie werden tüchtig
gerieben und abgeschliffen; sie sind daher glatt oder gestreift, geschrammt. Andere
sind ganz zu Sand und Schlamm zerrieben. Natürlich reiben diese Steine auch
den Felsboden des Gletscherbettes und auch die Felsenränder an der Seite.
So findet man überall Schliffe und Schrammen, die von den Gletschern herrühren.
Weicht ein Gletscher zurück, so sieht man an seinen Moränen und Schliffen, wie
weit er früher gegangen ist.
I. Die Alpen.
15
Wo der Gletscher endet, dort bleiben natürlich alle mitgeführten Steine
liegen. Hier bildet sich die E n d - oder S t i r n m o r ä n e. Ist der Gletscher
groß und lang, dann hat er auch eine mächtige Endmoräne.
Die Gletscher bleiben sich nicht gleich. Sie schwanken in ihrer Größe; ein-
mal nehmen sie zu, dann nehmen
sie wieder ab. Sie rücken eine
Zeitlang vor, dann ziehen sie sich
wieder zurück. Es regnet und
schneit doch auch nicht in einem
Jahre genau so viel wie in allen
andern, sondern bald mehr, bald
* weniger. Auf schneereiche Jahre
folgen schneearme Jahre. Aus
heiße Sommer folgen kalte
Sommer. In heißen Sommern
tauen die Gletscher schneller, sie
werden also kürzer. In nassen
und kalten Sommern tauen sie
langsamer, sie rücken da weiter
nach unten und werden länger. Manche Gletscher
sind da^ ftüher viel größer gewesen als heute.
Woher weiß man das? Die alte Endmoräne sagt
uns das. Wo sie liegt, dort hat der Gletscher einst
aufgehört. Wird er kleiner, dann bildet er weiter
oben eine neue Stirnmoräne. Mißt man die Ent-
fernung zwischen der alten und neuen Endmoräne,
dann weiß man, wieviel Meter der Gletscher
kleiner geworden ist. Rückte der Gletscher aber
wieder vor, dann schöbe er die neue Endmoräne
mit vor und vereinigte sie mit der alten.
ä) Das Abschmelzen. Die Firnfelder
bilden sich nur oberhalb der Schneegrenze, die
Gletscher gehen aber weit herunter. Sie kommen
also auch in die Höhen, wo die Sonne in der
wärmeren Jahreszeit schon kräftig zu tauen ver-
mag. Daher wird am Tage stets die oberste Eis-
schicht mehr oder minder aufgetaut. Es bilden
sich kleine Rinnsale und Bächlein. Das Wasser
rieselt in Vertiefungen. So finden sich auf der
Oberfläche zahlreiche Rinnen. Kommt es an
eine Spalte, so stürzt es hinab. Bilden
sich trichterförmige Löcher, dann nennt
man sie Gletschermühlen. Diese reichen oft bis zum Grunde des Glet-
schers. So schmilzt am Tage stets eine Menge Eis. Im Innern und auf dem
Grunde des Gletschers finden sich Adern für das Gletscherwasser. Ist der Gletscher
ziemlich groß, dann ist sein Bach auch wasserreich. An seinem Ende bildet sich
dann in der Regel eine mächtige Öffnung, das Gletschertor. Brausend strömt
daraus der Gletscherbach hervor. Sein Wasser ist trübe, ist es doch mit Schlamm
und Sand gemischt. Dazu ist es eiskalt. Der Rhein, die Rhone, der Inn, die Aare
und viele andere Flüsse entstehen als Gletscherabflüsse. Schmölze der Gletscher
nach unten zu nicht fortwährend ab, dann müßte er immer tiefer ins Tal vorrücken.
Alte Endmoränen
16
I. Die Alpen.
Manchmal fallen große, breite Blöcke auf den Gletscher. Sie wandern mit dem
Eise abwärts. Dort taut nun das Eis rings um den Block. Aber das Eis, worauf
er liegt, kann nicht tauen, da es nicht von der Sonne beschienen und erwärmt
wird. So bildet sich allmählich eine Eissäule, worauf der Block liegt. Das Ganze
sieht aus wie ein Eispilz mit steinernem Hute. Man nennt das einen G let-
sch e r t i s ch. Je mehr das Eis ringsumher abtaut, desto höher wird die Eissäule.
Nun treffen aber die Sonnenstrahlen die unteren Teile der Säule. Sie schmilzt
daher auch allmählich. Da wird ihr die Last zu schwer, sie bricht zusammen, und
ber Block rollt herunter. Dann kann er abermals einen Gletschertisch bilden.
e) Die Bedeutung der Gletscher im Haushalte der Natur.
1. Sie bilden die notwendigen Abflüsse der gewaltigen Schneemengen,
die im Hochgebirge fallen. Ohne sie würden sich die Schneemassen
immer mehr anhäufen und alles in Eis und Schnee hüllen und alles
Leben ersticken.
2. Sie sind die gewaltigen Vorratskammern, aus denen die Flüsse
selbst in den trockensten und heißesten Sommern ihr Wasser erhalten.
Je heißer der Sommer ist, desto mehr Wasser liefern sie. Wird ein
Fluß von Gletschern gespeist, so ist er auch im Sommer wasserreich.
Ungeheure Wassermengen liefern die Gletscher im Sommer. Sie
sind daher natürliche Sparkästen oder Talsperren, die die Flüsse
gerade in der trockensten Zeit mit Wasser versorgen. (144 Mill. ebm
Wasser an einem heißen Sommertage.)
3. Sie vermehren die Zugänglichkeit des Hochgebirges. Sie füllen
tiefe Schluchten aus, die man sonst gar nicht überschreiten könnte.
Trotzdem sie Gefahren bieten, sind sie doch auch wichtige natürliche
Verkehrswege in den Hochalpen.
4. Sie helfen mit an der Abtragung der Alpen. Sie tragen beträcht-
liche Mengen von Geröll und Schutt abwärts. Das haben sie nament-
lich in uralten Zeiten in größtem Maße getan, als sie noch bis weit
nach Bayern hineinreichten. Zu jener Zeit waren die Alpen auch
noch weit höher als jetzt (gegen 1000 rn). Um so viel niedriger sind
die Alpen schon geworden.
5. Sie regeln den Wasserreichtum der Flüsse. Gegen Ende des Winters
schmilzt der Schnee in den Vorbergen und den unteren Voralpen
und führt so den Flüssen viel Wasser zu. Im Frühlinge aber schmilzt
der Schnee in den oberen Voralpen, sowie in den Mittelalpen. Im
Sommer tauen die Gletscher am stärksten, im Herbste taut der Schnee
der mittleren und unteren Höhen. So haben die Alpenflüsse einen
ziemlich gleichmäßigen Wasserstand das ganze Jahr hindurch.
5. Die Lawinen oder Schneestiirze.
Nicht bloß als Eis, sondern auch als Schnee gelangt der Alpenschnee in die
Tiefe.
Wie geht das zu? Der Schnee rutscht, gleitet, stürzt die Abhänge hinunter.
Die gewaltigen Schneestürze heißen Lawinen. Es gibt zwei Arten
von Lawinen.
a) Die Staublawinen entstehen wenn auf eine harte Schnee-
decke sehr viel neuer, lockerer, loser, staubartiger Schnee fällt. Auf den steilen Ab-
hängen hat dieser lockere Neuschnee keinen Halt. Bei der geringsten Erschütterung
löst er sich von seiner Unterlage. Es braucht nur ein Hase, eine Gemse darüber
zu schreiten; oft genügt ein Windhauch, ein Büchsenschuß, um die lockere Schnee-
/
I Die Alpen. 1'
schicht in Bewegung zu setzen. Zuerst mischt eine ganz kleine Menge von Schnee.
Bald bröckelt es hier, bald dort. Ehe man es sich versieht, wankt die ganze Schnee-
wand. Wie in Staub gehüllt, erscheinen die Berge. Mit rasender Eile saust
der Hauptstrom donnernd in die Tiefe. Ihm folgen noch zahlreiche Seiten-
ströme. Je tiefer und steiler der Abhang ist, desto furchtbarer ist die Gewalt der
Lawine. Sie reißt dann alles nieder, was ihr in den Weg kommt. Die Felsen
erbeben in ihren Gmndfesten, die Bäume krachen, ganze Wälder sinken um wie
schwache Halme. In wenigen Minuten stürzen die Schneemassen 1000 bis
3000 m hinab. Alles ist in undurchdringlichen Schneestaub gehüllt.
Hausten die schrecklichen Staublawinen nur in den öden, unbewohnten Hoch-
alpen, dann wären sie nicht so schädlich. Gewiß würden auch einzelne Wanderer
und Jäger ihnen zum Opfer fallen und verschüttet werden, aber sonst richteten
sie wenig Schaden an. Großes Unheil aber stiften sie, wenn sie die Werke des
Menschen zerstören und in die Dörfer einbrechen. So hat einst eine einzige
Staublawine 120 Häuser weggefegt und 88 Menschen unter ihrem Schutt
begraben. Sind solch große Berheemngen zum Glücke auch nur selten, so raffen
die Lawinen doch alljährlich nicht wenig Menschen und Tiere weg.
b) D i e Grundlawinen bilden sich, wenn die zunehmende Wärme
den Altschnee austaut. Der Schnee liegt oft metertief. Zunächst schmilzt die
obere Schneeschicht. Das Schmelzwasser sickert bald durch bis aus den Gmnd
und macht so die Unterlage schlüpfrig. Schließlich kommt der Altschnee in Be-
wegung. So langsam er anfangs mtscht, so reißend ist am Ende sein Sturz in
die Tiefe. Die Gmndlawine reißt allen Schnee bis auf den Gmnd mit sich fort
und reißt sogar viel ausgeweichtes Erdreich mit sich fort. So kann sie dort, wo
sie endet, mächtige Schutthaufen zurücklassen und Wege völlig versperren.
Die meisten Gmndlawinen haben ihre regelmäßigen Wege, ihre Lawinen-
züge. Hier stürzen in jedem Frühjahr die Schnee- und Erdmassen Hemieder
ins Tal. Nienmnd läßt sich in der Nähe dieser Lawinenbahnen nieder. Die Gmnd-
lawinen sind noch viel gefährlicher und verheerender als die Staublawinen,
es sind Schlaglawinen, die alles zerschlagen und zerstören. Eine solche war einst
170 m breit, 12 m hoch und über 1000 m lang. Sie hatte den Weg völlig ver-
sperrt. Man mußte daher durch sie einen Stollen graben. Stürzt eine solche
Lawine in den Bach, so versperrt sie ihm den Weg und Abfluß. Es entsteht eine
gefährliche Talsperre. Immer höher steigt aber das Wasser an. Durchbricht
endlich das Stauwasser den Schnee- und Schuttdamm, dann gibt es noch eine
verheerende Überschwemmung. Damm durchstößt man möglichst rasch den
schneeigen Damm.
Gegen die Lawinen muß sich der Alpenbewohner soweit als möglich schüt-
zen. Zunächst läßt er schützende Wälder stehen, es sind die Bannwälder,
die niemand schlagen darf. Ein solcher Bannwald schützt in doppelter Weise
gegen die Lawinengefahr. Zunächst hält er eine niedersausende Lawine auf.
Sodann hält er den Schnee fest, so daß er nicht ins Rutschen kommen kann. Wo
öfter Lawinen niedergehen, dort errichten die Älpler aiebelhohe Erd- und Stein-
wälle hinter dem Hause. Nach der Lawinenseite bilden sie einen spitzen Winkel:
CO <—M Kommt nun eine Lawine, so wird sie von dem dreieckigen Schutz-
wall gespalten und zu beiden Seiten des Hauses abgedrängt. Natürlich kann eine
recht hohe Lawine auch noch übers Haus stürzen; das ist aber selten der Fall.
Kommt der Frühling, dann rammen die Älpler an den steilen Stellen, wo die
Lawinen beginnen, viele Pfähle in den Boden und werfen wohl gar einen Wall
auf. Sie wollen die Lawine festnageln. Gefährdet sind auch die Straßen und
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2. 2
18
1. Die Mpen.
Bahnen in den Alpen. Wo regelmäßig Lawinen niedergehen, dort legt man
eine Galerie an. Man haut in den steilen Felsen emen breiten Gang, den
man als Weg benutzt; oder man baut über die Straße ein festes Dach, das sich
eng an den Abhang anschließt. Saust eine Lawine nieder, so braust sie über das
Dach weg und verschont den Wanderer, den Wagen oder den Zug. Dennoch ist
die Lawine immer eine ernste Gefahr, und der Älpler atmet erleichtert auf, wenn
endlich die Matten schneefrei sind und sich mit frischem Grün bedecken.
Wie die Gletscher schaffen auch die Lawinen unendliche Massen von Schnee
aus der Höhe ins Tal hinab. Während die Gletscher Jahrhunderte brauchen,
ehe sie ihr Ziel erreichen, vollenden die Lawinen ihr Werk in wenig Minuten.
Die Gletscher arbeiten langsam und stetig, die Lawinen ruck- und stoßweise.
Gletscher und Lawinen entlasten das Hochgebirge von den gewaltigen Schnee-
massen und Helsen dazu die Berge abtragen. Ohne sie häufte sich der Schnee
gefährlich an, und es würde in den Alpen und den Nachbargebieten viel kälter
werden. Ohne sie gäbe es dann die lieblichen Matten und Almen nicht.
Ohne sie wären die Alpen fast unbewohnbar.
6. Ter Föhn.
In den Alpen gibt es einen ganz besonderen Wind, den man Föhn nennt.
Der Föhn ist ein warmer, trockner und heftiger Südwind. Am häufigsten weht
er im Herbst, im Winter und im Frühlinge, also zu den Zeiten, wo es viel Schnee
im Gebirge gibt. Manchmal ist der Föhn schwach, manchmal aber so stark wie
der wütendste Sturm. Die Älpler reden daher von einem zahmen und einem
wilden Föhn. Am häufigsten und stärksten ist er in der Schweiz. Hier haust
er namentlich in den Quertälern, die von Süden nach Norden streichen, wie
im Rheintal, im Reußtal usw.
Zunächst fällt das Wetterglas stark. Dies zeigt an, daß die Luft sich verdünnt,
weil sie nach Norden abgezogen wird. Die Sonne verschleiert sich, und das Abend-
rot glänzt ganz besonders. Der Mond hat einen trüben Hof, die Nacht ist schwül,
und es fällt kein Tau. Plötzlich hört man die fernen Wälder rauschen. Der
Föhn erhebt sich. Seine Wärme läßt viel Schnee schmelzen. Die Bäche schwellen
an. Jetzt braust der Föhn wie ein Orkan durch die Täler. Zwei bis drei Tage
dauert diese Sturmzeit. Bäume brechen und stürzen donnernd den Abhang
hinab. FÄsstücke lösen sich und rollen tosend ins Tal. Hier deckt der rasende
Sturm Häuser und Ställe ab, dort reißt er Schornsteine ein. Manche Hütte und
manchen Schuppen fegt er weg. Alles trocknet er aus. Mensch und Tier können
kaum atmen, so trocken sind ihre Luftwege. Das Holzwerk der Häuser ist prassel-
dürr. Fällt jetzt ein Funke hinein, so ist eine gewaltige Feuersbrunst unabwend-
bar. Schon manches Dorf ward während des Föhns ein Raub gefräßiger Flammen.
Ehemals war es streng verboten, während des Föhns zu heizen oder zu
rauchen. Ungemein groß ist die Wärme des Föhns. In der Nacht ist es dann zu-
weilen heißer als am Tage, selbst im Winter steigt die Wärme auf 15—20° C.
Weht einmal der Föhn zur Blütezeit, dann welken die Blüten und fallen wie
versengt zu Boden. Im Herbste aber reift er die Trauben.
Ein solcher Föhn taut an einem Tage mehr Schnee und Eis, als die Sonne
in 14 Tagen. Selbst die zäheste und härteste und dickste Schneeschicht vermag
ihm nicht zu widerstehen. An einem Tage schmilzt er nicht selten eine Schnee-
decke von ya bis 1 m Dicke. Wo die Sonne nicht hinkommt, dort läßt der Föhn
den Schnee reißend wegschmelzen. So ist er ein echter Schneefresser. Ohne
I. Die Alpen.
19
ihn wären die Schneemassen der Alpen noch viel größer. Ohne ihn gäbe es in
manchem Hochtale keinen Sommer und keine Pflanze. Die Schweizer sagen daher:
Der liebe Gott und die goldene Sonne vermögen nichts, wenn der Föhn nicht
kommt. So viel Schaden er auch stiftet, sein Nutzen ist doch vielmal größer. Im
Herbste reist er die Trauben in den höheren Tälern.
Lange hat man gefragt und geforscht, wo dieser heiße und trockne Föhnwind
Herkommen mag. Man dachte zunächst an das heiße Afrika. Endlich hat man
aber gesunden, daß der Föhn in den Alpen selbst entsteht. Nördlich von den
Alpen muß tiefer und südlich von ihnen hoher Druck sein. Ist nämlich in Frank-
reich und England sehr tiefer Druck, so fließt die Luft von der Nordseite der Alpen
nach Norden zu ab. Deswegen wird die Luft in der Schweiz und Tirol dünner,
und das Wetterglas fällt stark. Oben auf den Bergen ist aber noch dickere Luft,
Sie fällt nun mit großer Wucht in die Alpentäler herab. So entstehen die hef-
tigen Windstöße. Später strömt die Luft aus der Lombardei nach. Nun wissen
wir wohl, wie der Wind entsteht, aber woher hat er die große Wärme? Das
werden wir nun gleich erfahren.
7. Zunehmende Kälte bei zunehmender Höhe.
Wer in einem Gebirge wandert, dem fällt auf: In den Tälern ist es viel
wärmer als auf den Höhen. Je höher man emporsteigt, desto mehr nimmt die
Wärme ab, desto kühler und kälter wird es. Unten gedeihen die Reben und
Kastanien, etwas höher nur noch das Obst, später nur noch Nadelbäume, endlich
treffen wir bloß auf Krüppelholz und Matten. Schließlich gelangen wir in das
Gebiet des ewigen Schnees, des ununterbrochenen Winters. Je höher ein Dorf
liegt, desto kürzer ist sein Sommer und desto länger sein Winter. Schließlich herrscht
dort oben bloß noch Winter. Fährt man mit dem Luftschiff in die Höhe, so findet
man, daß es oben immer kälter wird. Im Durchschnitt nimmt mit je 100 in Höhe
die Wärme um V- "—1° G ab. Ist die Luft feucht, so beträgt die Abnahme nur V, °;
ist sie trocken, so beträgt die Abnahme 1°C. Steigt man 1000 in hoch, so ist es uni
rund 6° kälter geworden; steigt man 2000 in höher, so ist es etwa 12 ° kälter ge-
worden. Wer daher in die Alpen reist, der muß sich stets auf Kälte gefaßt machen.
Warum nimmt die Wärme nach oben zu ab? Die Erde ist mit Luft um-
geben. Die oberen Luftschichten drücken auf die unteren. Die unteren Luft-
schichten find dicker, dichter, schwerer als die oberen; die oberen sind dünner und
leichter als die unteren. Jeder Bergsteiger kann das an sich beobachten. Oben
atmet er viel leichter als unten.
Durch die dünnen Luftschichten gehen die Sonnenstrahlen fast ganz unge-
hindert hindurch. Deswegen werden die oberen Luftschichten fast gar nicht er-
wärmt; sie bleiben kalt. Je dichter die Luft wird, desto mehr wird sie von der Sonne
erwärmt; sie hält die Sonnenstrahlen auf und nimmt so die Wärme auf. Die
Erde hält alle Sonnenjtrahlen auf; daher wird die Erde am meisten erwärmt.
Die Erde strömt aber die Wärme wieder aus. Deshalb ist die Luft überm Erd-
boden am wärmsten. Je höher wir in die Luft emporsteigen, desto geringer
wird die Wärme. Warme Luft dehnt sich aus und wird dünner; sie steigt empor
und kommt in kalte Schichten. Dabei verliert sie ihre Wärme, sie erkaltet wieder.
Wird aber die Luft zusammengepreßt, wird sie dichter, so wird sie auch wärmer.
Auf den Bergen ist die Luft dünner als in den Tälern; darum ist es in den
Tälern wärmer als auf den Höhen. Die dünne Höhenluft ist kälter als die dichtere
Luft in den tiefer gelegenen Tälern.
2*
<F=
20 I. Die Alpen.
Wir merken uns:
1. Die Wärme nimmt nach oben zu ab.
2. Die Abnahme der Wärme beträgt etwa yf—1° C für je 100 m Stei-
gung, je nachdem die Luft feucht oder trocken ist.
Dies hat zwei Gründe:
1. Die oberen Luftschichten sind dünner, trockner und reiner als die
unteren und nehmen daher weniger Wärmestrahlen auf.
2. Die Luft wird am meisten vom Erdboden aus erwärmt. Die Luft
am Erdboden ist deshalb am wärmsten.
Warum ist der Föhn heiß und trocken?
Wenn die Luft auf der Nordseite der Alpen rasch nach Norden zu abfließt,
so verdünnt sie sich in der Schweiz. Sie dehnt sich aus und wird kälter. Nun strömt
von oben her trockene kalte Luft herab. In den Tälern erwärmt sie sich. Immer
neue Lust strömt nach. So verdichtet sich die Lust wieder und erwärmt sich noch
mehr. Wird aber die Lust warm, so wird sie auch trocken. Die Wärme und Trocken-
heit des Föhnwindes erzeugt sich in den Alpen selber. Je tiefer der Luftdruck
im Norden und je höher der Luftdruck im Süden ist, desto heftiger ist der Föhn.
Durch ihn gleicht sich der Luftdruck aus. Ist das geschehen, so legt sich der Sturm.
Wir Zeichnen:
Die Alpen sind eine lange Gebirgsmauer, die hoch in die Luft hinaufragt.
Sie halten daher die Winde und die Wolken an und bilden so eine Wetterscheide.
Kommen feuchte Wolken von Nordwesten, so stauen sie sich auf der Nordseite
der Alpen. Sie können nicht in gleicher Höhe weiter schweben, sonst stießen sie
ja an die Berge. Darum müssen sie in höhere Luftschichten emporschweben.
Je höher die Wolken hinauf komnien, desto kälter wird die Lust. Kalte Luft
kann aber nicht so viel Wasserdampf unsichtbar erhalten wie warme; je höher
die Wolke emporsteigt, desto finstrer wird sie. Endlich verwandelt sich ihr Wasser-
dampf in Wassertropfen, in Regen. Fällt die Temperatur unter den Gefrier-
punkt, so gefriert der Wasserdampf zu Schnee, zu Graupeln oder zu Hagel.
Die Luft kann die Regentropfen, den Schnee und die Graupeln und Schloßen
nicht tragen, sie fallen daher zum Boden hernieder. Geht die Abkühlung lang-
sam vor sich, dann regnet es schwach. Reißt aber ein heftiger Windstoß die Regen-
wolke mit großer Gewalt in kalte Luftschichten, dann ist die Abkühlung sehr groß;
der Wasserdampf verwandelt sich plötzlich in Regen, und es gießt nun in Strömen.
Das geschieht in den Alpen sehr oft, namentlich im Frühjahr, im Sommer und
I. Die Alpen.
21
im Herbste. In den Alpen stauen sich eben öfter die wasserreichen Wolken; plötzlich
gelangen sie in viel kältere Luftschichten und entladen sich dann durch strömenden
Regen. Sie bleiben gleichsam an den hohen Gebirgsketten hängen und müssen
sich in einem Tale abregnen. In der Ebene treibt sie der Wind vorwärts. In den
Alpentälern bleiben sie oft stundenlang fast an einer Stelle.
Daher haben die Alpen viel mehr Niederschläge als Deutschland im all-
gemeinen. In Deutschland beträgt die jährliche Regenmenge vielfach nur 50
bis 60 cm, also einen halben Meter und etwas darüber. In den Alpen steigt
die jährliche Regenmenge auf 100 cm und sogar auf 200 cm. Sie ist also
doppelt bis drei- und viermal so groß als bei uns.
Das würde nicht schaden, wenn diese Regenmengen ziemlich gleichmäßig
fielen. Doch gibt es in den Alpen oft heftige Regengüsse, namentlich bei Gewittern.
Unablässig rollt der Donner, der in den langen, gewundenen Tälern mit den
hohen Abhängen gewaltig widerhallt. In Strömen gießt es oft stundenlang.
An allen Seiten der kahlen Felsen rinnen kleinere und größere Rinnsale hinab.
Uber alle Abhänge ergießen sich zahllose Bächlein. Wohin man blickt, dort rieselt
es, dort rinnt es, dort reißt es, dort strömt es. Unten im Tale, im Gießbach, da
sammeln sich die zahllosen Rinnsale. Rasch schwillt er an. In kurzer Zeit ist aus
dem kleinen Bache ein wildes Wasser, ein reißender Gießbach, ein verheerender
Fluß geworden. In enger Schlucht braust er hinab. Die tosenden Fluten spülen
Schutt und Geröll mit fort. Große Steine poltern talwärts und zerschmettern
selbst die stärksten Bäume. Alles reißen sie mit sich fort, Stege, Brücken, Ufer,
mauern, kleine Häuser, Heustadeln; selbst Wagen werden mit in den Strudel
gezogen. Die wilde Flut wühlt sich ein tiefes Bett. Jetzt überschwemmt sie eine
ebene Matte. In kurzer Zeit ist alles mit Schlamm und Schutt bedeckt. Oft
liegen der Schlamm und Schutt meterhoch. Das nennt der Älpler eine Mur.
Eine vermurte Wiese ist für immer vernichtet. Daneben fordert solch ein Wolken-
bruch oft noch viele Opfer an Vieh und Menschen. Zuweilen stürzt eine Mur,
das vom Wasser fortgewälzte Steingeröll, so plötzlich zu Tal, daß die Bewohner
im Schlafe überrascht werden und keine Zeit finden, sich zu retten. Noch vom
Schlafe umfangen, reißt sie die tobende Flut mit fort. Manche Täler werden
von solchen Überschwemmungen ganz besonders heimgesucht.
Da werdet ihr sagen: Dagegen müssen die Alpenbewohner sich schützen
Das ist ganz richtig. Früher haben freilich manche Älpler recht unverständig ge
handelt. Sie haben die Wälder niedergeschlagen und nicht wieder angepflanzt.
Die Wälder schützen nicht nur gegen die Lawinen, sondern auch gegen die Muren.
Ein dichter Wald hält das niederstürzende Geröll und Gestein auf; er läßt auch
die Fluten nicht ungehindert durchbrausen, sondern hält sie auf. Dazu versickert
im Waldboden viel Wasser. Ganze Felder und Wiesen sind durch die Überflu-
tungen (Muren) verloren gegangen. Ungeheurer Schaden wird dadurch ange-
richtet. Damm forstet man geeignete Strecken wieder auf. Daher legt man
auch Talsperren an. Deshalb errichtet man starke Ufermauem und hohe Dämme.
Bei solchen Regengüssen oder bei heftigen Schneeschmelzen kommen auch
B e r g r u t s ch e oder Bergstürze vor. Ein Teil eines Bergabhanges löst sich ab und
stürzt mm ins Tal. Dort begrübt er alles unter seinem Geröll und Schutt. Einst
wurden bei einem Bergstürze (des Roßberges am Rigi) gegen 100 Wohnstätten
und 200 Scheunen nebst 460 Menschen verschüttet. Noch heute liegt die Kirche
30 in unter dem Schutte. Zum Glück sind solche Bergstürze selten. Öfter ent-
stehen auch zuerst Risse, so daß sich die bedrohten Menschen durch rasche Flucht
retten können.
22
I. Die Alpen.
Wir merken uns:
1. Kalte Lust faßt weniger Wasserdampf als warme Luft.
2. Trockne Luft wird feucht, wenn sie fick abkühlt.
3. Feuchte Luft wird trocken, wenn sie sich erwärmt.
4. Wolken entstehen, wenn bei heißem Wetter feuchte Luftströme hoch
emporsteigen und so in kalte Luftsckichten kommen.
5. Wolken entstehen auch, wenn die Winde Gebirge übersteigen oder
wenn sich feuchtwarme und trockene kalte Lust mischen.
6. Die Alpen kühlen die Molken ab und nötigen sie zur Abgabe ihres
Wassergehaltes.
7. Die Alpen haben daher eine viel größere Menge von Mederschlägen
als die ihnen vorgelagerten Ebenen.
9. Tie Alpenslüsse.
Wie alle Gebirge sind auch die Alpen sehr wasserreich. Da die Alpen bedeu-
tend höher und größer sind als unsre Mittelgebirge, so entspringen hier auch
weit mehr Flüsse und Bäche als in ihnen. Ihren Ursprung haben sie teils in den
zahlreichen Gletschern und Firnfeldern, teils in den Mooren und Sümpfen,
teils in den Seen, teils in Quellen. Alle diese Gewässer fließen teils nach Norden,
teils nach Osten, teils nach Süden, teils nach Westen. Sie sammeln sich in Haupt-
strömen, nämlich im Rhein, in der Donau, in der Etsch, im Po und in der Rhone.
Der Rhein sammelt die Gewässer des nordwestlichen Alpengebietes. Er ent-
steht aus dem Vorderrhein und Hinterrhein. Sein größter Alpennebenfluß ist
die A a r fest Ihr bedeutendster Nebenfluß ist die Reu ß. Vorderrhein und
Reuß entspringen auf dem St. Gotthard. Nicht weit davon hat auch die
Aare ihren Ursprung. Groß ist die Zahl der Zuflüsse; deren Namen zu merken,
überlassen wir den Schweizerkindern.
Die Donau sammelt die Alpengewässer des Nordens und des Ostens.
Sie selbst entspringt am Schwarzwald, aber Iller, Lech, Isar und Inn
führen ihr Alpenwasser zu. Dazu kommen noch die Traun und die E n n s.
Am größten aber sind die D r a u und die S a u , die fast genau nach Osten fließen.
Die Mur ist der bedeutendste Nebenfluß der Drau. Die Donau sammelt den
größten Teil aller Gewässer in den Ostalpen.
Die Etsch und der P o sammeln die Gewässer der Südabhänge der Alpen,
sowie die der Ostabhänge der Westalpen. Die Etsch entspringt in Tirol und
vereinigt in sich namentlich die Abwässer der Tiroler Alpen. Der P o entspringt
auf den Westalpen (auf dem Monte Viso) und sammelt zunächst die Abflüsse
aus den Westalpen. Sein größter Nebenfluß ist der Tessin, der gleichfalls
auf dem St. Gotthard entspringt.
Die Rhone ist das Sammelbecken für die nach Westen fließenden Alpen-
slüsse. Sie entspringt auf dem St. Gotthard und erhält ihre ineisten Nebenflüsse
aus den Westalpen.
Die Alpenflüsse haben meistens ein starkes Gefälle; daher strömen sie
schäumend und brausend in raschem Lause dahin. Ihr Bett ist mit Geröll und
sogar mit gewaltigen Blöcken bedeckt. Groß ist die Zahl der Wasserfälle. Manche
Bäche stürzen 20—50, andere sogar 50 bis über 100 m tief über senkrechte oder
nahezu senkrechte Felswände. Am berühmtesten ist der Staub ba ch fa ll
im Lauterbrunnental in den Berner Alpen. Hier stürzt das Wasser 300 m tief
hinab und löst sich dabei fast ganz in Wasserstaub und Nebel auf. Vielfach bilden
I. Die Alpen.
23
die Wasserfälle mehrere Absätze. Schon von weitem hört man das gewaltige
Rauschen der hinabstürzenden Wassermassen, namentlich wenn der Bach ange-
schwollen ist. Diese tausendfachen Wasserfälle bilden einen schönen Schmuck der
Alpen. Zahllose Fremde bewundern sie.
Die Alpenflüsse führen viel Wasser mit sich. Am niedrigsten ist ihr Wasser-
stand im Winter, denn da liefern die Gletscher kein Schmelzwasser, und statt des
Regens fällt Schnee. Darum hat der Rhein bei Basel im Januar gewöhnlich
seinen niedrigsten Wasserstand. Beginnt aber in den Alpen die Schneeschmelze,
dann steigt der Wasserstand ungemein. In engen Schluchten steigt das Wasser
nicht selten um 5—10, sogar um 10—20 ui und zuweilen selbst bis zu 50 in.
Der große Bodensee (540 qkm) wächst um 1—6 m, wenn ihm der obere Rhein die
Schmelzwasser der Alpen zusührt. Wäre er nur halb so groß, so stiege sein Stand
um 2—12 m; wäre er noch kleiner, so stiege das Wasser noch mehr! Wasserreich
sind die Alpenflüsse auch während des Sommers und bis in den Herbst hinein.
Dennoch eignen sich nur wenige Alpenflüsse zur Schiffahrt. Warum? Ihr
Gefälle ist zu reißend. Ihr Bett ist zu sehr mit Geröll und Schutt angefüllt. Erst
in den unteren Teilen des Gebirges werden sie ruhiger; daher befährt man
einige auch mit Kähnen.
10. Die Alpenseen.
Die Alpen sind nicht nur reich an Flüssen, sondern auch reich an Seen.
Gegen 4000 Seen zieren die Alpen. Es gibt zwei Arten der Alpenseen. Die
H o ch s e e n oder B e r g s e e n liegen hoch im Gebirge, meistens in den Mittel-
alpen. Sie sind nicht groß, aber meist sehr tief. Viele erhalten ihr Wasser von
Gletschern. Ihr Wasser ist deshalb eiskalt. Einsam und öde ist ihre Umgebung.
Kein Nachen fährt auf ihnen. Kein Fisch und Frosch lebt in ihnen. Kein Baum
spiegelt sich in ihren grünen oder blauen Fluten. Den größten Teil des Jahres
überdecken sie Schnee und Eis. Mancher gefriert sogar im Winter bis aus den
Grund. Diese Hochseen haben für den Menschen keinen Wert. Sie sind höchstens
wichtig als Sammelbecken für reißende Gebirgsflüsse.
Um so wichtiger sind die Randseen. Sie liegen entweder auf dem
Nord- oder auf dem Südabhange der Alpen, namentlich des mittleren Abschnittes,
in der Schweiz, in Tirol, Südbayern, Salzburg und der Lombardei.
a) D i e Randseen am Nordab hange der Alpen. Der
größte davon ist der G e n f e r S e e. Seine Wasserfläche umfaßt 580 qkm und
seine Tiefe beträgt über 300 m. Er hat die Gestalt der Mondsichel, die nach
Süden zu offen ist. Die Rhone durchfließt ihn. Brausend ergießt sie ihre schlam-
migen Fluten in den See; schön und hell tritt sie bei Genf aus ihm heraus, denn
der See hat sie geläutert. An seinem Südufer treten die Alpen nahe an sein
Gestade heran. Das Nordufer ist von Rebenhügeln umkrünzt. Von ihm aus
erblickt man den weiß schimmernden Montblanc. Mild ist das Wetter in diesem
Kessel. Außer den Reben gedeihen an den sonnigen Hügeln Mandeln, Feigen,
Lorbeeren und Granatäpfel. Tausende von Fremden halten sich hier längere
oder kürzere Zeit auf, um die Schönheit der Natur zu genießen. Im Winter
leben hier zahlreiche kränkliche Menschen.
Der B o d e n s e e ist der zweitgrößte Randsee im Norden. Er ist nur ein
wenig kleiner und nicht ganz so tief als der Genfer See (540 gegen 580 qkm,
250 gegen 300 m). Wie der Genfer See ist er wegen seiner milden Witterung
trefflich angebaut und wird gern besucht. In ihm lädt der R h e i n die Schutt-
und Schlammassen ab, die er aus den Alpen mit sich führt.
24
I. Die Alpen.
Der Vier Wald st ätter See ist wohl der schönste nördliche Alpen-
see. Er ist viennal kleiner als der Genfer und Bodensee (110 qkm); aber immer
noch über 200 m tief. Merkwürdig ist vor allem seine vielfach gewundene Gestalt;
er hat Ähnlichkeit mit einem liegenden Kreuze. Er liegt ziemlich genau in
der Mitte zwischen dem Bodensee und dem Genfer See. Durchströmt wird er
von der R e u ß , die in ihm sich läutert. Herrlich ist eine Dampferfahrt auf diesen:
See. In Luzern besteigen wir das Dampfschiff. Hier verläßt die Reuß kristall-
hell den malerischen, langgestreckten, aber schmalen See. Zunächst wendet sich
das Schiff in die Küßnachter Bucht. Hier sehen wir den Hohlweg, wo der mutige
Dell den Landvogt Geßler erschoß. Noch heute bezeichnet die Tellkapelle den
Ort, wo die Befreiung der Schweiz ihren Anfang nahm. Wir kehren aus der
Bucht zurück. Da haben wir links den schönen Rigi und rechts den hohen Pi-
latus vor uns. Am Ufer grüßen uns freundliche Dörfer. Die Dächer der braunen
Holzhäuser sind mit moosbewachsenen Steinen beschwert. Prächtige Nußbäume
beschatten sie. Wir sind vom Wetter begünstigt und können daher die zahllosen
Gipfel der Berge bewundern. Da der See meistens nur eine Stunde breit ist,
sehen wir die Gestade ganz deutlich. Hier sehen wir liebliche Hügel mit Wein-
und Obstpflanzungen, dort bewundern wir schroff abfallende Bergabhänge.
Darüber blinken mächtige Fels- und Schneeberge aus weiter Feme entgegen.
Jetzt kommen wir am Rütli vorüber, der Matte heimlich im Gehölz, wo die Schwei-
zer sich gegen die Landvögte verschworen. Dann zeigt uns der Führer die Tell-
platte, das in den See ragende Felsriff, worauf sich Dell in kühnem Sprunge
rettete. Zuletzt kommen wir nach Altdorf, wo die Reuß als ein wildes, schmutziges
Gewässer in den Vierwaldstätter See mündet. In seinen Tiefen reinigt sie sich.
Uns hat die Fahrt so gefallen, daß wir gem die Rückfahrt des Dampfers benutzen,
um die Schönheiten des berühmten Schweizersees noch einmal zu genießen.
Freilich nicht immer verläuft jede Fahrt so glücklich und so gefahrlos wie
die unsrige. Oft sucht der wilde Föhn den Vierwaldstätter See heim. Das tiefe
Reußtal ist eine seiner beliebten Zugstraßen. Zuerst hört man ein unheimliches
Brausen und Rauschen in den Hochwäldern. Kurz darauf wühlen die ersten
Windstöße den See auf. Immer wilder heult und brüllt der Sturm. Wütend
peitscht er die Wogen an den Felsen empor und verwandelt sie in weißen Gischt.
„Wehe dem Fahrzeug, das, jetzt unterwegs, in dieser furchtbaren Wiege wird
gewiegt! Hier ist das Steuer unnütz und der Steurer. Der Sturm ist Meister;
Wind und Wellen spielen Ball mit dem Menschen. Da ist nah und fern kein
Busen, der ihm freundlich Schutz gewährte; haltlos und schroff aufsteigend,
starren ihm die Felsen, die unwirtlichen, entgegen und weisen ihm nur ihre steinern
schroffe Brust. Wenn der Sturm in dieser Wasserkluft sich erst verfangen, dann
rast er um sich mit des Raubtiers Angst, das an des Gitters Eisenstäbe schlägt!
Die Pforte sucht er heulend sich vergebens; denn ringsum schränken ihn die
Felsen ein, die himmelhoch den engen Paß vermauern" (Schiller in „Tell").
Emsig schaute der Schiffer stets nach dem Himmel, um die Vorboten des Föhns
zu erspähen. Heute kündet ihm das Wetterglas bei starkem Fallen an, daß nun
Gefahr im Verzüge ist. Eiligst flüchten alle in den nächsten Hafen.
Der Züricher See liegt zwischen dem Boden- und dem Vierwald-
stätter See. Wie diese ist er langgestreckt und schmal, er bildet eine schmale Mond-
sichel. An seinem Nordende liegt Zürich. Die Limmat durchfließt ihn und
eilt dann zur Aare. Obsthaine und grüne Matten begrenzen die Ufer.
Der T h u n e r und der Brienzer See liegen zwischen dem Genfer
und dem Vierwaldstätter See. Sie sind nur durch eine schmale Landzunge ge-
I. Die Alpen.
25
trennt. Ehemals bildeten sie einen einzigen See. Diese Landzunge ift durch
angeschwemmtes Geröll gebildet worden. Die Aare durchströmt die beiden
Zwillingsseen. Sie sind zwar klein, aber fast so tief wie der Bodensee. Der Föhn
tobt auf ihnen ebenfalls oft.
Der Neuenburger See gehört zum Juragebiet.
5) Die Randseen am Südabhange der Alpen. _ Der
Gardaseeist hier der größte. Er umfaßt 370 qkm und ist 375 m tief. Er
ist zwar kleiner als der Bodensee, aber viel tiefer als dieser. Hohe Gebirgszüge
schließen diesen schmalen und langgestreckten See ein. Ein Fluß reinigt sich gleich-
falls in ihm, doch heißt er oberhalb des Sees anders als unterhalb. Das Klima
ist hier ganz besonders mild, daher gedeihen an den sonnigen Abhängen außer
Wein besonders Zitronen und Apfelsinen. Westlich vom Gardasee liegt der
KomerSee. Er besitzt drei Zipfel und wird von derAdda durchflossen. Er ist
zwar noch nicht einmal halb so groß wie der Gardasee, aber noch tiefer; denn seine
größte Tiefe beträgt über 400 m. So liegt er zur Hälfte über und zur Hälfte
unter dem Meeresspiegel. Der Komersee ist der tiefste aller Alpenseen. Am
westlichsten liegt der L a n g e S e e, der vom Tessin durchströmt wird. Er ist
besonders schmal, zwar bedeutend kleiner als der Gardasee, doch ebenso tief wie der.
Außer diesen gibt es noch viele andere Seen, kleinere und größere.
Die R a n d s e e n sind sehr wichtig.
1. Sie sind Läuterungsbecken für die Alpenge wäs-
s e r. Gerade die Alpenflüsse führen wegen ihres starken Gefälles viel Schutt
mit sich, namentlich bei Hochwasser. In den Seen sinken alle Schutt- und
Schlammassen zu Boden. Mit der Zeit verlieren sie so an Tiefe. Sie waren
früher tiefer und auch etwas größer. Doch können sich noch viele Jahrtausende
lang die Alpenflüsse in ihnen läutern und reinigen, ehe sie gänzlich ausgefüllt
werden.
2. SiesinddieSammelbeckenundReglerderAlpen-
f l ü s s e. Bei Hochwasser nehmen sie viel Wasser auf; der Bodensee z. B. steigt
da um 1—6 m. Die überschüssige Wassermenge fließt dann allmählich ab. So
werden im unteren Laufe gefährliche Überschwemmungen verhütet. Sie speisen
die Flüsse auch noch, wenn sonst Wasserarmut eingetreten ist. So regeln sie den
Wasserstand und machen ihn gleichmäßiger.
3. Sie sind belebte Wasserstraßen, namentlich die großen
Seen wie der Boden-, Genfer, Vierwaldstätter, der Lange See usw.
4. Sie sind Anziehungspunkte für die Fremden,
wie der malerische Vierwaldstätter See, der milde, gesunde Gardasee u. a.
5. S i e s i n d g e s ch ü tz t e O b st g ä r t e n. An ihren Ufern sproßt
und grünt zuerst der Frühling. Von ihnen zieht er dann allmählich höher hinauf.
Im Sommer nehmen sie ungemein viel Wärme auf. Ihr Wasser ist auf der
Oberfläche wärmer als das der Flüsse, die durch sie fließen. Das Wasser gibt die
Wärme nur langsam wieder ab. So wärmen die Seen ihre Umgebung bis weit
in den Herbst, ja bis in den Winter hinein. Die Seen sind nun meistens noch durch
hohe Gebirgsmauern vor rauhen Winden geschützt. Daher sind ihre Uferland-
schaften die fruchtbarsten Wein- und Obstgärten. Die Seengebiete sind zu aller-
erst dicht bewohnt gewesen.
11. Die wichtigsten Berge der Alpen.
a) Der M o n t b l a n c ist der höchste Berg der Alpen. Sein Gipfel ragt
bis über 4800 m hoch in die Luft. Da der ewige Schnee bei 2700 in beginnt,
26
I. Die Alpen.
so liegen noch über 2000 m irrt Gebiet desselben. Da könnt ihr euch denken,
daß die Besteigung des Montblancs schwierig ist. In der Regel beginnt man den
Aufstieg von einem Dorfe (Chamonix), das 1000 m über dem Meere liegt. So-
mit hat man noch gegen 3800 m zu steigen. An einem Tage kann man da nicht
hinaufkommen und wieder zurückkehren. Man rechnet dazu drei Tage. Zu einer
solchen Bergfahrt muß man sich gehörig ausrüsten. Zunächst braucht man
ein Paar Bergschuhe mit dicken Sohlen und Eisnägeln und einen festen Berg-
stock mit starker eiserner Spitze. Im Rucksack nimmt man Muudvorrat mit. Da
wir fremd sind, muß uns ein Führer leiten. Es ist ein kräftiger Mann, der eine
Axt und ein Seil außer dem Bergstock trägt. Aber für den Montblanc brauchen
wir zwei Führer und einen Träger. Unterwegs gibt es ja nichts zu kaufen. In
einer Schutzhütte übernachten wir 3000 m hoch. Eisige Kälte herrscht dort oben,
trotzdem es unten im Tale heiß ist. Etwa bei 4400 m finden wir eine Wetter-
warte. Doch ist niemand darin. Die Werkzeuge schreiben alles selbst nieder.
Bon Zeit zu Zeit kommen ein paar Männer und holen die Beobachtungen.
Wir sind stark ermüdet. Schneidend weht der Wind. In der stark verdünnten
Luft atmet es sick schwer. Es wird uns öfter schwindelig. Das Blut drängt nach
außen. Der innere Druck ist größer als der äußere. Da umzieht sich der Himmel.
Die Führer kehren uni und steigen rasch abwärts. Doch ist Vorsicht nötig, damit
wir nicht abstürzen. Schwierig ist der Übergang über die zahlreichen Gletscher.
29 zählt der gewaltige Bergriese. Lange war er unbesteigbar; erst 1786 gelang
es zwei kühnen Männern, nach großen Mühsalen den Gipfel zu erklimmen.
Sind wir auch enttäuscht, daß wir unser Endziel nicht erreichten, so freuen wir
uns doch, daß wir den heulenden Strtrm in der einsauten Schutzhütte abwarten
können. Als wir zurückkommen, erfahren wir, daß in dem Unwetter zwei Per-
sonen umgekommen sind. Sie sind einen steilen Abhang hinabgestürzt und mit
zerschmetterten Gliedern liegen geblieben. Eben brechen mehrere beherzte
Männer mit allerhand Gerät aus, um ihre Leichen zu bergen.
Man hat eine elektrische Zahnradbahn gebaut, welche den Fremden leicht,
bequem und gefahrlos weit hinauf trägt.
0) Der Monte Rosa ist der zweit höchste Alpenberg (4640 m). Der
Montblanc liegt da, wo Frankreich, Italien uttd die Schweiz Zusammentreffen;
der Monte Rosa liegt östlich davon und gehört teils zu Italien, teils zur Schweiz.
Zwischen dem Montblanc und dem Monte Rosa haben wir den höchsten Abschnitt
der Alpen. Hier gibt es wenigstens 20 Berge, die über 4000 m hoch sind. Darum
finden wir hier gewaltige Firnfelder und Gletscher. Steil fällt der Monte Rosa
nach Süden, nach Italien zu ab. Von da aus erscheint er noch gewaltiger als
der etwas höhere Montblanc. Beide Bergriesen bilden gleichsam die Strebe-
pfeiler, die himmelan führen. Westlich vom Monte Rosa erhebt sich das steile
Matterhorn, das gleich einer gewaltigen Pyramide in die Lüfte ragt.
Lange war es unersteiglicb. Endlich wagten kühne Englütrder mit kundigen
Führern den Aufstieg. Glücklich kamen sie oben auf dem steilen Gipfel an und
genossen den herrlichett Rundblick über eis- und schneebedeckte Täler und glän-
zende Gipfel, nackte Kuppen. Vorsichtig stieg man dann abwärts. Alle acht
Bergsteiger hatten sich durch Seile verbunden. Dazu banden sie auch Seile an
vorstehende Steine und glitten nun langsam abwärts. Mit der Axt schlugen
sie sich Stufen, um sicher austreten zu können. Dennoch glitt ein Engländer aus
und stürzte in die schauerliche Tiefe. Durch die Wucht des Falles riß er noch
mehrere seiner Begleiter mit sich. Als die andern das sahen, stemmten sie sich
fest ein. So groß war die Wucht des Anpralls, daß das Seil zerriß. So erschüttert
I. Die Alpen.
27
waren die Geretteten, daß sie sich kaum auf den Knien halten konnten. Ein
Wunder war es, daß sie nicht auch abstürzten. 5 Opfer hatte dieser erste Aufstieg
gefordert. Trotzdem versuchten kühne Bergsteiger immer wieder, das Matterhorn
zu erklimmen Auf dem Kirchhofe zu Zermatt ruhen viele, die ihr Wagnis mit
dem Leben bezahlt haben.
o) DasFinsteraarhorn und die Jungfrau sind die be-
rühmtesten und höchsten Berge (4200 m) in den Berner Alpen. Die Berner
Alpen liegen nördlich von der oberen Rhone, die Walliser Alpen dagegen südlich.
Beide enthalten die meisten Berge über 4000 m Höhe. Dadurch, daß das Tal
der Rhone sie trennt, erscheinen diese beiden Ketten um so großartiger. Reich
sind die Berner Alpen auch an großen Firnfeldern und Gletschern. Der Aletsch-
gletscher ist ja der größte und wird aus den gewaltigen Firnfeldern südlich von
der Jungfrau gespeist. Ihr Haupt ist mit blendend weißem Schnee bedeckt. Dar-
um singt der Dichter von ihr:
Es sitzt die Königin hoch und klar
Aus unvergänglichem Throne,
Tie Stirn umkränzt sie sich wunderbar
mit diamantener Krone,
Drauf schießt die Sonne die Pfeile von Licht,
sie vergolden sie nur, sie erwärmen sie nicht.
Die Jungfrau ist der prachtvollste Alpenberg, die Königin aller Berge,
Darum wollten viele Fremde sie sehen, ihre Schönheiten bewundern. Doch nur
wenige sind gewillt, eine so anstrengende und so gefahrvolle Besteigung zu wagen.
Daher kam man auf den Gedanken, den Fremden die Bewunderung der groß-
artigen Reize der Jungfrau und ihrer Umgebung zu erleichtern. Hier sieht man
ja den Staubbachfall und viele andere Sehenswürdigkeiten. Man baute deshalb
zuerst eine Drahtseilbahn, die den Wanderer von Lauterbrunnen nach Mürretr
hinaufzieht. 670 m sind wir emporgezogen worden. Unheimlich ward es manchen:
Fahrgast, als der Wagen immer höher schwebte und schwebte. Keiner wagte zu
sprechen. Man weiß ja, daß die Bahn fest und sicher gebaut ist, aber innerlich
erregt ist jeder. Mn schaut man endlich durchs Fenster und erblickt die herrlichsten
Matten. Nach einer halben Stunde haben wir den Felsrand erreicht. Erleich-
tert steigen wir aus. Wir steigen in die Elektrische, die uns nach Mürren fährt.
Da schauen wir wieder oft in schwindelnde Tiefen und Abgründe. Immer näher
rückt uns die Jungfrau. Unbegreiflich schön liegt sie vor unfern Augen.
Doch genügte vielen diese Bahn noch nicht. Da baute man eine Berg-
bahn, die bis zum Gipfel der Jungfrau hinaufführt. Sie beginnt ebenfalls in
Lauterbrunnen am Staubbachfall. Zunächst stellte manden Teil her, der bei 2500 m
Höhe an einem Gletscher endete. So kann man teils mit der Drahtseilbahn,
teils mit der Elektrischen bis zum Gletscher hinauffahren. Hier steigen wir aus
und beschauen uns zunächst die Moräne, in die man eine Höhle getrieben hat.
Wir besuchen sie, bewundern das herrliche Blau des Eises, verlassen sie aber
bald, da uns die Kälte erschauern läßt. Lieber wandern wir ein wenig auf dem
Gletscher hin und her und besehen uns Gletscherspalten und Gletschermühlen.
Dann steigen wir wieder ein. Jetzt geht es durch einen langen finstern
Tunnel. Nach je 2000 in hält der Zug. Da gibt es Seitenöfsnungen. Wir er-
freuen uns an dem herrlichen Ausblick. Endlich hält der Zug zum letzten Male.
Wir befinden uns rund 4100 m überm Meere. Welch ein herrlicher Ausblick!
Da zeigt uns der Führer einen Aufzug. Wir steigen ein und werden nun bis auf
den Gipfel der stolzen Jungfrau emporgehoben. Welch ein Genuß! Da stehen
I. Die Alpen.
ja auch Schlitten, mit Hunden bespannt! Wer genug Geld hat, der kann sich den
Genuß leisten, 4200 m überm Meere Schlitten zu fahren und das schönste Stück
der Alpenwelt dabei zu bewundern. Ja, was hat nicht der erfinderische Mensch
alles geschaffen, um dem Menschen behilflich zu sein und ihm aufs bequemste
die seltensten und herrlichsten Naturgenüsse zu verschaffen. Wer hätte das vor
50 Jahren gedacht!
ck) Der Rigi am Vierwaldstätter See ist zwar nur 1800 m hoch, aber
er wird wohl am meisten besucht. Zwei Zahnradbahnen führen die Reisenden
ohne alle Mühe hinauf. Wer gut zu Fuße ist, erklimmt ihn in vier bis fünf Stunden.
Oben hat man stattliche Gasthäuser erbaut, welche 1000 und mehr Gäste beher-
bergen können. Die Aussicht von diesem Berge ist herrlich und umfaßt die ganze
Alpenkette vom Bodensee bis zum Genfer See. In einem gewaltigen Halbkreise
sieht manchet klarem Wetter die hohen Berggipfel mit ihren weißschimmernden
Schneefeldern vor einem sich ausbreiten. Ist ganz klare Luft, dann scheinen sie ganz
nahe vor uns sich zu erheben. Am großartigsten ist der Rundblick frühmorgens
bei Sonnenaufgang. Die Berner Gipfel erscheinen zuerst in rosigem Schimmer.
Dann folgt auf der andern Seite ein Eisgipfel nach dem andern, immer der
höhere vor dem niederen. Nach und nach geht der rosige Schein in glühende
Farben über. Plötzlich glänzen die höchsten Gipfel der Berner Alpen im hellen
Sonnenstrahle, zuerst das Finsteraarhorn, hierauf die Jungfrau, dann die andern:
ein entzückender Anblick! Dann erscheint auch die Sonne auf dem Rigiberge.
Der Senne begrüßt den schönen Morgen mit schmetternden Tönen aus seinem
Alpenhorne. Allmählich steigt das Sonnenlicht in die tiefen Täler hinab. Am
längsten erhält sich die Dunkelheit über dem schwarzblauen See zu unfern Füßen.
6) Die Ortlerspitze (3900 m) und der Großglockner (3800m)
sind in den Ostalpen die höchsten Berge. Der Ortler fällt steil nach der Etsch
und Adda ab und bildet daher wie die Jungfrau eine gewaltige Bergpyramide,
die von großen Gletschern umgeben ist. Der Großglockner ist die höchste Erhebung
der Hohen Tauern. Sie breiten sich zwischen der oberen Salzach und der obe-
ren Drau aus. Im Großglockner tritt noch einmal die Großartigkeit der Alpen
in voller Pracht auf. Hier vereinigen sich gewaltige Höhen mit großen Gletschern
und zahlreichen Wasserfällen. Weiter nach Osten sinken die Höhen rasch und
die Gletscher verschwinden bald ganz. Der Großglockner ist der riesige Grenz-
stein zwischen Tirol, Salzburg und Kärnten.
12. Die Täler der Alpen.
Die Alpen sind von zahlreichen Tälern durchzogen. Wir unterscheiden
Längs- und Quertäler.
a) Die Längstäler ziehen so, wie die Hauptkämme streichen. Solche
Längstäler sind die Täler der Rho n e bis zum Genfer See, des Rheins
bis Chur, des Inns bis Kufstein; auch die Oberläufe der Salzach und
Enns, der M u r, der Drau und Sau sind Längstäler. Kürzere Längs-
täler finden wir noch manche, wie z. B. den obersten Lauf der Etsch, das Puster-
tal (Rienz) u. a. Die Längstäler sind die größten und wichtigsten Täler der
Alpen. Sie sind nicht bloß lang, sondern auf größer:: Strecken auch breit und nur
sanft geneigt. Am längsten sind die Längstäler der Ostalpen, wie das Engadin
(Inn) usw. Bei Innsbruck ist das Jnntal gegen eine Stunde breit. Darum
sind die Längstäler auch am meisten angebaut und am dichtesten besiedelt.
5) Die Q u e r t ä l e r laufen quer zur Hauptrichtung der Hauptketten.
I Die Alpen.
29
Sie sind in der Regel nicht sehr lang und steigen auch oft rasch an. Die wichtig-
sten Quertäler sind die der E t s ch und R e u ß; auch derTessin bildet ein Quer-
tal und ist sozusagen die Fortsetzung des Reußtales nack Süden zu. Der Rhein
ist vom Bodensee bis zum Splügenpaß ein Quertal. Seine südliche Fortsetzung
ist das Tal der Adda. Das Quertal der Etsch setzt sich durch die Eisach nach Norden
zu fort. Nördlich vom Brennerpaß bildet ein Nebenfluß des Inns die weitere
Fortsetzung. Auch die Rhone, Salzach, Enns und der Inn bilden streckenweise
Quertäler. Die Quertäler snrd oft recht eng und bilden an manchen Stellen
fast unzugängliche Schluchten, Klüfte oder Klausen.
Weiter unterscheidet man Haupt- und Nebentäler. Haupt-
täler werden die großen und tiefen Täler genannt, welche bis zum Ausgange
des Gebirges reichen. So sind die Täler des Rheins, der Rhone, des Inns, der
Drau, der Sau, der Etsch, des Tessins u. a. Haupttäler. Sie sind meist reich an-
gebaut und dicht besiedelt. Auf der Südseite gedeihen in ihnen außer vorzüg-
lichem Obst und Wein sogar Feigen und Mandeln.
Nebentäler gehen seitwärts vom Haupttale aus. Ein Haupttal
bildet mit allen Neben- und Seitentälern ein zusammenhängendes und zu-
saramengehöriges Talnetz. Das Haupttal ist die Hauptader für alle Bewohner
und den Verkehr des ganzen Talnetzes. Weitet sich ein Tal sehr aus, so bildet
es ein Kesseltal. Oft liegt ein anderes Kesseltal eine Stufe höher; verbunden werden
sie oft durch eine enge Schlucht oder durch einen Wasserfall. In den Kesseltülern
legte man vor allem Ortschaften an. Hier findet sich ja Raum für die Ansiede-
lungen.
13. Die Alpenstraßen.
Die Alpen sind eine hohe und breite Gebirgsmauer. Sie trennt dadurch
die Völker und Länder. Doch streben die Völker nach Verkehr; sie wollen Güter
aus einem Land ins andere schaffen. So war das schon in alten Zeiten; heute
ist das noch viel mehr der Fall. Mochten die Alpen auch hoch und unwirtlich
fein, der kühne Mensch, der wagemutige Händler ließ sich nicht abschrecken. Zu-
nächst drang er in die breiteren Täler ein und besiedelte sie. Dann drang er in
die Neben- und Seitentäler ein. Immer höher stiegen die Menschen ins Gebirge
hinauf. Endlich kamen sie auf den Kamm. Dort gibt es niedrigere Stellen.
Man nennt sie Pässe oder Joche (Sättel). Pässe heißen sie, weil man hier die
Alpen passieren, d. h. übersteigen kann. Joch oder Sattel nennt man eine solche
Stelle, weil sie einen joch- oder sattelartigen Einschnitt bildet.
Meistens zogen in alter Zeit nur kleine Händlerscharen über die Alpen.
Zuweilen aber kamen auch Heere, welche über die Alpen in Italien eindringen
wollten. Berühmt ist z. B. der Übergang Hannibals (219 v. Ehr.). Er kam mit
einem Heere von 60 000 Mann und 37 Elefanten aus Spanien und war durch
Frankreich gezogen, um nun in Norditalien einzufallen. Aber das hohe Gebirge
stellte sich ihm entgegen. Kein Weg, kein Steg erleichterte den Übergang. Diese
Menschenmassen mit ihren Wagen, mit ihrem Gepäck sollten nun über die schnee-
und eisbedeckten Berge geschafft werden! Bald verschütteten ungeheure Schnee-
massen ganze Abteilungen; bald stürzten Pferde und Elefanten in tiefe Abgründe
hinab; bald überfielen die wilden Bergvölker die ermatteten Krieger. Der Zug
über die Alpen dauerte 15 Tage. 30 000 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Da sehen wir, wie beschwerlich die Alpenmärsche ehemals waren. Wenn es
nicht ganz nötig war, vermied man den Übergang über die Alpen. Da die Römer
Frankreich und große Teile von Deutschland unterworfen hatten, brauchten sie
30
I Die Alpen.
auch Alpenübergänge. Sie lnachten daher einige Pässe gangbar und fahrbar.
Später zogen die deutschen Kaiser mit ihren Heeren über die Alpen. 144 solcher
Kaiserzüge hat es gegeben. Am meisten benutzte man den Brennerpaß
in Tirol (Etsch—Eisack—Sill—Inn oder Bozen—Innsbruck). Die deutschen
Kaufleute holten viele Waren aus Venedig und Genua. Sie luden sie gewöhn-
lich auf Saumtiere. Der Saum (Packsattel) ist die Traglast eines Tieres. Mit
Wagen konnte man fast keinen Paß überschreiten. Dazu gab es noch etliche zu enge
und zu gefährliche Stellen. Stürzten doch viele Saumtiere samt ihrer Last in
die Tiefe. Fuhr man aber doch aus einem Wagen, so mußte man vor solchen
engen Stellen den Wagen auseinandernehmen und ihn hinter ihnen wieder
zusammenstellen.
Erst seit zweihundert Jahren baute man bessere Alpenstraßen. Wandern
wir nun im Geiste über den St. G o t t h a r d. Am Südende des Vierwald-
stätter Sees (Flüelen oder Altdorf) treten wir unsere Fußreise an. Wir folgen
der Reuß aufwärts. Anfangs geht es ganz gut. Darm wird das Tal enger. Oft
reichte der Platz zur Straße nicht hin. Da mußte man den Felsen wegsprengen,
um Raum für die Straße zu gewinnen. Im Zickzack führt sie am Abgrunde
hin zwischen hohen Felsen. Bald zieht sie sich rechts, bald links am Ufer hin.
Mit großen Mühen und Kosten hat man viele Brücken erbaut. Die berühmteste
davon ist die neue Teufelsbrücke. Unter ihr braust die Reuß und schäumt
den Gischt empor. Die Arbeiter mußten an Seilen, über dem tiefen Abgrunde
hängend, arbeiten wie die Spinnen am Faden. Ungeheure Felsblöcke mußten
zuerst in die Tiefe versenkt werden. Welche Mühsal! Die alte Tenfelsbrücke
ist eingestürzt. Dafür baute man eine größere neue. Wir stehen unbesorgt auf
ihr und sehen in die schäumende Reuß, deren Gischt hoch empor spritzt. Wir gehen
weiter und gelangen ans Urner Loch. Das ist ein in den Felsen gesprengter
Gang (65 m lang, 4 m hoch, 3 m breit). Ehemals war hier eine Kettenbrücke,
die von: Gischt der Reuß bespritzt ward und darum stäubende Brücke
hieß. Ein schmuckes Wiesental öffnet sich unserm Auge. Da ist der Bannwald,
der den Ort gegen die Lawinengefahr schützt. Dann steigt die Straße steiler an.
Immer öder und kahler wird die Gegend. Die Baumgrenze haben wir bereits
überschritten. Wir sind 2100 m überm Meeresspiegel. Es ist die Paßhöhe des
St. Gotthards. Hohe Felsen türmen sich links und rechts auf. Wir schreiten
weiter; bald senkt sich der Weg. Wir stehen vor dem Gasthof und vor dem Hospiz.
Im Hospize nahm man ehemals arme Reisende unentgeltlich auf. Schroff fällt
die Straße nach Süden zu ab. Bald sind wir im Tale des brausenden Tessins.'
Bald belebt sich die Gegend wieder. Nadelwälder leuchten uns entgegen. Dann
kommen wir in ein warmes Tal, wo Nuß- und Kastanienbäume rauschen. Rüstig
schreiten wir weiter. Nach wenigen Stunden sehen wir das Land, wo die Zitro-
nen blühen, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, wo sanft der Wind weht
und hoch der Lorbeer steht. Wir sind im sonnigen Italien.
Jetzt versteht ihr auch Schillers Berglied.
1. Am Abgrund leitet der schwindlichte Steg.
Er führt zwischen Leben und Sterben.
Es sperren die Riesen (schroffe Fe.sen) den einsamen Weg
Und drohen dir ewig Verderben.
Und willst du die schlafende Löwin (Lawine) nicht wecken,
So wandle still durch die Straße der Schrecken.
2. Es schwebt eine Brücke (Teufelsbrücke), hoch über den Rand
Der furchtbaren Tiefe gebogen.
I. Die Alpen.
31
Sie ward nicht erbaut von Menschenhand *),
Es hatte sich's keiner vermögen!
Der Strom braust unter ihr spät und früh,
Speit ewig hinauf und zertrümmert sie nie.
3. Es öffnet sich schwarz ein schauriges Tor, (Urner Loch).
Du glaubst dich im Reiche der Schatten,
Da tut sich ein lachend Gelände hervor,
Wo der Herbst und der Frühling sich gatten.
Aus des Lebens Mühen und ewiger Qual
Möcht ich fliehen in dies glückselige Tal.
4. Vier Ströme") brausen hinab m das Tal,
Ihr Quell, der ist ewig verborgen.
Sie fließen nach allen vier Straßen der Welt,
Nach Abend, Nord, Mittag und Morgen,
Und wie die Mutter (der Gletscher) sie rauschend geboren,
Fort fliehn sie und bleiben sich ewig verloren.
5. Zwei Zinken^) ragen ins Blaue der Luft,
Hoch über der Menschen Geschlechter,
Drauf tanzen, umschleiert mit goldenem Duft,
Die Wolken, die himmlischen Töchter.
Sie halten dort oben den einsamen Reihn.
Da stellt sich kein Zeuge, kein irdischer, ein.
6. Es sitzt die Königin *) hoch und klar
Auf unvergänglichem Throne,
Die Stirn umkränzt sie sich wunderbar
Mit diamantener Krone;
Drauf schießt die Sonne Pfeile von Licht,
Sie vergolden sie nur und erwärmen sie nicht.
Wandern wir jetzt im Geiste über den Splügen. Vor etwa 100 Jahren
(1818—22) hat man den Paßweg mit einer Kunststraße versehen, die 60 km
lang ist. Bei Bregenz am Bodensee beginnen wir unsere Reise. Den Rhein
aufwärts gehend, kommen wir bis C h u r. Oberhalb dieser Stadt biegen wir
ins Tal des Hinterrheins ein. Dieser bildet drei übereinander liegende Talstnsen;
sie sind durch enge Schluchtentäler miteinander verbunden. Die Kesseltäler sind
hübsch angebaut. Plötzlich verengt sich (bei Thusis) das Tal des Hinterrheins;
es scheint ganz zu verschwinden. Eine Bergmasse von mehr als 300 m Höhe
sperrt es ab. Da sehen wir den engen Felsenspalt, durch den der Rhein schäu-
mend und tosend hervorstürzt. Eine Stunde ist diese Schlucht lang. Sie ist oft
so eng, daß der Fluß den ganzen Spalt ausfüllt. Wie sollte man hier durchkommen l
Es war ein schlimmer Weg, eine Via mala. Darum führte die Hauptstraße über
die Höhen. So war es im ganzen Mittelalter. Die Kaufherren wie die Pilger,
die Kreuzfahrer und die Kaiser mit ihren Heeren mußten hier die steilen Höhen
erklimmen, um den schlimmen Weg, das verlorene Loch zu umgehen. So steil
und abschüssig er war, er war doch noch ein „guter Weg" (Via bona), wo man
seines Lebens sicher war.
Die Splügenstraße meidet die Höhe; aber sie meidet auch die Talsohle.
0 Angeblich hatte der Teufel mitgewirkt. Er wollte als Lohn die erste lebendige
Seele, welche die Brücke überschreiten würde. Da ließen die klugen Bauern zuerst
einen Hund darüber gehen. Er ward des Teufels.
0 Reuß, Rhein, Tessin, Rohne; drei davon fließen in andere Meere und ver-
lieren sich so.
b) Die höchsten Spitzen des St. Gotthard; sie werden selten erstiegen.
0 Die in Firnschnee und ewigem Eis erglänzende Spitze des Matterhorns; der
Firnschnee ist die diamantene Krone.
32
I. Die Alpen.
Die Höhe meidet sie, um den Berg abzuschneiden: die Talsohle meidet sie, um
gegen Überschwemmungen geschützt zu sein. 100 m über dem Flusse führt
sie am Talrande hin. Bald hängt sie auf dieser, bald auf jener Seite des Rheines,
bald setzt sie auf wundervollen Brücken über den schäumenden Rhein, bald führt
sie in Tunneln durch vorstehende Felsen, bald tritt sie auf Vorsprünge frei heraus,
bald schwebt sie aus künstlichem Mauergewölbe am Abhange. Sieht man auch
oft den Rhein in der Tiefe nicht, so hört man doch sein Toben und Wüten. Das
all.s läßt den fremden Wandrer erschauern, so sicherund bequem die „schlimme"
Straße auch heute ist. Eine Mauer verhütet das Abstürzen der Wagen und
Wandrer in die Tiefe.
Froh atmen wir auf, wenn wir endlich in das freundliche Tal hinauf-
kommen, wo uns lachende Menschen und wallende Getreidefelder begrüßen.
Doch geraten wir bald wieder in eine solche enge und schaurige Schlucht. Dar-
nach gelangen wir in den Ort Splügen, 1450 m über dem Meere und 700 m
höher als Thusis, wo der schlimme Weg beginnt. Doch steigt nun der Weg erst
recht steil an. Durch öde Täler und Felswüsieneien führt er jetzt. In Zickzack-
und Schlangenlinien winden wir uns empor. Dadurch verlängert sich der Weg
ganz beträchtlich, aber wir steigen allmählicher. Keuchend ziehen die Pferde
den schweren Wagen. Oft halten sie an den Abschlägen. Bei 2100 m haben wir
die Paßhöhe erreicht. Die Baumgrenze liegt schon ein tüchtig Stück hinter uns.
Nun geht es abwärts. Hier sind die Täler noch tiefer ausgegraben, die Berg-
wände noch höher, die Klüfte und Spalten noch jäher. Darum waren die Straßen-
bauten auch schwieriger. Die Natur hat aber von Splügen aus einen tiefen
Spalt ausgehöhlt, der auf dem kürzesten Wege ins Tal hinabführt. Die Straße
geht deshalb mehr über die Berge und kommt erst später ins Tal.
Schutzvorrichtungen sind an den Alpenstraßen durchaus unent-
behrlich. Geländer und Mauern müssen vor dem Absturz in die Tiefe schützen.
Todbringend sind vor allem die fürchterlichen Schneestürme. Insbesondere
werden von ihnen nur manche Gegenden heimgesucht. Hier hat man an der Straße
feste, steinerne Zufluchtshäuser errichtet. Aller Stunden, ja sogar aller halben
und selbst Viertelstunden findet sich ein solches Schutzhaus. Die meisten stehen
leer und sind stets offen. Naht ein Schneesturm, dann flüchtet der Wanderer
oder Fuhrmann in das nächste Schutzhaus. Im Winter hält man gespaltenes
Holz vorrätig, wohl auch Brot und ein Bündel Heu. Auf manchen Schutzhäusern
sind Glocken, die während des Sturmes oder bei trübem Wetter geläutet werden,
um dem irrenden Wanderer die rettende Zuflucht anzuzeigen. In manchen wohnt
ein Straßenwärter.
Gefährlich werden vor allem Lawinen und Schneestürze. Damit sie die
Straßen nicht verschütten, hat man sie streckenweise überdacht und überwölbt.
An der Splügenstraße ist ein solches Schutzgewölbe 500 m lang und 5 m hoch.
Welche Kosten hat es verursacht! WO viele Menschen sind aber dadurch gerettet
worden! Doch lehren uns die zahlreichen Kreuze oder Marterl am Wege, wieviel
Menschen dennoch ihren Tod gefunden haben.
Die Liebe höret nimmer auf und waltete besonders hier oben, wo der
Mensch stündlich vom Tode umfangen ist. Im Mittelalter stiftete und baute man
Hospize, freie Herbergen. Berühmt war und ist das Hospiz am Großen
St. Bernhard. Der Paß des großen St. Bernhard führt östlich vom Mont-
blanc aus dem Rhonetal über die Penninischen Alpen in das Tal eines rechten
Nebenflusses des Tessins (der Dora Baltea). Trotzdem dieser Paß bis 2500 m
emporführt, ward er schon seit alter Zeit gern benutzt. In der Totenkapelle
Die Gotthardbahn bei Wassey.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachs-
muth in Leipzig erschienen.
Die Furkastraße.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Tiroler Dorf mit Volkstypen.
Als großes farbiges Anschauungsbtld im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Die Adelsberger Grotte.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
I. Die Alpen.
33
setzte man alle Verunglückten bei, so wie man sie fand. Die Leichname verwesten
in der Kälte nicht, sondern schrumpften bloß ein. Nicht weit davon erbaute man
ein Kloster oder Hospiz, eine Zufluchtsstätte für irrende und gefährdete Wanderer.
Hier oben ist niemals Sommer. Selbst im Juli gefrieren oft die Fenster. Einen
Tag um den andern hüllt ein undurchdringlicher Nebel die Erde in Finsternis.
Täglich gehen zwei Mönche, von Hunden begleitet, über die gefährlichsten Stellen
des Passes vom Hospize bis zu den untersten Schutzhütten und zwei von unten
nach oben, so daß sie sich halbwegs begegnen. Bei Unwetter verdoppelt man die
Zahl der Retter. Die Hunde sind sorgfältig abgerichtet, und wittern den Fremden
von weitem. Sie tragen um den Hals ein Körbchen, worin sich Brot, Käse und
Wein befinden. Haben sie einen Verirrten gefunden, so laufen sie zurück und
holen die Mönche herbei. Ehemals hatte man eine besonders große Hunderasse,
echte Bernhardiner. Sie sind ausgestorben. Der eine davon hat 40 Menschen
das Leben gerettet; ihn hat man ausgestopft und zeigt ihn nun im Museum zu
Bern. Die heutigen Bernhardiner dagegen sind den alten nahe verwandt, groß
von Gestalt, haben starke Knochen, eine breite Brust und eine kurze, gewaltige
Schnauze, rauhe lange Haare und außerordentlich feine Sinne und sind uner-
müdlich und unwandelbar treu.
Jetzt stehen die Schutzhütten durch Fernsprecher mit dem Hospiz in Ver-
bindung. Deshalb kann man jedem leicht Hilfe bringen. Der Paß wird noch
heute stark besucht. Neben dem Hospiz hat man daher ein Gasthaus erbaut.
Tausende bewirtet aber alljährlich noch immer das Hospiz umsonst, arme
Pilger, arme Reisende und Arbeiter.
Diese Kunststraßen über die Alpen waren ein bedeutender Fortschritt;
denn sie erleichterten den Waren- und Güterverkehr ungemein. Täglich eilten
Postwagen hin und her. Dazu kamen schwere Last- und Frachtwagen und große
Viehherden.
Im Spätherbst begann das Schlittenfuhrwerk, wenigstens oben auf den
höheren Strecken. Freilich konnte nur ein gesunder Mensch die Fahrt in dem
offenen Schlitten wagen. Jeder Reisende erhielt eine dicke Büffelhaut, die ihn
gegen Regen und Schnee, sowie gegen Wind und Kälte schützte. So ging es im
Schlitten bis'zu dem Orte, wo man wieder das Räderfuhrwerk benutzen mußte.
Männer schaufelten eine Bahn aus. Hohe Schneewälle erhoben sich zu beiden
Seiten. An Ausweichen fuhren die entgegenkommenden Schlitten vorüber;
denn die Bahn war nur einen Schlitten breit. Froh war man, wenn man nicht
im frisch gefallenen Schnee stecken blieb und glücklich das nächste Hofpiz erreichte.
Außer den Kunststraßen gab es und gibt es noch Saumpfade und Fuß-
wege. Die Saumpfade sind für Lasttiere gangbar. Jedes Tier hatte einen breiten
Sattel aus Holz, der auf beiden Seiten weit herabreichte. Gleichmäßig ward die
Last nun darauf gelegt. Oft trug ein starkes Pferd bis 3 Zentner. Da die Sättel
weit abstanden, brauchten die Saumtiere schon ziemlich breite Wege. Oft stießen
sie mit ihrer Last an einen hervorstehenden Felsen und stürzten dann in den Ab-
grund. Jeder Säumer führte 6—7 Pferde. Ganz schmale Pfade dienten nur
Fußgängern. Sie find oft außerordentlich steil und führen oft stundenweit über
Gletscher und Eisfelder. Namentlich Hirten, Boten, Gemsjäger und Wurzel-
gräber benutzten sie.
14. Die Eisenbahnen in den Alpen.
Lange genügten die großen Kunststraßen; aber immer größer schwoll der
Verkehr an. Deshalb forderte man auch Bahnen, welche nicht bloß in die großen
Ratgeber I. Franke, Erdkunde. Teil 2. Z
34
I. Die Alpen.°
Alpentäler hineinführten, sondern auch über sie wegführten. Man wollte Bahnen,
die von Italien nach Österreich und Deutschland führen. Für Österreich waren
solche Bahnen am meisten notwendig. Dazu sind die Ostalpen auch am niedrig-
sten. Ihre Pässe gehen nicht so hoch hinauf wie die der Westalpen. Österreich
baute daher auch die ersten Bahnen. Zuerst legte es die Semmeringbahn
an, welche Wien mit Triest verbindet. Das war ein gewaltiges Bauwerk. Nicht
weniger als 15 Tunnel und 16 Überbrückungen waren nötig. Der längste Tunnel
ist 1500 m lang und führt unter dem Semmeringpaß hindurch.
Darnach baute Österreich die Brennerbahn. Sie führt das Jnntal
hinauf und steigt dann in das Etschtal hinab. Sie durchbricht in 27 Tunneln die
Bergmassen. Sie steigt bis zum Brennerpaß hinauf (1360 m).
Nun baute Frankreich eine Bahn, die von Grenoble nach Turin führt.
Diese Bahn mußte durch den hohen Mont Cenis geführt werden. Da war
ein großer Tunnel nötig; 12 000 m ist dieser Durchbruch lang.
Die für Deutschland wichtigste Alpenbahn ist die G o t t h a r d b a h n.
Sie beginnt am Vierwaldstätter See und führt bis zum Langen See. Bis
Göschenen benutzt sie das Reußtal. Da hat sie die Höhe von 1150 m er-
reicht. Über den Gotthardpaß (2100 in) konnte man sie nicht führen; daher war
ein gewaltiger Bergdurchstich nötig, ein Tunnel, der noch größer ist, als der
Mont-Cenis-Tunnel. Dieser reicht von Göschenen bis Airolo und ist 15 000 m
lang. Um den Tunnel schneller fertig zu bringen, fing man gleichzeitig im Norden
und Süden an. Nun bohrte und hackte man immer tiefer in den Berg hinein.
Immer härter ward das Gestein; oft kam man an einem Tage nur wenige
Meter weit vor. Nur mit Sprengpulver und dem Maschinenbohrer konnte man
arbeiten. Dann kam loses und lockeres Gestein. Es stürzte nach und verschüttete
die Maschinen und Arbeiter. Unerträglich war häufig die Hitze. Dazu kam die
schlechte Luft. Die Pulverdämpfe verschlechterten sie nur noch mehr. Deswegen
mußten besondere Maschinen frische, kalte Luft zuführen. Manchmal quoll Wasser
hervor Bis an die Knie standen die Arbeiter im Schlamm und Wasser.
Trotzdem arbeitete man rüstig weiter. So genau hatten die Baumeister
alles berechnet und ausgemessen, daß man sich in der Mitte traf. Wie groß war
die Freude, als die letzte Scheidewand durchstoßen wurde! Nachdem sich Rauch
und Staub, die durch die Dynamitpatronen erzeugt worden waren, verzogen hat-
ten, fielen sich die Arbeiter freudejauchzend in die Arme. Nun mußte der Durch-
bruch noch fest vermauert werden; dazu waren Lichter anzubringen und was
sonst noch dazu gehört. 10 Jahre hat man am Tunnel gearbeitet.
Große Bauwerke waren außer dem Gotthardtunnel zu errichten. Vor
Göschenen (bei dem Dorfe Wasen) steigt das Reußtal steil an (500 m), so steil,
daß die Bahn diesem Aufstieg nicht folgen kann. Man mußte die Bahn in großen
Bogen emporführen. Da das im Tale unmöglich war, legte man Tunnel in großen
Kehren und Schleifen an: Siehe Abbildung Seite 35.
So sieht man die Kirche von Wasen bald neben sich, bald unter sich, bald
über sich, bald links, bald rechts. Der fremde Fahrgast kann dadurch ganz irre
werden. Aber immer höher hat sich aufwärts die Bahn gewunden. An großen
Brücken fehlt es nicht; muß doch die Bahn das Tal öfter kreuzen. Früher brauchte
der wohlbespannte Eilwagen von Göschenen bis Airolo 5—6 Stunden, jetzt
durchbraust der Zug den Tunnel in 20—30 Minuten. Wer zum ersten Male
ihn durchfährt, dem wird im Herzen heimlich ein wenig bang. Trüber und trüber
brennen die Wagenlampen. Wie Irrlichter huschen die im Tunnel brennenden
Lampen vorüber. Immer wärmer wird es im Tunnel, selbst im Winter. Endlich
|I.g®ie Alpen.
35
ist der Scheitelpunkt mit 1150 m Höhe erreicht. Von da an geht es abwärts.
Da zeigt sich ein lichter Punkt; es geht dem Tage nun schnell entgegen. Jeder
atmet erleichtert auf, wenn ihn das rosige Licht wieder umstrahlt.
Noch größer als der Gotthardtunnel ist der S i m p l o n t u n n e l. Der
Simplonpaß verbindet das Rhonetal bei Brieg mit dem Langen See und er-
reicht eine Höhe von 2000 m. Napoleon ließ über ihn eine breite Kunststraße
bauen. Es war ein staunenswertes Kunstwerk. 250 größere und 350 kleinere
Brücken mußten errichtet werden; dazu kamen noch 10 Tunnel. Nun kam man
auf den Gedanken, auch eine Simplonbahn zu erbauen. Da war ein Tunnel
von beinahe 20 km notwendig. Gewiß war man im Tunnelbau seitdem mehr
erfahren. Aber der Simploutunnel machte unendliche Schwierigkeiten. Die
Hitze stieg im Innern auf 55° C. Da konnten die Arbeiter nur kurze Zeit arbeiten.
Dann brachen solch gewaltige Wassermengen hervor, daß die Arbeiter sich kaum ret-
ten konnten. Doch schritten die Arbeiten rüstig fort. In knapp 6 Jahren war der
lange Durchbruch vollendet. Die Simplonbahn verbindet Malland mit Genf
und weiter mit Paris.
Die großen Alpenbahnen haben eine große Bedeutung für
den Verkehr. Sie können leicht und bequem die Menschen aus dem Norden
nach dem Süden und aus dem Süden nach dem Norden befördern. Die früheren
Gefahren sind weggefallen. Lawinen, Schneestürze, Schneestürme, Nebel
und andere Gefahren drohen ihnen nicht mehr. Darum reisen jetzt viel mehr
Menschen aus Deutschland nach Italien und viel mehr aus Italien nach Deutsch-
land. Eine Reise von Berlin nach Rom kann man jetzt bequem im Schlaf- und
Speisewagen zurücklegen und braucht dazu nicht mehr als 24 Stunden. Wer
hätte so etwas früher gedacht? Wie beschwerlich war da eine Romreise!
Sehr zugenommen hat auch der Warenverkehr. Jetzt befördern die Alpen-
bahnen schnell und sicher und billig die Weintrauben, Apfelsinen und Zitronen
Italiens nach Deutschland. Das war früher gar nicht möglich; die Fahrt dauert
heute nur gegen 2 Tage, denn frisches Obst wird schnellstens befördert. Dazu
ist die Fracht verhältnismäßig billig. So können wir heute frische italienische
3*
36
I. Die Alpen.
Trauben, Apfelsinen und Zitronen essen und frische Blumen aus Italien be-
ziehen. Eßt ihr eine saftige Apfelsine, so denkt daran, daß sie vielleicht durch
den Gotthardtunnel gefahren worden ist. Vielleicht hat sie auch die Brennerbahn
befördert. Die Bahnen bringen noch viele andere Waren aus Italien zu uns,
Wein in Fässern, Ol, getrocknete Früchte, Seide, Marmor usw. Dafür schaffen
sie auch Waren aus Deutschland nach Italien, z. B. Kohlen aus dem rheinischen
Kohlengebiete, Maschinen und andere Erzeugnisse unseres Erwerbfleißes. Die
Alpen hindern jetzt nicht mehr den Warenaustausch zwischen dem Norden und
dem Süden. Man hat ihren steinernen Leib durchbohrt und bequeme Verkehrs-
wege geschaffen. Der Mensch siegt eben über die Natur.
15. Die Alpenbewohner.
In den tiefen und tieferen Tälern kann nmn A ck e r - und Gartenbau
treiben. Hier sind die Alpen auch am dichtesten besiedelt. Je höher die Täler
hinausreichen, desto mehr nehmen der Acker- und der Gartenbau ab. Die schmale
Talsohle wird mehr und mehr nur noch als Wiese benutzt. Die Felder an den
Abhängen werden immer steiniger. Zwar verwittert fortwährend etwas Fels-
gestein, aber die Regengüsse schwemmen auch alljährlich viel gutes Erdreich weg.
Darum sind auch die Erträge der Felder nur gering. Dafür widmet man sich
mehr und mehr der Viehzucht.
Zwischen der Baum- und Schneegrenze liegen ausgedehnte Weideplätze,
die Matten oder Almen oder auch Alpen. Ihr Erdreich bildet nur eine
dünne Decke; dazu sind sie noch mit zahllosen Steinen bedeckt. Dennoch wächst
hier noch viel Gras; regnet es doch häufig in den Alpen. Wie oft feuchten auch
nässelnde Nebel die Matten an! Zwar wird das Gras nicht sehr hoch, aber es
steht dicht und enthält viele gewürzreiche Kräuter. Die Bergweiden liefern daher
ein gutes, bekömmliches Weidefutter.
Wenn es irgend geht, mäht man das Gras und macht es zu Heu, damit
man Vorräte für den langen Winter hat. Es gibt auch W i l d h e u e r, die in
der Wildnis heuen oder Heu machen. Sie sind arme Leute, die keine
Matten und Almen besitzen, aber ein paar Ziegen halten. Sie steigen nun auf
solche Stellen, wohin sich das weidende Vieh nicht wagt. Im Steigen und Klettern
sind sie ungemein geübt. Das freie Gras schneiden sie ab und tragen es auf
dem Mcken oder Kopfe nach Hause. Es ist das eine höchst mühselige und ge-
fährliche Arbeit. Zuweilen werfen die Wildheuer das Bündel den Abhang hinab
und nehmen es unten wieder auf. In der Sennhütte kehren sie ein, um zu rasten
und einen Schluck Milch zu sich zu nehmen.
Die entfernten und hochgelegenen Almen benutzt man als Sommerweiden.
Die Almen gehören bestimmten Eigentümern. Damm darf jeder Viehbesitzer
nur seine eigenen Almen abweiden lassen. Sind die gemästeten Kühe im Herbste
zurückgekehrt, so wird ein Teil davon verkauft, meist nach Welschland. Die Sennen
sind Kuhhirten, die Geißbuben aber Ziegenhirten.
Neben der Viehwirtschaft ernährt die Forstwirtschaft viele Älpler.
In den niederen und mittleren Tälern der Alpen gibt es stattliche und große
Wälder, Laub- und Nadelwälder. Freilich ist das Fortschaffen der großen Stämme
häufig recht schwierig. Wenn es angeht, flößt man das Holz ins Tal hinab. Viel-
fach rollt oder schleift man die Stämme die steilen Abhänge hinab. Aber Fels-
blöcke halten sie nicht selten auf. Man hat daher Rutschbahnen für die Balken
und Baumstämme hergestellt. Sie heißen Holzriesen. Tausend Schritt
L Die Alpen.
37
und mehr gehen sie in die Tiefe. Oben stapelt man das Holz auf. Das ist die
Aufkehr. Die Riese besteht aus langen, glatten Holzstämmen. An der Seite
befestigt man Wehren oder Sattel, damit der hinabgleitende Stamm nicht aus-
weichen kann. In der feuchten Jahreszeit wird das Holz ausgekehrt oder hinab-
gelassen. Im Herbste rutschen die Stämme am besten, weil da die Unterlage
bereift ist.
Wurzelgräber sammeln die Heilkräuter und wagen sich dabei selbst
an die gefährlichsten Stellen. Die I a g d ernährt gleichfalls viele Älpler. Freilich
hat der einstige Wildreichtum stark abgenommen; deswegen gibt es jetzt in allen
Alpenländern strenge Schongesetze. Man darf nur zu gewissen Zeiten jagen.
Berühmt ist die G e m s e n j a g d. Die ziegenartige Gems lebt in Rudeln von
20 und mehr Stück. Auf hervorspringendem Felsen hält ein Gemsbock Ausschau.
Wittert er eine Gefahr, stampft er mit den Füßen und warnt mit gellendem
Pfiff. Behend entflieht die Herde. Von Fels zu Fels springend, flüchtet sie in
unzugängliche Klüfte. Eine Gemse springt 4—5 in und verfehlt selten den Fels.
Im Sommer ziehen sich die Gemsherden in die höheren Gebirgsstufen zurück,
im Winter gehen sie tiefer herab und suchen sich in den Wäldern ihre kümmerliche
Nahrung. Die Gemsjagd ist sehr gefährlich. Ein Gemsjäger muß an den schroff-
sten Abhängen hinklettern und über Schneefelder und Gletscher wandern können.
Im Schießen muß er äußerst sicher und gewandt sein. Die Gemsen sind ungemein
scheu. Fehlt er, dann kriegt er an diesem Tage selten eine Gemse in Schußweite.
Unwetter, Nebel und Stürme können den Jäger überraschen. Der erlegten Gemse
bindet er die Füße zusammen und hängt sie über die Schulter. So muß er den
gefährlichen Abstieg machen. Da ist es kein Wunder, wenn einer dabei verunglückt.
Schrecklich ist es, wenn er mit zerschmettertem Bein hilflos da liegt! Niemand
hört seinen klagenden Hilferuf! Ein Glück für ihn, wenn ihn jemand zufällig
findet, oder wenn seine geängstigte Gattin Retter aussendet, die seiner gewahr
werden.
Die Holzschnitzer sind namentlich zur Winterszeit tätig. Während
des Sommers sind sie Bauern, Hirten. Tagelöhner.
Die Alpen haben im ganzen keine bedeutenden Bodenschätze. Stein-
brüche gibt es natürlich genug. Man bricht Granit und Schiefer, Kalk und Marmor.
Gold und Silber findet man nur wenig. Steinkohlen sind gleichfalls nicht reich-
lich vorhanden. Braunkohlen bergen die Ostalpen in beträchtlicher Menge.
Dazu gibt es dort zahlreiche Lager von Eisenerzen. Darum ist auch dort eine
Eisenindustrie entstanden; man stellt Sensen, Messer und allerhand Handwerks-
zeug her. Außerdem findet man Blei und Quecksilber. Salz liefern vor allem
die Kalkalpen in Bayern und Salzburg, Steiermark und Oberösterreich. | y
Die Alpen erleichtern den Bewohnern das Leben nicht, im Gegenteil, sie
erschweren es ihnen vielfach recht, sie bedrohen ihr Leben, ihr Eigentum, ihre
Siedelungen. Dennoch lieben die Älpler ihre Heimat aufs höchste. Niemand
wird vom Heimweh mehr geplagt als der Älpler, niemand hat mehr Sehnsucht
nach der Heimat wie er! Ohne die himmelanstrebenden Felswände, ohne die
glänzenden Schneehäupter, ohne die tiefen Täler mit ihren grünen Matten,
ohne die tosenden Wasserfälle, ohne die spiegelklaren Seen, ohne die weidenden
Herden mit ihren lieblich schallenden Glocken, ohne das alles kann er nicht leben,
nicht glücklich, nicht heiter sein. Müssen auch viele zeitweilig in die Fremde, so
kehren sie doch so bald als möglich nach Hause zurück. In den Alpen erscheint ihnen
das Leben viel freier, viel reiner, viel vollkommener, viel herrlicher.
38
I. Die Alpen?
Die Alpenbewohner hängen von dem Alpengebirge
in mancherlei Hinsicht ab:
1. Das Gebirge schreibt ihnen die Beschäftigung vor (Acker- und Garten-
bau, Viehwirtschaft, Hirtenleben, Jagd usw.).
2. Das Gebirge zwingt sie oft zu harter Arbeit (Wegräumen des Schuttes,
Ausbessern zerstörter Wege und Felder, Wildheuer, Rutner usw.).
3. Das Gebirge macht ihnen Vorschriften bei der Anlage der Siedelungen
(Täler, Abhänge, im Schutz der Bannwälder usw.).
4. Das Gebirge erschwert ihnen den Verkehr (Fußpfade, Saumpfade,
Kunststraßen, Bahnen, Brücken, Tunnel, Schutzdächer usw.).
5. Das Gebirge verlangt gesunde, kräftige Menschen (Mut, Ausdauer,
Geschicklichkeit, Abhärtung, Genügsamkeit usw.).
6. Das Gebirge verlangt Gottesfurcht (in den zahlreichen Notfällen).
Die Alpenbewohner machen sich die Natur, das ge-
waltige Gebirge untertan:
1. Sie erweitern enge Schluchten, schlagen Brücken über furchtbare Ab-
gründe, durchbohren Berge.
2. Sie errichten Bannwälder und Schutzdämme und erbauen Schutz-
hütten und Schutzdächer.
3. Sie benutzen die Wasserkräfte zum Flößen, Mahlen, Holzsägen und zur
Gewinnung von elektrischem Licht und elektrischer Kraft.
4. Sie helfen einander in erbarmender Nächstenliebe.
16. Die Alpen im Vergleich zu unfern deutschen Mittelgebirgen.
1. Sie übertreffen sie durch ihre bedeutende Höhe: Schneekoppe 1600 nO
Montblanc 4800 ra. Sehr viele Pässe in den Alpen ragen über 1600 m empor-
2. Sie besitzen einen außerordentlichen Wasserreichtum: Seen,
Flüsse, Bäche; die Gletscher der Firnfelder bringen nebst den reichen Nicderschlä-
gen diesen hervor.
3. Sie zeichnen sich aus durch ihre großartige Natur und ihre
Naturschönheiten: schroffe Felswände, tiefe Abgründe, schneeglänzende
Gipfel, große Gletscher und Firnfelder, tosende Wasserfälle, schauerliche Klüfte,
klare Seen, grüne Matten, liebliche Täler usw.
4. Sie haben gewaltige Naturereignisse: Lawinen, Wild-
und Wetterwasser, Bergstürze, Schneestürme, Föhn.
5. Sie besitzen eigenartige Tiere und Pflanzen: Gemfen usw.
6. Sie bergen Wunderwerke des Wege - und des Bahn-
baues: Eotthardtunnel, Simplontunnel, Montcenistunnel usw.
7. Sie haben eine eigentümliche Bevölkerung. Sie sprechen
Deutsch oder Romanisch oder Slawisch. Es gibt etwa 3 Mill. Deutsche,
3 Mill. Franzosen, Italiener und andere Welsche (Rätoladiner) und 1 Mill.
Slawen (Winden, Kroaten, Slowenen usw.)
17. Entstehung der Alpen.
Die Alpen sind höher als unsere Mittelgebirge. Aber die Alpen sind jünger
als sie; d. h. die Mittelgebirge waren schon vorhanden, als es die Alpen noch nicht
gab. Wie sind da wohl die Alpen entstanden? Früher war das Land, wo jetzt
die Alpen sind, fast eben. Tann hat eine unterirdische Kraft das Land allmählich
emporgehoben, höher und immer höher. Aber das Land ward nicht gleichmäßig
f II. Die Schweiz.
39
hoch gehoben. Sonst wäre es eine Hochplatte geworden. Wie ist das zugegangen?
Hier ist ein Tuch; ich halte es straff. So sah das Alpenland aus, ehe das Hoch-
gebirge da war. Jetzt schiebe ich die Hände zusammen. Da bilden sich Falten im
Tuche. Die Falten laufen nebeneinander her, dazwischen entstehen hohe Kämme.
Den Falten entsprechen die Täler; den Kämmen entsprechen die Gebirgsketten.
Beobachtet einen Apfel, wenn er brät! Die Haut schrumpft ein und bildet
Runzeln. Warum? Durch das Braten schrumpft die Kernmasse zusammen;
dadurch wird die Haut, die Schale zu groß; sie legt sich nun in Falten. Die Erde
schrumpft auch zusammen. Sie war früher — ganz früher — viel größer an Um-
fang. Mit der Zeit ward die Oberfläche zu groß. Sie legte sich daher in
Falten. So entstanden Berg und Hügel, sowie Täler und Senkungen.
Dort, wo der Po fließt, ist jetzt eine große Tiefebene. Hier sank vor langen
Zeiten das Land ein. Immer tiefer sank das Land ein Je mehr es einsank, desto
mehr drückten die eingesunkenen Schollen nach Westen und Norden. Sie drück-
ten so sehr, daß bogenförmig um das Potiefland Falten und Bodenwellen ent-
standen. Sie waren anfangs nur niedrig. Doch immer mehr sank das Land
am Po ein. Immer höher wurden daher die Falten und Wellen im Westen und
Norden emporgepreßt. Am höchsten wurden die allerersten Falten empor-
gestülpt; nördlich und südlich davon bildeten sich niedrigere Falten.
Diese Faltung hat nun nicht bloß hundert und tausend Jahre, sondern viele
Taufende, viele Zehntausende und Hunderttausende von Jahren angehalten.
Darum sind die Alpen ein so hohes Gebirge geworden.
Die Alpen waren früher viel höher als jetzt. Warum sind sie nicht so hoch
geblieben? Vielleicht find sie später wieder etwas eingesunken. Es ist nun schon
eine undenkbar lange Zeit verflossen, seitdem die Alpen bestehen. Jahr für Jahr
hat da das Wasser wieder viel abgetragen. Die Flüsse tragen in ihrem Wasser
viel Schutt und Schlamm mit fort. Man hat sich die Mühe gemacht, zu messen,
wieviel Kubikmeter das wohl sein mögen. Da hat man gefunden, daß drei Flüsse
(Rhone, Reuß und Linth) bis zu 200 000 cbm Geschiebe jährlich forttragen.
Die andern Flüsse tun dasselbe. Wieviel Land wird da in 1000, in 10 000 Jahren
fortgeschwemmt? Am Genfer See hat die Rhone in 2000 Jahren rund hemm
2 brn angeschwemmt
II. vie Schweiz.
1. Ihre Binnenlage.
Die Schweiz ist ein Binnenland und grenzt nirgends an ein Meer, aber
große Seen liegen an ihrer Grenze: im Nordosten der Bodensee, im Südwesten
der Genfer See, im Süden der Lange und der Luganer See. Diese Seen müssen
ihr das Meer ersetzen. Umschlossen wird sie von vier großen Staaten: im Norden
vom Deutschen Reiche, im Osten von Österreich, im Süden von Italien, im
Westen von Frankreich. Im Norden bildet der Rhein samt dem Bodensee die
natürliche Grenze, im Osten der Hochrhein samt den rätischen Alpen, im Süden
die Walliser und Lepontischen Alpen, im Westen der lange Gebirgszug des Schwei-
zer Juras. So nimmt die Schweiz den mittleren Teil der Alpen ein samt dem
nördlichen Vorgelände. Freilich ist die Grenze nicht regelmäßig; namentlich im
Süden macht sie viele und große Ausbuchtungen und Einschnitte, und im
Norden reicht sie bei Schaffhausen über den Rhein herüber.
40
II. Die Schweiz.
2. Ihre Bodenbeschaffenheit.
Die Schweiz zerfällt in drei Landschaften; nennt sie!
a) Das Schweizer Alpenland umfaßt den südlichen Teil der
Schweiz; es gehört den Hochalpen an und ist daher am gebirgigsten unb höchsten.
