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Muftrirte
Hans- llnd Schnlbibliothek
zur
Pflege vaterländischen Sinnes.
Unser deutsches ßn»d »»!> Villi.
VIII.
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Braunschweig
JO -B»Wiothek-
Inventarisiert
unter: ¥£ V9 £4
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Deutsches Land und WM.
Vaterländische Gilder
aus
Natur, Geschichte, Industrie und Volksleben
des
Deutschen Reiches.
Zweite, gänzlich umgestaltete Äuslage.
Unter Redaktion
von
vr. G. A. von Wden m.d Ward Gberläuder.
In zwölf Bänden.
Achter Band.
Bilder aus dem Gebirge und Berglande von Schlesien und den Ebenen
in Posen von der £der bis zur Weichsel.
Mit zahlreichen Text-Mnstralionen, Vollbildern, Harten-Beilagen it. s. w.
Leipzig und Berlin.
Verlag und Druck von Otto Spamer.
1884.
Unser
Deutsches Land und WM.
Zilder ms dem Gedirge und ili'tQliutk nun Schlesm
und den Ebenen
in Posen von der Oder bis zur Weichsel.
Rektor
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Leipzig und Äerlin.
Verlag und Druck von Otto Spamer.
1884.
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Inventarisiert unter
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Terl-Illnstralionen, einem Tonöild und einer Harle.
Herausgegeben
Dr. Kart Murmann,
der städt. Höheren Knabenschule zu Schwerin
Verfasser und Verleger behalten sich das ausschließliche Recht der Übersetzung vor.
Worworl.
Das Buch, welches ich der lesenden Jugend und den Kreisen übergebe,
die sich gern mit einem belehrenden und leicht zu lesenden Buche ohne wissen-
schaftlichen Apparat beschäftigen, behandelt zwei Provinzen des preußischen
Staates, die geschichtlich eng zusammengehören, Schlesien und Posen, von denen
letztere bisher weniger beachtet worden ist, als sie es verdient. Ich habe mich
bemüht, möglichst einfach zu schreiben, um leicht verständlich zu werden. Möchte
ich das erreicht haben, daß sich dieser achte Band würdig den bis jetzt erschie-
nenen Bänden des von der Spamerschen Verlagshandlung ins Leben gerufeneu
Werkes „Unser deutsches Land und Volk" anschließe. Wie der Herr Verleger
keine Mühe und Kosten gescheut hat, den Druck korrekt herzustellen und die
schönsten Illustrationen zu liesern, so ist es meine Sorge gewesen, die besten
wissenschaftlichen und volkstümlich geschriebenen Vorarbeiten zu benutzen, um
Ungenauigkeiten, die bei einem so umfangreichen Stoffe leicht unterlaufen,
möglichst zu vermeiden. Die wichtigsten der Werke, die mir zur Hand gewesen,
sind außer den größeren geographischen Lehrbüchern von Klöden und Daniel
und den trefflichen Büchern von Franz Otto über einzelne Abschnitte der
preußischen, resp. deutschen Geschichte folgende: Menzel, Geschichte Schlesiens
(3 Bde.); Stenzel, Geschichte Schlesiens (1. Teil); Morgenbesser, Geschichte
Schlesiens; Pachaly, Schlesiens Geschichte (2 Bde.); Grünhagen, Geschichte des
ersten Schleichen Krieges; Luchs, Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters;
Tschoppe und Stenzel, Urkundensammlung; Dietrich, Heimatskunde der Provinz
Schlesien; Adamy, Heimatskunde von Breslau; Menzel, Chronik von Breslau;
Schmidt, Geschichte der Stadt Schweidnitz (2 Bde.); Minsberg, Neiße; Minsberg,
Groß-Glogan (2 Bde.); Fritz, Denkwürdigkeiten, Erzählungen und Sagen von
Groß-Glogau; Worbs, Sagan; Weltzel, Ratibor; Solger, Kreis Beuthen;
Weltzel, Kosel; Preiß, Kurort Warmbrunn; Denkwürdigkeiten der Stadt Bunz-
lau; Kraffert und Sammter, Chronik von Liegnitz (3 Bde.); Schönwälder, Die
VI
Vorwort.
Plasten zum Briege; Letzner, Riesengebirge; Ebert, Riesengebirge; Herlossohn,
Wanderungen durch das Riesengebirge und die Grafschaft Glatz; Kutzeu, Gras-
schast Glatz; Beheim-Schwarzbach, Die Zillerthaler in Schlesien; Zemplin, Be-
schreibnng und Geschichte der Burg Kynsberg; Zemplin, Der Fürstenstein in der
Vergangenheit und Gegenwart; Kutzen, Der Tag bei Liegnitz; Müller, Die
Schlacht bei Leuthen; Zeitung der Schleichen Gewerbe- und Industrieausstellung
in Breslau 1831; Schlesische Zeitung; Droysen, Friedrich der Große; Das
Reichspostgebiet; Grässe, Sagenbuch des preußischen Staates; Wuttke, Städte-
buch des Landes Posen; Lukaszewicz, Historisch-statistisches Bild der Stadt
Posen; Öhlschläger, Posen; Igel und Baeck, Heimatskunde der Provinz Posen;
San Marte (A. Schulz), Polens Vorzeit in Dichtung und Wahrheit; Talvj,
Geschichte der slawischen Sprachen und Litteratur; Goldbaum, Entlegene Kul-
turen; Thiele, Die jüdischen Gauner in Deutschland; Aufsätze aus den Grenz-
boten und Posener Provinzialblättern; mehrere Werke von Karl von Holtei
und von Robert Rößler.
Schließlich will ich nicht unerwähnt lassen, daß mir bei der Arbeit der
Stoff so viel des Interessanten und Erwähnenswerten bot, daß das Manuskript
die von der Verlagshandlung bestimmte und im Plane des Werkes liegende
Bogenzahl weit überschritt. Es mußte also wieder gestrichen werden, und so
sind denn einzelne Abschnitte, besonders die über Breslau uud Posen, kürzer
fortgekommen, als ich es beabsichtigte.
So mag denn dieser Band in die Welt hinausgehen und sich Freunde
erwerben unter denen, die ihr schönes Vaterland genau kennen lernen wollen,
um es desto mehr lieben zu können. Liebe zum deutschen Vaterlande, zu dem
auch die Provinz Posen gehört, in der ich nunmehr acht Jahre lang angenehm
gelebt habe, hat mich bei der Abfassung des Buches geführt.
Schwerin a. W., im Oktober 1383.
Dr. Kar! Surmann.
Inhaltsverzeichnis.
Siebzehnte Abteilung.
Gebirge und Bergbau iu Schlesien.
Mus Schlesiens Vergangenheit (3). Schlesiens älteste Zeit bis zum Jahre 1163 (3).
Peter Wlast (6). Schlesiens Name (7). Schlesien unter abhängigen Piasten bis
zum Jahre 1355. Ober-, Mittel- und Niederschlesien (7). Schlesien unter böh-
mischen und ungarischen Königen bis 1526. Der erste schlesische Fürstentag 1337
(10). Breslau im Baun; Bischof und König im Streit (1339—1342) (10).
Kasimir III. von Polen und Johann von Böhmen (13). Karl IV. (1346 bis
1378); Flagellanten, Pest und Teurung in Schlesien (13). Wenzel (1373 bis
1419). Der Pfaffenkrieg oder der Bierstreit zwischen dem Breslaner Rat und
den Domherren. Breslau wieder im Bann (14). Sigismund (1419—1437);
Johann Krafa; die Huffiteu (16). Johann von Capistrano (1453) (17). Georg
Podiebrad (bis 1471) (19). Matthias (bis 1490) (20). Wladislans (bis 1516)
(21). Ludwig (1516—1526) (21). Schlesien unter Regenten aus dem Hause
Österreich (1526—1740) (22). Schlesien unter preußischen Königen (25). Alt-
schlesische Münzen (29). Preise im 13. Jahrhundert (30). Münzen ans späterer
Zeit (30).
Aas zehige Schlesien (31). Schlesiens Gestalt, Größe, Grenzen, Einteilung, Verwal-
tung (31). Bodenbeschaffenheit, Vegetation, Viehstand, Klima, Straßen, Ver-
kehr und Bevölkerung (33). Schlesische Mundart (35). Karl von Holtet (37).
Robert Rößler (43).
Kandel und Hewerbe in Schlesien (45). Über das Leben der Schlesier (45). Handel
(48). Gewerbe und Industrie, Weberei und Teppichfabrikation (49). Bergbau-
und Hüttenwesen (52). Steinkohlen (57). Schlesische Gewerbe- und Industrie-
ausstellung (59).
Aas Zsergeöirge mit seiner Ilmgegend (69). Allgemeines (69). Jsergebirge (70).
Flinsberg (72). Schwarzbach (73). Liebwerda (74). Kloster Hainsdorf (74).
Friedland (74). Die Herrnhuter. Graf von Zinzendorf (74). Lauban, Greifen-
berg und der Greifenstein (77). Löwenberg mit dem Gröditzberge (82). Gold-
berg. Die Wallenfteiner in der Stadt (1633). Trotzendorf (87). Die Rabendocke
bei Goldberg (92).
VIII
Inhaltsverzeichnis.
Aas Wesengebirge (95). Allgemeines (95). Morgen- und Abenddämmerung (96).
Das Wetter im Gebirge (97). Die Pflanzen und Tiere (98). Die Bauden (99).
Wanderung über deu Riesenkamm (100). Schreiberhau, Petersdorf, Josephinen-
Hütte (101). Zackenfall (102). Kochelfall (103). Neue schleiche Baude. Reif-
träger (103). Elbbrunnen und Elbfall (103). Schneegruben (104). Das Hohe
Rad (104). Hampelbaude (106). Die Schnee- oder Riesenkoppe (106). Böh-
mische Seite des Riesengebirges (108). Der Mönch und die Nonne (109). Die
schlesische Gebirgsbahn (110). Hirschberg (III). Karl Ludwig Bauer (113).
Warmbrunn (114). Der Kynast und seine Sagen (117). Der Sprung vom
Kynast (121). Der Gefangene im Turme (122). Der Wolf und das Schaf (122).
Der goldene Schleier (123). Erdmannsdorf (125). Die Zillerthaler (126).
Hörnerfchlittenfahrt (138). Fischbach (140). Kirche Wang (142). Kloster Gnissau,
das schlesische Eskorial (145). Der Name des Berggeistes im Rieseugebirge (149).
Rübezahlsagen (157). Rübezahl erlöst einen Schuhmachergeselleu vom Galgen.
Rübezahl bestraft den widerspenstigen Wurzelmann (158). Rübezahl hilft einer
armen Frau (158). Rübezahl beschenkt Spielleute (158). Rübezahl und die
Studenten (l59). Rübezahl schenkt Edelsteine (159). Rübezahl, ein Feind der
Hunde (159). Rübezahl als Hochzeitsgast (160). Rübezahl hänselt einen Glaser
(160). Rübezahl bestraft einen Boten (160). Rübezahl hilft einem Bedrängten
(161). Rübezahl beschenkt einen armen Schuster (161). Rübezahl belohnt eine
Spinnerin (162). Rübezahl bestraft einen Schmarotzer (162). Rübezahl ver-
wandelt sich in einen Oberst (163). Rübezahl rettet einen Unglücklichen (164).
Aas Waldenburger Wergland (165). Landeshuter Kamm. Das Waldenburger Berg-
land (165). Waldenburg (166). Altwasser (168). Bad Salzbrunn (169). Fürsten-
stein mit dem Fürstensteiner Grunde (170). Der 20. August 1800 auf dem
Fürstenstein (173). Adersbach uud Weckelsdorf (176). Von Schweidnitz nach
dem Zobten. Die Einsegnung des Lützower Freikorps in Zobten (179). Die
Burg Kynsberg am Schlesierthale (l83). Die Sagen der Kynsbnrg (188).
Das steinerne Kreuz im Teufelsthal (188). Die Gluckhenne auf Kynsburg (189).
Die große Forelle im Eselsbrunnen (190). Die weiße Frau (190). Die drei
Altväter (190). König Friedrich II. in Strehlen. Warkotsch und der Jäger
Kappel (191).
Die Grafschaft Htah (193). Grenzen und Gestalt der Grafschaft (193). Einfluß
Böhmens auf Glatz (195). Burgen und Wohnungen (198). Produkte und
Sprache (202). Das Eulengebirge und dessen Gebier (204). Festung Silber-
berg, das schlesische Gibraltar (205). Langenbielau und Peterswaldau, zwei
schlesische Weberdörser (206). Friedrich II. in Kamenz (207). Neurode (208).
Das schlesisch-glatzische Grenzgebirge; Wartha, Reichenstein (209). Das Bielen-
gebirge; Bad Landeck (210). Das Schneebergsgebirge mit dem Schneeberge
(211). Das Habelschwerdter Gebirge mit der Hohen Mense und dem Heidel-
berg ; die Seeselder; die Böhmischen Kämme; Reiuerz (213). Das Ratschen-
und Heuscheuergebirge; Cudowa (214). Wünschelburg und Albendorf (217).
Die Neiße (217).
Die schleichen Heöirgspasse und iljre Uiegel (219). Allgemeines (219). Striegau
(220). Die Schlacht bei Hoheusriedberg am 4. Juni 1745 (220). Die Schlacht
bei Sorr (Trautenau) am 30. September 1745 (225). Die heißen Tage des
Inhaltsverzeichnis.
IX
Jahres 1866 in und um Träutenau (227). Gitschin am 29. Juni 1866 (228).
Der 27. Juni 1866 bei Nachod und der 28. bei Skalitz (230). Landeshut (232).
General Fouque bei Laudeshut im Jahre 1760 (233). Johann Christian Günther,
geboren in Striegan (235). Bolkenhain und die Bolkoburg (238). Burg Schwein-
Haus (239). Die Festung Glatz (240). Glatz im Jahre 1742 (241). Das Jahr
1760 in Glatz (242). Glatz im Jahre 1807 (243). Schweidnitz (244). Schweid-
nitz wird von Johann von Böhmen belagert (1345) (244). Die Hnssiten vor
Schweidnitz (1428) (245). Belagerung infolge eines Münzstreites (1522) (246).
Die Belagerungen der Stadt im Dreißigjährigen Kriege (248). Die Preußen
in Schweidnitz (1741) (250). Schweidnitz im Siebenjährigen Kriege (250).
Friedrich im Lager von Bunzelwitz (252). Die Schlacht bei Burkersdorf am
21. Juli 1762 (254). Die Schlacht bei Reichenbach am 16. Angust 1762 (255).
Die Pässe aus Österreichisch-Schlesien (256). Neiße (258). Friedrich von Sallet
(262). Joseph von Eichendorff (263). Binzer (264).
Achtzehnte Abteilung.
Von der Oder bis zur Weichsel.
Die Ader und ihre Wngegend von der Anesse bis Wrieg (267). Quelle der Oder
(267). Graf Albert Joseph von Hoditz auf Roßwalde (268). Ratibor (270).
Die Wasserpolacken (271). Kosel (272). Der alte Neumann (273). Oppeln
(275). Die Piasten zum Briege (275). Georg Wilhelm, der letzte Sproß der
Piasten in Brieg (1675) (286). Brieg unter kaiserlicher Regierung bis zur
Einnahme durch die Preußen. Die Schlacht bei Mollwitz am 10. April 1741 (289).
Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen (292). Der Ring und das Rathaus
(293). Blücherplatz. Tauentzienplatz (298). Die Promenaden (300). Das heutige
Breslau (302). Breslaus älteste Zeit (304). Breslau in Abhängigkeit (305).
- Die Jahre 1740 und 174l (305). Breslau während des Siebenjährigen Krieges
(311). Die Schlacht bei Leuthen am 5. Dezember 1757 (312). Breslau im
■ Frühjahr 1813 (317). Kaiser Wilhelm in Breslau im Jahre 1882 (320). Das
Bislum Breslau (320). Die Reformation in Breslau. Johauu Heß (321).
Die Universität (323). Berühmte Breslauer (325). Die zweite schlesische Dichter-
schule (328). Das Heldengrab zn Krieblowitz (330). Breslauer Sagen (331).
' Die Armesünderglocke (331). Der steinerne Kopf an der Kathedrale (331).
, Hofer mit dem langen Barte (332).
Der schlesische Schlachtenfüch, die Katzbach (333). Liegnitz (333). Die Mongolenschlacht
>m Jahre 1241 (334). Die Klöster Leubus, Trebnitz, Heinrichan (336). Die
Schlacht auf den Pfaffendorfer Hohen bei Liegnitz am 15. August 1760 (338).
Die Landwehrschlacht an der Katzbach am 26. August 1813 (342). Die Ritter-
akademie zu Liegnitz (345). Sehenswertes iu uud um Liegnitz (348).
Der polnische Landrücken und die Wordseite Schlesiens (349). Namslau (349). Das
Heldeugrab zu Minkowski (350). Öls (350). Das Katzengebirge (351). Der
Totengräber in Guhrau (351). Glogau (352). Die Wahl des Platzes zur
X
Inhaltsverzeichnis.
neuen Domkirche (353). Herzog Hans der Grausame (354). Die verhungerten
Ratsherreu (1488) (355). Singen oder Springen (355). Der Statthalter Johann
Polak von Karnikow (1493) (356). Glogau im Dreißigjährigen Kriege (358).
Andreas Gryphins (361). Grünberg (362). Karl XII. von Schweden in Frey-
stadt (1707) (363). Sagan (364). Der Turm von Sagan (364). Der Hunger-
türm in Priebus (365). Die Besitzer Sagaus nach Johann II. (366). Sprottau
(366). Bunzlau (367). Martiu Opitz (369).
<Land und seilte im Hroszijerzogtum Uosen (371). Allgemeines (371). Die älteste Zeit
Posens (373). Deutsche Kultur und 'deutsches Leben im Poseuscheu (373). Die
Teilungen Polens (379). Posen, ein Teil des Herzogtums Warschau (331).
Die Bemühungen der Polen im 19. Jahrhundert (381). Lage, Grenzen, Flüsse,
Bodenbeschassenheit, Viehstand, Pflanzen, Mineralien, Eisenbahnen, Verwaltung
und Bevölkerung der Provinz Posen (385). Die Polen (390). Die polnische
Küche (397). Familien- und Ortsnamen (399).
Stadt und Festung Uosen (403). Die Gründung der Stadt (403). Posen im 17. und
18. Jahrhundert (406). Posen seit dem Jahre 1793 (413). Die Forts (419).
Wilhelmstraße und Wilhelmsplatz (419). Das Rathaus (420). Das Schloß (420).
Regieruugsgebäude (421). Raezynskische Bibliothek (422). Der Dom (422).
Das Denkmal des Adam Mickiewiez (423).
Zm "Regierungsbezirk Zofen (427). Kleine Städte im Regierungsbezirk Posen (427).
Rogaliit (430). Die Betscher Gauner (431).
Im Regierungsbezirk Wromberg (439). Die Sage von der Gründung Gnesens (439).
Die ersten Herrscher (440). Kraschwitz und der Mänsctnrm am Goplosee (444).
Piast und seine Nachkommen (446). Der heilige Adalbert (449). Bromberg (455).
Pan Twardowski (457). Kleiue Städte im Regierungsbezirk Bromberg (466).
Wongrowitz (467). Czarnikan (468). Tremessen (469). Jnowrazlaw (470).
Die Grtradeigaden sind einzuheften:
.....Titelbild.
am Schluß des Bandes.
Schlesische Volkstrachten . -. .
Karte von Schlesien und Posen
Aus Schlesien; Urrzanzenheit.
Schlesiens älteste Zeit bis zum Jahre 1t63. — Peter Wlast. — Schlesiens Name. —
Schlesien unter unabhängigen Piasten bis zum Jahre 1355. — Ober-, Mittel- und
Niederschlesien. — Schlesien unter böhmischen und ungarischen Königen bis 1526. —
Schlesien unter Regenten aus dem Hause Österreich (1526—1740). — Schlesien unter
preußischen Königen. — Altschlesische Münzen, Maße und Gewichte; Münzen spätererZeit.
-Schlesiens älteste Zeit bis )um Jahre 1163. Welches Volk zuerst die
Gegenden zu beiden Seiten der Oder von ihrer Quelle bis ungefähr dahin,
wo sich der Bober in sie ergießt, bewohnt hat, das zu untersuchen ist eine
fruchtlose Unternehmung; denn die ersten Nachrichten über alle Völker verlieren
sich im Dunkel der Vorwelt. Das Wenige, was uns von den ältesten Be-
wohnern dieses Landstrichs, welchen wir jetzt Schlesien nennen, mitgeteilt wird,
ist unsicher. Römische Schriftsteller konnten keine vollständig zuverlässigen Nach-
richten über ein Volk haben, das fo weit von deyt Herzen ihres Reiches entfernt
wohnte, und mit dem die Römer fast nur, um Krieg zu führen, in Berührung
traten. Wahrscheinlich ist es, daß die ältesten Einwohner Schlesiens Germanen
gewesen sind; aber wie in ihre dichten Waldungen noch fast kein Strahl der Sonne
drang, wie sie noch nicht den alles belebenden Ackerbau betrieben, sondern fast
ausschließlich von dem Kriege und der mit diesem zusammenhängenden Beute
lebten, wie sie von wissenschaftlicher Bildung noch keine Ahnung hatten: so ist -
es bisher auch den strebsamsten Geschichtsforschern unmöglich gewesen, das Dunkel
zu beseitigen, in welches das Leben dieser schleichen Ureinwohner gehüllt ist.
Als dann im 4. Jahrhundert unsrer Zeitrechnung die große, in der Welt-
geschichte einzig dastehende Völkerbewegung von Osten her begann, da wurden
auch die deutschen Ureinwohner Schlesiens von slawischen Horden verdrängt
1*
Breslau von der Oderseite um die Mitte des 18. Jahrhunderts
4 Aus Schlesiens Vergangenheit.
und genötigt, weiter nach Westen zu ziehen. Nur in den gebirgigen Gegenden
blieben noch Germanen zurück, welche den angestammten Sitten treu blieben, bis
Deutsche, wiederum rückwärts nach Osten wandernd, in den Slawenreichen wieder
festen Fuß faßten. Drei große Slawenreiche bildeten sich damals, nämlich das
polnische, böhmische und großmährische. Als dieses letztere aber um das Jahr
900 unterging, war Schlesien noch ohne Namen und keineswegs eine in sich
abgeschlossene Provinz, sondern in der von der Oder aus östlich gelegenen
Hälfte den polnischen, in der westlichen aber den böhmischen Slawen unter-
worfen. Erst im 10. Jahrhundert rissen die Polen das ganze Land an sich,
und so ist Schlesien am Anfange seiner Geschichte ein Teil Polens.
Die Slawen waren bei ihrer Einwanderung ein nomadisches Volk, das
erst nach und nach sich dem Ackerbau zuzuwenden begann. Ferner ist es nach-
gewiesen, daß die Slawen damals noch in Hütten wohnten, welche sie leicht ab-
brechen und mitnehmen konnten, wenn sie nach einem andern Weideplatze zogen.
Sie hatten eine patriarchalische Verfassung und lebten nur unter Familienober-
Häuptern, die bei allgemeinen Angelegenheiten sich miteinander berieten. Sie
waren gastfrei, treu und redlich, liebten die Freiheit und zeigten Mut und Tapfer-
feit; gegen ihre Beleidiger waren sie grausam, und man erzählt sich, daß sie im
Kriege sich vergifteter Pfeile bedienten. Bei der durch die großen Völkerzüge
zunehmenden Schwäche der germanischen Stämme drangen die Slawen immer
weiter nach Westen vor bis über die Elbe, und sie würden sich noch weiter
ausgedehnt haben, wenn sie nicht in den Franken, in Karl dem Großen und
seinen Nachfolgern, kräftige Feinde gefunden hätten.
Schlesien gehörte bald ganz zu dem großen polnischen Slawenreiche und
teilte mit letzterem Verfassung, Sitten und Schicksale; aber es litt sehr durch die
beständigen Kriege mit den Böhmen, die sich gern den westlichen Teil des Landes
zurückerobert hätten. Diese westliche Hälfte bestand damals aus verschiedenen
Gauen, deren größter Zlasane hieß und das Land der Slenza, d. h. der kleinen
Lohe, welche bei Nimptsch entspringt und bei Masfelwitz in die Oder fällt, um-
faßte; zu ihm gehörten etwa die heutigen Fürstentümer Breslau, Brieg bis an
die Oder und ein Teil des Fürstentums Schweidnitz.
Obgleich die Polen und Böhmen sich einander vielfach befehdeten, so wurde
doch von Böhmen her den Polen das Christentum gebracht. Der polnische
Fürst Miesko nahm im Jahre 966 das Christentum an, nachdem er ein Jahr
zuvor die als Christin getaufte Dubrawka, die Schwester des Herzogs Boleslaw
des Frommen von Böhmen, geheiratet hatte. Er stiftete ein Bistum in Posen,
das dem Erzbistum Magdeburg unterstellt wurde, und wußte auch die zu seinem
Reiche gehörenden Bewohner Schlesiens zur Annahme des Christentums zu
bewegen; aber auf die Sitten hatte die neue Religion keinen Einfluß, das Volk
blieb noch lange Zeit roh unter seinen gewaltthätigen Herrschern. Der Bischof
Dithmar von Merseburg schildert uns die Polen damaliger Zeit ganz anders,
als wir sie früher kennen gelernt haben; er sagt, das Volk müsse man wie
Ochsen und faule Esel züchtigen, ohne schwere Strafen könne es nicht beherrscht,
könne das Wohl des Fürsten nicht erhalten werden. Die Einführung des
Christentums machte deshalb große Schwierigkeiten und ging nicht ohne Gewalt
vor sich; ja diejenigen, welche dem heidnischen Glauben treu blieben, wurden
sogar mit Einziehung ihrer Güter oder mit dem Tode bestraft. Denjenigen.
Schlesiens älteste Zeit bis zum Jahre 1163. ' 5
welche die Fasten nicht hielten, wurden die Zähne ausgebrochen. Daß die
gottesdienstlichen Versammlungen in den ersten Zeiten des Christentums viel-
fachen Störungen ausgesetzt gewesen sind, beweist die polnische Sitte, bei Ver-
lesnng des Evangeliums die Säbel zu ziehen.
Schon zur Zeit des Miesko gab es ein Breslau, das aber noch nicht in
dem heutigen Sinne des Wortes eine Stadt war; um eine Burg auf der Dominsel,
die vielleicht als Grenzfeste gegen die Böhmen diente, lagen kleine Hütten oder
Häuser von Holz, die mit Stroh bedeckt waren. Dieser Ort wurde nicht be-
stimmt zum Sitze für den ersten christlichen Bischof, sondern wahrscheinlich
wurde die erste christliche Kirche in Schmogra im Wohlanischen angelegt, von
wo der Bischofssitz erst später nach Breslau verlegt wurde.
Die Deutschen, die westlichen Nachbarn der Polen, machten schon dem
Fürsten Miesko viel zu schaffen, da sie ihr Land tapfer verteidigten und sich
bemühten, die Länder, welche ihre Vorfahren während der Völkerwanderung
verlassen hatten, wiederzugewinnen. Miesko wurde schon vor seiner Bekehrung
von dem Markgrafen Gero zweimal besiegt und mußte sich zu einem Tribute an
das Deutsche Reich und zur Abtretung einiger Ländereien verpflichten. Von dieser
Zeit an wurde der Einfluß der Deutschen auf Schlesien und Polen immer größer.
Auf Miesko folgte sein Sohn Boleslaw, dessen kühner Geist die von seinem
Vater ererbte Vasallenschaft abzuschütteln trachtete, nachdem er sich zuvor vom
deutschen Kaiser (Otto III.) die königliche Würde erworben hatte, als dieser
im Jahre 1000 zum Grabe des heiligen Adalbert nach Gnesen wallsahrtete.
Die Kämpfe Boleslaws mit seinen Nachbarn verwüsteten zwar weite Strecken
auch des schleichen Landes; aber sie waren meist mit Erfolg für Polen ge-
krönt, das unter dem kriegerischen Könige seine Grenzen bedeutend erweiterte.
Im 11. Jahrhundert geriet Polen durch viele und lange Kriege in große
Verwirrung. Dazu kam, daß auch innere Unruhen das Reich erschütterten.
Zu Anfang des 12. Jahrhunderts finden wir auf dem polnischen Throne
Boleslaw III., einen tapfern jungen Fürsten, welcher sich schon während der
Regierung seines Vaters die Liebe seiner Unterthanen erworben hatte; er soll
47 Feldschlachten gewonnen haben. Gegen seinen Bruder Zbigniew, der die
Böhmen und Pommern zu einem Einfalle in Schlesien und Polen gereizt hatte
und auf dessen Seite auch der deutsche Kaiser stand, dem der versprochene
Tribut nicht gezahlt wurde, focht er glücklich und nahm ihm sein Land. Da
rückte Kaiser Heinrich V. gegen Polen zu Felde und belagerte das gut befestigte
Glogau. Die Bürger der Stadt verteidigten sich von ihren Mauern und
Türmen herab fehr tapfer, so daß Heinrich, als Boleslaw zum Schutze der
Stadt kam, die Belagerung aufgeben und abziehen mußte. Welchen Kriegsruhm
damals Boleslaw durch seine Thaten errungen hatte, geht aus einem Liede
hervor, das die deutschen Truppen Heinrichs sangen:
„Fürst Boleslaw, Held Boleslaw, Vom Pommerkrieg kaum ausgeruht,
Kennst du denn weder Ruh' noch Schlaf? Ermüdest du den kühnsten Mnt.
Durch dich wird Dämm'rung, Tag nnd Nacht Mit Heiden führst du christlich Krieg,
Rastlos und schreckenvoll gemacht. Drum schenket Gott dir Stärk' und Sieg;
Wir wähnten Herr'n von Pol'n zu sein, Wir aber drohten Christen Hohn,
Du aber sperrest hier uns ein. Drum tragen wir nur Schand' davon.
Mit einem kleinen Kriegerhaus Held Boleslaw verdient allein
Reibst du das Heer der Deutschen auf. Des größten Reiches Herr zu sein."
6 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Boleslaw hatte seinen Bruder Zbigniew ermorden lassen und durch manche
andre böse That sein Gewissen so sehr beschwert, daß er, um seine Sünden
abzubüßen, in alten Kleidern und mit bloßen Füßen zwei Wallfahrten unternahm,
viele Kirchen und Klöster stiftete und in eine Art von Schwermut verfiel, in
der er im Jahre 1139 starb. Obgleich er sein Reich unter seine vier älteren
Söhne geteilt, dem jüngsten aber, Kasimir mit Namen, nichts gegeben hatte,
eignete sich doch bald sein ältester Sohn Wladislaw die Oberherrschaft über
seine Brüder an, da er getrieben wurde von seiner ehrgeizigen und stolzen
Gemahlin Agnes, der Enkelin Kaiser Heinrichs IV., welche die Beherrscherin des
ganzen polnischen Reiches zu sein wünschte. Doch die herrschsüchtige Agnes
schaffte sich durch ihre Bestrebungen nur Feinde. Ihres Gemahles Brüder
knieten zu ihren Füßen und baten um Rückgabe ihrer Städte und Schlösser, aber
vergeblich. Dem Adel des Landes machte sie sich verhaßt, da sie die besten
Stellen am Hofe mit Deutschen besetzte und die polnischen Sitten verachtete.
Auch die Geistlichkeit war ihr nicht hold, weil sie ihr die Vorrechte zu nehmen
und sie zu unterdrücken suchte. So kam es, daß sie mit ihrem Gemahl nach
Deutschland fliehen mußte, iu Polen aber ein jüngerer Bruder des Vertriebenen,
nämlich Boleslaw TV., den Oberbefehl erhielt. Dieser starb im Jahre 1163.
Ihm folgten als unabhängige Fürsten über Schlesien die Söhne seines vertrie-
benen Bruders, der auf deutscher Erde zu Altenburg in Sachsen gestorben war.
Peter HHöji Unter der Regierung Boleslaws HI. kam ein Mann nach
Polen, der für Schlesien besonders wichtig gewesen ist. Er hieß Peter Wlast
und wurde von einem Fürsten der Obotriten an den Hof Boleslaws geschickt,
um eine Verwandte desselben zur Gemahlin seines Fürsten zu erbitten. Aber
die Prinzessin gefiel ihm selbst, und er nahm sie sich zur Frau, ohne mit seinem
Fürsten zu zerfallen. Durch diese Heirat erhielt Peter bedeutende Schätze, und
unter diesen eine Hand des Märtyrers Stephanns. Diese Reliquie schenkte er
Boleslaw, um ihn zum Freunde zu gewinnen, und er erhielt für dieselbe ein
großes Stück Land geschenkt. Durch seine Talente erwarb er sich die Gunst des
Herzogs, der ihn von Stufe zu Stufe beförderte uud ihn zuletzt zum Landes-
Hauptmann in Schlesien machte. Inzwischen war der Obotritenfürst gestorben
und hatte sein Reich unter seine beiden Söhne geteilt. Bei einem derselben,
Kanut, war Peters Vater Schatzmeister. Als nun die Brüder uneinig wurden
uud Kanut ermordet war, brachte sein Schatzmeister die Schätze des Fürsten
an sich und ließ sie, um sie iu Sicherheit zu bringen, von seinem Sohne nach
Schlesien schaffen. Dem Peter erwachte im Besitze seines großen Reichtums das
Gewissen; er reiste nach Rom, um für seine und seines Vaters Schuld Buße zu
thun, und dort wurde ihm auferlegt, sieben Kirchen zu bauen und auszustatten.
Wlast aber baute nicht sieben, sondern mehr als 70 Kirchen und wurde so ein
großer Wohlthäter für Polen und Schlesien. Während er bei Boleslaw in
Gunst blieb bis zu dessen Tode, zog er sich die Ungnade der Fürstin Agnes zu
und wurde von ihr ins Gefängnis geworfen; und man erzählt, daß ihm dort
die Zunge ausgeschnitten und die Augen geblendet wurden. Als er aus der
Gefangenschaft entkommen war, fchloß er sich den Brüdern des Wladislaw an
und erhielt, als diese die Oberherrschaft gewannen, seine Güter wieder und wurde
nach seinem Tode in einem von ihm erbauten Kloster bei Breslau begraben.
Schlesiens Name. — Schlesien unter unabhängigen Piasten u. s, w. 7
Schlesiens Rame» In der Zeit, in welcher Schlesien von Polen abhängig
war, hatte dieses Land wahrscheinlich noch keinen eignen Namen. Dithmar von
Merseburg sagt zuerst um das Jahr 1017: „Die Stadt Nimptsch liegt in
pago Silensi, ein Name, welchen dieser Gau von einem sehr hohen und großen
Berge erhalten hat, den alle Einwohner außerordentlich verehrten, weil zu den
Zeiten des Heidentums auf demselben den Götzen gedient wurde." Die schleichen
Herzöge nennen sich in den ältesten Urkunden duoes Zlesiae oder Slesiae, und
den Namen Siesia hat das Land behalten; woher aber dieser Name kommt,
läßt sich nicht bestimmt sagen.
Schlesien unter unabhängigen Piasten bis zum Äahre 1355. Ober-,
Mittet- und Riederschtesien. Die Herzöge Schlesiens stammen der Sage nach
von einem Landmann Namens Piast ab. den sich die Polen im Jahre 842
zu ihrem Könige wählten, und sie heißen deshalb Piasten. Als Boleslaws IV.
Söhne Schlesien im Jahre 1163 erhielten, hatte das Land eine etwas größere
Ausdehnung als heute; denn es umfaßte außer dem jetzigen Schlesien noch die
Gebiete von Krossen und Lebns, die Gegend von Fraustadt und einen Teil der
Niederlausitz.
Die fürstlichen Brüder teilten sich das Land so, daß Boleslaus Oppeln,
Breslau und Glogau, Mieeislaus aber Ratibor und Troppau erhielt, während
der jüngste Bruder Konrad für den geistlichen Stand bestimmt wurde. An-
fangs standen die schleichen Piasten noch in naher Beziehung zu Polen, aber
bald wandten sie sich immer mehr den Deutschen zu. Ihr Land war voll
von Wäldern und Sümpfen und wenig bevölkert. Um dasselbe urbar zu
machen, zogen die Herzöge Deutsche au sich, mit denen sie durch ihre Mutter
und die Unterstützung, die sie aus Deutschland erhalten hatten, befreundet waren.
Diese Ansiedelungen von Deutschen waren Veranlassung, daß Schlesien sich
nach und nach immer mehr von Polen unterschied, daß deutsche Sitten Eingang
fanden und deutsches Recht eingeführt wurde. Wenn die Herzöge ihrer Jugend-
jähre gedachten, so mußten sie sich an die Verfolgungen erinnern, die sie durch
die Polen erlitten hatten, und diefe Gedanken machten ihnen die Polen verhaßt.
Von den Deutschen waren sie liebevoll aufgenommen worden, unter ihnen hatten
sie Städte und Bürger kennen gelernt, wie sie Schlesien damals noch nicht hatte.
Da dürfen wir uns nicht wundern, daß die Herzöge Schlesiens bald nicht mehr
mit ihren polnischen Verwandten verkehrten, sondern deutsche Sprache und
Bildung in ihr Land brachten. Denjenigen Deutschen, welche sich in Schlesien
niederließen, wurden dieselben Rechte eingeräumt, welche in Deutschland Heinrich I.
seinen Burgen und Otto I. seiner Stadt Magdeburg erteilt hatte.
Dieses neue Recht, das bald deutsches, bald magdeburgisches, bald sächsisches
Recht genannt wurde, sicherte den Ansiedlern Eigentum und Lebensgenuß, sprach
sie mit Vorbehalt gewisser Einkünfte für den Herzog von der Erbunterthänig-
keit und den Frondiensten frei und trug bald bei steigender Bevölkerung und
blühendem Wohlstande die erwarteten Früchte. Da der slawische Adel nicht
zahlreich und das Land meist-fürstliches Eigentum war, so machte die Ein-
führung der Kolonisten keine Schwierigkeit. Die deutschen Edellente, die sich
in Schlesien eine neue Heimat suchten, wurden meist für Dienste, die sie
den Herzögen geleistet hatten, mit Landgütern belehnt und erhielten Hofämter.
8 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Sie hatten nun ebenso wie die Geistlichen, welche Schenkungen bekamen, für
den Anbau und die Bevölkerung zu sorgen. Hätten die kriegerischen Piasten
sich nicht so oft untereinander befehdet, wären außerdem nicht verheerende
Feinde in das Land eingefallen, dann hätte Schlesien, das so günstig gelegen
war, schnell an Kultur daA mutterliche Deutschland überflügeln müssen; aber
fast ununterbrochene Kriege ließen das Steigen der Gesittung und Bildung
immer wieder ins Stocken geraten.
Schon die ersten von Polen unabhängigen fürstlichen Brüder hielten nicht
Frieden miteinander. Miecislans glaubte sich von seinem Bruder übervorteilt
und zog gegen Boleslaus zu Felde. Zugleich trat Konrad, der bei der Teilung,
weil er Geistlicher werden sollte, übergangen war, mit Ansprüchen auf. Durch
Kriege wurde entschieden, daß Boleslaus Breslau, Miecislaus Ratibor, Konrad
Glogau erhielt, nnd so entstand Ober-, Mittel- und Niederschlesien. Als dann
Konrad von Glogau ohne Nachkommenschaft starb, bemächtigte sich Boleslaus
ohne Rücksicht auf seinen Bruder in Oberschlesien des Herzogtums Glogau, und
es entstand ein neuer Bruderkrieg.
Nach dem Tode des Boleslaus schloß sein Sohn Heinrich im Jahre 1202
mit seinem Oheim Miecislaus einen Vertrag, durch welchen Schlesien in zwei
Teile, in Ober- und Niederschlesien, geteilt wurde. Zu Oberschlesien gehörte
Oppeln, Ratibor, Teschen, Ober-Benthen, Pleß, zu Niederschlesien auch Kreuz-
bürg, Krossen und Lebns. Zugleich wurde festgesetzt, daß sich die Herzöge
einander nicht beerben sollten.
Einen Aufschwung, der sich kaum ahnen ließ, nahm Niederschlesien unter
Heinrich I., dem Bärtigen, der mit seiner Gemahlin, der heiligen Hedwig, für
sein Land im wahren Sinne des Wortes ein fürsorglicher Vater war. Recht
und Gerechtigkeit übte und die Grenzen seines Landes gegen zudringliche und
feindliche Nachbarn ausdehnte. Was er geschaffen hatte, sollte unter feinem Sohne
Heinrich II., dem Frommen, erheblich leiden; denn die wilden Tataren kamen
von Osten und fielen im Jahre 1241 in Schlesien verwüstend und plündernd
ein. Tapfer für sein Land kämpfend, fiel der Fürst in der Schlacht gegen die
Wilden unweit Liegnitz, wo später das Kloster Wahlstadt erbaut wurde. Nach
seinem Tode teilten sich seine drei Söhne Heinrich, Boleslaus und Konrad
Niederschlesien, so daß dieses in die drei Fürstentümer Breslau, Liegnitz und
Glogau zerfiel.
Wenn nun die Piasten persönlich auch noch so tapfer waren und sich um
die Wohlfahrt ihres Landes bemühten, so mußte doch durch die Zerstückelung
des Reiches der Grund zur Schwäche gelegt werden; denn es blieb nicht bei
der Dreiteilung Niederschlesiens, sondern bald wurde wieder unter mehrere
Söhne geteilt; und wie hier, so war es auch in Oberschlesien. Zwar fielen
vorübergehend einige Herrschaften zusammen, aber die Teilung ließ die Reiche
doch immer kleiner werden. So treten bald als eigne Fürstentümer auf Brieg.
Sagau, Öls, Steinau und Guhrau, Löwenberg, Schweidnitz, Janer, Münster-
berg, Strehlen. Niederschlesien allein'zerfiel im 14. Jahrhundert in 17 Fürsten-
tümer, deren Fürsten sich oft untereinander bekriegten und sich gegen äußere
Feinde zu schützen hatten. Die Verteidigung ihrer Länder konnten die Piasten,
die zu klein nnd schwach waren, nicht mehr übernehmen. Wäre der Wunsch
der heiligen Hedwig, der Gemahlin des bärtigen Heinrich, in Erfüllung
Schlesien unter unabhängigen Piasten bis zum Jahre 1355. 9
gegangen, daß nur die ältesten Söhne Länder erben, die jüngeren Söhne in
den geistlichen Stand treten sollten, so wären alle diese Zersplitterungen des
Landes vermieden worden. Wie es aber damals stand, war kein Ende der
Teilungen abzusehen, und die Ohnmacht der einzelnen kleinen Fürsten, die
natürlich mit ihrer Menge immer zunehmen mußte, ließ die Einwohner fürchten,
daß sie die Beute einer benachbarten Macht werden würden. Fürsten und
Uuterthanen mußten also wünschen, freiwillig eine Oberherrschaft anzuerkennen;
konnten sie doch vielleicht bald, wenn sie sich nicht einem Fürsten ihrer Wahl
unterstellten, gezwungen werden, einem Fürsten zu gehorchen, dem sie nicht
gern unterthänig waren.
Die Mongolenschlacht bei Liegnitz. Der Fall des Herzogs.
An Polen zu fallen, war beiden ein unerträglicher Gedanke; denn die
Herzöge hatten zu viel Stolz, um sich denen zu unterwerfen, die selbst nicht
mehr als sie und von denen sie verstoßen waren; die ihnen nie Schuh gewährt
hatten, so oft sie solchen suchten; von denen sie sogar ost ihr Land hatten ver-
wüsten sehen. Dazu kam, daß auch Polen durch Erbschaft und Streit zerteilt
und deshalb von dort keine Hilfe zu erwarten war.
Ganz anders stand es mit Böhmen. Dieses Reich war mächtig und stand
auf der Höhe seiner Macht. Johann, ein Sohn des deutschen Kaisers Heinrich VII.
aus dem Hause Lützelburg, hatte sich mit einer böhmischen Prinzessin vermählt
und war 1309 König von Böhmen geworden. Von einem Reiche, das von
einem deutschen Fürsten beherrscht wurde und mit dem deutscheu Kaiser in
10 Aus Schlesiens Vergangenheit.
naher Beziehung stand, wünschte und hoffte man Hilfe. Auch hatten sich einige
schlesische Piasteu schon an Böhmen angeschlossen, wie Heinrich von Breslau.
Im Jahre 1327 ergaben sich alle oberschlesischen Herzöge, wahrscheinlich nach
gemeinsamer Beratung, dem Könige von Böhmen als Vasallen. Die meisten
niederschlesischen Herzöge folgten ihrem Beispiele im Jahre 1329. Nur
Przismislaus von Glogau widersetzte sich allen Anträgen des böhmischen Königs
und sagte: „Ich will lieber als freier Fürst am Bettelstabe aus Schlesien gehen,
als meine Freiheit verkaufen und unter einem fremden Könige dienstbar leben."
Nach feinem Tode wurden seine Brüder, die ihn beerbten, Böhmens Vasallen.
Nur die Fürstentümer Schweidnitz, Jauer und Münsterberg waren noch un-
abhängig, als im Jahre 1335 Kasimir III. von Polen in einem Vertrage mit
Johann von Böhmen alle feine Ansprüche auf Schlesien aufgab. Zwanzig
Jahre später gehörte ganz Schlesien zu Böhmen.
Schlesien unter böhmischen und ungarischen Königen bis 1526. Der
erste schlesische Fürstentag 1337. Das Verhältnis, in welches die schleichen
Fürsten zu Böhmen getreten waren, kann kein drückendes genannt werden.
Die Eigentumsrechte der Fürsten erhielten anfangs nur geringe Einschränkungen;
es blieben ihnen die Rechte, Truppen zu halten, Münzen zu schlagen, Gesetze
zu geben und die oberste Gerichtsbarkeit auszuüben. Johann aber versprach
ihnen Schutz gegen alle feindlichen Anfälle und verlangte nur Beistand im Kriege
von ihnen innerhalb der Grenzen Schlesiens; wenn er ihre Truppen außerhalb
des Landes gebrauchen sollte, so sollten sie von ihm besoldet werden; während
des Krieges sollten ihm alle festen Schlösser offen stehen. Wenn so für den
Augenblick der König von Böhmen keinen großen Vorteil von dem Besitze
Schlesiens hatte, so wurden doch bei dem Aussterben der rechtmäßigen Erben
eines Fürstenhauses die Länder Eigentum Böhmens. Dieser Fall trat zuerst
bei dem Fürstentum Breslau im Jahre 1335 durch den Tod Heinrichs "VI. ein.
Obgleich sich Johann schon 1327 zu Breslau hatte huldigen lassen, so hielt er
es doch für gut, diese Huldigung noch einmal 1337 zu veranstalten, und zwar
nicht nur von seiten der Breslauer, sondern durch alle lehuspflichtigen fchle-
fischen Fürsten. Die Versammlung, welche damals stattfand, heißt der erste
schlesische Fürstentag. Nach ihm heißen alle späteren Versammlungen der
schleichen Fürsten „Fürstentage". Um sich beliebt zu machen, sicherte Johann
den Breslauern ihre bisherigen Rechte und Freiheiten zu und erteilte ihnen
noch neue Vorrechte.
Breslau im Sann; öischof und König im Streit (1339—1342). Johann
von Böhmen trachtete nach dem Besitze des Schlosses Militsch an der polnischen
Grenze, das dem damals noch unabhängigen Bistum Breslau gehörte. Da
ihm der Ort für seine Unternehmungen nach Osten und Norden hin sehr wichtig
erschien, so knüpfte er mit dem Bischof Nanker wegen der Abtretung der Grenz-
feste Unterhandlungen an, die aber an der Festigkeit des Bischofs scheiterten.
Was er auf geradem Wege nicht erlangen konnte, suchte er zuerst mit Gewalt,
dann mit List zu erzwingeu.
Breslau im Bann; Bischof und König im Streit (1339—1342). 11
Im Schlosse von Militsch war der Archidiakonus des Breslauer Dom-
stiftes Heinrich von Würben als Burggraf angestellt. Der König, der die
Schwäche der Besatzung und die Unersahrenheit des unkriegerischen geistlichen
Befehlshabers in der Burg wohl in Erwägung zog, machte sich daran, im
Jahre 1338 das Schloß zu belagern und durch Waffengewalt zu erobern.
Aber der durch Sümpfe gut verschanzten Burg war nicht leicht beizukommen;
die Belagerung hätte lange gedauert und eine Eroberung wäre nur mit großem
Zeit- und Menschenverlust möglich gewesen. Da nahm der König zur List
seine Zuflucht; er hatte erfahren, daß der Domherr ein großer Freund fran-
zösischen Weines war. Zwei Flaschen Franzwein (due flasce vini G-aUici, sagt
der Chronist) und einige energische Drohungen waren vermögend, den Dom-
Herrn zur Übergabe der Burg ohne Schwertstreich zu bewegen.
Der Bischof Nanker verlangte sofortige und unbedingte Zurückgabe des
Schlosses an die Kirche; aber Johann kehrte sich an die Drohungen und Wünsche
des Bischofs nicht. Als nun im Jahre 1339 der König sich in einem Städtchen
bei Breslau mit seinen Räten aufhielt, versammelte der Bischof seine Dom-
Herren um sich und forderte sie auf, ihn zum Könige zu begleiten; aber nur
vier derselben hatten Mut und Entschlossenheit genug, dem Bischof zu folgen
und treu mit ihm die Gefahren zu teilen.
In bischöflichem Schmucke (religione mellitus) begab sich Nanker in Be-
gleitung der vier Domherren zu dem Stübchen, in welchem sich der König mit
seinen Räten befand. Der Bischof klopfte mit eigner Hand so stark an die
Stubenthür, daß die Wächter fragten, wer es wage, so ungestüm an die Thür
des Königs zu klopfen. Sie erhielten die Antwort, daß der Bischof Eintritt
verlange. Der König aber ließ ihm sagen, er möge sich nur noch eine Stunde
gedulden, weil er andrer Geschäfte wegen verhindert wäre, ihm Audienz zu
geben. Nichtsdestoweniger fuhr der Bischof so lange zu klopfen fort, bis
einige Räte, die beim Könige waren, diesem zuredeten, ihn hereinzulassen. Als
darauf der Bischof in das Zimmer trat, hielt er einen kleinen Zettel (cedulam
parvam) in der Hand, stellte sich vor den König und las ihm folgende Worte
vor: „Herr König, ich ermahne Euch zum ersten-, zweiten-, dritten- und letztenmal,
daß Ihr sofort das Schloß Militsch meiuer Breslauer Kirche zurückgebt." Der
König erwiderte ihm: „So bald sollt Ihr es wohl nicht wieder haben, wie Ihr
meint." Da hob der Bischof ein Teilchen vom Holze des Kreuzes Christi
empor mit den Worten: „So schließe ich Euch aus von der Gemeinschaft der
Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes." Alle
Fürsten und Edlen, die den König umgaben, standen stumm vor Erstaunen, so
daß keiner ein Wort sprach. Der König brach das Stillschweigen mit Worten,
die seinen tiefen Groll über diesen Vorgang bekundeten: „Bei Gott, dieser
Pfaff wünscht ein Märtyrer zu werden; wenn ihm nur jemand zur Märtyrer-
kröne verhelfen wollte." Der Bischof schritt, als ob er diese letzten Worte des
zornigen Königs nicht gehört hätte, langsamen Schrittes der Thüre zu, um sich
zu entfernen. Da traten die Breslauer Konsuln, ihn zu besänftigen, zu ihm
'und sprachen: „Es ist nicht fein, Herr Bischof, dem Könige so ins Gesicht zu
bannen; auf einem glimpflicheren Wege hättet Ihr ohne Zweifel mehr aus-
richten können." Da drang der Bischof in sie: „Beweget vielmehr euren König,
daß er der Kirche die geraubte Burg wieder herausgebe; denn ihr wäret bei
f
12 Aus Schlesiens Vergangenheit.
jener Belagerung uud Übergabe zugegen." Die Konsuln entschuldigten sich:
„Wir haben nicht Macht genug, dies zu bewirken." Da erwiderte der Bischof:
„Auch euch exkommuniziere ich hiermit, wie euren König, im Namen des Vaters
und des Sohnes und des heiligen Geistes; und wisset, daß euer Herr kein
König, sondern nur ein Königlein ist." Diese letzte Bemerkung, deren Be-
deutung man damals nicht verstand, sollte offenbar eine Beleidigung sein und
wurde mit Entrüstung vernommen. Als später Nanker nach dem Sinne seiner
Worte (st sciatis enm 11011 esse regem, sed regulum) gefragt wurde, sagte
er, daß er deshalb den König Johann ein Königlein genannt habe, weil er in
seinem ganzen Königreiche keinen Erzbischos habe und deshalb erst einen fremden
Erzbischos durch Bitten und Geschenke, ihn zu krönen, bewegen müsse. Dieses
Spottes wegen soll später Karl IV. die Erhebung des Prager Bischofs zum
Erzbischos sehr angelegentlich betrieben haben.
Schwarze Gewitterwolken zogen nun über die schlesische Kirche hin. Die
Spannung zwischen dem Könige und Bischof war so groß, daß an eine Ver-
söhnung nicht leicht zu denken war. Nanker begab sich drei Tage später, nach-
dem er den Bann ausgesprochen hatte, nach Neiße; die Kirchen auf dem Dome
und in der Stadt wurden geschlossen und der öffentliche Gottesdienst eingestellt.
Die Breslauer waren aber mit dieser That des Bischofs nicht zufrieden; der
Rat der Stadt hielt zum Könige und hinderte es nicht, wenn die Geistlichen
geschmäht und kirchenfeindliche Grundsätze gepredigt wurden. Die dem Bischof
treuen Geistlichen wurden vertrieben und solche an ihre Stelle gesetzt, die mit
dem Bischof gebrochen hatten. Der König zog im Breslauer Gebiete alle
Güter und Einkünfte der Kirche ein, weil man ohne Gottesdienst auch keiner
Geistlichen bedürfe, und riet den schleichen Fürsten, dasselbe zu thuu: ein Rat,
dem der verschwenderische Herzog Boleslans von Liegnitz gern folgte.
Zwei Jahre schon hatte der unselige Streit gedauert, und noch immer
öffnete sich keine Aussicht auf Versöhnung; da starb Nanker im Jahre 1341
zu Neiße. Der König Johann wußte es durchzusetzen, daß Przezislaus von
Pogarell, ein ihm ergebener Edelmann, zum Bischof gewählt wurde, der die
Wahl annahm und, weil der Erzbifchof von Gnesen aus Zorn darüber, daß
sein Kandidat nicht gewählt war, ihn nicht weihen wollte, sich vom Papste in
Avignon weihen ließ. Pogarell trat alsbald in Unterhandlungen mit dem
Könige, die zum Frieden führten. Es mußten sich die Konsuln und Ältesten
der Bürgerschaft vor dem Bischöfe demütigen. In Büßertracht, ohne Mäntel,
mit bloßen Füßen und unbedecktem Kopfe zogen sie vom Rathause in die Kirche
der Dominikaner, warfen sich vor dem Bischof nieder, bekannten ihre Schuld
und erhielten Vergebung und Befreiung ihrer Stadt vom Banne. Dann er-
klärte sich Pogarell mit seinen Domherren dem Könige gegenüber zu Vasallen
der böhmischen Krone und erhielt für diesen Schritt viele Vorrechte und Frei-
heiten für das Bistum, den Rang des ersten schlesischen Standes und den
Titel eines Bundesfürsten von Böhmen; alle eingezogenen Güter, auch das
Schloß Militfch, wurden ihm zurückgegeben.
Kasimir III. von Polen und Johann von Böhmen. 13
Kasimir III. von polen und Johann von Sölimeu. Obgleich der Polen-
könig förmlich auf Schlesien verzichtet hatte, machte er sich doch gern in diesem
Lande etwas zu schaffen und drang mit seinen Truppen verwüstend und ver-
Heerend vor. Da verfolgte ihn einst Johann und schloß ihn in der Stadt
Krakau ein. Hier soll Kasimir den siegreichen Böhmen aufgefordert haben,
durch einen ritterlichen Zweikampf ihre Sache zu entscheiden. Johann, der auf
einem Auge blind war, soll ihm haben sagen lassen, er sei bereit, die Forderung
anzunehmen; doch müsse er sich zuvor ein Auge ausstechen lassen, damit er nicht
etwas vor ihm voraus habe. Der Zweikampf unterblieb, da Kasimir auf diesen
Vorschlag nicht einging, und beide Fürsten machten Frieden.
Die Geißelbrüder und die schwarze Pest. Nach Ehrhardt.
Karl IV. (1346—1378); Flagellanten, Pest und Tenrnng in Schlesien.
Auf Johann folgte 1346 sein Sohn Karl IV., der im November 1348 nach
Breslau kam und sich von den daselbst versammelten Fürsten und Ständen
huldigen ließ; er hielt mit ihnen eine gemeinsame Beratung, den zweiten
schleichen Fürstentag. So bemüht der König um sein Land war, so weise
und verständig er für seine Unterthanen sorgte, so ging es im Lande doch nicht
so, wie er wünschte. Die schreckliche Pest, die in den Jahren 1348, 1349 und
1350 in Deutschland und mehreren andern Ländern Europas wütete und in
diesen drei Jahren fast den dritten Teil der Menschenzahl Europas hinweg-
gerafft haben soll, hat auch in Schlesien entsetzlich viel Opfer gefordert. Die
Kranken, welche von der furchtbaren Krankheit, die man auch den schwarzen
14 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Tod nannte, befallen waren, wurden vor innerlicher Hitze fast rasend, starben
plötzlich und massenhaft, gewöhnlich am fünften Krankheitstage. Bald vermochte
man die Toten nicht mehr zu beerdigen; ganze Ortschaften starben in jener Zeit
aus. Die Krankheit war aus dem Morgenlande nach Europa verschleppt
worden; aber dem unwissenden Volke wurde vorgeredet, die Juden hätten sie
veranlaßt, weil sie die Brunnen vergiftet hätten. Und nun begannen auch in
Schlesien unselige Judenverfolgungen; die Unschuldigen wurden ins Gefängnis
geschleppt und viele auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Andre glaubten, Gott
habe die Krankheit wegen der vielen Sünden der Menschen geschickt, und, um
den Zorn Gottes zu besänftigen, müsse man Buße thuu. Diese Büßer durch-
zogen auch Schlesien im Jahre 1349; man nannte sie Flagellanten oder Geißel-
brüder. Ihre Kleider waren mit Kreuzen bezeichnet, jeder trug eine mit
eisernen Stacheln durchstochteue Geißel. Nirgends blieben sie länger als einen
Tag. Sobald sie an einen Ort kamen, schlössen sie auf einem freien Platze
einen Kreis, entblößten Rücken und Brust, und einer nach dem andern warf
sich so auf die Erde und breitete seine Arme so aus, daß der Körper wie ein
Kreuz aussah; dann stand er aus und zerfleischte sich mit seiner Geißel. Nun
folgten Gesänge, feierliche Gebete und die Verlesung eines Briefes, den ein
Engel geschrieben und in Jerusalem abgegeben haben sollte, in welchem jedem,
der sich 34 Tage lang mit ihnen ziehend geißelte, von Christus die göttliche
Erbarmung zugesichert wurde. Man nahm keinen in diese Brüderschaft auf,
zu der auch Weiber gehörten, der nicht für seinen täglichen Unterhalt sorgen
konnte und dem Anführer Gehorsam gelobte. Anfangs fanden die Geißel-
brüder großen Beifall und Zulauf; aber bald zeigte es sich, daß sich mit dieser
Schwärmerei arge Zügellosigkeit und Unsittlichkeit vereinigte, so daß der Bischof
den Unfug verbieten mußte.
Zu dem Unglück kam noch die Landplage der Teurung und Hungersnot,
so daß z. B. der Roggen auf das Vierundzwanzigfache seines gewöhnlichen Preises
> stieg. Dennoch gehört die Regierung Karls zu den segensreichsten für Schlesien.
Wentel (1378—1419). Der Pfaffenkrieg oder der Sierstreit Wischen
dem Lreslaner Hat und den Domherren. Breslau wieder im Kann. Karls IV.
Sohn Wenzel war seinem Vater nicht ähnlich; er heißt in der Geschichte der
Träge oder auch der Grimmige und wird von vielen Geschichtschreibern geschmäht
und getadelt. Das steht jedenfalls fest, daß er nicht zum Heile Deutschlands
und seiner Erbländer die Zügel der Regierung mit schlaffer Hand ergriff; er
überließ sich einer unglaublichen Trägheit und legte durch seine Ungeschicklich-
keit und Nachlässigkeit den Grund zu vielen inneren und äußeren Unruhen,
die später Böhmen und Schlesien verwüsteten; sein Jähzorn verleitete ihn oft
zu Grausamkeiten, seine Unbeständigkeit und sein Hang zum Trünke machten
ihn verhaßt.
Noch hatte sich Wenzel in Breslau nicht huldigen lassen, als schon wieder
ein böser Streit zwischen Stadt und Dom ausgebrochen war. Damals stand
das Schweidnitzer Bier in großem Rufe, und es wurde nach allen Richtungen
hin ausgeführt und ausgeschenkt. Der Breslauer Rat hatte zu diesem Zwecke
ein eignes Schanklokal unter dem Rathause eingerichtet, das heute noch unter
/
Der Pfaffenkrieg oder der Bierstreit u. s. w. 15
dem Namen des Schweidnitzer Kellers besteht, und die Bürgerschaft verpflichtet,
nirgend wo anders als in diesem Keller ihr Bier zu trinken. Die Domgeist-
lichkeit aber holte ihr Bier nicht aus der Stadt, sondern unmittelbar aus
Schweidnitz; denn in der Stadt war das Bier mit Abgaben belegt, die Kirche
aber hatte Steuerfreiheit. Die Geistlichkeit begnügte sich nun nicht damit, Bier
zum eignen Gebrauche aus der unmittelbaren Quelle zu besorgen, sondern
richtete auch Schanklokale ein. Die Bürger, welche mit dem Rate gespannt
waren, gingen lieber nach dem Dome als nach dem Schweidnitzer Keller, weil
sie dort das beliebte Getränk wegen der Steuerfreiheit billiger haben konnten
und weil sie dort auch auf einem von dem Rate unabhängigen Boden furchtlos,
ohne belauscht zu werden, ein freieres Wort sprechen durften. So strömten sie
denn zahlreich nach dem Dome, um ihren Durst zu stillen und ihrem Unwillen
Luft zu machen; die Schanklokale auf dem Dome waren mit Gästen überfüllt,
während der Schweidnitzer Keller in der Stadt leer und von Gästen entblößt
war. Der Rat, der die Demütigung noch nicht vergessen hatte, die ihm durch
Pogarell widerfahren war, blickte mißtrauisch nach dem Dome und verbot den
Bürgern der Stadt den Besuch der dortigen Bierstuben; die Bürgerschaft aber
spürte keine Lust in sich, diesem Verbote zu folgen. Deshalb ging der Rat
einen Schritt weiter und bestritt der Domgeistlichkeit das Recht des freien Bier-
schankes zum Nachteile der Stadt. Durch Ratsbeschluß wurde dieser Bierschank
als für die Stadt nachteilig aufgehoben; auch wurde bei schwerer Strafe unter-
sagt, der Geistlichkeit Bier von Schweidnitz oder irgend sonst woher zuzuführen.
Da geschah es um Weihnachten 1380, daß ein Fuhrmann am Nikolaithore
erschien und von Schweidnitz einige Fässer Schweidnitzer Bieres mit sich brachte,
welche der Herzog von Liegnitz seinem Bruder, dem Breslauer Domdechanten
Heinrich, als Weihnachtsgeschenk überschickte. Der Fuhrmann war ehrlich genug,
nicht früher durch die Stadt zu fahren, bis er dem Rate gemeldet, was er ge-
laden habe. Er that dies mit dem Bemerken, daß das Bier nur ein Geschenk
für den Domdechanten und keineswegs ein Handelsartikel sei, und bat um die
Erlaubnis, es unbehindert durch die Stadt auf den Dom fahren zu dürfen.
Allein wie erstaunte er, als er statt der gehofften Erlaubnis sich selbst verhaftet
und sein Bier mit Beschlag belegt sah. Der Rat war hier entschieden zu weit
gegangen; sein Verfahren erbitterte die Domherren, die es nun durchzusetzen
wußten, daß der Bischof Wenzel die Stadt in den Bann that, bis der Rat den
Geistlichen Genugthuung geleistet habe. So standen die Sachen, als am 27. Juni
1381 König Wenzel nach Breslau kam, um sich huldigen zu lassen und diese
Streitigkeiten beizulegen. Die Huldigungsfeier erforderte einen öffentlichen
Gottesdienst. Der König verlangte denselben während seiner Anwesenheit und
versprach den Domherren, den Rat zum Schadenersatz zu vermögen: aber das
Domkapitel verlangte vor der Aufhebung des Bannes Genugthuung und Schaden-
ersatz. Das Schweidnitzer Bier hatte es veranlaßt, daß kein Gottesdienst in
Breslau gehalten, kein Kind getaust, keine Ehe eingesegnet, das heilige Abend-
mahl nicht gespendet, keinem Sterbenden durch den Priester Trost zugesprochen
und keine Leiche feierlich beerdigt wurde. Weil sich der Bischof hartnäckig
zeigte, wandte sich der König an einen Augustiner-Abt mit der Bitte um Gottes-
dienst und versprach, es beim Papste zu vermitteln, daß ihn keine Verantwortung
treffe. Als der Abt sich weigerte, dem Wunsche des Königs zu folgen, wurde
16 Aus Schlesiens Vergangenheit.
er mit einigen Mönchen ins Gefängnis gesteckt, in dem er acht Tage sitzen mußte.
Sein Stift wurde, nachdem die andern Mönche geflohen waren, verwüstet. Auch
das Vinzenzstift plünderten die Böhmen, als sich der Abt dem Könige nicht
willig zeigte. Die Domherren flüchteten sich nach Neiße, um der Rache des
Königs zu entgehen. Schnaubend vor Zorn und Wut ritt der König an der
Spitze seiner Soldaten nach dem Dom und gab die von den Domherren ver-
lassenen Stätten seinen Leuten zur Plünderung preis; alles Zerstörbare wurde
zerstört, alles Genießbare genossen, alle Kostbarkeiten geraubt, und der König
teilte sich mit den Seinigen den Raub. Zum Raube gesellte sich noch der Spott;
die ehrwürdigen Gebräuche, die dem Volke heilig waren, wurden ein Gegen-
stand des ausgelassensten Spottes und wildesten Hohnes. Die rohen Soldaten
bekleideten sich mit den Händen, die noch rot von Blut waren, mit Priester-
gewändern und bewegten sich dann in ernsthaftem Schritte — eine scheußliche
Prozession — singend vom Dome durch die Straßen der volkreichen Stadt
nach dem Marktplatze unter wildem Gelächter des Pöbels — und das alles
geschah unter den Augen eines Königs. Wenzel kannte kein Ziel seiner Wut;
er forderte die Ratsmänner von Neiße auf, ihm die Domherren auszuliefern,
aber vergebens; er schickte den Geistlichen Freipässe und lud sie ein, nach Breslau
zu kommen, aber sie waren vorsichtig und trauten dem jähzornigen Könige nicht.
Da nun aber der Bischos einsah, daß durch die Roheit des Königs die kirch-
lichen Einrichtungen nur leiden konnten, entschloß er sich nachzugeben und wußte
auch die Domherren dahin zu bringen, daß sie sich ins Unvermeidliche fügten.
Die Unterhandlungen fanden den gewünschten Abschluß. Der Bischof hob den
Bann auf und versprach, alle erlittenen Beschädigungen und Verunglimpfungen
zu vergessen; dagegen erhielten die Domgeistlichen die Erlaubnis, sür sich und
die Ihrigen Schweidnitzer Bier zu schenken.
Sigismund (1419—1437); Johann krasa; die Husjiten. Wenzels Nach-
folger fand Böhmen und Schlesien in großer Verwirrung. Sigismund, der
Bruder Wenzels, mußte Strenge walten lassen, um die Ordnung wieder herzu-
stellen, und diese Strenge artete nicht selten in Härte und Grausamkeit aus.
Im Januar 1420 empfing er in Breslau die^uldigung der schlesischen Fürsten
und Stände. In dieser Stadt, die durch tfme're Unruhen litt, stellte er die
Ordnung durch strenges Urteil wieder her, indem er 23 Unruhestifter ent-
haupten, ihre Köpfe auf die Stadtmauer stecken und ihre Leichname auf dem
Elisabethkirchhofe unter die großen Steine legen ließ, auf denen man vom
Markte in die Kirche geht.
In dieser Zeit hielt sich in Breslau der Prager Ratsmann Johann Krasa
auf, um Geschäfte zu machen. Dieser Mann war ein eifriger Hnssit. Obgleich
nämlich die Lehren des Johannes Huß, der Lehrer an der von Karl IV. ge-
stifteten Universität zu Prag war, auf dem Konzil zu Kostuitz im Jahre 1415 als
Ketzereien verworfen, Huß selbst als Ketzer verbrannt worden war, fanden doch
feine Lehren in vielen Gegenden und auch in Schlesien Anklang. Krasa sprach
in Breslau ganz offen und frei seine Meinung aus, behauptete, daß die Lehren des
Huß die richtigen seien, daß Sigismund dem Prager Lehrer das Wort gebrochen
und ihn unrechtmäßig habe hinrichten lassen. Er wurde gefangen genommen
und sollte bekennen, daß das Konzilium zu Kostnitz rechtmäßig im heiligen Geiste
Johann von Capistrano. 17
versammelt gewesen, daß alles, was dieses Konzilium festgesetzt, entschieden und
beschlossen habe, gerecht und heilig, was es verdammt, fluchwürdig sei; daß die
Kommunion unter beiden Gestalten gottlos und verdammt, daß Johann Huß
rechtmäßig verbrannt worden sei. Da Krasa diese Artikel nicht als richtig an-
erkannte, sondern als irrig und gottentehrend verwarf, so wurde er zum Tode
verurteilt, mit Pserdeu über den Markt durch die Stadt geschleift, von dem
Scharfrichter auf den Holzstoß gesetzt, der da errichtet war, wo heute die große
Wage ist, und unter Verspottungen verbrannt.
In den Hussitenkriegen hielten die Schlesier zu Sigismund, denn sie waren
den hussitischen Grundsätzen abgeneigt; aber weil sie den Böhmen benachbart
waren, brachten ihnen die Kriege viel Unheil, denn die Hufsiteu fochten wie Wilde
und der Kaiser konnte nicht immer sofort helfen. Damals wurde Landeshut
verbrannt, im Kloster Grüssau wurde gemordet und geplündert. Der Hussiten-
führer Prokop zündete Bunzlau au und plünderte die Stadt; dem Pfarrer ließ
er einen Nagel durch den Kopf schlagen, den Bürgermeister über einer Wagen-
deichsel enthaupten. In Goldberg wütete er mit derselben Grausamkeit; auch
die Gegenden um Frankenstein. Reichenbach, Strehlen und Neiße wurden ver-
wüstet; Brieg ging in Flammen auf. So litt Schlesien in dem unseligen Kriege,
der fast fünfzehn Jahre bis 1435 tobte; und beim Friedensschluß lagen viele
kleinere Städte in Asche; Kloster und Kirchengüter waren arg mitgenommen.
Als Sigismund im Jahre 1437 starb, war das Ansehen der Böhmen in
Schlesien gesunken.
Johann von Capistrano (1453). Während der kurzen Regierungszeit
Albrechts II. und der vormundschaftlichen Regierung für seinen Sohn Ladislaus
verhielten sich die Schlesien abwartend; sie standen unter keinem Fürsten und
befanden sich in ihrer Unabhängigkeit sehr wohl. Als dann dem herangewachsenen
Ladislaus 1453 zu Prag gehuldigt wurde, waren die schleichen Fürsten zu-
gegen; nur der Bischof und die Stadt Breslau blieben aus, weil sie verlangten,
der König solle sich in Breslau huldigen laffen; in Wahrheit aber wünschten
sie die Unabhängigkeit, die sie sich während der herrenlosen Zeit erworben
hatten, erhalten zu sehen. Al^L^orwand für ihr Ausbleiben gaben die Bres-
lauer an, Ladislaus sei in PiflU in den Händen der Hussiten, und unter diesen
sei der Statthalter Georg Podiebrad der schlimmste, den Hussiten aber könnten
sie kein Wohlwollen entgegentragen. Den Haß gegen die Hussiten nährte die
Geistlichkeit und vor allem der Bernhardinermönch Johann von Capistrano, der
in vielen Orten, auch in Schlesien, predigte.
Johann von Capistrano, gewöhnlich Capistran genannt, wurde im Jahre
1336 zu Capistrano in den Abruzzen geboren. Er wurde Rechtsgelehrter und
hatte einst einem Verbrecher durch die Strenge seines Urteils den Tod zu-
gesprochen, dem dieser sonst entgangen fein würde. Dies erweckte in ihm Ge-
wiffensbiffe, und er beschloß in seinem dreißigsten Lebensjahre, sein Richteramt
aufzugeben und in den Orden des heiligen Bernhardin zu treten, um durch
Bußwerke und Selbstverleugnung in klösterlicher Zucht und Strenge die etwa
durch die Härte seines Spruches auf sich geladene Verschuldung abzubüßen.