Zu beiden Seiten der oberen Rhone liegen die allerhöchsten Alpenketten, südlich
dieWalliserAlpen mit dem Montblanc und dem M o n t e R o s a,
nördlich die Berner Alpen oder das Berner Oberland mit dem
F i n st e r a a r h o r n und der Jungfrau. Diese vier Berge ragen über
4000 m in die Luft empor.; freilich liegt der Montblanc schon auf französischem
Gebiete. Im St. Gotthard streben diese schweizerischen Alpenketten zu-
sammen. Sie setzen sich nach Nordosten fort. Nördlich vom Vorderrhein und der
oberen Aare breiten sich mehrere Alpenketten aus, wie auch südlich davon. Im
Norden haben wir z. B. die Vierwaldstätter Alpen mit dem Pi-
latus, die Tödialpen, die Schwyzer Alpen mit dem Rigi,
die Glarner und Thuralpen; im Süden dagegen die räti scheu
A l p e n in Graubünden u. a. Sie alle sind aber weit niedriger als die Alpen-
ketten an der oberen Rhone.
d) Die Schweizer Hochebene ist dem Alpenlande vorgelagert
und reicht vom Genfer See bis zum Bodensee. Sie bildet gleichsam ein breites
Tal zwischen dem Schweizer Jura und dem Alpenlande. Sie ist im Durchschnitt
so hoch wie die bayrische Hochebene bei München, nämlich gegen 500 m. Rhein
und Bodensee trennen sie von den schwäbisch-bayrischen. Beide gehören zusam-
men und sind sich daher auch recht ähnlich. Wirklich eben ist das Land nur am
Fuße des Juras; sonst ist es von Hügel- und Bergketten durchzogen. In der Eis-
zeit haben die Ungeheuern Alpengletscher hier sehr viel Schutt abgelagert und
so Hügel und Bergrücken aufgetürmt. Zahlreiche Flüsse durchfurchen die Hoch-
ebene. Sie erhält reiche Niederschläge und ist verhältnismäßig warm. Da der
(ftüher angeschwemmte) Boden fruchtbar ist, so gedeiht hier außer dem Getreide
viel Gemüse, Obst und sogar Wein, besonders am Genfer und Bodensee. So
bildet die Hochebene mit ihren Feldern und Obsthainen, ihren Wiesen und
Wäldern, ihren hübschen Dörfern und Städten einen angenehmen Gegensatz zu
dem schneereichen Alpenlande.
e) Der Schweizer Jura liegt an der französischen Grenze und
erstreckt sich vom Rhoneknie unterhalb Genfs bis zum Rheinknie bei Basel und
hat daher die Richtung von Südwesten nach Nordosten. Steil und schroff erhebt
er sich aus der Schweizer Hochebene und besteht aus schmalen, lang gestreckten
Ketten. Mehrere (bis zu 12) Ketten laufen nebeneinander her und sind durch
schmale Längstäler getrennt. Er besteht aus Kalk und hat deshalb wie der schwä-
bisch-fränkische Jura viele Höhlen und Reste versteinerter Tiere. An Höhe über-
trifft der Schweizer Jura das Riesengebirge ein wenig; denn sein höchster Gipfel
ist über 1700 m hoch und bleibt nur wenig hinterm Rigi zurück. An seinem öst-
lichen Fuße liegt fast in der Mitte der langgestreckte Neuenburger See. Er ist
schwer zu überschreiten, da die Quertäler fehlen. Seine Pässe sind nicht viel
niedriger als seine Gipfel. Das Wetter ist rauh und sein Boden meist unfrucht-
bar. Die dürftigen Weiden und der geringe Ackerbau ernähren nur eine dünne
Bevölkerung.
3. Die Bewässerung.
Die Schweiz ist reich bewässert; denn es fallen hier reichliche Mederschläge,
dazu kommt noch der große Reichtum an Firnfeldern und Gletschern
II. Die Schweiz.
41
In der Schweiz entspringen bedeutende Ströme und Flüsse; außer der
Rhone und dem Rhein noch der Inn, der Tessin, die R e u ß, die
Aare und viele andere. Die zahlreichen Gletscher und Firnfelder sind Vor-
ratskammern, die gerade im trockenen, heißen Sommer ihr kostbares Naß spen-
den. In den vielen und großen Seen sammelt sich das Wasser, und darin läutern
sich die Flüsse von ihrem Schutt und Schlamm.
4. Bodenbau.
Die Bodenbenutzung ist recht verschieden. Fast der dritte Teil des Landes
ist in der Schweiz völlig unfruchtbar; das sind die öden Fels- und Gebirgs-
gegenden, an denen die Hochalpen so reich sind. Der Waldbestand ist im Verhält-
nis auch gering. Nur der fünfte Teil des Schweizer Landes trägt Laub- oder
Nadelwald, in Deutschland der vierte. Es gibt eben zu viel Hochgebirgsland
oberhalb der Baum- und Waldgrenze. Der fünfte Teil des Landes besteht aus
Bergweiden oder Almen (Matten, Alpen). Es gibt in der Schweiz gerade so viel
Waldland als Mattenland. Die Wiesen umfassen den sechsten Teil des Landes.
Wiesen und Weiden nehmen daher mehr als den dritten Teil (36%) des Landes
ein, also mehr als doppelt so viel als bei uns (16°/o). Daher blüht auch in der
Schweiz die Viehzucht. Auf der Berggruppe des Rigi grasen allein
3000—4000 Rinder. Neben den Rindern hält man viel Ziegen; aber die Schaf-
zucht ist gering. Da man die allermeiste Milch in den wohlschmeckenden und
gut bezahlten Schweizer Käse verarbeitet, fehlt es an Butter zumal für die
zahlreichen Fremden. Deswegen muß die Schweiz trotz ihrer großen Viehzucht
Butter einführen, ebenso Fleisch.
Der A ck e r b a u ist in der Schweiz sehr gering. Nur der sechste Teil des
Landes dient ihm, bei uns fast die Hälfte. Man kann ja nur in den tieferen Tälern
bis rund 800 m Ackerbau treiben: am günstigsten sind ihm die Schweizer Hoch-
ebene, sowie das Rheintal und die Ufergelände vieler Seen (Bodensee usw.).
Das selbst erbaute Getreide reicht noch nicht einmal für ein halbes Jahr. Des-
wegenmuß die Schweiz viel Getreide einführen, aus Italien, Frankreich, Deutsch-
land usw. Die Kartoffeln gedeihen noch etwas höher hinauf als Getreide. Obst-
bau treibt man in den unteren Tälern, namentlich im Gebiet des Rheins und des
Bodensees. Weinbau kann man außer am Genfer noch am Langen See und in
einigen geschützten Tälern und Strichen treiben. In der Schweiz liegen eben die
größten Gegensätze oft recht nahe beieinander. Hier gibt es Striche im Süden,
wo im Februar die Mandelbäume blühen; nicht allzuweit davon beginnt erst im
April der Schnee zu schmelzen und wieder nicht weit davon schmückt sich die
Matte erst im Juni mit frischem Grün. Die Schweiz ist das Land der Gegen-
sätze, der Abwechslung, der Mannigfaltigkeit. Sehr begünstigt ist die Schweizer
Hochebene in ihren tieferen Lagen. Die Höhenzüge sind teils bewaldet, teils
von Äckern bedeckt. An ihren Südabhängen ziehen sich Rebengelände hin. In
den Talauen erfrischen weite Wiesen das Auge durch ihr saftiges Grün, um die
Dörfer zieht sich ein Park von prachtvollen Obstbäumen (Zürich usw.).
5. Gewerbe und Handel.
In manchen Teilen der Schweiz blüht das Gewerbe, namentlich in Genf,
am Neuenburger See und im Jura. Hier stellt man besonders Uhren und
Schmucksachen her. Wie im Schwarzwalde und Erzgebirge fertigt jeder
Arbeiter nur ein bestimmtes Stück an. Ein recht sorgfältiger Arbeiter setzt dann
42
II. Die Schweiz.
diese Teile zusammen und probt die Uhren so lange aus, bis sie richtig gehen.
Daneben fertigt man Spieldosen an. Große Mengen von Uhren und Spieldosen
gehen ins Ausland, auch nach Deutschland.
In Genf,Neuenburg usw. reiht sich eine Uhrenfabrik an die andere.
Sieht man das, dann erklärt man sich, daß die Schweiz jährlich für mehr als
100 Mill. M Uhren ausführen kann. Nach Deutschland liefert sie jährlich allein
für 11—12 Mill. M. Taschenuhren. Die Schweizer Uhren gelten eben als beson-
ders gut. Die Glashütter Uhren sind aber auch sehr gut.
In der nördlichen Schweiz ist die G e w e b i n d u st r i e stark verbreitet.
Hier gibt es zahlreiche Spinnereien, Färbereien und Webereien. Insbesondere
verarbeitet man Baumwolle und Seide, wie z. B. in Z ü r i ch, Basel und
St. Gallen. Die Rohseide bezieht mair aus Frankreich und Italien oder ge-
winnt sie selbst in den warmen Südgebieten, wo man Seidenraupenzucht treiben
kann. Da es an Kohlen fehlt, benutzt man die Triebkraft des Wassers recht aus-
giebig. Von je drei Maschinen werden 2 mit Wasser und nur eme mit Dampf
getrieben.
Außerdem stellt man Maschinen her, Schokolade, Schweizer Milch, Stroh-
waren, Holzschnitzereien, Karten und vieles andere. Je mehr man die Wasser-
kräfte zur Gewinnung elektrischer Kraft verwendet, desto mehr wird sich in der
Schweiz die Industrie ausbreiten.
6. Der Fremdenverkehr und die Fremdenindustrie.
Schon seit langem ist die Schweiz das Ziel zahlreicher Vergnügungs- und
Erholungsreisenden. Aus allen Ländern strömen da die wohchabenden Menschen
herbei, um die seltenen Naturschönheiten der Schweiz zu bewundern. Dazu hat
die Schweiz zahlreiche Kurorte, die Sommer und Winter stark besucht sind. Jetzt
besuchen auch im Winter viele Leute die Schweiz, um dort gesunden Winter-
sport zu treiben. Man hat nämlich gesunden, daß die klare Winterluft recht ge-
sund ist, weil sie abhärtet. So besuchen alle Jahre mehr als 1 Mill. Menschen
das kleine Alpenland. Sie alle lassen eine Menge Geld sitzen. Dadurch erzielt
die Schweiz eine hohe Einnahme. Diese Leute fahren mit der Bahn; sie be-
nutzen die Bergbahnen, die Zahnrad- und Drahtseilbahnen. Auf die Jungfrau
fuhren in einem Jahre 75 000 Menschen. Ihre Zahl wird noch mehr wachsen.
Gewiß, die Schweizer lassen es sich viel Geld kosten; sie bauen kostspielige Straßen,
Bahnen, Tunnel, Schutzdächer, Schutzgänge usw. Aber sie lassen es sich auch
bezahlen. Denkt an die Übernachtungen, an die Bewirtungen, an die Führungen.
Manche Städte sind zu reinen Gasthausstädten geworden. Wer nur irgend kann,
beherbergt Fremde. Sie lassen sehr viel Geld sitzen. Sie kaufen auch viele schwei-
zerische Erzeugnisse, erstens um ein Andenken mit nach Hause zu nehmen, zwei-
tens weil sie billig zu sein scheinen. Frauen nehmen sich Spitzen und seidene
Bänder mit, Männer Uhren usw. Kommen sie freilich nach Basel oder Schaff-
hausen oder Konstanz, dann müssen sie noch den Zoll bezahlen. Der ist aber
für viele Waren recht hoch. z. B. für seidene Strümpfe, Bänder, Spitzen usw.
Da denkt dann manche Dame: Hätte ich das vorher gewußt, so hätte ich sie nicht
gekauft; diese Sachen hätte ich in Leipzig, Berlin usw. ebenso billig bekommen
und brauchte mich nicht erst damit herumzufchleppen. Freilich gibt es auch
manche, die wollen die Waren durchschmuggeln. Aber die Zollwächter haben
scharfe Augen und gucken überall hin. Haben sie Verdacht, dann muß man die
Schuhe und Strümpfe ausziehen, denn schon oft hatten Leute unter den Strümp-
II. Die Schweiz.
43
fen kostbare Spitzen verborgen, für die ein hoher Zoll zu entrichten wäre. Damen
wickeln Seide um den Leib. Eine Dame hatte in ihrem Kleide eine Spieldose
versteckt. Zum Zollbeamten sagte sie, sie hätte nichts Verzollbares. Sie setzte
sich. Da begann die Spieldose zu spielen: Es braust ein Ruf wie Donnerhall.
Alle lachten, nur die Dame war bestürzt. Der Spaß kostete ihr ein hübsches
Geld. Aber auch in der Schweiz muß man die Augen aufmachen.ß Da gibt es
viele Leute, welche die Fremden überteuern.
7. Ihre Größe, Einteilung undWersassung.
Die Schweiz ist ein wenig größer als die Provinz Brandenburg; sie zählt
41 000 qkm, aber nur reichlich 31/2 Mill. Einwohner. Diese reden drei verschie-
dene Sprachen. Die meisten sprechen Deutsch, nämlich von je 10 Schweizern
etwa 7; die übrigen sprechen entweder Französisch oder Italienisch, nämlich von
je 10 Schweizern 2 Französisch und 1 Italienisch. Man redet daher auch von
Deutschschweizern, von einer Französischen und Italienischen Schweiz. Die fran-
zösisch Redenden leben an der französischen Grenze, die italienisch Redenden
an der italienischen Grenze. Ehemals sprachen noch mehr Schweizer Deutsch.
Manche haben später die französische Sprache angenommen; denn sie denken,
die sei seiner als die deutsche. Das ist natürlich ein Irrtum. Es ist dämm mit
Freuden zu begrüßen, daß es auch Schweizer gibt, die alles tun, um die
deutsche Sprache zu erhalten. Sonst könnte sie nach und nach ganz verdrängt
werden.
Die Schweiz besteht aus 25 kleinen Ländchen; diese nennt man Kantone.
Jeder Kanton ist ein selbständiger Staat und hat seine eigenen Gesetze. Alle
haben sich geeinigt und bilden die schweizerische Eidgenossenschaft. Die Schweiz
ist ein Bundesstaat wie das Deutsche Reich. Sie hat aber keinen Fürsten an ihrer
Spitze. Sie ist daher ein Freistaat oder eine Republik (wie Hamburg). Auch jeder
Kanton ist eine Republik. So ist die Schweiz ein republikanischer Bundesstaat,
der aus 25 Republiken besteht. An der Spitze steht ein Präsident. Dieser wird
alle Jahre neu gewählt. Ihm zur Seite steht der Bundesrat. Beide haben in
Bern ihren Sitz. Bem ist dämm die Hauptstadt der Schweiz. Hier tagt auch
die Bundesversammlung (der Reichstag der Schweiz). Jeder Kanton hat seinen
eigenen Landtag. Jeder kriegstüchtige Schweizer ist dienstpflichtig. Er wird
alle Jahre ein paar Wochen eingezogen. Diese kurze Dienstzeit genügt, denn die
jungen Schweizer lemen zu Hause trefflich schießen. Dies Volksheer der Schweiz
nennt man Miliz. Die Miliz kostet freilich fast noch mehr als ein stehendes
Heer. Sie genügt für die Schweiz. Niemand greift sie an. Sie ist für neutral
erklärt worden und steht daher unter dem Schutze der großen Mächte. Deutsch-
land aber muß sich selber schützen. Damm paßt auch die Miliz nicht für uns.
Wir brauchen ein großes stehendes Heer und müssen es erhalten, obgleich das
viel Geld kostet.
8. Warum konnte die arme Schweiz sich so gut entwickeln?
Ehemals galt die Schweiz als ein armes Land, das seine Kinder nicht er-
nähren konnte. Viele kräftigen Schweizer dienten als Söldner in fremden Län-
dern. Arm ist die Schweiz an Ackerflächen, arm an Bodenerzeugnissen, arm auch
an Bodenschätzen. Trotzdem ist sie heute ziemlich dicht besiedelt, dichter als Han-
nover, Schleswig-Holstein, Posen und beinahe so dicht wie Bayern. In der
Schweiz haben sich eben Handwerk und Industrie sehr gut entfaltet. Wie war
das möglich?
44
II. Die Schweiz.
a) Die Schweizer sind ein tatkräftiges Volk.
b) Sie überzogen ihr gebirgiges Land mit einem Netze von Straßen
und Bahnen und scheuten sogar nicht den Bau langer Tunnel.
o) Sie benutzten die zahllosen Wasserkräfte ausgiebig zu gewerb-
lichen Zwecken.
ä) Sie find Meister in der Herstellung von Uhren und andern Er-
zeugniffen.
e) Sie haben durch die Fremden großen und immer noch wachseirden
Verdienst.
k) Sie haben viele Kurorte eingerichtet.
Deutschland und die Schweiz.
Die Schweiz ist nach Norden, nach Deutschland zu, offen, aber nach Öster-
reich, Italien und Frankreich von Natur abgeschlossen. Daher ward sie auch von
Deutschen besiedelt und bildete lange Zeit ein deutsches Land. Erst seit dem
Westfälischen Frieden ist die Schweiz ein völlig selbständiges Land und ein Staat
für sich. Trotzdem blieben die Schweizer der Sprache und Bildung nach Deutsche.
Als 1871 das Deutsche Reich gegründet war, fürchteten die Schweizer, das neue
machtvolle Reich würde wohl auch bald die Schweiz sich wieder angliedern.
Diese Furcht war unbegründet. Französisch spricht man besonders am Genfer
und Nenenbnrger See, Italienisch am Langen und Luganer See, wie überhaupt
im Gebiete des Tessins. Die deutsche Sprache ist die verbreitetste; man kann
daher die Schweiz als eine Provinz des deutschen Sprachgebietes und des deut-
schen Volkes bezeichnen. Die gemeinsame Sprache ist ein Band, das uns mit
den Schweizern eng verknüpft.
Aber die deutsche Sprache hat bereits manchen Verlust erlitten; namentlich
die französische Sprache dringt vor, weil sie von vielen Schweizern begünstigt
und bevorzugt wird; man hält sie für vornehmer, feiner. Dazu tun die Welsch-
schweizer und die Franzosen viel für die Ausbreitung der französischen Sprache.
Viele Deutschschweizer sprechen lieber Französisch als Deutsch. So verleugnen
sie ihre herrliche Muttersprache und werden ihrem Volkstum abtrünnig. In
den welschen Kantonen fehlt es an deutschen Schulen. Leider reden auch viele
Reichsdeutsche, wenn sie in die Schweiz kommen, mit Vorliebe Französisch;
sie wollen zeigen, wie gebildet sie sind. Das ist ein großer Fehler. Dadurch
helfen sie nur den Feinden unseres Volkstums. In der Schweiz sollte kein
Deutscher Französisch sprechen, denn in allen Gasthäusern versteht man Deutsch,
und auch die Führer, sowie die Post- und Eisenbahnbeamten beherrschen es
ebenfalls.
Könnte es uns nicht gleichgültig sein, ob die Schweizer Deutsch oder Fran-
zösisch sprechen. O nein! Verwelschte die Schweiz ganz, dann hätten wir großen
Schaden davon. Früher oder später würde Frankreich sie an sich bringen wie schon
einmal unter Napoleon I. Sodann wäre das sehr nachteilig für unfern Handel
und Warenaustausch mit der Schweiz. Diese bildet unser natürliches Hinterland.
Die wichtigsten Städte der Schweiz (Basel, Zürich, St. Gallen, Luzern, Schaff-
hausen, Bern, Freiburg) sind auf Deutschland angewiesen. Die meisten Zu-
und Abfahrtsstraßen der Schweiz richten sich nach Deutschland. Nach Italien
gehen die Simplón- und Gotthardbahn, nach Frankreich die Rhonebahn, nach
Tirol eine vom Rhein aus. Macht man noch die Aare nebst ihren größten Neben-
flüssen schiffbar, dann wird die Schweiz erst recht ihre Waren nach Norden
III. Österreich-Ungarn.
45
senden, nämlich auf dem Rheine abwärts. Heute lädt man in der Regel in Mann-
heim oder Straßburg die nach der Schweiz bestimmten Waren vom Schiff auf
die Bahn und schafft sie zu Lande dahin. Beide Rheinhäfen gelten zugleich für
die Schweiz als Handelsplätze. Auf dem Rheine gehen viel Weizenmengen der
Schweiz zu, ferner Kohle aus dem Ruhrbezirke, Steinöl, Mehl.
Deutsches Geld arbeitet viel in der Schweiz. Manche Bahn konnte nur
mit deutschem Gelde gebaut werden. Wieviel Millionen tragen aber die reichs-
deutfchen Reisenden alljährlich dahin! Dazu beziehen wir Uhren aus Neuenburg
und Genf, Seide aus Zürich und Basel, Baumwollstickereien aus St. Gallen.
Wir liefern der Schweiz jährlich für reichlich 400 Mill. M Waren und beziehen
von ihr für etwa 160—200 Mill. M. Waren. So beträgt unser Außenhandel
mit der Schweiz den dritten Teil des ganzen schweizerischen. So haben die
Schweizer wohl alle Ursache, sich gut mit dem deutschen Volke und Reiche zu
stellen. Mögen sie treu am Deutschtum festhalten. Dann werden wir stets
gute und getreue Nachbarn bleiben.
ill. Österreicb-Ungarn.
I. Die österreichischen Al p^enländer.
1. Die österreichischen Ostalpen.
Nach Osten werden die Alpen niedriger, denn sie breiten sich fächerförmig
aus; daher nehmen sie an Breite und Ausdehnung zu. Sie zerfallen nun erst
recht in viele einzelne Ketten und Gebirgszüge. Am weitesten nach Norden
zu find die bayrischen Kalkalpen mit der Zugspitze vorgeschoben. Südöstlich
vom Bodenfee erheben sich die Algäuer Alpen. Zwischen dem Inn und der Salzach
breiten sich die Salzburger Alpen mit dem W a tz m a n n aus. Nach
Osten zu schließt sich die Alpenkette des Salzkammergutes mit dem Dachstein
an. Nordöstlich davon legen sich die Österreichischen Alpen an, die
sich bis an die Donau erstrecken. Ihnen ist der Wiener Wald vorgelagert,
der bis nach Wien hin reicht. Südlich von dieser vorgelagerten Alpenkette er-
heben sich nun höhere Gebirgszüge, welche die Mitte der Alpen bilden. Da sind
im Westen (östlich von den Graubündner Alpen) zuerst die Tiroler Alpen. Süd-
östlich davon, durch das Etschtal (den Vintschgau) getrennt, erhebt sich der O r t -
l e r bis bald zu 4000 m Höhe. Östlich vom Brennerpaß ziehen nun die
Tauern hin; sie zerfallen in mehrere Abschnitte und reichen bis zum Sem-
meringpaß. Die höchsten Gipfel der Tauern sind der Großglockner
(3800 m) mit dem Pa st erzengletsch er. Südlich von ihnen breiten sich
Kalkalpen aus. Sie zerfallen gleichfalls in mehrere Abschnitte. So finden wir
am Nordfuße wie am Südfuße der Alpen Kalkgebirge. In der Mitte finden wir
Urgestein, nämlich Granit, Gneis, Glimmer. Wie kommt das? In den mittleren
Alpenketten ist die frühere Kalkschicht bereits abgetragen und das tief liegende
Urgestein bloß gelegt worden. An den Seiten hat sich die Kalkschicht noch er-
halten. Bleibt sie aber ewig erhalten?
2. Das Karstgebirge und die Dolomiten.
Der Jura ist ein langes Kalkgebirge; darin finden wir zahlreiche Höhlen
und Überreste vorweltlicher Tiere. Höhlen gibt es darin in großer Menge, kleine
und große. Wir wissen schon, wie das kommt. Das Wasser löst leicht den Kalk
46
III. Österreich-Ungarn.
auf und schwemmt ihn mit fort. Im Laufe der Zeit können so die Höhlen immer
größer werden. Es fetzt aber auch Zacken an sowohl an der Decke wie am Boden
der Höhle. Darum nennt man solche Höhlen Tropfsteinhöhlen. Die südlichen
Kalkalpen erstrecken sich von der Etsch bis zur Donau und sind ebenfalls reich an
Höhlen, besonders der südlichste Ausläufer, das Karstgebirge. Die berühmteste
und größte Höhle ist hier die A d e l s b e r g e r Grotte. Sie ist über eine
Stunde lang und enthält zahlreiche Tümpel und Teiche. Durch sie geht sogar ein
unterirdischer Fluß. In dem Karstgebirge kommt es sehr oft vor, daß ein Fluß
oder Bach plötzlich in der Tiefe versinkt. Dann fließt er unterirdisch weiter und
tritt an einer andern Stelle wieder zutage. In den unterirdischen Gewässern
leben allerhand blinde Tiere. Sie brauchen ja nichts zu sehen, und sie können
in der Finsternis nichts sehen. So haben sie im Laufe der Zeit ihre Fähigkeit zu
sehen eingebüßt. Als blinde Tiere sind sie nicht erschaffen worden, sie sind es
erst geworden. Die Adelsberger Grotte wird nun zahlreich besucht. Früher nah-
men die Besucher Fackeln mit; diese aber schwärzen die Wände mit ihrem Ruße.
Darum beleuchtet man sie jetzt elektrisch. Da wird freilich alles wieder zu stark
erhellt; das geheimnisvolle Dunkel geht verloren. Überall tropft und gurgelt
es; dazu kommt noch der Widerhall der Tritte und Stimmen. Kurz, es ist ein
eigener Reiz, tief unter der Erde unter solcher Beleuchtung dahinzuwandeln
und die blinden Tiere im Wasser schwimmen zu sehen oder die seltenen Zacken
und Tropfsteingebilde zu bewundern.
Nicht weit von der Adelsberger Grotte liegt der Zirknitzer See.
Er war früher auck eine Tropfsteinhöhle wie die Adelsberger Grotte. Doch ist
später seine Decke zusammengestürzt, und nun liegt er offen da. Doch steht er
noch mit unterirdischen Höhlen und Seen in Verbindung. Wenn im Frühjahr
Hochwasser eintritt, dann staut sich das Wasser in den unterirdischen Behältern.
Es steigt höher und höher und füllt nun das sonst trockene Bett des Zirknitzer
Sees. Jetzt wimmelt er von Fischen, und die Umwohner beeilen sich, sie zu fangen.
Nach und nach läuft das Wasser wieder ab. Das in Tümpeln stehen bleibende
Wasser verdunstet. An den schlammigen Uferrändern und auf dem aufgeweichten
Boden wächst hohes Gras. Es dient nun Hasen, Rebhühnern zum Aufenthalte;
es wird dann gemäht und geerntet. So kann man in dem Zirknitzer See fischen,
jagen und ernten.
Die Hochebene im Karst ist recht unfruchtbar und öde. Ehemals trug sie große
Wälder. Deren weiches Moospolster sog das Regenwasser auf und ließ es nur
langsam abfließen. Dann schlug man aber die Wälder nieder und forstete sie nicht
wieder auf. Das war ein großer Nachteil fürs Land. Kam ein heftiger Regenguß,
so schwemmte er das lockere Erdreich weg. Wehte dann ein heftiger Wind, dann
fegte er die feine lockere Erde weg. So ward das Land immer unfruchtbarer. Die
nackte steinigte Hochfläche ist mit verwitterten Gesteinstrümmern und Felsblöcken
bedeckt. Nur einzelne Hirten von Ziegen und Schafen finden da kümmerlich ihr
Brot. Sie bauen sich ihre Hütten aus schweren Steinen und beschweren das Dach
mit großen Steinplatten; denn häufig brausen schreckliche Stürme über das Hoch-
land, die sogar Pferde und Lastwagen umwerfen. Um das Land wieder frucht-
bar zu machen, hat man angefangen, es wieder aufzuforsten. Große, ausge-
dehnte Wälder schmücken bereit sdas Land wieder und nehmen ihm das öde,
trostlose Aussehen.
Östlich von der Etsch liegen die Kalkalpen, die turmartige Bergkegel oder
schroff auftagende Zinnen bilden. Ihr Gestein ist ein grauer oder gelblich weißer
Kalk und heißt Dolomit. Man nennt diese Alpen daher Dolomitalpen.
III. Österreich-Ungarn.
47
Sie erstrahlen an heiteren Tagen, besonders morgens und abends, in den ent-
zückendsten Farben und werden daher gern besucht.
3. Die Erwerbsquellen in den Ost-Alpen.
Die österreichischen Ostalpen sind niedriger als die schweizerischen Alpen.
Sie steigen nur in wenig Gipfeln über 3000 m hoch empor. Es gibt daher hier
weniger Gletscher und Firnfelder; dafür ist der Waldbestand größer. Die meisten
Gebirgsrücken ragen nicht über die Baumgrenze hinaus. Der Wald bedeckt
deshalb einen größeren Teil des Gebietes als in der Schweiz (Vs); hier steigt
er bis auf zwei Fünftel, ja bis auf die Hälfte des Landes. Die Ostalpen sind also
etwa doppelt so waldreich als die schweizerischen. Außer Fichten und Buchen
findet man viel Lärchen. Die Wälder liefern ungeheuere Mengen von Brenn-,
Bau- und Nutzholz. Wichtig ist, daß die zahlreichen Flüsse alle flößbar sind.
Man flößt viel Holz nach der Donau und Etsch. Noch mehr schafft man mit der
Bahn nach den Seehäfen Triest und Venedig. Die Venediger waren es auch,
die die südlichen Alpen entwaldeten, ohne sie wieder aufzuforsten. Die breiten
und tiefen Täler gestatten schon mehr Ackerbau. Dennoch überwiegt auch hier
die Viehwirtschaft. Vor allem aber besitzen die Ostalpen weit mehr Boden-
schätze als die westlichen. Salz bergen namentlich die nördlichen Kalkalpen.
In Salzburg und Salzkammergut liegen die meisten Salzbergwerke und Salz-
quellen. Da haben wir die Stadt Salzburg an der Salzach (— Salzfluß),
Hall am Inn, Hallein an der Salzach und Hallstadt am Hallstädter See. Stein-
kohlen gibt es wenig, dafür aber sind Braunkohlen reichlich vorhanden,
vornehmlich in Steiermark, in Kärnten und im unteren Jnntal. Wichtig ist,
daß in der Nähe der Braunkohlen auch Eisenerze lagern, wie in Steiermark
und Kärnten. In Steiermark erhebt sich der berühmte Erzberg, in dem man
bereits seit 2000 Jahren Eisenerze ausbeutet und zwar in offenen Steinbrüchen.
Noch lange wird der Eisenvorrat anhalten. Da ist es ganz erklärlich, daß hier
Eisenhütten und Eisenwerke entstanden. An Wasserkräften und Holz- und Braun-
kohlen mangelt es ja nicht. Man stellt namentlich kleine Eisengeräte her, wie
Messer, Sensen, Beile, Nägel usw.
4. Das schöne Land Tirol.
Wie die Schweiz wird auch Tirol fleißig besucht von Deutschen und anderen
Fremden. Es grenzt im Norden an Bayern, im Süden an Italien, im Westen
an die Schweiz und im Osten an Salzburg und Kärnten. Durchflossen wird es
im Norden vom Inn und im Süden von der E t s ch und der Eisack. Nach dem
Bodensee zu liegt Vorarlberg. Der Brennerpaß teilt es in eine nörd-
liche und südliche Hälfte. Es hat noch die höchsten Gipfel und meisten Gletscher
von allen österreichischen Alpenländern. Der Brennerpaß ist von alters her fleißig
benutzt worden. Namentlich die deutschen Kaiser zogen die Brennerstraße,
weshalb sie auch Kaiserstraße genannt ward. Reich ist Tirol noch an Natur-
schönheiten; erheben sich doch noch manche Gipfel weit über 3000 m hoch. Es
gibt also schneebedeckte Berge mit eisgefüllten Tälern; daran reihen sich grüne
Matten mit gewürzhaft duftenden Kräutern. Die Senner und Sennerinnen
weiden während des Sommers die grasenden Herden. Tiefe Täler mit Wasser-
fällen ergötzen das Auge.
Wir wandern im März vom Jnntal über den Brenner nach dem Tale
der E t s ch. Zunächst gelangen wir zur E i s a ck, einem Nebenflüsse der Etsch.
48
III. Österreich-Ungarn.
Im Jnntal herrschte noch der rauhe Winter. Auf der Höhe des Brenners schwang
der Winter erst recht sein Zepter. Aber bald merken wir auf unferm Abstiege,
daß die Luft immer milder und die Schneedecke immer dünner wird. Vor
Bozen breitet sich vor unsern erstaunten Blicken ein wahres Paradies aus.
An den Berglehnen ziehen sich Weingelände hin. Eine Weinlaube reiht sich an
die andere. Dort stehen die Pfirsiche und Aprikosen schon in voller Blüte, hier
blühen Walnußbäume und edle Kastanien, Mandel- und Feigenbäume. Ander-
wärts sehen wir die Maulbeerbäume, von deren Blättern die Seidenraupe
lebt. Zitronen und Apfelsinen gedeihen gleichfalls. Üppige Mais-, Weizen-
und Kornfelder schieben sich zwischen die Gärten und Dörfer. In diesem Tale
herrscht selbst im Winter eine angenehm milde Luft. Die hohen Alpenketten
halten die rauhen Nord- und Ostwinde ab, die warmen Südwinde dagegen
haben freien Zutritt. Dazu öffnet sich das Tal der Sonne, die hier wenig durch
Wolken verschleiert und verdeckt wird. Im Sommer ist es freilich hier sehr heiß,
weil der Bergkessel die Hitze zusammenhält; selbst im Herbste bleibt es lange
warm; der Winter ist nur kurz und meist mild. Daher ist das sonnige Etschtal
wie geschaffen für Leute, deren Luftwege nicht mehr gesund sind. Meran,
Bozen, Trient werden daher auch alljährlich von Tausenden ausgesucht,
namentlich im Vorfrühling, um hier Linderung und Heilung von Brust- und
Halsleiden zu finden. Schon mancher ist hier genesen. Vielbesucht wird auch
der österreichische Zipfel des Gardasees, denn er (Riva) ist gleichfalls sehr mild.
Im Jnntal ist Innsbruck die wichtigste Stadt. Wie Berlin, Breslau,
Dresden ist Innsbruck eine alte Brückenstadt. Hier sammelte und sammelt sich
noch der ganze deutsch-italienische Verkehr über den Brenner. Zm Sommer
wimmelt es hier von Alpenwanderern, die rasten oder sich zu einer Bergfahrt
rüsten.
II. D i e S u d e t e n l ä n d e r.
1. Böhmens Lage in einem Kessel.
Böhmen hat die Gestalt eines Vierecks, das auf der Spitze steht. Die
Ecken des Vierecks bilden 1. der Elbdurchbruch im Norden, 2. das Fichtel-
gebirge im Westen, 3. die Südecke des Glatzer Gebirgslandes im Osten, 4. das
Südostende des Böhmer Waldes im Süden. Die S e i t e n des Vierecks werden
gebildet 1. vom Erzgebirge im Nordwesten, 2. vom Sudetengebirge im Nord-
osten, 3. vom Böhmer Wald im Südwesten, 4. vom böhmisch-mährischen
Höhenzug im Südosten. Die angrenzenden Länder oder Provinzen
sind 1. das Königreich Sachsen im Nord westen, 2. die preußische Provinz
Schlesien im Nordosten, 3. die österreichischen Länder Mähren und Österreich
im Süden, 4. das Königreich Bayern im Westen.
Rings um Böhmen erheben sich Gebirge. Von ihnen ist das Ri es en-
ge b i r g e am höchsten, denn die S ch n e e k o p p e an der schlesisch-böhmischen
Grenze erreicht 1600 m Höhe. Dem Riesengebirge steht der Böhmer Wald
nur wenig nach, da seine höchsten Gipfel (Arber und Rachel) bis 1450 m Höhe
ansteigen. Etwas niedriger ist das Erzgebirge, das im K e i l b e r g e in Böhmen
eine Höhe von 1240 m erreicht. Am niedrigsten ist die südliche Umwallung,
die 800 m nur wenig überschreitet. So öffnet sich Böhmen mehr nach Süden
als nach den übrigen Himmelsgegenden. Doch finden sich nach jeder Seite nied-
rige Pässe, wie der Elbpaß nach Sachsen, der Oderpaß nach Schlesien, der Donau-
paß nach Bayern usw. Böhmen selbst ist niedriger. Am tiefsten sind die Täler
III. Österreich-Ungarn.
49
der Elbe mit ihren Neben- und Zuflüssen. Die Elbe entströmt dem Riesen-
gebirge und fließt erst nach Süden, dann aber wendet sie sich nach Westen und
Nordwesten. Bei Melnik nimmt sie die große Moldau auf, welche auf dem
südlichen Abschnitte des Böhmer Waldes entspringt. Sie fließt erst nach Süden
zu, dann aber wendet sie sich nach Norden und nimmt viele Zuflüsse auf. So
ist sie weithin schiffbar. An ihrem unteren Laufe liegt Prag, Böhmens größte
Stadt. Von der linken Seite strömt der Elbe die E g e r zu,.die dem Fichtelgebirge
entquillt. Aus dem Laufe der Flüsse entnehmen wir, daß Böhmen von Süden
nach Norden sich abdacht. Die tiefste Rinne wird gebildet von dem Tale der
Moldau und Elbe. In dem übrigen Teile Böhmens finden sich niedrige Stufen-
länder oder Terrassen.
Der böhmische Kessel war einst bis gegen Prag hin überflutet. Das Land
im Egertal, im Elbtal und Moldautal war eingesunken und ward dann mit frucht-
barem Schlamm bedeckt. Als die Elbe das Elbsandsteingebirge immer tiefer
durchsägte, floß das Wasser ab. Der böhmische See verschwand; ähnlich war
es mit dem See in der oberrheinischen Tiefebene.
2. Böhmens Fruchtbarkeit.
Der böhmische Kessel ist durch seine Fruchtbarkeit ausgezeichnet. Am ertrag-
reichsten sind natürlich die breiten Täler der Flüsse, namentlich der Elbe, der
Moldau, der Eger, der Isar usw. Der ehemalige See hat einen fruchtbaren
Schlamm zurückgelassen, ähnlich wie in der oberrheinischen Tiefebene. Aber
auch der übrige Boden ist fruchtbar. Denn er ist aus der Verwitterung von
Granit und Gneis entstanden. Die Randgebiete erhalten auch reichliche Meder-
schläge, nach der Mitte zu nehmen sie freilich ab. Prag hat kaum halb so viel
Regen als das Riesengebirge. Da dort die Wolken 1200 bis 1400 m höher steigen
müssen, kühlen sie sich ab und regnen sich daher stark ab. Streichen sie aber von
Westen nach Osten, so fallen sie in der Mitte in tiefe und daher wärmere Luft-
schichten hinab und daher verdichtet sich der Wasserdampf nur schwer in Regen-
tropfen. Der böhmische Kessel ist vor den kalten Nordwinden geschützt und hat
daher ein mildes Wetter.
Der Getreidebau hat hier seit langem geblüht. Die Hälfte des Landes
dient ihm. Man baut außer Hafer und Roggen viel Gerste und Weizen. Man
könnte davon noch mehr ernten, aber man hat daneben noch andere Nutzpflanzen
in großer Menge angebaut. Vor allem baut man Zuckerrüben, da sie mehr Ertrag
vom Acker geben. Namentlich im Elbtal finden wir die meisten Rübenfelder.
Besonders fruchtbar ist die Gegend um L e i t m e r i tz; sie heißt das böhmische
Paradies. Neben üppigen Weizenfeldern breiten sich herrliche Weinberge aus;
dann begegnen wir ausgedehnten Obstgärten. Außer Kirschen und Äpfeln zieht
man fleißig Pflaumen. Im Herbst gehen große Elbkähne voll Apfel und Pflau-
men nach Sachsen.
Wichtig ist auch der H o p f e n b a u. Schon seit Jahrhunderten ist Böhmen
ein Hopfenland und ein Gerstenland. Da ist es kein Wunder, wenn man in
Böhmen wohlschmeckendes Bier zu brauen versteht. Die böhmischen Brauer
bereiten ein ganz helles Bier, während die bayrischen ein dunkles Bier brauen.
Berühmt ist das Pilsener Bier. P i l s e n an der Beraun (westlich von Prag)
ist eine echte Brauer- und Bierstadt. Es versendet seine Biere überall hin, denn
sie werden gern getrunken. Freilich brauen nun auch viele andere Brauereien
ein Bier gerade so wie die Pilsener; aber sie liefern es billiger, damit es gekauft
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2. 4
50
IEL Österreich-Ungarn.
wird. Ein Acker, mit Hopfen bebaut, bringt viermal mehr ein, als wenn er mit
Weizen bebaut würde. Wird er mit Tabak bebaut, dann bringt er sogar sechsmal
tnehr ein. Da könnt ihr euch denken, warum viele Bauern lieber Tabak und
Hopfen anbauen als Weizen oder Roggen. Doch ist noch eins zu bedenken. Der
Weizenbau macht viel weniger Arbeit als der Hopfen- und Tabakbau. Darum
können viele große Bauern gar nicht Hopfen und Tabak bauen. Schon der An-
bau der Zuckerrüben macht viel Arbeit. Nun fehlt es den großen Bauern und
Rittergutsbesitzern so wie so schon oft an Arbeitern. Wir brauchen auch nicht
bloß Hopfen und Tabak und Zucker, sondern vor allem Getreide und Kartoffeln.
Neben dem Acker- und Gartenbau treibt man in Böhmen viel Viehzucht,
vor allem an den Randgebirgen. Groß ist auch der Waldreichtnm, wiederum in
den gebirgigen Teilen des Landes. Viel Holz wird auf der Elbe nach Sachsen
geflößt oder mit der Bahn dahin gefahren.
3. Böhmens reiche Bodenschätze.
Böhmen ist reich an wertvollen Metallen. Man gewinnt Silber und
Zinn, Blei und Eisen. Groß war der Silberreichtum des böhmischen
Erzgebirges. Hier prägte man auch zuerst die größten Silbermünzen, nämlich
in Joachimstal. Die großen Joachimstaler Silbermünzen hießen kurzweg Taler;
alle andern Silbermünzen von ähnlicher Größe nannte man daher auch Taler.
Der Silberreichtum hat freilich stark abgenommen. Wichtiger sind jetzt die Eisen-
erzlager, die sich westlich von Prag befinden.
Am bedeutsamsten snrd die Braunkohlenlager am Südfuße
des Erzgebirges von Eger bis Aussig. In Brüx, Dux, Komotau nsw. gibt es
zahlreiche Kohlenschächte. Zahlreiche Elbkähne schaffen die böhmischen Braun-
kohlen auf der Elbe nach dem Königreich und der Provinz Sachsen. Dazu be-
fördern die Bahnen sie unaufhörlich nach allen Seiten hin. Die böhmischen
Braunkohlen sind hart und heizen gut, aber seit etlichen Jahren heizt man in
Sachsen usw. lieber mit den billigeren Briketten oder Preßsteinen aus gemah-
lenen oder zerstäubten deutschen Braunkohlen. Steinkohlen findet man westlich
von Prag bei Pilsen.
Wertvoll sind ferner die E d e l st e i n e, die vornehmlich im nordöstlichen
Teile von Böhmen gefunden werden. Es sind meistens Granatsteine, Achate
u. a. Man schmückt damit Broschen, Armbänder, Ohrringe, Halsketten usw.
Wichtig sind endlich die Mineralquellen Böhmens. Sie finden
sich fast alle am Südabhange des Erzgebirges. Hier ist vor undenklichen Zeiten
die Erde eingesunken. Infolgedessen entstanden tiefe Risse und Spalten, die
weit ins Erdinnere hineinreichen. In diesen Spalten quoll und quillt heißes
Wasser heraus. An manchen Stellen tritt es von selbst zutage; an andern mußte
man es erbohren. Berühmt sind die heißen Quellen von Karlsbad an der
Eger. Der Karlsbader Sprudel wirft sein heißes Wasser in starken Strahlen
hoch in die Luft. Er gleicht einem Springbrunnen. So heiß ist das Wasser (75° C), %
daß man es nicht trinken kann. In Teplitz, Franzensbad, Eger
usw. gibt es gleichfalls Mineralquellen. Alljährlich kommen viele Tausende
von Fremden nach diesen böhmischen Badeorten. Aus allen Ländern Europas
strömen die Kranken herbei, um sich hier heilen zu lassen. Nach Karlsbad gehen
meistens die, deren Magen oder Leber nicht mehr gesund ist; diese haben in der
Regel eine graue oder gelbe Hautfarbe. Das Wasser dieser Quellen schmeckt
teils nach Salz, teils nach Soda, teils nach Kalk, Eisen usw. Es wirkt, wenn man
es nüchtern trinkt oder wenn man sich darin badet. In I o a ch i m s t a l ist
III. Österreich-Ungarn.
51
das Bergwasser sehr strahlenkräftig und stärkt daher die Nerven. Diese Strahlen-
kraft verliert sich aber rasch. Darum ist das verschickte Wasser nicht so wirksam
wie das, das man im Badeorte frisch von der Quelle genießt oder benutzt.
4. Mähren und Österreichisch-Schlesien.
Südöstlich von Böhmen liegen die beiden Länder Mähren und Osterreichisch-
Schlesien. Osterreichisch-Schlesien gehört zum Flußgebiet der Oder; Mähren
gehört zum größten Teile zum Flußgebiet der March. Beide Landschaften ähneln
Böhmen sehr. Im Marchtale zieht sich eine Eisenbahn hin, die von Wien aus
nach Norden führt und sich dann gabelt; der eine Strang wendet sich ins Oder-
tal, der andere führt ins Tal der Glatzer Neiße; beide treffen sich in Brieg wieder.
Mähren ist noch fruchtbarer als Böhmen und erzeugt außer Getreide viel Flachs,
Obst, Zuckerrüben und Wein. Die Strecken an der Oderpforte besitzen Stein-
kohlen- und Eisenerzlager. Die Schafzucht ist stark verbreitet. Die Wolle wird in
Brünn und I g l a u verarbeitet. An der March ist O l m ü tz die bedeutendste
Stadt.
5. Böhmens betriebsame Bevölkerung.
Da Böhmen reiche Bodenschätze hat und viele Nutzpflanzen hervorbringt,
sürd hier auch mannigfache Gewerbe entstanden. In der Landwirtschaft über-
wiegt in vielen Bezirken der große Grundbesitz. Die Zuckerrüben werden in
zahlreichen Zuckerfabriken zu Zucker und Sirup verarbeitet. Der reiche Getreide-
und Kartoffelbau ließ viele Branntweinbrennereien erstehen. Der Hopfen-
und Gerstenbau begünstigte die Bierbrauerei. Da man viel Flachs baute, ent-
stand an vielen Orten rege Leinweberei. Dazu gesellte sich die Baumwoll- und
Wollweberei. Das Webgewerbe blüht vorzüglich im Nordosten, in Reichen-
berg,Trautenau usw. Im mittleren Böhmen blühte das Metallgewerbe
auf, da sich hier Eisenerze und Kohlen finden. Glaswaren stellt man im Böhmer
Wald her. Holzwaren fertigt man in den waldreichen Gebieten. Schmuckwaren
macht man dort, wo sich die Edelsteine finden.
Viele der erzeugten Waren braucht man in Böhmen nicht; sie werden
deshalb ausgeführt, wie z. B. Getreide, Obst, Holz, Braunkohlen, Bier, Zucker
usw. In Schandau kommen aus Böhmen zu Wasser an im Jahre gegen 2 Mill. t
Braunkohlen, über 400 0001 Zucker, Sirup und Melasse, 300 000t Holz,
100 000 t Gerste; in geringeren Mengen führt man zu Wasser Steine, Steinöl,
Obst ein. Viele Waren befördern die Bahnen. Die Hauptlinien führen von
Dresden nach Prag und Wien, von Nürnberg nach Pilsen, von Bamberg nach
Bayreuth, Eger, Pilsen und Prag oder von Eger nach Karlsbad, Aussig; von
Görlitz nach Reichenberg und Prag. Von Schlesien aus führen noch einige
Linien nach Böhmen und Mähren. P r a g ist ein Hauptknotenpunkt der Bahnen.
Liegt es doch fast genau in der Mitte Böhmens an der Moldau, die hier bereits
recht wasserreich ist. Über das Häusermeer ragen zahlreiche Türme hinaus.
Die älteste Moldaubrücke wird von dem Bilde des heiligen Nepomuk geziert.
Ihn verehren die Katholiken Prags als ihren Schutzheiligen. Seine Gebeine
ruhen in einem silbernen Sarge, der in einer Gruft des Domes steht.
III. Die Donaulandschaften.
1. Die Donau, Österreich-Ungarns größter Strom.
Die Donau entspringt auf dem südöstlichen Abhange des Schwarzwaldes
und fließt bis Regensburg in nordöstlicher Richtung, von da an aber in südöstlicher.
4*
52
III. Österreich-Ungarn.
Bei Passau verläßt sie Bayem und damit Deutschland und tritt nun in Österreich
ein. Sie muß hier die Granitplatte des Böhmer Waldes durchsägen. Ihr Tal
ist daher von Passau bis Linz eng und tief eingeschnitten; hübsche Fels- und Wald-
Partien umrahmen es. Von Linz an erweitert sich das Donautal. Bald aber ver-
engt es sich wieder; denn jetzt nahen sich von Süden her die Ausläufer der öster-
reichischen Alpen. Bei Wien treten die Ausläufer des Wiener Waldes dicht ans
Donautal heran. So ist von Passau bis Wien das Donautal bald eng bald weiter,
doch meistens eng. Vor Wien breitet sich auf dem linken Donauufer eine breite
Talaue aus; unterhalb Wiens wird das Land zu beiden Seiten der Donau weit-
hin eben. Diese Ebene heißt das Wiener Becken. Zwischen Wien und der March
liegt das Marchfeld. Es ist vollkommen eben, aber steinig und unfruchtbar. Bei
Preßburg tritt die Donau in Ungarn ein. Das Tiefland zu beiden Seiten wird
deshalb die obernngarische Tiefebene genannt. Sie reicht bis an das Donau-
knie bei Waitzen. Hier treten von links und rechts Gebirgszüge dicht heran an
die Donau und verengen ihr Tal. Von Waitzen an fließt sie fast genau nach
Süden durch die große niederungarische Tiefebene. Dort, wo sie ins Tiefland
eintritt, liegt die Hauptstadt Ungarns, nämlich O f e n p e st (oder Budapest).
Ehe sie Ungarn verläßt, wendet sie sich wieder nach Osten zu und mündet endlich
ins Schwarze Meer.
Die Donau ist ein großer Strom. Sie ist bedeutend länger als der Rhein,
nämlich mehr als doppelt so lang als er, denn die Donau hat eine Länge von
2900 Km, der Rhein nur eine solche von 1300 Km. Sie ist reichlich dreimal so
lang als die Oder. Sie durchfließt eben einen sehr großen Teil von Europa.
Die meisten Nebenflüsse erhält sie von den Alpen; diese strömen ihr von rechts
her zu. In Süddeutschland sind es Iller, Lech, Isar und Inn. In
Österreich ist es die E n n s, die unterhalb Linz einmündet. Zwischen Preßburg
und Waitzen, mitten in der oberungarischen Tiefebene, strömt ihr die Raab
zu. In der niederungarischen Tiefebene erhält die Donau ihre beiden größten
Alpenflüsse, nämlich die Drau und die Sau. Die Drau entspringt in Tirol
und fließt vorwiegend nach Osten. An ihr liegen Klagenfurt und Marburg.
Von Norden her fließt ihr die M u r zu; an ihr liegt Graz. Der südlichste Alpen-
fluß ist die Sau. Sie kommt aus dem Lande Kram, aus den südlichen Kalk-
alpen. An ihr liegen Laibach und Agram. Bei Belgrad mündet sie
in die Donau. Von der Draumündung an wendet sich die Donau nach Osten
zu. Bei O r s o w a verläßt sie Ungarn. Hier engt ein Gebirge das Donautal
sehr ein. Diese Stelle heißt das EiserneTor. Hier ragten mächtige Felsen
und zahllose Klippen aus dem Wasser hervor und hinderten die Schiffahrt sehr.
Man hat sie daher größtenteils weggesprengt. Unterhalb des Eisernen Tores
tritt die Donau in ein neues Tiefland ein.
Von links bekommt die Donau nicht so viele Nebenflüsse wie von rechts.
In Bayern sind es A l t m ü h l, Nab und Regen, die kurz vor Regensburg
einmünden. An der Grenze zwischen Österreich und Ungarn fließt ihr die M a r ch
zu. Sie kommt aus dem Norden und zwar aus dem Glatzer Berglande. Vor
Waitzen erhält die Donau noch ein paar Flüsfe von links; die W a a g ist darunter
der größte; sie entspringt auf den Karpathen. Von diesem Gebirge kommt auch
die T h e i ß. Sie ist der größte linke Nebenfluß der Donau und empfängt viele
Zuflüsse. Sie durchfließt die niederungarische Tiefebene weithin in vielen Win-
dungen von Norden nach Süden. An ihr liegt S z e g e d i n. Zwischen der
Drau- und Saumündung ergießt sie ihre Fluten in die Donau.
III. Österreich-Ungarn.
53
2. Die ungarische Tiefebene.
Das ungarische Tiefland nimmt einen großen Raum ein und breitet sich
zwischen den Ausläufern der Karpathen und denen der östlichen Alpen aus. Es
ist größer als Bayern und Württemberg zusammen. Am tiefsten ist das Land
längs der Theiß und der Donau. Als die Alpen und die Karpathen sich aussalteten,
da sank das Land ein, wo wir heute die ungarische Ebene erblicken. Es sank so
tief ein, daß die Wogen des Mittelmeers, des Adriatischen Meres sich in dies
große Gebiet ergossen. Allmählich hob sich das Land nach dem Meere zu. So
entstand ein gewaltiger Binnensee, in den die Gewässer der Alpen und Karpathen
ihre schlammreichen Fluten ergossen. So setzte sich nach und nach viel Schlamm
an: Boden des ungarischen Sees ab. Immer flacher ward er. Zudem bohrten
sich seine Fluten bei O r s o w a einen Ausgang nach dem rumänischen Tief-
lande, das damals auch mit Wasser bedeckt war. Je tiefer sich das Wasser ein-
sägte in die Felsen des Eisernen Tores, desto mehr floß der ungarische Binnensee
ab. Zunächst ward das höher gelegene Gebiet trocken gelegt. Nun verlängerten
sich alle Zuflüsse und gruben sich Betten für ihre Wassermassen in das weiche
Seebett. Zuletzt floß auch das Wasser ab aus den tiefen Flußtälern der Donau
und Theiß. Doch blieben einige Seen und Sümpfe zurück. Der Platten-
s e e am Bakonywald und der N e u s i e d l e r See bei Odenburg sind Reste
des ehemaligen ungarischen Sees. Sie sind beide sehr flach; am flachsten ist der
Neusiedler See, ist er doch schon manchmal in ganz dürren Jahren ausgetrocknet.
Der Plattensee ist größer als der Genfer See, aber flach wie eine Platte und nur
5—11 m tief.
Als nun das ungarische Becken trocken gelegt war, begannen die Winde
ihre Arbeit. Sie wehten die feine, ausgetrocknete Schlammerde zusammen.
Sie liegt daher an vielen Stellen 6—25 m tief. An anderen Stellen häuften
die rasenden Stürme Sanddünen auf. So finden wir im ungarischen Tieflande
sandige Heiden und dann solche Gebiete, die aus feiner Schlammerde oder aus
Lößboden bestehen. Daneben gibt es sumpfige und moorige Gebiete,
namentlich an den Flüssen.
Die T h e i ß ist länger als der Rhein. Sie macht ungemein viele Windungen
und hat daher ein ganz geringes Gefälle. Oster führt sie Hochwasser. Ihr Spiegel
steigt da um 2—8 m. Da die Ufer niedrig sind, überflutet sie weithin das Land.
Sie überschwemmte früher bei einen: großen Hochwasser ein Gebiet, das bald
so groß wie Sachsen war. Am Eisernen Tore stauen sich nämlich die Wassern:engen.
Es ist zu schmal und läßt die gewaltigen Fluten nicht schnell genug durch. Nun
steigt das Donauwasser imn:er höher; es tritt in das tiefe Theißtal zurück. In
kurzer Zeit ist dann die breite Talaue der Theiß in einen langen See verwandelt.
Da können wir uns nun denken, warum es an der Theiß so wenig Städte gibt.
Sie würden alle bei Hochwasser überflutet. So ging es einst auch der Stadt
Szegedin vor der Mündung des Maros in die Theiß. Man hat sie durch Dämme
vor der Überflutung geschützt. Doch hat man sie zu nahe an das Flußbett gelegt.
Daher konnte sich das Hochwasser nicht genug ausbreiten, es stieg in die Höhe
und zerriß die Dämme. Nun ergoß es sich in die Gassen der Stadt und spülte
ein Lehmhaus nach dem andern weg. In einer einzigen Nacht war die große
Stadt fast ganz verschwunden. Früher hinderte nun niemand die Überschwem-
mungen der Flüsse. Darum bildeten sich weite Sumpfgebiete an ihren Ufern.
Schilf und Rohr bedeckten große Flächen. In Ungarn deckt man mit ihnen die
54 III. Österreich-Ungarn.
Dächer. Endlich aber hat man begonnen, die Theiß gerade zu legen. Man durch-
stach viele Krümmungen:
So schnitt man viele Bogen ab. Dadurch ward der Lauf des Flusses
kürzer; hierdurch ward sein Gefall größer. Seitdem fließt das Wasser
schneller ab. Es hat bei der Theiß Strecken gegeben, wo sie auf 20—50 km
nur je einen Meter Gefälle hatte. Das war natürlich äußerst wenig. Deswegen
mußten sich auch die Wassermassen so furchtbar anstauen. Seitdem man im Eifer-
neu Tore viele Felsen weggesprengt hat, kann sich auch das Wasser dort nicht
mehr so hoch anstauen. Man muß hier das Flußbett noch mehr vertiefen oder
verbreitern, damit das Hochwasser noch schnelleren Abfluß bekommt.
3. Die ungarischen Pußten.
Die sandigen Gebiete Ungarns liegen zumeist zwischen Donau und Theiß.
Sie reichen im Norden bis nahe an die Hauptstadt Ofenpest. Noch vor ein paar
Jahrzehnten lebte man in einer solchen Heide wie seit vielen Jahrhunderten.
Die Heide (Pußta) ist eine baumlose Ebene, die mit Gräsern bewachsen ist. An
den Sümpfen und Tümpeln stehen Riedgräser, Schilf und Binsen. Der Boden
ist reich an Soda, die früher vom Meere abgelagert wurde. Im Frühlinge gleicht
die Heide oder Pußta (Steppe) einem grünen Teppich. Die warme Sonne ent-
lockt dem feuchten Boden eine üppige Pflanzendecke. In: Sommer ist sie eine
heiße, ausgedorrte, staubige Fläche. Jeder Wind wirbelt mächtige Staubsäulen
auf, die erstickt sind von Salz- und Sodakörnchen. Die glühende Sonne erzeugt
allerhand Luftspiegelungen. Da sieht man in der Ferne Wälder, Dörfer usw.
Im Winter wüten furchtbare Schneestürme. Sie sind so oft heftig, daß sie Wagen
und Pferde und Menschen umwerfen. Da es keine Steine gibt, kann man keine
Straßen und Wege anlegen. Zur Zeit der Schneeschmelze ist die Heide ein un-
gangbares Kotmeer.
Dennoch lebten und leben auch hier Menschen; aber noch mehr Tiere.
Die Pußta war ein richtiges Hirtenland. Hier weidete man Herden von Pferden,
Rindern, Schafen und Scbweinen. Am angesehensten war und ist der Pferde-
hirt; weniger geachtet waren und sind die Rinder- und Schafhirten; völlig ver-
achtet war und ist der Schweinehirt. Statten wir nun der Pußta einen Besuch ab.
In Pest besteigen wir einen leichten Wagen, der mit zwei flinken ungarischen
Pferden bespannt ist. Im Galopp geht es durch die endlose Heide. Bald hört
aller Weg auf. Unser Kutscher fährt so, wie es ihm beliebt oder wie es gerade
am zweckmäßigsten ist. Bald weicht er einem Tümpel, bald eiuem Sandhaufen,
bald einem Sumpfe aus. Da sehen wir eine Herde junger Pferde weiden. Der
Hirt reitet stolz auf seinen: Roß und wird unterstützt von etlichen Hirtenknechten.
Da wird ein Rudel dieser halbwilden Füllen zusammengetrieben. Gewandt
schwingen die Hirten ihre langen Peitschen. Sie haben auch Fangleinen bei
sich, welche mit einer Schlinge und Kugel versehen sind. Mit ihrem kleinen,
schwarzen Hut, mit ihrem blauen Hemde und ibren blauen Hosen sehen diese
Hirten recht malerisch aus. Im Trabe treibt der Oberhirt ein Rudel Pferde fort;
mit ihnen will er den Roßmarkt in Pest oder in Szegedin oder Debreczin besuchen.
Sobald die Pferde ausgewachsen sind, sucht er sie zu verkaufen. In Pest haben
wir einen: solchen Verkaufe zugesehen. Völlig ohne Geschirr standen die Pferde
in Rudeln da. Dann kamen die Käufer und zeigten auf ein hübsches Pferd.
III. Österreich-Ungarn.
55
Sogleich fing es der Hirt mit der Fangleine ein; er warf ihm die Schlinge über
den Hals und warf es mit einem Ruck zu Boden und legte ihm einen Strick ins
Maul. Entsetzt sprang das Pferd auf; doch saß ihm der Hirt auch schon auf dem
Rücken. Ohne Sattel ritt er von dannen; nur mit dem Halfterstrick lenkte er
das wie toll davoneilende Pferd. Ruhig ließ er es rennen. Endlicb war es müde
und ohne Atem. Doch da begann der Hirt das Pferd zu peitschen. Es raffte
seine letzten Kräfte zusammen und galoppierte weiter, bis es nicht mehr konnte.
Nun war sein Trotz gebrochen; mit einem Schlage war es zahm. Gemächlich
kam der Hirt angeritten und schloß den Kauf ab. Dann nahm der Händler das
Pferd in Empfang; willig folgte es ihm, obgleich es noch am Morgen halb wild
gewesen war.
Wir fahren mit nnserm Wagen weiter und denken daran, daß auch unsere
Gäule einst auf diese Weise eingefangen, gezähmt und verkauft wurden. Nach
einer Weile erblicken wir eine stattliche Rinderherde. Der Rinderhirt ist ebenfalls
beritten wie der Roßhirt (der Tschikosch). An einem Brunnen werden die dur-
stigen Tiere getränkt. Gierig stürzen sie nach den langen Trünkrinnen. Immer
weiter rollt unsere Kalesche durch die Heide. Plötzlich erblicken wir ein Haus
mit weißgetünchten Wänden, es ist eine Heideschenke. Wir steigen ab. Der Kutscher
eilt zum hochragenden Brunnenschwengel, er will sofort seine Pferde tränken.
Wir schauen ins Gärtchen hinein und sehen Melonen, Kürbisse, Bohnen, Zwie-
beln, Knoblauch und eine scharfe Gewürzpflanze (Paprika). Doch Spinat und
Kohlrabi vermissen wir; denn der echte Ungar oder Madjar mag sie nicht essen.
In der Küche ißt das Gesinde, indem es aus ebener Erde sitzt. An den Wänden
der ungedienten Gaststube hängen Heiligenbilder. Bauern sitzen an einem großen
Tische. Am letzten Sonntage hat es hier eine arge Schlägerei gegeben. Bauern
und Hirten waren in Streit gekommen. Mit der Flinte in der Hand hatte endlich
der Wirt Ruhe geschafft. Jetzt spielt ein Zigeuner auf der Geige. Alle lauschen
seiner Kunst. Vor kurzem vergnügten sich hier Räuber. Der Wirt wußte wohl,
daß es Räuber waren. Doch bewirtete er sie aufs beste; sie zechten tüchtig, aber
bezahlten auch pünktlich. Stets standen ein paar auf Wache; sie fürchteten, es
möchten ihnen Husaren übern Hals kommen. Noch blieben sie diesmal ungeschoren.
Froh war der Wirt, als die unheimlichen Gäste wieder fort waren. Er darf es
mit ihnen nicht verderben, sonst isLs um ihn geschehen. Wir genießen ungarischen
Landwein und Gulasch und fahren dann weiter. Da sehen wir ein echt ungarisches
Dorf. Es besteht aus elenden Lehm- und Schilshütten. Sie stehen in breiten
Gassen. Nur zwei Fenster lassen Licht und Sonne in die niedrigen Wohnräume.
Nur Gänse und Schweine begegnen uns. Wir fahren weiter. Es wird dunkel;
da leuchten überall Feuer ans. Die Hirten brennen Schilf, Mist und dürres
Gras an, um sich ihren Speck zu braten und ihr Abendbrot zu bereiten.
4. Das ungarische Tiefland als Kornkammer Österreich-Ungarns.
Das ungarische Tiefland hat kalte Winter, aber heiße Sommer. Im Winter
herrscht oft bittere Kälte, dafür sind die drei Sommermonate sehr warm. Es
herrscht da häufig eine fast unerträgliche Hitze. Im Nachsommer fällt dazu wenig
Regen. Deshalb ist der Boden ausgedörrt. Das ungarische Tiefland verwandelt
sich in ein staubiges, wüstenartiges Gefild. Die Mederschläge sind im ganzen
nicht zu niedrig; aber für die trockene Luft reichen sie nicht hin. Deswegen fehlt
es der Ebene an Baumwuchs. Jedoch hat man schon begonnen, geeignete Plätze
anzupslanzen. Für den Ackerbau ist das Land äußerst günstig. Der schlammige
56
III. Österreich-Ungarn.
Lößboden ist von höchster Fruchtbarkeit. Dazu fallen im Frühjahr und Vor-
sommer reichliche Niederschläge. Darum hat man seit einigen Jahrzehnten einen
Teil des Weidebodens aufgerissen und in Ackerland verwandelt. Der Weizen
gedeiht vorzüglich. Daneben baut man viel Mais und Zuckerrüben. Selbst
Tabak, Hanf und Reis werden häufig angebaut. Die Ernte fällt in die trockene
Zeit; das ist sehr günstig. Man kann das gemähte Getreide bequem auf dem Felde
dreschen. Am fruchtbarsten ist das Banat, das Gebiet zwischen der Theiß, der
Donau und Maros. So kann Ungarn viel Getreide erzeugen.
Wenn man den Getreidebau noch mehr fördert, dann kann Ungarn noch
weit mehr vorzügliches Getreide liefern. Schon jetzt sind zwei Drittel der Ebene
Ackerland. Die ehemaligen Weideländereien schrumpfen immer mehr zusammen.
An vielen Stellen baut man köstlichen Wein, namentlich an den Ausläufern der
Gebirge, wie in Tokai. So üppig gedeiht der Wein, daß man zuweilen gar nicht
genug Fässer für den Most schaffen kann. Nicht selten läßt mau den überreich-
lichen Wein weglaufen. Man verkauft deshalb gern die Trauben in die Fremde.
So können wir ungarischen Weizen, ungarischen Mais, ungarische Trauben
und ungarischen Wein genießen. So fruchtbar das ungarische Tiefland ist, so
weit liegen die Dörfer auseinander. In vielen Gegenden trifft man erst aller
drei bis vier Stunden ein Dorf; in manchen kann man einen Tag und länger
wandern, ehe man ein volkreiches Dorf erreicht. Doch hat man seit längerer Zeit
nicht wenig neue Orte angelegt.
IV. Die Karpathenlandschaften.
1. Die Karpathen.
Die Karpathen bilden die Fortsetzung der Alpen jenseit der Donau. Zwischen
Wien und Preßburg findet sich eine tiefe Einsenkung, die die Ausläufer der Alpen
von den Ausläufern der Karpathen trennt. Aus der Donauebene erheben sich
zuerst die niedrigen kleinen Karpathen. An sie schließen sich die höheren West-
karpathen, die sich weit nach Norden und Süden ausbreiten. Der südliche Teil
heißt das ungarische Erzgebirge; es ist reich an Silber und Kupfer, Eisen und
Nickel; selbst Gold wird gefunden. Nördlich davon liegt die Tatra, deren höchste
Gipfel an Höhe dem Watzmann fast gleichkommen. Doch fehlen Firnfelder und
Gletscher. Aber reich ist das Gebirge an kleinen hochgelegenen Seen. An die
Tatra schließen sich die Waldkarpathen an. Sie find bedeutend niedriger, als die
Tatra, haben aber wenig bequeme Übergänge. Das Theißtal aufwärts heißt
der Madjarenweg, weil hier die aus Asien und Rußland kommenden Madjaren
nach Ungarn vorgedrungen sind. Die Ostkarpathen umsäumen Siebenbürgen
nach Osten. An sie schließen sich nach Süden die Südkarpathen, welche bis
Orsowa reichen. Sie erreichen wieder eine bedeutende Höhe.
Die Karpathen sind ein waldreiches Gebirge, das an Länge die Alpen über-
trifft und von Preßburg bis Orsowa in weitem Bogen Ungarn umschließt. An
Höhe werden die Karpathen von den Alpen weit überragt. Sie steigen ungefähr
so hoch empor wie die bayrischen Kalkalpen. Ihre Breite ist bedeutend geringer
als die der Alpen. Darum bedecken die Karpathen eine kleinere Fläche als die
Alpen. Sie fallen meist steil nach beiden Abhängen zu ab.
2. Die Karpathenvorländer.
Die Westkarpathen stehen durch das mährische Gesenke niit den Sudeten
in Verbindung. Nördlich und östlich von den mittleren Karpathen breitet sich ein
in. Österreich-Ungarn.
57
hügeliges Vorland aus. Es erfüllt die österreichischen Länder Galizien und die
Bukowina und fällt nach Norden und Osten zu ab und geht so in das osteuro-
päische Tiefland über. In Galizien ist die Weichsel der Hauptfluß;
sie entspringt auf den Westkarpathen und zwar auf den Beskiden. In einem
großen Bogen wendet sie sich nach Norden und Polen. An ihr liegt die starke
Festung Krakau.
Auf lange, kalte Winter folgen kurze, aber heiße Sommer. Das Land ist
ja nach Osten und Norden zu völlig offen; dafür wird den lauen Südwinden
durch die hohe Karpathenmauer der Zugang erschwert. Der Boden ist im
ganzen recht fruchtbar und bringt vornehmlich Weizen, Roggen und Gerste,
daneben auch Hanf und Flachs hervor. Stark verbreitet ist auch die Viehzucht.
Galizien treibt sogar noch mehr Pferdezucht als Ungarn. Die kleinen leicht-
füßigen galizischen Pferde werden auch bei uns gern gekauft. Die gebirgigen
Teile tragen ausgedehnte Waldungen. In der Bukowina überwiegt die
Buche; davon hat das Land seinen Namen (Buchenland) erhalten.
An Bodenschätzen ist Galizien nicht arm. Es enthält vor allem Salz
und S t e i n ö l. In der Nähe von Krakau findet man das meiste Steinsalz.
Das Salzbergwerk von W i e l i c z k a war lange das berühmteste und größte,
bis es vom Staßfurter überholt ward. Es besteht aus sieben übereinander liegen-
den Stockwerken mit vielen Gängen und Brücken. Holzpfeiler und Salzsäulen
stützen die zahlreichen Kammern, in denen man den Salzstein bricht. In großen
Teichen löst man ihn auf. Ein großer Tanzsaal ist in der Tiefe. Er hat gedielten
Boden und wird herrlich beleuchtet. Dann glänzen und glitzern die Salzkristalle
in prachtvollen Farben. In zwei Kapellen verrichten die Arbeiter ihre Andachten
und Gottesdienste. Man hat eine förmliche Stadt unter der Erde geschaffen.
Da eilen die Menschen geschäftig hin und her. Da fahren Wagen, mit Pferden
bespannt, das gebrochene Salz an die Tagesschächte. Unablässig wird hier ge-
arbeitet.
Außer Salz findet man noch Kohlen, Zink und Schwefel, Kalk und Marmor.
Wichtiger aber ist, daß Galizien zahlreiche Erdölquellen besitzt, namentlich im
Südosten, zwischen Dnjestr und Prut. In den letzten Jahren hat man immer
neue Erdölquellen erbohrt und immer mehr Ol und Erdwachs gewonnen. Das
ist namentlich auch für uns wichtig: das galizische Öl ist uns am nächsten.
Es wäre gut, wenn man die galizische Olausbeute noch mehr förderte. Dann
könnte der nordamerikanische Olring die Preise für Steinöl nicht immer höher
schrauben. Aus dem Erdwachs stellt man Paraffin her, woraus der Seifensieder
allerhand Kerzen macht. Trotzdem Galizien reich an Bodenschätzen ist, gibt es
daselbst nur wenig Industrie. Am verbreitetsten sind Spiritus- und Branntwein-
brennereien, Bierbrauereien und Zuckersiedereien. Galizien leidet eben noch
unter der polnischen Wirtschaft.
V. Die Balkanländer.
1. Dalmatien, das gebirgige Küstenland.
Lange Zeit reichte das Gebiet des Donaustaates nur bis Istrien und zur
Sau. Heute aber besitzt er auch Länder südlich davon, die zur Balkanhalbinsel
gehören. D a l m a t i e n ist ein langer, aber schmaler Streifen an der Ostküste
des Adriatischen Meeres. Rauhe Kalkberge erfüllen das Land und gestatten nur
wenig Ackerbau. Nicht mehr als der Zehnte Teil Dalmatiens wird unter den
Pflug genommen. Da es südlich liegt, ist es in den tief gelegenen Strichen sckwn
58
III. Österreich-Ungarn.
sehr warm; hier gedeihen Apfelsinen und Zitronen; hier erbaut man viel Wein
und Ol. Am wichtigsten sind jedoch Fischfang und Schiffahrt. Die Küste ist sehr
zerrissen und bildet zahllose Inseln und Buchten. Die meisten Küstenbewohner
nähren sich daher von Schiffahrt und Fischfang. Die jungen Dalmatier dienen
zumeist als Matrosen in der Flotte Österreichs und Ungarns.
2. Bosnien und die Herzegowina.
Zwischen Dalmatien und der Sau liegen zwei Länder, Bosnien und die
Herzegowina; südlich reichen sie bis zur Drina. Die Herzegowina grenzt an
Montenegro, Bosnien an Serbien. Die Herzegowina ist ein ödes, waldarmes
Kalkgebirge. Nur wenige Gebiete sind fruchtbar und ertragreich. Bosnien hin-
gegen hat Schiefer- und Sandsteinboden und besitzt daher prächtige Wälder,
die sogar die Hälfte des Landes bedecken. In den Tälern und Auen blüht die
Landwirtschaft. Hier gedeihen Mais, Weizen, Gerste und Tabak vorzüglich und
liefern reiche Erträge. Die Ortschaften sind von waldartigen Pflaumenbaum-
anpflanzungen umgeben. Die getrockneten Pflaumen führt man aus, sie werden
auch bei uns gern gekauft. Die Eichenwälder nähren große Herden von Schweinen.
Auf den Weiden grasen stattliche Schafherden. Bosnien hat den dichtesten
Schafbestand in ganz Europa. Es werden deshalb viel Schaffelle und Wolle
ausgeführt. Die ausgedehnten Wälder erlauben eine bedeutende Holzausfuhr.
Die Erde birgt in ihrem Schoße allerhand Erze, namentlich Eisen- und Kupfer-
erze, sowie Braunkohle und Salz. Blei und Silber werden gleichfalls gewonnen.
So könnte Bosnien ein reiches Land fein. Aber es hat lange unter der schlechten
türkischen Wirtschaft gelitten. Es fehlt noch an guten Verkehrswegen. Das wird
aber besser, seitdem es zu Österreich-Ungarn gehört, denn nun baut man Bahnen.
VI. Österreich-Ungarn als Donaustaat.
1. Seine Grenzen.
Das Kaiserreich Österreich-Ungarn grenzt im Westen an das Adriatische
Meer, an Italien, die Schweiz und das Deutsche Reich; im Norden wird es
vom Deutschen Reich und Rußland eingeschlossen; im Osten grenzt es an Ruß-
land und Rumänien, und im Süden an Rumänien, Serbien, die Türkei, Monte-
negro und das Adriatische Meer. Es hat eine sehr lange Grenze (9000 Ima) ;
sie ist noch länger als die deutsche. Nur cm ein Meer grenzt Österreich-Ungarn,
nämlich an das Adriatische Meer. Es hat zu allermeist Landgrenzen und nur
wenig Meergrenzen. Die Landgrenzen im Osten sind keine natürlichen, denn
Galizien und die Bukowina liegen jenseit der Karpathen. Diese Länder sind
auch erst später an Österreich-Ungarn gefallen. Gegen das Deutsche Reich
bilden die Randgebirge Böhmens und Mährens, sowie die Alpen natür-
liche Grenzen; gegen die Schweiz sind es die Alpen; gegen Rumänien sind es
die Südkarpatben. Gegen Serbien sind Flüsse die Grenzen, nämlich die Donau,
die Sau und die Drina. Gegen Italien liegt die Grenze meistens in den südlichen
Kalkalpen.
2. Seine Lage an der Donau.
Österreich-Ungarns Hauptfluß ist die D o n a u. Sie ist der größte Strom
dieses Kaiserreichs und durchfließt es von Passau bis Orsowa am Eisernen Tore:
das ist die Hälfte ihres ganzen Laufes (also rund 1500 km). Etwa 7 Zehntel
des ganzen Landes gehören zum Stromgebiet der Donau. Man nennt daher
III. Österreich-Ungarn.
59
Österreich-Ungarn mit Recht den Kaiserstaat an der Donau oder die Donau-
monarchie. Die beiden Hauptstädte des Landes, Wien und Ofenpest,
liegen an ihr. Die ältesten Teile dieses Reiches, die beiden Erzherzogtümer Ober-
und Niederösterreich, breiten sich ebenfalls an ihr aus, von PassaubisPreß-
b u r g. Später ist das Reich auch nach der unteren Donau zu ausgedehnt worden.
Der Elbe gehört vorwiegend Böhmen an. Die lange Moldau, die dem
südlichen Teile des Böhmer Waldes entspringt, vergrößert das österreichische
Stromgebiet der Elbe nicht wenig. Dennoch beträgt dies nur den neunten Teil
des Donaugebietes. Darnach folgt das Stromgebiet der Weichsel; es ist
etwas kleiner als das Elbgebiet und umfaßt vornehmlich Westgalizien. Die
Weichsel bildet auch auf eine längere Strecke hin die Grenze zwischen Rußland
und Galizien. Das Stromgebiet des D n j e st r s ist wiederum kleiner und
umfaßt vorwiegend Ostgalizien nebst der Bukowina. Klein ist das Flußgebiet
der Oder; zu ihm gehören Osterreichisch-Schlesien und Teile von Mähren.
Nicht sehr groß ist auch das Flußgebiet der E t s ch in Tirol. Ganz gering ist
der österreichische Anteil am Stromgebiet des Rheins; nur Vorarlberg grenzt
an den Rhein und den Bodensee.
Durch die Donau und den Dnjestr gehört Österreich-Ungarn zum größten
Teile zum Gebiete des Schwarzen Meeres. Die Elbe und der Rhein verschaffen
ihm eine Verbindung mit der Nordsee, Oder und Weichsel eine solche mit der
Ostsee, die Etsch und die Küstengewässer mit dem Adriatischen Meere. So ge-
hört der Donaustaat 6 großen Stromgebieten und 4 Meeren an.
3. Seine Lage zwischen vier Gebirgsnetzen.
Das Donaureich füllt den Raum aus, der zwischen viergroßenGe-
birgszügen liegt. Im Westen ragen die Ost - Alpen empor und erfüllen
den südwestlichen Teil von Österreich. Im Norden umrahmen die böhmi-
schen Randgebirge den nördlichen Teil Österreichs. Den östlichen Teil
durchziehen in weitem Bogen die langgestreckten Karpathen, die sich von
Preßburg bis Orsowa ausdehnen. Den südlichen Teil erfüllen die Gebirge Dal-
matiens und Bosniens, die D i n a r i s ch e n A l p e n. So ist der Hauptteil
Österreich-Ungarns von Gebirgen umrahmt und eingeschlosten. Inmitten dieses
gebirgigen Rahmens breiten sich an der Donau dreigrößereTieflän-
d e r aus. das Wiener Becken mit dem Marchfelde, die ober-
ungarische und die niederungarische Tiefebene. Größere
Flußauen finden sich sonst noch an der Moldau, Elbe und Eger, sowie an der
Weichsel. Der Ortler, der bis zu 3900 m ansteigt, ist der höchste Punkt Öster-
reichs; er ist also 1000 m höher als die Zugspitze, als Deutschlands höchster Punkt.
Die höchsten Gipfel Ungarns in den Karpathen sind ungefähr 1000 rn höher als
die Schneekoppe im Riesengebirge.
4. Seine blühende Landwirtschaft.
Die Witterung und die Niederschläge sind in Österreich-Ungarn sehr ver-
schieden. In den Alpen und Küstengebieten fallen die reichlichsten Niederschläge,
nach Osten zu nehmen sie ab. Am geringsten sind sie in den umwallten Ebenen
der Moldau, der Donau und der Theiß. An der adriatischen Küste folgen auf
milde und regenreiche Winter heiße, trockene Sommer; im tiefländischen Ungarn
sind die Winter sehr streng und die Spätsommer fast ganz regenlos. Da Öster-
reich-Ungarn im ganzen südlicher liegt als das Deutsche Reich, so ist die Jahres-
60
III. Österreich-Ungarn.
wärme der tieferen Striche auch größer; sie steigt fast bis auf das doppelte (von
6 bis 8 bis auf 12—180 C). Die Witterung ist demnach der Landwirtschaft günstig.
Auch der Boden ist fruchtbar, besonders in den Tälern und den Ebenen. Hier
ist fetter Schlamm und Löß aufgeschichtet. Die ertragreichsten Ackerbaugebiete
sind Böhmens Flußtäler (Elbe, Moldau, Eger ufw.), ferner Mähren, die Fluß-
täler in Nieder- und Oberösterreich, die Ebenen Ungarns, besonders die Löß-
striche. Im allgemeinen ist der Boden Österreich-Ungarns besser als der des
Deutschen Reiches. Aber im Verhältnis hat Deutschland etwas mehr Ackerland
als der Donaustaat. Es erntet auch etwas mehr Getreide als dieser, weil man
hier den Boden noch nicht so gut bearbeitet und düngt wie bei uns. Ungarn ist
die eigentliche Kornkammer, es erbaut mehr Weizen als das Deutsche Reick.
Mit der Zeit wird die Getreideernte Österreich-Ungarns wachsen und dann die
unsere übertreffen. Österreich baut mehr Roggen als Weizen, aber Ungarn
erntet weit mehr Weizen als Roggen. Ungarn führt daher auch viel Weizen
aus. Dagegen baut Ungarn wenig Roggen, wenig Gerste und Hafer und wenig
Kartoffeln. Groß ist der Anbau von Zuckerrüben, namentlich in Böhmen, Mähren,
Galizien, Nieder-Osterreich und Ungarn. Doch gewinnt Deutschland nock be-
deutend mehr Zucker als der Donaustaat (2^ Mill. t gegen r/3 Mill. t). Auch
hierin kann der Donaustaat mit der Zeit uns gleichkommen.
Hopfen erbaut man vornehmlich in Böhmen, Mähren und Galizien,
sowie in Steiermark. Böhmen ist daher wie Bayern ein berühmtes Bierland.
Ungarn baut sehr viel Tabak, desgleichen Bosnien. Der Staat kauft allen
erbauten Tabak auf und schlägt eine Steuer darauf. Flachs liefert Österreich
am meisten und Hanf vor allem Ungarn. Dem Obst- und Weinbau
ist das Donaureich meist sehr günstig. Obst erbaut man vornehmlich in Böhmev,
Südtirol und Ungarn. Wein erzeugt man in Österreich und Ungarn, weit
mehr als bei uns; ist es doch da in vielen Gegenden auch bedeutend wärmer
als selbst im Rheingau. Berühmt ist der Wein von Südtirol, Dalmatien, Ungarn,
Böhmen. Die südlichsten Länder erbauen sogar Südfrüchte und Oliven.
Groß ist der Wald best and in Österreich-Ungarn (etwaA). Zwar gibt es in
Ungarn und auf den höchsten Teilen der Alpen und Karpathen wie auch im Karst-
gebiete völlig baumlose Bezirke; dafür sind manche Gebirgslandschaften um so
waldreicher, namentlich die Randgebirge, sowie Bosnien 0A). Das Donaureich
führt daher sehr viel Holz aus; unter allen Ausfuhrgegenstmrden nimmt Holz die
erste Stelle dem Werte nach ein, nach Deutschland, Italien ufw.
Groß ist auch die Viehzucht im Donaustaate. Die meisten Pferde werden
in Galizien und Ungarn gezüchtet. Die R i n d v i e h z u ch t (18 Mill. Stück)
betreibt man am stärksten in denAlpenlandschaften. In Ungarn und Galizien mästet
man viel Schlachtvieh. Die Schafzucht geht zurück, wie bei uns; sie blüht
vor allem in Ungarn, Siebenbürgen und den Karstländern. Schweine
züchtet man vorzüglich im B a k o n y w a l d , Slawonien, Bosnien. Ge -
f l ü g e l hält man vor allem in Böhmen, Galizien und Ungarn. Böhmische
Gänse kommen alljährlich zu Taufenden nach Sachsen ufw. Wegen der starken
Geflügelzucht kann Österreich-Ungarn auch viel Eier ausführen. Viele unserer
Faßeier stammen daher. In Südtirol und dem Küstenlande züchtet man auch
die Seidenraupe. Selbst in Ungarn betreibt man die Seidenraupenzucht.
5. Seine bedeutenden Bodenschätze.
Österreich-Ungarn ist mit Bodenschätzen reich gesegnet. Nur ist man mit
ihrer Ausbeutung vielfach noch zurück. An Steinkohlen gewinnt es freilich
III. Österreich-Ungarn. 01
nur etwa den zehnten Teil unserer Ausbeute. Man findet sie hauptsächlich in
Mähren, in den Ostalpen und dem Banat. Darum führt man viel Steinkohlen
ein, zumeist ans dem schlesischen Gebiete. An Braunkohlen erzeugt der
Donaustaat weit mehr, freilich auch noch lange nicht so viel wie wir (etwa ^unserer
Ausbeute). Die meisten Braunkohlen lagern im böhmischen Erzgebirge, in Steier-
mark und Ungarn (ungarisches Erzgebirge). Bedeutend sind die Eisenerzla g er
des Donaureiches, besonders in Steiermark, im ungarischen Erzgebirge, in den
Sudeten und Karpathen (Siebenbürgen). Die Eisenerze fehlen in keinem einzigen
Lande. Das ist ein großer Vorteil. So kann man in vielen Bezirken Eisenhütten
errichten. Außer dem Eisen finden sich fast alle Metalle. Gold beutet man in
Siebenbürgen aus; seine Goldausbeute ist viel größer als die unsre. Silber
dagegen gewinnen wir etwa dreimal so viel. Kupfer, Blei und Zink
wird im Verhältnis wenig ansgebeutet. Dafür liefert Kram sehr viel Queck-
silber. Groß ist der Reichtum an S a l z, das hauptsächlich in Galizien, Salz-
burg und Siebenbürgen gefunden wird. Man gewinnt Solsalz (in Tirol, Salz-
burg und Salzkammergut), Steinsalz in Galizien, den Waldkarpathen und in
Siebenbürgen, Seesalz in den Küstenländern. S t e i n ö l ist in Galizien an
vielen Stellen erbohrt worden. Reich ist die Donaumonarchie an Heilquellen
(1600), sie finden sich besonders in Böhmen (Karlsbad, Teplitz, Marienbad u. a.),
in den Alpen (Gastein, Hall, Ischl, Boden) und in Ungarn.
6. Sem reger Gewerbfleiß und Handel.
Die Donaumonarchie ist im ganzen noch ein vorwiegend landwirtschaft-
licher Staat. Mehr als drei Fünftel aller Bewohner sind auf die Land- und
Forstwirtschaft angewiesen. Im Bergbau sind auch viele Personen tätig. Die
Gewerbe blühen bis jetzt hauptsächlich in Österreich, in der westlichen Hälfte des
Donaustaates. Es ist dies ganz so wie im Deutschen Reiche. Mit jedem Jahr-
zehnte breitet sich die Gewerbtätigkeit in Österreich und selbst in Ungarn mehr aus.
An den böhmischen Randgebirgen hat sich von Sachsen und Schlesien
ans das Web- und Wirkgewerbe stark verbreitet. Hier werden Leinen- und
Baumwoll- und Wollwaren aller Art hergestellt. Samt und Seide verarbeitet
man in Wien, Leder in Wien, Böhmen und Tirol. Die Alpenländer haben auch
ihre Gewerbzweige. Das Seidengewerbe blüht im Etschtal, in Görz und Triest.
Das Eisengewerbe hat in Steiermark, Kärnten, Niederösterreich, Wien, Mähren
und Böhmen seine Hauptsitze. Das westliche Böhmen liefert Glas-, Ton- und
Porzellanwaren. Daneben gibt es zahlreiche Zuckersiedereien, Brauereien und
allerhand Brennereien.
Der Handel widmet sich zunächst dem Güteraustausch zwischen dem
gewerblichen Österreich und dem landwirtschaftlichen Ungarn. Von früher her
ist er zuerst auf die Donau als die wichtigste Wasserstraße angewiesen.
Aber so groß und wasserreich sie auch ist, so hindern manche Stromschnellen und
Untiefen die Schiffahrt auf ihr. Im Unterlaufe gefriert die Donau lange zu.
So steht der Schiffsverkehr auf ihr weit hinter dem auf dem Rhein und der Elbe
zurück. Mit der Zeit aber wird die Donauschiffahrt sich heben. Gegenwärtig
ist die Schiffahrt auf der Elbe und Moldau am größten. Hier befördert man be-
sonders viel Güter. Der Güterverkehr auf der Elbe in Böhmen ist zwölfmal
größer als der auf der Donau von Passau bis Preßburg. Viele böhmische Güter
gehen sogar bis Hamburg und andere von Hamburg bis Böhmen. Für den
Bau künstlicher Wasserstraßen ist das Donaureich nur in Ungarn besonders geeig-
62
III. Österreich-Ungarn.
net; doch hat man bisher nur wenige gebant. Man will aber Elbe, Oder nnd
Weichsel mit der Donau verbinden. Das ist sreilich ein schwieriges und höchst
kostspieliges Unternehmen. Deshalb hat man sich auch noch nicht gewagt, es
zu beginnen.
Besser ist das B a h n n e tz ausgebaut. Freilich hat Österreich-Ungarn
noch lange nicht so viel Bahnen als das Deutsche Reich, etwa 45 0001cm, wir bei
kleinerem Umfange über 60000 1cm. Großartiges hat Österreich geleistet in
dem Bau der Alpenbahnen und Alpenstraßen; es sei nur erinnert an die
Brennerbahn und Brennerstraße, an die Semmeringbahn und Semmeringstraße,
an die Pustertal- und Arlbergstraße, an die Tanernbahn. Nach Deutschland
führen nicht weniger als 36 Bahnlinien. Dies zeigt uns, daß der Verkehr
zwischen Deutschland und der Donaumonarchie ungemein lebhaft ist.
Die Seeschiffahrt des Donaustaates ist gering. Zwar hat er eine
ziemlich lange Küste am Adriatischen Meer, aber dieses liegt nicht so günstig
wie die Nordsee. Die Häfen sind gut; aber die Zufahrten sind nicht so günstig
wie bei den deutschen Häsen. Keine österreichisch-ungarische Hafenstadt liegt
an einem schiffbaren verkehrsreichen Flusse. Darum gehen ja auch so viel böh-
mische Waren ans der Elbe nach Hamburg. Der Außenhandel des Donaureiches
ist vorwiegend auf das Land angewiesen. Deshalb hat man auch so viele Bahnen
nach Deutschland gebaut. Bei uns sind 7 Zehntel des gesamten Außenhandels
auf die See angewiesen, beim Donaustaate nur ein Sechstel. Dieser ist somit
vielmehr Binnenstaat als Deutschland. Die österreichisch-ungarische Handels-
flotte ist daher auch viel kleiner als die unsrige.
Österreich-Ungarn hat einen viel kleineren Außenhandel als Deutschland.
Bei uns fluten alljährlich für etwa 20 Milliarden Waren über die Reichsgrenzen,
teils herein, teils heraus; bei Österreich-Ungarn beträgt der gesamte Außenhandel
nur rund 5 Milliarden. Das ist der vierte Teil des unsrigen. Daraus erkennen
wir, daß der Donaustaat sich viel mehr durch sich selber ernährt als Deutschland.
Er ist eben viel dünner bevölkert als das Deutsche Reich; dazu treiben seine Be-
wohner viel weniger Industrie; dazu besitzt er das meiste selbst, was er braucht.
Seine Bewohner sind noch nicht so anspruchsvoll, so kaufkräftig. Sie begnügen
sich mit dem, was sie erzeugen können. Ein- und Ausfuhr sind nahezu gleich.
Früher war die Einfuhr stets viel kleiner als die Ausfuhr. Das kam daher, daß
damals die Industrie noch sehr zurückstand. Je mehr die Gewerbe im Donau-
staate emporblühen, desto mehr wächst auch die Einfuhr. Die Gewerbe brauchen
Rohstoffe, welche sie verarbeiten, Baumwolle, Seide, Wolle, Leder usw. Den:
Donaustaate fehlen vor allem Steinkohlen. Sie stehen in der Einfuhr an erster
Stelle. Dafür führt er Brannkohlen aus. So gleicht sich die Ein- und Ausfuhr von
Kohlen fast aus. Ausgeführt werden nach Deutschland vorzüglich Holz und
Braunkohlen, Vieh und Getreide, Eier und Zucker, Obst und Malz. Dafür er-
hält es von Deutschland Steinkohlen, Bücher und Maschinen, Farben und andere
Waren.
7. Seine Einteilung.
Österreich-Ungarn ist ein Kaisertum; es besteht aus vielen Ländern; sie
alle haben nur den einen Fürsten, den Kaiser von Österreich. Der habsburgische
Staat zerfällt in zwei Hälften, in zwei selbständige Staaten, in das Kaisertum
Österreich und in das Königreich Ungarn. Somit ist die Donaumonarchie ein
Doppelstaat: Österreich-Ungarn oder Österreichisch-Ungarische Monarchie.
Das Gesamtreich hat 676 000 Geviertkilometer und über 51 Millionen.
III. Österreich-Ungarn.
63
Einwohner. An Fläche ist es demnach bedeutend größer als das Deutsche Reich,
an Volkszahl aber bedeutend kleiner. Es ist viel weniger dicht bevölkert als Deutsch-
land (75 gegen 120). Ungarn ist dünner bevölkert als Österreich.
a) Die Staaten und wichtigsten Städte in Österreich.
Österreich besteht aus 14 Ländern. Drei davon heißen Königreiche, nämlich
Böhmen, Galizien und Dalmatien. Zwei davon heißen Erzherzog-
tümer, nämlich Ober- und Niederösterreich oder Österreich ob der Enns und
unter der Enns. Sechs davon heißen Herzogtümer, nämlich Salzburg,
Steiermark, Kärnten, Kram, Schlesien und Bukowina. Tirol nebst Vorarlberg
ist eine gefürstete Grafschaft, Mähren eine Markgrafschaft. Istrien heißt Küsten-
land. Österreich ist nicht in Provinzen eingeteilt wie Preußen, sondern man hat
die Länder so gelassen, wie sie früher waren. Die Habsburger erwarben zuerst
die Erzherzogtümer Ober- und Niederösterreich und die Herzogtümer Steier-
mark, Kärnten und Kram; hierauf erbten oder erwarben sie Tirol, Böhmen und
Mähren. Durch die Teilungen Polens gewannen sie Galizien, und von den
Türken erwarben sie die Bukowina. Zuletzt erhielten sie Istrien und Dalmatien,
sowie Salzburg. 1278 erwarben die Habsburger die ersten österreichischen Länder,
1905 das letzte. Es hat also über 600 Jahre gedauert, ehe die Habsburger die
Länder der österreichischen Krone erwarben und in einem Staate vereinigten.
Wien, die Hauptstadt vom Erzherzogtum Niederösterreich, ward die Hauptstadt
des Kaiserreichs Österreich und damit die erste Hauptstadt der Donau-Monarchie.
Niederö st erreich breitet sich zu beiden Seiten der Donau aus.
Die Kaiser st adtWien liegt am östlichen Ende in dem trefflich angebauten
Wiener Becken. Die Donau teilt sich hier und bildet daher einige Inseln; sie
hat man mit herrlichen Anlagen und Gebäuden geschmückt. Nach Osten öffnet
sich die weite Ebene des Marchfeldes, nach Süden begrenzen die Ausläufer
des Wiener Waldes das Blachfeld. Von dem letzten Berge desselben hat man
einen herrlichen Überblick über die Kaiserstadt an der blauen Donau, über die
Hofburg, die Theater, Kirchen und das ganze Häusermeer. Zählt doch Wien
etwa genau so viel Einwohner wie Berlin (rund 2 Mill.). Hier kreuzen sich die
zahlreichen Bahnen, die das Land nordsiwlich oder ostwestlich durchschneiden.
Wien ist wie Berlin ein wichtiger Knotenpunkt der Bahnlinien. Es ist ja die
erste Handelsstadt des ganzen Reiches. Hier steht auch die Donauschiffahrt in
Blüte. Deshalb hat man der Donau hier ein neues Bett gegraben und Kanäle
angelegt, die das überschüssige Hochwasser aufnehmen und fortführen. In Wien
sind auch viele Fabriken entstanden, welche vor allem feine Schmuck- und Zier-
waren, Lederwaren, Maschinen und allerhand Instrumente Herstellen. Außer
der Hofburg ist der Stefansdom berühmt. Ein Riesentor führt in ihn. Starke
Pfeiler tragen das hohe Gewölbe. Gewaltige Fenster lassen das Licht einströmen.
Herrliche Altäre und Bildsäulen und vergoldete Kronleuchter schmücken das
prachtvolle Heiligtum. Zahlreiche Bilder von Aposteln und Heiligen schauen
auf die andächtige Menge herab. Ein großartiger Turm krönt den Dom. Eine
mächtige Glocke ladet die Gläubigen zum Besuch des Domes ein. Sie ist aus
eroberten türkischen Geschützen gegossen. Stundenweit hört man ihren klaren
Klang. Eine Mandel Männer sind nötig, um sie zu läuten.
Die Wiener sind ein lustig Volk und haben sich daher mancherlei Ver-
gnügungsanlagen geschaffen. Berühmt ist der Prater. Das ist ein ungeheurer
Lustgarten, siebenmal größer als der Berliner. Er liegt auf einer großen Donau-
insel und umfaßt herrliche Wiesen, lange Baumstraßen und prachtvolle Wal-
dungen. Sonntags ist der Prater das Ziel aller Wiener, die sich einen genuß-
64
III. Österreich-Ungarn.
reichen Tag verschaffen wollen. Auf der Hauptstraße rollen unaufhörlich feine
Kutschen und Droschken. Wagen folgt da auf Wagen. Zu sehen gibt es da un-
ablässig. Der Wurstelprater ist der Tummelplatz des Volkes. Da gibt es Kaffee-
und Bierhäuser, Schaukeln und Reitschulen, Kegelbahnen und andere Belusti-
gungsanstalten. Der Wurstel, der Hanswurst, belustigt namentlich die Jugend.
Musik ertönt überall; selbst an den Zigeunerkapellen fehlt es nicht. Wo früher
die Festungswerke standen, zieht sich jetzt die (60 m) breite Ringstraße um die
Stadt.
In Oberö st erreich (Österreich ob der Enns) ist L i n z an der Donau
die hübsch gelegene Hauptstadt. Von Salzburg ist Salzburg an der
Salzach die größte und schönste Stadt; sie liegt prächtig am Fuße eines Berges.
Tirol nebst Vorarlberg liegt in den höchsten österreichischen Alpen.
Innsbruck am Inn ist die Landeshauptstadt und Sitz der Universität. Hier
sammelt sich auch der Handel und Verkehr. Schneiden sich hier doch die Brenner-
bahn und die Brennerstraße mit der Arlbergbahn und andern Straßen. Auf der
südlichen Seite liegen Meran, Botzen und Trient im Etschtale und
Riva am Gardasee. Bregenz in Vorarlberg ist die österreichische
Hafenstadt am Bodensee und Ausgangspunkt der Arlbergbahn. Die Haupt-
stadt von S t e i e r m a r k ist Graz an der Mur, in einem fruchtbaren Kessel
gelegen. An der Drau liegt Marburg. Beide steirische Städte sind durch
die Semmeringbahn mit Wien und Triest verbunden. Kärntens Haupt-
stadt ist Kla g en fu rt an der Drau; Kr a ins Hauptstadt ist Laibach
an der Sau. Südlich von Laibach liegt die berühmte Adelsberger Grotte. Die
größte Stadt des Küstenlandes ist T r i e st, die größte See- und Handelsstadt
Österreichs. Der Seeverkehr Triests beträgt rund den dritten Teil von dem
Hamburgs. Er ist meistens etwas größer als der Bremens und Bremerhavens
zusammen. In Triest gibt es natürlich große Schiffswerften und Reedereien,
Getreidemühlen, Reisschälanstalten, Tau- und Segeltuchfabriken. Der Kriegs-
hafen Österreichs ist P o l a an der Südspitze Istriens. Ein weiterer Kriegs-
hafen ist K a t t a r o am südlichen Ende Dalmatiens. Böhmens
Hauptstadt ist Prag an der Moldau. Es bildet einen wichtigen Knotenpunkt
für Bahnen und Verkehrsstraßen. Ein felsiger Berg bot früher der Stadt Schutz
und Schirm und trägt noch heute das Schloß. Entzückend ist von hier aus der
Blick auf die vieltürmige Stadt, die sich in dem fruchtbaren Talkessel weithin
ausbreitet. Zählt sie doch mit ihren Vorstädten wenigstens eine halbe Million
Einwohner und ist also so groß wie Breslau oder Köln. Ihr Aufschwung wird
begünstigt durch die nahe gelegenen Kohlen- und Eisenerzlager. In Prag ward
1348 die erste deutsche Universität gegründet. Jetzt gibt es außer der deutschen
noch eine tschechische Hochschule. Prag war ehemals eine rein deutsche Stadt;
später wanderten aus der Umgegend sehr viele Tschechen ein. Jetzt sind 11 Zwölf-
tel der Bewohner Tschechen. B u d w e i s an der Moldau liegt weit nach Süden.
An der Eger liegen E g e r und Karlsbad. Wo die Eger in die Elbe mündet,
liegen L e i t m e r i tz und Theresienstadt. Im erzgebirgischen Braun-
kohlengebiete liegen Brüx, Dux, Komotau, Teplitz. An der Elbe
liegen Aussig, Tetschen-Bodenbach und die Festung König-
g r ä tz. Im Nordosten liegt die Webstadt Reichenberg.