Capistran wurde bald einer der bedeutendsten Mönche seines Ordens; denn
er entfaltete eine bewundernswürdige Beredsamkeit, hatte ein ausgezeichnetes
Deutsches Land und Volk. VIII. 2
18 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Gedächtnis, große Gelehrsamkeit und eine seltene Menschenkenntnis. Bald lenkte
dieser bedeutende Mann die Aufmerksamkeit des Papstes auf sich, der ihn nach
Deutschland schickte, damit er dort gegen die Feinde der römischen Kirche, be-
sonders gegen die Hussiteu, predigte und Klöster seines Ordens, wo es ihm
beliebte, errichtete. Nun durchzog Capistran in Begleitung mehrerer Ordens-
brüder von Italien aus das südliche Deutschland, Kärnten, Steiermark, dann
auch Böhmen, Mähren und Schlesien und war überall thätig für den Glauben
seiner Kirche, die Tilgung der Sittenlosigkeit, die Unterdrückung des hnssitischen
Wesens; in seinen ernsten Predigten strafte er die Laster seiner Zeit; äußerst
beschwerlich waren seine Fußreisen, stets nur ganz kärglich sein einfaches Mahl,
groß sein Eifer und innig sein Gebet für das Wohl derer, bei denen er weilte.
Volk und Geistliche verehrten ihn.
Auf eine Einladung des schleichen Bischofs kam er auch nach Breslau.
Über Goldberg und Liegnitz langte er, von dreißig seiner Ordensbrüder be-
gleitet, am 13. Februar 1453 in der schlesischen Hauptstadt an. Nachdem er
am Sonntage Jndica den Breslauern ihre Prachtliebe, Hoffnrt und Eitelkeit
in einer ernsten Strafpredigt, bei der er den Hirnschädel und das Bild des
heiligen Bernhardin vorzeigte, zu Gemüte geführt hatte, ließ er aus der ganzen
Stadt Karten und Brettspiele, Spiegel, Larven und allerlei Gegenstände des
Putzes zusammenbringen, ans einen Haufen werfen und verbrennen. Darauf
zog er, von dem aufgeregten Volke begleitet, mit dem Bifchof, dem Landes-
Hauptmann und den Konsuln der Stadt in die Neustadt, wo ihm an der äußersten
Stadtmauer ein Platz nebst allen darauf befindlichen Häusern und Gärten zur
Gründung einer Kirche und eines Klosters für Brüder seines Ordens feierlich
übergeben wurde. Alsbald wurde mit dem Bau der Kirche begonnen, der schon
nach zwei Jahren vollendet war; die Kirche erhielt den Namen des heiligen
Bernhardin. den sie noch heute führt, nachdem sie längst evangelische Pfarr-
kirche geworden ist.
Capistran ist für die Breslauer außerordentlich thätig gewesen, was die
Breslauer Konsuln in einem Schreiben vom Jahre 1462 an den Papst be-
stätigen, in welchem sie sagen, er habe in der Stadt viele Monate lang mit
täglichen Predigten unzähliges Gute gestiftet;^ er habe das Volk von Lastern,
bösen Gewohnheiten und schändlichen Spielen abgezogen und es auch fleißiger
und eifriger im Dienste Gottes gemacht (per plures menses quotidianis prae-
dicationibus innumera bona effecit, multum populum virtutibus insignivit,
a diversis vitiis, malis consiietudinibus, ludorum spnrcitiis removit et divino
cultui ferventem et diügentem reparavit). Die Judenverfolgung, welche im
Jahre 1453 in Breslau stattfand, hatte der eifrige Mönch nicht veranlaßt,
obgleich man ihm die Schuld zur Grausamkeit gegen die Juden hat beilegen
wollen. Man beschuldigte nämlich damals einige Juden, sie hätten einem Bauern
gestohlene Hostien abgekauft und diese mit Ruten gepeitscht. Auf das Gerücht
einer so unglaubwürdigen That wurden die Juden Breslaus verhaftet; und
nachdem man ihren Ältesten durch die Folter ein Geständnis der gegen sie ge-
führten Beschuldigungen ausgepreßt hatte, wurden nicht weniger als einnnd-
vierzig derselben an einem Tage verbrannt, die übrigen aus der Stadt verwiesen,
ihre Güter eingezogen' und ihre Kinder unter sieben Jahren getauft.
Georg Podiebrad (bis 1471). 19
Georg Podiebrad (bis 1471). Inzwischen hatte der Bischof von Breslau
für sich dem jungen Ladislaus in Prag gehuldigt; aber die Breslauer wollten
weder nach Prag zur Huldigung gehen, noch einigen vom Könige geschickten
Räten den Eid in Breslau leisten, sondern sie erklärten, sie würden keiner an-
dern Person als dem Könige in Breslau huldigen. Obgleich sich Ladislaus
anfangs weigerte, die Reise nach Schlesien zu machen, gab er dennoch dem
Drängen Podiebrads nach, als dieser erfahren hatte, daß die Breslauer mit
bewaffneter Hand ihren Willen durchsetzen wollten. Ladislaus kam am 6.Dezember
1454, begleitet von Georg Podiebrad, nach Breslau, wo die Huldigung nach
dem Wunsche und Willen der Bürger vollzogen wurde. Diese aber bereuten
bald ihre Hartnäckigkeit; denn Georg forderte von ihnen im Namen des Königs
30 000 Dukaten als Reisekosten, nachdem die Stadt schon 4000 Mark Groschen
(100 000 Mark jetziger Währung) für die königliche Zehrung und 16 000 Dukaten
als Auflage bezahlt und wohl noch viele andre Ausgaben für Lustbarkeiten aller
Art, an denen es bei der Anwesenheit des Königs nicht fehlen durfte, gehabt
hatte. Wenn nun auch auf nachdrückliche Vorstellungen die 30 000 Dukaten
auf die Hälfte herabgesetzt wurden, so wurden doch durch diesen Tribut alle
städtischen Kassen ausgeleert und 5000 Dukaten Schulden gemacht, so daß die
Stadt vollständig gedemütigt war.
Der Unwille der Breslauer wandte sich nicht sowohl gegen den König
als gegen Podiebrad, den sie im Verdacht hatten, daß er die 15 000 Dukaten
zu seinem Vorteile eingezogen hatte, und der seinen Reichtum benutzte, schlesische
Fürstentümer zu kaufen und so Sitz und Stimme im schleichen Fürstentage
zu bekommen; in der That fehlte es zur tiefen Betrübnis der Breslauer nicht
an schleichen Fürsten, die Podiebrad besuchten und ihn ihrer Hochschätzung
versicherten. Als 1457 unerwartet nach kaum dreißigstündiger Krankheit der
junge Ladislaus starb, wählten die Böhmen Podiebrad zu ihrem Könige, und
fast alle schleichen Fürsten huldigten ihm; nur der Herzog von Sagan und
die Stadt Breslau verweigerten ihm die Huldigung, obgleich der Papst selbst,
als sie vorgaben, Georg sei ein Ketzer, sie ermahnt hatte, den Böhmen als
einen christlichen König anzuerkennen. Der gemäßigtere Teil des Breslauer
Rates durfte es nicht wagen, zum Gehorsam gegen Georg zu raten; denn das
Volk war gegen den Böhmen sehr aufgeregt. Wer am besten anf den Bier-
bänken schreien und schimpfen konnte, der galt als echter Freund der Stadt, als
wahrer Christ; Trinker, Säufer, Spieler und Lotterbuben, sagt ein Chronist aus
damaliger Zeit, regierten die Stadt, und was solche Leute wollten, mußte geschehen.
Der Krieg war unvermeidlich. Georg rückte mit einem starken Heere von
Böhmen und Schlesiern gegen Breslau vor. Die Stadt stand mit dem Herzog
von Sagan allein; denn alle benachbarten Städte und Fürsten schickten Absage-
briefe, deren 625 an einem Tage in Körben nach Breslau geschickt wurden.
Breslau war im Jahre 1459 im Kriege, in welchem die Stadt bedeutende Ver-
luste erlitt. Erst als die Not kaum noch zu ertragen war, erklärten sich die
Breslauer auf Anraten des Bischofs und zweier päpstlichen Boten zur An-
nähme des Friedens unter günstigen Bedingungen bereit; denn so sehr auch
Breslau den König beleidigt hatte, so wollte er die Stadt doch schonen. Der
König versprach, alle Beleidigungen zu vergessen, den Breslauern alle Rechte
und Freiheiten zu bestätigen, den katholischen Gottesdienst zu erhalten, alle
2*
20 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Fehden gegen die Stadt einzustellen, wogegen die Breslaner Georg als ihren
König anerkannten, dem sie gehorsam sein und nach drei Jahren huldigen wollten.
Georg hatte im Jahre 1460 keinen Feind mehr als den Herzog von
Sagan, mit dem er schnell fertig wurde. Aber jetzt trat der Papst mit be-
stimmten Forderungen an den Böhmen und forderte ihn auf, sich von den
Hussiten los zu machen und diese selbst zu bekämpfen. Dieses zu thun, weigerte
sich Georg, da er wußte, daß er Macht und Ansehen in seinem Lande verlieren
würde, wenn er mit den Hussiten bräche; er wurde aufgefordert, zu seiner Ver-
teidignng nach Rom zu kommen; und als er nicht erschien, erließ der Papst
1466 die Bannbulle gegen ihn, in der er ihn verdammte, seines Reiches ver-
lustig erklärte und seine Unterthanen vom Eide der Treue gegen ihn lossprach.
Diese Bannbulle erregte in Breslau große Freude; denn die Breslauer waren
durch dieselbe ihrer Versprechungen ledig, durften gegen Georg rüsten und
fanden gegen ihren Feind Bundesgenossen, unter denen der mächtigste der war,
auf den sie der Papst gewiesen hatte, Matthias von Ungarn. Mit entsetzlicher
Erbitterung und Grausamkeit wurde nun der Krieg in Schlesien und Böhmen
geführt. Die Schlesier trugen auf ihrem Rücken ein rotes Kreuz aus Tuch.
Wurden nun Schlesier von den Böhmen gefangen genommen, so mußten sie
das rote Tuchkreuz verschlingen, und dann brannte man ihnen ein Kreuz auf
die Stirn; die Schlesier aber rächten sich, indem sie den gefangenen Böhmen
einen Kelch auf die Stirn brannten. Solche und ähnliche Grausamkeiten wurden
in Menge verübt.
Matthias von Ungarn drang siegreich vor, ließ sich von Georgs Feinden
zum König von Böhmen wählen und behandelte seitdem Georg und seine Partei
als Rebellen. Auch die Breslauer, die schleichen Fürsten und Städte huldigten
ihm im Jahre 1469. So lange Matthias in Schlesien und Böhmen war,
hatte seine Partei die Oberhand; kehrte er aber nach Ungarn zurück, so drangen
die Böhmen wieder verheerend und verwüstend in Schlesien ein und der Jammer
und das Elend für das unglückliche Land schien kein Ende nehmen zu wollen.
Für Schlesien war es daher ein Glück, daß Podiebrad im Jahre 1471 starb.
Matthias (bis 1499). Die Breslauer glaubten zwar, Matthias werde
ihnen dankbar sein, weil sie ihm ja zuerst die Hand zu seinen neuen Eroberungen
geboten hatten. Aber sie täuschten sich; und als sich die Bürger über den Druck
und die neuen Steuern bei dem vom Könige eingesetzten Landeshauptmann
beklagten, sagte er ihnen: „Man muß euch also behandeln, damit ihr euch nicht
mehr unterfangt, mit Königen zu kriegen, Königen ungehorsam zu sein und sie
Ketzer zu heißen. Dem Papste gebührt es zu sagen, wer ein Ketzer ist, nicht
euch — Bauern von Breslau!"
Auch unter Matthias war kein Friede im Lande, denn seine Feinde hatten
gegen ihn den polnischen Prinzen Wladislaus zum Könige gewählt. So hatte
Böhmen zwei Könige, und die Schlesier waren in Verlegenheit, wem von beiden
sie folgen sollten. Deshalb sahen sie sich bald den Polen, bald den Ungarn
preisgegeben und mußten schwere Leidensjahre durchmachen, besonders wenn
sich zu der tobenden Kriegsfackel noch Tenrnng und Dürre gesellten, Trocken-
heit, die z. B. den ganzen Sommer 1473 so herrschte, daß außer der Oder,
der Neiße und dem Bober fast alle Flüsse vertrockneten und die Wälder und
Matthias (bis 1490). — Ludwig (1516—1526). 21
Heiden lichterloh brannten und die ausgeschreckten, vom Durst gequälten Tiere
des Waldes zu den Menschen kamen, um zu trinken.
Im Jahre 1474 kam eine Aussöhnung und ein Waffenstillstand, erst im
Jahre 1478 ein Friede zwischen den Königen zustande; da aber einzelne
schlesische Herzöge nicht mit den Bedingungen zufrieden waren, auch sonst noch
Gründe zu Streitigkeiten vorlagen, herrschte auch noch 1478 nicht im ganzen
Lande Ruhe und Sicherheit.
Wladislaus (bis 1516). Nach Matthias' Tode wählten die Ungarn den
böhmischen König Wladislaus zu ihrem Oberherrn, und die Schlesier waren
auch für sich mit dieser Wahl zufrieden. Da Wladislaus von den Fehlern
seiner Vorgänger frei war, so hofften die Schlesier auf eine bessere Zeit unter
seiner Regierung; aber er war zu schwach und gutmütig und besaß nicht die
Kraft, der immer wieder erwachenden Fehdelust des Adels Grenzen zu setzen.
Die Tage des so heiß ersehnten Friedens schienen nicht kommen zu sollen;
Öls, Münsterberg, Glogau, Oppeln, Breslau und andre Ländchen konnten
nicht zur Ruhe, nicht zum Frieden kommen. Der Tod des Wladislaus im Jahre
1516 wurde mit Gleichgültigkeit vernommen; denn bei seinen Unterthanen hatte
er sich keine Liebe erworben, weil er zu schwach zur Regierung gewesen war;
man nannte ihn den König Bene, weil er ans alle Fragen nur die Antwort
bene (gut) zu geben pflegte.
Ludwig (1516—-1526) war erst zehn Jahre alt, als er seinem Vater folgte.
Seine Erzieher brachten ihm mehr Liebe zum Vergnügen als zu Staatsgeschäften
bei. In dieser Zeit gewann an Einfluß in Schlesien Georg von Brandenburg,
der sich die Gunst der Schlesier zu erwerben wußte. Durch Erbverbrüderung
mit Ratibor und Oppeln begründete er sich eine Anwartschaft auf diese Länder;
das Fürstentum Jägerndorf kaufte er 1523 an sich, und die Herrschaften Beuthen
und Oderberg, die früher zu Oppeln gehört hatten, löste er 1526 ein. Auch
mit dem Herzoge von Liegnitz und Brieg war er verwandt, denn des Herzogs
Gemahlin war eine Schwester des Markgrafen Georg von Brandenburg.
Unter Ludwigs Regierung fand die Reformation in Schlesien Eingang.
Die Geistlichen hatten sich vielfach durch Unwissenheit, Sittenlosigkeit und Herrsch-
sucht den Haß und die Verachtung des Volkes zugezogen. Die Fehler und
Gebrechen der Kirche wurden auch von den Bischöfen anerkannt; aber ihre Be-
mühungen, innerhalb der Kirche zu reformieren, blieben meist fruchtlos. Wie
energisch damals der Bischof von Breslau zum Wohle der Kirche auftrat,
beweist der Umstand, daß er die Ablaßprediger, welche sich auch in Schlesien
einfanden, nicht aufkommen ließ, weil man öffentlich über dieses Unwesen spottete.
Der zügellose Pöbel hatte alle Achtung vor der Geistlichkeit verloren. Straßen-
bubeu verkleideten sich als Mönche und Nonnen und führten Turniere auf.
Wir dürfen uns also nicht wundern, daß das Werk Luthers in Schlesien Freunde
sand, daß seine Schriften gelesen wurden. Mönche und Nonnen verließen ihre
Klöster und erklärten sich für die neue Lehre. Im Jahre 1523 berief der
Breslauer Magistrat den Dr. Johann Heß, Luthers Freund, zum Pfarrer an
die Kirche zu Maria Magdalena, und am 25. Oktober hielt dieser als erster
protestantischer Prediger Schlesiens seine Antrittspredigt. Der Bischof war
22 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Heß gewogen und hatte zur Wahl seine Zustimmung gegeben. Wie segensreich
Heß wirkte, darüber berichtet die Geschichte Breslaus. Dem Beispiele dieser
Stadt folgten viele andre in Schlesien, so daß sich schon innerhalb eines Zeit-
raumes von 25 Jahren die Reformation fast durch ganz Schlesien verbreitet hatte.
Schlesien unter Regenten aus dem Haufe Osterreich (1526—1740).
Im Jahre 1526 waren die Türken in Ungarn eingefallen. Zwischen den
Heeren beider Völker kam es zum Kampfe bei Mohaez, wo die Türken siegten.
Ludwig mußte fliehen und kam aus der Flucht ums Leben, als er in einen
Morast hineinsank und sein auf ihn stürzendes Pferd ihn erstickte. Er war erst
20 Jahre alt, als er starb, und hinterließ keine Erben. Ferdinand von Öfter-
reich, der Gemahl seiner Schwester, erhob Ansprüche auf seine Länder; Ungarn
kam ihm vertragsmäßig zu, obgleich viele Ungarn den Woiwoden von Sieben-
bürgen, Johann von Zapolya, als Gegenkönig aufstellten, mit dem Ferdinand
in einen langwierigen Krieg verwickelt wurde; die Böhmen wählten ihn zu
ihrem Könige und die Schlesier schlössen sich, obwohl sie unwillig waren, daß
sie nicht zur Wahl hinzugezogen waren, der Wahl an und erkannten ihn als
ihren Oberherrn an. So kam Schlesien an das Haus Österreich und wurde
wieder als zu Böhmen gehörig betrachtet. Im Mai 1527 kam Ferdinand
selbst mit seiner Gemahlin nach Breslau und empsing die Huldigung.
Unter Ferdinands Regierung wurde zwischen dem Herzoge Friedrich II.
von Liegnitz und dem Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg ein Vertrag
abgeschlossen, welcher die Erbverbrüderung genannt wird. Herzog Friedrich
von Liegnitz, Brieg und Wohlau fürchtete nämlich, der König von Böhmen
werde, wenn das herzogliche Hans einmal aussterbe, als unumschränkter Herr
die Reformation in seinen Landen unterdrücken. Da nun König Wladislaus
von Ungarn ihm einst das Recht zugesprochen hatte, Land und Leute versetzen,
verkaufen oder vergeben zu dürfen, so schloß er im Jahre 1537 mit Joachim II.
folgenden Vertrag: Stirbt die herzogliche Piastenfamilie in Liegnitz je aus,
dann fallen die Herzogtümer an Brandenburg; stirbt dagegen das kurbranden-
burgische Haus früher aus, dann fallen verschiedene Teile der Mark Branden-
bürg an Liegnitz. Als König Ferdinand I., der eifrig katholisch war, von dieser
Erbverbrüderung hörte, erklärte er sie für null und nichtig, weil derselbe
Wladislaus zu einer andern Zeit in seiner Gutmütigkeit den Böhmen ver-
sprochen hatte, es solle der Krone von Böhmen keins ihrer Länder entfremdet
werden. Hiernach stand also das Recht bei dem, der die Macht hatte, in Zu-
kuuft seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen.
Auf Ferdinand I. folgte 1564 Maximilian II., der nur zwölf Jahre
regierte und der Reformation geneigt war, während sein Sohn Rudels II.
(1576—1611) eifrig bemüht war, die Reformation in.seinen Ländern aus-
zurotteu. Den Schlesiern gab er zwar, als sie sich an seinen Bruder Matthias
von Ungarn um Hilfe wandten und er den Abfall des Landes fürchtete, im
Jahre 1609 auf ihr dringendes Bitten den Majestätsbrief, in welchem ihnen
freie Religionsübung, die Erbauung von Kirchen und Schulen, die Einsetzung
von Geistlichen sowie die Einrichtung eigner kirchlicher Behörden zugestanden
und außerdem verheißen wurde, daß alle Befehle des Kaisers und seiner Nach-'
kommen gegen diesen Majestätsbrief ungültig sein und die dagegen Handelnden
Schlesien unter Regenten aus dem Hause Österreich (1526—1740). 23
als Störer des allgemeinen Friedens angesehen und bestraft werden sollten.
Ungemessen war die Freude der Schlesier, und gern bezahlten sie für den kost-
baren Freiheitsbrief 300 000 Gulden in der Meinung, daß ihre Rechte auf
ewig gesichert feien; aber es kam bald anders. Als zwei Jahre später (1611)
Matthias von Ungarn auch König von Böhmen wurde und nach Breslau kam,
um sich huldigen zu lassen, hatten die Schlesier keine Kosten gescheut und den
Empfang des Königs möglichst prächtig eingerichtet; aber ihre alten Vorrechte
hatte er ihnen nur schwer und auf wiederholtes dringendes Bitten bestätigt.
Bald aber wurden hier und da Klagen laut, der Majestätsbrief werde verletzt.
Am meisten hatten die Protestanten in Neiße zu leiden, da der dortige Bischof
von dem Majestätsbrief nichts wissen wollte. Unter Ferdinand II. (1619 bis
1637) wurde die Ausrottung der Reformation ernstlich in Angriff genommen.
In Schlesien reformierten die Lichtensteiner Dragoner unter dem Grafen Dohna.
Zunächst gingen diese Soldaten nach Groß-Glogau, besetzten den Pfarrhof und
quartierten sich in den Häusern der Protestanten zu 10—15 Mann ein, for-
derten die besten Speisen und Weine und quälten die armen Wirte so lange,
bis sie katholisch wurden. Wenn diese nachwiesen, daß sie zur Beichte gegangen
waren, wurden sie von der Einquartierung befreit. Die Dragoner zogen als-
bald in ein andres Haus, deffen Wirt protestantisch war. Je mehr Bürger sich
durch die ihnen auferlegte Quälerei hatten bewegen lassen, zur Beichte zu gehen,
um so mehr Dragoner quartierten sich in die Häuser der noch protestantisch
gebliebenen Wirte ein, so daß auf einzelne Häuser ganze Scharen Einqnartie-
rnng kamen. Viele Bürger hätten damals gern Haus und Hof verlassen, um
ihrer religiösen Überzeugung treu bleiben zu können; aber die Stadt war überall
besetzt und Auswanderungen wurden nicht gestattet. So wüteten die „Selig-
macher", wie sich die Lichtensteiner selbst nannten, nicht nur iu Glogau, sondern
auch in Schweidnitz und Janer, in Münsterberg und Frankenstein, am schlimmsten
in Löwenberg; und nicht ohne Grund rühmte sich der Graf Dohna mit lästernden
Worten, er habe ohne Predigt mehr Seelen bekehrt als ehedem Petrus am
Psiugsttage.
Auch durch den Dreißigjährigen Krieg (1618—1648) hatte Schlesien
empfindlich zu leiden, besonders als nach der Schlacht bei Lützen (1632), nach
dem Tode Gustav Adolfs, die Schweden schrecklicher hausten als die Kaiserlichen,
obgleich die Wallensteiner sehr roh und grausam waren. Um Geld und Lebens-
mittel zu erpressen, schnitten die Soldaten lebendigen Menschen Riemen aus
der Haut, schlitzten ihnen die Füße auf. schnitten ihnen Nase und Ohren ab,
füllten ihnen Jauche in den Mund (und das nannten sie spottweise Schweden-
trank), hängten sie an den Füßen auf und zündeten Feuer unter ihnen an,
steckten ihnen brennenden Kien und Schwefel unter die Nägel und zündeten
schließlich jedes Dorf, welches sie verließen, an.
Zu all diesen Schrecken kam die Pest, welche furchtbar wütete und in
Breslau allein gegen 13 000 Menschen fortraffte. Endlich brachte im Jahre
1648 der Westfälische Friede den wenigen Menschen, die noch übrig geblieben
waren, Ruhe und Sicherheit. Es wurde festgesetzt, daß die mittelbaren Fürsten-
tümer Schlesiens ihre Rechte und Privilegien behalten, in den unmittelbaren
schleichen Fürstentümern dagegen die evangelischen Grafen, Freiherren und
Adligen mit ihren Unterthanen ihrem Gottesdienste in der Nachbarschaft und
24 Aus Schlesiens Vergangenheit.
außerhalb des Landes obliegen, daß in jeder der drei Städte Schweidnitz, Jauer
und Glogau die Protestanten sich eine Kirche, doch außerhalb der Stadtmauern,
erbauen sollten. Diese drei Kirchen hat man Friedenskirchen genannt; sie
durften nur aus Bindewerk aufgeführt und mit Lehm durchflochten werden.
Nach dem Frieden zog Ferdinand III. (1637 —1657) in den unmittelbaren
Fürstentümern die evangelischen Kirchen ein; von den sortgenommenen kennt
man noch 628 mit Namen, die sich in Niederschlesien befanden, zu denen noch
mehrere in Oberschlesien kommen.
Die drei Friedenskirchen boten den Protestanten wenig Ersatz für das,
was ihnen genommen worden; sie mußten oft zehn Meilen weit gehen, reiten
oder fahren, um zu einer protestantischen Kirche zu gelangen. Vor und in der
Friedenskirche zu Schweidnitz fanden sich nicht selten 10 000 Menschen ein, und
Hunderte von Wagen standen um dieselbe. Viele Schlesier besuchten auch, bis
es ihnen verboten wurde, die benachbarten Kirchen der Lausitz und Mark
Brandenburg. Gerade damals, als die Protestanten in so bedrängter Lage
waren, starb der letzte Fürst aus dem protestantischen Hause der Piasten, Herzog
Georg Wilhelm von Liegnitz, im Jahre 1675, so daß nun wieder drei bedeu-
tende Fürstentümer, Liegnitz, Brieg und Wohlau, nach dem Lehnsrechte an die
Krone von Böhmen fallen mußten; denn Kurbrandenburg war nicht imstande,
seine Erbrechte dem Könige Leopold I. (1657 —1705) gegenüber, der zugleich
Kaiser von Deutschland war, mit Nachdruck geltend zu machen. Leopold wußte
in die Gemeinden in den Herzogtümern, deren Geistliche gestorben waren,
katholische Priester einzuführen. Da erschien im Anfange des 18. Jahrhunderts
in Schlesien Karl XII. von Schweden, der mit dem Kurfürsten Friedrich August
von Sachsen, den die Polen zu ihrem Könige erwählt hatten, in einen Krieg
verwickelt war. Auf dem Wege von Polen nach Sachsen kam er durch Schlesien;
ihm eilten die protestantischen Schlesier entgegen und baten ihn, er möchte ihnen
die vom Kaiser ihnen genommenen Religionsfreiheiten wieder verschaffen. Karl
versprach es und hielt Wort. Joseph I. (1705—1711), der seinem Vater Leopold
folgte, war ein milder, gerechter Fürst; er führte damals gerade mit Frankreich
Krieg und gab, weil er in Karl einen neuen Feind fürchtete, den Forderungen
des Schwedenkönigs nach. Im Jahre 1706 kam die Alt-Ranstädter Kon-
vention zustande, in welcher der Kaiser versprach, alle Kirchen, welche den
Protestanten in den Fürstentümern Liegnitz, Brieg, Wohlau, Münsterberg, Öls
und der Stadt Breslau seit dem Westfälischen Friedensschlüsse genommen worden,
wieder zurückzugeben und ferner keine protestantische Schule und Kirche mehr
wegnehmen zu wollen, niemand zu zwingen, dem katholischen Gottesdienste bei-
zuwohnen, und die Protestanten zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen. Kaiser
Joseph hielt Wort. Es wurden den Protestanten sofort 130 Kirchen zurückgegeben,
und außerdem durften sechs neue Kirchen, die man Gnadenkirchen nannte, in Frei-
stadt und Sagan, Hirschberg und Landeshut, Militsch und Teschen erbaut werden.
Unter Karl VI. (1711 — 1740) herrschte in Schlesien Ruhe, obgleich
dieser Fürst in viele Kriege verwickelt war. Das Land erfreute sich eines ununter-
brochenen Friedens; auch in Religionsangelegenheiten blieb alles so bestehen,
wie es Joseph angeordnet hatte. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, daß die
Protestanten, besonders die protestantischen Geistlichen, nur als geduldete Personen
betrachtet wurden und sich deshalb manche Zurücksetzungen gefallen lassen mußten.
Schlesien.unter preußischen Königen. 25
Schlesien unter preußischen Königen. Friedrich II. von Preußen war
28 Jahre alt, als er seinem strengen Vater in der Regierung folgte, der ihm ein
treffliches Heer und einen gefüllten Staatsschatz hinterließ. Als bald nach seinem
Regierungsantritt (1740) Karl VI. starb und ihm seine einzige Tochter Maria
Theresia folgte, eröffnete Friedrich der Kaiserin, daß er nach dem Erbvertrage
von 1537 die Herzogtümer Liegnitz, Brieg, Wohlau und Jägerndorf zu bean-
fpruchen habe, sich aber mit Glogau und Sagan begnügen wolle, weil diese seinen
Marken näher lägen; wolle sie ihm aber ganz Schlesien abtreten, so verspreche
er, ihr ein treuer Bundesgenosse zu sein, ihrem Gemahl bei der Kaiserwahl feine
Stimme zu geben und außerdem 2 Millionen Thaler zu zahlen. Wie voraus-
zusehen war, ging Maria Theresia auf keinen dieser Vorschläge ein, und des-
halb erklärte Friedrich sofort den Krieg. Im Frieden zu Breslau am 11. Juni
1742 trat die Kaiserin ganz Nieder- und Oberfchlesien nebst der Grafschaft Glatz
mit Ausnahme von Teschen, Troppan, Jägerndorf und dem Lande jenfett der
Oppa an Friedrich ab. Die Schlesier erkannten bald, daß sie einen Landesvater
erhalten hatten, der ihnen mit Liebe zngethan war; die Streitigkeiten zwischen
Katholiken und Protestanten hörten auf, weil in Friedrichs Staate jeder nach seiner
Faxon feiig werden sollte. Zwar bemühte sich Maria Theresia, dem Preußen-
könig noch in zwei Kriegen das neu erworbene Schlesien wiederzunehmen; aber
ihre Kämpfe waren vergeblich; im Dresdner (1745) und im Hubertusburger
(1763) Frieden blieb das die Grundlage, was in Breslau 1742 abgemacht war.
Seit dieser Zeit ist Schlesien eine preußische Provinz, die mit dem preußischen
Staate die schweren Tage der Erniedrigung und Demütigung durchgemacht hat,
die aber auch mit ihm gedeiht und vorwärts kommt. Wohl kein Schlesier wünscht,
wenn er einen Blick in die Geschichte seines oft schwer geprüften engeren Vater-
landes thnt, frühere Zeiten und Zustände, Verhältnisse, wie sie unter den Piasten
oder der Oberhoheit Böhmens, Ungarns oder Österreichs bestanden haben, zu-
rück; er ist stolz auf fein schönes Heimatland und weiß, was Fürsten zum Gedeihen
eines Landes thnn können, das haben die Hohenzollern für Schlesien gethan.
Trefflich sagte Dr. Websky, ein geborener Schlesier, als er die Schlußfeierlich-
leiten zur schleichen Gewerbe- und Jndustrie-Ansstellung zu Breslau (1831)
einführte und sein Bedauern darüber aussprach, daß unser Kaiser nicht hatte er-
scheinen können: „Es hat uns geschmerzt, daß Se. Majestät unser erhabener
Kaiser der Ausstellung fern geblieben sind. Dieser Schmerz ist ein Opfer, das
wir auf den Altar unsres gemeinschaftlichen großen Vaterlandes legen. Ja,
wenn Schlesien noch von seinen alten Herzögen beherrscht würde, dann freilich
hätten wir uns sicher des Besuches uusrer Souveräne erfreut. Aber erinnern
wir uns doch: Was war denn Schlesien in der damaligen Zeit? Ein Spielball
in der Hand seiner mächtigen Nachbarn, bald unter polnischer Herrschaft, bald
unter der der Könige von Böhmen; heute von den Mongolen bis aufs äußerste
ausgesogen und morgen von den Hussiten verwüstet. Da war an keine Entwicke-
lnng der gewerblichen Thätigkeit zu denken; und wenn Schlesien so spät die ihm
gebührende Rolle unter den gewerbthätigen Nationen eingenommen hat, so ver-
schuldet dies vor allem seine politische Kraftlosigkeit. Was aber sind wir heute?
Der Teil eines mächtigen, von seinen Nachbarn geachteten, von seinen Feinden
gefürchteten Staates, der es uns ermöglicht, unfre Gewerbe in Frieden zu be-
treiben, und uns bei unferm Verkehr mit der ganzen Welt schützt."
26 Aus Schlesiens Vergangenheit.
^Utf"d)k|tfd)e Münzen. Wenn wir die Geschichte eines Landes und das
Leben der Einwohner desselben kennen lernen wollen, so müssen wir uns auch
mit den Münzen bekannt machen, die in dem Lande Geltung haben. Kennen
wir die Münzen nicht, so werden wir uns oft über die in den Urkunden und
Geschichtswerten erzählten Ereignisse falsche Vorstellungen machen. Wenn wir
z. B. hören, daß Heinrich I. um das Jahr 1230 für ein Streitroß 23 Mark
bezahlte und bei dieser Summe an die heute geltende deutsche Reichsmark denken,
so irren wir uns; denn die Mark, die damals im Gebrauch war, galt ungefähr
38V2 jetzige Mark, so daß das Roß etwa 940 deutsche Reichsmark kostete.
So interessant und wichtig die Kunde des Münzwesens älterer Zeit für alle
Länder ist, so schwierig und mühselig ist das Studium der Münzen oft. Auch
für Schlesien sind durchweg sichere Resultate trotz der größeren Bemühungen
von ausgezeichneten Gelehrten noch nicht gewonnen.
Viel hat sich der Professor der Geschichte an der Universität Breslau und
Archivrat G. A. Stenzel mit dem schleichen Münzwesen in seiner Geschichte
Schlesiens beschäftigt; nach ihm hat Dr. Tagmann unter Benutzung verschiedener
wichtiger Urkunden Untersuchungen über denselben Gegenstand gemacht und
ihn weiter gefördert.
Uusre urkundlichen Nachrichten über die Gewinnung edler Metalle in
Schlesien reichen nur bis in den Anfang des 13. Jahrhunderts zurück; denn
erst im Jahre 1227 werden urkundlich die Goldgruben in Schlesien erwähnt.
Daß aber damals das schlesische Bergwerksrecht bereits sich in gewissem Grade
ausgebildet hatte, geht aus der Gründnngsnrkunde der Stadt Kulm hervor,
in welcher im Jahre 1232 auf Kulm das Goldrecht, wie es in dem Lande des
Herzogs von Schlesien war, übertragen wurde; denn der Entdecker des Goldes
und der, auf dessen Grund und Boden es gefunden wurde, sollte dasselbe Recht
wie dort haben. Auf Gewinnung des Goldes durch Waschen, was die Schlesier
Seifen nannten, weisen verschiedene Ortsnamen mit der Endung „seifen" hin.
Auch Münzen werden beim Beginn des 13. Jahrhunderts genannt, wie im
Jahre 1203 bei der Gründung des Klosters Trebnitz; im Jahre 1204 wird
die Münze in Breslau, 1222 die in Ujest erwähnt.
Da Schlesien vor dem Jahre 1163 ein Teil Polens war, so gilt von
Schlesien für die Zeit bis zu diesem Jahre alles, was aus Polen hierüber be-
kannt ist. Die Polen hatten damals schon geprägte Münzen; denn im Jahre
1159 werden als Brückenzoll duo denarii poloniensis monetae genannt; und
der Bischof Otto von Bamberg erhielt 1125 für seine Reise nach Pommern,
wohin er sich zur Bekehrung der Heiden begab, von Herzog Boleslaw HI. in
Gnesen einheimisches Geld (monetam illius terrae).
Bereits im Jahre 1054 wurden vom Herzog Kasimir von Polen dem
Herzog Brzetislaw von Böhmen, wenn er ihm Breslau und einige andre
Städte wieder herausgebe, als Tribut jährlich 30 Mark Gold und 500 Mark
Silber bewilligt. Sogar schon im Jahre 1013 hatte Polen und mit ihm
Schlesien jährlich an den päpstlichen Stuhl den Peterspfennig zu zahlen ver-
sprochen, d. h. von jedem lebenden Haupte einen Pfennig nach Rom abzn-
liefern (pro qnolibet humano capite unxim denarium currentis et usualis
monetae illius patriae, berichtet Dithmar von Merseburg). Boleslaw von
Polen beklagt sich dann brieflich bei dem Papste, daß es ihm wegen der
Altschlesische Münzen. 27
Nachstellungen des deutschen Königs nicht möglich sei, den Peterspfennig zu
zahlen (promissum principi apostoloram Petro persolvere censuni). Ob
Boleslaw später Wort gehalten hat oder nicht: jedenfalls steht fest, daß die
Polen schon ums Jahr 10(30 die edlen Metalle als Geld kannten. Wenn daher
noch gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Krakau auch Marderschnauzen uud
Eichhornköpfe die Stelle des Geldes vertraten, so waren das nur noch Überreste
aus früherer Zeit. In Schlesien wurden zwar noch im Anfange des 13. Jahr-
Hunderts Felle von Mardern uud Eichhörnchen statt des Zehnten gegeben; aber
sie hatten damals nicht mehr die Bedeutung des Geldes, sondern galten als
Naturalzehnt, wie Getreide, Honig u. dergl.
Wurden edle und unedle Metalle irgendwo gefunden, so war der Besitzer
des Grundes und Bodens zwar Eigentümer; der Fürst aber galt da, wo er
nicht selbst Grundbesitzer war, als Obereigentümer, der dem Besitzer erst das
Recht des Bergbaues verlieh, oder, wenn dieser nicht bauen wollte, es jedem
andern verleihen konnte; in beiden Fällen aber hatte er von jedem, der Metall
gewann, den Zehnten oder das Urbar, d. h. den zwölften Teil des ganzen Ge-
Winnes, zu beanspruchen.
Das Recht zu münzen besaßen die Herzöge ausschließlich, wie sich aus
mehreren Urkunden nachweisen läßt. Als z. B. im Jahre 1222 der Herzog
Kasimir von Oppeln dem Bischof Laurentius die Gründung von Ujest nach
deutschem Rechte gestattete, behielt er ausdrücklich das Recht der Münze für
sich. Der Herzog Heinrich I. erteilte im Jahre 1204 dem Kloster zu „Unserer
lieben Frauen" aus dem Sande zu Breslau eine Anweisung auf 10 Mark
Silbers jährlich aus der dortigen Münze, die ihm also gehörte. Nur der-
jenige durfte münzen, dem der Herzog das Recht dazu verliehen hatte. In der
frühesten Zeit übten die Herzöge selbst das Münzrecht durch ihre Münzen aus.
Später aber verkauften sie das Recht jährlich an die Münzer; die Pächter der
Münzen waren oft jüdische Kaufleute, die zum Schneiden der Münzstempel sich
nicht selten Leute ihrer Nation annahmen, die keine andre als die hebräische
Schrift kannten. Daher finden wir auf polnischen und schlesischen Münzen jener
Zeit zuweilen hebräische Buchstaben.
Von den aus dem Bergbau und der Münze fließenden herzoglichen Ein-
künften nahm die Kirche schon sehr früh den zehnten Teil in Anspruch, und
die Herzöge sicherten ihr in der That denselben zu. So wurde dem Bischof
Laurentius im Jahre 1227 von Heinrich I. der Zehnte von dem Anteile des
Herzogs an dem Goldgewinne, also der Zehnte des Zwölften (des Urbar), be-
willigt. Boleslaw II. von Liegnitz versprach im Jahre 1265 dem Bistum
den Zehnten seines Anteils an der Gewinnung aller Metalle, nämlich des
Goldes. Silbers, Kupsers, Bleis und was sonst in seinem Lande gesunden wurde.
Daß der Münzzehnt in seinem ganzen Lande dem Bischof von Breslau gehöre,
bekennt Heinrich III. urkundlich im Jahre 1264. Das Münzrecht selbst er-
langte der Bischof von Breslau erst im Jahre 1290, als Herzog Heinrich IV.
an seinem Todestage zur Genngthuung für die vielen Bedrückungen, die er der
Kirche und den ihr unterworfenen Gütern und Personen bei Lebzeiten zugefügt
hatte, dem Bistum das große Privilegium erteilte. Seit dieser Zeit kann es
erst bischöfliche Münzen geben. Im Laufe des 14. Jahrhunderts verkauften
oder überließen die Herzöge das Münzrecht zum Teil den Städten.
28 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Da alle gefundenen edlen und unedlen Metalle zu dem Regale des Fürsten
gehörten, so mußten die gewonnenen edlen Metalle an den fürstlichen Brenn-
gaden abgeliefert werden, wo sie geschmolzen und gereinigt, gewogen und pro-
biert wurden. Der Brenngaden stand unter dem Münzmeister, dem auch die
Münzer untergeben waren. Da nun die Münze ein fürstliches Recht war. so
mußten auch edle Metalle, die zum Verkauf in die Stadt gebracht wurden,
zuerst dem Münzmeister zum Kauf angeboten werden. Man konnte an der
Münzstätte aus feinem eignen Gold und Silber das nötige Geld gegen Ent-
fchädigung prägen lasten. Diese Entschädigung wurde zuweilen durch die Gnade
des Herzogs erlassen, z. B. dem Kloster Trebnitz für monatlich eine Mark
Silbers in der Breslauer Münze.
Zu einem festen Gebrauch war es geworden, daß in jedem Jahre dreimal
neue Münzen geprägt wurden, nachdem vorher die alten verrufen worden waren,
welche dann gegen neue ausgewechselt, aber zu einem niedrigeren Satze an-
genommen wurden. Natürlich hatte diese häufige Verrnsung und Verschlagung
der Münzen große Unbequemlichkeiten und Nachteile für den gewöhnlichen Ver-
kehr und Handel, besonders da die Münzen nur in dem engen Gebiete Geltung
hatten, welches dem Münzherrn uuterthau wor.
Deshalb scheint allmählich die landesübliche UmPrägung abgeschafft und
als Ersatz für den aus derselben geflossenen Gewinn eine allgemeine Steuer
auf alle liegenden Gründe eingeführt worden zu sein, welche den Namen
„Münzgeld (pecunia monetalis)" erhielt, während das Münzregal des Herzogs
und die Verwaltung durch dessen Münzer oder auch die Verpachtung der
Münze fortbestand.
Das Gold stand in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, aus der
wir Nachweise haben, also wohl auch früher und später, zu dem Silber im
Wertverhältnis von 10 zu 1, d. h. eine Mark Goldes war so viel wert wie
zehn Mark Silbers. Man rechnete einerseits nach Marken, Vierdungen, Loten
und Skoten, anderseits nach Pfunden und Schillingen, in beiden Fällen zu-
gleich nach Pfennigen und später auch nach Obolen.
Über die Ausdrücke Mark und Pfund ist zu bemerken, daß der letztere der
ältere, jener der jüngere ist. Ursprünglich war das Pfund (libra) ein Gewicht
von 12 Unzen, welches von den Römern auf die Franken und von diesen auf
die Deutschen überhaupt und andre Nationen überging. Allmählich fing man
an, die Münzen, deren eine bestimmte Zahl aus einem Pfunde geprägt werden
mußte, dem Gewichte nach zu verringern, so daß bald dieselbe Zahl Münzen,
die früher ein Pfund gewogen hatte, nur noch zwei Drittel Pfund oder 8 Unzen
ausmachte.
Um eiue weitere Verringerung des Wertes der Münzen zu verhüten, setzte
man das Gewicht eines Pfundes auf 8 Unzen oder 16 Lot fest und versah
außerdem die Gewichte mit einem Zeichen, einer Marke, woher der Name Mark
(niarca) entstanden ist. Gleichwohl blieb der Name Pfund noch lange im Ge-
brauch, während die Mark als das eigentliche Münzgewicht (marca auri und
rnarca argenti) angesehen wurde. Bald genügte dieser Unterschied nicht mehr,
als man anfing, die Münzen in dem Gehalte (Korn) zu verringern, indem man
dem Silber allmählich immer mehr Kupfer zusetzte, so daß die Münzen zwar
weniger wert waren, aber das gesetzlich bestimmte Gewicht (Schrot) behielten.
Altschlesische Münzen. 29
Nun unterschied man die feine Mark (marca puri argenti oder marca boni et
puri argenti) aus gutem Silber und die landesübliche Mark (marca usualis
oder marca usualis argenti) aus verschlechtertem Silber.
In bezug auf das Gewicht find für Schlesien mehrere Arten von Marken
zu erwähnen. Die Mark reinen Silbers wird Kaufmannsgewicht (pondus
mercatorum) genannt, weil die Kaufleute für die Richtigkeit der von ihnen
gebrauchten Gewichte verantwortlich gemacht wurden und im allgemeinen als ge-
wissenhaft galten. Allgemein üblich war in Schlesien das polnische Gewicht
(pondus Polonicum), welchem das Breslauer Gewicht (pondus Wratislaviense)
gleich ist; wo in den Urkunden nicht ausdrücklich ein andres Gewicht genannt
wird, ist immer dieses zu verstehen. Es scheint, als ob der Ausdruck „pol-
uisches Gewicht" mit dem steigenden Einfluß der fchlefischen Hauptstadt abge-
nommen hat und das Breslauer Gewicht allmählich an die Stelle des polnischen
getreten ist. Neben diesen Angaben finden wir noch das köllnische Gewicht
(pondus Coloniense) genannt, das auch unter dem Namen „deutsches Ge-
wicht" (pondus Theutonicale) und „Gewicht der römischen Kurie" (pondus
Romanae curiae) vorkommt.
Die Mark zerfiel in 8 Unzen, jede zu 2 Lot; ein Lot (loto oder lotus)
war also der sechzehnte Teil der Mark. Im gewöhnlichen Leben wurde die
Mark eingeteilt in vier Vierdunge (ferto), jeder zu 4 Lot. Der Skot (Scotus)
ist der vierundzwanzigste Teil der Mark. Schillinge (solidi) machten zur Zeit
der fränkischen Könige 24 ein Pfund; seit Karl dem Großen machten nur
20 Schillinge ein Pfund aus. Es kamen also 5 Schillinge auf einen Vierdnng.
Erst im 14. Jahrhundert kam der Gebrauch auf, den Schilling und den Vier-
dung gleichbedeutend zu nehmen, so daß 4 Schillinge auf die Mark gerechnet
wurden. Der Pfennig (denarius) war der zwölfte Teil eines Schillings, so
daß auf ein Pfund von 20 Schillingen 240 Pfennige gingen. Der Skot, der
vierundzwanzigste Teil einer Mark, zerfiel in 10 Pfennige, so daß also auch
nach dieser Teilung die Mark 240 Pfennige hatte. Der Obolus, der fehr selten
vorkommt, war wahrscheinlich die Hälfte des Pfennigs.
Kaum zu bezweifeln ist, daß es mehrere Jahrhunderte hindurch nur eine
einzige geprägte Münze in Polen und Schlesien gegeben hat, nämlich die Pfennige
oder Denare; alle andern Münzen waren nur Rechnungsmünzen. Erst um
die Mitte des 13. Jahrhunderts traten zu deu Denaren als wirklich geprägte
Münzen die Obole hinzu.
Die Münzen waren meistens Brakteaten, d. h. Blech- oder Hohlmünzen.
Der Name der Münze ist neueren Ursprungs und von ihrer Beschaffenheit
hergenommen. Die Münze wurde nämlich aus sehr dünnem Silberblech (brac-
tea), welches der Goldschläger (bracteator) zubereitete, geschlagen, nachdem
das Metallblättchen gewöhnlich rund ausgeschnitten und abgewogen war; sie
wurde nur einseitig geprägt, so daß dieselben Figuren, welche auf der Vorder-
seite erhaben sind, auf der Rückseite vertieft oder hohl erscheinen. Der Stempel,
der vertiefte Figuren zeigte, wurde mit Gewalt in das auf einem Kissen von
Leder oder Filz liegende Silberblech hineingetrieben, wodurch der Rand etwas
umgebogen und die Münze leicht schüfselförmig wurde. Der Größe nach sind die
Münzen verschieden; man trug sie, weil sie leicht zerbrechlich waren, in steifen
ledernen Taschen oder Schachteln.
30 Aus Schlesiens Vergangenheit.
Mit der Einführung der dicken oder breiten Prager Groschen, deren 48
auf die polnische Mark gehen, die sich bald im Verkehr bewahrten, hörten die
Brakteaten, welche sich ohnehin schon verschlechtert hatten, allmählich aus. —
Die polnische Mark betrug wahrscheinlich 28 (nach andrer Berechnung 33,5)
deutsche Reichsmark, die halbe Mark 14, der Vierdung 7, das Lot 1,7g, der
Schilling 1,40, der Skot 1,16, der Denar 0,^, der Obol 0,06 deutsche Reichsmark.
— Goldmünzen hat es wahrscheinlich bis zum 14. Jahrhundert noch nicht gegeben.
Preise im 13. Jahrhundert. Ju der ersten Hälfte des 13.Jahrhunderts
galt in Schlesien ein Scheffel Weizen, Roggen, Gerste und Hafer ungefähr eine
Mark, ein Pferd wurde auf 38 Scheffel Getreide geschätzt. Wenn uns nun
berichtet wird, daß um dieselbe Zeit ein Streitroß 940 Mark gekostet habe, so
müssen wir zwar in Erwägung ziehen, daß ein Streitroß einen bedeutend höheren
Preis haben mußte als ein andres Pferd; aber bei diesem ungeheuren Preise
ist gewiß Sattel und Zeug und die kostbare Rüstung des Rosses mitbezahlt.
Ein Ochse galt ungefähr 20 Mark, eine Kuh 16, ein Schwein 4, ein Schaf
2 Mark. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts stiegen die Preise immer höher,
wahrscheinlich weil bei dem stärkeren Anbau des Landes das Bedürfnis nach
Vieh überall größer wurde.
Münzen aus späterer Zeit. Schon gegen Ende des 14.Jahrhunderts
rechnete man fast allgemein mit Prager Groschen. Da nun 48 Prager Groschen
eine polnische Mark im Werte von ungefähr 28 deutschen Reichsmark ausmachten,
so galt ein Prager oder böhmischer Groschen etwa 0,55 Mark unsres Geldes.
Ein ungarischer Gulden oder Dukaten galt 16 böhmische Groschen. Im 15. Jahr-
hundert verfiel während der unruhigen Zeiten der Hnssitenkämpse das böhmische
Münzwesen, und die Groschen waren so schlecht geworden, daß man 20 bis 40
auf einen Dukaten rechnete. Erst der König Matthias ordnete das Münzwesen
wieder und bestimmte, daß 40 Groschen einem Dukaten an Wert gleichkommen
sollten, so daß von seiner Zeit an ein Groschen 0,22 Mark unsres Geldes wert war.
Unter Ferdinand I. wurde 1561 eine neue Münzordnung eingeführt, nach
welcher eine feine köllnische Mark zu 10 Gulden 131/2 Kreuzer ausgeprägt
werden sollte. Ein Gulden enthielt 60 Kreuzer; es kamen also auf die Mark
6131/2 Kreuzer. Da nun jetzt 1260 Kreuzer auf eine feine Mark kommen,
so galt damals ein Kreuzer mehr als jetzt zwei Kreuzer in Österreich. Man
rechnete auch nach Thalern, und rechnete 70 Kreuzer oder 35 Groschen auf einen
Thaler, so daß ein Groschen (Weißgroschen genannt) zwei Kreuzern gleich kam.
Böhmischer Groschen aus dem 14. Jahrhundert unter Wenzel II.
N«K
Der große Ring in Breslau.
Das jetzige Schlesien.
Schlesiens Gestalt, Größe, Grenzen, Einteilung, Verwaltung. — Boden, Pflanzen,
Vieh. — Klima, Verkehrsstraßen. — Bevölkerung. — Schlesische Mundart. — Karl
von Höltei. — Robert Rößler.
Schleftens Gestalt, Grö>;e, Grenzen, Einteilnng, Verwaltung. Ein Blick
auf die Karte von Schlesien belehrt uns, daß wir die Provinz des preußischen
Staates, Schlesien, mit einem großen Eichblatte vergleichen können, in welchem
die Oder als Hauptstrom mit seinen vielen Neben- und Seitenflüssen das Ge-
äder bildet, während die ungefähr 200 Meilen lange Grenzlinie den ausgezackten
Rand ausmacht. Könnte man aber das ganze Land, das auf seinen 40 291,4 qkm
— 731)6 Quadratmeilen in 149 Städten, 5600 Landgemeinden, 3437 Guts-
bezirken, 6400 nicht zu einem Gemeindeverband gehörigen sonstigen Wohnplätzen
von 4007 925 Menschen bewohnt wird, mit einem einzigen Blicke aus der Luft
herab überschauen, so würde man es einer gewöhnlichen Fleischermulde ähnlich
finden, die in der Mitte qner durchgeschnitten ist; nur würde der eine Rand
bedeutend höher sein als der andre, weil zwar beide Langseiten an ihrem Rande
82 Das jetzige Schlesien,
Gebirge haben, das südwestliche Gebirge aber, nämlich die Sudeten, viel höher
ist als der polnisch-schlesische Landrücken, der an der Nordostseite entlang läuft.
Im Südosten der Provinz nämlich streift auf der rechten Oderuferseite von
den Karpaten her der sogenannte südnralische Landrücken, der in der Richtung
von Südosten nach Nordwesten die Provinz ungefähr begrenzt, der auch die
Tarnowitzer und Trebnitzer Höhen oder das schlesisch-polnische Gebirge heißt,
der bei Leubus über die Oder geht und über Glogau hin zum Flemmiug zieht.
Fast parallel diesen niedrigen Bergen ziehen sich aus der linken Oderuferseite
die Sudeten hin, die in ihren verschiedenen Teilen, nämlich dem Jfergebirge
mit der Tafelsichte, dem Riesengebirge, dem Waldenburger-, dem Glatzer-
gebirge, die Provinz nach Osterreich hin ungefähr abschließen. Die Oder, welche
das Land durchzieht, teilt es in eine rechte und in eine linke Hälfte.
Die Provinz Schlesien besteht aus dem 1742 preußisch gewordenen Herzog-
tum Schlesien mit Ausschluß des im Jahre 1815 dem Regierungsbezirke Frank-
furt a. d. O. einverleibten Kreises Schwiebns; aus der Grafschaft Glatz, dem
1815 vom Königreich Sachsen an Preußen gekommenen Anteile der Oberlausitz
und einem kleinen Teile der Neumark, dem Städtchen Rothenburg a. d. O. mit
einigen Dörfern. Es wird begrenzt im Norden von den Provinzen Branden-
bürg und Posen, im Osten von Posen, Rnssisch-Polen und Galizien, im Süden
von Osterreichisch-Schlesien, Mähren und Böhmen, im Westen von dem König-
reich und der Provinz Sachsen. Die Provinz zerfällt in drei Regiernngs-
bezirke, nämlich Breslau mit 24, Liegnitz mit 21 und Oppeln mit 19 Kreisen.
Das Land des Regierungsbezirks Oppeln nennt man auch Oberschlesien, das
von Breslau Mittel-, das von Liegnitz Niederschlesien.
Schlesien ist im Reichstage durch 35 Abgeordnete, im Herrenhause durch
52 Mitglieder, im Hause der Abgeordneten durch 65 Abgeordnete vertreten.
Der Oberpräsident der Provinz hat seinen Sitz in Breslau; ebendaselbst befinden
sich die Provinzial-Steuerdirektiou, das Mediziual-Kollegium und das Provinzial-
Schulkollegium. Die Provinz besitzt eine Universität zu Breslau, eine land-
wirtschaftliche Akademie mit einem pomologifchen Institut zu Proskau, 36
Gymnasien, 8 Realgymnasien, 3 Progymnasien und 3 Realprogymnasien,
2 Oberrealschuleu, 6 höhere Bürgerschulen, 15 Schullehrerseminare, 7 Prä-
parandenanstalten, 7 Lehrerinnenseminare und 2 landwirtschaftliche Schulen,
3 Taubstummen- und 1 Blindeninstitut. Für die Leitung der geistlichen An-
gelegenheiten der Evangelischen besteht das Königliche Konsistorium in Breslau.
Die Katholiken sind in Kirchensachen dem Fürstbischof von Breslau untergeordnet;
doch steht die Grafschaft Glatz unter dem Erzstift Prag und der Distrikt Katscher
im Kreise Leobschütz unter dem Erzstift Olmütz. Bon den Einwohnern sind
1 867 459 Protestanten, die Zahl der Katholiken beträgt 2 082 084 und 52682
sind Juden. Zu den Protestanten gehören die Herrnhuter in Niesky und
Neusalz, Gnadenberg, Gnadenfrei und Gnadenfeld und die Hnssiten in Hussinetz
und Podiebrad, Friedrichsgräz und Friedrichstabor.
In militärischer Beziehung bilden die Regierungsbezirke Breslau und
Oppeln den Rekrutierungsbezirk des sechsten Armeekorps mit dem General-
kommando in Breslau; der Regierungsbezirk Liegnitz ist mit demjenigen von
Posen zum Rekrutierungsbezirk des fünften Armeekorps mit dem General-
kommando in Posen vereinigt.
Bodenbcschaffenheit. Vegetation, Viehstand u. f. w. 33
Godenbeschaffenheit, Vegetation, Viehstand, Klima, Straßen, Verkehr
und Sevötkerung. Der nach der Provinz Brandenburg hin liegende Teil
Schlesiens, die Gegend nördlich von Liegnitz, Bunzlan und Görlitz, ist sandig
und wenig ergiebig. Da wachsen in trauriger Sandöde und moorigen Heide-
strichen düstere, einförmige Kiesern, niedriges Preißel- und Heidelbeergesträuch,
viel Farn- und Heidekraut. Fast dieselbe Beschaffenheit zeigt der rechts von
der Oder liegende Teil des Regierungsbezirks Oppeln. Dagegen ist die Gegend
nach dem Gebirge hin, gewöhnlich die linke Oderseite genannt, überaus fruchtbar
und lohnt den Fleiß des Landmanns durch reichlichen Ertrag. Auch das Flach-
land des rechten Oderufers von Breslau aus nach Nordosten (über Wohlau nach
Militsch) und nach Südosten (nach Namslau) hat mäßig fruchtbaren Boden.
In Schlesien werden alle in Deutschland vorkommenden Getreidearten
und Futterkräuter gebaut; das Bedürfnis der Provinz wird völlig gedeckt; von
einzelnen Gattungen kann ein Teil des Ertrages ausgeführt werden. Im Ge-
müfebau zeichnen sich die Umgebungen von Breslau. Ohlau, Brieg, Guhrau und
Liegnitz aus; Tabak wird in Öls, Ohlau und Ratibor gebaut. Sehr alt und
umfangreich ist der Flachsbau im Gebirge und auf dem flachen Lande; ein großer
Teil der in den Fabriken verarbeiteten Runkelrüben wird auf Schlesiens Feldern
gewonnen. Hopfen wird wenig gebaut. Weinbau wird in den Kreisen Neu-
markt, Wohlau, Brieg, Beutheu, besonders in der Umgegend von Grünberg
betrieben. Der Ertrag in Wein wird seltener gekeltert, meistens vielmehr als
Obst ausgeführt. Der Traubenversand Grünbergs ist bedeutend; es werden
jährlich gegen und über 50 000 Kistchen im Durchschnittsgewicht von je 5 kg
mit der Post befördert, und ebenso groß ist der Versand durch die Eisenbahn.
An Waldungen enthält die Provinz 1,2 Million Hektar, d. h. 30 % der
Gesamtfläche; die Bezirke Liegnitz und Oppeln gehören zu den waldreichsten
des Staates. In den Forsten ist das Nadelholz, und zwar im Flachlande die
Kiefer, im Gebirge die Fichte und Tanne, vorherrschend. Eichen- und Buchenwald
nehmen nur 12 °/0 der gesamten Forsten ein; der Eichwald kommt namentlich im
Bezirk Breslau vor.
Über den Viehbestand Schlesiens berichten die letzten amtlichen Feststellungen,
daß es in der Provinz 264440 Pferde, 1,4 Million Rindvieh, 2,2 Million
Schafe, 380 000 Schweine, 153 000 Ziegen, 139 000 Bienenstöcke gibt. In
Oberschlesien wird meist das dürftige polnische Pferd gehalten, vor dem sich
das kräftige, niederfchlesische Bauernpferd vorteilhaft auszeichnet. Die Rind-
Viehzucht ist in den fruchtbaren Strichen des linken Oderusers sehr bedeutend;
die Schafzucht ist schon früh mit Eifer gepflegt worden, ihren Hauptaufschwung
nahm sie mit der von Friedrich II. begünstigten Einführung des spanischen
Merinoschafes. Dieses Schaf ist in Schlesien so gut gediehen (zwei Drittel der
Schafe), daß die schlesische Merinowolle mit zu den besten gehört. Der Bienen-
zncht wird seit langer Zeit, besonders im Liegnitzer Bezirke, vorzügliche Sorg-
falt zugewandt; der Jahresertrag an Honig wird aus diesem Bezirke allein auf
mehr als 52 000 Mark geschätzt.
In klimatischer Beziehung nimmt Schlesien unter den preußischen Pro-
vinzen eine Mittelstellung zwischen den wärmeren Rheinlanden und den kälteren
Provinzen an der Ostsee ein. Gegenüber dem nördlicher gelegenen Branden-
bürg hat Schlesien meist etwas strengere Winter. Breslau, in der Mitte der
Deutsches Land und Volk. VIII. 3
34 Das jetzige Schlesien.
schlesischen Ebene gelegen, hat eine mittlere Jahreswärme von -j-6,zz"R.,
Landeshut dagegen nur -f- 4,9 0 R., Ratibor -\- 6,32 0 R, In Schlesien herrschen,
wie im übrigen Deutschland, während des ganzen Jahres im Gebirge und in
der Ebene Westwinde vor. Im Gebirge beginnen die Ernten etwa drei Wochen
später als im Flachlande. Mineralquellen finden sich in dem Hügel- und Berg-
lande der Provinz in großer Zahl; viele derselben werden zu Bade- und Kur-
zwecken benutzt und haben einen über die Grenzen der Provinz hinaus reichenden
Ruf erlangt. Es sind dies vorzugsweise die eisenhaltigen Quellen zu Cudowa.
Niederlangenau und Reinerz in der Grafschaft Glatz, Charlottenbrunn, Flins-
berg am Riesengebirge und das weit bekannte Hermansbad bei Muskau, ferner
die -j-29° bis -j-30°R. haltenden Quellen zu Warmbrunn, die erdig-falinifchen
Schwefelquellen zu Landeck und die zu den alkalisch-salinischen Säuerlingen
gehörigen Quellen von Salzbruun.
Als Verkehrsstraßen dienen Flüsse, Kanäle, Kunststraßen und Eisenbahnen.
An Kanälen besitzt die Provinz nur den 45,5 km langen Klodnitzkanal, der von
Gleiwitz aus beginnt, bei Kosel die Oder erreicht, von der Klodnitz gespeist wird
und hauptsächlich zur Beförderung der Produkte des oberschlesischen Berg- und
Hüttenbaues nach der Oder benutzt wird, und außerdem den 22 km langen,
nur flößbaren Poppelauer Kanal zwischen der Oder und der Stober.
Die bedeutendste Wasserstraße der Provinz ist die Oder. Dieser Fluß durch-
strömt Schlesien auf eine Länge von 461,43 km und wird von Ratibor ab auf
429,z km schiffbar, oberhalb dieser Stadt nur flößbar; auch von den Nebenflüssen
der Oder sind einige auf kurze Strecken mit Schiffen zu befahren, die meisten
können nur für Flöße benutzt werden. Die Flüsse des Elbgebietes, Jser, Spree,
Schwarze Elster, und der Fluß des Donaugebietes, die March, kommen, soweit
sie Schlesien angehören, für den Verkehr nicht in Betracht. Auch die Weichsel
berührt mit ihrem Nebenflusse Przemsa die Provinz an der Grenze und ist auf
eine Länge von 37,7 km schiffbar.
An Kunststraßen sind in Schlesien vorhanden 5400 km (1875: Chausseen
2920km), die Eisenbahnen haben eine Gesamtlänge von 2550km (1374), die
sich auf fünfzehn Bahnverwaltungen verteilen. Bereits 1387 bestanden von
den Kausleuten unterhaltene Botenkurse von Breslau nach Brieg, Ottmachau,
Liegnitz, Oppeln. Im 16. Jahrhundert sandte Breslau seine Boten bis nach
Leipzig, Danzig, Nürnberg und Krakau. Die Oberleitung wurde 1573 einem
sogenannten Botenherrn übertragen, unter welchem damals 40 Boten standen.
Gleichzeitig wurde eine Botenordnung erlassen. Aus einer Bearbeitung der-
selben vom 9. März 1635 geht hervor, daß den Boten auch die Mitnahme
von Paketen, nicht aber von Geldern, unter der Bedingung gestattet war, daß
sie hierdurch auf der Reise nicht behindert würden. Später wurden innerhalb
der Provinz Fußboten, nach den entfernteren Orten fahrende Boten gesendet.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts scheint die kaiserliche Post in Schlesien
festen Fuß gefaßt und den größeren Verkehr an sich gezogen zu haben. Neben
ihr wurden zur Besorgung der Briefe die Boten noch längere Zeit beibehalten.
Im Jahre 1713 verkehrten nach dem damaligen Postbericht wöchentlich zehn
verschiedene Posten. Als Schlesien unter preußische Herrschaft kam, ließ Friedrich
der Große das Postwesen der Provinz nach preußischem Muster einrichten;
doch behielt es zunächst noch seine Selbständigkeit und wurde dem Präsidenten
Schlesische Mundart. 35
der Provinz und der Kammer in Breslau unterstellt. Diesd Sonderstellung
des schlesischen Postwesens hob Friedrich der Große 1769 aus. Den Verkehr
sörderten Schnellposten, die 1821 eingerichtet wurden und zunächst Breslau
mit Berlin in bessere Verbindung brachten, Eisenbahnen, deren erste, die ober-
schlesische, am 22. Mai 1842 eröffnet wurde, und Telegraphenlinien, deren
erste 1849 eingerichtet wurde und Breslau mit Berlin in Verbindung setzte.
Jetzt hat Schlesien Telegraphenlinien in ungefähr 3500 km Länge.
In Schlesien ist mehr als drei Viertel der Bevölkerung deutscher Ab-
stammung; ein nicht geringer Teil derselben besteht aus Slawen, welche den
Stämmen der Wenden, Polen, Böhmen und Mähren angehören. Die Wenden
wohnen ausschließlich in der Lausitz, und zwar in den Kreisen Rothenburg und
Hoyerswerda; sie sind meist evangelisch und halten noch treu an der Sitte und
Sprache ihrer Väter fest, sind dabei aber auch der deutschen Sprache mächtig.
Es gibt in Schlesien rund 16 000 wendische Familien mit 80 000 Köpfen.
Die Polen nehmen vorzugsweise das südöstliche Oberschlesien bis zum Einfluß
der Weida in die Oder ein, sind aber auch, obschon in geringerer Zahl, auf
dem linken Oderufer angesessen; sie sprechen eine eigne Mundart des Pol-
nischen, das Wasserpolnische, und zählen etwa 145 000 Familien mit 715 000
Köpfen. Deutsch sprechende Böhmen finden sich in einzelnen Ansiedelungen über
die Provinz zerstreut; etwa 6000 Tschechen zählt man in der Grafschaft Glatz
um Lewin und Cudowa. Mähren, etwa 46 000 Köpfe, haben ihren Wohnsitz in
den Kreisen Ratibor und Leobschütz; sie sprechen zum großen Teil auch deutsch.
Schleiche Mundart. Die deutsche Bevölkerung spricht in den Städten
größtenteils hochdeutsch; auf dem Lande bedient sich dieselbe verschiedener, aber
verwandter Mundarten, die auch der Städter versteht und zum Teil sogar sprechen
kann. Die Spracheinheit, die uns unentbehrlich geworden ist, besteht für die
Rede des Staates und der Kirche, der Wissenschaft und des höheren geistigen
Lebens der deutschen Nation, die Dialekte werden vom Volke gesprochen; fast
jeder kennt neben seiner Buch- und Schulsprache den Volksdialekt. Die schlesische
Mundart ist keineswegs eine aus Stammesunterschiede begründete, ursprüngliche
und selbständige, sie ist vielmehr eine aus dem Zusammenwirken verschiedener
geschichtlicher und sprachlicher Ursachen erst ziemlich spät entstandene und fertig
gewordene Mischung ober- und niederdeutscher und slawischer Sprachelemente.
Der schlesische Dialekt ist also ein Mischdialekt, ganz wie das Schlesiervolk ein
Mischvolk ist; denn einen Stamm der Schlesier kennt die deutsche Völkertafel nicht.
Aus der gegenwärtigen Mundart, aus manchen Sitten und Gewohnheiten
der Schlesier gewinnt man die Überzeugung, daß die große Mehrzahl der
deutschen Einwanderer aus fränkischen Gegenden, vom mittleren Rhein und vom
Main, nach Schlesien gekommen sein muß. Durch ihre Menge wurde zugleich
die spärliche und ältere Einwanderung von der Nordsee her zurückgedrängt oder
durch Vermischung weniger kenntlich gemacht. Die Sprachen der verschiedenen
Kolonisten vermischten sich allmählich miteinander und gaben dem schlesischen
Dialekte das ihm eigentümliche Gepräge. Da viel Slawen in Schlesien blieben,
so hat die schlesische Mundart eine große Zahl slawischer Ausdrücke in sich
aufgenommen und verarbeitet. Wie sich das Deutsche mit dem Polnischen mischt,
wie der Pole schlesisch spricht, läßt sich noch heute in allen den Gegenden
3*
36 Das jetzige Schlesien.
beobachten, in denen sich beide Sprachen als Nachbarn bekämpfen. Arvin schildert
einen Streit beim Spiel in der Vorstadt von Namslau mit folgenden Worten:
A. „Bist du nich Trums gegeben zu,
Du sakrimentscher Kerla du?
Bist du sich schönes Bruder.
Kannst du sich spilleu du alleen,
Mein Gelden Hab ser dich ich keeu,
Bist ein vertroguer — Luder."
Ans diese Worte antwortet
B. „Bin ich dich was gestohlen? Nee.
Hab' ich dich ooch nischt schuldig — geh;
Wo willst? Fer su ich danken.
Wor's amol spillst, machst Lärm ock du,
Spektakel grüßen immerzu,
Hast sich halt Freud' au Zaukeu."
Der Mischung mit dem Slawischen verdankt die fchlesische Sprache den
ihr eigentümlichen Tonfall; und daher kommt es, daß die Sachsen, die Meißner
und Oberlausitzer, deren Sprache in ganz Deutschland als ein Singen bezeichnet
wird, den Schlesiern das Singen vorwerfen. Ihr Ohr hört in der That eine
Art von Gesang, wenn der Schlesier mit feiner dentsch-polnifchen Zunge zu
sprechen anfängt.
Es ist eine bekannte Thatfache, daß alle Dialekte verschiedene Färbungen
in Entfernungen von etwa fünf Meilen annehmen; nicht selten bildet ja schon
ein Dorfbach die Grenze zwischen verschiedenen Sprechweisen. So kann es
vorkommen, daß zwei Urschlesier, z. B. ein Landmann aus Katscher in Ober-
schlesien und einer aus Glogau, einander nicht mehr recht verstehen; kann ja
doch mancher Schlesier selbst mit dem Hochdeutschen nicht gut zustande kommen.
Dennoch ist trotz großer Verschiedenheit ein einheitlicher, in ganz Schlesien
heimischer und überall verständlicher Geist und Klang der Sprache vorhanden.
Diese gemeinsame fchlesische Sprache wird gewöhnlich Gemeinschlefisch genannt
und namentlich von den Kleinstädtern gesprochen; sie hat viel vom Hochdeutschen
angenommen und kann nicht mehr echt schlesisch genannt werden.
Wie die deutschen Dialekte nach Höhe und Tiefe der Landschaft, in der sie
gesprochen werden, auseinander gehen, so sind auch beim schleichen zwei große
Gruppen zu unterscheiden: der Dialekt des Gebirges und der des Flachlandes
oder die Sprache des Oberländers und die des Niederländers. Diese Einteilung
hat das Volk selbst gemacht; denn der Mann im Flachlande redet vom „Anber-
länder", der Gebirgsbewohner witzelt auf Kosten der „Neiderländer". Beide
Sprachgruppen sind in sich natürlich wieder sehr verschieden geartet.
Die Sprache des Gebirges ist eng und knapp, die Doppellaute werden
vielfach zu einfachen Vokalen, die Endung en wird zu a. Das Schlestsche des
Flachlandes hat eine entschiedene Neigung und Vorliebe zu den breiten Vokalen
ei und au. Für beide Gruppen sind Necksprüche vorhanden, die das Charak-
teristische ziemlich treffend wiedergeben. Der Flachländer wirft dem Gebirgs-
bewohner vor, er sage: Ala Nala hala nee, neua Nala hala a nee (Alte Nägel
halten nicht, neue Nägel halten auch nicht). Den Niederländer fragt man im
Karl von Holtei. 37
Scherz: Geiste meite eiber de Ander? (Gehst dn mit über die Oder?) Oder
man singt ihm vor: Mei Daurel gleib's, eich bei dir gand (MeiuDorchen glaub's,
ich bin dir gut). Vergegenwärtigen können wir uns die Verschiedenheit der
Mundarten am besten an einem bestimmten Satze. Robert Rößler hat in seiner
Abhandlung über die schlesische Mundart in seinen „Schnoken", welche dieser
Erörterung zu Grunde gelegt ist, den Satz gewählt: „Ich hatte den Braten
schon gerochen." Dieser Satz heißt im Städter-Gemeinschlesisch: „Jhch Hot a
Braten schon gerochen"; im Niederländischen: „Eich hott a Brauten schau ge-
rochen"; im Oberländischen: „Ich hott a Brota schnnt gerncha."
Einige Eigentümlichkeiten des Schleichen sind: Jedes Präsens wird durch
Vorsetzung der Silbe ge zum Substantiv, z. B. doas Geflenne (weinen), doas
Gesolboadre (Albernes reden), doas Genoatsche (weinen). An die Stelle von
ü tritt i, an die von ö ein e oder ä, z. B. Keenig (König), Geethe (Goethe),
scheen oder schien (schön), Kräte (Kröte), Glick (Glück), Bricke (Brücke), dricken
(drücken). Statt pf wird s oder pp gesetzt, z. B. Fard (Pferd), kloppen (klopfen).
Statt des fragenden Wessen braucht man den Dativ mit s, z. B. Wessen ist
der Hund da? = Wams ihs denn dar Hund do? Oft tritt der Artikel zu
Ortsnamen, und auf die Frage wohin? steht meist die Präposition auf (uf),
z. B. uf Braffel (nach Breslau), ei de Ohle (nach Ohlan), ei de Schweinz (nach
Schweidnitz), uf Pläkahoau (nach Kottenhain).
Häufig finden sich „und" und „daß" eingeschoben, ohne in die Kon-
struktion hineinzupassen, z. B. Wennste, doßte und du bist nich stille, do schloa
ich = Wenn du nicht stille bist, so schlage ich.
Verwundert sieht vielleicht mancher Reisende seinen Führer an, wenn
dieser ihm das Ränzel abnehmen will mit den Worten: „Gaba Se og das
Paxla har, ich wars schun no streita! Gleba Se mers og, ich wars schnn no
zwinga." (Geben Sie mir nur das Päckchen her, ich werde es schon noch streiten,
d. h. fortbringen! Glauben Sie mir nur, ich werde es schon noch zwingen,
d. h. bewältigen.)
Karl von Holtei. „Wahre Poesie", sagt Rößler in der Einleitung zu
seinen Schnoken, „ist immer die Sprache des Herzens; und wollen wir dem
Landmanne nicht jedes Gefühl absprechen, so können wir auch nicht leugnen,
daß er über die edelsten Regungen und innersten Empfindungen seiner Seele
sich am besten, wahrsten und schönsten in der ihm gewohnten Sprache aus-
drücken wird. Wie dem Bauern seine Volkstracht am besten läßt, und wie
ihn städtische Kleiduug nicht selten zur Karikatur macht, so kleidet ihn auch
seine Mundart, die Sprache, die er von Jugend auf gesprochen, lieblicher, als
wenn er es versucht, auf Hochdeutsch zu radebrechen; in der Sprache seines
Herzens drückt er seine Gefühle zwanglos natürlich und charakteristisch aus;
und der echte Volksdichter hat nichts andres zu thun, als dem Volke nachzn-
fühlen und nachzusprechen." Ein solcher Volksdichter wollte Karl von Holtei
sein, als er im Jahre 1830 mit seinen schleichen Gedichten an die Öffent-
lichkeit trat.
Der Breslauer Alte, wie Holtei in den letzten Jahren seines Lebens ge-
wöhnlich genannt wurde, erblickte das Licht der Welt am 24. Januar 1793
zu Breslau, besuchte die dortigen Schulen, zuletzt das Magdalenen-Gymnafium,
38 Das jetzige Schlesien.
trat im Jahre 1815 als Freiwilliger in das Heer, verließ bei Abschluß des
Friedens die militärische Laufbahn und begann in seiner Vaterstadt juristische
Studien, die er 1819 aufgab, um sich dem Theater zu widmen, zu welchem
er eine leidenschaftliche Neigung hatte, die er trotz aller Abmahnungen seiner
Angehörigen nicht überwinden konnte. Sein Auftreten auf der Bühne in Dresden
war so wenig von glücklichem Erfolg, daß er der Bühne als aktiver Künstler
entsagte und eine längere Reihe von Jahren als Theaterdichter in Breslau,
Berlin und Darmstadt wirkte und durch Vorlesungen dramatischer Meisterwerke
überall reichen Beifall einerntete.
Im Jahre 1833 betrat er wieder die Bühne, machte verschiedene Kunst-
reisen, übernahm die Leitung eines Berliner Theaters, dann die der Breslauer
Bühne, begab sich darauf wieder auf Reisen, trat teils als Schauspieler, teils
als Vorleser auf, gefiel auf der Bühne meist nur in seinen eignen Dramen,
lebte dann mit litterarischen Arbeiten beschäftigt an verschiedenen Orten, viel
in Graz, zuletzt in Breslau, wo er am 12. Februar 1880 starb.
Gern weilte Holtet in dem Städtchen Obernigk, dem Flecken Erde, das
sich der Dichter von Kindheit an zum Lieblingsaufenthalt auserkoren hatte.
Obernigk gehört zum Trebnitzer Kreise und liegt am südlichen Abhänge der
Trebnitzer Höhen in angenehmer, an Nadelholzwaldungen reicher Gegend. Ein
Teil der Einwohner lebt von der Bewirtung der Fremden, welche, namentlich
aus Breslau, der erfrischenden Waldluft wegen in Obernigk Sommeraufenthalt
nehmen und die seit 1835 in dem zum Ortsbezirke gehörigen Dorfe Sitten
bestehende Wasserheilanstalt benutzen. Von den bis zu 246 m emporsteigenden
Anhöhen um die Stadt bietet sich eine lohnende Fernsicht über einen ziemlich
großen Teil Mittelschlesiens.
Nach Obernigk eilte Holtet oft, denn die Sehnsucht nach seinem geliebten
Schlesien durchzog wie ein lichter Faden sein trübes Wanderleben. Erleichtert
bezog er dann das Häuschen, das noch heute die von ihm gepslanzte Rottanne
als lebendes Denkmal an ihn beschattet, durchstreifte den schattigen, Duft
hauchenden Wald und klagte den Bäumen seinen herben Kummer in der Fremde.
Dann kräftigte die würzige Luft den Wandermüden und stählte ihn mit neuem
Mut zu neuem Ringen; dann sang er aus vollem Herzen:
„Dorsel, wie lachst de mich an, und Abend, wie bist de su samfte,
Sumte, wie färbst de su blank de Wälder; und Lüstel, wie reene
Zieht i'r um Garten und Zaum! . . . mei' Herze, wie bist de su glücklich!
Schläsing, Mutterland du, dihch lieb' ihch immer; dihch lieb' ihch,
Eb ihch in Grafenort stih' us starren Gebirgen und Felsen?
Eb ihch in Obernigk gih durch sandiges Kiefergebüsche?
Üben und unten und hie und do wie überal meen' ich,
Daß ihch derheeme bihn!? ... In Schläsing bin ihch derheeme!" —
Nächst Obernigk trieb ihn die Sehnsucht nach seinem lieben Brassel (Bres-
lau), dessen schöne, über den Trümmern der Festung emporgeblühte Promenaden
nicht minder sein Lieblingsaufenthalt waren. Als Knabe sah er die Wälle
stürzen, als Jüngling die Anlagen aufkeimen und konnte als Mann im Jahre
1828, als ihn feine Sehnsucht aus Berlin nach Breslau getrieben, von der
Ziegelbastion herab singen:
Karl von Holtei. 39
„Wie hast de dich doch seit verfluss'nen Jahren
Su ümgewendt, schermantes Brasset du!
Was hast de nich für Ungemach erfahren
Und justement das sätzte dich in Ruh'!
De Festung han sc reene weggeschtissen
Und Finken seifen, wu sust Kugeln sisfen.
Zengstrüm bliehn Blumen uf der ganzen Plaue
Und wu ma zieht, ihs alles frisch und ^grien;
Im Walle schwimmen de schlohweißen Schwane,
Ma sit se mid a Wasserhiehndeln ziehn,
Do hat i'r Gänge, krumme und ooch grade,
In deutscher Sprache heeßt's: de Prumeuade."
So klang es hernieder von der Ziegelbastion, die jetzt das Denkmal auf-
nimmt, welches das dankbare Schlesien seinem Sänger weiht.
Karl von Holtei.
Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte Holtei in dem Zimmer
Nr. 21 im zweiten Stock des nach dem Garten gelegenen Flügels des Klosters
der barmherzigen Brüder in Breslau, gepflegt von lieben, von Eigennutz nicht
geleiteten Händen. Am 12. Februar 1880, nachmittags um 5 Uhr, schloß
sich das schmerzverschleierte Auge des müden Wanderers für immer. Welche
Erinnerungen haften an diesem Zimmer Nr. 21! Drei Jahre lang weilte der
„Alte" hier. In diesen vier Wänden, die er fast nie verließ, feierte er am
24. Januar 1878 seinen achtzigsten Geburtstag. Von vielen Orten Schlesiens
und weit außerhalb Schlesiens trafen innige Glückwünsche und zahlreiche Be-
weise herzlichster Teilnahme ein. Doch nur wenige Begünstigte ließ der Jubilar
40 Das jetzige Schlesien.
an dem bedeutungsvollen Tage zu sich; denn er liebte die beschauliche und
ungestörte Einsamkeit in so hohem Grade, daß er es nicht einmal gern sah,
wenn ihn der dirigierende Anstaltsarzt täglich besuchte und sich nach dem Be-
finden des geschätzten Pensionärs erkundigte. Oft gab er seinem Unwillen über
diesen Besuch auch unverhohlen Ausdruck. Selbst der schmackhafte Apfelkuchen
von Perini, ein Lieblingsessen Holteis, welchen ihm der Arzt jedesmal als ein
Geburtstagsgeschenk verehrte, vermochte nicht in dieser Beziehung auf die Ge-
sinnung des Dichters mildernd einzuwirken.
Auch die Brüder, seine gewissenhaften und aufopfernden Pfleger, fanden
selten Gnade in seinen Augen. Eine Ausnahme nur machte Bruder Klemens,
der sich den Sonderbarkeiten des oft krankhaft erregten Greises so zu fügen
wußte, daß ihn dieser zu seinem auserkorenen Lieblinge erhob; er allein ver-
stand es, das Wogen des oft erregten Gemütes zu besänftigen. Holtet gab
seiner Erkenntlichkeit gegen seinen Liebling dadurch Ausdruck, daß er ihm seine
goldene Taschenuhr, welche als Andenken an rosige Tage ihm stets am Herzen
lag, zur Erinnerung an seine Klosterzeit letztwillig zuwendete.
Wie sehnsüchtig Holtet seiner Auslösung entgegensah, geht aus seinen
Äußerungen gegen Bruder Klemens hervor; auch beweist dieses seine Sorgfalt
um die Anordnung seines Begräbnisses. Bis auf die kleinsten Details be-
stimmte er über sein Leichenbegängnis. Sogar mit Witz und Laune wußte er
in besseren Stunden über diesen ernsten Gang zu sprechen. Als ihm die Brüder
den Vorschlag machten, er solle bestimmen, daß man bei seinem letzten Scheiden
aus dem Kloster an der Pforte die Melodie seines Mantelliedes intoniere, sagte
er: „Keineswegs. Ich wünsche, daß mir die weit geeignetere Melodie gespielt
wird: Ach, du lieber Augustin, alles ist weg." Doch es wurde dann doch die
Melodie des Mantelliedes gewählt.
Als dieses Lied an jenem für ganz Schlesien so schmerzlichen Tage von
den Trompetern der schleichen Kürassiere angestimmt ertönte, während der
von Palmenzweigen und Lorbeerkränzen ganz verdeckte Sarg aus der Pforte
des friedlichen Heims getragen wurde, da war fast kein Auge der vielen
Tausende, welche das Kloster umstanden, thränenleer. Selten hatte ein Fürst
sich eines so zahlreichen, so innig anteilnehmenden Gefolges zu rühmen.
Langsam bewegte sich der Trauerzug dem Bernhardinkirchhose bei Rothkretscham
entgegen, wo das offene Grab den müden Sänger gastlich aufnahm. Diese
Ruhestätte bezeichnet jetzt ein einfacher aufrecht stehender Grabstein aus rotem
Granit, eine Gabe der liebenden Tochter. Außer der Angabe des Geburts-
uud Todestages trägt er nur die Überschrift eines der Gedichte Holteis: „Suste
nischt ack heem" (Sonst nichts als heim). Kein lobsingendes Epitaphium hätte
wohl so beredt sprechen können als diese einfachen Worte, welche der ungetrübten
Liebe des Dichters zu seinem Schlesien lebenden Ausdruck geben.
Die Holtei-Büste wurde von dem namhaften Bildhauer Rachner verfertigt.
Der Künstler hat seine Aufgabe vortrefflich gelöst; er hat es bestens verstanden,
nicht nur die äußere Hülle porträtähnlich wiederzugeben, sondern auch das
seelische Leben wirkungsvoll und charakteristisch zur Geltung zu bringen. Mög-
lich ist dies dem Künstler geworden, weil er mit dem Breslauer Alten seit dem
Jahre 1360 befreundet gewesen war und im Laufe der Jahre das „bemooste
Haupt" öfter plastisch dargestellt hat.
Karl von Holtci. 41
Das beste Denkmal Holteis, welches die Rottanne in Obernigk, den Granit-
stein auf dem Bernhardinkirchhofe und selbst die Büste Rachners überdauern
wird, hat sich der Dichter gesetzt in seinen „Schlesischen Gedichten" im Jahre
1830. „Es gehörte der ganze Mut eines Mannes dazu", sagt Rößler, „da-
mals mit schlesischen Gedichten an die Öffentlichkeit zu treten; die Verachtung
der sogenannten Bauernsprache war gar zu groß. Eine hochgestellte Persönlich-
keit nnsrer Provinz äußerte sich, wie mir der Dichter in seiner originellen Weise
selbst erzählt hat, etwa folgendermaßen: „DerHoltei ist ja ein recht guter Kerl,
seine kleinen Lustspiele sind ja auch recht nett; aber mit seinen Schlesischen Ge-
dichten hat er doch eigentlich die ganze Provinz vor Deutschland lächerlich
gemacht." So groß war das Vorurteil gegen die Volkssprache damals, und
es ist, leide? muß es gesagt werden, gerade bei einem großen Teil der söge-
nannten Gebildeten heute noch nicht ganz geschwunden. „Es gibt auch heute
noch Leute", wie Claus Groth sagt, „welche es für eine Frechheit erklären, Bücher
zu schreiben in der Sprache der Gasse und der Schenkstube; aber glücklicherweise
gibt es auch solche, denen sogleich die Thränen der Rührung in die Augen
treten, wenn sie in wohlgesetzter Rede die Töne vernehmen, die ihnen wie die
Jugend teuer und wie sie entschwunden sind." Es bleibt also Holteis unbe-
streitbares Verdienst, einmal daß er diesem ertötenden Vorurteil mutig und
furchtlos entgegengetreten ist, sodann daß er das Fühlen und Denken des schle-
stschen Volkes in schlesischer Sprache glücklich wiedergeschaffen hat und somit
ein Bahnbrecher für alle Zukunft geworden ist." Holtei kennt das schlesische
Volk und seine Stimmungen, und diese bringt er in seinen „Schlesischen Ge-
dichten" zur Anschauung und trifft den Volkston mit großem Glück; er ist mit
dem Volke ernst und heiter, traurig und munter, wie es sich gerade trifft, aber
immer einfach und vom Herzen zum Herzen sprechend. Mit diesen Liedern
hat er sich zuerst Schlesien, dann ganz Deutschland erobert, zuerst langsam
{1. Aufl. 1830, 2. Aufl. 1850, 18. Aufl. 1883.), dann immer schneller. Zwei
Gedichte werden genügen, uns einen Blick in das Herz des Dichters thuu zu
lassen und uns zu eifrigem Lesen der ganzen Sammlung zu bewegen. Ein
Gedicht aus dem Jahre 1828 schildert uns die aus dem Riesengebirge ab-
ziehenden Leinweber, die sich in Rußland eine neue Heimat suchen, aber ihr
„Schläsing" nicht vergessen:
De Leinwäber.
„Ich kam 'a Weg vum Riesenkamm
Und ging uf's Warmbad zu;
Do traf ich auue lange Schar,
Wu Man' und Weib beisammen war,
Und Kinder ohne Schuh'!
Sull's ärndt wul anne Wohlfahrt sein?
Se ha'n kee' Fahndet nich',
Kee Kreutz vuran, kee' Sang und Klang,
Su ziehn se ihren stillen Gang,
's is' urndlich ängstiglich.
Se tra'n ihr Bissel Sack und Pack
Und schleppen rasnig schwär'!
Nu' Leutel sa't, wu giht's denn-t-hin?
Ihr t'utt wul ei de Fremde zieh'n?
Und red't, wu kummt i'r här?
Ber kummen vohn 'a Bärgen här,
Ber zieh'n ei's Polen 'nei;
Ber sein urnär schund matt vur Ruth,
's is' gor a' hungrig Stücket Brut,
De schläs'sche Wäberei.
Im ru'scheu Polen ga'n se uns
Jedwedem a' Stück Land;
Do wull' ber uu' in's Flache ziehn
Und lassen ünse Bärge stihn —
Härr Got', dir is's bekannt.
Adjees du liebes Vaterland,
Du Schläsing, gude Nacht!
Säht euch ak üm, su lange 's giht,
Und säht, wu ünse Kuppe stiht
Und ei' der Snnne lacht.
llrtb wenn 6er in der Fremde sein, Und wenn uns Gol' se'n Seegen schenkt,
Wn keener schläsing'sch spricht, D'erwäben wer 'was Geld;
Und wäben rn'sche Faden ein, Das nähmen sich de Kinder an
Sol' jeder a' Gedanke sein, Und ziehn, su fix wie jedes kan',
Nach Schläsing hingericht't. Furt ans der fremden Welt.
Und kummen se hie' här retur
Und sahn de Kuppe stih'n,
Do, wenn se, daß se halbig sein,
Knmmt's Härze ei' de Oogen 'nein
Und t'ntt i'n'n übergihn."
Wie sehr sich der Dichter freuen kann, wie er gern harmlos scherzt, er-
sehen wir aus dem Gedichte:
Frumme Wünsche.
„Und vum Uchse de Kraft Wie a' Löwe an Mutt,
Und vum Sperrlich 'a Saft, Wie a' Bählamm su gutt,
Und vum Marder 'a Zahn, Und su flink wie a' Querl
lind do war' ihch a' Mahn! Und do wär' ihch a' Kerl.
Annen Bart, wie 'a Bnck Wie a' Hirsch nie nich' niatt,
Und an'n Zippelpelz-Ruck Wie a' Schlampeißker glatt,
Wie a' Zeiske su grien' Wie Schalastern gescheidt
Und do wär' ihch wul schien'! Und do käm' ihch wul weit.
Und de Nase vum Fuchs, Oder 'sch kan' nu' nich' sein,
Und de Oogen vum Luchs, Und do sind' ihch mihch 'nein,
Und de Beene vnm Färd, Und ihch bleib' wie ihch bihn
lind do wär' ihch 'was wärth! Und 's muhß haldig ooch gihn."
Nicht nur die „Schlesischen Gedichte" Holteis verdienen gelesen zu werden;
auch viele Gedichte in hochdeutscher Mundart sind lesenswert und seit vielen
Jahren Eigentum des deutschen Volkes geworden, z. B. „Denkst du daran,
mein tapfrer Lagienka?" und „Schier dreißig Jahre bist du alt" und „Fordre
niemand, mein Schicksal zu hören".
Auch seine Romane haben vielen Lesern angenehme Stunden bereitet; die
Szenen, die er darstellt, sind so getreu, so lebendig, daß es nicht schwer ist,
zu erraten, es müsse vielfach Selbsterlebtes den Schilderungen zu Grunde
liegen. Unter dem Titel „Vierzig Jahre" gab Holtei seine Selbstbiographie
heraus; der herumziehende Abenteurer und unstäte Wanderer konnte auch am
besten „Die Vagabunden" in ihrem Treiben darstellen; von großer Bedeutung
ist „Der letzte Komödiant"; Duldung empfiehlt der Dichter in „Christian
Lammfell". Die Schlesier sucht er zu charakterisieren in dem Roman „Die
Eselsfresser". Diesen Spottnamen führen nämlich die Schlesier, weil sie der
Sage nach in alten Zeiten so einfältig gewesen sein sollen, daß sie keinen Esel
gesehen hatten, endlich einen bei Krossen erblickten, ihn als wunderbares Wild
schössen, auf dem Zobten brieten und zu Breslau aufaßen.
Durch Holtei hat das französische Vaudeville, das Singspiel, auf unfern
Bühnen Eingang gefunden.
Robert Rößler. 43
Hobert Rößler. Neben Holtet, welcher für die schlesische Mundart die
deutschen Herzen gewonnen hat, muß ein Dichter genannt werden, der mit dem
Breslauer Alten bekannt war und ihn verehrt und nicht nur den von diesem
eingeschlagenen Weg weiter verfolgt, sondern der schleichen Mundart neue
Pfade eröffnet hat. Ich meine Robert Rößler. der im Jahre 1838 zu
Großburg im Strehlener Kreise geboren wurde, in Breslau Philologie studierte,
Rektor der höheren Bürgerschule zu Striegau war und seit Ostern 1880 Direktor
des Realgymnasiums zu Sprottau ist. Die Gedichte, welche 'uns Rößler ge-
schenkt hat, zeigen den unverwüstlichen Humor des Dichters, verraten eine innige
Liebe zum engeren Heimatland, erzählen von den Sitten und Gebräuchen des
Volkes im naivsten Tone und wirken ergreifend auf das Gemüt jedes Menschen,
dem der Sinn für Volksleben und Volkswesen nicht ganz abgestorben ist.
Wird der, welcher „Aus Krieg und Frieden" zur Hand nimmt und nur einige
Gedichte liest, wohl in dem Dichter einen finsteren Schulmeister oder gar den
gestrengen Herrn Direktor eines Realgymnasiums vermuten? Mit dem Ab-
schnitte „Im Kriege", der 21 Gedichte meist aus den Kriegen von 1864 und
1866 enthält, gibt uns Rößler eine Sammlung mit einem Stoffe, den Holtei
noch nicht behandelt hat.
Lesen wir nun' das Gedicht „De danske Dragoner" oder „Der Moltke
bei Königgrätz", da fühlen wir sogleich, daß so nur singen und dichten kann,
wer selbst im Felde gestanden. Und wie wird unser Dichter als tapferer Preuße
gefochten haben, der alle drei Feldzüge (1864, 1866 und 1870—71) mit-
gemacht hat, als Premierleutnant aus der Armee getreten ist, dessen Brust das
Eiserne Kreuz ziert?
Rößlers Verdienst um den schleichen Dialekt ist ein bedeutendes dadurch
geworden, daß er zuerst in schlesischer Prosa geschrieben hat. Im Jahre 1877
erschienen seine „Schnoken" zum erstenmal, die nun schon in dritter Auflage
erschienen sind. Diesem Buche folgten „Närrsche Kerle", „ Schlaf sche Durf-
geschichten", „Durf- und Stoadtleute", „Gemütliche Geschichten".
Wenn wir nur einige seiner anmutigen und humorreichen Erzählungen
durchlesen und dabei uns in die lebhaft geschilderten Lagen versetzen, die uns
vorgeführt werden, so dürfen wir kein Bedenken tragen, Rößler den schlesischen
Reuter zu nennen. Die Darstellung ist jedenfalls bei Rößler eben so Volks-
tümlich wie bei Fritz Reuter; die Stoffe, die Reuter als rein mecklenburgische
behandelt, sind auch meist nicht großartiger als die Rößlers; nur hat unstreitig
Reuter das vor Rößler voraus, daß er im mecklenburger Dialekt auch von
Dingen erzählt, die nicht mecklenburgisch sind.
Hören wir Rößler selbst in den ersten Sätzen seiner Erzählung „De
Martinsgons" in „Schnoken":
„Seit zwanzig Joahren woar doas, wie's Amen ei der Kirche, asu wie
Martine koam, do krigt a ooch a Geschenke vo sen Selectanern; denn doas hott
a sich ehrlich vurdient; und dodermiet Punctum? — A woar a herzensgnder
Moan, der Herr Cunrector Mühsam und sihr bescheeden. Nu jeemersch,
120 Thoaler schläfsch, 'ne Klufter Breunhulz aus 'm Stoadtpufche nn sieben
Scheffel zu Brüte; wu hätte die Huffoahrt ooch härkommen sülln? Vur jedem
Stoadtverurnten und Roatsherrn zng a sen ramponierten Hütt schuut tief:
tiffer vurm Burgemeester, am tifssten freilich vurm Herrn Snpperndenten; denn
44 Das jetzige Schlesien.
dar woar im über ei der Schule wie ei der Kirche. (Der Herr Cunreetor sälig
woar nämlich ooch Nahmittagsprädiger; freilich hoat sich 'n de liebe Gemeende
blus is irschte Mol oangehurt, dernoachert blieb a anßerm Canter und de ver-
flischten Churjungen immer muttersilge alleene im Gootshause.) — Na kurz,
a woar 7ne Seele vo ein Monne. — Jedennoch kee Mensch ihs ohne Fähler,
und sei grüßter woar, daß a mit uns Rangen nicht meh recht fertig wurde. —
Die zweete Klasse, wu se ooch schuut awiug lateinsch ropprechten, hotte su
a grüner Kandedate under sich; durte woar'sch stille; kee Geist, kee Läben ei
der ganzen Gesellschaft nich. — Ei der irschten Klasse ging's lanter zu. Schunt
usm Morkte kunnt ma üns lärmen huren, und wos a gerechter Seleetcmer
woar, där hott anne Stimme, wie a aler Attolleriemajor. Zwischper zwölfe und
fuffzen, ooch sechzen worn de meesten, asu recht ei a regellären Flägeljoahren
drinne" u. s. w.
Diese wenigen Zeilen dürften beweisen, wie anmutig Rößler erzählt; wie
innig er dichtet, dafür mag als Probe dienen aus dem Werkchen „Ans Krieg
und Frieden" ein kleines Gedicht:
„'s letzte Quottier".
„Ei der Schläsing mitten drinne
Leit a Dorsel, 's ihs 'ne Pracht,
Ufm Kirchhof hoat der Voater
Für ci Suhn Quottier gemacht.
Underm frisch bewaxnen Hübet
Schläft und ruht sei treues Herz,
Und begroaben liegen miet im
Frucht und Hoffnung, Lust und Schmerz.
Asu traulich is's und heemlich,
Asu feierlich üm's Groab,
Denn de Engel giehn umzeechig
Durt als Schildwach uf und ob.
Ufm Kreuze stieht's geschrieben,
Und de Linde flüstert's stäts:
Ruh' dich aus im Mutterlande,
Junger Held vo Königgrätz."
Handel »>>i> fcmttk in Schlesien.
Über das Leben der Schlesier. — Handel, Gewerbe und Industrie. — Weberei, Teppich-
weberei. — Berg- und Hüttenwesen. — Schlesische Gewerbe- und Industrieausstellung.
Über dag Leben der Schlesier. Mit nur wenigen Worten die Schlesier
zu charakterisieren, ist nicht etwa schwierig, sondern ganz unmöglich, weil
einerseits das schlesische Volk, wie wir gesehen haben, aus sehr verschiedenen
Elementen zusammengesetzt ist, anderseits aber auch das Land, welches den
Charakter des Menschen bildet, sehr verschiedenartig ist; das Flachland schafft
sich Menschen von andrer Lebensweise als das Gebirge. Dennoch muß als
allgemein anerkannt gesagt werden, daß der Schlesier leichtlebig, liederfroh,
warmherzig und liebenswürdig ist; er wird deshalb überall gern gesehen und
erwirbt sich allenthalben schnell Freunde.
Fern vom schönen Schlesien haben sich freilich die Menschen oft vom
Schlesier bis in die neueste Zeit hinein merkwürdige Vorstellungen gemacht.
Da lesen wir Berichte, in denen die Schlesier nicht als Deutsche anerkannt,
sondern halbe Slawen genannt werden.
Von den Bürgern der schleichen Hauptstadt wird erzählt, daß sie in
Klatschpelzen, in Schlasfchuhen und mit langen Pfeifen über die Straßen gehen,
um in überaus schmutzigen Bierhäusern ein trübes Faßbier zu trinken. Süd-
deutsche Journalisten wunderten sich noch in neuester Zeit, daß sie nicht mehr
46 Handel und Gewerbe in Schlesien.
polnische Inschriften über Breslaus Läden sähen und fast gar nicht polnisch
sprechen hörten. Em französischer Reisender berichtet, die Breslauer seien wenig
gastfrei und haben als Einladungen nur hohle Phrasen; die Hausfrau bedaure
stets, daß soeben Kaffee getrunken sei, und setze in einem recht traurigen Tone
hinzu: „Sie hätten gewiß ein Täßchen mit uns getrunken." Den Hausherrn
zeichnet derselbe Reisende als noch weniger gastfrei. Besucht man, so erzählt er,
in Breslau einen älteren Herrn, so kann man auf ungefähr folgende Anrede
gefaßt sein: „Ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen; ich würde Ihnen zwar
etwas vorsetzen, doch ist es jetzt nicht Zeit, Thee oder Kaffee zu trinken. Das
Bier ist schlecht. Aber ich weiß, daß Sie gute Zigarren rauchen und sie auch
stets bei sich führen. Rauchen wir also eine, und wenn sie mir schmeckt, werde
ich mir noch eine ausbitten." Daß es in dieser Art gastfreie Leute in Schlesien
wie üllerall gibt, wird niemand leugnen wollen; aber charakterisiert sind die
Schlesier durch diese Zeichnung nicht.
Von einem Manne, der die Frauen kennt, von Ludwig Pietsch, wird be-
hauptet, Berlins schönste Frauen seien Schlesierinnen; und Frauen, die nach
Schlesien heiraten, entwickeln dort erst ihre volle Liebenswürdigkeit. Natürlich
haben nicht alle Frauen Schlesiens einen und denselben Schnitt; denn ein nicht
unbedeutender Unterschied ist zwischen der in kirchlicher Frömmigkeit erzogenen
Glätzerin, welche trotz aller höheren Töchterschulbildung ihrem Idiom eine leise
österreichische Färbung beimischt, und der Görlitzer Beamtentochter, die im ent-
schieden sächsischen Dialekt spricht. Körperlich und geistig verschieden ist die
Gebirgsbewohnerin von der Flachländern:, die hübsche Wasserpolackin von der
niedlichen Laubanerin.
Der Schlesier muß arbeitsam und genügsam genannt werden. Auf den
Rittergütern und Standesherrschaften herrscht in den Schlössern Luxus und
Reichtum; auch die vielen Voll- und Halbbauern sowie die Städter befinden
sich meist im Wohlstande; aber unter den Fabrikarbeitern, besonders unter den
Webern, hört die Not nicht auf; ja, sie ist oft so groß, daß die Schreckensnach-
richt vom Hungertyphus aus den entfernten Gebirgsthälern in die Ebene dringt.
Auch die Arbeiter, welche vom Fällen und Bearbeiten des Holzes leben, er-
werben sich keine Schätze.
Eigentümliche Trachten und Gewohnheiten haben sich nur in den abge-
legenen Gebirgsdörfern erhalten; aber auch dort verschwinden sie immer mehr.
Der blaue, grüne oder graue Tuchrock der Männer reicht bis an die Schenkel
oder bis ans Knie; unter ihm sieht man die Tuchweste, die kurzen schwarzen
oder gelben Hosen, die grauen oder weißen wollenen Strümpfe; den Kopf deckt
ein dreieckiger Filzhut. Die Frauen tragen ein Mieder von Tuch mit großem
flachen und steifen Latz, ein kurzärmeliges Hemd, welches vorn am Hals mit
einer Nadel zugesteckt ist, ein buntes Linnentuch um Hals uud Brust, eine
schwarze Jacke und wollene Strümpfe; die Zöpfe sind auf dem Scheitel zu einem
Nest zusammengelegt. Verheiratete Frauen bedecken ihren Kopf mit einer Haube
von weißer oder geblümter Leinwand.
Bei den Gebirgsbauern werden die Festtage und Hochzeiten mit vielem
Geräusch gefeiert. Musik, Biersuppe. Fleisch, Branntwein oder Bier dürfen
nicht fehlen. Hochzeitbitter laden Verwandte und Brautschauer (Ehrengäste) ein.
Kränzeljungfern und Kränzelgesellen begleiten das Brautpaar, nachdem sie
Über das Leben der Schlesier. 47
Blumen von Flittergold und ein rotes Band erhalten haben, welches sie am
Hute tragen; Brautführer sorgen für die Gäste; dem Bräutigam wird.mit
Trompeten und Waldhörnern ein Ständchen gebracht. Alle Speisen werden im
eignen Hause hergerichtet. Nach Beendigung des Mahles begibt man sich ins
Wirtshaus zum Tanz. Abends wird eine große Schüssel Biersuppe unter die
Kinder des Dorfes verteilt, deren jedes sich mit einem Löffel einstellt. — Beirrt
Leichenschmaus werden Fische und Biersuppe nicht gegessen. Vor einem Gevatter-
essen (Kindtaufe) wird an alle Bekannte des Dorfes Biersuppe, die dann Kindel-
suppe heißt, verschickt. Die Güte dieser Biersuppe wird nach der größeren oder
geringeren Menge der in derselben enthaltenen Rosinen beurteilt. Im Hause
selbst wird auch erst Biersuppe aufgetischt, dann Brühsuppe mit Reis, Rind-
fleisch mit Meerrettig, Schweinebraten und Backobst.
Bei den Bauern, selbst bei den wohlhabenderen, gibt es während der Woche
nur zweimal Fleisch, und zwar Sonntags und Donnerstags. Das Lieblings-
gericht bei allen Schlesiern, armen und reichen, ist das schlesische Himmelreich,
das aus Backobst und Klößen mit Rauchfleisch besteht. Je nach der Wohlhaben-
heit verwendet man zu den Klößen Weizen-, Roggen- oder Gerstenmehl; im
Anfertigen derselben besitzen die Mädchen vom Lande eine besondere Fertigkeit;
es ist dies bei allen das erste Gericht, das sie bereiten lernen.
Der verwöhnte Großstädter behauptet, die schlesische Küche sei nicht fein:
und in gewisser Beziehung hat er mit dieser Behauptung recht, denn der Schlesier
ißt gern einfach uud schmackhaft, aber nicht wenig. Was der Schlesier im Ge-
birge genießt, das hat uns scherzhaft R. Rößler in einem niedlichen Gedichtchen
verraten, welches er „Der schläfsche Himmel" nennt, und das lautet:
„Ei dam Himmel ihs a Laba! — Hoa mer ins uu vulgesuffa,
Nischt wie lauter Kucha, Baba, Ei de Wulka giehn mer jcl)lusfa.
Lauter Brota warn mer assa Wach mer uf am andern Murga,
Und doas Geld mit Barteln inassa. Hoa mer vur reen nischt zu surga.
Honigschnieta, doß se klecka, Durte kün'u mer olles macha,
Doß ma möcht de Finger lecka, M Landroat eis Gesichte lacha,
Teege Birna, wälsche Nisse, M gnäd'ga Herrn de Noase rimfa,
Gale Appel, zuckersisse. Tüchtig uf a Omtmann schimsa!
Wenn's erscht wird zum Trinka kumma, 's hoat ken Schulza durt, keu Richter,
Wie warn do die Bäuche brumma, Lauter gude Schafsgesichter!
Und de Köppe ooch derbeine, Korz, ich frei mich uf da Himmel
Bo dam Schuops und Bier und Weine. Wie ufs Futter Nuppersch Schimmel."
Für die Winterabende gibt der beliebte Rockengang oder die Spinnstuben-
gesellschast Unterhaltung und allerlei heitere Scherze; da werden auch Märchen
erzählt von Rübezahl, vom Wassermann, vom Alp; da schicken Burschen ihre
Spinnrocken mit Obst, Mandeln und Rosinen ihren Mädchen; da »wird an
einigen Freitagen in der Adventszeit die ganze Nacht hindurch gesponnen, damit
die Spinnerin sich Geld zur Christstriezel erübrige; da wird endlich um die
Mitternachtsstunde am Schluß der Spinnabende das Bescheidessen gehalten aus
Milch- oder Biersuppe, gekochtem Obstbrei und Rosinen.
Manche Gebräuche hat der Schlesier, welche sich in vielen Gauen unsres
Vaterlandes wiederfinden. Der Bursche pflanzt einem Mädchen zu Pfingsten
48 Handel und Gewerbe in Schlesien.
eine abgeschälte Tanne mit bunten Tüchern vor das Fenster. Am Sonntag
Lätare ziehen kleine Mädchen mit Tannenbäumchen, die sie mit bunten Bändern
zur Bügelkrone zusammenbinden und mit gemalten Eiern behängen, stunden-
lang von Haus zu Haus, singen alte Festlieder und begehren eine Gabe für
das „Maigehen".
Handel. Die Lage der Provinz zwischen Ländern mit deutscher und sla-
Wischer Bevölkerung sowie die beiden Stämmen angehörige Einwohnerschaft des
Landes machte dasselbe zur natürlichen Vermittlerin zwischen dem schon früh-
zeitig in Großgewerben, Handwerken und Künsten vorgeschrittenen Westen und
dem noch nicht zivilisierten, aber an Rohprodukten reichen Osten: zwischen
Deutschland und Fankreich einerseits und Polen und Rußland anderseits. Auch
mit den österreichischen Ländern hatte Schlesien schon früh lebhafte Handels-
beziehungen. Neben dem hierauf begründeten eignen Handel entwickelte sich ein
reger Durchgangs- und Vermittelungsverkehr, dessen Mittelpunkt Breslau bildete.
Zu Anfang des 14. Jahrhunderts wurden schlesische Garne vorzugsweise nach
Holland, fchlesische Leinwand über Hamburg nach Spanien, Portugal und Eng-
land ausgeführt; die Tuche Schlesiens wurden nach Leipzig, Ungarn, Polen und
Rußland verhandelt. Es gab damals schon Handelsstraßen von Breslau aus
nach Krakau und Wien. Unter böhmischer Herrschaft wurde den Schlesiens
freier Handel in ganz Böhmen gestattet. Durch die Verbindung Schlesiens mit
Preußen trat in den Handelsbeziehungen ein vollständiger Umschwung ein.
Der Verkehr mit den habsburgischen Ländern wurde plötzlich unterbrochen,
sogar aufgehoben; das Erschließen des ganzen preußischen Gebietes konnte diese
Nachteile nicht sofort ausgleichen. Doch Friedrich der Große wußte auch hier
durch geeignete Anordnungen belebend und fördernd einzugreifen. Dieselben
kamen namentlich dem Handel mit Polen und Rußland zu gute. Letzterer sank
indes später wieder erheblich, als Polen geteilt worden war, Rußland hohe
Zölle eingeführt hatte und die Kriege mit Frankreich in alle Handelsbeziehungen
störend eingriffen. Eine weitere Schädigung erlitt der Handel dnrch die Ein-
verleibnng Krakaus in Österreich, da Schlesien mit dieser Stadt bis dahin in
sehr lebhaftem Handelsverkehr gestanden hatte, welcher damals fast gänzlich
aufhörte. Wenn nun auch der Handel nach dem Auslande Abbruch erlitt, so
wurde doch der Verkehr innerhalb der Provinz und innerhalb der deutschen
Grenzen infolge des raschen Aufschwunges des Bergwerks- und Hüttenbetriebes
in Oberschlesien sowie der Landwirtschaft um so lebhafter. Jetzt werden noch
Kohlen, Kalk und gewebte Stoffe nach Österreich, Tuche und halbwollene Ge-
webe nach Holland, Schweden, Norwegen, Italien und dem Orient, Porzellan
und Glaswaren nach Dänemark, Holland, Rußland, Schweden, Amerika, Zink
nach Frankreich und England, feinere Blechsorten nach England, Amerika, Däne-
mark, Holland, Rußland, Spanien, Portugal und der Schweiz, Spiritus Haupt-
sächlich nach Italien ausgeführt.
England und Holland bilden das Hauptbezugsgebiet für Kolonialwaren,
Rußland für Pelzwaren, Frankreich für Schmuckgegenstände und Seidenwaren,
England für Eisen- und Stahlwaren. Der Verkehr der schlesifchen Handlnngs-
Häuser erfolgt mit denen des Auslandes meist unmittelbar.
Gewerbe und Industrie. — Weberei. 49
Die zur Wahrnehmung der Handelsinteressen in der Provinz errichteten
Handelskammern haben ihre Sitze in Breslau. Görlitz, Grünberg, Hirschherg,
Landeshut, Lauban, Liegnitz und Schweidnitz. Der Bankverkehr wird durch die
Reichsbankhauptstelle in Breslau, vier Reichsbankstellen, acht Nebenstellen und
verschiedene Privatbanken vermittelt.
Gewerbe und Industrie, Weberei und TeppichfabriKation. Schlesien
ist eine der betriebsamsten Provinzen des preußischen Staates. Gebirge und
Ebene, die fruchtbare Erddecke und die Metall- und Kohlenvorräte in den Tiefen
der Berge regen zu mannigfacher Betriebsamkeit an. In den Ebenen wechseln
unabsehbare Weizen- und Roggenfelder mit Klee-, Flachs- und Rapstriften,
rauchen Brennereien, klappern Mühlen, prangen Obstbäume, grünen Gemüse.
Hopfen und Weinstauden; in allen Städten und Dörfern des Gebirges klappert
der Webstuhl und schnurrt die Spindel; hier wird gearbeitet in Glashütten,
dort werden Teppiche gewebt, hier Leinwand gemacht, dort Töpferwaren, Hand-
schuhe und Tuche sabriziert, Wagen gebaut, Steine gebrochen, Erze gewonnen.
Bienen gezogen, Schafe ausgetrieben und in den fischreichen Flüssen und Bächen
Fische gefangen: überall herrscht reges und thätiges Leben.
Unter den Gewerben der Provinz erfreut sich die Weberei eines sehr alten
und bedeutenden Rufes. Schon im 14. Jahrhundert wird des Handels mit ein-
heimischen Erzeugnissen in Leinwand, Tuch u. s. w., den besonders Breslau trieb.
Erwähnung gethau. Im 15. Jahrhundert scheint die wichtigste Gewerbthätigkeit
Schlesiens die Wollweberei gewesen zu sein, in der sich Breslau, Löwenberg und
Striegau auszeichneten. In Hirschberg wurde seit 1468 die Kunst des Schleier-
webens betrieben. Wichtig wurde für die Gegend von Reichenbach die Einführung
der Fabrikation von Kanevas, welche man von schwedischen Soldaten, unter denen
sich Kanevasweber befanden, erlernte. Gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts
nahm die Herstellung von Geweben, besonders durch den belebenden Einfluß
der Einrichtungen Friedrichs IL, einen frischeren Ausschwung. Zu diesen wohl-
thätigen Einrichtungen gehörten Befreiung der Weber, Bleicher u. s. w. vom
Zunftzwange, vom Soldatendienste und zeitweise auch von Abgaben.
Solange überhaupt Flachsbau existiert, bot Spinnen und Weben dem
Landbewohner Beschäftigung im Hause. Man kann mit Recht sagen, daß diese
Art Hausindustrie zu den ältesten Erwerbszweigen der Weltgeschichte gehört und
wir mit Pietät eine Fabrikation verfolgen müssen, welche seit den frühesten
Zeiten so vielen Landbewohnern im Winter ihren Lebensunterhalt verschafft.
In Deutschland sind die Begründer des Leinwandhandels im größeren Maß-
stabe im 14. Jahrhundert die Fugger in Augsburg gewesen^). Diese Augsburger
Kaufleute verstanden es, Deutschlands Produktionskraft zu wecken und zu zeigen,
welcher Wert in der Arbeit ruht. Sie wußten den deutschen Produkten im Aus-
lande Anerkennung zu verschaffen, und ihrer Thätigkeit war es hauptsächlich zu
verdanken, daß die Leinenindustrie so bedeutende und schnelle Fortschritte machte.
Der Hansabund führte die Erzeugnisse deutscher Gewerbthätigkeit nach
England, Schweden, Dänemark und Rußland, und nnsre deutsche Leinwand
spielte dabei eine der wichtigsten Rollen.
*) Unser Deutsches Land und Volk II.. S. 78 ff.
Deutsches Land und Volk. VIII. 4
50 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Auf solche Weise mußte dieser Industriezweig von Jahr zu Jahr an Be-
deutung gewinnen; und im 17. Jahrhundert, nach dem Verfall des großen
Hansabundes, als die Verbindung mit Amerika schon im vollen Gange war,
konnten die leinenen Artikel ihre herrschende Stellung behaupten.
Deutschlands ergiebiger Flachsbau, die billigen Arbeitslöhne konnten selbst
die schädlichen Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges überwinden, und als
die Wollindustrie durch den Verlust der Schafherden im Kriege daniederlag,
blieb die Leinenindustrie auf ihrer Höhe. Je mehr Anforderungen die sich immer
mehr zivilisierende Welt an ihre Erzengnisfe stellte, nm so höher stieg der Ruf
und die Fertigkeit der deutschen Leinweber.
In Schlesien ist Friedrich dem Großen nicht allein die Erhaltung und
Förderung der Hausindustrie und des Flachsbaues, sondern auch die Blüte dieses
Erwerbszweiges zu danken. Seinem Einfluß gelang es, den überseeischen Ver-
kehr über Hamburg und Bremen und die Ausfuhr fchlesischer Leinwand über
Augsburg nach Italien auf regem Fuße zu erhalten.
Erst das Ende des 18. Jahrhunderts fing an der deutschen Leinenindustrie
verderblich zu werden. Spinnerei und Weberei waren auf den Handbetrieb an-
gewiesen. In England dagegen arbeitete man seit dem Anfange des 19. Jahr-
Hunderts mit Flachsspinnmaschinen; und so kam es, daß England bereits im
Jahre 1825 ganz unabhängig von Deutschland dastand und mit seinen Spinnerei-
erzengnifsen auf dem Kontinent festen Fuß fassen konnte. Bis zum Jahre 1849
überflutete die englische Industrie schon alle deutschen und überseeischen Märkte
mit ihren leinenen Produkten. Aber damals hatte sich schon wieder Deutschlands
Flachsbau, welcher bedeutend nachgelassen hatte, etwas gehoben und mit ihm
die Leinwandindustrie, die schwere Zeiten durchzumachen hatte. Seitdem ging
es in Deutschland rüstig vorwärts; im Jahre 1850 arbeiteten 70 000, im
Jahre 1875 ungefähr 300 000 Spindeln.
In Deutschland unterscheidet man drei verschiedene Qualitäten gebleichter
glatter Leinwand von Ruf: die Bielefelder, sächsische und schlesische Leinwand.
Die Bielefelder Fabrikate^), aus rohen Garnen gewebt, waren noch vor 30
Jahren der Stolz Deutschlands; in der Gegenwart aber, wo das Publikum
der äußeren Ausstattung größeren Wert beilegt als dem Gehalt, wo die Bleiche
die Garne und Gewebe übermäßig angreift, wo alles in viel kürzerer Zeit seiner
Vollendung zuschreiten muß, hat auch das früher so hochgeschätzte Bielefelder
Leinen an Güte und Ruf verloren und führt einen harten Kampf gegen bel-
zische und englische Gewebe.
Sachsen und Schlesien liefern Creas, aus gebleichtem Garne gewebt und
dann im Stück nachgebleicht; die vielen Qualitäten dieser Art Leinwand bilden
für Deutschland sowohl als Export- wie als Jnlandartikel eine Hauptrolle in
der Leinenbranche.
Wie kam es, fragen wir, daß die Leinwandfabrikation nicht nnr in Schlesien,
sondern auch in andern Gegenden zurückging? Hervorgerufen wurde dieser Rück-
gang durch die Baumwolle. Heute bilden baumwollene Gewebe schon weit und
breit Ersatz für Leinen. Unsre Hausfrauen, welchen noch vor 30—40 Jahren ein
voller Schrank mit weißleinenen Wäschegegenständen als Zierde des Haushaltes
*) Unser Deutsches Land und Volk Bd. VI., S. 79.
Weberei und Teppichfabrikation. 51
und als ein Teil des Reichtums galt, nehmen heute mit Baumwolle fürlieb,
weil ihnen der billige Preis gestattet, noch hier und da eine unechte Spitze anzu-
bringen. Selbst uusre Landleute, die vor 30 Jahren gegen baumwollene Waren
noch Mißtrauen hegten, bringen diesen heute weit freundlichere Gesinnungen ent-
gegen. Man geht darauf aus, den äußeren Schein in billiger Weise zu wahren;
aber trotz der billigen Baumwollenpreise kauft man vorteilhafter, wenn man
statt Schirting, Dowlas oder Kattun gute deutsche Leinwand bezieht. Wir müssen
uns endlich ermannen, auf eigne Produkte stolz zu sein und die leidige Passion
für fremde Fabrikate abzustreifen.
Trotzdem nun soviel ausländische Fabrikate gekauft werden, wächst jetzt
Schlesiens Leinenhandel immer mehr über seine Grenzen hinaus; Schlesien ist
nach und nach die Leinenversorgungsquelle Preußens, ja Deutschlands geworden
und sendet außerdem schon heute über Land und Meer seine Fabrikate. In der
Jacquard - und Damastweberei bringt Neustadt in Oberschlesien wunderbar
schöne Waren auf den Weltmarkt.
In Landeshut stand schon im 17. Jahrhundert die Weberei in solcher
Blüte, daß daselbst am 17. April 1698 der Landeshauptmann von Nostitz eine
Leinwandordnung erließ. Hundert Jahre später wurden aus dieser einen Stadt
jährlich über 180 000 Schock Leinwand ausgeführt. Die Kriegsjahre 1806 bis
1813 wirkten höchst nachteilig auf Handel und Industrie. Seit 30 Jahren aber
hebt sich in Landeshut alljährlich mehr und mehr der Leinwandhandel. Da haben
seit dem Jahre 1852 die Gebrüder Methner (Karl nnd Robert) durch Umsicht und
Thätigkeit der Landeshnter Leinenindustrie neuen Ruf verschafft und neue Absatz-
gebiete erschlossen. Die zehn Jahre später gegründete Firma von F. V. Grün-
seld entwickelte eine bedeutende Rührigkeit, durch die sie sich in den weitesten
Kreisen empfiehlt. Gegenwärtig gibt es in Landeshut auf dem Gebiete der Leinen-
industrie sechzehn Firmen. Die Ausfuhr an Schocken beträgt jetzt erheblich mehr
als zur höchsten Blütezeit des vorigen Jahrhunderts. Nach den Berichten der
Handelskammer betrug die Zahl der von Handwebern im Jahre 1879 gefer-
tigten Stücke 316 395. Außerdem sind noch zwei mechanische Leinenwebereien
mit ungefähr 700 Stühlen thätig. Daß hier die Weberei nicht nur zweckmäßig
und einfach, sondern auch künstlerisch betrieben wird, beweist uns z. B. ein ein-
ziger Blick in eins der Musterbücher der obengenannten Firma F. V. Grünfeld.
Da finden wir unter andern abgebildet: ein Damastgedeck, genannt „Bergmanns
Gruß"; in die Decke sind die Fossilien der Steinkohlenflora in naturgetreuer
Wiedergabe der Pflanzenabdrücke eingewebt mit den bergmännischen Emblemen
und dem Spruch „Glück auf" und den Versen (in den vier Ecken):
„Horch, i>as Glöcklein ruft zur Schicht!
Braver Bergmann säume nicht!
Segen bringt erfüllte Pflicht!
Auf! Durch Finsternis zum Licht!"
Mit Freude und Stolz blicken die schleichen Leinwandfabrikanten in die
Zukunft, denn ihre Ware hat Anerkennung gefunden; und wenn auch die jetzigen
Fuggers keine kaiserlichen Schuldbriefe mehr vernichten, so haben sie doch durch
ihre freiwillige und unfreiwillige Steuerkraft auch unserm Kaiser das Geld zu
seinen Kriegen gegeben; und dreist können wir behaupten: es gab damals nur
einen Fugger in Augsburg, heute aber sind deren ein Dutzend in Schlesien.
4*
52 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Hervorragendes leistet in der Weberei Waldenburg (Gebrüder Alberti);
Gruschwitz und Söhne in Neusalz ist eine Weltfirma. Allgemein bekannt ist die
schlesische Wollwaschanstalt zu Grünberg, denn wir müssen hier neben dem
Flachse auch der Wolle gedenken; der Hauptsitz der gewebten Wollstoffe befindet
sich in Niederschlesien, und zwar besonders in Sagan, Görlitz und Grünberg,
demnächst in Goldberg.
Neben der Leinen-, Woll- und Baumwollenweberei und Spinnerei ist in
Schlesien auch die Teppichweberei vertreten, vorzugsweise in Schmiedeberg.
Weit über Deutschlands Grenzen ist die dortige Firma „GeVers & Schmidt"
(Mende) bekannt. Diese Fabrik hat im Jahre 1881 einen Teppich verfertigt,
den die Stadt Braunschweig, resp. die Stände des Landes, für ihren Landes-
Herrn zu dessen fünfzigjährigem Regierungsjubiläum bestellt hatten. Der Teppich
ist ein wirkliches Prachtstück der Fabrik. Genau den vorgeschriebenen Angaben
folgend, hat dieselbe die verschiedenen Farben derartig abzutönen verstanden,
daß selbst das intensive Ponceanrot der Wappenschilder in der nahen Zusammen-
stellung mit dem sattesten Bordeauxrot in wohlthnender Harmonie auf das Auge
wirkt. Das braunschweigische Wappen mit dem springenden Löwen bildet die
Mitte des Teppichs auf bordeauxrotem Felde, das durch eine Bordüre in Neu-
blau, von dem sich wundervoll gezeichnete Arabesken in Grau plastisch abheben,
eingerahmt wird. Eingeschlossen ist die Bordüre von grünbronzefarbenen,
sehr schön schattierten Rändern. In jeder Ecke der Bordüre sind Medaillons,
in welchen auf Ponceaurot sich das braunschweigische Wappenroß in schöner,
vollendeter Zeichnung abhebt. Der Teppich hat eine Länge von 9,zg und eine
Breite von 7,2g in. Zu seiner Herstellung sind 2270 000 Knoten gebraucht
worden; jeder Knoten ist mit der Hand aus dreifachen Wollenfäden geschlungen.
Die Fabrik, die bei der Anfertigung der Teppiche fehr subtil zu Werke geht,
wird mit den ehrenvollsten Aufträgen betraut; das Palais unfres Kaisers wird
durch viele Erzeugnisse derselben geziert.
Bergbau- und Hüttenwesen. Wir irren gewiß nicht, wenn wir annehmen,
daß den Bewohnern Schlesiens um das Jahr 1000 n. Chr. Geb. der Bergbau
und die Gewinnung und Bearbeitung von Metallen nicht fremd war. Wahr-
scheinlich wurden schon im 12. Jahrhundert in Polen Verbrecher ad metalla
verurteilt: eine Thatsache, die auf Vorhandensein des Bergbaues für Rechnung
des Staates schließen läßt. Das Stift Leubus wurde urkundlich im Jahre 1178
mit dem Bergregal in seinem Gebiete vom Herzog Boleslaw beliehen.
Je mehr die Germanisierung Schlesiens im 12. und 13. Jahrhundert
zunahm, desto mehr hob sich auch der Bergbau. Schon im 12. Jahrhundert
baute man in den Gegenden von Goldberg, Bunzlau und Löwenberg auf Gold.
In den dortigen Sandlagen findet sich neben einigen sehr fein eingemengten
Edelsteinen auch Gold in äußerst kleinen Körnchen, die sich in früherer Zeit zahl-
reicher gezeigt haben müssen als jetzt, wenn anders der Bergbau in Goldberg
allein jährlich 380 000 Dukaten als Ausbeute eingebracht hat. Der Bergbau
zu Reichenstein, wo die Erze aus Arsenikkies mit einem geringen Gold- und
Silbergehalt bestehen, ist jetzt auf Gold auch gänzlich erloschen, obgleich er noch
im 18. Jahrhundert in hoher Blüte stand. Auch Kupferberg, wo man im
16. Jahrhundert Gold und Silber aus Kupfererzen gewann, hat keinen Bergbau
Bergbau- und Hüttenwesen. 53
mehr, da die Wiederaufnahme im Jahre 1854 und Fortführung desselben bis
zum Jahre 1868 nicht lohnte. Schon seit einigen Jahrhunderten wird der
Bergbau auf edle Metalle in Schmiedeberg, Silberberg, Gottesberg und an
andern Orten betrieben. Man darf wohl als sicher annehmen, daß die Lager-
statten edler Metalle im ganzen nicht reich und mächtig gewesen sind, und wird
nicht irren, wenn man die Nachrichten über die hohen Erzeugnisse im 13. und
14.Jahrhundert (z.B. aus Goldberg) für unwahrscheinlich und übertrieben hält.
Jedenfalls sind die Versuche in neuerer Zeit, die an verschiedenen Orten gemacht
worden sind, trotz der großen Opfer, die gebracht wurden, und trotz der vor-
geschrittenen Technik nutzlos und ohne günstige Resultate gewesen.
Bleierz wurde der Sage nach durch einen Zufall in Tarnowitz entdeckt.
Ein Bauer fand zuerst daselbst ein Stück Bleierz, welches ein Ochse ausgescharrt
hatte; er zeigte dasselbe Benthener Bergleuten, deren Aufmerksamkeit es erregte,
so daß sie die Veranlassung zur Aufnahme des Tarnowitzer Bergbaues wurden.
Doch kam derselbe im 16. Jahrhundert durch die schwierige Wasserhaltung,
Nachlässigkeit der Bergbeamten und den Widerstand der adligen Grundbesitzer
wegen Überlassung von Grund und Boden zu bergbaulichen Zwecken nicht vor-
wärts. Ein amtlicher Bericht aus dem Jahre 1539 bezeichnet das Erzfeld um
Tarnowitz als gut, aber unbebaut, weil man zu den Orten, an denen sich viel
Erz befinde, wegen des vielen Wassers nicht gelangen könne, weil die Edelleute
sich dem Bergbau widersetzten, weil der Bergmeister nicht fleißig und eigen-
nützig sei, niemand nach Recht und Ordnung sehe und die Gegend nahe beim
Bergwerk vor Räubern und Mördern nicht sicher sei. Unter diesen Umständen
konnte damals in Tarnowitz nicht viel Erz gewonnen werden. Dazu feint noch,
daß um 1630, unter der Regierung Ferdinands II., den Protestanten die Kirchen
fortgenommen wurden. Aus Beuthen wanderten infolgedessen sofort zwanzig
der angesehensten Familien aus. Der größte Teil der Bergleute verließ die
Stadt Tarnowitz und ihre Umgebung; die zurückgebliebenen evangelischen Ein-
wohner gingen nach dem fast 10 Meilen entfernten Kreuzburg in die Kirche, bis
ihnen dies 1680 bei Strafe untersagt wurde. Als nun die evangelischen Ein-
wohner ihren Gottesdienst unter freiem Himmel in Wäldern abhielten, erging
im Jahre 1701 der Befehl, daß kein Buschprediger gelitten werden sollte.
Daß unter solchen Verhältnissen der für jene Gegend so wichtige Bergbau gleich
andern Gewerben nicht gedeihen konnte, liegt auf der Hand.
Im engen Zusammenhange mit der Geschichte des Silber- und Bleiberg-
banes steht die Geschichte des oberschlesischen Galmeibergbaues. Der Galmei
kommt in Oberschlesien vielfach mit den silberhaltigen Bleierzen zusammen vor
und ist bei dem älteren Bleierzbergbau mitgewonnen, aber als wertlos fort-
geworfen worden. Die Verwendung des Galmeis zur Messingbereitung ist nach
Plinius schon den Römern bekannt gewesen. Der erste, von dem feststeht, daß
er in Schlesien Versuche auf Galmei gemacht und ein Messingwerk angelegt
hat, war Peter Jort, ein geachteter Bürger von Tarnowitz. Im Jahre 1584
bewarb sich ein Hans Jörtel, Goldschmied zu Tarnowitz, um das Recht, Galmei
zu graben. Wie lange nun dieser Galmeibergbau bei Tarnowitz und Beuthen
betrieben wurde, ist nicht zu ermitteln; aber es ist wahrscheinlich, daß er unter
Ferdinand II., als im Jahre 1631 alle Protestanten aus jener Gegend ver-
trieben wurden, auf lange Zeit zum Stillstand kam. Derselbe gelangte erst zu
54 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Anfang des 18. Jahrhunderts durch den Breslauer Kaufmann Georg von Giesche
wiederum in Aufnahme, welchem bereits im Jahre 1704 von Kaiser Leopold ein
Privilegium in ganz Ober- nnd Niederschlesien, für sich allein Galmei graben zu
dürfen, erteilt wurde.
Solange der Galmei nur zur Messingbereitung Verwendung fand, war
die Bedeutung des schleichen Galmeibergbaues eine verhältnismäßig geringe
und untergeordnete. Dies änderte sich jedoch wieder, als es im Anfange unsres
Jahrhunderts dem Hütteninspektor Reberg zu Wosrolla gelang, aus zinkischen
Ofenbrüchen und demnächst aus Galmei metallisches Zink darzustellen, was im
Jahre 1809 zur Errichtung der königlichen Lydognia-Zinkhütte, der ersten
größeren Zinkhütte in Oberschlesien, führte.
Unter österreichischer Herrschaft gedieh der Bergbau in Schlesien nicht.
Erst Friedrich der Große war es, welcher nach der Besitzergreifung Schlesiens
mit sicherem Blicke die hohe Bedeutung des Bergbaues erkannte und durch seine
Fürsorge und weise Maßnahmen den Grund zu der EntWickelung und Blüte
legte, welche der schlesische Bergbau unter dem dauernden Schutze und der Für-
sorge der preußischen Regenten erlangt hat. Friedrich der Große richtete das
landesherrliche Bergamt zu Reichenstein ein, das im Jahre 1769 in ein Ober-
bergamt verwandelt, 1778 nach Reichenbach, 1779 nach Breslau, 1819 nach
Brieg. 1850 wieder nach Breslau verlegt wurde.
Im Jahre 1768 entsandte Friedrich II. erfahrene Räte nach Schlesien,
die das schlesische Bergwesen untersuchen und dessen Organisation einleiten
sollten, die auch die Lust zum Bergbau in den Schlesiern rege machen mußten.
Schon im Jahre 1769 erließ der König die revidierte Bergordnung für das
souveräne Herzogtum Schlesien und die Grafschaft Glatz, welche die Grundlage
bildete, zum Bergbau in Schlesien an allen Orten anzufeuern; er regelte das
Knappschaftswesen und erließ verschiedene, die Entwicklung des Bergbaues
bezweckende Verordnungen.
Was aber die Regierung Friedrichs des Großen in der Geschichte des
schleichen Bergbaues unvergeßlich macht und von besonderem Einfluß erscheinen
läßt, war die glückliche Wahl eines geschickten Leiters, indem an die Spitze der
Bergwerksverwaltung ein hochbegabter, theoretisch und praktisch ausgebildeter
Mann gestellt wurde, welcher auf die Entwicklung des schleichen Bergbaues einen
eminenten Einfluß ausgeübt hat. Es war dies der 1779 zum kommissarischen
Direktor des Oberbergamtes, nachher zum ersten schleichen Berghauptmann und
im Jahre 1802 zum Oberberghauptmann und später zum Staatsminister ernannte
Graf Friedrich Wilhelm von Rheden. Dieser Mann war ausgestattet mit einem
reichen Schatz von technischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Kenntnissen,
welche er sich unter Leitung seines Oheims, des hannöverschen Berghauptmanns
von Rheden, beim Harzer Bergbau und durch sorgsame Studien auf der Uni-
versität Göttingen, auch durch Bereifung deutscher und englischer Berg- und
Hüttenwerke erworben hatte.
Beim Eintritt Rhedens in die schlesische Bergwerksverwaltung im Jahre
1780 war in Oberschlesien der Steinkohlenbergbau überhaupt noch nicht ins
Leben getreten. Als metallischer Bergbau war in Oberschlesien nur der von der
Giescheschen Gesellschaft betriebene Galmeibergbau im Gange, der etwa 10 000
Zentner Galmei jährlich zur Messingfabrikation förderte. Der Bleierzbergbau bei.
Bergbau- und Hüttenwesen. 55
Tarnowitz lag noch gänzlich danieder. Der Eisenhüttenprozeß lag sehr im argen.
Es waren etwa 36 Holzkohlenhochöfen im Gange, welche 100 000 Zentner
Roheisen, bez. 75 000 Zentner gefrischtes Stabeisen lieferten; doch war die
Beschaffenheit dieses Eisens so schlecht, daß die Ausfuhr desselben in andre
Provinzen des Staates im Jahre 1777 verboten wurde.
Etwas günstiger als hier lagen die Verhältnisse in Niederschlesien. Im Jahre
1780 waren daselbst im ganzen 27 Steinkohlengruben im Betriebe, von denen
sechs bei Neurode belegen waren, die ca. 125 000 Tonnen Steinkohlen, im
Werte von 72 000 Mark, lieferten und absetzten. Außerdem waren daselbst
noch drei Kobalterzgruben, ein Schwefelkiesbergwerk, ein Kupfer- und ein
Arsenikerz-, zwei Bleierzbergwerke im Betriebe, welche den dortigen Interessenten
zusammen eine Einnahme von ca. 100 000 Mark abwarfen. Rheden erkannte
sofort mit scharfem Blicke die außerordentlich reichen Mineralschätze, welche
Schlesien barg, und die Entwicklungsfähigkeit des schlesischen Bergbaues; er
wußte ferner, daß die Anwendung der Dampfmaschine und die Verwendung der
Steinkohle zu technischen Zwecken, wie er dies in England genau kennen gelernt
hatte, zur Eutwickelung der schlesischen Montanindustrie notwendig sei. In der
Nutzbarmachung dieser beiden so wichtigen Hebel der Montanindustrie liegt mit
das größte Verdienst Rhedens.
Rheden bewirkte durch seinen Einfluß, daß der Staat selbst mit der Er-
ösfnung von Gruben und der Einrichtung großartiger Hüttenanlagen voranging
und bedeutende Summen anlegte; und Preußens großer König brachte in der
neu erworbenen Provinz durch eine weise Bergwerksgesetzgebung und durch
thatkräftige Hilfe den daniederliegenden Bergbau in Flor.
Die erste Folge der Wirksamkeit Rhedens war die Wiederaufnahme des
Tarnowitzer Bleierzbergbaues auf der fiskalischen Friedrichsgrube, woselbst
1784 der erste Fund auf dem Rudolfienschacht gemacht wurde. Im Jahre 1783
wurde daselbst die erste Dampfmaschine (die zweite auf dem Kontinent) zur
Wafferbewältigung aufgestellt. Diese Maschine hatte man aus England bezogen,
und bald folgten ihr andre nach.
Im Jahre 1786 wurde die fiskalische Friedrichshütte zur Verhüttung der
auf der Friedrichsgrube gewonnenen Erze erbaut. In demselben Jahre begann
Rheden mit der Errichtung der königlichen Eisengießerei zu Gleiwitz, auf welcher
der erste Kokshochofen in Deutschland erbaut wurde, dessen Koksversorgung
durch den im Jahre 1798 in Angriff genommenen Tiefbau der fiskalischen
Königin-Luise-Grube erfolgte. Hieran schloß sich ferner der Bau der fiskalischen
Königshütte neben der bereits im Jahre 1791 in Angriff genommenen fiska-
lifchen Königsgrube.
Auch auf die wachsende Entwicklung der Zinkindustrie hat Rheden einen
mächtigen Einfluß ausgeübt. Er bemühte sich ferner, die Herstellung des Zinkes
aus Galmei kennen zu lernen, und es gelang ihm auch, diesen wichtigen Prozeß
auf der im Jahre 1809 erbauten fiskalischen Lydognia-Zinkhütte im großen ein-
zuführen. Auch erschloß er den wichtigsten Teil des oberschlesischen Kohlenreviers.
Dieses thatkräftige, von dauernd günstigen Erfolgen begleitete Vorgehen des
Fiskus erleichterte und ermunterte die Privatindustrie, mit Gruben- und Hütten-
anlagen vorzugehen, was im Jahre 1809 zum Bau der Hohenlohehütte und
kurze Zeit darauf zur Begründung der Antonienhütte führte.
56 Handel und Gewerbe in Schlesien.
In Niederschlesien veraulaßte Rheden die ausgedehntesten Untersuchungen
der verschiedenen Erzlagerstätten, die jedoch meist nicht zu belangreichen Resultaten
geführt haben. Dagegen waren seine Bemühungen um die Entwickelung des
niederschlesischen Steinkohlenbergbaues erfolgreicher.
Im Jahre 1803 wurden in Schlesien produziert: Steinkohlen im Werte
von fast 900 000 Mark durch 1480 Arbeiter; Galmei im Werte von 30300
Mark durch 38 Arbeiter; Blei und Silber im Werte von 400 000 Mark durch
530 Arbeiter; Eisenwaren aller Art im Werte von 3 900 000 Mark durch
2425 Arbeiter; blaue Farben im Werte von 46 000 Mark durch 110 Arbeiter;
Kupfer im Werte von 38 000 Mark durch 134 Arbeiter; Arsenik im Werte
von 45 600 Mark durch 107 Arbeiter; Salpeter im Werte von 72000 Mark
durch 21 Arbeiter; Vitriol im Werte von 135 000 Mark durch III Arbeiter.
Die Produkte dieses einen Jahres hatten einen Wert von beinahe 6 000 000
Mark und wurden durch fast 5000 Arbeiter gewonnen. Das war unter Rheden
in ungefähr 20 Jahren erreicht worden; und diese Resultate müssen wirklich
bedeutend und glänzend erscheinen, wenn man die damaligen Verhältnisse be-
rücksichtigt, da es an fast allen Bedingungen fehlte, welche jetzt der Industrie
in hohem Maße zu Gebote stehen.
Als Goethe im Jahre 1790 die Friedrichsgrube in Tarnowitz besuchte,
schrieb er in zutreffender Weise in das dortige Fremdenbuch:
An die Knappschaft von Tarnowitz.
. Fern von gebildeten Menschen, am Ende des Reiches, was hilft euch
Schätze finden und sie glücklich zu bringen ans Licht?
Nur Verstand und Redlichkeit helfen; es führen die beiden
Schlüssel zu jeglichem Schatz, welchen die Erde verwahrt.
Tarnowitz, den 4. September 1790. Goethe.
Nächst Rheden war sür die schlesische Hüttenindustrie von dem weitgehendsten
Einfluß Karsten, welcher 1805—1819 dem schleichen Hüttenwesen vor-
stand und von 1819—1850 bei der Zentralverwaltung für das Berg- und
Hüttenwesen in Berlin thätig war. Karsten ist als der Träger der neueren
Hüttenprozesse zu betrachten und hat sich namentlich um die Entwickelung des
Eisen- und Zinkhüttenprozesses außerordentliche Verdienste erworben. Ihm
ist es zu verdanken, daß die schlesischen Bergwerks- und Hüttenprodukte von
Jahr zu Jahr ganz bedeutend zunahmen und immer mehr au Wert gewannen.
Wir haben gesehen, daß sich der Wert aller dieser Produkte im Jahre 1803
auf beinahe 6 000 000 Mark belief; von 1823—1827 schwankte er zwischen
6150000 und 8400000 Mark; von 1828—1836 ging er freilich etwas
zurück; von 1837—1847 schwankte er zwischen 14400 000 und 33 000 000
Mark, im Jahre 1867 aber stieg er auf 93 Millionen, im Jahre 1880 auf
mehr als 150 Millionen Mark.
Zur Erreichung dieser günstigen Resultate haben bedeutend beigetragen:
die ausgedehntere Benutzung der Dampfkraft, die Eröffnung und weitere Aus-
dehnung des Eisenbahnnetzes, das allgemeine Berggesetz vom 24. Juni 1865.
Zur Beförderung des Bergbaues und zum Wohle der Arbeiter dienen die Knapp-
schafts- uud Krankenkassen, die Bergbauhilfskaffeu, Sonntagsschulen, Fort-
bildungsschulen, Bergschulen und Industrieschulen.
Steinkohlen. 57
Steinkohlen. Aus den amtlichen Berichten erfahren wir, daß Schlesien
seit 1769 bereits über 4000 Millionen Zentner Steinkohlen geliefert 'hat.