Die Hauptstadt M ä h r e n s ist B r ü n n an einem Nebenfluß der March,
ungefähr so groß wie Augsburg oder Erfurt. Nördlich davon liegt O l m ü tz
an der March. In Ö st e r r e i ch i s ch - S ch l e s i e n ist T r o P P a u die
größte Stadt.
Wien.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Machsmulh in Leipzig erschienen.
Auf der Pußta.
AIS großes farbiges Anfchauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmulh in Leipzig erschienen.
Holländische Marschlandschaft.
Als großes farbiger Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmulh in Leipzig erschienen.
III. Österreich-Ungarn.
65
Das Königreich Galizien gehörte früher zum Königreiche Polen.
Krakau an der Weichsel war ehemals die Hauptstadt Polens. Später ließen
sich die polnischen Könige hier krönen. Krakau liegt nahe an der Grenze von
Rußland, Preußen, Ungarn und Österreich und ist daher stark befestigt worden.
Zugleich laufen hier zahlreiche Bahnen zusammen. Unweit Krakaus liegt das
große Salzbergwerk Wieliczka. In Ostgalizien liegt die Hauptstadt Lemberg ;
sie ist bedeutend größer als Krakau und zählt fast genau so viel Einwohner als
Halle. Galizien ist ein klein wenig größer als Bayern, aber dichter bevölkert.
Die Hauptstadt von dem Herzogtum Bukowina ist Czernowitz am Prut, sogroß
wie Bielefeld (80 000 Einwohner). Czernowitz liegt am weitesten nach Osten und
treibt daher lebhaften Handel mit den östlichen Ländern (Rumänien, Südrußland).
b) Die Länder der ungarischen Krone.
Die ungarische Reichshälfte besteht aus zwei Königreichen, aus dem
Königreiche Ungarn mit dem Großfürstentum Siebenbürgen
und dem Königreich Kroatien-Slawonien.
Das Königreich Ungarn nimmt den größten Raum ein. Seine Haupt-
stadt ist O f e n p e st , nicht ganz so groß wie Hamburg, denn es zählt knapp
900 000 Einwohner. Die Lage dieser Doppelstadt an der Donau ist vorzüglich.
Hier beginnt die große niederungarische Tiefebene. Viele Bahnen kreuzen sich
hier. Darum sind hier zahlreiche Fabriken entstanden; Schiffswerften bauen
Donauschiffe; Mühlen mahlen den ungarischen Weizen; Brennereien erzeugen
Spiritus und Branntwein. Berühmt sind die großen Viehmärkte; zu Tausenden
verhandelt man hier die Pferde, Rinder und Schweine. Ofen war ehemals
eine rein deutsche Bürgerstadt. Da es auf einem Berg liegt, war es geschützt
und bot auch Schutz in den häufigen Kriegen. Pest hingegen war lange Zeit
ein armes Madjarendorf. Später hat man beide Orte vereinigt. Unaufhörlich
wanderten Madjaren vom Lande ein, und so ist Ofenpest gleich Prag heute viel
weniger deutsch als ehemals. Ofenpest vermittelt den Handel und Verkehr
zwischen der Ost- und Westhälfte des Reiches wie zwischen dem Morgen- und
'Abendlande. Es wird darum noch weiter wachsen, zumal die Madjaren ihre
Hauptstadt sehr verschönern.
Preßburg unterhalb Wiens, nahe an der Grenze, war ehemals die
Krönungsstadt der ungarischen Könige. Am Donauknie liegt W a i tz e n. Rechts
von der Donau liegen Fünfkirchen und Stuhlweißenburg, links Maria-
T h e r e s i e n st a d t. An der Theiß liegt S z e g e d i n, so groß wie Erfurt.
Debreczin (so groß wie Bielefeld) liegt in der Mitte einer großen Ebene;
es vertreibt die reichen Erzeugnisse derselben.
In dem Hochlande Siebenbürgen liegen Klausenburg,
K r o n st a d t und Hermann st ad t. Es sind alte deutsche Städte, die noch
heute deutsch sind, wenn auch viele Rumänen und Madjaren eingewandert sind.
Zwischen Drau und Sau breitet sich das Königreich Kroatien-Sla-
wonien aus, etwas größer als Schlesien, aber viel dünner besiedelt. Es ent-
hält große Eichen- und Buchenwälder. Fast zwei Drittel des Landes sind Wald.
Gs kann daher noch viel Bewohner aufnehmen. Berühmt ist die Schweinezucht,
die durch die Eichelmast in den Eichenwäldern begünstigt wird. Die Hauptstadt
Kroatiens ist Agram an der Sau. Die Bahn Fiume—Pest berührt
Agram. Die Hauptstadt S l a w o n i e n s ist E s s e g an der Drau. Am Adria-
tischen Meere liegt die Hafenstadt F iu m e; sie ist Ungarns Ein- und Ausfuhr-
hafen und bildet mit Triest ein Geschwisterpaar wie Hamburg und Bremen.
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2. 5
66
III. Österreich-Ungarn.
Doch fehlt ihnen beiden die günstige Lage an einen: großen schiffbaren Flusse.
Bahnen müssen daher diesen Mangel ersetzen. Triest ist größer als Fiume, doch
ist Fiumes Handelsverkehr ungemein rasch gewachsen. Triest hat rund Z^Mill.
Tonnen, Fiume etwa 5 Mill. Tonnen Schiffsverkehr im Jahre.
c) Bosnien und die Herzegowina.
Im Jahre 1878 besetzte Österreich-Ungarn die beiden türkischen Länder
Bosnien und die Herzegowina und behielt sie; doch galt der Sultan
der Türkei weiterhin als Oberherr. 1908 aber verleibte der Kaiser von Österreich
sie dem Donaustaate ein. Darüber wäre es bald zu einem Kriege mit Serbien
und Rußland gekommen. Aber der Deutsche Kaiser erklärte, daß er dann dem
Kaiser von Österreich beistehen werde, und so unterblieb der Krieg. Der Sultan
erhielt eine Entschädigungssumme (55 Mill. Kronen). Bosnien ist fruchtbar
und mit Bodenschätzen reich gesegnet (Eisenerze, Kupfererze, Braunkohlen,
Salz). Die Türken hatten freilich das Land sehr vernachlässigt. Österreich-Ungarn
ließ Straßen und Bahnen bauen, Schulen errichten und neue Orte anlegen.
Seitdem blüht das Land schnell auf. Bosniens Hauptstadt ist Sarajewo;
M o st a r ist die Hauptstadt der Herzegowina.
8. Seine vielen Völker und Sprachen.
Im Deutschen Reiche wohnen neben den Deutschen noch Polen, Wenden,
Masuren, Litauer, Dänen und Franzosen. Die Polen, Wenden, Masuren,
Kassuben und Litauer heißen wirSlawen; sie sind unter sich verwandt und sprechen
slawische Sprachen, die sich ziemlich ähnlich sind. Die Dänen sind mit den Deutschen
nahe verwandt; sie sind gleich ihnen Germanen. Die Franzosen heißen
Romanen, denn ihre Sprache ist der römischen verwandt. In der Schweiz
gibt es Deutsche, Franzosen und Italiener; die Franzosen und Italiener heißen
Romanen. In ihr gibt es also Deutsche und Romanen. In Deutschland und
der Schweiz sind die Deutschen in der Mehrheit, besonders im Deutschen Reiche.
Anders ist es in Österreich-Ungarn. Da gibt es zwölf verschiedene
Völker und Sprachen. Wir zählen sie jetzt auf:
1. Die Deutschen, welche die hochdeutsche Sprache reden;
2. die Tschechen, welche Tschechisch sprechen;
3. die Polen, welche Polnisch reden;
4. die Ruthenen, welche Ruthenisch sprechen;
5. die Slowaken, welche Slowakisch reden;
6. die Kroaten, welche Kroatisch sprechen;
7. die Slowenen, welche Slowenisch reden;
8. die Serben, welche Serbisch sprechen;
9. die Madjaren, welche Madjarisch reden;
10. die Z i g e u n e r, welche eine Zigeunersprache reden;
11. die Italiener, welche Italienisch sprechen;
12. die Rumänen, welche Mmänisch reden.
Dazu kommen noch Juden, welche diejenige Sprache reden, wo sie
gerade wohnen, vornehmlich aber Deutsch, weil sie damit am besten fortkommen.
Dann gibt es in Bosnien und der Herzegowina auch Türken, welche Türkisch
reden. So gibt es auch noch mehr kleine Völkerschaften, die wir nicht alle auf-
zählen wollen.
Wo leben nun diese zwölf Völker? Sie leben vielfach durcheinander, so
in den großen Städten und in manchen Jndustriebezirken und Grenzgebieten^
in. Österreich-Ungarn.
67
Sie leben aber auch in manchen Gegenden fast ganz unvermischt und
getrennt von andern.
Die Deutschen bewohnen zumeist Österreich (lOMill.). Fast rein deutsch
sind Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Vorarlberg und Nordtirol. Vorwiegend
deutsch sind Kärnten und Steiermark. Stark sind sie noch vertreten in Schlesien,
Böhmen und Mähren, namentlich in den Gebieten, die an Deutschland angren-
zen. Ziemlich stark sind sie auch in der Bukowina, obgleich dies Land am weitesten
nach Osten liegt. In Siebenbürgen, im Banat, an der unteren Drau und im
ungarischen Erzgebirge siedeln auch viele Deutsche. Die Deutschen in Sieben-
bürgen heißen Sachsen; sie stammen aber aus dem Mosellande; die übrigen
ungarländischen Deutschen stammen meistens aus Schwaben. Im ganzen machen
die Deutschen etwa ein V i e r t e l der Bevölkerung aus. Von je 4 Österreich-
Ungarn ist nur einer ein Deutscher; in Deutschland ist von je 16 Bewohnern
erst einer ein Nichtdeutscher. Darum ist unser Reich das Deutsche Reich;
Österreich-Ungarn ist viel weniger deutsch; es ist dreiviertel'nichtdeutsch; das
Deutsche Reich ist bloß y16 nichtdeutsch. Am deutschesten ist Österreich; denn hier
machen die Deutschen mehr als ein Drittel aus. Am wenigsten ist die ungarische
Reichshälfte deutsch, denn hier machen sie nur ein Achtel der Bevölkerung aus.
Gehörten Dalmatien und Galizien nebst der Bukowina nicht zu Osterrreick,
dann wäre dies noch deutscher, wenigstens zur Hälfte.
Die T s ch e ch e n (6 y^Mill.) bewohnen das mittlere Böhmen, Mähren und
Schlesien. Innerhalb ihres Gebietes sind aber deutsche Sprachinseln entstanden.
Ehemals gründeten hier deutsche Bürger deutsche Städte wie Prag usw. Ursprüng-
lich wohnten in diesem ganzen Gebiete lauter Deutsche; es waren die Markomannen.
Sie verließen später das Land. Jetzt rückten nun von Osten her, aus Schlesien
und Galizien, Tschechen ein und besetzten das Land bis weit nach Bayern hinein.
Seit den Karolingern und Ottonen hat man die Tschechen wieder etwas zurück-
gedrängt, aber man hat sie nicht ganz verdrängt, wie in Norddeutschland. Die
deutschen Fürsten und Herren waren zufrieden, wenn die unterworfenen Tschechen
ihre Steuern und Abgaben zahlten und ihnen sonst willig gehorchten. Sie zwangen
sie auch nicht, Deutsch zu lernen; sie wollten das nicht einmal. Dennoch lernten
viele Tschechen Deutsch und wurden so allmählich richtige Deutsche. In den
letzten Jahrhunderten haben sich die Tschechen sehr vermehrt, und nun halten
sie fest zusammen und bedrücken die Deutschen, wo und wie sie nur können.
So mußten die Habsburger neben der deutschen Universität in Prag eine tschechische
errichten. So wird die tschechische Sprache immer mehr in Böhmen öffentlich
angewandt. In Prag sind alle Straßenschilder tschechisch und da sprechen alle
Beamten fast nur Tschechisch. Im rein tschechischen Gebiete möchten die Tschechen
untereinander ruhig Tschechisch reden und tschechische Schulen gründen, auch
tschechische Blätter drucken und tschechische Versammlungen abhalten. Das
würden ihnen die böhmischen Deutschen gar nicht übel nehmen. Aber die Tschechen
wandern in deutsche Ortschaften und Bezirke ein und verlangen dann, die deutschen
Gemeinden sollen ihnen tschechische Schulen bauen, tschechische Lehrer anstellen;
sie fordern, die Beamten der deutschen Gemeinden sollen Tschechisch mit ihnen
reden. Das wollen sich die böhmischen Deutschen nicht gefallen lassen, und da
haben sie auch ganz recht. Täten sie das, so würde in gar nicht zu langer Zeit
ganz Böhmen rein tschechisch. Das wissen die Tschechen, und das wollen sie.
Ganz Böhmen soll tschechisch werden, und dann wollen sie Böhmen nebst Mähren
und Schlesien zu einem tschechischen Königreiche machen. So gibt es in Böhmen
einen erbitterten Kampf zwischen Deutschen und Tschechen. Gar oft wenden
5*
68
III. Österreich-Ungarn.
die Tschechen Gewalt an. Sie überfallen deutsche Studenten, deutsche Turner,
überhaupt Deutsche und mißhandeln sie. Sie zerstören deutsche Schulen und
beleidigen und verletzen deutsche Lehrer. In Böhmen sind die Tschechen leider
in der Mehrzahl. Es gibt da fast noch einmal so viel Tschechen als Deutsche.
An die Tschechen schließen sich nach Osten zu die Polen(5Mill.). In Mähren
und Schlesien stoßen sie aneinander. Die Polen wohnen namentlich in West-
galizien. Hier bilden sie die Mehrheit, und hier gibt es nur einzelne deutsche
Siedelungen. Gehörte doch Westgalizien zum polnischen Reiche. In Ostgalizien
wohnt ein andres slawisches Volk, die R u t h e n e n oder Kleinrussen. Es gibt
nicht ganz so viel Ruthenen als Polen, aber die Polen betrachten sich als Herrscher
der Ruthenen und möchten den Ruthenen die polnische Sprache aufzwingen.
Sie wollen, daß ganz Galizien ein rein polnisches Land wird. Darum bedrücken
sie auch die galizischen Deutschen und verlangen, daß die deutschen Schulkinder
Polnisch lernen sollen. Auch die katholischen Geistlichen predigen fast nur Polnisch.
Leider läßt dies die Obrigkeit oft zu. Denn die Polen haben fast alle Ämter inne.
Zwischen den Polen und Ruthenen und Deutschen wohnen in Galizien sehr viel
Juden sie sprechen Deutsch und meistens noch eine Landessprache. Sie
treiben Handel und haben vor allem das Schankgewerbe an sich gebracht. So
können sie den leichtsinnigen und trunkfreudigen Polen und Ruthenen bequem
das Geld aus der Tasche locken.
Südlich von den Tschechen wohnen die ihnen nahe verwandten Slo-
waken. Sie haben das Land östlich der Kleinen Karpathen und der Westkarpathen
bis zum ungarischen Erzgebirge inne. Ihre Zahl beträgt in Ungarn etwa 2 Mill.;
sie machen den fünfundzwanzigsten Teil der Bevölkerung aus. Ihre Sprache ist
der tschechischen sehr ähnlich. Darum rechnet man Tschechen und Slowaken
meistens zusammen; beide machen nicht ganz ein Fünftel der Bevölkerung aus;
in Österreich nicht ganz ein Viertel, in Ungarn ein Zehntel.
Die Tschechen, die Slowaken, die Polen und die Ruthe-
nen faßt man als N o r d s l a w e n zusmnmen. Sie grenzen nämlich aneinander.
Nach Süden zu stoßen sie im Westen an das deutsche und im Osten an das mad-
jarische Sprach- und Volksgebiet. Die Madjaren gehören nicht zu den Jndo-
germanen wie die Germanen, Romanen und Slawen; sie gehören zu einer
asiatischen Rasse, den Mongolen (Tataren). Sie haben daher auch eine
gelbliche Hautfarbe. Ihre Sprache ist ganz anders. Die Madjaren sind mit den
Türken verwandt; die Zigeuner sind entfernte Verwandte von ihnen. Die Mad-
jaren waren ein mongolisch-finnisches Steppen- und Nomadenvolk und führten
daher in den weiten ungarischen Ebenen ihr angestammtes Hirtenleben weiter.
Erst nach und nach haben sie sich an das seßhafte Leben und den Ackerbau gewöhnt.
Die Madjaren haben vornehmlich die oberen Teile Ungarns inne. Aber in Ungarn
selbst machen sie noch nicht die Hälfte der Bewohner aus. Dennoch betrachten
sie sich als die Herren des Landes und verachten die andern Völker, selbst die
Deutschen. Die Madjaren dünken sich etwas weit besseres als sie; das ist natürlich
gar nicht der Fall. Ihre ganze Kultur haben sie von den Deutschen übernommen.
Dennoch verlangen sie in ihrem Dünkel, daß alle andern Bewohner Ungarns
die madjarische Sprache lernen und anwenden. Die alten deutschen Ortsnamen
hat man durch unaussprechliche madjarische vertauscht. Aus Klausenburg machten
sie Koloszvar usw. Auf den Bahnen, Gerichten, Postämtern, überall soll nur die
schwer erlernbare nmdjarische Sprache geredet werden. Selbst im ungarischen
Heere spricht man fast nur noch Madjarisch. Die Madjaren betrachten sich so
sehr als die Herren des Landes, daß sie ihre Sprache die ungarische nennen;
HI'. Öfterreich-Ungarn.
69
sich selbst heißen sie Ungarn. Zwischen den Madjaren wohnen viele Deutsche,
in Ungarn gegen 2 Millionen. Freilich sind manche Deutsche schon zu richtigen
Madjaren geworden, die fast gar kein Wort Deutsch reden. Das ist nicht recht.
Den Madjaren freilich gefällt das, wenn recht viele Fremde madjarisch werden.
Viele ungarische Juden haben die madjarische Sprache angenommen.
Südöstlich von den Ruthenen und Madjaren wohnen die Rumänen, be-
sonders in der Bukowina, im Banat und in Siebenbürgen. Sie reden eineSprache,
welche mit der römischen verwandt ist und vor allem im Königreiche Rumänien
gesprochen wird. Zwischen ihnen sitzen die Siebenbürger Deutschen, die Banater
Deutschen und die Bukowinaer Deutschen; außerdem finden sich hier auch Mad-
jaren darunter gemischt. Die Zahl der Rumänen beträgt etwa 3 Mill., etwas
weniger als die der Rrlthenen und Polen.
Südwestlich von den Rumänen und südlich von den Madjaren und Deutschen
siedeln abermals Slawen; man nennt sie S ü d s l a w e n. Es sind die K r o a t en
in Kroatien, die Serben in Slawonien, die Slowenen (Winden)
in Kram. Diese Südslawen sind durch die eingewanderten Madjaren und die
von Nordwesten her vordringenden Deutschen und die aus Südosten vordringenden
Rumänen von ihren Brüdern, den Nordslawen, getrennt worden. Serben und
Kroaten sind ganz nahe verwandt, aber die Kroaten gehören der römisch-katho-
lischen Kirche an, die Serben hingegen der griechisch-katholischen. Die Slowenen
haben Krain fast ganz besiedelt. In diesen südlichen Teilen gibt es nur einzelne
deutsche Sprachinseln.
In Dalmatien, Bosnien und der Herzegowina gibt es gleichfalls Serben
und Kroaten.
Die Italiener finden sich vornehmlich in Südtirol, im Küstenlande
und in Dalmatien. Die beiden letzten Gebiete gehörten lange zu Italien. Im
ganzen ist die Zahl der Romanen (Italiener und Ladiner) nicht sehr groß, aber
sie wollen sich ausbreiten, und sie suchen die angrenzenden Deutschen, Slawen
und Serben zu zwingen, Italienisch zu lernen und das allein zu reden.
Wären alle Slawen einig, dann bildeten sie die Hauptmasse des Volkes
im Donaureiche, nämlich die knappe Hälfte. Das wissen auch viele unter ihnen.
Darum rufen sie den einzelnen Slawenvölkern zu: Seid einig! Werdet einig!
Haltet zusammen und bildet eine geschlossene Reihe und Schutzwehr gegen alle
Nichtslawen! Sie erstreben ein Allslawentum und wollen den Donau-
staat in einen slawischen Staat verwandeln. Zum Glücke sind die Slawen nur
einig, wenn es den verhaßten Deutschen etwas auszuwischen gilt; sonst sind
sie unter sich oft recht uneinig. Dazu fehlt ihnen die gemeinsame Sprache. Die
slawischen Sprachen sind zwar unter sich verwandt, aber kein Tscheche versteht
ohne weiteres das Polnische; er muß es erst lernen. Das fällt ihm zwar etwas
leichter als einem Deutschen; aber er muß doch erst Polnisch lernen. So muß
er auch Ruthenisch, Slowenisch, Kroatisch usw. lernen. Das würde aber zu viel
Sprachlernerei. Darum lernt jeder der Slawen lieber Deutsch; sind nun die
Tschechen, Polen, Ruthenen, Slowaken, Slawen, Kroaten und Serben bei-
sammen, dann reden sie nicht Slawisch, sondern Deutsch; denn Deutsch können
sie alle. Es ist ein Glück, daß es noch keine gemeinsame slawische Gesamtsprache
gibt. Sonst würden die slawischen Völker leichter unter einen Hur kommen und
die Deutschen des Donaustaates noch mehr als bis jetzt bedrängen und bedrücken.
Es gibt aber schon einzelne Slawen, die wollen Russisch zur gemeinsamen Slawen-
sprache machen. Zum Glück sind die Slawen Österreichs noch alle dagegen. Die
Tschechen möchten, daß ihre Sprache zur gemeinschaftlichen Slawensprache
70
III. Österreich-Ungarn.
im Donaureiche erhoben werde; denn sie seien der volkreichste Slawenstamm
darin. Das wollen die andern nicht, denn sie sagen sich: Da werdet ihr mit der
Zeit alle zu Tschechen werden müssen. So fürchtet sich jetzt noch ein jeder sla-
wische Volksstamm vor dem andern. Das ist die Rettung der Deutschen.
Die Slawen zerfallen in Nord- und Südslawen. Zu den Nordslawen gehören
die Tschechen, Slowaken, Polen und Ruthenen; sie machen die große Mehrheit
der Slawen aus, nämlich dreiviertel. Die Südslawen zählen nur ein viertel.
Daher beanspruchen auch die Nordslawen, namentlich die Polen und Tschechen,
die Führung; die Ruthenen und Slowaken werden hintangesetzt. Das hindert
die Einigkeit der Slawen auch.
Nach den Slawen kommen die Deutschen. Sie machen ein Viertel
der Gesamtbevölkerung aus. Sie sind aber die reichsten und gebildetsten Leute
und zahlen in Österreich im Verhältnis die meisten Steuern. Unter den Groß-
grundbesitzern, Haus-, Guts- und Fabrikbesitzern befinden sich die meisten Deut-
schen. Darum haben sie auch seit Jahrhunderten die Führung gehabt und den
habsburgischen Staat gefördert und erhalten.
Nach den Deutschen kommen die Madjaren(10 AM.), die in Ungarn
ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Sie können wohl in Ungarn
eine Rolle spielen, aber im ganzen Donaureiche stehen sie erst an dritter Stelle.
Die Südslawen können samt den Rumänen in Ungarn eine Rolle spielen,
nicht aber im ganzen Donaustaate. Die allergeringste Bedeutung haben die
Italiener, denn sie zählen noch nicht einmal eine Million; dennoch spielen sie
in Südtirol und im Küstenland eine große Rolle und verlangen dort die Herrschaft.
So ist das Donaureich ein Staat, in welchem zahlreiche Völker und Sprachen
in unaufhörlichem Streite und Kampfe liegen. Das Völkergemisch ist um so größer,
da die verschiedenen Stämme und Spracben nicht scharf geschieden, sondern
vielfach durcheinander gemischt sind.
9. Öfterreich-Ungarn als uneiniger Bölkerstaat.
Das beste ist, wenn ein Staat nur aus einem Volle besteht, welches eine
einzige Sprache spricht. Das erleichtert die Regierung ungemein. Alle Leute
verstehen sich; sie können alle in ihrer Muttersprache miteinander sich verständigen.
Ersinnt ein Dichter ein hübsches Gedicht, eine spannende Erzählung und Geschichte,
ein schönes Schauspiel, dann können es alle in seiner Sprache lesen und genießen.
Macht die Obrigkeit etwas bekannt, dann verstehen das alle Bewohner. Niemand
braucht eine andere Sprache zu lernen, denn die Staatssprache ist die Volks-
sprache. So ist es für alle Deutschen in unserm Reiche.
Im Donaustaate ist das anders. In Österreich ist Deutsch die Staats-
sprache. Da haben es die Deutschen gut. Ihre Muttersprache ist zugleich Staats-
sprache. Aber die Beamten müssen noch eine Landessprache beherrschen, in
Böhmen Tschechisch, in Galizien Polnisch oder Ruthenisch, in Kram Slowenisch,
in Istrien Italienisch. Wenn die Behörden etwas bekannt machen, dann müssen
sie das in mehrere Sprachen übersetzen; sonst verstehen viele das nicht. Da wäre
es gut, wenn alle Schulkinder in Österreich in der Schule fleißig Deutsch lernten,
damit sie die deutsche Staatssprache völlig verständen. Im Heere, auf den Ge-
richten usw. spricht man ja auch deutsch. Leider wollen das viele nicht. Sie denken,
sie würden dann keine Polen, Tschechen usw. bleiben, sondern Deutsche werden.
Da sich die Völler Österreichs und Ungarns so wenig vertragen, so hat
schon mancher gesagt: die sich nicht vertragen können, die muß man auseinander
III. Österreich-Ungarn.
71
stecken oder trennen. Es ist gar nicht nötig, daß die vielen Völker des Donau-
reiches einen einzigen Staat bilden; sie mögen sich trennen und nun mehrere
unabhängige Staaten errichten. Geht das? Das würden wohl die Habsburger,
die Kaiser von Österreich, nicht zugeben. Gewiß, diese würden sich sagen, dann
wäre es leicht, daß der eine nach dem andern verloren ginge. Rußland hat schon
einmal nach Galizien gestrebt; Italien möchte gern Südtirol und Istrien und
vielleicht auch Dalmatien; selbst das kleine Serbien würde sich Bosnien und die
Herzegowina nehmen, da dort viel Serben wohnen. Darum haben die habs-
burgischen Kaiser immer gesehen, die Einheit des Staates zu erhalten.
Aber ganz ist ihnen das nicht gelungen. Die Madjaren haben sich losgerissen.
Ungam bildet einen selbständigen Staat, nämlich seit 1867. Seitdem erstreben
die Madjaren noch mehr Unabhängigkeit; sie wollen Ungarn ganz und gar mad-
jarisch machen. Das können sie aber nur, wenn es ganz allein nach ihrem Kopse
geht, wenn man ihnen in Wien nichts mehr zu sagen hat. Der König von Ungarn
soll nur das tun dürfen, was sie ihm durch ihre Minister und ihren Reichstag
vorschreiben. So liegt Ungarn immer im Streite mit Österreich. Es gibt nur
noch ganz wenig, was ihnen gemeinsam ist, nämlich die Heereseinrichtungen,
das Zollwesen und die auswärtigen Angelegenheiten. So erscheint Österreich-
Ungarn nach außen als e in großes Reich; es ist das aber nicht ganz; denn Ungarn
hat schon eigene Botschafter und Gesandte. Mn muß man das Heer auch unter-
halten. Dazu gehört Geld. Natürlich müssen beide Reichshälften das Geld für
den Heereshaushalt aufbringen. Nun hat aber Österreich mehr Bewohner als
Ungarn. Die Madjaren wußten es dahin zu bringen, daß Ungarn am wenigsten
zu zahlen hat. Das machte böses Blut unter den Österreichern. So hört der
Streit zwischen hüben und drüben, zwischen den Bewohnern diesseits und jen-
seits der Leitha nicht auf.
Die Tschechen und die Polen wollen auch mehr Freiheit. Am liebsten
möchten sie ihr Land ebenso selbständig machen wie Ungarn. Erfüllte man ihnen
den Wunsch, dann kämen natürlich auch die Italiener, die Slowenen, die Kroaten,
die Serben, die Rumänen. Dann zerfiele das Donaureich in viele kleine Staaten.
Das alles erschwert den Leitern des Staates die Regierung. Seine Bewohner
sind aufeinander angewiesen; sie leben voneinander. Ungarn sendet viel Getreide
und Obst nach Österreich. Österreich versorgt Ungarn mit Maschinen und anderen
gewerblichen Erzeugnissen. Doch will sich Ungarn eine eigene Industrie schaffen.
Wenn ihm das gelungen ist, dann weiß man nicht, ob es da auch noch die gemein-
samen Zölle aufrecht erhalten wird. Gegenwärtig bilden Österreich und Ungarn
eine Wehr- und Wirtschaftsgemeinschaft unter einem einzigen Herrscherhause.
Im übrigen ist es ein Doppelstaat.
Was ist nun für uns das beste? Österreich ohne Galizien und Dalmatien
hat lange zum Deutschen Bunde gehört. Es ist darum auch am deutschesten.
Selbst die Tschechen haben viel Deutsches angenommen: darum stehen sie auch
unter allen Slawen am höchsten. Wenn in Österreich-Ungarn die Slawen die
Oberhand gewönnen und das Deutschtum ganz und gar zurückdrängten, dann
wäre das für uns ein gefährlicher Nachteil. Schon jetzt liebäugeln die Tschechen
und Polen mit den Franzosen. Sie sind keine Freunde des Deutschen Reiches:
sie würden es gern sehen, wenn das Deutsche Reich zertrümmert würde.
Österreich-Ungarn hat 1879 mit dem Deutschen Reiche ein Schutz- und
Trutzbündnis geschlossen. Damals fürchtete sich dies vor Rußlands Angriffen.
Gs gibt aber außer den Tschechen noch andere Slawen, die dies Bündnis be-
kämpfen und dafür verlangen, Österreich-Ungarn solle mit Rußland und Frank-
rfr
72 III. Österreich-Ungarn.
reich sich gegen Deutschland verbünden. Wir können nur wünschen, daß die
Deutschen im Donaustaate immer tonangebend bleiben. ') Dann wird auch das
Bündnis fest erhalten werden.
Es ist darum mit Freuden zu begrüßen, daß die Deutschen in Österreich
und Ungarn immer fester und treuer Zusammenhalten und zusammenstehen.
Sie wissen, was für sie auf dem Spiele steht. Sie haben deshalb allerhand
deutsche Schul- und Schntzvereine gegründet und unterstützen einander. In
bedrohten Orten unterhalten sie auf eigene Kosten deutsche Schulen. Sie bauen
deutsche Kirchen, deutsche Gasthäuser und gründen deutsche Vereine aller Art.
Das ist sehr norwendig und sehr nützlich. So werden viele Deutsche bei ihrem
Deutschtum erhalten. Leider sind schon allzu viele Deutsche im Laufe der Zeit
entdeusicht worden und so der Mutter Germania verloren gegangen. Man
nennt solche Deutsche, die in fremdem Volkstum untergehen, gewöhnlich Kultur-
dünger; sie düngen fremde Völker und ihren Bildungsstandpunkt. Namentlich
die Madjaren möchten gern recht viele Deutsche als Kultnrdünger haben. Aber
auch die Tschechen, Polen, Italiener usw. trachten darnach, Deutsche zu ent-
deutschen, sie zu vertschechen, zu verpolen, zu verwelschen. Das müssen die Deut-
schen des Donaureiches verhüten. Das helfen wir auch verhüten, wenn wir
den deutschen Schul- und Schutzvereinen beitreten und ihnen so neue Geldmittel
zuführen: Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt, wenn es
fest zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält.
10. Deutschland und Österreich-Ungarn.
Wie die Schweiz, so ist auch Österreich-Ungarn in erster Linie aus das
Deutsche Reich hingewiesen. Nicht weniger als 36 Bahnlinien führen nach den:
Deutschen Reiche, das sind mehr, als nach allen übrigen Ländern zusammen..
Die Karpathen hemmen den Verkehr so sehr, daß Galizien und die Bukowina
mit Rußland und Rumänien einen größeren Güteraustausch pflegen als mit
Österreich und Ungarn. Nach dem Südosten ist die Donau die allerwichtigüe
Straße. Die Ostalpen erschweren die Anlegung nordsüdlicher Bahnen, da sie
aus mehreren Ketten bestehen; die böhmischen Randgebirge aber lassen überall
ziemlich bequeme Durchgänge für Bahnen, besonders die Durchbrüche der Donau
bei Passan, der Elbe bei Schandau, der Oder in der mährischen Pforte. Diese
Verkehrswege werden noch durch Kanäle vermehrt werden. Man will einen
Kanal bauen, der Wien mit der Moldau und Elbe verbinden soll, einen anden:,
der die Donau durch die March mit der Oder verknüpfen, und einen dritten,
der aus der oberen Elbe in die March und Weichsel führen soll. Wenn diese künst-
lichen Wasserwege fertig sind, werden die meisten österreichischen Waren ihren
Weg durch Deutschland nehmen, um in die Nord- und Ostsee zu gelangen oder
von dort nach den: Donaulande. Dann wird man aber auch das ungarische
Getreide etwa dreimal billiger nach Deutschland befördern können. Man will
sogar einen Kanal von der Donau nach Fiume bauen; dann könnte die ober-
schlesische Kohle leicht bis an die adriatische Küste gelangen.
Schon jetzt hat Österreich-Ungarn den größten Handel mit den: Deutschen
Reiche. Wir beziehen für reichlich 800 Mill. M Waren vom Donaustaat und
liefern ihm für etwa 1000 Mill. Waren; unser Warenaustausch beträgt dem-
nach beinahe zwei Milliarden. Wir erhalten besonders viel Holz aus den großen
0 Siehe auch meine Neuzeitliche Weltgeschichte der Weltmächte (Leipzigs
Wunderlich), sowie mein Prakt. Lehrbuch der Deutschen Geschichte (ebenda).
IV. Die Niederlande.
73
Waldgebieten der Alpen, Karpathen nnd der böhmisch-mährischen Grenzgebiete.
Groß ist ferner die Einfuhr von böhmischer Braunkohle und von lebendem Vieh.
Die Alpenländer senden uns Rinder, Galizien und Ungarn Pferde. Böhmen
versorgt uns mit böhmischem Bier, Obst und Hopfen.
Galizien schickt uns Erdöl. Dazu gehen viele nach Süddeutschland bestimmte
Waren durch Österreich, wie viele nach Böhmen usw. bestimmte durch Nord-
deutschland.
Dieser gewaltige Güteraustausch rührt nicht bloß von der benachbarten
Lage her: er kommt auch davon, daß im Donaureiche die Deutschen die wichtig-
sten Bewohner sind. Sie tragen den allergrößten Teil (9/10) der Gewerbesteuern;
sie besitzen die meisten Bauerngüter (*/10) und Häuser (V4), wie auch die meisten
Bergwerke (9/10). Nicht nur die böhmischen und mährischen Kohlenlager und die
steirischen und die kärtnischen Erzlager befinden sich in deutschen Händen, sondern
auch die Salzlager in Galizien und Siebenbürgen wie die Hälfte der Steinöl-
quellen in Galizien. So ruht der Wohlstand und die Bildung Österreichs und
Ungarns zum allergrößten Teile auf den Deutschen. Selbst in slawischen
Bezirken besitzen Deutsche die meisten Fabriken. Die Nichtdeutschen des Donau-
reiches leben zum größten Teile von den deutschen Arbeitgebern.
Die Deutschen haben zudem einen Hauptteil des Landes geurbart, z. B.
die waldreichen Grenzgebiete Böhmens und Mährens, die sumpfigen oder
sandigen Strecken an der Donau, Drau und Sau. Die wohlhabendsten Dörfer
in Südungarn sind von Deutschen gegründet und bewohnt.
So sind die Deutschen die Hauptträger des Donaustaates. Sie sind auch
die Hauptstützen seiner Einheit. Leider haben die Habsburger die Deutschen nicht
immer unterstützt gegen die Angriffe ihrer übermächtigen Feiude. In Böhmen
werden die meisten Ämter mit Tschechen besetzt. Gewiß, die österreichische Re-
gierung hat oft einen schweren Stand; sie wird von allen Seiten bestürmt. Aber
sie muß auch bedenken: nur wenn das Deutschtum im Donaureiche erhalten bleibt,
nur dann kann das Reich seine Einheit und Macht behaupten. Wir aber wissen:
nur wenn die Deutschen nicht zurückgedrängt werden, nur dann bleibt das Donau-
reich ein sicherer Bundesgenosse von uns; darum unterstützen alle weitsichtigen
Deutschen das bedrängte österreichische Deutschtum, indem sie für deutsche Schulen
und Kirchen Beiträge zahlen. Die Deutschen Österreichs sind unsere Volks-
brüder. Das dürfen und wollen wir niemals vergessen. Das deutsche Vater-
land reicht aber soweit, wie die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel
Lieder singt.
IV. Die Niederlande.
1. Ihre Lage an der Rheinmündnng.
Das Königreich der Niederlande ist ein wenig größer als die Provinz
Pommern und ein wenig kleiner als Ostpreußen. Denn es hat 33 000 Geviert-
kilometer Landfläche. Es breitet sich an der Mündung des Rheins aus. Nach-
dem der Rhein bei Emmerich Preußen-Deutschland verlassen hat, teilt er sich
in zwei Arme Der nördliche wird L e k, der südliche Waal genannt. Der nörd-
liche Arm spaltet sich wieder und sendet einen Arm in die Südersee. Später
teilt sich der Lek abermals. _ Auch der Waal gabelt sich; ein Arm von ihm fließt
in den Lek. Die Maas teilt sich auch und ergießt einen Arm in den Waal. Sv'
bildet das Mündungsland des Rheins und der Maas eine Reibe von Inseln und.
74
IV. Die Niederlande.
Wird von großen Wasserarmen durchflossen. In dieses Gebiet ergießt auch die
Schelde ihre Gewässer. Das Küstenland ist auf dieser ganzen Strecke sehr
zerrissen. Zerrissen ist Holland aber auch im Norden. Hier sind der S ü d e r s e e
die westfriesiscken Inseln vorgelagert. Die Südersee schneidet tief ins Land
ein. In sie ergießt sich ein Rheinarm (die Jjssel). Holland ist ein schmaler Land-
streifen an der Nordsee, ähnlich wie Pommern an der Ostsee. Seine Küstenlänge
ist wegen des zerklüfteten Gestades sehr bedeutend, sie beträgt nämlich gegen
750 km.
2. Ihre Bodenbeschassenheit.
Holland gehört zur großen norddeutschen Tiefebene. Es bildet deren west-
lichen Ausläufer. Ohne jede natürliche Grenze geht das norddeutsche Flach-
land in die holländische Ebene über. Da nun das norddeutsche Tiefland sich von
Ost nach West senkt und abdacht, so liegt die holländische Ebene am tiefsten.
Am allertiefsten ist das Land zwischen der Schelde und der Südersee. Dieser
Teil liegt sogar unter dem Spiegel der Nordsee, wie ihr aus der Karte seht.
Mit Recht heißt darum Holland die Niederlande. Etwa der vierte Teil des ganzen
Landes liegt unterm Spiegel des Meeres und der Flüsse. Warum aber über-
flutet das Meer das tiefgelegene Land nicht? An der Nordseeküste zieht sich
zwischen der Maas und der Südersee eine lange und breite Dünenkette hin,
die bis zu 60 m Höhe ansteigt. Diese Dünenketten hindern das Hereinbrechen
der Meereswogen. Wo sie fehlen, da haben die Holländer hohe Deiche auf-
geschüttet. Da nun Holland so tief liegt, ist es kein Wunder, daß es zahlreiche
Sümpfe und Moore enthält. Die Flüsse haben nur ganz geringes Ge-
fälle. Träge schleichen sie dahin. Das Grundwasser hat fast gar keinen Abfluß;
es staut sich an, namentlich bei Hochwasser. So gleicht Holland ganz den moorigen
Gebieten in Hannover.
Ein Teil Hollands besteht aus Marschland, ebenso wie das Küsten-
land Hannovers, Oldenburgs und Holsteins. Der höher gelegene Teil des Landes
ist sandiges Geestland wie in Hannover und Schleswig. So finden wir
neben dem äußerst fruchtbaren Marschlande auch viel unfruchtbares Land, nämlich
Heiden, Dünen und Moore. Die Gletscher der Eiszeit haben auch hier Schutt
und Sand abgelagert, wie im ganzen norddeutschen Flachlande (Lüneburger
Heide usw.).
3. Das Meer als Feind Hollands.
Vor 2000 Jahren, zu der Zeit, als Christus lebte und predigte, sah Hollands
Küste ganz anders aus als heute. Da gab es im Mündungsgebiet des Rheins,
der Maas und der Schelde noch nicht so viele Inseln und Buchten; da gab es auch
die Südersee und die vorgelagerten westfriesischen Inseln noch nicht. Damals
war die holländische Küste noch wenig zerrissen und zerklüftet. Sie glich dem
mittleren Stücke. Aber unaufhörlich nagten die brausenden Wogen am Strande.
Sie rissen bei jedem Sturme ein größeres oder kleineres Stück vom losen sandigen
Strande los. Dann kamen gewaltige Spring- und Hochfluten. Sie stürzten sich
über die schützenden Dünenwälle und bahnten sich breite Straßen zum tiefer-
gelegenen Lande. So entstand eine Insel nach der andern, eine Bucht nach der
andern. Von Jahrhundert zu Jahrhundert ward das Land kleiner, das Meer
größer. Bei einigen ganz ungeheuren Springfluten bahnte sich die tobende
Nordsee den Weg in das Gebiet, wo heute die Südersee liegt. Hier befand sich
ehemals ein sumpfiger Binnensee, Als die Nordsee nun einmal Zugang zur Süder-
IV. Die Niederlande.
75
see hatte, da ruhte sie nickt eher, als bis sie die Straße immer breiter ausgewaschen
hatte. So erhielt die Südersee ihre heutige Gestalt. So bekam Hollands Küste
seine gegenwärtige Form. Man hat nachgerechnet, daß Holland durch diese
Meereseinbrüche wenigstens ein reichliches Viertel seines Gebietes einbüßte.
Es ging aber nicht bloß viel Land verloren. Oster kamen dabei auch Hunderte,
ja Tausende und sogar Zehntausende von Menschen ums Leben. Das ungestüme
Meer vertrieb die Menschen, die ihrer Habe und ihres Lebens nicht mehr sicher
waren. Sie wanderten nach Osten und besiedelten die Länder an der Saale,
Elbe, Havel, Spree usw. Um das Unglück nock zu erhöhen, wanderten die Dünen
landeinwärts. Wenn die lange Dünenkette in hundert Jahren nur 100 m land-
einwärts wandert, dann geht schon viel Land verloren. Das macht nämlich in
1000 Jahren einen Kilometer. Die alten Römer bauten vor der Mimdung
des Rheins eine Burg; heute liegt diese 3000 in weit in der Nordsee. In Sche-
veningen mußte man die Kirche schon zweimal landeinwärts verlegen. Bald wird
man sie zum dritten Male einrücken müssen. Die holländische Küste senkt sich ein
klein wenig. In einem Jahre sinkt hier der Boden um 3—5 mm tiefer in das Meer
ein. Das ist nur wenig, ganz unbedeutend. Aber in hundert Jahren sind das
bereits 3—5 cm. In tausend Jahren macht das 30—50 cm, in 2000 Jahren
schon bald einen Meter aus. Da nun das Land an sich schon sehr tief, ja viel zu
tief liegt, so ist ein Meter weiterer Senkung ein höchst gefährlicher Nachteil.
Besser wäre es für Holland, wenn sich der Boden höbe.
Durch die ständigen Landverluste hat Holland in 700 Jahren gegen
9000 qkm Land eingebüßt. Das ist die halbe Provinz Schleswig-Holstein oder
soviel wie das Großherzogtum Hessen und das Herzogtum Altenburg zusammen.
Ist das nicht ein gewaltiger Verlust! Soll man das Meer weiter wüten und das
Land ungeschützt verheeren lassen?
4. Schutzmittel gegen das Meer und Wasser.
Das Meer hat selbst ein Schutzmittel gegen sein Wüten geschaffen. Es
wehte einen Dünensaum auf. Er schützt namentlich das Land zwischen der Maas
und der Südersee. Am höchsten und breitesten ist er in der Mitte. Hier ist die
Küste auch am wenigsten zerrissen. Das ist ein großer Vorteil, da das Hinter-
land unterm Meeresspiegel liegt. Die Dünen sind aus dieser Strecke bis zu 5 km
breü und darum mit Wäldern bewachsen. Im Süden ist ihre Höhe und Breite
geringer. Deshalb konnte das stürmische Meer den Dünensaum durchbrechen
und die Inseln und Buchten im Mündungsgebiet der Schelde, der Maas und
des Rheins schassen. Im Norden war der Dünenwald erst recht niedrig und schmal.
Deswegen hahnte sich hier die wogende Nordsee einen Zugang zu dem Binnen-
see und schuf so die gewaltige Südersee, die halb so groß wie das Großherzogtum
Oldenburg ist oder etwas kleiner als das Großherzogtum Weimar oder das
Herzogtum Braunschweig. Es war nur gut, daß die westfriesischen Inseln erhalten
blieben. Sie brachen und brechen die Gewalt der tosenden Wellen und schützen
so das Land dahinter.
Doch genügt dieser natürliche Schutz des Meeres nicht. Er mildert nur den
Ungestüm des Wogenpralls. Aber ein großer Teil, ein Viertel des Landes liegt
ja unterm Meeresspiegel. Ja, wenn rings um dieses Gebiet des tiefsten Landes
ein hoher Dünenwall sich zöge, dann ginge es wohl an. Aber die Küste des Süder-
sees ist schon tiefer als der mittlere Wasserstand der Nordsee. Treibt nun ein Nord-
sturm unaufhörlich Wasser in die Südersee, so steigt hier das Wasser. Es würde
nun weite Gebiete verheerend überfluten und in einen See, in einen Meeres-
76
IV. Die Niederlande.
teil verwandeln. Dann bliebe der höhere Dünensaunr nur als schmale Nehrung
erhalten. Das wußten die Holländer gar wohl. Darum errichteten sie Dämme
und Deiche an der Küste. Nach der Seeseite fallen sie sanft ab, damit die branden-
den Wellen sich allmählich brechen. Nach der Landseite fallen sie steil ab, damit
nicht viel des kostbaren Landes verloren geht, damit man auch nicht zu viel Erde
auszuschütten braucht. Um sie fest zu machen, werden Pfähle eingerammt und
oben Bäume angepflanzt ; denn deren Wurzelwerk hält das Land fest. Oben ist
die Fahrstraße. Sie ist mit Ziegelsteinen gepflastert. Auf ihr spielt sich der ganze
Verkehr ab. So erfüllen die Deiche zwei Zwecke; sie sind Schutz- und Fahrdämme,
Schutzmittel und Verkehrswege.
Solche Deiche sind auch gegen die Flüsse notwendig. Deren Bett liegt
nämlich vielfach höher als das sie umgebende Land. Da kann man nur durch
hohe Dämme das tiefgelegene Land vor Überschwemmungen schützen. Gefährlich
ist besonders das Hochwasser im Winter und Frühjahr. Doch ist es ein Glück,
daß sich der Rhein in mehrere Arme teilt. Dadurch verteilt sich die gewaltige
Wassermenge auf mehrere Wasseradern. Man hat nun zweierlei Deiche errichtet.
Die Sommerdeiche sind niedriger als die Winterdeiche. Die Sommerdeiche
liegen näher am Meere und am Flusse. Die Winterdeiche liegen dahinter und
sind bis zu 7 m höher. Gefährlich ist es, wenn bei Hochwassern Flut ist und ein
heftiger Westwind oder Nordwestwind weht. Dann wird das Wasser stark zurück-
gestaut. Ein Glück ist es da, daß die Flut nicht überall zu gleicher Zeit und nicht
gleich stark eintritt. In der Südersee ist sie fast gar nicht zu merken. Ist im Waal
und Lek die Flut stark, dann fließt viel Wasser auf der Jjssel in die Südersee..
Hat ein nördlicher Wind die Südersee angestaut, dann fließt viel Wasser auf dem
Lek und Waal ab. Dazu haben die Holländer große Schleusen gebaut. Sie können
so den Wasserablauf regeln, wie es am besten ist.
Run mußte man in Holland noch zahlreiche Kanäle graben, um das
versumpfte und nasse Land trocken zu legen. Man hat sie alle schnurgerade an-
gelegt, damit sie erstens am kürzesten werden, und zweitens das größte mögliche
Gefälle bekommen. Sie schneiden sich zumeist rechtwinklig. In diesen Gräben
sammelt sich das Wasser. Da nun aber das Land tiefer liegt als das Bett der
Flüsse, kann das Kanalwasser nicht in die Flüsse abfließen; im Gegenteil, die
Flüsse würden in die Kanäle einströmen und alles Land überfluten. Man durfte
daher die Kanäle nicht in die Fliisse leiten. Nun brauchte man aber doch Ab-
flüsse für das Kanalwasser. Da baute man an dem Estde der großen Wasser-
gräben große Pumpwerke und ließ sie durch Windmühlen treibeu. Sie hoben
und heben das Wasser mittels Schöpfrädern aus den tiefer gelegenen Gräben
in höher gelegene Kanäle; diese leiten es dann in die Flüsse oder ins Meer ab.
Heute hat man auch viele Windmühlen durch Dampfmaschinen ersetzt. Gerade
Holland ist für Windmühlen gut geeignet. Es ist eben. Da es am Meere liegt,
weht fast ständig Wind. Schleusen sind natürlich am Ende der Kanäle nötig.
Die Kanäle dienen zugleich der Kahn- und Schiffahrt.
Durch die Kanäle und Deiche entstehen lauter große Landvierecke; man
nennt sie Polder. Die Marschen in diesen Poldern sind sehr fruchtbar. Da
sie immer feucht sind, benutzt man sie vornehmlich als Wiese und Weide. Nack,
Süden zu kann man auch Äcker und Gärten darin anlegen.
5. Landgewinn und Landeroberung.
Zunächst kam es den Holländern darauf an, weiteren Zerstörungen des
kostbaren Landes vorzubeugen. Sonst wäre ja fast ihr ganzes Vaterland ein
IV. Die Niederlande.
77
'Raub der gierigen Wellen geworden. Doch haben sie auch schon seit langem
darnach gestrebt, einen Teil des ehemals verschlungenen und versunkenen Landes
wiederzuerobern. Diese Arbeit erleichtern ihnen das Meer und die Flüsse. Der
Rhein bringt alljährlich viele Millionen Zentner Schlamm nach Holland (30 Mill.
Doppelzentner). Im Laufe der Zeit lagert der Rhein eine ansehnliche Masse
von fruchtbarer Erde ab. Die Jjssel schob so eine Landzlmge in die Südsee vor.
Sie verlängerte sich von Jahr zu Jahr. Im Norden lag ursprünglich eine Stadt
(Leeuwarden) ehemals am Meere. Heute ist sie eine Binnenstadt. Die Wellen
der Nordsee haben unaufhörlich Land angeschwemmt. Diese einstige Seestadt
liegt heute bereits 30 km von der Küste entfernt. So vermehrt das Meer an
manchen Stellen das Land. Freilich zerstört es mehr, als es aufbaut.
Die Holländer haben nun selbst neues Land dem Meere abgerungen.
In dem Mündungsgebiete von Rhein, Maas und Schelde gab es ehemals un-
gemein viele kleine Inseln. Da kamen die Holländer auf den Gedanken, zwischen
ihnen hohe Deiche aufzuwerfen. Das eingeschlossene Wasser ward herausge-
pumpt. So entstanden aus den zahlreichen kleinen Inseln wenige große. So
hat man auch vor einer westfriesischen Insel (Ameland) einen Deich gebaut, der
bis ans Festland reicht. Das Wattenmeer ist hier ganz seicht und überflutet
nur zur Flutzeit das Gebiet zwischen der Insel und dem Lande. Das Meer
spült dort unaufhörlich Sand an, und so wird der Damm immer breiter. Mit
der Zeit kann diese Insel Festland werden. Dann werden auch andere Inseln
an die Reihe kommen.
Im Dollart hat man auch wieder viel Land dem Meere abgewonnen.
Mit der Zeit wird hier nur ein breiter Kanal übrig bleiben.
Das Meer hatte nun auch innerhalb des Landes manchen See gebildet.
Da haben nun die unermüdlichen Holländer viele davon trocken gelegt. So
befand sich zwischen Leiden und Haarlem ein großer See, der zur Flutzeit mit
der Südersee in Verbindung trat. Man schüttete um ihn einen hohen Ring-
deich auf und pumpte dann das Wasser heraus. Das war eine langwierige und
schwierige Arbeit. Aber der zähe Mederländer scheute nicht davor zurück. Durch
das trocken gelegte Land zog er Wassergräben, in denen sich das überflüssige Wasser
ansammelte. Dies wurde durch Windmühlen unaufhörlich herausgepumpt. Nach-
dem der Boden ausgetrocknet war, legte man zahlreiche Dörfer in dem Bette
des ehemaligen Sees an. Bald blühte hier die Land- und Gartenwirtschaft.
Üppige Weizen- und Hafer-, Klee- und Rapsfelder erstanden, und auf den fetten
Wiesen standen Pferd und Rind gar bald bis an den Bauch im Grase. An anderen
Stellen züchtete man Hyazinthen und andere Blumem
In gleicher Weise legte man andere Seen und Meeresteile trocken. Bis
jetzt hat man ein Gebiet gewonnen, das so groß ist wie das Großherzogtum
Weimar (oder das Herzogtum Braunschweig). Das ist mehr als ein Drittel
des einst verloren gegangenen Landes. Da sieht man, was der Mensch zuwege
bringen kann. Dennoch genügt dies dem nimmer müden Mederländer noch
nicht. Er will noch mehr Land erobern, mitten im Frieden, im Kampfe mit
dem nassen Feinde. Amsterdam lag an einem breiten Meeresarm, dem Jj,
das zur Südersee gehört. Dies hat man ebenfalls ausgefüllt und nur einen
breiten, tiefen Kanal gelassen. Nun sagten sich die Niederländer: Was dem Jj
recht ist, das ist der Südersee billig. Haben wir uns vor dem Haarlemer Meer
und dem Jj und dem Dollart nicht gefürchtet, so brauchen wir uns auch vor der
Südersee nicht zu scheuen. Wir legen nun Hand an sie. Zunächst bauten sie
mi Norden einen (5 1/2m) hohen Deich, der die Südersee vom Meere abtreunt.
78
IV. Die Niederlande.
Natürlich vermitteln große Schleusen den Schiffsverkehr, und sie regeln zugleich
den Zu- und Abfluß des Wassers. Die Herstellung dieses nördlichen Dammes
wird gegen neun Jahre dauern, wird er doch rund'30 km lang. Die Südersee
ist ziemlich seicht, meist nur ungefähr 3 bis 4 m tief. Ist der Damm fertig, dann
ist die Südersee wieder ein Binnensee. Dann schnürt man einzelne Buchten
ab und legt sie trocken. Natürlich braucht man viel Zeit dazu. Das große Werk
wird auch viel Geld kosten. Aber man wird dafür viel fruchtbares Land gewin-
nen, wenigstens so viel wie das Herzogtum Anhalt. Außer breiten Wasser-
straßen will man in der Mitte einen Süßwassersee übrig lassen, doppelt so groß
als der Genfer See. Ein solcher See hat auch große Vorteile. Er begünstigt
die Schiffahrt und die Fischerei.
So wird sich Holland in einigen Jahrzehnten beträchtlich vergrößern
Es hat auch den öden und unfruchtbaren Mooren viel ertragreiches Land,
abgewonnen, so viel wie ein Fürstentum (etwa Schwarzburg-Rudolstadt).
Kosten diese Landeroberungen auch ungemein viel Geld, so verlohnen sie sich
doch.
6. Hollands blühende Landwirtschaft und Viehzucht.
Die Hälfte des holländischen Bodens besteht aus Geest und Moorland.
Infolgedessen entfallen auf Ödland (Heiden, Moor, Dünen) etwa der vierte
Teil des gesamten Landes. Freilich wird man nach und nach davon noch viele
Gebiete urbar machen. Auf das Ackerland entfällt nur der vierte Teil, bei uns
etwa die Hälfte. Die Äcker geben aber im allgemeinen gute Erträge, besteht
doch der Boden meist aus frmchtbarem Schlamm. Weizen und Gerste werden
wenig, hingegen Roggen und Hafer nebst Kartoffeln reichlich angebaut.
Holland ist dicht bevölkert, dichter als das Deutsche Reich. Daher reicht
die einheimische Ernte nickt aus; man führt Getreide von auswärts ein. Um
so nrehr widmet man sich dem Gartenbau und der Viehzucht. Beide ergeben
noch höheren Gewinn als der Getreidebau. Zur Viehzucht braucht man auch
weniger Arbeitskräfte. Das feuchte Wetter eignet sich auch besser für den Gras-
wuchs und den Gartenbau. Gibt es in Holland doch recht oft Nebel (40 Tage
im Jahre); regnet es doch fast einen Tag um den andern (an 190 Tagen). Es
fallen selten heftige Güsse, aber es regnet fein, besonders im Herbste. Da ist
die Luft über dem Meere noch warm, die im Lande schon kalt. Kommen die
Wolken ins Land, so kühlen sie sich ab und regnen sich ab.
Die Sommer sind mild, die Winter gleichfalls. Die durchschnittliche Wärme
Hollands ist gerade so groß wie in der oberrheinischen Tiefebene. Dies feuchte
Wetter mit den milden Wintern und den kühlen Sommern begünstigt den Gar-
tenbau und Graswuchs. Hier sind frühzeitig große Gemüse- und Blumen-
gärten entstanden. Namentlich züchtet man Hyazinthen und Tulpen. Es gab
Zecken, wo die Niederländer für eine seltene Tulpen- oder Hyazinthenzwiebel
ein paar Tausend Mark bezahlten. Bei Haarlem sieht man ganze Felder von
Hyazinthen, Tulpen, Narzissen, Buschwindröschen. Daneben baut man Tabak,
Zichorien und andere Gewächse. Holland führt daher regelmäßig Blumen und
Gemüse aus. Die holländische Gemüsegärtnerei ist der deutschen weit voraus.
Ganze Kähne voll Gemüse gehen auf den Kanälen in die Städte. Jedes Dorf
bildet eine Verkaufsvereinigung; diese versteigert die Kahnladungen und gibt
den Erlös dem Gärtner. Die Gärtner kümmem sich bloß um ihren Gemüsebau.
Sie haben allerhand Warmhäuser und heizbare Kästen und bringen die ersten
Gurken schon im zeitigen Frühjahr auf den Markt.
IV. Die Niederlande.
TJ
In Blüte steht vor allem die V i e h z u ch t. Die fetten Marschen dienen
zur Hälfte der Viehwirtschaft. Die Rindviehzucht steht obenan. Die Rinder
weiden fast das ganze Jahr hindurch auf den Wiesen. Sind sie im Winter im
Stalle, so braucht man nur selten die Stalltür zu schließen. Das ist für die Ge-
sundheit des Viehes sehr gut. Dazu hält der Holländer die Ställe peinlich sauber.
Man betritt sie nur mit Pantoffeln oder Holzschuhen, welche am Eingangs
bereitstehen. Ein Schmutzfleck im Stalle würde Anstoß erregen. Mancher Fuß-
boden der Ställe ist glatt und fein wie das Parkett eines Tanzsaales. Die Nie-
derländer züchten mehr Vieh, als sie brauchen. Sie verkaufen viele der schwarz-
weißen Rinder ins Ausland, namentlich nach Deutschland. Daneben führt
man viel Fleiscb aus. Die Milch verarbeitet man zu Butter und Käse und führt,
diese Erzeugnisse in großen Mengen aus. Berühmt und begehrt sind der Lim--
burger und Edamer Käse. Nach Deutschland liefert Holland in erster Linie
Butter und Käse. Der Wert dieser ist größer als der Wert des nach Deutsch-
land verkauften Fleisches. Außerdem stellt man in Holland viel Margarine
her, hat man doch Talg und Milch (Rahm) zur Hand.
Neben der Rindviehzucht treibt man vornehmlich im sandigen Geestgebiet
Schafzucht. Wie Oldenburg ist Holland in erster Linie auf die Viehwirtschast
angewiesen.
7. Hollands reger Gewerbfleiß und Handel.
Holland war ehemals reich an Buschholz, darum hieß es ja Holzland-
Heute ist es eins der holzärmsten Länder Europas, wie Schleswig-Holstein..
Doch hat man begonnen, Heiden aufzuforsten. Die Holzarmut ist natürlich
ein großer Mangel; ein außerordentlicher Vorteil für die Mederlande ist, daß-
der Rhein ihnen billig Floßholz aus dem Schwarzwald usw. herzuträgt. Hol-
land bezieht zu Schiff auch viel Holz aus Norwegen, Schweden und Rußland..
Von alters her sind die Holländer tüchtige Schiffer und berühmte Schiffsbauer
gewesen. Sie sind ja aufs Meer und Wasser angewiesen und fahren von Jugend
auf mit Kahn, Boot und Schiff. Sie widmeten sich auch frühzeitig der Fischerei...
Insbesondere betreiben sie in der Nordsee die Heringsfischerei. Lange Zeit
hatten die Niederländer die größte Heringsslotte. Sie können die gefangenen
Heringe gar nicht selber verbrauchen und verkaufen sie daher ans Ausland,
Deutschland usw. Einträglich ist auch die Fischerei in den Wattenmeeren und-
der Südersee.
Die Schiffahrt und Fischerei ließen auch andere Gewerbe entstehen und
aufblühen. Da gab es Webereien, in denen Segeltuch hergestellt ward; in den
Seilereien verfertigte man die starken Tarm. Gerber und Schuhmacher ver-
sorgten die Schiffer und Fischer mit festem Schuhwerk und Lederzeug. Die
Friesen webten ein festes Gewebe (Fries).
Holland ist nicht nur arm an Holz, sondern auch arm an Kohlen und andern
Bodenschätzen. Dies hinderte die Industrie. Doch ist es für Holland ein Vor-
teil, daß ihm der Rhein die rheinisch-westfälische Kohle, die Schelde und Maas
die belgische und das Meer die britische Kohle billig ins Land bringen. In gleicher
Weise bekommt es auch die Metalle von auswärts.
Die Holländer haben in der Schiffahrt von jeher viel geleistet und sich da-
durch große Reichtümer erworben. Lange Zeit waren sie die Frachtfuhrleute
der Welt. Von Jugend auf lagen die Holländer der Schiffabrt ob und bildeten
sich dadurch zu mutigen Seehelden aus. Die Küste Hollands ist 750 km lang
xmti lockt die Bewohner aufs Meer hinaus. Die Holländer erwarben sich auckp
80
IV. Die Niederlande.
nach 1600 weite Gebiete über See und holten von dort Kaffee, Tee, Reis, Tabak,
Zucker, Zimt und andere Gewürze. Durch diesen Handel mit den Erzeugnissen
der heißen Länder verdienten sie große Summen. Namentlich Amsterdam
und Rotterdam blühten dadurch empor. Die reichen Kaufherren Amsterdams
waren zugleich Reeder und oft auch noch Bankherren. Zu der Zeit, wo der Drei-
ßigjährige Krieg unser Vaterland verheerte und unser Volk aussog, da wurde
Holland zusehends wohlhabend, da stand es auf dem Gipfel seiner"Macht. Es
beherrschte die Mündungen des Rheins, der Maas und der Schelde, es über-
traf auch die Hansa und verdrängte sogar die deutschen Reeder und Kaufherren
aus der Nord- und Ostsee, aus dem Handel mit Spanien und anderen
Ländern.
Noch heute ist Holland ein wichtiges Handelsoolk und Handelsland. Der
Rhein ist ja eine bedeutende Verkehrsader. Rotterdam ist gewissermaßen der
deutschrheinische Ein- und Ausfuhrhafen. 1910 kamen in Emmerich aus Hol-
lanb über 34000 Schiffe, und 34 000 gingen von da nach Holland. Sie brachten
aus der Fremde namentlich Erze, Holz, Weizen, Steinkohlen, Steine, Gerste,
Ölsaat usw. Das sind vor allem solche Waren, welche Holland gar nicht selber
erzeugt. Holland ist darum für uns ein Durchgangsland. Abwärts gingen
Steinkohlen, verarbeitetes Eisen, Steine, Zement, Kalk, Düngemittel, Salz usw.
Vieles davon wird in Holland verbraucht; vieles geht weiter.
. Holland hat einen großen Außenhandel. Es ist dicht bevölkert. Die hol-
ländische Bevölkerung ist in hohem Grade auf die Einfuhr und Ausfuhr von
Waren angewiesen. Sie brauchen Getreide, Kohlen, Steine, Holz, Eisen und andere
Metalle, Webstoffe und Webwaren. Dafür führen sie aus Butter, Käse, Marga-
rine, Vieh, Fleisch, Heringe und andere Fische, Gemüse, Blumen usw.
Um die Binnenschiffahrt zu heben, hat man viele Kanäle angelegt.
Die Bodenbeschaffenheit des Landes erleichtert den Bau künstlicher Wasser-
straßen. Die Länge der Kanäle ist größer als die schiffbaren Strecken der Flüsse.
Holland hat so im Verhältnis die meisten künstlichen Wasserstraßen, über fünf-
mal mehr als Deutschland. So geht ein Kanal von Rotterdam nach Amsterdam,
indem er sich hinter der Dünenkette hinzieht. Bon Amsterdam läuft ein Kanal
nach Westen in die Nordsee. Von Amsterdam zieht sich eine künstliche Wasser-
straße nach der Nordspitze der Landzunge. Nach Süden zu setzt sich diese über
Utrecht nach dem Lek fort. Das nordöstliche Holland — Friesland — ist gleich-
falls reich an Kanälen. Eine Wasserstraße geht vom Dollart aus durch die Mar-
schen nach der nördlichen Südersee; bei Groningen zweigt ein Arm ab und
läuft nach der Mündung der Vechte. Auch das südliche Holland hat Kanäle.
Der eine geht von der Maas aus und mündet in einen belgischen. Zu diesen
Hauptkanälen kommen noch zahlreiche kleinere. Ehemals ließ man die Fahr-
zeuge durch Pferde ziehen. Die Pferde liefen am Strande hin und zogen das
Seil, das am Fahrzeuge befestigt war. In der Regel legte ein solches in der
Stunde eine Meile zurück. Heute läßt man die Fahzeuge zumeist durch Dampfer
schleppen.
Das B a h n n e tz ist ziemlich dicht. Die Ebene begünstigt an sich die An-
legung der Bahnen. Aber die vielen Kanäle und Flußarme machen zahlreiche
und kostspielige Brückenbauten nötig. Dazu erschweren die Sümpfe, Moore
und Marschen den Bahnbau, zumal es an Steinen und Holz fehlt. Drei Linien
führen nach Deutschland; die eine, die mittlere, geht von Rotterdam aus, bleibt
in der Nähe des Leks und führt nach Wesel. Die südliche beginnt in Vlissingen
und durchzieht das Land südlich von der Maas, um in Krefeld einzumünden.
IV. Die Niederlande.
81
Die nördliche beginnt in Amsterdam, durchquert nördlich von: Lek das Land
und läuft nach Osnabrück.
8. Amsterdam und die übrigen Städte Hollands.
Die größte Stadt Hollands ist A m st e r d a m (beinahe 600 000 Einwohner),
etwas größer als Dresden und nicht ganz so groß wie Leipzig. Früher war es
ein kleines Städtchen. Antwerpen in Belgien war bedeutend größer. Als aber
die Spanier Antwerpen eroberten, da zog sich Hollands Handel nach Amster-
dam. Nun wuchs dieses ungemein rasch und schuf sich eine große Handelsflotte.
Während der Dreißigjährige Krieg unser Vaterland durchtobte und verwüstete,
fuhren die Amsterdamer Kaufherren und Reeder auf allen Meeren, beraubten
die spanischen Silberschiffe und brachten Gewürze aus Indien. Andere fuhren
nach Norden auf die Walfischjagd. Alles das brachte ungeheure Gewinne. So
ward Amsterdam eine reiche Stadt. Später mußte es viel von England leiden.
Die Engländer nahmen den Amsterdamern die Schiffe weg und zogen den hol-
ländischen Handel an sich. In den napoleonischen Kriegen mußte Amsterdam
dann erst recht leiden, denn die Engländer betrachteten es als Feind. Nach den
Befreiungskriegen hob sich Amsterdam wieder. Nun baute es tiefe Kanäle,
um seine Schiffahrt zu fördern.
Amsterdam ist auf weichem, moorigem Grunde erbaut. Das erschwerte
den Hausbau ungemein. Man fand keinen festen Baugrund; überall lag Torf.
Da rammte man lange, starke Pfühle in die Torfschicht und trieb sie bis in den
darunter befindlichen Sandboden. Zum Bau des Rathauses brauchte man
über 13 000 Stämme. In der Regel nahm man dazu starke Eichen; sie halten
der Feuchtigkeit am längsten Stand. Da kann man sich denken, wieviel Holz
man da brauchte! Um das Wasser abzuleiten, grub man zahlreiche Gräben oder
Grachten. Sie sind von zahllosen Lastkähnen belebt. An der einen Seite ist
eine breite Straße. Gegen 300 Brücken überspannen die vielen Kanüle. Hohe
Warenspeicher umsäumen die Wasser- und Landstraßen. Große Hafenanlagen
nehmen die Schiffe auf. Der tiefe Nordseekanal gestattet selbst den großen Damp-
fern die Einfahrt nach Amsterdam.
So ist dies ein wichtiger Hafenplatz, obgleich es im Binnenlande liegt.
Freilich wird es von Rotterdam bei weitem übertroffen, weil dies den rhei-
nischen und westdeutschen Seeverkehr mit vermittelt. In Amsterdam gehen
die überseeischen Waren ein, wie Tabak, Baumwolle, Kaffee, Tee und aller-
hand Gewürze. Hier entstand auch die Demantschleiferei und gelangte zu hoher
Blicke. Gegen 70 Fabriken betreiben sie heute. Juden brachten vor 300 Jahren
die schwierige Kunst des Demantschleifens nach Amsterdam. Die Demante
müssen zuerst gespalten, dann geschnitten und zuletzt geglättet oder poliert wer-
den. Die Demante sind meistens klein und müssen ganz sorgfältig behandelt
werden. Dazu kann man nur ganz zuverlässige Leute nehmen. Verhunzte
ein Arbeiter einen Stein, so wären gleich Tausende verloren. Das Schleifen
dauert oft recht lange. So hat ein Jude mehrere Jahre gebraucht, um für die
Königin von England den berühmten Demant Lichtberg (Kohinor) zu schleifen.
Minderwertige Demante schleift man mit Maschinen. Die Demantschleiferei
ist für Amsterdam eine reiche Goldquelle. Verdient dabei doch mancher Arbeiter
wöchentlich 100 bis 200 Mark.
Neben der Demantschleiserei gibt es hier große Schiffsbauwerften, Segel-
tuchwebereien, Zigarrenfabriken, Zuckersiedereien, Likörbrennereieu. Groß ist
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2.
82
IV. Die Niederlande.
auch die Zahl der Banken. Da Amsterdam eine reiche Stadt war, konnte es
auch großartige Bauten aufführen, wie das Rathaus, das 90 m lang, 70 m
breit und 35 m hoch ist.
Rotterdam an der Lekmündung ist jetzt der größte niederländische
Hafen und zählt über 400 000 Einwohner (wie Frankfurt am Main). Ein künst-
licher Wasserweg gestattet auch den großen Seeschiffen die Einfahrt. Haag
zwischen Rotterdam und Amsterdam, an einem Kanal gelegen, ist etwas größer
als Bremen und bildet heute die Residenz- und Regierungshauptstadt der Nieder-
lande. Da Haag eine neuere Stadt ist, finden sich hier lauter breite, gerade Stra-
ßen, viele große freie Plätze und schattige Spaziergänge. Haag ist namentlich
von Beamten und Rentnern bewohnt.
Nördlich von Haag liegen Leiden und Haarlem. Leiden war
ehemals eine wichtige Hafenstadt, heute ist der alte Rhein versandet; Haarlem
ist die berühmte Blumenstadt, die aber auch viele Webereien, Färbereien und
Bleichereien besitzt. U t r e ch t ist die wichtigste Binnenstadt und stark befestigt.
M a a st r i ch t an der Maas liegt in Limburg; hier ist die einzige Gegend Hol-
lands, wo man Steine, Kalk und Kohlen findet. V l i s s i n g e n an der Schelde-
mündung ist der Kriegshafen Hollands. Es ist zugleich der wichtigste Hafen-
platz für den Personenverkehr nach England. Groningen ist die wichtigste
Stadt des nordöstlichen Hollands und betreibt vor allem Getreide- und
Viehhandel, liegt es doch am Rande des getreide- und viehreichen Marsch-
landes.
9. Die Niederländer.
Die Niederlande gehörten einst zum alten Deutschen Reiche. Hier hatten
die Holländer und Friesen ziemlich unabhängige Herzogtümer gegründet. Nach
dem Tode des deutschen Kaisers Karl V. kamen die Niederlande samt Belgien
an das streng katholische spanische Königshaus. Kurz zuvor hatte hier die Re-
formation Eingang gefunden. Noch heute gehört über die Hälfte der Holländer
zu den Reformierten. Der spanische König Philipp II. wollte den protestan-
tischen Glauben in den Mederlanden ganz ausrotten und schickte einen grau-
samen Feldherrn dahin. Aber da empörten sich die Niederländer und rissen
sich los von Spanien. Nur die nördlichen Provinzen behaupteten ihre Frei-
heit, denn Antwerpen ward nebst dem größten Teile Belgiens von den Spa-
niern wieder erobert. Im Norden konnten die Spanier nichts schaffen, denn
die Holländer zerstörten die Dämme und überfluteten das Land, um die Spa-
nier zu vertreiben. Im westfälischen Frieden ward Hollands Freiheit und Un-
abhängigkeit anerkannt. Leider trat damit Holland auch aus dem Deutschen
Reiche aus. Das war ein großer Nachteil für die Holländer und für Deutschland.
Seit dem westfälischen Frieden bedrängte England das kleine, aber mächtige
und reiche Holland. In London sagte man: Holland muß zerstört werden. Die
Engländer nahmen nun auch holländische Schiffe weg und eigneten sich nieder-
ländische Kolonien an. Das kleine Holland konnte eben auf die Dauer dem
immer größer werdenden England nicht standhalten. Ihm fehlte der Rückhalt
einer starken Landmacht. Leider war Deutschland von 1650 bis 1850 zur See
auch nicht stark. Holland hat noch große Kolonien, die sack so groß wie die deutschen
sind; doch könnte es diese nicht erfolgreich gegen einen starken Feind verteidigen.
Es muß sich darauf verlassen, daß keine Seemacht zuläßt, daß eine andere die
holländischen Besitzungen sich aneignet.
IV. Die Niederlande.
83
Die holländische Sprache ist eigentlich nur eine niederdeutsche Mundart;
die Holländer nennen sie ja selber niederdeutsch. Diese Mundart ist seit 1650
eine Schriftsprache geworden, da man sie zur Landes- und Staatssprache er-
hoben hat. Die Mederdeutschen diesseit und jenseit der holländischen Grenze
verstehen sich ganz gut.
Die Holländer lieben die Ruhe und Behaglichkeit und erscheinen daher
träge und verschlossen. Aber sie sind durchaus zähe, besonnen und bedächtig.
Der Kampf mit dem Meere und dem Wasser erfordert ja viel Geduld und Aus-
dauer. Da muß man auch manchmal gleichmütig zuschauen, wie die empörten
Wogen in wenig Minuten zerstören, was mühsam in Jahren aufgebaut ward.
Das trübe, nebelige Wetter hat sehr auf die Holländer gewirkt. Es zwingt sie,
für eine behagliche Häuslichkeit zu sorgen.
Damit wenigstens die Häuser einen freundlichen Anblick gewähren, muß
man sie hell anstreichen; sonst sähe ja alles noch viel trüber aus. Darum liebt
der Holländer auch die bunt bemalten Wände, Geräte, Möbel. Damit das Holz-
gerät nicht so leicht der Fäulnis anheimfällt, muß es angestrichen werden. Das
trübe, nasse Wetter zwingt den Mederländer zur Reinlichkeit. An allen Ecken
und Enden scheuert und wäscht man. Schon um fünf Uhr spülen die Mägde
den Bürgersteig ab. Die Straße ist mit bunten Fliesen belegt. Um sie nicht zu
beschädigen, ist den Wagen die Einfahrt ins Dorf verboten. Die Bürgersteige
aus Ziegeln und bläulichen Kacheln sind oft tadelloser rein als bei uns die Trep-
penhäuser. Ebenso blank sind die Verkaufsläden, die Wohnzimmer und selbst
die Ställe. Fenster, Türen, Schlösser, Geländer, Möbel: alles wird täglich
blitzsauber gemacht. An der Tür eines jeden Hauses stehen Filzpantoffeln, die
der Besucher über seine Schuhe zieht. Schmutz darf der Holländer nicht dulden,
sonst verschmutzte sein Haus in kurzer Zeit. Die Gehwege würden bei dem
nassen Wetter so schlüpfrig und schmierig, daß man jeden Augenblick ausgleiten
könnte. Überall gibt es Staub, Moor, Schlamm, der bei jedem Regentage auf-
weicht und dann überall hin mitgeschleppt würde. Die peinliche Sauberkeit
ist nötig für die Gesundheitspflege, für den Verkehr, für die Erhaltung der Ge-
räte; es würde sonst alles bald verrosten und verfaulen.
10. Deutschland und Holland.
Holland ist seiner Lage nach eine Provinz, d. h. ein natürliches Glied des
norddeutschen Flachlandes. Kein Gebirge trennt es von Deutschland. Viel-
mehr verbindet es der Rhein aufs engste mit ihm. So ist auch Hollands Handel
zum großen Teile auf sein mächtiges Hinterland angewiesen. Ohne Deutschland
wäre Holland nicht so wohlhabend geworden. Ehemals lieferte es uns die meisten
Kolonialwaren und war so unser Seefahrer. Heute geht eine gewaltige Menge
deutscher Waren durch die Niederlande. Emmerich ist einer der größten Rhein-
häfen. Über 20 000 beladene Fahrzeuge kommen alljährlich aus Holland und
ebensoviele gehen nach Holland. Dazu kommen noch gegen 5000 unbeladene
der Berg- und Talfahrt. Das sind täglich fast 100 Fahrzeuge, welche die hol-
ländische Grenze überschreiten und etwa 31Mill. t bringen und fortschaffen. Dazu
kommen noch zahlreiche Flöße. Amsterdam und Rotterdam sind für das Rhein-
land die wichtigsten Ein- und Ausfuhrhäfen. Die Mederlande vermitteln für
den Westen Deutschlands den Zugang zum Meere. Es ist billiger und bequemer
für die Rheinbezirke, die Waren über Amsterdam und Rotterdam zu versenden
oder zu beziehen als über Bremen und Hamburg.
6
84
V. Das Königreich Belgien und das Grotzherzoglum Luxemburg.
Amsterdam liegt für den deutschen Handel weniger günstig als Rotterdam,
daher hat auch Rotterdam das abgelegene Amsterdam überflügelt. Holland
lebt jetzt zum großen Teil von dem gewaltigen Durchgangshandel mit Deutsch-
land. Wenn wir uns z. B. in Ems einen eigenen Rheinhafen schüfen, dann
würde Holland eine gewaltige Einbuße erleiden. So hängen die Holländer
sehr von uns ab. Sie müßten uns dankbar sein für die gewaltigen Einnahmen,
die wir ihnen alljährlich zuwenden. Dazu beziehen wir von ihnen mancherlei
Erzeugnisse, wie Vieh, Käse, Butter und Gartengewächse, sowie Heringe und
andere Fische, alles zusammen gegen ^ Milliarde im Jahre. Wir liefern Holland
beinahe doppelt so viel an Kohlen, Eisen, Getreide und Mehl, Maschinen und
Geweben. Dieser Handel würde bedeutend wachsen, wenn Holland mit dem
Deutschen Reiche ein Zollgebiet bildete. Vorläufig aber wollen die Holländer
noch nichts wissen von einem engen Anschluß an Deutschland.
V. Das Königreich Belgien und das Lrobberzogtum
Luxemburg.
1. Belgiens Lage und Größe.
Südlich von Holland liegt ebenfalls ein Königreich, das Königreich Belgien.
Es breitet sich aus zwischen Frankreich und Holland, sowie zwischen der Nordsee
und dem Deutschen Reiche nebst dem Großherzogtum Luxemburg. Der Gestalt
nach bildet Belgien ein verschobenes Viereck. Die kurze Seite ist der Nordsee
zugewandt; die belgische Meeresküste beträgt nur 70 km, also knapp den zehnten
Teil der holländischen. Die längste Seite kehrt Belgien der Republik Frankreich
zu. An Größe kommt es Holland nicht ganz gleich. Es ist noch etwas kleiner als
die Provinz Pommern und zählt bloß 29 500 qkm; so ist es fast doppelt so groß
als das Königreich Sachsen und zählt ^/sMill. Einw.
2. Belgiens Bodenbeschasfenheit.
Belgien zerfällt in drei Landschaften, in das belgische Tiefland, in das
belgische Hügelland und das belgische Hochland. Das belgische Tiefland breitet
sich im Westen und Norden aus; es ist die weitere Fortsetzung des norddeutschen
und des niederrheinischen Tieflandes über Holland hinaus nach Westen hin.
Doch liegt es meist etwas höher als das holländische. Durchflossen wird es von
der Schelde, die es in der Urzeit allmählich angeschwemmt hat. Ihr größter
Teil ist wohl angebaut; am fruchtbarsten ist die Gegend zwischen Gent und
Antwerpen, der Lustgarten von Flandern. Im Nordosten aber bedecken Kiefern-
wälder, Heiden und Moore weite Strecken des belgischen Flachlandes. Doch
hat man schon große Gebiete davon urbar gemacht. Das Flachland westlich von
der Schelde hat fruchtbaren Marschboden. Er sinkt nur selten 1 bis 2 m unter
den mittleren Wasserstand der Nordsee. Die Küste wird von einem ununter-
brochenen Dünenzuge begleitet und bietet keinen natürlichen Hafen. Selbst
der Meeresarm, der einst bis Brügge reichte, ist versandet.
Nach Osten zu schließt sich an Niederbelgien das belgische Hügelland an.
Es wird von der Maas und Sambre durchflossen und besteht aus einem frucht-
baren Lehm- und Tonboden. Dazwischen finden sich einzelne Sandstrecken.
V. Das Königreich Belgien und das Großherzogtum Luxemburg.
85
Nach Süden zu, östlich von der Maas, erheben sich die A r d e n n e n und
bilden Hochbelgien. Die Ardennen sind die westliche Fortsetzung des Eifel-
und Venngebirges und bilden eine sanft gewellte Hochfläche von mäßiger Höhe.
Am höchsten steigt das Land am Westabhange der hohen Venn an, doch erreichen
die höchsten Gipfel auch hier noch nicht 700 m. Sind die Ardennen auch nur mäßig
hoch, so sind sie doch ein rauhes, regen- und schneereiches Gebirgsland. Die
wasserdampfreichen Wolken regnen sich hier tüchtig ab. Ausgedehnte Wälder
wechseln mit schauerlichen Einöden, Heiden mit Mooren. In diesen wilden
Gegenden hausen sogar noch Wölfe und Wildschweine. Die niedrigeren Vor-
ardennen sind milder und fruchtbarer. Schön sind die tief eingeschnittenen und
vielfach gewundenen Flußtäler. In dem Kalkgebirge ziehen die großen Höhlen
viele Besucher an. Das Tal der Maas von der französischen Grenze bis gen
Namur wird als belgische Schweiz geriihmt.
3. Belgien als Industriestaat.
Holland ist vorwiegend ein landwirtschaftlicher Staat, der sich außerdem
der Schiffahrt und dem Handel widmet. Im belgischen Flach- und Mittellande
ist die Landwirtschaft nebst dem Gartenbau und der Viehzucht gleichfalls stark
vertreten. Der Limburger Käse wird teils in Holland, teils in Belgien herge-
stellt. Außer Getreide baut man in den fruchtbaren Strichen Belgiens Gemüse
und Obst, Zuckerrüben und Flachs, Hopfen und Raps, Mohn und Zichorie,
Tabak und Trauben. Die schweren belgischen Pferde sind unfern Landwirten
wohl bekannt. Dennoch hat sich Belgien viel mehr in einen Industriestaat ver-
wandelt als Holland.
Belgien ist r e i ch an Bodenschätzen. Es besitzt ergiebige Koh-
lenlager. Sie finden sich im gebirgigen Teile des Landes an der
ftanzösischen Grenze sowie an der Maas zwischen Lüttich und Namur;
sie ziehen sich so von der Schelde an der Grenze bis gen Aachen. Vor allem
werden Steinkohlen zutage gefördert. Im Vergleich zu seiner Größe gewinnt
es die meisten Kohlen. Zu den Kohlenschätzen kommen noch ausgedehnte
Erzlager im Tale der Maas und Sambre. Man findet Eisen, Zink
und Blei. Außerdem findet man noch Kalk und Marmor. So ist Belgien
trotz seiner Kleinheit ein wichtiges Bergbauland. Freilich erschöpfen sich
seine Erzlager mehr und mehr.
Schon früh blühten in Belgien zahlreiche Gewerbe. Der starke Flachs-
bau in Niederbelgien ließ die Weberei aufblühen. Flandern lieferte ehemals
die feinste und begehrteste Leinwand. Noch heute liefern Genf, Brüssel
und M e ch e l n seine Leinwand, namentlich Damastgewebe. Um sie zu ver-
zieren, verfertigt man Spitzen, besonders in Gent und Brüssel. Es gibt so kost-
bare Spitzen, daß der Meter 100 bis 200 Mark kostet. Von Belgien aus ward
auch die Spitzenklöppelei nach Annaberg verpflanzt durch eine Belgierin, die
ihres Glaubens halber vertrieben worden war. Die große Schafzucht ermög-
lichte einst auch die T u ch w e b e r e i. In Lüttich und Limburg sind große
Tuchfabriken und in Brüssel Teppichwebereien. In der Neuzeit ist hierzu noch
das Baumwollgewerbe getreten. Stark verbreitet ist die B a u m Woll-
spinnerei in Gent, Brügge und Antwerpen. Das Ledergewerbe und die
Strohslechterei haben in Lüttich ihren Sitz aufgeschlagen. Gent liefert nament-
lich feine Handschuhe.
86 V. Das Königreich Belgien und das Großherzogtum Luxemburg.
Wichtig ist im Ardennengebiet die Herstellung von Glas und Spiegeln;
das Gebirge liefert den nötigen Quarz. Noch wichtiger ist das Eisengewerbe,
das besonders in den Kohlenbezirken emporgeblüht ist. Da gibt es Eisengieße-
reien, Maschinenbauanstalten und Waffenfabriken. Berühmt sind die Waffen
von Lüttich. So hat Belgien eine vielseitige Industrie. Im Bergbau und in
der Industrie sind über zwei Fünftel aller Erwerbsfähigen beschäftigt. Von
großer Bedeutung ist femer die D e m a n t s ch l e i f e r e i, die viel Geld ins
Land zieht.
4. Sein reger Handel und Verkehr.
Belgien hat ein ungemein dichtes Eisenbahnnetz. Es hat über doppelt
soviel Bahnen als Holland. Belgiens Bodenbeschaffenheit eignet sich weit mehr
für den Bau von Bahnen als Holland. Belgien hat zwar Gebirge, aber nur we-
nige Striche hindern den Bahnbau. Es hat nicht soviel Kanäle und Marschland
wie Holland. Das Tiefland und die Flußtäler erleichtern die Anlage von Bah-
nen. Belgien braucht viel Bahnen. Das Flachland ist vorwiegend landwirt-
schaftlich tätig, es erzeugt viel Nahrungsmittel. Hochbelgien hingegen liefert
Kohlen und Eisenwaren nebst anderen Gewerbeerzeugnissen. Daher ist ein
ununterbrochener Austausch der Güter nötig. Das Flachland sendet Getreide,
Obst, Gemüse, Fleisch, Eier, Zucker usw. ins Gebirgsland. Dafür schickt das Ge-
birgsland Kohlen und allerhand Jndustrieerzeugnisse ins Flachland. Nun reichen
aber die heimischen Nahrungsmittel nicht aus. Man bezieht die fehlenden aus
Holland, Frankreich und überseeischen Ländern. Dafür hat Belgien Überschuß
an gewerblichen Waren. Es verschickt sie nach allen Himmelsrichtungen. Ant -
w e r p e n ist der Ein- und Ausfuhrhafen Belgiens. Es liegt nahe an der Mün-
dung der Schelde. Bis hierher reichen Ebbe und Flut. Dazu hat die Schelde
bis Antwerpen die erforderliche Tiefe. So können hier sogar die großen See-
dampser anlegen. Antwerpen hat bedeutend mehr Verkehr als Rotterdam.
Es übertrifft sogar meistens Hamburg ein wenig und ist in den letzten Jahr-
zehnten immerzu gewachsen und zählt heute über 300 000 Einwohner, ist also
etwas größer als Hannover. Man hat es stark befestigt, damit es auch im Kriegs-
fälle geschützt ist.
So groß nun Belgiens Außenhandel ist, so klein ist seine Handelsflotte.
Den belgischen Warenverkehr besorgen zumeist englische Schiffe. Das ist ein
Nachteil für Belgien, denn ihm entgeht dadurch viel Geld. An der Küste selbst
gibt es keinen großen Hafen. Nur das Seebad O st e n d e ist aufgeblüht und
wird namentlich von den reichsten Leuten aus aller Herren Ländern besucht;
daher ist hier alles ungemein teuer.
Als Industriestaat ist Belgien sehr dicht bevölkert, ungefähr so dicht wie
das Rheinland (rund 250 auf dem Geviertkilometer). Wegen dieser großen
Volksdichte und seines großen Handels kann Belgien auch ein dichtes Bahn-
netz erhalten.
5. Belgiens Volksstämme und Sprachen.
In Holland leben mehrere germanische Volksstämme nebeneinander,
eigentliche Holländer und Friesen. In Belgien gibt es einen germanischen
Volksstamm und einen welschen. Die Germanen kamen von Holland her und
haben daher das belgische Tief- und Hügelland besetzt. Es sind die Fläm en
oder Flamen. Von ihnen wanderten dann viele nach Osten, nach den Provinzen
Sachsen, Brandenburg usw. Der Fläming östlich von der schwarzen Elsier hat
V. Das Königreich Belgien und das Grotzhcrzogtum Luxemburg. 87
von ihnen seinen Namen erhalten. Die Flamen sprechen eine Sprache, die der
holländischen ganz nahe verwandt ist. In dem belgischen Hochlande blieben die
Wallonen. Sie sprechen eine französische Mundart und haben die fran-
zösische Schriftsprache angenommen. Der ackerbauende und webende Volks-
teil sind Flamen, die Wallonen hingegen betreiben vornehmlich das Mineral-
gewerbe. Die Flamen überwiegen der Zahl nach. Sie hatten früher noch weit
mehr die Überzahl. Aber es sind viele Flämen in die Kohlen- und Eisenbezirke
ausgewandert und haben dort die französische Sprache angenommen. Dazu
ist Französisch die erste Staatssprache. Das kommt den Wallonen auch zugute.
Aber Flämisch soll auch öffentlich gelten. Das haben die Flämen endlich nach
langen Kämpfen durchgesetzt. Sie halten nun auch darauf, daß ihre Sprache
in den Schulen gelehrt wird. In Antwerpen und Gent sind die Straßennamen
flämisch und französisch. Doch ist Flämisch keine Weltsprache. Darum sprechen
die Gebildeten und die Geschäftsleute lieber Französisch. Besser wäre es, die
Flämen hätten die deutsche Schriftsprache angenommen, dann besäßen sie auch
eine Weltsprache, die von vielen Millionen gesprochen und geachtet wird. Dann
brauchten auch die Kauf- und Geschäftsleute nicht Französisch zu sprechen und
könnten ohne Nachteil bei ihrem Deutsch bleiben. Das Deutsche gilt nur in einem
kleinen Gebiete im Osten Belgiens. So gibt es auch in Belgien, wie in der
Schweiz und in Österreich-Ungarn, einen Sprachenkampf. Die Franzosen Frank-
reichs unterstützen die französische Sprache in Belgien. Man hofft noch immer,
daß man vielleicht einmal wenigstens das wallonische Belgien erlangen könne.
Schon Napoleon III. wollte Belgien teilen; aber Bismarck verhinderte dies.
Die Belgier sind fast durchgängig Katholiken. Die Spanier haben seiner-
zeit — vor mehr als 300 Jahren — das Protestantentum mit Stumpf und Stiel
ausgerottet. Belgien hat ungemein viel Klöster. Aber die Volksbildung ist ge-
ring. Es gibt noch keinen Schulzwang. Darum lernen viele Kinder weder lesen
noch schreiben. Neben größtem Reichtum herrscht größte Armut. Das ist nicht
gut. Für die Arbeiter in Belgien wird nicht so gesorgt wie bei uns. Viele El-
tern würden ihre Kinder in die Schule schicken, aber sie können erstens das Schul-
geld nicht erschwingen, und zweitens müssen die Kinder so bald als möglich ver-
dienen helfen. Ist Belgien auch ein reiches Land, so ist es darum doch nicht
so glücklich, als es sein könnte. Hilft da nicht der König? Der möchte wohl,
aber er muß das tun, was der belgische Reichstag samt den Ministem will. In
Belgien regiert nicht der König, sondem die Volksvertretung, die herrschende
Partei. Es herrscht eben zumeist die schulfeindliche, streng katholische Partei.
6. Das Großherzogtum Luxemburg.
Zwischen Belgien, Deutschland und Frankreich liegt das Großherzogtum
Luxemburg. Von Deutschland trennen es Flüsse (Mosel, Sauer, Our). Der
südliche Teil Luxemburgs gehört zum lothringischen Hochlande, der nördliche
zum Ardennengebiete. Im südlichen Luxemburg finden sich bedeutende Eisen-
lager. Hier hat man zahlreiche Eisengruben angelegt. Die gewonnenen Erze
gehen teils nach Belgien, teils nach Deutschland (ins Saargebiet). Luxemburg
gehörte bis 1866 zum deutschen Bunde. Preußen hielt die starke Festung Luxem-
burg besetzt. Herrscher war der König von Holland. Dieser wollte Luxemburg
1867 an Napoleon III. verkaufen. Das gab aber Bismarck nicht zu. Darüber
wäre es beinahe zum Kriege mit Frankreich gekommen. Schließlich erklärte
man Luxemburg für neutral, und Preußen räumte die Festung. Doch ist Luxem-
VI. Die Republik Frankreich.
bürg im deutschen Zollverein geblieben. Seine Eisenbahnen Werder: vom Reichs-
land verwaltet. Die Luxemburger sind Deutsche, doch sprechen die Gebildeten
leider meist Französisch; selbst die Regierungssprache ist französisch. Dies ist sehr
bedauerlich. Man hat aber früher gedacht, das Französische sei eine bessere,
feinere Sprache als das Deutsche. Das ist natürlich eine bloße Einbildung.
Die deutsche Sprache steht der französischen gar nicht nach: dazu sprechen mehr
Menschen Deutsch als Französisch.
Luxemburg ist ungefähr so groß wie Sachsen-Meiningen und hat rund
1I, Mill. Einwohner.
7. Deutschland und Belgien nebst Luxemburg.
Belgien und Luxemburg sind ebenfalls früher Teile des Deutschen Reiches
gewesen. Luxemburg steht mit uns im Zollbunde. Belgien ist wie Holland
ein Küstenland des deutschen Hinterlandes. Antwerpen ist einer der be-
deutendsten Ein- und Ausfuhrhäfen für das westliche Deutschland. Es ist reich
geworden durch den gewaltigen deutschen Warenstrom, der hier ein- und aus-
mündet. Hier legen die meisten Dampfer an, um die mit der Bahn dahin ver-
sandten Waren oder gefahrenen Personen aufzunehmen. Hier haben sich daher
viele Deutsche niedergelassen und große Handelshäuser errichtet. So erscheint
Antwerpen fast wie ein deutscher Hafen. Belgien ist ein wichtiges Durchgangs-
land. Nicht nur deutsche Waren gehen durch Belgien, sondem auch holländische,
die nach Frankreich bestimmt sind, desgleichen englische und andere, die nach
Deutschland bestimmt sind. Rechnen wir alle durchgeführten Waren mit, dann
hat der belgische Außenhandel einen Wert von 9 Milliarden. Ziehen wir sie
ab, dann bleiben nur noch rund 6 Milliarden. So hängt Belgien in hohem
Grade von seinen Nachbarn ab, am meisten von Deutschland. Wir erhalten
von Belgien vor allem Schafwolle, Pferde, Kohlen, Zink und Blei. Wir lie-
fern ihm gleichfalls Kohle, Eisen, Maschinen und andere Eisenwaren, Farben,
Woll- und Baumwollwaren. Im ganzen ist unser Handel mit Belgien meist
etwas kleiner als der mit Holland. Aber die belgischen Jndustriewaren wett-
eifern im Auslande mit den deutschen; die belgischen Fabrikherren können sie
meist billiger liefem; sie haben keine Beiträge für die Arbeiterversicherungen
zu entrichten und dazu erhalten die belgischen Arbeiter meist weniger Lohn als
die unsrigen.
Belgien hängt wie Holland sehr von Deutschland ab; dennoch neigen die
meisten Belgier, namentlich die Wallonen, zu Frankreich und England. Das
ist ein politischer Fehler; denn dadurch kann es Deutschland zwingen, daß es
mit aller Macht sich in Emden einen eigenen Rheinhafen baut. Vorläufig braucht
Belgien das noch nicht zu fürchten, und es will sogar seine Zölle erhöhen. Da-
durch würde jedenfalls die Ausfuhr deutscher Waren nach Belgien erschwert
werden.
VI. vie Republik Frankreich.
1. Frankreichs günstige Lage.
Frankreich bildet ein verschobenes Sechseck, dessen Seiten nicht ganz gleich
sind. Drei Seiten davon grenzen an Land und drei ans Meer. Die nordöstliche
Landseite wird von Belgien und Lothringen gebildet. Sie beginnt bei Kalais
am Ärmelmeer und reicht bis zu dem tiefen Einschnitt bei der Grenze von Elsaß
VI. Die Republik Frankreich.
89
und Lothringen. Die östliche Landseite erstreckt sich von diesem Einschnitte bis
zur berühmten Badestadt Nizza am Mittelmeere. Dieser Teil der sranzösischen
Ostgrenze wird von bedeutenden Gebirgen gebildet: vom Wasgenwald, vom
schweizerischen Jura und den Westalpen. Der Wasgau scheidet Frankreich und
Deutschland, der Jura Frankreich und die Schweiz, die Westalpen Frankreich
und Italien. Die Pyrenäen bilden die südwestliche Landgrenze, sie trennen
Spanien und Frankreich.
Die südliche Seegrenze wird vom Mittelmeere gebildet. Sie reicht von
den Westalpen bis an die Pyrenäen, von Italien bis an Spanien. Hier macht
der Löwengolf einen tiefen Bogen nach Frankreich. Die westliche Seegrenze
wird vom Atlantischen Ozean gebildet. Sie erstreckt sich von Spanien bis an
die Westspitze der Bretagne. Der südliche Teil des Meeres heißt der Golf von
Biskaya. Die nördliche Seegrenze bildet das Armelmeer oder der Kanal; dieser
Meeresteil trennt Frankreich von England. Wie ein Ärmel erweitert sich der
Kanal nach Westen und verengt sich nach Osten. Am engsten ist er in der Straße
von Kalais. Durch die Halbinsel der Normandie entstehen zwei Buchten. Die
französische Seegrenze ist ziemlich ungegliedert. Die Seegrenzen sind etwas
größer als die Landgrenzen. Die längsten Landgrenzen hat Frankreich nach
Osten zu; die längsten Seegrenzen aber nach Westen zu; die Südgrenze ist
fast gleichmäßig Land und Seegrenze. So ist Frankreich fast je zur Hälfte
auf das Land wie auf das Meer angewiesen.
2. Frankreichs Bodengestalt.
Frankreich besteht aus Tief- und aus Hochland. Das Tiefland breitet
sich im Westen und Nordwesten aus, also auf der westlichen und nördlichen See-
seite. Das französische Tiefland reicht von den Pyrenäen bis an die Ardennen.
Es ist die Fortsetzung des großen norddeutschen Tieflandes nach Westen hin
dis zu der hohen Gebirgsmauer der Pyrenäen. Mindestens zwei Drittel Frank-
reichs liegen unter 200 m Seehöhe. Das Tiefland wiegt also vor. Ein Tief-
land breitet sich auch an der Rhone und am Löwengolf aus.
Hochland findet sich zunächst an den gebirgigen Grenzen. An der bel-
gischen Grenze haben wir den Ardennenwald. Nach Südosten zu, ösi>
lich von der Maas, schließt sich daran der Argonnenwald. Nach Deutsch-
land zu gibt es das lothringische Stufenland und den Wasgau.
Gegen die schweizerische Grenze erhebt sich der Jura, gegen Italien sind es die
West alpen, die sich bis an das Rhonetal ausbreiten. Außerdem findet
sich nach Süden zu ein Hochland, das mittelfranzösische Hochland. Es bildet die
Fortsetzung der deutschen Mittelgebirge nach Südwesten zu. Nur die tiefen
Täler der Mosel und Saone trennen es vom Wasgau und dem lothringischen
Hochlande, Doubs und Saone von dem schweizerischen Jura. Das französische
Mittelgebirge wird nach Süden zu immer höher. Hier erreicht es Gipfelhöhen,
die dem schweizerischen Jura gleichkommen. Der höchste Teil ist das Hochland
von Auvergne. Ihm ist südlich der Gebirgszug der Sevennen vor-
gelagert. Diese fallen steil nach der Rhonebene ab.