Bei solch bedeutenden Förderungen drängt sich unwillkürlich die Frage auf. wie
lange der schlesische Steinkohlenvorrat noch ausreichen wird? Von Fachmännern
ist berechnet worden, daß Schlesien noch auf Jahrhunderte hinaus den Bedarf
an Steinkohlen bei steigender Förderung zu liefern vermag, und daß dieselben,
welche man in zutreffender Weise mit dem Namen von schwarzen Diamanten
bezeichnet hat, auf lange, nicht absehbare Zeit als eine Quelle provinziellen
Wohlstandes und als Grundlage vielfacher industrieller Thätigkeit zu betrachten
sind. Interessant dürfte ein kurzer Auszug aus den amtlichen Berichten über
die schlesische Kohlenproduktion sein, weil sich aus Zahlen am besten erkennen
läßt, was hier mit der Zeit gewonnen wurde. Danach betrug an Steinkohlen
in Oberschlesien in Niederschlesien also in ganz Schlesien
die Zahl der die Zahl der die Zahl der die Zahl der
in den Jahren zu Tage ge- förderten «> zu Tage ge- förderten die^Zahl im Werte
Werke Arbeiter Tonnen Ä 20 Zentner i Arbeiter Tonnen ä 20 Zentner Tonnen Mark
1769 367 3200 3567 13 500
1779 — — 794 — — 17 000 17 794 76 047
1789 — — 9167 — — 70214 79381 293013
1799 18 619 38 546 54 916 116190 154 736 611793
1809 — — 82 306 — — 133514 215820 976506
1819 30 946 153382 32 1237 183890 337 272 1404153
1829 47 1562 250318 38 1474 187 454 437 772 1725633
1839 71 3167 440864 35 1994 234407 675270 2778477
1849 73 5615 915936 41 2694 359 481 1 275417 5509317
1859 86 12838 2333627 43 4687 773 003 3106630 13965315
1869 112 23096 5 555333 40 8056 1411140 6 966 473 34 945770
1879 106 30 573 8909 903 47 10 487 2 278084 11196987 47 900 044
1880 103 32 290 10016520 45 12 533 2640 244 12656764 57186762
von 1769—99 — — 256712 — — 1458682 1715394 6615408
„ 1800—29 — — 4 592338 — — 4 970 596 9 562 934 38140722
„ 1830—49 — — 10476758 — — 5231140 15707 898 64907 442
„ 1850—69 — — 57 372314 — — 16 668 589 87 040 903 320 975 559
„ 1870—79 — — 77642625 — — 21120517 98763142 605004156
1880 — — 10016520 — — 2640244 12656764 57186762
Es wurden also Steinkohlen zu Tage gefördert von 1769 — 1830: in
Oberschlesien 160357 267 Tonnen oder 3207 145340 Zentner, in Nieder-
schlesien 52 089 768 Tonnen oder 1 041 795 360 Zentner, im ganzen
Schlesien 212447 035 Tonnen oder 4248940700 Zentner im Werte von
1092 830 049 Mark.
Die Leistungsfähigkeit der fchlesischen Kohlengruben ist demnach in der
letzten Zeit bedeutend gestiegen; die Kohlenverkaufspreise aber sind in den letzten
Jahren gesunken, weil infolge der massenhaften Produktion das Angebot größer
war als die Nachfrage und der Verbrauch, und weil mit der fchlesischen Kohle
die englische in Konkurrenz tritt, obgleich diese an Heizkrast und Brennwert
die schlesische nicht etwa übertrifft.
Die EntWickelung des Braunkohlenbergbaues in Schlesien fällt in eine
viel spätere Zeit, als die des Steinkohlenbergbaues. Wenngleich Braunkohlen
58
Handel und Gewerbe in Schlesien.
schon zu Anfang unsres Jahrhunderts an einigen Orten bekannt waren, so
finden sich in Schlesien doch erst seit dem Jahre 1839 regelmäßig betriebene
Braunkohlengruben. Bis zum Jahre 1355 war die Zahl der betriebenen
Gruben auf 23 mit einer Jahresproduktion von 71548 Tonnen ä 20 Zentner
gestiegen. Von da ab hat sich dieser Bergbau in erheblicherem Maße ent-
wickelt; denn es waren im Betriebe:
in: Jahre Werke mit produzierten Tonnen h 20 Zentner im Werte von mit beschäftigten Arbeitern
1859 34 115789 306672 692
1869 34 358439 922386 1110
1879 36 425 255 1470 275 1231
1880 39 417793 1469 545 1197
An Zinkerz wurden im Jahre 1840 in 32 Werken von 1817 Arbeitern
48 935 Tonnen im Werte von 1708 473 Mark, im Jahre 1880 in 43 Werken
von 9346 Arbeitern 530 994 Tonnen im Werte von 8 090 465 Mark zu Tage
gefördert. Dagegen hat die Förderung an Galmei in den letzten Dezennien
immer noch mehr abgenommen. Diesen Ausfall har man auszugleichen versucht
durch Verhüttung von Zinkblende (Schwefelzink), von der im Jahre 1868
in einer Grube 829 Tonnen (13 901 Mark), im Jahre 1880 schon in sechs
Gruben 81322 Tonnen (3145902 Mark) gefördert wurden. Bis jetzt be-
fchäftigen sich nur einige schlesische Zinkhütten mit der Verhüttung von Zink-
blende, mit welcher ein lästiger und kostspieliger Röstprozeß verbunden ist; doch
ist dieser Zweig der Industrie in stetem Wachsen.
In beständigem Steigen ist die Gewinnung des Zinkes, denn es wurden
gewonnen:
im Jahre 1819 in 6 Werken mit 267 Arbeitern 1128 Tonnen mit 349 695 2)?. Wert,
1829 n 18 n 528 6747 „ 977 256
1839 35 1229 „ 10713 „ „ 3103788
1849 37 2419 „ 23283 „ „ 5377 095
1859 40 4033 „ 37 211 „ „ 13 525131
1869 37 4023 „ 37965 „ „ 13 687017
1879 27 4693 „ 63476 „ „ 19017 576
1880 „ 27 „ 4768 „ 65443 „ ' „ 22129137 „ „
Die Bleierz-Produktion in Schlesien betrug
im Jahre 1819 in 1 Werke mit 539 Arbeitern 1427 Tonnen mit 251598 M. Wert,
„ „ 1849 7 Werken „ 317 „ 995 „ „ 177459 „ „
„ 1869 „ 21 „ „ 1780 „ 13124 „ „ 2 591229 „ „
1879 „ 19 „ „ 852 „ 16187 „ „ 1 987190 „
„ „ 1880 „ 16 „ „ 808 „ 17 766 „ „ 2 573423 „ „
Von 1786—1880 wurden in Schlesien gewonnen: 183667 kg Silber
im Werte von 31619 757 Mark. 183151t Blei im Werte von 66 380 998
Mark, 68 283 t Bleiglätte im Werte von 26 654346 Mark.
Eisenerze wurden gefördert von 1826—1880 14800000 t oder 297
Millionen Zentner im Werte von 63 400000 Mark, Roheisen 6160000 t
oder 123 Millionen Zentner im Werte von 535100 000 Mark.
Mit diesen Angaben dürfte vielleicht das Wichtigste über die Geschichte
und den jetzigen Stand des Bergbau- und Hüttenwesens in Schlesien gesagt
sein. Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, was über die Geschichte und den
heutigen Stand der Weberei gesagt worden ist, so kommen wir zu der Überzeugung,
Schleiche Gewerbe- und Industrieausstellung. 59
daß Schlesien sich durch den Fleiß und die Intelligenz seiner Einwohner immer
mehr zu einer blühenden Provinz des preußischen Staates emporschwingt; und
das muß unsre feste Überzeugung werden, obgleich wir erst zwei Gebiete der
schleichen Industrie, freilich die beiden wichtigsten, in den Kreis unsrer Be-
trachtung gezogen haben. Wenn wir uns aber von dem gewerbfleißigen Schlesien
nur ein einigermaßen richtiges Bild machen wollen, dürfen wir nicht von der
schlesischen Industrie scheiden, ohne auch auf andre nicht unbedeutende Gebiete
einen Blick, wenn er auch nur flüchtig ist, geworfen zu haben; denn in Schlesien
sind die Gewerbtreibeuden und Industriellen nicht nur Weber und Bergleute.
Doch wie finden wir uns hindurch in diesem Chaos? Wo fangen wir nnsre
Betrachtung an? Wie reihen wir die einzelnen Glieder zu einer schönen Kette
aneinander? Stände uns der alte Römergott Mereurius, der Handel und Ge-
werbe schützte, zur Seite, er würde uns wohl führen, so daß wir nicht nur
Schlesiens Berge, sondern auch Schlesiens Gewerbfleiß lieb gewinnen würden.
Wenn wir ihn fragen, so weist er uns mit seinem Stabe nach Breslau und
erinnert uns daran, daß dort im Jahre 1881 war die
Schleiche Gewerbe- und Industrieausstellung. Sie sollte bringen und
hat zur Anschauung gebracht ein Gesamtbild der Gewerbthätigkeit Schlesiens.
In Breslau fanden Provinzial-Gewerbeausstellungen statt zuerst im Jahre 1852,
dann im Jahre 1857, darauf im Jahre 1870; die vierte wurde im Jahre 1881
abgehalten; so glänzend wie diese ist keine der früheren gewesen. Unweit des
rechten Oderufer-Bahnhofes erhoben sich damals die Türme und Türmchen des
Ausstellungspalastes; stolz wölbten sich die Kuppeln über den mächtigen Hallen;
mit gerechtem Stolz blickte der Schlesier auf den prächtigen Bau und felbst
der an große Eindrücke gewöhnte Weltstädter betrat diese Stätte emsigen Schaffens
mit wahrhaftem Staunen. Lange Zeit vor dem Beginn der Ausstellung wurden,
nachdem der Prachtbau so praktisch wie möglich fertig gestellt war, die Produkte
schlesischer Industrie aus allen Gegenden der Provinz herangeschafft und, nach
verschiedenen Gruppen geordnet, aufgestellt. Am 15. Mai 1881 wurde die
Ausstellung eröffnet mit dem Gesänge des Chorales „Lobet den Herrn". Dann
sprach der Kommerzienrath Dr. Websky, der unermüdlich thätige Mann, der
sür die Ausstellung in fieberhafter Ruhelosigkeit gearbeitet hatte, als Vorsitzeuder
des geschäftsführenden Ausschusses mit markiger, weithin vernehmbarer Stimme
unter andern Worten auch folgende zur Begrüßung: „Lassen Sie mich zunächst
Sie alle, die Sie zur Feier dieses Tages hierher gekommen sind, von Herzen
begrüßen. Feierlich ist stets der Augenblick, in welchem ein großer Wettstreit
beginnt. Ein solcher Augenblick ist heute für Schlesiens Gewerbtreibende ge-
kommen. Lange haben dieselben ihre Vorbereitungen getroffen; lange hat sich
jeder Einzelne bemüht, das Beste, was er leisten kann, in gefälliger Form seinen
Mitbürgern vorzuführen! Aber heute ist erst die Arena eröffnet, heute bieten sie
zum erstenmal dem prüfenden Auge des Beschauers das Resultat ihrer Arbeit
dar. Nicht sind es die Felder männervernichtenden Kampfes, die heute unsre
Sinne fesseln — auch auf ihnen haben sich Schlesiens Söhne noch vor einer
kurzen Spanne Zeit bewährt —: heute sind es die Thaten friedlicher, menschen-
nährender und menschenveredelnder Gewerbthätigkeit, die sich unserm Auge dar-
bieten." Daun wies der Redner auf die vielen Schwierigkeiten hin, welche sich
einem so umfangreichen Unternehmen, wie die GeWerbeausstellung einer ganzen
60 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Provinz ist, entgegenstellen, und bedauerte, daß das Werk doch nicht die Aus-
dehnung genommen hat, die es hätte nehmen können, wenn sich Niederschlesien
in weiterem Umfange und reger beteiligt hätte. Er dankte denen, die ihm bei
dem schwierigen Werke bereitwilligst geholfen hatten.
Eröffnet wurde die Ausstellung durch folgende Worte des Herrn Ober-
Präsidenten der Provinz, Freiherrn von Seydewitz: „Es ist eine Lebensfrage
für eine in gedeihlicher Entwickelung stehende Industrie, daß sie auf dem großen
Markte zur Geltung und Anerkennung gelangt; und sie kann das nur, wenn
sie durch die Herstellung solider und möglichst vollkommener Erzeugnisfe beweist,
daß sie in berechtigte Konkurrenz mit der Industrie andrer Länder und Provinzen
zu treten vermag. Es gereicht mir znr besonderen Genngthuung, in betreff der
Industrie nnsrer Provinz es aussprechen zu können, daß sie in ihren Leistungen
in der Mehrzahl ihrer Zweige den besten Vorbildern nacheifert, ja daß sie die-
selben in den meisten Fächern erreicht und überholt hat. Die heute beginnende
Ausstellung soll und wird einen neuen Beleg dafür bieten. Möge sie über die
Grenzen unsrer Provinz hinaus den Beweis liefern, was in fleißiger und mühe-
voller Arbeit Industrie und Gewerbe, ja was auch die Kunst iu unsrer Provinz
zu leisten vermag; und möge sie eine Anregung bieten, auf der Bahn solider
und gedeihlicher Entwickelung fortzufahren. Mit diesem Wunsche erkläre ich die
diesjährige Industrie- und GeWerbeausstellung der Provinz Schlesien für er-
öffnet: ich scheide aber nicht, ohne mit Ihnen dem erhabenen Förderer und Be-
schützer aller Werke des Friedens unsre Huldigung darzubringen, indem ich Sie
ersuche, mit mir einzustimmen in den Ruf: Seine Majestät der Deutsche Kaiser,
König Wilhelm von Preußen, lebe hoch." —Begeistert stimmte die Versammlung
in ein dreimaliges Hoch ein. Hierauf folgte der erste Rundgang durch die Aus-
stellungsräume.
In dem Ausstellungspalast finden wir natürlich viele Räumlichkeiten, welche
uns hier wenig interessieren, die aber sehr notwendig sind, wie die Bureaus für
die Verwaltung der Ausstellung, für Post und Telegraphie, Polizei, Feuerwehr.
Wir wenden uns der Industrie selbst zu, die in neunzehn Gruppen vertreten ist.
Die erste Gruppe enthält Produkte des Bergbaues und Hüttenwesens.
Besitzer von Bergwerken haben sich bemüht, dem Besucher ein Bild ihrer Werke
in verkleinertem Maßstabe zu geben, und legen ihm Proben vor von Kohlen
und Erzen, die sie gewonnen haben. Neben den Werken des eigentlichen Berg-
baues ist für den Fachmann die Ausstellung des Pulvers (in Imitationen wegen
der Gefährlichkeit der Originale) der Firma W. Güttler in Reichenstein von
hervorragendem Interesse. Neben den verschiedensten Sorten von Kriegs-,
Spreng-, Jagd- und Scheibenpulver sind Ansichten und Pläne der zu den be-
deutendsten Pulverfabriken gehörenden fchlesischen derartigen Etablissements
ausgestellt. Die Familie Güttler ist schon 200 Jahre im Besitze von Pulver-
mühlen, ein Beweis, daß es auch in der Industrie Familien gibt, die wie der
historische Adel das Eigentum der Väter von Glied aus Glied vererben und es
treulich verwalten. Die von Güttler ausgestellten Pulverproben in einigen
sechzig Glasflaschen bieten eine lehrreiche Zusammenstellung der Entwickelnngs-
geschichte des Schwarzpulvers. Es sind die Kriegspulversorten aller Länder
ausgestellt, soweit bezüglich der äußeren Form der Pulverkörner wesentliche
Unterschiede bestehen. Diese Unterschiede sind durch die verschiedene Konstruktion
Schlesische Gewerbe- und Industrieausstellung. 61
der einzelnen Waffengattungen und der aus denselben zu erzielenden Wirkung >
bedingt. Von den Geschützpulversorten fällt das in neuester Zeit zu besonderer
Entwicklung gelangte prismatische Pulver (sechseckige Prismen) auf.
Das Eisenhüttenwerk Friedrichshütte bei Bunzlau stellt einen Regulier-
füllofen mit Luftzirkulation auf. Wir sehen Atmungs- und Beleuchtungsapparate,
Taucherapparate in Verbindung mit der unterseeischen Lampe, eine elektrische
Signalvorrichtung für Förderschachte.
Die Gebäude der schleichen Gewerbe- und Industrieausstellung im Jahre 1881.
In der zweiten Gruppe ist das Maschinenwesen vertreten. Hier finden
wir Maschinen aller Art und was zu ihnen gehört. Die Maschinenindustrie
Schlesiens ist ein Kind der Neuzeit. Behaftet mit allen Fehlern und ausgestattet
mit allen Vorzügen unsrer leichtlebigen und rasch fortschreitenden Gegenwart,
hat sie in dem kurzen Zeitraum von sechzig Jahren all die glücklichen und un-
glücklichen Entwickelungsphasen durchgemacht, welche ihre älteren Geschwister,
die Tnchmacherei und Leinenindustrie, in drei Jahrhunderten erlebt haben. Der
Maschinenbau konnte sich nicht ans den Zünften entwickeln, denn er stand im
bewußten Gegensatz zu denselben. Die Zeiten, in denen man darüber stritt, ob ein
Thorbeschlag vom Schmied oder vom Schlosser anzufertigen sei, mußten längst
überwunden sein, ehe der Maschinenbauer als selbständiger Gewerbtreibender
auftreten konnte; denn er bedurfte zur Herstellung seiner Arbeit der Schmiede,
Schlosser, Dreher, Tischler, Former und Gelbgießer und brachte rücksichtslos
unter einen Hut, was die ehrsamen Zünfte früher sorgfältig geschieden hatten.
62 Handel und Gewerbe in Schlesien.
In den Zweig des Eisenbahnwagenbaues traten auch noch Maler, Lackierer.
Tapezierer, Glaser und Lederarbeiter; und wer heute das Magazin einer
Eisenbahnbetriebswerkstätte durchwandert, findet daselbst das gesamte Gebiet
gewerblicher und industrieller Leistung vertreten.
Die ersten Spuren des Maschinenbaues in Schlesien sind in den Reparatur-
Werkstätten der Berg- und Hüttenwerke zu suchen. Zu den Reparaturen gesellte
sich bald die Anfertigung einfacher Maschinen, wie von Bohrmaschinen, Dreh-
bänken. Eine Maschinenfabrik ist nicht denkbar ohne Dampfbetrieb, nicht denk-
bar ohne Eisenbahnbetrieb. Den Ansang der schleichen Maschinenindustrie
werden wir in das Jahr 1820 verlegen müssen. Schnell entwickelte sich dieser
Zweig der Industrie, so daß wir in der Ausstellung Maschinen von bedeutenden
Fabriken, deren Ruf über die Grenzen der Provinz reicht, ausgestellt finden:
Maschinen aus Breslau, aus Märzdorf im Kreise Ohlau, aus Neuland bei
Neiße, aus Görlitz, aus Schmiedeberg und aus andern Orten, die den verschie-
densten Zwecken dienen und unsre Bewunderung erregen. Neben den groß-
artigsten Maschinen finden wir in dieser Gruppe auch Puppen beiderlei Ge-
schlechts in hocheleganten Exemplaren, Gummipuppen mit gestrickter Bekleidung,
auch Harmonikas (von Maiwald in Breslau), dauerhaft gearbeitete Instrumente,
die, vielleicht weil sie meist nur im Freien und in den Feiertagsstunden gespielt
werden, aus der Gruppe der Musikinstrumente ausgeschlossen sind.
Von ganz besonderer Reichhaltigkeit ist die dritte Gruppe, welche die ver-
schiedenen Arten der Metallindustrie in sich schließt. Hier ist besonders
hervorzuheben die Glimmerwarenindustrie, weil sie für Schlesien bedeutend,
aber leider wenig bekannt ist. Glimmer oder Mika ist ein Mineral, das von
Säuren und von Hitze gar nicht angegriffen wird; es ist äußerst spaltbar und
ganz durchsichtig. Diese Eigenschaften des Glimmers führten Max Raphael in
Breslau im Jahre 1865 dazu, den Glimmer zu gewerblichen Zwecken zu ver-
werten. Nachdem das Material gefördert worden war, wurden zuerst Gas-
cyliuder und Blaker fabriziert. Die Gascylinder führten sich schnell ein; die
Blaker aber, die den Plafond vor dem Blak der Lampe schützen, wurden zuerst
als Luxusgegenstand angesehen, fanden aber später, als man ihren praktischen
Wert erkannt hatte, immer weitere Verbreitung. Deutschland deckt fast allein
Englands, Frankreichs und Amerikas Bedarf an Glimmerwaren. Außer Gas-
cylindern und Blakern wurden auch Lampenschirme angefertigt. Glimmerplatten
in eisernen Ösen isolieren das Eisen und machen es haltbarer. Glimmerbrillen
schützen und schonen die Augen des Arbeiters, der in unmittelbarer Nähe von
Gluthitze arbeitet, da Glimmer einer der schlechtesten Wärmeleiter ist. Glocken
und Schalen, auch Wind- und Jnsektenschützer werden aus Glimmer hergestellt.
Wie im ganzen Deutschen Reiche, so entwickelte sich auch in Schlesien die
Metallindustrie aus den Innungen und Zünften heraus und machte sich mühsam
von den Zwangseinrichtungen derselben frei. Heute steht auch dieser Zweig der
Industrie mit seiner freien Entwicklung in hoher Blüte. Wir sehen in der
Ausstellung neben schönen Edelsteinen Armbänder, Halsbänder, Broschen, die in
schönem Geschmacke gehalten sind; Herrenuhrketten in rotem Golde, Silber-
bestecke, Geldschränke, Kronleuchter, Kandelaber und andre Kunstwerke, die unsre
Bewunderung verdienen. Unsre besondere Aufmerksamkeit erregen die Werke
der Kunst- und Bauschlosserei von Gustav Lehnhardt in Breslau. Sehr einfach
Schlefische Gewerbe- und Industrieausstellung. 63
ist ein Gartenpavillon, der zeltartig in Rundeisen ausgeführt ist; noch leichter
gehalten ist das Gartenzelt aus der Malchowschen Fabrik in Breslau, das aus
schlanken, mit Bambusrohrstangen bemalten Eisenstäben ruht, im Garten leicht
transportabel ist und hier eine große Anzahl von Gestellen und Etageren für
Blumentöpfe, Goldfischgläser u. dgl. in farbiger Ausstattung enthält. Hier liegen
aus Oppeln Hacken, Spaten, Sensen, Schaufeln, dort aus Bunzlau Schirm-
ständer, Ofenvorsetzer, Kaminthüren; hier aus Breslau Taschen-, Jagd- und
Tafelmesser und Dolche, dort Gewehre und andre Waffen. Zu der Sammlung
der Pferdebeschläge gehört auch folgendes Gedicht, das, von einem Reimschmiede
verfaßt, dort zu lesen ist:
„Wird ein Pferd vom Schuh gedrückt, Und gib ihm bei guter Pfleg'
Statt zum Schuster geht zum Schmied; Ein naturgemäß Beschlag'.
Nur zur rechten Schmied' geschickt, Bedenke wohl, ein lahmes Pferd
Daß der Sach' Genüg' geschieht. Hat sür niemand einen Wert
Stets erhalte so den Huf, Und wird als unnützer Gast
Wie der Schöpfer ihn erschuf, Seinem Herrn oft nur zur Last."
Der Vogelliebhaber findet hier eine Voliere für Wald- und Zimmervögel:
die Hausfrau schöne Kücheneinrichtungen, in denen kaum ein denkbarer Gegen-
stand von den vielen in der Küche unumgänglich nötigen fehlt; denn es finden
sich auch Krauthobelmaschinen. Fleischwiegemaschinen u. s. w. Mannigfaltig sind
die aus Bronze verfertigten ausgestellten Artikel, interessant die Klempnerarbeiten.
Doch wir können hier nicht länger bleiben, soviel Unterhaltung uns auch dieser
Teil der Ausstellung gewährt. Wir wenden uns zur vierten Gruppe, welche die
Kurzwaren enthält. Auch auf diesem Gebiete der Industrie ist Schlesien hinter
andern Provinzen nicht zurückgeblieben; denn Schlesien hat mehrere Kurzwaren-
fabriken, deren Fabrikate Ruf haben. Dieser Industriezweig kann in allen seinen
Schöpfungen seinen Ursprung aus der Gebirgsindustrie nicht leugnen und hat
sich dadurch eine urwüchsige Frische erhalten, die auch in der heute verfeinerten
Form noch vorteilhaft zu bemerken ist. Deshalb stehen auch Holzwaren hier
im Vordergrund, wie Handschuhkasten, Uhrständer, Manschettenknöpfe, Spiel-
waren (Pferde. Hunde, Wagen, Trommeln), Schachspiele in prächtiger Schnitz-
arbeit. Am meisten wird das auf den Bergen wachsende Knieholz in diesen
Fabriken verarbeitet.
Die fünfte Gruppe umfaßt die chemische Industrie. Hier schenken wir
unsre Aufmerksamkeit zunächst einem kleinen, aber für Reiche und Arme gleich
wichtigen Gegenstande, dem Streichholze. Wieviel Arbeit und Sorgfalt erfordert
jedes einzelne Zündholz, wenn dieser „Schwede" seinen Beruf nicht verfehlt
haben soll. Phosphorfreie Sicherheitshölzer hat die Zündwarenfabrik von Po-
korny in Oberglogau ausgestellt. Da ist jedes Hölzchen sorgfältig gehobelt, in
der richtigen Länge genau geschnitten, dann in Rahmen gelegt, mit Paraffin ge-
tränkt und schließlich in die aus zehn verschiedenen 'Chemikalien sorgfältig zu-
bereitete Zündmasse getaucht worden. Nur die mit der Zeit sich entwickelnde
Massenfabrikation dieses Artikels ermöglicht diesen außerordentlich billigen Preis.
„Der Verbrauch der Seife ist ein Gradmesser für den Kulturstand eines
Volkes." Je höher Schlesien in der Kultur stieg, desto mehr Seifenfabriken
entstanden in allen größeren Städten der Provinz. Mehrere Fabriken haben
treffliche Muster ihrer verschiedenen Seifen ausgestellt und diesen außerdem noch
64 Handel und Gewerbe in Schlesien.
andre Artikel ihres reichausgestatteten Lagers hinzugefügt. In dieser Abteilung
sehen wir auch Sprengstoffe, Fette, Lichte, Leim, künstlichen Dünger, Tinten,
Säuren der verschiedensten Art.
Nahruugs- und Genußmittel finden wir in der sechsten Gruppe, die
in gewisser Beziehung die wichtigste Abteilung der Gewerbe- und Industrie-
ausstellung ist; denn eine normale Ernährung ist die naturgemäße Grundlage
für die Wohlfahrt der Völker. Nahrung bedingt das Leben, fördert Arbeitskraft
und Intelligenz, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Wir essen, um
körperlich und geistig arbeiten zu können. Hätte die Speise keine andre Be-
deutuug für uns, als nur die der Nahrung, so könnten wir uns mit den ein-
sachsten Formen derselben, mit Eiweiß, Stärke, Zucker, Fett und Salz, begnügen
und zu der Lebensweise der rohen Völker zurückkehren.
Rohe Völker lieben einfache Verhältnisse, also auch eine einfache Küche.
Mit der fortschreitenden Kultur werden die Ansprüche auch in bezug auf die
Nahrung vielseitiger und mannigfaltiger. Die Küche wird dann nicht nur eine
wissenschaftliche, sondern auch eine künstlerische; denn wir sprechen von einer
Kochkunst und von einer Eßkunst. Beim Essen wollen wir nicht nur essen, um
zu leben, sondern auch genießen. Der Genuß erst würzt und veredelt das Mahl.
Die Aufgabe der menschlichen Intelligenz ist es daher, die nährenden, heil-
kräftigen, erquickenden Stoffe auf industriellem Wege aus den wertlosen Hüllen
zu befreien, zu verfeinern, genießbarer, schmackhafter und verdaulicher zu machen
und sie zu Genußmitteln verschiedenster Art zu gestalten. Die sechste Abteilung
nun bietet uns ein überaus interessantes und lehrreiches Bild von diesen indu-
striellen Bestrebungen Schlesiens; denn die Ausstellung ist gerade in bezug auf
Genußmittel aller Art außerordentlich reich beschickt worden, und dem Auge des
Beschauers bietet sich hier ein ganzes Feld von Herrlichkeiten, die der Besprechung
wert erscheinen. Zucker und Alkohol, Schokoladen, Honigwaren, Kaffeesurrogate,
Gewürze und das edle Tabakkraut sind hier neben vielen andern Artikeln vertreten.
Das Ideal zweckmäßiger Nahrung, der süßeste Quell der Natur, ist die
Milch; ihr verdanken wir vor allem den Aufbau unfres Körpers gerade in der
Zeit unfres Lebens, in der alle Gewebe in lebhaftester Thätigkeit begriffen sind :
mit ihr wird deshalb auch hier am besten der Anfang gemacht. Die ausgestellten,
in Schlesien verfertigten Milchwagen zeigen sich in zwei Formen, für Pferde
und für Handbetrieb. Neben ihnen sehen wir Käse, Milchzucker, Artikel für
Molkerei und Käsefabrikation.
Allen materiellen Interessen voran steht die Sorge um das tägliche Brot!
Mehl und Backwaren nehmen deshalb die zweite Stelle unter den Nahrungs-
Mitteln ein. In zierliche Säckchen verpackt finden wir Proben des schönsten
Weizen- und Roggeumehles, Gries, Graupen, geschälte Erbsen, Erbsenmehl und
Hafergrütze, Makkaroni und Nudeln, Sago und Stärke, Brote und Kuchen; auch
Maschinen, die der Müllerei dienen, fehlen nicht.
Wenn auch die Vegetarianer behaupten, daß der Mensch von Pflanzen-
stoffen allein leben könne und müsse, so werden sie es doch wohl kaum dahin
bringen, daß einmal alle Menschen ihre Grundsätze gutheißen. Die Fleischkost
ist für die Ernährung des Menschen von hoher Bedeutung. Es ist der Er-
wähnung wert, daß auch in Schlesien in jüngster Zeit sich die Fischzucht ge-
hoben hat; auch haben sich Industrielle gefunden, welche die nahrhaften
Schlesische Gewerbe- und Industrieausstellung. 65
Seefische sich schicken lassen und verkaufen. Auch in der Ausstellung finden wir
in großer Menge Welse, Aale, Störe von riesiger Größe, ferner Karpfen, Hechte
und buntschillernde Goldfische.
Die berühmten Oppelner und Janerschen Würste haben leider in der Aus-
stellung keine Vertretung gefunden, aber Würste und Fleischkonserven fehlen nicht.
Schlesien kann sich rühmen, die Wiege der Rübenzuckerfabrikation zu sein.
Marggraf war es, welcher 1747 im Safte der Runkelrüben den kristallisierten
Zucker entdeckte; seine Entdeckung blieb zunächst ohne praktische Folgen, bis sein
Schüler Achard die Entdeckung auszunützen suchte und die erste Rübenzucker-
fabrik im Jahre 1801 zu Cunern in Schlesien errichtete. Heute nimmt Schlesien
nach der Größe der Zuckerproduktion unter den Provinzen des preußischen
Staates und den Ländern des Zollgebietes die zweite Stelle ein. Die Zucker-
rübe ist eine der wichtigsten Kulturpflanzen und ihre Verarbeitung das hervor-
ragendste aller landwirtschaftlichen Gewerbe geworden. Die Zuckerfabrik zu Alt-
jauer stellt in einem achtseitigen Glaspavillon ihre verschiedenen Erzeugnisse in
staffelförmiger Anordnung höchst übersichtlich aus. Schlesien sendet, um seine
Produktion von Zucker zu verwerten, jährlich gegen 800 000 Zentner ins Ausland.
Auch die duftige Dreizahl Kaffee, Thee und Schokolade ist durch verschiedene
Fabriken vertreten.
Bei allen Völkern der Erde finden wir als Genußmittel gegorene Getränke,
die den zivilisierten Völkern fast notwendig geworden sind. Die Fabrikation
der Branntweine und Liköre ist deshalb auch in Schlesien stark vertreten; mit
der Gewinnung hochgradiger feinster Sprite beschäftigen sich mehrere Fabriken,
besonders in Breslau, deren verschiedenartige Artikel uns in Erstaunen setzen.
Die Einführung der Zichorie datiert von der Mitte des vorigen Jahr-
Hunderts, also aus einer Zeit, in der ein langwieriger, verwüstender Krieg die
Wohlhabenheit der Bevölkerung Preußens untergraben und dessen Hilfsmittel in
hohem Grade erschöpft hatte. Jetzt wird die Zichorie vielfach auch in Schlesien
angebaut und ihre Wurzel in großen Fabriken verarbeitet; und die Ausstellung,
welche uns verschiedene Päckchen der Kaffeesurrogate vorführt, zeigt uns, daß
die Industrie der Zichorie eine nicht zu unterschätzende Wichtigkeit besitzt.
Der Tabak wurde in Europa zuerst in Portugal um die Mitte des sech-
zehnten Jahrhunderts angebaut und in Deutschland erst um die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts kultiviert. Obgleich das Gedeihen der Tabakpflanze
sehr vom Boden'und Klima abhängt, so verstehen doch unsre deutschen Tabak-
bauer durch sorgfältige Behandlung der Pflanze es dahin zu bringen, daß ihre
Qualität derjenigen der besseren ausländischen Sorten gleichkommt. Schlesien
ist ein hervorragender Sitz der Tabakproduktion. Es wurden im Jahre 1880
nicht weniger als 42 338 Are schleichen Bodens mit Tabak bepflanzt und gegen
1000 000 ^ Tabakblätter in dachreifem Zustande als Ernte erzielt. Schlesische
Schnupftabake genießen seit langer Zeit einen bedeutenden Ruf. Angebaut wird
der Tabak besonders um Ratibor, Oppeln, Breslau und Ohlau. Muster ihrer
Fabrikate haben die bedeutendsten Fabriken zur Ausstellung geschickt.
Die- siebente Gruppe enthält Stein-, Porzellan-, Steingut- und
Glaswaren, insofern sie nicht zum Bauwesen gehören. Wer die glitzernde
Pracht dieser Gruppe mit offenem Auge durchwandert, wird zugeben müssen,
daß auf diesem Gebiete sich Schlesien mit jeder andern Provinz messen kann.
Deutsches Land und Volk. VIII. 5
66 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Die gräflich Schaffgotschische Josephinenhütte leistet in der Glasfabrikation Er-
staunliches; die schlesische Spiegelglasmanufaktur in Altwasser arbeitet mit 140
Arbeitern, und ihre Dampfmaschinen repräsentieren 200 Pferdekräfte; mehrere
Glashüttenwerke haben Muster ihrer Thätigkeit ausgestellt.
Die nächste Gruppe umfaßt die Holzindustrie. Sie ist, wie wir bereits
gesehen haben, vom Gebirge ausgegangen. Der Bewohner der Berge veranschau-
licht uns in zierlichen Holzfiguren das Gebirgsleben. Hier sitzt ein kleiner Riesen-
gebirgsmann auf einem Schlitten, dort geht er einher mit einer Tragkiepe be-
schwert; den Berggeist Rübezahl sehen wir in den verschiedensten Nachbildungen.
Im Gebirge wird noch heute am meisten Holz verarbeitet. In der armseligsten
Hütte eines jeden Dorfes herrscht reges Leben; denn es wird gemeißelt, ge-
schnitzelt, gedrechselt, gemalt, damit die vielen Dinge von der einfachen Kinder-
klapper an bis zum schönsten Tablett und Gewürzkasten hergestellt werden.
Jeder Fremde will sich ja gern etwas als Erinnerung an das Gebirge in die
Heimat mitnehmen.
Neben den Schnitzereien, die mit der Hand in der Hütte gearbeitet werden,
finden wir in dieser Abteilung großartige Stücke der Parkettfabrikation und
Bautischlerei. Ein patentierter Ausziehtisch hat von einer Fabrik in Langenöls
schon in mehr als 1800 Exemplaren Verbreitung gefunden und sich als praktisch
bewährt. Die Schulbank, die man in neuester Zeit vielfach so zu konstruieren
gesucht hat, daß das Sitzen auf derselben der Gesundheit nicht schädlich wird,
ist hier auch vertreten. Eine Kunsttischlerei für Kirchenbaugegenstände in Breslau
hat als Muster ihrer Thätigkeit einen Hochaltar ausgestellt. Turnapparate fürs
Haus sollen die Glieder der heranwachsenden Jugend kräftigen. Eine Sammlung
von Gegenständen und Maschinen, die der Brauer braucht, bewundern wir wegen
ihrer Großartigkeit; die aufgestellten Billards laden zum Spiele ein.
An die neunte Gruppe, welche die Textil- oder Leinwandindustrie
umfaßt und zugleich Posamentier- und Seilerwaren enthält, schließt sich die
zehnte Gruppe an, in welcher wir Gegenstände finden, die zur Bekleidung dienen.
Bedeutende Schuhwarenfabriken Schlesiens, welche Militärstiefel, Bergsteiger-
stiefeletten, Atlasknopfstiefel, Herrengamaschen, Damenlederstiesel, seidene Nieder-
schuhe und viele andre Arten von Schuhen und Stiefeln ausgestellt haben, be-
mühen sich, daß das Wort „jeder weiß, wo ihn der Schuh drückt" bald ganz
in Vergessenheit kommt. Auch auf diesem Gebiete arbeitet jetzt die Maschine,
wie wir denn hier z. B. eine Absatzfleck-Ausstanzmaschine finden, welche in einer
Stunde 1500—1800 Absatzflecke ausstanzen kann und die ausgestanzten Flecke
selbstthätig in einen unter der Maschine aufgestellten Korb fallen läßt.
Hier finden wir schöne Proben schlesischer Stickerei, die ihren Anfang
in den Klöstern, den Pflanzstätten weiblichen Kunstfleißes, nahm und sich von
dort durch die Töchter des Adels und der reichen Patrizier, die ihre Ausbildung
daselbst erhielten, noch auf weitere Kreise übertrug. Am meisten werden in
dieser Abteilung nicht nur die Stickereien, sondern auch die Wäsche, Betten und
Kleidungsstücke aller Art von den Damen bewundert.
Die elfte Gruppe enthält Leder- und Gummiwaren, die zwölfte die
Papierindustrie, die dreizehnte die polygraphischen Gewerbe, wie
Druckerei und Verlag, Typen, Graveurarbeiten, Musterzeichuungen, Photo-
graphie, Lithographie u. s. w. Besonders reichhaltig ist die vierzehnte Gruppe,
Schlefische Gewerbe- und Industrieausstellung. 67
in welcher wissenschaftliche Instrumente ausgestellt sind. Hier finden wir
die vielen Instrumente, deren bei seinen Untersuchungen der Mathematiker,
Astronom, Naturforscher, Chemiker und Apotheker bedarf. Reichhaltig ist die
Sammlung der ausgestellten Uhren. DieRegulator-Uhrenfabrikation ist durch
Gustav Becker in Freiburg vertreten. Dieser Mann gründete im Jahre 1850
die erste Regulator-Uhrenfabrik in Schlesien, bezw. in Preußen. Er wollte, als
er seine Fabrik gründete, der armen Weberbevölkerung durch Anlernung der
vielen mechanischen Arbeiten eine lohnendere Beschäftigung geben und wurde
in feinem Streben vom Staate unterstützt. Mit sehr bescheidenen Mitteln und
drei oder vier Jungen, die eben ihre Dorfschule verlassen hatten, begann er
und blickte trotz der zu überwindenden Schwierigkeiten froh in die Zukunft.
Gustav Becker erhielt bald vom Staate 20 Drehbänke mit der Bedingung, daß
er während sechs Jahren an jeder Bank einen armen Jungen beköstige, bekleide
und ihm Wohnung gebe. Nach Ablauf der sechs Jahre wurde das betreffende
Stück Beckers Eigentum. So erhielt er nach und nach Maschinen und einen
tüchtigen Stamm von Arbeitern. Im Jahre 1363 wurde das 10 000ste, 1875
das 100000ste und 1881 das 300000ste Werk angefertigt, welches Becker zur
Ausstellung geschickt hat. Auch die einzige preußische Taschenuhren-Fabrik, nämlich
die von Eppner in Silberberg, welche unter Protektion Friedrich Wilhelms IV.
im Jahre 1852 (zu Lähn in Schlesien) begründet wurde, ist auf der Ausstellung
vertreten. Diese Fabrik nahm in kurzer Zeit einen so bedeutenden Aufschwung,
daß von 1872—1873 ungefähr 3600 meist goldene und silberne Ankeruhren
in derselben angefertigt und verkauft werden konnten.
Apparate, die dem Schulunterrichte dienen, sind hier ausgestellt: Blitz-
ableiter, Signalglocken. Telephons u. a. Arnold Winkler in Breslau hat die
schwierige Aufgabe übernommen, feinen Landsleuten und den Besuchern der
Industrieausstellung eine elektrische Eisenbahn vorzuführen, die mit Recht die
Bewunderung von Laien und Sachverständigen hervorrufen muß. Weniger er-
regen unsre Sympathie die künstlichen Gliedmaßen, die ausgestellt sind.
Den wissenschaftlichen Apparaten folgen die Musikinstrumente in der
fünfzehnten Gruppe. In früherer Zeit wurde Musik meistens auf metallenen
Blasinstrumenten gemacht, später machte man diefe Instrumente aus Holz, zu
denen sich noch später die dünn bespannten und schwach klingenden Saiteninstru-
mente, welche geschlagen wurden, gesellten. Aus ihnen entstand das Klavier, das'
jetzt alles beherrschende Klavier, welches auch auf der Ausstellung vom teuren
Konzertflügel an bis zum billigen Pianino vertreten ist; auch die Orgel, die
Königin der Instrumente, finden wir in zwei Exemplaren.
Den Baumeister interessiert die reichhaltige sechzehnte Gruppe mit ihren
Bauornamenten, ihren Zimmer- und Hauseinrichtungen, ihrem Brückenbau
und mit der Darstellung des deutschen Hauses.
Die siebzehnte Gruppe umfaßt die kunstgewerblichen Altertümer, die
achtzehnte den gewerblichen Unterricht. Der ganzen Ausstellung aber hat
einen herrlichen äußeren Anstrich gegeben und zur Belebung derselben besonders
beigetragen die neunzehnte Gruppe, der Gartenbau; denn noch wenige Monate
vor der Eröffnung der Ausstellung war das Stückchen Erde, welches wie durch
Zaubermacht in ein Villenstädtchen verwandelt wurde, das Baumpartieen und von
plaudernden Fontänen belebte Rasenflächen umrahmen, eine öde, schattenlose
5*
68 Handel und Gewerbe in Schlesien.
Fläche ohne das winzigste Pflanzenleben. Diese Belebung verdankt die Aus-
stellung der Gärtnerei, welche in Schlesien besonders gepflegt wird. Aber damit
haben sich die Männer nicht begnügt, welche es unternahmen, eine Wüste in
einen Garten zu verwandeln, daß sie heimische Gewächse dorthin verpflanzten,
sondern sie haben auch den Süden mit seiner Blumenpracht und seinen schönen
Bäumen nach Breslau verlegt. Hier entzücken uns Palmen, deren Heimat das
südliche Europa ist; dort Akazien, die in Ägypten wachsen; hier der Rhabarber
Chinas, dort buntfarbige Päonien.
Die Ausstellung, welche am 15. Mai eröffnet wurde, hat uns ein bunt-
farbiges Bild von dem gewerbfleißigeu Schlesien gegeben. Als sie am 4. Oktober
geschlossen wurde, war sie von ungefähr 600 000 Personen besucht worden.
Sie gewährte nicht den Breslauern allein und den Schlesiern, sondern auch
vielen, die fern von Schlesien wohnen, reiche Unterhaltung und Belehrung und
hat klar dargelegt, daß auf vielen Gebieten der Industrie Schlesien die Kon-
kurrenz andrer Länder nicht zu scheuen hat. Vielleicht dürfen wir behaupten,
daß einzelne Möbel, Wagen, Instrumente von so vorzüglicher Arbeit ausgestellt
gewesen sind, daß mancher Beschauer glaubte, er stehe Pariser, Londoner oder
Wiener Fabrikaten gegenüber. Daß die Beurteilung der Fabrikate durch die Fach-
männer nicht allgemeine Billigung gefunden hat, versteht sich von selbst; denn
niemand kann es allen recht machen, besonders da die Gebiete der Industrie
sehr verschiedenartig sind. Wenn Merkur, der Gott des Handels und der Ge-
werbe, die Götter Griechenlands und Roms zu einer allgemeinen Versammlung
berufen könnte, so würde in dieser der gewaltige Zeus den Vorsitz führen; und
wenn er dann die Götter befragte, was ihnen wohl von der schleichen Gewerbe-
nnd Industrieausstellung am besten gefallen hätte und was nach ihrer Meinung
die höchste Anerkennung verdiene, da hörten wir den Pluto antworten, daß
dem fleißigen Schlesier der erste Preis gebühre, der in die tiefen Schachte hinunter-
steigt und Erz und Kohlen losbricht und an das Tageslicht hebt. Der hinkende
Vulkan spendet das größte Lob den Metallarbeitern; Neptun schüttelt den Drei-
zack und will den Versertigern der Wasserleitungen, Springbrunnen, Pumpen
und Dampfmaschinen das höchste Lob erteilt wissen; Saturn, den die Griechen
Chronos nennen, fragt, ob denn der „Uhrwald" keine Anerkennung verdiene;
Hebe preist die herrlichen Trinkgefäße, Flaschen und Krüge; Ceres erhebt lobend
die Mehl- und Stärkefabrikation und die landwirtschaftlichen Maschinen; Flora
rühmt die echten und künstlichen Blumen; Juno preist die Kleider, Pallas die
Weberei, Vesta die Feinheit der keuschen Spitzengewebe und Schleier; Venus
rühmt die ausgestellten Spiegel, und Bacchus meint, der Grüneberger sei ein
ganz vorzüglicher Wein. Da würde der weise Vater der Götter in große Ver-
legenheit geraten; denn er wüßte nicht, wem in Schlesiens Gauen er den Lor-
beerkranz überreichen sollte; aber er wüßte sich zu helfen. Er schickte seinen
Boten, den schnellen Merkur, an die Vertreter der verschiedenen Industriezweige
und ließe ihnen sagen, daß er nur einen Lorbeerkranz habe, den er. weil so
viele verdienstvolle Kämpfer in die Schranken -getreten seien, lieber keinem
geben wolle; aber er gebe allen seinen Segen und wünsche, daß Schlesiens
Industrie wachsen, blühen und gedeihen möge.
Lauban.
Das Iserzebirge mit friner Umzezcnd.
Allgemeines. — Das Jsergebirge. — Die Herrnhnter. Graf von Zinzendorf. —
Lauban, Greifenbcrg und der Greifenstein. — Löwenberg mit dem Gröditzberge. —
Goldberg. Die Wallensteiner in der Stadt (1633). Trotzendorf. — Die Naben-
docke bei Goldberg.
Des Manderns seliges Entzücken
Mich in die blauen Berge zieht;
Das Ranzel Hab' ich auf dem Rucken
Und in der Kehle manches Lied.
Ich grüß' euch Lüfte, weich und linde,
Ich grüße freudig Berg und Thal.
Ich grüße Quell und Waldesgründe,
Ja selbst auch dich, o Rübezahl.
B. Ohrenberg.
Allgemeines. Schlesiens Berge, liebliche Thäler, rauschende Bäche, tosende
Flüsse, lauschige Plätze, schattige Abhänge, singende Mädel, tönende Glöcklein,
mittelalterliche Burgruinen: alle diese Worte, welche Sehnsucht erregen sie in der
Brust so vieler Menschen deutscher und außerdeutscher Nation nach glücklich zu
verlebenden Stunden, welche Erinnerung rufen sie wach in den Herzen vieler
an glücklich verlebte Tage! Wie viele sehnen sich danach, in Schlesiens Bergen
70 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Erholung und Erquickung zu finden: wie viele erwarten von Schlesiens Quellen
Heilung böser Krankheiten; wie viele kehren zurück zu ihrem Berufe, neu gestärkt
und gekräftigt! Ans welcher Gegend wir auch kommen, um Schlesiens Gebirge
zu besuchen: wenn wir dort sind und leben in den Schönheiten, die uns die
Natur bietet, wir sagen alle: „Erde, du bist so schön!" Betrachten wir deshalb
das schöne schlesische Gebirgsland etwas näher, um uns entweder an vergangene
Tage-des Glückes und der Sorglosigkeit zu erinnern, oder um uns auf eine
schöne Reise zunächst in unsern vier Wänden vorzubereiten.
Die Sudeten, welche auf der Grenze zwischen Schlesien und Böhmen
liegen, ziehen von Südosten nach Nordwesten, der höchste Teil derselben ist das
Riesengebirge. An dieses schließt sich nordwestlich das Jsergebirge mit der
Tafelfichte, das von vielen als ein Teil des Riesengebirges angesehen wird.
Jsergebirge. Das Jsergebirge erhielt seinen Namen von dem in dem-
selben entspringenden Jserslusse, und dieser wieder von dem slawischen Worte
Jezero, d. h. See oder Teich, da die Jser ihren Ursprung in den zahllosen
kleinen Wasserflächen hat, welche sich auf dem breiten, muldenförmigen Rücken
des Gebirges in ausgedehnten Torfmooren befinden. Das Gebirge bildet den
nordwestlichen Teil der Sudeten, durch welchen diese mit dem Erzgebirge ver-
Kunden werden, und ist ein hohes, rauhes, waldbedecktes, wenig bewohntes, aber
sehr ausgedehntes Gebirge, das meist nur stundenlange Wanderungen durch
öde Wildnis darbietet und deshalb wenig zu näherer Durchforschung anreizt.
Es besteht aus mehreren Kämmen, nämlich dem Hohen Jserkamm, Mittel-
Jserkamm und dem Welschen Kamm.
Die Jser entsteht aus zwei Quellslüßcheu; die Große Jser, die aus zwei
Quellen zusammenfließt, entspringt südlich von der Tafelfichte auf dem Hohen
Jserkamm, fließt nach Osten zu durch die Jserwiese, verfolgt das Jferthal und
bildet die Grenze zwischen Schlesien und Böhmen, während sie zahlreiche Bäche
in sich aufnimmt. Bald wendet sie sich nach Süden, tritt in böhmisches Ge-
biet, nimmt die Kleine Jser auf, die vom Kesselberge herabfließt, strömt weiter
durch den Jfergrund, gelangt bei Turnan in offenes Land und geht bei Brandeis
in Böhmen in die Elbe. Sie ist 121 km lang.
Die Jserwiese ist ein meilenlanger und stundenbreiter Moorgrund, der
oberste Teil des Jserthales, den dieser Fluß ruhig durcheilt, während auf dem-
selben nichts als reiche Weide und Gruppen von 3—3,5 m hohem Knieholze
wachsen. Von Reisenden wird dieser ödeste und traurigste Fleck des ganzen
Riesengebirges selten besucht; nur Botaniker durchwandern die Wiese, sie wagen
ihrer Wissenschaft wegen den gefährlichen Marsch, indem sie von Grasbüschel
zu Grasbüschel springen und von Zeit zu Zeit aus einem Holzstück ausruhen
und die Stiefel auf Augenblicke aus dem Wasser an die Luft bringen.
Jserhäuser. Auf der Jserwiese liegen die 30 Jserhäuser. Wer die
Einsamkeit des Gebirges recht kennen lernen will, der besuche die Jserhäuser,
die dort liegen, wo die Jser sich nach Süden wendet. Die Empfindung eines
öden Verlassenseins wird den Wanderer überfallen, ehe er es vermutet, und er
wird sich fortsehnen unter Menschen; denn die ganze Gegend ist traurig und fast
unanbaubar; das Klima ist so rauh, daß nicht einmal Hafer reif wird und nur
Kartoffeln und Kraut die einzigen Nahrungspflanzen sind, die gedeihen können.
Jsergebirge. 71
Die armen Bewohner der Häuser leben von ihrer mühevollen Waldarbeit, der
Viehzucht und außerdem von dem Forellenfange.
Iserthal heißt gewöhnlich die Strecke, welche die Große und dänn die
vereinigte Jser zurücklegt, bis sie in die Ebene tritt, also bis Tnrnan. Der
obere Teil des Thales bis Harrachsdorf bietet nicht viel Sehenswertes; aber
von dort ab bis hinab nach Tnrnau ist das Thal sehr bevölkert, bietet viel Ab-
wechselungen, ist bald breit, bald eng, nimmt immer weitere Nebenthäler auf und
verdient deshalb öfter besucht zu werden, als es von Reisenden ausgesucht wird.
Orientierungskärlchen vom Jsergebirge.
Der Hohe Jserkamm (850—900 m hoch) beginnt bei der Tafelsichte,
zieht sich von diesem Berge aus fort in südöstlicher Richtung, dacht sich ab
nach Norden hin zum Thal des Queiß, nach Süden hin zu dem der Großen
Jser, ist ein rauher, meist bewaldeter, sumpfiger Rücken, der mehrere gute Aus-
sichten nach Böhmen, Schlesien und der Lausitz gewährt. Auf der Mitte des
Kammes liegen die Kammhäuser, vier kleine Häuser in öder Gegend, von denen
aus ein Fußsteig nach den Jserhäusern ins Jserthal führt.
Wenden wir uns von den Kammhäusern weiter nach Osten, so gelangen
wir bald an die Stelle, wo sich der Kamm gabelt; der eine Teil geht weiter
nach Osten und sührt über den Langen und den Preißelbeerberg. Hier ent-
springt der Queiß, der sich nach Westen, und der Kleine Zacken, der sich
nach Osten wendet, so daß uns nun nördlich vom Kamme der Kleine Zacken
begleitet, der beim Hochstein vorbeifließt und unterhalb Schreiberhau sich in
72 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
den Großen Zacken ergießt; der andre Teil des Kammes wendet sich nach
Südosten, zieht sich zwischen der Großen Jser und der Millnitz entlang und
vereinigt das Jsergebirge mit dem Riesengebirge. Der höchste Punkt des
ganzen Gebirges ist die
Tafelfichte (1124 in hoch), eine sehr flache, runde, mit schönen Fichten
bewachsene Kuppe, die etwa 1200 in im Durchmesser hat, fast horizontal, ohne
Wasserabfluß und daher sumpfig ist. Die Aussicht ist, weil die Kuppe bewaldet
ist, nur an wenigen Punkten frei. Am Nordabhange befindet sich der Tafel-
stein, die Marke der Landesgrenze. Auf preußischem Bodeu befindet sich dicht
neben der Tafelfichte das
Heufuder, nur wenige Fuß niedriger. Wo oben der Wald niedergeschlagen
ist, hat man nach allen Gegenden hin eine herrliche Aussicht. Nach Norden
hin blickt man in die schlesische Ebene, aus welcher eine Menge Städte empor-
ragt; nach Südosten ruht das Auge auf dem Riesengebirge, findet den Kynast
und die Riesenkoppe! Nach Westen hin überschaut man die Elbgegend und einen
Teil des böhmischen Erzgebirges.
Der Mittel-Jserkamm läuft mit dem Hohen Kamm parallel, bildet
einen geradlinigen felsigen Rücken, fällt steil gegen das Thal der Großen Jser
ab, das ihn vom Hohen Kamm trennt, und gehört zu Böhmen.
Der Welsche Kamm läuft in derselben Richtung, in der die andern
Kämme verlaufen, und soll seinen Namen von den Welschen oder Italienern
erhalten haben, die hier im vorigen Jahrhundert nach Edelsteinen suchten.
Die Hauptmasse des ganzen Jsergebirges besteht aus einem dem Granit-
ähnlichen Gestein, das in einzelnen Partien leicht bröckelig wird und verwittert,
in andern dagegen sehr fest ist und der Verwitterung lange widersteht. Daher
finden wir viele Stellen von dem Waffer ausgewaschen, an andern aber haben
sich tiefe Schluchten mit steilen Wänden und jähen Abstürzen gebildet. In den
östlichen Teilen des Gebirges finden sich auch Gneiß und Glimmerschiefer.
Queiß. Vom Hohen Jserkamme aus führt uns, wenn wir vom Preißel-
beerberge hinabsteigen, der Queiß durch sein liebliches Thal, von dem aus wir
zur linken Seite den Jserkamm, zur rechten den Kemnitzkamm haben, der jenem
parallel läuft und eine Vorhöhe des Jsergebirges genannt werden kann. Von
beiden Seiten strömen dem Queiß Waldbäche zu. die den Wanderer nicht müde
werden lassen, bis er gelangt nach
Flinsberg. Dieser Ort hat gegen 340 Häuser mit ungefähr 1700
Einwohnern, die ihren Lebensunterhalt durch Spinnerei und Anfertigung von
Holzwaren finden. Hier endet der Kemnitzkamm mit dem Geierstein. Flinsberg
findet als Badeort von Jahr zu Jahr mehr Anerkennung. Die Quellen des
Ortes waren schon im 16. Jahrhundert als „heilige Quellen" bekannt; sie ge-
hören zu den reinen Eisenquellen, deren Gebrauch meist günstige Erfolge bei
Blutarmut, Magen- und Darmleideu erzielt. Drei Quellen, der Oberbrunnen,
der Niederbrunnen und die Neue Quelle, werden zum Trinken und Baden, die
übrigen Quellen aber nur zum Baden benutzt. Kurgäste finden dort auch Moor-
bäder und eine Molkenanstalt, die Kuh- und Ziegenmolke liefert. Flinsberg ist
Eigentum des Grafen Schaffgotfch in Warmbrunn und gehört zum Regierungs-
bezirk Liegnitz. Das Badehaus ist in den Jahren 1837—39 vom Grafen Leopold
von Schaffgotfch mit einem Aufwand von 90 000 Mark erbaut, 1881 zum Teil
Jsergebirge. 7 3
abgebrannt und vergrößert wieder hergestellt. Wenn auch das Klima des Ortes
rauh ist, so ist doch der Aufenthalt daselbst sehr angenehm, da Flinsberg in
einem schönen Thale liegt, freundliche Anlagen den Badeplatz verschönern und
die Umgegend zu den angenehmsten Spaziergängen einladet. Da liegt jenfeit
des Queiß der Geiersteiu, der iu einer Stunde zu ersteigen ist, von dem aus
man eine herrliche Aussicht in das Queißthal hat. In zwei Stunden gelaugt
man bei dem „Wasserfalle" vorbei nach den Kammhäusern auf dem Jserkamm und
kann mit Leichtigkeit von dort seinen Spaziergang nach den Jserhäusern ausdehnen.
Das Thal von Flinsberg.
Nicht gerade beschwerlich und gewiß lohnend sind Ausflüge nach dem Heufuder
und der Tafelfichte; höchst augenehm ist ein Spaziergang durch das Queißthal
nach dem Hochsteine. Leute, die in Flinsberg Genesung wüuschen, finden Ge-
sährten, wenn sie die Badeorte Schwarzbach und Liebwerda aussuchen.
Schwarzbach liegt nur eine Stunde Weges von Flinsberg entfernt, dicht
an der Nordseite des Heufuders iu einem Thale am Bache Schwarzbach. Der
Ort hat kaum 400 Einwohner und nur einen fahrbaren Zugang. Seine
sieben Quellen liefern ein erdig-falinifches Stahlwasser, welches viel getrunken
wird und besonders gegen Bleichsucht, Blutarmut, Nervenleiden, Kehlkopf- und
Lungenkatarrh Erfolg zu haben pflegt. Wer ruhig und zurückgezogen und fern
von dem Geräusche der Welt in gesunder Luft lebeu und angenehme Spazier-
gänge machen will, der gehe nach Schwarzbach.
74 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend. -
Liebwerda liegt südlich von der Tafelfichte auf böhmischem Gebiete in
einer Gebirgsschlucht; es ist als Badeort unbedeutend, aber des Besuches wert
wegen seiner angenehmen Lage und schönen Promenaden, die der Graf Clam-
Gallas, der Besitzer des Ortes, hat anlegen lassen. Da finden wir lange,
Mächtige Alleen uralter Bäume, einen Obelisk, ein Denkmal, einen Waldtempel
auf einer Höhe, von der aus wir eine Aussicht auf das in der Tiefe liegende
Bad haben; Felsgebilde, die wunderbar gestaltet find, wie ihre Namen andeuten,
z. B. Nase, Nußstein, Mittagstein, Vogelkoppen. Von Liebwerda aus ist in
einer halben Stuude zu erreichen das
Kloster Haindorf, ein besuchter und bekannter Wallfahrtsort, der im
Thale der Wittig liegt, die in die Lausitzer Neiße fließt. Das Kloster wurde
1691 durch den Grafen Gallas gestiftet und mit Franziskanermönchen besetzt.
Die Kirche ist einfach und hat zwei Türme. Zu dem wundertätigen Marienbilde
in derselben wallfahrten an den Marienfesten große Menfchenmaffen aus Böhmen,
Sachsen und Schlesien. An einem Pfeiler sehen wir einen Nagel, der nach einem
Attest vom Jahre 1720 genau dem Nagel nachgemacht ist, mit dem Christus
an der rechten Hand am Kreuze befestigt gewesen ist, eine Nachbildung, deren
Original sich in der kaiserlichen Schatzkammer in Wien befindet. Nur 11 km vou
Haindorf in nordwestlicher Richtung entfernt liegt die alte, lange und stille Stadt
Friedland. Hier mündet die Rasnitz in die Wittig. Der Ort hat nur
4200 Einwohner; in der Dekanatskirche bewundern wir das schöne Mausoleum
von rotem, grünem und weißem böhmischen und schleichen Marmor aus dem
Jahre 1600 des Melchior von Redern, dessen Familie die Herrschaft Fried-
land besaß, die im Jahre 1620 nach der Schlacht am Weißen Berge bei Prag
von Kaiser Ferdinand IL Wallenstein mit dem Titel eines Herzogs von Fried-
land erhielt. Die größte Merkwürdigkeit ist das außerhalb der Stadt auf dem
Schloßberge gelegene Schloß Friedland, das im Jahre 1004 auf einem Basaltfelsen
erbaut, von Wallenstein im Innern ausgebaut uud 1869 wesentlich umgestaltet
und verschönert worden ist. Noch heute erinnert in diesem Mittelpunkte der
Herrschaft Friedland vieles an Wallenstein, des Schlosses ehemaligen Herrn,
wie Bildnisse des Martinitz, Gallas, Wallenstein. Waffen aus dem Dreißig-
jährigen Kriege, alte Musikinstrumente und dergleichen.
Die Herrnhuter. Graf von Zilyendorf. Im Königreich Sachsen liegt,
nördlich von Zittau, zwischen dem Lausitzer und Jsergebirge, der Ort Herrnhut.
Wenn es nun auch auf der Hand liegt, daß dieser Ort eigentlich außerhalb
uusrer Betrachtung steht, so dürfen wir ihn doch nicht unbeachtet lassen, und
er wird hier am besten erwähnt, weil er in der Nähe des Jsergebirges liegt,
und von ihm aus sich eine Religionsgesellschaft über mehrere Orte Schlesiens
und andrer Länder verbreitete, nämlich die Herrnhnter, die sich am liebsten
evangelische Brüdergemeinde nennen läßt. Die sogenannten Brüder in Böhmen
und Mähren wurden nämlich im Anfange des 18. Jahrhunderts fehr gedrückt.
Dies veranlaßte mehrere derselben auszuwandern und sich in protestantische
Länder zu begeben; sie fanden Aufnahme im Preußischen und Sächsischen.
Auch Gras Nikolaus Ludwig von Zinzendors nahm einige arme Familien auf
im Jahre 1722 uud erlaubte ihnen sich anzubauen an dem sogenannten Hut-
berge bei seinem Gute Berthelsdorf in der Oberlausitz, zwei Meilen von Zittau.
Die Herrnhuter. Graf von Zinzendorf. 75
Die Kolonie erhielt den Namen Herrnhut. Zinzendorf suchte seine religiösen
Grundsätze bei den Brüdern einzuführen. Dieser merkwürdige Mann wurde
am 26. Mai 1700 zu Dresden geboren als Sohn eines kursächsischen Kon-
ferenzministers. Als sein Vater früh starb, kam er in das Haus seiner Groß-
mutter, in deren Hause religiöse Versammlungen gehalten wurden. Durch diese
Andachten und durch die Besuche des frommen Spener, der Zinzendorf ein-
segnete, wurden schon früh in dem Jünglinge gewisse pietistische Grundsätze uud
Gefühle rege. Er wurde auf das Pädagogium nach Halle gebracht, wo unter der
Aufsicht des berühmten Francke seine mystischen Gefühle noch mehr genährt wurden.
Gern hätte er in Halle auch Theologie studiert. Sein Oheim und Vormund
aber, der ihn zu einem andern Berufe vorbereiten wollte, schickte ihn 1716 auf
die Universität nach Wittenberg, wo Zinzendorf für sich Theologie studierte und
den Entschluß faßte, Geistlicher zu werden. Von 1719—1721 ging er auf
Reisen, besonders nach Holland und Frankreich, und besuchte berühmte Geistliche,
mit welchen er sich über Religionsangelegenheiten unterhielt. Nach seiner Rück-
kehr bekam er zu Dresden eine Anstellung als Hofrat bei der Landesregierung,
legte aber diese Stelle nieder, da ihn seine Andachtsstunden mehr als sein Amt
beschäftigten. Er verheiratete sich 1722 und gab um diese Zeit den Aus-
Wanderern aus Böhmen und Mähren die Erlaubnis, sich am Hutberge auzu-
bauen, schloß mit ihnen eine nähere Verbindung und faßte den Entschluß, eine
besondere kirchliche Gemeinde nach seinen Grundsätzen zu stifteu. Er trat in
den geistlichen Stand, ging im Jahre 1734 unter einem fremden Namen nach
Stralsund, wurde als Kandidat der Theologie examiniert und predigte zuerst
in der dortigen Stadtkirche. Darauf machte er Reisen nach England, Holland
und Amerika und suchte Mitglieder für seine Gemeinde zu bekommen, aus der
bereits damals Missionäre abgingen. Aber nicht überall glückte ihm sein Unter-
nehmen. Mit den Seinigen mußte er in den protestantischen Gegenden Europas
viel Druck erfahren, kam zu Riga ins Gefängnis und durfte innerhalb zehn
Jahren nicht in sein Vaterland zurückkommen. In Berlin hatte er sich zum
mährischen Bischof weihen lassen. Dann ging er nach Nordamerika, wo er als
Missionär wirkte.
Als er wieder nach Europa zurückgekehrt war, blieb er vier Jahre in
England; er starb zu Herruhut am 9. Mai 1760 und liegt auf dem dortigen
Gottesacker der Brüdergemeinde begraben.
Zu den ersten Ansiedlern in Herrnhut kamen bald noch mehrere Brüder
hinzu, welche die Kolonie vergrößerten. Unter diesen befanden sich auch mehrere
Mitglieder andrer protestantischer Konfessionen. Um diese miteinander zu einer
Gemeinde zu vereinigen, um überhaupt eine Gesellschaft zu bilden, in welcher
werkthätiges Christentum uud religiöse Gesinnung geübt und bei andern gefördert
wurde, setzte Zinzendorf nach dem Muster der ersten apostolischen Kirche gewisse
Vereinigungspunkte fest, in denen man auf die Unterscheidungslehren der ver-
schiedenen Religionsverwandten, die sich hier versammelt hatten, nicht Rücksicht
nahm, nur die Grundwahrheiten des Christentums als Glaubensartikel annahm
und eine nach der alten mährischen Brüderkirche eingerichtete Verfassung und
Kirchenzucht einführte. Zinzendorf entwarf hierüber gewisse Statuten, die 1727
unter dem Namen eines freiwilligen Einverständnisses von den Einwohnern
Herrnhuts angenommen wurden.
76 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Es finden sich in dieser Gesellschaft der verschiedenen protestantischen
Glaubensverwandten wegen, denen man den Zutritt gestattet, drei Tropen oder
Arten des Lehrbegriffes: der mährische, lutherische und reformierte Tropus.
Kinder folgen dem Tropus ihrer Eltern. Jeder Tropus hat seine Ältesten.
Das Abendmahl wird in jedem Tropus besonders ausgeteilt, aber der Gottes-
dienst ist gemeinschaftlich. Die Brüder bekennen sich nur zur Augsburgischen
Konfession, welches ihr einziges symbolisches Buch ist. Der Hauptcharakter
ihrer religiösen Vorstellungen ist der, daß sie die Religion mehr als Sache des
Gefühls, als des Verstandes ansehen. Von der Erlösung Christi, vom lieben
Heilande sprechen sie viel; alles geschieht durch ihn, in seinem Namen. Sie
bedienen sich in vielen zweifelhaften Fällen des Loses, und wenn dasselbe ent-
scheidet, so entscheidet der Heiland. Sie denken sich ihn am liebsten unter dem
Bilde des Lammes, welches der Welt Sünden trägt. In diesen Vorstellungen
und Gefühlen finden sie etwas Süßes, einen Seelengenuß. Die Bibel betrachten
sie als einzigen Grund der christlichen Offenbarung, die der Heiland in seiner
Gemeinde wiederholt und fortsetzt. So fühlen sie die Wirkungen Jesu in sich, und
in den überschwenglichen Gefühlen dieser Gnadenwirkung schätzen sie sich glücklich.
Sämtliche Mitglieder sind in gewisse Klassen oder Chöre eingeteilt. Diese
Chöre werden nach Geschlecht, Alter und andern Verhältnissen gebildet. Es gibt
in jeder Gemeinde Chöre der Witwen, Witwer, der unverheirateten Brüder und
Schwestern, der Kinder. Knaben, Mädchen und Verehelichten. Die Chorhelfer
besorgen in den einzelnen Chören die Seelsorge und Sittenzncht, und die Chor-
diener beschäftigen sich mit den äußerlichen Angelegenheiten derselben. Die Sorge
für die weiblichen Chöre ist verschiedenen Chorhelferinnen und Chordienerinnen
übertragen. Es gibt ein Brüder- und ein Schwesternhaus. In dem ersteren
wohnen die ledigen Brüder mit den aus der Schule entlassenen Knaben; in dem-
selben arbeiten sie und halten gemeinschaftliche Andachtsübungen. Ebenso ist es im
Schwesterhause. Die Verheirateten wohnen zwar in Privathäusern, stehen aber
unter der Aufsicht von Chorbeamten. Diese Beamten tragen der Ältestenkonferenz
jeder Gemeinde das vor, was in den Chorhäusern und in den einzelnen Chören
vorgeht. Die Ältestenkonferenz besteht aus dem Gemeindehelser, dem Orts-
Prediger und den Chorbeamten. Außerdem gibt es in den Gemeinden noch ein
Aufseherkollegium, das die Aufsicht über den Nahrungsstand und polizeiliche
Angelegenheiten hat, eine Helferkonferenz und einen Gemeinderat. Bischöfe
wachen über die kirchlichen Angelegenheiten und ordinieren die Prediger, denen
Diakonen und Diakonissinnen beigeordnet sind. Die sogenannten gedruckten
Losungen enthalten die für jeden Tag im Jahre bestimmten biblischen Denk-
sprüche. Jedes Mitglied der Gemeinde erhält ein solches Buch.
Für die tägliche Erbauung ist durch tägliche gottesdienstliche Versammlungen
gesorgt. Gewisse Gedenktage an wichtige Begebenheiten werden gefeiert. Der
Jahresschluß wird in der Mitternachtsstunde feierlich begangen. Jedes eingesegnete
Mitglied der Gemeinde geht alle vier Wochen zum Abendmahl, dem ein Liebes-
mahl vorausgeht, bei welchem die Mitglieder unter Gesang und Gebet Thee
und Backwerk genießen.
Am Ostermorgen zieht die ganze Gemeinde bei Sonnenaufgang mit Musik
auf den Gottesacker und feiert mit der Auferstehung Jesu zugleich auch das
Andenken der verstorbenen Brüder und Schwestern.
Lauban, Greifenberg und der Greifenstein. 77
Wer gegen die Gemeindeordnung und Sittlichkeit fehlt, wird erst ermahnt,
dann vom Abendmahl ausgeschlossen, und wenn das ohne Erfolg bleibt, aus
der Gemeinde ausgestoßen. Es besteht eine Unitätskasse, in die jeder steuern
muß, in welche die Einkünfte aus den Gemeindegütern und das zehnte Prozent
von allen Handelsartikeln der Gemeinde fließen. Die Brüder zeichnen sich durch
Fleiß, Ordnung, Sittlichkeit und Religiosität aus. Ihre Zahl beläuft sich jetzt
in Europa auf 30 000 Personen; außerdem stehen etwa 70 000 bekehrte Heiden
unter 336 Missionaren der Brüdergemeinde. In Schlesien haben die Herrn-
huter eine Gemeinde in Niesky (Kreis Rothenburg, Regierungsbezirk Liegnitz).
Von den ungefähr 1300 Einwohnern des Ortes gehören 860 zur Brüder-
gemeinde. Die Ansiedelung wurde durch Aufbau dreier Häuser im Jahre 1742 von
eingewanderten Böhmischen Brüdern gegründet und erhielt seinen Namen Niesky
(d. h. niedrig) auf den Vorschlag der Gemahlin des Grafen Zinzendors. Niesky
hat treffliche Schulanstalten, prächtige Anlagen und ein reichhaltiges Museum.
In Neusalz a. d. Oder (Kreis Freystadt. Regierungsbezirk Liegnitz) gehören von
den 6756 Einwohnern 1500 zur Brüdergemeinde. Die 480 Einwohner des
Dorfes Gnadenberg (Kreis Buuzlau, Regierungsbezirk Liegnitz) sind fast alle
Herrnhnter, die hier eine von 60—90 Schülerinnen besuchte Mädchenerziehungs-
anstatt haben. Die Kolonie Gnadenfeld (Kr. Kosel, Regierungsbezirk Oppeln)
wurde 1771 gegründet und hat 450 Einwohner. Hier besteht ein theologisches
Priesterseminar, auf welchem die Lehrer und Geistlichen für sämtliche Brüder-
gemeinden ausgebildet werden. In Gnadenfrei (Kreis Reichenbach, Regiernngs-
bezirk Breslau), an den Vorbergen des Eulengebirges, wurde die Kolonie, die
jetzt 800 Einwohner hat, am 13. Januar 1743 mit Genehmigung Friedrichs des
Großen unter dem Schutze des Freiherrn von Seydlitz gegründet. Die daselbst
von der Gemeinde unterhaltene höhere Töchterschule wird von Schülerinnen aus
allen Teilen der Provinz besucht.
Lauban, Greifenberg und der Greifenstein. Ehe wir das Jsergebirge
verlassen, müssen wir noch einen flüchtigen Blick auf die Gegend werfen, welche
vor demselben auf der Nordseite liegt, die uns gewissermaßen in das Gebirge
einführt. Wollen wir von Görlitz aus in das Gebirge gelangen, so fahren wir
mit der Eisenbahn nach Osten; wenn wir von Kohlfurt kommen, fahren wir
nach Süden bis Lauban, das am linken Ufer des Oueiß liegt. Beide Ufer des
Flusses werden noch von Höhenzügen begleitet, die vom Jsergebirge ausgehen;
der linke trennt den Oueiß von der Lausitzer Neiße, der rechte scheidet den
Oueiß vom Bober. Lauban hat 10 800 Einwohner und ist eine gewerbthätige
Stadt; wir finden in derselben Fabriken von leinenen Taschentüchern und Stück-
leinen; auch die Baumwollenweberei ist vertreten. Eine Thonwarenfabrik be-
schästigt über 140 Personen und liefert Verblendsteine, Bauornamente, Schamotte-
steine und Thonröhren aus dem vorzüglichen Material, das um die Stadt
gefunden wird. Die Stadt wurde um das Jahr 900 erbaut und gehört seit
1815 zu Preußen. Der Sage nach wurde Lauban schon vor 900 gegründet;
denn in einer Reimchronik von Lauban finden sich folgende Zeilen:
»Zahl siebenhundert und elf Jahr, Ein Jägerhaus am Berge stund,
Als Lnban eine Wildnis war, Darin der Graf ziehen knnnt,
Ein Graf macht daraus eine Stadt. Hatt' da seine Lust und wilde Bahn,
Die man Luban genennet hat. D'rum fing er flugs zu bauen an.
78 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Die jetzige evangelische Pfarrkirche in Lauban ist erst im Anfang des
18. Jahrhunderts (1703 hatte man mit dem Bau begonnen) erbaut; 1760
bei dem großen Brande, der ganz Lauban einäscherte, mit abgebrannt, wurde
sie erst nach ihrer Wiederherstellung zur Pfarrkirche gemacht an Stelle der 1760
ebenfalls abgebrannten Trinitatiskirche, die überhaupt nicht wieder erbaut wurde
und bis vor zwei Jahren hier als Ruine bestand; jetzt existiert nur noch der
Turm, der das Geläute der evangelischen.Gemeinde trägt. In dieser bis zum
Jahre 1760 bestandenen Pfarrkirche spielte sich der beschriebene Vorfall aus
dem Hussitenkriege ab. Die katholische Kirche ist ein vollständig nener, in den
Jahren 1858—1861 aufgeführter Bau.
An dem Eckhause beim Eingange in die Kirchgasse sieht man in Stein ge-
hauen die Figur eines Mannes, welchem Arme und Beine fehlen. Dies soll das
Bildnis des heldenmütigen Pfarrers sein, welcher am 16. Mai 1427, als die
Hussiten Lauban erstürmten, auf den Kirchturm gestiegen war und von dort
aus die Bürger zum Widerstande ermahnt hatte; er wurde dafür von den
siegreichen Hussiten an vier Pferde gebunden und zerrissen. Andre aber sagen,
das Bild stelle den damaligen Besitzer des Hauses, Konrad von Zeidler, vor,
welcher an diesem unglücklichen Tage die Laubaner führte und im Schldfgruude,
in Stücke gehauen wurde.
Aus dem Dreißigjährigen Kriege fand sich bis vor kurzem als Andenken
an dem hölzernen Giebel eines jetzt abgerissenen Hauses vor dem Nikolaithor
ein halbes Hufeisen angenagelt, welches das Pferd des von den Feinden ver-
folgten schwedischen Königs Karls XII. verloren haben soll, der auf seinem
berühmten Ritt von Bender nach Schweden so schnell durch Lauban sprengte,
daß das Hufeisen bis dort hinauf geschleudert wurde.
Auch am Queiß gelegen ist Greifenberg und mit der Bahn zu erreichen.
Diese Stadt liegt dem Jsergebirge um 15 km näher. Ein guter Fußgänger
kann von hier aus das Bad Fliusberg in drei Stunden erreichen. Greifenberg
hat noch nicht 3000 Einwohner; unter den Gewerben der Stadt nimmt die
Leinenfabrikation, die seit 400 Jahren getrieben wird, die erste Stelle ein.
Die Weberei erhielt größeren Aufschwung, als sich ihres Glaubens wegen aus
Jauer und Neiße vertriebene Weber hier ansiedelten; noch mehr hob sich die
Stadt nach der Besitznahme Schlesiens durch Preußen infolge der weisen Maß-
regeln Friedrichs des Großen zum Schutze der schleichen Industrie. Im Jahre
1609 gab es sechs Handelshäuser für Leinen, nach 1640 mehrten sich dieselben
auf sechsundzwanzig. Im Jahre 1755 wurde die Kaufmannsfocietät, eine Art
Handelskammer, gebildet. In der Leinwandordnung vom 26. April 1788 er-
scheint Greifenberg als eine der fünf Kommerzialstädte des fchlesischen Gebirges.
Jetzt beschäftigen zehn Fabrikanten die meistens auf dem Lande zerstreut woh-
nenden Weber hauptsächlich in der Erzeugung von leinenen Taschentüchern,
Leinwand und Creas, Damast, Handtüchern, Drell, Inlett- und Züchenleinen.
In zwei Leinendruckereien und Färbereien werden bedruckte Schürzen und
Kleiderstoffe hergestellt. Eine mechanische Weberei arbeitet mit 86 Stühlen;
Bleichanstalten gibt es vier. Greifenberg ist eine alte Stadt, über die wir aus
dem Anfang des elften Jahrhunderts sichere Nachrichten haben. In der katho-
tischen Kirche befindet sich eine 1545 angelegte gräflich Schafsgotschische Familen-
grust. Auf einem 3/4 Stunden von der Stadt entfernt liegenden, 420 in hohen
Lanban, Greifenberg und der Greifenstein. 7 9
Basaltfelsen liegen die Trümmer der Burg Greifenstein, die nach 1100 gegen
die Böhmen gegründet wurde. Sie gehört zu den schönsten Ruinen des sthle-
fischen Landes, wechselte ihre Besitzer sehr oft und blieb ihrem Zweck, ein be-
festigter Verteidigungspunkt zu sein, lange treu. Im Dreißigjährigen Kriege
wurde sie dreimal belagert und sogar noch im bayrischen Erbfolgekriege 1778
in Verteidigungszustand gesetzt. Erst 1789 verfiel sie sehr schnell, da man die
Mauersteine der Burg zu Neubauten benutzte. Die Ruine wird viel besucht,
weil sie wegen ihrer freien Lage eine prachtvolle Umsicht gewährt; für die Er-
Haltung in ihrem gegenwärtigen Zustande wird Sorge getragen.
Ruine der Burg Greifenstein.
Die Burg soll ihren Namen erhalten haben, weil bei dem Bau derselben
die Arbeiter auf dem Gipfel des Berges ein Nest mit jungen Greifen gefunden
haben. Zur Erinnerung an diesen Fund, so sagt man, hat der Herzog Boleslaw
der Lange der Burg im Jahre 1198 den Namen Greifenstein gegeben. Die
Volkssage aber erzählt dies anders und bringt es mit dem Begründer der
Schaffgotschischen Familie in Verbindung: Es wohnten im 14. Jahrhundert in
dem anmutigen Thale des Queiß, wo jetzt Greifenberg liegt, friedliche Hirten,
die täglich ihre Herden austrieben und als arbeitsame Leute ihre Felder bestellten.
Plötzlich aber wurde die Gegend unsicher; denn ein ungeheurer Greif, der sich
irgendwo in dem undurchdringlichen Walde am O-ueiß sein Nest gebaut hatte,
kam in die offenen Gegenden täglich geslogen und raubte Vieh und Menschen.
Bald waren die Leute arm; denn sie wagten es nicht mehr, ihr Vieh auf das
80 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Feld zu treiben, noch auch ihre Äcker zu bestellen, weil sie sich nicht retten
konnten, wenn der gewaltige Vogel daherranschte, sie mit seinen Krallen ergriff
und fortschleppte. Nicht lange dauerte es, so herrschte im Lande eine entsetzliche
Hungersnot, und der Herzog Bolko auf Neuburg wußte sich nicht anders zu
helfen, als daß er demjenigen, der den Greif töten würde, weite Ländereien
und eine große Summe Geldes versprach. So weit und laut aber auch der
Herzog durch seine Herolde sein Angebot bekannt machen ließ, es fand sich doch
niemand, der es unternommen hätte, sich in Lebensgefahr zu stürzen und den
Kampf mit dem Greifen zu unternehmen. Das Elend in den sonst so lachenden
Auen wurde immer größer. Da ließ der Herzog durch das Land bekannt
machen, wer den Greifen töte, der solle nicht nur die bisher ausgesetzte Be-
lohnung, sondern auch die Hand seiner einzigen Tochter Agnes erhalten.
Nun wohnte aber in der Nähe der Burg ein Schäfer mit Namen Gottfche
Schaf, ein stattlicher und mutiger Jüngling, der sonst täglich seine Herde ins
Gebirge trieb: er hatte einst die schöne Herzogstochter auf dem Schloß gesehen,
sich sterblich in sie verliebt und beschloß jetzt, den Kampf mit dem Greifen um
sie zu wagen. Er begab sich also eines Tages, nachdem er sich Lebensmittel
auf einige Tage eingesteckt hatte, mit einer langen Stange und einer scharfen
Axt bewaffnet, ins Gebirge, um zunächst das Nest des Ungetüms zu suchen.
Schon hatte er mehrere Tage den Wald durchsucht, schon ging sein Vorrat auf
die Neige, schon war er matt und müde und dachte daran, in sein Elternhaus
zurückzukehren: da vernahm er über sich das Rauschen von mächtigen Flügeln
und sah den Greif, der in seinen Klauen ein starkes Rind hatte und durch die
Luft davontrug. Der kluge Schäfer verfolgte den Vogel mit seinen Blicken und
entdeckte so das Nest desselben; denn er vermutete, daß der Greif Junge habe
und die Beute denselben zum Fraß bringe. Als sich der Greif einer in der
ganzen Gegend bekannten ungeheuren Eiche näherte, hörte Gottfche Schaf das
gierige Geschrei der kleinen Greifen, war mit seiner Entdeckung zufrieden und
versteckte sich, um nicht von des Ungeheuers weitblickenden Augen entdeckt zu werden.
Am andern Morgen flog der alte Greif natürlich wieder auf Raub aus.
Kaum war er ausgeflogen, da eilte der Schäfer zum Baume, sammelte viel
Reisig, machte aus demselben ein großes Bündel, steckte es auf seine lange
Stange, kletterte ein gutes Stück den Baum hinan, zündete das Bündel an und
hielt das brennende Reisig mit der Stange in die Höhe von unten gegen das
Greifennest, in dem sich drei Junge, die noch nicht flügge waren, befanden.
Bald entzündeten sich die Hölzer, aus denen das Nest zusammengebaut war;
lichterloh brannte die Behausung der Raubvögel. Die jungen Greife erhoben
ein jämmerliches Geschrei und kamen elend in den Flammen um. Durch das
Jammern der Jungen wurde der alte Vogel herbeigelockt; er kam mit unglanb-
licher Schnelligkeit und suchte mit seinen Schwingen das Nest und seine Jungen
zu retten, indem er sich abmühte, das Feuer auszuschlagen. Bei dieser Sorge
um das Leben seiner Kinder verbrannte er sich die Fittiche, so daß er jählings
auf die Erde stürzte. Gottfche Schaf stieg vom Baume, schlug mit seiner Stange
derb gegen den Kopf des Greifen, bis das Tier matt wurde, und trennte ihm
mit einem tüchtigen Axthiebe den Kopf vom Rumpfe.
Der Schäfer kehrte freudig in die Hütte seines Vaters zurück und erzählte,
was er gethan hatte. Die Nachbarn sammelten sich glückwünschend um den
Lauban, Greifenberg und der Greifenstein. 81
jungen Helden, eilten zur Eiche, und hier sammelte sich Gotische Schaf aus der
Asche die Köpfe der drei jungen Greife; die Hirten umschlangen den Leib des
alten Tieres mit starken Seilen und ließen ihn von zwei kräftigen Ochsen nach
der Burg des Herzogs ziehen, wo sie das erlegte Tier zeigten und für den
jungen Schäfer die ausgesetzte Belohnung erbaten. Der Herzog Bolko ließ sich
das Geschehene erzählen und hieß Gotische Schaf niederknieen, um ihn auf der
Stelle zum Ritter zu schlagen und mit seiner Tochter zu verloben. Als Mitgift
gab er ihm die Neuburg, die er zum Andenken an die Begebenheit Greifenstein
nannte, und versprach ihm soviel Land zu schenken, als er mit seiner Schafherde
vom Morgen bis zum Abend umziehen könne. Am nächsten frühen Morgen
trieb der junge Ritter zum letztenmal seine Schafe aus und war am Abend,
als er heimkehrte, einer der reichsten Herren des Landes Schlesien.
Gotische Schaf war zwar mit der Tochter des Herzogs verlobt; aber er
wollte sie erst dann heiraten, wenn er sich eines so großen Schatzes würdig
bewiesen hätte. Deshalb ließ er sich vom Herzog in allen Ritterkünsten unter-
weisen und zog dann hinaus ins Reich zum Heere des Kaisers. Hier zeigte er
sich sehr tapfer und kühn; und als er einst durch seinen Heldenmut vor den
Augen des Kaisers zum Siege sehr viel beigetragen hatte, schlug ihn der Kaiser
zum Ritter, erhob ihn in den Grafenstand, nannte ihn Schaffgotsch und gab
ihm in sein Wappen ein Schaf. Wiederum ging es zur Schlacht, und der Graf
verrichtete Wunder der Tapferkeit. Als die Schlacht ausgekämpft war, bot der
Kaiser dem jungen Helden die Hand dar; diese war blutig von den Wunden,
und deshalb wischte sich Graf Schaffgotsch am blanken Panzer die Hand ab,
ehe er sie dem Kaiser reichte. Auf der Spiegelfläche des Panzers blieben blutige
Spuren; da rief der Kaiser: „Zur Erinnerung für alle Zeiten daran, daß du
für mich dein Blut vergossen, füge ich deinem Wappen, dem Schafe, heute für
die Zukunft die vier blutigen Streifen'hinzu, welche deine Finger gemacht haben."
Dies Wappen führen die Schaffgoifche seit jener Stunde.
Nachdem der tapfereSch'affgotsch schon zwei Jahre fern von Schlesien gewesen
war, und als seine Braut mit Sehnsucht seine Rückkehr erwartete, gab der Herzog
Bolko auf seinem Schlosse ein großes Turnier, zu dem viele Ritter geladen
waren. Als schon lange tapfer, aber unentschieden gekämpft war, ritt ein fremder,
schwarz geharnischter Rittersmann, der im Schilde drei Greifenköpfe führte, in
die Kampfbahn und nannte einen den Kampfrichtern unbekannten Grafennamen.
Da er das Visier des Helmes heruntergelassen hatte, konnte ihn niemand er-
kennen. Der Ritter entschied bald den Kampf, ans dem er siegreich hervorging.
Da führten ihn die Kampfrichter zur Prinzessin, damit er aus ihrer Hand den
Preis erhalte. Der Fremde schlug das Visier zurück, und die schöne Agnes er-
kannte in den wettergebräunten Zügen des Ritters die ihres Verlobten. Als-
bald wurde Vermählung gefeiert; Ritter Schaffgotsch wurde der Stammvater
des noch blühenden Geschlechtes; die Burg behielt ihren Namen Greifenstein
und gab dem an ihrem Fuße erbauten Städtchen den Namen Greisenberg.
Manche Sagen knüpfen sich noch an die Burg Greifenstein, von denen die
bekannteste die von der weißen Frau, der Ahnfrau, ist. Viele Bewohner der
Burg in alter Zeit wollen die Ahnfrau gesehen haben: eine hagere Gestalt mit
bleichem Antlitz, die in ein weißes Gewand gekleidet und von einem langen
Schleier bedeckt war. Sie wandelte nachts durch alle Gänge der Burg, namentlich
Deutsches Land und Volk. VIII. 6
82 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Vor der Kapelle, und verschwand stets in der sogenannten blauen Kammer,
einem düsteren Gemache, aus dessen Fenster in der Nacht gewöhnlich ein blaues
Licht hervorglänzte. Sie ging still und schwermütig einher und that niemand
Böses; wer es aber versuchte, sie zu necken, dem begegnete bald darauf ein
Unglück. Wenn einem der Besitzer der Burg ein Unglück drohte, dann sah man
sie händeringend auf- und niedergehen, hörte sie auch wohl schluchzen. Einst
hatte ein Burgvogt auf Greifenstein eine sehr schöne Tochter, die sich der Gunst
der weißen Frau erfreute; denn wenn diese ihr erschien, ängstigte sie sich nicht,
sondern nickte ihr freundlich zu. Als nun einst das junge Mädchen in große
Gefahr kam, da ein fremder Ritter sie bedrohte, erschien plötzlich auf den
Hilferuf die weiße Frau und rettete das Mädchen, indem sie durch einen furcht-
baren Donnerschlag den Ritter erschreckte, so daß er tot zur Erde sank.
Während der Abwesenheit des Burgherrn kamen einst einige Ritter ans
die Burg, wilde und gottlose Gesellen, welche über alles spotteten und ihre
schlechten Witze machten; auch die Ahnfrau verhöhnten sie und wollten nicht
glauben, daß sie umgehe. Aber die Ahnsrau ließ sich den Spott und Hohn
nicht gefallen; denn kaum war ein Knappe mit einer Schüssel voll Speisen in
ihr Zimmer getreten, so stürzte er über seine eignen Füße und warf die Schüssel
hin. Unter Flüchen schickten sie ihn nach andern Speisen zur Küche hinab. Als
er wieder kam, hatten der Schinken und das Brot auf dem Brett sich in Stein
verwandelt, und der gebratene Truthahn erhob sich und flog davon, der Wein
aber verwandelte sich in stinkendes Wasser. Die Ritter fluchten und schimpften
noch toller als bis dahin. Plötzlich fühlten sie, wie ihnen die Sessel unter den
Füßen von unsichtbarer Hand fortgezogen wurden, und sie stürzten zu Boden,
so daß sie sich nicht wieder erheben konnten; die Kerzen gingen aus, es öffnete
sich unter schweren Donnerschlägen der Fußboden, und alle stürzten tief hinab
in ein Gewölbe, in dem sie erst am andern Tage mit halbgebrochenen Gliedern
wieder aufgefunden wurden.
Wenn fremde Kriegsvölker auf der Burg waren, ließ sich die Ahnfrau nicht
sehen; aber obwohl sie einst einem frommen Pilger, der den Mut hatte sie anzu-
reden und zu fragen, wie ihrem Geiste Ruhe verschafft werden könne, die Stelle
im Burgverließe zeigte, an der ihre Gebeine noch unbegraben auf ungeweihter Erde
schliefen; und obwohl diese dann dort fortgenommen und in geweihtem Boden
bestattet wurden, blieb sie deshalb doch noch nicht fort, sondern kam immer
wieder, bis sie endlich für immer verschwand, als die heilige Messe zum letzten-
mal in der verfallenden Burgkapelle gelesen wurde.
Löwenlierg mit dem Gröditzberge. Östlich von Lauban am linken Ufer
des Bober liegt die Stadt Löwenberg an den nordöstlichen Ausläufern des Jser-
gebirges, umgeben von fruchtbarem Ackerland. Schon 1158 war Löwenberg ein
angesehener befestigter Ort, der im Anfange des 13. Jahrhunderts das Recht
über Leben und Tod nach Magdeburger Recht erhielt. Zugleich war diese Stadt,
die jetzt über 5200 fleißige Einwohner hat, einst eine von den vielgeplcigten
Städten Schlesiens; denn im Hussitenkriege (1428) litt die Stadt durch Feuer und
Schwert; im 16. Jahrhundert sank die Einwohnerzahl durch Pest und Hungersnot
von 12 000 auf 6000 Einwohner. Noch mehr litt sie im Siebenjährigen Kriege,
bei dessen Ende sie nur 121 Familien zählte.
Löwenberg mit dem GrödiHberge. 83
, Seit jener Zeit hob sie sich. Am 19. August 1813 wurden die Franzosen
bei dem nahen Dorfe Buchholz und am 21. August bei dem ebenfalls nahen
Dorfe Plag Witz von den Russen geschlagen; es sind hier ein steinerner Obelisk
und eine Marmorbüste Blüchers errichtet worden.
Von Löwenberg aus erreicht man, wenn man sich ungefähr 8 km östlich
wendet, den Gröditzberg, einen 392m hohen bewaldeten, isolierten und ab-
gestumpften Basaltkegel, der auf der Grenze des Vorgebirges und Flachlandes
liegt und von dem man nach Norden und Osten bis in die Provinz Posen hinein
sehen kann, während man in unmittelbarer Nähe stattliche Dörfer, im Südwesten
das Jfer- und Riesengebirge erblickt.
Löwenberg vom Hospitalberge,
Hier erbaute Friedrich I., Herzog von Liegnitz, im Jahre 1473 ein festes
Schloß, in desfen gut erhaltener Ruine sich jetzt eine Restauration befindet.
Im Dreißigjährigen Kriege hielt man die Burg für uneinnehmbar, und des-
halb wurden dorthin nicht nur die Wertsachen des Herzogs von Liegnitz,
sondern auch viele Kostbarkeiten der Bewohner und Kirchen aus der Um-
gegend geschafft; aber gerade deshalb schien die Burg den Wallensteinern im
Jahre 1633, als sie die Stadt Goldberg schon erobert und geplündert hatten,
eine gute Beute zu sein; denn sie hatten erfahren, was dort zu holen war.
Die Eroberung der Burg gelang ihnen durch List. Der Befehlshaber derselben
war der Hauptmann des Herzogs von Liegnitz, von Schindler, der seine Ge-
liebte, die auf dem Schlosse war, damals gerade durch Beleidigungen aufgereizt
6*
84 Das Jsergebirge mit seiner Umsiegend.
hatte. Um sich zu rächen, verriet sie die Burg an die Wallensteiner, indem sie
ihnen die schwächste Seite zeigte und die Krieger einzeln in die Burg zog, bis ihrer
so viel in derselben waren, daß sie die schlafende Mannschaft überwältigen konnten.
Im Jahre 1635 wurde das feste Schloß zersprengt, und nur ein Teil der Wohn-
gebäude blieb stehen: in den Jahren 1750 und 1766 stürzten der große Turm
und ein Teil des stehengebliebenen Schlosses ein, und erst 1823 sind die ehr-
würdigen Trümmer der Burg in der jetzigen Gestalt wieder hergestellt worden.
Die Sage erzählt, daß der Berg seinen Namen habe von dem alten Heid-
nischen Götzen Crodo, der auf demselben verehrt wurde; wahrscheinlich aber hat
er seinen Namen in der polnischen Zeit erhalten, als die Polen dort eine Burg
(grodzja], Befestigung) anlegten; und diese Burg ist es gewiß, die in einer Ur-
künde vom Jahre 1245 als Burg Groclyz erwähnt wird. Auch der Gröditz-
berg hat, wie fast alle Berge, auf denen Burgen standen und stehen, seine
Sagen, die zum Teil recht unheimlich sind und an das wüste Ritterleben des
Mittelalters erinnern. Da starb einmal in jener Ritterzeit der Burgherr in
jugendlichem Alter und hinterließ eine bildschöne und tugendhafte Witwe von
18 Jahren mit einem Töchterchen Rosilde. Der ebenso reichen wie schönen
Frau fehlte es natürlich nicht an Freiern, aus deren Zahl sie den tapfern, aber
herzlosen Ritter Georg von Waldeichen zum Gemahl wählte, dem sie bald eine
Tochter Elfride schenkte. Der grausame und geizige Mann hatte sich einen
Sohn gewünscht, dem er seine Schätze hinterlassen könnte, und ließ nun seine
Härte und Grausamkeit auch seine Gemahlin fühlen, während er seine ganze
Liebe seiner Tochter Elfride schenkte. Die Edelfran ertrug die Zurücksetzung
und lebte ganz sür die Erziehung ihrer beiden Töchter. Während aber Rosilde
bescheiden und herzensgut war, wurde Elfride von Tag zu Tag stolzer, gefall-
süchtiger und falscher; sie wußte es aber so einzurichten, daß lange Zeit niemand
von ihrem sträflichen Leichtsinn ersuhr, da ihr Vertrauter der Burgkaplan war,
der die Pflichten feines Standes hintansetzte und Elfridens lasterhaftes Leben
guthieß, weil er selbst nicht besser war. Endlich erfuhr die Edelfrau doch, wie
schändlich Elfride war, und fragte einen Freund ihres verstorbenen Gemahles, den
Ritter von Borwitz, der sie auf Gröditzberg besuchte, wie ihre Tochter auf den Weg.
der Tugend zurückzuführen fei. Leider aber hatte Elfride die Unterhaltung ihrer
Mutter mit dem Ritter belauscht, entbrannte von Zorn und Wut, eilte zu ihrem
Vater und verleumdete bei ihm ihre Mutter. Dieser grausame Mann kannte
keine Grenzen seines Unwillens, und ohne mit dem Freund des Hauses oder
seiner Gemahlin gesprochen zu haben, eilte er am andern Morgen in die Schloß-
kapelle, als beide dort ihre Andacht verrichteten, erstach den Ritter und ließ
seine Gemahlin gefangen nehmen und in einen elenden Kerker bringen, wo sie
bis zu ihrem Tode bei Wasser und Brot bleiben sollte. Den Leuten aber sagte
er, sie sei gestorben, so daß ihr Name aus dem Gedächtnisse der Lebendigen
verschwand. Elfride sah es als ein großes Glück für sich an, daß sich bald
darauf ihre Schwester Rosilde mit dem Ritter Erich von Blumen vermählte,
weil sie nun auf Gröditzberg für ihr lasterhaftes Leben völlig freie Hand hatte.
Aber sie war nicht lange zufrieden und gönnte ihrer Schwester das Glück
der Ehe nicht. Sie besuchte daher öfter Rosilde und wußte durch ihre Falsch-
heit das Herz des Ritters von Blumen zu umstricken. Um ihn ganz für sich
zu gewinnen, mietete sie zwei Knappen, die ihre Schwester ermorden sollten.
Löwenberg mit dem Gröditzberge. 85
Als die beiden Bösewichter ihre schändliche That vollführen und die betende
Rosilde in der Kapelle erstechen wollten, schlug ihnen das Gewissen, und sie
wagten das Verbrechen nicht. Kaum bemerkte dies Elsride, so ergriff sie selbst
den Dolch und erstach ihre Schwester an den Stufen des Altars und übergab
nun die Entseelte den Knappen, damit sie den Leichnam verscharrten. Die Mit-
wisser der Unthat gruben ein Grab, bemerkten aber, daß noch Leben in dem
Körper war und übergaben Rosilde ihrer alten Amme, die sie sorgsam pflegte,
wieder zur Gesundheit führte und versteckt hielt; ihrer Herrin aber sagten sie,
Rosildens Leichnam sei verscharrt,
Die Ruine auf dem Gröditzberge bei Löwenberg.
Elsride verstand es, ihrem Schwager einzureden, Rosilde sei entflohen
und bereits gestorben, und Erich von Blumen war so leichtsinnig, zu glauben,
was ihm die Unmenschliche sagte. Kaum war die übliche Trauerzeit vorüber,
als sie dem Ritter ihre Hand reichte und mit ihm zum Traualtar gehen
wollte. Als die Hochzeit vorbereitet wurde, fehlte es an einer Schlepp-
trägerin; denn die Erzieherin Petrina, welche auch Rosilde erzogen hatte, war
nicht zu bewegen gewesen, der Schändlichen die Schleppe zu tragen, und um
dieser Weigerung willen aus dem Wege geräumt worden. Die pflichtver-
gessene Tochter riet nun ihrem Vater, die Edelsrau aus dem Kerker zu holen
und sie die Brautschleppe tragen zu heißen. Der Ritter von Waldeichen
ging auf diesen Vorschlag ein. Seine Gemahlin, von niemand mehr gekannt,
erschien in kostbaren Gewändern als Schleppträgerin im Brautzuge. Doch das
86 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Maß der Frevelthaten war voll; was Menschen nicht offenbarten, das erzählten
die Elemente. Der Hochzeitszug setzte sich in Bewegung. Plötzlich zog ein
Unwetter herauf, das so arg war, wie man es bis zu dieser Zeit in jener Gegend
noch nicht erlebt hatte. Der Tag wurde in finstere Nacht gehüllt, ein ent-
setzlicher Sturm brauste durch die Bäume und entführte den Brautjungfern
ihre Kränze und Elfriden ihre von Juwelen schwere Brautkrone. Der Donner
brüllte, Blitze durchzuckten die Luft. Elfride stieß Verwünschungen aus, weil
sie den Elementen gegenüber ohnmächtig war. Da fuhr ein feuriger Strahl
herab; ihm folgte ein krachender Schlag, und als sich der Ritter von Waldeichen
erholte, lag der Burgkaplan vor ihm vom Blitz erschlagen, seine Tochter Elfride
niedergeschmettert am Boden, nnd den Ritter von Blumen, den auch der Blitz
getroffen hatte, trugen seine Leute auf einer Bahre fort.
Elfride war schwerkrank, und da jeder sah, daß sie nicht mehr lange leben
konnte, holte man aus dem Franziskanerkloster zu Goldberg den ehrwürdigen
Pater Jsidorus, daß er Elfridens Beichte höre. In ihrer Todesangst gestand
sie dem Pater alle ihre Verbrechen, daß der Burgkaplan ihr Verführer, Rat-
geber und zum Teil Vollstrecker ihrer Schandthaten gewesen sei, daß ihre Mutter
auf ihre Veranlassung unschuldig im Kerker schmachte, daß sie ihre Schwester
ermordet und ihre Erzieherin vergiftet habe. Sie bat den Mönch, er möchte
ihr Bekenntnis genau aufschreiben und sieben Tage nach ihrem Tode ihrem
Vater übergeben. Leider war ihre Reue nicht von langer Dauer; denn kaum
hatte sie gebeichtet, da kam ihr böser Geist wieder über sie; sie weigerte sich zu
beten und starb mitten im heftigsten Gewitter, während der Höllenfürst an
ihrem Bett stand und ihre Seele in Empfang nahm. Ihr verblendeter Vater
ließ die Leiche im Brautschmuck sieben Tage lang im Rittersaal ausstellen; doch
in jeder Nacht flohen die Wächter ängstlich davon, denn sie behaupteten, der
Leichnam, dem doch das Herz ausgenommen worden war, hole Atem, bewege
die Lippen, als ob er sprechen wolle, und liege morgens anders, als er am
Abend vorher gelegen habe. Darauf beschloß der Ritter, die Leiche in das
Grab legen zu lassen, das er in der Kapelle des Schlosses -für die Tochter hatte
machen lassen. Zwölf Mönche trugen den Sarg in die Kapelle. Als er dort
noch einmal geöffnet wurde, erhob sich Elfride und fagte: „Mir gebührt kein
Grab in geweihter Erde." Dann sank sie zurück, und sofort fiel aus heiterem
Himmel ein Blitzstrahl, der die Leiche in Staub verwandelte, aus dem ein
qualmender Schwefeldampf aufstieg. In der folgenden Mitternacht wurde die
Burgglocke von unsichtbaren Händen gezogen; in das Zimmer des Burgherrn
trat Elsride in gräßlich zerschmetterter Gestalt und sagte: „Wehe! Gott, an den
ich nie geglaubt, hat mich gerichtet. Als verkörperter Geist bin ich zu rastloser
Wanderung verurteilt. Morgen wirst du mein Sündenbekenntnis erhalten!"
Nachdem sie also gesprochen hatte, verschwand sie; aber der Ritter von Waldeichen
hielt alles für einen bösen Traum.
Mißmutig war am andern Morgen der Burgherr aufgestanden und saß
beim Frühstück, als der Franziskanermönch Jsidorus, der Elfridens Beichte
gehört hatte, um Einlaß bat. Der Mönch folgte der Aufforderung des Ritters,
sich zu ihm zu setzen und mit ihm zu essen. Bald erzählte der Ritter von den
Leiden, die er in den letzten Jahren durchgemacht hatte, auch daß seine Gemahlin
noch im Kerker schmachte. Pater Jsidorus versuchte dem Burgherrn begreiflich
Goldberg. Die Wallensteiner in der Stadt. 87
zu machen, daß die Edelfrau vielleicht doch unschuldig sei; aber seine Be-
mühungen waren lange vergeblich. Erst als er, während wieder ein schreck-
liches Unwetter getobt hatte, Elsridens Sündenbekenntnis vorlas und sich zu
erkennen gab, wurde der Ritter andrer Gesinnung. Der Pater Jsidorus warf
nämlich die Kutte ab und stand vor dem Herrn von Waldeichen als Ritter
Borwitz in seiner R'itterkleidnng; er erzählte, daß er an den Wunden, die ihm
Waldeichen in der Kapelle beigebracht habe, nicht gestorben sei, daß ihn der
Burgvogt gerettet und erhalten habe, und daß er, sobald er gesund geworden,
in das Kloster gegangen sei. Der Burgherr staunte; zugleich erschien Elsridens
verkörperter Geist und erklärte, daß das Bekenntnis wahr sei und dem Vater
und andern Frevlerinnen zur Warnung dienen solle.
Waldeichen rief, als Pater Jsidorus wieder seine Kutte angelegt hatte,
mehrere Knappen herbei und eilte mit ihnen und dem Pater in den Kerker
seiner Gemahlin, um sie zu befreien. Die unschuldige Edelfrau lag schlafend
auf ihrem Strohlager und betete, nachdem sie erwacht war; sie konnte sich kaum
fassen, als sie hörte, daß ihre Unschuld zu Tage gekommen sei und sie befreit
werden sollte, und war überrascht, als sie in dem Pater den Ritter von Borwitz
wieder erkannte. Als sie alle den Kerker verließen, in welchem die Frau fast
vier Jahre geschmachtet hatte, hörten sie hinter sich die Worte: „Hier soll keine
Unschuld mehr schmachten." Erschrocken sah sich Waldeichen um und mußte
sehen, wie das Gewölbe krachend zusammenstürzte. Viel Zeit war nötig, bis
die Edelfrau wieder zu Kräften kam; als sie völlig genesen war, fand eine
Festfeier im Schlosse statt, und der Mönch Jsidorus segnete das Paar von
neuem ein. Nun hatte auch Rosilde keine Veranlassung mehr, in ihrem Versteck
zu bleiben. Schwarz verschleiert stellte sie sich ihren Eltern vor und erzählte
von ihren Leiden. Das Glück der Edelleute wurde voll, als auch der Ritter
von Blumen sich einfand; denn der Blitz hatte ihn zwar getroffen, aber nicht
getötet. Auch dieses Paar segnete der Pater noch einmal ein, und so war
durch Elsridens Bekenntnis und Tod das Glück auf dem Gröditzberge wieder
hergestellt. Die entweihte Kapelle ließ Waldeichen niederreißen und an ihrer
Stelle ein Kirchlein errichten zu Ehren des heiligen Georg; aber er erlebte die
Einweihung nicht mehr, denn er und Ritter von Blumen starben, ehe zum
erstenmal im Kirchlein gebetet wurde. Bald folgte ihnen die Burgherrin, die
durch die Kerkerhaft sehr angegriffen war, und Rosilde, ihre Tochter. Aber
noch lange irrte ruhelos Elsridens schwarze Gestalt durch die öden Gemächer
der verwaisten Gröditzbnrg.
Goldberg. Die Wallensteiner in der Stadt (1633). Trotzendorf. Östlich
von Löwenberg liegt am rechten Ufer der wütenden Katzbach am Eingange eines
fchönen Thales die kleine, von noch nicht 6500 Einwohnern bewohnte Stadt
Goldberg, die, jetzt nur noch ein ganz unbedeutender Ort, öfter in der Geschichte
eine bedeutende Rolle gespielt hat.
Die Stadt, welche ihren Namen und ihre Entstehung dem Bergbau auf
Gold verdankt, der hier schon im 10. Jahrhundert von deutschen Bergleuten
betrieben worden sein soll, war einst eine große Stadt; denn im Jahre 1241
stellte sie dem Herzog Heinrich von Liegnitz zum Kampfe gegen die Tataren
bei Wahlstatt 600 Bergknappen, die fast alle> im Kampfe das Leben verloren.
5
88 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend^
Der Bergbau in Goldberg hörte im 15. Jahrhundert ganz auf, weil derselbe
nichts mehr einbrachte. Die Sage berichtet, die Goldberger Bergknappen hätten
um diese Zeit einen Mönch erschlagen, welcher noch kurz vor seinem Tode in der
größten Lebensgesahr den schleichen Bergbau verflucht und mit einem Banne
belegt habe. Zweimal, in den Jahren 1428 und 1431, ist Goldberg durch
die furchtbaren Verwüstungen der Hnssiten verheert und fast vertilgt worden.
Entsetzlich litt die Stadt im Jahre 1633 durch Wallenstein. Dieser
geniale Feldherr hatte es verstanden, die Schweden und Sachsen voneinander
zu trennen durch verstellte Märsche, die er mit seinen Truppen machte, und
brandschatzte Schlesien. Am 4. Oktober kam er mit seinem Heere in die
Nähe von Goldberg. Früh morgens um 6 Uhr fand sich eine starke Ab-
teilung Reiter beim Oberthor ein, deren Befehlshaber den Bürgermeister zu
sprechen verlangte. Dieser erschien mit einigen Ratsherren und Adligen aus
der Umgegend, die vor den Kriegsunruhen in der Stadt Sicherheit gesucht
hatten, und erhielt den Befehl, für den General Wallenstein ein Frühstück
zu besorgen. Man fragte den Offizier nach seiner schriftlichen Ordre, und
da er diese nicht zeigen wollte oder konnte, kam es zu langen Streitereien,
während dessen immer mehr Soldaten herankamen, in der Stille die Stadt
umringten und von außen die Thore besetzten. Als die Ratsherren in die
Stadt zurückkehren wollten, ließ sie der Offizier ergreifen, bis aufs Hemd
ausziehen, jämmerlich mißhandeln und binden. Die Bürger, welche diese Grausam-
keit sahen, sperrten die Thore und zogen die Brücken in die Höhe. Doch die
Soldaten überstiegen die Mauern, öffneten die Thore von innen und gewährten
6000 Kriegern freien Eingang. Die gefangenen Ratsherren mußten die reichsten
Hänser nennen, deren Plünderung die Offiziere selbst unternahmen; die übrigen
Häuser wurden den Gemeinen preisgegeben. Mit Wut drangen diese in die
Häuser der bebenden Bürger ein, verwundeten die Einwohner, legten ihnen
Stricke um den Hals, schleppten sie nackt auf die Straßen, steckten ihre Daumen
in die Pistolenhähne, rieben die verwundeten Fußsohlen mit Salz ein, schlugen
ihnen brennende Kiensplitter unter die Nägel, schnitten ihnen Nasen und Ohren
ab, verbrannten einige in Backösen, zertraten andern die Rippen, raubten, was
sie fortschaffen konnten, und zerstörten, was nicht fortzubringen war. Diese
barbarische Zerstörung dauerte 24 Stunden. Als die Plünderer abzogen, fand
man über 100 Leichen und über 300 Verwundete. Bei der Plünderung wurde
auf ausdrücklichen Befehl Wallensteins das Haus des Kantors Fechner ver-
schont. In seiner Jugend hatte nämlich Wallenstein die Goldberger Schule
besucht, und einer seiner Lehrer war der Kantor Fechner gewesen, welcher nie
viel von dem mürrischen, in sich gekehrten Knaben gehalten hatte. Als dieser
einst träumerisch dasaß, während seine Mitschüler sich dem ausgelassenen Spiele
überließen, sagte ihm Fechner: „Wenn aus dir ein großer Mann wird, will ich
dein Hosnarr werden." Der ruhmreiche Feldherr gedachte nun dieses Auftrittes
in der Schule, ließ den alten Kantor zu sich rufen und erinnerte ihn an seinen
Ausspruch. Der zitternde Alte bat um Verzeihung, da er ja die Zukunft nicht
habe wissen können, und wurde gnädig entlassen.
Die Goldberger Schule erfreute sich in der Zeit, in der Wallenstein ein
Knabe war, noch eines bedeutenden Rufes, den Trotzendorf begründet hatte.
Valentin Friedland, genannt Trotzendorf (Trocedorfras) nach einem
Trotzendorf. 89
Dorfe dieses Namens, eine Meile von Görlitz (jetzt Troitschendorf), wo er 1490
geboren wurde, gehört in die Reihe der großen Schulmänner des 16. Jahr-
Hunderts, wie Sturm in Straßbnrg. Neander in Jlefeld, H. Wolf in Augsburg,
Mylins in Görlitz, Fabricius in Meißen, welche alle aus der Schule Melauchthons
hervorgegangen sind. Trotzendorf war der Sohn eines ehrbaren Landmannes,
der mit Bettelmönchen in Verbindung stand. Als diese die Lernbegierde und Fähig-
keit des Knaben wahrnahmen, veranlagten sie den Vater, den kleinen Valentin
nach Görlitz auf die Schule zu schicken. Bald aber wurde es dem Vater leid, den
Sohn fortgeschickt zu haben; er ließ ihn wieder zurückkommen und verwendete
ihn in der Landwirtschaft.
Goldberg.
Aber die Mutter gefiel sich in dem Gedanken, ihr Söhnchen könne
einmal ein Priester werden, und sie wußte es durchzusetzen, daß Valentin in
seinem Geburtsorte weiter im Lesen und Schreiben unterrichtet wurde. Als
Schreibmaterial dienten dem Knaben Birkenrinde (interior betulae cortex),
Gänsekiele und Kaminruß (fuligo infumibuli atramentum suppeditavit).
Zwei Jahre dauerte dieser Unterricht Auf unablässiges Betreiben seiner
Mutter wurde der Jüugling im Jahre 1508 wieder in die Stadt gebracht,
um sich ganz dem Studium zu widmen. Trotzendorf überholte bald alle seine
Mitschüler, und als 1513 sein Vater starb (seine Mutter war schon früher
an der Pest gestorben), verkaufte er sein Erbgut und begab sich nach Leipzig,
wo er sich zwei Jahre lang lateinischen und griechischen Studien widmete.
90 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Im Jahre 1516 wurde er Lehrer an der Görlitzer Schule; Schüler und Lehrer
lernten von ihm, selbst seinen Rektor unterrichtete er im Griechischen. Luthers
Auftreten bewog ihn nach Wittenberg zu gehen, wo er fünf Jahre blieb. Dort
nahm er auch im Hebräischen Unterricht bei einem getauften Juden. Eng und
innig schloß er sich an Melanchthon an, dem er sein ganzes Leben hindurch seine
Anhänglichkeit bewahrte. Im Jahre 1523 wurde Helmrich Rektor der Goldberger
Schule und bewirkte, daß Trotzendorf als Lehrer an seine Schule berufen wurde.
Als Helmrich im folgenden Jahre ein andres Amt erhielt, wurde Trotzendorf
an feiner Stelle Rektor; da aber infolge der Reformation die Gemüter sehr in
Aufregung waren, gedieh die Schule nicht, und Trotzendorf ging im Jahre 1527
an die in Liegnitz ins Leben zu rufende Universität uud kehrte 1529 nach Witten-
berg zurück. Auf dringendes Bitten Helmrichs, der inzwischen Bürgermeister
geworden war, übernahm Trotzendorf im Jahre 1531 zum zweitenmal das Rek-
torat in Goldberg, dem er von da an 25 Jahre mit Ruhm Vorstand. In dem
Rosarium, das seine Schüler herausgaben, heißt es von der Goldberger Schule,
sie habe so viel Schüler gehabt (es waren gegen tausend), daß der Rektor hätte
aus ihnen ein Heer gegen die Türken bilden können (tantum habuit discipulorum
numeram, ut justum ex iis exercitum contra Turcos producere posset).
Seine Schule, die nicht nur von Schlesiern, sondern auch von Jünglingen aus
Steiermark, Kärnten, Ungarn und Polen besucht wurde, glich, so berichtet der
Redner Rhavus, einem wohleingerichteten Staate, der durch Gesetze, Unterricht
und andre schöne Übungen trefflich geordnet ist zu dem Zwecke, daß die Jugend,
von Kindheit an mit der religiösen Wahrheit getränkt, eine Richtung erhalte zur
Furcht und Anrufung Gottes, zugleich aber auch die Elemente der Wissenschaften
und Künste erlerne, welche notwendig sind für die Kirche und menschliche Gesell-
schaft, und in strengerer Zucht herangebildet sanfte Sitten annehme, sich an die ge-
meinsame ehrenhafte Pflichterfüllung im öffentlichen und Privatleben gewöhne.
Trotzendorf richtete feine Schule eigentümlich ein; sie zerfiel in sechs Klassen,
jede Klasse war in Tribus geteilt. Die Schüler selbst zog er ins Regiment,
indem er die einen zu Ökonomen, andre zu Ephoreu, noch andre zu Quästoren
ernannte. Die Ökonomen mußten für die Ordnung im Haufe sorgen, z. B.
daß alle zu rechter Zeit aufstanden und zu Bett gingen, daß Stuben, Kleider
u. s. w. in reinlicher Ordnung gehalten wurden. Den Ephoren lag ob, für gute
Ordnung bei Tische einzustehen. Jede Tribus hatte ihren Qnästor; über alle
Quästoren war ein Oberqnästor gesetzt. Jene wurden wöchentlich, diese monatlich
gewählt; sie hielten auch lateinische Reden beim Austritt aus dem Amte. Die
Quästoren hatten über den fleißigen Besuch der Lektionen zu wachen, die Faulen
anzuzeigen, Themata zu geben, welche während der halben Stunde nach dem
Sssen lateinisch besprochen wurden. Außerdem setzte Trotzendorf einen Schüler-
Magistrat ein. Dieser bestand aus einem monatlich von ihm gewählten Konsul,
zwölf Senatoren und zwei Zensoren. Hatte ein Schüler etwas begangen, so mußte
er sich vor diesem Senate verteidigen und kouute sich zur Verteidigung acht
Tage vorbereiten. Bei der Verhandlung war Trotzendorf als Diktator zugegen.
Reinigte sich der Angeklagte, fo wurde, er freigesprochen, besonders wenn er
eine wohlgesetzte Verteidigungsrede hielt; taugte die Rede nichts, so wurde er
auch bei leichten Vergehen verurteilt. Mit großem Ernste wiederholte Trotzendorf
den Ausspruch des Senates und hielt streng auf desfen Vollziehung. Diese
Die Rabendocke bei Goldberg. 91
seltsamen Einrichtungen sollten die Knaben frühzeitig an die Achtung gegen die
Obrigkeiten gewöhnen; denn, meinte der Rektor, diejenigen werden den Gesetzen
gemäß regieren, die als Knaben den Gesetzen gehorchen gelernt haben.
Den Schulgesetzen waren fünf Grundsätze des Rektors vorangeschickt:
1) Alle Schüler werden gleichmäßig regiert. 2) Alle Schüler müssen sich den
Gesetzen fügen; wer Schüler wird, spielt nicht mehr den Adligen. 3) Nach Maß-
gäbe der Vergehen werden die Schüler mit der Rute, der Leier oder mit Karzer
bestraft. (Die Leier war ein Werkzeug von Holz, welches die Gestalt einer
Fidel hatte, und das leichtsinnigen Personen, welche am Pranger stehen mußten,
um den Hals und um die Hände gelegt wurde.) Welche sich solcher Strafen
schämen, sei es wegen ihrer adligen Herkunft, sei es wegen vorgerückten Alters,
mögen entweder recht thun, um nicht in Strafe zu verfallen, oder die Schule
verlassen. 4) Jeder Ankommende wird erst unter die Schüler ausgenommen,
nachdem er versprochen, die Schulgesetze zu halten. 5) „Die Glieder uusrer
Schule sollen auch Glieder unsres Glaubens und unsrer Kirche sein." — Die
Schulgesetze handeln im ersten Kapitel von der Frömmigkeit. Die Furcht Gottes
ist der Weisheit Anfang. Dann stellt Trotzendorf als Ziel seiner Schule auf,
daß die Knaben gerüstet werden, in Theologia, Medicina, Philosophia und
Jurisprudentia zu studieren. Besonders viel wurde in Goldberg das Lateinische
getrieben; es wurden lateinische Briefe geschrieben, lateinische Verse gemacht,
lateinische Reden gehalten; auch im Umgange der Schüler mit Schülern und
Lehrern, mit Knechten und Mägden wurde lateinisch gesprochen.
Den Religionsunterricht gab Trotzendorf selbst mit heiligem Ernst. An-
sangs unterrichtete er in den oberen Klassen allein; erst später wurde er
durch Mitlehrer unterstützt. In den unteren Klassen ließ er den Unterricht von
älteren Schülern erteilen. Er schied also nicht streng zwischen Lehrern und
Schülern, wie er auch nicht zwischen Erziehern und Zöglingen Unterschiede
machte; sondern wie die Schüler zum Teil durch ihre Mitschüler erzogen wurden,
so wurden auch die jüngeren Schüler von den älteren unterrichtet. Und diese
Schuleinrichtung ist nicht etwa aus Not hervorgegangen, sondern es wurde mit
ihr ein pädagogischer Grundsatz Trotzendorfs durchgeführt. Die Schule sollte
eine akademische Republik sein; alle Schüler, vornehme und geringe, sollten
gleichgestellt, den Gesetzen unbedingt unterworfen sein; der Rektor ein Diktator
mit unbeschränkter Herrschaft über diese Republik. Seine Herrschaft war da-
durch gesichert und überall gegenwärtig wirksam, daß er die regierten Schüler
unter seiner obersten Leitung am Regiment teilnehmen ließ und sie zugleich für
die gesetzliche Ordnung mit verantwortlich machte.
Den würdigen Greis traf in seinen letzten Lebensjahren viel Unglück. Im
Jahre 1552 war eine große Hungersnot in Goldberg, im nächsten Jahre wütete
die Pest, 1554 brannte ganz Goldberg, auch das Schulgebäude ab. Trotzendorf
zog mit seinen Schülern nach Liegnitz und betrieb von dort den Wiederbau der
Schule in Goldberg; aber er sollte dorthin nicht mehr zurückkehren. Am 20. April
1556 erklärte er den 23. Psalm. Beim vierten Verse: „Und ob ich schon
wanderte im finsteren Thal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir;
dein Stecken und Stab tröstet mich", rührte ihn der Schlag. Er sank zurück,
blickte zum Himmel und sprach nur noch die Worte: Ego vero, auditores, nunc
avocor in aliam scholam (Ich aber werde jetzt in eine andre Schule abgerufen).
92 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
Sprachlos, aber bei vollkommenem Bewußtsein lebte er noch fünf Tage; am
26. April starb er, 66 Jahre alt und unverheiratet; am 28. wurde er begraben.
Hohe und Niedere, auch die herzoglichen Prinzen folgten seiner Leiche.
Nach feinem Tode geriet die Goldberger Schule in Verfall; im Jahre 1654
fand sich bei einer Kirchenvisitation in Goldberg nur ein einziger Bürger, der
ein Brieflein oder eine Bittschrift aussetzen konnte.
Die Raliendocke bei Goldberg. Nur 2 km südlich von der Stadt Gold-
berg liegt der Wolfsberg, ein Basaltkegel, und dann in seiner Nähe die so-
genannte Rabendocke, eine steile und vielfach zerklüftete Felswand, am Ufer der
Katzbach, im fchönen Thale von Seifenau.
Die Sage berichtet, daß in dieser Gegend einst vor dem Einfalle der Tataren
in Schlesien zwei böse Ritter lebten, Kuno und Veit, Brüder, von denen der
eine auf dem Wolfsberge eine Burg, der andre im Seifenthale eine einer Burg
ähnliche und durch einen hohen Wachtturm geschützte Schenke hatte. Beide waren
Wegelagerer und lebten von dem, was ihnen die Heerstraße brachte, d. h. sie
ließen keinen Reisenden, keinen Kaufmann, der ihnen etwas zu besitzen schien,
ruhig des Weges gehen, sondern plünderten sie aus, schleppten sie in ihre
Raubnester, ließen sie verhungern oder ermordeten sie auf der Straße und
ließen ihre Leichen liegen. In die Schenke lockten sie die Fremden, um sie uu-
gestörter nachts ausplündern und die geraubten Wertsachen in den Rabenberg,
der mit der Schenke in Verbindung gestanden, bringen zu können. Da traf es
sich, daß sie einen Ritter mit seiner Gemahlin auf der Landstraße überfielen,
ermordeten und die Leichen plünderten. Als sie die geraubten Sachen durchsuchten
und in Sicherheit bringen wollten, entdeckten sie zu ihrem Schrecken, daß die
von ihnen erschlagene Edelfrau ihre eigne Schwester war, welche unbekannt in
einem Kloster erzogen worden und sich dann verheiratet hatte; die beiden Brüder
aber hatten nichts davon erfahren, weil ihr Vater sie wegen ihrer Schlechtig-
keit längst verstoßen hatte.
Die beiden Sünder wurden nun von einer namenlosen Angst ergriffen und
flohen aus dem Innern des Rabenberges in die Schenke, und als sie dort keine
Ruhe fanden, auf die hohe Warte. Kaum hatten sie die Spitze des Turmes er-
reicht, als sich ein entsetzlicher Gewittersturm erhob, der die tausendjährigen
Eichen entwurzelte und wie schwache Ranken knickte. Sie blickten nach dem
Wolfsberge hin und sahen, wie über der Burg schwarze Wolken hingen, aus
denen die Blitze wie Feuerregen zuckten, wie sich dann der Berg auseinander
that und die Burg mit allen Gebäuden, Menschen, Tieren und Schätzen verschlang.
Entsetzt eilten sie die Treppe wieder hinunter in die Schenke, welche sie leer fanden,
denn alle ihre Leute waren geflohen. Als sie nun auch fliehen wollten, konnten sie
die Thür nicht öffnen, denn sie war in Stein verwandelt. Bald verwandelten sich
auch die Wände in Stein, und kein Tageslicht mehr drang in den Raum, dessen
Wände noch vor kurzem vom frohen Gesänge beim Becherklange widerhallten.
Sie wollten wieder auf die Höhe des Turmes steigen, um sich ins
Thal zu stürzen; aber der Weg war ihnen jetzt durch die sich bildenden
Steinmassen versperrt. Da eilten sie in die Keller und von dort in die
unteren Gewölbe und setzten sich voll Verzweiflung und ermattet auf zwei
große Truhen, welche ihre blutbefleckten Raubstücke bargen, und erwarteten
Die Rabendocke bei Goldberg. ' 93
ihre Strafe; denn auch von dort war kein Ausweg mehr zu finden. Plötzlich
wurde das Gewölbe hell, eine finstere Gestalt trat herein und fprych zu den
Rittern: „Wehe, wehe! Das Maß eurer Sünden ist voll; ihr habt niemals
Erbarmen geübt, darum sollt auch ihr nicht vor den Thron der Barmherzigkeit
des Höchsten gelassen werden. Werdet, was ihr in eurem Leben schon zu sein
schient, zu Steinen. Die steinernen Bilder eurer Leiber sollen zwar unbeweglich,
aber nicht unbelebt sein, und so sollt ihr auf euren mit unschuldigem Blute
befleckten Schätzen sitzen ewiglich als belebte Felsenstücke, unaufhörlich gefoltert
von schrecklicher Reue. Gleichwohl hat die Gnade des Allerbarmers euch einen
Weg zur Erlösung offen gelassen. Alljährlich in der geweihten Nacht, in welcher
der Erlöser der sündigen Menschheit, also auch euch geschenkt wurde, sei eure
Felsenpforte eine kurze Zeit geöffnet. Mit dem Glockenschlage der Mitternacht
''wird sie sich aufthuu; aber sobald das erste Viertel der ersten Stunde ertönt,
schließt sie sich wieder für das ganze Jahr. In dieser Nacht ist es einem
Sterblichen vergönnt, euch von eurer Qual zu befreien. Er lege euch drei
Fragen vor, zertrümmere eure Felsenhüllen und nehme die Schätze; doch ehe
die Viertelstunde Verslossen ist, muß er im Freien sein, sonst ist es um sein
Leben geschehen und sein Blut lastet auf eurer Seele." Mit diesen Worten
verschwand die unheimliche Erscheinung. Da erkalteten die warmen Leiber der
Bösewichter, ihre Formen blieben, aber sie. wurden zu festem Stein. Das
Blut stand in seinem Laufe still, und au seiner Stelle schlängelten sich rote
Felsenadern durch die steinernen Bilder.
So vergingen viele Jahre; niemand hörte wieder etwas von den einstigen
Bewohnern der Wolfsburg und der Rabenschenke. Da trug es sich zu, daß
ein Ritter nach Goldberg kam, um sich von einem Sturz vom Rosse heilen zu
lassen. Während er in der Herberge rasten mußte, wurde ihm die Sage von
der Rabendocke mitgeteilt, und er beschloß, sein Glück mit ihr zu versuchen.
Er begab sich also am Morgen vor dem heiligen Abend in das Seifenthal, um
sich mit der Gegend bekannt zu machen. Eisig kalte Winde wehten durch die
öde und menschenleere Gegend, und außerdem machte starkes Schneegestöber das
an sich schon unheimliche Thal noch unheimlicher. Als er an den Felsen heran-
kam, hörte er ein starkes Schnarchen, welches aus dem Felsen selbst herauszu-
kommen schien, und entdeckte auch die steinerne Pforte. Nachdem er nun die
ganze Gegend durchspäht hatte, ging er getrosten Mutes wieder nach Goldberg
zurück, entschlossen, in der nächsten Christnacht das Abenteuer zu bestehen. Kurz
vor 12 Uhr nachts begab sich der Ritter auf den Marsch und war bald in dem
Thale, in welchem ein Zischen, Rauschen und Toben herrschte, als ob die Geister
der Finsternis losgelassen wären. Er eilte der Thür zu. Sie stand offen. Im
Innern der Höhle waren zwei steinerne Bilder und ein lebendiges Wesen zu sehen.
Eben wollte er eintreten, da schlug es ein Viertel. Ein Weib, das einen
schweren Sack unter dem Arme trug, stürzte atemlos heraus, hinter ihr schloß
sich mit einem fürchterlichen Getöse die Thür, und ein gräßliches Hohngelächter
erscholl aus dem Innern des Felsens. Das Weib sah sich um, stürzte gegen
die Thür, raufte verzweiflungsvoll ihr Haar, rang die Hände zum Himmel
empor und schrie im wütendsten Schmerze: „Mein Kind, mein armes Kind, ich
Rabenmutter habe mein unglückliches Kind verlassen." Nur mit Mühe konnte
der Ritter die Frau beruhigen und von ihr erfahren, daß sie gehört habe, man
94 Das Jsergebirge mit seiner Umgegend.
könne in der Rabendocke große Schätze heben, wenn man in der zwölften Stunde
der Christnacht hineingehe und ein unschuldiges Kmd mitnehme; sie sei eine arme
Frau mit sechs Kindern, habe kein Brot, ihr Mann sei gestorben. Da habe sie ihr
jüngstes Kind, einen Knaben von einem Jahre, auf ihren Arm genommen, sei in
den Felsen geeilt, habe ihr Kind aus einen Tisch in der Mitte des Gewölbes gesetzt
und so viel Gold- und Silberstücke als möglich zusammengerafft, sei darauf schnell,
als es begann ein Viertel zu schlagen, hinausgesprungen und habe ihr Kind ver-
gessen. Nun hatte sich die Pforte geschlossen und ihr Kind war verloren; denn
der Stein war nicht zu öffnen. Die Frau schrie laut auf, denn auch der Sack,
den sie mit Schätzen aus der Höhle gebracht hatte, war spurlos verschwunden.
Entsetzt kehrte der Ritter nach Goldberg zurück mit dem festen Vorsatze, im
nächsten Jahre sein Glück wieder zu versuchen. Noch ehe das Jahr vergangen
war, fand er sich mit einem Knappen in der Herberge zu Goldberg ein, begab
sich, um nicht zu spät zu kommen, lange vor Mitternacht in der Christnacht in
das von Geistern bewohnte Thal und fand alles so, wie er es verlassen hatte.
Sein Knappe trug eine Axt und einen Spaten. Um Mitternacht standen die
beiden Abenteurer vor der Pforte der Rabeudocke; geisterhafte Gestalten um-
schwebten sie, so daß sie von heftigem Grausen erfaßt wurden. Um 12 Uhr
rollte ein hohltönender Donner, welcher immer näher kam und heftiger wurde,
bis die Thür krachend aufsprang. Der mutige Ritter schritt in die Höhle
hinein. Er sah die steinernen Ritter, und ein Kind spielte munter lächelnd auf
einem Tische mit einigen Goldstücken. Schnell nahm er es vom Tische herab
und reichte es seinem Knappen zur Höhle hinaus, damit er es in seinen Mantel
wickeln und vor Kälte schützen sollte. Dann ging er auf die beiden steinernen
Gestalten zu, die ihm doch zu atmen schienen, und sprach zu ihnen mit starker
Stimme: „Seid ihr die Ritter Kuno und Veit, von deren Schandthaten so
viel erzählt wird?" Zwei hohle Stimmen antworteten: „Wir sind es." „Ihr
verdient also kein Erbarmen; aber ich will euch helfen, wenn es möglich ist.
Ist es möglich?" „Ja." „Aber wie? Seid ihr wirklich nur in diese steinernen
Hüllen eingeschlossen, und könnt ihr, wenn ich sie zertrümmere, zur Ruhe ein-
gehen?" „Ja, aber eile." Da schlug der Ritter mit den Worten „Im Namen
Gottes" dreimal gegen die Felsgebilde mit der Axt; beim dritten Schlage
sprangen die Hüllen auseinander, und zwei nebelhafte Gestalten standen vor ihm.
Sie sprachen: „Habe Dank für das, was du an uns gethan hast; wir haben durch
dich die Ruhe gefunden, nach welcher wir uns lange Jahre vergeblich gesehnt hatten.
Nimm eilig, denn bald ist die Viertelstunde verflossen, so viel du von uusern
Schätzen fortbringen kannst; aber lebe fromm und thue mit ihnen den Armen
wohl, damit durch dich das Andenken an nnfre Räubereien vernichtet werde."
Nachdem sie also gesprochen hatten, verschwanden sie. Der Ritter raffte
in größter Eile möglichst viel Gold und Edelsteine, die in großer Menge vor
ihm lagen, zusammen und sprang, als es ein Viertel schlug, hurtig zur Thür
hinaus, die sich krachend hinter ihm schloß.
Ritter und Knappe eilten nach Goldberg und gaben sofort der armen
Frau ihr Kind wieder; dann kehrten sie mit ihren Schätzen in ihre Heimat
zurück, bauten Armenhäuser uud verteilten, was sie von den Schätzen nicht zu
den kirchlichen und anderweitigen Bauten, die sie geplant, verwenden konnten,
unter die Armen und Hilfsbedürftigen der Heimat.
Ms Sttfengflitigt.
Allgemeines. — Morgen- und Abenddämmerung. — Das Wetter im Gebirge. —
Die Pflanzen und Tiere. — Die Bauden. — Wanderung über den Riesenkamm. —
Schreiberhau, Petersdorf, Josephinenhütte. — Zackenfall. — Kochelfall. — Eine Nacht
in der Neuen schleichen Baude. — Reifträger. — Elbbrunnen und Elbfall. —
Schneegruben. — Das Hohe Rad. — Große Sturmhaube. — Kleine Sturmhaube. —
Hampelbaude. — Die Schneekoppe oder Riesenkoppe. — Böhmische Seite des Riesen-
gebirges. — Der Mönch und die Nonne. — Die schlesische Gebirgsbahn. — Hirsch-
berg. — Karl Ludwig Bauer. — Warmbrunn. — Hermsdorf. — Der Kynast und seine
Sagen. — Erdmannsdorf. — Die Zillerthaler. — Schmiedeberg. — Hörnerschlitten-
fahrt. — Fifchbach. — Kirche Wang. — Kloster Grüssan, das schlesische Eskorial. —
Der Name des Berggeistes im Riesengebirge.
Hoch auf dem Gipfel
Deiner Gebirge
Steh' ich und staun' ich,
Glühend begeistert,
Heilige Koppe,
Himmelaustürmerin!
Weit in die Ferne
Schweifen die trunkenen,
Freudigen Blicke;
Überall Leben,
Üppiges Streben,
Überall Sonnenschein.
Blühende Fluren,
Schimmernde Städte,
Dreier Könige
Glückliche Länder
Schau' ich begeistert,
Schau' ich mit hoher,
Inniger Lust.
Theodor Körner.
Allgemeines. Der höchste Teil des Sudetengebirges ist das Riesengebirge,
welches sich von Nordwesten nach Südosten etwa 38 km lang in einer Breite
von ungefähr. 22 km auf der Grenze zwischen Schlesien und Böhmen hin-
zieht. Im Westen beginnt es an der Stelle, wo das Jsergebirge aufhört, an
Die Hampelbaude. Nach einer Zeichnung von Gustav Täubert.
96 Das Riesengebirge.
der Millnitz und am Zacken, im Osten wird es durch den Bober begrenzt. Im
Norden fällt das Gebirge steil ab, während es sich im Süden nach Böhmen
hinein allmählich in die Ebene verliert. In der Mitte dieses Gebietes erhebt
sich ein Hauptrücken, der Riesenkamm, ein ununterbrochener, 1300 m hoher
Felswall, dessen Höhe eine Ebene bildet, auf dem die Grenze zwischen Österreich
und Preußen läuft. Dieser Kamm teilt also das Gebirge in eine kürzere nörd-
liche und längere südliche Hälfte. Die am meisten hervortretenden Punkte auf
dem Kamme sind der Reifträger, das Hohe Rad und die Schneekoppe, die
1601 in hoch ist.
Das Riesengebirge übertrifft die Bergketten, welche Deutschland vom Rhein
bis nahe an die Oder und von den Alpen bis an die norddeutsche Tiefebene
durchschneiden, nach Form, Größe und Umriß ebenso sehr, wie es selbst von
den Alpen übertroffen wird; es bietet dem Wanderer kahle Berghöhen, stumpfe
Gipfel, steile Abhänge, schroffe Klüfte, finstere Abgründe und ähnelt in feiner
Großartigkeit den Alpen.
Die Grenze des ewigen Schnees erreicht das Riesengebirge nirgends; aber
der Winter ist in seinem Gebiete bereits sehr lang und dauert in den oberen
Höhen meist gegen 9 Monate.
Die vier Sommermonate tragen das Gepräge des Frühlings. Die Luft
ist, wenn wir wenige schwüle Tage im Juli und August ausnehmen, selbst
während der Mittagsstunden und bei sonst schönem Wetter auf den Höhen ge-
wohnlich kühl, der Boden immer naß und fumpfig, so daß die Bergbäche stets
reichlich mit Wasser versorgt werden.
Morgen- und Abenddämmerung. In den wenigen Sommermonaten
wechselt die Pflanzenpracht schnell an den Abhängen der Berge, so daß man
sich in einem wonnereichen Frühling zu befinden glaubt. Während dieser Herr-
liehen, nur zu schnell vorübergehenden Zeit gehört die lange Morgen- und
Abenddämmerung zu den prächtigsten Naturerscheinungen, die eine unbeschreib-
liche Freude dem bereitet, der die heiteren Höhen und Thäler der Sudeten
durchwandert. Die Morgen- und Abendröte ist auf den Spitzen der Sudeten
immer heiterer und fchöner als bei wolkenfreiem Himmel im Unterlande. Noch
breitet die Nacht ihren Schleier über das Tiefland aus, wenn die Koppe und
andre Riesenberge schon von der Sonne erleuchtet werden; und schon liegen
die Auen im Schatten der Berge, wenn die Bergspitzen noch des Tages milder
Schimmer rötet. Sendet die sinkende Sonne ihre letzten Strahlen durch feinen
Abendnebel, so erglühen die höchsten Punkte des Kammes, vor allem aber der
Koppenkegel in rotgelben Farben. Dieses Bergglühen, welches an die Pracht
des Alpenglühens erinnert, erstreckt sich nicht selten, wenn die Strahlen der
Sonne tief am Thalrande einen Durchgang finden, bis an den Fuß des Ge-
birges und läßt dann die ganze Gebirgsmasse in bald gelblichrotem, bald dunkel-
rotem Lichte erscheinen, das sich allmählich verliert und zuletzt nur noch am
Koppenkegel haftet, desfen Granit- und Glimmerfchieferfelfen noch lange nach
Sonnenuntergang dunkelglühend erscheinen. Die Morgenfärbungen, welche sich
vor Sonnenaufgang einstellen, bieten in umgekehrter Ordnung ein ähnliches
Schauspiel dar, welches im Gebirge und besonders auf der Schneekoppe selbst
den schläfrigsten Reisenden veranlaßt, mit Tagesgrauen sein Lager zu verlassen,
um das herrliche Naturspiel zu genießen.
Das Wetter im Gebirge. 97
Das Wetter im Gebirge. Der Übergang von dem gewöhnlich vier
Monate dauernden Frühling geschieht im Gebirge viel schneller als im tiefen
Lande. Kaum sind nach der Herbstnachtgleiche einige Nebel als Vorboten des
nahenden Winters niedergefallen, so bricht auch fast immer bald Kälte und
stürmisches Schneewetter ein, und der Winter mit allen feinen Unannehmlich-
leiten nimmt von den Sudeten Befitz. Der erste Schnee bedeckt gewöhnlich schon
die Koppe, wenn in den Thälern die Pflanzen noch im grünen Schmucke prangen.
Die Höhen der Sudeten sind den größeren Teil des Jahres hindurch in
Wolken gehüllt, welche meist von dem Jsergebirge hergezogen kommen, zuerst
den westlichen Teil des Riesengebirges einhüllen und sich dann allmählich über
das ganze Gebirge verbreiten. Öfters freilich legen sich auch die Wolken im
Westen fest und zerteilen sich, so daß das östliche Gebirge frei bleibt. Zuweilen
hat auch die Koppe allein „eine Haube", während der übrige Rücken frei bleibt,
und das kommt davon her, daß die vom Winde getriebenen Dunstmassen sich
rasch an dem kalten Koppenkegel verdichten. Die Haube, die dann die Koppe hat,
bringt oft einen eisigen Sturmwind mit sich.
Oft hüllt sich innerhalb weniger Stunden das ganze Gebirge in Wolken
ein; die Gebirgsbewohner sagen dann, daß sich das Gebirge einpopelt. Über-
ziehen dichte Nebel das ganze Gebirge, die auch die Thäler ausfüllen, so sagt
man, das Wetter sackt sich ein; wird es aber wieder Heller, so sagt man, das
Wetter räumt auf. Es ist interessant, wenn auch nicht immer angenehm, zu
beobachten, wie sich der heitere Himmel allmählich bedeckt und wie endlich aus
dem dicht bedeckten Himmel der Regen herabströmt. Oft kommt es auch vor,
daß das Windgewölk sich nicht zusammenzieht, sondern infolge der sich schnell
verändernden Luftströmungen sich wieder zerteilt.
Auf den höher gelegenen Gegenden ist der Regen mehr ein starker Nebel
und feiner Staubregen; in den Thälern dagegen und in den am Fuße des Ge-
birges gelegenen Flächen sind die Regengüsse oft sehr stark und anhaltend.
Gewitterregen arten leicht in verheerende Hagelwetter und Wolkenbrüche aus;
dann treten die Gebirgsbäche schnell über ihre Ufer, überschwemmen Fluren und
Dörfer, reißen Felsstücke und auch Waldbäume mit sich fort und tragen ihre
verheerenden Wirkungen bis ins flache Land. Ebenso schnell aber, wie die
Bäche zu reißenden Fluten sich erweitern, nehmen sie auch wieder ab und rieseln
murmelnd in ihren gewöhnlichen Rinnsalen dahin.
Wer aus dem Flachlande kommt, entsetzt sich gewöhnlich, wenn er zum
erstenmal ein Gewitter im Gebirge erlebt; denn gräßlich schön erscheinen die
Blitze, die im Zickzack durch die Thalschluchten geschleudert werden, und der
Donner tönt weit mächtiger als im Flachlande, weil durch das Echo das Rollen
sich vervielfältigt. Unbeschreiblich ist der Eindruck, den ein Gewitter macht,
welches sich zu den Füßen des Wanderers abspielt. Es ist nicht gerade sehr
selten, daß der Gebirgsreisende von einem höheren Standpunkt auf die Ge-
Witterwolken niederblickt, daß er also über den Wolken im Sonnenschein steht
und die zu seinen Füßen tobenden Elemente beobachten kann.