Das französische Tiefland ist nicht ganz eben; es ist durch einzelne Hügel-
länder gegliedert, wie z. B. in der Bretagne, in der Normandie. Im großen
ganzen ist Frankreichs Bodengestalt recht einfach. Der westliche und nördliche
Hauptteil besteht aus Tiefland, der Osten sowie das Land in der Mitte aus
90
VI. Die Republik Frankreich.
Hochland; im Süden am Löwengolf ist abermals ein Tiefland. So dacht sich
Frankreich nach zwei Seiten ab, nach Süden zu wie nach Nordwesten.
3. Frankreichs Flüsse.
Da Frankreich zwei Abdachungen hat, gehen seine Flüsse nach Nordwesten
oder nach Süden. Nach Süden fließt nur die R h o n e. Sie entspringt auf dem
Gebirgsstocke des St. Gotthard und tritt unterhalb des Genfer Sees in Frank-
reich ein. Von Genf bis Lyon ist ihr tiefes, felsiges Tal die Grenze zwischen dem
Jura und den Alpen. Mehrmals verengt sich hier das Tal zu einem schmalen
Bett, worin der schäumende Fluß brausend dahineilt. Bei Lyon macht die Rhone
ein Knie und nimmt die von Norden kommende S a o n e auf, deren südliche
Richtung die Rhone von nun an innehält. Die Rhone ist bei Lyon bereits drei-
bis viermal so wasserreich als die Saone. Die Saone entspringt südwestlich von
der Südecke des Wasgaues. Wegen ihres ruhigen Laufes ist sie eine vorzügliche
Wasserstraße. Der D o u b s, ihr größter Nebenfluß auf der linken Seite, ent-
springt dem Jura und bildet einen berühmten Talweg nach Belfort, Mühlheim
und Basel; es ist die sog. burgundische Pforte. Diese Einsenkung hat auch der
Rhein-Rhone-Kanal benutzt, der bei Straßburg beginnt und am
Doubs endet. So ist die Senke des Tales der Saone und Rhone eine wichtige
Verkehrsftraße für Frankreich, denn sie verbindet das Mittelmeer mit der Schweiz,
mit Nordostfrankreich und Süd Westdeutschland. Freilich ist die Rhone unter-
halb Lyons der Schiffahrt noch wenig günstig. Sie führt viel Geröll mit sich.
Die Berge des französischen Hochlandes treten aus ihrem rechten User oft recht
nahe heran. Die meisten Nebenflüsse senden ihr die Westalpen zu. Im un-
teren Laufe erweitert sich die Flußaue zu einer breiten Ebene. Vor der Mün-
dung teilt sich die Rhone in mehrere Arme. Sie haben im Laufe der Zeit hier
ungeheuer viel Geröll, Sand und Schlamm abgelagert; denn die Alpenslüsse
führen wegen ihres reißenden Laufes und wegen der häufigen Hochwasser
viel Erde mit sich. Jedes Jahr rückt das R h o n e d e l t a gegen 50 rn weiter
ins Meer vor. So wird mit der Zeit hier eine richtige Halbinsel entstehen. Manche
frühere Seestadt ist jetzt eine Binnenstadt. Das Mündungsgebiet ist vielfach
recht sumpfig und ungesund. Hier hausen halbwilde Rinder, Büffel und Pferde,
sowie Biber und hochbeinige Wasservögel (Flamingos). Andere Striche be-
stehen aus angeschwemmtem Geröll. Die Mündungsarme mußten eingedeicht
werden, da das Flußbett meist höher liegt als das umliegende Land. An der
Rhonemündung selbst ist keine große See- und Hafenstadt entstanden. Östlich
davon liegen Marseille und Toulon. Die letzte größere Stadt an der
unteren Rhone ist Avignon.
Der westlichste Fluß Frankreichs ist die G a r o n n e. Sie entströmt dem
hohen Gebirge der Pyrenäen und hat einen äußerst schnellen Lauf. Oft führt
sie Hochwasser und richtet dann nicht selten großen Schaden an. Steigt doch
ihr Wasserstand nicht selten um 4 bis 5 m, zuweilen sogar 6 bis 10 m über den
mittleren Stand. Dann ist es kein Wunder, wenn das fruchtbare Tal ungeheuren
Schaden leidet. Im Süden liegt an ihr die berühmte Stadt Toulouse.
Im Norden ist nahe an der Mündung Bordeaux aufgeblüht. Bis dahin
können Seeschiffe fahren; denn die Garonne ist tief, und die Flut reicht bis über
Bordeaux hinaus. Die Mündung ist trichterförmig erweitert. Dies begünstigt
die Schiffahrt gleichfalls. Die Garonne ist wasserreicher als die Weser, doch leidet
ihre Schiffbarkeit durch ihr starkes Gefälle und die Versandung. Deshalb hat
VI. Die Republik Frankreich.
91
man längs des Flusses einen Kanal erbaut. Bei Toulouse verläßt er die Ga-
rönne und geht als Südkanal nach dem Mittelmeer.
Die Loire ist Frankreichs längster Fluß, aber noch etwas kürzer als die
Elbe. Sie entspringt auf den Sevennen und fließt in einem großen Bogen
durch Westfrankreich. An ihr liegen bedeutende Städte, wie Orleans,
Tours, Angers und Nantes. Der Schiffahrt ist sie nicht günstig.
Bald führt sie viel zu wenig, bald zu viel Wasser. Bei Hochwasser führt sie
bis zum 300 fachen der geringsten Wassermenge. Ihre Akündung ist gleichfalls
schlauchartig erweitert. Aber bis Nantes können die Seeschiffe nicht fahren;
das Flußbett ist schon zu sehr versandet. Die Seeschiffe löschen ihre Waren im
Vorhafen von Nantes, in St. Nazaire. Da dies ein Nachteil ist, will man von
Nantes aus einen Seekanal bauen.
Die S e i n e ist zwar viel kürzer als die Loire, aber sie hat einen ruhigen
Lauf und ist daher der Schiffahrt sehr günstig. Ihre Quelle liegt im mittleren
Teile des französischen Mittelgebirges, westlich von Dijon. Sie behält die nord-
westliche Richtung ziemlich genau inne. Bei Paris strömt ihr von rechts her
die Marne als ihr größter Nebenfluß zu. Durch den Rhein-Marne-
Kanal steht sie mit dem Rheine in Verbindung; durch denMarne-Saone-
K a n a l ist sie mit der Saone und Rhone verbunden. Vor der Mündung liegt
Rouen, bis wohin noch kleinere und mittlere Seeschiffe gelangen können. Am
Ausgange des Mündungstrichters liegt Le H a v r e, der zweitgrößte Hafen
Frankreichs. Unterhalb von Paris macht die Seine sehr viele Windungen.
Hierdurch wird ihr an sich sehr geringes Gefälle noch mehr vermindert. In:
Gegensatz zur Loire hat sie einen ziemlich gleichmäßigen Wasserstand. Infolge-
dessen ist sie der Schiffahrt sehr günstig. Bei gutem Wasserstande fahren kleine
Seeschiffe bis Paris. Man will das Seinebett vertiefen, damit es bis Paris noch
mehr schiffbar wird.
Die Mosel, die Maas und die Schelde gehören nur mit ihrem
Oberlaufe zu Frankreich. An der Mosel liegt Nancy oder Ranzig, an der
Maas der berühmte Schlachtort Sedan.
Frankreichs Flüsse haben fast alle einen unregelmäßigen Wasser-
stand; oft leider: sie an Wassermangel, oft überfluten sie in schädlichster Weise
ihre Ufer. Man hat in früheren Zeiten in unvernünftiger Weise die Wälder
ausgerodet. Seitdem stürzen bei heftigen Regengüssen die Wassermassen un-
gehindert zu Tal. Binnen kurzem steigt das Wasser in dem Flusse zu gefährlicher
Höhe an, reißt Brücken weg und überflutet verheerend die Ufer. Durch den
plötzlichen Wechsel von größter Wasserarmut und gefährlichem Hochwasser ver-
liert die Loire, Frankreichs größter Fluß, fast alle Bedeutung für die Binnen-
schiffahrt, die nur gedeihen kann, wenn der Wasserstand ziemlich gleichmäßig ist.
Nachteilig für die Schiffahrt ist auch die Versandung der Fluß-
Mündungen. Die französischen Flüsse haben außer der Seine ein ziemlich
starkes Gefälle. Deswegen führen sie viel Sand und Schlamm mit sich. Die
feinsten Teilchen werden am weitesten fortgetragen. Wo sich aber die Geschwin-
digkeit der Strömung vermindert, dort setzt sich Sand und Schlamm ab. Das
geschieht zunächst an den Flußrändern und besonders in der Nähe der Mündung.
An der Mündung tritt oft fast völliger Stillstand des Wassers ein. Die Meeres-
wellen dringen in das Flußbett ein. So sinken dort unaufhörlich feine Sand-
körnchen zu Boden. Im Laufe der Zeit erhöht sich das Flußbett; es wird seichter
und seichter. Man baggert, aber fortwährend fallen neue Sandschichten zu
Boden. Dazu treiben die Westwinde des Ozeans viel Sand an die Küste und
92
VI. Die Republik Frankreich.
in die Flußmündungen. An der Rhonemündung ist es eine Meeresströmung,
die den Sand an die Küste treibt. So sind Franüeichs Flüsse für die Schiffahrt
nicht so nützlich, wie man es zunächst vermutet.
4. Dünenlandschaften an Frankreichs Küste.
Auf dem Atlantischen Ozean wehen sehr viel lebhafte Westwinde. Sie
spülen ungeheure Mengen von Sand an die Mste, insbesondere an die Mste
südlich von der Garonnemündung. Hier sind riesige Sand- und Heideland-
schaften entstanden, noch größere als die Lüneburger Heide. Die starken See-
winde haben hier Dünen bis zu 90 m Höhe aufgetürmt. Sie wandern langsam
landeinwärts und begraben alles unter ihrem Sand. An der Binnenseite finden sich
langgestreckte Seen. Lange waren die Landes geflüchtete Einöden. Hier
lebten Hirten mit ihren kleinen, dürftigen Schafen. Sie laufen auf Stelzen,
die 1 bis 2 m hoch sind. In der Hand tragen sie einen langen Stock. So können
sie nicht leicht fallen und sich bequem ausruhen. Da die Stelzen mit Riemen
ans Schienbein angebunden sind, so können sie ziemlich schnell gehen; manche
vermögen mit einem trabenden Pferde Schritt zu halten. Ungehindert schreiten
sie durch Pfützen und Sümpfe. Auf ihren Stelzen thronend, übersehen sie weit-
hin das Gelände.
Doch hat man in Frankreich eingesehen, daß auch diese Heidelandschaft
bessere Erträge liefem kann. Zunächst hat man begonnen, die Dünengebiete
mit Strandkiefern und Korkeichen anzupslanzen. So können die Dünen nicht
weiter landeinwärts wandern. Sodann entwässerte man Sümpfe und machte
den sandigen Boden urbar. Nach und nach wird diese ehemals öde Gegend
ebenfalls ein fruchtbares Gebiet werden.
5. Frankreichs blühende Landwirtschaft.
Der Landwirtschaft ist Frankreich sehr günstig. Seine Witterung
ist noch günstiger als die unsre. Es liegt weit südlicher als Deutschland; es reicht
nicht so weit nach Norden wie etwa Schleswig, dafür erstreckt es sich weit nach
Süden. Sein nördlichster Punkt liegt in einer Linie mit Köln und Dresden,
seine südlichste Spitze mit dem südlichsten Ende Dalmatiens. Seine Winter
sind deshalb mild; freilich fehlen Frosttage nirgends; selbst im warmen Nizza
schneit und gefriert es zuweilen. Doch hat der Januar in Nizza oder Bordeaux
eine durchschnittliche Wärme von 5 bis 8 Grad; in Berlin und im östlichen Deutsch-
land hat er 1 bis 3 Grad Kälte. Dies rührt vom mäßig enden Einfluß des Meeres
her. Im Atlantischen Ozean gibt es eiue warme Meeresströmung, welche dem
Lande fortwährend Wärme zuführt. Je weiter wir in Frankreich nach Osten
wandem, desto kälter werden die Winter. Die Sommer sind gemäßigt, weil im
Sommer die feuchten Seewinde die Hitze mildem.
Da Frankreich dem Meere nahe liegt, hat es hinreichende Nieder-
schläge. Am größten sind sie im Hochlande, namentlich im Hochlande der
Auvergne, an den Abhängen der Pyrenäen, der Alpen, des Juras, des Was-
gaues. Gerade die Westabhänge erhalten reichliche Steigungsregen. Hier ent-
stehen durch gewaltige Güsse und Wolkenbrüche oft verheerende Überschwem-
mungen.
Der Boden Frankreichs ist fruchtbar. Zu den unfruchtbaren Ge-
bieten gehören die gebirgigen Teile in den Westalpen, dem Jura, den Pyre-
näen, sowie namentlich das Hochland von Auvergne. Hier gibt es Kalk-
VI. Die Republik Frankreich.
93
gebiete, die, wie im Karst und Jura, fast ganz öde und baumlos sind. Wenig
fruchtbar sind ferner die fand- und sumpfreichen Landes, sowie große Strecken
der Halbinsel Bretagne und einige Bezirke der Champagne (westlich von Loth-
ringen). Etwa ein Siebentel des Landes wird als Ödland nicht genutzt. Das
ist etwas mehr als bei uns.
Im übrigen hat Frankreich wichtige Fruchtauen. Durch ihre Frucht-
barkeit zeichnen sich aus die Tiefebenen der Rhone und Saone,
derGaronne, der Loire und der S e i n e samt ihren Nebenflüssen. Große
Erträge liefern ferner die Küstenebenen des Mittelmeeres und die zwischen der
Garonne und Loire am Atlantischen Ozean; fruchtbar ist zuletzt das ganze nord-
westliche Gebiet zwischen der Seine und Belgien. Im Pariser Seinebecken
und in der Loireebene bringt die fette Schlammerde reiche Ernten; im Allier-
tale bildet die verwitterte Lava eine fruchtbare Ackerkrume. Alles in allem hat
Frankreich etwas mehr Acker- und Gartenland als Deutschland. Dafür ist sein
Waldbestand geringer.
Frankreich baut vor allem Weizen. Sein Weizenland ist über drei-
mal so groß als das deutsche (6,5 Mill. ha gegen 2). Es erbaut an Weizen
etwa das Doppelte (8,6 Mill. t gegen 4,4), manchmal bald dreimal soviel.
In Frankreich genießt man vorzugsweise Weizenbrot. Damm baut man
soviel als nur irgend möglich Weizen; selbst solche Felder, die eigentlich kein
guter Weizenboden sind, bestellt man mit der landesüblichen Brotfrucht. Daher
kommt es, daß die Ernteerträge an Weizen in Frankreich geringer sind als
in Deutschland, wo man nur den besten Boden mit Weizen besät. Wir bauen
auch wenig Sommerweizen, da er nur geringe Erträge liefert. In Frankreich
ist der Sommerweizen sehr gebräuchlich. Das zeitige Frühjahr gestattet eine
frühe Aussaat. Der sechste Teil der landwirtschaftlich benutzten Fläche wird
dort mit Weizen besät, bei uns kaum der zwanzigste. So ist Frankreich das Weizen-
land Europas.
Roggen aber baut Frankreich viel weniger als wir. Unser Roggen-
land ist fünfmal größer als das französische. Wir bestellen den sechsten Teil
des gesamten urbaren Bodens mit Roggen; Deutschland ist also das wichtigste
Roggenland Europas. Unsre Roggenernten sind sieben- bis achtmal so groß
als die französischen. Wir ernten vom Acker mehr Roggen als die Franzosen.
Wie geht das zu? In Frankreich bebaut man meistens nur die geringeren Felder
mit Roggen. Bei uns aber bestellt man auch die besten Acker mit Roggen, weil
der die landesübliche Brotfrucht ist. Unser Gerstenland und unser Kartoffel-
land sind reichlich doppelt so groß wie das französische. Aber wir erbauen etwa
dreimal soviel Gerste und wenigstens dritthalbmal soviel Kartoffeln. Auch an
Hafer liefert ein Acker bei uns fast das Doppelte. Hieraus erkennt man, daß
man bei uns den Ackerbau eifriger betreibt als in Frankreich. Unser Boden
muß uns mehr Erträge geben. Das zeigt folgende Übersicht:
In allen Früchten gewinnen wir größere Ernten, wenigstens ein Drittel mehr
als Frankreich, unsere Kartoffelernte ist beinahe doppelt so groß.
Weizen Roggen Gerste
Hafer Kartoffeln
12,7 81,9
19,4 150,3
Frankreich: 13,6 10,1 14,1
Deutschland: 22,6 18,5 21,9
94
VI. Die Republik Frankreich.
Wir genießen hauptsächlich Roggen und Kartoffeln und an dritter Stelle
erst Weizen. In Frankreich genießt man vorwiegend Weizen, dann erst Kar-
toffeln und Roggen. Zum Getreidebau gehört auch der Anbau von Mais.
Bei uns gedeiht der Mais nicht; man baut nur Futtermais als Grünfutter.
In Frankreich wird namentlich in den Tälern der Rhone, Saone und Garonne
und am Mittelmeere viel Mais erbaut. Baute es statt Mais z. B. Weizen, so
würde es noch viel mehr als das Weizenland hervortreten. Frankreich hat nur
40 Mill. Einwohner, also reichlich ein Drittel weniger als wir. Dennoch reicht
feine Getreideernte noch nicht zu. Es könnte aber ganz gut seinen Bedarf an
Brotgetreide decken, wenn es nur allen fruchtbaren Boden mit ihm bestellte.
Zuckerrüben baut Frankreich namentlich in den nordöstlichen Landschaften.
Es gewinnt ungefähr beu dritten Teil von der Menge, die wir erzeugen. Doch
schwankt die gewonnene Zuckermenge sehr; 1911/12 betrug sie nur 470 000 b,
1901/2 aber 1 052 000 t. Die Zuckerernte hängt sehr von der Witterung ab.
6. Frankreichs Viehzucht.
Der Westen und Norden Frankreichs ist feucht, namentlich die Bretagne
und die Normandie. Auch das französische Hochland in der Auvergne erhält
sehr reichliche Niederschläge, wie die Westalpen, die Westabhänge des Wasgaus usw.
Im allgemeinen hat Frankreich weniger Wiesen- und Weideland als Deutsch-
land; denn es hat mehr Acker- und Ödland. Darum ist Frankreichs Viehstand
der Zahl nach geringer als der deutsche. Es hat etwa 1 Mill. Pferde weniger,
6 Mill. Stück Rindvieh weniger, 15 Mill. Schweine weniger und 2 Mill. Ziegen
weniger. Aber an Schafen hat Frankreich etwa 10 Mill. Stück mehr. Frank-
reich hat also bedeutend mehr Schafzucht als wir, aber es hat eine viel kleinere
Rindvieh- und Schweinezucht als wir. Die Schafzucht blüht vor allem im Hoch-
lande der Sevennen, wie in den Triften der Landes und der Champagne. Im
Sevennenhochland macht man aus Schaf- und Ziegenmilch einen beliebten
Käse. Die Pferde- und Rindviehzucht wird besonders im Norden und Nord-
westen betrieben, da es hier nicht an Niederschlägen fehlt. In der wiesenreichen
Normandie züchtet man wie in Holland fette Rinder. Stark verbreitet ist die
Geflügelzucht und Kaninchenzucht. Französische Hühner und Kaninchen sind
auch bei uns beliebt.
Die Fischerei ist ein wichtiger Erwerbszweig. An den Küsten fängt
man Sardinen, in der Nordsee Heringe und Schellfische. An der Westküste,
besonders an der Dünenkette der Landes, finden sich reiche Austernbänke. Die
Franzosen haben seit langen Zeiten sich der Fischerei gewidmet, wenn auch
nicht in so hohem Maße wie vor 200 bis 300 Jahren die Holländer.
7. Frankreichs Wein-, Garten- und Obstbau.
Da Frankreich wärmer ist als Deutschland, so ist namentlich sein Wein-,
Obst- und Gartenbau in großer Blüte. Es hat viel mehr Wein land als wir.
Weinbau kann fast in allen Landschaften getrieben werden, nur nicht in den
feuchten Gebieten am Kanal und den gebirgigen Teilen. Über 3 Mill. Ein-
wohner beschäftigen sich mit dem Weinbau. In allen Flußtälern hat man Reben
angepflanzt, namentlich an der unteren Garonne um Bordeaux, an der
Saone in Burgund, an der Marne in C h a m p a g n e, an der Loire und
Rhone sowie aus dem ganzen Südabhang der Sevennen. Lange Zeit war
VI. Die Republik Frankreich.
95
Frankreich das erste Weinland Europas. Da kam die Reblaus und verwüstete
Frankreichs Weinberge in schrecklichster Weise. Schon fürchtete man, daß der
französische Weinbau dem Verderben völlig preisgegeben wäre. Viele Wein-
bauern ließen ihre Weinberge brach liegen oder bepflanzten sie mit Gemüse.
Da gelang es, neue Reben anzupflanzen, welche der Reblaus gut widerstanden.
Seit der Zeit hob sich Frankreichs Weinbau wieder. Freilich hat er noch nicht
soviel Wein erbracht als früher. Ehemals warf der französische Weinbau un-
geheure Gewinne ab. Das ist jetzt auch nicht mehr der Fall. Darum gibt es
in Frankreich öfter Winzerunruhen. In der Champagne keltert man aus den
besten Weinreben schäumende Weine, Schaumweine oder Champagner. Sie
werden hoch bezahlt und auch in größeren Mengen nach Deutschland ausge-
sührt. Bordeaux liefert in erster Reihe Rotweine, die sog. Bordeaux-Weine,
die von dort gleich zu Schiss ausgeführt werden. Wir erhalten alljährlich viel
Wein und Weintrauben aus Frankreich, darunter für 6 Mill. Mark Schaum-
wein und für 25 Mill. in Fässern oder Flaschen. Obgleich Frankreich selbst soviel
Wein erbaut, bezieht es noch fremden Wein aus Spanien, Italien usw. Die
Franzosen trinken vornehmlich Wein und weniger Bier; ferner vermischen
sie den geringwertigen ausländischen Wein mit ihrem einheimischen.
O b st b a u kann wegen des milden Wetters in Frankreich fleißig getrieben
werden. Die Bretagne und die Normandie erbauen ungeheure Mengen von
Äpfeln und bereiten daraus viel Apfelwein. Pflaumen und Pfirsiche zieht
man namentlich im Garonne- und Seinebecken. Die Edelkastanie
züchtet man in den Tälern des Hochlandes; aus ihren Früchten bereitet man
ein gutes Nahrungsmittel. Gemüse kann man in großer Menge erbauen, sind
doch die Winter mild und tritt der Frühling zeitig ein.
Die Blumenzucht wird in der Provence im großen betrieben. Ganze
Felder sind hier in der Küsten- und Rhoneebene mit Rosen, Veilchen, Jasmin,
Narzissen und anderen Blumen bestellt. Große Mengen gehen davon im zeitigen
Frühjahr nach dem Norden. Man gewinnt aber aus ihnen herrlich duftende
Ole und bereitet daraus Riechwasser, Rosenwasser usw. Darum stellt man hier
auch Haarsalben, Duftwässer, wohlriechende Seifen her und verdient dadurch
viel Geld. Hier gedeihen auch Olbäume und Maulbeerbäume. In der Pro-
vence sind die Sommer heiß und trocken. Im Herbste tritt eine längere Regen-
zeit ein. Während des Winters weht öfter ein heftiger Nordwind, eine Art
Föhn, der hier Mistral genannt wird. Er bringt die kalte Luft des Nordens
und hat daher meist Frost und Eis im Gefolge. Die Windstöße sind oft so arg,
daß Menschen und Wagen umgeworfen werden. Alle Bäume im Rhonetal
neigen sich nach Süden; in der freien Ebene schützt man die Gärten vor ihm,
indem man Wände dichtgepflanzter Zypressen auf der Nordseite errichtet. Aus
den Früchten der Olbäume preßt man ein seines Tafelöl. Außerdem gedeihen
hier schon Zitronen und Apfelsinen. Berühmt ist auch das untere Loiretal bei
Tours; es wird der Garten Frankreichs genannt.
8. Frankreichs Industrie.
An Bodenschätzen ist Frankreich nicht besonders reich. Stein-
kohlen werden gefunden an der belgischen Grenze westlich von der Maas
und am südlichen Rande des französischen Hochlandes. Doch ist die französische
Kohlenausbeute viel geringer als die deutsche, Braunkohlen werden fast gar
nicht gewonnen. Wir fördern rund 180 Mill. t Steinkohlen und über 70 Mill. t
96
VI. Die Republik Frankreich.
Braunkohlen, Frankreich nur etwa 40 Mill. t Steinkohlen. So beträgt die
deutsche Kohlenförderung etwa sechsmal soviel. Die Franzosen brauchen nicht
soviel Kohlen für den Hausbrand, da die Winter milder sind. Dennoch reichen
die einheimischen Kohlen bei weitem nicht. Frankreich führt Kohlen ein aus
England, Belgien und Deutschland, also aus den kohlenreichen Nachbarländern.
Eisenerze werden hauptsächlich in Lothringen gefunden, daneben
am Fuß der Sevennen.
Auch an Eisen gewinnt Frankreich bei weitem weniger als Deutschland;
wir erzeugen jährlich rund 18 Mill. t Roheisen, Frankreich gegen 5 Mill. t.
Frankreichs Kohlen- und Eisengewinnung ist demnach bedeutend kleiner
als die unsrige. Ähnlich ist es mit der Gewinnung von Zink, Blei, Kup -
f e r und Silber. Darum muß Frankreich Eisen, Kupfer, Blei, Zink, Silber
und Gold in bedeutenden Mengen einfiihren. Dagegen findet man sehr viel
wertvolle Steine, Marmor in den Ardennen und Pyrenäen, Kalk-
und Sandstein im Pariser Becken, Granit in den Alpen und Pyrenäen, Gipse,
Mühlsteine, Schiefer, Ton- und Porzellanerde. Salz ist ebenfalls reichlich
vorhanden. Man gewinnt teils Steinsalz (bei Nancy), teils Sud- oder Solsalz,
teils Seesalz an den Küsten.
In Frankreich fehlt es somit an Kohlen und Eisen. Darum hat sich hier
die Großindustrie nicht so reich entwickeln können. Vor allem ist die Maschinen-
bauerei zurückgeblieben, denn sie braucht Kohlen und Eisen. Maschinenbau-
anstalten und Schiffswerften gibt es in den großen Seestädten, wie Marseille,
Bordeaux, Rouen: denn hier bringt man fremde Kohle und fremdes Eisen billig
ins Land. Sonst sind St. E t i e n n e und C r e u s o t am Süd fuß der östlichen
Sevennen die Hauptsitze des französischen Metallgewerbes. Hier fertigt man
Gewehre und Säbel, Messer und Scheren, Maschinen und alle sonstigen Eisen-
geräte. In Creusot gibt es wie in Essen Geschütz- und Geschoßfabriken, Eisen-
werke, Maschinen- und Lokomotivbauereien. Für das Kohlengebiet an der
belgischen Grenze ist Lille der Hauptsitz der Industrie geworden.
Seit langer Zeit sind die französischen Handwerker wegen ihrer geschmack-
vollen und kiinstlerischen Arbeit berühmt. Sie besitzen eine außerordentliche
Fertigkeit und einen bewundernswerten Schönheitssinn. Deshalb hat in Frank-
reich das K u n st g e w e r b e seinen Sitz. In Paris fertigt man feine Bronze-,
Silber- und Goldwaren. Die Uhrmacherei blüht in Paris und im Jura. Feine
und genaue Werkzeuge für die Ärzte, Physiker, Sternkundigen und andere
Gelehrte werden ebenfalls in Paris und anderwärts hergestellt.
Berühmt ist das gesamte Webgewerbe. Obenan steht das S e i d en-
ge w e r b e. Wegen des milden Wetters gedeihen namentlich in der Rhone-
ebene die Maulbeerbäume. Die Seidenraupe verzehrt das Laub des Maul-
beerbaums. Durch Italiener kam die Seidenweberei nach Lyon. Dies ist
heute der Hauptsitz der französischen Seidenindustrie. In und um Lyon spinnen
und weben gegen 400 Fabriken Seide und stellen so Atlas, echten Samt, Taft,
Seidenbatist und ähnliche Seidenzeuge her. Wohl 70 000 Arbeiter verdienen
im Seidengewerbe ihr Brot. Die französische Seide ist hoch berühmt. Neben
Lyon haben noch Grenoble und St. Etienne eine starke Seidenindustrie. Von
hier aus ist sie auch nach Genf gewandert.
Das Leinengewerbe hatte schon im Mittelalter eine große Ausdehnung
gefunden, gab es doch genug Flachs. Hierzu kam dann das Wollgewerbe, da
die Schafzucht in Frankreich in großem Maße betrieben wird. In neuerer Zeit
ist hierzu das Baumwollgewerbe getreten. Es hat ebenfalls einen großen Um-
VI. Die Republik Frankreich.
97
fang gewonnen. In Deutschland arbeiten rund 10 Mill. Spindeln, in Frank-
reich gegen 7 Mill. Da nun Frankreich bloß 40 Mick. Einwohner hat, ist seine
Spindelzahl im Verhältnis ebenso groß wie die unsre, d. h. auf je 6 Einwohner
kommt ungefähr eine Spindel. Die Weberei blüht namentlich im Norden Frank-
reichs, wie z. B. in Lille, Reims, Rouen, Amiens, Paris und anderen Städten.
Vor allem weiß man kostbare Schale, .Kunstteppiche (Gobelins) und Seiden-
spitzen herzustellen.
Ihre Kunstfertigkeit beweisen die Franzosen auch im Porzellangewerbe;
bezaubernde Figuren können sie Herstellen. Ihre feinen Glaswaren genießen
einen Weltruf. In Handschuhen liefern sie auch Hervorragendes, wie in der
Kunsttischlerei. Tonangebend waren und sind sie in der Mode, im Bekleidungs-
gewerbe. Die Pariser Mode beherrscht Europa seit 300 Jahren. Ein Hut, der
nicht aus Paris war, war „nicht weit her". Noch heute wissen die Pariser Schneider
und Schneiderinnen, Hutmacher und Hutmacherinnen der Welt ihren Geschmack
aufzudringen. Kommt eine Hutform aus Paris, gilt sie gleich für viel feiner.
Ungeheuer viel Geld hat Frankreich dadurch verdient, daß es der Welt seinen
Geschmack aufnötigte. Erst seit den letzten Jahrzehnten hat sich das deutsche
Kunstgewerbe von Frankreich mehr und mehr frei gemacht. Wir stellen nun
das meiste selber her und tragen unser schweres Geld nicht mehr in so großen
Massen nach Frankreich wie ehedem.
Aus den Trauben keltern die Franzosen feurige Weine und Schaumweine.
Ferner gewinnen sie Branntwein, Liköre, Kognak und andere feine Getränke.
Die reichlichen Obsternten ließen die Obstweinkelterei emporblühen. Aus den
Rosen, Veilchen und andern geruchsstarken Blumen gewinnt man wohlriechende
Ole und Wässer, wie in Marseille und Paris. Aus den Früchten der Olbäume,
den Oliven, bereitet man ein feines Tafelöl. Das minderwertige Ol benutzt
man als Brennöl. Freilich stammt nicht alles Tafelöl aus Oliven. In Marseille
führt man viele Samenkörner der Baumwolle ein. Diese werden ausgepreßt
und liefern ebenfalls ein gutes Ol; es ist billiger und wird oft als Provenceröl
verkauft. Die geringeren Sorten des Baumwollöls benutzt man zur Seifen-
siederei. Die Rückstände verwendet man als Viehfutter.
9. Frankreichs Handel und Verkehr.
An schiffbaren Wasserstraßen hat Frankreich etwas weniger als
Deutschland (12 500 km gegen 14 000). Schon von langer Zeit her hat es viele
Kanäle gebaut. Hierfür ist seine Bodenbeschaffenheit günstig. Der größte Teil
des Landes ist Tiefland. Die Flüsse nähern sich an manchen Stellen sehr. Zwi-
schen den Gebirgszügen gibt es Senken. So hat Frankreich mehr als doppelt
soviel Kanäle als Deutschland (5000 km gegen 2000). Aber Frankreichs Fluß-
schiffahrt leidet oft unter der Wasserarmut der Flüsse; dazu versanden manche
oder sie haben einen zu schnellen Lauf. Viele Kanäle sind zu alt und darum
zu wenig tief. So kommt es, daß auf den deutschen Wasserstraßen gerade noch
einmal soviel Güter befördert werden als auf den französischen.
Das französische Eisenbahnnetz ist nicht ganz so groß wie das
deutsche (50 000 km gegen 60 000); aber im Verhältnis zur Bewohnerzahl ist
Z noch dichter. Paris ist der Kreuzungspunkt aller Hauptbahnen. Wie in
Berlin laufen hier mehr als ein Dutzend Linien zusammen. Frankreich hat
fast lauter Privatbahnen; Staatsbahnen gibt es nur wenig. Das ist ein Nachteil.
Die Bahngesellschaften wollen viel verdienen und lassen es daher an manchen!
Ratgeberl. Franke, Erdkunde, Teil 2. n
98
VI. Die Republik Frankreich.
fehlen. Schon öfter haben die Bahnarbeiter und Bahnbeamten die Arbeit ein-
gestellt; dann stockte der Verkehr. Das bringt ungeheure Nachteile fürs Land.
Im allgemeinen ist der Bahnverkehr in Frankreich nicht so lebhaft wie in Deutsch-
land. Frankreich hat eben weniger Bewohner und weniger Massenindustrien.
Der Postverkehr ist gleichfalls geringer.
Ehemals hatte Frankreich eine bedeutende Handelsflotte; war es doch
vor 1700 die größte Handelsmacht Europas. Da es von drei Seiten von Meeren
umgeben ist, so bietet es der Schiffahrt auch günstige Verhältnisse. Es liegt
am Mittelmeer wie am Atlantischen Ozean und besitzt eine große Zahl von
Häfen. Es hat sogar viel Geld aufgewandt, um einzelne Häfen wesentlich zu
verbessern, wie z. B. Le Havre, Cherbourg u. a. Bei Cherbourg hat man z. B.
aus Granitsteinen einen Steindamm aufgeführt, der 4000 m sich ins Meer
hinaus erstreckt und die tosenden Wellen bricht. Die westlichen und nördlichen
Küsten leiden öfter unter den heftigen Stürmen. Unaufhörlich nagen die Wellen
an der steilen Kreideküste. Hier sind zahllose Klippen, die dem Schisser bei Sturm
Tod und Verderben drohen. An der schmalen Bucht von St. Malo steigen die
Fluten bis zu 12—-16 m Höhe. Frankreichs Seeküste ist fast so lang wie seine
Landgrenze.
Aber nicht die ganze Seeküste ist der Schiffahrt günstig. Am Mittelmeere
ist die Küstenstrecke östlich von der Rhone am vorteilhaftesten. Hier befindet
sich auch die große Hafenstadt Marseille und weiter östlich der Kriegshafen Toulon.
Die westliche Hälfte der Mittelmeerküste besteht aus Dünen und Strandseen
und ist noch dazu der Versandung sehr ausgesetzt. Darum finden wir hier keine
bedeutenden Häfen. Ehemalige Häfen liegen jetzt im Lande, da die Küste wächst
und fort und fort mehr versandet.
Die Küste des Landes eignet sich gleichfalls nicht zur Schiffahrt, da sie
aus Dünen besteht und versandet. Hier findet sich darum auch kein Hafen. Nur
im Mündungstrichter der Garonne ist Bordeaux als Seestadt emporgeblüht.
An der nördlichen Hälfte ist auch nur im Mündungstrichter der Loire Nantes
als große Hafenstadt entstanden und St. Nazaire als Vorhafen. Dazwischen
gibt es an der buchtenreichen Flachküste nur noch ein paar kleinere Hafenstädte,
die steile Granitküste der Bretagne hat vortreffliche Einbuchtungen, an welchen
gute Häfen angelegt worden sind. An der Spitze der Halbinsel ist Brest als
Kriegshafen ausgebaut worden. Sein Zugang ist eng und kann gut verteidigt
werden; sein innerer Hafen aber bietet Raum für große Flotten. Zum Handels-
hafen taugt Brest nicht; denn es ist zu abgelegen, und ihm fehlt ein schiffbarer
Fluß, der tief ins Land führt. Deshalb haben auch die übrigen Häfen der Bre-
tagne keine große Bedeutung. An der Nordspitze der Normandie ist Cher-
bourg als Kriegshafen ausgebaut worden. Cherbourg ist aber den heftigen
Stürmen des Kanals ausgesetzt. Darum mußte eine lange Mole aus Granit-
steinen aufgeführt werden, welche als Wellenbrecher dient und den Schiffen
im Hafen Schutz gewährt. Um Platz zu gewinnen, sprengte man den Granit-
fels weithin weg und machte den Raum zum Hafen. An der Seinenründung
find Le Havre und Rouen als Häfen aufgeblüht. Bei Cherbourg beginnt die
Kreideküste, die steil bis zu 100 m ansteigt. Östlich von Le Havre liegt der Kriegs-
hafen Dieppe. An der engsten Stelle des Ärmelmeers, an der Straße von
Kalais sind Boulogne, Kalais und Dünkirchen die wichtigsten Häfen. Boulogne
ist Frankreichs erster Fischereihafen. In Kalais schiffen sich namentlich die Per-
sonen ein, welche nach England überfahren. Dünkirchen an der Dünenkühe
hat zumeist Güterverkehr.
VI. Die Republik Frankreich.
99
So hat Frankreich genug Handels- und Kriegshäfen. Es hat auch stets
eine stattliche Handelsflotte gehabt. Groß ist die Zahl seiner Segelschiffe, etwa
sechsmal so groß als die der deutschen (16 000 gegen 2700). Die französischen
Segler sind aber viel kleiner als die deutschen. Darum hat die französische Segel-
flotte kaum ein Fünftel mehr Laderaum als die deutsche. Deutschland hat mehr
Dampfer als Frankreich (2000 gegen 1800). Die deutschen Dampfer sind gleich-
falls größer als die französischen. Sie fassen beinahe dreimal soviel als diese
(2,5 Mill. t gegen 0,85 Mill.). Im ganzen hat die deutsche Handelsflotte doppelt
so großen Laderaum als die französische (3 Mill. t gegen 1,46 Mill.). Frank-
reich besitzt eben mehr kleine Küstenschiffe und weniger große Seeschiffe als
Deutschland. Es ist an der Weltschiffahrt weniger beteiligt als wir. Sein größter
Hafen ist Marseille: hier gehen jährlich rund 20 Millionen Tonnen Güter
aus und ein, in Hamburg beinahe 25 Mill. Am Kanal ist L e H a v r e der be-
deutendste Hafen; doch reicht sein Verkehr bei weiten: nicht an den von Mar-
seille (nur Va). Darm folgen Cherbourg, Bordeaux, Bonlogne, Dünkirchen,
Rorren. Die Häfen am Kanal haben viel Verkehr nach England, Belgien,
Holland und Deutschland.
Der Außenhandel Frankreichs ist gleichfalls kleiner als der deutsche.
Es ist am Welthandel weniger beteiligt als Deutschland. Sein Außenhandel
hat einen Wert von rund 12 Milliarden, der nnsrige steigt ans 20. So lebt Frank-
reich mehr für sich und von sich. Freilich kann es seine Bewohner auch nicht
ganz ernähren. Es bedarf nicht bloß Kohlen und Erze, Baumwolle und Kolo-
nialwaren, sondern auch Wein und Getreide, Seide und Wolle, Häute und
Holz. Freilich kann es dafür auch mancherlei Waren ausführen, wie z. B. Wolle
und Wollengewebe, Seide und Seidengewebe, Baumwollgewebe, Modewaren,
Kleider und allerhand Pariser Schmuckwaren nebst Wein. Im allgemeinen halten
sich bei Frankreich die Ein- und Ausfuhr fast die Wage. Die Einfuhr ist 1—1%.
Milliarde größer als die Ausfuhr. Frankreich ist eben weniger ein Industriestaat
als wir. Es braucht wie wir viel Rohstoffe für seine vielseitigen Web- und Wirk-
gewerbe, nämlich Baumwolle, Wolle und Seide, Flachs, Hanf, Jute usw. Dafür
führt es wie wir eine stattliche Summe von Erzeugnissen der Web- und Wirk-
gewerbe aus. Doch bleibt noch ein hübscher Rest zu bezahlen. Dazu kommen
die Summen für die eingeführten Kohlen, Holz und Getreide. Dies alles be-
zahlt Frankreich durch seine große Ausfuhr an Modewaren, Kleidungsstücken
und Pariser Schmuckwaren. Den größten Handelsverkehr hat Frankreich mit
England. Frankreich liefert mehr Waren nach England, als es von diesem be-
zieht. Auch nach Belgien führt es mehr aus, als es von diesem kauft. Zwischen
Deutschland und Frankreich halten sich Ein- und Ausfuhr beinahe die Wage.
Wir kaufen etwas mehr von Frankreich, als es von uns. Aus Frankreich erhalten
wir vor allem Wolle und Wollgarn, Wein und Liköre, Seide und Seidenstoffe,
Häute und Felle. Dafür liefern wir besonders Kohlen und Koks, Metalle und
Metallwaren, Häute und Felle. Mit Neid und Staunen aber haben die Fran-
zosen gesehen, daß wir auch viele kunstgewerbliche Erzeugnisse selbst Herstellen,
die sie früher uns lieferten.
Immerhin ist Frankreich ein wohlhabendes Land. Sein Reichtum stammt
schon aus den letzten Jahrhunderten; er ist nicht erst in jüngster Zeit erworben.
Ir: Frankreich sparen die Leute, so sehr sie können; sie wollen gern als Rentner
von ihren Zinsen leben. Die Franzosen haben daher auch viel Geld ans Aus-
lalid geliehen. Daher ist Frankreich kein so starkes Industrieland wie Deutsch-
land oder Belgien.
7*
100
VI. Die Republik Frankreich.
10. Das französische Volk.
Die Bewohner Frankreichs sind eine Mischrasse. Ursprünglich wohnten
Kelten dort; es waren Gallier, nach denen das Land Gallien genannt
wurde. Sie waren den Germanen und Römern verwandt. Die Römer
unterjochten die Gallier und zwangen ihnen die römische (lateinische) Sprache
auf. Dann drangen die germanischen Franken, Burgunder und
Goten in Gallien ein. Die Franken errickteten ein eigenes Reich. Aus der
Vermischung der Gallier und Römer mit den Franken, Burgundern und Goten
entstand das französische Volk. Im Norden überwogen die Franken, im Westen
und Süden die romanisierten Gallier, in der Bretagne blieben noch echte Gallier
leben, es sind die Bretonen; in den Pyrenäen sind es die Basken. Die fran-
zösische Sprache sprach man zuerst in und um Paris, der Hauptstadt des Franken-
reichs. Diese Sprache ward allmählich die Schriftsprache aller Franzosen.
Ursprünglich zerfiel Frankreich genau wie Deutschland in viele einzelne
unabhängige Länder. Um 1500 waren sie alle dem Könige von Frankreich unter-
tan. Schon seit mehr als 400 Jahren ist es geeint. Seitdem'ist Frankreich weiter
ausgedehnt worden, es kamen belgische, lothringische und italienische Gebiete
an Frankreich. Daher gibt es auch an den Grenzen fremde Stämme, z. B. Ita-
liener in den Westalpen und aus der Insel Korsika, Deutsche in Lothringen,
Flamen an der belgischen Grenze.
Dem Glauben nach sind die allermeisten Franzosen Katholiken; es gibt
nur wenig Protestanten; denn die französischen Könige haben die ehemaligen
Protestanten mit Gewalt bekehrt oder vertrieben. Dazu kommen noch 100 000
Juden, die sich namentlich in den Städten dem Handel widmen.
Die Franzosen sind lebhaft und feurig; leicht begeistern sie sich für das
Neue. Doch halten sie oft nicht lange aus, denn ihnen mangelt die Zähigkeit
und Ausdauer. Groß ist ihre Eitelkeit. Sie halten sich für die große Nation,
die an der Spitze der Bildung und Gesittung marschiert. Dazu glauben sie,
daß ihre Sprache und Kunst die beste sei, die unübertroffene und unübertreff-
liche. Darum taten und tun sie viel, ihre Sprache zur Weltsprache zu machen.
Aber die englische und die deutsche Sprache haben die französische überflügelt.
Sehr empfänglich find die Franzosen für Ruhm und Ehre. Wenn ein König,
Kaiser oder Feldherr Kriege und Länder gewann, dann vergötterten sie ihn.
Sie wollten auch den fremden Völkern zeigen, wie weit sie ihnen voranstünden.
Darum veranstalteten sie öfter in Paris eine Weltausstellung, bis jetzt fünf,
obgleich sie meistens noch viel Geld zusetzen mußten. 1900 aber haben sie ge-
merkt, daß ihnen die Deutschen und andere weit vorausgeeilt waren. Das hat
sie sehr verdrossen; bis jetzt denken sie an keine neue Weltausstellung. Die Fran-
zosen sind fröhlich und gesellig, höflich und liebenswürdig, geistreich und witzig.
Sie schufen die feinsten Verkehrsformen. Wie sie in Gesellschaften miteinander
verkehrten, das ahmten die Vornehmen in andern Ländern nach, besonders
auch in Deutschland. Dadurch kamen auch viele französische Wörter zu uns,
z. B. Dame, Bukett, Schokolade, Biskuit, Parfüm, Likör, Kognak usw. Ihre
Schauspiele wurden auch bei uns aufgeführt, ihre Romane bei uns fleißig ge-
lesen.
Lange war aber die Volksbildung in Frankreich recht mangelhaft. Es gab
keinen Schulzwang. Erst vor 30 Jahren ist er eingeführt worden. Seitdem
hebt sich die Volksbildung, und die Zahl der Nicbtleser nimmt ab.
VI. Die Republik Frankreich.
101
11. Der französische Staat und seine wichtigsten Städte.
Lange war Frankreich ein Königreich, dann ward es eine Republik. Na-
poleon I. machte es zum Kaiserreich. 1815 ward es wiederum ein Königreich;
dann ward es abermals eine Republik und darauf ein Kaiserreich. Seit 1870
ist es eine Republik. An der Spitze steht ein Präsident. Er wird auf 7 Jahre
gewählt. Die Volksvertretung besteht aus zwei Kammern. Das Oberhaus
beißt Senat, das Unterhaus heißt die Deputierten- oder Abgeordnetenkammer.
Der erste oder oberste Minister regiert das Land; er wird ans der größten Partei
genommen. Macht er etwas, was den Abgeordneten nicht gefällt, dann spricht
man ihm das Mißtrauen aus, und er muß abgehen. So wechseln in Frankreich
die leitenden Minister oft recht bald. Da mittelbar das Parlament und nicht der
Präsident regiert, nennt man das parlamentarische Regierungsart. Der Prä-
sident muß alles unterzeichnen, was die Kämmern beschließen; wollte er sich
weigern, müßte er abdanken. Wer im Parlament den größten Anhang hat,
der herrscht am meisten.
Frankreich hat nicht ganz 540 000 qkm; es ist demnach ein wenig kleiner
als Deutschland; zu ihm gehört auch die gebirgige Insel Korsika im Mittel-
meer. Frankreich ist aber nicht so dicht wie Deutschland bevölkert; es hat kaum
40 Mill. Einwohner. Alls den Geviertkilometer kommen etwa 75 Menschen, in
Deutschland dagegen über 120. So ist Frankreich viel dünner bevölkert.
Ehemals hatte es mehr Bewohner als Deutschland. Seine Volkszahl hat aber
seit den letzten Jahrzehnten nur wenig zugenommen. Sie würde lloch kleiner
sein, wenn in Frankreich nicht über 1 Mill. Fremde lebten, namentlich Italiener,
Deutsche (aus Elsaß-Lothringen) und Belgier. In Paris leben allein über 100 000
Deutsche, soviel wie die Stadt Erfurt Einwohner zählt. Die Sterblichkeit ist sehr
niedrig, aber die Geburtenzahl ist erst recht klein; in manchem Jahre sind schon
mehr Menschen gestorben, als geboren wurden. In Deutschland werden jähr-
lich über 800 000 Menschen mehr geboren als sterben; in Frankreich kommen
kaum soviel Kinder aus die Welt. In der größeren Hälfte des Landes nimmt
die Volkszahl ab; in den Gebieten, die an Belgien, Deutschland, Italien grenzen,
nimmt sie noch zu.
Dennoch hat Frankreich ein großes stehendes Heer; es ist sogar größer
als das deutsche. Die Franzosen sind eben ehrgeizig und wollen nicht hinter
uns zurüchtehen; auch hoffen sie noch, Elsaß-Lothringen wieder gewinnen zu
können. Aber Frankreich muß jeden jungen Mann als Rekruten einstellen,
wenn er nur halbwegs tauglich ist. Oft fehlt es an Rekruten. Um so mehr hält
es auf gute Waffen und gute Ausrüstung. Dazu hat es die gesamte Ostgrenze
mit starken Fe st ungen geschützt. Gegen Italien sind Toulon, Gre-
noble und Lyon befestigt. Die schweizerische Grenze sollen bewachen
Besancon, Dijon und Belfort. Gegen Deutschland ist eine
doppelte Fesiungskette errichtet worden. Die östlichen Festungen und Festungs-
werke bewacken die Mosel, die zweite die Maas. Zu den Moselfestungen gehören
B e l s o r t, E p i n a l und T o u l; an der Maas liegt Verdun. An der
belgischen Grenze sind Lille,Dünkirchen, Reims u. a. befestigt.
Dazu kommen noch viele kleine Sperrwerke. Im ganzen hat Frankreich 150
Festungen, 300 Forts und 400 Schanzen. Man verläßt sich also sehr auf die
Verteidigung. Darum ist auch Paris am allerstärksten befestigt. Es ist die
größte Festung der Welt. Ein dreifacher Schutzwall umgibt die Stadt: eine Mauer
und zwei Reihen Außenwerke. Der Hauptwall ist 10 m hoch und zählt 94 Vor-
102
VI. Die Republik Frankreich.
sprünge oder Bastionen. Vor ihm ist ein Graben, der 15 m breit und 34 km
lang ist. 58 Tore und 12 Eisenbahndurchfahrten vermitteln den Verkehr. Vor
dem Wall liegt der ältere Gürtel von Forts; er ist 55 km lang und zählt 16 Be-
festigungen. Nach dem Kriege führte man einen weiteren Gürtel von Werken auf.
Er ist 124 km lang und hat 23 Forts und 50 kleine Festungswerke. Will ein Heer
Paris einschließen, dann muß es eine Kette bilden, die beinahe 200 km lang ist.
Paris ist die Hauptstadt Frankreichs und zählt beinahe 3 Mill. Ein-
wohner. Es breitet sich zu beiden Seiten der Seine aus unterhalb der Marne-
mündung. Hier gab es ehemals mehrere Inseln, auf denen ein Ort errichtet
war. Heute find sie zu zwei großen Inseln vereinigt. Paris hat eine günstige
Lage; es liegt inmitten der größten, fruchtbarsten und gewerbreichsten Land-
schaften Frankreichs. Zugleich ward es die Hauptstadt der französischen Könige.
Je mehr nun Frankreich sich vergrößerte, desto mehr wuchs auch seine Haupt-
stadt. Da Frankreich ein streng einheitliches Reich ist, so blieb Paris die einzige
Hauptstadt. Infolgedessen zogen die reichsten, gebildetsten und vornehmsten
Familien nach Paris. Es liegt aber auch günstig für den Verkehr. Hier treffen
sich die Hauptstraßen und Hauptbahnen Frankreichs, z. B. die Straße Rhone—
Saone—Seine, die Straße Bordeaux—Tours—Paris, die Straße Rouen-
Paris—Lyon, die Straße Paris—Chalons—Metz, die Straße Paris—Nancy-
Straßburg, Paris—Brüssel—Antwerpen, Paris—Calais usw. Die Haupt-
bahnen Europas gehen durch Paris. 30 Brücken überspannen den Strom,
um den Verkehr zu erleichtern. Auf den beiden Seineinseln liegt die Altstadt.
Hier ist die Notre Dame die prächtigste Kirche; von ihren Türmen hat man eine
wundervolle Aussicht über die gewaltige Stadt mit ihrem unübersehbaren Häuser-
meere. Auf dem rechten Seineufer liegt das ehemalige Königsschloß, der
Louvre; heute beherbergt er in 18 Abteilungen herrliche Kunstschätze, alle-
samt hübsch geordnet nach Ländern und Zeitabschnitten. An den Louvre grenzen
die Tuilerien, einst auch von Königen und Kaisern bewohnt. Berühmt sind
die prachtvollen Gärten der Tuilerien, ein beliebter Ausgangsplatz für
die Pariser. Sie reichen bis zum K o n k o r d i e n p l a tz. In dessen Mitte
erhebt sich eine hohe Spitzsäule, welche aus Ägypten stammt. An den Konkor-
dienplatz schließen sich die Elyseischen Felder an. Sie sind ein Lustwald von
Ulmen und Linden und werden (wie der Prater in Wien) gern von den ver-
gnügungslustigen Parisern ausgesucht. Die breite, 3500 m lange Prunkstraße
schließt an ihren beiden Enden mit prächtigen Trimnphbögen ab. Der Stadt-
teil am rechten Seineuser heißt „die Stadt" und war rings von starken Boll-
werken umgeben. Aus diesen hat man breite, mit Baumreihen bepflanzte
Straßen gemacht. Es sind die B o u l e v a r d s. An dieser Ringstraße erheben
sich hohe und prachtvolle Gebäude mit glänzenden Läden, Gasthäusern und
Theatern. In endlosen Zügen rollen hier feine Kutschen mit Spiegelscheiben
und seidenen Spitzen; dazwischen drängen sich elektrische Wagen, Droschken,
Aute und Fuhrwerke. Es ist ein lebensgefährliches Gedränge. An den Ecken
der Fußsteige preisen Ausrufer ihre Waren mit gellender Stimme an. Schuh-
putzer, Blumenverkäufer, Zeitungsausträger, Kofferträger bieten ihre Dienste
an. Vor den Kaffeehäusern stehen kleine Tische mit Marmorplatten. Hier schlürfen
die Pariser und Pariserinnen ihren Kaffee oder Absinth. Der Absinth ist ein
Schnaps, der aus Wermutsaft bereitet wird. Er schmeckt angenehm kühl, ist
aber sehr schädlich. Insbesondere erzeugt er Krämpfe und Irrsinn. Dennoch
lassen viele Franzosen nicht vom Absinthgenuß, lieber wollen sie im Kranken-
oder Jrrenhause elend dahinsiechen.
VI. Die Republik Frankreich.
103
Die inneren Vorstädte sind von den äußeren Boulevards umgeben. Be-
rühmt ist noch der E i f f e l t u r m. Dieser eiserne Turm ragt 300 m hoch empor
und gewährt daher einen herrlichen Rundblick auf die Weltstadt an der Seine.
1792 Stufen führen bis zu seiner Spitze. Ungefähr auf halber Höhe birgt er
ein Gasthaus. Er erhebt sich inmitten des Marsfeldes, wo man die großen
Paraden abhält. Paris birgt die großartigsten Läden der Welt. Berühmt ist
das P a l a i s Royal. Dessen Läden mit den wundervollsten Schmuck- und
Zierwaren erregen das Staunen acker Beschauer.
Paris ist Frankreichs Hauptstadt; es ist auch Frankreichs größte Fabrik-
und Handelsstadt. Vor allem fertigt man hier feine Bekleidungs- und Luxus-
waren, Seidenwaren, Teppiche, Vtöbel, Uhren und allerhand Schmucksachen.
Zahlreich sind die Banken, die hier Geschäfte mit aller Welt machen. In vielen
Dingen bestimmt die Pariser Börse die Preise. Groß ist der Hafenverkehr, er
umfaßt einen Umsatz von etwa 10 Mill. t.
Nächst Paris sind Marseille und Lyon am größten, beide rund
V, Mill. Einw. Marseille ist als größte Hafenstadt und Lyon als größte Seiden-
stadt wichtig. Bordeaux und Lille sind nicht ganz halb so groß wie Lyon.
Mehr als 100 000 Einwohner zählen Toulouse an der Garonne, Rou-
baix, die Schwesterstadt von Lille an der belgischen Grenze, St. Etienne,
das französische Essen, südwestlich von Lyon, R o u e n an der Seine, Reims,
östlich von Paris, Toulon, östlich von Marseille, Nancy an der Mosel,
Nantes, der Hafen an der Loiremündung, Le H a v r e, der Seinehafen,
N i z z a, der berühmte Kurort an der Riviera. Frankreich hat etwa eine Mandel
Städte, die über 100 000 Einw. zählen; Deutschland dagegen hat gegen 50
solcher Großstädte.
12. Frankreich und Deutschland.
a) Ihrer Größe nach sind beide fast gleich, doch zählt Deutschland rund
27 Mill. Einwohner mehr.
b) Die Grenzen Frankreichs sind geschützter und abgerundeter als die
Deutschlands.
o) Die Bodengestalt ist ähnlich; im Norden befindet sich ein weites
Tiefland; daran schließen sich nach Süden zu Mittelgebirge. Frankreich
grenzt im Westen und Osten an Hochgebirge, Deutschland nur im Süden
an die Alpen. In Frankreich überwiegt aber das Tiefland.
6) Deutschland hat 6 große Ströme (Rhein, Weser, Elbe, Oder, Weichsel,
Donau); Frankreich nur 4 (Garonne, Loire, Seine, Rhone). Die deut-
schen Flüsse sind schiffbarer als die französischen. Frankreich hat aber
mehr Kanäle als Deutschland.
e) Frankreich hat mehr S e e k ü st e als Deutschland, es grenzt an drei
Meere, Deutschland nur an zwei.
f) Frankreich hat wärmere Witterung als Deutschland. Doch sind
im allgemeinen seine Winter nur milder, während seine Sommer
meistens nicht heißer sind.
g) Die Fruchtbarkeit ist bei beiden Ländern ziemlich gleich; aber
Deutschland emtet mehr Getreide vom Hektar. Frankreich baut mehr
Wein und Weizen, Deutschland mehr Roggen und Kartoffeln. Frank-
reich zieht auch mehr Blumen und Gemüse als Deutschland und hat
sogar Maulbeer- und Olbäume in der Provence.
104
VII. Das Königreich Dänemark.
h) Deutschland hat mehr Bodenschätze, nämlich mehr Kohle und
Eisenerze.
i) In Frankreich ist die Groß- und Massenindustrie nicht so vertreten wie
in Deutschland; darum gibt es bei uns auch mehr Großstädte als in
Frankreich. Jenseits des Wasgaus blüht mehr das seine Gewerbe,
welches große Geschicklichkeit und guten Geschmack erfordert.
Ir) Frankreich ist ein Einheitsstaat, Deutschland ein Bundesstaat; Frank-
reich ist eine Republik, das Deutsche Reich ein Kaiserreich, das aus
26 Staaten zusammengesetzt ist.
I) Beide sind starke Militärmächte. Deutschlands Flotte ist größer als
die ftanzösische, aber sein Heer ist nicht größer als das französische.
VII. Das Königreich Dänemark.
1. Seine Lage und Gliederung.
Das Königreich Dänemark besteht aus der Halbinsel Jütland und
mehreren großen und kleinen Inseln. Die Halbinsel Jütland ist die nördliche
Fortsetzung von Schleswig-Holstein. Die Inseln liegen zwischen Jütland und
Schweden. Die größte heißt Seeland; sie liegt im Nordosten. Westlich
davon liegt die nächstgrößere Insel F ü n e n. Südlich von Seeland und Fünen
liegen in einem Bogen mehrere Inseln (Langeland, Laaland, Falster und Möen).
Ganz abgelegen ist die Insel Born Holm; sie liegt nördlich von der Oder-
mündung.
Die dänischen Inseln bilden die Scheidewand zwischen der Nord- und
Ostsee. Drei Meeresstraßen führen aus der Nordsee in die Ostsee. Zwischen
Schweden und Seeland bildet der Sund die Verbindungsstraße. Seeland
und Fünen werden durch den Großen Belt geschieden. Zwischen Jüt-
land und Fünen liegt der K l e i n e Belt. Zwischen Jütland und Schweden
breitet sich das Kattegat aus. Nordwestlich von Jütland liegt das S k a g e r -
r a k.
Dänemark grenzt im Westen an die Nordsee, im Osten an die Ostsee; im
Süden an das Deutsche Reich und die westliche Ostsee, im Norden ans Skagerrak
und Kattegat. So hat Dänemark zum allergrößten Teile Seegrenzen; eine
kurze Landgrenze hat es nur gegen Schleswig. Man nennt Dänemark deshalb
häufig einen Inselstaat.
2. Die Halbinsel Jütlanv.
Jütland ist die nördliche Fortsetzung Schleswig-Holsteins; doch ist Jütland
breiter als Schleswig-Holstein. Nach Norden zu läuft es in eine schmale Land-
zunge aus, die das Skagerrak vom Kattegat trennt. Im Süden reicht Jütland
bis an das Flüßchen König sau. Wie Schleswig-Holstein besteht Jütland
aus drei verschiedenen Bodenstreifen. Am fruchtbarsten ist der östliche Streifen,
denn er besteht aus Geschiebelehm. Hier wechseln prächtige Buchenwälder
mit üppigen Getreidefeldern und saftigen Wiesen. Hier finden wir zahlreiche
Dörfer und Weiler. Wie im östlichen Schleswig-Holstein ziehen sich auch in
Ostjütland tiefe Förden weit ins Land hinein und bieten geschützte Häfen für
die Küstenschiffahrt. Die Dänen nennen die Förden Fjorde. Der größte
VII. Das Königreich Dänemark.
105
Fjord liegt im Norden; es ist der Lirn fjord; er reicht vorn Kattegat bis
zur Nordsee und bildet gleichsam einen natürlichen Kanal. Doch ist er für Schiffe
nicht tief genug.
In der Mitte zieht sich ein flacher Höhenrücken hin; im Himmelsberge
steigt er bis zu 170 m an. Hier findet sich sandiger Boden. Weite Heiden wechseln
mit Mooren. Kein Baum, kein Busch, nur Heidekraut und immer nur Heide-
kraut erblickt das schweifende Auge. Besonders trostlos ist das Land nördlich
vom Lirnfjord. Hier erstickt der bewegliche Flugsand allen Pflanzenwuchs.
In Skagen hat der Flugsand die alte Kirche so tief verschüttet, daß nur noch der
Turm sichtbar ist. Ehemals gab es nur einzelne besiedelte Stätten in geschützten
Gegenden. Allmählich hat man begonnen, die Heiden aufzuforsten und die
Moore urbar zu machen. So gewinnt man immer mehr Acker-, Wiesen- und
Waldland.
Noch trostloser als die Mitte ist die Westseite Jütlands. Hier herrschen
Geest und Heide. Die Nordsee braust stärker als die Ostsee. Fast niemals ist
Windstille. Unheimlich tosen die Herbst- und Winterstürme. Längs der Küste
zieht sich ein sturmgepeitschter Dünensaum hin. Ihm fehlen fast ganz die frucht-
baren Marschen; nur nach Süden zu finden sie sich. Selbst im Meere ziehen sich
unterseeische Sandbänke hin. An ihnen brechen sich die Wellen. Das ist zwar
ein großer Nutzen; aber für den Schiffer sind sie äußerst gefährlich. Bei den
häufigen Nebeln sind sie unsichtbar. Gerät ein Schiff auf sie, so strandet es und
ist verloren. Die Dänen nennen diese Küste darum die eiserne; wie ein eisernes
Geländer läßt es die Schiffe nicht an das Land. Kein Hasen ist an dieser ent-
standen. Die besonders gefährliche Dünenküste im Norden heißt der Kirchhof
der See. Tausende von Schiffen und Schiffern haben in den gefährlichen dä-
nischen Gewässern ihren Untergang oder Tod gefunden. Zahlreiche Rettungs-
anstalten suchen heute den bedrohten Schiffen Hilfe zu bringen. Gefährlich
ist die Schiffahrt namentlich im Winter, wenn mächtige Eisschollen den Weg
versperren.
Am dichtesten ist die Ostseite Jütlands besiedelt; hier sind auch einige größere
Hafenstädte emporgeblüht, wieAarhus, Kolding, Fredericiau. a.
An der Nordsee ist im Süden nur E s b j e r g als Hafenstadt im Aufblühen be-
griffen; es hat einen neuen großen Kunsthafen, der vor allem Verkehr mit Eng-
land unterhält.
3. Die dänischen Inseln.
Die dänischen Inseln haben dieselbe Bodenbeschaffenheit wie Vorpommern
und Rügen. Der Gescbiebelehm bildet eine fruchtbare Ackerkrume. Aus See-
l a n d und F ü n e n herrscht ein welliges Hügelland vor. An der Ostseite See-
lands und Moens gibt es steile Kreideküsten wie bei Rügen. Auf M o e n er-
hebt sich die 7 km lange Steilküste bis zu 140 m fast senkrecht aus dem Meere
empor. Sie besteht aus weißer Schreibkreide und ist oben gut bewaldet. Die
Inseln zeichnen sich durch große Fruchtbarkeit aus. Ausgedehnte Wiesenpläne
wechseln mit großen Ackerflächen und Buchenwäldern. Die Inseln sind daher
der wertvollste Teil des Königreichs Dänemark. Ihnen gegenüber tritt das
magere Jütland zurück, obwohl es größer ist. Die Inseln sind ihrer Fruchtbarkeit
halber dichter besiedelt als Jütland. Merkwürdig ist, daß es viel einzelne Bauern-
gehöfte gibt, ähnlich wie in Westfalen. Große Städte gibt es außer Kopen-
hagen am Sund nicht.
106
VII. Das Königreich Dänemark.
4. Die blühende dänische Landwirtschaft.
Dänemark liegt nördlicher als Ostpreußen; seine Witterung
ist aber gleichmäßiger, die Winter sind milder und die Sommer kühler
als in Ostpreußen. Die Regenmenge ist ungefähr so groß wie in Nord-
deutschland. Wenig vorteilhaft ist aber, daß die meisten Regensälle im
Spätsommer fallen. Dadurch wird die Ernte oft geschädigt. Viel Nebel
und kalte Winde gibt es in Dänemark. Dazu folgt auf Wärme Plötzlich
Kälte, wenn der Ost- oder Südwind durch West- oder Nordwestwind ab-
gelöst wird.
Der B o d en der dänischen Inseln ist sehr gut; denn er ist lehmartig und
kalkhaltig. Fast ebenso gut ist der Boden Ostjütlands. Ungefähr vier Fünftel
des Landes sind nutzbar; den Rest nehmen Heiden, Moore und Dünen ein.
Wald hat Dänemark nur wenig, gleich Schleswig-Holstein. Das Ackerland ist
ein wenig kleiner als in Deutschland, dafür nehmen die Wiesen und Weiden
noch einmal soviel ein. Die häufigen Niederschläge begünstigen den Wiesenbau
mehr als den Ackerbau. In Dänemark steht die B i e h z u ch t an erster Stelle.
Der dritte Teil des ganzen Landes besteht aus Wiesen und Weiden; dazu wird
viel Ackerland mit Futtergewächsen bestellt. Im Verhältnis hat Dänemark
reichlich noch einmal soviel Vieh als Deutschland. Kommen in Dänemark aus
100 Einwohner etwa 80 Stück Rindvieh, so bei uns bloß 32. In Dänemark
widmet man sich eben viel mehr der Viehzucht. Man züchtet ein kräftiges, gut
gebautes Pferd und vor allen: vortreffliches Rindvieh. Das Vieh kann lange
weiden, ganz wie in Holstein oder Holland. Früher war weder die dänische
Viehzucht noch der dänische Ackerbau so leistungsfähig wie heute. Die Bauern
gossen die Milch in flache irdene Schalen und stellten sie auf Wandbretter in
der Stube. Dort nahm die Milch die schlechten Gerüche der schlecht gelüfteten
Stube an. Die daraus bereitete Butter schmeckte bitter. Größere Güter
hoben die stark gesalzene Butter auf und verschickten sie in Fässern im Oktober
nach England oder nach Norwegen. Da erfand ein Deutscher eine Butterma-
schine. Sie trennt gleich von der frischen Milch in vollkommener Weise den Rahm
von der Butter- oder Magernülch. Die Maschine ist eine Art Schleuder. Die
Trommel, worein man die Milch schüttet, hat kleine Ritzen. Dreht man sie sehr
schnell, dann fließt die Magernülch durch die Ritzen ins Faß; der dicke Rahn:
bleibt in der Trommel. So erhält man äußerst wohlschmeckende Süßrahm-
butter. Dazu wird fast alles Butterfett aus der Milch gewonnen. Aber solch
eine Milchschleuder ist teuer. Die kleinen Güter haben für sie nicht genug Milch.
Darum vereinigte sich ein ganzes Dorf und bildete eine Molkereigenossenschaft.
Jeder Bauer lieferte seine Milch an sie. So ward die Milch aller Mitglieder
zusammen genommen. Alle Tage konnte man nun frische Butter bereiten.
Man schrieb auf, wieviel Milch jeder Bauer geliefert hatte, und darnach rechnete
man aus, wieviel Geld er dafür zu bekommen hatte. Jeden Monat rechnete
man ab. Nrm fand man, daß nicht alle Milch gleich viel Fettgehalt hat. Wer
gute Kühe hat, sie gut füttert und pflegt, dessen Milch ist fettreich. Wer dürre
Kühe hat, sie schlecht füttert und pflegt, dessen Milch ist mager oder fettarm.
Da wären die Besitzer der guten Kühe mit fettreicher Milch schlecht wegge-
kommen, während die Besitzer der schlechten Kühe mit fettarmer Milch zu gut
gestellt worden wären. Da erfand man einen Buttermesser. Dieser gibt an,
wieviel Fettgehalt die Milch hat. Da sah man, die Milch vom Bauer A. hat
gerade 3 v. H. Fett, die vom Bauer B. hat 3,25 v. H. Fett usw. Ehe man die
VII. Das Königreich Dänemark.
107
Milch in die Milchschleuder schüttete, maß man den Fettgehalt der Milch. So
konnte jeder Bauer gerecht bezahlt werden.
Aus dem Süßrahm bereitet man Butter, die Süßrahmbutter, welche in
England usw. gut bezahlt wird. Dorthin sendet man die Butter in großen Men-
gen. Zuerst versandte jede Molkerei die Butter ins Ausland. Dann verbanden
sich die Molkereien, und nun besorgt ihre Leitung den Butterversand. Das ist
billiger und sicherer für die Lieferer wie für die Verbraucher. 4
Die übrigbleibende Magermilch wird den Bauern zurückgegeben. Da
nun darunter auch die Milch lungenkranker, perlsüchtiger Kühe ist, könnten da-
durch leicht andere Tiere angesteckt werden. Darum wird sie zuvor gekocht und
dann erst abgegeben. Die Genossenschaften kaufen auch gute Futter- und Dünge-
mittel im großen ein und geben sie billig an ihre Mitglieder ab. So hat sich in
den letzten Jahrzehnten die dänische Landwirtschaft tüchtig gehoben.
Neben der Rindviehzucht und Molkerei blüht die Geflügelzucht.
Dänemark gewinnt ungemein viel Eier. Die dänischen Bauern nehmen es
sehr genau und erzielen darum große, saubere Eier, welche gut bezahlt werden.
Uni sie gut zu verkaufen, haben sie Eidgenossenschaften gegründet. Diese nehmen
den Bauern alle Eier ab, aber nicht nach der Stückzahl, sondern nach dem Ge-
wicht. Dann werden die Eier ausgelesen und sortiert und gut verpackt. In einer
Kiste liegen nur gleich große Eier. Allwöchentlich werden die Eier eingesammelt
und gestempelt. Jeder Bauer hat seine Nummer. Sind also 20 Eier von der
Nummer 104 schlecht, dann zieht man den Preis dafür dem Bauer ab, der die
Nummer 104 hat. Die Einsammlung, Ordnung und Verpackung geht rasch von-
statten. Dann verlädt man die Eierkisten in die Schiffe, die sie nach England,
Norwegen usw. tragen. So kommen die Eier frisch und wohlschmeckend an.
Die Engländer ziehen die dänischen Eier vor, weil sie frisch und sauber sind.
Sie bezahlen dafür die höchsten Preise. Unzählige Eier gehen alljährlich von
Dänemark nach England; nach Deutschland nur wenig. England kauft am meisten
Butter und Eier von Dänemark. Deutschland bezieht vornehmlich Rinder und
Pferde und dann Butter aus Dänemark.
Neben der Landwirtschaft treibt Dänemark auch Fischerei. Sie ist
aber erschwert, da die Küsten so voll von Untiefen sind. Darum ist die dänische
Fischerei nicht so groß, als man vermutet. Doch wächst sie in der neueren Zeit.
Das dänische Wappen führt neben der Ähre den Fisch. Früher waren Ackerbau
und Fischerei die wichtigsten Erwerbsquellen; heute sind es Ackerbau und Vieh-
zucht.
5. Dänemarks Handel und Schiffahrt.
Dänemark hat nur 80 1cm Landgrenze, alle übrigen Grenzen sind See-
grenzen. So ist das meerumspülte Jnselreich auf den Handel und die Schiff-
fahrt angewiesen. Aber die Schiffahrt hat in den dänischen Gewässern mit
vielen und großen Gefahren zu kämpfen. Es herrschen oft Stürme und Nebel;
dazu sind die Küsten seicht und von Klippen und Sandbänken durchzogen. Un-
geheuer ist die Zahl der Schisse, welche in den dänischen Gewässern unterge-
gangen ist. Dennoch mußte man die Fahrt um das stürmische Skagen machen,
wollte man aus der Nordsee in die Ostsee oder aus der Ostsee in die Nordsee.
Die meisten Schiffe benutzten den Sund. Er ist an der dänischen Seite an: tiefsten
und sichersten. Hier erhoben die Dänen Zoll von jedem Schiffe. An der engsten
Stelle (bei Helsingör) ist der Sund kaum eine Stunde breit. Im vorigen Jahr-
hundert hat man die Sundzölle abgeschafft. Seitdem ist die Sünffahrt frei.
108
VII. Das Königreich Dänemark.
Kopenhagen auf Seeland ist der beste Sundhafen und darum auch am
meisten gewachsen. Es Zählt beinahe eine halbe Million Einwohner (wie Breslau
oder Köln); das ist der fünfte Teil aller Dänen. Von je fünf Dänen wohnt einer
in Kopenhagen. Wäre Berlin fo groß, dann müßte es gegen 12—13 Millionen
Einwohner haben. Gegen 40 000 Schiffe laufen hier jährlich ein und aus. Kopen-
hagen hat Schiffahrtsverbindungen mit allen Haupthäfen der Ost- und Nordsee.
Hier laufen darum auch die dänischen Eisenbahnen zusammen. Die dänische
Flotte ist im Verhältnis groß; sie zählt fast ebenso viele Dampfer wie die fran-
zösische; aber ihre Dampfer sind kleiner. Holland hat viel weniger Dampfer
als Dänemark (350 gegen 1700), aber dennoch hat die holländische Dampferflotte
mehr Tonnengehalt als die dänische. Dänemark hat eben viele kleine Küsten-
dampfer.
Dänemark hat einen ziemlich bedeutenden Außenhandel; denn es
führt viele eigene Erzeugnisse aus und führt dafür andere ein. Seine Boden-
schätze sind sehr gering. Es braucht Kohlen und Eisen, aber selbst das Getreide
und die Futter- und Düngemittel reichen nicht zu. Dafür verkauft es ans Aus-
land Butter, Fleisch, Tiere, Eier, Häute und Fische. Den größten Handel treibt
Dänemark mit England. Von dort bezieht es seine Kohlen. Dahin führt es
vor allem Eier und Butter aus. Die Butterausfuhr hat den größten Wert.
Dänemark ist somit ein Butter- und Eierland; denn hier steht die Viehzucht
an erster Stelle. Mit Deutschland hat Dänemark auch einen großen Waren-
austausch. An uns verkauft es besonders Pferde und Rinder, Butter, Fleisch
und Eier. Wir liefern ihm allerhand Waren aus dem Web- und Eisengewerbe,
sowie Getreide und Mehl.
6. Dänemark als Staat.
Dänemark ist ein wenig größer als Ostpreußen, hat aber etwas mehr Ein-
wohner als dieses, denn es zählt rund 2 3/< Mill. Einwohner. Seine Volkszahl
ist also kleiner als die Hollands oder Belgiens. Dennoch hat Dänemark früher
eine große Rolle gespielt. Lange Zeit beherrschte es die Elbherzogtümer Schles-
wig, Holstein und Lauenburg. Seine Kriegsflotte war der preußischen und
deutschen lange weit überlegen. Noch 1864 verließen sich die Dänen auf ihre
große Kriegsflotte. Heute ist aber die deutsche ihr bedeutend überlegen.
Die Dänen sind Germanen und reden eine Sprache, die mit dem Nieder-
deutschen verwandt ist. Die Sprache der Jüten ist dem Plattdeutschen erst recht
nahe verwandt. Die dänische Schriftsprache ist der norwegischen Sprache sehr
ähnlich. Dem Glauben nach sind die Dänen vorwiegend Protestanten. Däne-
mark hat eine gute Volksbildung. Die Bauern sind gut gebildet und besuchen
häufig landwirtschaftliche Schulen. Dazu werden sie von Wanderlehrern über
die beste Art der Viehzucht, der Molkerei und des Ackerbaus unterrichtet. Die
Volksdichte ist nicht groß; am dünnsten ist Jütland bevölkert; denn es steht Mecklen-
burg gleich. Viele Dänen lernen Englisch und Deutsch; denn mit England und
Deutschland stehen sie ja in regen Handelsbeziehungen.
7. Deutschland und Dänemark.
Es ist nicht vorteilhaft für uns, daß die Rheinmündungen mit den großen
Häfen in fremden Händen sind, es ist auch ein Nachteil für uns, daß die Zugänge
in die Ostsee einem fremden Staate gehören. Dänemark ist Deutscbland gegen-
über nur klein, gleichsam ein Zwerg; wir stellen im Kriegsfälle mehr Soldaten
VII. Das Königreich Dänemark.
109
auf, als Dänemark Einwohner hat. Aber trotzdem bindet uns der kleine nor-
dische Zwerg gleichsam die Hände. Der Sund ist lang (95 km), im Norden
reichlich ein Stunde breit, im Süden nur 13 m tief, so daß ihn die größten Kriegs-
schiffe gerade befahren können. Sein Fahrwasser liegt auf dänischer Seite.
Daher kann Dänemark leicht den Sund sperren. Der große Belt ist nicht so lang
und etwas tiefer (15—30 m) und daher ein guter Seeweg. Der kleine Belt
ist noch etwas kürzer und an der schmälsten Stelle nur reichlich 600 m breit;
er ist deshalb am leichtesten zu sperren. Wenn Deutschland mit Dänemark im
Bunde stände, dann könnte die deutsch-dänische Flotte und Armee leicht und
sicher die Zugangsstraßen zur Ostsee sperren. Aber Dänemark ist uns noch immer
feindlich gesinnt und hält es mehr mit England, obwohl die Briten 1807 die
dänische Flotte ohne Grund weggenommen haben. Hätte aber eine starke bri-
tische Flotte die Zugänge zur Ostsee erobert, hätte sie Kopenhagen in der Hand,
dann wären Kiel, Stettin usw. aufs äußerste gefährdet. Das wissen die deutsch-
feindlichen Dänen und halten es mit England.
Im Frieden nehmen die Dänen gern das deutsche Geld. Berlin bezieht
sehr viel dänische Milch und Butter, die in besonderen Kühlwagen befördert
werden. Gegen 100 Mill. Mark ziehen die dänischen Viehzüchter aus Deutsch-
land. Ist das nicht ein hübsches Sümmchen? Wir versorgen Dänemark nament-
lich mit Getreide aus den östlichen Provinzen. Alles in allem liefern wir Däne-
mark mehr, als es uns. Die Dampffähre zwischen Warnemünde und Gjedser
erleichtert den Verkehr. Man kann im Schlafwagen von Berlin bis Kopenhagen
fahren, ohne in seinem Schlafe gestört zu werden. Die Bahnwagen fahren
auf die Dampffähre. Vielleicht besinnen sich die Dänen mit der Zeit doch und
erkennen, wie gefährlich es wäre, wenn sie sich mit den: mächtigen Nachbarn
im Süden Überwürfen. Wie Belgien, Holland und die Schweiz lebt auch
Dänemark nur von der Friedensliebe seiner übermächtigen Nachbarn.
8. Die dänischen Besitzungen im atlantischen Weltmeer.
Die Dänen waren ehemals kühne Seefahrer, welche auch in fremden
Meeren Gebiete erwarben. Davon besitzen sie noch zwei Inselgruppen. Nörd-
lich von Schottland liegen die F a r ö e r (Schafinseln). Es sind kleine Inseln,
die zusammen etwas größer als die Insel Rügen sind. Alle Inseln sind felsig
und steil. So klein sie sind, so gibt es doch Berge, die an Höhe dem Hunsrück,
der Rhön usw. nahekommen. Beständen sie nicht aus hartem Gestein, so wären
sie von den tosenden Fluten längst weggespült worden. Baumwuchs gibt es
hier nicht; nur niedriges Gestrüpp gedeiht. Die Sommer sind so feucht und
kühl, daß kaum die Gerste reist. Die Winter aber sind so mild, daß die Schaf-
herden fast immer draußen weiden können. Man baut zumeist Kartoffeln und
Rüben. Die Gerstenähren muß man bei Torffeuer künstlich trocknen. Zur Vieh-
zucht eignen sich die Inseln, da das feuchte Wetter den Graswuchs begünstigt.
Daneben widmen sich die Bewohner der Fischerei, die hier große Ausbeute ge-
währt. An den klippigen Ufern halten sich Tausende und Abertausende von
Seevögeln auf, Eidergänse, Möwen u. a. Die Bewohner sammeln ihre Eier
und Federn. Das ist eine schwierige Arbeit. Oft muß der Sammler von 5 bis
6 Männern an einem 40 m langen Seil das steile Felsuser hinabgelassen werden.
In den Buchten tummeln sich zahllose Seehunde, die den Fischen nachstellen.
Nordwestlich von den Färöern liegt noch eine große Insel, Island.
Sie ist dreimal so groß als Dänemark und liegt mitten im nördlichen Teile
HO VIL Das Königreich Dänemark.
des Atlantischen Weltmeeres. Die nördlichen Küsten Islands grenzen schon
ans nördliche Eismeer. Die Küste ist von den unaufhörlich nagenden Wellen
stark zerklüftet; es gibt in ihr zahlreiche Fjorde oder Buchten und weit ins Meer
hinausragende Landzungen. Die Insel besteht fast nur aus Gebirgsland; die
höchsten Gipfel sind höher als die Schneekoppe im Riesengebirge: im Durch-
schnitt haben die Hochländer eine Höhe wie der Odenwald, der Taunus und
Hunsrück. Da nun Island so hoch im Norden liegt, kann man sich denken, daß
auf den gebirgigen Teilen viel Schnee und Eis liegt. Die Gletscher und Eis-
massen nehmen den achten Teil der Insel ein, einen Raum, der gerade viernial
so groß ist als der, den die Alpengletscher bedecken. Es gibt Gletscher, welche
eine Fläche bedecken wie das Großherzogtum Hessen.
Merkwürdig ist, daß es in Island Feuerberge und heiße Quellen nebst
Gasquellen gibt. Schon öfter haben die Feuerberge heftige Ausbrüche gehabt
und weite Strecken mit feurigflüssiger Masse bedeckt. Daneben fiel ein ge-
waltiger Aschenregen, der die Weiden überschüttete. Große Teile Islands liegen
völlig öde und bestehen aus zertrümmerten Lavablöcken. Dann sieht man an
einer Stelle Dampfwolken emporsteigen. Die Luft wird feuchtwarm. Selbst
der Fußboden fühlt sich warm an; üppiger Pflanzenwuchs hat sich hier ein-
gestellt. Wir sind an eine heiße Quelle gekommen. Wir wandern weiter und
kommen an eine heiße Springquelle, an den großen Geiser. Plötzlich hören
wir ein unterirdisches Rollen und Donnern. Das Wasser schlägt hohe Wellen.
Wir treten schaudernd zurück. Das Wasser im Becken schwillt an. Große Dampf-
blasen steigen auf und zerplatzen auf der Oberfläche des Wassers. Das siedend
heiße Wasser springt einige Fuß oder Meter hoch in die Luft. Dann tritt Stille
ein. Nach anderthalb Stunden erfolgt abermals ein solcher Springqnell. Wir
sind vom Glück begünstigt. Diesmal ist der Donner unheimlich stark. Es wallt
und siedet und brauset und zischt gewaltig in dem unterirdischen Springbrunnen.
Immer höher schwillt das kochende Wasser im Becken. Plötzlich schießt eine 3 m
starke Wassersäule unter gewaltigem Getöse hoch empor, 20—30 m. Noch staunen
wir, da folgt schon ein neuer Wasserstrahl, dann ein dritter, der noch viel höher
emporschießt. Nach allen Seiten fällt das Wasser brodelnd ab; ungeheure Dampf-
wolken breiten sich aus. Bald beruhigt sich alles; wir schauen in das Becken,
es ist leer. Erst nach und nach füllt es sich wieder. Ungefähr alle Tage erfolgt
ein Hauptausbruch. So kalt es über der Erde ist, so heiß ist es unter ihr. Für
die Isländer sind die heißen Quellen eine Wohltat.
Island ist wärmer, als seine nördliche Lage vermuten läßt. Im Atlan-
tischen Ozean ist nämlich eine Meeresströmung. Sie bringt aus der beißen Zone
warmes Wasser nach Norden. Man nennt sie den Golfstrom. Er fließt bei
Island vorüber. Natürlich hat er sich schon sehr abgekühlt, wenn er an Island
vorbeirauscht. Aber dennoch spendet er dem Eislande höchst willkommene Wärme.
An der tief gelegenen Küste sind die Winter sehr mild. Die Sommer aber sind
so kühl, daß das Getreide nicht reifen kann. Baumwuchs gibt es nur vereinzelt
an einigen geschützten Stellen. Sonst findet sich nur niedriges Gebüsch und aller-
hand Kraut von Heide, Heidelbeeren usw. Auf vielen Weiden wachsen Moose
und Flechten. Berühmt ist das zähe isländische Moos. Daraus stellt man ein
Mus her; man mahlt es auch und bäckt Kuchen daraus. In den besseren Landes-
strichen baut man Kartoffeln und Rüben und einiges Gemüse. Die Bewohner
sind vornehmlich auf die Viehzucht und Fischerei angewiesen. Man züchtet
Pferde und Rinder und vor allem Schafe. Die Pferde sind klein, aber aus-
dauernd und flink. Ohne sie könnten die Isländer gar nicht auskommen: da
Vili. Großbritannien und Irland.
111
es in dem steinigen und gebirgigen Lande fast gar keine Wege gibt, muß man
reiten und alle Lasten auf dem Rücken der Pferde fortschaffen. Die Schafzucht
liefert den Bewohnern Wolle, Felle und Fleisch. Junge Lämmer zieht man
in der Wohnstube auf; denn gar oft suchen fürchterliche Stürme Island heim.
Sie werfen Menschen und Tiere nieder und peitschen das Meer zu Staubwolken
auf, die als feiner Staubregen auf das Land fallen. Da die Winter verhältnis-
niäßig mild sind, können die Isländer die erwachsenen Schafe und Pferde im
Freien lassen.
Die Fischerei bringt reiche Erträge. Die isländischen Gewässer zeichnen
sich durch ihren großen Fischreichtum aus. Die Fische lieben das laue Wasser
des Golfstroms. Ein großer Teil der Isländer betreibt daher regelmäßig Fisch-
fang. Die Flüsse liefem Lachse und Forellen. In der isländischen See fischen
auch viele fremde Fischerflotten, wie z. B. die englische, die holländische, die
französische, und selbst die deutsche wagt sich seit neuerer Zeit mehr und mehr
bis dahin vor. Freilich ist die Fischerei nicht gefahrlos. Schon manches Fischer-
boot oder Fahrzeug ward vom Sturme überrascht und in den Grund gebohrt.
Daneben fangen die Isländer viele Seevögel und sammeln deren Eier und
Daunen. Freilich suchen sich die Seevögel zu ihren Brutplätzen die unzugäng-
lichsten Klippenufer aus. Die isländische Küste bietet ihnen da recht willkommene
Plätze. Fällt doch an vielen Stellen das Land 100 bis 400 na steil ins Meer
ab. Trotzdem lassen sich die kühnen Isländer nicht abschrecken. Sie binden sich
fest an ein Seil, das 100 bis 400 in lang ist. Dann lassen sie sich hinunter, neh-
men die Nester aus und lassen sich wieder emporziehen. Aus Island führt man
Fische, Wolle, Eiderdaunen, Seehundsfelle und Tran aus; eingeführt werden
Holz, Getreide und andere Lebensmittel. Auf Island und den Färöer haben
sich die alten Sagen von Siegfried und den Nibelungen, sowie von Wodan
und den übrigen Göttern noch am reinsten erhaltein In den langen Winter-
nächten erzählen sie die Eltern ihren lauschenden Kindern.
Vili. Großbritannien und Irland.
1. Seine Lage und seine Grenzen.
Nördlich von Frankreich liegen zwei große Inseln nebst mehreren kleinen.
Man nennt sie britische Inseln. Die größte Insel heißt Großbritannien,
die große Irland. Großbritannien zerfällt in zwei Länder, in England
und Schottland. Nordwestlich von Schottland liegen die Hebriden;
nordöstlich dagegen liegen noch zwei Inselgruppen, die O r k n e y - und Shet-
landinseln. Außerdem gibt es noch viele kleine und kleinere Inseln, zu-
sammen gegen 900. Alle zusammen bilden das „Vereinigte Königreich Groß-
britannien und Irland". Doch sagt man meistens kurz Großbritannien, oder
Britannien oder England.
Das ganze Land liegt mitten im Meere. Im Westen bespült der Atlan-
tische Ozean die Küsten, im Osten die Nordsee; im Süden trennt das Ärmel-
meer oder der Kanal àigland von Frankreich; im Norden begrenzen der At-
lantische Ozean und die Nordsee die britischen Inseln. Am schmälsten ist die
Straße von Calais, nämlich nur reichlich 30 km (6 bis 7 Stunden). Britannien
ist daher ein vollständiger Inselstaat und umfaßt alle Inseln. Zu Britannien
gehören noch einige Inseln nahe an der Küste der Normandie; es sind die nor-
mannischen Inseln zwischen der Normandie und Bretagne.
112 Vili. Großbritannien und Irland.
2. Die Gestalt und die Grenzen der Hauptinseln.
Großbritannien grenzt im Osten an die Nordsee, im Süden an den Kanal,
im Westen an die irische See, sowie an den Atlantischen Ozean, im Norden
an das Atlantische Weltmeer. Die irische See steht mit dem Atlantischen Welt-
meer durch zwei Kanäle in Verbindung, im Süden durch den Georgskanal,
im Norden mit dem Nordkanal. Diese Kanäle sind natürliche Meeresstraßen.
Großbritannien hat eine dreieckige Gestalt. Die breite Seite liegt im Süden,
die Spitze im Norden. Das Meer hat tiefe Buchten (Fjorde oder Förden) ins
Land gewaschen. So ist die Küste reich gegliedert; es gibt viele Busen und Halb-
inseln. Auf der Ostseite sind am wichtigsten der Themsebusen, der Humber,
der Forthbusen und der Morraybusen. Alls der Westseite sind wichtig der Bristol-
kanal, die Liverpools Bucht, die Cleydebusen uud der Lornbusen. MerkwüMg
ist, daß immer je zwei Busen sich gegenüber liegen; so gibt es tiefe Meeres-
einschnitte in Großbritannien; dies zerfällt dadurch in mehrere Abschnitte. Nach
Norden zu nähern sich die Meeresbusen immer mehr. Kein Ort Großbritanniens
liegt über 120 km vorn Meere entfernt.
Im Atlantischen Ozean entstehen viel größere Wellen als in der Nordsee.
Die gewaltigen Stürme, die aus Nordamerika kommen, wühlen das Meer tief
auf und türmen haushohe Wellen auf. Im Bristolkanal erreicht die Flut eine
Höhe von 18 m. Da kann man sich denken, daß im Laufe der Zeit die sturm-
gepeitschten Wogen viel Land weggespült haben. Alles niedrige und lockere
Land an der Westseite ist von den gierigen Wellen verschlungen worden. Ehe-
mals hing England noch mit Frankreich zusammen. Dann rissen die Fluten im
Kanal ein Stück nach dem andern von der Kreideküste weg. So entstand die
Straße von Calais oder Dover. Noch früher hing Island mit Großbritannien
zusammen; auch die übrigen Inseln waren ehemals Teile des festen Landes.
Die Inseln sind also die Reste einer großen Landmasse. Zahlreiche Sand-
bänke und Untiefen zeigen weiter an, bis wie weit einst das zusammenhän-
gende Land reichte.
3. Die Bodengestalt Englands.
England, der südliche Teil Großbritanniens, zerfällt in ein Gebirgs- und
ein Tiefland. Das Bergland breitet sich an der Westseite aus, das Tiefland
auf der Ostseite. Man spricht daher von dem westenglischen Berglande und dem
ostenglischen Becken. Das englische Bergland nimmt nur einen kleinen Teil
ein. Im Südwesten erhebt sich auf der Halbinsel das Bergland von
K o r n w a l l. Es besteht vorwiegend aus Schiefergestein und gleicht an Höhe
'tzMt'Odenwald. Die Hochflächen sind waldlos und mit Mooren und Heiden
bedeckt und dienen daher fast ausschließlich der Schafzucht. In den geschützten
und fruchtbaren Tälern herrscht der Gartenbau vor.
Höher ist das B er gl an V von Wales, das sich zwischen dem Bristol-
kanal und der Bucht von Liverpool erhebt; denn es erhebt sich in seinen höchsten
Gipfeln bis zur Höhe des Jnselberges. Seine Hochflächen sind gleichfalls waldlos
und öde und enthalten zumeist Heiden und Ginsterfelder, sowie Sümpfe und
Moore. Die Küstenstriche hingegen zeichnen sich durch Fruchtbarkeit aus.
Durch einen breiten Tieflandsstreifen ist das Bergland von Wales von dem
nordenglischen Berg- und Hügelland getrennt. Es besteht
aus zwei Gebirgslandschaften, die eine liegt an der irischen See, die andere
in der Mitte des Landes.
VIII. Großbritannien und Irland.
113
Das Gebirgsland an der irischen See ist anmutig und wird darum als
die englische Schweiz gepriesen. Das Bergland in der Mitte ist hingegen kahl
und hat auf seinen Höhen Heiden und Moore. Die Engländer nannten daher
alle die gebirgigen Gebiete im Westen die „Grasgrafschaften", denn hier über-
wiegen die Weiden, die Grasflächen.
Die Ostseite hingegen besteht zumeist aus Hügel- und Flachland. Hier liegen
die Korn-^oder Getreidegrafschaften. An der Themse breitet sich eine frucht-
bare Defebene aus, es ist das L o n d o n e r Becken, das dem Pariser Becken
an der Seine sehr ähnlich ist. Fruchtbar ist auch das Tiefland am Severn, der
in den Bristolkanal mündet. Ein fruchtbares Tiefland breitet sich auch am Busen
des Humber aus und erstreckt sich längs der in ihn mündenden Flüsse weit ins
Land nach Norden und Süden. Zwischen der Themsebucht und der Washbucht
(Sumpfbucht) finden sich sumpfige Niederungen und Marschen. Hier ist das
Land wie in Friesland von Kanälen durchzogen, um es zu entwässern. Das
ostenglische Tiefland ist der fruchtbarste Teil der britischen Inseln; es ist das
Kornland schlechthin. Hier herrscht die Landwirtschaft vor. Man baut vornehm-
lich Weizen und Gerste. Der Engländer genießt am liebsten Weizenbrot. Die
Gerste braucht er zur Bierbrauerei. Daneben baut man hier viel Hopsen und
Obst. Großartig ist die Viehzucht; denn die Wiesen zeigen sämtlich üppigen
Graswuchs. In den grasreichen Niederungen weiden zahlreiche Rinderherden.
In den Heidelandschaften treibt man zumeist Schafzucht. Im Tieflande züchtet
man ein straffes Arbeitspferd und vor allem auch mutige, feurige Rennpferde.
4. Die Bodengestalt Schottlands.
Der nördliche Teil Großbritanniens, Schottland, besteht fast nur aus Ge-
birgsland. Es zerfällt in ein südliches und nördliches Gebirgsland. Getrennt
werden beide durch das schottische Tiefland, das sich zwischen dem Forth- und
Clydebusen ausbreitet. Das südliche schottische Bergland ist nicht ganz so hoch
wie das nordenglische Bergland. Das nordschottische Hochland erreicht aber
Höhen, die den Fichtelberg im Erzgebirge übertreffen. Fast das ganze schottische
Gebirge ist ohne Wald. Ode Heiden wechseln mit weiten Mooren. Zahlreiche
Seen beleben das Land. Die Küsten Schottlands sind steil. Vor dem nord-
westlichen Schottland lagern die Hebriden gleich wie ein Wellenbrecher. Von
der Gewalt der Wogen zeugt die F i n g a l s h ö h l e auf Staffa, einer kleinen
Hebrideninsel. Das Wasser hat hier gleichsam eine Tunnelhöhle hineingebohrt.
Den Eingang bilden schöne Basaltsäulen. Das Eingangstor ist gewaltig, denn
es ist 16 in breit und 36 in hoch. Die Höhle ist 120 ni lang. Bei ruhiger See
kann man mit einem Kahn in die Höhle fahren.
Schottland eignet sich wenig für den Ackerbau; nur in den Tälern wird
Ackerbau getrieben. Die Weiden des Berglandes werden von Schafherden
abgegrast. Es gibt Gebiete im Norden, wo kaum der zehnte Teil des Landes
bebaut werden kann. Im ganzen Schottland ist noch nicht einmal der dritte
Teil des Landes anbaufähig.
5. Die Bodengestalt Irlands.
Irland bildet ein verschobenes Viereck. Seine Westküste ist gleichfalls
sehr zerklüftet, denn Irland hat wie Schottland die Wucht der häufigen und
heftigen Stürme auszuhalten. Am Rande ist Irland gebirgig, im Innern herrscht
Tiefland vor. Wie in England überwiegt auch in Irland das Tiefland vor.
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2. g
114
VIII. Großbritannien und Irland.
Wie das schottische und englische Bergland haben auch die irischen Bergländer
fast gar keinen Wald. Reich sind sie an Heiden und Mooren. Im inneren Tief-
lmrde gibt es viele Seen. Die Küste ist steil, besonders die Westküste. Im Nord-
osten hat das Meer durch seine nagende Tätigkeit einen Riesendamm gebildet.
In einem Walle stehen 40 00O Basaltsäulen. Sie sind stufenförmig angeorduet
und setzen sich auch unterm Meere fort. So kann man wie auf einer breiten
Freitreppe zum Meere hinabsteigen. Irland ist zum Ackerbau wenig geeignet,
denn es ist zu feucht. Am besten gedeihen die Kartoffeln und der Hafer. Doch
leiden auch sie nicht selten unter der Nässe. Da es genug saftige Weiden gibt,
widmet man sich mehr der Viehzucht. Da man viel Kartoffelbau treibt, hält
man in Irland besonders viel Schweine.
6. Das Klima auf den britischen Inseln.
Die britischen Inseln sind ganz vom Meere umgeben; kein Ort liegt weiter
als 120 lau von der See entfernt. Das ist die Entfernung von Hamburg bis
Hannover. Deshalb hat Großbritannien ein ausgeprägtes Seeklima. Die Som-
mer sind kühl, aber die Winter sind mild. Der warme Golfstrom fließt westlich
von Irland vorüber; er sendet viel Wärme nach den britischen Inseln, nament-
lich im Winter. Die englischen Winter sind bedeutend milder, als es die nörd-
liche Lage des Landes vermuten läßt. London hat einen ebenso milden Januar
wie Toulouse oder Triest. Der Londoner Winter ist weit milder als der in Halle,
und doch liegen beide Städte unter dem gleichen Breitengrade. Am mildesten
ist das südwestliche England (Kornwall). Hier überwintern im Freien manche
sonst recht empfindliche Blumen, wie Fuchsien, Myrten und Lorbeeren. Aber
der Wein reift nicht; denn die Sommerwärme ist zu niedrig; gerade im Sommer
herrscht dort viel trübes, kühles Wetter. Die englischen Sommer sind kühler
als die deutschen.
England, Schottland und Irland haben reichliche Niederschläge. Da die
Westküste gebirgig ist, so fallen dort sehr starke Regenmengen, 4 bis 6 mal soviel
als in Mitteldeutschland. Die Regenmengen nehmen von Westen nach Osten
zu ab. Die Luft ist immer feucht, der Himmel meist wolkig. London hat jährlich
nur etwa 12 sonnenhelle Tage. Die feuchte Luft ist an sich nicht schädlich; es ist
ja salzhaltige Seeluft, die ins Land geweht wird. Nachteilig sind aber der Ge-
sundheit die häufigen Nebel. Sie wirken verstinrmend aufs Gemüt. Nament-
lich London wird durch dichte Nebel heimgesucht. Da ist es selbst am Tage so
dunkel, daß man die Straßenlaternen anzünden muß. Die ungeheuren Rauch-
massen der Weltstadt können bei dem dicken Nebel nicht abziehen; sie helfen die
Stadt noch mehr verfinstern. Oft kann man selbst bei Tage kaum etwas sehen
trotz der guten Straßenbeleuchtung.
Die britischen Inseln werden öfter von heftigen Stürmen heimgesucht.
Sie kommen aus dem Westen, aus Nordamerika, und wüten namentlich im Ärmel-
meer, im Georgskanal, in der irischen See und im Nordkanal. Unter diesen
heftigen Stürmen leidet auch der Baumwuchs, der nur an geschützten Stellen
gut gedeiht.