Herrlich ist der Regenbogen, wenn er nach abendlichem Gewitterregen am
Himmel erscheint und das Flachland wie ein von bengalischem Feuer erleuchtetes
Wunderland sehen läßt. Die vielen engen, von der Sonne nur wenige Stunden
beschienenen Thäler und Schluchten begünstigen, da die Temperatur des Tages
Deutsches Land und Volk. VIII. 7
98 Das Riesengebirge.
von derjenigen der Nacht meist sehr verschieden ist, die Erzeugung des Taues,
und daher sind die Morgen- und Abendtaue im Gebirge viel stärker als im
flachen Lande. Auch ist der Morgentau häufiger und stärker als der Abendtau
und verwandelt sich nicht selten, da die Temperatur morgens bei Aufgang der
Sonne oft auf den Gefrierpunkt sinkt, in Reif, und die Bergwiesen erscheinen
dann wie mit Schnee bestäubt.
Da im Winter die Wolken ebenso wie im Sommer erzeugt und Feuchtig- -
keiten aus der Luft niedergeschlagen werden, die Niederschläge aber wegen der
verminderten Temperatur der Erde und Lust nicht in tropfbarer, sondern in
fester Gestalt erscheinen, so ist es notwendig, daß sich vom Anfange des November
bis zum Ende des Februar, wo anhaltende Tauwetter zu den Seltenheiten ge-
hören, nach und nach eine ungeheure Menge Schnee auf dem Gebirge anhäuft,
welcher gewöhnlich bis zum Mai liegen bleibt, an mehreren Stellen, namentlich
in den Schneegruben, nicht selten noch in der Mitte des Juli liegt. An steilen
Abhängen werden oft durch herbeigewehte Schneemassen gewaltige überhangende
Schneewände oder Schneelehnen gebildet, welche bei heftigen Lufterschütterungen
oder infolge von Tauwetter zusammenbrechen und dann verheerende Schnee-
stürze, die mit den Lawinenfällen der Alpen zu vergleichen sind, herbeiführen,
alles, was ihnen in den Weg kommt, mit sich fortreißen und unter sich begraben.
Die Gebirgsbewohner kennen die gefährlichen Stellen, die schon für ganze Familien
verhängnisvoll geworden sind, und vermeiden auf denselben Ansiedelungen. —
Trotz der Unannehmlichkeiten und Schrecknisse, welche das Gebirge im Winter
in sich schließt, bietet doch auch der Winter manche Freuden, manchen Genuß
dem rüstigen Wanderer. Das weite Schneemeer gewährt einen herrlichen An-
blick; ebenso wunderbar erscheinen die beschneiten Bäume mit ihren von der
Last des Schnees niedergedrückten Ästen.
Die Pflanzen und Tiere. Der Fuß des Gebirges gehört der Pflanzen-
welt der Ebene an, in der die Eiche und Kiefer wachsen; in den Vorbergen
wächst die Tanne, in der Region des Hochgebirges, von 1200 m Höhe an, das
Knieholz. Diese Holzgattung (Zwergkiefer) kriecht als lr3—3 m hohes Strauch-
werk am Boden hin, bedeckt die höchsten Abhänge und obersten Flächen des
Gebirges und bildet teils einzelne Buschpartien, teils weit ausgebreitete Wald-
strecken. Aus hochgelegenen steinigen Bergflächen wird das Knieholz nicht über
1—1,3 m hochi auf der Riesenkoppe wächst es nicht mehr. Das Knieholz be-
reitet dem Wanderer, der sich in seinem Dickicht verirrt und verstrickt hat, die
größten Hindernisse und Verlegenheiten, aus denen er sich oft nur mit großer
Anstrengung wieder herauswinden kann. Aus dem schönen, festen Holze dieser
Kiefer werden allerlei Drechslerwaren und zierliche Schnitzarbeiten verfertigt,
welche fremden und einheimischen Gebirgsreisenden zum Verkauf angeboten und
von ihnen als Andenken an ihre Bergfahrt gern nach Hause mitgenommen werden.
Schon in den mittleren Partien des Gebirges findet der Botaniker viele
Pflanzen, die der Ebene fremd sind; die eigentliche Gebirgsflora aber beginnt
erst in der Gegend des Knieholzes, wo neben mannshohen Farngewächsen
viele Kinder des Gebirges, wie Teufelsbart, Primel, Enzian und andre, mit
ihrem prächtigen Blütengewande heimisch sind.
Die Wiesen im Riesengebirge werden sorgfältig gepflegt, damit sie möglichst
reichlichen Heuertrag geben, denn viele Sudetenbewohner treiben Viehzucht.
Die Pflanzen und Tiere. — Die Bauden. 99
Diese Grasplätze sind die eigentlichen Matten dieses nördlichen Hirtenlandes:
ihre Kultur ist mit jener der schweizerischen Matten ungefähr dieselbe. Die
Thalwiesen sind, wenn sie nicht durch die oft eintretenden Überschwemmungen
leiden, in der Regel die besten und grasreichsten und haben selten Dünger nötig:
weniger Ertrag liefern die Grasplätze an den Abhängen der Berge, die, um
ergiebiger zu werden, mit der Jauche der Viehställe gedüngt werden müssen.
Die Grasplätze auf den höchsten Gebirgsflächen, die wegen ihrer großen Ent-
fernuug von den Wohnungen und der Unmöglichkeit der Zufuhr nicht gedüngt
werden können, bringen das schlechteste und magerste Gras. Die Zeit der
Heuernte ist nach der Höhe und Lage der Wiesen verschieden, so daß vom An-
fang des Juli bis zum Ende des September im Gebirge gewiß jede Woche
irgendwo Leute mit der Heuernte beschäftigt sind.
So gesangreich die Haine und Wälder des Riesengebirges sind, so still und
einsam ist es auf seinen obersten Höhen; denn nur wenige Vogelarten erheben
sich bis zu den Gipfeln der Berge, um dort den Stürmen Trotz zu bieten, sich
Nester zu bauen und ihre Jungen zu versorgen. Nur das traurige, eintönige
Zwitschern der Schneelerchen oder der Ruf der Ringdrossel, die auch Schnee-
amsel heißt, erinnert den Wanderer zuweilen an das Dasein lebender Geschöpfe.
Die Bauden. Der Gebirgsmann erbaut seine Wohnung sehr zweckmäßig
an den grasreichen Abhängen der Berge, weil er Weide für seine Herde und
treffliches Quellwasser zu seinem und zu ihrem Bedürfnis allenthalben in der
Nähe findet. Deshalb gibt es im eigentlichen Riesengebirge kaum Dörfer, aber
viele zerstreute Wohnungen, die Bauden heißen und den Sennhütten auf den
Alpen gleichen, nur daß viele Bauden auch im Winter bewohnt werden, die
sogenannten Winterbauden. Man zählt gegen 3000 Bauden, deren Bewohner
Rindvieh- und Ziegenzucht treiben und gegen 20000 Kühe und 12 000 Ziegen
halten. Die Winterbaude ist ein zum Teil aus Stein, zum Teil aus Holz-
stämmeu errichtetes Haus, welches das ganze Jahr hindurch von einer Familie
bewohnt wird. Eine große Stube mit kleinen Fenstern, die man nicht öffnen
kann, von denen jedes nur eine bewegliche Scheibe hat, bildet den Hauptraum
der Baude. Ein großer Kachelofen, in dem das Feuer auch im Sommer brennt,
verbreitet eine Hitze, die im Augenblicke des Eintretens dem vom Gehen und
Steigen innerlich Erwärmten unerträglich erscheint und dennoch sehr gesund
ist, auch nach kurzer Zeit schon ganz behaglich wird. Der hinter dem warmen
Freunde liegende Backofen bietet für alle ein beliebtes Ruheplätzchen und einen
wichtigen Raum zum Trocknen nasser Kleider und Geräte. Butterfaß, Milch-
gefäße und Käseformen sind immer im Gebrauch; denn der Ertrag der Kühe
ist eine Lebensbedingung für die Bewohner des Hauses, die aus ihrer Ab-
geschiedenheit mitten hinein in das regste Menschengewühl Berlins ihre Er-
zeugnisse senden. Mit dem Menschen unter demselben Dache wohnt das Vieh,
und über den beiden lagern die Vorräte für die Wiederkäuer in der langen
Winterzeit. Den Aufweg in diese Schatzkammer hat man von der Bergseite
her so bequem angebracht, daß eine Steigung möglichst vermieden wird. Einige
Stübchen sind dem Heuboden in den letzten Jahren allmählich abgerungen
worden, weil man auf die Einnahmen von den Sommerreisenden nicht ver-
zichten wollte. So ist es denn gekommen, daß das gemeinschaftliche Schlafen
auf dem Heulager von 30—40 Wanderern nebeneinander in Reih und Glied
7*
100 Das Riesengebirge.
unter dem Schindeldach jetzt wenig gekannt ist, zu dessen Annehmlichkeiten außer
der Nachbarschaft noch das unangenehme Stechen der Grashalme, das Läuten
der Viehglocken im tieferen Geschoß, außerdem auch die Angst zu rechnen war,
daß der Wind das ganze Dach abheben und die Schlafgesellschaft an die Öffent-
lichkeit bringen könnte. Auch ein kleines, in der Nähe liegendes Sommerhaus
dankt sein Entstehen den ewigen Klagen der Wanderer über die heiße Stubenluft.
In dem langen Winter werden die Fenster des Hauses ganz von Schnee
verschüttet; oft steigt der Schnee sogar bis an das Dach der Baude und nötigt
den Bewohner, daß er sich entweder zur Hausthür hinaus einen Gang grabe
oder vom i Dachfenster aus seine Reise antrete. Für diese traurigen Tage ist
auch die Quelle direkt durch das Haus geleitet, damit sie Menschen und Tieren
das so unbedingt notwendige Wasser liefere. Kommen heitere Tage, und muß
der Baudenbewohner seine Behausung verlassen, so tritt er seine Wanderung
an, nachdem er Schneereifen unter seine Füße befestigt hat, die ihn vor tiefem
Einsinken in den weichen Schnee sichern, während die im Herbst hoch auf-
gerichteten Stangen ihm die Richtung bezeichnen. Weht aber ein heftiger Wind,
der die scharfen Schneesternchen in dichten Massen dahintreibt und in das Gesicht
und in die Augen wirft, so ist ein Fortgehen aus dem Hause nicht möglich;
denn der Mann würde sich verirren und den Tod finden. Stirbt in dieser
Zeit ein Hausgenosse, dann muß man ihn noch so viel Monate bei sich be-
Herbergen, bis der Frühling kommt und den Transport des Geschiedenen bis
auf den einige Stunden entfernten Kirchhof ermöglicht. Auch ein Erdenbürger,
der im Winter geboren wird, kann trotz staatlicher und kirchlicher Vorschriften
erst spät zur Taufe gebracht werden.
Von allen diesen Vorkommnissen hat man im Sommer keine Ahnung.
Da glänzt das silbergraue Schindeldach im Sonnenschein recht freundlich, und
der das Haus umgebende Wiesenfleck gewährt durch seine grüne Farbe dem
Auge eine Erquickung.
Anders als diese immer bewohnten, ihrer Mehrzahl nach auf böhmischer
Seite gelegenen und darum auch Wein ausschäukenden alten' Häuser sind die
sogenannten Sommerbauden, welche nur für die Aufnahme und Bewirtung der
Reisenden gebaut sind und von Michaelis bis Pfingsten fast verlassen dastehen;
denn meist nur ein Mann bleibt im Winter als Besatzung gegen Diebstähle
hier wohnen. Diese Bauden sind auf das Bedürfnis der zur Sommerfrische
kommenden Fremden berechnet und an solchen Punkten erbaut, die dem Reisenden
am liebsten sind; sie halten kein Vieh, haben nur für Menschen bestimmte Räume,
oft nicht einmal Wasser in der Nähe, welches dann aus der Ferne auf dem
Rücken der Menschen herbeigeschafft werden muß.
Wanderung über den Riesenkamm. Wenn wir eine Wanderung durch
das Riesengebirge und die dasselbe umgebenden Städte unternehmen und mit
einem Marsche über den Riesenkamm beginnen, so fangen wir naturgemäß am
besten dort im Westen des Gebirges an, wo es sich an das Jsergebirge an-
schließt und wir dieses verlassen haben. Obgleich das Riesengebirge auch in
umgekehrter Richtung, von Osten nach Westen, durchwandert wird, so ist doch
eine Wanderung von Westen her, also von Schreiberhau am Zacken, jener vor-
zuziehen; denn im Westen ist der Ausgang weniger steil, also der Marsch weniger
anstrengend; ferner werden die Eindrücke immer großartiger, die dann in dem
Wanderung über den Riesenkamm, 101
Eindrucke, den die Schneekoppe macht, ihren Höhepunkt erreichen, während man
auf der Reise von Osten den imposantesten Teil des Gebirges zuerst sieht.
Wir sind also vom Jsergebirge herabgestiegen und in Schreiberhau
angelangt, das in dem Thale zwischen dem Hochsteine und dem Reifträger am
Zacken liegt. Schreiberhau ist ein großes Dorf mit 3600 Einwohnern, deren
Häuser in einzelnen Gruppen über eine Breite von mehr als einer Quadrat-
meile zerstreut liegen. Es wurde im 15. Jahrhundert von einigen flüchtigen
hnssitischen Familien gegründet, hat jetzt eine katholische und eine lutherische
Kirche, sieben Schulen, ferner eine Post- und Telegraphenstation.
Die Josephmenhütte,
Die Einwohner leben vielfach von der Glasfabrikation; denn es gibt mehrere
Glasschleifereien in diesem Orte, welcher sich zum Sommeraufenthalt vortrefflich
eignet, weil man von dort aus herrliche Ausflüge unternehmen kann.
Nur eine kurze Strecke haben wir den Zackenlauf auf der Chaussee zu
verfolgen, so gelangen wir nach dem Dorfe Petersdorf, in dem wir eine
Ausstellung von schönen Glaswaren bewundern können, denn von den dortigen
2400 Einwohnern leben viele von Glas- und Spiegelfabrikation.
Zu Schreiberhau gehört auch die Josephinenhütte, Schlesiens größte
und beste Glashütte, die im Jahre 1841 vom Grafen Schaffgotsch angelegt
wurde und schnell berühmt geworden ist; ihre Kunstarbeiten werden meist
nach England und Amerika abgesetzt und haben jährlich einen Wert von über
600 000 Mark.
102 Das Riesengebirge.
Die Josephmenhütte hat vier Schmelzöfen, von denen immer drei in Betrieb
sind; jeder derselben enthält sieben Häfen für je zwei Zentner Glasmasse. Die
von ungefähr 700 Arbeitern produzierten Stücke sind meist Luxusartikel aus
Kalk-Kaliglas, die zum Teil von der Hüttenverwaltung selbst weiter verarbeitet
und veredelt werden: andre dagegen gehen noch roh in die Hände von Glas-
Händlern über, welche sie dann nach eignen Ideen weiter verarbeiten laffen.
Für diese Umgestaltung gibt es in Schreiberhau allein 22 Glasschleifereien,
welche von Wasserkraft zu 4—6 Pferden bewegt werden; in jeder solchen Mühle
sind 4—8 Radstühle, an jedem Radstuhl 2—4 Schleifstellen. — Der Glut
der Öfen, die durch 5000 Klafter Fichtenholz jährlich genährt werden, wurden
in einem Jahre zum Opfer gebracht 4500 Zentner Quarz, 1200 Zentner Pot-
asche, 220 Zentner Soda, 545 Zentner Kalk, 420 Zentner Beine, 45 Zentner
Arsenik; chemisch ausgelöst und in die Glasmasse gemischt wurden 662 Dukaten,
um in dieser die Rnbinsarbe zu erzeugen; und das zum Malen und Vergolden
erforderliche Gold belief sich auf ein noch viel höheres Quantum.
Von der Josephmenhütte erreichen wir, wenn wir uns südlich wenden, in
etwa einer halben Stunde auf geradem, meist durch Wald führendem, mäßig
ansteigendem Wege den
Zackenfall. Hier macht ein kleiner Quellarm des Zacken, das Zackerle
genannt, der erst 4 km gelaufen ist, in dem dichten Wald einen 26 in tiefen
Sprung in eine Felsspalte, deren Granitwände eine Zeitlang wie aufgemauert
und parallel nebeneinander fortlaufen. Das Wasser tobt in drei Absätzen über
zwei Felsenvorsprünge hinab. Die Wasfermaffe wird, wie fast bei allen Wasser-
fällen des Riesengebirges, gespannt, d. h. durch zwei kleine Becken zum größeren
Quantum angesammelt. Wo die Flut vom zweiten auf den dritten Absatz einen
Bogen bildet, befindet sich eine Höhle, die in den Fels geht .und die Goldkammer
genannt wird. Wenn das Wasser in größter Heftigkeit über diese Höhle im
Bogen hinabstürzt, tritt der Wächter des Falles hinein, verschwindet hinter dem
brausenden Sturze, der sie wie ein schneeweißer Mantel bedeckt, und bläst von
dort aus die Schalmei. Mitten durch das Brausen und Rauschen der Wasser
erklingen die Töne des Instrumentes erst sanft, dann immer lauter, wenn die
Wassermasse abnimmt und die Flut allmählich nur herniederrauscht statt zu toben.
Inzwischen wird das Wasser des Falles noch einmal gespannt; man tritt
in das Zelt neben der Hütte, setzt sich an den Tisch und verzeichnet seinen
Namen in das Fremdenbuch. Wie überall in den dortigen Bauden erinnert
auch hier eine Inschrift am Tintenfasse daran, man möchte eines kleinen Bei-
träges für Feder und Tinte nicht vergessen. Die Verewigung des Besuches
muß von jedem noch extra bezahlt werden, obgleich Tinte. Feder und Papier
in einem derartigen Zustande sind, daß der Beitrag eines Wanderers die ganzen
Jahreskosten für dieselben zu decken im stände wäre. Einige dieser „Fremden-
bücher" können ihr fünfzigjähriges, einige Federn ihr zehnjähriges Jubiläum
feiern. Die Fremden werden eben auf jede nur erdenkliche Art ausgebeutet.
Wenn das Wasser sich im oberen Bassin wieder gesammelt hat, steigt man
die Felsen hinab und gelangt zu einer senkrechten, breiten Leiter, die man rück-
wärts hinunterklettern muß; unten auf feuchtem Gestein angelangt, tritt man
auf einzelnen Felsstücken in die Felsgasse. Nun kann man bewundernd sehen, wie
der Bach durch ein hohes, enges Thor herniederstürzt und in seinem Felsbette
Kochelfall. Neue schleiche Baude. Reifträger. Elbbrunnen und Elbfall. 103
brausend weiter fließt. Es ist, als entreiße sich der Quell nur mit Widerstreben
seiner Bergeswiege und flute in die tiefen Thäler, wo er, den Menschen dienst-
bar, ihre Schiffe tragen muß. Der hochgeborene Sohn der Freiheit eilt nur
gezwungen der Knechtschaft entgegen.
Im Frühling, wenn der Schnee des Reifträgers, dem der Zackerle ent-
quillt, geschmolzen ist, bedars es der künstlichen Spannung des Wassers nicht;
dann stürzt der Bach unablässig wie ein Strom in einem einzigen Bogen in
die grauenvolle Tiefe. In den ersten Nachmittagsstunden steht die Sonne über
dem Falle und beleuchtet ihn mit zauberischen Farben.
Dem Orte Schreiberhau noch näher gelegen als der Zackenfall ist der
Kochelfall, der in einer Stunde zu erreichen ist. Die Kochel ist ein Nebenfluß
des Zacken; sie stürzt sich über eine 13 in hohe Felswand wie in einen Trichter
hinab, steigt von da tosend als dichter Silberschaum empor und arbeitet sich,
unmächtig ihr euges Gefängnis zu sprengen, in ein breiteres, beschattetes Becken
hinaus. Fällt durch das Laubgewinde die Morgen- oder Mittagssonne auf
den breiten Wasserstrahl, so erglänzt er in prismatischen Farben, und die zer-
stäubenden Tropfen erscheinen als aufschießende Perlen. Der Fall, der im
Sommer wafferam ist, wird einige Zeit gespannt, bis sich die nötige Wasser-
masse angesammelt hat und das überraschende Schauspiel gewährt. In der
nahe liegenden Hütte, in der auch Erfrischungen zu haben sind, wird des Wan-
derers Hut mit grünen Zweigen bekränzt zur Begrüßung in den Bergen.
Neue schlesische Baude. Reifträger. Wenn wir von Schreiberhau
über Josephinenhütte nach dem Zackenfall gegangen sind und diesen bewundert
und uns etwas ausgeruht haben, können wir aufwärts steigend in 11/2 Stunde
den Kamm des Gebirges und zwar die auf demselben stehende Neue schlesische
Baude erreichen. Sie steht auf einer wenig geneigten Wiesenfläche, die 1136 in
über dem Meere liegt, am westlichen Rande des Reifträgers. Der Weg vom
Zackenfall zur Baude ist, wenn das Wetter günstig ist, nicht unangenehm, die
Aussicht von der Baude bei heiterer Witterung lohnend; denn über die be-
waldeten Bergkuppen des Zackenthales ragen die Tafelfichte und das Heufuder
empor, man sieht die Jserhänser, den Hochstein, einen Teil von Schreiberhau,
die Gegend um Warmbrunn. — Von der Neuen schlesischen Baude wenden
wir uns nach Osten, wandern durch Knieholz, denn wir sind bereits aus der
Höhe angelangt, in der hohe Bäume nicht mehr wachsen, und sind bald am
Reifträger, der einem großen Sargdeckel gleicht und aus lauter Steintrümmern
zu bestehen scheint, die von hellen Flechten überzogen sind. Südlich vom Reif-
träger liegen die Quargsteine, eine aufgetürmte Felsmasse, die übereinander
geschichteten Käsen gleicht.
Elbbrunnen und Elbfall. Nachdem wir nur eine kurze Strecke auf dem
Kamm entlang gegangen sind, wenden wir uns rechtshin und gehen in böhmisches
Gebiet hinein. Bald gelangen wir an eine sich langsam senkende Fläche, die
man Elbwiese nennt, und an den Elbbrunnen, eine schöne, brunnenartig gefaßte
Quelle, die aber nicht der eigentliche Anfang der Elbe ist, der einige Schritte
höher liegt. Bei dem Elbbrunnen steht eine Hütte, die nur Pfefferkuchen,
Schnaps und Wasser bietet. Wer wäre hier an der Wiege des gewaltigen,
länderdurchströmenden Stromes gewesen und hätte ihn verlassen, ohne aus
seiner Quelle getrunken und ihm noch ein vergnügtes „Glück auf die Reise"
104 Das Riesengebirge.
zugerufen zu haben! Hier ist die Elbe noch ein schwaches Kind, welches eben
erst die Freiheit gefunden hat aus dem fesselnden Erdenschacht und sich nun
munter ergeht, sich tummelnd im Dasein und Sonnenlicht. Noch sprudelt und
springt und rauscht das Bächlein frei dahin, nimmt bald viele Gewässer in
sich aus und wird dann dem Menschen dienstbar, bis er wieder frei wird im
unendlichen Weltmeer.
Der Weg führt uns vom Brunnen hinab, und wir begleiten den kleinen,
muntern Jungen, der sich vor Ausgelassenheit nicht zu halten weiß und von
einem Felsstück zum andern hüpft. Jetzt wird der Abhang steiler, der Bach
rauscht wilder und gelangt endlich an eine 7 0 m hohe Felswand. Hier stürzt
das Gewässer, von Absatz zu Absatz springend, in mächtiger Breite hinab und
bildet den Elbfall. Auch hier muß im Sommer das Wasser gespannt werden;
wenn es aber in die Tiefe stürzt, so gewährt es einen imposanten Anblick, und
gewaltig tönt das donnernde Brausen des Gewässers von der umnachteten
Waldestiefe her. Oben an der Spannung des Falles finden wir eine Sommer-
baude, in der wir Wein und böhmisches Bier bekommen können; an manchen
Tagen suchen auch böhmische Harfenmädchen die Reisenden mit ihrem wenig
erbaulichen Gesänge zu unterhalten.
Schneegruben. Von der Elbfallbaude wenden wir uns nach Norden, sind
bald wieder auf dem Kamme und erreichen die im Jahre 1837 vom Grafen
Leopold von Schaffgotsch erbaute Schneegrubenbaude, in der wir einen auf-
merksamen und gemütlichen Wirt finden. Von hier aus blicken wir in zwei
wilde Felsenkessel, deren Wände etwa 300 m tief senkrecht von der Kamm-
höhe bis hinab zum Vorland fallen. Das sind die beiden Schneegruben, die
kleine und die große; diese ist bei weitem finsterer und schauerlicher als jene.
Schneedecken pflegen den ganzen Sommer hindurch in den Gruben zu liegen, und
kleine Teiche voll klaren Wassers befinden sich auch an den nördlichen Aus-
gängen innerhalb eines mit Knieholz bewachsenen Erdwalles.
Wer in diese schauerliche Tiefe hinein den Namen des Berggeistes ruft,
dem antwortet dieser als Echo. Noch großartiger aber hallt das Echo des
Schusses wieder, welcher in diese Klüfte hinein abgeschossen wird.
Das Hohe Rad. Die Kammwanderung führt uns um die große Schnee-
grübe in kaum merklicher Steigung auf das Hohe Rad, einen oben flachgewölbten,
riesenhaften Steinhaufen mit vorzüglicher Aussicht nach Schlesien und Böhmen
hinein. Der Weg, der uns hinabführt von dem Berge, ist sehr beschwerlich,
trotzdem daß viele Granitblöcke stufenweise in verschiedener Richtung aneinander
geschichtet sind. Blicken wir, wenn wir vom Hohen Rade hinabgehen, nach der
rechten, böhmischen Seite hin, so eröffnet sich uns ein Blick in die sieben Gründe,
die schauerlich schön von vielen Bächen mit zahllosen Wasserfällen durchtost
werden. Der bedeutendste dieser sieben Gründe ist der Elbgrund, durch den
die Elbe, wenn Regengüsse sie anschwellen, wild herabtobt. Zur linken Seite
können wir. wenn wir günstiges Wetter haben, in das liebliche Thal von Warm-
brunn hinabsehen. Endlich erreichen wir die Große Sturmhaube, die ihren
Namen mit Unrecht trägt, da sie niedriger ist als die Kleine Sturmhaube. Sie
ist eine abgestumpfte, nur wenig über den Kamm sich erhebende, vom Hohen
Rade durch eine schmale Niederung getrennte Koppe, die aus Granittrümmern
besteht und eine Aussicht gewährt,' die der vom Hohen Rade ähnelt. Wir gehen
Das Hohe Rad. 105
wieder hinab und haben zu beiden Seiten schöne Aussichten nach der Tiefe,
rasten in der Petersbaude, die auf böhmischer Seite liegt, eine Winterbaude ist,
mehrere leidlich bequem eingerichtete Stübchen enthält und guten Ungarwein
führt. Ebenfalls aus böhmischer Seite liegt die Spindlerbaude, zu der wir nun
aus uusrer Wanderung gelangen, die nach ihrem Erbauer Spindler ihren Namen
hat. Obgleich die Baude verhältnismäßig groß ist, herrscht in ihr doch oft ein
Leben, in dem alles wild durcheinander tobt und schreit und singt und pfeift, weil
sie, wenn das Wetter ungünstig zur Wanderung ist, von Reisenden überfüllt wird.
Me Schneegruben.
Wir wandern von hier weiter und sind nach 20 Minuten, wenn wir wacker
gestiegen sind, zu der Höhe gekommen, welche die Kleine Sturmhaube
heißt, welche aber größer, höher als die Große ist, und deren schwer zu er-
steigender Gipfel zu den schönsten Aussichtspunkten des ganzen Gebirges gehört.
Von der Kleinen Sturmhaube verlassen wir auf kurze Zeit den Kamm und
wenden uns nach Norden, um den Mittagstein zu bewundern, der aus fünf
aufeinander von Norden nach Süden folgenden Felsgruppen besteht. Von
diesem Berge aus führt ein Weg an den Rand des Großen Teiches. Wir stehen
am jähen Abhänge einer tiefen Schlucht und sehen im Grunde (170 in tiefer
als der Bergrand) den weiten Spiegel des Großen Teiches. Sein Wasser ist
dunkel und fischlos und eisigkalt; gespeist wird er meistens durch Schneewasser,
sein Abfluß ist die Große Lomnitz. In dem milden Winter von 1865 —1866
wurden aus diesem Teiche 6000 Zentner Eis gesägt und nach Berlin geschaffte
106 Das Riesengebirge.
Näher dem Kamme folgt der Kleine Teich, der in einer tiefen, wilden und
schaurigen Schlucht liegt, nicht über 6 in tief ist und viele Forellen enthält;
die düsteren Felswände, die ihn umrahmen, an denen auch im Hochsommer
gewöhnlich noch Schnee liegt, machen einen eigentümlich ernsten Eindruck. So-
wohl vom Großen, als auch vom Kleinen Teich gelangen wir ohne Anstrengung
zu der zwischen beiden liegenden Hampelbaude. Sie ist nicht nur die höchste
Baude auf schlesischer Seite, sondern wahrscheinlich auch die älteste. Nach ihrem
früheren Besitzer hieß sie einst die Tomlabaude. Lange, ehe noch an Riesen-
gebirgsreisende zu denken war, bot sie den aus Böhmen kommenden und über
das Gebirge wandernden Umwohnern eine Zuflucht bei hereinbrechendem Un-
Wetter. Seit dem Anfange nnfres Jahrhunderts wurde sie auch von allen
denjenigen besucht, welche von Schlesien heraufstiegen und noch vor Sonnen-
anfgang die Koppe erreichen wollten und darum hier ein kurzes Nachtlager
suchten, da ein der Spitze näher gelegenes ringsum nicht zu finden war. So
wurde sie schnell eine der besuchtesten Bauden des ganzen Riesengebirges und
blieb es, bis sich die Zahl ihrer Gäste seit Erbauung der Häuser an und auf
der Koppe sehr gemindert hat.
Wir kehren zum Kamme zurück und marschieren auf dem Koppenplan,
einer sumpfigen Hochebene, mit den Quellen des Weißwassers und der Anpa,
zwischen vielen Wassertümpeln und Knieholzbüschen entlang und gelangen zur
Riesenbaude, welche auf böhmischer Seite liegt und erst im Jahre 1849 an-
gelegt worden ist. Sie liegt am Fuße des noch etwa 190 in höheren Schnee-
koppengipfels. Sind wir an diesem Hause vorüber, so erscheint der Kamm
plötzlich ganz schmal. Den guten Weg, welcher zum Gipfel führt, verdanken
wir dem früheren Koppenwirt, der ihn 1853 für Pferde angelegt hat; früher
führten noch unregelmäßige Stufen hinauf, die sich zweimal rechts dem Riesen-
gründe so näherten, daß man von da fast erschreckt in die gähnende Tiefe blickte.
Die Schnee- oder Riesenkoppe. Der Gipfel der Schneekoppe erscheint
als ein aus Milliarden verwitterter, auf- und übereinander gestürzter Stein-
gerölle bestehender riesenhafter Kegel. Über denselben hin geht die preußisch-
österreichische Grenze. Früher bot der Koppengipfel keinen Schutz vor Sturm
und Unwetter. Der zunehmende Besuch jedoch bewog den Grafen Christian
Leopold Schaffgotfch in den Jahren 1668—1681 dem heiligen Laurentius zu
Ehren dort eine Kapelle zu errichten, in welcher jährlich dreimal von den Mönchen
aus dem Kloster zu Warmbrunn Gottesdienst gehalten wurde. Nach Aufhebung
der schleichen Klöster im Jahre 1810 wurde aus der Kapelle eine Herberge
für Koppenwanderer gemacht. Diese genügte bald nicht mehr den Anforderungen
der Reisenden, und deshalb gab der Grundherr Graf Leopold Schaffgotfch im
Jahre 1850 das Gotteshaus der ursprünglichen Bestimmung zurück, und es
wird jetzt wenigstens einmal im Jahre (am Laurentiustage, 10. August) in
demselben Gottesdienst gehalten. Einige Schritte seitwärts erbaute der Gastwirt
Sommer 1850 ein Holzgebäude, das im Oktober 1857 durch böswillige
Hand in Asche sank; den Neubau zerstörte im April 1862 der Blitz oder aber-
mals menschliche Leidenschast. Zum drittenmal baute der Geprüfte, so daß an
300 Wanderer zum großen Teil bequem Nachtquartier finden können. Ein
zweites Haus errichtete der Besitzer einer Grenzbaude aus böhmischer Seite
und eröffnete eine interimistische Restauration im Jahre 1868. Durch Tausch
Die Schneekoppe oder Riesenkoppe. 197
ging dieses Haus gegen Ende 1869 in Sommers Hände über, so daß dieser
beiderseitige Besitzer Unterthan zweier Kaiser wurde und doch auch wieder alleiniger
Herr auf der Schneekoppe blieb. Auf der dortigen Postagentur werden in den
vier Sommermonaten gewöhnlich über 14 000 Briefe und Karten aufgegeben.
Die Schneekoppe ist nicht nur die höchste Erhebung des Riesen-, sondern
überhaupt des Sudetengebirges und des ganzen nördlichen Deutschlands; wir
befinden uns hier auf einem Orte, dessen verringerter Luftdruck das Wasser
scl)on bei 80° C. sieden läßt. Die Temperatur steigt selten über 19" L!., am Morgen
fällt das Thermometer im Sommer öfters selbst bis unter den Gefrierpunkt,
so daß in den vier Sommermonaten durchschnittlich neunmal Schneefall erfolgt.
Die Schnee- oder Riesenkoppe.
Wer die Koppe besucht, muß es so einrichten, daß er einige Stunden vor
dem Untergange der Sonne auf dem Gipfel ist und dort bis nach dem Auf-
gange verweilen kann. Oft freilich zieht der Wanderer, nachdem er mehrere
Tage gewartet hat, vom Berge herunter, ohne auch nur etwas gesehen zu haben.
Der Sturm hat ihn gepeitscht und gequält, und der Nebel hat ihn um eine
heitere Stimmung gebracht. Wenn aber das Wetter so günstig ist, daß man
um Sonnenuntergang oder am frühen Morgen einen Blick nach allen Seiten
hin in die Ferne thun kann, so ist man für alle Anstrengungen reichlich be-
lohnt. Weniger von Bedeutung ist es, daß man von der Koppe aus bis fern
hin nach Breslau und Prag sehen kann: aber das macht den großartigsten
Eindruck, daß man die gewaltige Bergwelt des Riesengebirges überblickt, daß
man hineinschaut in die lieblichen Thäler mit ihren Städten, Dörfern und
108 Das Riesengebirge.
Feldern. Dann, wenn die untergehende Sonne dem Wanderer freundliche
Strahlen gewährt hat, geht es hoch her im Koppenhause; denn dann hat der
Wirt vergnügte Gäste, die sich noch lange von vergangenen Zeiten, von ihren
Erlebnissen und Reisen erzählen, trotzdem sie wissen, daß sie am andern Tage
vor dem Aufgange der Sonne mit den Worten „die Sonne kommt" geweckt
werden. Wenn wir aber im Nebel angekommen sind und der Sturm uns
zerzaust und der Regen durchnäßt hat; wenn sich das Wetter auch nicht bessern
will und wir hinabsteigen müssen ins Thal, nachdem wir uns verdrießlich an
den Tisch gesetzt und das Fremdenbuch durchblättert haben, in dem uns die
schlechten Witze der Reisenden durchaus nicht gefallen wollen: dann bleibt uns
nichts übrig, als daß wir uns trösten und denken: „Je nun, man trägt, was
man nicht ändern kann."
Über loses Gestein geht unser Weg anfangs hinab, dann fast wagerecht
auf einem schmalen Rücken nach schwacher Steigung auf die Schwarze Koppe,
den Endpunkt des schleichen Kammes. Von dort gelangen wir zu einer zer-
streuten Häusergruppe, die unter dem Namen Grenzbauden wohlbekannt ist, und
haben das Ende des Riesenkammes erreicht.
Böhmische Seite des Riesengebirges. Die Südseite des Riesen-
gebirges ist viel weniger besucht, als die Nordseite, trotzdem das Gebirge auch
auf der böhmischen Seite viel Partien hat, die wohl verdienen besucht zu werden.
Die Bergrücken erstrecken sich viel weiter nach Böhmen als nach Schlesien hinein.
In den langen Thälern fließen Gewässer, die größer und stärker sind als die
auf der Nordseite, und die Menschenwohnungen daselbst kämpfen ohne Erfolg
mit den sinstern Berg- und Waldmassen. Gedenken wir hier nur der wichtigsten
Punkte, die wir zum Teil auch durch Abstecher von dem Riesenkamm aus er-
reichen können. Wenn wir von der Neuen schlesischeu Baude aus uns nach
Süden wenden, gelangen wir bald in das Thal der Mummel, die in die Jser
fließt. Die Mummel hat braunes Wasser und bildet viele Strudel und Schnellen.
Das Bett dieses Flüßchens besteht stellenweise aus thalförmig ausgewaschenem
Granit. Auch einen Wasserfall macht die Mummel. In stiller Waldeinsamkeit
wandern wir am Flusse entlang und kommen nach Harrachsdorf, das uns mit
seinen großen, massiven Häusern überrascht.
Östlich von diesem schönen Dorfe liegt die Kesselkoppe, von der wir
zum Reifträger hinüberblicken können. Von der Kesselkoppe kommen wir
zum Pautfchefall. Die Pantsche ist ein Bach, der sich in die Elbe ergießt,
nachdem er über einen Felsen hinabgestürzt ist. Auch hier wird das Wasser
im Sommer gespannt; wenn es dann aber in die Tiefe hinabrauscht, nachdem
die Schleusen geöffnet sind, entfaltet sich ein Wasserfall, der herrlicher ist,
als manche im Riesengebirge sind, die häufiger besucht werden. In wenigen
Minuten erreichen wir die Elbquelle und wenden uns weiter nach Osten bis
nach Spindelmühl und von da nach St. Peter, einem Orte, der am Klausen-
wasser liegt, das von dem vom Kamm herunterkommenden Weißwasser durch
den Ziegenrücken geschieden ist. Kräftige Wanderer und Freunde einer wilden
Natur finden hier volle Befriedigung. Hier kann der Wagehals klettern und
kriechen und springen, denn nicht selten hört alles, was Weg heißen könnte,
auf. In den ganzen Sudeten ist keine Stelle zu finden, die so scharf wäre wie
der Ziegenrücken. Die Felskante ist meist so schmal, daß man auf ihr reiten
Böhmische Seite des Riesengebirges. 109
kann; man muß also neben ihr hingehen und sich dabei den Weg selbst suchen,
aber vorsichtig sein.
Lohnend ist ein Spaziergang von Spindelmühl am Ufer der Elbe entlang
zwischen hohen Bergen bis zu den Krausebauden und zu der fast zwei Stunden
langen, Hoheuelbe genannten Häuserreihe, die zum Teil ansehnliche Häuser und
viele Fabriken hat. Östlich von den Elbgegenden gelangen wir in die Thäler
der Anpa, die an einzelnen Stellen sehr eng sind und deshalb manche land-
schaftliche Reize bieten. Wer dem Laufe der Aupa entgegengeht, wird bald auf
den Kamm gelangen und die Schneekoppe vor sich haben.
Der Mönch und die Nonne. In dem Städtchen Hohenelbe in Böhmen
lebte einst, so erzählt die Sage, ein reicher Mann, der eine schöne Tochter hatte,
die man im ganzen Lande unter dem Namen der fchönen Antonie kannte. Dieses
Mädchens Eltern hatten, als das Kind geboren wurde, bestimmt und Gott ge-
lobt, Antonie solle ins Kloster gehen und Nonne werden, denn sie waren sehr
fromm. Kaum war Antonie 17 Jahre alt, da teilten ihr die Eltern den nn-
abänderlichen Entschluß mit und bestimmten zugleich den Tag, an welchem sie
ins Kloster gehen sollte. Antonie hatte bis zu jener Zeit noch nie von dem
Plane ihrer Eltern gehört und war nun sehr erstaunt und bestürzt, da sie schon
heimlich sich mit dem Sohne des Nachbars, dem Gespielen ihrer Jugend, dem
Florentin, verlobt hatte. Floreutin und Antonie hatten sich gegenseitig das
Eheversprechen gegeben; sie hofften glücklich miteinander zu werden und der-
suchten durch alle nur mögliche Mittel Antoniens Eltern dahin zu bringen, daß
sie ihren Entschluß änderten; aber nichts half. Sie hatten einmal ihre Tochter
für das Kloster bestimmt und wollten nicht nachgeben. Vergeblich bemühten
sie sich, von ihrer Tochter die Einwilligung zum Eintritt ins Kloster zu erlangen.
Da wandten sie sich an Florentin und baten ihn bei Antoniens Seligkeit, er
möge sie bewegen, daß sie zur Erfüllung des elterlichen Gelübdes in das Kloster
ginge. Er versprach es, aber er konnte sein Versprechen nicht halten. In seiner
Verzweiflung stürzte er wild durch die Gegend, ging gegen Abend in fein Schlaf-
gemach und weinte bitterlich. Um Mitternacht wurde sein Schmerz stiller, denn
er war zu einem bestimmten Entschluß gekommen. Er setzte sich hin und schrieb
nur wenige Zeilen, ein Lebewohl an feine Eltern und an seine geliebte Antonie.
Dann ergriff er seinen Stab, verließ das elterliche Haus, blickte hin nach dem
Hause seiner Geliebten und eilte davon. Gegen die Pforte des nächsten Klosters
klopfte er und bat um Einlaß mit dem Bemerken, er wolle Mönch werden.
In wenigen Tagen trug er eine Kutte.
Als Antonie die Abschiedsworte Florentins gelesen hatte, konnte sie sich
lange vor tiefer Betrübnis nicht fasfen. Sobald sie sich von ihrem Schrecken
erholt hatte, sagte sie zu ihren Eltern: „Führet auch mich in mein Kloster."
Die Eltern beeilten sich, dem Wunsche ihrer Tochter nachzukommen, bevor sie
ihren Entschluß änderte. Mit gebrochenem Herzen ging Antonie ins Kloster
und erwarb sich unter den Nonnen durch ihr liebevolles und freundliches Wesen
viele Freundinnen. Da hatte sie in einer Nacht einen merkwürdigen Traum.
Es war ihr die heilige Maria erschienen; sie führte ihr ihren Geliebten an der
Hand zu, legte seine Hände in die ihrigen und segnete sie beide, und während
dieser heiligen Handlung entfielen beiden die klösterlichen Gewänder, und sie
standen in bürgerlichen Kleidern vor der himmlischen Erscheinung. Nach wenigen
110 Das Riesengebirge.
Tagen erhielt sie von Florentin einen Brief, in welchem er ihr mitteilte, daß
er denselben Traum gehabe habe; er sehe in diesem Traume eine Aufforderung
vom Himmel, daß sie beide den Klostermauern entfliehen sollten. Antonie
wollte anfangs ihrem Gelübde nicht untreu werden; als aber Florentin sie ein-
dringlich auf die Mahnung des Himmels aufmerksam machte, der sie beide
folgen müßten, bestimmte sie die Zeit, in der sie das Kloster verlassen wolle.
Zur festgesetzten Stunde fand sich Florentin, der nun sein Kloster heimlich ver-
lassen hatte, ein; auch Antonien war die Flucht geglückt, und nun wanderten
beide dem Kamme des Riesengebirges zu, um im schönen Schlesien sich eine
Heimat zu suchen. Doch die zarte Jungfrau war nicht gewohnt zu marschieren;
es ging beiden auf der Flucht sehr übel, denn Wind und Regen stürmten immer
mehr um sie, je höher sie stiegen. Der Hunger ließ sich nicht mehr ertragen,
und doch hatten sie keine Lebensmittel; außerdem versagten auch die wunden Füße
ihren Dienst. Da nahm der stärkere Florentin das Mädchen auf seinen Rücken
und trug sie eine Strecke; aber bald vermochte auch er nicht mehr mit der Last
fortzukommen. Ermüdet suchten beide einen Platz im Knieholz, der sie vor
dem Regen und Winde etwas schützte, und bald schliefen sie ein. Als sie er-
wachten, lagen sie auf weichem Lager, über ihnen wölbte sich eine freundliche
Hütte, und um sie her lagen Gerätschaften und Werkzeuge, wie sie der Hausstand
fordert. Während sie noch verwundert alles beschauten, trat ein ehrwürdiger
Greis zu ihnen, ergriff ihre Hände und führte sie hinaus ins Freie. „Seht",
sagte er, „das ist euer Eigentum; genießt euer Gut in Liebe und Tugend,
die immer ihren Lohn finden." Als er dieses gesagt und ihnen eine üppige
Wiese mit stattlichen und munteren Kühen gezeigt und auf ein nmzäuutes,
freundliches Gärtchen und einen klaren Quell in der Nähe des Hauses ge-
wiesen hatte, wandte er sich und stieg langsam den Berg hinab. Die Liebenden
sielen auf die Kuiee und dankten inbrünstig dem, der ihres Glückes Urheber
war. Fern von dem Geräusche der Welt lebten sie lange Zeit in ungetrübter
Glückseligkeit. Als ihr Alter zunahm, wünschten beide zusammen zu sterben.
Einst saßen sie vor der Thür ihrer Hütte, schauten hinab auf das blaue Land
von Schlesien und gedachten ihres jugendlichen Lebens. Da zog plötzlich ein
Gewitter heran, und ein Blitz tötete beide nebeneinander. Über ihren Leichen
wölbten sich nun zwei große Felfenmaffen, die bis auf den heutigen Tag im
Riesengebirge unter dem Namen „Mönch und Nonne" zu sehen sind.
Die schlesische Gebirgsbahn. Wenn wir von Westen oder Norden in
das Gebirge eintreten wollen, bieten sich uns verschiedene Eisenbahnwege dar.
Von Dresden führt uns die Bahn nach Görlitz, von Berlin über Kottbus nach
Görlitz, von Berlin über Frankfurt a. d. O. und Kohlfurt nach Görlitz oder
Lauban; von Glogau, Posen und Gnesen kommen wir bequem nach Breslau
und von dort nach den verschiedenen Punkten des Gebirges. Diejenige Bahn,
welche nördlich vom Riesengebirge fast in der Richtung des Kammes läuft und
die Städte und Dörfer miteinander verbindet, welche zum Gebirge gehören,
von denen aus es sich besuchen läßt, ist die schlesische Gebirgsbahn, bei deren
Errichtung nicht unbedeutende Terrainschwierigkeiten zu überwinden waren.
Sie führt uns durch herrliche Gegenden, ist 108 km lang und geht von Lauban
bis Altwasser. Verfolgen wir zunächst schnell ihren Lauf, damit wir einen
Überblick über ihre Thätigkeit gewinnen. Wir steigen in Lauban in den Wagen
Die schlesische Gebirgsbahn. — Hirschberg. III
und bemühen uns, einen Platz auf der rechten Seite zu bekommen, damit wir
stets auf das Gebirge und seine Thäler blicken können. Bald hinter Lanban
fahren wir über den Qneiß, berühren die lange Häuserreihe des 3600 Ein-
wohner zählenden Dorfes Langenöls, in welchem sich ein bedeutendes Braun-
kohlenlager befindet. Wir kommen durch Greifenberg, das wir schon kennen,
und haben das Jfergebirge zur Seite. Wollen wir dieses Gebirge besuchen,
so müssen wir entweder hier oder bei der nächsten Station Rabishau aussteigen.
Wir fahren weiter und gelangen nach dem Dorfe Reibnitz und von dort nach
Hirschberg, einer Stadt, die von Laubau 52 km. entfernt ist. Wer nach Warm-
brnnn oder Schmiedeberg will und von dort aus das Gebirge erklettern will,
steigt hier aus. Kurz vor Hirschberg überschreitet die Bahn auf einem hohen
Granitviadukt den Bober, macht dann einen gewaltigen Bogen um die Nord-
seite der Stadt und geht auf einer Gitterbrücke abermals über den Bober.
Nur wenige Kilometer bleibt sie an der linken Seite des in vielen Biegungen
dahinströmenden Flusses, der noch öfter von ihr überschritten wird, so daß wir
ihn bald zur rechten, bald zur linken Hand haben. Reich an Abwechselung ist
die Fahrt; denn jetzt sehen wir die schönsten Gegenden vor uns, dann wieder
ist uns jede Aussicht verschlossen, weil wir durch ein Bohrloch fahren; bald
treten die Berge bis dicht an uns heran, bald erscheinen sie in weiter Ferne.
Bei der Station Ruhbank haben wir schon den Bober und die Gegend des
Riesengebirges verlassen; aber wir können noch nach der Koppe blicken, obgleich
wir schon in das Waldenburger Bergland eingetreten sind. In Gottesberg,
der höchstgelegenen Stadt Schlesiens und zugleich der höchsten Station der
Bahn, haben wir 92 km zurückgelegt.
Wir fahren zunächst durch eine recht unwirtliche Gegend, dann senkt sich
die Bahn immer mehr nach der Niederung, führt nach Waldenburg und gelangt,
während die Berge zu beiden Seiten stark abfallen, nach Altwasser, dem End-
punkte der schleichen Gebirgsbahn.
Hirschberg. Wo der Zackenfluß sich in den Bober ergießt, liegt die alte
Stadt Hirschberg, im schönsten und größten Thale des Riesengebirges; sie zieht
sich an einer Anhöhe hin. Die Berge und Hügel, welche sie umgeben, sind
meist bewaldet und bestehen aus Granit und Porphyr. Das Klima daselbst
ist rauh, aber sehr gesund. Hirschberg soll, weil in ältester Zeit in dortiger
Gegend der Hirsebau bedeutend war, ursprünglich Hirseberg geheißen haben:
andre geben als den ältesten Namen der Stadt Hyrzberk an. Boleslaw er-
weiterte den Ort im Jahre 1108, umgab ihn mit einer Mauer und baute in
demselben die erste Kirche. Der Herzog Bolko von Löwenberg erhob Hirsch-
berg im Jahre 1209 zur Stadt, der er ein festes Schloß gab. Während des
Hufsiteukrieges und im Dreißigjährigen Kriege hatte die Stadt viel zu leiden.
Im Jahre 1630 war Hirschberg von den kaiserlichen Soldaten fast ganz nieder-
gebrannt worden, und die Bürger hatten sich deshalb später auf die Seite der
Schweden geschlagen. Die Kaiserlichen setzten alles daran, diese Stadt wieder
zu erobern, aber die Einwohner und die'Schweden verteidigten sie so tapfer,
daß die Feinde mehrmals zurückgeschlagen wurden. Bald aber brach in der
Stadt die fürchterlichste Hungersnot aus. Als der schwedische General sich
nach längerer Verteidigung zu schwach fühlte und am 8. November 1640 aus
der Stadt zog, folgten ihm die Bürger aus Furcht vor den Kaiserlichen mit
112 Das Riesengebirge.
ihren Habseligkeiten und überließen die leeren Häuser, in denen sich noch 81
katholische Einwohner befanden, den Österreichern. Die drei Schleichen Kriege,
welche Hirschberg bald in den Besitz der Preußen, bald in den der Öfter-
reicher brachten, verursachten der damals sehr reichen Stadt viele Kosten. Die
Stadt verdankt ihren Reichtum dem Leinwandhandel und der Schleierweberei,
einer Kunst, die der Schuhmachergeselle Joachim Girnth auf seiner Wander-
schast in Haarlem erlernt und nach seiner Vaterstadt gebracht hatte. So be-
deutend war Hirschbergs Handel in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, daß
diese Stadt allein im Jahre 1752 für 8100000 Mark feine Leinwand aus-
führte. Beide Erwerbszweige erlitten gegen Ende des verflossenen Jahrhunderts
erhebliche Verluste; in neuerer Zeit hoben sich Handel und Verkehr wieder,
und besonders ist die Fabrikthätigkeit in gedeihlichem Aufschwünge begriffen.
Hirschberg hat jetzt 14 400 Einwohner. Die katholische Kirche des Ortes liegt
in der Nähe des Ringes, ist 1108 gegründet und 1304 von Herzog Heinrich
von Jauer neu erbaut. Durch den Pfarrer Löwe ist sie 1879 vollständig er-
neuert worden, so daß sie nun zu den schönsten Kirchen Schlesiens zu rechnen
sein dürfte. Der rein gotische Stil des Gebäudes, die künstlerisch ausgeführten
Wandmalereien, die seltenen Kunstschätze im Innern, Statuen und Bilder, machen
einen erhebenden Eindruck. Die evangelische Kirche ist eine von den sechs durch
Karl XII. von Schweden in der Altranstädter Konvention (1706) von Kaiser
Joseph I. gegen ein Geschenk der Stadt von 3000 Dukaten und ein Darlehn
von 100 000 Gulden erlangten schleichen Gnadenkirchen; die Kirche ist massiv,
in Kreuzesform mit einem kuppelförmigeu Turm erbaut, hat über 4000 Sitz-
Plätze, eine gemalte Decke und eine sehr schöne große Orgel sowie eine in Erz
gegossene Büste Luthers von Schadow vom Jahre 1817.
Die Umgebung Hirschbergs bietet die schönsten Spaziergänge. Ganz in
der Nähe der Stadt liegt der Kavalierberg, der seinen Namen von einem aus
demselben im Jahre 1778 im Bayrischen Erbfolgekriege angelegten Bollwerke
(Kavalier) erhielt. An der einen Seite des Berges liegt die schöne Villa
Agathenfels. Nur eine Viertelstunde von der Stadt entfernt ist der Hausberg,
der vorzeiten ein militärisch wichtiger Punkt war, da auf dieser das Bober-
und Zackenthal beherrschenden Höhe die Burg stand, welche Boleslaw III. im
Jahre 1110 zum Schutze der zwei Jahre zuvor von ihm mit Mauern umge-
benen Stadt erbauen ließ. Im Jahre 1434 trat Kaiser Sigismund die Feste
an die Bürger ab, welche sie zerstörten, damit die Hussiten hier nicht festen Fuß
fassen und der Stadt Schaden zufügen sollten. In den verschütteten Kellern der
Burg sollen große Schätze liegen, die von mächtigen Geistern bewacht werden,
und welche nur einmal jährlich, und zwar in der Christnacht von 12—1 Uhr
(so lange nämlich, als in der katholischen Kirche zu Hirschberg der Gottesdienst
dauert), zugänglich sind, wo dann eine Thür mitten am Berge den Eingang zu
einem langen und schmalen Pfade zeigt, der zu den verborgenen Kostbarkeiten
führt. Nun erzählt man sich, daß vor ungefähr hundert Jahren ein armer
Perückenmacher aus Hirschberg, Kilian mit Namen, wirklich den Versuch gemacht
hat, an dem genannten Tage hier einzudringen, und es ist ihm dann auch ge-
lungen, zweimal so viel Gold und Silber fortzubringen, als sein weiter Mantel
fassen konnte. Ein dritter Versuch gereichte ihm freilich zum Verderben, denn
man fand seinen Körper zerschellt zwischen den Felsen.
Hirschberg. 113
Auch zum Apollotempel, dem Anfange der Anlagen auf dem Helikon oder
Musenberg, auch bis zum Weltende, wie das enge Thal des Bober. da heißt,
wo zu beiden Seiten der Weg aufhört, können wir in kurzen, angenehmen
Partien von der Stadt aus wandern. Die meisten Besucher des Riesengebirges
beginnen ihre Wanderung von hier aus.
Stadt Hirschberg. Nach einer Zeichnung von Gustav Täubert.
Das Gymnasium in Hirschberg wurde am 29. September 1712 gestiftet.
An dieser Stelle wirkte von 1766—1799 außerordentlich segensreich Karl
Ludwig Bauer. Dieser merkwürdige Mann wurde am 18. Juli 1730 zu
Leipzig geboren, besuchte in seiner Vaterstadt die Thomasschule und die Uni-
versität, kam 1756 als Rektor nach Lauban, 1766 in gleicher Eigenschaft nach
Hirschberg, wo er am 3. September 1799, vom Schlage getroffen, starb, nach-
dem er sich fast immer einer dauerhaften Gesundheit erfreut hatte. Bauer ist
einer der gelehrtesten Schulmänner des vorigen Jahrhunderts; er war besonders
in den Sprachen tüchtig und verstand außer seiner Muttersprache das Lateinische,
Griechische, Hebräische, Chaldäische, Syrische, Französische, Italienische, Englische
und Spanische. Das Lateinische war ihm eigentlich zur Muttersprache geworden,
denn sie war ihm gleich geläufig im Lesen, Schreiben und Sprechen. Den Horaz
und Livius wußte er fast ganz auswendig, und aus vielen andern klassischen
Autoren vermochte er lange Stücke herzusagen. Im lateinischen Stile war
Livius sein Muster; lateinische Gedichte diktierte er nicht viel langsamer als einen
Brief, denn aus allen Dichtern standen ihm beständig Ausdrücke, Wendungen und
Deutsches Land und Volk. VIII. g
114 Das Riesengcbirge.
Redensarten zu Gebote. Er sprach nicht nur griechisch, sondern auch hebräisch
und wußte in dieser Sprache große Stücke der Bibel auswendig. Das Fran-
zösische, Italienische und Englische sprach er, da er es sich selbst gelehrt hatte,
sehr fehlerhaft aus, hatte aber die Grammatik vollkommen inne. Die alte Dog-
matil hatte an Bauer einen eifrigen Verteidiger, der mit jeder dogmatischen,
polemischen, kirchengeschichtlichen Kleinigkeit, Spitzfindigkeit und Anekdote wohl
bekannt war; gegen diejenigen, die anders als er dachten, war er tolerant.
Kirchen- und Gelehrtengeschichte gehörte zu seinen Lieblingswissenschaften. In
der Geschichte, Geographie und Mythologie war er zwar allenthalben bekannt,
am besten aber in der des alten Griechenland und Italien. Von der neueren
Philosophie und der neueren deutschen Poesie wollte er nichts wissen; denn
Klopstock war ihm zu überspannt, Wieland zu verliebt, und Goethe hatte sich
durch Werthers Leiden versündigt. Bauer war das lebendige Lexikon für seine
Schüler und Freunde, für Stadt und Land. Die größten Verdienste erwarb er
sich als Schulmann, obgleich seine äußere Persönlichkeit nicht derartig war, daß
sie den jungen Leuten Ehrfurcht einflößte. Die Leichtigkeit, mit welcher
er lehrte, war außerordentlich. Der Unterricht war ihm nichts als eine Unter-
Haltung über die vorzutragenden Fächer, und die ganze Anstrengung dabei be-
traf die Lunge, da er immer ziemlich viel und schnell, auch nicht eben leise
sprach. An manchen Tagen lehrte er acht bis neun Stunden, und in der übrigen
Zeit arbeitete er am Pulte. Erholung kannte er die ganze Woche hindurch nicht.
Von Vorbereitung auf den Unterricht hatte er keinen Begriff, denn er meinte,
der Lehrer müffe immer vorbereitet sein; er wisse auch nicht, wie er sich vor-
bereiten solle, denn den Schriftsteller verstehe er und müsse jeder Lehrer ver-
stehen; was aber die Schüler beim Unterrichte von ihm würden wissen wollen,
welche Dinge zur Besprechung kommen könnten, das könne er nicht voraussehen.
Deshalb wünschte er auch, daß sich seine Schüler nicht vorbereiten sollten, nur
sollten sie recht fleißig wiederholen. Seine Amtspflichten erfüllte er aufs püukt-
lichste. Wenn er Besuch hatte von hochgestellten Persönlichkeiten, so entschuldigte
er sich, sobald er Unterricht zu erteilen hatte. Er genoß die Achtung aller, die
ihn kannten, hatte keine Leidenschaften, lebte mit jedem in Frieden und konnte
Beleidigungen leicht verzeihen. Zu feiner eigentlichen Erholung diente ihm die
Zeit nach 4 Uhr des Sonntags, denn nicht leicht versäumte er den dreimaligen
Gottesdienst und die Katechismuslehre. Die Musik liebte er und gern spielte er in
der Kirche die Orgel zum Choralgesange. Vergnügungen andrer Art kannte er nicht.
Warmbrunn. Nur 6 kva von Hirschberg entfernt ist der berühmte Badeort
Warmbrunn. Man gelangt dorthin auf der von Hirschberg aus in der Richtung
nach Südwesten gehenden Chaussee. Warmbrunn liegt zu beiden Seiten des
Zackenflusses. Das Gefilde, auf dem jetzt der freundliche Kurort steht, war gegen
Ende des 12. Jahrhunderts noch eine überaus rauhe, wilde, von undurchdring-
lichem Urwald bedeckte Landschaft. Nur wilde Tiere lockten zuweilen verwegene
Jäger in diese schauerliche Waldgegend. Eine Jagd, die Herzog Boleslaw im
Jahre 1175 mit seinen Jägern unternommen hatte, trug mit zur Gründung
Warmbrunns bei; denn die Jäger fanden einen Hirsch, der sich in den dortigen
Quellen badete. Boleslaw ließ die Quellen genauer untersuchen, da er ver-
mutete, daß ihnen heilkräftige Wirkungen inne wohnten. Die Waldung in der
Nähe der Quellen wurde gelichtet und mit dem Anbau daselbst begonnen. Es
Warmbrunn. 115
ist sehr wahrscheinlich, daß die neue Ansiedelung einen raschen Aufschwung nahm;
denn im Jahre 1180 befanden sich schon fremde Kranke daselbst, um die Heil-
quellen, die Johannes dem Täufer gewidmet waren, zu gebrauchen. Im Jahre
1200 zählte dieser Ort schon eine nicht unansehnliche Anzahl kleiner, Hütten-
artiger Häuser. Nach einer Urkunde vom Jahre 1288 hatte Herzog Bernhard
von Fürstenberg den Brüdern des St. Johanneshospitales zu Jerusalem, also
den Johauniterrittern, im Jahre 1281 den Ort Calidus fons (Warmbrunn)
mit 250 Husen Acker, Wiesen. Wald u. s. w. geschenkt, verkaufte ihnen noch
100 Hufen und gab den colonis oder mansionariis, welche dieselben anbauen
würden, auf zwanzig Jahre Freiheiten von Lasten. Die von Herzog Boleslaw "V.
im Jahre 1292 unternommene Erbauung der Burg Kynast hatte unstreitig
dazu beigetragen, daß die ganze Gegend und besonders Warmbrunn sich mehr
bevölkerte; denn nun bekam nicht nur die Burg eine Besatzung, sondern es
scheint auch, als ob ein großer Teil der bei dem Burgbau beschäftigt gewesenen
Werkleute sich in dem dortigen Teile des Thales und vor allem in Warmbrunn
selbst niedergelassen hätten. So gewann der Ort allmählich das Ansehen eines
freundlichen, anspruchslosen ländlichen Fleckens, um den herum immer mehr
der düstere Wald schwand und lachende Saatfelder, üppige Wiesen und blühende
Gärten Platz fanden. Wahrscheinlich kam der Ort um 1400 durch Kauf in
den Besitz der Grafen Schaffgotsch, denen die Herrschaft Kynast und das Schloß
Greifenstein gehörten. Jedenfalls schenkte Schaffgotsch dem von ihm im Jahre
1403 gestifteten Kloster Grüssau einen Teil von Warmbrunn, das kleine Bad
und Dorf Voigtsdorf. Bei der allgemeinen Säkularisation der Klöster 1810
kaufte der damalige Graf Schaffgotsch die Stiftung zurück, so daß von da ab
sämtliche Bäder im Besitze der Schaffgotschischen Familie sind. Im Jahre 1418
wurde in Warmbrunn das erste Wirtshaus erbaut, in welchem der Fremde
eine freundliche, aber nur mäßigen Wünschen entsprechende Aufnahme fand; die
Lebensmittel freilich mußten sich die Fremden entweder aus Hirschberg mit-
bringen oder von dort kommen lassen. Während des Hussitenkrieges litt der
Kurort nicht so sehr, wie andre Orte Schlesiens. Im 17. Jahrhundert wurden
die Bäder umgebaut und bequemer eingerichtet, da sie immer mehr Berühmtheit
gewannen; so besuchte 1687 die Königin von Polen, Gemahlin des Königs
Johann III., mit einem Gefolge von tausend Personen Warmbrunn, um da-
selbst zu baden. Elf Jahre später wurde ein Kardinal aus Polen nach Warm-
brunn zum Gebrauche der warmen Bäder geschickt. Gegen Ende des 17. Jahr-
Hunderts finden wir schon eine Apotheke in dem Orte, der sich nicht nur durch
die Bäder, sondern auch durch die Industrie hob, denn im Jahre 1697 gab es
schon Glasschneider daselbst, die ihre Waren durch ganz Schlesien versandten.
1703 bestand schon eine Glasschneiderinnung. Schnitzer und Drechsler ver-
fertigten für die Fremden verschiedene kleine Gegenstände zum Andenken an den
Badeort. Das Jahr 1753 ist für die Entwicklung Warmbrunns von großer
Bedeutung; denn in diesem Jahre zieht eine neue Quelle der Wohlhabenheit,
ja des Reichtums in den Ort ein: die Garnspinnerei und Leinweberei. Damals
wurde dort das Spinnrad bekannt und fand in kurzer Zeit die allgemeinste
Verbreitung. Leider lasteten die Leiden und Plagen des Siebenjährigen Krieges
wie auf Hirschberg so auch auf Warmbrunn, da der Ort bald in preußischen,
bald in österreichischen Händen war; die Gewerbe gerieten in Stockung, Badegäste
8*
116 Das Riesengebirge.
blieben aus. Warmbrunn schien mit dem Ende des 18. Jahrhunderts in
Vergessenheit geraten zu sollen. Aber mit dem Beginn nnsres Jahrhunderts
beginnt ein neuer Abschnitt der Geschichte Warmbrunns. Die Badeanstalten
wurden umgestaltet und ausgedehnt, und man räumte dabei der Bequemlichkeit
und Behaglichkeit ihre Rechte ein. Warmbrunn blühte von neuem wieder auf,
der Kurort gewann, die Produkte des Gewerbefleißes fanden Absatz, der frühere
Wohlstand kehrte zurück. Gegenwärtig hat Warmbrunn 3320 Einwohner; es
wird jährlich von 2—3000 Badegästen besucht, welche die warmen Schwefel-
quellen mit Erfolg gegen Rheumatismus und Hautkrankheiten anwenden, und
gehört zu den beliebtesten Badeorten Schlesiens. Die Einwohner leben zum
Teil von der Aufnahme und Bewirtung der Badegäste während des Sommers,
andre treiben Ackerbau, viele leben von der Leinenweberei; besonders nehmen
die aus Leinen kunstvoll gewebten Tischzeuge aller Art wegen ihrer Güte und
Dauerhaftigkeit einen hohen Rang ein. Nicht wenige Bewohner des Ortes be-
treiben die Glasschleiferei und die Glas-, Stein- und Wappenschneidekunst; die
Glaslager Warmbrunns, in denen die Auswahl kunst- und geschmackvoll ge-
schliffeuer und geschnittener Glaswaren jeder Gattung wegen der großen Man-
nigfaltigkeit schwer wird, sind allgemein rühmlichst bekannt.
Vielleicht ist es nicht übertrieben, wenn vielfach behauptet worden ist, Warm-
bruun liege in einem der herrlichsten und anmutigsten Thäler Deutschlands.
Dieses Thal ist das schöne, von hohen, waldgekrönten Bergen ringsum be-
grenzte Hirschberger Thal, welches einem großen, herrlichen Garten gleicht, den
die schöpferische Natur mit besonderer Vorliebe angelegt zu haben scheint. Bald
ruht das Auge auf saftig grünen, mit Blumen gleichsam durchwirkten, weit sich
hinziehenden üppigen Wiesenfluren, welche von einigen großen Teichen unter-
krochen sind, auf deren klarem Wasserspiegel das azurne Himmelszelt sich abmalt.
Bald bieten sich dem Blick hügelartige Erhebungen, die in malerischer Ab-
wechseluug hier mit den bunten Farben des Laubholzes, dort mit dem schönen
Grün eines Nadelgebüsches oder auch mit dem Gold der Reifsaat geschmückt
sind; bald wird der Sinn von Felsen gefesselt, deren zerklüftetes, nacktes Haupt
aus Büschen und Wäldchen emporragt. Diesen Garten umgrenzt ein riesiger,
in dunkles Blau gehüllter Bergsaum.
Die felsige Unterlage des Warmbrnnner Gebietes wird von einer mittel-
körnigen Erdmasse bedeckt, die mit einer 30—60 cm starken Schicht frucht-
barer Dammerde überzogen ist. Stellenweise trifft man Torf- und Moorlager.
Diese Bodenbeschaffenheit, gehoben durch eine überall sichtbar gute, mit Emsig-
keit betriebene Feldkultur, gewährt dem mehr als eine Meile langen Thal-
strich eine große Fruchtbarkeit. Hier gedeihen in bester und üppigster Weise
alle Getreidearten und sonstigen Feldfrüchte; dem Obst- und Gartenbau steht
kein Hindernis entgegen, und reich an saftigen, dicht und hoch aufgeschossenen
Gräsern sind die herrlichen grünen Weiden. Das Klima Warmbrunns ist
äußerst günstig zu nennen; es wirkt vorteilhaft auf das Verhalten des mensch-
lichen Organismus. Der ganze Lebensprozeß geht mit größerer Freiheit, Rasch-
heit und Energie von statten, und deshalb ist der Gesundheitszustand günstig,
verheerende Seuchen dringen fast nie ein.
Die beiden warmen Heilquellen sind mit Quadersteinen sorgfältig in Bassins
gefaßt, mit steinernen Gebäuden überbaut und zu Bädern eingerichtet; sie heißen
Warmbrunn. 117
das große und das kleine Bad. Außerdem ist für Ärmere eingerichtet das
Leopoldsbad und für kranke Soldaten das Militärkurhaus. Sehenswert ist in
Warmbrunn das gräfliche Schloß, ein großes, mit reicher Architektur und vielem
Wappenschmucke versehenes, drei Stock hohes Gebäude, das der Familie der
Grafen Schaffgotsch gehört. An das Schloß schließt sich ein Park an mit Herr-
lichen Baumgruppen und reizender Aussicht auf das Gebirge. Reich an Kunst-
schätzen ist die katholische Kirche mit der gräflich Schaffgotschischen Familiengruft.
Der Brunnenplatz in Warmbrunn. Nach einer Zeichnung von Gustav Täubert.
Au die Kirche angebaut ist die Propstei, in deren Räumen sich die 60 000 Bände
umfassende Bibliothek der gräflichen Familie befindet, mit der die natur-
wissenschaftlichen und geschichtlichen Sammlungen verbunden sind. Zwei wichtige
Urkunden enthält die Bibliothek, nämlich den bekannten Pilsener Revers der
Wallensteinschen Generale vom 12. Januar 1634 und den Protest dieser Ge-
nerale gegen die Beschuldigung des Hochverrates vom 20. Februar, von Wallenstein
selbst mit unterschrieben. Die im Jahre 1777 erbaute evangelische Kirche hat
ein helles, freundliches Aussehen. Unter den vielen herrlichen Spaziergängen,
die von Warmbrunn aus unternommen werden können, ist keiner beliebter als
der nach Hermsdorf.
Der Kynast und seine Sagen. Hermsdorf ist ein Ort von 2000 Ein-
wohnern, kann von dem Badeorte aus vom Fußgänger in einer Stunde erreicht
werden und liegt am Fuße des vielbesungenen Kynast mit seiner Burgruine.
Der Südabfall des Burgberges ist sehr steil und wild und heißt die Hölle, der
118 Das Riesengebirge.
nördliche Abhang nach der Ebene zu ist minder jäh. Der Berg ist nicht ohne
Beschwerde zu erklimmen. Man erreicht die Wachtsteine, bei denen einst die Burg
ihre Vorposten ausstellte. Oben angelangt, schreitet man, vom Trommelwirbel
begrüßt, durch das alte Wachthaus in die Burg. Der Burgwart zeigt die Reste
der Kapelle, des Trinksaales, mehrerer Gemächer, der Küche, Pferdeställe, die
Pulverkammer, die Brunnen und das Burggärtchen. Man besteigt den gut er-
halteuen Turm und wird durch den Zauber der sich großartig entfaltenden
Natur gefesselt. In stiller, ernster Bewunderung durchdringt das Auge das in
buntem Farbenglanze prangende Thal mit seinen Städten, Dörfern, Gärten,
Wiesen, Feldern, bewaldeten Berghöhen, kahlen Hügeln und sich durchschlän-
gelnden Wegen und schweift bald über die blauen Berge hinweg weit hinaus
iu die Ebene. Prächtig tönt das Echo des abgeschossenen Böllers sechsmal wieder.
Die älteste Geschichte der Burg Kynast ist in undurchdringliches Dunkel
gehüllt. Es scheint, als ob schon 1278 auf dem Berge ein Jagd- oder Jäger-
haus gestanden hat, das entweder von einem Jäger beständig bewohnt worden
ist oder den Jägern nur Nachtschutz gewährt hat. Herzog Bolko I. von Schweidnitz
und Jauer ließ 1292 das Jagdhaus nach damaliger Sitte in eine Festung oder
Burg umwandeln, starb aber schon 1301, ohne Gelegenheit gehabt zu haben,
die Zweckmäßigkeit seiner Anlagen zn erproben. Sie soll zuerst den Namen
Neuhaus geführt, dann aber von dem Berge, auf dem sie stand, ihren jetzigen
Namen erhalten haben. Die Burg ist nie ernstlich angegriffen, nie erobert
worden, selbst der Hnssitenkrieg ist vorübergegangen ohne Angriff und Sturm
auf den Kynast, soviel auch die umliegende Gegend von ihm zu leiden hatte.
Sie war von der Seite der Hölle eine schwer zu erobernde Feste und vor-
trefflich ausgerüstet. Sie bestand aus zwei durch hohe und starke Mauern
voneinander getrennten Basteien, in denen Rundelle, Streichwehren und ein
hoher Turm angebracht waren. Auf diesem befand sich eine Uhr, welche
Stunden und Viertel schlug.
In einer alten Handschrift lesen wir über die Burg: „Wiewohl nicht
ein weitläufiger Raum darin zu finden ist, so ist das Schloß dennoch in drei
verschiedene Teile getrennt gewesen, daß jeder Ort von den Brustwehren be-
sonders beschirmt und der höchste Teil von dem darüber hoch erhabenen Turme
mit Steinwürfen hat erhalten werden können. In dem unteren Stocke des
Schlosses pflegte der Hauptmann seine Wohnung zu haben; in dem andern
Teile konnten die ankommenden Gäste, wenn sie über Nacht bleiben wollten,
ihre bequemen Zimmer finden. Im oberen Stocke waren zwei kleine Zeughäuser,
welche mit Kriegswerkzeugen und dem dazu nötigen Bedarf versehen waren."
Nachdem der Erbauer der Burg gestorben war, erbte sie Bolko II. Er ver-
machte die Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, zu denen Kynast gehörte, seiner
Nichte, welche später die zweite Gemahlin Kaiser Karls IV. wurde, wodurch
auch dieser Teil Schlesiens an Böhmen kam. Um das Jahr 1300 wahrschein-
lich erhielt der tapfere Ritter Gotfche Schaff die Burg Kynast von Bolko II.
zu Lehen, und der Herzog fügte später, um des Ritters tapfere Thaten würdig
zu belohnen, noch das Berggut Schmiedeberg sowie das ganze diesseitige Riesen-
gebirge nebst der Jser hinzu. Die Burg war bis zu ihrer am 31. August 1675
durch einen zündenden Blitzstrahl, der in den hohen Turm fuhr, erfolgten Zer-
störung stets Hauptsitz der Freiherren von Schasfgotsch. Innerhalb zwei Stunden
Der Kynast und seine Sagen. 119
war das Innere ausgebrannt. Da um diese Zeit die Schweden in die Mark
eingefallen waren, so hatte man viele Kostbarkeiten auf die Burg gerettet, die
damals verbrannten, wodurch der Schaden sehr groß wurde. Leicht hätte auch
das ganze Mauerwerk zerstört werden können; denn in einem Gewölbe, dessen
eiserne Thüren bereits glühend waren, lagen sieben Fässer mit Pulver.
Der Kynast.
Lange Zeit stand die Burg wüst und leer. Sie war durch das Thor des
Wachthauses geschlossen, zu dem ein Mann in Hermsdorf den Schlüssel hatte;
er führte die Fremden ein, wurde scherzhaft der Kommandant genannt und hatte
über seiner Thür eine Tafel mit dem Reimspruch:
„Wer den Kynast will beschauen,
Der muß sich mir anvertrauen."
Jetzt ist dort oben den größten Teil des Jahres hindurch eine vielbesuchte und
wohleingerichtete Gastwirtschaft.
Die Volkssage, die sich aller alten Burgen bemächtigt hat, erzählt auch
wunderbare Geschichten vom Kynast, von denen die schönste die von der Kunigunde
vom Kynast ist, die uns auch durch Theodor Körners dichterische Bearbeitung
bekannt geworden ist. Einst lebte auf dem Kynast ein Fräulein von seltener
120 Das Riesengebirge.
Schönheit, Kunigunde mit Namen. Sie hatte von ihrem Vater die Burg geerbt
und lebte für sich iu der Waldeinsamkeit und fand nur Vergnügen darin, daß
sie Rosse hernmtnmmelte, mit Waffen spielte und dem Eber und Hirsch in den
Wäldern nachjagte, die den Kynast umgaben. So schön und reich sie war, so
eigensinnig war sie auch; denn sie erklärte, sie werde keinem Ritter ihre Hand
reichen, der nicht auf der äußeren Ringmauer um die Burg herumgeritten wäre.
Viele Ritter kamen, um deu fchöuen Preis zu gewinnen; aber alle fanden, ent-
weder weil ihr Roß strauchelte oder weil sie vom Schwindel ergriffen wurden,
durch einen Sturz in den felsigen Abgrund den Tod. Bald aber wurden keine
Bewerber mehr auf der Burg gesehen, und Kunigunde wurde sehr mißmutig;
denn sie ärgerte sich nun, daß niemand mehr sein Leben um ihre Hand wagte.
So verstrichen viele Monate. Da meldete sich wieder ein Ritter zu der gefähr-
licheu Reitprobe. Als er in ihr Gemach trat und in ihre Augen sah, da kam
plötzlich ein sonderbares Gefühl über sie. Sein Blick hatte gezündet, und nun
bereute sie die frevelhafte Aufgabe, welche sie ersonnen und die bereits so viele
Menschenleben gekostet hatte. Allein sie konnte es nicht rückgängig machen und
sie versuchte deshalb dem Ritter, der sich nicht nennen wollte, abzureden und
ihn durch die Schilderung der von ihm zu bestehenden Gesahr von seinem Vor-
haben abzuhalten. Der Ritter jedoch erklärte, den Ritt wagen zu wollen. Am
nächsten Morgen mit Aufgang der Sonne war der fremde Ritter schon aus dem
Schloßhofe und sattelte sein Roß.
„Der Morgen graut;
Da schmückt sich die Braut
Deu geliebten Mann zu empfange«.
Und wie sie den freudigen Helden erschaut,
Da glühen ihr höher die Wangen.
Sie fliegt ihm entgegen mit wildem Schmerz:
„Umsonst, daß ich länger mich sträube;
Ich gesteh' es frei, dir gehört dies Herz,
Ich bleibe
Im Leben und Tod dir zum Weibe."
Der Geistliche bringt
Ihm den Segen: da schwingt
Sich der Reiter behende zu Pferde;
Er winkt: Ade! Kunigunde sinkt
Besinnungslos zur Erde.
Doch er setzt kühn auf die Mauer hinan,
Als war' sie wohl dreimal breiter,
Und es schreitet das Roß auf der gräßlichen Bahn
Keck weiter,
Trägt glücklich zum Ziele den Reiter." (Körner.)
Alle Bewohner der Burg standen im Schloßhofe, Kunigunde betete für
das Gelingen des kühnen Unternehmens still zu Gott. Als der erste Strahl
der Sonne die Spitzen der hohen Burgtürme beleuchtete, da hatte der Ritter
die verhängnisvolle Bahn durchritten und lenkte sein schweißbedecktes Roß von
der Mauer zum Burgthore hinab. Der Knechte Jubelgeschrei und der Trompeten-
schall brachten Kunigunde, die ohnmächtig am Boden lag, zur Besinnung.
Sie erhob sich und eilte dem Ritter entgegen mit den Worten: „Edler Ritter!
Der Kynast und seine Sagen. 121
Mein Schwur ist gelöst, hier habt Ihr meine Hand!" Jener antwortete: „Wohl
ist Euer Schwur gelöst und Eurem Stolze und frevelhaftem Übermute jetzt eine
Schranke gesetzt; aber ich bin nicht hierher gekommen, um Euch und Euer Erbe
zu erringen. Ich bin der Landgraf Adalbert von Thüringen und im Besitz einer
lieblichen Gattin. Ich bin, nachdem ich mein Pferd für ein solches Abenteuer
eingeübt habe, nur hergekommen, um dem frevelhaften Spiele, das Ihr mit
dem Leben fo vieler Ritter treibt, für immer ein Ende zu machen. Eure blutige
Hand werde ich niemals anrühren." Nachdem er dies gesagt hatte, verneigte
er sich vor dem Fräulein, schwang sich auf sein Roß und verließ in Begleitung
seines Knappen die Burg. Was nun mit Kunigunden geschehen ist, darüber
gibt es eine dreifache Sage. Nach der einen stürzte sie sich aus Verzweiflung,
gekränktem Stolz und verschmähter Liebe in denselben Abgrund, in welchem
ihre Freier umgekommen waren; nach der andern ging sie in ein Kloster und
starb bald an gebrochenem Herzen; nach der dritten aber heiratete sie auf Ver-
anlassung des Landgrafen den Ritter von Erbach, der als Knappe verkleidet ihn
auf der Reise zum Kynast begleitete. Sie ließ die Mauer abbrechen, für die
Seelen der verstorbenen Ritter Meffe lesen und suchte durch Liebe, Menschen-
freundlichkeit und reichliche Almosen an die Armen ihren früheren Frevel zu
sühnen und vergessen zu machen.
Der Sprung vom Kynast. Elisabeth, die junge Gemahlin des Herzogs
Ludwigll. von Liegnitz, war eine bildschöne Frau, ja sie galt als die schönste Frau in
ganz Europa. Natürlich hatte sie viele Verehrer, unter denen der aufmerksamste und
feurigste ihr Page, Franz von Chila, war. In dem Garten des Schlosses sang
er Lieder und suchte so die Aufmerksamkeit der Herzogin auf sich zu ziehen.
Als diese den Gesang hörte, glaubte sie, er gelte ihrem schönen Hoffräulein
Agnes, und ermutigte Franz. So verging eine lange Zeit der Täuschung,
während welcher auch Agnes, die durch die Herzogin auf die Neigung des Pagen
aufmerksam gemacht war, sich um Franz bemühte. Endlich kam der Irrtum zu
Tage, und da versank Franz in tiefe Traurigkeit. Nun begab es sich einst, daß
der Herzog einen Besuch nach dem Kynast machte und Franz die Herzogin be-
gleitete. Der Burgherr hatte zur Feier des hohen Besuches Festlichkeiten ver-
anstaltet, wie Armbrustschießen, Wettlaufen und ein Fußturnier. Der Herzog
aber, der auch etwas zur Feier des Tages beitragen wollte, erhob sich und
sagte, indem er einen goldenen Becher ergriff: „Diesen Becher lege man auf
die höchste Zinne des Schloßturmes. Wer sich zur Brüstung desselben hinauf-
schwingt und ihn dort auf das Wohl seiner Schönen leert, der soll ihn zum
Lohn seines Mutes erhalten." Zwar versuchten mehrere das halsbrecherische
Wagstück, aber keinem gelang es, das Ziel zu erreichen. Da erbat sich der
Page von seiner Gebieterin die Erlaubnis, auch einen Versuch zur Erringung
des Preises machen zu dürfen, und erhielt sie wirklich. Er schwang sich als
kecker und sicherer Kletterer glücklich hinauf, während alles für ihn zitterte, und
erstieg die oberste Spitze. Dort oben stand der holde Jüngling, und sein lockiges
Haar flatterte im Winde. Den Becher ergriff er und rief mit lauter Stimme:
„Frei darf ich es jetzt allen sagen, was ich bisher stumm in meiner Brust
verschließen mußte. Ich liebe die Herzogin Elisabeth. Meine Liebe und Treue
will ich mit dem Tode besiegeln." Darauf leerte er hastig den Becher und
stürzte sich von der Spitze in die fchauerliche Tiefe hinab.
122 Das Riesengebirge.
Der Gefangene im Turme. Der Burgherr vom Kynast hatte einst in
einer Fehde einen seiner schlimmsten Feinde gefangen genommen. Da er ein harter
uud grausamer Mann war, sperrte er den Ritter hoch oben im Burgturme in
ein fehr festes Gemach und schwur, sein Feind solle lebend den Kerker nicht
wieder verlassen. Vergebens machte sich die schöne Frau des Gefangenen auf
zum Kynast und bat den Burgherrn für ihren Gemahl und flehte um seine
Freiheit. Der Sieger blieb hart und gefühllos. Nur eins gab er der Gattin
feines Gefangenen nach: er gestattete nämlich, daß sie ihm das Brot, das er
essen solle, selbst backen dürfe. Mit dieser Erlaubnis war die arme Frau zu-
frieden, denn die Liebe zu ihrem Gemahl machte sie erfinderisch. Einstmals
wurde in das Gefängnis im Burgturme ein größeres Brot als gewöhnlich ge-
bracht, und als der Ritter es aufschnitt, fand er, daß seine Gemahlin eine Feile
und ein festes, langes Seil hineingebacken hatte. Hurtig machte er sich an die
mühsame Arbeit. Mit der Feile durchschnitt er die Eisenstäbe am Fenster seines
Kerkers. In einer stürmischen Nacht befestigte er am Fenster das Seil, ließ sich
von der Höhe des Turmes hinab, kam glücklich über die Burgmauer ins Freie
und endlich wieder in seine Burg zu seiner Gattin. Das an einer Seite durch--
brocheue Fenstergitter am Turme ist noch heute als Wahrzeichen treuer Liebe
und Frauenlist vorhanden.
Der Wolf und das Schaf. An die Küche der Burg knüpft sich die Sage
von dem Lamme, das der Wolf verzehrt hat. Zur Zeit des Dreißigjährigen
Krieges war Herr der Burg Kynast Graf Johann Ulrich von Schaffgotsch, der
zu Regensburg unschuldig hingerichtet wurde. Er war im Besitze der Tugenden
eines tapferen Ritters und eines edlen Menschen und bei seinen Unterthanen
sehr beliebt. Einst feierte er auf seiner Burg seinen Geburtstag und hatte
viele Gäste geladen, und unter diesen auch den evangelischen Pfarrer Thieme,
der sich viel mit Sternseherei beschäftigte und behauptete, aus den Sternen das
Geschick der Menschen lesen zu können. Die Gäste unterhielten sich bei Tisch,
während der Graf in feinem Zimmer betete und Gott dankte für den Segen,
den er ihm bis dahin verliehen hatte. Bei der Tafel wurde es bald munter;
das Gespräch kam auf Wallenstein, den man verlachte, weil er der Meinung
war, in den Gestirnen seien die Geschicke der Menschen verzeichnet. Thieme
verteidigte den General und erklärte, man dürfe den Zusammenhang zwischen
dem Laufe der Sterne und den Wegen der Menschen nicht leugnen; er habe
auch aus den Sternen erfahren, daß Graf Ulrich von Schaffgotfch eines gewalt-
famen Todes durch kaltes Eisen sterben werde. Alle erschraken über das ent-
setzliche Wort und verpflichteten sich untereinander, dem Grasen den Ausspruch
des Predigers zu verheimlichen. Nichtsdestoweniger erfuhr der Graf durch
einen Kammerherrn bald, was Thieme gesagt hatte. Der Gras lachte und ließ
an einem der nächsten Tage die sämtlichen Gäste, die zu seinem Geburtstage
auf dem Kynast gewesen waren, zur Jagd einladen. Auch Thieme war er-
schienen. Ihnen wollte der Graf zeigen, daß die Sterndeuterei nichtig und
eitel sei. Deshalb führte er ihm, nachdem er ihm gesagt hatte, er habe von
seiner schönen Kunst und Wissenschaft gehört, ein ganz junges Lamm vor und
forderte ihn auf, diesem Lamm die Zukunft aus den Sternen zu lesen. Thieme
weigerte sich lange und sagte, es sei ein Unterschied zwischen der Zukunft eines
Menschen und der eines Tieres; aber der Graf wollte wissen, wie das Lamm
Der Kynast und seine Sagen. 123
sterben würde. Als sich Thieme lange vergeblich gesträubt hatte, ließ er den
Schäfer rufen, fragte, wann das Lamm geboren sei, und fagte nach k.urzer Be-
obachtung und Berechnung! „Das Lamm wird der Wolf fressen." Graf Ulrich
war zufrieden gestellt und bat seine Gäste, sich zur Jagd bereit zu machen.
Ehe er aber selbst sich unter die Jagdgesellschaft mischte, ging er zum Koch und
befahl ihm, das Lamm, dem soeben Thieme die Zukunft gesagt hatte, zum
Mittagsmahle zu braten. Auf dem Schlosse trieb sich aber schon seit 10 Jahren
ein zahmer Wolf herum, der wie ein Haushund überall hinlief und auch in die
Küche kam, dort aber nie etwas anrührte und nur fraß, was man ihm vor-
warf. Zufällig kam dieser Wolf in die Küche, als das Lamm am Spieße stak
und schon halb gebraten war. Da entfernte sich der Koch auf kurze Zeit aus
der Küche; der Wolf aber benutzte die Abwesenheit des Koches, machte sich
gegen seine Gewohnheit über das Lamm her und fraß es auf. Der Koch war
ärgerlich, als er in die Küche zurückkehrte, prügelte den Wolf tüchtig durch,
vergaß aber bald den Verlust, da er die Wichtigkeit des Bratens nicht kannte
und meinte, daß derselbe bei der Menge der übrigen Gerichte nicht vermißt
werden würde.
Die Jagdgesellschaft kam fröhlich und guter Dinge heim und setzte sich zu
Tische. Graf Ulrich scherzte in den ausgelassensten Worten mit den Gästen,
besonders mit dem Prediger Thieme, und freute sich auf den Augenblick, in
dem der Lammbraten auf den Tisch kommen würde. Doch das Lamm blieb
aus. Der Graf schickte nach der Küche und ließ fragen, warum das Lamm
nicht aufgetragen würde. Da trat der Koch in den Speisesaal, stürzte zu den
Füßen des Herrn und erzählte zum Erstaunen und Schrecken der Anwesenden,
was geschehen war. Der Graf legte ruhig sein Messer auf den Tifch und sagte:
„Der Wille des Herrn geschehe! Ich weiß, daß ich stets meinem Kaiser treu
gedient und des Landes Bestes redlich gesucht habe. Herr, du wirst meine
Unschuld gewiß an den Tag bringen!" Aber die Speisen wollten ihm nicht
mehr schmecken, er fühlte sich unwohl und verließ den Speisesaal, und die Gäste
schlichen traurig nach Hause.
Leider ging Thiemes Prophezeiung schon nach wenigen Monaten in Er-
füllung. Hans Ulrich von Schaffgotsch wurde in Regensburg auf kaiserlichen
Befehl enthauptet; man beschuldigte ihn, mit den Schweden in Verbindung
gestanden zu haben, aber ohne daß man es für nötig erachtete, genügende Be-
weise für diese Anklage zu sammeln.
Der goldene Schleier. Als die schöne Kunigunde Herrin auf dem Kynast
war, lebte auf der Burg wenig beachtet eine Verwandte der Besitzerin, Irmgard
mit Namen, ein Waisenkind. Sie beschäftigte sich in der Wirtschaft. Einst
waren viele Herren und Damen zum Besuche auf dem Schlosse. Mit den
meisten Männern unternahm Kunigunde eine Jagd, Irmgard aber erhielt den
Auftrag, die zurückbleibenden Damen zu unterhalten und für die Herren, die
nicht mit auf die Jagd zogen, zu sorgen. Sie schlug den Gästen vor, um ihnen
die Zeit zu vertreiben, eine kleine Reise in das Gebirge zu machen. Der Vor-
schlag gefiel allgemein. Schnell versahen sich die jungen Leute mit Mundvorrat,
und man eilte hinaus in die prangenden Auen. Auf einer lachenden Wiese
machte die Gesellschaft Halt und nahm ihr Frühstück ein. Um das Mahl zu
würzen, erzählte Irmgard von dem Berggeist Rübezahl, der gerade dort, wo
124 Das Riesengebirge.
die Leute saßen, sein tolles Wesen treibe. Man hörte gern zu, lächelte aber
zu den erzählten Geschichten und glaubte ihnen nicht. Da vernahm man Plötz-
lich in dem nahen Unterholz ein lautes Krachen und Prasseln, und sogleich
stürzte ein großer Eber, der einen Pfeil in der Seite hatte, aus dem Dickicht
hervor und eilte auf die Wiese, auf der die Spaziergänger saßen, die nun in
große Gefahr gerieten. Alsbald aber erschien ein prächtig gerüsteter Ritter,
der den Eber verfolgte, ihm den Dolch in die Seite stieß und so die munteren
Leute von jeder Gefahr befreite. Der fremde Ritter wurde eingeladen, Platz
zu nehmen und sich am Frühstück zu beteiligen. Zu ihrem Erstaunen sahen
jetzt die jungen Männer, welche sich in der Gesellschaft befanden, daß die Waffen,
die sie neben sich gelegt hatten, verschwunden waren und auf dem Gipfel eines
Baumes hingen. „Das hat Rübezahl gethan", sagte Irmgard, und allmählich
glaubte man an das Walten des Berggeistes im Gebirge; denn es wurde weiter
erzählt, und der fremde Ritter, der sich für einen Lehnsmann des Markgrafen
von Brandenburg ausgab, hörte aufmerksam zu. Noch war nicht viel Zeit
verstrichen, da vernahm man aus der Ferne Klagelaute. Irmgard und der
Ritter stürzten schnell dorthin, woher der Schmerzensschrei kam. Sie fanden
einen Jäger, der erklärte, er sei durch einen angeschossenen Eber niedergestreckt
und schwer verwundet worden. Irmgard riß ihren Schleier vom Kopfe herunter
und legte ihn in Fetzen auf die Wunden des schwerkranken Mannes. Plötzlich
sprang dieser völlig geheilt auf und behauptete, seine Heilung sei durch die
Wunderkraft des Schleiers vor sich gegangen. „Es ist billig", fuhr er fort,
„daß ich ihn durch einen andern, ebenso kräftigen ersetze." Sosort riß er aus
dem Rücken des erlegten Ebers einige Borsten, warf sie der Irmgard über den
Kopf, wo sie sich zu einem prächtigen, goldenen Schleier vereinigten. Dann
verschwand der eben noch todkranke Mann unter einem furchtbaren Donner-
schlage. Jetzt wußten alle, mit wem sie es zu thuu gehabt hatten; sie-fühlten
sich unheimlich und brachen nach dem nächsten Dorfe auf, um dort zu über-
nachten. Der Ritter wurde zwar von Irmgard eingeladen, mit auf den Kynast
zu kommen und um die schöne Kunigunde zu werben; aber er zog es vor, mit
seinem Knappen weiter zu reisen. Da er nun keinen Führer hatte, verirrte er
sich bald in den engen Schluchten des Gebirges, und als plötzlich dichter Nebel
eintrat, wollte das Roß nicht weiter gehen; er spornte es an, es bäumte sich
und stürzte mit ihm in die Tiefe. Ms er aus seiner Betäubung erwachte, be-
fand er sich auf einem weichen Mooslager in der niedrigen Hütte eines Ein-
siedlers, der ihm erzählte, ein rüstiger Jäger habe ihn auf seiner Schulter zu
ihm gebracht und gesagt, er habe ihn neben seinem toten Pferde in einer Schlucht
gefunden. Bei dem Einsiedler blieb der Ritter mehrere Tage, bis er so ziemlich
genesen war; der Knappe, der ihn nach langem Suchen fand, kaufte ihm ein
Pferd in Hirschberg, und dann ritten beide weiter nach Wien, nachdem zwar
der Ritter noch die schöne Kunigunde in einer Messe in Hirschberg gesehen,
sich aber nicht hatte entschließen können, für sie den gefährlichen Ritt auf der
Mauer um die Burg zu wagen.
Zu Anfange des Frühlings im nächsten Jahre traf es sich, daß Irmgard
ihrer Gewohnheit gemäß durch die Thäler und Wälder streifte und Blumen
suchte. Plötzlich sah sie sich von den Leuten des nahen Hausberges, mit denen
Kunigunde in Fehde lebte, umringt, ergriffen und in die Gefangenschaft
Der Kynast und seine Sagen. 125
fortgeschleppt. Dort behielt man sie, weil man hoffte, die Besitzerin des Kynast
werde für ihre Verwandte ein hohes Lösegeld zahlen; aber Kunigunde dachte
nicht daran, die arme Irmgard aus ihrem Kerker zu befreien, und diese suchte
sich die Zeit ihrer Kerkerhaft durch Harfenspiel und Gesang zu vertreiben. Der
Zufall spielt zuweilen wunderbar. Als der Ritter von Wien nach seiner Heimat
zurückkehrte, mußte er auch beim Hausberge vorbeireiten, hörte die gefangene
Irmgard singen, erkannte ihre Stimme, ging in die Burg und forderte die
Gefangene zurück. Zwar wollte man ihm die Irmgard nicht sofort übergeben,
doch er drohte mit blutiger Fehde, und diese Drohung half; er führte alsbald
die befreite Irmgard nach dem Kynast zurück. Jetzt aber erschien ihm Kunigunde
so schön, daß er den Mauerritt wagte. Die arme Irmgard, die ihren Befreier
so lieb gewonnen hatte, war unglücklich, als sie von diesem Entschlüsse hörte,
und ging in die Einsamkeit, um sich auszuweinen. Da gesellte sich zu ihr der
geheimnisvolle Jäger, dem sie einst seine Wunden mit ihrem Schleier verbunden
und der ihr den goldenen Schleier geschenkt hatte, und versprach ihr seine Hilfe.
Nur wenig getröstet kehrte sie zur Burg zurück. Am andern Morgen bestieg
der Brandenburger auf feinem Roß die Mauer, und schon hatte er nur noch
wenige Schritte zurückzulegen, da strauchelte sein Roß und stürzte mit ihm in
den Abgrund. Plötzlich erhebt sich ein furchtbarer Sturm und ein schweres
Gewitter zieht heran, so daß niemand eine Hand vor Augen sehen kann. Während
die wilden Elemente im Kampfe miteinander liegen, sieht Irmgard, wie sich
zwei blaue Flämmcheu uus dem Schloßbrunnen erheben und sich dem Burg-
thore zu bewegen; eine innere Stimme sagt ihr, sie solle den Flammen folgen.
Sie thut es. Auf weitem Umwege gelangt sie, von den Flammen geführt, ins
Thal und findet den Geliebten unversehrt, aber in tiefem Schlummer neben
seinem toten Rosse liegen. Wieder ist der helfende Jäger bei ihr und fragt,
ob sie sich mit dem Ritter vermählen wolle. Zwar glaubt sie nicht, daß der
Ritter sie liebe, aber der Jäger versichert ihr dies. Da erweckt der Weidmann
den Ritter und verschwindet. Dieser aber findet die bei ihm sitzende Irmgard
schön und bietet ihr seine Hand an. Beide kehren zum Kynast zurück; es wird
die Vermählung, zu der Kunigunde bereitwilligst ihre Zustimmung gab, gefeiert,
und das glückliche Paar zieht nach Brandenburg. Bald aber, als nach dem
Mauerritt des Landgrafen von Thüringen Kunigunde gestorben war, nachdem
sie noch zuvor ihre Verwandte zur Erbin eingesetzt hatte, kamen sie zum Kynast
zurück und lebten noch lange glücklich. Wo aber der goldene Schleier nach dem
Tode der Irmgard geblieben ist, davon berichtet die Sage nichts.
Erdmannsdorf. Von Warmbrunn aus gelangen wir in drei Viertel-
stunden, wenn wir nach Osten wandern, nach dem wegen seiner landschaftlichen
Schönheiten berühmten Erdmannsdorf. Der kleine Ort wird viel von Fremden
besucht und zum Sommeraufenthalt gewählt. Erdmannsdorf kommt fchon in
Urkunden aus dem Jahre 1385 vor; es wechselte oft seine Besitzer und kam
im Jahre 1816 in die Hände des Generalfeldmarschalls Gneifenau, des Helden
der Freiheitskriege. Nach dessen Tode 1831 erwarb es der König Friedrich
Wilhelm III., der das jetzige Schloß erbaute und den Parkanlagen eine neuere,
schönere Gestalt gab. Es ging dann an König Friedrich Wilhelm IV. über
und wurde durch dessen Witwe, die Königin Elisabeth, zum Kron-Fideikommiß-
gute bestimmt. Am Eingange des Schlosses stehen zwei riesige, aus Blech
126 Das Riesengebirge.
getriebene Kriegsknechte mit Partisanen. Unter Leitung des Kastellans be-
sichtigen wir das Schloß vom Speisesaale an, in welchem sich schöne Fresken
befinden, bis hinauf zur Plattform des Turmes, von dem wir weit ins
Thal hineinblicken.
Trotz aller Pracht hat das Schloß doch das Aussehen ländlicher Einsach-
heit bewahrt. In dem Parke laden Lauben zur Ruhe ein, Restaurants bieten
Erquickungen aller Art, Harfen- und Flötenspieler mischen die träumerischen
Klänge ihrer Instrumente in das Rauschen der Bäume und in das Plätschern
der Bäche: nur Friede und Glück scheinen dort zu wohnen.
Die Zillerthaler. Fremdartig erscheinen uns hier die hölzernen Schwei-
zerHäuschen mit der Galerie um das ganze Haus, mit dem überhängenden Dache
und den steinbeschwerten Schindeln. Solche Häuser sind wir gewohnt im äußersten
Süden Deutschlands, in Tirol zu sehen, und wir erblicken sie hier in der Gegend
des königlichen Schlosses zu Erdmannsdorf. In diesen Häusern wohnen Leute,
die treulich zusammenhalten, die Tiroler Nationaltracht tragen und die Lebens-
weise der Alpenbewohner beobachten. Es scheint nicht nur, als ob wir im
Zillerthal sind, sondern wir weilen hier wirklich unter den Zillerthalern, die
Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1837 auf ihr Gesuch in Preußen aufgenommen
und hier angesiedelt hat.
Auch bis ins Zillerthal im Lande Tirol war der Protestantismus ge-
druugen. Nicht selten war von Norddeutschland jemand gekommen und hatte
im Tiroler Lande von der religiösen Neuerung im Norden erzählt; und der
hier und da ausgestreute Same war in dem katholischen Lande nicht vertrocknet,
sondern keimte und schlug Wurzeln und führte ein stilles, aber immerhin
lebensvolles Dasein.
Die Tiroler sind als strenggläubige und treue Katholiken bekannt, und die
Erzbischöfe von Salzburg, denen lange Zeit das Zillerthal gehörte, haben ge-
wissenhaft Sorge getragen, daß der Protestantismus nicht Platz griffe, oder doch,
ausgerottet würde. Auch die bayrischen Wittelsbacher und die österreichischen
Lothringer hatten ein streng katholisches Regiment geführt.
Aber wie sich im eigentlichen Salzburgischen, in verschiedenen bayrischen
Städten und in den weiten Räumen der österreichischen Monarchie trotz aller
Vorsicht die Lehre Luthers ausbreitete, so geschah es auch im Zillerthal. Früh-
zeitig hatten die Worte des Reformators hier Eingang gefunden, frühzeitig die
evangelischen Schriften, vor allem die Bibel. Auch fehlte es nicht an Männern,
welche die Wißbegierigen belehrten und in der Lehre Luthers befestigten. In aller
Stille und Heimlichkeit bewahrten sie den neuen, im Sinne ihrer Stammes-
genossen ketzerischen Glauben und ihre Bücher, wenn es nötig war, in Verstecken.
Drei Jahrhunderte hindurch war in Tirol der Schein der einheitlichen katholischen
Kirche gerettet, jedes Aufsehen glücklich vermieden worden, bis endlich einmal
das im Verborgenen glimmende Feuer zur hellen Flamme emporschlug. Im
Jahre 1826 faßten einige schlichte Männer, die nicht länger den Kampf in
ihrem Innern durchkämpfen konnten, sich das Herz, gingen zu ihren Priestern
und setzten ihnen auseinander, wie es in ihrem Gemüte aussehe. Einfach und
treuherzig erklärten sie, wahrhaste Katholiken könnten sie nun und nimmer sein;
so wollten sie denn auch vor aller Welt scheinen, was sie wären; man möchte
ihnen gestatten, sich offen und frei zum evangelischen Glauben zu bekennen.
Die Zillerthaler. 127
Die Geistlichen, die schon längst die heimlichen Gesinnungen ihrer Pfarr-
linder kannten, suchten zu beschwichtigen, hinzuhalten oder auch geradezu um-
zustimmen und jeden offenen Lärm zu vermeiden. Doch die Zillerthaler blieben
fest bei ihrem Vorhaben und bestanden auf Einleitung der vorgeschriebenen
Formalitäten. Es bestand nämlich die Einrichtung, daß derjenige, der aus der
Landeskirche ausscheiden und zu einem andern Bekenntnis übertreten wollte,
sich zuvor einem sechswöchentlichen Religionsunterricht bei seinem bisherigen
Geistlichen zu unterwerfen hatte. Das Zeugnis dieses Religionslehrers mußte
später bei der Behörde eingereicht werden. Zu diesem Unterricht meldeten sich
zuerst aus vier benachbarten Dörfern acht Männer.
Schloß Erdmannsdorf.
Die katholische Geistlichkeit benahm sich in dieser Angelegenheit sehr ge-
mäßigt; denn daß sie durch Überredung und auf gütlichem Wege alles versuchte,
um ihre Pfarrkinder ihrer Kirche zu erhalten, war ja ihre Pflicht und kann ihr
nicht verdacht werden. Die Geistlichen wandten keine Drohungen, keine Ein-
schüchterungen an; sie hofften noch immer, das erwachte, leidenschaftliche religiöse
Bewußtsein der Zillerthaler wieder einschläfern zu können. Sie kannten die
Starrköpfigkeit der Bauern noch nicht genug. Immer mehr Personen meldeten
sich zu dem sechswöchentlichen Religionskursus. Da traten verschiedene Orts-
geistliche zusammen, um sich über die Mittel zur Abwehr dieses Übels zu be-
raten. Sie kamen überein, den Religionsunterricht vorläufig nicht mehr zu
erteilen, die Angelegenheit zur Anzeige zu bringen und weitere Befehle von
oben abzuwarten. Das teilten sie ihren Pfarrkindern mit. Bei dem überaus
langsamen Geschäftsgange dauerte es fünf Jahre, ohne daß die Zillerthaler
eines endgültigen Bescheides gewürdigt wurden; aber sie ließen sich nicht beirren,
128 Das Riesengebirge.
hielten fest zusammen, und nach diesen fünf Jahren hatten sich bereits 240
Personen gemeldet, eine für dieses kleine Thal nicht unbedeutende Zahl, meist
Hirten, Handwerker und Arbeitsleute, auch einige Bauern und Gutsbesitzer.
Da kam zufällig der Kaiser Franz nach Tirol im Jahre 1832. Sofort
schickten die Zillerthaler eine Deputation von drei Männern an ihn nach Inns-
brück; an der Spitze derselben stand Fleidl, der in der Geschichte der Ziller-
thaler Auswanderung eine hervorragende Rolle zu spielen bestimmt war. Sie
sollten dem Kaiser persönlich die Bitte vortragen, eine eigne protestantische Ge-
meinde in ihrer Heimat bilden zu dürfen. Die drei Männer wurden beim
Kaiser vorgelassen, der Kaiser zeigte sich persönlich human und liebenswürdig;
aber einen Erfolg hatte diese Audienz nicht, denn der Kaiser kann in diesem
Punkte nicht handeln, wie er will. Kaum hatte sich die Nachricht im Lande
verbreitet, daß Franz die Deputation gnädig angenommen und ihnen zugesagt
hatte, zu thuu, was er thun könne, so liefen auch schon Schriften bei den Staats-
behörden ein, in welchen um Abwehrung der Glanbensfpaltnng im Lande ge-
beten wurde. Nach längeren Beratungen auf dem Tiroler Landtage und in
der Hofburg zu Wien ging im Jahre 1834 den im Herzen evangelischen Ziller-
thalern der Bescheid zu, es würde ihnen anheimgestellt, in eine andre öfter-
reichische Provinz zn ziehen, in der sich bereits nichtkatholische Gemeinden be-
fänden, wie in Siebenbürgen.
Alle Bitten und Gesuche um eine Änderung dieses Bescheides blieben ohne
Resultat. Die Lage der Zillerthaler wurde von Tag zu Tag bedenklicher; die
Leute fühlten sich als Protestanten, hatten aber keinen Seelsorger, auch hatte
die katholische Kirche sie noch nicht völlig aufgegeben, ihnen nur mancherlei Be-
schränkungen auferlegt, ihnen unter andern die Ehe und das Begräbnis auf
dem katholischen Friedhofe versagt. Auch der Staat mischte sich hindernd ein
und erschwerte den protestantisch Gesinnten den Erwerb von Eigentum, die
Erteilung von Pässen und dergleichen. Ihrerseits aber hielten sich bei ihrem
lebhaften Temperament die Protestanten wohl nicht frei von Ausbrüchen des
Verdrusses und Ärgers und neckten und verspotteten ihre Widersacher, um ihrer
Erbitterung Luft zu machen. Die Lage der protestantischen Zillerthaler wurde
immer unbehaglicher, und da von oben herab in sie der Keim der Auswanderung^
idee gelegt war, so ging derselbe schnell wuchernd auf. Hat erst einmal die Un-
Zufriedenheit im eignen Heim Platz gegriffen, steckt erst einmal die Wanderlust
in den Gliedern, so ist auf die Dauer kein Halten mehr. Aber darüber waren
die in ihrer Heimat Unzufriedenen bald einig, wenn gewandert werden mußte,
so wollten sie in ein protestantisches Land gehen und es machen, wie es vor
ihnen die Salzburger gethau hatten. Sie wollten nicht wie Kranke in eine andre
Provinz desselben Reiches ziehen. Aber wohin sollten sie ziehen? Preußen
schien ihnen fast von selbst zu winken; mächtig war der Zug dorthin, wo bereits
Tausende, auch von ihren Stamm- und Blutsverwandten, eine neue Heimat ge-
fuuden hatten. Sie beschlossen also, einen Abgesandten nach Berlin an den
preußischen König zu schicken und diesem ihre Sache vorzutragen. Der Mann,
den sie sich als Boten auserlesen hatten, war wiederum Fleidl. Als dieser
Mann nach einigen Umständlichkeiten von seiten der Behörden seinen Paß er-
halten hatte, ging er im Jahre 1837 nach Berlin, wo er zunächst schriftlich,
dann persönlich bei dem Könige seine Bitte vortrug. Friedrich Wilhelm HL
Die Zillerthaler. 129
unterhielt sich längere Zeit eingehend mit Fleidl; die bescheidene und doch
offene Art des Tirolers gefiel dem König. Das Bittgesuch im Namen der
Zillerthaler ist so eigentümlich, daß es verdient, erwähnt zu werden; es lautete:
Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König!
Allergnädigster König und Herr?
In meinem Namen und im Namen meiner Glaubensgenossen, deren Zahl
sich auf 430—440 beläuft, wage ich einen Notruf an die Großmut und Gnade
Ew. Majestät, als erhabenen Schutzherrn des reinen Evangeliums. Von ganzer
Seele gern hätte ich Ew. Majestät diese Bitte persönlich und mündlich vor-
getragen; doch bescheide ich mich auch, wenn ich dieses bloß in schriftlichem
Wege thun darf. In unserm Vaterlande wiederholt sich nach etwas mehr als
hundert Jahren abermals ein Akt der Verfolgung und Vertreibung. Nicht
wegen Verbrechen und sonstigen Vergehungen, sondern des Glaubens wegen
müssen wir den heimatlichen Boden verlassen, wie das angeschlossene Zertifikat
vom 11. d. M. zeigt. Wir haben zwar die Wahl zwischen der Übersiedelung
in eine andre österreichische Provinz und zwischen der gänzlichen Auswanderung;
wir ziehen aber die letztere vor, um uns und uuseru Kindern jede weitere Ge-
hässigkeit zu ersparen. Schon einmal gab Preußen unsern bedrängten Vor-
eltern eine sichere Zufluchtsstätte; auch wir haben all unser Vertrauen auf Gott
und den guten König von Preußen gesetzt. Wir werden Hilfe finden und nicht
zu fchanden werden. Wir bitten demnach Ew. Majestät unterthänigst um
huldvolle Aufnahme in Allerhöchsteren Staaten und um gnädige Unterstützung
bei nnsrer Ansiedelung. Nehmen uns Ew. Majestät väterlich an und auf, da-
mit wir nach unserm Glauben leben können. Unser Glaube beruht ganz auf
der Lehre der heiligen Schrift und auf den Grundsätzen der Angsburgischeu
Konfession; wir haben beides fleißig gelesen und den Unterschied zwischen Gottes
Wort und dem menschlichen Zusatz wohl erkannt. Von diesem Glauben können
und werden wir nimmer weichen; ihm zulieb verlassen wir Haus und Hof,
ihm zulieb das Vaterland. Lassen uns Ew. Majestät aber auch huldvoll in
einer Gemeinde beisammen bleiben. Das wird uusre Hilfe, unsern Trost gegen-
seitig vermehren. Setzen uns Ew. Majestät gnädigst in eine Gegend, deren
landwirtschaftliche Verhältnisse mit unserm Alpenlande einige Ähnlichkeit haben.
Ackerbau und Viehzucht waren unsre Beschäftigung. Beiläufig zwei Drittel
von uns haben Besitz, ein Drittel nährt sich vom Arbeitslohn, bloß 18 sind
Gewerbsleute, darunter 13 Weber. Geben uns Ew. Majestät einen recht gott-
getreuen Prediger, einen recht eifrigen Schullehrer; wir werden wenigstens an-
sangs nicht wohl im stände sein, diesfalls viel zu bestreiten. Die Reise wird
viel kosten; wir wissen nicht, was wir nach dem neuen Hause bringen; und wir
und unsre Kinder haben lange schon den Trost der Religion und den Unterricht
in der Schule entbehren müssen. Sollte sich wo immer eine Not zeigen, be-
sonders bei den Ärmeren von uns, denen vielleicht auch die Vermöglicheren
nicht genügend werden beistehen können, weil auch sie hier neu anfangen müssen,
so seien Ew. Majestät unser aller Vater. Sorgen Ew. Majestät aber auch
gnädigst dafür, daß uns der viermonatliche Auswanderungstermin vom 11. Mai
bis 11. September allenfalls bis zum nächsten Frühjahr verlängert werde.
Unser Güterverkauf, der wohl schon begonnen hat, der aber in einer so kurzen
Deutsches Land und Volk. VIII. 9
130 Das Riesengebirge.
Zeit nicht ohne Nachteil beendigt werden kann, der Eintritt des Winters, die
Unbehilflichkeit der alten Leute und Kinder sind Rücksichten, die eine solche
Terminsverlängerung höchst erwünschlich machen. Gott lohne Ew. Majestät
die Güte, was Allerhöchstdieselben an uns thuit; treu, ehrlich und dankbar
werden wir auch in Preußen bleiben und das Gute unsrer Tirolernatur nicht
ablegen. Wir werden nur die Zahl Allerhöchsterer braven Unterthanen ver-
mehren und in der Geschichte als bleibendes Denkmal dastehen, daß das Unglück,
wenn es neben dem Erbarmen wohnt, bei dem großherzigen Könige von Preußen
allezeit seinen Schutz findet.
Berlin, den 27. Mai 1837. Die Tiroler aus dem Zillerthale
durch ihren Wortführer Johann Fleidl
aus Zillerthal.
Der König bewies sich sehr huldvoll gegen Fleidl und zeigte große Teil-
nähme für die von ihm vertretene Sache, war aber doch zu vorsichtig, um so-
gleich bindende Versprechungen zu geben; er entließ den Abgesandten mit einem
Reisezuschuß von 10 Friedrichsdor und sagte ihm, es würde ihm nach einiger
Zeit ein endgültiger Bescheid zugehen. Ende Mai hatte die Audienz stattgefunden;
am 5. Juni erfolgte die Antwort, in welcher der König erklärte, er fei bereit,
den Bitten der Zillerthaler zu willfahren und habe schon den Oberkonsistorialrat
und Hofprediger Strauß nach Wien geschickt, um das Nähere wegen der Über-
siedelung der Zillerthaler einzuleiten; er erwarte den Bericht des Hofpredigers,
der auf seiner Rückreise auch Zillerthal berühren werde.
Strauß kam, um zu erkunden, von welcher Beschaffenheit denn der Glaube
der Zillerthaler wäre. Alles, was er unter diesen Tirolern sah und hörte, gefiel
ihm sehr wohl, und er berichtete auch in diesem Sinne an seinen Monarchen.
Der vorsichtige König war nun zwar nach der religiösen Seite hin beruhigt; doch
schickte er noch einen Regierungsrat zu ihnen, der den zukünftigen preußischen
Unterthanen ihre späteren Rechte und Pflichten auseinandersetzen und vor allen
Dingen sie belehren sollte, daß sie, wie jeder andre Bürger, der allgemeinen Wehr-
Pflicht zu genügen hätten. Die Zillerthaler erklärten sich mit allem einverstanden.
Nun erst wurde das Nähere über die Auswanderung bestimmt, über die Marsch-
route. über Verpflegungen und Reisekommissare Verabredungen getroffen. Eifriger
wurden nun die Rüstungen, das Packen betrieben. Mit süddeutscher Lebhaftigkeit
gingen die Tiroler zu Werke; die Grundstücke wurden, wenn es irgend anging,
oft auf bloßen Handschlag hin, verkauft; diese Naturen kannten keinen Hinterhalt,
keinen Verdacht; gerichtliche Form wäre ihnen wie Mißtrauen erschienen.
Der Tag des Scheidens kam heran; schon zwei Wochen vor dem gesetz-
lichen Termin waren die Leute reisefertig geworden. Je näher nun aber die
Abschiedsstunde heranrückte, desto schwerer wurde doch manchem das Scheiden.
Solche gewaltsame Loslösung vom alten Boden muß Wunden und Risse geben.
Weinenden Auges erklärte manches Weib dem fest bei seinem Auswanderungs-
entschlusse beharrenden Manne, es könne nicht mit, es könne die alten Eltern
nicht verlassen. Oft blieben die Kinder im Heimwesen zurück, während die Alten
fortzogen, und umgekehrt. So blieb die Frau, die Schwester des katholischen
Lehrers, mit acht Kindern zurück, und der unerbittliche Mann ging seinem
Glauben nach. Aus einer andern Familie entschlossen sich zwei Schwestern,
Die Zillerthaler. 131
dem Zuge zu folgen, während ihr Vater und die andern Geschwister sich vom
schönen Zillerthale nicht zu trennen vermochten.
Die österreichische Regierung legte den Abziehenden keine Schwierigkeiten
in den Weg; kein Abzugsgeld wurde ihnen, wie einst den Salzburgern, abver-
langt; kein Zwang, kein Druck wurde auf dieselben ausgeübt, ja der Unbemittelte
erhielt sogar noch eine kleine Reiseunterstützung. Die Auswanderung erfolgte in
kleinen Zügen, nicht in einer Hauptmasse. Am 31. August 1837 fetzte sich der
erste Transport in Bewegung; im ganzen zogen fünf Abteilungen aus, an jedem
Tage bis zum 4. September eine; die Zahl der Auswanderer wird auf 440
angegeben. Der Schmerz des Abschiedes war ihnen um so schwerer und heißer auf
die Seele gefallen, weil von allen Seiten nicht Hohn oder Wut und blinder
Fanatismus der zurückbleibenden strengen Katholiken ihnen nachschrie, sondern weil
die Thränen aller Verwandten und Freunde und Bekannten ihnen das schmerz-
liche Geleit gaben, sie ihnen teilnehmend die Hände drückten. Überall schauten
treuherzige, freundlich nickende, ernste Gesichter ihnen nach, und gute Wünsche
wurden ihnen zahlreich nachgerufen.
Auf dem Marsche waren die Tiroler anfangs voll von Begeisterung, später
erlahmten die Kräfte. Gesang und Gebet hob dann aus einige Zeit wieder den
geknickten Mut. Einige blieben bis zum Ende der Reise bei guter Zuversicht,
andre fürchteten bald, sie seien falschen Propheten gefolgt und würden elend vor
Hunger sterben. Meist wurde ihnen mit Freundlichkeit und Mitleid begegnet,
selten wurden Nachtquartiere versagt. Sie gingen durch Salzburg, Oberösterreich
ob d. E. und Böhmen und berührten die Städte Salzburg. Linz, Bndweis,
Czaslan, Chrudim und Trantenau. Die Züge bewegten sich in großer Stille
und Ordnung vorwärts. Die Verbannten besuchten zuweilen auf ihrem Wege
die Kirche, zuweilen hielten fremde Geistliche ihnen Predigten im Freien, wo
die Choräle der andächtigen wandernden Gemeinde in den Thalklüften laut
widerhallten. Der Zug muß ergreifend genug ausgeschaut haben, wenn er in
ein Dorf oder durch eine Stadt ging. An der Spitze schritten Männer und
Frauen, hochaufgeschossene, kräftige Gestalten; das Haupt hatten sie bedeckt mit
dem bekannten Tirolerhute, einen Regenschirm hielten sie in der Hand; sie waren
mit ihrer einfachen Nationaltracht angethan. An allen konnte man wahrnehmen,
daß ihr Gewand beim Antritt der Reise neu augeschafft war. Ernst und still
ging der Zug vorwärts. Feste, ruhige Entschlossenheit lag auf dem Antlitz der
Männer, der Zug demütiger Entschlossenheit auf dem der Frauen ausgeprägt.
Es folgten die Wagen, mit den schwächeren Weibern und Kindern sowie den
notwendigsten Habseligkeiten beladen und geleitet von daneben herziehenden
Männern. Hinter diesen bildeten den Schluß einige zweiräderige Karren mit
Büchern, die ihre Besitzer selbst zogen.
Es war im Kreise Landeshut, wo die Tiroler am 20. September 1837
zuerst preußischen Boden, das Gebirgsdors Michelsdorf, betraten. Der dortige
Geistliche hatte dafür Sorge getragen, daß den Verbannten ein feierlicher und
herzlicher Empfang bereitet wurde. Hier öffneten sich ihnen zum erstenmal die
Kirchenthüren der neuen Heimat. Sie traten ein und stellten sich still um den Altar.
Da nahm zufällig einer das Bild des Königs wahr und lenkte auch die Auf-
merkfamkeit der andern auf dasselbe. Mit einem Ausruf der frohsten Überraschung
eilten alle auf das Bild zu und betrachteten es mit freudestrahlenden Augen.
9*
132 Das Riesengebirge.
In Preußen war man nicht lange darüber zweifelhaft gewesen, wo die
Zillerthaler unterzubringen seien; denn wenn die Verbannten annähernd für
die schöne Heimat, die sie aufgaben, entschädigt werden sollten, so konnten sie
nur in Schlesien, und zwar in der Riesengebirgslandschaft untergebracht werden.
Die Einwanderer wurden deshalb unter die spezielle Obhut des Oberpräsidenten
Schlesiens gestellt. Dieser wandte sich an die in der Nähe von Schmiedeberg in
dem schönen Buchwald lebende Gräfin Friederike von Reden, die für das Unglück ein
warmes Gefühl, ein liebevolles Herz und eine stets hilfsbereite Hand hatte. Mit
dieser Dame verhandelte der Oberpräsident wegen der Zillerthaler und fand bei
ihr eine vielleicht kaum in so hohem Grade erwartete Bereitwilligkeit zur Hilfe.
Die Einwanderung war so plötzlich angesagt, daß schleunigst für ein vorläufiges
Unterkommen der Auswanderer gesorgt werden mußte. Nachdem der König in
Berlin „Eine Königliche Jmmediatkommission zur Regulierung der Zillerthaler
Angelegenheiten", die aus drei Personen bestand und die stets das letzte ent-
scheidende Wort sprechen sollte, ernannt hatte, wurde in Schlesien ein Komitee
gebildet, das mit den Eingewanderten unmittelbar arbeiten und an ihren Sorgen
und Freuden teilnehmen sollte. Die drei Mitglieder dieses Komitees, dessen Auf-
gäbe eine überaus schwierige war. waren die Gräfin von Reden als Präsidentin,
der Kreislandrat Graf Matuschka und der Bürgermeister von Schmiedeberg,
Hauptmann Flügel. Zunächst hatte das Komitee die Aufgabe, die Zillerthaler
auf ungefähr ein Jahr in der Stadt Schmiedeberg und der Umgegend unter-
zubringen, für die Leute und ihr Inventar geeignetes Unterkommen zu schaffen
und die Sorge für die körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Kolonisten zu
übernehmen. Allwöchentlich versammelten sich die Mitglieder in Buchwald zu
einer gemeinsamen Beratung.
Noch rüsteten die Auswanderer in ihrem Zillerthale, als auch in Schmiede-
berg bereits alles in vollster Thätigkeit war. Es wurde ein Aufruf an die
Bürger von Schmiedeberg erlassen, daß sich melden möchte, wer Einwanderer
bei sich aufnehmen könne und wolle; wer bereit sei, solle angeben, wie viel
und wie große Stuben, Kammern, Stallungen und Bodenräume er zu diesem
Zwecke hergebe und wie viel Miete er verlange. Bald waren die Wohnungen
besorgt; aber da waren noch Stroh, Schlafdecken, Bettstellen, Leinwand, Woh-
nnngsutensilien n. dgl. zu beschaffen. Der erste Zug traf später als man er-
wartet hatte in Schmiedeberg ein, nämlich erst am 20. September. Die Tiroler
wurden einfach und herzlich empfangen, in dem „Löwen" mit Speise und Trank
erquickt und in die einzelnen Quartiere geführt. Wie die Schmiedeberger sich an
den ersten erwiesen, so hielten sie es auch mit den übrigen. Merkwürdig bleibt
es, daß, nachdem sich wahrscheinlich zwei Abteilungen unterwegs zu einer ver-
einigt hatten, die andern um mehrere Wochen nach dem ersten Zuge eintrafen,
denn der vierte Trupp kam erst am 17. Oktober in Schmiedeberg an und ein
einzelner Tiroler, welcher sich auf der Reise abgesondert hatte, fand sich erst
noch einen Monat später ein.
Nach der Ankunft der beiden ersten Züge fand am Sonntage darauf eine
feierliche Begrüßung der Zugewanderten in der Schmiedeberger Kirche statt.
Die beiden Prediger wandten sich in ihren Ansprachen und Gebeten sowohl
an die Tiroler, als auch an die Schlesier und ermahnten diese, den Fremden
mit Freundlichkeit und Liebe entgegenzukommen.
Die Zillerthaler. 133
Später wurde noch einmal ein kirchliches Lob- und Dankfest für die glück-
liche Ankunft der Tiroler veranstaltet. Bald nach ihrem Ankommen wurden
sie mit Bibeln und Gesangbüchern feierlich beschenkt; sie erhielten also unter
Ansprachen der Geistlichen Geschenke, die sie mit reiner und ungeheuchelter
Freude in Empfang nahmen.
Inzwischen fingen die Tiroler an sich ein wenig zu erholen und von den
Beschwerden der langen Reise auszuruhen. Ihr erstes war, daß sie sich schrift-
lich bei dem Könige bedankten, ihm ihre glückliche Ankunft mitteilten und sagten,
was sonst noch ihr Herz bewegte. „Nun schreiben wir", heißt es in dem Schrift-
stücke, „uusern schuldigsten Dank nieder, um ihn vor die Füße Sr. Majestät
hinzulegen mit Hinaufblicken und Bitten zu dem himmlischen Vater, er möchte
unsern König erhalten bei langem Leben und seine Regierung segnen und sein
ganzes königliches Haus dazu, um daß wir unter seinem Schutze ein stilles und
ehrbares Leben führen mögen. Das gute und barmherzige Vaterherz uusers
guten Königs erwecket unser aller Herzen, und versprechen wir Gehorsam und
Treue unser lebenlang. Wir wollen, soviel in unsrer Kraft steht, die Befehle
Sr. Majestät erfüllen, sowie wir es auch dem Kaiser gethan haben. Gott lohne
Ew. Majestät alles das Gute, was Sie an uns thuu; treu und redlich wollen
wir bleiben und nicht aufhören, für Sie zu beten und mit kindlichem Vertrauen
erwarten, was Se. Majestät über uns bestimmen wird."
Zugleich schickten die Zillerthaler ein Schreiben an den Kronprinzen ab,
in welchem es unter anderm heißt: „Wir bitten auch, Allerguädigster Kronprinz
und Herr, weil wir Euch auch sehr lieb gewonnen und auch all unser Ver-
trauen auf Euch setzen als unsern künftigen König, wenn Gott unsern guten
König heimrufen und das königliche Zepter in Eure Hand geben wird, was so
spät wie möglich nach seinem Gefallen geschehen möge, daß Ew. Königliche
Hoheit uns auch als Ihre Kinder erkennen und unter Ihren Schutz nehmen,
und wir wollen auch unsre Pflichten nach allen Kräften erfüllen und stets
beten für Euch und Euer ganzes Haus, sowie wir es auch jetzt mit treuem
Herzen thuu und ganz besonders am 15. an Eurem Freudentage gethan haben.
Schmiedeberg, den 18. Oktober 1837."
Bei der ersten allgemeinen Begeisterung der Tiroler blieb es natürlich
nicht; dem ersten Freudenrausche über die gute und herzliche Art der Aufnahme
folgte eine Reaktion. In manchen Stücken konnte man das Mißbehagen und
die Mißstimmung den Tirolern nicht verdenken. Mancherlei Scherereien wegen
der Pässe kamen vor; und wenn sie auch kein Unglück waren, so waren sie doch
unangenehm und führten unliebsame Verhöre herbei. Schlimmer als die Um-
stände, welche die Paßrevisiou hervorrief, war die Wohnungsnot. Das Komitee
hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den Einwanderern Unterkommen zu
verschaffen, bis für sie Häuser erbaut sein würden; aber es war nur für die
äußerste Not, nicht im geringsten für Bequemlichkeit gesorgt worden. Die ver-
mieteten Stuben waren zum Teil so überfüllt, daß sich der Arzt der Stadt ein-
mischen mußte. So lagen in einem Zimmer sechzehn Personen und nebenan in
einem Kämmerlein, das ganz klein und feucht war, ihrer sechs. Bei einem Wirte
waren in einer kleinen Stube des Hinterhauses zwölf Tiroler. Ein menschen-
freundlicher Kommerzienrat hatte in ein allerdings geräumiges Zimmer vierzig
Mann Einquartierung erhalten, so daß der Arzt erklären mußte, die Luft in
134 Das Riesengebirgc.
demselben sei des Morgens kaum zu atmen und unbedingt nachteilig. So hörte
die Arbeit des Komitees nicht ans; denn man mußte den gerechten Klagen vieler
Leute nachgeben und noch neue Wohnungen schaffen.
Noch bedenklicher als die Wohnungsnot war der Gesundheitszustand. Das
Jahr 1837 war ein Cholerajahr; die tückische Krankheit verbreitete sich in der
Umgegend. Da die Tiroler auf der Reise viel Beschwerden durchgemacht, oft in
Nässe und im Freien gelegen hatten, so war zu erwarten, daß sie für die
Krankheit besonders empfänglich sein würden; aber infolge der umfassenden
Vorsichtsmaßregeln forderte die Cholera nur fünf Opfer. Es gereichte den
Hinterbliebenen Zillerthalern zum besonderen Tröste, daß den Sterbenden ein
evangelischer Geistlicher das Abendmahl darreichen konnte. Die Toten wurden
unter allgemeiner Teilnahme der ganzen Bevölkerung bestattet.
Die Vermögensverhältnisse der Eingewanderten waren ziemlich gut bestellt.
Es gab 37 Bauernsamilien mit 201 Gliedern, die allein ein Vermögen von
ungefähr 100 000 Gulden hatten und mit 34 Pferden ankamen. Von kleinen
Hausbesitzern wurden 11 Familien und 55 Personen gezählt, die über 20 000
Gulden besaßen; fünf Familien und 30 Personen waren Acker- und Viehpächter;
die „leeren Inwohner", von denen die meisten unverheiratet waren, zählten
84 Köpfe, die einen Sparpfennig von über 18 000 Gulden mit sich führten.
Durch Vermittlung des Komitees wurde das Geld in Breslau umgewechselt
und dort zinsbar angelegt, wenn die Besitzer es wünschten; manche freilich
waren mißtrauisch und behielten ihr Geld zurück. Die Ärmeren erhielten aus
Kollekten, die zu ihrem Besten veranstaltet waren, Unterstützungen in Strümpfen,
Tüchern, Handschuhen; alle wurden verpflegt, bis sie in ihre Häuser einziehen
konnten. Der Prinz Wilhelm sandte damals auch eine Summe zur Unterstützung
der Zillerthaler nach Schmiedeberg und bezahlte die Apothekerrechnung während
der Cholera-Epidemie.
Anstrengend, ja aufreibend war die Thätigkeit des Bürgermeisters von
Schmiedeberg, denn er sollte allen Klagen abhelfen, die Wohnungen und Ställe
kontrollieren, die Polizeipflicht üben; er mußte sich mit den Wirten plagen und
die Tiroler beschwichtigen. Die größte Mannigfaltigkeit der Geschäfte, die Haupt-
sorge für die Einwanderer, die unermüdlichste Thätigkeit siel der Präsidentin
des Komitees, der Gräfin von Reden, zu; sie hatte die Leitung der kirchlichen,
Medizinal- und Schulangelegenheiten; sie bestimmte den Lehrer und sein Gehalt;
sie besprach sich mit dem Geistlichen; sie ließ nähen, stricken und stopfen für die
Bedürftigen, sie kochte für die Unverheirateten, sie schrieb unzählige Briefe in
Angelegenheiten der Zillerthaler und ließ sich keine Mühe verdrießen.
Eine tüchtige Stütze fand die Gräsin an dem aus vier Vertrauensmännern
bestehenden selbstgewählten Vorstande der kleinen Tiroler Gemeinde. Dieser Vor-
stand hatte keine geringe Aufgabe, denn er war Sprecher der Gemeinde, hatte
für Ruhe und Ordnung zu sorgen und mußte alles zum besten kehren. Der
bibelfeste Fleidl that auch hier im Vorstande das meiste; er traf stets das rechte
Wort zur rechten Zeit; als Junggeselle war er aus seiner Heimat ausgezogen,
in Schmiedeberg verlobte er sich mit einer Zillerthalerin und bezog sein neues
Heim mit seinem jungen Weibe.
Was den Zillerthalern ganz besondere Freude bereitete und eine gewaltige
Anziehungskrast auf sie alle ausübte, das waren die Abendandachten in dem
Die Zillerthaler. 135
nahen Fischbach. Hier in der Schule vereinte sie der Pfarrer dreimal wöchent-
lich von 5—7 Uhr abends, um mit ihnen zu beten und über die wichtigsten
Heilsfragen zu beraten.
Auch andre Besucher wurden gern gesehen; die Familie des Prinzen Wilhelm,
die oft in Fischbach weilte, nahm zuweilen an diesen abendlichen Betstunden teil
und vereinte ihre Gebete mit denen der schlichten Tiroler.
Was den Leuten so sehr fehlte, war Schulbildung und ein regelmäßiger
Religionsunterricht; denn die Ansichten der Tiroler waren noch vielfach mit
katholischen Anschauungen durchmischt. Der Lehrer hatte keine kleine Aufgabe;
denn er hatte in den Vormittagsstunden ungefähr 80 Kinder unter 15 Jahren zu
unterrichten; nachmittags kamen die fchon Erwachsenen, die sich noch im Lesen,
Schreiben, Rechnen, Singen und in der biblischen Geschichte unterweisen lassen
wollten, und das waren ungefähr 90 an der Zahl. Ein Schulgebäude wurde
für sie in Schmiedeberg erbaut. Der Prediger erteilte den Religionsunterricht
und hatte seine andächtigen Zuhörer bald so weit gefördert, daß sie am 12. No-
vember — es war für die Zillerthaler der höchste Festtag — in die Landeskirche
als wirkliche Glieder aufgenommen werden konnten. Der Prinz Wilhelm mit
den Seinigen war bei dieser Feier zugegen; Fleidl sprach im Namen aller um
den Altar stehenden Zillerthaler das Glaubensbekenntnis, die Erwachsenen
empfingen das Abendmahl nach evangelischem Ritus.
Die Schule und die Katechismusstunden hatten viele vollauf beschäftigt,
so daß sie kaum über Mangel an Arbeit, über Müßiggang klagen konnten.
Recht viele aber vermißten eine geregelte und körperanstrengende Tätigkeit leb-
Haft; sie kannten den* Segen der Arbeit zu gut, um ihn entbehren zu wollen.
Diese nun suchten Arbeit zu bekommen und fanden sie als Steinbrecher in Stein-
brüchen, als Holzfäller in Forsten, als Erdarbeiter, Maurer und Zimmerleute;
und als erst die Anlage der eigentlichen Kolonie im Gange war, konnten viele
willige Hände beschäftigt werden und sich zu eignem Besten in mehrfacher Hin-
ficht nützlich machen. Wundern dürfen wir uns nicht, daß es unter den An-
kömmlingen auch Müßiggänger gab, die Fleidl selbst räudige Schafe nennt,
denen es gefiel, sich von andern speisen und tränken und andre für sich sorgen
und mühen zu lassen, die dann auch mißmutig wurden, über alles mäkelten und
zuweilen in ihrer Trägheit meinten, es wäre doch besser gewesen, wenn sie in
ihrer Heimat geblieben wären. Solchen Leuten wurde auch die Möglichkeit zu
einer Rückkehr freigegeben, und bei dieser beruhigten sie sich. Die meisten fühlten
sich, gehoben durch die allseitig entgegenkommende Liebe, in ihrem neuen Vater-
lande wirklich glücklich.
Über die Ausmittelung einer zur endgültigen Niederlassung der Tiroler
geeigneten Gegend sind große Aktenstöße geschrieben worden; denn bald stieß man
auf dieses, bald auf jenes Hindernis, besonders da die Einwanderer möglichst
zusammenbleiben wollten. Schließlich wurden verschiedene Strecken auf dem
Dominium Erdmannsdorf, verschiedene Bauernstellen in und um Erdmanns-
dorf und von Seidorf als wünschenswerteste Erwerbung angesehen; es wurden
ungefähr 1550 Morgen Acker-, Wiesen- und Waldland erworben, wobei die
Regierung zum Ankauf des Grundes und Bodens 18 500 Thaler zusteuerte.
Der Kauf scheint glatt und leicht vor sich gegangen zu sein, und schon am
4. Juli 1838 konnte die Vermessung und Verteilung der bezüglichen Grundstücke
I
136 Das Riesengebirge.
auf der Feldmark Erdmannsdorf zu allgemeiner Zufriedenheit als beendet an-
gesehen werden. Schnell wurden die einzelnen Strecken abgesteckt, die Grenz-
steine verteilt, die Wege verzeichnet, die Gemeindewiese bestimmt. So hatte denn
jeder eine kleine Scholle Landes, die er sein eigen, seine engere Heimat nennen
konnte. Alsbald ging es an den Häuserbau; um den Bau von 64 Häusern wurde
petitioniert. Baumeister und Techniker entwarfen Pläne, die geprüft und be-
gutachtet wurden. Nachdem dieselben genehmigt waren, wurde die Arbeit
begonnen. Fleidl mußte die Wünsche seiner Genossen erforschen, wie sie ihre
Stuben und Kammern und Stallungen nach Länge, Breite und Höhe eingerichtet
zu haben wünschten. Das war nun ein Fahren und Graben und Klopfen und
Hämmern bei Tag und bei Nacht. 421 Zimmerleute, 187 Maurer arbeiteten
täglich, und unter diesen Arbeitern waren viele Tiroler. Der festgesetzte Termin
— am 1. Oktober sollten die Häuser fertig sein — konnte trotz allen Fleißes
nicht inne gehalten werden; am 6. November 1838 wurde das erste Gebäude
bezogen; bis zum letzten November standen wenigstens 45 Häuser beziehbar da.
Es mußte noch den ganzen Winter gearbeitet werden, da die anfangs festgesetzte
Zahl der Häuser nicht genügte. Den neuen Besitzern wurde die Pflicht auf-
erlegt, während der ersten zwanzig Jahre nur wieder an Tiroler zu verkaufen.
Es waren im ganzen ungefähr 141500 Thaler Verpslegungs- und Baugelder
von der Regierung gezahlt worden.
So entstand um Erdmannsdorf eine neue Kolonie, die aus drei einzelnen
Teilen besteht und den gemeinsamen Namen Zillerthal führt. Das Zentrum der
Kolonie heißt Mittel-Zillerthal (1374: 32 Häuser mit 436 Bewohnern), zu
Erdmannsdorf gehört Nieder-Zillerthal (11 Häuser mit 63 Bewohnern), zu
Seidorf Hohen-Zillerthal (7 Häuser mit 51 Bewohnern). Die Tirolerhäuser
liegen mitten im Besitze, sind umgeben von den zugehörigen Feldereien und
Gärten. Wohnung, Stallung und Scheune sind zu einem großen Gebäude ver-
einigt. Das erste Haus am Eingange des Dorfes trägt die Inschrift an der
Galerie: „Gott segne den König Friedrich Wilhelm III." In ihrem hübschen
Heim begannen die Zillerthaler, sobald sie sich eingelebt hatten, frisch und rührig zu
schaffen und zu arbeiten. Es fehlte ihnen hierzu weder an Lust, noch an Geschick,
noch auch an den nötigen Mitteln; einige befaßten sich mit der Gärtnerei, andre
legten sich auf die Milchwirtschaft, die bald eine gewisse Berühmtheit erlangte.
Viele Sitten aus Tirol haben die schleichen Zillerthaler beibehalten. Tracht,
Sitten und Spracheigentümlichkeiten haben sich auch auf die in Preußen geborene
Generation fortgeerbt. Die großen Filzhüte mit den goldenen Troddeln werden
noch immer direkt aus Tirol bezogen. Die Männer haben die graue Jacke mit
grüner Paspelschnur, die roten breiten Hosenträger und den breiten Leibgürtel
behalten; die kurzen Beinkleider gaben sie in dem kälteren Norden bald auf.
Die Frauen haben schon meist die heimatliche Tracht abgelegt und sie mit der
ihrer Nachbarinnen vertauscht; nur bei besonderen Gelegenheiten werden noch
die kurzen Kleider mit dem schwarzen Samtmieder wieder hervorgeholt. Noch
laden zu Hochzeiten die Hochzeitbitter in nationaler Tirolertracht die Gäste zu-
sammen; zahlreich, oft mit Musik, lenkt der festliche Zug in die Kirche. Dann
läßt sich wohl auch noch das allbekannte Jodeln hören. Die Toten werden,
ganz gegen die Sitte uusrer Landleute, mit möglichst geringem Aufwand be-
stattet. Am Sonntag wird mit Rücksicht auf die Hausfrau und das Gesinde,
Die Zillerthaler. 137
damit sie den Feiertag nicht entheiligen, nicht besser gekocht als an den Wochen-
tagen; den Genuß festtäglicher Speisen verlegen sie lieber auf den Sonnabend.
Die Befriedigung ihrer Gesangeslust ist ihre beste Erholung immer geblieben;
Schnaderhüpfel und Jodellieder sind ihnen vertraut und lieb.
Da die Tiroler keine eigne Kirche haben, so liegt der Schwerpunkt des
ganzen Kolonie- und Gemeindelebens in der Schule. Hier finden auch die Ver-
sammlungen und Beratungen der Zillerthaler statt. Hier hängt ein Bild
Friedrich Wilhelms III., hier das Bild Fleidls, hier das Bild eines Jünglings
aus dem Dorfe in Tirolertracht, des Johannes Hirner, der am I.September 1370
durch einen Schuß ins linke Auge in der Schlacht bei Sedan fiel.
Wenn die Tiroler auch in der ersten Zeit ihrer Ansiedelung an Heimweh
nach dem schöneren Süden zu leiden gehabt haben, so haben sie es doch redlich
niedergekämpft; manche sind noch einmal zum Besuch „hinauf" gegangen, haben
mit ihren Eltern, Kindern, Geschwistern, Verwandten und Freunden wieder
Gruß um Gruß getauscht und sind beruhigt gern zurückgekommen; einer, dessen
Sohn katholischer Priestet geworden war, ist auf Bitten und Drängen seiner
Familie ganz in die alte Heimat und Kirche zurückgekehrt. Wer sonst nach
Tirol zum Besuch ging, kam wieder; denn es zog ihn nach Schlesien, nach dem
neuen Zillerthal. Im Laufe der Zeit find die Tiroler stolz auf ihr neues Vater-
land geworden, denn Vaterlandsliebe ist ein bedeutsamer Zug ihres Wesens.
Schmiedeberg. Die Schmiedeberger haben wir schon als Freunde und
Wirte der Zillerthaler kennen gelernt und wissen auch, daß in ihrer Stadt vor-
zügliche Teppiche fabriziert werden. Die Stadt hat 4350 Einwohner und liegt
an der Eglitz, die in die Lomnitz, einen Nebenfluß des Bober, fließt; sie hat
offenbar ihren Namen von dem Bergbau und Hüttenbetrieb, der in alten Zeiten
viele ihrer Einwohner nährte. Schon im Jahre 1148 soll es hier Eisenberg-
werke gegeben haben. Die St. Annenkirche daselbst soll schon im Jahre 1312
errichtet und eingeweiht worden sein. Zu jener Zeit lebte nämlich in dem damals
noch sehr kleinen Orte Schmiedeberg, der noch keine Stadtrechte hatte, ein
reicher, aber hartherziger Mann, der eine Tochter Anna hatte. Diese Anna
war ein hübsches Mädchen, das viele Freier hatte; aber es gefiel ihr von
allen jungen Männern am besten ein armer Schmiedeknappe, den aber ihr
Vater nicht als Schwiegersohn haben wollte. Der finstere Mann wollte nur
einen reichen Schwiegersohn und verbot deshalb dem armen Jüngling sein Haus.