'Das Klima in Irland, Schottland und Westengland ist dem Ackerbau nicht
günstig, aber es befördert den Graswuchs und Wiesenbau. In Westirland gibt
es bis 250 Regentage im Jahre. Das flache östliche England hat aber viel weniger
Regenfälle, denn es liegt ja im Regenschatten. Hier finden sich daher auch die
Korngrafschaften, zumal der Boden fruchtbar ist.
VIII. Großbritannien und Irland.
115
7. Die Landwirtschaft auf den britischen Inseln.
Früher war England nebst Schottland und Irland ein landwirtschaftlicher
Staat wie unser Deutschland. Große Gebiete waren wenig besiedelt, es waren
Muerden, die Moore, die Gebirgswüsteneien. Noch heute umfassen die Od-
ländereien den dritten Teil des Landes. Daher waren die britischen Inseln
ehemals recht spärlich bewohnt; nur England und einige Bezirke Schottlands
und Irlands hatten eine dichtere Bevölkerung. Damals konnten die britischen
Inseln noch keine große Rolle spielen. Ihre große Schafzucht lieferte Wolle
und Felle. Heute ist die britische Landwirtschaft erst recht nicht bedeutend. Nur
etwa der achte Teil des Landes wird zu Acker- und Gartenland benutzt. Das
ist viermal weniger als bei uns. Das liegt zum Teil am Boden, zum anderen
am feuchten Klima. Zwei Drittel des Landes bestehen aus Wiesen und Weiden;
denn Boden und Klima eignen sich mehr für Wiesenbau als Ackerbau. Wald-
land gibt es äußerst wenig, noch weniger als in Dänemark oder Schleswig-
Holstein. Das liegt an den heftigen Stürmen.
Der Ackerbau blüht namentlich in Ostengland; aber auch hier umfaßt
das Ackerland nur ein Viertel des Landes, bei uns fast die Hälfte. Dazu baut
man verhältnismäßig wenig Getreide, dafür um so mehr Futterkräuter. Ehe-
mals baute England weit mehr Getreide, namentlich Weizen, denn der Eng-
länder genießt vorzugsweise Weizenbrot. Seit 1850 hat der Weizenbau stetig
abgenommen. Seitdem ist aber die Bolkszahl erst recht gewachsen. Um so mehr
muß England Getreide einführen. Warum hat sich der Weizenbau vermindert?
Ehemals hatte England hohe Zölle auf ausländisches Getreide gelegt. Es ward
daher wenig ausländisches Getreide in England eingeführt, uni so eifriger bauten
die englischen Landwirte Getreide. Dann traten in der See- und Weberstadt
Manchester Leute auf, die sagten: Man muß die Kornzölle abschaffen,
sie verteuern nur das Brot. Lange stritten sich nun die Engländer darum, was
besser sei, Kornzölle oder keine. Endlich schaffte man die Kornzölle ab. Das ge-
schah vor 1850. Seitdem brachten die Schiffe nun sehr viel ausländischen Weizen
nach England. Die Weizenpreise sanken. Je mehr die Weizenpreise sanken,
desto weniger Weizen bauten die englischen Landwirte. So ist der Weizenbau
ständig zurückgegangen. Heute muß man jährlich für rund 1500 Mill. Mark
Getreide vom Auslande kaufen. Beinahe neun Monate lebt das britische Volk
von fremdem Getreide; nur für drei Monate reicht das einheimische. Ist das
gut? Das ist die Folge des Freihandels.
__ In England gibt es eigentlich gar keinen richtigen Bauernstand. Das
meiste Land besitzen die Großgrundbesitzer, die reichen Lords. Die Lords ver-
pachten die Güter an Pächter. Freilich ist der Pachtzins der Güter seit 1850
bis auf die Hälfte und sogar bis auf ein Drittel des früheren gesunken. Daraus
sieht man, wie wenig heute die reine Landwirtschaft in England lohnt. Die
Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter hat stetig abgenommen. Die Lords ver-
dienen ihr Geld nicht durch die Landwirtschaft. Sie verwandeln viele Acker-
ländereien in Wiesen, Weiden oder Parke. Dadurch werden aber viele land-
wirtschaftliche Arbeiter und Pächter überflüssig. Aus Irland wandern alljährlich
viele nach Amerika aus. Irlands Bevölkerung hat deshalb seit langer Zeit ab-
genommen. Die Auswanderung ist demnach sehr groß.
Die britische Viehzucht steht hoch. Bestehen doch zwei Drittel des
Landes aus Wiesen und Weiden. Die häufigen Niederschläge befördern den
Graswuchs. Dazu gestatten die milden Winter den Weidegang fast das ganze
8*
116
Vili. Großbritannien und Irland.
Jahr hindurch. Gezüchtet werden zunächst wertvolle Rassepferde, sog. Voll-
blutpferde. Hierin behauptet England seinen Weltruf. Die Weiden eignen
sich sehr für die Pferdezucht; die Fohlen können stets im Freien sich tummeln
und so am besten sich entwickeln, ähnlich wie in Ostpreußen, Dänemark usw.
Es werden große Rennen abgehalten. Für gute Rennpferde und Hengste be-
zahlt man viele Tausende. Durch einen einzigen tadellosen Hengst kann man-
cher 100 000 Mark und mehr verdienen. Gerade die Lords widmen sich der
Zucht von Rassepferden; es gehört dazu ein großes Barvermögen; man muß
zuerst teure Hengste und Stuten kaufen und große Weiden haben.
Sehr hoch steht auch die Zucht von Rindern und Schafen. Die Engländer
essen sehr viel Fleisch, schon früh genießen sie Eier und Beefsteak. Darum ver-
lohnt sich die Viehzucht mehr als der Ackerbau. England gilt als ein Muster-
land der Viehzucht; es hat Rinder und Schafe der besten Rassen. Die deutschen
Viehzüchter kaufen deshalb oft Zuchttiere aus England und bezahlen sie teuer.
Ein großer Vorteil ist, daß das Vieh fast stets im Freien lebt; daher ist es sehr
gesund und kräftig. Der Schafbestand ist im Verhältnis am größten. Obwohl
Britannien kleiner ist als Deutschland, hat es doch fünfmal mehr Schafe als
wir, nämlich beinahe 30Mill.; auf ^Einwohner kommen 2 Schafe; bei uns kommt
ungefähr auf 12 Einwohner erst ein Schaf. Die Schweinezucht ist namentlich
in Irland stark verbreitet; Großbritmmien hat im ganzen sehr wenig Schweine;
man ißt dort mehr Rind- und Schöpsenfleisch.
So hoch die britische Viehzucht auch steht, den Bedarf an Fleisch kann sie
nicht decken. Der Engländer genießt viel Fleisch. Das feuchte Wetter verlangt
eine gute Ernährung. So wird viel Schlachtvieh und Fleisch eingeführt, z. B.
aus Holland. Eier und Butter liefert ihm Dänemark. Der Irländer freilich
lebt meist recht kärglich von Kartoffeln und Heringen. Im Durchschnitt ver-
braucht ein Irländer, selbst die kleinen Kinder eingerechnet, gegen 14 Zentner
Kartoffeln im Jahre. Da genießt man freilich des Tages dreimal und wohl auch
öfter Kartoffeln. Mißraten sie, dann gibt es Hungersnot. England ist eben
viel reicher als Schottland und vor allem als Irland. Wie kommt das? Das
werden wir nun bald erfahren.
8. Die Fischerei.
Die Flüsse Britanniens sind sehr wasserreich, da es ja so häufig regnet.
Ihr Fischreichtum ist daher bedeutend. Noch wichtiger ist allerdings die See-
fischerei. Die Lage der britischen Inseln ist der Seefischerei sehr günstig. Die
Küsten sind belebt von zahlreichen Fischen, Austern, Hummern und andern See-
tieren. Über 100 000 Menschen widmen sich der Fischerei. Längs der Küste
findet man überall Fischerdörfer. Man hat aber auch besondere Fischereihäfen
angelegt wie in Aberdeen in Schottland oder in Grimsby bei Hüll.
Ehemals fischte der Fischer mit seinem eigenen Boote. Heute gibt es Aktien-
gesellschaften, welche Fischdampfer ausrüsten und aussenden. England besitzt
gegen 2000 Fischdampfer und außerdem 24 000 Fischsegler, also eine außer-
ordentlich große Fischereiflotte. Sie fängt nicht bloß an der britischen Küste
Fische und andere Seetiere; sie sucht die Fischplätze in der Nordsee und im At-
lantischen Ozean auf und geht bis Island, ja bis ins nördliche Eismeer, um
Walfische und andere Tiere zu fangen. Besonders werden sehr viel Heringe
gefangen. Der nahe Golfstrom mit seinem warmen Wasser begünstigt den
Fischreichtum; dazu kommen die vielen Sandbänke in der Nähe der Küste; die
m eisten Fische halten sich im seichten Wasser auf. Um zu laichen, schwimmen
VIII. Großbritannien und Irland.
117
die Fische an die Küsten, in die Buchten hinein. Da wimmelt es dann von lauter
Fischen. Die Schotten sagen: jetzt gibt es in der Bucht nur einen Teil Wasser,
aber dafür zwei Teile Fische. Da braucht man nur die Netze auszuwerfen, um
reiche Beute zu erlangen. In der Themsebucht gibt es zahlreiche Austernbänke;
hier finden sich Millionen von Muscheln, die von den Austernfischern aufgefischt
werden. Rasch versendet man sie nun nach London, wo ihr Inhalt als Lecker-
bissen verzehrt wird.
Jährlich hat Britannien vom Meere eine Einnahme von 200 Mill. Mark,
das ist werktäglich 2/3 Million. Die Fischerei liefert dem Volke eine billige und
gesunde Nahrung. In der Fangzeit rasen ganze Fischzüge nach London, um
die Fische möglichst frisch dorthin zu bringen. Für 100 Mill. Mark kann man
Fische ausführen. So hilft die Fischerei den Engländern den Tisch decken. Ehe-
mals hatten die deutschen Hansen sie in Händen; dann wurden sie von den Briten
vertrieben. Erst neuerdings beteiligen sich die Deutschen wieder mehr an der
Nordseefischerei. Wir sehen an England, wie gewinnbringend sie ist und werden
kann.
8. Der blühende englische Bergbau.
Schon die Phönizier holten Zinn aus der Zinninsel. Lange ist dann Bri-
tanniens Bergbau nicht berühmt gewesen. Zu der Zeit spielte es in der Welt
auch keine große Rolle; es galt als ein armes Land, und seine Könige mußten
oft Geld bei den Hansen und niederländisch-belgischen Kaufleuten leihen. Dann
aber entdeckte man wieder die großen Bodenschätze. Wichtig ist vor allem der
Kohlenreichtum. Kohlen findet man vornehmlich in England, in Süd-
wales, bei Kardiff, sowie im ganzen nördlichen England; außerdem noch in
der schottischen Senke. Die Kohle von Südwales ist vorzüglich und heißt An-
thrazit. Da sie gänzlich rein ist und nur wenig Rauch entwickelt, schätzt man sie
als Heizkohle für Dampfschiffe. Man schifft sie in der Regel in Kardiff ein, um
sie überall hin zu versenden. Kardiff ist der größte Kohlenhafen der Erde. Das
nordenglische Bergland enthält die größten Kohlenlager. Sie ziehen sich bis
an die östliche Küste hin. Hier ist N e w k a st l e der berühmteste Kohlenhafen.
Längs des Flusses sind Vorrichtungen zum bequemen Verladen der Kohlen
angebracht. England gewinnt in ganz Europa die meisten Kohlen, noch
mehr als Deutschland (270 Mill. t gegen 260 Mill.). Soviel Kohlen kann
England nicht verbrauchen. Ein stattlicher Teil wird davon ausgeführt, nach
Norddeutschland, Dänemark, Holland usw. Dadurch zieht man große Summen
ins Land, wenigstens eine halbe Milliarde jährlich. Der allergrößte Teil der
Kohlen bleibt allerdings im Lande.
Neben den Kohlen birgt die englische Erde in ihrem dunkeln Schoße noch
Eisen. Die Eisenerze lagern meistens in der Nähe der Kohlenflöze. Das ist
ein großer Vorteil; denn zum Schmelzen und Verhütten der Eisenerze braucht
man viel Kohlen. So spart man an Beförderungskosten. Lange erzeugte Eng-
land das meiste Roheisen. Seit etwa zehn Jahren stellt aber Deutschland mehr
Roheisen her als England (18 Mill. t gegen 10 Mill.). Um mehr Roheisen zu
erzeugen, führt England ausländische Eisenerze ein, vornehmlich aus Spanien
und Italien.
Das Zinn ward früher sehr stark ausgebeutet. Man findet es besonders
auf der Halbinsel Kornwall. Doch ist der Zinnbergbau im Rückgänge begriffen,
Größer ist noch die Ausbeute an Kupfer; es gewinnt mehr Kupfer als wir,
im Durchschnitt fast noch einmal soviel (38 000t gegen 70 0001). Aber das meiste
118
VIII. Großbritannien und Irland.
Kupfer stammt von eingeführten fremden Kupfererzen. An Blei gewinnt
es über fünfmal weniger als wir (170 000 1 gegen 30 000 1). Auch seine Z ink -
ausbeute ist rund viermal kleiner (67 000 t gegen 240 000 t).
Groß ist dagegen sein Reichtum an Salz; man gewinnt es teils aus
Bergwerken, teils aus Solen. Seine Salzausbeute ist ziemlich doppelt so groß
als unsre. An Steinen und Erden ist England gleichfalls reich, an Kalk, Kreide,
Granit, Graphit, Schiefer, Ton-, Töpfer- und Porzellanerde. So hat England
reiche Bodenschätze, am bedeutendsten sind aber die Lager an Kohlen und Eisen-
erzen; weniger bedeutend sind die Kupfer-, Zinn-, Zink- und Bleierze; gar nicht
vorhanden find Silber und Gold.
10. Englands hochentwickelte Industrie.
Im Mittelalter war Englands Gewerbe wenig entwickelt; nicht einmal
seine Wolle verwob es selber, es schaffte sie nach Flandern und bezog von dort
feine Gewebe oder von den Hansen. Nach und nach ward das anders. Als die
Spanier die protestantischen Belgier und Holländer bedrückten und vertrieben,
da zogen viele kunstfertige Weber nach England. Aus Deutschland kamen Eisen-
gießer, Schmiede und andere Handwerker. So nahm Englands Gewerbe einen
guten Aufschwung. Jetzt belegte man die fremden fertigen Waren mit hohen
Zöllen. Nun gewann das englische Gewerbe von Jahrzehnt zu Jahrzehnt grö-
ßeren Umfang. Jetzt kamen auch die reichen Bodenschätze zur Geltung. Eifrig
förderte man Kohlen und Erze zutage. Zunächst entfaltete sich das Woll- und
Tuchgewerbe; denn die ausgedehnte Schafzucht lieferte die Wolle dazu.
Dann brachten die Schiffe Baumwolle aus Amerika und Indien. Sie
ward in England gesponnen und verwebt. Die Stadt Manchester östlich
von Liverpool ward der Hauptsitz der englischen Baumwollindustrie. Hier gab
es bereits eine rührige Woll- und Leinenweberei. Eine Spinnerei und Weberei
entstand nach der andern. Manchester ist eine echte Fabrikstadt. Da gibt es zahl-
reiche Maschinenbauereien. Unaufhörlich entsteigen den zahllosen Schorn-
steinen riesige Rauchmasfen und schwärzen alle Gebäude. Manchester liegt
günstig. Ein Kanal bringt die Kohlen billig herzu; ein anderer gestattet die
Schiffahrt ins Meer. So ist Manchester fort und fort gewachsen und gleicht an
Größe Hamburg. Rund um Manchester liegen zahlreiche (280) große Städte
und Dörfer. Groß-Manchester bildet daher eine einzige Riesenfabrikstadt. Neben
Manchester ist Glasgow in Schottland ein Hauptsitz der Baumwoll- und
Wollindustrie. Es ist ebenso groß wie Manchester. Liverpool an der iri-
schen See ist der Haupthafen für die Ein- und Ausfuhr von Baumwolle und
baumwollenen Erzeugnissen. England hat sich im Laufe der Zeit zum wich-
tigsten Webstaat entwickelt. Es beschäftigt siinfmal mehr Spindeln als wir
(551 /2 Mill. gegen 11 Mill.). Natürlich kann es die ungeheure Menge der gespon-
nenen Garne und gefertigten Gewebe nicht selber verbrauchen; es verkauft
bedeutende Mengen davon ins Ausland. Es deckt zunächst seinen Bedarf an
baumwollenen Zeugen; den Überschuß führt es aus; dafür bekommt es über
600 Mill. Mark. Da sehen wir, welchen Gewinn es aus seinem Baumwoll-
gewerbe zieht.
Heute führt England auch viel fremde Wolle ein, um sie zu verarbeiten.
Die englischen Gewebe sind berühmt; wir haben sogar ihre Namen entlehnt,
wie z. B. Buckskin, Cheviot u. a. Aber die Ausfuhr an Wollzeugen liefert keine
so großen Überschüsse wie die von baumwollenen. Daneben ist die Leinen-
VIII. Großbritannien und Irland.
119
Industrie bedeutend; sie ist in Irland, Schottland und England verbreitet, in
Belfast (Irland), Aberdeen und Dundee (Schottland), Leeds
und Manchester (England). Hierzu kommt die I u t e w e b e r e i, welche
dauerhafte Packleinwand liefert; die Hanfweberei versorgt die Flotte
mit Segeltuch und die Industrie mit Sackstoffen. Außerdem gibt es Seiden-
webereien, Strumpfwirkereien, Spitzenmachereien und andere Zweige der
Gewebindustrie.
Hand in Hand mit dem Aufschwünge der Webgewerbe ging das unab-
lässige Wachstum des Eisen- und Metall gewerbes. Es blüht vor allem
im mittleren England, in Wales und Schottland, da wo sich die Kohlen- und
Erzlager finden. Birmingham ist der große und berühmte Eisenkramladen
der Welt (etwa so groß wie Dresden). Wie Manchester ist es von einem Kranze
gewerbreicher Orte umgeben. In Birmingham stellt man allerhand Eisen
her, Roh- und Gußeisen, Walz- und Schmiedeeisen. Mächtige Fabriken fer-
tigen Maschinen aller Art, Geschütze und Gewehre, Geräte und Werkzeuge,
Messer und Nägel, Räder und Ante, Knöpfe und Hüte, Nadeln und Stahlfedern.
Dabei herrscht hier die größte Arbeitsteilung. Da gibt es Nagelschmiede, welche
nur Sargnägel machen. Manche Nadelfabrikanten stellen nur Nähnadeln,
andere Stecknadeln oder Stricknadeln her. Manche Fabrik fertigt bloß Fisch-
angeln, eine andere nur Halsbänder für die Hunde. Ungeheuer viel Stahlfedern
werden hier angefertigt. Natürlich gehen alle diese Erzeugnisse dann in alle
Länder hinaus; denn in England kann man nicht alle verbrauchen. Eine Stadt
(Sheffield) fertigt wie Solingen vorzügliche Schneidewerkzeuge, Schwerter,
Messer und Scheren; in anderen stellt man Schlittschuhe, Panzerplatten, Eisen-
bahnschienen, Dampfkessel, Reifen usw. her. In den großen Hafenstädten gibt
es große Werften, wo man Handels- und Kriegsschiffe, Segel- und Dampf-
schiffe baut. Berühmt sind die Werften von Newkastle, Glasgow usw. Eng-
land hat lange die besten und größten Schiffe aus Eisen gebaut; selbst Deutsch-
land mußte seine ersten Kriegsschiffe in England Herstellen lassen. Auch heute
noch baut England über die Hälfte aller Handelsschiffe. Es hat noch immer den
ersten Platz als Schiffsbaumeister der Welt.
Außerdem hat in England die Brauerei und Brennerei großen Umfang,
denn der Engländer trinkt gern schwere Biere und Schnaps.
Großbritannien und Irland haben zusammen 315 000 qkm Fläche, sind
also ein wenig kleiner als Preußen, aber es hat mehr Einwohner als dieses;
denn es zählt jetzt über 45 Mill. Einw. Es ist darum im Durchschnitt dichter als
Preußen bevölkert. Freilich gibt es dort auch große dünn bevölkerte Gebiete,
wie Schottland und Irland. Am dichtesten sind die gewerblichen Bezirke in
England und Wales bevölkert. Hier kommt die Volksdichte der belgischer: gleich
und erreicht zum mindesten 250 auf den Geviertkilometer. Der Bezirk Man-
chester freilich hat eine außerordentliche Bolksdichte; denn hier zählt man auf
einen Geviertkilometer gegen 800 Menschen, das ist mehr als im Bezirk Düssel-
dorf oder Chemnitz. Um so weniger Menschen wohnen in den schottischen Hoch-
landen und in der: irischen Grasländereien. Aus Irland wandern regelmäßig
mehr Menschen aus, als der Geburtenüberschuß beträgt; die irische Bevölkerung
nimmt daher ab. Selbst Großbritannien hat immer eine große Auswanderung;
es gibt eben zu oft Arbeitslosigkeit in der Industrie. Immerhin könnte das Insel-
reich keine so große Bolkszahl ernähren, wenn es nicht eine so hochentwickelte
Industrie hätte. So steht und fällt aber auch das britische Jnselreich mit seiner
Industrie.
120
VIII. Großbritannien und Irland.
11. Englands Schiffahrt.
Die Briten haben von jeher sich der Schiffahrt gewidmet; aber lange Zeit
begnügten sie sich mit der Küstenschiffahrt und dem Fischfang an der Küste.
Erst nach der Entdeckung Amerikas beteiligten sie sich an der Seeschiffahrt. Seit-
dem drängten sie auch die deutschen Hansen zurück und machten sich zum See-
frachtmann der Welt. Heute besitzt England die größte Handelsflotte der Erde.
Sie zählt über 8700 Segler und 12 000 Dampfer. Wie bei uns geht die Zahl
der Segler zurück, aber die Zahl der Dampfer nimmt zu. Die Dampfer sind
größer als die Segler. Zusammen fassen diese 11 a/s Mill. Tormen Raum; das
ist beinahe viermal soviel als der der deutschen Handelsflotte. England braucht
eine große Handelsflotte, denn es muß alle Waren, die ein- oder ausgehen,
mit dem Schiffe befördern; wir führen viele Waren mit der Bahn aus und ein.
Aber England verfrachtet auch die Waren vieler fremder Völker, z. B. Belgiens,
Spaniens usw.
Englands Lage und Küsten sind, der Schiffahrt sehr günstig. Es hat viele
gute Häfen. Über 120 Häfen gibt es an den britischen Küsten. Am größten ist
der Hafen von Lond on; er ist der größte Hafen der Welt. Gegen 40 Mill.
Tonnen Güter gehen hier jährlich aus und ein. Die große Hälfte davon gehört
zum überseeischen Verkehr. Der Hafen Londons ist geschützt; denn er liegt tief
im Mündungstrichter der Themse. Er ist vorzüglich, denn er ist tief. Die Flut
ist groß, sie steigt bis 6 m über den Stand der Ebbe. Zwölf Stunden fließt täg-
lich die Themse stromaufwärts. Das erhöht die Tiefe des Flußwassers. In
L i v e r p o o l ist die Flut noch höher. Es ist der zweitgrößte Hafenplatz Eng-
lands. Dann folgen die Kohlenhäfen K a r d i f f und N e w k a st l e. Dann
kommen Dover am Kanal, Hüll am Humber, Glasgow in Schottland,
Southampton am Kanal. Weitere berühmte Hafenstädte sind Bristol
am Mündungstrichter des Severn, Portsmouth und Plymouth am
Kanal, Dundee und Aberdeen im östlichen Schottland, Dublin in
Irland.
Wichtig ist, daß alle Häsen Englands, Schottlands und Irlands eisfrei
sind. So können die Schiffe Sommer und Winter gleich gut verkehren; sie
müssen nicht warten wie in den Häfen, die im Winter wochenlang zufrieren.
England fördert aber auch die Schiffahrt, wie es nur kann. Es baut vorzügliche
Ladekräne in den Häfen; es schafft breite Häsen, die allen Schiffen bequemen
Ankerplatz bieten. Es hat viele Werften, wo die verletzten Schiffe ausgebessert
werden können. Bon Vorteil ist, daß es in England soviel Fischer gibt; sie liefern
tüchtige Matrosen. Freilich hat die englische Schiffahrt auch mit mancherlei
Gefahren und Schwierigkeiten zu kämpfen. Da sind zunächst die häufigen und
heftigen Stürme gefährliche Feinde der Schiffer. In 11 Jahren verunglückten
gegen 14OO0 Schiffe. Welche Verluste an Menschen, Gütern und Vermögen
sind damit verbunden! Dann drohen den Schiffern nicht wenig Klippen und
Sandbänke. Bei klarem Wetter und ruhiger See schaden sie dem Schiffer nichts;
er lotet und merkt so, wenn das Meer seicht wird. Dann schaut er auf seine
Seekarte, worin alle Seetiefen genau angegeben sind. Aber in den britischen
Gewässern herrscht oft unsichtiges Wetter; im Kanal und den übrigen Meeres-
teilen fallen oft dichte Nebel ein. Da kann man selbst bei Tage kaum ein paar
Schritt weit sehen. Nun fahren aber die Dampfer bald so schnell wie Güter-
züge. Da sehen sie die erleuchteten Bojen nicht rechtzeitig. Um die Schiffer
zu unterstützen, hat England 3OO Leuchttürme erbaut. Aber in der undurch-
VIII. Großbritannien und Irland.
121
dringlichen Finstemis der Nebelnächte reicht das Licht der Leuchttürme nicht
weit. Da schrillen dann die Nebelhörner. Soviel auch getan wird, so bleiben
die Schiffsunfälle nicht aus. Bald stoßen zwei Schiffe zusammen, bald gerät
eins auf eine Sandbank, bald wird eins vom Sturm umgekippt. Trotz alle-
dem vermehrt sich Englands Schiffahrt. Schon die alten Bremer sagten: Schiff-
fahren ist nötig, leben nicht; d. h. man muß Schiffahrt treiben, auch wenn dabei
einige Menschen ihr Leben einbüßen.
Unterstützt wird Englands Schiffahrt durch seine schiffbaren Flüsse und
Kanäle. Seine Flüsse sind nur kurz; die Themse ist nicht einmal so lang wie die
Ems. Aber sie sind sehr wasserreich wegen der reichlichen Niederschläge. Dazu
haben sie meist einen ruhigen Lauf und einen breiten und tiefen Mündungs-
trichter. Weit hinauf sind die Flüsse in der Regel schiffbar. Dazu hat man zahl-
reiche Kanäle gebaut. Hierfür ist England sehr geeignet. Die Wasserscheiden
sind niedrig; es besteht zumeist aus Flachland. England hat mehr Kanäle als
Frankreich und sogar dreimal mehr als Deutschland (6000 Ion gegen 2000 km).
Leider haben viele einen Fehler. Sie sind alt und daher schmal und seicht; für
die heutigen großen Frachtkähne sind sie zu klein. Englands Bahnen sind meistens
im Besitz von großen Bahngesellschaften. Diese haben viele Kanäle gekauft
und lassen sie möglichst wenig befahren; denn durch die Bahnfrachten verdienen
sie mehr als durch die Kahnfrachten. Dennoch gibt es auch etliche große und
wichtige künstliche Wasserstraßen, wie der Kanal von Manchester, Glasgow u. a.
12. Englands Handel.
England ist der erste Industriestaat der Erde; es hat die größte Handels-
flotte; es hat auch den größten Handel. Sein Handel muß groß sein, denn Eng-
land bezieht sehr viele Rohstoffe und Getreide aus dem Auslande; es führt aber
auch viele seiner Erzeugnisse in aller Herren Länder aus. Sein gesamter Handel
hat einen Wert von 23 Milliarden; er ist also um 3000 Mill. größer als der
deutsche (20 000 Mill. gegen 23 000 Mill. Mark). Darin kommt ihm kein anderer
Staat gleich. Der französische Außenhandel ist kaum halb so groß. Der britische
Welthandel wächst von Jahr zu Jahr, genau wie der deutsche. Das englische
Volk vermehrt sich gleichfalls ununterbrochen. Je größer es wird, desto mehr
Getreide und andere Lebensmittel muß man einführen; je mehr die Zahl der
Arbeiter wächst, desto mehr Waren werden angefertigt und ausgeführt. Ein-
führen muß England vor allem Getreide, Fleisch, Holz, Butter und Zucker,
dazu Baumwolle, Wolle, Eisenerze und andere Rohstoffe. Ausführen kann
es allerhand Eisenwaren, Maschinen, Schiffe, Kohlen, Fische und endlich den
Überschuß seiner Gewebe und Zeuge. England bezieht aus Dänemark nament-
lich Butter und Eier, aus Holland Vieh, aus Frankreich Gemüse und Wein,
aus Spanien und Italien Eisenerze und Wein. Von Deutschland kauft
es Webwaren, Zucker, Eisenwaren, Bilder, Tücher, Spielzeuge, Lederwaren
und Farben, Klaviere und andere Dinge. Nach Deutschland liefert England
Garn und Webwaren, Kohlen, Fische, Häute und Felle und mancherlei Erzeug-
nisse fremder, heißer Länder. Deutschland und England tauschen alljährlich
für rund 2000 Mill. Mark Waren aus. In der Regel kauft England etwas mehr
von uns, als wir von ihm. Dieser gesamte Warenverkehr muß bloß zu Schiff
geschehen. Da sieht man, wie wichtig eine gute Schiffahrt ist. Wir beziehen
vor allem Garne aus Wolle und Baumwolle; das beweist, daß die Spinne-
reien in England ganz besonders gut arbeiten. Wir liefern an England wieder
122
VIII. Großbritannien und Irland.
viel Webwaren; dies beweist, daß Deutschland in der Weberei und im Klei-
dungsgewerbe etwas besonders Tüchtiges leistet. Selbst an Eisenwaren liesem
wir bedeutend mehr, als wir von ihm beziehen. Vor 1870 war das anders.
Seitdem hat sich unser Eisengewerbe so gehoben, daß es dem englischen gleich
und in manchen Dingen sogar überlegen ist. Vor allem kauft England Zucker
von uns; in London ißt man vorwiegend deutschen Zucker; er ist dort allerdings
auch meistens billiger als in Magdeburg. Für uns ist England der echte und
größte Abnehmer, das wichtigste Handelsland. Mit keinem andern Staate
haben wir einen Warenaustausch von rund 2000 Will. Mark. Wieviel Schiffe
sind da nötig, um diesen Warenverkehr zu bewältigen! An ihm sind unsere
Nordseehäsen und Rheinhäfen am meisten beteiligt. Hamburg und Bremen
und Duisburg haben den größten englischen Warenverkehr. Die Ostseehäfen
liegen schon etwas zu abgelegen, doch haben auch sie noch einen beträchtlichen
Verkehr mit England.
13. Englands gewaltige Kriegsflotte.
Gewiß haben die Bewohner Britanniens stets Schiffahrt getrieben. Die
Angeln und Sachsen fuhren auch auf ihren kleinen Schiffen von Schleswig-
Holstein nach Britannien und gründeten dort sieben angelsächsische Königreiche;
daraus entstand das spätere eigentliche England. Dann kamen die Normannen
zu Schiss nach England. Aber in der Zeit der Hanse war die englische Schiff-
fahrt nicht berühmt. Erst nach 1500 hat sie sich entwickelt. Vorher trieben die
Engländer fast nur Küstenschiffahrt und Fischerei. Dadurch gewöhnten sie sich
aber ans Meer und die Schifferei. Die Hansen und Mederländer wurden ihre
Lehrmeister. Als Amerika entdeckt worden war, wagten sich nun einzelne kühne
Engländer auch übers Weltmeer. Doch das mächtige Spanien bedrohte Eng-
land mit Krieg. Da baute England eine Kriegsflotte und besiegte die große
spanische Kriegsflotte, die gewaltige Armada. Seitdem baute England erst
recht Kriegsschiffe. Zuerst war es mit Holland im Bunde, um Spanien nieder-
zuwerfen oder Frankreich zu besiegen. Dann aber wandte es sich auch gegen
die niederländische Kriegs- und Handelsflotte. Ein englischer Minister sagte:
Holland muß zerstört werden. Es dauerte auch nicht lange, da hatte England
die Vorherrschaft zur See. Seit 1700 ist es die größte Seemacht und hat stets
die größte Kriegsflotte gehabt. Es besiegte die französische Flotte mehrfach
und nahm vor reichlich 100 Jahren den Dänen ihre Kriegsschiffe weg.
Heute hat England die mächtigste Kriegsflotte. Es besitzt die meisten großen
Kriegsschiffe, die sog. Linienschiffe, welche in einer Linie auffahren, wenn sie
kämpfen. Es besitzt die meisten Kreuzer, welche im Meere hin und her fahren
oder kreuzen, um feindliche Handelsschiffe abzufangen oder um nach feind-
lichen Kriegsschiffen zu spähen. Es hat die meisten Torpedoboote, mit denen
es feindliche Schiffe in die Luft sprengen kann. Seine Schlachtschiffe sind am
größten und mit dem stärksten Panzer versehen; sie haben die gewaltigsten
Geschütze und Panzertürme. Für seine großen Kriegsschiffe kommen ihm die
tiefen Häfen recht zu statten. Es kann vortreffliche Kriegshäfen anlegen und sie
aufs beste befestigen. Der wichtigste Kriegshasen Englands ist Portsmouth
am Kanal, gegenüber der schönen Insel Wight.
Die Engländer sagen: unsre Kriegsflotte muß mindestens ebenso groß
sein wie die zwei cutberrt größten Kriegsflotten. Nach England haben Frank-
reich und Deutschland die größten Kriegsmarinen. Daher will England stets
VIII. Großbritannien und Irland.
123
mehr Kriegsschiffe haben als Deutschland und Frankreich zusammen. Nun
kommt es aber gar nicht bloß auf die Zahl der Schiffe an. Viel wichtiger ist
die Größe der Schiffe. Je größer ein Linienschiff ist, desto mehr Kanonen kann
es aufnehmen. Je größer man es baut, desto stärker kann man seinen Panzer
machen. Je stärker der Panzer ist, desto weniger leicht können ihm feindliche
Geschosse schaden. Je größer ein Linienschiff ist, desto größere Geschütze kann
man ihm geben. Je größer die Kanonen sind, desto größer sind die Geschosse.
Je größer die Geschosse sind, desto weiter gehen sie und desto mehr Zerstörungs-
kraft haben sie. Ist ein Geschoß bloß fünf Zentner schwer, dann prallt es von
einem starken Panzer wirkungslos ab. Es schadet dem feindlichen Schiffe wenig
oder gar nichts. Ist es aber zehn oder gar zwölf Zentner schwer, dann reißt
es gewiß ein großes Loch in den Panzer oder es reißt den getroffenen Panzer-
turm um. Nun gehen die großen Geschosse viel weiter. Kann ein Kriegsschiff
bloß 20 km weit feuern, dann muß es schweigen, wenn das feindliche Schiff
noch 30 km entfernt ist. Kann dies aber bis auf 40 km weit feuern, dann schießt
es schon, wenn sein Gegner noch 40 bis 30 km und 30 bis 20 km entfernt ist.
Das kleine Schiff wird also schon lange beschossen, ehe es das Feuer erwidern
kann. Der Feind auf dem großen Schiffe braucht sich gar nicht zu fürchten,
das kleine Schiff kann ihm ja gar nichts anhaben. Vielleicht ist das kleine Schiff
schon in den Grund gebohrt, ehe es überhaupt einen Schuß abfeuern konnte.
Kleine Schiffe sind also gegen große dann macht- und wehrlos. Ein einziges
Riesenschiff kann vielleicht mit zehn kleinen den Kampf aufnehmen. Die kleinen
müssen möglichst rasch flüchten. Das alles überlegten sich die Engländer. Sie
sagten: Wir bauen von nun an lauter Riesenschiffe, die 20 000 k und darüber
Raum haben. Diese rüsten wir mit den allergrößten Kanonen aus. Kommt
dann ein feindliches Schiff, so wird es schon wirksam beschossen, ehe seine Kugeln
unser Schiff erreichen. Wenn wir nur recht bald und schnell lauter Riesenschiffe
bauen, dann bleibt unsre Kriegsflotte die erste und keine kommt ihr gleich. Aber
solch ein Schiffsriese kostet viel Geld, etwa 50Mill. Mark. Da sagten die andern:
Das tut gar nichts. Zwei kleine Schiffe kosten genau soviel wie ein großes; aber
ein großes vertreibt oder besiegt mehr als zwei kleine. Wenn auch die großen
Schiffe teurer sind, so sparen wir doch am Ende Geld. Die großen Schiffe leisten
auch mehr. Kleine Schiffe nutzen uns nichts. Es ist besser, wir haben 30 große
Kriegsschiffe als 60 kleine. So baute nun England mächtige Kriegsschiffe. Nach
ein paar Jahren baute Deutschland auch solch.große. Jetzt bauen fast alle See-
mächte solch große Kriegsschiffe wie England.
Jetzt ist Englands Kriegsflotte beinahe viermal so groß als unsre. Eng-
land wendet also vielmal mehr Geld für seine Kriegsmarine auf. Warum tut
es das? Es braucht eine starke Flotte, um sein Land zu schützen. Es grenzt
zwar an keinen andern Staat. Aber heute trennt das Meer nicht mehr. Wer
eine mächtige Flotte hat, der kann nach England fahren. Dies hat aber nur
ein kleines Landheer. Es verläßt sich bloß auf seine überlegene Flotte; es sagt
sich: unsre Kriegsmarine muß uns alle Feinde vom Halse halten, keiner darf
überhaupt unsre Küsten sehen; ehe er an sie kommt, müssen seine Schiffe auf
dem Grunde des Meeres liegen oder von unfern Schiffen gefangen genommen
worden sein. Niemand darf sich wagen, uns anzugreifen; selbst wenn sich zwei
oder drei verbünden, muß unsre Kriegsflotte der ihrigen noch überlegen sein.
Die starke Kriegsflotte soll weiter den britischen Handel schützen. Die bri-
tischen Handelsschiffe fahren ja auf allen Meeren. Wie leicht kann da ein Schiff
oder Schiffer vergewaltigt werden! Wie leicht kann man dem englischen Handel
124
VIII. Großbritannien und Irland.
Unrecht zufügen! Böse Menschen gibt es überall auf der Erde. Aber dann kommt
auch bald der bewaffnete Arm Englands; ein paar britische Kriegsschiffe er-
scheinen und öffnen ihre Feuerschlünde. Noch ehe sie zu donnern beginnen,
hat man in der Regel versprochen, die Schuldigen zu bestrafen und den Schaden
zu ersetzen. In aller Welt weiß man das nun und hütet sich, dem britischen Schiffer
und Handelsherrn zu nahe zu treten.
Aber England braucht auch die freie Zufuhr und Abfuhr; es müßte bald
verhungern, wenn einmal die Schiffe kein Getreide und Fleisch nebst Butter
und Eiern brächten. Es müßte bald verarmen, wenn die Schiffe keine Baum-
wolle brächten und keine fertigen Waren fortschafften. Wenn nun ein Feind
England sperrte, keine Handelsschiffe hinein und heraus ließe, dann würde gar
bald in England die größte Teuerung, Hungersnot und Elend einziehen. Dar-
um fürchten sich die Engländer so sehr, wenn sie sehen, daß Deutschland, Frank-
reich, Rußland und andere Staaten große Flotten bauen. Sie denken, wie
leicht können sie sich gegen uns verbünden und uns alle Zufuhren abschneiden!
Was sollte dann aus uns werden! Darum zahlen sie gern die Steuern für die
Flotte. Sie sind nicht gering. Jeder Engländer, er mag arm oder reich, klein
oder groß fein, es mag ein Mann oder eine Frau sein, jeder müßte 15 bis 16
Mark bezahlen, wenn die Kosten gleichmäßig verteilt würden. Das machte für
eine Familie mit vier Kindern beinahe 100 Mark Flottengeld. Natürlich zahlen
die reichen mehr als die armen Leute. Alle aber zahlen diese Beiträge, damit
sie nicht einmal in Not, in Arbeitslosigkeit und Hungersnot geraten, wenn ein
übermächtiger Feind alle Zufuhr und Abfuhr sperrte.
Aber manche Engländer haben auch noch andere Gedanken betreffs ihrer
Flotte. Sie sagen sich: Wir führen jährlich für 3000 Millionen Mark mehr Waren
ein als aus (13 000 Mill. gegen lO OOO Mill. im Sonderhandel und 12 744 Mill.
gegen 9580 Mill. im Gefamthandel). Wir müssen also jährlich wenigstens 3000
Millionen Mark drauflegen. Um 3 Milliarden bleibt unsre Ausfuhr hinter der
Einfuhr zurück. So viel betragen gerade die Einnahmen und Ausgaben unsers
Reiches. Nun sind die Briten ein reiches Volk, sie find reicher als wir und reicher
als Frankreich. Aber wenn sie alle Jahre 3000 Millionen mehr ausgäben, dann
würden sie mit der Zeit bald arm. Das wissen sie natürlich sehr gut. Sie ver-
dienen sich nun sehr viel Geld mit ihrer großen Handelsflotte. Dann verdienen
sie viel Geld, weil sie für viele fremde Völker den Handel betreiben. Weiter
haben sie viel Gelder in fremden Ländern stehen. Auch in Deutschland gibt es-
viel englisches Geld; es trägt hohe Zinsen. Die Engländer bauten bei uns die
ersten Eisenbahnen und die ersten Straßenbahnen in den Städten. Wieviel
Geld ist da aus Deutschland nach England geflossen? Wenn wir alles genau
ausrechnen könnten, dann würden wir finden: England macht alle Jahre noch
große Summen gut; es wird nicht ärmer, sondern reicher. Weil sein Reichtum
wächst, darum kann es auch eine große Flotte bauen. Damit sein Reichtum
weiter wachsen kann, darum hält es auf eine große Flotte. Niemand soll sich
an England heranwagen, niemand sich an einem englischen Schiffe, an einem
englischen Handelsherrn, am englischen Gelde vergreifen, niemand soll den
englischen Handel stören oder hindern. Alle sollen sich vor England fürchten,
alle sollen England als größte Seemacht achten und sich hüten, ihm etwas in
den Weg zu legen. Die Engländer sagen: Unsre Zukunft liegt auf dem Wasser.
Wir brauchen den Ozean, um leben zu können. Bitter not ist uns eine starke
Kriegsflotte, die uns das Weltmeer offen hält.
VIII. Großbritannien und Irland.
¡120
14. London, die größte Stadt der Erde.
Die Hauptstadt des Königreichs Großbritannien und Irland ist London
mt der Themse. Sie liegt fast 100 km von der Nordsee entfernt; aber die starke
Flut (bis 6 m) trägt selbst die größten Schiffe bis zu dieser Riesenstadt. Sie
zählt für sich allein gegen 5 Mill. Einwohner, mit den Vororten über 7 Mill.
Demnach lebt von je 9 Briten einer in London, oder von je 7 einer in Groß-
london. London selbst zählt also gerade soviel Bewohner als chas ganze
Königreich Sachsen, oder mehr als doppelt soviel als das Königreich Dänemark.
Großlondon aber zählt soviel Einwohner als Belgien oder noch etwas mehr
als das Königreich Bayern. Natürlich braucht eine solche Menschenmenge einen
großen Platz. Londons Umfang beträgt gegen 60 km oder 14—16 Stunden.
Es breitet sich zu beiden Seiten der Themse aus. 19 Brücken und 5 Tunnel
vermitteln den Verkehr über und unter der Themse weg. London selbst bedeckt
einen Raum so groß wie Schaumburg-Lippe oder Reuß ältere Linie. Auf diesern
Raum hätte Berlin beinahe fünfmal und Paris viermal Platz. London ist dem-
nach nicht so dicht bevölkert als Paris oder Berlin, d. h. in London gibt es nicht
soviel große und hohe Häuser wie in Berlin und Paris. Dazu finden sich zwischen
den einzelnen Stadtteilen große Parkanlagen. Das ist der Gesundheit
förderlich.
In England verkauft man selten den Boden für immer, sondern nur aus
99 oder gar nur auf 49 Jahre. Das nennt man Erbpacht. Nach 99 Jahren
fällt dann das Grundstück samt dem Hause an den alten Besitzer oder seine Erben
zurück. Aus diesem Grunde baut man in London meist nur kleine Häuser mit
einem oder zwei Stockwerken. In der Regel wohnt darin nur eine Familie.
So ist es wenigstens in den besseren Wohnvierteln. Freilich sind fast alle Häuser
vom Rauch und Ruß geschwärzt und sehen daher recht unansehnlich aus.
Die Altstadt (City) ist das Geschäftsviertel der Weltstadt. Hier gibt es
fast nur große Geschäftshäuser, Warenlager, Kontore, Banken usw. Am Tage
leben und arbeiten hier über 3OO OOO Menschen, wohnen tun freilich kaum 30 000
hier. Demnach verlassen die allermeisten die Altstadt nach Schluß der Arbeits-
zeit. Welch eure Völkerwanderung muß es geben, wenn sich jetzt fast 3OO OOO
Menschen auf diesem engen Raume auf die Beine machen! Freilich eilen die
meisten mit den elektrischen Straßenbahnen, den Auten, den Stadtbahnen
hinweg, hinaus in die freundlicheren, ruhigeren Wohnviertel. Da wäre es nun
sehr unbequem, wenn jeder die Fahrt nach Hause täglich zweimal machen sollte.
Mittags bleiben die Engländer im Geschäft; sie nehmen nur ein Frühstück ein,
. vielleicht im nahen Gasthause. Die Geschäftszeit dauert vou 9 bis 5. So braucht
man früh nicht zu zeitig aufzubrechen und kommt nachmittags noch an zu Hause.
Daher genießt der Engländer erst gegen 6 Uhr die Hauptmahlzeit.
In der Mitte der Altstadt liegt die Bank von England. Es ist die größte
der Welt. Gegen 1000 Beamte sind in ihr tätig. Welche Geldsummen laufen
hier täglich ein und aus! Vielfach aber verrechnet man nur das Guthaben mit
dem Soll. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie ungeheuer der Geld verkehr
hier ist. In sicherem Gewahrsam liegen stets mindestens 400 Mill. Mark in blan-
kem Gold und Silber. Natürlich werden diese Schatzkammern Tag und Nacht
streng bewacht. Der Sicherheit halber hat die einstöckige Bank nach der Straßen-
seite gar keine Fenster.
Daneben gibt es Stadtteile, wo die Industrie ihre Fabriken errichtet hat.
Hier hat man auch große Arbeitshäuser erbaut. Sehenswert sind die Anlagen
126
VIII. Großbritannien und Irland.
an den Häfen. Da gibt es geradezu ungeheure Lagerhäuser und Kellereien.
In dem einen Raume stapelt man Seide auf; hier versenkt mau einen zentner-
schweren Baumwollballen nach dein andern; dort stapelt man die Wollsäcke
auf; hier kommen Zuckersäcke, dort Kaffeesäcke an; hier wird Tabak, dort werden
allerhand Gewürze und Tee in die Niederlagen hinabgelafsen; dann kommen
kostbare Farbhölzer an die Reihe; ein anderes Haus erhält eben Baumstämme.
Wie sind da die Kräne in Tätigkeit, dort die Fahrstühle! Das Teehaus hat fünf
Stockwerke, ein Saal reiht sich an den andern. Ein Weinkeller faßt 60 0O0 Fässer
Wein! Welch mächtige Getreidespeicher erblicken wir dort! Dort aber ist ein
Haus, wo alles und alle blau aussehen! Hier bewahrt man die schöne blaue
Jndigofarbe auf. Ihr Staub färbt alles blau, das Geländer, die Treppen, die
Fensterrahmen, die Arbeiter.
Werfen wir nun einen Blick in die Häsen selbst. Da sehen wir englische,
holländische, deutsche, dänische, französische, spanische, russische und viele andere
Schiffe. Da sieht man alle Trachten der Erde, da hört man alle Sprachen der
Welt, da erblickt man alles, was es gibt an Rohstoffen und Erzeugnissen des
menschlichen Gewerbsleißes. Laufen doch täglich 300 bis 400 Schiffe ein!
Ungeheuer ist der Verkehr in dieser Riesenstadt. Man mußte Untergrund-
bahnen bauen, um nur den unaufhörlich anschwellenden Verkehr bewältigen
zu können; man mußte Tunnel unter der Themse weg bauen, da die Brücken
nicht mehr genügten. Unbeschreiblich ist das Gewühl der Menschen mlf den
Straßen, namentlich in den Geschäftsvierteln. Zn Tausenden bewegen sich
die Menschen. Unendlich ist die Kette der Wagen und Geschirre. Gefahrvoll
ist es, über die Straße hinüber zu gehen. Da hält ein Schutzmann den Arm
hoch; plötzlich hält die Wagenkolonne, und die Menschen eilen rasch hierüber.
Kaum sinkt sein Arm, setzt sich der Wagenzug wieder in Bewegung. Unter-
grund- und Hochbahnen suchen den Verkehr auf den Straßen zu entlasten. Die
Post hat Rohrposten angelegt, eiserne Röhren unter der Erde; darin werden
die Briefe rasch durch Luftdruck befördert. Lebensgefährlich ist der Verkehr
an den nebeligen Tagen.
So lebhaft und geräuschvoll es an Wochentagen in London zngeht, so
ruhig ist es an'Sonn- und Festtagen. Der Engländer hält es mit der Sonntags-
ruhe sehr genau. Da fährt die Eisenbahn weit seltener; die Post arbeitet fast
gar nicht. Viele Gasthäuser sind Sonntags geschlossen; der Engländer verlebt
den Ruhetag in der Regel im Kreise seiner Lieben.
Ungeheuren Reichtum gibt es in London. Wer vermag zu sagen, was hier
täglich verdient wird! Aber neben ungeheurem Reichtum gibt es auch massen-
haftes Elend. Es gibt Viertel, in das sich kaum ein anständiger Mensch hinein-,
getraut. Da wird schon eine Familie beneidet, wenn sie überhaupt einen Raum
sich mieten kann, mag er auch finster und feucht sein. Da gibt es Hunderte und
Tausende, welche ans den Bänken im Freien schlafen, welche nicht mehr besitzen,
als die Lumpen, die sie auf dem Leibe haben. Das sind die Bezirke des Elends
und des Verbrechens. Hier vermietet man Stuben und Räume meist nur auf
eine Woche, oft bloß auf einzelne Tage. Hier gilt Raub und Diebstahl, ja selbst
ein Mord nichts. Das sind die Schattenseiten der Riesenstadt. So reich auch
England im ganzen ist, es darben doch Tausende und Abertausende, und als
vor ein paar Jahren englische Arbeiter Berlin und andere deutsche Städte be-
suchten, da waren sie erstaunt, daß sie so wenig Elend, Bettelei und Lumpen
sahen. Armut und Reichtum gib mir nicht!
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
127
IX. vie königreicke Schweden und Norwegen.
1. Die Lage Skandinaviens.
Die beiden Königreiche Schweden und Norwegen grenzen aneinander
und liegen auf einer Halbinsel; sie heißt Skandinavien. Skandinavien ist viel-
mal größer als das ihm gegenüberliegende Jütland. Während Jütland sich
nach Nordosten zu erstreckt, erstreckt sich Skandinavien von Nordosten nach Süd-
westen. Im Norden hängt es mit Rußland zusammen; im Süden wird ee breiter
und teilt sich in zwei Vorsprünge, welche durch das Skagerrak gebildet werden.
Die skandinavische Halbinsel grenzt im Osten zuerst an Rußland und dann
an die Ostsee. Der nördlichste Teil der Ostsee heißt der Bottnische Meer-
busen. Im S üd en wird Skandinavien von der Ostsee, vom Sund, vom Katte-
gat und Skagerrak begrenzt. Der Sund scheidet Südschweden von der dänischen
Insel Seeland. Das Kattegat trennt Südschweden von Jütland; das Skagerrak
schiebt sich zwischen Südnorwegen und Jütland ein. Im Westen bespült
die Nordsee und im Norden der Atlantische Ozean die Küste Norwegens. Im
Norden begrenzt das nördliche Eismeer die Halbinsel. Norwegen nimmt
die westliche Hälfte Skandinaviens ein, Schweden hingegen die östliche; Nor-
wegen reicht weiter nach Norden, Schweden aber weiter nach Süden.
Schweden liegt an der Seite der Ostsee, Norwegen an der atlantischen Küste.
Schweden umfaßt die größere, Norwegen die kleinere Hälfte.
2. Die gewaltige Größe Skandinaviens.
Aus der Karte sehen wir, daß Skandinavien vielmal größer ist als das
benachbarte Jütland. Aber leicht würde man sich irren, wenn man angeben
sollte, wieviel mal Skandinavien größer ist als Jütland. Es ist rund 30 mal
größer als Jütland. Aus der Karte sehen wir, daß Skandinavien auch größer
ist als Großbritannien und Irland, nämlich reichlich doppelt so groß. Wir sehen
auch, daß es größer als das Deutsche Reich fein muß. Deutschlands größte Aus-
dehnung ist vor: Mülhausen ini Elsaß bis Memel in Ostpreußen. Skandinaviens
größte Ausdehnung reicht von Malmö bis zum Nordkap. Wir sehen, daß die
skandinavische Längsachse länger ist als die deutsche, nämlich 1900 km gegen
1350. Skandinavien wird von Norden nach Süden breiter, die Breite schwankt
zwischen 350 und 750 km. Deutschlands Breite schwankt viel mehr, nämlich
zwischen 900 km (Königsau-^Königssee) und 100 km (Thorn—Danzig). So
kommt es, daß Skandinavien etwa um die Hälfte größer ist als Deutschland
(540 000 qkm gegen 770 000). Skandinavien ist daher größer als Osterreich-
Ungam. Wie mag es nun mit seiner Volkszahl stehen? Es hat aber lange nicht
soviel Einwohner wie Deutschland, auch nicht wie England; seine Einwohner-
zahl ist nicht größer als die Belgiens, fast 8 Mill. Einw. Dabei ist Belgien
mehr als 20 mal kleiner. Es kommen auf den Geviertkilometer kaum 10 Be-
wohner; wie kommt das?
3. Die Bodengestalt Skandinaviens.
Skandinavien wird im Westen seiner ganzen Länge nach von einer mäch-
tigen Gebirgsmasse ausgefüllt. Im Süden erreicht dies Gebirge seine höchsten
Erhebungen, nach Norden zu nimmt seine Höhe allmählich ab. Im Süden ist
es am breitesten, nach Norden zu wird es schmaler. Zum Atlantischen Ozean
128
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
fällt das Gebirge steil ab. Nack der Ostsee hin dacht es sich allmählich ab.
Das Gebirge selbst besteht aus weiten, öden Hochflächen (Fjelde). Sie tragen
keinen Baum; sie sind Steinwüsten oder Sümpfe oder Eis- und Schneefelder.
Nur selten erblickt das Auge eine Erhebung. Endlos dehnen sich Hochebenen
aus. Zahlreich sind sie mit Blöcken übersät. Gräser, Moose, Flechten bedecken
den Boden, wo nicht das nackte Gestein zutage tritt. Totenstille herrscht ge-
wöhnlich in diesen grenzenlosen Einöden. Kommen wir an eine Stufe, wo
der Boden sich plötzlich senkt, dann gibt es einen rauschenden Wasserfall. Nur
im kurzen Sommer erscheinen Hirten oder Hirtinnen mit ihren Herden von
Kühen, Ziegen, Schafen und wohl auch Pferden, uni die dürftigen Weiden ab-
grasen zu lassen. Hinter einer schützenden Felswand erblicken wir die rohe
Steinhütte, worin die Hirten oder Hirtinnen aus Milch Butter und Käse
bereiten.
Da Skandinavien so hoch im Norden liegt, reicht auch die Schneegrenze weit
herab. Die Firnfelder bedecken einen Raum, der etwa viermal größer ist als
der in den Alpen. Im Norden reichen einzelne Gletscher fast bis ans Meer.
Das erklärt uns nun, warum Skandinavien so ungemein dünn bevölkert ist.
Nach der Ostsee zu dacht sich das Land stufenförmig ab. Namentlich in
Südschweden findet sich längs der Küste ein ziemlich breiter Streifen Tiefland.
Die Gebirgsmasse besteht zum größten Teile aus Granit und Gneis. Das
sind gerade die härtesten Gesteine, die der Verwitterung am längsten wider-
stehen. Südschweden hingegen besteht aus Kalk. Große Felsblöcke liegeil überall
umher. Sie sind von den riesigen Gletschern der Eiszeit hier abgelagert worden.
Wenn wir uns das in Schnee und Eis gehüllte skandinavische Hochland vor
Augen halteri, dann können wir uns sehr wohl denken, wie zur Eiszeit hier Riesen-
gletscher ausgehen konnten. Leider haben sie auch die lockere Lehm- und Tonerde
mit weggetragen. Darum fehlt heute dem skandinavischen Hochlande die not-
wendige Ackerkrume; selbst in den tieferen Stricken ist sie oft nur dünn. Dazu
stören noch die zahllosen Trümmersteine den Bodenbau.
4. Die Bewässerung.
Der Atlantische Ozean sendet reiche Niederschläge ins Land. Freilich ent-
laden sich die Wolken zumeist an der Westküste. Die Niederschläge nehmen daher
von Westen nach Osten ab. Die Westküste hat in der Regel viermal soviel Meder-
schläge als die Ostseite. Aber die riesigen Schnee- und Umfelder und die zahl-
reichen Gletscher speisen die Flüsse. Sie fließen fast alle in sitdöstlicher Mchtung,
wie der Glomm er, die Göta-Elf, die Dal-Elf, die Tornea-
E l f. Die meisten münden in die Ostsee, die übrigen ins Skagerrak und Katte-
gat. An der Westküste treffen wir keinen größeren Fluß, denn hier fällt das
Hochland steil zum Meere ab. Nach kurzem, raschem Laufe stürzen die Gewässer
ins Meer hinab. Die Flüsse Schwedens und Norwegens sind nur wenig schiff-
bar. Es fehlt ihnen nicht an Wasser, denn sie werden ja von den Schneefeldem
und oft auch von Seen gespeist. Aber sie haben ein zu rasches Gefälle. Oft
bilden sie tosende Wasserfälle und Stromschnellen. Selbst die Göta-Elf
stürzt 35 m hoch von Felsen herab und bildet so die berühmten Trollhätta-Fälle.
Diese Wasserfälle liegen sogar nicht selten im Unterlaufe wie bei der Göta-Elf.
Die Mitte Skandinaviens ist reich an Seen gerade so wie die Schweiz. Eine
Seenkette zieht sich vom Skagerrak bis nach Stockholm, der Hauptstadt Schwe-
dens. Diese Seen liegen in einer Senke des Landes. Hier zog sich in der Urzeit
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
129
eine breite Meeresstraße von dem Skagerrak nach der Ostsee. Später hat sich
das Land gehoben und so eine Landbrücke nach Südschweden hergestellt, das
damals eine Insel bildete. Diese Seen Südschwedens sind bedeutend größer
als die Schweizer Seen, aber ihre Tiefe ist nicht so beträchtlich. Der Wanersee
ist z. B. über zehnmal so groß als der Boden- und Genfer See. Die beiden
südlichen Seen hat man durch Kanäle miteinander und mit der Ostsee oder dem
Skagerrak verbunden. Freilich machte dieser Kanal viel Arbeit. 74 Schleusen
mußten gebaut werden. Oft mußte man sie in harten Fels sprengen. Doch
kürzt er den Weg sehr ab und erspart die Fahrt durch den Sund.
5. Norwegens zerklüftete und fischreiche Küste.
Die Karte zeigt uns, daß die norwegische Küste ungemein zerrissen und
zerklüftet ist. Ungeheuer ist die Zahl der Einschnitte; dadurch erscheint die Küste
wie zerfranst. Wäre die Küste gerade, so wäre sie sechsmal kleiner. Die tiefen
Buchten nennt man Fjorde (Förden). Sie sind verhältnismäßig schmal,
aber sehr lang. Ginge der längste norwegische Fjord von Stettin aus, dann
reichte er bis Berlin oder von Hamburg bis Hannover. Die Fjorde ersetzen den
Unterlauf großer Ströme. Sie sind ungemein tief, tiefer als der Bodensee,
an einzelnen Stellen so tief wie die tiefste Stelle der Ostsee (über 1200 m).
Fast überall sind sie von steil abfallenden Felsen umsäumt; am Eingänge er-
heben sich in der Regel die Felsen unmittelbar aus dem Meere und bilden gleich-
sam hohe Eingangspforten. Im Innern gibt es an manchen Stellen flache
Uferränder, welche Raum für Orte und ihre Gärten, Wiesen und Felder bieten.
Von den Felswänden stürzen mächtige Gießbäche herab; hier und da zeigt sich
in der Ferne ein Gletscher. Wo die Küste flacher ist, dort finden sich Weiden
und Wälder. Gegen die Stürme werden sie durch die hochragenden Felswände
völlig geschützt. So sind die Fjorde ein Mittelding zwischen Fluß, Alpensee
und Meeresbucht. Sie sind schmal und lang und gewunden wie ein Fluß. Die
schroff abfallenden Steilufer erinnern an Alpenseen. Mit der Meeresbucht
teilen sie das Salzwasser und die Ebbe und Flut.
Die heftigen Stürme des Atlantischen Meeres haben von der norwegischen
Küste unzählige Felseilande vom Festlande getrennt. Diese Klippeninseln
heißen Schären. Zusammen sind sie größer als ganz Württemberg. Der
größte Teil davon ist unbewohnt und unbewohnbar. Auf den größeren Schären
(über 1000) haben sich Menschen niedergelassen. Viele bestehen ganz aus nacktem
Gestein. Bei andem hat sich eine Pflanzendecke von Moosen, Flechten und
Gräsern gebildet; hier sprossen an günstigen Stellen auch einige Sträucher
von Wacholdern, Heidekraut usw. Die Lofoten sind Schären, die nur weiter
ins Meer hinausragen. So klein sie auch sind, so gibt es auf ihnen doch Gipfel,
die dem Jnselsberge nahekommen. Die Schären haben einen unberechen-
baren Wert für Norwegen. An ihnen brechen sich die stürmischen Wogen des
Meeres. Sie sind die natürlichen Wellenbrecher und halten jeden Feind ab.
Die Zufahrten durch die Schären sind so schwierig, daß kein fremder Schiffer
sich da zurecht findet. Jedes fremde Schiss nimmt zwei norwegische Lotsen
an Bord, die es sicher durch die Klippen in den Hafen leiten. Hinter den Schären
herrscht meist ruhiges Wasser; doch gibt es auch Sunde, wo eine starke Strö-
mung die Schiffahrt erschwert.
Die norwegische Küste ist bald mehr und mehr aus dem Meere empor-
g einegen, bald aber auch wieder mehr und mehr ins Meer hinabgetaucht. Dabei
Ratgeber I. Franke. Erdkunde, Teil 2. 9
130
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
erfüllte das Meerwasser die langen schmalen Täler und machte sie zu Fjorden.
Von dem Gebirgslande an der Küste blieben die Schären als letzte Reste zu-
rück. Mit der Zeit werden die Fjorde durch den Schutt, den die Gießbäche mit-
bringen, immer seichter werden.
6. Norwegens Landwirtschaft.
Das Königreich Norwegen ist ungefähr so groß wie Großbritannien und
Irland oder Preußen; aber es zählt nicht viel mehr Einwohner als Dänemark
oder Berlin und ist also sehr dünn bevölkert. Das wundert uns nicht. Es liegt
hoch im Norden und ist zugleich sehr gebirgig. Eigentlich müßte es in Norwegen
noch viel kälter sein. Es hat aber ein feuchtwarmes Seeklima. Der warme
Golfstrom fließt an seiner Küste vorüber und verbreitet namentlich im Winter
viel Wärme ins Land hinein. Kein Hafen an der ganzen Küste friert im Winter
zu. Besonders die inneren Teile der Fjorde sind bevorzugt. Hier haben die
kalten Nordwinde keinen Zutritt. Die Südabhänge lassen noch gutes Obst reifen.
Am Hardangerfjord z. B. gibt es Kirschbäume, deren Stamm ein Mann nicht
umspannen kann. Selbst der nördlichste Fjord von Drontheim liefert noch ganze
Schiffsladungen von Obst in den Handel. Im Winter haben die Gegenden
an den Fjorden 10 bis 20 Grad mehr Wärme, als ihrer nördlichen Lage ent-
spricht. Bergen z. B. hat mit Köln und Triest gleiche Januarwärme; es
ist also milder als Berlin. Selbst Hammerfest am Nordkap hat keinen
kälteren Winter als Kristiania. Die Januartemperatur schwankt an der
Westküste um den Nullpunkt. Die südlichen Fjorde haben keinen so strengen
Winter wie das östliche Deutschland. Aber die Sommer sind kühl und trüb.
In Bergen z. B. ist es im Durchschnitt gerade so warm wie in München. Die
vorherrschenden Südwestwinde bringen viele Niederschläge.
Das feuchtwarme Seeklima mit den milden Wintern und den kühlen Som-
mern macht das Land bis zum Nordkap hinauf besiedelnngsfähig. Freilich sind
drei Viertel des Landes völlig unbenutzbar. Deswegen ist Norwegen auch so
dünn bevölkert. Für den Ackerbau bleibt nur ein äußerst geringer Teil des
Landes. Norwegen hat das wenigste Ackerland unter allen Staaten Europas.
Der Boden ist fast überall felsig und hat nur selten eine genügend tiefe Acker-
krume. An der Küste fehlt das Flachland; das Meer hat die Fjorde, die ein-
stigen Täler, unter Wasser gesetzt. An günstigen Stellen baut man aber Hafer
und Gerste und selbst Roggen und Weizen. Hafer ist die gewöhnliche Getreide-
art; aus Hafer bäckt man meistens auch Brot. Doch muß man viel Getreide
einführen. Das Brot formt man in knchenartige Scheiben und versieht sie in
der Mitte mit einem Loch. Um es aufzubewahren, steckt man es auf Stangen
oder zieht eine Schnur durch die Löcher. Man bäckt nur selten einmal; das Brot
ist dann so hart, daß man es brechen muß. Die Kartoffeln liesem reiche Er-
träge. Das Obst gedeiht gleichfalls gut, denn es leidet nicht durch Nachtfröste.
Die Norweger legen vorzügliche Baumschulen an.
Die Viehzucht kann in Norwegen mehr als der Ackerbau getrieben
werden. Der Graswuchs ist üppig, wo die Bodenkrume genügt. Aber das Wiesen-
land ist leider nicht sehr groß. Auf den Hochebenen gibt es Sennhirten wie in
den Alpen. Aber erst Ende Juni kann man das Vieh auf die Bergweiden treiben.
In Norwegen kommen aus 100 Einwohner mehr Rinder als bei uns. Die
Lappen im nördlichen Norwegen halten Remitiere. Die Renntiere werden
ungefähr so groß wie ein Hirsch; ihr Kopf ist mit einem mächtigen schaufelför-
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
131
migen Geweih geschmückt. Das Renntier zieht den kahnförmigen Schlitten,
worin der gelbbraune Lappe mit großer Schnelligkeit über die weiten Schnee-
felder dahingleitet. Es spendet den Lappen wohlschmeckende Milch, Käse und
Fleisch zur Nahrung. Sein Fell liefert den Lappen warme Kleider. Mit Fellen
erbauen sie ihre Zelte. Aus den Geweihen und Knochen schnitzt sich der Lappe
seine mancherlei Geräte. Die Renntiere begnügen sich mit den Moosen und
Flechten, die sie selbst unterm Schnee hervorzuscharren wissen.
Der Wald nimmt einen ziemlich großen Teil des Landes ein; reich an
Nadelwäldern ist das südöstliche Norwegen. Die Birke kommt bis in die nörd-
lichsten Bezirke vor. Das norwegische Holz zeichnet sich durch seine Festigkeit
aus. Der karge Boden gestattet ja nur ein langsames, ganz allmähliches Wachs-
tum. Wegen seiner Festigkeit ist das norwegische Holz sehr geschätzt; es wird
teuer bezahlt und in großen Mengen ausgeführt. Zahlreiche Sägemühlen zer-
schneiden die Stämme.
7. Norwegens hochentwickelte Schiffahrt und Fischerei.
Die Norweger sind seit langer Zeit tüchtige Seefahrer. Ihr felsiges
Land wies sie aufs Meer. Als Normannen fuhren sie nach England, nach Frank-
reich (Normandie) und sogar nach Spanien und Sizilien. Noch heute hat Nor-
wegen im Verhältnis die meisten Schiffe und Schiffer. Das ist kein Wunder.
Leben doch die meisten Norweger längs der langen Küste. Sie alle sind auf
die Schiffahrt angewiesen. Norwegen hat mehr Schiffe als Dänemark; seine
Handelsflotte hat sogar noch ein wenig mehr Tonnenraum als die französische
und etwa die Hälfte des Tonnengehaltes der deutschen. Sie kommt gleich nach
der deutschen und steht daher in Europa an dritter Stelle. Die norwegischen
Schiffer fahren zumeist fremde Waren. Sie sind sehr gesucht, da sie tüchtig sind.
Ihre Schiffe segeln auf allen Meeren und an allen Küsten. Dadurch verdienen
sie viel Geld.
Wichtig ist für Norwegen vor allem die F i s ch e r e i; in ihr ist von je fünf
Männern einer beschäftigt. Die norwegische Küste hat einen außerordentlichen
Reichtum von Fischen. Der Golfstrom hält diese Küstengewässer nun ständig
eisfrei und gestattet daher die Fischerei das ganze Jahr hindurch. Zu bestimmten
Zeiten erscheinen gewaltige Fischzüge, um an der norwegischen Küste zu laichen.
Die Heringe erscheinen in den ersten Monaten des Jahres, um zu laichen.
Im Juli bis November besuchen sie die nördlicheren Gebiete. Freilich wenden
sich die Heringe oft auch anderen Gebieten zu. Das bedeutet für Norwegen
eine Mißernte. Kommen sie aber, dann erscheinen sie in gewaltigen Mengen
und erfüllen ganze Buchten. Schon lange harren die Fischer auf den äußersten
Klippen und Deichen draußen im Meere. Mögen auch die winterlichen Stürme
tosen und wüten, mögen auch die kalten Fluten die kühnen Männer samt ihren
Booten verschlingen, sie harren aus im Sturmgebraus. Endlich erschallt der
Ruf: Der Fisch ist da! Telegraphen tragen die frohe Kunde in alle Orte. Jetzt
wird es in jedem Orte lebendig. Mutig steuern die Fischer hinaus durch die
Brandung. Sie schleppen Netze mit, welche 20 bis 25 m lang und 4 m tief sind.
Mehrere werden zusammengeknüpft und abends ausgeworfen. Früh zieht
man sie gefüllt heraus. Besonders bei den Lofoten werden viele Heringe ge-
fangen. Sie werden geschlachtet, ausgenommen, eingesalzen, in Fässer ge-
packt und versendet. Freilich beteiligen sich am Heringsfange auch andere Fi-
schereiflotten, wie z. B. die niederländische, schottische, englische und franzö-
6*
132
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
fische. In der Fangzeit ist alles auf den Beinen; selbst die Frauen Helfer:
eifrig mit und besorgen das Ausnehmen und Einfalzen und Verpacken der
Heringe.
Außer der: Heringen fängt man auch Kabeljaue (Dorsche), Lachse, Fo-
rellen, Schellfische, Seehechte und andere Seefische. Der Dorsch erscheint bei
den Lofoten ebenfalls in großen Massen. Dann versammeln sich hier 9000
Fischerboote mit 40 000 Mann, um dem Fange obzuliegen. Es geht aber genau
nach den Anordnungen der Obrigkeit. Sowie der Signalschuß gefallen ist,
eilen die Boote hinaus. Man wirft Netze oder lange Angelleinen aus. Gegen
Mittag kehren die Boote zurück. Nun entfalten die Menschen am Ufer eine rege
Tätigkeit. Die einen schneiden mit fabelhafter Schnelligkeit Köpfe ab, andere
nehmen die Eingeweide heraus und werfen sie ins Wasser; dort dienen sie Möwen
und Eidergänsen als Nahrung. Wieder andere legen die Köpfe, die Leber::,
die Rogen in besondere Haufen. Der Rogen wird gesalzen und in Tonnen ver-
packt und dann versandt. Auch die Lebern werden in Tonnen verpackt, damit
man daraus in besonder:: Anstalten Tran Herstellen kann. Die Köpfe trocknet
man auf den Felsen und verwendet sie dann als Viehfutter. Die Gräten und
sonstigen Abfälle verwendet man als Dünger. Die meisten Dorsche werden auf
Stangen getrocknet und heißen darum Stockfische (Stangenfische). Andre salzt
man zuerst ein, spaltet sie dann, so daß sie nur noch mit den Kiemen zusammen-
hängen. Dann nimmt man das Rückgrat heraus und trocknet sie auf den Klippen.
Sie werden Klippfische genannt. Der Laberdan ist ein bloß gesalzener Kabeljau.
So hat der Dorsch viele Namen je nach der Zubereitungsart.
Weiter sängt man Hummern und Austern, Seehunde und Walfische.
Groß ist auch die Zahl der Strandtiere, die sich von den Fischen und Fischab-
fällen nährt, wie Möwen und Eidergänse. Sie haben ihre Nester meistens auf
unzugänglichen Felsen. Um die Jungen weich zu betten, rupfen sie sich die
weichsten Federn aus und polstern damit das Nest aus. Wie in Island, Färöer
usw. müssen sich auch die norwegischen Sammler mit Seilen hinablassen, um
die Eier und Daunen zu erbeuten.
Ist Norwegen auch ein getreidearmes Lar:d, so hat es doch wichtige Er-
werbsquellen. Ein schlechtes Fischereijahr zwingt allerdings viele Norweger
zur Auswanderung; denn die Leute finden in ihrer Heimat sonst keinen anderen
Erwerb. Norwegen hat im Verhältnis stets eine starke Auswanderung. Die
Industrie ist nur schwach vertreten. Es fehlt an Kohlen. Zum Glück bringt der
Golfstrom viel Treibholz, das man als Heizmittel verwenden kann. Die Kohlen
bezieht man aus England. Von Erzen findet man Silber-, Kupfer- und Eisen-
erze. Neuerdings versucht man die Wasserkräfte Norwegens für elektrische
Kraftanlagen zu verwenden. Wenn das in großem Maße geschieht, dann
kann allerdings Norwegen auch eine lebhafte Industrie entwickeln, und dann
wird seine Auswanderung abnehmen und seine Bolksdichte wachsen.
8. Norwegens wichtigste Städte.
Kristiania ist die Hauptstadt des Königreichs Norwegen. Es liegt
malerisch am innersten Ende des Kristianiafjordes. Hier bildet Norwegen ein
fruchtbares und anmutiges Hügelland. Es ist daher dicht bewohnt. Kristiania
zählt beinahe x/4 Mill. Einwohner und besitzt eine große Reederei. Von hier
aus führt man namentlich das norwegische Holz aus. Auf den Flüssen, die in
den Kristianiafjord münden, flößt man ungemein viel Holz herab; auf dem einen
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
133
allein gegen 40 Mill. Baumstämme im Jahre. Hier finden sich daher auch Holz-
schleifereien, Sägewerke und andere Anlagen, welche Holz verarbeiten.
St a v ang er an der Südwestküste ist ein wichtiger Hafenplatz für die
Heringsausfuhr. Bergen, nördlich von Stavanger, wird das Hamburg
Norwegens genannt, denn es ist eine wichtige Handels- und Hafenstadt. Es ist
rings von Bergen und Wasser umgeben und war zur Zeit der Hansa fast ganz
in den Händen der hansischen Kaufleute. Bergen ist der Haupthafen der Fischer.
Hierher kommen die Fischerflotten, um ihren Fang abzuladen und zu verkaufen.
Da harren denn auch bereits die fremden Schiffe, um Stockfische, Heringe,
Hummern, Rogen, Lebertran usw. aufzunehmen. Die Heringsflotte ist eben
angekommen. Da halten auch schon die Arbeiter mit ihren Karren am Ufer;
sie fahren die Heringe in die weiten Durchgänge der Häuser. Hier sitzen, von
Tonnen umringt, Scharen von Weibern und Männern. Die Arbeiter kippen
die Karren um, denn sie haben keine Zeit zu verlieren. Halb in Fischbergen be-
graben, ergreifen die Arbeiter einen Hering nach dem andern, schneiden ihm
die Kehle ab, reißen mit einem gewandten Ruck Gedärme und Eingeweide
heraus und werfen ihn dann in leere Gefäße. Sind diese voll, fährt sie ein Ar-
beiter nach dem Orte des Einsalzens. Dort packt man sie in Fässer und begießt
sie mit Salzlake. Hierauf kommt ein Böttcher, um die Fässer fest zu verschließen.
Dann schafft man die Heringstonnen in die großen Magazine. Von hier aus
gehen sie nun in alle Welt, vielleicht auch zu unserem Krämer.
Weiter nördlich von Bergen liegt an einem tiefen Fjord D r o n t h e i m,
ehemals die Hauptstadt Norwegens. T r o m s ö nördlich von den Lofoten ist
der Haupthafen der nordischen Fischerei.
H a m m e r f e st ist die nördlichste Stadt Norwegens und Europas. Etwa
2000 Menschen leben hier oben, im Lande der Mitternachtssonne. Viele Fremde
reisen dorthin, um einmal zu sehen, daß die Sonne auch um Mitternacht noch
scheint. Sie geht von Mitte Mai bis gegen Ende Juni (13. Mai bis 29. Juni)
nicht unter und scheint demnach über anderthalb Monate ununterbrochen. Vor
Mitte Mai und nach Ende Juni geht die Sonne nur kurze Zeit unter, so daß
es auch fast noch hell ist wie am Tage. Man rechnet daher den längsten Tag
auf mindestens 10 Wochen. Das ist nun recht angenehm, weil man nie ein Licht
braucht und zu jeder Zeit im Freien sehen kann. Das ist auch vorteilhaft für den
Pflanzenwuchs. Ist der Sommer auch kurz, so scheint die Sonne doch lange.
Dem Südländer erscheint das alles merkwürdig. Kommt er zu Schiff an, so
erblickt er zuerst den Vogelfels. In reinstem Weiß erstrahlt er. Tausende und
Abertausende weißer Seevögel hocken auf ihm und lassen ihn wie beschneit
erscheinen. Jetzt schrillt die Dampfpfeife des Schiffes. Gleich einer Lawine
stürzen sie herab und verfinstern den Himmel. Welch ein Geschrei und Gekreisch
herrscht da in den Lüften! Da erblicken wir die gelbbraunen Häuser von Ham-
merfest. Die breiten Fenster mit den blanken Spiegelscheiben, den wertvollen
Gardinen und den hübschen Blumen verraten uns, daß hier ein wohlhabendes
und kunstsinniges Völkchen wohnt. Wir begeben uns ins Städtchen. Da sehen
wir überall elektrisches Licht. Das ist auch sehr nötig —- im Winter. Von Michaelis
an werden die Nächte immer länger und länger. Es kommen nun die Tage,
wo die Sonne nur auf ein paar Viertelstündchen am Gesichtskreis erscheint,
um dann gleich wieder niederzutauchen. Dann endlich verschwindet auch die
Morgendämmerung, und die tiefe, lange Nacht senkt sich auf Hammerfest. Eine
Woche vor dem ersten Dezember bis anderthalb Woche vor dem ersten Februar
läßt sich die Sonne nicht blicken. Gegen Mittag wird es anfangs am südlichen
134
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
Himmel etwas hell. Aber diese Helligkeit, diese Mittagdämmerung nimmt
mehr und mehr ab, je näher das Christfest heranrückt. Ist klarer Himmel, dann
leuchten die Sterne ununterbrochen. Sie gehen nicht unter, sie werden nur von
Wolken verhüllt. Auch der Mond spendet sein bleiches Licht. Die Wochen- rmd
monatelange Nacht in Hammerfest lähmt natürlich das Geschäftsleben. Da
ist es gut, daß das elektrische Licht Ersatz schafft. Doch, was ist das? Plötzlich
ist der Himmel nach Norden zu wie in ein blutrotes Tuch gehüllt. Wie strahlt
und leuchtet das! Ist das eine gewaltige Feuersbrunst! Ja, was müßte das
für eine gewaltige Feuersbrunst sein, die den Himmel so glutrot aufleuchten
lassen könnte! Es ist das Nordlicht, das blutrot aufleuchtet. Ehemals glaubte
man, es kündete ein Kriegsgewitter, ein furchtbares Unglück an. Heute wissen
wir, es ist ein eigenartiges Gewitter, ein erdmagnetisches Gewitter. Nur selten ist
es bei uns zu sehen. Aber im Norden erscheint es öfter. Am eindrucksvollsten ist
das Nordlicht natürlich im Winter, wenn tiefste Nacht herrscht.
9. Schwedens Landwirtschaft.
Schweden reicht weiter nach Süden und weniger weit nach Norden. Es
liegt an der Ostsee. Doch hat es nicht das Seeklima Norwegens. Das skandi-
navische Gebirge hält die feuchten und warmen Winde ab, die aus dem Atlan-
tischen Ozean herüber wehen. Schweden hat warme Sommer und kalte Winter.
An der Nordspitze des Baltischen Meerbusens liegt Haparanda. Hier hat
der Januar im Durchschnitt 12 Grad Kälte, viel mehr als in gleicher Breite
an der norwegischen Küste. Hier herrscht oft geradezu erstaunliche Kälte. Da
ist es kein Wunder, daß der Bottnische Meerbusen fünf Monate lang völlig zu-
gefroren ist. Man kann dann bequem und sicher von Schweden nach Finnland
übers Meer fahren. Aber der Juli ist fast ebenso heiß wie in Berlin. Auffällig
ist, daß Frühling und Herbst sehr kurz sind. Eben herrschte noch starker Frost;
dann tritt plötzlich Wärme ein. Im Herbste aber folgt ebenso plötzlich auf warme
Tage bittere Kälte. Norwegen hat bei weitem mehr gleichmäßige Temperatur
als Schweden. Schweden ist aber nicht so gebirgig wie Norwegen. Darum ist
in Schweden trotz der langen und strengen Winter nur ein reichliches Drittel
völlig unbebaut; also nur halb soviel als in: felsigen Norwegen. Freilich hat
Schweden viel Seen und Sümpfe. Schweden hat mehr Ackerland als
Norwegen; freilich immer noch bedeutend weniger als Deutschland. Am frucht-
barsten ist Südschweden, nämlich die Halbinsel Schonen nebst der Seensenke.
Hier ist die Landwirtschaft ebenso stark vertreten wie in Deutschland. Im Norden
ist Gerste das wichtigste Brotgetreide und heißt dort kurzweg das Korn. Im
Süden baut man daneben Hafer und Roggen, selbst Weizen und Zuckerrüben,
Flachs, Tabak und Hopfen. Kartoffeln baut man im ganzen Lande, soweit
es anbaufähig ist. Hafer wird im ganzen am meisten angebaut und zwar mehr,
als Schweden braucht. Aber Weizen und Roggen erzeugt es zu wenig, sie müssen
daher zugekauft werden.
Das Wiesen- und W e i o e n l a n d ist etwas größer als in_ Nor-
wegen, doch immer noch viel kleiner als in Deutschland. Dafür ist sein
Viehbestand groß im Verhältnis zur Volkszahl, größer als in Deutschland.
Groß ist namentlich sein Bestand an Rindvieh. Schweden kann daher gleich
Dänemark viel Butter ausführen. Renntiere hat Schweden mehr als Nor-
wegen.
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
135
10. Schwedens Waldreichtum und Holzgewerde.
Bedeutend ist Schwedens Waldreichtum. Die Wälder umfassen bei-
nahe das halbe Schweden. Wald hat Schweden über viermal mehr als land-
wirtschaftlich benutzte Fläche. Da Schweden nicht so gebirgig ist wie Norwegen,
können hier Laub- und vor allem Nadelbäume gilt gedeihen. Die Wälder sind
Schwedens größter Schatz. Es gibt Bezirke, wo vier Fünftel mit Wald bedeckt
sind. Nordschweden hat besonders viel Forst. Ehemals wußte man die riesigen
Holzbestände nicht zu verwerten. Man verbrauchte soviel Holz, als nötig war,
im übrigen ließ man die alten Bäume stehen, Umstürzen und verfaulen. Dann
kam die Zeit, wo England seine einstigen Wälder verwüstet und abgeholzt hatte.
Jetzt holte England Holz aus Schweden. Die vielen wasserreichen Flüsse kommen
den schwedischen Holzhändlern und Waldbesitzern sehr zu gute. Auf ihnen schwim-
men unzählige Flöße hinab bis zu den Hafenstädten an der Mündung. Dort
steht Sägewerk an Sägewerk. Stundenweit hat man den Strand mit Baum-
stämmen, Klötzen, Pfosten, Brettern, Scheiten und Holzabfällen bedeckt. Da-
zwischen rauchen Weiler, worin man Holzkohle herstellt. Schwedisches Holz
ist gleich dem norwegischen sehr begehrt, da es fein und fest ist. Nach Deutsch-
land gehen alljährlich große Mengen schwedisches Holz. Hatte ehemals der
Wald in Schweden wenig Wert, so sind heute die Waldbesitzer reiche Leute.
Man redet dort von Holzbaronen; das sind die schnell reich gewordenen Forst-
besitzer. Manche konnten gar nicht schnell genug ihre Wälder Niederschlagen
lassen. Diesem Raubbau mußte man Vorbeugen. Darum teilt man den Wald
in der Regel in hundert Schläge; jedes Jahr darf nur ein Schlag abgeholzt
werden. So wird das Holz 100 Jahre alt. Man führt etwa den fünften Teil
alles geschlagenen Holzes aus. Einen anderen Teil verarbeiten die Holzschlei-
fereien, die Möbelfabriken, die Köhler, die Zündholzfabriken, die Werften usw.
Um die Holzausfuhr zu befördern, hat Schweden auch Bahnen gebaut.
11. Schwedens Bergbau und Industrie.
Schweden ist viel reicher an Bodenschätzen als Norwegen. Kohlen gibt
es freilich nur in geringer Menge und zwar in Schonen. Aber um so reicher
ist es an Eisenerzen. Nächst dem Holze sind die Eisenerze Schwedens
wichtigster Reichtum. Sie sind vorzüglich und finden sich von Schonen bis Lapp-
land. Hoch im Norden liegt ein E r z b e r g bei G e l l i w a r a, westlich von
Tornea. Dieser ist beinahe 600 m hoch und besteht durchweg aus magnetischem
Eisenstein. Die Erze liefern ein vorzügliches Eisen und vortrefflichen Stahl.
Früher mußten Renntiere die Erze auf ihrem Micken fortschaffen. Das war
natürlich ein ganz unzureichendes Beförderungsmittel. Dann baute man eine
Bahn von Gelliwara an die Ostsee und nach Stockholm. Doch ist der Bottnische
Meerbusen meistens ein halbes Jahr zugefroren. Deshalb baut man noch eine
Bahn von Gelliwara nach dem Lofotenmeere, weil es dort einen eisfreien
Hasen gibt. Bei Gelliwara gibt es noch ein viel größeres Erzlager; das kann
nun auch ausgebeutet werden; die Erze werden von der Losotenbahn nach dem
eisfreien Hafen von Narwik befördert. Herrscht hier oben auch ein halbes Jahr
lang strengster Winter und im Winter monatelange Finsternis, so wird doch rüstig
geschasst. Die lappländischen Eisenerzlager sind vielleicht die größten und er-
giebigsten der Erde und reichen auf viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte.
Diese Erze werden zumeist auf deutschen Schiffen nach dem Ruhrgebiete ge-
schafft, um dort verhüttet zu werden. Andere gehen auf britischen Schiffen
136
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
nach England. Weitere Eisenerzlager finden sich an der Dalelf nördlich von
Stockholm; hier ist D a n n e m o r a der wichtigste Fmrdort. Südlich von den
Seen gibt es noch einen eisenerzreichen Berg. Außer den Eisenerzen findet
man auch Kup f er erze. Diese werden namentlich bei Falun an der Dalelf
und im südöstlichen Schweden, östlich vom Wettersee ausgebeutet. Daneben
fördert man auch Blei- und Silbererze und andere. So gehört Schweden zu
den erzreichsten europäischen Ländern.
Die schwedische Industrie litt bisher unter dem Mangel an Kohle.
Am wichtigsten und ausgebreitetsten ist die Holzindustrie; denn Schweden ist
eines der holzreichsten Länder und hat das beste Holz billig zur Hand. Da ar-
beiten nun Sägewerke, Holzschleifereien, Möbelfabriken, Zündholzfabriken und
andere. Neben den Holzgewerben sind neuerdings mancherlei Eisengewerbe
aufgeblüht. Die Hochöfen heizen vielfach mit Holz, da ihnen die Holzfeuerung
noch billiger zu stehen kommt als die Heizung mit eingeführten fremden Stein-
kohlen. Trotz des Kohlenmangels sind auch Maschinenbauereien und Fabriken
für Eisenwaren entstanden. Schweden setzt seine Hoffnung gleich Norwegen
(Tirol usw.) auf die elektrische Kraft. Die wasserreichen Flüsse mit ihrem großen
Gefälle können ungeheure Mengen elektrischer Kraft erzeugen. An den Troll-
hättafällen gibt es bereits elektrische Kraftanlagen. Es wird nicht allzu lange
dauern, hat Schweden elektrische Eisenbahnen. Dann wird man auch sonst die
elektrische Kraft verwenden. So kann einst auch Schweden ein gewerbreiches
Land werden und dann seine geringe Volksdichte steigern. Jetzt zählt Schweden
etwa 5^/2 Mill. Einw. im ganzen, d. h. zehnmal weniger als das Deutsche Reich
auf einem qkm.
12. Schwedens Handel und Handelsflotte.
Schwedens Volkszahl ist reichlich doppelt so groß als die norwegische.
Schwedens Außenhandel ist darum beinahe doppelt so groß als der norwegische,
denn Norwegen hat 850 Mill. Handelsumsatz und Schweden über 1500. Schwe-
den erzeugt bei weitem mehr Getreide als Norwegen und braucht daher rückst
soviel Getreide einzuführen. Die meisten Güter tauscht es mit England aus;
dies kauft von Schweden besonders Holz und Erze und liefert ihm Kohlen, Ma-
schinen, Metallwaren, Baumwolle usw. Hierauf folgen Deutschland, Däne-
mark, Norwegen und Rußland. Deutschland bezieht aus Schweden vornehm-
lich Holz, Eisenerze und Steine, Schweden bekommt von ihm hauptsächlich Ge-
treide, Web- und Eisenwaren, Ölkuchen und Zucker.
Schweden liegt zwar an der Ostsee, aber diese ist für die Schiffahrt
nicht so günstig wie die Nordsee. Der Bottnische Meerbusen gestiert ein halbes
Jahr zu. Auch die Häfen in Südschweden leiden öfter durch das Eis. Schwedens
Handelsflotte ist etwa halb so groß wie die norwegische. Trotzdem ist sie nicht
unbedeutend. Sie übertrifft die dänische, die niederländische, die belgische und
selbst die russische an Größe. Mit dem Deutschen Reiche wird ein lebhafter Ver-
kehr unterhalten. Zwischen Trelleborg im südlichen Schonen und Saßnitz auf
Rügen verkehrt regelmäßig eine Dampffähre.
13. Schwedens wichtigste Städte.
Die Hauptstadt Schwedens heißt Stockholm; es wird das Venedig
des Nordens genannt, weil es auf Inseln (Holmen) liegt. Doch hat sich die Stadt
IX. Die Königreiche Schweden und Norwegen.
137
in neuerer Zeit auch auf die Halbinseln und Ufergebiete ausgedehnt. Fast alle
Inseln sind untereinander und mit dem Festlande durch Brücken verbunden.
Stockholm ruht auf felsigem Boden; es ist nicht in Sümpfen auf Pfählen erbaut
wie Amsterdam. Hier wechseln Inseln mit Halbinseln, Täler mit Bergen, Felsen
mit Waldlandschaften, Wasserstraßen mit Landstraßen. Wer Stockholms Schön-
heit bewundern will, muß es im Juni besuchen; da steht die Natur in vollster
Blütenpracht. Erst gegen 10 Uhr abends neigt sich die Sonne unter den Ge-
sichtskreis und schon nach 2 Uhr morgens erscheint sie wieder. Völlig dunkel
wird es da nicht. Herrlich ist eine Fahrt durch das Gewirr von Inseln oder Schä-
ren. Eine schmale Bucht führt in die Ostsee hinaus, ein flußartiger Kanal nach
dem inselreichen Mälarsee. An den Ufern wechseln schmucke Landhäuser mit
prächtigen Schlössern, Parke mit Wäldern, nackte Klippen mit fruchtbaren Gestaden.
Wie ganz anders ist ein Winter in Stockholm! Gewöhnlich kehrt er im
Oktober ein und bleibt bis in den April da. Der Mälar gefriert gar bald zu.
Die Schiffahrt stockt. Doch Winter- und Eisfeste läßt sich der Stockholmer nicht
nehmen. Freilich ist eine warme Kleidung und eine warme Stube notwendig.
Heute ist Stockholm die erste Fabrik- und Handelsstadt Schwedens, die
über % Mill. Einwohner zählt, also etwas größer ist als Nürnberg und etwas
kleiner als Düsseldorf.
Nördlich von Stockholm liegt Upsala, das früher die Hauptstadt des
Landes war. Im Gebiet der Dalelf liegen einige Erzorte wie Falún,
G e f l e und Dannemora. Die Hafenstadt Gefle führt viele Erze aus.
G e l l i w a r a ist die nördlichste Erzstadt, Haparanda an der Nordspitze
des Bottnischen Meerbusens ist berühmt durch seine kalten Winter. Mehr Städte
liegen in Südschweden. Der Ausfuhrhafen Malmö liegt Kopenhagen gegen-
über. G 0 t e n b u r g an der Mündung der Götaelf ist Schwedens zweite Han-
dels- und Industriestadt, so groß wie Danzig.
Zu Schweden gehört auch die Insel Gotland mit dem viel besuchten
Seebad W i s b y.
14. Deutschland und Skandinavien.
Durch ihre Lage sind Deutschland und Schweden ganz besonders auf-
einander angewiesen. Um den Verkehr zu heben, hat man eine Dampffähre
errichtet, die von Saßnitz auf Rügen nach Trelleborg in Schweden
fährt. Güter und Personen können nun ohne Zeitverlust und ohne Umladung
die deutschen und schwedischen Bahnen benutzen; nur vier Stunden währt die
Überfahrt. Diese Fähre ist staatlich und verbindet beide Länder aufs innigste.
Wir beziehen aus Schweden namentlich Holz und Eisenerze. Unsere Wälder
sind zwar groß, aber dennoch brauchen wir viel ausländisches Holz für unsere
Bauten, Möbel und Papiermühlen. Wir sind der beste Holzkunde Schwedens.
Die Eisenerze wandern vornehmlich in die rheinisch-westfälischen Hochöfen.
Die Schiffsfracht von Schweden her ist nämlich immer noch billiger als die Bahn-
fracht von Lothringen nach Westfalen. Das klingt unwahrscheinlich, ist aber so.
Meere, schiffbare Flüsse und Kanäle rücken die Länder näher zusammen als
Bahnen. Außerdem beziehen die deutschen Ostseegebiete Pflastersteine und
Preiselbeeren aus Schweden. Wir führen besonders Getreide dahin aus.
Norwegen neigt mehr zu England; aber wir können ihm Holz und
Fische abnehmen und Getreide und Mehl nebst Zucker liefern. Deutsche Geld-
leute haben in Norwegen Eisenerzlager erworben und elektrische Anlagen er-
richtet. In Norwegen haben wir stets mit Englands Wettbewerb zu kämpfen.
138
X. Das Kaiserreich Rußland.
X. Vas Kaiserreich Nußland.
1. Seine Lage in Osteuropa.
Das Kaiserreich Rußland breitet sich im östlichen Europa aus und nimmt
dies ganz ein. Im Norden wird es vom nördlichenEismeer be-
spült. Dies schiebt das W e i ß e M e e r weit nach Süden vor. Im Osten
hängt Rußland mit Asien zusammen. Auf der nördlichen Hälfte bildet
das U r a l g e b i r g e die Grenze. Doch reicht Rußland nach Süden zu
über das hinaus nach Asien hinein. Aus der südlichen Hälfte liegt die Grenze
zwischen dem Uralfluß und der W o l g a. Im Südosten bildet das
große K a s p i s ch e M e e r die Grenze gegen Asien. Im Süden grenzt
Rußland abermals an Asien; hier erhebt sich der hohe Kaukasus als
Grenzmauer. Dann begrenzt das Schwarze Meer Rußland. Das
schiebt das AsowscheMeer weit nach Norden vor; dies ist von der
Halbinsel Krim abgetrennt. Im Westen sind es zuerst drei Staaten, an
welche Rußland grenzt, nämlich an das Königreich Rumänien und an die
Kaiserreiche Österreich-Ungarn und Deutschland. Zwischen diesen Ländern sind
zuweilen Flüsse die Grenze. Zwischen Rumänien und Rußland ist es die D o n a u
mit dem Pruth, zwischen Galizien und Rußland die Weichsel, zwischen
Preußen und Rußland die P r o s n a. Auf der nördlichen Hälfte grenzt Ruß-
land zunächst an die Ostsee und zuletzt an Schweden und Norwegen. Die
Ostsee bildet drei Buchten, den Rigaer, den F i n n i s ch e n und den
Bottnischen Meerbusen. Zwischen Schweden und Rußland bildet der
Tornea die Grenze. So hat Rußland vorwiegend Landgrenzen, aber es
grenzt doch an vier Meere, an das Eismeer, an die Ostsee, das Schwarze
Meer und an das Kaspische Meer.
2. Seine ungeheure Größe.
Rußland nimmt das ganze Osteuropa ein und bildet eine große zusammen-
hängende Ländermasse. Diese hat die Gestalt eines unregelmäßigen Vierecks.
Die langen Seiten liegen im Osten und Westen, die kurzen im Süden und
Norden. Sehen wir uns Rußland auf der Karte von Europa an, dann be-
merken wir sogleich: Rußland ist vielmal größer als Skandinavien, als Deutsch-
land, als Österreich-Ungarn. Rußland ist größer als Österreich-Ungarn, Deutsch-
land, Skandinavien, England und Frankreich zusammen. Es ist gerade zehn-
mal so groß als das Deutsche Reich, denn es umfaßt 5 400000 qkm Es
sind gewaltige Ausdehnungen, mit denen wir bei Rußland zu rechnen haben.
Von der schlesisch-galizischen Grenzecke bis an die Ostspitze der Grenze am
Tobol sind es gerade 3000 km, vom Kaukasus bis an die Nordspitze sind es
gleichfalls 3000 km. Von Odessa bis ans Weiße Meer sind es 2000 km;
2000 km sind es auch von Thorn bis ans Knie zwischen Wolga und Ural.
Von Straßburg bis Danzig oder von Köln bis Königsberg oder Warschau
sind je 1 000 km. Demnach ist Rußlands größte nordsüdliche oder ostwestliche
Ausdehnung dreimal so groß als die Entfernung von Köln bis Königsberg;
die kleine ostwestlicke Ausdehnung ist immer noch das Doppelte von der Ent-
fernung zwischen Straßburg—Danzig. Rußland erstreckt sich weit nach Süden
und weit nach Norden, weit nach Westen und weit nach Osten.^ An der
Westgrenze geht die Sonne 3 Stunden später auf als an der Ostgrenze.
X. Das Kaiserreich Rußland.
139
Wenn es am Ural um 12 ist, dann ist es in Warschau erst um 9. Rußland
liegt da, wo Europa am breitesten und größten ist. So kommt es, daß es
rund zehnmal mehr Raum umfaßt als Deutschland. Doch ist seine Bewohner-
zahl nur rund doppelt so groß, nämlich reichlich 150 Mill. Demnach ist es
fünfmal dünner bevölkert. Wie kommt das?
3. Rußlands Bodengestalt.
Rußland hat nur an seinen Grenzen Gebirge. Der Ural erstreckt sich
von Süden nach Norden und reicht vom Eismeer bis an den Uralfluß. Er
ist langer als das skandinavische Gebirge und beinahe doppelt so lang als die
Alpen. Aber seine Höhe ist nicht bedeutend. Der höchste Gipfel ist nur ein
wenig höher als die Schneekoppe im Riesengebirge. Dennoch finden sich im
nördlichen Ural große Gletscher und Eisfelder, denn er liegt ja hoch im Nor-
den. Dieser wird in der Regel der wüste Ural genannt. Der mittlere Ural
ist am niedrigsten. Er ist reich an Erzen, man findet Eisenerze, Golderze,
Silber- und Kupfererze, Platinerze und Edelsteine. Jekaterinburg ist
der Mittelpunkt dieses erzreichen Gebietes. Der südliche Ural ist breiter und
vor allem durch seinen Waldreichtum ausgezeichnet. Doch tragen auch der
mittlere und selbst der nördliche Ural in seinen niedrigeren Teilen große
Nadelwälder. Reich sind diese ungeheuren Wälder an Wild, an Pelztieren,
an Bären und Wölfen, an Elennen, Zobeln, Mardern usw. Freilich haben
die Ansiedler auch schon weite Flächen gänzlich entwaldet; man heizt die
Fabriken und Hütten fast nur mit Holz.
Der Kaukasus zieht sich in südöstlicher Richtung von der östlichen
Küste des Schwarzen Meeres nach dem Westgestade des Kaspischen Meeres.
Seine Länge ist bedeutend und übertrifft die der Alpen noch. Seine höchsten
Gipfel überragen auch die höchsten Alpenberge, gegen 800 irr noch. Auch der
Kamm des Kaukasus liegt höher als der der Alpen. Nur nicht ganz so breit
ist der Kaukasus als die Alpen. Er fällt nach Norden und Süden steil ab,
am steilsten allerdings nach Süden. Doch erscheint er von Norden her am
gewaltigsten. Hier tritt er dem Wanderer als ein riesiger Wall entgegen.
Reich ist er an Bergen und Gipfeln. Wie die Alpen hat er Gletscher und
Firnfelder. Ihm fehlen aber die Längstäler und die zahlreichen Quertäler
der Alpen, die guten Übergänge und Verkehrswege. Darum ist er ein recht
unzugängliches Gebirge, ein echter und rechter Grenzwall. Ihm fehlen auch
die Seen und Wasserfälle, sowie die lieblichen Matten. Darum ist er lange
nicht so bewohnt wie die Alpen.
Dafür ist er auch reich an Bodenschätzen. Man findet wie im Ural hier
Eisen- und Kupfererze, Silber- und Bleierze. Kohlen gibt es zwar nicht,
aber man findet hier viel Steinöl. Am Ostende des Kaukasus bei Baku
am Kaspigestade tritt das Erdöl in Quellen zu Tage. Dazu hat man viele
Quellen erbohrt, aus denen man Steinöl gewinnt. Solche Bohrbrunnen fin-
den sich bis hin zum Schwarzen Meere. Man hat sogar eine Rohrleitung
hergestellt, durch die das Steinöl bis B a t u m am Schwarzen Meere läuft.
Hier fließt es in besondere Steinölschiffe und wird dann in andere Länder
geschafft. Im übrigen befördern Bahnen das Steinöl nach dem Hafen. Auf
dem Kaspischen Meere heizen die Dampfschiffe ihre Dampfkessel fast nur mit
Erdöl. Mit dem Erdöle strömen brennbare Gase aus den Quellen hervor.
Früher ließ man sie entflammen. Dann brannten sie als heilige Feuer in
140
X. Das Kaiserreich Rußland.
weithin leuchtenden Flammen. Die Leute wallfahrteten von weit und breit
herzu und beteten das heilige Feuer an. Jetzt sammelt man die ausströmen-
den Gase und verwendet sie in Fabriken zu Leucht- und Heizzwecken.
Das innere Rußland ist fast ganz ein gewaltiges Tiefland. Ohne Rand-
höhen tritt es an die Küsten heran. Nur auf der Halbinsel Krim erhebt sich
an der Südküste ein Gebirge. Auf weite Strecken, auf ganze Tagereisen ist
das Land so einförmig daß man fast gar keine Abwechslung wahrnimmt.
Doch fehlen Unterschiede in der Bodenerhebung nicht. Breite, völlig ebene
Medemngen an Flüssen und Seen wechseln mit welligen Flächen und Hügel-
landschaften. Einige Höhenzüge durchziehen das ausgedehnte Tieflandsgebiet.
Vom skandinavischen Gebirge aus zieht sich eine Platte nach Nordwestrußland
durch Lappland und Finnland. In gleicher Weise ziehen sich von den Karpathen
Hügelländer nach Südwestrußland zwischen Dnjepr undDnjestr; von der ober-
schlesischen Platte aus zieht sich eine ziemlich hohe Platte nach Polen hinein.
Im Innern Rußlands erhebt sich die Waldaihöhe. Auf ihr entspringen
mehrere Ströme, wie die Wolga und die D ü n a. Südlich davon zieht
sich ein Höhenzug zwischen dem Dnjepr und dem Don hin; es ist die mittel-
russische Landhöhe. Westlick von der Wolga erhebt sich die Wolgaschwelle.
Vom Ural aus zieht sick ein Landrücken nach Westen; er bildet die Wasser-
scheide zwischen der Dwina und der Wolga.
4. Rußlands Flüsse.
Da Rußland so groß und gewaltig ist, so hat es auch gewaltige Ströme.
Die Wolga ist der größte Strom Rußlands. Sie ist über zweimal so
lang als die Elbe und hat eine Länge von 3700 km. Das Flußgebiet der
Wolga ist dreimal so groß als Deutschland. Sie entspringt auf der Waldai-
höhe und fließt in mehreren großen Bogen nach Südosten und mündet in
das Kaspische Meer. Ihr strömen große Flüsse zu. Früh wird sie schiffbar.
Schon von T w e r an trägt sie größere Fahrzeuge. Bei Nishnij-Nowgorod ist
sie schon 700 bis 800 m breit. Ihre Breite wächst immer mehr. Wo die
Kaum einmündet, ist sie bereits 1500 m breit; an der Mündung ist sie sogar
gegen zwei Stunden breit. Ihr Gefälle ist gering. Ihre Tiefe wechselt sehr.
Neben Stellen, die 15 bis 25 m tief sind, gibt es solche, die kaum 2 m Tiefe
haben. Vor der Mündung bei Astrachan teilt sich die Wolga in viele Arme.
Ihre Wassermasse ist am Ende viermal so groß als die des Rheins. Sie
trägt große Dampfer und Schleppschiffe, sowie große Flöße. Gegen 2000
Dampfschiffe beleben den Strom. Freilich ist sie jährlich ein knappes halbes
Jahr zugefroren. Dazu mündet sie in einen Binnensee. Im Frühjahr über-
schwemmt sie die niedrigen Ufer weithin, besonders das niedrige Wiesenufer
östlich von der Wolgaschwelle. Hier bildet sich dann ein langer See, der 20
bis 40 km (4 bis 8 Stunden) breit ist. Wichtig ist, daß auch ihre Neben-
flüsse sehr groß und weithin schiffbar sind, besonders die Kama und die
Oka. Die Wolga ist mit ihren Nebenflüssen ungemein fischreich; sie ist viel-
leicht der fischreichste Strom der Erde. In ihr leben ungeheure Mengen von
Hechten, Stören, Welsen, Weißfischen usw. Gegen 10 000 Fahrzeuge und
über 50 000 Mann liegen dem Fisckfauge ob. Aus den Eiern des Störs ge-
winnt man den teuern und wohlschmeckenden Kaviar. Aus seiner Schwimm-
blase bereitet man Fischleim (die Hausenblase).
Der Ural ist der Grenzfluß zwischen Europa und Asien. Er mündet
X. Das Kaiserreich Rußland.
141
wie die Wolga in das Kaspische Meer, ist aber viel kleiner. An ihm liegt
die Festung O r e n b u r g.
Der Don gleicht an Länge und Größe dem Uralfluß. Er entspringt
auf einer Höhe südlich von Tula, nähert sich der Wolga sehr, fließt dann
aber bei R o st o w ins Asowsche Meer.
Der D n j e p r entspringt aus einer Höhe westlich von Moskau. Bor
Kiew durchfließt er den östlichen Rand eines weiten Sumpfgebietes. Dann
durchbricht er in einem engen Tale den südrussischen Landrücken. Zahlreiche
Klippen hindem hier die Schiffahrt; doch hat man bereits viele weggesprengt.
Unterhalb der Stadt Cherson mündet der Dnjepr in das Schwarze Meer.
Etwas westlich von der Mündung des Dnjeprs mündet der B u g in das
Schwarze Meer. Der Dnj estr ist ungefähr so lang wie die Elbe und ent-
springt auf den Karpathen. Westlich von Odessa mündet er ins Schwarze
Meer. Der Pruth bildet weithin die Grenze zwischen Rußland und Ru-
münien; er kommt aus den Karpathen und mündet in die Donau.
Die Weichsel fließt nur in ihrem mittleren Laufe durch Polen. Ihre
Quelle liegt auf den Karpathen. Der Oberlauf gehört zu Österreich-Ungarn
und der Unterlauf zu Deutschland. An ihr liegt Warschau, Polens
Hauptstadt und stärkste Festung.
Die Memel oder der Njemen gehört nur mit seinem Ober- und
Mittelläufe zu Rußland. An ihm liegt K o w n o. Weichsel und Memel mün-
den in die Ostsee.
Die Düna entspringt auf der Waldaihöhe und mündet in den Rigaischen
Meerbusen. D ü n a b u r g und Riga liegen an ihr.
Die Newa ist ein Abfluß des großen Ladogasees. An ihr liegt die
Hauptstadt St. Petersburg. Bei der Festung Kronstadt mündet sie
ins Ostende des Finnischen Meerbusens.
Die Dwina entsteht aus zwei großen Quellslüssen und mündet bei
A r ch a n g e l ins Weiße Meer.
Die Bodengestalt Rußlands eignet sich sehr gut für die Anlegung von
Kanälen. Doch hat es im Verhältnis nur wenige. Eine künstliche Wasser-
straße verbindet die Kama mit dem östlichen Quellsluß der Dwina. So kann
man aus dem Weißen Meere zu Schiff in die Wolga und das Kaspische
Meer gelangen. Ein Kanal verbindet den westlichen Quellfluß der Dwina
rnit dem Onegasee. So kann man vom Finnischen Meerbusen aus durch den
Ladoga- und Onegasee fahren und dann entweder auf der Dwina ins Weiße
Meer oder auf der Kama und Wolga in das Kaspische Meer. Demnach hat
Rußland Schiffahrtsverbindungen zwischen der Ostsee und dem Weißen Meere
und dem Kaspischen Meere. Freilich könnte Rußland noch mehr Kanäle
haben.
5. Das große Sumpfgebiet im Nordosten Rußlands.^
Im Nordosten Rußlands breitet sich am Eismeere ein weites Sumpfland
aus. Es wird die Tundra genannt; dies bedeutet eine baumlose Gegend.
Wälder und sogar einzelne Bäume kann es hier nicht geben, es ist erstens zu
kalt und zweitens zu sumpfig. Der Winter dauert hier 8 bis 9 Monate.
Die Kälte ist außerordentlich. Der Boden ist bis tief hinab gefroren. In
dem kurzen Sommer taut nur die oberste Frostschicht auf. Das Regen- und
Tauwasser kann nicht eindringen, bleibt daher oben und bildet' große Sumpf-
slächen.
142 x. Das Kaiserreich Rußland.
Auf den feuchten Stellen wachsen Moose, auf den trockenen aber
Flechten. Dazwischen gibt es Streifen mit Blumen und Gesträuch. Im
Winter bildet das ganze Land eine einzige gleichmäßige Schneefläche. Grau-
sige Schneestürme rasen dann über sie hinweg und" bringen dem einsamen
Wandrer Tod und Verderben. Während der langen Winternacht huschen bei
dem Scheine des Nordlichtes oder des Mondes die Hermeline in langen dichten
Scharen über die weiten Flächen. Marder, Eisfüchse und Schneehasen folgen
ihnen. Renntiere scharren das dürftige Moos unterm Schnee hervor. Wolf
und Vielfraß gehen auf Raub aus. An der Küste sieht man Eisbären jagen.
Naht der Sommer, dann kommen wilde Enten, Gänse und Schwäne in so
dichten Scharen, daß sie wie dunkle Wolken die Sonne verhüllen. Die warmen
Sonnenstrahlen locken Millionen Mücken und Bremsen aus dem Moraste.
Hier oben hausen einige Jäger- und Hirtenvölker. Sie erlegen die Hermeline,
Zobeltiere, Silberfüchse, Marder, Eichhörnchen usw und verkaufen die kost-
baren Pelzwerke an die Händler. Im Sommer stellen sie den Vögeln nach.
Unglaubliche Mengen davon werden erlegt. Ein namhafter Teil geht weit
nach Süden. Schlitten sind die gewöhnlichen Fahrzeuge. Selbst im Sommer
gleitet man auf dem schlüpfrigen Boden mit ihnen dahin. Renntrere oder
Hunde ziehen ihn.
6. Das nordrussische Waldgebiet.
Südlich davon breitet sich das nordrussische Waldgebiet au3; im Westen
reicht es bis ans Weiße Meer; im Süden bis an die Waldaihöhe, sowie an
die ostwärts fließende Wolga und Kama. Es ist ein ungeheures Gebiet, das
mindestens dreimal so groß als das Deutsche Reich ist. Ein großer Teil ist
mit Nadelwäldern bedeckt. Nach Westen zu mischen sich auch Wälder von
Eichen, Linden und Birken ein. Die ausgebreiteten Lindenwälder ernähren
Millionen von Bienen. Hier betreibt man Bienenzucht in größtem Maße.
In großen Bezirken sind über zwei Drittel des Landes mit Wald bedeckt.
Dieses waldreiche Land hat reiche Niederschläge. Groß ist darurn der Reichtum
seiner Quellen. In diesem Gebiete entspringen auch die meisten Flüsse Ruß-
lands (Düna, Dnjepr, Wolga usw.). Es ist die Heimat der wichtigsten Pelz-
tiere; hier hausen Wölfe und Bären, hier grasen Hirsche, Rehe und Elentiere;
hier gehen Füchse, Luchse, Dachse, Zobel, Hermeline auf Raub aus; hier
knacken unzählige Eichhörnchen Eicheln und Bucheckern auf. Das Acker- und
Wiesenland ist gering, steigt aber nach Westen. Hier baut man sehr viel
Flachs und Hanf. Die Dörfer und Städte liegen weit auseinander. Hier
haben der Jäger und der Holzfäller, der Pelz- und Holzhändler, der Holzflößer
und der Flachshändler ihren Haupterwerb. Man schlägt ungeheure Strecken
Holz nieder. Die Regierung sorgt in ihren Wäldern für geregelte Anpflan-
zung; aber in den Bauernwäldern läßt man den Wald von selbst neuwachsen.
Die Wälder haben einen Ungeheuern Wert. Sie halten die kalten Nordstürme
ab und mildern so das Klima. Sie halten aber auch die reichen Nieder-
schläge fest und speisen so die Flüsse jahraus jahrein. Sie bilden riesige Jagd-
gebiete und liefern Fleisch und kostbares Pelzwerk. Sie enthalten ungeheure
Holzvorräte für Heizung und für Nutz- und Bauholz. Wären die Abfuhr-
verhältnisse besser, dann hätte man jedenfalls schon sehr viel Wald gänzlich
niedergeschlagen. Die Wälder düngen mit ihrem Laub und ihren Nadeln den
Boden und verwandeln ihn in fruchtbare Ackererde. Die Acker in diesem
Waldgebiete tragen viel Flachs und Hanf, Kartoffeln, Hafer und Gerste. Am
X. Das Kaiserreich Rußland.
143
Weißen Meere ist A r ch a n g e l der wichtigste Hafen. Aber er ist nur 4 bis
5 Monate eisfrei. In dieser kurzen Zeit herrscht hier das regste Tun und
Treiben. Da wird das auf der Dwina herabgeflößte Holz auf große Schiffe
verladen; da verstaut man Teer- und Pechfässer, Flachs und Leinsamen, Felle
und Tran. Die Schiffe fahren uni das Nordkap hemm. Sie haben zwar
einen weiten Umweg, aber die Schiffsfracht ist immer noch billiger als die
Bahnfracht. Es gibt auch eine Bahn, die von Archangel nach Moskau fährt,
also mitten durch das große nordrussische Waldgebiet.
7. Das feenreiche Finnland nebst Lappland.
Der nordwestliche Teil Rußlands heißt Finnland und Lappland. Beide
Landschaften liegen westwärts vom Weißen Weere. Sie sind durch große
Seen, den O n e g a - und Ladogasee von deni nordrussischen Waldgebiete
getrennt. Diese Seen liegen in einer tiefen Senke Ehemals reichte das
Weiße Meer bis zum Finnischen Meerbusen. Dieses Meer setzte sich dann durch
die schwedische Seensenke nach dem Skagerrak fort. Der Ladoga- und der
Onegasee usw. sind die Reste dieses einstigen Meeres. Es sind gewaltige
Wasserbecken. Der Ladogasee ist beinahe so groß wie Württemberg. Finnland
ist heute noch das Land der tausend Seen. Der neunte Teil des Landes be-
steht aus Seen; dazu kommen noch viel mehr Sümpfe und Moore. Der
dritte Teil besteht aus See, Sumpf und Moor. Das zeigt uns, daß hier ehe-
mals das Wasser die Herrschaft führte, daß wir es hier mit einem einstigen
Meeresboden zu tun haben. Der Boden hat sich gehoben, das Wasser trat
zurück; aber die tiefen Becken blieben Seen, Sümpfe und Moore, genau wie
im südlichen Schweden. Finnland hat felsigen Boden, der das Wasser nicht
durchläßt. Für den Ackerbau eignet sich darum der finnische Boden wenig.
In Finnland gibt es ebenso wenig Acker- und Gartenland wie in Norwegen.
Dafür treibt man mehr Viehzucht wie in Schweden; die Nindviehzucht ist sehr
stark vertreten. Daneben hat Finnland viel Wald. Die wichtigste Stadt ist
Helsingsors am Finnischen Meerbusen, sie ist so groß wie Erfurt und
führt namentlich Holz und Fische und Butter aus und treibt Schiffahrt.
Lappland ist bedeutend kälter und hat darum nur in den Tälern
Wälder. Hier leben Lappen mit ihren Renntieren. Im Innern Lapplands
herrscht außerordentliche Kälte; doch sind die Sommer ziemlich warm.
8. Die Ostseeprovinzen im baltischen Tieslande.
Südlich vom Finnischen Meerbusen breitet sich das baltische Tiefland aus.
Nach Süden zu ist es von einem Landrücken vom eigentlichen Rußland abge-
trennt. Das baltische Tiefland umfaßt die sog. Ostseeprovinzen: Ing er-
ma nland, Esthland, Livland und Kurland; dazu gehört noch
Litauen, das an Ostpreußen grenzt, aber nicht bis an die Ostsee reicht.
Diese Landschaften enthalten gleichfalls Seen und Sümpfe nebst Mooren.
Die N e w a, die D ü n a und die Memel sind die Hauptflüsse. Das balti-
sche Tiefland hat ein milderes Wetter als Lappland oder das nordrussische
Waldgebiet. Freilich bringen die Winter noch sehr strenge Kälte. Aber im
ganzen ist es dem Ackerbau günstig. Die Ostseelandschaften sind Hauptge-
biete des Ackerbaus; hier erbaut man namentlich Roggen, Gerste und Hafer,
ferner Flachs. Das Wetter ist feucht; es tröpfelt nicht nur tagelang, sondern
144
X. Das Kaiserreich Rußland.
oft auch wochenlang. Deshalb gibt es hier so viel Sümpfe und Moräste.
Alle Äcker sind von Gräben durchzogen, um das Wasser abzuleiten; alle Wege
sind erhöhte Dämme. Der Flachs verträgt die meiste Feuchtigkeit. In Liv-
land ist der achte Teil des Ackerbodens mit Flachs bestellt. Das Obst ge-
deiht meist gut. In Esth- und Jngernmnland treibt man mehr Viehzucht, weil hier
der Boden sumpfiger und feuchter ist. Tie Wälder haben eine große Aus-
dehnung. Ungeheure Mengen von Holz flößt man die Düua und die Memel
abwärts. .*
St. Petersburg an der Newa ist die größte Stadt, denn sie zählt
^gegen iy2 Mill. Einwohner. Kronstadt am äußersten Ende des Finni-
schen Meerbusens ist Festung und Kriegshafen. Reval am Südufer des
Finnischen Meerbusens ist eine bedeutende Hafenstadt und gleichfalls ein
Kriegshafen. Dorpat, westlich vom Peipussee, ist namentlich von Deut-
schen bewohnt und hat auch eine deutsche Hochschule. Riga, an der Mün-
dung der Düna in den Rigafchen Meerbusen, ick an Größe Hannover gleich
und eine bedeutende See- und Handelsstadt. Hier landen die gewaltigen
Holzflöße, die die Düna abwärts trägt. Dünaburg ist eine Festung an
der Düna. L i b a u an der Ostsee, nördlich von Memel, ist gleichfalls ein
Kriegs- und Handelshafen. In Litauen liegen Kowno und Wilna.
Kowno liegt an der Memel.
9. Das russische Weichselgebiet oder Russisch-Polen.
Das Kaiserreich Rußland schiebt nach Westen hin zwischen Ost- und West-
preußen und Galizien einen breiten Keil vor. Hier liegt Polen. Polen bildete
ehemals ein selbständiges Königreich. Es ward dann aber unter Rußland,
Österreich und Preußen geteilt. Rußland bekam den Hauptteil, das Gebiet
an der Weichsel oder Russisch-Polen. Die Weichsel durchsließt das Land in
weitem ostwärts gerichtetem Bogen. Ganz im Westen sammelt die Warthe die
polnischen Gewässer und führt sie der Oder zu. Russisch-Polen gehört dem
großen Tieflande an, aber im Südosten steigt das Land bis gegen 600 in
an. Polen hat mit Posen und Oberschlesien ziemlich gleiche Bodenbeschaffen-
heit. Seine Winter sind nur noch etwas strenger. Die Weichselniederung ist
sehr fruchtbar, das Hügelland ist teilweise sandig und trägt große Wälder.
Polen birgt auch Bodenschätze, namentlich das südwestliche, das an das ober-
schlesische Kohlen- und Eisenerzlager angrenzt. Hier fördert man Kohlen,
Eisen- und Zinkerze. Hier ist auch das Webgewerbe emporgeblüht, wie in
Lodz, das an Einwohnerzahl Düsseldorf gleichsteht. Gegen 100 000 Deut-
sche leben in diesem polnischen Manchester. Warschau an der Weichsel,
mit etwa 3/4 Mill. Einwohnern, hat viel Maschinenbau und Handel. Schiff-
bauholz, Getreide und Wolle strömen hier zusammen und gehen auf unzäh-
ligen Kähnen die Weichsel abwärts bis Danzig. Die Hauptbahnen Polens
kreuzen sich in Warschau.
10. Das mittelrussische Ackerbaugebiet.
Südlich stößt an das nordrussische Waldgebiet ein äußerst fruchtbares Ge-
biet, worin man vornehmlich Ackerbau treibt. Es reicht weit nach Süden
hin, aber nicht bis an das Schwarze Meer. Es umfaßt Flächen, die mehr-
fach größer als Deutschland sind. In ihm gibt es auch große Sumpfgebiete,
wie z. B. am P r i p e t, zwischen Polen und dem Dnjepr nördlich von
Wolga.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Kleinrußland.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Tundra.
AlS großes farbiges Anschauungsbtld im Berlage von F. E. Wachsmuih in Leipzig erschienen.
Finnland.
Als großes farbiges Anschaunngsbild im Verlage von F. ©. Wachsmuih in Leipzig erschienen.
X. Das Kaiserreich Rußland.
145
Kiew. Doch hat man hier bereits gewaltige Sumpfstrecken trocken gelegt
und urbar gemacht, die größer sind als eine große preußische Provinz. Da-
neben weist auch dies Gebiet noch zahlreiche stattliche Wälder auf, obwohl sie
leider schon stark gelichtet worden sind. Fährt man z. B. von Warschau
nach Moskau, so kann man stundenlang durch schnurgerade ausgehauene
Lichtungen ohne die allergeringste Abwechslung fahren. Nur in weiten Ab-
ständen berührt die Bahn kleine Haltestellen, an denen große Holzvorräte
zum Versand bereit liegen. Dennoch ist dies Gebiet vor allem dem Ackerbau
günstig. Der Boden ist eine ertragreiche Lehm- und Tonerde; nach Süden
zu nimmt er eine schwarze Farbe an. Der Russe nennt diese Erdschicht
Schwarzerde. Diese ist in alten Zeiten von Winden hierher geweht'
worden; dann sproßten hier Wälder auf. Das verweste und vermoderte
Laub machte die Erde schwarz. Die Wälder verschwanden, aber die schwarze
Modererde blieb. Sie ist äußerst fruchtbar. Sie hatte so viel Düngekraft in
sich, daß die Bauern jahrhundertlang gar nicht zu düngen brauchten. Mit
der Zeit freilich nahm diese natürliche Fruchtbarkeit ab. Doch ist die Schwarz-
erde noch heute sehr fruchtbar; sie ist ja an vielen Stellen viele Meter tief.
Die Schwarzerde findet sich in den Gebieten, die südlich von der Linie
Kiew-Orel-Tula-Nishni-Nowgorod liegen und bis an die
Linie reichen, die die beiden Flußknie vom Don und Dnjepr verbindet. Das
Gebiet ist anderthalbmal so groß wie Deutschland. Schwarzerde gibt es auch
zwischen Dnjepr und Pruth; doch bildet sie hier nicht solch große zusammen-
hängende Gebiete wie zwischen Dnjepr und Wolga. Der Wald umfaßt hier
kaum ein Zehntel des Bodens. Man findet darum hier Lehmhäuser statt
der Holzhäuser des Waldgebietes; ihre Wände sind weißgetüncht. Hier kann
der russische Bauer leicht reiche Ernten haben, wenn es nur im Frühjahr
rechtzeitig und genug regnet. Doch tritt in neuerer Zeit öfter Dürre ein.
Sie hat Mißwachs und Hungersnot zur Folge gerade im gesegnetsten Land-
striche Rußlands.
Die Dürre haben die Russen zum Teil selbst verschuldet; die große Ent-
waldung hat die Dürre vermehrt. Im Winter fällt wenig Schnee. Daher
wintert viel Wintergetreide aus. Im Frühjahr kommen nicht selten Spät-
fröste. Deshalb bauen schon viele Bauern statt des Winterweizens Sommer-
weizen. Roggen ist das Hauptkorn. Außer Getreide baut man Zuckerrüben,
Hanf und Tabak, sowie mancherlei Pflanzen, wie Anis, Sonnenblumen usw.
In einem fruchtbaren Jahre kann der Klee mannshoch und noch länger wer-
den. Viehzucht treibt man weniger, aber um so mehr Geflügelzucht. Aus
diesem Gebiete kommen viel Eier. Das Gebiet der Schwarzerde liefert uns
vor allem Roggen und Eier. Freilich könnten diese gewaltigen Strecken noch
mehr Erträge geben. Aber die Ackerländereien sind meist nicht im persön-
lichen Besitz der einzelnen Bauern, sondern sie sind Eigentum der Gemeinde.
Jedes erwachsene mäimliche Glied der Gemeinde erhält einen Anteil.
Von Zeit zu Zeit muß man das Ackerland neu verteilen, denn die Zahl der
Bewohner vermehrt sich ja. Jeder will möglichst viel aus seinem Anteil
ziehen, aber keiner will etwas hineinwenden. Darum wird der Boden weder
gut gedüngt noch ausgiebig bearbeitet. Dies hat zur Folge, daß die Bauern
lange nicht so wohlhabend sind, wie sie es sein könnten. Kaum ist die Ernte
eingeheimft, so müssen sie auch schon viel Getreide verkaufen, um die Steuern
und Schulden zu bezahlen. Später fehlt es oft an Saat- und Brotgetreide.
^n diesem großen Gebiete findet man auch Kohlen und allerhand Erze.
Ratgeber I. Franke. Erdkunde. Teil 2. -,0
146 x. Das Kaiserreich Rußland.
Hier sind auch große Städte entstanden. Am Dnjepr liegt Kiew; es ist so
groß wie Mmberg. Es ist eine der ältesten Städte Rußlands und war auch
früher eine Zeitlang die Hauptstadt. Kiew gilt den Russen als heilige Stadt
und wird von zahlreichen Wallfahrern besucht. Groß ist die Zahl der Klöster
und Kirchen. Sie ist eine starke Festung. Hier handelt man vor allem mit
Getreide und daneben gibt es zahlreiche Fabriken. Moskau an der
Moskwa zählt über 1 Million Einwohner. Es war früher die Hauptstadt des
russischen Reiches. Nach ihr nannte man die Russen Moskowiter. 32 Kirchen
zieren die Stadt. Die Himmelfahrtskirche ist im Innern fast ganz vergoldet.
Nach der heiligen Stadt Moskau mit ihren 400 Kirchen pilgern ebenfalls
Tausende von Wallfahrern. Hier wurden und werden die Zaren gekrönt.
Moskau liegt ziemlich im Mittelpunkt Rußlands. Hier treffen viele Bahnen
zusammen. Hierher strömen das Getreide der Schwarzerde, das Holz und das
Pelzwerk der Waldgebiete, das Vieh der Weidegebiete, die Metalle des Urals
zusammen. So ist Moskau mit den vergoldeten Kuppeln seiner Kirchen und
Klöster eine reiche Handelsstadt.
Nishni-Nowgorod (= Erfurt) liegt an der Wolga, da, wo die
Oka einmündet. Sie ist die wichtigste Meßstadt Rußlands. Man hat ein be-
sonderes Meßviertel erbaut, das aus 250 steinernen Warenhäusern und 6 500
Warenbuden besteht. In diesen Häusern wohnt niemand. Erst zur Zeit der
Messe beleben sie sich. Dann ziehen Scharen von Händlern ein, dann ver-
doppelt sich die Bewohnerzahl Nishni-Nowgorods. Dann geben sich die Kauf-
leute der Welt hier ein Stelldichein. Wir sehen da die Pelzhändler von Lon-
don, Paris, Leipzig, Berlin, Wien, Breslau; sie kaufen von den Jägervölkern
und Chinesen. Daneben handelt man mit Woll- und Baumwollwaren.
Solche wichtige Handelsstädte sind auch Kasan, Kamara und Saratow
an der Wolga. Im Innern liegen Tula, O r e l und Charkow.
11. Das russische Steppenland.
Südlich von dem Gebiet der Schwarzerde breitet sich eine dürre Land'
schüft aus, die russische Steppe. Die Mederschläge nehmen nach Süden hin
immer mehr ab. Es wird daher immer trockener. Die lockere, feine, an sich
sehr fruchtbare Erde sieht nicht mehr schwarz, sondern braun aus. Der Wald
hört ganz auf, selbst die Bäume werden zur Seltenheit. Das ganze Steppen-
land umsäumt das Schwarze Meer und das Kaspische Meer. Es ist zum
größten Teile eine tafelförmige Ebene. Die Flüsse haben sich in sie tief
eingegraben. Es gibt eine Grassteppe und eine W ü st e n st e p p e.
Die russische Grassteppe findet sich nördlich vom Schwarzen Meere. Da es
keine Wälder und nur am Rande Hügel gibt, schweift der Blick über weite
Flächen hin. Der Winter ist in der Steppe außerordentlich streng, der
Sommer ist unerträglich heiß. Fast aper drei Tage weht ein heftiger Steppen-
sturm. Im Winter kann man es dann im Freien kaum aushalten; leicht er-
friert man Ohren und Nase. Plötzlich naht der Frühling mir seiner lauen
Luft und seinen befruchtenden Regenschauern. Nun sprießt und sproßt es
allerorten, und bald hat sich ein grüner Teppich über die weite Steppe ge-
legt. Da gibt es Gräser aller Art, Tulpen, Hyazinthen, Zwiebeln, Lauch arten,
Schneeglöckchen usw. Hier gibt es ganze Geviertkilometer Zwiebeln, dort
ebenso große Flächen voll lauter Tulpen. Dann kommt wilder Klee, Schaf-
garbe, Hanf, Kümmel, Wicken usw. Die Schafgarbe wird bis 2 m hoch. Die
X. Das Kaiserreich Rußland.
147
Ufer der Flüsse sind mit Schilf bewachsen: es wird 3—4 m hoch und bildet
ganze Büsche. Mit Schilf deckt der Steppenbewohner sein Dach, aus Schilf
flicht er seine Zäune, mit Schilf baut er seine Hütten. Mit Schilf kocht er
seine Speisen. Stark vertreten sind auch die Disteln, die so hoch sprossen, daß
sich ein Kosak auf seinem Pferde hinter ihnen verbergen kann. Weithin
leuchten die hohen Königskerzen mit ihren gelben Blüten. Im Sommer stei-
gert sich die Hitze immer mehr. Die Dürre nimmt überhand. Selten fällt
ein Platzregen. Dafür rast ein Staubsturm über die dürre Steppe und ver-
sengt die schmachtenden Pflanzen. Jetzt liegt die Steppe öde da und bietet
ein Bild des schwarzen Todes. Im Herbste fällt dann wieder Regen.
Die Steppe hat ihre besonderen Tiere. Im Frühjahre wimmeln die
stehenden und fließenden Gewässer von wilden Enten und Gänsen, von
Schwänen und Pelikanen. Störche und Reiher stellen dem Wassergetier
nach. Kraniche und hochbeinige Flamingos sieht man in der Kaspischen
Steppe einherschreiten. Allerhand Raubvögel stellen sich ein, Adler, Geier,
Falken, Sperber usw. Zu ihnen gesellen sich Raubtiere, wie Wölfe, Füchse,
Marder u. a. Hasen und Mäuse bieten ihnen willkommene Beute. In den
Gewässern leben Schildkröten. Die Kaspische Steppe ist reich an großen
Schlangen und Eidechsen. Natürlich fehlt das Heer der lästigen Fliegen,
Mücken und Bremsen nicht. Ein gefährlicher Gast sind die Heuschrecken. Sie
verzehren in kurzer Zeit alles, was die Steppe hervorgebracht hat.
In der Steppe treibt man vor allem Viehzucht. Meistens halten sich
die Pferde, Rinder und Schafe das ganze Jahr hindurch im Freien auf.
Doch werden ihnen die Stürme zuweilen verderblich. Die Pferde leben
nicht selten in Herden von 200 bis 800 Stück; berittene Hirten bewachen sie,
wie in Ungarn. Ackerbau trieb man anfangs fast gar nicht, sondern bloß
Viehzucht. Wie die Schwarzerde die Kornkammer Rußlands bildet, so die
Steppe seine Fleischkammer. Im Dongebiet gibt es mehr Rinder als Be-
wohner; es ist also das viehreichste Gebiet. In neuerer Zeit hat man aber
bereits die besten Striche der Steppe unter den Pflug genommen und urbar
gemacht. Freilich pflügt man nicht tief genug und düngt den Boden gar
nicht. Darum muß man den Acker lange als Brache liegen lassen und als
Weide benutzen. Mit der Zeit wird aber der Ackerbau auch in der Gras-
steppe sich weiter ausdehnen, obwohl ihm oft die Dürre schadet. Hier haben
sich auch deutsche Bauern angesiedelt; sie pflügen den Boden tief und
düngen ihn richtig, deshalb leiden sie auch weniger durch Mißernten. Man
baut vornehmlich Sommerweizen, Gerste und Flachs, sowie Wassermelonen;
diese saftigen Früchte werden bis zu einem Meter lang und bilden ein er-
frischendes, durststillendes Nahrungsmittel.
In den Steppen leben besonders die Kosaken. Sie sind äußerst ge-
wandte Reiter und dienen daher auch als Reiter. Sie streiften ehemals
umher, sind jetzt aber fest angesiedelt und werden so echte Ackerbauern.
Am Kaspischen Meere breitet sich zu beiden Seiten der Wolga die Kaspi-
sche Steppe aus. Ein Teil dieser ausgedehnten Niederung liegt sogar unter
dem Spiegel des Schwarzen Meeres. Ehemals reichte das Meer vom
Schwarzen Meere bis zum Eismeere. Es hat viel Salz abgeschieden; darum
findet man hier mächtige Steinsalzlager. Selbst die Seen sind sehr salzig.
Im Sommer trocknen sie meistenteils aus, dann kann man Salz aus ihnen
herausschaufeln. Die Winter sind äußerst streng, die Hitze im Sommer steigt
bis 40 Grad. Weite Strecken sind nur von umherschweisenden Hirtenvölkern
10*
148
X. Das Kaiserreich Rußland.
bewohnt, wie z. B. von den Kalmücken und Kirgisen. Sie leben
in Zelten und widmen sich der Zucht ihrer Pferde, Kamele usw.
Das Land an der Küste des Schwarzen Meeres ist besser bebaut. Hier
sind auch einige bedeutende Städte aufgeblüht, z. B. Odessa, Cherson
usw. Odessa, fast so groß wie Breslau, ist die wichtigste See- und
Handelsstadt am Schwarzen Meere. Es führt viel Getreide, Häute, Hanf,
Flachs, Talg, Schafe und Holz ans. Die Halbinsel Krim streckt sich weit
ins Meer vor. Ihr nördlicher Teil ist eine dürre Steppe, aber ihr südliches
Gestade ist ein fruchtbarer Garten. An dem Gebirge regnen sich die Wolken
ab, es mangelt daher nicht an Mederschlägen. Die Nordwinde haben keinen
freien Zutritt, das Wetter ist deshalb mild. Hier gedeihen nicht allein die
Obstbäume und die Reben, sondern auch die Zypressen, Mandel- und Myrten-
bäume, Ol- und Orangenbäume. Wichtig ist, daß die Insel auch reiche
Eisenerzlager birgt. An der Südwestküste liegt der Kriegshafen Sewa-
stopol.
12. Rußlands Witterung.
Rußland hat eine große Ausdehnung von Westen nach Osten und von
Süden nach Norden; es reicht vom 45. Breitengrade bis über den 70. hin-
aus. Das sind 25 Breitengrade oder 25 mal 15 = 3750 Kilometer. Sewa-
stopol liegt ebenso südlich wie Triest oder Bordeaux; die nördlichsten Bezirke
liegen jenseit des Polarkreises. Daher muß es in Rußland große Unter-
schiede in der Wärme und Witterung geben. Bei Sewastopol auf der süd-
lichen Küste der Krim beträgt das Jahresmittel 12 Grad Wärme, in den
kältesten Tundren sinkt es bis auf 8 Grad Kälte; das ist ein Unterschied von
20 Grad im Jahresdurchschnitt! Aber Rußland hat überhaupt starke Gegen-
sätze in Wärme und Trockenheit. Es hat Binnenklima mit kalten Wintern
und heißen Sommern. In Moskau z. B. hat der wärmste Monat 19 Grad
Wärme und der kälteste Monat 11 Grad Kälte, das sind 30 Grad Unter-
schied. Bei uns ist der Unterschied zwischen dem wärmsten und kältesten Monat
vielleicht 15—20 Grad. Noch viel größer sind die Schwankungen zwischen
dem wärmsten und kältesten Tage oder zwischen der höchsten und tiessten
Temperatur. Diese steigen bis auf 50—70 Grad und mehr. Moskau hat
dieselbe Januarkälte wie Haparanda, aber dieselbe Juliwärme wie Paris. Die
Winter Petersburgs sind nur wenig kälter als die Astrachans, die Winter Arch-
angels nicht viel kälter als die Orenburgs. Die Meere sind zu weit ent-
fernt, als daß sie das Binnenklima mildern könnten. Wir haben im Winter
vorherrschend westliche Winde, sie bringen Wärme von: Meere und Golfstrom.
Sie sind am wärmsten an den englischen, französischen, holländischen, deut-
schen, dänischen und norwegischen Küsten. Je weiter sie nach Osten gelangen,
desto mehr haben sie ihre Wärme verloren; endlich sind sie bis unter den
Nullpunkt abgekühlt. Je weiter wir nach dem östlichen Rußland kommen,
desto kältere Winter und desto niedrigere Temperaturen gibt es da. Wenn
aber das Quecksilber auf 30 bis 40 Grad fällt und endlich erharrt, dann
heißt es seine Nase und seine Ohren nebst den Füßen und Händen in acht
nehmen. Es gibt tm nordöstlichen Rußland manchen Bezirk, wo es kaum
einen erwachsenen Menschen gibt, der nicht schon seine Nase oder seine Ohren
einmal erfroren hätte. Da reibt man sich die frierenden Glieder mit Schnee;
die Bekannten rufen sich beim Vorübergehen zu: „Väterchen, Eure Nase!"
Da wundern wir uns rächt, wenn man vielfach nicht bloß Doppelfenster hat,
X. Das Kaiserreich Rußland.
149
sondern auch doppelte Türen. Da begreifen wir, daß in Rußland auch der
ärmste Mann seinen Pelz besitzt. Manche Jägerstämme tragen sogar im
heißen Sommer ihren Pelz.
Die Niederschläge hängen auch vom Meere ab. Je näher ein
Land dem Meere liegt, desto mehr Mederschläge erhält es. Frankreich hat
mehr Niederschläge als Deutschland. In Großbritannien und Irland, in
Skandinavien wie auch in Deutschland nehmen die Niederschläge nach Osten
zu ab. So ist es auch in Rußland. Da fallen in östlichen und südöstlichen
Gebieten sehr wenig Niederschläge, am wenigsten in der Kaspischen Steppe,
die deswegen auch so dürr ist. In Nordrußland regnet es im Hochsommer am
meisten, das verdirbt dann zuweilen die Ernte. In Südrußland regnet es
im Vorsommer am häufigsten; das gibt dann eine gute Ernte. Südrußland
hat trotz der strengen Kälte stets nur eine geringe Schneedecke; deswegen
gefriert der Boden tief hinab, und das Wintergetreide wintert leicht aus.
Im Sommer fallen in Südostrußland meistens Platzregen; sie dringen nicht tief
ein ins ausgedörrte Erdreich. Die Hitze, die sogleich darauf folgt, verdunstet
das offene Wasser schnell wieder. Der Baumwuchs kann in der Grassteppe
nicht gedeihen, da es an Bodenfeuchtigkeit fehlt. Das mittlere und nördliche
Rußland bekommt im Winter ungeheure Schneemassen. Da sind halbver-
schneite Dörfer keine Seltenheit. Das Weiße Meer sieht im Winter wie ein
gewaltiges Schneefeld aus rurd hat daher seinen Namen erhalten. Aber selbst
die Küsten des Kaspischen Sees, des Asowschen und Schwarzen Meeres um-
gürten sich mit einem Eispanzer. Wie der Bottnische Meerbusen gefrieren
auch der Finnische und der Rigaer Meerbusen zu, wie die ganze nördliche
Ostsee. Die eisigen Schneesiürme schaden besonders dem Vieh, das ja nicht
in Ställen gehalten wird. Geängstet jagt es von dannen und verendet oft
zu hunderten in einer verschneiten Schlucht oder in einem Gewässer.
13. Die vier Hauptgürtel in Rußlands Pflanzen- und Tierwelt.
Im höchsten Norden finden wir die T u n d r a , ein sumpfiges Gebiet,
das im kurzen Sommer nie ganz auftaut. Hier fehlt jeglicher Baumwuchs,
Flechten und Moose nebst etlichem Gesträuch bilden die Nahrung für Renn-
tiere. Doch leben hier zahlreiche Pelztiere, und im Sommer erscheinen zahl-
reiche Vögel. So ist die Tundra die Heimat von Jäger- und Fischervölkern.
An das Gebiet der nordischen Steppe schließt sich das russische W a ld-
gebiet an. Zunächst gibt es nur Nadelbäume und Birken, weiter nach
Süden tauchen dann auch Eichen, Linden, Ahorn und Ulmen nebst Eschen
auf und bilden sogar große Wälder. Die Buche jedoch verträgt die strengen
Winter Rußlands nicht. Sümpfe, sowie Wiesen und Acker bilden gleichsam
Inseln im großen Waldmeer. Das Waldland ist reich an Wild, an Bären,
Wölfen, Luchsen, Elennen usw. Das Wisent hingegen ist fast ausgerottet und
wird nur noch in einem großen Walde in Litauen (bei Bjelostock) gehegt.
Auf das Waldgebiet folgt das Gebiet der getreidereichen Schwarz-
erde. Hier schrumpfen die Wälder immer mehr zusammen. Im
Steppengebiet fehlt sogar jeglicher Wald. Die Tundren und das Wald-
gebiet liefern vornehmlich Pelzwerk. Das Waldgebiet versorgt Rußland mit
Holz. Das Gebiet der Schwarzerde ist Rußlands Kornkammer und die Steppe
seine Fleischkammer.
150
X. Das Kaiserreich Rußland.
14. Rußlands Land- und Forstwirtschaft.
In Rußland gibt es weit Gebiete, die sich für den Landbau fast gar
nicht eignen, denn sie sind teils Steppen, teils Sümpfe, teils Seen, teils
Tundren. Etwa ein Fünftel der Gesamtfläche ist gänzlich unbebaut. Das ist
ein Gebiet, das so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen ist. Auf
diesem Gebiete wohnen in Deutschland und Frankreich rund 110 Mill. Ein-
wohner. In Rußland können da natürlich nur wenig Menschen ihr Leben
fristen. Beinahe zwei Fünftel des Bodens sind mit W a l d bedeckt. Das ist
ein Gebiet, das doppelt so groß ist als Frankreich und Deutschland zusammen.
Der vierte Teil des Landes dient dem Ackerbau. Das ist ein Gebiet,
das beinahe dreimal so groß wie Deutschland ist. Für Wiesen und Weiden
ist der sechste Teil des Landes Vorbehalten; das ist dasselbe Verhältnis wie
bei uns. Rußland hat demnach im Verhältnis doppelt so viel Unland als
wir, es hat bedeutend mehr Wald als wir, es hat genau so viel Wiesen-
und Weidenland wie wir, aber es hat bedeutend weniger, beinahe nur halb
so viel Ackerland als wir.
Die Landwirtschaft ernährt gegen vier Fünftel aller Bewohner, d. h. von
je fünf Russen sind vier in ihr beschäftigt. Deshalb ist Rußland der wich-
tigste Ackerbaustaat Europas. Am meisten werden Roggen und Weizen an-
gebaut, dann Hafer und Gerste. Kartoffeln baut man im Verhältnis noch
sehr wenig. In Deutschland erbaut man viel mehr Getreide und Kar-
toffeln von einem Hektar als in Rußland. Wir erbauen, an Weizen auf dem
Hektar rund 22 dz, Rußland nur 7, an Roggen 18—19, Rußland 9, an Gerste
22, Rußland 8—9, an Hafer 19—20, Rußland 8—9, an Kartoffeln 150,
Rußland 80.
Wir sehen, daß bei uns int Durchschnitt reichlich die doppelten Ernten
erzielt werden. Dabei ist Deutschlands Boden im ganzen nicht besser; aber
die deutschen Bauern sind rühriger und scheuen weder Arbeit noch Kosten,
den Acker richtig und hinreichend zu düngen. Im Gebiet der Schwarzerde
sind über zwei Drittel alles Bodens dem Ackerbau gewidmet. Es ist darum
Rußlands Kornkammer, wenn nicht Mißwachs eintritt. Im Laufe der Zeit
kann die russische Landwirtschaft noch viel größere Ernten dem Boden ent-
locken. Schon in den letzten Jahren hat man weite Flächen urbar ge-
macht, und man betreibt auch die Landwirtschaft viel vernünftiger als
bisher und erzielt deshalb größere Erträge. Deswegen wird Rußland
seine wachsende Bevölkerung immer reichlicher ernähren und trotzdem noch
Getreide ausführen können Man hat noch den alten Hakenpflug, der
die Erde nur notdürftig oberflächlich ritzt. Gedüngt wird wenig oder
gar nicht. Kunstdünger und künstliche Bewässerung wendet man nicht
an. Ist ein Acker ausgesogen und trägt er nickt mehr, dann läßt man
ihn jahrelang als Brache liegen. Fast ein Drittel alles Ackerlandes liegt stets
brach. Da Rußland so dünn bevölkert ist, erbaut es aber immer noch mehr
Getreide, als es braucht. Darum verkauft es gewaltige Mengen davon ans
Ausland, namentlich an Deutschland. Freilich fehlt ihm in schlechten Jahren
auch Brotgetreide.
Neben dem Getreide baut man viel Flachs und Hanf; Rußland ist
das wichtigste Hanf- und Flachsland, es führt daher große Mengen von
Hanf und Flachs aus. Bedeutend ist auch der Anbau von Zuckerrüben.
Rußland erzeugt jetzt so viel Zucker wie das Deutsche Reich, zuweilen
X. Das Kaiserreich Rußland.
151
sogar mehr. In den günstigeren Bezirken baut man auch Tabak, Mais und
Wein an.
Die Viehzucht Rußlands ist sehr bedeutend, denn die wiesenreichen
Niederungen und die Grassteppen wie auch die feuchten Bezirke in Finnland
und Polen, sowie in den Ostseeprovinzen und Mittelrußland eignen sich be-
sonders für die Viehhaltung. So hat Rußland den größten Viehbestand unter
allen Reichen Europas. Sehr stark ist die Pferdezucht; das russische Pferd
ist zwar klein, aber ausdauernd; in den weiten Gebieten ist der Bewohner
vorwiegend auf das Pferd angewiesen. Gab es ehemals doch wenig Wege,
mußte man sich doch in der Regel dem Rücken eines Pferdes anvertrauen.
In Deutschland gibt es beinahe fünfmal mehr Rindvieh als Pferde, in Ruß-
land kommen 2 Pferde auf 3 Rinder. Rußland hat im Verhältnis zur Be-
wohnerzahl nicht mehr Rinder als wir; dennoch kann es Butter und Fleisch
und Leder entbehren und ausführen. Hieraus sehen wir, daß der Russe nicht
so viel Fleisch und Butter ißt wie der Deutsche; er hat sehr viel Fastentage.
Schweine hat Deutschland sogar doppelt so viel als Rußland. Das hängt
mit dem geringen Anbau der Kartoffeln zusammen. Um so mehr hält Ruß-
land Schafe und Ziegen und Geflügel. Auch die Fischerei und Jagd
liefert vielen Menschen Fleischnahrung. Sind doch die russischen Flüsse noch
ungemein fischreich, denn sie werden nicht durch giftige Abwässer aus
Fabriken verseucht. Die Russen essen sehr viel Fische; sie haben lange Fasten-
zeiten, wo sie nur auf Fischkost angewiesen sind. Man bezieht daher noch
Fische vom Auslande.
Der Wald bedeckt einen Raum, der fast viermal so groß wie Deutschland
ist. Welch ein Riesenwald wäre das, wenn alle Wälder Rußlands einen ein-
zigen zusammenhängenden Wald bildeten! Doch ist der Wald sehr ungleich
verteilt; der hohe Norden und der Süden haben gar keinen Wald; das Gebiet
der Schwarzen Erde ist sehr waldarm; aber im nordrussischen Waldgebiete
steigt der Waldanteil aus zwei Drittel bis vier Fünftel. Die Ausnutzung der
Wälder ist noch recht mangelhaft. Man pflegt sie nicht ordentlich und sorgt
vielfach gar nicht für eine regelrechte Neuanpflanzung. Jeder schlägt im
Gemeindewald so viel Holz, als er braucht. Es wird viel mehr Wald nieder-
geschlagen, als es gut ist. Man verwendet in Rußland viel mehr Holz zum
Heizen als bei uns; viele Gegenden heizen nur mit Holz, selbst die Loko-
motiven verwenden viel Holz. Wenn die Waldverwüstung so weiter geht, dann
wird der russische Waldreichtum stark zurückgehen. Gegenwärtig aber kann
Rußland noch ungeheure Holzmengen ausführen, vor allem das waldreiche
Finnland.
15. Rußlands Bodenschätze.
Die Tiefländer enthalten in der Regel wenig Bodenschätze. Ihr Boden
ist angeschwemmt; das Urgestein aber ist tief hinabgesunken. So ist es auch
in Rußland. Dennoch ist es nicht gänzlich arm an Bodenschätzen. Reich ist
vor allem der mittlere Ural, doch gibt es auch im Innern einige Bezirke, die
Kohlen oder Erze oder Salz enthalten. Steinkohlen finden sich be-
sonders zwischen Don und Dnjepr nicht weit von Rostow und Taganrog,
ferner in Polen, südlich von Moskau und am Ural. Doch ist die Ausbeute
für das gewaltige Reich viel zu klein. Selbst das kleine Belgien fördert mehr
Steinkohlen als das große Rußland. Darum muß es so viel Holz verfeuern
oder Kohlen einsühren. Eisenerze werden meistens in der Nähe der
152
X. Das Kaiserreich Rußland.
Kohlenlager gefunden. Roheisen gewinnt es etwas mehr als Österreich-Un-
garn und etwas weniger als Frankreich. In Kohlenförderung und Roheisen-
gewinnung wird Rußland von Deutschland vielmal übertroffen. Dafür ist
seine Ausbeute an G o l d sehr beträchtlich; der Ural liefert gegen 10 000 kg
Gold im Jahre. Damit übertrifft es selbst Österreich-Ungarns Goldausbeute
um das Dreifache. Das wertvolle Platin wird fast ganz allein im Ural
gefunden. Das ist ein wichtiger Vorzug Rußlands; denn alle andern Länder
müssen das Platin von ihm kaufen. Zink-, Kupfer - und Silber-
erze werden nur in ziemlich geringen Mengen gefunden, Bleierze fast
gar nicht. Aber an Salz fehlt es nicht; es wird teilsaus Bergwerken, teils
aus Solen, teils aus Strandseen und Salzseen in den Steppen gewonnen.
Wichtig ist, daß der Kaukasus reich an S t e i n öl ist. Kein Staat in Europa
gewinnt so viel Steinöl wie Rußland, nämlich über 10 Mill. t im Jahre.
Man verwendet sehr viel ungereinigtes Erdöl als Heizöl; sonst könnte Ruß-
land noch mehr Brennöl ausführen.
16. Rußlands Industrie.
Rußland ist vorwiegend ein landwirtschaftlicher Staat und wird dies auch
immer bleiben. Ihm fehlen ja die reichen Kohlen- und Eisenvorräte. Den-
noch haben einige große Gebiete bereits eine nicht unbedeutende Industrie.
Der Flachs- und Hanfbau rief die Leinweberei ins Leben. Die große Schaf-
zucht gestattet die Wollweberei. Dazu gesellte sich in neuerer Zeit das Baum-
wollgewerbe. So beschäftigt Rußland bereits mehr Spindeln als Frankreich
(9 gegen 7 Mill.). Lodz und Tula, Polen und Mittelrußland, sind
die wichtigsten Webereibezirke.
Neben der Weberei spielt das Eisen- und Metallgewerbe noch eine wich-
tige Rolle z. B. in Warschau, Moskau, Tula usw. Berühmt ist die
Gerberei; sie liefert uns das haltbare Juchtenleder, das mit Birkenteer be-
handelte Leder. Da Rußland viel Talg und Fett erzeugt, ist die Talg-, Lichter-
und Seifenherstellung ziemlich verbreitet. Daneben stellen die Zurichtereien
kostbares Pelzwerk her. Das Holzgewerbe blüht in den waldreichen Land-
schaften. In Seestädten gibt es Schiffsbauanstalten, wie in Odessa, Libau,
Riga, Reval usw»
Die russische Industrie hat allerdings mit mancherlei Schwierigkeiten zu
kämpfen. Es fehlte von jeher an tüchtigen Handwerkem und Unternehmern.
Sie wurden zumeist aus dem Ausland, aus Deutschland, Österreich, Frankreich
usw. herbeigezogen. Aus Deutschland stammen auch zumeist die Leiter, die
Werkmeister, die Vorarbeiter der Fabriken. Darum finden wir in allen großen
Städten Rußlands viele Deutsche, in Lodz z. B. gegen 100 000. Die russi-
schen Arbeiter verlassen im Sommer die Fabrik, um ihre Felder zu bestellen.
Damm stehen im Sommer viele Fabriken still. Nachteilig sind auch die zahl-
reichen Feiertage. Rußland verehrt viele Heilige: es vergeht kaum eine
Woche ohne einen besonderen Feiertag. Das stört und hindert die Arbeit
in den Fabriken. Den russischen Bauer stören sie in seiner Arbeit weniger;
er plagt sich so wie so nicht zu sehr. Die russischen Arbeiter sind noch nicht
recht geschult; sie wechseln zu oft die Arbeit. Sie erhalten zwar sehr wenig
Lohn, leisten dafür auch wenig. Deswegen kann die mssische Industrie noch
keine hochfeine, gediegene Arbeit verrichten. Sie vermag den einheimischen
X. Das Kaiserreich Rußland.
153
Bedarf noch nicht zu decken, weswegen Rußland gewerbliche Erzeugnisse, vor-
nehmlich Maschinen usw., vom Auslande beziehen muß. Aber das wird sich
bald ändern.
17. Rußlands Handel und Verkehrswege.
Rußland hatte ehemals sehr schlechte Verkehrswege. Die großen
Ausdehnungen waren für den Straßenbau nicht förderlich. Von Petersburg
bis Astrachan oder von Lodz bis Kasan oder von Odessa bis Archangel ist fast
genau so weit wie von Petersburg bis Paris. Das sind ungeheure Strecken.
Dazu geht der Weg oft durch recht spärlich bewohnte Gegenden und große
Wälder. Auch die sumpfigen Landschaften hindern die Anlegung von guten
Wegen. Im Gebiet der Schwarzerde und der Steppen fehlt es an Steinen.
Die meisten Wege sind derart, daß sie bei Regenwasser kaum befahren wer-
den können. Viele Brücken sind halb zerfallen. Ein schweres Fuhrwerk be-
nutzt sie lieber nicht. Am leichtesten ist der Verkehr im Winter, wenn der
Schlitten gut geht. In dieser Zeit schafft der Russe gewöhnlich sein Getreide
und sein Holz in die Stadt. Der Staat hat nur etliche große Heeresstraßen
hergestellt. Es fehlt eben an Geld für den Bau guter und zahlreicher
Straßen. Jetzt baut aber Rußland viele Heerstraßen.
Rußland hat auch im Verhältnis wenig Bahnen. Seine Bahnen sind
ungefähr gerade so lang wie die unsrigen; das heißt, im Verhältnis zur
Fläche haben wir zehnmal so viel Bahnen; im Verhältnis zur Bewohnerzahl
haben wir doppelt so viel Bahnen. Mittelpunkt des russischen Bahnnetzes ist
Moskau. Von hier laufen die Hauptlinien strahlenfömrig aus nach Peters-
burg, nach Warschau, nach Orenburg usw. Die russischen Bahnen haben eine
größere Spurweite als unsre. Infolgedessen müssen alle Güterwagen an der
deutsch-russischen Grenze umgeladen werden; das macht viele Arbeit und
Kosten. Nach Österreich und Ungarn fahren unsre Güterwagen, ohne daß sie
umgeladen werden; desgleichen fahren die Güterwagen ohne Umladung aus
Österreich und Ungarn oder Holland nach Deutschland; das alles erleichtert
den Verkehr. Nach Rußland ist wegen der größeren Spurweite der Bahn-
verkehr erschwert. Auch die Reisenden müssen an der Grenze alle umsteigen.
Zwischen Berlin—Wien oder Berlin—Paris kann man aber fahren, ohne daß
man umsieigen muß; das ist bequem. Rußland hat im Verhältnis zu seinem
langen Bahnnetz zu wenig Verkehr; vor allem fehlt es noch an Güterverkehr.
Darum hat es hohe Frachtsätze eingeführt; um so mehr sparen die armen
Russen die Bahnfracht. In Rußland stehen die Bewohner untereinander viel
weniger in Verkehr und Güteraustausch als wir.
Rußland hat ungemein viele Wasserstraßen. Seine Flüsse sind
wasserreich und wegen des geringen Gefälles meist auch gut schiffbar. Viele
können bis nahe an die Quelle befahren werden. Dazu kann man sie bequem
durch Kanäle verbinden. Die Weichsel, die Memel und die Düna stehen
durch Kanäle mit dem Dnjeprgebiet in Verbindung, das Newagebiet ist mit
dem Wolga- und Dwinagebiet verbunden. So stehen die drei Grenzmeere
miteinander in Verbindung. Aber die russische Flußschiffahrt wird durch die
langen und strengen Winter gehindert. Die Flüsse sind mindestens 4 und
manche bis zu 8 oder 9 Monaten zugefroren. Da muß natürlich die Schiff-
fahrt ruhen. Im dürren Sommer ist bei manchen der Wasserstand zu niedrig.
Immerhin ermöglichen die Flüsse eine bequeme und billige Verbindung in
154
X. Das Kaiserreich Rußland.
dem Riesenreiche. Auf der Wolga verkehren allein gegen 40000 Fahrzeuge.
Auf der Wolga befördern die Dampfer viele Personen. Viele Russen
machen eine Fahrt auf der Wolga, anstatt daß sie ins Bad gehen.
Die Seeschiffahrt Rußlands ist nicht bedeutend, obgleich Rußland
an drei Meere und den Kaspisee grenzt. Die größte Handelsflotte hat über-
dies Finnland, nämlich den dritten Teil der ganzen russischen Handelsflotte.
Die drei Meere sind der Schiffahrt nicht besonders günstig. Das Eismeer
hat gar keinen Nutzen und das Weiße Meer nur wenig Nutzen für die See-
schiffahrt; ist es doch gegen 8-9 Monate zugefroren. Der Kaspisee ist ein
Binnenmeer. Ihm fehlt der Zugang ins offene Weltmeer. Die Schiffahrt
auf dem Kaspisee dient nur einem beschränkten Kreise. Notwendig wäre da
vor allem ein großer Kanal nach dem Schwarzen Meere. Dies hat zwar
einen Zugang zum Mittelmeer, aber es liegt doch noch zu weit vom Mittel-
meer und vor allem vom Atlantischen Ozean entfemt. Dazu wird es öfter von
heftigen Stürmen heimgesucht; zudem gibt es wenig gute Häfen an der russi-
schen Küste. Die Ostsee liegt auch zu abseits vom Weltmeer. So grenzt Ruß-
land zwar an Meere, aber diese haben keinen vollen Nutzen für die Schiffahrt.
Dazu sind seine mittleren Gebiete viel zu weit von der Küste entfernt. Die aller-
wenigsten Russen leben au belebten Küsten; die eigentlichen Russen sind Binnen-
länder. Die Finnländer und die übrigen Ostseeländer geben die besten Schiffer
ab. Die russische Handelsflotte ist zu klein; die russischen Güter werden daher
zumeist auf fremden Schiffen befördert. Od essa ist der größte Hafen; Pe-
tersburg und Taganrog haben ziemlich gleichen Seeverkehr; Rigas
Seeverkehr ist etwas geringer.
Der russische Außenhandel ist im Verhältnis gering; er beträgt noch nicht
den dritten Teil vom deutschen. Die Russen leben einfacher als die Deutschen;
sie brauchen nicht soviel fremde Erzeugnisse wie wir. Darum ist die Einfuhr
um eine Milliarde geringer als die Ausfuhr. Die Russen sind noch zu arm,
als daß sie schon viel vom Auslande kaufen könnten. Den größten Waren-
austausch hat Rußland mit Deutschland. Es liefert ihm vor allem Getreide
sowie Holz und Holzmasse, dann Eier und Kleie, Butter und Ölkuchen, Hanf
und Flachs, Pferde und Schweine, Erbsen und Därme, Kaviar und Edel-
metalle (Gold und Platin). Zusammen beziehen wir von Rußland gegen
1500 bis 1600 Mill. Mark; es kommt ganz darauf an, ob es uns wegen
seiner Ernte viel oder wenig Getreide liefern kann. Die Erzeugnisse
des Ackerbaus (Weizen, Roggen, Gerste, Erbsen, Hanf, Flachs) der Viehzucht
(Eier, Butter, Häute, Felle, Därme und der Forstwirtschaft) spielen die
Hauptrolle in seiner Ausfuhr nach Deutschland. Wir liefern ihm bedeutend
weniger, nämlich nur für 500 bis kaum 700 Mill. Mark. Es sind dies
zumeist Waren der Maschinen- und Metallgewerbe und der Weberei, sowie
Farben und Kohlen. Rußland ist für uns nur ein kleiner Abnehmer, aber ein
großer Lieferer; es ist mit unsre Kornkammer (Gerste und Weizen) und unser
Wald. Rußland hat hohe Zölle eingeführt; dadurch wird die Einfuhr auch
sehr erschwert; es will eben das Geld im Lande behalten, da es noch arm ist.
18. Die Völker Rußlands.
In dem weiten Raume von fast 5y2 Mill. Geviertkilometern wohnen über
150 Mill. Menschen. In den Ebenen berühren und vermischen sich die Bewohner
X. Das Kaiserreich Rußland.
155
fortwährend. Daher werden in einem einförmigen Flachlande die Menschen
einander ähnlicher. In den abgeschlossenen Tälem der Gebirge werden die
Menschen sich unähnlicher. Da reden die Bewohner eines jeden Haupttales
anders und tragen sich anders. In Rußland ist das nicht so geworden. Dennoch
gibt es auch hier viele verschiedene Völker und Volksstämme. Mindestens 30
größere Volksstämme leben auf diesem Raume; man kann aber leicht 100 auf-
zählen, wenn man die kleinsten auch mitrechnet. Von Asien her sind im Laufe
der Zeit immer neue Volksstämme eingewandert. Sie kamen meistens durch
das breite Völkertor zwischen dem Uralgebirge und dem Kaspisee gewandert.
Viele von ihnen haben sich nach und nach mit andern vermischt; manche haben
sich so ganz verloren. Ein Stamm hat nun die Oberhand gewonnen und die
Herrschaft über das weite Reich errungen.
Das sind die Russe n. Sie wohnten ursprünglich am Dnjepr und in
den: Gebiete nördlich davon bis zum Ladogasee. Kiew war die Hauptstadt,
die andere war Groß-Nowgorod am Jlmensee. Nach und nach dehnten sie sich
weiter aus. Dann ward Moskau ihre Hauptstadt und blieb es auch lange Zeit.
Die Russen zählen zusammen über 90 Mill. und zerfallen in zwei Haupt-
stämme, in nördliche und südliche. Die nördlichen Russen heißen Groß-
r u s s e n. Sie nehmen das ganze Mittelrußland ein und haben sich nun auch
weithin über den Norden und Osten ausgebreitet. Sie finden sich jetzt überall
im ganzen Reiche, denn sie sind ja der herrschende Stamm, die eigentlichen
Russen. Es gibt ungefähr 60 Mill. Großrussen, also gerade soviel Großrussen
als Deutsche im Deutschen Reiche. Die Großrussen unterscheiden sich unter-
einander fast gar nicht. Sie haben gleiche Körper- und Gesichtsbildung, sprechen
eine und dieselbe Sprache und kleiden sich ganz in gleicher Weise. Wer zum ersten
Male Großrussen aus Petersburg, Moskau und Nowgorod sieht und hört, der
bemerkt kaum einen Unterschied. Die Großrussen sind nicht groß, sondern haben
einen gedrungenen Körper; ihr Gesicht erscheint grob und rot; das Haupt- und
Barthaar ist hell. Die Nase ist stumpf, das Gesicht oft platt. Die Backenknochen
stehen häufig vor. Sie heißen Großrussen, nicht weil sie groß sind, sondern weil
sie dem großen Stamme der nördlichen Russen angehören. Die Großrussen
sind heiter und sorglos und singen daher oft. Ein lustiges Leben gefällt ihnen
mehr als strenge, emsige Arbeit. Dabei fügen sie sich geduldig auch ins größte
Ungemach. Haben sie etwas, dann machen sie Lebeschön; haben sie nichts, dann
darben sie eben. Sparen und zurücklegen für die Zeit der Not, das ist nicht nach
ihrem Sinn. Aber sie hängen an ihrer Familie, sind gegen Arme und Unglück-
liche wohl- und mildtätig; doch können sie auch hart, roh und grausam sein,
namentlich im Zorn und im Streite. Sehr gastfrei sind sie gegen die eigenen
Volksgenossen, wie auch gegen Fremde. Im Kriege geben sie tapfere Soldaten
ab; da scheuen sie im Notfälle weder Entbehrungen noch Anstrengungen. Sonst
huldigen sie gern der Genußsucht, der Habsucht,' der Trunksucht und Unreinlich-
keit. Der Diebstahl ist recht verbreitet unter ihnen. Die Beamten sind sehr
unredlich, sie nehmen mehr, als es sich gebührt, sie lassen sich bestechen, sie be-
drohen sogar, um Geld zu erpressen. Dabei heißt es in aller Gemütsruhe: Der
Himmel ist hoch, und der Zar ist weit; d. h. Der Himmel ist so hoch, daß er unsre
Schandtaten nicht sieht; der Zar ist so weit, daß uns sein rächender und stra-
fender Arm nicht erreicht. Da wir straflos bleiben, können wir es uns erlauben,
unredlich zu sein. Der Staat ist selbst mit schuld, denn er gibt den Beamten
einen viel zu kärglichen Lohn. Die Großrussen betrinken sich von Zeit zu Zeit.
Sie können wochenlang völlig nüchtern sein, dann müssen sie aber trinken und
156
X. Das Kaiserreich Rußland.
trinken, nein saufen, bis sie stockbesoffen daliegen. Haben sie ihren Rausch aus-
geschlafen, dann gucken sie längere Zeit kein Glas an. Die niederen Leute trin-
ken meistens einen schlechten Branntwein. Widerlich ist ihre große Unsauber-
keit. Die niedrigen Wohnungen werden in den langen Wintern kaum einmal
gelüftet. In dieser stickigen Lust vermehrt sich das Ungeziefer schrecklich. Der
Bauer legt sich in der Regel samt seinem Pelz ins Bett. Höchstens Sonntags
kämmt und wäscht er sich. Am Samstag nimmt er ein Dampfbad, doch zieht
er seinen verlausten und verwanzten Pelz wieder an, ohne ihn zu säubern. Nach
dem Dampfbade wälzen sich manche im Schnee oder begießen sich mit eiskaltem
Wasser, um sich abzuhärten.
Die Großrussen sind lebendig und haben eine erstaunliche Zungenfertigkeit.
Sie geben daher gute Redner und Händler ab. Zum Ackerbau haben sie we-
niger Lust. Der ist ihnen zu eintönig, und ihnen gefällt das Herumziehen mehr;
sie verteilen sich daher auch leicht übers ganze Reich. Das Handeln und Feil-
schen, das Markten und Schachern gefällt ihnen, besonders wenn sie den andern
übers Ohr hauen können. Gewerbliche Arbeiten lernen sie rasch, aber mehr
oberflächlich. Peinliche Gewissenhaftigkeit ist ihnen lästig. Die Kost ist meist
recht dürftig. Fleisch gibt es meist nur an Feiertagen. Sonst begnügen sie sich
mit Roggenbrot, Buchweizengrütze und Suppe aus Kohl, Pilzen, saurer Milch
und gefrorenem Fisch. Gegorenes Roggenwasser (Kwaß) ist ihr Volksgetränk;
schmutzige Verkäufer halten es überall in irdenen Töpfen feil. Daneben trinkt
man Tee mit Branntwein. Die Wohnstuben sind rauch- und rußgeschwärzt,
voll Schmutz und Ungeziefer. Außer einem plumpen Tische und etlichen roh
gezimmerten Stühlen gibt es nur selten andere Möbel. Aber ein kleines Glas-
schränkchen enthält ein Heiligenbild, wovor stets ein Licht brennt. Wer eintritt,
der verbeugt sich vor dem Heiligen und schlägt ein Kreuz; unterließe man das,
so wäre das eine Grobheit und Verletzung sondergleichen. Da die Häuser zu-
meist aus Holz gebaut sind, so werden oft ganze Dörfer ein Raub der gefräßigen
Flammen. Man legt sehr breite Straßen an und baut die Gehöfte weit aus-
einander, um die Feuersgefahr zu vermindem. Die meisten Städte haben kein
Pflaster.
In dem Winter häuft sich in den Rinnsteinen ungeheuer viel Unrat an;
wenn er im Frühjahr auftaut, dann gibt es einen fürchterlichen Gestank;
kein Wunder, wenn Rußland öfter von verheerenden Seuchen heimgesucht
wird.
Die südlichen Russen zerfallen in Weiß- und Kleinrussen. Die Weiß-
russen wohnen am oberen Dnjepr bis hin zur Düna und grenzen ziemlich
bis an Deutschland. Sie trugen und tragen gern weiße Filzhüte und helle Klei-
dung, was ihr Name andeutet. Die Weißrussen standen jahrhundertelang unter
polnischer Herrschaft. Sie wurden vom polnischen Adel gehörig geknechtet.
Sie haben zum Teil recht unfruchtbare, feuchte und ungesunde Landstriche
inne und sind arbeitsam und gutmütig. Ihre Dörfer sind sehr klein. Selten
zählt ein Dorf ein Dutzend Häuser, meist nur drei oder vier; häufig liegen die
Bauernhöfe einzeln zwischen Wäldern und Sümpfen.
Die Kleinrussen wohnen südlich von den Weißrussen. Sie heißen
auch Ruthenen und sind schöner, größer und feiner als die Weiß- und Groß-
russen. Dazu sind sie lebhafter mrd tätiger. Ihnen gegenüber sind die Groß-
russen plump und schwerfällig. Die Kleinrussen sind meist Ackerbauer und Hirten;
für Handel und Gewerbe haben sie wenig Sinn. Kiew, Charkow usw. sind
die Hauptstädte von Kleinrußland. Die Ukraine ist ihr Hauptgebiet. Die Klein-
X. Das Kaiserreich Rußland.
157
russen betrachten die Großrussen als ihre Unterdrücker, auch die Polen mögen
sie nicht leiden. Sie möchten gern wieder frei werden.
Die Kosaken sind auch großrussischer Abstammung, sie bestanden ur-
sprünglich aus Flüchtlingen, welche sich in die südrussische Steppe geflüchtet
hatten, um der Bestrafung zu entgehen.
Die Großrussen zahlen etwa 60 Will., die Kleinrussen gegen 24 Mill.,
die Weißrussen bloß 6 Mill. Die Kleinrussen könnten daher auch heute noch
ein eigenes Staatswesen bilden. Klein- und Weißrussen sprechen eine andere
Sprache als die Großrussen; doch sind diese drei Sprachen nahe verwandt.
In Rußland leben weiter Polen. Sie nehmen zumeist das Weichsel-
gebiet ein, doch wohnen sie auch noch in Litauen, am Njemen, in Wolhynien
zwischen Galizien und dem Pripet, in Podolien am Dnjestr, wie in Galizien
und in der deutschen Ostmark. Insgesamt mag es gegen 17 Mill. Polen geben.
Davon leben in Rußland gegen 9 Mill. Die Polen gehören schon den West-
slawen an, während die Groß-, Weiß- und Kleinrussen Ostslawen sind. Die
Polen sind groß und kräftig und ähneln schon mehr den Deutschen, mit denen
sie sich vielfach vermischt haben. Doch sind viele dem Trunk und Spiel sehr
ergeben. Dabei haben sie Hinneigung zu Leichtsinn, Unstetigkeit und Unsauber-
keit wie die Russen. Der polnische Adel liebt das Französische Mehr als das
Deutsche, ja das Deutsche haßt er. Das polnische Volk ward vom Adel in Armut
und Knechtschaft gehalten. Darum bestehen die polnischen Dörfer noch heute
zumeist aus elenden, mit Stroh oder Schilf gedeckten Holzhütten und Lehm-
wänden. Doch nehmen schon viele Polen manches von den umwohnendere
Deutschen an. Dazu arbeiten auch viele Polen und Ruthenen während des
Sommers auf deutschen Gütern und lernen da vieles, was sie dann zu Hause
nachmachen. Sie bringen auch viel Geld mit nach Hause.
Östlich von Ostpreußen wohnen Litauer und Letten. Sie zählen
etwa 3 Mill. und sind den Slawen verwandt; man nennt sie darum auch Letto-
slawen. Sie sitzen zwischen Deutschen und Russen vor allem zwischen Memel
und Dürra.
In Rußland leben auch viele Germanen. Sie zerfallen in Schwe-
den und Deutsche. Die Schweden leben in Finnland; dies gehörte früher
lange zu Schweden. Die Deutschen wohnen zunächst in den Ostseeprovinzen,
vornehmlich in Kurland, Livland und Esthland, weniger in Jngermanland. Deutsche
Kaufleute gründeten Riga; dann kamen deutsche Ritter ins Land und schufen
hier ein deutsches Ordensland. Noch heute sind die meisten Großgrundbesitzer
Deutsches auch die Bürger der meisten Städte bestehen vorwiegend aus Deut-
schen. Die deutsche Sprache wird überall gebraucht. Es gibt deutsche Schulen
und deutsche Kirchen, deutsche Vereine und deutsche Gesellschaften. In Polen
wie auch in Riga, Dorpat, Dünaburg, Libau, Mitau usw. leben sehr viele
Deutsche, namentlich in den Städten (Lodz, Warschau usw.). Deutsche finden
sich auch in vielen andern Städten Rußlands, in Petersburg, Moskau, Odessa
usw. Die russischen Zaren haben auch viele deutsche Bauern aus Württem-
berg, Baden usw. ins Land gerufen und angesiedelt, z. B. von Wolhynien an
bis nach der Wolga bei Saratow und Sarepta. Sie haben große Sumpslän-
dereien trocken gelegt und urbar gemacht, besonders am Pripet; sie haben bei
Odessa, sowie in Bessarabien südlich vom Dnjestr mitten im Steppenlande
vrele blühende Bauerndörfer gegründet. Selbst bis an und in den Kaukasus
sind sie vorgedrungen. Auch bei Petersburg gibt es schmucke deutsche Bauern-
dorfer. Wir finden Deutsche als Offiziere, als Gelehrte, als Arzte, als Apo-
158
X. Das Kaiserreich Rußland.
theker, als Künstler, Erzieher, Handwerker, Meister, Leiter, Vorarbeiter. Vieles
haben die Russen von den Deutschen gelernt und viele Worte der deutschen Sprache
entlehnt; so nennen sie die großen Messen jarmaka, also nach unserm Jahr-
markt; für Wachtmeister sagen sie 'îvaoütmeà Zusammen gibt es gegen 2 Mill.
Deutsche in Rußland.
Im Süden wohnen Rumänen, besonders in Bessarabien. Grie-
chen leben an den Küsten des Schwarzen Meeres.
Die Groß-, Klein- und Weißrussen, die Polen und Li-
tauer, die Germanen und Rumänen nebst den Griechen ge-
hören den A r i e r n an. Zu ihnen gehören die allermeisten Bewohner Ruß-
lands. Daneben gibt es noch etwa 5 Mill. Juden; sie leben namentlich in
Polen und Litauen, sowie in vielen Städten West- und Südrußlands. Es gibt
Städte, wo die Juden in der Mehrzahl sind. Die meisten russischen Juden sind
arme Tagelöhner und Handwerker. Unter den Großrussen können sie als Händler
nicht aufkomm en, aber unter den Polen und den Weiß- und Kleinrnssen haben
sie als Gastwirte und Händler eine einkömmliche Stellung inne. In Warschau
lebt allein eine Viertelmillion Juden. Die Russen haben den Juden mancherlei
Beschränkungen auferlegt; sie dürfen nicht überall sich niederlassen. Vielfach
werden sie von den empörten Bewohnern verfolgt und mißhandelt und aus-
geplündert. Die Juden gehören zu den Semiten und sprechen zumeist auch
deutsch, da Deutsch die Handelssprache in Rußland ist.
Nun leben in Rußland auch allerhand Mongolen. Zu ihnen gehören
zunächst die Finnen in Finnland. Sie reden eine ganz andere Sprache,
sind meist groß, blond, blauäugig und flachshaarig wie die Germanen. Sie
haben sich ja auch zum Teil mit den germanischen Schweden vermischt. Die
finnischen Völker hatten früher den größten Teil des nördlichen Rußlands inne.
Zu ihnen gehören auch die Esth en in Esthland, die L i v e n in Livland. Finnen
wohnen ferner an der mittleren Wolga. Zu den Finnen gehören auch die Lap-
pen, sowie die Jägervölker am Weißen Meer und Eismeer.
Zu den Mongolen gehören ferner die t ü r k i f ch - t a t a r i s ch e n Völker.
Tataren leben besonders an der mittleren und unteren Wolga und in der
Krimhalbinsel. Hier leben sie vielfach neben Finnen, mit denen sie ja verwandt
sind. Zu den türkisch-tatarischen Völkern gehören weiter die Baschkiren
an der Kama, die Kirgisen öülich von der Wolga und die Kalmücken
westlich von der Wolga.
So finden wir eine große Zahl von recht verschiedenen Volksstämmen
und Sprachen in Rußland. Da ist es kein Wunder, wenn sie auch verschiedenen
Glauben haben. Die allermeisten Bewohner sind freilich griechische Ka-
tholiken. Die griechisch-katholische Kirche hat zweierlei Geistliche. Die
Klostergeistlichen haben schwarze Tracht, leben ehelos und erwerben die höchsten
Ämter in der Kirche. Es gibt drei Obererzbischöfe, in Petersburg, Moskau
und Kiew. Die Weltgeistlichen müssen verheiratet sein und haben nur die nie-
deren Stellen inne; diese niederen Priester heißen Popen und sind meist recht
unwissend und wenig geachtet. Die Zahl der Klöster ist sehr groß, besonders
in den Hauptstädten. Man legt viel Gewicht auf äußerliche Handlungen; so
muß man vor dem Heiligenbilde sich verneigend sich bekreuzigen, so muß man
regelmäßig die Messe hören. Brot und Wein werden beim Abendmahl ge-
mischt und dann in einem Löffel gereicht. Die Klöster und Kirchen sind sehr
reich und meist mit Gold reich verziert. Orgeln gibt es in den griechischen Kirchen
nicht, es wird darin nicht gesungen und nur [eiten gepredigt. Wer die Kirche
X. Das Kaiserreich Rußland.
159
besucht, der sagt stehend ein paar Gebete her, bekreuzt sich, küßt die heiligen
Bilder oder Bildsäulen und geht wieder. Zum Abendmahl trägt man sogar die
Kinder hin. In der Kirche schließt man auch die festeste Freundschaft. Die Freunde
stellen sich vor dem Altar auf, ein Mädchen schlingt ein Tuch um sie, und der
Priester segnet ihren Bund. Dann bleiben sie sich treu bis in den Tod.
Neben den griechischen Katholiken gibt es auch römische Katholiken; zu
ihnen gehören besonders die Polen. Evangelisch sind vor allem die Deutschen
in den Ostseeprovinzen, sowie die baltischen Völker. Viele türkische Völker ver-
ehren Mohammed, die Kalmücken aber Buddha. Es gibt sogar noch Heiden
in Rußland.
Die V o l k s b i l d u n g ist recht niedrig. Schulzwang gibt es nicht. Von
je zwei Russen kann in der Regel nur einer schreiben und lesen. Gute Schul-
bildung gibt es in den Ostseeprovinzen und in Finnland; auch in Polen ist es
nicht ganz so schlimm wie im innern Rußland.
19. Der russische Staat.
Lange Zeit war Polen mächtiger als Rußland; ja Rußland stand jahr-
hundertelang unter der Herrschaft von Mongolenfürsten?) Um 1500 ward
Rußland frei. Es umfaßte die Landschaften um Moskau, die Länder an den
Quellgebieten der Flüsse. Seitdem ist es aber ununterbrochen gewachsen. Die
Zaren eroberten einen Landstrich nach dem andern, indem sie dem Laufe der
Flüsse folgten. Anfangs war Rußland ein reiner Binnenstaat. Endlich aber
drang er bis ans Asowsche Meer vor; dieses aber ist sehr seicht und hat außer
Taganrog fast gar keinen Hafen. Dann erweiterte es sich bis ans Schwarze Meer
und an den Kaspisee. Von den Schweden erwarb es die Ostseeprovinzen. Selbst
bis ans Weiße Meer und Eismeer dehnten die Zaren ihr Reick aus, sogar nach
Asien hinein. Rußland war also zuerst ganz vom Meere abgeschlossen, allmäh-
lich aber erwarb es Küstenländer an drei Meeren und dem binnenländischen Kaspi-
see. Dabei hat es die Türken und Mongolen zurückgeworfen. Aber die Russen
haben sich auch zum Teil mit Mongolen vermischt und werden das immer mehr
tun. Rußland dehnt die europäische Kultur und Bildung nach Osten zu aus;
aber seine Völker sind zum großen Teile selber noch sehr wenig gebildet. Na-
mentlich die Deutschen tragen die Bildung weit über Rußland hin. Dennoch
werden das Deutschtum und die deutsche Sprache vielfach bedrückt. Die Groß-
russen wollen ihre großrussische Sprache allen Bewohnern aufdrängen. Es
sollen alle Großrussen werden; das nennt man Allslawentum. Der Zar nennt
sich „Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen".
Rußland hat ein großes Heer, etwa 1 800 000 Mann. Das ist noch einmal
soviel als Deutschland. Es muß aber sein Heer auf eine viel größere Fläche
verteilen. Doch hat es gerade an der Westgrenze große Festungen und zahl-
reiche Kasernen errichtet. Dazu hat es mit Frankreich ein Bündnis geschlossen.
Das ist ein merkwürdiges Verhältnis. Beide haben ein großes Heer, zusammen
ist ihr stehendes Heer dreimal so groß als das deutsche. Frankreich hat auch eine
große Flotte, aber die russische ist noch nicht groß. Frankreich ist reich, Rußland
arm; Frankreich hat daher über 10 Milliarden Mark Geld an Rußland geliehen,
teils an den Staat, teils den Eisenbahnen, teils an Fabriken nsw. Frankreich
ist eine Republik, Rußland hingegen ein Kaiserreich. In Frankreich hat die
Volksvertretung die weitgehendsten Rechte; denn die mächtigste Partei regiert.
0 Siehe meine Neuzeitliche Weltgeschichte der Weltmächte. (Leipzig, Wunderlich).
160
X. Das Kaiserreich Rußland.
In Rirßland regiert zumeist der Zar, die Volksvertretung hat noch nicht viel
zu sagen. In Rußland wächst die Bevölkerung sehr, denn es sterben weit we-
niger Menschen als geboren werden; in Frankreich wächst die Volkszahl nur
winzig oder gar nicht. Frankreich hat bloß eine Hauptstadt, Rußland aber mehrere.
Paris ist seit Jahrhunderten der geistige Mittelpunkt Frankreichs, in Rußland
waren und sind es Kiew und Moskau und Petersburg.
St. Petersburg ist die erste Haupt- und Residenzstadt des Zaren-
reiches. Es zählt über 1% Mill. Einwohner. Es ist eine junge Stadt, denn es
ward erst 1703 von Peter dem Großen gegründet. Dieser Zar wollte an der
Newa und Ostsee eine wichtige Hafenstadt haben. Vor ihm war hier lauter
Sumpf, Heide und Wald: die Gegend ward häufig von der Newa überschwemmt
und war daher recht ungesund. Niemand hätte sich gewagt, hier eine Stadt
anzulegen. Aber der Zar wollte es, und so geschah es. Nun mußten russische
Bauern in der Schürze und im weiten Mantel Erde hintragen. Über 40 000
Menschen mußten graben oder schaufeln, fahren oder tragen. Dann rammte
man riesige Pfähle in den sumpfigen Boden. Hierauf schüttete man Straßen-
dämme auf und pflasterte die Wege. Darnach errichtete man Häuser. Endlich
führte man um die Stadt Wälle und Mauern auf. Immer mehr Leute zogeu
nach Petersburg, denn der Hof ließ sich hier nieder. Rasch wuchs nun die neue
Hailptstadt des Reiches. Um den Verkehr zu fördern, wurden Kanäle gebaut,
damit man von Petersburg in alle Teile des Landes zu Schiffe fahren konnte.
Zur Wolga führen drei Kanäle, außerdem je eiuer zur Düna und zum Dnjepr,
zur Onega und Dwina. So kann man fast überall hin zu Schiff gelangen. Jetzt
strahlen noch Bahnen nach allen Richtungen aus, nach Archangel, nach Moskau
und Samara, nach Dünaburg und Warschau, nach Reval usw. So ist Peters-
burg eine wichtige Handels- und Industriestadt. Hier laden die Schiffe russi-
sches Getreide und andere russische Erzeugnisse ein, hier laden sie deutsche, schwe-
dische, englische, französische Waren aus.
Petersburg ist eine neue Stadt. Der Boden kostete anfangs gar nichts,
er bestand ja aus Unland, aus öden Flächen. Darum hat man die Straßen sehr
breit gemacht, meistens 30 rn. An geräumigen Plätzen ist kein Mangel. Auf
dem Marsfelde können 40 000 Mann üben. Petersburg zählt vorwiegend große
Gebäude, wahre Paläste. Das kaiserliche Schloß, das Kadettenhaus und der
Palast der Admiralität sind zusammen 1700 m lang. Unweit Petersburgs hat
der Zar seine Sommersitze. Nicht weit davon haben die Petersburger Garden
ihr Sommerlager: die Baracken und Zelte reichen für 50 000 Mann.
So heiß es im Sommer hier ist, so kalt wird es im Winter. Zu Anfang
Oktober hüllt man sich in dicke Pelze ein und legt sie erst im Mai wieder ab.
(Stuft die Temperatur bis 25 Grad Kälte, dann hören die Schauburgen auf
zu spielen. Dann zieht aber jeder seinen Pelz über Kopf und Hut und ist bloß
darauf bedacht, nicht Nase und Ohren zu erfrieren. Die Wärmhäuser werden
zahlreich besucht. In den Stuben heizt man die großen Ofen fürchterlich. Die
doppelten, ja drei- und vierfachen Türen werden nur vorsichtig geöffnet; die
Fenster bleiben verschlossen.
20. Was begünstigt die staatliche Einheit Rußlands?
Rußland hat eine gewaltige Größe. Wenn ein Land zu groß ist, dann ent-
stehen leicht mehrere Staaten, wie z. B. in Deutschland, in Skandinavien, im
Donaureiche. Auch in Rußland gab es früher mehrere Staaten, Rußland, Polen
Steppe.
Als großes farbiges Anschauungsbtld im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Konstantinopel.
Als großes farbiges Anfchauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmnth in Leipzig erschienen.
X. Das Kaiserreich Rußland.
161
usw. Trotz seiner gewaltigen Größe ist Rußland zur staatlichen Einheit bestimrnt.
Sie wird durch verschiedene Umstände begünstigt und erleichtert:
1. Durch die einförmige Tieflandsnatur.
Das Tiefland zerfällt in vier Landschaften: Tundren, Waldgürtel, Acker-
land, Steppen.
2. Durch den Mangel an trennenden Scheidewän-
den.
Im Innern des weiten Tieflandes gibt es keine Gebirge, welche die Völker
voneinander scheiden, welche den Verkehr hemmen. So kann sich ein Haupt-
volk nach allen Richtungen hin leicht ausbreiten.
3. Durch die großen Flüsse.
Die Hauptflüsse entspringen im Innern in der Nähe der Waldaihöhe und
fließen von da nach allen Himmelsrichtungen. So konnten die Großrussen von
diesem Quellgebiete aus sich strahlenförmig ausbreiten. Die Flüsse sind weithin
schiffbar und erleichtern so den Verkehr nach allen Seiten hin. Moskau war
somit die natürliche Hauptstadt des Landes.
4. Durch die ziemlich gleichartige Bevölkerung.
Die meisten Bewohner sind Slawen. Zerfallen sie auch in mehrere Volks-
stämme, so sind sie doch einander verwandt. Die Slawen stehen auch den Mon-
golen näher als die Germanen; die Slawen haben sich auch viel mit Finnen
und Mongolen vermischt.
5. Durch die herrschende griechisch-katholische Kirche.
Die meisten Bewohner gehören zur griechisch-katholischen Kirche. Lange
war es Russen verboten, aus ihr auszutreten. Heiratete ein Russe eine Pro-
testantin, so mußte sie übertreten. Dadurch wurden die Bewohner sich ähnlicher.
6. Durch die vorherrschende Beschäftigung mit der
Land- und For st Wirtschaft.
Rußland ist ein Ackerbaustaat, 4/5 aller seiner Bewohner sind mit Land-
und Forstwirtschaft beschäftigt.
7. Durch das Übergewicht der Großrussen.
Die Großrussen sind der zahlreichste, größte slawische Volksstamm; sie sind
fast dreimal größer als die Kleinrussen, etwa zehnmal stärker als die Weißrussen,
ungefähr siebenmal stärker als die Polen usw. So konnten sie sich die andern
Volksstämme unterwerfen.
Die staatliche Einheit Rußlands war notwendig;
denn die einzelnen natürlichen Landschaften hingen voneinander ab:
1. Dem Tundrengebiete fehlen Holz, Getreide, Salz und allerlei Geräte
und Werkzeuge; dafür hat es Überfluß an Fellen und Pelzwerk.
2. Dem Waldgebiete mangeln Getreide, Salz und Maschinen; dafür
hat es Überfluß an Holz und Jagdtieren und Pelzwerk.
3. Dem Ackerbaugebiete fehlen Holz, Pelzwerk und Metalle; dafür hat
es Überfluß an Getreide.
4. Dem Steppengebiete fehlt es an Getreide und Holz; dafür hat es
Überfluß an Vieh.
Die meisten Völkerschaften stehen unter den Russen; dazu sind sie viel
zu klein, als daß sie einen besonderen Staat bilden könnten.
Rußland mußte ein Reich werden, worin der Zar ein Selbstherrscher war.
Die Großrussen sind das herrschende Staatsvolk. Doch ertragen die Finnländer,
die Polen, die Litauer, die Esten, Liven und Kuren und selbst die Weiß- und
Kleinrusfen die großrussische Herrschaft nur widerwillig. Sie werden mit der
Ratgeber I. Franke, Erdkunde, Teil 2. ii
162
XI. Das Königreich Rumänien.
Zeit den Großrussen viel zu schaffen machen. Darum wollen die Großrussen
möglichst viel „Fremdvölker" zu Russen machen, sie verrussen oder russifizieren.
Das gibt aber Anlaß zu heftigem Streit unter den Volks- und Sprachstämmen
Rußlands. Es ist noch lange nicht ein Hirt und eine Herde.
X!. Das Königreich Rumänien.
1. Seine Lage und seine Grenzen.
Das Königreich Rumänien breitet sich an der unteren Donau ans. Die
südlichen und östlichen Karpathen sind seine natürliche Grenze gegen Norden
und Westen. Nach Süden zu bildet die Donau die Grenze und zwar vom Eisernen
Tor bis Silistria, bis dahin, wo sie nach Norden umbiegt. Auf der letzten ost-
wärts gerichteten Strecke bildet die Donau die Nordgrenze. Im Osten begrenzt
das Schwarze Meer das Königreich Rumänien, ferner der Pruth, der letzte Ne-
benfluß der Donau. Eingeschlossen wird Rumänien von vier Staaten, von Ruß-
land und von Österreich-Ungarn im Norden und Westen, von Serbien mcd Bul-
garien im Siiden. Die Natur weist Rumänien mehr nach Osten, nach dem
Schwarzen Meere. Doch ist Rumänien auch nach Norden zu offen; Rußland
hat früher auch nach dem Besitz dieses Landes gestrebt, als es noch türkisch war,
doch konnte es nur Bessarabien bis an den Pruth und die unterste Donau er-
werben.
2. Seine Bodengestatt.
Rumänien ist in der Hauptsache Tiefland; das südliche Tiefland zwischen
der Donau und den südlichen Karpathen heißt die Walachei. Das nördliche
Tiefland zwischen den östlichen Karpathen und dem Prut heißt die Moldau.
Das Tiefland zwischen der Donau und dem Schwarzen Meere wird D o b r u d -
s ch a genannt. So zerfällt Rumänien in drei Landschaften. Hierzu kommen
noch die Abhänge der Karpathen. Die Walachei ist die größte Landschaft;
denn sie umfaßt wenigstens zwei Drittel des Landes. Sie besteht aus einem
Tafelland. Der Boden besteht aus gelblichem Lehm, der einst von den Kar-
pathenslüssen und der Donau abgelagert ward. Die Flüsse haben sich in sie tief
eingegraben. Ihre breiten Täler bilden nicht selten Sümpfe. Das Tal der Donau
ist breit, nämlich 10—24 km breit. Sie fließt aber nicht in der Mitte der Aue,
sondern mehr an deren Südrand. Ihr rechtes Ufer ist hoch und steil; ihr linkes
Ufer meist niedrig. Das linke Ufer ist daher den Überschwemmungen ausge-
setzt. Weite Sümpfe und Seen begleiten auf der rumänischen Seite die Donau.
Sie hat auf der ganzen Strecke vom Eisernen Tore bis zur Mündung kaum
40 m Gefälle. So kommen auf den Kilometer nur 5 cm. Daher fließt die Donau
sehr langsam und bildet öfter Inseln. Wo aber das rumänische Tafelland eine
höhere Zunge nach der Donauaue hinüberstreckt, dort bot sich eine bequeme
Stelle, die Donau von Norden nach Süden zu überschreiten. Hier entstanden
daher auch in der Regel zwei Städte, eine auf dem linken, rumänischen und eine
auf dem rechten, bulgarischen Ufer. Auf ihrer nordwärts gerichteten Strecke
von Silistria bis Galatz bildet die Donau mehrere Arme, viele Inseln und Sümpfe.
Vor der Mündung teilt sie sich abermals in mehrere Hauptarme. Wie die Rhone
schwemmt die Donau viel Schlamm an; man rechnet jährlich 33 Mill. cbm
Sinkstoffe, die sie mit sich führt. Das ist die Ladung von 3300 Frachtschiffen,
XI. Das Königreich Rumänien.
163
wenn jedes 10 000 t lädt, oder von 3 300 000 Bahnwagen, wenn jeder 10 t
lädt. Wollte man diese Mengen auf der Bahn befördern, dann brauchte man
66 000 Züge zu je 50 Wagen. Da läßt es sich denken, daß sich das Delta der
Donau immerfort vergrößert. Da kann man auch ermessen, daß die Flußarme
immer seichter werden. Das niedrige Schwemmland an der Mündung enthält
zahlreiche Sümpfe, Seen, Lachen, Wasseradern, die sämtlich dicht mit Schilf
und Rohr bewachsen sind. Die Gewässer sind reich an Fischen, weshalb sich hier
zahlreiche Wasservögel aller Art aufhalten, wilde Gänse, Schwäne, Enten,
Reiher, Störche, Pelikane, Flamingos usw.
Die Moldau schließt sich an das karpathische Hügelland. Ihre Flüsse
haben gleichfalls tiefe Furchen in das fruchtbare Schwemmland eingegraben.
Sie haben ein starkes Gefälle und eignen sich außer dem Pruth nur zur Flößerei.
Die D o b r u d s ch a ist meist wellig, aber recht regenarm. In der Mitte
ist eine waldreiche Berglandschaft.
3. Die rumänische Landwirtschaft.
Rumänien liegt in derselben Breite wie die Lombardei und die Rhone-
ebene. Die Karpathen halten wohl die West- und Nordwestwinde ab, aber die
Nord- und Nord oft- und Ostwinde haben freien Zutritt. Rumänien ist seiner
Bodengestalt nach die Fortsetzung der südrussischen Steppe, es hat auch ein
Klima, ganz wie Südrußland. Die Sommer sind glühend heiß, die Winter
oft bitter kalt. 30 Grad Kälte sind keine Seltenheit, wenn der eisige Wind aus
den russischen Steppen daherfegt. Die Donau friert alljährlich zu, meist 1—3
Monate. Dabei wird das Eis meterstark. Dafür gibt es einen um so wärmeren
Sommer. Groß ist die Zahl der sonnigen Tage; von je drei Tagen ist nur einer
trüb oder regnerisch, zwei sind heiter. Die Niederschläge sind ungefähr ebenso
groß wie bei uns in Mitteldeutschland. So eignet sich Rumänien gut für die
Landwirtschaft und Viehzucht. Der Boden der Walachei und Moldau ist noch
so fruchtbar, daß man ihn gar nicht zu düngen braucht. Die Hälfte des Landes
wird landwirtschaftlich benutzt. Die Forsten nehmen nur ein Sechstel ein, etwa
ein Viertel ist Unland. Angebaut werden vor allem Mais und Weizen. Dem
Mais ist ein Drittel des Ackerlandes gewidmet. Das Weizenland ist größer als
das Österreichs und fast halb so groß als das Ungarns. Dabei zählt Rumänien
bloß 140 000 qkm Fläche. Sein Weizenland ist fast so groß als das deutsche.
Dazu tragen die rumänischen Felder ausgezeichnet, wenn die Witterung nicht
ungünstig ist. Da ist es kein Wunder, wenn Rumänien sein Getreide nicht selbst
verzehren kann und steigende Mengen davon ausführt. Freilich könnte die
rumänische Landwirtschaft noch weit mehr Erträge erzielen. Aber die rumä-
nischen Bauern seufzten lange wie die russischen unter der Knechtschaft des Adels.
Die Leibeigenschaft ist zwar vor 50 Jahren aufgehoben worden, aber so rasch
konnte sich der gedrückte Bauernstand nicht erheben. Ihm fehlte es ja an Geld,
neue, bessere Ackergeräte anzuschaffen. Dazu gibt es zahllose Feiertage und
aller zwei Tage einen Fasttag. Maisbrei ist die Hauptspeise. Die Regierung
hat aber viel getan; sie hat neues Ackerland geschaffen; dies hat sich in dem
letzten Vierteljahrhundert verdoppelt. Es wird sich noch weiter vermehren,
denn ein namhafter Teil des Unlandes und der Weiden ist noch anbaufähig.
Die Regierung hat bessere Ackergeräte eingeführt und Mustergüter angelegt.
Die rumänischen Bauern arbeiten jetzt bereits viel emsiger und vernünftiger
als früher. Sie werden Rumänien immer mehr zu einer Kornkammer Europas
11*
164
XI. Das Königreich Rumänien.
machen. In der Dobrudscha gibt es auch 5000 deutsche Bauern, deren trefflich
bestellte Felder und schöne Häuser den Urbewohnern zum Muster dienen.
Die Hügellandschaften liefern guten Wein und vor allem gute Pflaumen
in großen Mengen. Aus den Pflaumen keltert der Rumäne sogar einen Schnaps.
Die Viehzucht hat in Rumänien von jeher einen wichtigen Erwerbszweig
gebildet: gleichen doch manche Landstriche den Steppen Rußlands. Man züchtet
Pferde, Rinder, Schafe und Schweine. Groß ist die Zahl der Schafe; Rumänien
hat mehr als doppelt soviel Schafe als Österreich, obwohl es nicht halb so groß
als dieses ist. Es hat eben noch sehr viel Weideland.
4. Rumäniens Gewerbe und^ Handel.
Die Abhänge der Karpathen bergen mancherlei Erze, vor allem aber Salz
und Steinöl. Rumäniens Ausbeute an Erdöl übertrifft sogar die galizische;
sie kommt also gleich nach der russischen. Die Industrie liegt zumeist noch in den
Händen der Fremden. Es gibt Reinigungsanstalten für Erdöl, Mühlen, Säge-
werke, Brennereien. Die Bauern stellen ihre Geräte meist selber her. Der Bahn-
ban wird durch die Bodengeftalt erleichtert. Eine Bahn zieht sich von Orsowa
über Bukarest usw. um die Karpathen herum und geht dann nach der Bukowina.
Andere Bahnen kreuzen sie und führen teils nach Bulgarien, teils nach Kon-
stanza am Schwarzen Meere. Handwerk und Handel sind fast ganz in den
Händen der Juden. Das ist natürlich kein Vorteil fürs Land.
Rrrmänien führt vornehmlich Getreide und Mehl aus, sowie Holz und
Steinöl nebst Pflaumen und Nüssen. Eingeführt werden hauptsächlich gewerb-
liche Erzeugnisse. Deutschland bezieht erhebliche Mengen von rumä-
nischem Weizen, Mais und anderem Getreide, desgleichen Nüsse. Diese Waren
gehen zumeist zu Schiff durch das Schwarze Meer, das Mittelmeer, den At-
lantischen Ozean, das Armelmeer und die Nordsee und damach den Rhein
und die Elbe aufwärts. Sie gelangen zu Schiff bis Mannheim und Straßburg.
So machen sie zwar einen gewaltigen Umweg, aber die Seefracht ist trotzdem
billiger als die Bahnfracht. Die Donauschiffahrt kommt hierfür nur wenig in
Betracht. Bloß Benzin und Naphtha gehen in besonderen Tankschiffen die
Donau aufwärts. Wir können Rumänien viel weniger liefem. Die Kohlen
kommen aus England zu Schiffe an. In Rumänien arbeitet viel deutsches Kapital,
Deutsche besitzen Anteile an den Steinölwerken, Banken und Bahnen; dazu
leben viele Deutsche in Rumänien.
B u k a r e st ist die Hauptstadt des Landes (rund 300 000 Einwohner,
also wie Hannover). G a l a tz und B r a i l a sind wichtige Donauhäfen. Jassy
ist die Hauptstadt der Moldau (etwa so groß wie Görlitz).
Die Rumänen haben in alten Zeiten die römische Sprache angenommen;
darum nennen die Slawen sie Walachen oder Welsche. Sie sind aber stark mit
Slawen und Mongolen vermischt. Es gibt eigentlich nur einen Adel und einen
Bauemstand. Der Bürgerstand fehlt noch. Darum konnten auch die Juden
Handel und Handwerk an sich reißen. Der Adel lebt üppig, die Bauern zum
Teil noch recht ärmlich. Ihre elenden Lehm- und Holzhütten liegen zum Teil
unter der Erde, damit sie im Winter nicht zu sehr unter der Kälte und im Sommer
unter der Hitze zu leiden haben. Doch ist Rnniänien unter seinem hohenzollem-
fchen Königshause im Fortschritte begriffen.
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
165
XII. vie Staaten auk dem valkan.
I.Die Lage und die Grenzen der Balkanhalbinsel.
Im Südosten streckt Europa eine große Halbinsel weit nach Süden vor.
Man nennt sie die Balkanhalbinsel, nach dem Gebirge Balkan. Sie hat die Ge-
stalt eines Dreiecks, das seine Grundseite im Norden und seine Spitze im Süden
hat. Die Balkanhalbinsel reicht im Norden bis an die Donau und Sau und
wird also von Österreich-Ungarn und Rumänien begrenzt. Im Osten grenzt
sie zunächst an das Schwarze'Meer. Die enge Meeresstraße des B o s p o r u s,
sowie das M a r m a r a - Meer, die lange Dardanellen st raße und
das Ag äi s ch e Meer trennen sie von Asien (von Kleinasien). Im Süden be-
spülen die Wogen des Mittelmeeres die Halbinsel. Im Westen bespülen sie
zwei Meere, nämlich das Jonische und das Adriatische Meer. Beide
trennen den Balkan von Italien und sind durch die Straße von O t r a n t o
miteinander verbunden.
Im Süden bildet die Balkanhalbinsel wieder eine kleinere Halbinsel; denn
das Meer schneidet da im Westen und Osten tief ein und läßt nur eine schmale
Landzunge bestehen, die Landenge von Korinth. Die kleine süd-
liche Halbinsel heißt Morea, d. h. Meerland, denn sie ist ja fast völlig vom Meer
umschlungen.
Das Agäische Meer zwischen Griechenland und Kleinasien ist reich mit
kleineren und größeren Inseln wie besät; es heißt darum auch das Jnselmeer
oder Archipel. Im Jonischen Meere liegen die jonischen Inseln. Die Ost-
seite ist stark zerklüftet und bildet viele Landzungen oder kleinere Halbinseln;
auch Morea streckt im Süden drei Landzungen wie ausgespreizte Finger weit
nach Süden vor. Die große Insel K r e t a im Süden schließt die Inselkette ab;
sie ist gleichsam der am weitesten nach Süden vorgeschobene Posten, der äußerste
Rest eines im Meere versunkenen Landes.
2. Die Bodengeftalt des Balkans.
Die Balkanhalbinsel ist fast durchweg gebirgig; denn das Tiefland nimmt
kaum ein Zehntel des ganzen Raumes ein. Das größte Tiefland findet sich
am Südufer der D o n a u und an der M a r i tz a. Sonst gibt es nur noch einige
schmale Küstensäume, z. B. bei Saloniki und am Südrande des Adria-
tischen Meeres (in Albanien). Der Balkan zieht sich von West nach Ost und
nimmt den nordöstlichen Teil der Halbinsel ein. Er kann als eine Fortsetzung
der Karpathen angesehen werden. Er ist lang und schmal wie sie. Nach Süden
fällt er steil in die Ebene der Maritza ab, nach Norden dacht er sich allmählich
zur Donau ab; aber das bulgarische Donauufer ist steil und erhebt sich rasch
bis auf 100—200 m. Seine höchsten Gipfel sind bedeutend höher als die Schnee-
koppe im Riesengebirge und kommen den höchsten Bergen in den Südkarpathen
fast gleich, denn sie steigen bis beinahe 2400 m empor. Wichtig ist, daß er keine
tiefen Einschnitte und Pässe besitzt; die Pässe und Übergänge liegen deshalb
hoch. Gegen 30 fahrbare Pässe führen über ihn. So war es den Bulgaren mög-
lich, sich zu beiden Seiten des Balkans anzusiedeln und einen gemeinsamen
Staat zu gründen. An seinen Nordabhängen trägt er große Wälder von Eichen,
Buchen und Fichten; dazwischen liegen ausgedehnte Weideflächen. Der wärmere
Südabhang hingegen hat Walnußhaine; hier gedeihen außer Weizen und Mais
166
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
besonders Wein, Obst und Tabak. Ganze Acker sind mit Rosen angepflanzt,
aus denen man das kostbare Rosenöl gewinnt. Die ganze Talaue der Maritza
ist ebenfalls sehr fruchtbar und trägt sogar schon Reis. Der Balkan hält die kalten
Nordwinde ab. Darum ist der südliche Abhang bedeutend milder als der nördliche.
Südlich von der Maritza zieht sich ebenfalls von West nach Ost ein Gebirge
hin, es iü das R h o d o p e g e b i r g e, d. h. Rosengebirge; denn es trägt
auf seinen Abhängen gleichfalls zahllose Rosenfelder.
Durch den ganzen Westen erstreckt sich ein langer Gebirgszug, von der Sau
bis auf die Landzungen Moreas; das sind gegen 1100 1cm, also noch etwas mehr
als die Länge der Alpen. Es zerfällt natürlich in mehrere einzelne Gebirge.
Im Norden bilden die D i n a r i s ch e n A l p e n die Fortsetzung des Karst-
gebirges. Daran schließt sich nach Osten hin das bosnische und serbische Berg-
land. Weiter nach Süden erhebt sich das P i n d u s gebirge. In dieser langen
Gebirgskette gibt es einzelne Gebirgsknoten, wie z. B. in der Mitte den Schar-
d a g h. Obwohl dieser westliche Gebirgszug länger ist als die Alpen, erreichen
seine höchsten Gipfel doch nicht die Höhe der höchsten Alpenberge. Am höchsten
steigt der O l y m p in Thessalien auf; er erreicht die Höhe der Zugspitze (3000 m);
die übrigen höchsten Gipfel sind 2400—2900 m hoch.
3. Das Königreich Bulgarien.
Im Nordosten der Balkanhalbinsel breitet sich das Königreich Bulgarien aus.
Es umfaßt jetzt etwa 130 000 qkm und zählt ungefähr soviel Einwohner wie
Sachsen, nämlich rund 5 Mill. Seine Volksdichte ist demnach ziemlich
gering. In der Mitte erhebt sich ja der hohe Balkan, der nur schwach
besiedelt ist. Dazu ist kaum der dritte Teil des Landes dem Ackerbau dienstbar
gemacht, fast ebenso viel wie es Wald gibt. Die Tief- und Hügelländer nördlich
und südlich vom Balkan sind am fruchtbarsten. Die Landwirtschaft baut besonders
Mais und Weizen an, Kartoffeln hingegen fast gar nicht. Es führt darum auch
viel Getreide, besonders Mais und Weizen, aus. Daneben baut es viel Obst
und Rosen, Tabak und Anis, Wein und Nüsse. Es erzeugt sogar Reis und Baum-
wolle und Seide. Die Viehzucht ist stark, vor allem die Schafzucht und Rinder-
zucht. Freilich sind viele bulgarische Bauern noch ebenso rüchtändig wie manche
rumänische. Da kann man noch Bauernhäuser sehen, die elende Hütten und Erd-
höhlen sind. Wie die rumänischen und russischen Bauern stellen sie fast alle ihre
Geräte noch selber her. Doch macht die Landwirtschaft in Bulgarien wie in
Rumänien ersichtlich Fortschritte. Beide Länder werden in kurzer Zeit wichtige
Korn- und Obstkammern werden. Die Bulgaren sind rührig und nüchtern.
Sie liefern auch schon recht hübsche Leder- und Webwaren, vor allem kunst-
volle Teppiche. Dazu sind sie recht lernbegierig.
Für den Handel liegt Bulgarien günstig. Im Norden bildet die Donau
einen vorzüglichen Schiffahrtsweg. Eine Hauptbahn durchquert das Land;
es ist die Orientbahn, welche von Paris kommt und über Straßburg, Stuttgart,
Wien, Pest und Belgrad nach Sofia und Philippopel und von da nach Adria-
nopel und Konstantinopel führt. Im Osten grenzt Bulgarien ans Schwarze
Meer und besitzt da einige Hafenstädte. Doch möchte Bulgarien sein Gebiet
gern bis an das nördliche Ägäische Meer ausdehnen, also auch das Mündungs-
land der Maritza erwerben. Dann würde es den ganzen Ostbalkan besitzen und
auf zwei Seiten vom Meere umspült sein. Im Handel hat England den Vor-
rang. Wir beziehen vor allem Rosenöl und Eier von Bulgarien.
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
167
Die Hauptstadt ist S o f i a, im Westen des Landes im Tale eines Flusses
<Jsker) gelegen. Sofia ist etwa so groß wie Görlitz und liegt an der wichtigen
Orientbahn. Dazu führt eine Bahn am Jsker nach Norden bis zur Festung
P l e w n a. Von da an zieht sich diese Bahn am Fuße des Balkans nach der
Hafenstadt Warna. Von Warna geht auch eine Bahn nach der Donauhafen-
stadt Rust s ch u k. An der Maritza liegt Philippopel. Sein Gebiet
reicht jetzt bis ans Ägäische Meer.
Die Bewohner Bulgariens sind zu drei Vierteln Bulgaren. Sie sind
zwar mongolischer, nämlich finnischer Abstammung, haben sich aber früh mit
Slawen vermischt und deren Sprache und Eigenart angenommen. Darum rechnet
man sie zn den Slawen. Sie sind fleißig und rührig und werden daher sich sicher-
lich noch weiter gut entfalten, nachdem sie ihre volle staatliche Freiheit und einen
großen Gebietszuwachs erlangt haben. Außer den Bulgaren leben noch Türken
hier; sie wandern aber vielfach aus. Wie die Rumänen sind die Bulgaren
griechisch-katholisch.
4. Das Königreich Serbien.
Westlich von Bulgarien liegt ebenfalls ein slawisches Königreich, nämlich
Serbien. Es grenzt im Norden an die Donau oder an Ungarn und Rumänien,
im Osten an Bulgarien, in: Westen an Bosnien nebst der Herzegowina, also
an Gebiete Österreich-Ungarns, ferner an Montenegro und Albanien, im
Süden an Griechenland. Es hat eigentlich gar keine natürlichen Grenzen
und ist gleich der Schweiz vom Meere völlig abgeschlossen. Nur die Donau
eröffnet ihm den Zugang nach dem Schwarzen Meere. Darum war es für
Serbien ein außerordentlicher Gewinn, als das Eiserne Tor schiffbar gemacht
ward. Sonst hätte es nur Flußschiffahrt mit Ungarn gehabt. Die Westgrenze
bildet die Drin a, ein Nebenfluß der Sau. Die Mitte Serbiens durchfließt
die Morawa. Sie entsteht aus zwei Quellflüssen, welche die serbische und
bulgarische Morawa heißen. Die Ebenen der Morawa und der Donau sind
auch am fruchtbarsten.
Serbien hat verhältnismäßig viel guten Boden; nicht allein die Fluß-
täler, sondern auch die Hügelländer sind gut angebaut. Doch dient nur der vierte
Teil dem Ackerbau, fast ebenso viel ist Waldland. Serbien hat günstige Witte-
rung und genügende Niederschläge. Doch sind die serbischen Bauern noch recht
rückständig. Sie bauen den festen Boden, bis er erschöpft ist, ohne jemals an
Düngung zu denken. Sie lassen sich von Zigeunern Pflüge Herstellen, wie sie
vor Jahrtausenden üblich waren; diese unzweckmäßigen Pflüge gehen nicht tief,
wenden die Ackerschollen nicht richtig um und brauchen viel Vorspann. Nach
wie vor lassen sie ihr Getreide von Pferden austreten oder vom Dreschschlitten
ausdreschen. Eine Reinigungsmaschine kennen sie ebensowenig wie eine Dresch-
masckine oder eine Säe- und Mähemaschine. Vorwiegend baut man Mais,
der in Serbien das eigentliche Brotgetreide bildet; von den übrigen Getreide-
arten werden Weizen, Gerste und Hafer bevorzugt; Roggen und Kartoffeln
werden nur in geringem Maße angebaut. Dafür baut man Hanf, Flachs und
Tabak an. Vom Obst züchtet man vor allem Pflaumen; es gibt ganze Wälder
von Pflaumenbäumen, doch müßte man bessere, feinere Sorten anbauen.
Serbien kann wie Rumänien und Bulgarien ein wichtiges Getreide- und Obst-
land werden und selbst Wein erbauen.
Die Viehzucht hat bei den Serben immer in Ansehen gestanden.
Am meisten wird Schafzucht getrieben, da es noch viele Weiden gibt. Die Schweine-
168
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
zucht ist gleichfalls groß, in den großen Buchen- und Eichenwäldern finden die
Schweine ihre Nahrung. Darum braucht man wenig Kartoffeln. Leider hat
man diese Wälder schon stark verwüstet, so daß die Schweinezucht zurückgeht.
Immerhin führt Serbien zu allermeist Schweine aus.
An Bodenschätzen fehlt es Serbien nicht, wohl aber an Geld und
Geschick, sie auszubeuten. Darum ist auch das Gewerbe noch sehr unentwickelt.
Handel und Verkehr stehen weit zurück hinter denen Bulgariens und Rumäniens.
Die serbischen Waren gehen meistens nach Österreich-Ungarn und Deutschland.
Serbien ist dichter bevölkert als Bulgarien, denn es zählt auf seinen 80000qkm
ziemlich 4 Mill. Einwohner. Aber die Serben sind nicht so rührig wie die Bul-
garen. Doch kann das im Laufe der Zeit besser werden, denn mitten durch Ser-
bien führt die Orientbahn und die Bahn nach Saloniki. Die Serben sind
Slawen und gehören der griechisch-katholischen Kirche an. B e l g r a d an der
Donau, unterhalb der Saumündung, ist stark befestigt und etwa so groß wie
Görlitz oder Sofia. An der Orientbahn liegt noch die Festung N i s ch.
Die Serben hatten früher ein großes Reich und sind noch heute auf dem
Balkan weit verbreitet, unter anderm auch in Bosnien, der Herzegowina, in
Slawonien und Ungarn. Gern hätten sie einen Zugang zum Meere, doch hat
ihnen Österreich-Ungarn den 1908 abgeschnitten, indem es sich die Herzego-
wina nebst Bosnien einverleibte. Damals hätte Serbien gern einen Krieg an-
gezettelt, aber Rußland fürchtete sich am Ende selbst davor, und so mußte
schließlich auch Serbien nachgeben und verzichten. Aber 1912 begann es im
Bunde mit Montenegro, Bulgarien und Griechenland den Krieg gegen die
Türkei und entriß ihr große Gebiete.
5. Das Königreich Montenegro.
Das Königreich Montenegro ist der kleinste Balkanstaat; denn es zählt
auf 16 000 qkm nur y2 Mill. Einwohner, ist also kaum so groß wie Köln. Monte-
negro heißt das Land der schwarzen Berge; es ist durchweg gebirgig und viel-
fach recht unzugänglich. Eisig fegt der kalte Nordwind über die kahlen Hoch-
flächen. Nur die Täler sind ertragreich, und an der kurzen Küste am Adriatischen
Meere gedeihen Wein, Apfelsinen und sogar Oliven und Datteln. Montenegro
ist halb so groß wie Schleswig-Holstein, es erzeugt aber nicht einmal soviel Ge-
treide wie für Kiel und muß noch Getreide einführen. Die Bewohner treiben
zumeist Schaf- und Ziegenzucht und sind darum ziemlich arm. Viele müssen
als Arbeiter, als bewaffnete Diener (Kawassen) ihr Brot verdienen. Dennoch
sind die Montenegriner kräftige Gestalten mit eisenfestem Körper und mit einem
Auge, in welchem wilde Hartnäckigkeit funkelt. Sie tragen eine bunte, male-
rische Volkstracht und stets Waffen bei sich, nämlich ein langes, krummes Messer,
zwei reich ausgelegte Pistolen und eine lange, schön gearbeitete Flinte nebst
andern kleinen Waffen. Sie haben sich ihre alte Tapferkeit bewahrt, und die
Türken vermochten sie nicht zu besiege?:, zumal ihr Ländchen eine einzige, säst
uneinnehmbare Gebirgsfestung ist. Gern machen die Montenegriner räuberische
Streifzüge in die Herzegowina. Sie sind Serben. C e t i n j e, die Haupt-
stadt, ist ein kleines Landstädtchen mit 4000 Einwohnern.
6. Das Königreich Albanien.
Das Königreich Albanien, etwa doppelt so groß als Montenegro, liegt am
Adriatischen Meere und reicht von Montenegro bis über die Straße von
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
169
Otranto hinaus. Das Land besteht zumeist aus öden Kalkbergen. Die
Küste aber ist flach und sumpfig und haucht im Sommer Fieberdünste
aus So ist Albanien eine schwer zugängliche Landschaft. Die Be-
wohner treiben zumeist Schaf- und Ziegenzucht. Sie hängen zäh an der Blut-
rache. Skutari am Skutarisee und Durazzo am Adriatischen Meere
sind die wichtigsten Städte. Durazzo ist die Hauptstadt. Albanien ist der
jüngste Balkanstaat. Der Fürst von Wied ist sein König. Griechenland,
Montenegro und Serbien möchten gern albanische Gebiete an sich reißen
7. Das Königreich Griechenland.
a) Seine Lage und Größe. Im Süden der Balkanhalbinsel
liegt das Königreich Griechenland. Es grenzt im Norden an Albanien und Serbien
und reicht auf der Ostseite bis über Saloniki, im Nordwesten grenzt es an
Albanien. Im Osten wird es vom Agäischen, im Westen vom Jonischen und im
Süden vom Mittelmeere bespült. So ist es von drei Seiten vom Meere um-
schlungen. Dies dringt sogar vielfach tief ins Land ein, so z. B. der Meer-
busen von Korinth 200 km. So ist die griechische Küste ungemein ge-
gliedert. Griechenland ragt am weitesten nach Süden und ist der südöstlichste
Staat Europas. Es umfaßt die vorgelagerten Inseln mit, auch die große Insel
Kreta. Es zählt rund 120 000 qkm, ist also größer als Serbien, aber kleiner
als Bulgarien. Es zählt nach den neuen Gebietserwerbungen gegen 5—6 Mill.
Einwohner, also nicht ganz soviel wie das Königreich Bayem. Stellenweise
ist es ziemlich dünn bevölkert.
d) Seine Bodengestalt. Griechenland ist durchweg gebirgig.
An der östlichen Nordgrenze erhebt sich der Olymp bis zu 3000 m. Im Nord-
westen zieht sich das P i n d u s g e b i r g e hin und sendet verschiedene Aus-
läufer nach Süd osten. Selbst die kleine Halbinsel Morea hat Berge, die bis
2400 m emporragen. Die Randgebirge fallen steil zum Meere ab und lassen
nur kleinen Küstenebenen Raum; auf der Ostseite gibt es noch die meisten
niedrigen Hügelländer. Die Gebirge bestehen vorwiegend aus Kalk und halten
sich daher recht trocken.
c) Sein Klima. Griechenland ist bedeutend wärmer als die nörd-
lichen Balkanstaaten. Die östliche Halbinsel Attika mit A t h e n ist am heiße-
sten. Hier beträgt 5—6 Monate lang die Durchschnittswärme wenigstens 20 Grad.
Athen hat die größte Zahl heiterer Tage; nur einen Monat lang ist es bewölkt,
sonst strahlt und lacht ein ewig blauer Himmel über der Stadt und Attika. Das
Jahresmittel ist doppelt so hoch als in Deutschland. Aber es schneit und friert
auch im Winter; freilich leckt die Sonne in den Ebenen schnell den Schnee
wieder weg. Die hohen Berge hingegen glänzen lange im Schneemantel, der
Olymp den größten Teil des Jahres. Die Menge der Mederschläge ist unge-
fähr so groß wie bei uns. Aber sie fallen hauptsächlich im Winter; im Sommer
herrscht 4—5 Monate hindurch Dürre. Darum erscheint Griechenland als ein
regenarmes Land, zumal der Kalkboden die Platzregen rasch aufsaugt. Im Som-
mer erscheint Griechenland dürr wie eine Steppe. Da sind Gräser und Kräuter
verdorrt, da ist das Getreide abgeerntet; nackt liegt der Felsboden des Gebirges
und gelblich braun der Lehmboden der Ebene da unter der flimmernden und
sengenden Sonnenglut. Wüstenhaft, steppenhaft erscheint das griechische Land.
Erst der Herbst bringt Regenfälle und neues Leben. Jur Frühjahr aber er-
götzt sich das Auge an wogenden Weizenfeldern.
170
XII. Die Sraaten auf dem Balkan.
Wie kommt es, daß Griechenland einen feuchten Winter und einen dürren
Sommer hat? Das liegt an den herrschenden Winden. Im Sommer wehen
ständig Winde, die aus Norden oder Nordwesten oder Nordosten kommen.
Sie stammen aus kälteren Gegenden und wehen nach wärmeren Strichen;
infolgedessen verfliichtigt sich der Wassergehalt der Luft immer mehr, und sie
kommen als völlig trockene Winde in Griechenland an. Nur auf den hohen
Bergen geben sie Feuchtigkeit ab, weil sie sich dort oben stark abkühlen. Je
weiter sie nach Süden kommen, desto trockener sind sie. In Südgriechenland
dauert diese trockene Zeit wenigstens 4—5 Monate. Im Winter wechseln die
Luftströmungen, und da wehen auch Seewinde, welche Niederschläge bringen.
Freilich regnet es nie lange, und aus einen heftigen Guß folgt rasch wieder
Heller Sonnenschein.
d) Seine Landwirtschaft. Griechenland hat eine mannig-
faltige Pflanzenwelt, da ja die Wärmeunterschiede zwischen dem Tiefland und
dem Gebirgsland sehr groß sind. In Griechenland liegt mehr als der dritte
Teil des Landes völlig unbebaut da. Deshalb ist seine Volksdichte auch so
gering.
Dem Landbau ist nur ein Fünftel gewidmet. In den niedrigeren Land-
strichen Thessaliens, Attikas usw. baut man viel Weizen und Gerste.
Mais wird in bewässerten Strichen angebaut. Die besten Ländereien hat
man aber dem Weinbau Vorbehalten. Infolge der großen Sommerwärme
erhält man prächtige Trauben. Leider keltert man den Wein nicht sorgfältig
und reinlich genug. Aus der Ostseite gibt es viel Olivenhaine. Die Oliven
sind frisch und eingemacht ein beliebtes und wichtiges Nahrungsmittel. Ihr
ausgepreßtes Ol dient als Speisefett. Die Griechen bereiten das Olivenöl
aber gleichfalls nicht sorgfältig zu; daher ist das griechische Ol nicht so gut wie
das französische und italienische. Wichtig sind die K o r i n t h e n. Es sind
kleine, kernlose Beeren, welche in frischem Zustande ungenießbar sind. Man
trocknet sie an der Sonne und bringt sie dann in den Handel. Vor allem die
Nord- und Westseite Moreas sowie die jonischen Inseln beschäftigen sich mit
dem Korinthenbau. Hier ist fast alles bebaute Land den Korinthen gewidmet.
Die Korinthen haben ihren Namen von der Stadt Korinth erhalten, von wo
sie zumeist in den Handel gebracht werden. Sie gehen zum größten Teil nach
England, wo man sie in die Puddinge mischt; auch Frankreich bezieht viele,
um Wein daraus zu bereiten. Wir kaufen auch stets griechische Korinthen. Der
Tabak gedeiht in Griechenland gleichfalls gut; man baut sogar Feigen und Baum-
wolle und treibt die Zucht der Seidenraupe. Die Inseln pflegen vor allem den
Weinbau. Hier behandelt man den Wein auch sorgfältig, und so stammen fast
alle griechischen Weine, wie der Samos usw., von den griechischen Inseln.
Den Wald hat man früher rücksichtslos verwüstet; nur y10 des Landes
trägt Wald. Das ist ein großer Nachteil; denn ein reicher Waldbestand würde
die Trockenheit mildem. Die Viehzucht erstreckt sich besonders auf Schafe
und Ziegen. Man treibt die Ziegen in die Buschwälder, wo sie die grünen
Sprossen abweiden. Aus diesem Grunde kann in Griechenland der Wald nicht
gedeihen. Die Schafe ziehen in großen Wanderherden durch das Land. Pferde
und Rinder gibt es wenig, da es an Futter für sie fehlt. Die Fischerei
wird recht lässig betrieben, obgleich die Gewässer fischreich sind. Die Italiener
und Kreter widmen sich der Fischerei in den griechischen Gewässem. Dafür
gehen die griechischen Fischer der Schwammfischerei an der afrikanischen Küste
nach. So könnte auch Griechenlands Landbau besser dastehen, wenn die grie-
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
171
chischen Landleute ihn sorgfältiger betrieben. Vor allem müßten sie auf reichen
Waldbestand halten und viel für genügende Bewässerung tun.
e) Sein Handel und Gewerbe. Griechenland hat bedeutende
Bodenschätze. Die Blei- und Eisenerze gehen zumeist nach Belgien. Reich ist
es an gutem Marmor. Daher haben seine Bildhauer früher viel schöne Denk-
mäler geschaffen. Wertvoll ist der Schmirgel, der zum Schleifen feiner Schneide-
werkzeuge dient. Steinkohlen fehlen. Darum gibt es kein Großgewerbe, son-
dern nur ein Haus- und Kleingewerbe. Dagegen leistet Griechenland in S ch i f f -
fahrt und Handel Bedeutendes. Die reiche Küstengliederung weist
die Griechen aufs Meer. Schon früh bildeten sie sich zu einem wichtigen see-
fahrenden Volke aus, das namentlich die Küsten des östlichen Mittelmeeres
sowie die des Schwarzen Meeres besuchte. Noch heute sind die Griechen die
besten Seefahrer des Balkans. Daneben widmen sich die Griechen vorwiegend
dem Handel; wir finden darum in allen Hafenstädten des Balkans und Klein-
asiens griechische Kaufleute; sie beherrschen den ganzen Handel im östlichen
Mittelmeergebiete. Dadurch verdienen sie ein hübsches Stück Geld. Das können
sie auch gut gebrauchen, da sie ja Getreide und gewerbliche Erzeugnisse einführen
müssen. Der Landverkehr ist mangelhaft, denn Fahrstraßen und Bahnen gibt
es wenig; vielfach müssen Pferde und Maulesel Menschen und Waren auf schma-
len Saumpfaden befördern. Das griechische Bahnnetz hat außer Saloniki keinen
Anschluß an das europäische gefunden. Es ist also ganz abgeschnitten. So ist
Griechenland ganz auf die See angewiesen, es braucht die See, um leben zu
können. Es führt vor allem Korinthen, Olivenöl, Tabak, Eisen- und Bleierze
nebst Wein, Feigen und Seide aus. Dafür tauscht es Getreide und Gewerbe-
erzeugnisse ein.
f) D i e Griechen sind Nachkommen der alten Griechen und gehören
der griechisch-katholischen Kirche an. Die Griechen haben sich aber seit der Völker-
wanderung mit allerhand Slawen und Albanern vermischt. Man nennt die
heutigen Griechen darum Neugriechen. Sie sind eitel und prahlerisch, lügen
und betrügen gern und scheuen sich vielfach vor ernster, zäher Arbeit. So eignen
sie sich recht gut zum Handeln und Feilschen im Morgenlande. Dabei sind sie aber
mäßig und genügsam und hängen sehr an ihrer Familie und ihrem Vaterlande.
g) Athen ist die Hauptstadt Griechenlands und zählt wie Altona oder
Elberfeld rund 170 000 Einwohner. Athen liegt auf der kleinen Halbinsel Attika,
die sich weit nach Südosten ins Agäische Meer vorstreckt. Es liegt nicht ganz
am Meere, doch hat es nur knapp zwei Stunden entfernt einen Vorhafen, näm-
lich Piräus. Eine Bahn vermittelt den Verkehr zwischen der Hafenstadt
und Hauptstadt. Athen war früher eine berühmte Stadt, geschmückt mit schönen
Bauwerken. Auf einem Berge erhob sich die Burg. Eine große und breite,
aus weißem Marmor hergestellte Treppe führte hinauf. Oben gelangte man
zuerst an die säulenreiche Eingangshalle. Dann schritt man zu einem herrlichen
Tempel, der ganz aus prachtvollem weißem Marmor erbaut war. Im Innern
stand ein Standbild der Athene, der Schutzgöttin Athens. Es war aus Gold
und Elfenbein geformt und maß 11 m. Welche Pracht und Herrlichkeit herrschte
hier damals, vor 2400 Jahren! Damals war Athen, war Griechenland der
glänzende Mittelpunkt des geistigen Lebens Europa und Asiens. Dann aber
sank Athen in Trümmer. Nur Trümmer haben sich erhalten von der einstigen
Herrlichkeit. Furchtbar hat Athen unter der Türkenherrschaft gelitten. Da war
es nur noch ein elendes Dorf. Erst seitdem vor 80 Jahren Griechenland ein freier
Staat ward, ist Athen als dessen Hauptstadt wieder emporgeblüht. Die neueren
172
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
Stadtteile sind schön erbaut. Die alten Gassen aber sind krumm und winklig
und eng. Fast überall sieht man nur elende Hütten und Baracken, dürftig zu-
sammengesetzt ans vier übertünchten, mit einem leichten Ziegeldach überdeckten
Mauern. Einige Öffnungen dienen als Fenster, andere als Essen oder Türen.
Groß ist die Zahl der Kaffeehäuser; denn der Grieche genießt gern Kaffee mit
einigen Süßigkeiten. Kleine Jungen sind bereit, gegen klingende Münzen unsre
Schuhe und Kleider von dem Staube zu reinigen. Herrscht dock bei
dem trockenen Wetter ein ungeheurer Staub! Im letzten Türkenkriege hat
Griechenland weite Gebiete erworben, so E p i r u s und Mazedonien.
Mazedonien, am nördlichen Ägäischen Meere, besteht aus einem Berg-
lande nebst einigen kleineren Tiefländern an der Küste. Die Ebene im
Mündungsgebiete des Wardars, westlich von Saloniki, war ehemals fruchtbar
und die Heimat vieler Städte, jetzt ist sie größtenteils Sumpf oder Steppe.
Im ganzen ist Mazedonien weit zugänglicher und fruchtbarer als Albanien.
Das Innere hat zwar strenge Winter, aber warme Sommer mit genügenden
Mederschlägen. Man erbaut viel Tabak, sodann Obst und Wein und Flachs.
Es wird selbst Olivenöl und Baumwolle gewonnen. Die einstigen stattlichen
Wälder hat man verwüstet. An der Küste gedeihen immergrüne Gewächse
und sogar die Baumwolle. Saloniki, meist von Juden bewohnt, ist
ein wichtiger Hafenplatz. Bon hier führt eine Straße und eine Bahn nach
Serbien und Belgrad; sie benutzen den Wardar und die Morawa.
8. Die europäische Türkei.
a) Ihre Lage und Größe. Die Türken hatten ehemals die
ganze Balkanhalbinsel erobert und sogar noch alle Küstenländer des
Schwarzen Meeres und Teile von Ungarn. Nach und nach hat man
die meisten Länder den Türken wieder abgenommen, dazu sind einzelne
freie Staaten geworden, wie Rumänien, Serbien, Bulgarien, Griechen-
land, Albanien und Montenegro. Daher ist die europäische Türkei heute ein
sehr kleiner Balkanstaat; sie hat etwa 20 000 qkm und ist also halb so groß wie
Schlesien, aber sie zählt etwa 2 y2 Millionen Einwohner. Sie grenzt im
Süden an das Ägäische Meer und das Marmarameer, und im Osten an das
Schwarze Meer, im Norden an Bulgarien. Die Türkei hat die Gestalt eines
nicht zu großen Dreiecks. Sie nimmt den östlichsten Teil der Balkanhalbinsel
ein. Thrazien besteht aus einem Berglande; hier erhebt sich das
Rhodopegebirge. Im Unterlaufe der M a r i tz a breitet sich ein Tiefland
aus, das sich vom Ägäischen Meer bis ans Marmarameer zieht.
d) Ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Boden der
Türkei ist zwar teilweise recht gebirgig und darum wenig für den
Ackerbau geeignet; dennoch gibt es genug fruchtbare Strecken. Leider
benutzt man nur einen geringen Teil davon zum Ackerbau. Dazu läßt
man jeden Acker ein Jahr lang brach liegen und benutzt ihn da als Viehweide.
Immerhin erbaut man viel Mais und Weizen und kann davon sogar beträchtlicbe
Mengen aus führen.
Die Viehzucht wird nur lässig betrieben; Ställe sind fast gar nicht be-
kannt. Man beschränkt sich hauptsächlich auf die Schaf- und Ziegenzucht. Die
grobwolligen Schafe werden gemolken, weil man ihre Milch genießt; sie sind die
wichtigsten Schlachttiere. Rinder und Büffel benutzt man als Zugtiere. Erz-
lager sind zwar vorhanden, werden aber nicht ausgebeutet; es fehlen bequeme
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
173
Verkehrswege. Eisenbahnen gibt es nur wenig. Das Postwesen ist mangel-
haft. Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und Rußland besitzen in den
größeren Städten eigene Postämter.
Der Handel ist noch unentwickelt. Man führt vorzüglich Getreide, Roh-
seide, Weintrauben, Wolle, Teppiche und Opium aus. Das Opium ist ein
Betäubungsmittel, es wird aus dem Mohn gewonnen. Es versetzt den Men-
schen in einen Rausch; er träumt das süßeste Zeug, und ein seltenes Wohl-
gefühl durchströmt ihn. Freilich erschlafft und schwächt es auch die Nerven
und macht so den Menschen mit der Zeit ganz krank.
So ist auch die Türkei ein wirtschaftlich rückständiges Land. Mit der
Zeit aber wird es sich schon heben.
o) Konst antin op el ist die Hauptstadt der Türkei. Hier hat der
Sultan seinen Palast. Konstantinopel liegt am Bosporus. Das ist eine
der schönsten Meeresstraßen. Er ist gegen 30 km lang und 600 m bis 3000 m
breit. Sieht man ihn, so glaubt man einen breiten Strom vor sich zu haben.
Die Ufer sind meist steil, lassen aber noch Raum zu Ansiedlungen. Das
europäische User ist auch dickt besiedelt. Konstantinopel liegt da, wo sich der
Bosporus erweitert und allmählich ins Marmarameer übergeht. Die Stadt
bietet vom Meere aus einen herrlichen Anblick. Auf einer Landzunge erhebt
sich das Schloß des Sultans, das Serail. Dahinter breitet sich ein gewaltiges
Häusermeer aus, 15—20 km weit zieht es sich auf Hügeln hin. Hat doch
Konst antin opel rund eine Million Einwohner. Über die Häuser ragen prächtige
Kuppeln und schlanke Türme hervor. Es sind die türkischen Gotteshäuser, die
Moscheen. Diese ungemein schlanken Türme stehen neben den stattlichen
Kuppelbauten. Auf der vergoldeten Spitze jedes Turmes glänzt ein Halbmond,
das heilige Zeichen der Türken. Fünfmal täglick wird von diesen Türmen
(Minaretts) zum Gebet aufgerufen. Die beriihmteste Moschee ist die
Sophienmoschee; sie war ursprünglich eine griechisch-katholische Kirche
und trug daher das vergoldete Doppelkreuz. Zu ihrem Ausbau hat mau auch
prachtvolle Säulen alter heidnischer Tempel verwendet. Als die Türken 1453
Konstantinopel eroberten, da rissen sie das Kreuz weg und pflanzten den
Halbmond aus.
Eigenartig ist das Geschäftsleben in Konstantinopel. Da gibt es Ba-
sa r e. Jeder Basar ist eigentlich ein Viertel für sich, worin sich Laden an
Laden reiht. Hier bietet man Perlen, Edelsteine und köstliche Schmucksachen,
dort feine türkische Schale und Teppiche, dort aber reizende türkische Pan-
toffeln aus. In diesem Laden gibt es Rosenöl, in jenem Rosenkränze aus
Bernstein zum Beten. Dort aber sind blanke Waffen in größter Auswahl.
Ernst hocken die Türken mit ihren langen Bärten mit untergeschlagenen
Beinen da und warten der Käufer.
Das Straßenleben Konstantinopels ist seltsam genug. Da sitzen
Jungen mit untergeschlagenen Beinen in einem Straßenwiukel und lesen laut
im Koran, in der türkischen Bibel. In ihrer Mitte sitzt ein alter bärtiger
Türke in langem, grauem Barte. Er raucht seine Pfeife, hört aber aufmerksam
zu; wenn einer falsch liest, dann schwingt er sein Pfeifenrohr auf den Falsch-
leser. Dann sehen wir eine Barbierstube, sie ist nack der Straßenseite offen.
An der Straßenecke sitzt ein Schreiber. Er schreibt für andere die Briefe und
macht wohl auch ein Gedicht. Dann hören wir das Schreien der Aus-
rufer; sie bieten Kuchen, Nüsse, Feigen, Datteln usw. an. Jeder möchte den
andern überbrüllen. Jetzt nahen sich Lastträger, um unser Gepäck, Kisten auf
174
XII. Die Staaten auf dem Balkan.
ihrem Rücken durch die schmutzigen, meist ungepflasterteu Straßen zu tragen.
Türkische Mönche, Derwische, lassen ihre langen Kaftane im Winde flattern.
Ein hoher Hut ans weißem Filz macht sie weithin kenntlich. Jetzt kommen zwei
türkische Frauen. Sie sind so in Gewänder gehüllt, daß man nicht viel mehr
sieht als ihre Augen und ihre Nase. Neben ihnen schreitet eine schwarze
Sklavin, ihre Dienerin. Arme Frauen müssen freilich allein gehen. Wir kommen
nun in die engen Viertel. Da sind lauter krumme, finstere, enge Wege:
Fußsteige sucht man vergebens; alle Straßen sind schmutzig und voll Übeln
Geruchs, denn die Leute werfen allen Unrat auf die Straße, und die gefallenen
Tiere läßt man liegen und verwesen.
Konstantinopel hat einen geräumigen und geschützten Hafen und ist dämm
die erste Handelsstadt der Türkei. Im Hafen kann man die verschiedensten
Völker in ihren Trachten sehen.
ck) D i e Türken sind Mongolen und stammen aus Junerasien und
werden auch Osmanen genannt. Doch haben sich die Türken stark mit
Juden und andem Semiten sowie mit Slawen, Persern und andern Volks-
stämmen vermischt. Aber ihre türkische Sprache haben sie bewahrt; die Türken
sind mit den Madjaren verwandt. Die Türken sind redlich im Handel und
unterscheiden sich vorteilhaft vou den verschmitzten Juden und Griechen.
Gegen ihre Glaubensgenossen sind sie mitleidig und wohltätig. Aber sie fiub
auch träge und gleichgültig. Stundenlang kann der Türke mit untergeschlagenen
Beinen im Kaffeehause sitzen, Tabak rauchen und Kaffee schlürfen, einsam
und schweigsam. Höchster Genuß ist ihm, wenn jemand spannende Märchen
erzählt. Da die Türken nicht so rührig und erwerbssüchtig sind, so sind sie
größtenteils arm. Zu Geldgeschäften taugen sie wenig, mehr für Ackerbau und
Viehzucht. Sie tragen einen Turban, eine rote Mütze, die mit einem Woll-
tuch vielfach umschlungen ist. Manche tragen einen Fes, ein rotes Mützchen
ohne Schirm. Den Türken ist Weingenuß durch ihren Glauben verboten; dafür
lieben sie um so mehr Kaffeetrinken und Tabakrauchen. Die Frauen nehmen
eine niedrige Stellung ein. Vornehme Türken haben mehrere Frauen; diese
bewohnen ein besonderes Haus, das kein fremder Mann betreten darf. Doch
hält man vielfach Diener für sie, nämlich Sklaven. Die Frauen leben zurück-
gezogen und vertreiben sich die Zeit zumeist mit An- und Auskleiden, Plaudern
und Naschen.
Die Beamten sind meist unredlich und bestechlich, weil sie ungenügend
besoldet werden, genau wie in Rußland. Die Bauem sollen den Zehnten
entrichten, aber häufig wird daraus der Fünfte, wenn nicht noch mehr. Die
Bauem sollen nicht eher ihre Emte einfahren, als bis sie von Beamten geschätzt
ist. Das Schätzen ist nun keine so leichte Sache. Da müssen die Beamten von Acker
zu Acker, von Gut zu Gut gehen und schätzen. Sie schätzen nun entweder zu
viel oder zu wenig. Schätzen sie zu hoch, dann hat der Bauer zu viel Steuern
zu entrichten; schätzen sie zu wenig, dann kommt die Staatskasse zu schlecht
weg. Damm wird der Beamte lieber etwas mehr als weniger ansetzen; er
sieht an sich auf den Nutzen der Staatskasse. Nun kann sich ein Bauer gegen
die Einschätzung beschweren, wenn er glaubt, sie wäre zu hoch. Dann muß
aber die Emte so lange auf dem Felde bleiben. Ehe sie zum zweiten Male
geschätzt würde, verginge viel Zeit. Inzwischen könnte die ganze Ernte ver-
derben. Lieber läßt sich der Bauer etwas zu hoch schätzen. Ja ihm liegt viel
daran, recht bald geschätzt zu werden, damit er seine Emte bergen kann. Um
das zu erreichen, gibt er ein hübsches Trinkgeld. Um aber nicht zu sehr ge-
XIII. Das Königreich Italien.
175
schröpft zu werden, gibt er noch eins. Wer am meisten gibt, kommt zuerst
dran und wird auch nicht hoch eingeschätzt. Wer nichts gibt, den läßt man
zappeln und nimmt ihn außerdem hoch. Verkauft der Bauer Getreide, so
muß er noch eine Abgabe entrichten: geht es ins Ausland, so kommt der
Steuereinnehmer noch einmal. Der Zehnte ist auch vom Vieh zu entrichten.
Der Zehnte ist eine ganz rückständige Art der Besteuerung: denn er hindert
die Bauern in ihrem Erwerbe. Viel besser sind Geldsteuern. Die hohen
Steuern drücken das Land und hemmen Handel und Gewerbe. Die Kauf-
leute verbergen ihre Einnahmen und leben äußerlich ärmlich, damit die Be-
amten ja nicht argwöhnen sollen, hier ist was zu bolen. Das alles gibt auch
immerzu Anlaß zu Streit und Haß.
Die Türken hatten die Urbewohner des Balkans nur unterjocht, aber nicht
vertrieben. So gibt es da noch eine ganze Menge Volksstämme, vor allem
Slawen, wie Serben, Montenegriner, Bulgaren. Daneben
haben wir Albaner, Griechen und Juden, ferner Zigeuner,
¿ataren u. q. Die Türken sind lange das herrschende Staatsvolk gewesen;
aber man hat ihnen bereits Rumänien, Bulgarien, Serbien, Montenegro,
Albanien und Griechenland wieder entrissen. Man möchte ihnen auch gern
die letzten Reste der europäischen Türkei entreißen. Die Bulgaren, die Serben,
die Griechen wollen ihre Länder noch vergrößern, ja auch Rußland strebt nach
Besitz auf der Balkanhalbinsel. Die Russen wünschen sehnlichst Konstantinopel
und die Dardanellen. Dann stünde ihnen stets die freie Zufahrt ins Schwarze
Meer und Mittelmeer offen.
Deutschland unterhält die besten Beziehungen zur Türkei, deutsche
Offiziere haben das türkische Heer eingeübt und so seine Schlagkraft erhöht.
Aber unsre Lage zur Türkei ist nicht günstig. Ehemals bildete die Donau
die wichtigste Verbindungsstrecke zwischen Abend-und Morgenland. Heute
gibt es auch eine Orientbahn. Die Bahnstrecke zwischen Hamburg und Kon-
stantinopel beträgt reichlich 2600 km, der Seeweg 6400 km. Demnach ist der
Seeweg bedeutend länger, aber für Güter ist er billiger als die Bahn. Eine
Tonne Getreide kostet von Galatz bis Mainz auf der Bahn 66 Mark, auf der
Donau 57; auf dem Seewege von Konstanza oder Warna aus bis Emden oder
Bremen oder Hamburg rund 8—11 Mark. Von Rotterdam bis Mainz kommen
noch 3—4 Mark dazu. So zeigt sich deutlich, wie wichtig die Seeverfrachtung
ist. _ England ist deshalb am günstigsten gestellt. Es unterhält dafür auch den
meisten Handel mit allen Balkanstaaten. Doch ist unser Handel mit der Türkei
größer, als es nach den amtlichen Zahlen erscheint. Wir erhalten und senden
viele Waren über Antwerpen, Rotterdam, Triest, und diese werden Öster-
reich, Belgien und Holland gutgeschrieben.
XI». vas Königreich Italien.
1. Seine Lage und feine Grenzen.
Italien ist die mittlere der drei südeuropäischen Halbinseln. Italien ist
lang und schmal und hat die Gestalt eines Reiterstiefels. Gegen 1000 km er-
streckt sich die italische Halbinsel ins Mittelmeer hinein und teilt dies in eine
östliche und westliche Hälfte. Absatz und Spitze des Stiefels werden gebildet
durch den breiten Busen von T a r e n t, der tief ins Land einschneidet. Durch
176
XIII. Das Königreich Italien.
ihn werden zwei Halbinseln gebildet, nämlich Kalabrien und Apulien.
Im Südwesten ist die große Insel Sizilien vorgelagert, welche nur durch
die schmale Meeresenge von Messina von der Halbinsel Kalabrien getrennt
ist. Im Norden hängt Italien mit dem Festlande von Europa zusammen.
Hier grenzt es an Frankreich, die Schweiz und Österreich. Die Alpen bilden
im allgemeinen die natürliche Grenze. Auf den übrigen drei Seiten begrenzt
das Mittelmeer die Halbinsel. Im Osten ist das Adriatische Meer die
Grenze, im Süden das Jonische Meer, im Westen das Tyrrhenische
und Ligurische Meer; im Süden Siziliens ist das Mittelmeer die Grenze.
Zu Italien gehört noch die Insel Sardinien, westlich vom Tyrrhenischen
Meere; die benachbarte Insel Korsika gehört zu Frankreich. Zwischen
Korsika und Italien liegt die kleine Insel Elba. Vor der Insel Sizilien
liegen zwei Gruppen kleiner Inseln.
2. Italiens Bodengestalt im allgemeinen.
Im Norden reicht Italien bis in die A l p e n hinein. Auf der italienischen
Seite fallen die Westalpen sehr steil ab. Beim Monte V i s o beträgt vom
Kamm bis zum Fuße die Luftlinie noch nicht 15 km. So erscheinen von
Italien aus die Alpen am gewaltigsten und erhabensten. Gegen Frankreich
verläuft die Grenze meist auf dem Kamme. Nach der Schweiz und Österreich
zu zieht sich die Grenze vomehmlich südlich vom Kamme hin. Hier macht sie
viele Aus- und Einbuchtungen. Der Monte Rosa (4600 m) ist der höchste
Berg auf italienischem Gebiete. Der Lange See und der Gardasee
sind gleichfalls zum Teil italienisch. Der Komer See hingegen ganz. Die
Alpen umziehen den Norden Italiens in weitem Bogen.
Steil fallen die Alpen zu dem Tieflande ab, das sich zu beiden Seiten des
Pos ausbreitet. Es wird daher die Potiefebene genannt oder auch
die lombardische. Südlich von der lombardischen Ebene erhebt sich ein
Gebirge, die A p e n n i n e n. Sie hängen im Westen nüt den Alpen zusammen
und durchziehen die Halbinsel in ihrer ganzen Länge. Bald treten sie nahe
an die westliche Küste heran, bald an die östliche. In einem großen Bogen
umziehen sie den Busen von Genua. Östlich von Rom liegt der höchste
Berg, der gleich der Zugspitze bis über 2900 m emporsteigt. Von ihm aus
erblickt man bei hellem Weiter im Osten das Adriatische und im Westen das
Tyrrhenische Meer.
Das Apenninengebirge setzt sich auf der Insel Sizilien fort. Hier erreicht
es im Ätna die größte Höhe, nämlich 3300 m.
Außer der lombardischen Ebene hat Italien nur kleine Küstenebenen,
z. B. im Mündungsgebiet des Tiber, des Arn o, bei Neapel, auf der
Südspitze Apuliens. Die Insel Sardinien ist nicht so gebirgig wie Korsika.
3. DaS Potiesland.
Das Potiesland wird auf drei Seiten von hohen Gebirgen umrahmt und
im Osten vom Adriatischen Meere begrenzt. Der P o durchfließt es nicht ganz
in der Mitte, sondern näher an den Apenninen und mehr im Süden. _ Er
kommt vom Monte Viso und fließt im ganzen nach Osten. Vor seiner
Mündung teilt er sich in mehrere Arme. Er führt viel Schlamm mit sich,
weswegen sich sein Delta immer mehr vorschiebt, gleich wie an der Rhone,
Das Forum von Rom (Ruine).
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F.. E.' Wochsmulh in Leipzig erschienen.
Neapel mit Vesuv.
Als großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Ausbruch des Vesuvs.
Ais großes farbiges Anschauungsbild im Verlage von E. F. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Der Hafen von Gibraltar.
Als großes arbiges Anschauungsbild im Verlage von F. E. Wachsmuth in Leipzig erschienen.
Xni. DeS Königreich Italien.
17?
Donau usw. Die meisten und größten Nebenflüsse strömen ihm von links zu,
denn die Alpen sind viel wasserreicher als die nördlichen Apenninen; Tessin
(Ticino) und Ad da sind die größten. Die Alpenflüsse reinigen sich in
tiefen Alpenseen. Die Flüsse, die von den Apenninen kommen, führen ge-
wöhnlich nur wenig Wasser mit sich, aber zur Zeit der Schneeschmelze werden
sie zu reißenden Strömen, die nicht selten durch ihre Überschwemmungen
großes Unheil anrichten. Sie führen dann auch ungeheure Mengen von Schutt
und Schlamm mit sich und lagern sie im Mündungsgebiet ab. Alljährlich
schiebt sich das Delta gegen 70 m weiter vor. Die einstige Hafenstadt Adria
ist jetzt 35 km von der Küste entfernt. Der Po ist kleiner als die Weser,
aber er ist bedeutend wasserreicher und gut schiffbar, ist er doch breit und
nieist auch recht tief. Doch schadet er öfter durch seine Überschwemmungen.
Im Frühjahr sind sie am größten und gefährlichsten. Ununterbrochen erhöht
sich sein Bett, da sich fortwährend Schlamm und Schutt absetzen. So liegt
das Flußbett des Pos vielfach höher als die Flußaue; zuweilen sogar liegt
das Flußbett so hoch wie die Dächer der anliegenden Orte. Um die Niedemng
vor Überschwemmung zu schützen, hat man hohe Dämme errichtet. Je höher
aber das Flußbett zu liegen kam, desto höher mußte man die Dämme auf-
schütten. Solche Damm- und Deichbauten sind zwar sehr kostspielig, aber
durchaus unerläßlich, wenn nicht ein großer Teil der Poebene in ein Sumpf-
land sich verwandeln soll. Auf seinem ganzen unteren Lauf finden wir keine
Stadt umuittelbar an seinem Ufer, nur im oberen Laufe liegen Turin
und Piacenza an ihm. Die übrigen Städte haben sich in einiger Ent-
fernung von ihn: angesiedelt, so im Norden P a v i a und Mantua, in:
Süden Alessandria, Parma und Modena. Ähnlich ist es bei der
Etsch. Hier liegt nur Verona an deni Flusse, Padua liegt nördlich von
der Etsch. Auch sie mußte von Dämmen eingefaßt werden. Ihr Delta ist
niit dem Podelta verbunden. Nördlich und südlich davon gibt es seichte Strand-
seen, welche durch schmale Landzungen (Nehrungen) vom Meere abgetrennt
sind. Es kommt nämlich eine Meeresströmung von Norden her, welche das
Wasser der Etsch und des Pos anstaut. So lagern sich hier die Sinkstoffe ab,
der Po bringt allein jährlich an 40 Mill. cbm Sinkstoffe. Sie bilden nach
und nach schmale Landstreifen, die sich immer weiter vorschieben. Dahinter
bleibt ein seichtes Wasserbecken, und so ist ein Haff oder ein Strandsee fertig.
Man nennt sie Lagunen. Mit der Zeit werden sie immer seichter: endlich
haben sie sich in Sümpfe verwandelt. So fischreich die Lagunen sind, so
trostlos und gefährlich sind die versumpften Küsten. In den Maremmen
nisten sich gefährliche Insekten (Moskitos) ein, und hier erzeugen die giftigen
Ausdünstungen im Sommer schlimme Krankheiten, das sog. Sumpffieber. Im
Winter weiden große Herden von Schafen, Rindern und Pferden das hohe
Gras ab; denn da wütet das mörderische Sumpffieber nicht. Aber im Früh-
jahr ziehen sich die Hirten samt den Herden ins Gebirge zurück. Da sind die
sumpfigen Küsten wie ausgestorben. Nur zur Erntezeit nahen die Schnitter,
mähen eiligst das Getreide und nehmen es sogleich mit sich.
Die ganze lombardische Ebene ist ein einziges Schwemmland, ist von den
Alpen- und Apenninslüssen angeschwemmt worden. So besteht der Boden
aus Schichten von Ton, Lehm, Sand, Kies und Geröll. Die gröberen Massen
lagem am Fuße der Gebirge, die feineren hingegen nach der Mitte zu. Hier
ist der Boden darum am fruchtbarsten. Der Po ist mehr nach Süden gedrängt
worden, weil die Alpengewässer stärker waren. Am Fuße der Alpen finden
Ratgeber L Franke. Erdkunde, Teil 2. iZ
178 XIII. Das Königreich Italien.
wir noch Moränen aus der Eiszeit, welche von den einstigen Gletschern hier
aufgetürmt wurden.
Das W e t t e r der Poebene ist sehr milde. Die hohen mittleren und öst-
lichen Alpen halten die rauhen Nordwinde ab. Die Westalpen und die Apenniuen
lassen anderseits die heißen Südwinde nicht ungehindert einströmen. Die Lom-
bardei hat heiße Sommer, doch fehlen auch die Winter nicht. Ihre Sommer
sind fast so heiß wie in Sizilien und ihre Winter sogar noch kälter als am
Niederrhein, doch beginnt die warme Zeit bereits um Mitte April und reicht
bis Mitte Oktober. So ist die warme Jahreszeit in der Lombardei um 6
Wocher länger als z. B. in Köln. Am wärmsten sind die Winter in den ge-
schützten Alpentälern der Etsch, des Tessins usw. sowie an den großen Alpen-
seen. Hier gedeihen auch schon südländische Gewächse, wie Zitronen, Myrten,
Lorbeer- und Olbäume. Die Ebene hingegen hat öfter empsindliche Kälte, und
in Mailand kann man öfter im Winter Schlittschuh laufen.
Die lombardische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gebieten Europas und
ist daher auch aufs beste angebaut. Der fette schlammige Boden, die reiche
Bewässerung und die heißen Sommer sind die Ursachen der großen Ergiebigkeit.
Wo die natürliche Bewässerung nicht genügt, hat man zur k ü n st l i ch e n
Bewässerung gegriffen. Man hat zahlreiche Kanäle und Gräben ge-
zogen. Die Kanäle dienen zugleich der Schiffahrt. Außerdem legte man große
Staubecken an. In ihnen sammelt sich das Wasser zur Zeit der Überschwemmung
an; dann erwärmt es sich infolge des warmen Sonnenscheins. In der trockenen,
heißen Jahreszeit berieselt und bewässert man nun das Land. Die berieselten
Flächen sind ebenso groß wie das Königreich Württemberg. Machten die Lom-
barden das nicht, dann läge ein großer Teil der Poebene im heißen Sommer
ebenso vertrocknet, staubig und unfruchtbar da wie in der südrussischen Steppe
oder in Griechenland. So aber verhütet man viele verderbliche Über-
schwemmungen und spart das kostbare Naß auf bis zur Zeit der Not und Dürre.
Dadurch hat man das Land in ein wahres Paradies verwandelt. Viele Felder
tragen zwei Emten. Zuerst baut man Winterweizen und dann noch
Mais. Maisbrei (Polenta) ist die übliche Volksspeise, namentlich der Armen.
Wälder gibt es in der Ebene fast gar nicht, dafür hat man die Felder mit
Baumreihen von Pappeln, Ulmen, Ahornen, Walnuß- und Maulbeerbäumen
eingefaßt. Sie liefern zunächst das nötige Brenn- und Nutzholz; an ihnen
ranken sich zugleich üppige Wein reben empor. Die Maulbeerbäume er-
möglichen die Zucht der nützlichen Seidenraupe. Kein Land Europas hat daher
soviel Seidenbau als die Lombardei. In den wasserreichsten Gebieten,
besonders westlich vom Tessin, baut man viel Reis; hier gibt es Striche, wo
mcm den vierten Teil bis zur Hälfte des Landes mit Reis bestellt. Der Reis
braucht viel Bodenfeuchtigkeit und große Sommerhitze. Beides hat die Po-
ebene in reichem Maße. Edle Kastanien, Feigen- und Mandelbäume liefern
köstliche Früchte; die Gärtner ziehen treffliches Gemüse und frühzeitige Blumen.
Die Rieselwiesen zeichnen sich durch üppigsten Graswuchs aus; fünf bis sechs-
mal und sogar bis achtmal können sie jährlich gemäht werden. Deswegen
blüht in der Lombardei die Rindviehzucht. Sie liefert auch den viel begehrten
Parmesankäse. Daneben hält man viel Geflügel, ist der Mais doch auch ein
treffliches Viehfutter. Aus allen diesen Gründen ist die Lombardei stark be-
völkert. Doch ist der Grund und Boden zumeist im Besitze von großen Grundbe-
sitzern, wie in England, Irland usw. Es sind dies Adelige, Kirchen und Städte. Sie
verpachten das Land an Pächter und kümmern sich sonst nicht um das Land,
XIII Das Königreich Italien.
179
sondern begnügen sich mit der Einziehung der ziemlich hohen Pacht. So sind
die lombardischen Landbewohner trotz der hohen Fruchtbarkeit ihres Landes
und trotz ihrer Rührigkeit nicht wohlhabend; im Gegenteil, viele leben recht
dürftig und bekommen vom unaufhörlichen Maisbreigenuß eine schlimme
Krancheit.
In den Städten blüht namentlich die Seidenspinnerei; doch sind darin
zumeist Frauen und Kinder beschäftigt. Die Lombardei führt viel Seidengame
aus, damnter auch nach Deutschland. Die Seidenweberei wird fast gar nicht
gepflegt. Hingegen betreibt man die Leinen-, Woll- und Baumwollweberei nebst
der Strohflechterei. Da es an Kohlen mangelt, benutzt man soviel als möglich
die Wasserkräfte. Die Steinkohlen führt man vorwiegend aus England ein
und bringt sie über Genua ins Land.
Im Potieflande sind viele bedeutende Städte entstanden. Turin ist so
groß wie Düsseldorf und besitzt mancherlei Industriezweige. Es vermittelt haupt-
sächlich allen Verkehr mit Frankreich, denn hier laufen die wichtigsten Straßen
und Bahnen über die Westalpen zusammen. A l e s s a n d r i a ist eine starke
Festung. P a v i a am Ticino war ehemals bedeutend, ist aber in der Neuzeit
zurückgeblieben. M a n t u a ist die berühmteste Festung Norditaliens. K o m o
und Bergamo treiben viel Seidenbau und Seidenspinnerei. Brescia
fertigt namentlich Waffen und Messer. Verona ist eine starke Festung, welche
das Etschtal gegen Österreich schützen soll. Padua liegt nördlich von der
Etsch. Alessandria, Parma, Modena, Bologna, Ravenna
und Ferrara liegen südlich vom Po.
Mailand ist die größte Stadt der Lombardei und zählt soviel Einwohner
wie Breslau oder Köln. Rings um Mailand breitet sich die fruchtbare Ebene
mit ihren Weizen- Mais- und Reisfeldem aus. Hier treffen die wichtigsten
Straßen und Bahnen zusammen, welche nach der Schweiz führen, die Gotthard-
bahn, die Simplonbahn, Splügenstraße usw. 10 Landstraßen, 8 Bahnen und
3 Kanäle vereinigen sich hier und machen Mailand zur wichtigsten Handels-
und Industriestadt. Seidenspinnereien sind in großer Zahl vorhanden. Berühmt
ist Mailand durch seinen herrlichen Dom. Er ist ganz aus prachtvollem weißem
Marmor erbaut. Mehr als hundert Türme und Türmchen zieren ihn. Das
gewaltige Gewölbe inht auf 52 Marmorsäulen. Die Fenster tragen prachtvolle
Glasnmlereien. Geziert ist der innere Dom mit wertvollen Gemälden, Bild-
säulen und Altären. Mailand hat in der Geschichte eine wichtige Rolle ge-
spielt; es ist 48 mal belagert und 28 mal erobert worden. Kaiser Friedrich
Barbarossa ließ es einmal gänzlich zerstören. Doch hat es sich immer wieder
erholt von allen Drangsalen und Zerstörungen. Seine Lage begünstigt eben
das Emporblühen einer Großstadt. .
V e n e d i g ist die berühmte Lagunenstadt nördlich von der Etschmündung
und zählt ungefähr soviel Einwohner wie Kassel. Die Stadt ist gänzlich aus
Inseln erbaut. Zunächst ließen sich im Altertum hier Fischer nieder, um die
fischreichen Küstengewässer auszubeuten. Mit der Zeit vergrößerten sich die
Mederlassungen und wuchsen zu einer bedeutenden Stadt. Die Venediger
trieben nun neben der Fischerei auch Schiffahrt und Handel und unterwarfen
sich andre Städte, ja Dalmatien und manche Striche in Griechenland. 3000
Schiffe befuhren die Meere. Venedig beherrschte neben Genua den Handel
im Mittelmeer. Ungeheure Reichtümer erwarben die Bewohner der Lagunen-
stadt. Daher konnten sie herrliche Prachtbauten errichten. Nach der Ent-
deckung Amerikas sank Venedig von seiner Höhe herab, die Königin der Adria
12*
180
XIII. Das Königreich Italien.
ging mehr zurück. Triest erhob sich über Venedig. Seit dem letztet: Halbjahr-
hundert hat es sich wieder erhoben, besonders seitdem die Brennerbahn ihm
wieder neuen Verkehr gebracht hat. Wie in Amsterdam und Petersburg hat
man die Gebäude auf tief in den Sand eingerammten Pfählen errichtet. Sie
bestehen fast alle aus Marmor und stehen meistens dicht am Wasser. Nur
selten führt eine Straße an den Häusern hin. Gewöhnlich bespült das Wasser
die Schwelle des Hauses. Kanäle vertreten die Stelle der Straßen, Kähne
und Gondeln die der Wagen. Gegen 166 Kanäle durchziehen die Stadt,
gegen 380 Brücken überspannen sie; ungefähr 700 Gondeln vermitteln den regen
Verkehr. Damit die Kanäle nicht versanden, werden sie öfter ausgebaggert.
Venedigs Volksleben ist eigenartig. Auf dein Markusplatze und dem Fisch-
markt herrscht ein lebhaftes Tun und Treiben. Der Markusplatz ist mit weißen:
Marmor und mit schwarzen Steinen gepflastert. Umsäumt ist er mit den
prächtigsten Kaufläden und den besuchtesten Kaffeehäusern. Hier liegen Granat-
äpfel, Feigen und Trauben ausgebreitet, dort erhebt sich ein Berg von Melonen.
Auf den: Fischmarkte herrscht ein unglaublicher Schmutz. Gegen 100 ver-
schiedene Arten von Fischen und anderen Seetieren werden ausgeboten, Krebse,
Hummern, Muscheln, Meerschnecken, Austern und mancherlei Seefische. Die
Tintenfische mit ihren langen Fangarmen hält man in Körben lebend.
Erbarmungslos schneiden die Händler ihnen einen Fangarm nach dem andern
ab, so wie sie verlangt werden. Man bäckt oder siedet sie in Ol, und das ist
das Lieblingsgericht der Venediger.
Auf den: Markusplatze steht die berühmte Markuskirche. Sie ruht aus
stark vergoldeten marmornen Säulen. Der Fußboden ist mit Marmor belegt.
An Marmor fehlt es in Italien nicht; die Kalkalpen und Kalkberge der
Apenninen enthalten genug wertvollen Marmor. Berühmt ist noch der Dogen-
palast. In ihm wohnte das Oberhaupt der einstigen Meerbeherrscherin. In
den zahllosen Sälen hat man die Wände mit großen Gemälden geschmückt.
Da gibt es ein Gemälde, das zeigt den Sieg der Venediger über den Kaiser
Friedrich Rotbart, ein andres schildert ihren Sieg über die Türken usw. Eine
Brücke führt ins Staatsgefängnis. Diese Brücke heißt noch heute die Seufzer-
brücke. Wer über sie geführt ward, hatte vollen Grund zu seufzen und zu
wehklagen. Hinauf führte die Treppe in die niedrigen Gefängniszellen, worin
unter dem Bleidache eine fürchterliche Hitze herrschte, die den Gefangenen
entsetzliche Qualen bereitete. Hinab ging es in feuchte Kellergewölbe. Hier
mußten die Gefangenen zwischen schwarzen feuchten Mauern auf kalter steinemer
Lagerstätte unsägliche Schmerzen dulden. Mancher starb, ehe man ihm das
Urteil sprach. Leider wurden Hunderte von Unschuldigen solchen Qualen über-
antwortet. Eine bloße Anzeige, noch dazu ohne Namenunterschrift, genügte
dazu.
4. Die Riviera, Italiens Paradies.
Die Küste des Busens von Genua heißt die Riviera, d. h. Gestade. Die
Küste ist überall steil, weil die Alpen und Apenninen bis nahe ans Meer heran-
treten. Die Abhänge prangen in schönem Laubschmuck. Die hohe bogenförmige
Gebirgsmauer hält die rauhen nördlichen und östlichen Winde ab. Schnee
kennt man fast gar nicht in diesem gesegneten Landstriche. Bis in den Dezember
herrscht mildes Wetter. Dann kommen trübe regnerische Tage, selten einmal
mit Schneefall und Frost. Zu Anfang Februar beginnen bereits die Pfirsiche
und Mandelbäume zu blühen; int März pflückt man schon im Freien reise Erdbeeren.
XIII. Das Königreich Italien.
181
Die Pflanzenwelt bleibt das ganze Jahr hindurch grün. Lieblich schimmern
gelbe Zitronen aus dem grünen Laube hervor; überall sieht man Apfelsinen-
und Olgärten, Myrten- und Granathecken. Es gibt sogar schon hier und da
Zwerg- und Dattelpalmen. Diese so gesunde Gegend wird im Winter von zahl-
reichen leidenden Menschen ausgesucht, welche hier Erholung suchen. So reiht
sich Kurort an Kurort und Kurhaus an Kurhaus. Wie in Südtirol und am
Gardasee gibt man sich hier ein winterliches Stelldichein. Da kommen die
wohlhabenden Menschen aus aller Herren Ländern zusammen, um heitere
Stunden zu verleben, während in der Heimat der rauhe Winter sein kaltes
Zepter schwingt. Die größte Stadt der Riviera ist Genua, ungefähr so groß
wie Stettin oder Bremen. Genua ist stark befestigt und hat einen vorzüglichen
Hafen. Die Häuser ziehen sich stufenförmig auf den Abhängen empor. Wie
Venedig war Genua einst eine wichtige Handelsstadt: heute ist Genua größer
als Venedig, denn Genua liegt an der wichtigen Schiffahrtslinie, die von
Hamburg und London ausgeht und nach Asien führt. Dazu hat ihr die Gott-
hard- und Simplonbahn großen Vorteil gebracht, und so wetteifert jetzt Genua
mit Marseille und Triest. Viele nach Süd Westdeutschland bestimmte Waren
gehen über Genua und benutzen dann die Bahn Genua-Alessandria-Gotthard-
Basel (Schaffhausen). Sonst bilden Schiffahrt, Handel und Fischfang die Haupt-
beschäftigung der Bewohner Genuas.
5. Die Maremmen und die pontinischen Sümpfe.
Die Ebene des A r n o ist ein herrliches Gartenland, ähnlich wie die Ri-
viera. Sie ist ja auch gegen die Nordwinde geschützt. Am Arno liegt
Florenz, d. h. die Blühende; hier blüht die Natur; hier blühte einst auch
die Kunst; noch heute erinnern herrliche Dome und Paläste daran. Hier ward
und wird namentlich die Strohflechterei kunstvoll getrieben, die Florentiner
Hüte sind bekannt wegen ihrer Güte. Pisa am Arno hat einen schiefen
Turm, gerade wie Bologna. Es war einmal Mode, schiefe Türme zu erbauen,
denn das ist eine schwierige Kunst; x) kommt man zu schief, so fällt der Turm ein.
Südlich von der Arnomündung liegt Livorno, die Hafenstadt Toskanas.
Südlich von Livorno ist die Küste flach und sumpfig, genau so wie an der
adriatischen Küste südlich und nördlich von der Pomündung. Es haben sich
hier Sinkstoffe abgelagert; dadurch wurden die kleinen Gewässer an ihrem
regelmäßigen Abfluß gehindert. So entstand im Laufe der Zeit ein ziemlich
breiter Streifen von Küstensümpfen oder Maremmen. Südlich von der
Tiber heißen sie pontinische Sümpfe. Mit kurzen Unterbrechungen gibt es danach
eine versumpfte Küste vom Arno bis nördlich von dem Golf von Neapel.
Auf dieser langen Küstenstrecke finden wir keine bedeutendere Stadt; Livorno
und Neapel (genauer Gaeta) sind die beiden Endpunkte der versumpften
Küstenstrecke.
Die Maremmen erzeugen einen üppigen Graswuchs; der Boden besteht
aus gutem Schwemmland; an Feuchtigkeit und Wärme fehlt es nicht. Zum
Teil sind sie auch^ mit Gestrüpp und Buschwald bedeckt. Im Herbst und
Winter kommen berittene Hirten, um ihre große m Herden von Schafen, Ziegen,
Rindern und Pferden zu hüten. Da sind die Maremmen belebt, und Köhler
brennen ihre Meiler. Aber bereits im Mai verlassen sie das Land. Denn
jetzt entsteht in der wachsenden Glut die böse Luft (die Malaria). In dem
Manche schiefe Türme sind allerdings erst schief geworden, da sich nur eine Leite senkte.
182
XIII. Das Königreich Italien.
heißen Sumpfboden entstehen Krankheitskeime, Bazillen; sie werden von den
Mücken ausgenommen und auf die Menschen übertragen. Mit jedem Tröpfchen
Mückengift, das bei einem Mückenstich in die menschliche Haut gelangt, werden
Hunderte von Krankheitskeimen übertragen. Zum Glück haben die Giftdrüsen
der Mücken nur im Sommer die Fähigkeit, die Krankheit zu übertragen. Die
Luft an sich schadet nichts. Darum kann man in der kühleren Jahreszeit die
Maremmen betreten, ohne zu erkranken. Gelangen aber durch Mückenstiche
die winzigen Lebewesen ins Blut des Menschen, dann vermehren sie sich
rasch. Es stellt sich Schüttelfrost ein nebst heftigem Fieber. Wird die Krank-
heit nicht geheilt, so kehren diese Anfälle alle 3 bis 4 Tage wieder. Die
Kräfte nehmen ab, und der Mensch siecht langsam dahin. Zum Glück hat ein
deutscher Arzt ein Mittel gegen diese schlimme Krankheit gefunden; er hat
auch den Italienern gesagt, daß die Mücken die Krankheit weiter tragen;
dämm solle man die Mücken beseitigen. Das kann man aber nur erreichen,
wenn man das Land entsumpft und trocken legt. Früher war auch das
Küstenland viel trockener, und damals gab es hier zahlreiche Städte und
Dörfer. Man hat auch wieder damit begonnen, das Sumpfland zu entwässern,
vor allem südlich von der Tiber in den pontinischen Sümpfen. Schon sind
große Strecken urbaren Landes gewonnen worden. Freilich ist dies eine
schwierige und kostspielige Arbeit. Man muß zuerst die Gebirgswässer ab-
leiten oder regeln; sodann hat man die bestehenden Kanäle zu reinigen und
zu säubem; endlich ist das überschwemmte Gebiet trocken zu legen; dazu sind
aber meist neue Kanäle erforderlich. Die Fieberplage ist eine schlimme Land-
plage Italiens; denn der Wind treibt die Mücken weit landeinwärts, und so
gibt es in Italien nur wenige völlig fieberfreie Bezirke.
So hat Italien an den Küsten an sich recht fruchtbare Striche, die aber
nur wenig Nutzen bringen und oft recht großen Schaden verursachen.
6. Rom, der Sitz des Papstes und der italienischen Könige.
An der unteren Tiber entstand schon früh eine Stadt, nämlich Rom.
Sie dehnte sich allmählich aus und erstreckte sich über sieben Hügel; dämm
wird sie auch die Siebenhügelstadt genannt. Die Römer eroberten allmählich
ein Land nach dem andern, bis sie ganz Italien, ja alle Länder am Mittel-
meer erworben hatten. So war das römische Reich das mächtigste seiner Zeit.
Je größer das römische Reich ward, desto mehr wuchs auch Rom. Die
römischen Kaiser verschönerten Rom, so sehr sie konnten; aber auch schon vor-
her hatte man viele herrliche Bauwerke aufgeführt. Später ging das römische
Reich zugrunde. Inzwischen hatte aber der Bischof von Rom stich zum ersten
Bischof des Abendlandes erhoben; so ward jetzt Rom der Sitz des Papstes.
Damit war Rom der Mittelpunkt der römisch-katholischen Kirche. Das ist Rom
auch heute noch. Seit 1870 hat auch der König von Italien in Rom seine
Residenz. Das wollte zwar der Papst nicht zugeben, aber er konnte es nicht
verhindern; aber er legte dagegen Verwahmng ein und betrachtet sich seitdem
als einen Gefangenen. Doch der Papst lebt völlig unangefochten und selbst-
herrlich in seinem prächtigen Palast, im Vatikan. Dieser Prachtbau ent-
hält 20 Höfe und gegen 4000 Zimmer und birgt wertvolle Sammlungen von
alten Handschriften, Büchern und Gemälden. Neben dem Batiken erhebt sich
die berühmte Peters kirch e. Sie steht auf einem Platze, welcher von
Säulenhallen umgeben ist und zwei mächtige Springbrunnen hat Eine breite
XIII. Das Königreich Italien.
183
Marmortreppe führt zu ihrem Eingänge empor. In der Mitte erhebt sich der
prachtvolle Hochaltar. Darüber wölbt sich die gewaltige und reich vergoldete
Kuppel. Mit dem Kreuze ist sie 146 m hoch. An hohen Festtagen hält der
Papst an diesem Hochaltar die Messe und spendet er den Segen. Unter ihm
ist eine Kapelle, worin die Gebeine des Apostelfürsten Petrus ruhen, dem die
Kirche geweiht ist. In ihr brennen jahraus jahrein 112 Kerzen; aber am
Karfreitag verlöschen sie.
Die Christen der ersten Zeit bestatteten ihre Toten in unterirdischen Kammern
oder Katakomben. Die Erde ist ein trockener, weick er Tuff und läßt
sich gut ausgraben; dazu ist sie hart genug, so daß sie nicht einstürzt. Es gibt
da zahllose Gänge in mehreren Stockwerken unter- und übereinander. Eine
Grabgruft reiht sich da an die andre. Es ist eine richtige Totenstadt, die sich
da unten vor unfern Blicken enthüllt, wenn der Führer sie beleuchtet.
Rom ist zwar oft verheert worden, es ist auch im Laufe der Zeit manches
Bauwerk durch Feuer, durch Erdbeben usw. zerstört worden. Daher finden
wir überall Trümmerstätten. Auf und aus ihnen haben spätere Bewohner
öfter ihre Häuser errichtet. Vieles ist so verloren gegangen, aber vieles hat
sich auch erhalten, andres bewahrt man in Museen auf. Berühmt ist das
Kolosseum; es ist ein Riesenbau, worin gegen 100000 Zuschauer Platz
hatten. In ihm kämpften Fechter miteinander auf Tod und Leben; in ihm
mußten Christen ohne Wehr und Waffen Löwen und Tigern entgegentreten.
In diesem Prachtbau hat so mancher sein Leben unter entsetzlichen Schmerzen
ausgehaucht. Heute ist er eine Ruine. Noch viele Bauwerke enthält Rom,
sie sind teils wohl erhalten, teils mehr oder minder zerfallen. Der Geschichts-
forscher findet da vieles, was für ihn Wert hat. Roms Bewohnerzahl hat sehr
geschwankt. Zur Kaiserzeit war Rom eine Millionenstadt; dann sank die Volks-
zahl mehr und mehr, sogar bis auf kaum 20 000. Seit 1870 ist es wieder ge-
wachsen und zählt jetzt knapp y2 Million Einwohner. Die Päpste ließen wenig
tun; es gab vor 1870 kaum eine Straßenbeleuchtung. Regelmäßig über-
schwemmte die Tiber große Stadtteile; niemand wehrte dem, niemand sorgte
für Reinigung; da war es kein Wunder, wenn Seuchen ausbrachen. Seit
1870 hat man manchen schmutzigen und verseuchten Stadtteil weggerissen und
gesündere Häuser dafür erbaut. Die verschiedensten Zeitalter kann man in
Rom nebeneinander sehen. Gebäude aus dem heidnischen, dem altchristlichen,
dem mittelalterlichen, dem neueren und neusten Rom. Das bereitet dem
Kundigen einen großen Genuß.
7. Neapel, Italiens größte Stadt.
Südlich von den pontinischen Sümpfen bildet die Küste zwei Golfe; der
kleinere ist der Golf von Neapel. An ihm liegt Neapel, die größte Stadt
Italiens, etwa so groß wie Leipzig. Die Ebene am Golf von Neapel ist eine
der gesegnetsten und schönsten Striche der Erde, das Paradies Europas, ein
Stück Himmel, das auf die Erde gefallen ist. Die Ebene gleicht der Po- und
Arnoebene, aber übertrifft beide an Fruchtbarkeit. Die Pflanzenwelt ist noch
südländischer. Weinstock und Ölbaum reifen hier ihre köstlichen Früchte.
Apfelsinen und Zitronen prangen nicht allein in Gärten, sondern sogar aus
den platten Dächern der Häuser. Lorbeer- und Myrtenbäume, Mandeln und
Feigen, Zypressen und andere südliche Gewächse erfreuen unser Auge. Die
Hitze des Sommers wird durch kühle Seewinde gemildert; ganz selten fällt
184
XIII. Das Königreich Italien.
einmal Schnee. Monatelang strahlt stahlblauer Himmel; die Luft ist so rein,
daß entfernte Orte uns ganz nahe gerückt erscheinen. Bei Sonnenuntergang
herrscht eine unaussprechliche Farbenglut. Die ganze Landschaft ist dicht besiedelt.
Neapel an der herrlichen Bucht ist zur bedeutendsten Großstadt Italiens erwachsen.
Wundervoll ist die Aussicht aufs Meer, wundervoll der Blick ins Gebirge, auf den
nahen Vesuv. Groß ist der Schiffsverkehr; ungeheuer die Zahl der Gondeln im
Hafen. Großartig und eigenartig ist das Straßenleben Neapels. In langen Reihen
fahren die Kutschen hintereinander. Die Kaffeehäuser stellen ihre Tische auf den
Fußsteig, ja sogar auf die Gasse. Die Schuster, Schneider, Schlosser und Sattler
arbeiten vor ihrem Hause, denn niemand will in dumpfigen Stuben hocken.
So haben auch die Kaufleute und Bankleute ihre Ladentische auf dem Fuß-
steige. Im Freien werden die Kinder angekleidet und gewaschen, wenn man
sie nicht ungewaschen und unangekleidet läßt. Im Freien kämmen sich die Frauen
gegenseitig die Haare, liberall sieht man im Schatten arme Leute liegen und
schlafen; man nennt sie Lazzaroni (arme Lazarus). Ein zerlumptes Hemd und
eine schmutzige Hose ist ihre ganze Kleidung. Selten arbeiten sie; meist er-
betteln sie sich ein paar Pfennige oberste verdienen sich etwas als Botenläufer,
Lastträger, Knochen- oder Lumpensammler. Die ärmeren Stadtteile sind ent-
setzlich schmutzig und ungesund. Man wirft alle Reste auf die Straße. Die
zerlumpte Wäsche wird auf der Straßenseite aufgehängt. Die Wohnungen sind
fensterlos und mehr Höhlen als menschliche Behausungen. Selten haben diese
Leute eine Bettstelle. Gern betrügen und bestehlen sie die Fremden. Wer
ihnen sein Gepäck übergibt, der erhält es selten wieder; es ist natürlich auf
unerklärliche Weise abhanden gekommen; alle stecken unter einer Decke, die
Lastträger, die Droschkenkutscher, selbst die Schutzleute wollen sich nicht gern
mit diesem Lumpengesindel abgeben.
8. Der Besuv und der Ätna, Italiens Feuerbergc.
Der Vesuv liegt östlich von Neapel und ist etwa 1300 m hoch; er steigt
frei aus der kampanischen Ebene auf. Unten an seinem Fuße gedeihen Wein,
Feigen und Aprikosen, sowie Apfelsinen, Kirsch- und Apfelbäume. Dann folgen
nackte Aschenfelder und erstarrte Lavamassen. Hier und da fühlt man noch
heißen Boden unter den Füßen. Aus Spalten und Löchern dringt schwefliger
Dampf. In den losen Aschenmassen sinkt der Fuß so tief ein wie in lockerem
Schnee. Immer beschwerlicher wird der Weg; denn Geröll und Gebröckel ver-
brannter Steine erschwert den Aufstieg. Oben erblickt man tiefe Kessel oder
Krater. Vom Rande aus blickt man tief in den Krater hinein; aus ihm steigt
öfter Rauch und beißiger, giftiger Dampf. _ Zuweilen fährt ein Flammenstrahl
sausend und zischend aus der dunklen Tiefe heraus. Dann aber heißt es,
Vorsicht üben, denn man kann nicht wissen, ob nicht ein gefährlicher Aus-
bruch bevorsteht. In der Regel verhüllen dicke Rauchwolken jedwede Aus-
sicht. Bei Nacht färben sich das Meer und der Himmel glutrot. Von Zeit zu
Zeit bebt die Erde, als zuck.e sie zusammen oder als rüttelte eine gewaltige
Kraft an ihren unterirdischen Säulen. Immer stärkere Rauch- und Dampf-
massen entquellen dem Krater. Dieser füllt sich mit feurigglühender Masse,
der L a v a. Wie ein feuriger Wasserfall senkt sie sich über die steilen Abhänge
herab. In breitem Strome wälzt sie sich vorwärts, immer weiter nach
unten. Bald teilt sie sich. Kommt sie an ein Haus, dann staut sie sich an;
endlich ergießt sie sich über dasselbe. Im Nu flackert es auf. Kommt sie an
XIII Das Königreich Italien.
185
eine Gartenmauer, dann hält sie eine kurze Zeit an; dann ergießt sie sich in
den üppigen Garten und verzehrt alles in sengender Glut. So verwüstet ein
solcher Lavastrom die ganze Strecke, die er heimsucht. Die Menschen müssen
vor ihm eilends flüchten; fließt er doch je nach dem Gefälle der Gegend 1/2 bis 7 m
und darüber in der Minute. Sie retten noch, was sie in der höchsten Eile zu
retten vermögen. Tagelang währt oft solch ein Ausbruch. 100—200 m breit ist
meist ein Lavastrom. Außerdem speit der Vesuv noch weißglühende Massen
und Feuersäulen hoch empor. Ganze Dörfer, ja Städte sind schon von der
Lava zerstört worden; ganze Dörfer und Städte hat der Aschenregen turmhoch
bedeckt. Oft bilden sich auch neue Krater, und alte stürzen ein, oft entstehen
tiefe Spalten. Rings um den Vesuv sieht man lauter Lavaströme. Manchmal
ist der Vesuv lange untätig, dann kommt wieder eine Zeit, wo er oft tätig ist.
Hat der Vesuv die Lava und die Asche ausgeworfen, dann kehrt Ruhe ein. Der
Aschenregen fliegt weit, und Neapel und selbst das Meer werden von ihm getroffen.
Viele Menschen haben schon das Leben eingebüßt. Dennoch siedeln sich
die Bewohner immer wieder an. Sie rechnen darauf, daß der Versuv lange
untätig bleibt, oder daß er sie verschont. Dazu lockt die große Fruchtbarkeit,
denn die verwitterte Lavaerde trägt außerordentlich reiche Früchte. Zudem
kündigen sich die Ausbrüche durch Vorzeichen an. Auch hat man Beobachtungs-
Häuser nahe am Krater gebaut; sie melden die drohende Gefahr.
Der Ätna auf Sizilien ist bedeutend höher als der Vesuv, denn er ragt
gegen 3300 m in die Luft empor. Bei ihm liegen die Krater nicht oben,
sondern an den Abhängen. Bei jedem Ausbruch bilden sich neue Auswurf-
kegel. Die Ausbrüche des Ätnas sind meist noch gefährlicher als die des Ve-
suvs. Seine schwarzen Lavaströme reichen sogar bis ins Meer. Der Ätna ist
bis 1200 m gut angebaut. Dann folgen stattliche Wälder. Darüber breitet
sich eine Wüste aus; denn die Asche ertötet jedwedes Pflanzenleben. Italien
wird öfter heimgesucht von schweren Erdbeben. So ward Messina 1908
fast gänzlich zerstört.
9. Italiens Landwirtschaft.
Italien liegt weit südlicher als Deutschland ; es ist darum bedeutend wärmer
als unser Vaterland. Doch nimmt die Wärme nicht gleichmäßig von Norden
nach Süden zu; wird doch Italien von den Apenninen durchzogen. Die
Lombardei hat noch festländisches Klima. Hier sind die Sommer ebenso
warm wie in Sizilien und die Winter ebenso kalt wie am deutschen Meder-
rhein; hier fallen zu allen Jahreszeiten Mederschläge. Das übrige Italien
hat Mittelmeerklima. Die Winter sind mild, aber regenreich; die Sommer
sind heiß, aber trocken. Die Sommerwärme ist fast überall gleich, aber die
Winterwärme nimmt von Norden nach Süden stark zu; am mildesten ist der
Winter auf Sizilien. In Sizilien erntet man den Weizen bereits Ende Mai
oder Anfang Juni. Dann verwandelt die sengende Sonnenglut die Felder in
dürre Steppen. Nach den ersten Herbstregen bestellt man die Felder. Die
Niederschläge fallen in kurzen, starken Güssen. Landregen sind freilich ganz
selten. Die Trockenheit hält nirgends so lange an, daß ein Teil des Landes
zur Steppe hinabsinkt. Freilich weht im Süden oft ein heißer, trockener Wind,
Schirokko genannt. Er stammt aus Afrikas Wüsten und führt häufig viel
Staub mit sich. Während des Schirokkosturmes kann die Hitze bis 50 Grad
steigen, sogar um Mitternacht sind manchmal noch 35 Grad. Die Luft ist dunstig,
der Himmel gelblich oder bleifarben, die Sonne kaum zu sehen, denn die Luft ist
186
XIII. Das Königreich. Italien.
mit rötlichem oder weißem Staube erfüllt. Die Menschen fühlen sich matt,
beklommen, gedrückt; niemand kann da arbeiten. Ein solcher Wind dörrt
natürlich die Erde furchtbar aus; selten nur bringt er Regen.
Italien hat Wärme und Feuchtigkeit genug für ein üppiges Wachstum
der Pflanzen. Viele Felder kann man zweimal bestellen, viele Wiesen 4 bis
6mal mähen. Im ganzen ist die knappe Hälfte der Bodenfläche angebaut,
also weit mehr als in Griechenland, der Türkei und Rußland. Aber man
könnte bequem noch große Flächen urbar machen und anbauen. Am ange-
bautesten sind die Ebenen am Po und Arno, die Ebenen bei Neapel, das
Küstengestade am Busen von Genua, sowie Teile von Apulien, von Sizilien
(Palermo, das Vorland und die Abhänge des Ätnas). Vielfach scheut man
nicht die Mühe der künstlichen Bewässerung, wie in der Lombardei und auf
Sizilien. Ein Gebiet, bald so groß wie Württemberg, wird künstlich bewässert
und trägt darum reiche Erträge. In Sizilien gewinnt man dadurch bis zum
zwanzigfachen der Aussaat; denn man kann mehrere Ernten hintereinander er-
zielen, Weizen und Mais, ferner mehrere Gemüse nacheinander. Italien erbaut
vor allem Weizen und Mais, weniger Roggen, Gerste und Hafer; dafür erbaut
es auch Reis, besonders in den Ebenen am Po und am Arno und aus Sizilien bei
Syrakus und Katania. Merkwürdig ist aber, daß das fruchtbare Italien vom Acker
nicht so hohe Erträge erzielt als Deutschland. So muß Italien lwch Getreide
einführen. Dabei genießen die Italiener viel Gemüse und Hülsenfrüchte, welche
überall in großem Maße angebaut werden.
Italiens Wein land ist am größten. Italiens Weingärten sind so groß
wie die Provinz Westfalen. Dennoch gewinnt Frankreich mehr Wein als
Italien, weil die Italiener die Kelterei noch nicht zweckmäßig betreiben. Viele
Winzer lassen die Trauben mit nackten Füßen austreten, anstatt sich Pressen
anzuschafsen. Sie sorgen nicht für gute Weinkeller, sondern legen die Wein-
fässer in Schuppen und Verschlüge. Dadurch gewinnen sie nur minderwertige
Weine, die wohl in Italien, aber nicht im Auslande Absatz finden. So ist
die Weinausfuhr nicht so groß, wie sie sein könnte. Dafür ist der Versand
frischer Trauben, besonders nach Deutschland, gewachsen, seitdem die Alpen-
bahnen sie rasch und billig befördern.
Die Olbäume gedeihen noch auf dürftigem Boden und nehmen etwa
die Hälfte des Weinlandes ein; sie werden namentlich im südlichen Italien an-
gepslanzt und zwar teils in Reihen, teils in Hainen. Die Früchte werden
teils frisch, teils eingemacht genossen. Das ausgepreßte Ol ist das beliebte
Speiseöl, das man in Italien statt der Butter verwendet. Die Ausfuhr von
Ol ist bedeutender als die Weinausfuhr. Groß ist auch die Ausfuhr von Süd-
früchten. Sizilien liefert die meisten Apfelsinen und Zitronen. Doch
gedeihen sie nur bei künstlicher Bewässerung. Die Ausfuhr von Wein, Ol
und Südfrüchten ist größer als die Einfuhr von Getreide. Daneben zieht
man Feigen, Mandeln, Melonen, Johannisbrot und andere südliche Gewächse,
vor allem auch eole Kastanien und Nußbäume. Die edle Kastanie
bildet ganze Wälder; ihre Früchte werden gern gegessen, teils geröstet,
teils gekocht. Sie ersetzen den Italienern die Kartoffel. Walnüsse, Hasel-
nüsse, Lambertsnüsse liefert Italien gleichfalls in erheblichen Mengen.
Die Maulbeerbäume finden sich massenhaft in der Lombardei
und ließen deshalb die Seidenspinnerei emporblühen. Rosinen und Korinthen
liefert Italien gleichfalls.
Italien hat viel Wiesen- und Weideland. Dennoch könnte
XIII Das Königreich Italien.
167
seine Viehzucht besser dastehen. Am meisten blüht die Rindviehzucht
in den Alpen und dem Polande. In Mittel- und Süditalien fehlt es bei
der langen Trockenheit während des Sommers an Futter. Daher hält man
dort vorwiegend Schafe und Ziegen; diese kann man auch auf dürre Weiden
treiben. Italien hat doppelt soviel Schafe und Ziegen als Rinder. Die
Italiener lassen ihr Vieh stets im Freien und kümmern sich wenig um dessen
Wohl und Wehe. Oft raffen Viehseuchen Tausende der Tiere hin. Man
hält in Italien wenig Pferde, aber viel Esel und Maultiere. In den
Maremmen gibt es auch Büffel. Die Geflügelzucht ist sehr stark verbreitet,
wiederum in der Poebene. Italien kann daher viel Eier ausführen. Am
meisten Geld verdient Italien freilich mit der Zucht der Seidenraupe. Die
Fischerei ist weit verbreitet, da ja Italien sehr viel Küste hat. Man
fängt bei Sardinien namentlich Sardinen und Sardellen, ferner bei Genua
Thunfische (bis 2x/2 m lang), Tintenfische usw. Daneben fischt man Korallen
und Schwämme.
Das W a l d l a n d ist bedeutend geringer als bei uns. Die Ziegen
benagen die jungen Bäume. Die Köhlerei ist in Italien stark verbreitet: in
Italien heizt man vorwiegend mit Holzkohlen, fast gar nicht mit Holz oder
Kohlen.
Die italienische Landwirtschaft leidet gleich der griechischen, türkischen,
russischen unter mancherlei Mängeln. Da man wenig Rindvieh hält, kann man
auch wenig düngen. Zudem gibt es doch fast gar keine Viehställe. Zum
Kunstdünger hat der Bauer zu wenig Geld. Die Pflüge taugen nichts und
ritzen den Boden nur notdürftig. Das Land ist zum allergrößten Teile im
Besitz des Adels, der Kirche und der Städte. Sie verpachten die Güter an
Pächter und Afterpächter und sind nur darauf bedacht, den Pachtzins einzu-
treiben. Es gibt in Italien viel große Orte. Die Landarbeiter haben weite Wege.
Um diese zu sparen, hausen sie vielfach während der Erntezeit in elenden
Hütten, die auf dem Felde stehen.
10. Italiens Bergbau und Industrie.
Italien ist arm an Bodenschätzen. Steinkohlen sind fast gar
nicht vorhanden, Braunkohlen finden sich nur in geringer Menge.
Man führt daher viel englische Kohle ein; Genua ist der wichtigste Kohlen-
einsuhrhafen. In der Regel heizt man mit Holzkohle. Ofen zum bloßen
Heizen gibt es wenig. Eisen findet sich auf Elba und Sardinien, in Tos-
kana und Piemont. Doch muß Italien noch viel Eisen einführen. Sardinien
liefert überhaupt die größte Ausbeute an Erzen, nicht bloß an Eisenerzen,
sondern auch an Silber-, Blei- und Zinkerzen. Schwefel hingegen findet
sich reichlich und zwar aus Sizilien. Gegen 4000 Schwefelgruben sind in
Betrieb. Doch ist der Betrieb recht mangelhaft. Maschinen verwendet man
fast gar nicht. Die Stollen sind so eng, daß nur ein Mann darin arbeiten
kann. Auf steilen Treppen werden die Schwefelerze an die Oberfläche ge-
tragen, statt daß man dies durch Hunde besorgen läßt. In Schmelzöfen
reinigt man den Schwefel von allen Beimengungen. Der Abbau findet nur
im Sommer nach der Ernte statt. Die giftigen Schwefeldämpfe vernichten
weithin allen Pflanzenwuchs. Selbst die Arbeiter haben schwer unter dem
Schwefeldampf zu leiden. Italien ist das schwefelreichste Land der Erde. Es
erzeugt mehr reinen Schwefel als alle andern zusammen. Die Ausbeute an
188
XIII. Das Königreich Italien.
Schwefel hat fast ebensoviel Wert wie die der übrigen Erze zusammen. An
Steinsa lz fehlt es nicht; aber man gewinnt lieber Seesalz, da es billiger zu
stehen kommt. An den Küsten Siziliens, Sardiniens und der Adria gibt es
überall Salzgärten oder Salinen; darein läßt man Meerwasser laufen und es
dann in der Sommerhitze verdunsten. So hat man wenig Arbeit und Un-
kosten.
Reich ist Italien an M a r m o r. Davon besitzt es die besten und präch-
tigsten Sorten. Seine Kirchen, Dome, Paläste und Prachtbauten sind vor-
wiegend aus Marmor errichtet. Die Seidenspinnerei und Sei-
denweberei stehen an erster Stelle unter den Gewerben. Mailand ist
ihr Hauptsitz.
Das übrige Webgewerbe wird auch gepflegt, wie die Baumwoll-, Woll-,
Leinen-, Hanf- und Juteweberei. In Toskana blüht vor allem die Stroh-
und Hutflechterei. Die Eisenindustrie ist erst im Aufschwung begriffen. Früher
mußte Italien fast alle Maschinen, Eisenbahnschienen, Lokomotiven, Panzer-
platten, Geschütze und Geschosse vom Ausland (England) beziehen, heute wird
davon ein bedeutender Teil im Lande hergestellt; das dazu nötige Roheisen
muß man freilich noch kaufen. In Genua sind berühmte Schiffsbauwerften.
Venedig liefert feine Glaswaren. Sonst fertigt man Gold-, Silber- und Bronze-
waren, Holz-, Mosaik- und Steinarbeiten, Gipsfiguren und Tonwaren, Musik-
werkzeuge und zuletzt auch Korallenschmuck. Italiener bieten manche davon
auch in Deutschland feil.
Italien ist gleich Schweden und Norwegen mehr auf die Benutzung der
Wasserkräfte angewiesen, da es an einheimischen Kohlen fehlt. Die Italiener
arbeiten nicht so gut und rasch. In einer Spinnerei leisten 8 englische Arbeiter
in 9V2 Stunden mehr als 12 italienische in viel längerer Zeit. Die italienischen
Arbeiter erhalten zwar weniger Lohn, aber im Verhältnis zu ihrer Leistung
doch noch zu viel.
11. Italiens Handel und Verkehr.
Italien war zur Zeit des römischen Reichs das wichtigste.yandelsland im
ganzen Mittelmeergebiet. Auch im Mittelalter entstanden in Italien mächtige
Handelsstädte, wie Venedig und Genua. Als aber Amerika entdeckt war, da
verloren sie an Bedeutung. Jetzt fuhren die Schiffe um Afrika herum nach
Indien und schafften die Waren gleich nach Spanien, Portugal, Frankreich,
England, Holland, Deutschland; sie gingen nicht mehr durch Italien wie früher,
wo man sie in Ägypten und Syrien kaufte. Seitdem Italien geeinigt und wieder
ein Königreich ist, hat sich auch sein Handel bedeutend gehoben. Die Küsten-
schiffahrt ist sehr groß. Die allermeisten Städte liegen am Meer oder in seiner
Nähe. Die italienische Handelsflotte verkehrt zumeist mit Hafenstädten des
Mittelmeeres, mit Athen, Saloniki, Konstantinopel, Marseille usw.
Italiens Außenhandel beläuft sich auf rund 5 Milliarden. Den
größten Warenaustausch hat es mit Deutschland und England, sodann mit den
Vereinigten Staaten in Amerika und mit Frankreich, darauf mit der Schweiz und
Österreich-Ungarn. Nach Deutschland sendet Italien vor allem Rohseide
(über 100 Millionen Mark), dann Früchte, nämlich Mandeln, Apfel, Trauben,
Nüsse, Apfelsinen, Zitronen, weiter Marmor und Schwefel, Hanf, Eier und
Gemüse. Wir liefern ihm dafür Waren des Eisen- und Metallgewerbes, des
Web- und Ledergewerbes, sowie allerhand Farben und Steinkohlen nebst Koken.
XIII. Das Königreich Italien.
189
Es bezahlt seine Einfuhr vornehmlich mit Seide und Früchten. Die guten
Alpenbahnen erleichtern den Warenaustausch zwischen Italien und Deutschland.
12. Die Italiener.
Italien ist im ganzen dicht bewohnt, denn seine Volksdichte ist größer
als die Deutschlands. Am dichtesten sind bevölkert die Lombardei, Ligurien,
das Arnotal, das innere Land zwischen Rom und Neapel (Kampanien). Da-
für sind andere Striche um so dünner bevölkert, wie z. B. die Maremmen,
die höheren Gebirge usw. Manche Gebiete sind stark übervölkert. Die Aus-
wand emng aus Italien ist sehr groß; sie ist stetig gewachsen und beträgt in
letzter Zeit 500 000 bis gegen 800 000 im Jahre. Freilich kehren viele wieder
in die Heimat zurück. Sie finden in ihrem so schönen und fruchtbaren Vater-
lande nicht genug Arbeit und Verdienst. Freilich könnte dies noch viel mehr
Menschen ernähren, wenn man es nur richtig ansinge. Man müßte die großen
Güter zerteilen und noch viel Ödland oder Weideland in Ackerland verwandeln.
So lange das nicht geschieht, suchen viele Italiener im Auslande Beschäftigung.
Sie kommen auch in großen Scharen zu uns, wo sie (zumeist Lombarden)
Erdarbeiten verrichten oder in Bergwerken ein Unterkommen suchen. Sehr
viele gehen auch nach Frankreich, nach der Schweiz und nach Österreich.
Haben sie ein hübsches Stück Geld verdient, so kehren sie nach Hause zurück.
Die Italiener sind Nachkommen der alten Römer, haben sich aber im
Lause der Zeit mit Lombarden und anderen Germanen, mit Arabern und
Griechen und anderen vermischt. Sie sind heiter und lebhaft und machen beim
Reden viele Gebärden und Bewegungen. Leicht geraten sie in Leidenschaft
und Streit. Dann sitzt ihnen der Dolch oder das Messer nicht fest. Sicher
treffen sie das Herz ihres Feindes. Glauben sie, daß ein Nebenbuhler ihnen
die Geliebte abspenstig machen will, dann muß sich der sehr in acht nehmen,
sonst fällt er, vom Dolch getroffen, tot zur Erde. Mord und Totschlag kommen
viel häufiger vor als bei uns. Mit den Tieren haben die Italiener kein Er-
barmen. Schonungslos morden sie die nützlichsten Singvögel. So großen
Schönheitssinn die gebildeten Italiener zeigen, so unsauber und schmutzig sind
die Armen. Doch alle lieben Gesang und Musik, und im Schnitzen und Formen
sind sie wohl bewandert. In der Arbeit nehmen sich namentlich die Süd-
italiener Zeit; sie lieben das süße Nichtstun. Das ist aber nötig, denn in der
Hitze darf man nicht so angestrengt arbeiten, wenn man gesund bleiben will.
Leider blüht vielfach die Räuberei, besonders in den Bergen und in Sizilien.
Hier gibt es einen Geheimbund, der alle brandschatzt, wenn man ihm nicht
zu Willen ist. Die Reichen zahlen ihm Beiträge, die Bauern verraten nichts,
die Armen stellen sich in seinen Dienst. Fast nie kommt der Mörder an den
Tag. Oft kennt ihn jeder, aber niemand wagt es. ihn zu verraten; sonst wäre
er binnen kurzem eine Leiche oder sein Besitz ein Raub der Flammen. Die
Italiener leben mäßig und meist einfach. Sie sind namentlich im Süden
noch recht abergläubisch und ungebildet. Sie glauben da, wenn die Lava
ausströmt, man könne mit Prozeisionen helfen.
Die italienischen Ortschaften liegen häufig auf Bergen und nicht im Tale.
Man sucht Schutz vor Räubern, Feinden und dem bösen Fieber. Das hemmt
aber den Verkehr. Der Bahnhof ist oft stundenweit vom Orte entfernt. Im
Orte hat man die Häuser eng aneinander gepfercht. Dazu wirft man alles,
was man nicht brauchen kann, auf die engen Wege; kein Wunder, wenn es da
190
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
recht unsauber und ungesund ist. Eine Ausnahme machen die Orte und Stadt-
teile, die häufig von Fremden besucht werden. Die Fremden bringen viele
Millionen ins Land und helfen so den Wohlstand Italiens mehren.
XIV. vie pvrenäenbalbmsel.
1. Ihre Lage und ihre Grenzen.
Im Südwesten Europas liegt eine große Halbinsel, welche größer ist als
Italien und größer als Frankreich. Sie erstreckt sich südlich von den Pyrenäen
weit nach Südwesten und heißt darum die Pyrenäenhalbinsel. Man
nennt sie auch häufig nach dem iberischen Gebirge die iberische Halb-
insel. Sie hat die Gestalt eines verschobenen Vierecks, dessen längste Seite
im Norden liegt. ' Im Nordosten hängt sie durch die Pyrenäen mit Frankreich
und dem Rumpfe Europas zusammen. Diese einzige Landgrenze bildet den
achten Teil ihrer Gesamtgrenze. Zwei große Meere bespülen die Pyrenäen-
halbinsel, nämlich der Atlantische Ozean und das M i t t e l m e e r.
Beide stehen durch die schmale Straße von Gibraltar miteinander
in Verbindung. Sie ist an der engsten Stelle kaum so breit, wie der Gotthard-
tunnel lang ist (13 km); sie trennt die iberische Halbinsel und damit Europa
von Afrika und zwar von Marokko. Der Atlantische Ozean bildet zwischen
Frankreich und Spanien den Busen oder Golf von Biskaya. Das Ge-
stade der Pyrenäenhalbinsel ist im ganzen wenig gegliedert; es gibt zwar
einige buchtenförmige Einschnitte, doch reichen sie nicht tief ins Land hinein. In:
Osten liegen die Balearen; sie sind vielmal kleiner als Sardinien und
Korsika.
2. Ihre Größe.
Die Pyrenäenhalbinsel ist um ein Zehntel größer als das Deutsche Reich
und zählt im ganzen knapp 600 000 qkm, also etwas weniger als Österreich-
Ungarn. Ihre Einwohnerzahl freilich bleibt beträchtlich hinter der Österreich-
Ungarns und selbst Frankreichs zurück, denn sie beträgt nur rund 25 Mill.
Sie ist also dünn bevölkert wie die Balkanhalbinsel. Die Landgrenze ist ungefähr
420 km lang, die übrige atlantische Nordgrenze aber 600 km; demnach ist die
gesamte Nordgrenze über 1000 km lang; die iberische Halbinsel ist daher
ebenso breit wie Italien lang ist. Die nordsüdliche Ausdehnung zählt im
Durchschnitt reichlich 700 km, gleich der Entfernung Köln—Posen. Die ost-
westliche Ausdehnung nimmt von Norden nach Süden ab; doch beträgt sie auf
der Südseite noch 600 km. So hat die iberische Halbinsel eine durchschnittliche
Breite von etwa 800 km. Wenn sie auch auf vier Seiten vom Meer um-
schlungen ist, so kann sich das Meer doch nicht so geltend machen wie in Groß-
britannien, wo kein Punkt über 120 km vom Meere entfernt ist. Madrid
liegt ziemlich in der Mitte der Halbinsel; bis zum Mittelmeer im Osten sind
es 300 km, bis zum Atlantischen Ozean im Westen über 400 km, bis zum
Atlantischen Meere im Norden sind es über 300 km und bis zum Mittelmeer
im Süden über 400 km. Zwei Staaten befinden sich auf dieser Halbinsel.
Das Königreich Spanien umfaßt den größten, die R e p u b l i k
Portugal hingegen den kleineren Teil, etwa ein Sechstel der Gesamtfläche.
Portugal erstreckt sich im Westen längs des atlantischen Weltmeeres und bildet
ein langes, schmales Rechteck. Alles übrige Gebiet gehört zu Spanien, das
XIV. Die Pyrenäcnhalbinsel.
191
.daher gegen 4 5/e der Gesamtfläche umfaßt. Nur England besitzt die Felsen-
festung Gibraltar an der Straße von Gibraltar. Die Balearen sind
spanisch.
3. Die Pyrenäen, Spaniens nördliches Rand- und Grenzgebirge.
Im Nordosten wird Spanien durch ein hohes Gebirge von Frankreich
geschieden. Es sind die Pyrenäen. Sie sind ungefähr halb so lang wie die
Alpen, sie sind auch nur halb so breit wie sie. Nach Norden und Süden
fallen sie steil ab, denn es sind ihnen da Ebenen vorgelagert. Am schroffsten
ist der Abfall nach Norden zu, nach Frankreich, weil hier die Ebene nahe ans
Gebirge herandrängt. Nach Spanien zu ist der Abfall weniger schroff, weil
die Ebroebene weiter entfernt ist, so daß sich ein Hügelland einschieben kann.
Die höchsten Berge in den Pyrenäen bleiben etwa 1400 m hinter dem Mont-
blank zurück, find also etwas höher als der Ätna und die höchsten Gipfel auf
der Balkanhalbinsel. Sie ragen noch über die Schneegrenze empor, aber zu
wenig, als daß sich große Firnfelder und Gletscher bilden könnten. Auf der
warmen Südseite liegt die Schneegrenze viel höher als auf der rauhen Nord-
seite. Darum gibt es bloß auf der kühleren Nordfeite größere Firnfelder und
Gletscher. Sie tragen viel weniger Wald als die Alpen und besitzen lange
nicht so viel liebliche Matten oder Almen. Sie sind eben regenärmer als die
Alpen. Ihnen fehlen auch die lieblichen Seen. Wie die Alpen sind sie im
mittleren Teile am höchsten, im Osten und Westen nimmt ihre Höhe ab. Den
Pyrenäen fehlen auch die Längstäler, denn sie bestehen nicht aus mehreren
Ketten. Die Quertäler bilden häufig schöne Kessel. In Stufen steigt man
empor. Die Gewässer stürzen darum oft tief über Felsen herab. An bequemen
Übergängen fehlt es den Pyrenäen. Die Bahnen und Straßen ziehen sich
deswegen am Ost- und Westrande hin und umgehen somit das eigentliche
Gebirge. Der trockene Südabhang ist am dünnsten bevölkert; die Weiden sind
mager, die Ortschaften geradezu armselig. So sind die Pyrenäen ein echtes
Grenz- und Scheidegebirge. Die Staatsgrenze verläuft auch ziemlich genau
auf dem Kamm. In den Pyrenäen haben sich noch Nachkommen der ältesten
Urbewohner Spaniens erhalten, nämlich die Basken.
4. Das spanische Hochland.
Den Hauptteil Spaniens bildet ein großes Hochland. Im Norden und
Süden und Osten wird es von hohen Gebirgen eingerahmt; nach Westen zu
fällt es allmählich ab zum portugiesischen Tieflande. An die Pyrenäen schließt
sich das Kantabrische Gebirge an; es fällt steil zum Atlantischen
Ozean ab und bildet mehrere gute Hafenbuchten. Gegen die iberische Ebene
oder Ebroebene bildet das iberische Scheidegebirge die Grenze.
Nach der Ebroebene fällt eä schroff und steil ab. Nach Osten zu tritt das
spanische Hochland ziemlich dicht ans Mittelmeer heran. Es bleibt nur Raum
für eine schmale Küstenebene. Der Abfall zu ihr ist gleichfalls steil. Ganz im
Süden erhebt sich das Gebirge vonGranada. Dessen höchste Gipfel
überragen sogar noch die Pyrenäen und tragen daher auch im Sommer Schnee.
Der höchste Teil heißt darum S i e r r a N e v a d a, d. h. die beschneite Säge,
die beschneite Gehirgskette. Nach Südwesten schließt ein andres Randgebirge
das spanische Hochland ab; es ist die Si err a M o r e na, d. h. dunkles
Gebirge, Schwarzwald. Seine Höhen tragen Laubwälder und Matten und
192
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
sehen daher von weitem dunkel aus. In der Mitte des spanischen Hochlandes
erhebt sich das kastilische Scheidegebirge und teilt das spanische Hochland in
eine nördliche und eine südliche Hälfte; die nördliche heißt Altkastilien, die
südliche Neukastilien.
Das spanische Hochland ist in Altkastilien rund 800 in, in Neukastilien
dagegen kaum 700 in hoch. Diese Hochebenen sind also bedeutend höher als
die bayrische. Beide gleichen flachen Mulden, welche sich nach Westen zu sanft
neigen. Darum haben auch die Hauptflüsse eine vorwiegend westliche Richtung,
wie der Duero, der Tajo oder T e j o, der Guadiana, der
Guadalquivir. Der Boden besteht hauptsächlich aus lockeren, weichen
Erdmassen, aus Lehm, Ton, Mergel und Gips. Die Flüsse haben ihre Betten
darum tief in das lockere Erdreich eingegraben. Die Täler bilden deshalb
steile Wände. Der Spiegel des Tajo z. B. liegt gegen 200—300 m tiefer als
das ihn umgebende Tafelland. Das ist dem Verkehre außerordentlich nach-
teilig. Dazu entziehen die tief eingeschnittenen Flüsse den: Hoch- oder Tafel-
lande zu viel Grundwasser. Es leidet überhaupt an Wasferarmut. Die hohen
Gebirgsränder halten die regenspendenden Wolken ab. Das Hochland selbst
enipfängt deswegen viel zu wenig Niederschläge, bloß 30—40 ein. Das genügt
für das Hochland nicht, zumal der Regen überwiegend im Frühjahr und Herbst
fällt. Im regenarmen heißen Sommer vertrocknet und verdorrt daher alles.
Die Quellen versiegen, selbst die Flüsse schrumpfen zu kleinen Bächen zusammen,
kleinere trocknen völlig aus. Im Winter dagegen herrscht empfindliche Kälte.
Vergebens sucht der Wanderer auf dieser Hochebene die lieblichen Täler und
Gärten Italiens, vergebens auch die Wälder Deutschlands. Aber unendlich
scheinende, sonnenverbrannte Flächen breiten sich vor ihm aus. Meilenweit
ist weder Busch noch Baum zu sehen; nicht einmal ein Hügel stellt sich dem
suchenden Auge entgegen. Das Gras, das diese weite Steppen bedeckt, ist
dürr und verbrannt. Disteln, Ginster, harte Gräser gedeihen nur. Meilenweit
ist weder ein Mensch noch ein Tier zu schauen. Es sind herrenlose Gefilde,
durch die wir streifen. Endlich winken uns kleine Windmühlen, einzelne Bauern-
höfe tauchen auf. Daneben gewahren wir Hürden für die Schafe und einen
armselig gekleideten Hirten. Da endlich erblicken wir große Schafherden,
es mögen 10 000, ja 20 000 bis 30 000 Schafe sein. Ein Oberhirt leitet das
Hutgeschäft. Jahrein jahraus bleiben die Herden im Freien; sie wandern von
Weideplatz zu Weideplatz. Die Hirten errichten sich leichte Hütten, in welchen
sie nächtigen. Die Herden lassen sich um die Hütten nieder; bissige Hunde
verteidigen sie gegen die zahlreichen Wölfe. Die Schafe haben feine Wolle,
denn es sind Merinoschafe. Das spanische Hochland ist ein großes
Weideland, ein Hauptgebiet der europäischen Schafzucht. Wir reisen weiter
und begegnen plötzlich einem langen Zug von Maultieren. Sie sind hoch mit
Warenballen beladen und werden von einem bewaffneten Führer begleitet.
Denn nicht selten lauem Räuber auf Beute! Wir wandern weiter und er-
blicken Wohnstätten. Schon hoffen wir auf gastliche Aufnahme. Zu unfern:
Erstaunen gewahren wir, daß das Dorf verlassen ist. Die Bewohner haben
es im Stich gelassen, die Steppe war zu ertraglos. Endlich gelangen wir an
ein bewohntes Dorf; da sagen uns die Leute: „Eine Lerche, die über Kastilien
hinfliegen will, muß sich ihr Futter mitnehmen." Wir haben es an uns er-
fahren, wir wären verhungert und verschnmchtet, wenn wir uns nicht mit Eß-
und Trinkvorräten versehen hätten.
Wir begeben uns nach Ata d rid. Der Fluß ist ausgetrocknet. Trockenen
XIV. Die Pyrcnäenhalbmsel.
193
Fußes schreiten wir durch das mit gelbem Sande bedeckte Bett. Nur im
Frühling und Winter ist er wasserreich. Madrids Häuser haben meistens
flache Dächer. Die Fensterläden sind geschlossen, herrscht doch eine Hitze von
40 Grad. Wir treten in ein Zimmer, es ist völlig dunkel, denn dichte Vor-
hänge sind noch davorgezogen. Fast kein Mensch läßt sich auf den glühenden
Straßen erblicken. Wenn aber abends die Hitze sich verringert, wird es lebendig.
Jetzt öffnen die Kaufleute ihre Läden; jetzt kaufen die Madrider und
Madriderinnen ihre Waren. Auf den Plätzen und schattigen Promenaden
wandelt eine dicht gedrängte Menge. Fortwährend preisen Wasserträger
frisches, klares Trinkwasser an. Sie rufen: Wasser, Wasser; wer wünscht
Wasser und Wasser klar und frisch wie der Schnee! Doch ist das Wasser durchaus
nicht frisch vom Brunnen geschöpft. Der Spanier trinkt fast nie frisches Quell-
wasser. Er sammelt in der regenreichen Zeit Wasservorräte und hebt sie ein
halbes Jahr, ja ein Jahr und länger auf. Er meint, das Wasser würde wie
der Wein besser, wenn es älter sei. Seine Wassergefäße sind löcherige Ton-
geschirre, welche fortwährend tropfen. Durch die stetige Verdunstung hält sich
das Wasser viel frischer als in undurchlässigen Krügen.
Auf der spanischen Hochebene gibt es außer den dürren Steppen und
Grasländereien auch Bezirke, auf denen man Ackerbau treibt. Man bewässert
wie in Italien die Felder künstlich. Das ist freilich nicht leicht, da ja die Flüsse
so tief eingeschnitten sind. Durch Schöpfräder hebt man das Wasser aus dem
Flusse empor. Maultiere setzen sie in Bewegung. Man müßte aber die künst-
liche Bewässerung noch viel mehr anwenden und die Schöpfräder durch Wind-
mühlen treiben lassen. . Man sollte auch Wälder anpflanzen, denn sie würden
im Sommer die Hitze und im Winter die Kälte mildern. Am fruchtbarsten
sind die Landstriche nördlich vom Duero und südlich vom Tajo. Neukastilien
gilt als eine Kornkammer Spaniens. Leider ist der kastilische Bauer träge
und ein Feind der Bäume; denn er meint, die Bäume zögen die Vögel an
und schützten sie und die Vögel fräßen ihm die Saaten weg. Er sieht also
nicht ein, daß der Nutzen der Wälder und Bäume viel größer ist als der geringe
Schaden mancher Vögel.
5. Die spanischen Fruchtauen.
a) Das andalusische Tiefland. Spanien besitzt auch fruchtbare
Landstriche; ein solcher breitet sich auf beiden Seiten des Guadalquivir aus
und heißt das andalusische Tiefland. An Größe ist es der Rheinprovinz gleich.
Hier ließen sich ehemals die germanischen Vandalen nieder, von ihnen hat es
den Namen Andalusien geerbt. Umrahmt wird das andalusische Tiefland im
Norden von der Sierra Morena, im Süden von dem Gebirge von Granada.
Der Guadalquivir bewässert es, aber unterhalb Sevillas bildet es ein
Sumpsland. Wie Po und Arno, bringt auch der Guadalquivir eine un-
geheure Menge von Sinkstoffen mit und schwemmt sie an der Mündung an.
Die ganze Ebene ist Schwemmland. Da das Gebirge Granada mit der
Sierra Nevada über die Schneegrenze emporreicht, sendet es dem Guadalquivir
viel Wasser zu. Dieser ist deswegen der wasserreichste Fluß Spaniens und
weithin schiffbar und sogar das ganze Jahr hindurch, da er im Sommer nicht
zu wasserarm wird.
Das andalusische Tiefland ist heiß; denn die warmen südwestlichenWindehaben
freien Zutritt, aber die rauhen Nordwinde werden durch die Siera Morena
abgehalten. Es enlpfängt auch mehr Niederschläge als das spanische Hochland.
Ratgeber I. Franke. Erdkunde, Tetl 2. 13
194
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
Freilich ist der Sommer fast ganz regenlos. Damm gibt es auch hier wenig
Bäume und einige steppenartige Gebiete. Wie in Sizilien und Griechenland
erntet man im Juni das Getreide, wonach die Felder sich in Steppe der-
wandeln. Wo man aber das Land künstlich bewässert, wie in der Lombardei
usw., dort zeigt sich uns ein Paradies. Die Ortschaften sind meistens um-
rauscht von Oliven- und Oleanderhainen, von Pfirsisch- und Feigengärten, von
Granatbäumen, die zur Zeit der Blüte in herrlichem Scharlachschmucke prangen.
Auf den Feldem wogt goldener Weizen, der reichlich trägt. An den Abhängen
gedeiht der Wein vorzüglich. Alle Südfrüchte werden gezogen; selbst Palmen
findet man, Mais und Tabak werden in bedeutenden Mengen gepflanzt.
Korkeichen gibt es reichlich. Johannisbrotbäume und Kastanien sind häufig.
Die Schweine füttert man vielfach mit Kastanien und Johannisbrot, denn sie
geben danach ein schmackhaftes Fleisch.
Sevilla am Guadalquivir ist eine altberühmte Stadt. Heute ist sie
etwa so groß wie Kassel, ftüher war sie schon einmal so groß wie Köln. Die
Schiffe fuhren bis Sevilla und es war lange eine wichtige Hafenstadt wie
Hamburg. Damals waren die Schiffe kleiner als heute; jetzt können natürlich
die größeren Seeschiffe nicht mehr bis Sevilla fahren, sie landen in K a d i z.
Aus Sevilla führt man vor allem Mais, Kork und Südfrüchte aus. Berühmt
ist es noch durch seine Zigarrenmacherei. 6—7000 Arbeiter sind darin be-
schäftigt. In der Weberei und Steingutindustrie leistet Sevilla auch Bedeutendes.
Sevilla ist wie eine morgenländische Stadt gebaut, denn hier hatten die kunst-
sinnigen Araber oder Mauren (= Schwarzen, Morena = schwarz) ihren Sitz. Die
Straßen sind zwar eng und krumm, aber reinlich. Die hohen Häuser haben
einen blendend weißen Anstrich und nur glatte Dächer. Der viereckige Hof-
raum ist mit Säulengängen, Blumenbeeten und Springbrunnen geziert.
Ebenso berühmt war in der maurischen Zeit Kordoba, es liegt weiter
aufwärts am Guadalquivir und ist heute nur noch eine kleinere Stadt; aber
die Umgebung ist durch ihre Fruchtbarkeit ausgezeichnet. Herrlich liegt auch
Granada in dem Tale eines Nebenflusses des Guadalquivirs. Im Frühling
und Sommer sind alle Höfe, alle Balkone, alle Terrassen von duftenden
Rosen erfüllt und alle Hecken uud Mauern von Rosen umsponnen. Es ist die
Stadt der Granatbäume. Vier Flüsse und unzählige künstliche Wasseradern
durchziehen das liebliche Hochtal, das durch beständigen Überfluß an Wasser
ein ewig frisches, entzückendes Ansehn erhält. Hier hatten die Mauren ihr
letztes Bollwerk. Auf einem Felsen erbauten sie ein prachtvolles Königsschloß.
Es bestand aus hohen Säulenhallen, herrlichen Sälen und wundervollen
Höfen. Die Höfe zogen sich den Hügel hinauf und wurden durch Treppen
miteinander verbunden. In den Gärten blühten Feigen und Oleander,
Rosen und Granaten. Die Prunksäle erstrahlten in prächtigem Gold- und
Marmorschmuck. Der viereckige Löwenhof ward von einer Halle umschlossen,
die von 168 Säulen getragen ward. Berühmt war der Löwenbrunnen. Zwölf
Marmorlöwen trugen eine kunstvoll verzierte Schale aus schwarzem Alabaster.
Über ihr ruhte eine kleinere Schale, aus der ein mächtiger Wasserstrahl empor-
schoß und sich in die große ergoß; aus dem Rachen der Löwen entströmte
das Wasser. Leider ist dieses herrliche Bauwerk später zum Teil zerstört worden.
b) D i e frucht- und weinreiche Süd - und Ostküste. Nach
Süden fällt das Gebirge Granada steil zum Mittelmeer ab. Das Gestade ist
ebenso herrlich wie die Riviera am Busen von Genua. Es ist das bevorzugteste
Stück von ganz Spanien; denn es fehlt weder an Wärme noch an Wasser,
XIV. Tie Pyrcnäenhalbinsel.
195
da die Gebirgsbäche die Abhänge bewässern. Selbst der Januar hat im Durch-
schnitt ziemlich 13 Grad Wärme. Bis hoch hinauf tragen die stufenförmig
hergerichteten Bergabhänge allerlei Anpflanzungen. Es gibt da alle Südfrüchte,
besonders aber Apfelsinen; man baut sogar Bananen, Zuckerrohr und Baum-
wolle. Die Abhänge tragen Wein in üppiger Fülle und von anerkanntester
Güte. Berühmt ist Malaga wegen seines Weinbaus. Es versendet große
Mengen von Südfrüchten, Rosinen und Wein, jährlich allein über 20 000 Faß.
Die Gestade der Ostküste sind meistens noch etwas breiter als die der
Südküste. Sie zeichnen sich sämtlich durch große Fmchtbarkeit aus, müssen
aber alle künstlich bewässert werden. Der Gartenbau blüht hier im höchsten
Grade. Berühmt ist die Gartenwirtschaft von Valencia. Ein Gebirgs-
fluß spendet das Wasser. Zahlreiche große und kleine Kanäle speist er mit
seinem Wasser. Oft geht eine Wasserleitung über die andere weg. In den
künstlich bewässerten und berieselten Gärten züchtet man Maulbeerbäume,
Apfelsinen- und Zitronenbäume, Feigen- und Ol- sowie Granatbäume. Da-
neben baut man Mais, Weizen und Reis, Bohnen und Erdnüsse, Hanf und
Flachs und allerlei Gemüse. Die Gärten ergeben 2 bis 5 Ernten. Der Lu-
zernenklee kann zehnmal im Jahre geschnitten werden, der Weizen trägt 20
bis 40, der Mais sogar 80—100 sättige Frucht. Unaufhörlich grünt und blüht
und reift es.
Da gibt es keine Ruhepausen im Säen und Ernten in diesen Wunder-
gärten Spaniens. Aber diese staunenswerte Fruchtbarkeit ist abhängig vom
Wasser. Darum sorgt die Ortsobrigkeit für eine gerechte Verteilung des
Wassers. Kein Gartenbesitzer darf willkürlich wässem, ihm wird genau vorge-
schrieben, wann und wieviel er wässern darf. Viehzucht gibt es in diesem
Gartenlande wenig. Man braucht aber Dünger, um dem Boden sein Ver-
mögen zu entlocken. Darum verarbeitet man alle möglichen Abfälle zu einer
guten Dungerde. Da wird nicht nur der Kehricht, sondern es werden auch
Lumpen und Knochen nebst allen Resten sorgsam gesammelt. Man bezieht
auch viel Guano. Mehrere Ortschaften haben sich vielfach zusammengeschlossen
und einen großen Stauweiher geschaffen; dieser spendet ihnen dann das kostbare
Rieselwasser. Solche Gärten nmgeben besonders die Städte, wie Valencia,
Malaga, Sevilla, Kordoba usw. An der Ostseite gibt es sogar richtige Dattel-
palmenwälder; der größte zählt gegen 60 000 Dattelpalmen.
o) Das katalanische Küstenland ist gleichfalls fruchtbar. Hier
hat sich Barcelona zur größten Handels- und Industriestadt empor-
geschwungen; es ist bald so groß wie Madrid und besitzt große Webereien sowie
Maschinenbauereien und Glasfabriken.
Der Ebro bildet gleich der Rhone ein Delta. Die Ebroebene leidet aber
an großer Dürre und ist nur da fruchtbar, wo sie künstlich bewässert wird; hier
bringt sie allerdings Weizen und Wein, Gemüse und Obst in üppiger Fülle
hervor, und selbst der Olbaum gedeiht gut. Wo die künstliche Bewässerung
mangelt, dort ist das Land eine dürre Steppe, die höchstens ein zähes Gras
hervorbringt, das sog. Espartogras, das man zu Flechtarbeiten und zur Papier-
bereitung verwendet.
6. Spaniens Erwerbsquellen.
a) D e r A ck e r b a u. Spanien leidet unter der sommerlichen Trocken-
heit und der Regenarmut. Dennoch könnte noch weit mehr Land bebaut und
13*
196
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
landwirtschaftlich genutzt werden. Ehemals war Spanien auch ein blühendes
Ackerbauland und berühmt durch seine Fruchtbarkeit. Aber die Landwirtschaft
ist zurückgegangen. Der Adel und die Kirche besitzen den größten Teil des
Landes und dringen nicht auf richtige Bewirtschaftung. Ein beträchtlicher
Teil fruchtbaren Landes liegt unbenutzt da und dient nur als sommerliche
Weide. Man baut vorwiegend Weizen und Mais und selbst Reis; Gerste,
Hafer und Roggen werden weniger gebaut. Getreide liefern vor allem der
regenreiche Norden und Nordwesten, sowie die beiden Kastilien. Doch sind
die Erträge lange nicht so hoch, wie sie sein könnten. Die Pächter müssen
einen hohen Pachtzins zahlen und können daher nichts für die Verbesserung
der Felder tun. So muß Spanien trotz seiner dünnen Bevölkerung noch
Getreide einführen. Daraus erkennt man, wie wenig die Erträge befriedigen.
Neben dein Getreide baut man gleich wie in Italien viel Hülsenfrüchte.
b) Der Gemüse- und Ob st bau wird in den künstlich bewässerten
Bezirken, in den Gärten, mit größter Umsicht und reichstem Erfolge betrieben.
Da gewinnt nmn Apfelsinen und Zitronen, Edelkastanien und Johannisbrot,
Feigen und Mandeln. Ölbäume gibt es in großer Menge, doch ist man bei
der Gewinnung des Öls nicht sorgfältig genug; darum ist das spanische Ol
nicht so fein und so teuer wie das französische. Edelkastanien und Johannis-
brot sind ein beliebtes Nahrungsmittel für die ärmere Bevölkerung, und mit
Johannisbrot füttert man häufig auch Pferde und Schweine. Die Apfelsinen
gedeihen aufs beste und werden daher in großen Mengen ausgesührt. Trägt
doch ein Baum bis 6 000 Stück! Wal- und Haselnüsse und Süßholzwurzeln
zieht man gleichfalls in beträchtlichen Mengen.
e) Der Weinbau steht in Spanien mit an erster Stelle. Die gleich-
mäßige Sommerwärme läßt die Trauben aufs beste gedeihen und begünstigt
die reichste Zuckerbildung. Infolgedessen sind die spanischen Weine süß und
schwer. Dem Weinbau ist der 25. Teil des Landes gewidmet, nicht ganz
so viel als in Italien. Die feinsten Sorten liefert die Südküste; Malaga und
Jeres liefern berühmte Weine; wir nennen den starken Wein von Jeres mit
den Engländern gewöhnlich Sherry. Spanien führt viel Wein und viele frische
Trauben aus. Doch könnte es aus seinem Weinbau noch weit höhere Summen
erzielen, wenn es nur die Weinkelterei recht sorgfältig betriebe. Da es in
Spanien an Holz fehlt, verwendet man statt der Holzfässer vielfach Schläuche
aus Kuh- und Ziegenhäuten. Man näht sie so zusammen, daß die Haare
nach innen kommen. Dadurch verliert aber der beste Wein an Geschmack und
Güte.
e) D e r W a l d b a u hat in Spanien stark abgenommen. Nicht einmal
ganz der zehnte Teil des Landes trägt Wald. Das ist ein großer Nachteil
für das regenarme Land. Große Wälder würden die Hitze und Källe mildem
und auch dem Boden mehr Feuchtigkeit erhalten. Die südlichen Teile tragen
schon immergrünen Buschwald. Die Steineiche wird viel angebaut, weil ihre
Früchte den Schweinen gefüttert werden. Die Korkeiche liefert den
wertvollen Kork. Ihr Stamm wird sehr dick; 1—1 x/2 m mißt in der Regel
der Durchmesser. Seine Rinde wird gegen 10 om stark und erneuert sich,
wenn sie abgerissen wird oder ab fällt. Man löst alle 8—10 Jahre die Rinde
in einzelnen viereckigen Platten heraus, indem nmn um sie herum wag- und
senkrechte Einschnitte macht. Man schichtet die Platten aufeinander und be-
schwert sie mit Steinen, damit sie sich gerade richten. Darauf kocht man sie
in Wasser, damit sie bieg- und schmiegsam werden. In der Regel ergibt eine
XIV. Die Pyrcnäenhalbinsel.
197
Eiche auf einmal einen Doppelzentner Kork; dafür erhält der Bauer 10 bis
100 Mark je nach der Güte. Den besten Kork liefern die Eichen im Alter
von 50—100 Jahren. Die Korkausfuhr erbringt hübsckes Geld.
d) Die Viehzucht Spaniens leidet unter dem Mangel an saftigen
Wiesen und Weiden. Damm ist die Zucht von Rindvieh ziemlich gering.
Nur der regenreiche Norden und Nordwesten hat ziemlich viel Rindvieh. Je
weiter wir nach Süden kommen, desto mehr tritt das Rindvieh zurück und die
Ziegen- und die Schafzucht wächst. Im Süden hat mancher Bauer 3—5 000
Ziegen. Die Ziegen schaden leider den Wäldern. Die Schafzucht war ehe-
mals bedeutend größer als jetzt. Damals lieferte Spanien die beste Wolle
und die besten Schafe. Man hält besonders Wanderschafe oder Merinos.
Sie haben eine lange, feine Wolle und bleiben stets im Freien. Während
des Sommers weiden sie auf den Steppen des Hochlandes, im Herbste
ziehen sie in die tieferen und wärmeren Landstriche. Dabei machen sie Wan-
demngen, welche einen Monat und länger andauern. Das Gesetz schreibt den
Hirten vor, wo und wann sie fortziehen müssen. Gewöhnlich zählt eine Herde
10 000 Stück. Sie wird in Gmppen von 1000 Stück eingeteilt. Der Ober-
hirt leitet das ganze Hutgeschäft. Ihm unterstehen gewöhnlich 50 Unterhirten,
die mit ihren Hunden die Schafe bewachen und treiben. Besitzer der Schafe
sind zumeist Adlige. Sie hatten früher große Vorrechte. Die Schaftrift
mußte 50 m breit sein. Die Hirten durften von jedem Baume einen Ast ab-
hauen. So richteten sie den Baumbestand völlig zugrunde. Niemand mochte
mehr Bäume anpflanzen. Diese Vorrechte der adligen Schafbesitzer sind auf-
gehoben worden. Heute hat Spanien nicht mehr so viel Schafe wie früher,
und seine Schasrassen sind nicht mehr so wertvoll wie ehemals. Seine Woll-
ausfuhr ist darum auch nicht mehr so groß. Die flandrischen Städte haben
früher viel spanische Wolle verwebt.
Außer der Schafzucht ist auch die Zucht der Seidenraupe zurückgegangen.
Groß ist die Zahl der Maultiere und Esel, die man als Zug-, Last- und Reit-
tiere benutzt. Schweine zieht man namentlich in den Eichenwäldern West-
spaniens. Die Fischerei kann den einheimischen Bedarf nicht decken. In Süd-
spanien überwintern viele unserer Zugvögel. Leider genießen sie dort gar
keinen Schutz, sondern man fängt sie dort zu Tausenden und Abertausenden,
namentlich Stare, Rotschwänzchen usw.
e) Der Bergbau ist mannigfaltig, denn Spanien ist reich an Boden-
schätzen, vielleicht das erzreichste Land Europas. Das Kantabrische Gebirge
birgt vor allem Eisenerze. Sie werden meist ins Ausland geschafft; die
Ausfuhr von Eisenerzen steht an erster Stelle und übertrifft die Weinausfuhr
bedeutend. Viele davon gehen nach England, Frankreich und Deutschland.
Die Kruppsche Fabrik besitzt viele Eisengruben in Nordspanien. Daneben
beutet man Silber- und Bleierze, Kupfer- und Zinkerze aus. Spanien liefert
in Europa das meiste Quecksilber und Blei; außerdem ist es ein sehr kupfer-
reiches Land. Kohlen finden sich auch, doch noch nicht in genügender Menge.
Dazu liegen die Kohlenbezirke nicht in der Nachbarschaft der Eisenlager.
Darum werden auch so viel Eisenerze im Auslande verhüttet. Übrigens ist
Spanien zu arm, als daß es seine Bodenschätze selber heben könnte. Die
spanische Regierung hat die meisten Staatsgruben an ausländische Firmen
verkauft, weil es ihr immer an Geld gebrach. Gegenwärtig arbeiten in etwa
6000 Bergwerken rund 60 000 Arbeiter. Die Erze und Metalle spielen in
198
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
der spanischen Ausfuhr die wichtigste Rotte und Übertreffen die Südfrüchte
oder den Wein und die Trauben etwa dreimal.
f) Die Industrie Spaniens lag lange gänzlich darnieder; sie hat sich
zwar gehoben, aber sie deckt den einheimischen Bedarf nicht. Es fehlt an
Kohlen, an Wasserkräften und Arbeitern, sowie an Geld. In Katalonien ver-
arbeiten Spinnereien und Webereien viel Baumwolle. Aus der Schafwolle
verfertigt man feine Tuche und wollene Decken. Aus den Häuten der Schafe,
Ziegen und Rinder stellt man gutes Leder her. Berühmt ist das Leder von
Kordoba (Korduan) und Sevilla. Hier fertigt man Sättel, Zaumzeug, Ta-
schen, Handschuhe usw. Aus dem Tabak macht man Zigarren und Zigaretten.
Aus den Oliven preßt man Ol. Die Weinkelterei ist weitverbreitet. Aus
dem Zuckerrohr gewinnt man Rohrzucker, aus dem Kakao Schokolade. Die
Maulbeerbäume gestatten die Zucht von Seidenraupen und die Seidenspinnerei
und Seidenweberei, besonders an der Ostküste in Barcelona und Murcia. Die
Rinde der Korkeiche wird in Kork verarbeitet. Hüttenwerke und Metall-
fabriken verarbeiten das Eisen und die übrigen Metalle.
g) Der Handel Spaniens ist heute verhältnismäßig gering. Ehemals
war Spanien die erste Handelsmacht der Welt, etwa von 1500 bis 1600. Gegen-
wärtig hat die kleine Schweiz einen größeren Außenhandel als Spanien (l1/,
Milliarde). Dies beweist deutlich, daß Spanien mehr von sich selbst lebt und noch
wenig wohchabend ist. Spanien könnte in allem mehr leister:, es könnte feinen
Getreide- und Weinbau und seinen Bergbau noch mehr heben. Dann könnte
es auch mehr ausführen und mit dem verdienten Gelde auch mehr einführen.
In erster Linie führt es Erze und Metalle aus, dann Südfrüchte, Wein nebst
Trauben, Kork und Wolle. Deutschland erhält zumeist Erze (100 Mill.), Wein,
Südfrüchte, Wolle und Kork. Es liefert dafür Maschinen und Eisenwaren, sowie
Teerfarben zur Färbung der Game und Gewebe. Die Handelsflotte
ist ziemlich groß; denn da der Binnenverkehr schwierig ist, benutzt man so weit
als möglich die Schiffahrt. In den großen spanischen Häfen verkehren mehr
englische als spanische Schiffe, wie in Barcelona, Valencia, Malaga, Kadiz,
Korunna, Santander, Bilbao. England hat eben den Hauptteil des spanischen
Handels in Händen und beherrscht Spanien auch politisch. Spanien ist Eng-
lands Bundesgenosse, ja fast sein Vasall wie Portugal.
7. Portugal.
a) Das Land. Portugal liegt an der atlantischen Westseite der Pyre-
näenhalbinsel und zählt rund 90 000 qkm. Es ist demnach kleiner als Bul-
garien und gerade so groß als Bayern und Sachsen. Doch zählt es nur mnd
6 Mill. Einwohner. Immerhin ist es dichter besiedelt als Spanien. Von
Spanien ist es meist durch unwirtliche Gebiete getrennt. Dazu machen die
Ströme an der Grenze Stromschnellen, wodurch der Binnenverkehr mit Spa-
nien sehr erschwert wird. Das nördliche gebirgige Portugal ist sehr regenreich
und darum recht fruchtbar. Das Land nördlich vom Duero (Douro) heißt
der lachende Garten Portugals. Hier gedeiht neben dem Getreide besonders
der Wein, wie bei Porto, der großen Hafenstadt an der Mündung des
Dueros. Das mittlere Portugal empfängt mäßige Mederschläge. An der
Mündung des Tajos (Tejo) liegt Lissabon, die Hauptstadt Portugals.
Der geschützte Hafen ist so geräumig, daß er sämtliche Flotten Europas
aufnehmen könnte. Damm ist Lissabon eine bedeutende Handelsstadt, etwas
XIV. Die Pyrenäenhalbinsel.
199
größer als Düsseldorf. In Lissabon endet die große europäische Eisenbahn,
welche über Madrid und Bordeaux nach Paris führt und von da über Köln
nach Berlin, Warschau und Moskau, um sich dann nach Sibirien zu wenden.
Von Lissabon bis Paris fährt man 21/2 Tage, von Paris bis Moskau 3 Tage.
Von Moskau an kann man noch 13 Tage bis zu ihrem Endpunkte in China
fahren.
Das südliche Portugal besteht mehr aus Tiefland, aber es ist auch trockener
und besteht zum Teil aus Grassteppen.
b) Die Erwerbsverhältnisse. In den nördlichen, feuchten
Landschaften treibt man viel Rindviehzucht, da es nicht an üppigen Wiesen
und Weiden fehlt. Im südlichen Portugal hingegen überwiegt die Schaf-
und Ziegenzucht. Die Landwirtschaft ist der Haupterwerbszweig; dennoch ist
fast das halbe Land nicht angebaut. Man vernachlässigt den Bodenbau.
Vom Getreide werden Hirse, Mais und Weizen am meisten angebaut. Der
Weinbau blüht namentlich bei Porto, wird aber auch im ganzen Lande stark
getrieben. Die Weinausfuhr steht an erster Stelle. Südfrüchte aller Art
werden gebaut. Konnte Portugal früher Getreide ausführen, so reichen jetzt
seine Ernten nicht einmal mehr hin, den Bedarf zu decken. Man läßt eben
große Flächen als Weideland liegen. Portugal hat den allerwenigsten Wald.
Es gewinnt auch viel Kork. Ergiebig ist der Fischfang; man fängt besonders
viel Sardinen. Der Bergbau liefert vornehmlich Kupfer. Der Außenhandel
(V2 Milliarde) ist gering. Ausgeführt werden Wein, Kork, Südfrüchte, Fische,
Kupfererze und Schwefel. Die Engländer haben den portugiesischen Handel fast
ganz allein in den Händen und beherrschen Portugal noch mehr als Spanien.
Portugal ist ganz in Englands Händen. Es ist jetzt eine Republik.
8. Die Spanier und Portugiesen.
Die Spanier und Portugiesen sind nahe verwandt, auch ihre Sprachen
sind sich ähnlich, aber nicht gleich. Das sehen wir schon aus den Flußnamen.
Der Spanier spricht Tajo (Tachho), der Portugiese hingegen Tejo (Teschu).
Ursprünglich wohnten I b e r e r auf der Halbinsel; von ihnen hat sie den
Namen iberische Halbinsel erhalten. Im Laufe der Zeit sind sie sehr zurück-
gedrängt worden. Ihre Nachkommen sind die B a s k e n in den Pyrenäen
und den baskischen Provinzen am Golf von Biskaya. Darnach rückten von
Frankreich (Gallien) her Kelten ein; sie vermischten sich zumeist mit den
Iberern. An den Küsten ließen sich zuerst Phönizier, später Kar-
thager, Griechen und Römer nieder. Die Bewohner der iberischen
Halbinsel nahmen fast alle die römische Sprache av und wurden so Romanen.
In der Völkerwanderung rückten Goten, Vandalen und Sweben
ein und vermischten sich mit den früheren Bewohnern. Dann kamen Araber
und Mauren, welche den Halbmond aufpflanzten und das Kreuz zurück-
drängten. Nur im Norden erhielten sich kleine christliche Reiche. Es ent-
standen dadurch auch verschiedene spanische Stämme, wie Katalonier am
Mittelmeer, A r a g o n i e r am Ebro, K a st i l i e r auf dem Hochland, A n -
d a l u s i e r am Guadalquivir, Portugiesen an der atlantischen West-
küste u. a. Die Stämme und Länder in Spanien wurden geeinigt, aber Por-
tugal behielt seine Freiheit, ja die Portugiesen hassen die Spanier, ihre
nächsten Anverwandten. Die Spanier aber hassen die Portugiesen wieder und
200
XIV. Die Pyrenäenhalbinstl.
nennen sie verächtlich Sklaven der Engländer, weil die Engländer ihren ganzen
Handel, ihre Schiffahrt, ihre Industrie in Händen haben.
Die Spanier find stolz, aber leidenschaftlich und greifen wie die Italiener
schnell zum Dolch. Wie alle Südländer sind sie mäßig im Essen und Trinken;
denn bei großer Hitze kann und darf man seinen Magen nicht überladen.
Fleischspeisen werden selten genossen, man genießt vorwiegend Pflanzenspeisen,
Brot, Gemüse, Ol, Früchte, Salat. Kommen hierzu noch etwas Speck und ein
paar in Ol gesottene Eier, dann hat man wie ein Fürst gelebt. Uns Nord-
länder hält der Spanier für Vielfresser. Doch ist die Neigung zum Müßig-
gang bei ihm sehr stark und weit verbreitet. Überall trifft man auf Bettler.
Sie schlafen vielfach auf den Straßen der Städte. Gering ist das Besitztum
des gewöhnlichen Mannes; bei einem Umzüge kann es — sagt man — ein
Esel forttragen. Doch an Heiligenbildern fehlt es auch dem ärmsten Spanier
nicht. Groß ist die Zahl der Kirchen und Klöster und die Zahl der Priester,
Mönche und Nonnen. Das ist ein schwerer Nachteil für das Land. Deshalb
ist es auch wirtschaftlich so rückständig. Andersgläubige kann der Spanier fast
nicht leiden. Protestantische Kirchen müssen anssehen wie gewöhnliche Häuser
und dürfen nicht einmal ein Kreuz als Abzeichen tragen. Protestanten werden
eben nicht mehr als Christen, sondern schon als Heiden betrachtet. Doch zu-
weilen empören sich die Nordspanier am Ebro gegen die Klöster und plündern
sie; das tun auch die Portugiesen, denn sie sagen: Warum soll in den Klöstern
Reichtum herrschen, während wir darben müssen.
Viel Vergnügen findet der Spanier an prunkvollen Umzügen, bunten
Volkstänzen und aufregenden Stierkämpfen. Jede größere Stadt hat
ein Gebäude für die Stierkämpfe. Hierfür züchtet man ganz besonders kräf-
tige Stiere, gewaltige Tiere von schwarzer Farbe, mit spitzen Hörnern und
flammenden Augen. Unten auf dem Fußboden wird ein Sandplatz herge-
richtet, die Arena. Hohe Bretterwände schließen den Kampfplatz ab von den
Zusch an ersitzreihen. Schon viele Stunden vor dem Kampf finden sich die neu-
gierigen Zuschauer ein und plaudern unaufhörlich und wetten wohl gar. Jeder
möchte am weitesten nach vorn sitzen, um alles gut sehen zu können. Endlich
ist die Stunde des Kampfes gekommen. Trompetengeschmetter erschallt durch
den weiten Raum. In feierlichem Aufzuge treten die Stierkämpfer auf den
Sandplatz. Zuletzt kommen die Lanzenreiter. Reich geschmückt sind sie alle,
blank ihre Waffen. Jetzt verneigen sie sich vor den erregten Zuschauern.
Da tritt ein gewaltiger Stier herein. Wild schaut er sich um, scharrt m t
den Füßen und stürzt auf den vordersten Lanzenreiter, blind wütend. Dem
Pferde ist das rechte Auge verbunden, damit es den Stier nicht sieht und nicht
ausreißt. Der Lanzenreiter läßt ruhig den Stier herankonimen. Aber der
Anprall ist so gewaltig, daß Roß und Reiter rücklings hinfallen. Dem Pferde
dringen die spitzen Stierhörner tief in den Leib. Ein dicker Blutstrahl spritzt
hervor. Der Reiter liegt unter seinem tödlich verletzten Pferde. Da kommen
ihm Fußkämpfer zu Hilfe. Sie schwenken mit roten Tüchern und reizen da-
durch den Stier. Wütend verfolgt er sie. Behend schwingen sich die Fuß-
kämpfer über die Planke. Inzwischen hat sich der gestürzte Reiter auch in
Sicherheit gebracht. Jetzt stürzt der gereizte Stier auf einen andem Reiter.
Wieder rennt er Roß und Reiter über den Haufen; daun spießt er das Roß
auf und trägt das zappelnde Tier durch die Bahn. Dann wendet er sich dem
dritten Reiter zu; dessen Pferde reißt er im Nu den Leib auf. Doch seine
Kraft erlahmt. Denn jeder Reiter versetzt ihm einen tüchtigen Stoß in die
XV. Europa im allgemeinen.
201
Schulter. Um ihn anzufeuern, beschießen ihn die Pfeilschießer mit langen
Pfeilen, die mit spitzen Widerhaken versehen sind. Da wird der schwer ver-
letzte Stier rasend und toll. Mit furchtbarer Wut sagt er gegen alle Pfeil-
schießer. Gewandt überspringen sie die Schranke, um sich in Sicherheit zu
bringen. In diesem gefährlichen Augenblick tritt ihm der Hauptkämpfer in
weißen Strümpfen und hellblauer seidener Jacke entgegen. Es ist der Augen-
blick der größten Spannung. Jetzt erfolgt der Kampf auf Leben oder Tod.
In der linken Hand hält er ein scharlachrotes Mäntelchen, in der rechten eine
lange Klinge aus Toledo am Taso. Kaltblütig schreitet er langsam dem Stier
entgegen und hält ihm das rote Tuch hin. Der Stier stürzt darauf los. Der
Stoßkämpfer weicht gewandt aus. Wieder geht er dem Stiere _ entgegen,
wieder läßt er ihn unter seinen: linken Arm vorbeirennen. Beim dritten Male
aber stößt er dem Stiere die Klinge bis ans Heft in den Nacken und durch-
bohrt ihm damit das Rückenmark. Tot sinkt der gehetzte Stier zu Boden.
Mit Posaunen, Trommeln und Pauken setzt jetzt die Musik ein, und rauschender
Beifall lohnt dem sichern Stoßkämpfer. Rasch schleppt man die toten Pferde
hinaus. Den toten Stier gibt man dem Volke zur Speise. Mit frischem
Sande bestreut man die Blutspuren. Dann beginnt der Kampf von neuem.
Moltke sah einst, wie 8 Stiere und 20 Pferde an einem Nachmittag zur Freude
der Madrider zu Tode gehetzt wurden.
Diese Stiergefechte sind nichts weiter als eine große Tierquälerei, welche
man mit Festprunk umgibt. Doch müssen nicht allein Tiere oft entsetzliche
Qualen ausstehen; es werden auch nicht selten Menschen in gefährlichster
Weise verletzt. Schon mancher Kämpfer verlor sein Leben, noch mehr aber
wurden Krüppel. Aber der hohe Lohn, den man den Kämpfern bietet, verlockt
immer wieder neue Männer dazu, sich der Gefahr auszusetzen. Verehrt man
sie ja auch wie Helden. Ein berühmter Stierkämpfer wird oft mehr geehrt
als ein verdienter Gelehrter und Künstler oder General.
Die Portugiesen verabscheuen die Spanier auch wegen ihrer grausamen
Stierkümpse.
XV. Europa im aNgememen.
1. Seine Lage und seine Grenzen.
Europa liegt zum größten Teile in der nördlich gemäßigten Zone; nur
sein äußerster Nordgürtel ragt in die nördliche kalte Zone hinein. Europa
lehnt sich an Asien an und erscheint wie eine große Halbinsel; denn es wird von
drei Seiten von Meeren umgeben. Im Norden bespült es das nördliche Eis-
meer mit dem Weißen Meere. Die ganze Westseite wird vom Atlantischen
Ozean bespült; er schiebt die Nord- und Ostsee weit nach Europa hinein vor. Die
Südseite wird von dem Mittelmeer begrenzt; dies bildet auch wieder einzelne
Meere, wie das Tyrrhenische Meer zwischen Italien und Sizilien und Korsika
nebst Sardinien, das Adriatische Meer zwischen Italien und Dalmatien, das
Jonische Meer zwischen Süditalien und Griechenland, das Agäische Meer
zwischen Griechenland und Kleinasien, das Marmarameer zwischen Thrazien
und Kleinasien, das Schwarze Meer zwischen Rußland und Kleinasien. Im
Osten grenzt Europa an Asien, nämlich an das Uralgebirge, den Uralfluß und
den Kaspisee.
202
XV. Europa im allgemeinen.
Um uns die Grenzen Europas recht genau zu veranschaulichen, machen
wir eine Reise rund um Europa. Wir machen sie Anfang Juli, um
nicht durch Kälte gehindert zu werden. In Spitzbergen beginnen wir
die Fahrt. Im Juli herrscht da oben reges Leben. Zahlreiche Ausflügler sind
da; einige liegen der Jagd nach Eisbären ob. Fleißig graben die Bergarbeiter
nach Steinkohlen, die nach Norwegen verkauft werden. Wir dampfen um die
Nordspitze von Nowaja Semlja ins Karische Meer. Durch die
Meeresstraße im Süden fahren wir nach Westen an der Mündung der Pet -
f ch o r a und an den sumpfigen Tundren vorüber ins W e i ß e M e e r. In
A r ch a n g e l an der D w i n a mündung legen wir an und beobachten den
regen Verkehr in: Hafen. Stämmige Arbeiter verladen Felle. Flachs, Tran,
Teer, Pech und Holz. Bald lichtet unser Dampfer die Anker, und wir umfahren
die Halbinsel Kola und das Nordkap, um in Hammerfest kurze
Rast zu machen. Hier ist ebenfalls die günstigste Besuchszeit. Die Mitternacht-
sonne verlockt uns, auf den Schlaf zu verzichten und das herrliche Natur-
schauspiel zu bewundern. Mn wenden wir unfern Kiel nach Süden. Zwischen
den Lofoten und der zerklüfteten Küste sucht sich mühsam unser Schiff die
nicht ungefährliche Fahrstraße. Bequemer wäre es freilich, wir führen außen
um die Lofoten herum. Auf ihnen verlebt eben unser Kaiser ein paar ruhige
Tage. Von unserm Schiffe aus bewundern wir die norwegischen Fjorde und
Berge. In D r o n t h e i m ankern wir und segeln mit einem Dampfboote
in die inneren Teile des tiefen Fjordes. Dann fährt unser Schiff wieder ab
und hält in B e r g e n an, damit wir den großen Fischhandel beobachten
können. Um keine Zeit zu verlieren, besuchen wir den Sognefjord und
den Hardanger Fjord nicht, sondern umfahren die Südspitze Norwegens,
um die Hauptstadt K r i st i a n i a in Augenschein nehmen zu können. Nach
kurzer Rast durcheilen wir das stürmische S k ag e r R a k wie das K a t t e g at
und den Sund, um Kopenhagen, der Perle des Nordens, einen
Besuch abzustatten. Dann segeln wir an Malm ö vorüber nordwärts nach
der Schärenstadt Stockholm, Schwedens malerisch gelegener Hauptstadt.
Gern führen wir auch an der schwedischen imd finnischen Küste des Bott-
nischen Meerbusens hin, aber wir lassen die A l a n d s i n s e l n links
liegen und dampfen sogleich in den Finnischen Meerbusen. Hier
sehen wir links Helsingfors, die bedeutende finnische Hafenstadt, und
rechts Reval in Esthland liegen. In Kronstadt, der starken Seefestung,
landen wir und fahren mit einem Flußdampfer auf der N e w a bis Peters-
burg, der Hauptstadt Mßlands, die mit Kristiania die gleiche Breite, aber
doch viel heißere Sommer und viel strengere und kältere Winter hat. Auf der
Rückreise fahren wir in den Rigaer Meerbusen und besuchen kurz
Riga an der D ü n a mündung. Wie freuen wir uns, daß wir hier die
traute Muttersprache hören! Dann geht es nach Li b a u und D a n z i g und
an B o r n h o l m und Rügen vorüber nach Kiel, dem größten Kriegs-
hafen des Deutschen Reiches. Gern benutzten wir den Kaiser-Wilhelm-
Kanal, aber unser Schiff dampft wieder in die K i e l e r B u ch t und
fährt durch den GroßenBelt ins Kattegat und um S k a g e n,
die Nordspitze Jütlands, herum. Von weitem sehen wir den Eingang
zum L i m f j o r d und weiter südlich dienordfriesischenJnseln.
Wir eilen am rotschimmernden Felseneiland Helgoland vorüber und-
begeben uns schnurstracks in die T h e m s e b u ch t und nacb der größten
Stadt der Erde, nach London. Leider können wir die Millionenstadt nur
XV. Europa tm allgemeinen.
203
flüchtig beschauen, es geht nun nordwärts, an Hüll und N e w c a st l e,
Edingburgh und Aberdeen vorüber. Zwischen den S ch e t -
landsinselnund Orkneyinseln fahren wir durch und umsegeln
nun Schottland. Durch den N o r d k a n a l gelangen wir in die
I r i s ch e S e e und legen in der berühmten Hafenstadt Liverpool kurz
an. Dann geht es um das gebirgige Wales herum in den B r i st ol-
kanal nach dem Kohlenausfuhrhafen K a r d i f f. Hierauf segelt unser
Schiss in das Ärmelmeer, um Plymouth, Southampton,
Portsmouth, die Insel Wight und Dover zu berühren. Über die Straße
von Calais fahren wir nicht hinaus, obwohl wir gern Antwerpen
und Rotterdam sähen, wir begeben uns gleich nach Calais und
B o u l o g n e und dann nach den Hafenstädten Le Havre und Cher-
bourg, sowie B r e st. Alle diese stark befestigten Häfen gemahnen uns,
daß Frankreich viel Gewicht auf eine geschützte Küste legt. Nun geht es an
Nantes an der Loire Mündung sowie an dem Weinausfuhrhafen Bor-
deaux anderGaronne vorüber nach dem Golf von B i s k a y a.
Hier sehen wir, wie die Pyrenäen sich auftürmen. Auf unserer west-
lichen Fahrt begleitet uns im Süden daskantabrifche Gebirge. Wir
legen weder inSanSebastian und Bilbao noch in Santander und
La K o r u n n a an, sondern dampfen schnurstracks nach P o r t o , der wein-
reichen Hafenstadt Portugals an der Mündung des Dueros. Von
hier geht es rasch nach Lissabon am Ausgange des T e j o. Wie er-
staunen wir über den herrlichen Hafen! Doch eilen wir nun, um an K a d i z
vorüber in die Straße von Gibraltar zu segeln. Noch einmal
werfen wir einen Blick hinaus in den weiten Atlantischen Ozean und begleiten
im Geiste den kühnen Kolumbus auf seiner ersten Fahrt nach Amerika. Rechts
winken uns T a n g er und C e u t a in Marokko, links grüßt uns die britische
Seefestung Gibraltar; von ihrem felsigen Throne aus ruft sie uns zu :
Albion ist die Beherrscherin der Meere. Wenn ich euch das Meer verbiete,
dann ist es euch verschlossen. Heute aber ist die Felsenfeste gnädig gestimmt.
Anstandslos fahren wir ins M i t t e l l ä n d i s ch e Meer hinein nach
Malaga, wo uns herrlicher spanischer Wein vorgesetzt wird. Dann bewundern
wir die schneeigen Berge der S i e r r a N e v a d a und fahren an K a r t a -
g e n a vorüber nach Valencia und am Ebrodelta vorüber nach
der großen Hafenstadt B a r z e l o n a. Jetzt sehen wir den Ostabhang der
Pyrenäen und dampfen durch den Löwengolf am Rhonedelta
vorüber nach Marseille und Toulon. In dem französischen Kriegs-
hafen Toulon sehen wir uns nicht sehr um, damit wir nicht als Spione fest-
genommen werden. Wir erkennen jetzt die Berge der Westalpen und landen
in dem wundervollen Kurorte Nizza. An der Spielhölle von M o n a k o
aber eilen wir vorüber nach San Rem o und Genua; so gern wir an
der prächtigen Riviera verweilen würden, setzen wir unsere Fahrt fort.
Da sehen wir den italienischen Kriegshafen Spezia, eingebettet in eine
Bucht. Dann entfernen sich die Berge der Apenninen, und wir segeln an der
Mündung des Arnos vorüber nach der großen Seestadt Livorno. Um
die sumpfige M a r e m m e n küste zu vermeiden, dampfen wir zwischen Elba
uud Korsika durch, lassen Sardinien weit rechts liegen, segeln an der T i b e r -
Mündung worüber, um im herrlichen Neapel zu landen. Gern stiegen wir
aus den nahen B e s u v , zumal er gerade nicht speit, doch wir müssen weiter.
Bald fahren wir in die S t r a ß e von Messina. Rechts grüßt uns das
204
XV. Europa im allgemeinen.
neu erstandene M e s s i n a auf Sizilien und ruft uns tröstend zu: Neues
Leben blüht aus den Ruinen. Dann geht es südwärts. Da leuchtet uns der
hohe Ätna entgegen, und an seinem Fuße winkt uns K a t a n i a zu.
Selbst die britische Insel Malta sehen wir nur flüchtig, denn schon wendet
unser Schiff sich nordwärts. In den G o l f von T a r e n t fahren wir nicht,
wir durchfurchen in raschem Laufe die Straße von O t r a n t o und eilen am
Hafen von Brindisi vorüber nach Bari und A n k o n a. Bald sehen wir
Ravennas Türme tief aus dem Binnenlande herübergrüßen. Nun um-
segeln wir das Delta des Pos und landen in V e n e d i g , der berühmten
Lagunenstadt im Adriatischen Meere. Darnach dampfen wir nach
Triest, Österreichs adriatischem Hasen, und eilen an Istrien und D a l -
matten, Montenegro und Albanien vorüber ins Jonische
Meer. Gern besuchten wir Korfu, die berühmteste jonische Insel,
wo sich unser Kaiser gern im Nachwinter aufhält, doch wir müssen eilen. Darum
fahren wir auch nicht in den langen, schmalen Busen von Korinth,
sondern segeln um die dreigezackte Halbinsel Morea an Kreta vorüber nach
Athen, Griechenlands Hauptstadt. Schon von weitem blinkt uns die
Burg Akropolis entgegen. Unser Dampfer bricht bald wieder auf und
sucht sorgsam seinen Weg durch das wirre Durcheinander der Inseln im
Ägäischen Meere. In Saloniki geht es vor Anker; denn hier bringt
die Eisenbahn von Belgrad und P e st her manchen neuen Gast. Nun geht
es in die engen Dardanellen. Vorschriftsmäßig bittet unser Kapitän um
die Erlaubnis zur Durchfahrt. Vorsichtig dampfen wir zwischen Europa
und Asien hin ins Marmarameer nach Konstantinopel,
der Hauptstadt der Türkei. Welch wundervoller Anblick bietet sich uns am
goldenen Horn dar! Bald durchsegeln wir den Bosporus und fahren
längs der bulgarisch-rumänischen Küsten am Delta der Donau hin bis
O d e s s a , der großen russischen Hafenstadt. Dann umsegeln wir die Halb-
insel Krim, schauen flüchtig nach der Festung Sewastopol und ge-
langen durch die Straße von KertschinsAsowsche Meer bis Rostow
am Don. Hier verlassen wir das Schiff und fahren mit der Bahn nördlich
vom Kaukasus nach Baku. Hier begeben wir uns auf ein Schiff, das
uns im Kaspischen Meere nach A st r a ch a n bringt, der Kaviarstadt an
der Wolgamündung. Nun müßten wir zu Fuße am Uralfluß und über
das Uralgebirge nach dem Karischen Meere wandern, doch wir
schenken uns diese Wanderung; ist sie doch mehr anstrengend als genußreich. 2
2. Die waaerechte Gliederung^Europas.
Europa ist reich gegliedert; es hat eine große Zahl von Halbinseln und
Inseln. Die größte Halbinsel ist das langgestreckte Skandinavien, es ist andert-
halbmal größer als Deutschland und wird von der Ostsee, der Nordsee und
dem Atlantischen Ozean bespült. Etwas größer als Deutschland ist auch die
viereckige Pyrenäenhalbinsel, sie liegt zwischen dem Atlantischen Weltmeere und
dem Mittelmeere. Die Balkanhalbinsel ist etwas kleiner als Deutschlands Das
langgestreckte Italien ist noch kleiner, es teilt das Mittelmeer in ein östliches
und westliches Becken. Jütland scheidet die Nord- und Ostsee; die Krim trennt
das Schwarze Meer von dem Asowschen Meere.
Die britischen Inseln sind die bedeutendsten Inseln; sie trennen den Atlan-
tischen Ozean von der Nordsee. Zahlreiche Inseln liegen im Mittelmeer,
XV. Europa im allgemeinen.
205
größere wie Sizilien, Sardinien, Korsika und Kreta, kleinere wie die Balearen
bei Spanien, die jonischen Inseln im jonischen Meere und die griechischen
Inseln im Ägäischen Meer. Zwischen Südschweden und Jütland liegen die
dänischen Inseln. Mitten im Atlantischen Ozean liegen Island und die kleinen
Färöer. Reich an vorgelagerten kleinen Inseln ist Norwegen. Die Inseln
sind meistens Reste untergegangener Länder. So hingen einst die britischen
Inseln zusammen und waren auch mit Frankreich verbunden. So lag dort,
wo heute das Mittelmeer rauscht, ein Land, das Afrika mit Europa verband.
Anderseits gab es einst Meer, wo es heute Land gibt. Oft liegen dort noch
Seen, wie z. B. in der schwedischen und nordrussischen Seensenke.
Europa bildet einen dreieckigen Rumpf nebst vielen Gliedern. Die breite
Seite des Rumpfes liegt im Osten, es ist die Landgrenze zwischen Europa und
Asien. Die Spitze liegt in den Pyrenäen. Die Südseite schneidet die Nord-
küste des Löwengolfes, des Busens von Genua, des Adriatischen und Schwarzen
Meeres und des Kaspisees. Die Nordseite beginnt am Golf von Biskaya und
schneidet die Südküste der Ostsee und des Weißen Meeres und des Eismeeres.
Für den Rumps bleiben 2/s, für die Halbinseln und Inseln aber nur Vs übrig.
Somit verhält sich oer Rumpf zu seinen Gliedern wie 2:1, d. h. der Rumpf
ist nur doppelt so groß wie seine Glieder. Das ist ein äußerst günstiges
Verhältnis. Europa hat zwei Inselstaaten: Britannien und Dänemark. Es
hat auch bedeutende Halbinselstaaten, Schweden und Norwegen in Skandi-
navien, Spanien und Portugal auf der Pyrenäenhalbinfel, Italien auf der
Apenninenhalbinsel, die Türkei, Griechenland, Bulgarien, Montenegro, Albanien
nebst Serbien auf der Balkanhalbinsel. Reine Festlandsstaaten sind Rußland und
Rumänien, Deutschland und Österreich-Ungarn, Frankreich nebst Belgien,
Holland und der Schweiz. Die Schweiz und Serbien sind die einzigen euro-
päischen Staaten, welche keinen Zugang zum Meere haben und somit reine
Binnenstaaten sind. 3
3. Die senkrechte Gliederung Europas.
Europas Rumvf besteht zum größten Teile aus Tiefland. Das öst-
liche Tiefland heißt das osteuropäische Tiefland, es erfüllt ganz Rußland. Mit
ihm hängt das norddeutsche Tiefland zusammen. Es setzt sich über Holland
und Belgien nach Westen fort und bildet dort das französische Tiefland. So
zieht sich ein gewaltiges Tiefland von den Pyrenäen bis an das Uralgebirge:
es wird nach Osten zu immer breiter. Das russische Tiefland fetzt sich auch
nach der unteren Donau fort und bildet dort das walachische Tiefland. Davon
ist durch die Karpathen das ungarische Tiefland getrennt. Abgesondert vom
großen europäischen Tieslande sind die Ebenen am Po, an der Rhone, am
Ebro, am Guadalquivir, am Oberrhein usw. Der Westen und Süden Europas
ist vorwiegend gebirgig. Hier herrscht große Mannigfaltigkeit. Da gibt
es Hochgebirge und Mittelgebirge, Tiefländer und Hochebenen. Die Alpen
sind das höchste Hochgebirge Europas. Damit hängen nach Süden die Apenninen
zusammen, nach Osten hin die Karpathen, mit den Karpathen hängt der Balkan
zusammen. Durch das Schwarze Meer ist davon der Kaukasus getrennt; die
Pyrenäen sind durch ein Tiefland von den Alpen geschieden. An die Karst-
alpen schließen sich die Dinarischen Alpen an, die im Pindusgebirge ihre Fort-
setzung finden.
Die Mittelgebirge ziehen sich in einem großen Bogen von Südfrankreich
XV. Europa im allgemeinen.
106
westlich und nördlich um die Alpen und grenzen in Galizien an die Karpathen.
Alle diese französisch-deutschen Mittelgebirge bildeten in der Urzeit ein hohes
Gebirge; sie sind im Laufe der Zeit schon bedeutend abgetragen worden. Die
spanischen, britischen und skandinavischen Gebirge und Gebirgsländer sowie der
Ural sind gänzlich abgesondert.
Ein Vorteil ist, daß Europas Gebirge nicht zu doch sind und nicht eine
zu große Flache einnehmen. Das gesamte Gebirgsland ist viel kleiner als das
Tiefland. Über die Hälfte Europas liegt unter 200 m. Nur ein kleiner Teil,
etwa der 66. Teil, liegt über 2000 m. Westeuropa ist vorwiegend gebirgig,
Osteuropa aber tiefländisch. Darum hat sich in Osteuropa nur ein einziger
Großstaat ausgebildet, nämlich Rußland. West- und Süd- und Nord Westeuropa
zerfällt in viele Staaten; denn die vielen Gebirge trennen die Länder und
Völker und die Staaten. Die Schweiz ist ein reiner Gebirgsstaat, desgleichen
Montenegro und Norwegen; die übrigen Staaten bestehen zum Teil aus
Gebirgs- und zum Teil aus Tiefland. Wir können zwölf natürliche
Hauptteile Europas unterscheiden:
1. Hochgebirge der Alpen. 7. Balkanhalbinsel,
2. ftanzösisches ( Mittel- 8. französisches
Das westliche gebirgige Europa besitzt darum auch die meisten Staaten.
Da Europa in ein östliches Tiefland und in ein westliches Gebirgsland
zerfällt, hat es auch zwei Hauptflußgebiete. Die östlichen Tieflandsflüsse ent-
springen auf der Waldaihöhe oder in ihrer Nähe wie die Wolga, die Düna,
der Dnjepr. Die westlichen Gebirgsflüfse entspringen vorwiegend den Alpen
und ihren Vorgebirgen, wie der Rhein, die Rhone, der Po, die Etsch. Die
Donau aber erhält ihre wasserreichsten Zuflüsse von den Alpen. Loire, Seine,
Weser, Elbe, Oder, Weichsel, Dnjestr entspringen den Mittelgebirgen oder den
Karpathen. Von den südlichen Halbinseln hat Spanien noch die größten
eigenen Flüsse, doch leiden sie sämtlich im Sommer an Wasserarmut. Die
Alpen sind im Süden und Norden von Seen umgeben, die Ostsee gleichfalls
im Süden und Norden und im Osten und Westen. Von den Inseln ist nur
Irland mit Seen geschmückt. Europa hat so eine reiche, mannigfaltige Be-
wässerung, welche eine dichte Besiedlung ermöglicht. 5
Europa ist durch sein Klima hervorragend begünstigt. Nur ein
kleiner Teil ragt in die kalte Zone hinein. Von der heißen Zone sind die
südlichsten Gebiete Europas immer noch 1400 km entfernt. So hat Europa
ein gemäßigtes Klima. Ihm fehlt die erstarrende Kälte des Nordens und die
erschlaffende Hitze des Südens. Doch herrscht auch hierin eine große Mannig-
faltigkeit und Abwechslung. Westeuropa hat ein andres Klima als Osteuropa
und Nordeuropa ein anderes als Südeuropa. Wir können vier Klimagebiete
unterscheiden:
3. deutsches \ gebirge,
4. Karpathenland,
5. Pyrenäenhalbinsel,
6. Apenninenhalbinsel,
9. deutsches
10. russisches
11. Skandinavien,
12. britische Inselgruppe.
4. Europas Bewässerung.
5. Das Klima Europas.
XV. Europa im allgemeinen.
207
9) D e r h o h e Norden am Eismeer hat die größte Kälte und einen
Winter von 8—9 Monaten. Hier beträgt die Jahreswärme im Durchschnitt
kaum den Gefrierpunkt
b) Osteuropa hat ein rein binnenländisches Klima mit heißen Sommern
und kalten Wintern. Hier fehlt der mildernde Einfluß der Seewinde.
e) Westeuropa steht unter dem mildernden Einfluß des Atlantischen
Meeres und hat darum ein Seeklima mit kühlen Sommern und milden Wintern.
d) Südeuropa oder die Länder am Mittelmeer haben heiße, regem
arme Sommer und milde, regenreiche Winter.
Ein Vorzug für Europa ist es im besondern, daß es im Westen weit
wärmer ist, als seiner Lage zur heißen Zone entspricht. Es müßte eigentlich
kälter sein. Die Küsten Portugals sind etwa 3 Grad, die FranUeichs 4, die
Britanniens über 6 und die Norwegens sogar über 9 Grad wärmer. Darum
gibt es nicht bloß in Portugal und Frankreich, sondern auch in Britannien
und Norwegen eisfreie Häfen. Diese Wärme wird Westeuropa durch den Golf-
strom zugeführt. Er kommt aus der heißen Zone und hat die Richtung auf
Portugal; die schmale Meerenge von Gibralter lenkt ihn vom Mittelmeer ab,
und so wendet er sich nach Nordwesten und fließt nun an den Küsten Portu-
gals, Spaniens, Westfrankreichs, Irlands, Schottlands und Norwegens hin,
bis er sich im Eismeer verliert. Je höher er nach Norden kommt, desto mehr
kühlt sich sein Wasser ab. Ohne den wärmenden Golfstrom könnten West- und
Nordwesteuropa nicht so dicht bevölkert sein und vor allem nicht soviel Schiff-
fahrt treiben. Im Winter müßte sie ganz aufhören, wie im Weißen Meere,
im Bottnischen und Finnischen Meerbusen usw. Die Linie der gleichen Ja-
nuarwärme geht nicht von Westen nach Osten, wie es eigentlich sein müßte,
sondern von Nordwesten nach Südosten. Die Linie von 0 Grad beginnt an
der Südküste Islands und wendet sich westlich von Norwegen weit nach Nor-
den; dieser Bogen zeigt, in welcher Richtung der Golfstrom fließt. Dann
wendet sie sich nach Süden, durchschneidet das Kattegat und macht einen
Bogen weit über Bornholm hinaus. Bis dahin reicht der mäßigende Einfluß
des wärmenden Golfstroms. Dann wendet sie sich nach Südwesten nach der
Mainmündung zu und von da nach Triest. Sie bleibt auf dem Balkan südlich
von der Donau und dem Kaukasus. Man sieht hier, wie Rußlands kalte
Winter auch auf das östliche Deutschland und Österreich-Ungarn wirken. Ganz
anders verläuft die Linie, welche die Juliwärme von 20 Grad anzeigt. Sie
beginnt im nördlichen Spanien und wendet sich dann nordöstlich bis südlich
von Paris und Frankfurt am Main. Hier streicht sie nach Süden, denn die
oberrheinische Ebene ist verhältnismäßig sehr warm. Bon Basel an geht sie
ziemlich genau nordöstlich bis zur Okamündung und umkreist dann Kasan an
der Wolga.
Die Sommerwärme ist in Europa nicht so verschieden wie die Winter-
kälte. Im Mittelmeer und im Westen sind zwischen dem wärmsten und kältesten
Monate nur 15 Grad Unterschied, im östlichen Deutschland 20 und im mitt-
leren Rußland 30 Grad, in Orenburg noch mehr. Das alles verursacht der
Golfstrom. Die vom Atlantischen Weltmeere ausgehende und nach Osten vor-
dringende Wärme verschiebt die Wärmelinie des Winters ganz bedeutend.
Die britischen Inseln haben einen Winter, der um 16 Grad zu warm ist, und
selbst der Norddeutschlands ist noch um 8 Grad zu warm. Da sehen wir, wie-
viel Wärme der Golfstrom uns zusührt, wieviel Kohlen er uns erspart, wie
sehr er unser Vaterland und ganz Westeuropa bewohnbar macht.
208
XV. Europa im allgemeinen.
Die Wärme ändert sich auch mit der Höhenlage. Zum Glücke nehmen
die hohen Gebirge nur einen kleinen Raum ein. Europa hat nur zwei große
Hochebenen, nämlich die spanische und die skandinavische. Beide Hochländer
sind denn auch recht benachteiligt. Im nördlichen Skandinavien beginnt die
Schneegrenze bei 750 in, bei den Alpen erst bei 2700 in und bei der Sierra
Nevada sogar erst bei 3400 in.
Die Niederschläge nehmen im allgemeinen von Westen nach Osten
zu ab. Die allermeisten Regenmengen haben die Berglandschasten West-
europas (in Irland, Schottland, Norwegen, Norddeutschland, Nordspanien usw.),
weil sich an ihnen die feuchten Seewinde zuerst entladen. Aber auch die Ge-
birge im Binnenlande haben reiche Mederschläge. So wechseln in Westeuropa
wie in Südeuropa regenreiche Bezirke mit regenarmen. Manche Orte an der
britischen Küste haben über 400 cm Regen, der Brocken noch 170, manche
Alpenorte sogar bis 200 cm. Aber Berlin hat kaum noch 60 ein, Prag und
Ofenpest und Petersburg bloß noch 40 bis 50 om und Astrachan gar nur
12 om
Der Osten bekommt überwiegend Sonunerregen, der Westen hingegen
mehr Regen in den kälteren Jahreszeiten. In den kälteren Monaten werden
die Wolken int Westen schon so sehr abgekühlt, daß sie sich ihres Wassers ent-
ledigen; in den wärmeren Monaten aber gelangen die Wolken bis weit nach
dem Osten, ehe sie sich zu Regentropfen verdichten. Südrußland und Ungarn
haben zumeist im Sommer Dürre. Die Mittelmeerländer haben ihre eigenen
Regenzeiten, bei ihnen wechseln heiße, dürre Sommer mit nassen, milden
Wintern. Im Sommer wehen trockene Nordwinde, welche einen wolkenlosen
Himmel bedingen. Im Herbst und Winter wehen regenreiche Seewinde.
6. Europas Pi tanzen- und Tierwelt.
So mannigfaltig Europas Gliederung und Witterung ist, so mannigfaltig
ist auch seine Pflanzen- und Tierwelt. Man unterscheidet vier Pflanzen-
gürtel.
a) Die M o o s st e p p e oder Tundra beschränkt sich auf den äußersten
Noroen Rußlands. Immerhin umfaßt sie mehr als das halbe Deutschland
oder etwa die halbe Pyrenäenhalbinsel.
b) Di e Nadel - und Birkenwälder bilden den zweiten Pflanzen-
gürtel. An die Moossteppe schließen sich zunächst niedrige, krüppelhaste Busch-
wälder. Je weiter nach Süden, desto größer und kräftiger werden die
Bäume.
o) D i e gemischten Wälder bilden den dritten Pflanzengürtel.
Jrn milderen Westen findet sich häufig die zarte Buche, im Osten treten die
härteren Eichen, Linden und Ulmen an ihre Stelle. In diesem Gürtel ge-
deihen die Getreidearten gut; er ist darum das wichtigste Getreideland Europas.
In der nördlichen Hälfte fehlen der Wein und der Mais, in der südlichen
treten sie bald mehr oder minder hervor. Bedeutend ist hier auch der Obst- und
Gemüsebau. Wo es an Niederschlägen fehlt, bildet sich die Grassteppe,
wie in Südrußland, Ungarn usw.
ck)Die immergrünen Laubbäume finden sich im vierten
Pflanzengürtel; er ist auf die begünstigtesten Bezirke der Mittelmeerländer be-
schränkt. Man findet nur selten Wälder von Eichen und Edelkastanien, meistens
bloß Olbäume, Myrten, Oleander, Lorbeer- uno Granatbäume u. a. Der
XV. Europa im allgemeinen.
209
Maulbeerbaum rief die Seidenraupenzucht hervor. Neben Weizen baut man
vornehmlich Mais und Reis; selbst Baumwolle und Zuckerrohr und Palmen
werden angepflanzt. Vor allem aber gedeihen hier Zitronen und Apfelsinen,
Mandeln und Feigen, Wein und andere Südfrüchte.
Die T i e r w e l t Europas ist ebenfalls sehr mannigfaltig. Freilich hat
der einstige Tierreichtum in Westeuropa schon sehr stark abgenommen. Bären
und Wölfe findet man fast ausschließlich in Osteuropa: Das Renntier ist das
Haustier des hohen Nordens. Rußland ist reich an Pelztieren. Mitteleuropa
ist das Hauptgebiet der wichtigsten Haustiere. Die Viehzucht spielt hier eine
Hauptrolle. Der Süden bevorzugt mehr die Schaf- und Ziegenzucht. Die
Rindviehzucht blüht in England, Holland, Dänemark, Südschweden, Nord-
deutschland, Süddeutschland, in den Alpenländern, in Nordfrankreich, Nord-
spanien, M>rditalien usw. Die Pferdezucht ist stark verbreitet in England,
Belgien, Nordfrankreich, Dänemark, Ostpreußen, Ungarn, Mittelrußland
usw. Maultiere und Esel zücktet man viel in Spanien, wie auch in Italien
und Griechenland. Die Schweinezucht ist stark verbreitet in Deutschland
Rußland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, Ungarn usw. Mitteleuropa
und namentlich Mitteldeutschland hat in seinen Wäldern noch einen großen
Wildbestand an Hirschen, Rehen, Hasen, Wildschweinen usw. Die nordatlanti-
schen Küsten beherbergen zahllose Vögel.
7. Europas Erwerbsquellen.
So mannigfaltig Europas Gliederung, Witterung und Pflanzen- und
Tierwelt sind, so mannigfaltig sind auch die Erwerbsverhältnisse.
a) DieWald- und Forstwirtschaft blüht namentlich in den
Gebirgen Mittel- und Nordeuropas, weniger in den waldarmen Gebirgsländem
Südeuropas. Waldreich sind namentlich Finnland und Schweden, Bosnien
und Mitteldeutschland, Österreich und Ungarn, sowie das Deutsche Reich und
Südnorwegen. Weniger Wald als Deutschland haben die Schweiz, Belgien
und Frankreich, Rumänien und Serbien, Spanien und Italien. Am wald-
ärmsten aber sind Griechenland, Holland, Dänemark, Britannien und Portugal.
b) Der Ackerbau blüht im ganzen mittleren Europa. Das meiste
Ackerland haben Frankreich und Deutschland, Rumänien und Dänemark, Belgien
und Ungarn. Weniger als i0/100 haben Italien und Österreich und Spanien:
weniger als 30/ioo haben Serbien, Holland und Rußland, Bosnien und Por-
tugal. Unter einem Fünftel haben Britannien und Griechenland, Schweden
und Norwegen. Im mittleren Rußland überwiegt der Ackerbau, und noch
heute ernährt er von je 4 Bewohnern wenigstens 3. Die höchsten Erträge
bringt er in Deutschland, weil hier der Ackerbau am sorgfältigsten betrieben
wird. Dann folgen die benachbarten Länder, Dänemark, Holland, Belgien,
Frankreich, Österreich, Ungarn, Lombardei, Rumänien usw. Süd- und Mittel-
rußland, Rumänien und Ungarn werden als Kornkammern Europas bezeichnet;
doch könnten wir noch viele in andern Ländern nennen, wie Böhmen, Nord-
deutschland usw.
o) D i e V i e h z u ch t braucht genügende Wiesen und Weiden und daher
reichliche Niederschläge oder künstliche Bewässerung. Großbritannien und Ir-
land hat das meiste Weide- und Wiesenland und wegen der reichlichen
Niederschläge den üppigsten Graswuchs. In hoher Blüte steht die Viehzucht
noch in Holland und Dänemark, in Bayern und den Alpenländern, wie in „*_tnr,utLft
Ratgeber I. Franke. Erdkunde. Teil 2. 14
Schuibuchiorschuna
BraunschwaiS^
R rh 1.1! b u chb Ibil OtifeS
210
XV. Europa im allgemeinen.
vielen Teilen Rußlands. Das südliche Europa treibt mehr Schaf- und
Ziegenzucht als Rinderzucht, weil die dürren Grassteppen den Rindern nicht
genug Futter geben.
Die meisten Bewohner beschäftigen in der Land- und Forstwirtschaft
Rußland, Ungarn, Österreich und Italien, sowie Schweden und Dänemark.
Dies sind die vorwiegend landwirtschaftlichen Staaten. Ihnen folgen Frank-
reich und Deutschland, Holland und die Schweiz. Belgien und England stehen
in letzter Reihe.
d) Der Bergbau blüht besonders in den gebirgigen Landschaften,
denn in den Ebenen liegen die erzführenden oder kohlehaltigen Schichten viel
zu tief, da sie eingesunken sind. Die meisten Kohlen fördern England und
Deutschland. Dann folgen Österreich-Ungarn und Frankreich, Rußland und
Belgien. Sehr kohlenarm sind Italien, Schweden, Holland und Norwegen.
Eisen gewinnt Deutschland am meisten, dann folgen England, Frank-
reich, Österreich-Ungarn und Belgien. Schweden und Spanien liefem viele
Eisenerze, die in andern Ländem, besonders in England, Deutschland
usw. verhüttet werden. Erzreich sind außerdem Spanien, der Ural, sowie die
Balkanhalbinsel.
e) Die I n d u st r i e ist zumeist im mittleren Europa und namentlich
in Großbritannien verbreitet. Hier sind Kohlen und Erze vorhanden und auch
Wasserkräfte; hier erleichtert das Meer die Zufuhr von Rohstoffen und Nah-
rungsmitteln, sowie die Abfuhr von fertigen und halbfertigen Erzeugnissen.
In England und Schottland sind die meisten Bewohner in der Industrie
tätig, dann folgen die Schweiz und Belgien. Hierauf kommen Deutschland
und Frankreich. Weit weniger Bewohner beschäftigen in der Industrie Nor-
wegen und Dänemark, Österreich und Italien, Schweden und Rußland,
Ungarn und die Balkanländer. Die meisten groß-gewerblichen Erzeugnisse
liefert Großbritannien, dann folgen Deutschland, Frankreich Rußland, Öster-
reich-Ungarn.
t) Der Handel blüht vorwiegend in den Staaten, welche Zugang
zum Meere haben. England hat den größten Handel; ibm folgt Deutschland.
Frankreich, Holland und Belgien haben einen mittleren Außenhandel. Noch
bedeutend geringer ist er bei Österreich-Ungarn, Rußland und Italien. Die
atlantischen Staaten: England, Deutschland, Belgien und Holland nebst
Frankreich haben den bedeutendsten Welthandel; Portugal und Spanien haben
ihren früheren Welthandel zumeist an England verloren, dämm stehen sie
jetzt so weit zurück.
England besitzt die größte Handelsflotte, die deutsche steht
an zweiter Stelle. Ihr folgen die norwegische und französische; dann kommen
die russische und italienische, die schwedische, dänische und holländische; die
österreichische, ungarische und belgische sind noch kleiner. Die Portugiesen und
Spanier haben sich wiederum von den Engländern zurückdrängen lassen.
Sonst haben die Staaten am Meere auch die größte Handelsflotte, zumal
wenn sie noch eine lebhafte Industrie haben. Denn die Industrie braucht
viele fremde Rohstoffe und muß viele Erzeugnisse übers Meer versenden.
Dazu sind England, Deutschland, Norwegen, Frankreich so dicht bevölkert,
daß sie Nahrungsmittel einführen müssen. Das alles vermehrt den Außen-
handel.
g) D i e Fischerei wird teils in Binnengewässern, teils auf der See
betrieben. An der Seefischerei haben Norwegen, England, Holland und
XV. Europa im allgemeinen.
211
Deutschland den größten Anteil, dann folgen Frankreich, Spanien, Italien,
Griechenland nsw. In Norwegen sind Fischfang und Fischhandel die wichtigste
Erwerbsquelle. Die Flüsse und Seen Europas bergen auch noch viele Fische;
doch geht die Binnenfischerei in Deutschland zurück, weil zuviel schädliche Ab-
wässer in die Flüsse geleitet werden. Außerordentlich fischreich sind die
russischen Ströme, besonders die Wolga.
8. Europas Völker und Rassen.
Europa zählt aus seinen knapp 10 Mill. qkm über 450 Mill. Einwohner.
Es wohnen demnach rund 45 Menschen auf einem Geviertkilometer. Am
dichtesten ist Westeuropa besiedelt, besonders Deutschland mit Belgien, ziemlich
dünn Osteuropa, ferner die Pyrenäenhalbinsel und der Balkan, wie auch
Skandinavien.
Die Bewohner Europas gehören verschiedenen Völkern und Rassen an.
Am meisten ist die weiße Rasse verbreitet; man nennt sie auch die
kaukasische oder mittelländische Rasse. Am Kaukasus wohnen
Kaukasier, welche die schönsten Menschen der weißen Rasse sind. Die Kau-
kasier haben sich am meisten in den Ländern des Mittelländischen Meeres
niedergelassen. Zu der mittelländischen Rasse gehören drei große Hauptstämme,
nämlich die Germanen, die Romanen und die Slawen.
Zu den Germanen gehören die Deutschen, die N i e d er-
länder und Flamen, die Engländer, die Dänen, die Schwe-
den und Norweger. Die Germanen bewohnen also Mittel- und Nord-
westeuropa. Sie zählen zusammen gegen 140 Mill. Menschen, etwa den
dritten Teil der Europäer; d. h. von drei Europäern ist einer ein Germane.
Zu den Romanen gehören die Franzosen und die belgischen
Wallonen, die Italiener, die Spanier und Portugiesen
und die Rumänen. Zusammen zählen sie rund 110 Mill., also etwa den
vierten Teil der Europäer; d. h. von je 4 Europäern ist einer ein Romane.
Sie bewohnen die südlichen Halbinseln und Frankreich.
Zu den S l a w e n gehören die R u s s e n (Groß-, Klein- und Weißrussen),
die Polen, Tschechen, Slowaken und Wenden, die Slo-
wenen, Kroaten, Serben und Bulgaren. Sie bewohnen das
östliche Europa und den Balkan. Zusammen zählen sie über 130 Mill. Men-
schen, also ungefähr den dritten Teil.
Die Germanen und Slawen zählen beinahe gleich viel Menschen, die Ro-
manen hingegen etwas weniger. Zu den Kaukasiern gehören noch die
Griechen, Albaner, Litauer, Letten, Kelten (Iren und
B r e t o n e n) sowie die B a s k e n.
Außer der weißen Rasse ist noch die gelbe Rasse vertreten. Doch sind
es nicht mehr reine Mongolen, sondern nur mongolenartige
Völker, wie die Finnen, die Türken, die Madjaren und die
tatarisch-finnischen Stämme (Kalmücken usw.). Dazu kommen
noch Semiten, die Juden. Diese leben in allen Staaten, besonders
aber in West- und Südrußland, in Galizien, Ungarn, Rumänien und dem
Balkan.
9. Europas Staaten.
Europa zählt 26 Staaten, also weit mehr als es Bölkerrassen gibt. Im
Osten hat sich das Kaiserreich Rußland entwickelt und umschließt die meisten
212
XV. Europa im allgemeinen.
Slawen. Es ist daher der wichtigste slawische Staat. Slawische
Staaten sind auch die Königreiche Serbien, Montenegro und Bul-
garien. Der größte germanische Staat ist das Kaisertum des
Deutschen Reiches. Germanische Staaten sind weiter die Königreiche
Schweden, Norwegen, Dänemark, Niederlande und
Großbritannien. Der bedeutendste romanische Staat ist die
Republik Frankreich. Romanische Staaten sind ferner die Königreiche
Italien und Spanien, sowie die Republik Portugal. Germa-
nisch-romanisch ist das Königreich Belgien (Flamen und Wallonen),
sowie die Republik Schweiz (Deutsche, Franzosen, Italiener). Romanisch-
slawisch ist das Königreich Rumänien. Deutsch-slawisch-
romanisch ist Österreich, deutsch-slawisch-madjarisch Un-
gar n. Das Kaisertum Österreich-Ungarn enthält alle Völkerrassen
Europas genau wie Rußland. Die T ü r k e i ist der wichtigste Staat der türkischen
Rasse. Griechenland ist ein Hellenenstaat. Albanien ist ein Mischstaat.
Nun könnte man denken: Die Staaten schließen sich zusammen nach der
Blutsverwandtschaft ihrer Völker. Dann müßten die slawischen Staaten zu-
sammenstehen. Das ist auch der Fall; ihnen schließt sich auch Griechenland
zumeist an Aber die germanischen Staaten stehen nicht so eng zusammen.
England ist Deutschlands größter und schärfster politischer Gegner und wirt-
schaftlicher Nebenbuhler. Dänemark, Belgien und Holland stehen uns zumeist
kühl gegenüber, Norwegen und die Schweiz nebst Luxemburg wollen neutral
bleiben. Die Romanen sind auch geteilt. Italien hat mit Deutschland und
Österreich den Dreibund geschlossen, Frankreich mit Rußland den Zwei-
b u n d; England unterhält mit Frankreich ein herzliches Einvernehmen und mit
Portugal und Spanien ein geheimes Bündnis. Sie bilden den Dreiverband.
So stehen sich die europäischen Staaten ziemlich mißgünstig gegenüber. Man
kann deswegen zwei große Bündnisse unterschieden, die sich gegenüberstehen.
Das eine (das deutsch-österreichisch-italienische) vereinigt Mitteleuropa von der
Nord- und Ostsee bis zum Mittelländischen Meere. Es sucht sich zu erhalten
gegenüber der Übermacht des britisch-gallisch-russischen Bündnisses, das nament-
lich Deutschlands Emporkommen zu hindem strebt. Diese sechs größten Staaten
vermehren unablässig ihr L a n d h e e r wie ihre Flotte.
Das stehende Heer.
Rußland:
XV. Europa im allgemeinen.
213
Deutschland und Österreich haben ein weit kleineres stehendes Heer als
ihre Gegner; es iü sogar kleiner als das russische, und selbst Frankreich hat
ein größeres als Deutschland. Dabei vermehrt Rußland sein Heer noch immer
mehr. In der Kriegsstärke sind Frankreich und Rußland dem Deutschen Reiche
und Österreich auch überlegen. Der widerdeutsche Bund ist dem deutschen
Bunde an Zahl der Truppen überlegen; es stehen einander gegenüber unter
den Waffen 1250 000 Mann gegen 2250 000 Mann, also alltäglich eine ganze
Million mehr! An ausgebildeten Truppen können einander gegenüber gestellt
werden, etwa 5 Millionen gegen 12 Millionen! So war es sehr nötig, daß
Deutschland und Österreich ihr Landheer vermehrten; sonst wären sie sehr
stark in der Minderzahl geblieben.
Recht ungünstig ist auch das Verhältnis der Seestreitkräfte. England hat die
größte Flotte. Sie wird verstärkt durch die französische und russische (und
spanisch-portugiesische). Dazu vermehren diese drei Mächte ihre Kriegsfwtte in
emsigster Weise. Die Seemacht des deutschen Bundes ist viel schwächer. So
können wir sagen: Zu Lande sind beide Bündnisse ziemlich ungleich stark, aber
zu Wasser hat der widerdeutsche Bund ein entschiedenes Übergewicht. Darauf
pochen auch unsre Gegner. England will eben die See unbeschränkt beherr-
schen. Das tut es jetzt mit Hilfe seiner Bundesgenossen. So steht es
mit uns!
Sind das angenehme Aussichten für uns? Was ist zu tun? Das hat
uns der Kaiser einst gesagt: Bitter not ift uns eine starke deutsche Flotte!
Bitter not ist uns auch ein starkes deutsches Heer! Bitter not sind uns
tapfre deutsche Streiter, soll die Wacht am Rhein und an der Weichsel fest
und treu stehen.
Bitter not ist uns die Einigkeit aller Deutschen.
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhült.
Druck von Julius Beltz, Hofkmchdrucker, Langensalza.
Julius Beltz Congeniaba
Aktuelle fragen aus der
Pädagogik -er 6egenwart
Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Grundwissen-
schaften und der allgemeinen und speziellen Didaktik. Anter Mit-
wirkung namhafter Schulmänner
derausgegeben von Max Reiniger in Clberfelö
¡ü¡ Bañó 1 Geheftet 3.50 M, elegant geb. 4.30 M
== 7ndatt: I. Emil Zeihig, Sem.-Oberlehrer in Oschah i. S.,
Lehrerbildung — 2. Lans Zimmermann, Lehrer i. Leipzig,
==F Die Püdagogik Basedows vom Standpuntte moderner Geschichts-
auffassung — 3. KarlKubbe, Mittelschullehrxr in Magdeburg, Eü
Metaphyfischer Realismus u. Experimentalpsychologie — 4. Fritz
- Lehmensieck, Sem.-Oberlehr. in Dresden, Psychol. Beobach-
tungen an Kindern des ersten Schuljahres — 5. MaxReiniger,
Lehrer in Elberfeld, 'Lsthetische Erziehung — 6. TheodorFranke,
Bürgerschullehrer in Wurzen, Zur Seelen- und Anterrichtslehre der ^E
^E Wortvorstellungen — 7. G. W o l f f, stadt. Lehrer in Berlin, ==
Stoffauswahl und Lehrverfahren im Rechtschreibunterricht —
8. Or. C. Müller, Direktor des Lyzeums in Stralsund,
W Die schriftlichen Arbeiten im Unterricht der fremden Sprachen.
W Band 2 Geheftet 3.— M, elegant geb. 3.80 M
Inkalt: I. Pastor O. Flügel, Dülau b. Lalle a. S., Versuche,
^E die absolule Ethik Lerbarts durch die relative des Evolutionismus
zu ersetzen oder zu ergünzen — 2. K. Kubbe, Mittelschullehrer in
^E Magdeburg, Die Lehre von der Aufmerksamkeit — 3. K. Kubbe,
Die Lehre von der Beobachtung in der modernen experimentellen
F== Psychologie und ein Beispiel ihrer prakttschen Berwertung —
4. Fr. Lehmensieck, Sem.-Oberlehrer in Dresden, Psycho-
logische Beobachtunaen an Kindern des vierten Schuljahres (2 Kinder-
bilder) — 5. T h. Franke in Wurzen, Tugend und Brauchbarkeit
^E als Erziehungsziele — 6. G. Lauffe in Dresden, Willens- und
Charatterbildung durch erziehenden Anterricht — 7. G. Wolff,
_ stüdt. Lehrer in Berlin, Die Onomatik in der Volksschule —
8. T h Franke in Wurzen, Wirtschastsgeographie — 9. vr. C.
Müller, Direktor des Lyzeums in Stralsund, Die fremdsprachliche
W ektüre.
in bi in in
-fj,- Verlagsbuchhändler
D6lg und Lofbuchdrucker
♦*..-»♦*. •;< .*•«'«•!< •;< *;• »:» *!•»»«»«»
Rhtuelle Sragen aus der Pädagogik der Segenwart
Rand 3
Werhtätigheit auf der Mittel- und
rthlM'Sfllff* Von W. Hohl, Direkt, des städtischen Lyzeums
V/UdylUlC in Nowawes. Geh. 1.30 M, eleg. geb. 1.90M
Inhalt: Vorwort — I. Überblick über die Geschichte der Knabenhandarbeit —
2. Die Techniken: a) Das plastische Gestalten. b) Das Ausschneiden, c) Zeichnen
und Malen, d) Die andern Techniken: Papp-, Äolz-, Glas-, Kork- und Metall-
arbeiten — 3. Besondere Einrichtungen in den Klassenzimmern und im Schulhause.
— 4. Werktätigkeit in den einzelnen Fächern: a) Raumlehre, b) Erdkunde, c) Natur-
beschreibung. d) Naturlehre, e) Chemie, f) Andre Fächer. — Schlußbemerkungen
Rand 4
Lebensvoller Unterricht aut der Unter-
stufe unserer deutschen Lern- und Arbeitsschule
Von €. ¡5. Woblrab, Oberlehrer in Brambach.
Geheftet 2.50 M Elegant gebunden 3.20 M
lZand 5
Moderne Richtungen in der Stoff-
geftaltung der Scbulgeograpbie ■
Ein Beitrag zur Methodik des erdkundlichen Unterrichts von p. knospe,
V e r l i n. In Vorbereitung.
lZand 6
ßeimathultur in der Schule
der Kinder und Anregungen zur Belebung des Unterrichts. Mit einem
Anhänge: „Sechsundsechzig Schülerarbeiten". Von Karl kubbe, Mittel-
schullehrer in Magdeburg. In Vorbereitung.
Rand 7
Oie Kulturgeschichte im Unterricht
Von §ikenscher, München In Vorbereitung.
Rand 8
Intelligensprüfungenauf 6runh von
ßruppenbeobacbtungen
Julius Belt* 2ÄÄ Langensalza
Präparationen zur vebandlung deutscher Sedicbte
erster r-u Goethe und Schiller
Von M. troll, Rektor in Schmalkalden
Geheftet 2,50 Mark Elegant gebunden 3.30 Mark
Deutsche Lehrerzeitung, 1911, Nr. 87. Diese Präparationen werden
als „Frucht jahrelanger praktischer Arbeit bezeichnet.
r r
j Professor Dr. e. vennert I
! Der Unterricht in 5er Biologie |
r i ...... i„ - ,i, ------r
t
5 Ein Ratgeber für Lehrer der Biologie an höheren», niederen Schulen |
| erster teil: j
1 Allgemeiner teil vm |
t |
| Zweiter teil:
| Spezieller teil: Probelektionen j
I Geheftet 1.75 Mark Elegant gebunden 2.50 Mark r
* El s.-Lothr. Schulblatt. Der erste Teil verbreitet fich in ausgedehntem |
r Maße über diese wichtige Frage und kann zum Führer werden auf r
r diesem interessanten Gebiete; der zweite Teil gibt Probelektionen und zeigt s
f praktisch, was der erste theoretisch ausführte. |
eitrage zur frage des Werk-
lltlfprrirhfa bcr pädagogischen Abteilung des
UIIICI I Breslauer Lehrervereins
Geheftet 1.— Mark Elegant gebunden 1.60 Mark