Anna betete inbrünstig zu ihrer Schutzheiligen, sie möchte ihr Hilfe und Rettung
schaffen. Da sah sie einst die Heilige im Traume und hörte sie sagen: „Stehe
auf und nimm den Hammer deines Geliebten und gehe mit ihm in die Berge
den Grund entlang; und wo der Hammer zur Erde fallen wird, da wird er
sich in Gold verwandeln. Als sich diese Erscheinung dreimal in drei aufeinander-
folgenden Nächten wiederholt hatte, schenkte sie ihr Glauben, stand mit der
Sonne auf, rief ihren Geliebten, forderte ihn auf, feinen Schmiedehammer zu
nehmen, und ging mit ihm in die Berge. Die Jungfrau trug den großen Hammer.
Als sie aber eine Strecke gegangen war, wurde ihr die Last so schwer, daß sie
dieselbe fallen ließ; doch der Hammer blieb Eisen. Als der Jüngling aber das
Gestein näher untersuchte, fand er so gewaltige Eisensteine, daß er sich eine
reiche Ausbeute versprach. Die Bergleute gruben an der bezeichneten Stelle
und fanden eine gute Ader, so daß die Grube bald die reichhaltigste in der
188
Das Riesengebirge.
ganzen Gegend wurde und das beste Eisen gab. Der Knappe wurde Herr der
Grube, und so verwandelte sich das E.isen in Gold, und er wurde ein reicher
Mann und freite nun mit besserem Erfolg um seine Anna, die nach ihrer Ver-
heiratung ihrer Schutzpatronin das Kirchlein gründete, das heute noch steht.
So erzählt die Sage, aber von der ergiebigen Eisengrube weiß die Geschichte
nichts. Im Jahre 1513 erhielt Schmiedeberg durch Vermittelung seines da-
maligen Besitzers, des Grafen Gotsche Schaff, von der böhmischen Krone Stadt-
rechte. Im Jahre 1802 richtete ein großer Wolkenbruch viel Schaden an und
raubte dabei auch Haus und Garten des aus Wildgutach im Breisgau einge-
wanderten Schwarzwälders Faller, der die Wanduhrenfabrikation seiner Heimat
mit vielem Glück hierher verpflanzt hatte. Dieses Unglück brachte nicht nur dem
blühenden Unternehmen einen schnellen Untergang, sondern auch dem Manne einen
frühzeitigen Tod und dem einträglichen Industriezweige ein unerwartetes Ende.
Hörnerschlittenfahrt. Ein eigentümliches Wintervergnügen der Be-
wohner von Städten um und im Riesengebirge ist eine Hörnerschlittenfahrt. Solche
Partien werden von der Peterbaude nach Agnetendorf und Hermsdorf unter
dem Kyuast, auch vom Kynast nach Hermsdorf, zumeist aber von den Grenz-
bauden nach Schmiedeberg unternommen. Wenn der zu einer Schlittenfahrt
nötige Schnee gefallen ist, machen sich an sonnigen Wintertagen die Schmiede-
berger auf zu einer rechten Winterfreude. Langsam fahren sie in kleinen Schlitten,
die nur von einem, meist recht unansehnlichen, aber zuverlässigen Pferdchen ge-
zogen werden, hinauf zu den Grenzbauden. Die Schlitten sind so eingerichtet,
daß meist nur zwei Personen in einem Platz finden, diese aber rückwärts sitzen
und auf diese Weise stets in das prachtvolle Thal hinabblicken können. Die Auf-
fahrt dauert gewöhnlich zwei Stunden. Dieselbe besingt Ohrenberg in einem
Gedichte mit folgenden Strophen:
„Beständig liegt zu unfern Füßen Wie weißes, fleckenloses Linnen
Aus jedem rauchgeschwärzten Schornstein Durch schmale, dickvcrschneite Schluchten
Ein blaues Wölkchen kräuselnd schwebt; Die Karawane aufwärts klimmt;
Endlich ist man in den Bauden angekommen. Bei „Hübner", dessen Ruf
schon über 60 Jahre alt ist, denn er hat sich vom Vater auf den Sohn ver-
erbt, wird Halt gemacht. Im warmen Stübchen wird Kaffee getrunken; dann
erhöht der feurige Ungarwein die Lebenslust, dann schwingen sich die Paare
nach dem Takte der Musik in der Runde.
„Fort die Tische, weg die Flaschen! Musikanten, greift zur Fiedel,
Wollen in dem Tanz, dem raschen, Spielt ein keck' Zigeunerliedel.
Kosten ganz den flüchtigen Traum! Für die Tänzer gebet Raum!"
Doch die Wintertage sind kurz; dem Vergnügen wird ein Ende gemacht,
man rüstet sich zur Hinabfahrt. Damen und Herren hüllen sich fest in Pelze
und Muffen und Überzieher und steigen in die bereit gehaltenen Hörnerschlitten.
Diese Schlitten haben ihren Namen daher, daß ihre Kufen, die wie gesagt nur
Ein anmutvolles Bild entrollt;
Die schneebegrab'nen Hütten grüßeu
Mit hellen Fenstern, rot wie Gold.
Sind rings die Fluren ausgespannt,
Und Sonntagsfrühe liegt gebreitet
Auf meinem lieben Schlesierland.
Mich heimelt an der tiefe Frieden,
In dem ein glücklich Völkchen lebt.
Von mancher sangeslust'gen Kehle
Wird schon ein Liedchen angestimmt.
Hörnerschlittenfahrt. 139
eine ober zwei Personen fassen, in gewaltige, gebogene Hörner auslausen, an
denen der Führer die Niedersahrt leitet. Es wird also kein Pferd- vor den
Schlitten gespannt, sondern der Führer setzt sich auf den Schlitten zwischen die
beiden nach oben gebogenen Kufenenden, ergreift dieselben und lenkt so zugleich
mit seinen Füßen das Gefährt, das sich erst langsam in Bewegung setzt, dann
sanft hinabgleitet, schneller geht, eilt, schießt, ja fast fliegt. In 15—20 Minuten
ist man wieder in dem stundenweit entfernten Schmiedeberg angelangt.
Hörncrschlittenfahrt.
„Das ist ein Gleiten, lustig Schweben,
Das ist fürwahr die wilde Jagd,
Wobei erhöht die Nerven beben?
Hinab, hinab! Mit tollem Sausen
Die schwarze Kette thalwärts fegt:
Verbanne jedes leise Grausen,
Der kleine Schlitten sicher trägt."
Ein sehr beliebter Spaziergang von Schmiedeberg aus ist der nach den-
Friesensteinen, drei Granitmassen, die wie aufgemauert auf dem Bergrücken
140 Das Riesengebirge.
emporsteigen. Von hier aus genießt man, da der Berg oben abgeholzt ist,
nicht nur eine imposante Aussicht nach dem Hauptkamme des Riesengebirges hin,
sondern man überblickt auch die schönen Thäler von Landeshut und Schmiedeberg.
Fischbach. Unweit Schmiedeberg liegt das Dorf und Schloß Buchwald,
der altersgraue Stammsitz der Grafen von Reden, jetzt Eigentum des Freiherrn
von Rothenhan. Von hier aus lenkte die Gräfin von Reden die Angelegen-
heiten der Zillerthaler. Hier lebte sie in ihrem Schlosse, das in einem stillen
Thalkessel liegt, in welchem viele Teiche zwischen Wiesen, Fluren und Hügeln
hervorschimmern. Die ganze Gegend ist durch d^n Minister Graf Reden
(gest. 1815) in einen großartigen Park umgewandelt worden, welcher aus allen
Höhen und Aussichtspunkten den Blick zu den nahen und fernen Umgebungen
durchläßt. In des Großteiches Silberfluten spiegeln sich die herrlichsten Eichen,
Fichten, Trauerweiden und andre hochstämmige Bäume, sowie das Schloß und
das majestätische Gebirge. Auf wohlgepflegten Gartenwegen gelangt man bald
am Gewässer, bald an blumigen Matten, bald an Baumpartien vorüber zu der
vom Waldesdunkel überragten Abtei. Am Fuße des Hügels steht ein Brunnen-
aufsatz, der alte, schöne Steinarbeit zeigt und einst im Schloßhofe von Fischbach
stand. Südlich von der Abtei erhebt sich am Waldessaume ein hervorspringender
Fels, von dem aus man einerseits das Eglitzthal, anderseits die Schneekoppe
und den entfernten Kynast erblickt. In 11/2 Stunde gelangt man von Buchwald
nach Fischbach, das in einem Thalkessel liegt am Fuße des sich 669 in ü. d. M.
erhebenden Zwillingspaares der Falkensteine. Die gesunde, vor scharfen Winden
geschützte Lage, die Nähe der Berge und die romantische Gegend haben das
Dorf in den letzten Jahren zu einem fehr besuchten Sommeraufenthaltsort der
Großstädter gemacht, infolge dessen sein Äußeres durch Neubauten, Villen und
Gartenanlagen sehr verschönert ist; der fruchtbare Ackerboden, der Reichtum an
fetten Wiesen begünstigen den Ackerbau und die Viehzucht (1871: 204 Häuser
mit 1100 Einwohnern). Das Schloß gehört den Erben des im Jahre 1851
gestorbenen Prinzen Wilhelm von Preußen, des Bruders von König Friedrich
Wilhelm III., der es 1822 gekauft und ihm 1846 seine gegenwärtige Gestalt
gegeben hat. Am Eingange sind zwei je 2 m lange Kanonen auf hohen Rädern
aufgestellt, an denen eine vergoldete Jnfchriftentafel meldet, daß sie dem Prinzen
Waldemar von den Engländern in dankbarer Anerkennung seiner Teilnahme
am Kampfe gegen die Sikhs in Ostindien im Jahre 1845 verehrt wurden.
Das Innere des Schlosses ist un Kunstschätzen reich, unter denen mehrere Holz-
und Elfenbeinschnitzereien, Glasmalereien, Marmorbüsten, Ölgemälde zu er-
wähnen sind. In der Nähe des Ortes liegen die beiden Falkensteine, die aus
Granit bestehen; der südliche der beiden Steine trug zuerst die Burg Falken-
stein, die schon 1458 zerstört wurde. Der Prinz Wilhelm ließ den Stein im
Jahre 1823 bis aus die höchste Felsspitze durch einen Fußweg zugänglich machen.
Oben findet man noch ein Stück Mauer, den einzigen Rest der Burg. Die
nur wenige Quadratfuß große Oberfläche des höchsten Felsens, der überall
senkrecht abfällt, ist mit einem schützenden Holzgeländer umgeben. In der Mitte
findet sich tief in den Felfen eingelassen ein kolossales gußeisernes Kreuz mit der
Inschrift: „Des Kreuzes Segen über Wilhelm, die Seinen und das ganze Thal."
Fischbach.
141
Im Südosten der Falkensteine erhebt sich der Kittnerberg, in dem nach
alter Sage ein goldener Esel liegt, der so großen Goldeswert hat,'daß von
diesem Schatze Fischbach zu einer Stadt umgewandelt werden kann, wenn er
einstmals aufgefunden wird. Wer den Esel findet, der wird nach dieser Sage
die Stadt gründen und der erste Bürgermeister in derselben sein.
Schloß Fischbach.
Wer den Weg nach dem Kreuze auf dem Falkensteine verfolgt, muß vor-
übergehen bei dem Prinzesfinstühl, einem in den Fels eingehauenen Sitz, von
welchem sich die Leute folgende Sage erzählen: In dem Boberthale weidete
täglich ein junger Hirt feine Herde und blieb im freien Felde von Sonnenauf-
bis Sonnenuntergang. Als er einst seiner weidenden Herde folgte, kam er bis
zu dem Fuße des Berges, auf welchem die Ruinen der alten Burg standen.
Der Fuß war von dichtem Walde umgeben. In das Dickicht führte ein wenig be-
tretener und deshalb kaum bemerkbarer Weg. Der Hirt war neugierig und ging
dem Wege nach bis in die tiefste Waldesnacht, ohne an seine Herde zu denken.
Es wurde so finster, daß er fast nichts mehr sehen konnte und sich mit dem Stabe
forttappeu mußte. Plötzlich wurde es hell, der Wald öffnete sich: er stand vor
einem reizenden, in frischem Frühlingsgrün prangenden Thale. Als er hinauf
schaute zur Höhe des Falkensteins, sah er eine schöne Jungfrau mit blonden
Locken auf einer schroffen Felswand sitzen und von einem silberweißen Rocken
spinnen. Diese sah von der Höhe mit freundlichem Blicke auf den Schäfer
herab; aber als es 12 Uhr im nahen Dörfchen schlug, war sie verschwunden.
142 Das Riesengebirge.
Sange noch schaute der Hirt nach dem Orte hin, wo die Holde gesessen hatte,
und erst als es Abend wurde, kehrte er zu seiner Herde zurück. Am andern
Tage hatte er kaum die Herde ausgetrieben, als er auch wieder in das Dickicht
eindrang und nicht ruhte, bis er die Jungfrau erblickte, die wieder um 12 Uhr
verschwand. Von nun an ergötzte sich der Hirt täglich durch den Anblick der
schönen Gestalt. Endlich kam der Johannistag heran. Da schwebte die Jung-
frau zu dem Jüngling hernieder und sagte: „Ich heiße Hildegard und war
einst Herrin der Burg Falkenstein, deren Trümmer du vor dir siehst. Viele
Ritter warben um meine Hand; aber ich wies sie von mir, weil ich nur einen
Fürsten heiraten wollte, da ich selbst aus dem Piastischen Königshause entsprossen
bin. Nun hatte auch der Ruf von meiner Schönheit einen morgenländischen
Prinzen nach Falkenstein geführt, der mir aber nicht gefiel und den ich deshalb
auch abwies. Schrecklich rächte sich der Fürst für meinen Stolz; er verband
sich mit Zauberern, zerstörte meine schöne Burg und verbannte mich in eine
öde, finstere Höhle, die ich nur zur Frühlingszeit verlassen darf, um auf diesem
schroffen Felsen mein Unglück zu beweinen. Wenn du Mut hast, mir in mein
Gefängnis zu folgen durch die Pforte, die dem gewöhnlichen Menschenauge
verborgen ist, und mich rettest, so sollen dich meine Liebe und unermeßliche
Schätze lohnen." So sprach sie und verschwand. Der Schäfer sah zur Erde
nieder, erblickte einen blitzenden Dolch, ergriff ihn und eilte hastig durch die
Waldschlucht, wo die Jungfrau ihm den Eingang zur Höhle bezeichnet hatte.
Er fand die Höhle und drang mutig hinein; banger Schauer überfiel ihn, denn
Blitze zuckten, Donner rollten, Ungeheuer züngelten um ihn her und drohten
ihn zu verschlingen. „Hildegard, ich kann dich nicht erretten", rief er, als ihn
der Mut völlig verließ. Da verschwand plötzlich der ganze Geisterspuk, Hildegard
stand in der Mitte der Grotte nnd sprach mit sanfter, wehmütiger Stimme:
„Du siehst mich nie wieder, auch kein andrer Mensch sieht mich für die Zukunft;
denn Menschenkraft kann meinen Zauber nicht lösen. Erst wenn auf dem
Falkensteine eine Fahne die Gegenwart eines Fürsten verkündet, der die Fesseln
gebrochen und Schlesien die alte Freiheit wiedergegeben hat, werde ich befreit
sein." Nachdem sie also gesprochen hatte, zerfloß sie in Nebel; der Hirt aber
kehrte traurig zurück, um seine Herde zu suchen, die er jedoch nicht fand. Von
Stunde an siechte er dahin, und am Morgen des nächsten Johannistages fand
man ihn am Fuße des Falkensteins sanft entschlafen.
Kirche Wang. Die Gräfin von Reden ist die Veranlafferin gewesen,
daß das als Kirche Wang bekannte Gotteshaus in dem Baudendorfe Brücken-
berg erbaut wurde. Wer von Schmiedeberg oder auch von Warmbrunn aus
nach dem hohen, weithin zerstreuten Gebirgsdorfe Krummhübel (1876: 109
Häuser mit 604 Bewohnern) seine Schritte gelenkt und dort vielleicht an den
sich vereinenden Bächen der Lomnitz in den Sommermonaten Ruhe und Er-
quickung gesucht und gewiß auch gefunden hat — denn herrliche Naturgeuüffe
bietet dieses Stückcheu Erde — der ist auch öfter in kühler Abendstunde hinauf-
gewandert zu dem Gotteshause, dessen goldene Kreuze ihm zuwinkten. Es er-
hebt sich auf einem von weißen Mauern eingefaßten Plateau, welches mit
Rasenplätzen, Zierpflanzen und einer Fontaine geschmückt ist und einen schönen
Blick auf das wie auf grüner Schweizermatte liegende Baudendorf Brückenberg
Kirche Wang. 143
(42 Häuser mit 243 Bewohnern), dessen kindliche Generation hierher zur Schule
empor steigt, auf einen Teil von Krummhübel, in entgegengesetzter'Richtung
auf die Schneekoppe und einen großen Abschnitt des Riesenkammes gewährt.
Wenn wir die herrliche Aussicht genossen haben, nimmt das seltsame Bauwerk
unser ganzes Interesse in Anspruch. Das ist doch ein auffallend andrer Stil
als derjenige der umliegenden Kirchen. Wir werden hier in ähnlicher Weise
wie im nahen Zillerthale wieder, so zu sagen, in eine andre Welt versetzt.
Die Mitteilung des Reisebuches oder des Führers, daß wir hier eine nor-
wegische Kirche haben, die in ihren Hauptbestandteilen aus dem 12. Jahrhundert
stammt, genügt uns nicht; die Kirche wird uns nun freilich noch interessanter,
und wir gewöhnen uns fast schon, sie als eine ehrwürdige Reliquie zu betrachten.
Um das Jahr 1000 wurde durch Olaf I. in Norwegen die Religion des
Friedens und der Liebe den Bewohnern durch recht grausame Mittel aufgezwungen.
Durch Verrat der Dä-
nen und Schweden bei
Wollin in Pommern
überfallen, verlor dieser
Fürst im Alter von 30
Jahren das Leben, und
sein Land wurde durch
Statthalter verwaltet.
Erst unter Olaf IL, dem
Heiligen, gelangte das
Christentum in Nor-
wegen zur Herrfchaft.
Aber er machte sich
durch Grausamkeit die
kleineren Häuptlinge zu
Feinden, und es wurde
Knut, dem Mächtigen,
von Dänemark und Eng-
land leicht möglich, viele der Großen durch Bestechung auf seine Seite zu
bringen. Olaf floh nach Schweden und Rußland; als er von dort mit einem
Heere wieder zurückkehrte, trat ihm bei Drontheim eine Schar bewaffneter
Bauern entgegen, und er fiel 35 Jahre alt im Juli 1033. Aber mit dem
Hasse gegen die ausländische Herrschaft erwachte in den Normannen schon im
nächsten Jahre das Gefühl für Olaf; er wurde für heilig erklärt, als Schutz-
heiliger Norwegens angerufen und nach einem Jahrhundert von allen Völkern
des Nordens verehrt. Dem Andenken des heiligen Olaf wurden in Norwegen
viele Kirchen geweiht, und unter diesen wahrscheinlich auch die in der Pfarrei
Wang am Wangerfee im 12. Jahrhundert.
Lübke beschreibt solche alte Kirchen Norwegens mit folgenden Worten:
„Sie sind zum Teil nach Art der Blockhäuser aus horizontal ausgeschichteten,
an den Enden sich überschneidenden Baumstämmen erbaut. Die Fugen sind mit
Moos ausgestopft, die Bäume an manchen Kirchen mit Brettern und die Bretter-
fugen mit schmaleren Latten benagelt. Andre dieser Bauten, die man Reis-
werkkirchen nennt, sind aus aufrechtstehenden Bohlen zusammengefügt. Die Dächer
144 Das Riesengebirge.
und Türme sind mit Brettern oder auch mit Schindeln, Ziegeln oder großen
Schieferplatten, die hier bis zu 4 in Länge gebrochen werden, bekleidet. Die
Anlage dieser Kirchen bildet dem Kerne nach ein dem Quadrat sich näherndes
Rechteck, welches auf drei Seiten von niedrigen Umgängen eingeschlossen wird,
während nach Osten eine Vorlage für den Chor sich anfügt. Bisweilen treten
auch nach beiden Seiten Anbauten heraus, so daß der Grundriß eine Kreuz-
gestalt gewinnt. Schlanke Säulen aus Baumstämmen, die das Mittelschiff von
seinen Abseiten trennen, tragen auf Rundbogen die Oberwand. Selbst die
Orgeln sind mit allen ihren Pfeifen aus Holz gefertigt. Niedrige „Laufgänge",
die den ganzen Bau umziehen, bilden eine bergende Vorhalle und halten den
Schnee und die Winterkälte von den untern Teilen des Gebäudes ab."
Zur Klaffe der Reiswerkkirchen gehörte die Kirche zu Wang. Sie war
für die volkreiche Gemeinde zu klein geworden und sollte 1342 abgebrochen
werden, um einem Neubau Platz zu machen. Auf das merkwürdige Bauwerk
war König Friedrich Wilhelm IV. aufmerksam geworden, und zwar begnügte
er sich nicht damit, die Holzschnitzarbeiten in irgend einem Museum oder einer
Antiquitäteusammlung unterzubringen, sondern er dachte an eine Überführung
und Wiederherstellung der Kirche in einem Landesteile seiner Monarchie. Nach-
dem er „das alte Brennholz" für 80 (nach andern Mitteilungen für 50) Thaler
erstanden hatte, erhielt der Architekt Schieritz den Auftrag, das Gebäude genau
abzuzeichnen und dann Abbruch und Transport zu veranlassen und zu überwachen.
Daß die Kirche in Brückenberg aufgestellt wurde, veranlaßte die Gräfin
von Reden. Sie, die immer bereit war zu Werken der Wohlthätigkeit, der
Armen- und Krankenpflege, der Förderung von Frömmigkeit und Sittlichkeit,
machte den König darauf aufmerksam, daß das Baudendorf Brückenberg schon
seit 1734 die Erlaubnis zur Erbauung einer evangelischen Kirche hatte, den
Bau derselben aber aus eignen Mitteln noch nicht hatte bestreiten können. Sie
wies darauf hin, daß die Bewohner der Gebirgsbaudeu fast 300 m in das Thal
hinabsteigen müßten, um die Kirche zu besuchen, und daß dies im Winter für
dieselben oft gar nicht möglich sei. Der König erkannte das dringende Be-
dürsnis an; der Reichsgraf Schaffgotfch, ein Katholik, gab den Platz, und der
Baumeister Hamann wurde mit der Ausführung des Baues beauftragt. Am
10. März 1842 wurde das erste Bauholz zur Kirche gefällt und die vorläufig
im Berliner Museum aufbewahrten alten Baustücke der norwegischen Kirche
nach Brückenberg übergeführt. Am 30. Mai wurde der Bauplatz abgesteckt
und am 2. Juni begannen die Erdarbeiten. Schon am 2. August erfolgte in
Gegenwart des Königs die feierliche Grundsteinlegung, bei welcher der Ober-
konsistorialrat vr. Strauß eine ergreifende Rede hielt über Haggai 1,8: „Gehet
hin auf das Gebirge und holet Holz und bauet das Haus, das soll mir
angenehm sein und will meine Ehre erzeigen, spricht der Herr."
Am 15. Oktober 1843 wurde das Kreuz auf den Glockenturm, der allein
steht und nur durch einen Säulengang mit der Kirche verbunden ist, und die
Wetterfahne auf den Kirchturm gesetzt. Noch vor dem Einbruch des Winters
kamen die Psarr- und Kantoratsgebäude unter Dach; das Kirchen- und Turm-
dach wurde mit Schiefer gedeckt. Am 2. März 1844 ging man an den innern
Ausbau der Kirche. Am 18. Mai wurden die drei Glocken aufgehäugt, zwei
auf dem Glockenturme, eine auf dem Kirchturme.
- ■ 1/
J:
Kirche Wang. 145
Das Schnitzwerk am Haupteingang, an den andern Thüren und die vier
Hauptsäulen stammen aus der alten Kirche; die Säulen in der Nähe der Kanzel,
das aus Eichenholz gefertigte Altarkreuz mit dem Gekreuzigten, den verschiedenen
Attributen der vier Evangelisten und seinen Ähren und Reben (Brot und Wein
des heiligen Abendmahles bedeutend) ist eine Arbeit des Holzschnitzers Jacob aus
Jannowitz. Die Kanzel enthält das Holz der alten Kirche, ebenso ein großer
Teil der Säulen und der innern Bekleidung, endlich das meiste in künstlichen
Verschlingungen sich bäumender Schlangen und Drachen bestehende Schnitzwerk.
Das allzu altersschwache Material wurde durch neues, das geschickt den vor-
handenen Modellen nachgearbeitet wurde, ersetzt und ist täuschend ähnlich; nur
die altersschwarze Farbe war durch kein noch so gründliches Beizen herzustellen.
Der Altar, zu dessen beiden Seiten Kandelaber prangen, steht srei in dem halb-
kreisförmigen Räume, wie ihn die den ältesten christlichen Kirchen entsprechend
angelegten Kirchen, z. B. die Friedenskirche in Potsdam, zeigen.
Die Kirche mit dem Lop- oder Laufgang hat 174 größere und kleinere
Fenster. In der Sakristei blicken uns die Statuen Luthers, Melanchthons und
des Kurfürsten Friedrich des Weisen entgegen; ebenso eine in Holz gefertigte
plastische Darstellung der Aufhebung und Wegführung Luthers zur Wartburg
am 4. Mai 1521 bei Altenstein. Aus dem Holz der Lutherbuche, von welcher
ein Stück auch auf dem Lutherzimmer der Wartburg gezeigt wird, sind jene
vier Bildwerke geschnitzt und von Friedrich Wilhelm IV. der Kirche geschenkt.
Zu Anfang Juli 1844 war die Kirche nebst Turm, Pfarr- und Kantorhaus
und Wirtschaftsgebäude fertig, am 28. Juli wurde sie eingeweiht. Nicht in der
Kirche Wang bei Brückenberg, sondern im Berliner Museum haben Aufnahme
gefunden die Gemälde, welche in der alten Kirche im Gewölbe des Chores
angebracht waren. In schwarzen Umrissen, grob gemalt, stellt das eine den
Heiland als den Weltrichter dar, umgeben von Engeln und Kirchenlehrern; ein
andres die Fußwaschung und das heilige Abendmahl; ein drittes die Kreuzigung;
das vierte zeigt uns Krieger, die einen Ungläubigen, dem ein Mühlstein an den
Hals gebunden ist, ins Meer werfen.
Unweit der Kirche, an der westlich aufsteigenden Bergwand setzte Friedrich
Wilhelm IV. der Grüsin von Reden ein Denkmal, das aus zwei ein Frontispiz
tragenden Säulen besteht; die Hinterwand bildet eine Marmortafel mit In-
schrift; unten fprudelt eine Quelle; über dieser befindet sich ein Medaillonrelies
der 1854 Gestorbenen und über diesem ein auf Goldgrund gemalter Christuskopf.
Kloster Gnissau, das schleiche EsKoria!. Östlich von Schmiedeberg fällt
das Gebirge ab und bildet noch bis zum Bober hin den Landeshuter Kamm,
welcher die Höhe des Hauptkammes bei weitem nicht erreicht. Wir verweilen
nicht im Boberthale, nicht in dem gewerbefleißigen Landeshut, sondern gehen
den Ziederbach, welcher sich bei Landeshut in den Bober ergießt, aufwärts und
gelangen bald zu dem lieblich gelegenen Kloster Grüssau, welchas uns nur zu
eindringlich an die Vergänglichkeit irdischen Glanzes und irdischer Herrlichkeit
erinnert. Was in Spanien das berühmte Eskorial ist, nicht ein einfaches
Kloster, sondern ein Klosterpalast mit einer Fürstengruft, das war für Schlesien
Grüssau, vor dem wir jetzt mit wehmutsvollen Blicken stehen und ausrufen:
Sic transit gloria muncli!
Deutsches Land und Volk. VIII. 10
146 Das Riesengebirge. v
Wo jetzt ein reizendes und anmutiges Thal sich befindet, dnkchströmt von
der krümmungsreichen, vom Süden nach Norden fließenden Zieder, erblickte
man in der Mitte des 13. Jahrhunderts noch, so weit das Auge reicht, nichts
als einen großen, undurchdringlichen Wald, der jene Gegend zu einer der
rauhesten an der schlesisch-böhmischen Grenze machte. Man nannte diesen weit
ausgedehnten Wald Kressobor, d. h. Grenzwald. Fleißige Hände frommer und
arbeitsamer Mönche haben diese Wälder gelichtet und aus der Wildnis, die nur
Raubtieren zum Aufenthalte diente, ein fruchtbares, wiesenreiches und ange-
nehmes Thal geschaffen, das ungefähr zwei Meilen lang und eine halbe Meile
breit ist. In diesem Thale liegt das einstmals so prachtvolle und berühmte
Stift Grüssau. Als Herzog Heinrich II. im Jahre 1238 die Regierung antrat,
berief er aus dem böhmischen Stift Opatowitz Benediktinermönche in dieses
wilde Thal und beabsichtigte ihnen ein Kloster zu bauen. Aber sein unver-
hoffter Heldentod auf dem Schlachtfelde bei Wahlstatt, unweit Liegnitz, im
Kampfe gegen die Tataren im Jahre 1241 ließ den frommen Fürsten den von
ihm entworfenen Plan nicht zur Ausführung bringen. Was jedoch Herzog
Heinrich II. zu vollziehen durch seinen Opfertod für Land und Volk verhindert
war, das auszuführen fühlte sich Anna, seine Gemahlin, im Gewissen verbunden.
Sie erbaute eine Kirche, errichtete die Propstei Grüssau und setzte in dieselbe
im Jahre 1242 die von ihrem Gemahle berufenen Benediktiner, denen sie so
viel Land schenkte, als sie mit eignen Händen und auf eigne Kosten würden
anbauen können. Damals machte auch die heilige Hedwig, die Mutter des bei
Wahlstatt gefallenen Herzogs, den nach Grüssau gekommenen Benediktinern
Schenkungen. Das Gebiet der Mönche erweiterte sich immer mehr, und ihr
Ansehen stieg immer höher; ihnen wurde der mit polnischem Rechte bestehende
Marktflecken Landeshut überwiesen mit dem Rechte, diesen Ort in eine Stadt
nach deutschem Rechte umzuwandeln; aber es scheint, als ob die Mönche von
diesem Rechte keinen Gebrauch gemacht haben. Auch 200 Huben Waldes haben
dieselben geschenkt erhalten unter der Bedingung, auf diesem Boden Dörfer nach
deutschem Rechte anzulegen. Trotzdem gefiel es den Benediktinern nicht. Nach
einem Aufenthalte von kaum 48 Jahren sehnten sie sich in ihr Vaterland zurück.
Sie überließen aus diesem Grunde, vielleicht auch weil sie einen so wilden Ort
zu einer andauernden Ansiedelung nicht geeignet fanden, mit Bewilligung des
Bifchofs von Breslau ihre Besitzungen dem Herzoge Bolko I. von Schweidnitz
und Jauer unter der Bedingung, daß ihre reichlichen Einkünfte zu einem andern
frommen Zwecke verwendet werden sollten.
Bolko I. löste zwar die Propstei auf und machte die Propstkirche zur
Pfarrkirche des um die Propstei allmählich entstandenen Dorfes, stiftete aber statt
derselben im Jahre 1292 ein fürstliche Abtei, in welche er Cisterciensermönche
aus dem Stifte Heinrichau bei Münsterberg berief. Noch im Jahre 1292 bezog
der erste Abt mit zwölf Mönchen das Kloster. Die erste Wohnung der Brüder
von 1292—1296 scheint noch von Holz gewesen zu sein, denn erst 1296 fing
man den massiven Aufbau des Klosters an, dem von dem freigebigen Herzoge
Bolko I. die reichlichsten Schenkungen gemacht wurden. Es werden 14 Ort-
schaften erwähnt, die Bolko dem Kloster schenkte; und sie alle schenkt er der
Abtei aus fürstlicher Milde, mit Wassern, Wäldern, Wiesen und Mühlen zu
einem ewigen Besitztum und verleiht dem Stifte Befreiung von allen Diensten,
Kloster Grüssau, das schlesische Eskorial. 147
Lasten, Steuern. Zöllen und Hebungen, welchen Namen sie immer haben mögen. ^
Alle Dörfer, welche in jener Gegend bereits angelegt sind oder vom Stifte noch l.
angelegt werden, sollen unter die Gerichtsbarkeit des Stiftes gehören. Zu den
zuerst geschenkten Dörfern treten bald noch andre hinzu; einzelne andre Ort-
schasten werden der neuen Stiftung zinspslichtig. Bolko wurde nicht müde^
dem Stifte immer größere Wohlthaten zu erweisen.
Kloster Grüssau. Nach einer Zeichnung von Gustav Täubert.
Der massive Bau des Klosters scheint im Jahre 1293 noch nicht vollendet
gewesen zu sein; denn in diesem Jahre schenkte Bolko dem Stifte 30 Mark aus
den Zöllen von Löwenberg, Buuzlau, Schweidnitz, Reichenbach und Franken-
stein zum Fortbau des Klosters (ad structuram monasterii sui) als einen jähr-
lichen Zins unter der Bedingung, daß die Mönche um so eifriger für ihn zu
Gott beten sollten. Im Jahre 1303 starb Bolko, der beste Wohlthäter der
schleichen Kirche. Sein Leichnam wurde nach Grüssau gebracht und in der
von ihm erbauten Stiftskirche beigesetzt. Seine Nachfolger bestätigten nicht nur
die Schenkungen und Stiftungen ihrer Vorgänger, sondern fügten den alten neue
Schenkungen hinzu. So gehörte Grüssau im 14. Jahrhundert zu den vor-
^ehmsten Klöstern Schlesiens und behauptete mit Rücksicht auf seine fürstliche
Gründung und reiche Ausstattung stets einen vorzüglichen Rang.
Es war um die Mitte des Monats Juli 1426,.als rauchende Trümmer
eingeäscherter, vorher blühender Ortschaften in Grüssau die Schreckenskunde
verbreiteten, daß ein Schwärm Hussiten im Anzüge sei. Unter der Anführung
10*
'
148 Das Riesengebirge.
Prokops des Großen lagerte sich diese wilde Horde vor Landeshut, um dort ihrer
Grausamkeit ein blutiges Denkmal zu setzen. Die Hnssiten fanden tapferen Wider-
stand und zündeten die Stadt an mehreren Stellen an. Landeshuts Bürger aber
boten alles auf, die Stadt zu retten und die unbarmherzigen Würger von sich
fern zu halten. Mit vereinter Kraft brachten sie den stürmenden Feind zum
Weichen: und so groß war ihr Mut, daß keiner der hochherzigen Männer von
dem ihm angewiesenen Verteidigungsplatze wich. Frauen, Jünglinge, Jung-
frauen kämpften gegen die Flammen, um das vernichtende Element zu bezwingen.
Die stürmenden Hnfsiten mußten die Belagerung aufheben und auf die Eroberung
Landeshuts verzichten.
Desto schlimmer erging es dem wehrlosen Stifte Gnissau, gegen welches
die Wilden nun ihren verheerenden Raubzug richteten. Im Blute hingeschlachteter
Opfer wollten sie ihren Rachedurst stillen und ihre Wut über die mißlungene
Erstürmung Landes Huts kühlen. Es eröffnet sich in Grüssaus friedlichen Mauern
eine Blutszene, deren grausiges Bild, das die Wildheit einer längst mit allen ihren
Greueln in den Zeitenstrom versenkten Vergangenheit widerspiegelt, lieber mit
Vergessenheit bedeckt werden sollte, weil es den Menschen nicht nur in herz- und
fühlloser Grausamkeit, sondern in seinem tigerartigen Blutdurste zeigt. Der un-
vergeßliche Tag tiefster Trauer und der bangsten Trostlosigkeit, an welchem in
Grüssau ein entsetzliches Blutbad angerichtet wurde, war der 21. Juli 1426, ein Tag
grauenvoller Verwüstung und blutgierigen Mordens und Würgens. Die Ordens-
männer hatten sich nicht geflüchtet, der Abt war nicht im Kloster, sondern auf einer
Geschäftsreise in Schweidnitz. Die Mörder traten ins Stift unter die Brüder, die
in stiller Ergebung der Dinge harrten, die im kommen sollten. Sie verlangten
von den Priestern das Abendmahl unter beiderlei Gestalt und bedrohten mit
dem Tode den, der ihnen den Kelch vorenthalten würde. Die Priester weigerten
sich aber aufs entschiedenste, den Grundsätzen ihrer Kirche untreu zu werden.
Im Kloster waren 72 Mönche, nämlich 30 Priester, 13 Diakonen, 6 Snbdiakonen,
6Profeffen (welche noch keine Weihen erhalten hatten), 6 Konversen und 6 Novizen.
Sie alle wurden unter den ausgesuchtesten Martern hingemordet. Als die Hus-
siten abzogen, waren alle Wände in den weiten Hallen des Heiligtumes und in
den weiten Kreuzgängen des Stiftes mit Blut bespritzt. Die Leichname der
Märtyrer schwammen im Blute. Dem zurückkehrenden Abte stellte sich das Bild
des grauenvollsten Entsetzens vor das thränenschwere Auge; denn die Hussiten
hatten auch Kirche und Kloster zerstört und einen Teil sogar niedergebrannt,
den ganzen Kirchenschmuck und alle wertvollen Gegenstände geraubt und, was
nicht fortgebracht werden konnte, zertrümmert. Die Spuren des Vandalismus
waren lange nicht zu vertilgen. Der Gram über das namenlose Elend verzehrte
das Leben des frommen Abtes, dessen Schultern nun eine schwere Bürde drückte;
er starb nach fünf kummervollen Jahren im Jahre 1431. Seinen Nachfolgern
wurden zwar die Privilegien des Klosters bestätigt; aber die Wunden, die ge-
schlagen waren, konnten nicht so schnell geheilt werden; das Kloster mußte Güter
verkaufen oder verpfänden und Schulden machen.
Noch waren die Schäden nicht beseitigt, da brach der verheerende Krieg aus,
der dreißig Jahre lang in Deutschland wütete, der auch für Grüssau wieder
verhängnisvoll wurde. Im Jahre 1620 ermordeten die Bürger von Schöm-
berg, welche zur Lehre Luthers übergetreten waren, den Abt des Klosters, der
Der Name des Berggeistes im Riesengebirge. 149
in die dem Kloster unterstellte Stadt gekommen war, um sich huldigen^zu lassen.
Die Schweden raubten im Jahre 1632 dem Stifte nicht allein alle seine Hab-
seligkeiten, sondern führten auch mehrere Ordensgeistliche gefangen mit sich fort,
die sie quälten und marterten, bis sie mit schwerem Lösegeld losgekauft wurden.
Im folgenden Jahre steckten feindliche Kriegsvölker das Stift in Brand, bei dem
das Dach der großen Stiftskirche in Flammen aufging und die Glocken zer-
schmolzen, auch mehrere Mönche fielen.
Die Zeit und die gute, sparsame Verwaltung der nachfolgenden Prälaten
heilten die Wunden wieder, so daß das Kloster prächtig wieder aufgebaut werden
konnte. Die große, zweitürmige Kirche wurde erst 1728—35 erbaut; sie hat
ein reich verziertes Portal mit sechs großen Statuen, eine große und vortreffliche
Orgel und viele Bilder. Die Chorstühle für die Mönche sind aus Holz ge-
schnitzt, mit vergoldeten Reliefs. Hinter dem Altar liegt die berühmte Fürsten-
grnft mit dem Grabdenkmal Bolkos I. und andern Denkmälern der Piasten-
herzöge von Schweidnitz und Jauer. Das Kloster wurde im Jahre 1810 auf-
gehoben. Bei seiner Aufhebung besaß es zwei Städte und vierzig Dörfer. Jetzt
sind die Stiftsgebäude, die zum Teil nicht einmal ganz fertig geworden sind,
königlichen Ämtern überlassen und Grüffan ist ein Dörfchen mit 150 Ein-
wohnern, das nur noch einen Ruhm hat nach der früheren hohen Bedeutung:
die dortige Brauerei liefert ausgezeichnetes, berühmtes Bier.
Der Name des Lerggeiftes im Kiescngebirge. Seit dem Anfange des
16. Jahrhunderts bis zu dem des 18. hat sich im Riesengebirge der Sage nach
ein Gespenst sehen lassen, welches man Johannes Rübezahl genannt hat. Es
sind über dasselbe verschiedene Bücher geschrieben, auch seine Thaten, die eigentlich
meist auf boshafte Neckereien hinauslaufen, einfach erzählt worden; allein über
seine Person oder seinen Ursprung ist mau noch nicht ins Reine gekommen.
Noch im Spätsommer des Jahres 1882 setzte der böhmische Riesengebirgs-
verein einen Preis aus für die beste Untersuchung über den Namen und Charakter
des neckischen Berggeistes, dessen Herkunft noch immer in Dunkel gehüllt ist.
Th. Douat in Schlesien hat, nicht gerade durch den ausgesetzten Preis angeregt,
sondern weil er. sich für Rübezahl interessierte, sorgfältige Untersuchungen über
den Berggeist angestellt und das Ergebnis derselben in der Zeitschrift „Der
Wanderer im Riesengebirge" veröffentlicht. Der Forscher kommt zu ungefähr
folgenden Resultaten:
Die erste Erwähnung der Rübezahlsage findet man bei Kaspar Schwenkseldt
von Gretenberg, Medikus und Physikus in Hirschberg und Görlitz, in seiner
Beschreibung des Hirschbergischen warmen Bades, 1607. Nach ihm schreibt
Nikolaus Henelins in seiner Silesiographia: „Der bedeutendste und höchste von
allen schleichen Bergen ist der Riesenberg, der reich ist an Gold, Silber, Kupfer,
Edelsteinen. Aber die Habsucht, welche die Menschen sogar bis in die Hölle
treibt, ist — ich weiß nicht, ob wegen des schwierigen Zugangs oder aus an-
dern Gründen abgeschreckt — zu ihm weniger gedrungen; überdies ist er ver-
rufen durch wunderbare Geistererscheinungen und durch die Furcht vor einem
die Schätze behütenden Berggeiste.
Von unfern Landsleuten wird dieser Berggeist gemeinhin „Ribenzal"
genannt, der sich in verschiedener Gestalt, bald als Mönch in der Kutte, bald
150 Das Riesengebirge.
als ein Greis nach Art der Bergleute gekleidet, bald als ein edles Pferd, dann
wieder als Hahn, als Rabe, als Eule oder als eine riesige Kröte sehen läßt
und diejenigen, die diese Gegenden durchwandern, oft durch Neckereien foppt.
Dennoch hat er wohl kaum jemand Schaden oder Nachteil zugefügt, außer
wer ihn durch Gelächter oder durch Schimpfen reizte. Dann haben viele es
erfahren, daß plötzlich am heitern Himmel und bei stiller Luft ein gewaltiges
Donnerwetter mit gewaltigem Regenguß eingetreten ist."
Diese Stelle ist für die Rübezahlsage wichtiger, als die ganze „Dämono-
login Rnbenzahlii" des Johann Prätorius von Zetlingen aus der Altmark
(1660), welche.nicht anders als eine Verhunzung der Volkssage genannt zu
werden verdient, aber leider die erste Sammlung der Rübezahlmärchen ist.
- Prätorius, Magister der Philosophie in Leipzig und kaiserlicher gekrönter
Poet, hatte die Beschreibung von allerhand verrückten Menschen, Mißgeburten
an Menschen und Vieh, Gespenstergeschichten, Berichte über allerhand greuliches
Ungeziefer zu seinem Spezialfachs erwählt und galt bereits seinen Zeitgenossen
als sehr leichtgläubig und unzuverlässig; und so kann man mit Bestimmtheit
annehmen, daß, wenn auch nicht alle Rübezahlmärchen pure Phantasien des
Prätorius sind, denen die Notizen des Henelius einen gewissen Wert verliehen,
dem Rübezahl doch viele nur leichthin angeheftet worden sind, wodurch ihm
aber erwünschtes Material für seine in wenig ziemlicher Ausdrucksweise ge-
haltenen, zum Gruseligmachen bestimmten Schreibereien geliefert wurde.
Wir müssen uns nun zuvörderst einmal mit dem Namen uusres allerdings
in keinem Zivilstandsregister eingetragenen Bergkobolds befassen. Eine Er-
klärung, die allgemeine Anerkennung gefunden hätte, ist noch nicht da; ja man
ist noch nicht einmal darüber ganz einig, welcher Sprache der Name entstammt.
Henelius ist an dieser Frage ohne weiteres vorübergegangen, doch glaube ich
nicht deshalb, weil ihm der Sinn des Wortes „Ribenzal" unbekannt gewesen
wäre, sondern weil er die Bedeutung als bekannt und aus dem Worte selbst
ersichtlich betrachtete. Manche schlagen einen sehr einfachen Weg der Deutung
ein und sagen: „Rübezahl ist nichts andres, als der Geist irgend einer ehe-
maligen Person dieses oder ähnlichen Namens. So wird z. B. behauptet, daß
Prätorius im Auftrage der deutschen und welschen Edelsteinsucher sein Buch
über Rübezahl geschrieben habe, und daß zu der Sage wahrscheinlich einer dieser
Schatzgräber Anlaß gab, der das meiste Ansehen genoß, die Oberleitung führte,
hinlängliches Vermögen besaß, ein großer Alchimist war und Rubezzo Giovanni
hieß; und zwar teils um das leichtgläubige Gebirgsvolk zu täuschen und von
ähnlichen Nachgrabungen abzuhalten, teils um sich Spaß zu machen und die
ganze Gebirgsbevölkernng in Respekt zu halten.
Auch erwähnt Berndt in seinem „Wegweiser ins Riesengebirge" (1828)
folgendes: „Ein großer Teil findet in ihm eine geschichtliche Person, bald einen
reichen Knicker Ronseval, der wegen seines unersättlichen Geizes in das Riesen-
gebirge verbannt worden (wahrscheinlich um die angeblichen reichen Gold-,
Silber- und Edelsteinschätze des Gebirges zu überwachen); bald einen Rupert
Zahn, bald einen naturforschenden Rüben v. Zahlen, bald endlich einen durch-
triebenen, listigen Schelm, Rupert Zeh, dessen Nachkommen in Nieder-Schmiede-
berg als Tagearbeiter, Kutscher u. dergl. vorhanden sind. Diese Erklärungen
werden niemand befriedigen; denn ganz abgesehen von der starken Gewalt,
Der Name des Berggeistes im Riesengebirge. 151
welche man der Sprache anthun muß, um die Namen Rubezzo Giovanni (da
Henelins bereits 1613 den Ribenzal nennt und Prätorius erst 1660 sein Buch
herausgegeben hat, so ist es ganz unmöglich, daß Rubezzo Giovanni das Urbild
Rübezahls sein kann), Ronseval, Rüben v. Zahlen. Rupert Zahn und Rupert
Zeh in Rübezahl umzuwandeln, so legen doch die vielen Pseudo-Rübezahle der
neuesten Zeit — man denke nur an den vor einigen Jahren in Hirschberg ver-
storbenen ehrenwerten Reimann, der wegen seiner exzeptionellen Gewohnheiten
nnd wegen seines originellen rauhen, bärtigen Äußern allgemein als Rübezahl
tituliert wurde, und an den noch lebenden, im mährischen Gesenke als Rübezahl
bekannten Herrn Obersteiger Lorenz aus Zuckmantel, den wir zwar nicht die
Ehre haben zu kennen, der aber, wie wir lesen, nur wegen seiner bärtigen,
originellen Erscheinung zu dem Titel gekommen ist, welcher heute nur noch
eine gute, humoristische Bedeutung hat — die Vermutung nahe, daß es sich
mit jenem Schmiedeberger Rupert Zeh auch nicht anders verhält. Der sran-
zösische Herr Ronseval sowie auch der Herr Naturforscher Rüben v. Zahlen
dürften wohl kaum ernstlich bei dieser Frage konkurrieren; auch Rupert Zahn,
als welcher sich bei einer angeblich in Schmiedeberg stattgefundenen Teufels-
bannerei der Berggeist selbst legitimiert haben foll, kann sich wohl mit der Ehre
begnügen, überhaupt erwähnt zu werden.
Es kommen nun diejenigen Erklärungen, die ohne weiteres auf der An-
nähme eines Geistes oder Dämons beruhen und bei denen eine geschichtliche
Person ausgeschlossen ist. Unter diese Erklärungen gehört die von Liebusch in
seiner „Skythika"; danach käme Rübezahl von den Wörtern rib, d. i. Berg, und
zal, d. i. Gott; doch sind zugestandenermaßen diefe Urformen oder Wurzeln
nirgends mehr nachweisbar. Hierher gehört auch der Roi de Talle (oder
vallee). Wir hätten es hier demnach mit einem Thalherrn oder Thalkönig zu
thun. Dem Berggeiste würde also damit ein ganz andres Gebiet für feine
Herrschaft zugewiesen, als ihm sonst allgemein eingeräumt wird. Auch aus
sprachlichem Grunde läßt diese Erklärung keine Annahme zu; ohne Zweifel ist
dieser sich bei Lucä vorfindende Name zu jener Zeit entstanden, als französische
und italienische Bergleute unser Gebirge nach metallischen Schätzen durchforschten.
Riphaeorum diabolus oder zabulus, Riphenzabel, Ribenzal, Rübenzahl.
Diese Erklärung wird auf die Geistlichkeit der früheren Jahrhunderte zurück-
geführt, welche in ihren Bemühungen, das Ansehen des noch hier und da im
Volke vorhandenen heidnisch-slawischen Götterglaubens zu zerstören, gezwungen
war, die alten Götter als „Diaboli" zu bezeichnen. Wenn nun auch dieser
Erklärung nicht aller Wert abzusprechen ist, so hat sie doch das gegen sich,
daß der Name „Riphäengebirge" statt Riesengebirge niemals außerhalb der
Gelehrtenstube gebräuchlich gewesen ist und schon deshalb unmöglich zu einer
volkstümlichen Anwendung kommen konnte. Die am häufigsten verbreitete und
lediglich auf Mufäus zurückzuführende Erklärung zeigt uns unfern Berggeist
als „Rübenzähler" in eine romantische, für ihn aber unglückliche Liebesaffaire
verwickelt, die ihm den Spottnamen „Rübezahl" eingebracht haben soll. Diese
auf unbegrenzter Phantasie beruhende Deutung ist als eine bene trovata wohl
schwerlich zu bezeichnen. Von dem sonstigen Werte des betreffenden Märchens
wird dabei selbstverständlich ganz abgesehen. Auch einer Entstehung aus dem
Tschechischen muß ich gedenken. Danach soll der Name aus Rybreol entstanden
152 Das Riesengebirge.
sein; doch hat man es hier wohl nur mit einer Verdrehung des Namens zu
thun, mit dem die deutschen Bewohner des Gebirges den Geist benennen. Es
kommen nunmehr die Erklärungen aus dem Altdeutschen.
Ludwig Bechstein sagt: Der Name ist entstanden aus „Ruwizagel",
„Ruwizal" und bedeutet „Rauhzagel", „Rauhschwanz" oder „Rauhhaar",
eine Erklärung, die mit unter die besten gehört. — Eine ziemlich unglückliche,
harmlose Deutung findet sich in den schleichen Provinzialblättern; sie lautet:
„Rüwezahl", mittelhochdeutsch „Reuezahl", d.h. (wie in dem bekannten Märchen
von „Rübezahl und der Prinzessin" ja auch erzählt wird) einer, den das Zählen
reut, der nicht gern zählt, der ein schlechter Rechner ist, der sich stets verzählt
und deshalb verspottet wird.
Dr. W. L. Schmidt schreibt in seinem „Taschenbuch für Reisende und Bade-
gäste": „Wie, wenn wir annähmen, der Name „Rübezahl" sei aus „Rünzabel"
verdorben? „Rühuen" oder „runen" hieß so viel als zaubern, „zabel" (aus
zabolus oder diabolus entstanden) kommt für Hexe, Teufelskind n. dergl. öfters
vor, und „Rünzabel" oder „Runzabel" heißt im ältern Deutsch zusammen „eine
Hexe, ein Unhold." Unser Berggeist hätte also in den ältesten Zeiten den all-
gemeinen Namen Zauberer, Unhold, Hexenmeister geführt. Ich glaube nicht,
daß hiermit alle Lesarten und Erklärungen des Wortes erschöpft sind; doch
konnte ich bisher nicht mehr in Erfahrung bringen, und die angeführten Er-
klärungen, aus fünf Sprachen (lateinisch, keltisch, tschechisch, französisch, deutsch)
entnommen, zeigen genügend, wie sehr die Herren Gelehrten über die Sache
nneins sind. Leider muß ich die Uneinigkeit durch meine Erklärung des Wortes
noch vermehren:
Unser Berggeist ist ursprünglich ein slawischer, durch das in Schlesien
eingedrungene christliche Germanentum erniedrigter Gott, wahrscheinlich der
„Swantewit"; und Rübezahl ist ein diesem von den christlichen Deutschen bei-
gefügtes Schimpfwort und hat von Anfang an keine andre Bedeutung gehabt,
als „Rübenschwanz". — Die in Schlesien überall aufgefundenen slawischen
Begräbnisstätten mit ihren die Knochenasche zahlloser Geschlechter enthaltenden
Urnen, sowie sichere historische Zeugnisse lehren uns, daß Schlesien wenigstens
seit der Zeit der Völkerwanderung bis in das 19. Jahrhundert der christlichen
Zeitrechnung von heidnischen Slawen bewohnt war, während ein noch älterer
germanischer Besitz dieses Landes nur aus sehr unsicheren geographischen Mit-
teilungen römischer und griechischer Schriftsteller mühsam gefolgert wird.
Jedenfalls haben uns die Slawen die meisten Beweise ihres Daseins hinter-
lassen, wobei nur die vielen auch in unsern Gebirgsthälern vorhandenen slawischen
Ortsnamen erwähnt zu werden brauchen. Die Entstehung deutscher Ortsnamen
ist (in sehr vielen Fällen nachweislich) erst zur Zeit der Christianisierung und
deutschen Kolonisierung Schlesiens eingetreten. — Wenn nun heute noch im
Riesengebirge, welches wegen seiner Lage und allgemeinen Gestaltung von jeher
den Schlesiern am meisten von Bedeutung war, eine alte heidnische Gottheit
vermutet wird, so ist es doch naturgemäß, daß diese wohl eher dem noch in
historischem Andenken stehenden slawischen Volke, als dem kaum aus tiefster
Sage auftauchenden schleichen Germanentum angehören muß.
Auch ein geographischer Grund ist dafür vorhanden, daß es eine slawische,
keine germanische Gottheit war, die im Riesengebirge verehrt wurde. Nach
Der Name des Berggeistes im Riesengebirge. 153
übereinstimmenden alten Überlieferungen war im Jsergebirge bei Fli.nsberg der
Sitz eines wendischen Halbgottes, Namens „Flins", und auf dem Bernskensteine
bei Berthelsdorf, Kreis Hirschberg, der des slawischen Gottes „Peruu". Wie
sollte man es sich erklären, daß mitten unter diesen Kultusstätten slawischer
Götter auf dem höchsten Gebirge eine germanische Gottheit gethront hätte?
Liegt doch eine viel größere Wahrscheinlichkeit für eine slawische Gottheit vor.
Auf dem höchsten Berge war der Sitz des höchsten Gottes, und dieses war der
slawische „Swantewit", der Gott des Lichtes, dessen geheiligter Tempel mit
dem Bilde des vierköpfigen Gottes sich zu Arkona auf der Insel Rügen befand.
Aber auch bei Zbrucz in Galizien ist eine Bildsäule des „Swantewit" vor
nicht langer Zeit aufgefunden worden, was als ein sicherer Beweis von der
Verehrung dieses Gottes auch in nnsern Gegenden angesehen werden muß. Aber
noch ein andres für nnsre Beweisführung wichtiges Zeugnis liefert Bienenberg,
der als ein zuverlässiger Gewährsmann unter den Chronisten gilt. Er berichtet,
daß noch im vorigen Jahrhundert die Böhmen von Melnik und den Elb-
Niederungen ins Riesengebirge zu wallfahrten pflegten und daselbst schwarze
Hähne nach uraltem Gebrauche fliegen ließen, damit Rübezahl nicht durch Über-
schwemmungen ihre Felder verwüste. Dasselbe bestätigte Krolmus. „Er selbst
habe", fagt er, „im Jahre 1805 und 1814 noch solche Pilger gesehen, von
denen die Männer schwarze Hähne, die Weiber schwarze Hennen in das Riesen-
gebirge zu den Quellen der Elbe trugen. Dort ließen sie die Hähne in den
Knieholzwaldungen fliegen, die Hennen aber warfen sie ins Wasser. Drei Tage
blieben sie gewöhnlich im Gebirge; sie füllten die mitgebrachten Geschirre mit
Wasser und suchten im Walde und besonders in „Rübezahls Garten" nach Kräutern.
Mit dem Wasser wuschen sie daheim das kranke Vieh, und die Kräuter mischten
sie demselben ins Fressen; auch räucherten sie damit die Ställe aus, daß sie
Glück und Segen hätten." Die Attribute des „Swantewit", der nach neueren
Forschungen (Grimm) mit „Radegast" und „Perun" eine Trinität bildete,
waren, wie bei den obersten Göttern der Griechen, Römer und Germanen, der
Blitz und der Donner. „Swantewit" beherrschte die Welt, belohnte die Guten
und bestrafte die Bösen, heilte schlimme Krankheiten und verkündete in allen
Natnrereigniffen seine Macht. Auf den zum Himmel ragenden, oft von Wolken
umhüllten Bergeshöhen, da war sein Aufenthalt; von hier aus stieg er in die
Hütten der Menschen hinab, wie der „Mahadö" der Inder, um an menschlicher
Freude und an menschlichem Unglück teilzunehmen. — Mit tiefer Frömmigkeit
und Andacht verehrten die Slawen ihren Gott, und die Priester wagten vor
seinem Bilde nicht zu atmen, ehe sie den Gottesdienst begannen.
Gewöhnlich wurden Opfer an Vieh und Feldfrüchten dargebracht und zur
Zeit der Sommer-Sonnenwende mächtige Feuer auf den Bergen angezündet.
Suchen wir nun die charakteristischen Züge des „Swantewit" aus dem Mythus
heraus, der sich um den schleichen Rübezahl gebildet hat, so finden wir deren
auch trotz der Verstümmelungen des Prätorius noch sehr viele, ja fast alle
heraus. Stets wird er als der Wettermacher bezeichnet, der diejenigen, die ihn
beschimpfen, mit Blitzen, Hagel und Sturm verfolgt, und wiederum schönes
Wetter denen bereitet, mit welchen er es gut meint.
So sagt auch Grohmann im Sagenbuch von Böhmen: „Wie Swantewit
ist auch Rübezahl der Wetterherr, welcher Blitz und Donner, Regen und Schnee
154 Das Riesengebirge.
vom Berge niedersendet. Als Mönch in grauer Kutte sitzt er auf dem Berge
und hält ein Saitenspiel in der Hand und schlägt mit solcher Kraft in die
Saiten, daß die Erde davon erzittert; oft erhebt er sich im Fluge über die
höchsten Gipfel der Bäume und wirft sein Saitenspiel mit Donnergetöse auf
die Erde; bald wieder reißt er im Wirbelwinde die Bäume aus und dreht sie
im Kreise." Auch war Rübezahl nach Prätorius der Patron der Quacksalber
und Kräutersammler, die auf Jahrmärkten sein Bild als Aushängeschild an ihre
Bude hängten. Um sich in seiner Gunst zu erhalten, nannten sie ihn nicht
Rübezahl, sondern „Herr Johannes"; er zeigte ihnen die Heilkräuter, sagte
ihnen, wozu sie zu verwenden seien, und half ihnen wohl selbst die Wurzeln
ausgraben. Auch darin ähnelt Rübezahl dem „Swantewit", der nach der Sage
schlimme Krankheiten heilte.
Eine andre Haupteigenschaft des slawischen Gottes, die Güte, die er den
Armen und Bedrängten erwies, kennzeichnet in hohem Grade auch unsern
Rübezahl. Da ist er stets mit seinen Steinen, Wurzeln und Blättern bei der
Hand, die sich im Besitze der Begünstigten ganz unverhofft zu purem Golde
verwandeln, nachdem der neckische Geist bereits wieder verschwunden ist. So
singt auch ein Dichter zu Anfang uusres Jahrhunderts:
„Allen Frommen war er gut, Linderte des Armen Qual.
Thät die Reisenden begleiten, Ach, wo ist in unsern Zeiten
Gab dem Hungrigen ein Mahl, Dieser brave Rübezahl?"
Noch ein Punkt scheint mir der Erwähnung nicht unwert zu sein; es ist
dies die auch vonHenelius angeführte Metamorphose des Rübezahl als ein edles
Pferd (equus generosus). Diese Metamorphose weist deutlich auf „Swantewit"
hin, da diesem Gotte in seinem Tempel zu Arkona ein geheiligtes weißes Roß
unterhalten wurde, welches in wichtigen Fällen Orakel gab. —
Ich gehe nun zu der mir am richtigsten erscheinenden Erklärung des
Wortes „Rübezahl" über und führe zum Beweise, daß dieses Wort in früheren
Zeiten ein Spitz- oder Schimpfname gewesen ist, an, daß nach dem alten Märchen
das Aussprechen dieses Wortes stets die Veranlassung zu größten Zornaus-
brüchen des Berggeistes gewesen ist. Rübenzahl oder Rübenschwanz ist aber
ein und dasselbe; denn im schleichen Volksdialekte kommt heute noch das Wort
„Zoal" für Schwanz vor, was viele bestätigen. Kutzner schreibt: „Wir meinen
vielmehr, daß „zal" die ab und zu vorkommende Nebenform des althochdeutschen
und mittelhochdeutschen Wortes Zagel, d. i. Schwanz, ist. So kommt als Spott-
und Schimpfname noch „Sauzal" vor." Auch sind in den „Vergnügten und
Unvergnügten Reisen in das Weltberuffene Riesengebürge" von Dr. Kaspar Lindner
(1737) eine Menge Stellen enthalten, wo ohne weiteres Riebenschwanz oder
Rübenzagel geschrieben ist. Soll es sich nun um die Erklärung des Wortes
Ribe oder Rübe handeln, so würde ich allenfalls der Erklärung aus dem alt-
deutschen Worte ruwi — rauh beitreten; doch halte ich diesen Behelf für durchaus
nicht erforderlich, da Schimpfwörter in der Regel wenig Gewähltes an sich haben,
und Rübenschwanz, also ein rübenartiger Schwanz, als Schimpfwort einer un-
feinen Zeit zuzutrauen ist. Die Bezeichnung „Rauhschwanz" erscheint zu sehr er-
künstelt. Da Rübezahl nach dem Berichte des Henelius in verschiedenen tierischen
Gestalten sich zeigte, so ist die Wahl des Schimpfwortes nicht ohne Beziehung.
156 Das Riesengebirge.
Die Entgötterung aber des „Swantewit" oder, wie er von andern genannt
wird. „Swiatowit", die Beschimpfung und Verunstaltung desselben zu einem
gespenstischen Kobold war, so viel Anteil auch Prätorius daran hat, schon vor-
her ein notwendiges Ergebnis des siegreichen Kampfes, den die Prediger des
Christentums in ihrer Missionsthätigkeit unter den heidnischen Schlesiern geführt
hatten. Es ist bekannt, daß die Religion der Liebe nicht ohne harte Lieblosig-
keiten in die unzugänglichen Köpfe und Herzen der Schlesier gebracht wurde.
Unter anderm wird erzählt, daß denen, welche die vorgeschriebenen christlichen
Fasttage nicht hielten, zur Strafe die Zähne ausgebrochen wurden. Solche
unerhörte Härte macht es leicht begreiflich, daß auch mit den alten Göttern
wenig Federlesens gemacht wurde. Sie wurden nach Verlust ihrer himmlischen
Throne und ihres irdischen Ansehens in dem einflußlosen Gebiete der Sage
nur noch geduldet.
Die Ausschmückung und Verbreitung der Rübezahlsage und die Erfindung
vieler noch heute bekannten Märchen ist dann durch die in früheren Jahrhunderten
unser Riesengebirge durchforschenden fremdländischen Gold- und Edelsteingräber
geschehen, die ein Interesse daran hatten, ihre Schürfplätze vor der einheimischen
Bevölkerung zu sichern; ebenso sind auch die Wurzelmänner und Laboranten
der Gebirgsdörfer Krnmmhübel, Steiuseisfen und Schreiberhau dabei stark be-
teiligt gewesen.
Mit ihren Waren zogen sie in früheren Zeiten durch ganz Deutschland
und wußten durch die Erzählungen vom Rübezahl den Glauben an eine höhere
Heilkraft ihrer Kräuter, Wurzeln und Tropfen bei ihren Käufern zu erregen und
durch die Vorspiegelungen großer Schrecknisse beim Einsammeln der Pflanzen
ans Rübezahls Lustgarten ihren Waren einen höheren Verkaufspreis zu geben.
Ganz besonders verdankt man den Laboranten wohl die Erzählung von
der zauberkräftigen Springwurzel, die zu gewinnen nur selten und mit großen
Gefahren gelingt, aber die auch als ein unschätzbarer Talisman galt. Sie
heilte die tödlichsten Krankheiten und verhalf zu den verborgenen unterirdischen
Goldschätzen des Gebirges.
„Der Springwurz glücklicher Gräber Wird des goldenen Schatzes Heber
Gewinnt die geheime Macht, In geweihter Johannisnacht."
Haben wir so die Entstehung und die Veränderungen des Rübezahlmythus
unter den mannigfaltigsten Einflüssen erkannt, so werden wir denselben nicht
teilnahmlos und spöttelnd abweisen, sondern uns erinnern, daß, wenn angeregt
durch die wunderbaren Felsenformen des Gebirges, durch die verkrüppelten
Baumstämme der Bergwälder, durch die von den Ästen herabhängenden langen
Bartflechten, durch die seltsamen Gestaltungen der Wolken, die um die nackten
Berghäupter ihr Spiel treiben, die Erscheinung Rübezahls unwillkürlich in der
Einsamkeit des Gebirges unsre kritischen Köpse überrascht, ein Teil des geistigen
Lebens vieler Generationen unsrer Vorsahren an uns herantritt. Unsrer Zeit
ziemt es besser, eher zur Veredelung der Sage beizutragen, als sie zu verlachen.
So ungefähr belehrt uns Donat über den Namen des neckischen Berg-
geistes. Wir aber fragen nicht mehr, woher Rübezahl seinen Namen erhalten
hat, sondern lassen uns nur gern von seinen Thaten erzählen; er bleibt uns
nur der possenhafte, drollige, neckische, wohlthätige Herr des Gebirges, das wir
mit Freuden durchwandern.
Rübezahlsagen. 157
Nübezahllagcn. Rübezahl erlöst einen Schuhmachergesellen vom
Galgen. In einem Städtchen am Riesengebirge hielt ein Schuhmachergeselle sich
bei einem Meister auf, dem er an den Arbeitstagen tüchtig beim Handwerk half.
Sonntags jedoch hielt den lustigen Gesellen nichts im Zimmer, dann streifte er gern
in Feld und Wald umher. Zu seinen Lieblingsgewohnheiten gehörte es, nach
dem Gebirge zu gehen und dort in seinem Übermut den Berggeist zu verhöhnen
und zu beschimpfen. Nichts aber konnte Rübezahl mehr erzürnen, als Spott-
lieder, die auf ihn gesungen, und Spottreden, die auf ihn gehalten wurden;
deshalb bestrafte er den kecken Gesellen stets mit einem plötzlichen Unwetter,
das demselben jedoch keinen großen Schaden brachte, da er niemals auf das
Gebirge selbst ging. Rübezahl strengte nun seinen Kopf an, um auf Rache für
den Übelthäter zu sinnen. Der Abschied desselben vom Meister sollte ihm Ge-
legenheit dazu geben. Ehe er fortwanderte, packte der Geselle alles, was ihm
gehörte, in sein Felleisen; Rübezahl aber nahm heimlich aus des Meisters
Schrank einen silbernen Becher, silbernen Löffel, viele schöne Schaupsenuige
und legte alles in das bereits verschlossene Felleisen, mit welchem der Geselle
bald darauf gutes Mutes fortzog. Nicht lange währte es,, so öffnete der Schuh-
macher seinen Kleinodienschrank, um zu den dort vorhandenen einen neuen Schau-
Pfennig hinzuzulegen. Wie groß war aber sein Schrecken, als er viele von seinen
Kleinodien vermißte; ohne Bedenken fragt er alle seine Hausgenossen aus, hält
strenge Untersuchung, findet jedoch alle unschuldig. Nun erst fällt ihm der Ge-
felle ein, der ihn erst vor kurzer Zeit verlassen hat; schnell macht er sich auf
den Weg, holt ihn bald ein und setzt ihn zur Rede, ob er vielleicht dieses oder
jenes von den verschwundenen Kleinodien gesehen habe. Mit gutem Gewissen
antwortet der Geselle, daß ihm nichts darüber bekannt sei und daß er ihm ehr-
lich und treu gedient habe; er möge sich selbst überzeugen, daß in dem Felleisen
nur sein Eigentum vorhanden sei. Ohne Umschweife öffnet er sein Ränzel,
nimmt seine Sachen heraus und hält plötzlich die vermißten Wertsachen des
Meisters in der Hand, der höchlich erfreut über den Fang ist. Vergebens be-
tenert der Geselle, der ganz starr vor Schrecken ist, seine Unschuld, sagt, daß
vielleicht ein andrer ihm aus Rache die Kleinodien hineingelegt habe; der Meister
glaubt ihm nicht, schleppt ihn zum Gericht, wo ihm der Prozeß gemacht und er
zum Tode verurteilt wird. Alle seine Beteuerungen, daß er unschuldig sei, helfen
ihm nichts; der Tag, an dem er gerichtet werden soll, wird festgesetzt. Bevor er
jedoch seinen letzten Gang antritt, erscheint Rübezahl bei ihm und fragt ihn,
was er hier mache, worauf er mit betrübter Miene erwidert, daß er heute noch
gehenkt werden soll eines Diebstahls wegen, den er nicht begangen. „Siehe",
sprach nun Rübezahl, indem er sich zu erkennen gab, „diese Schande habe ich dir
bereitet, weil du es nie unterlassen konntest, mich zu verhöhnen. Jetzt aber hast du
genug erduldet, und ich gebe dich wieder frei." Darauf löste er ihm die Ketten,
in die er sich selbst schloß, machte ihn unsichtbar und ließ ihn aus dem Gefängnis
entwischen. Nicht lange währte es, so erschien ein Pastor, um den Sünder beichten
zu lassen und ihm das Abendmahl zu geben. Auf alle Ermahnungen desselben
hatte Rübezahl jedoch nur Spott bei der Hand, den er auch beibehielt, als er zum
Thore hinaus nach dem Galgen geführt wurde, an den man ihn henkte. Wie groß
war jedoch das Entsetzen der Anwesenden, als sie, nachdem die Henkersknechte
von der Leiter heruntergestiegen waren, am Galgen nur ein Bund Stroh sahen!
158 Das Riesengebirge.
Rübezahl bestraft den widerspenstigen Wurzelmann. Ein Wurzel-
mann, der sein tägliches Brot mit Sammeln von Kräutern und Wurzeln der-
diente, kannte den Weg zu dem feinen Wurzelgarten des Berggeistes, in dem
derselbe die seltensten Kräuter hielt, welche die Menschen nur mit seinem guten
Willen erhalten konnten. Als der Wurzelmann einige Zeit nachher seine Wurzeln
in die Apotheke von Liegnitz bringt, läßt die Frau des Oberst, der Kommandant
der Stadt ist, ihn zu sich kommen und verspricht ihm reichen Lohn, wenn er
ihr die rechte Weißwurzel verschaffe. Der Wurzelmann geht in Rübezahls
Garten und beginnt dort zu graben, wird jedoch bald von Rübezahl fort-
gewiesen, der ihn in das Gebirge verweist, wo er genug Kräuter finden könne;
was er bereits ausgegraben, darf er behalten, muß jedoch versprechen, von nun
an nicht wiederzukommen. Der Lohn, den er dafür von der Frau Oberst er-
hält, ist jedoch zu verlockend; und als diese ihn bittet, ihr noch einmal von
diesen Wurzeln zu bringen, geht er hin und gräbt wiederum in Rübezahls
Garten. Zum zweitenmal wird er weggejagt. Als er aber nach einiger Zeit
wiederkommt und von neuem zu graben beginnt, geht des Berggeistes Geduld zu
Ende. Mit kräftigen Händen greift er den Mann, reißt ihn in Stücke und läßt
diese vom Winde verwehen, so daß nichts weiter als ein Pelzärmel übrig bleibt.
Rübezahl hilft einer armen Frau. Eine arme Frau geht ins Ge-
birge, um Kräuter und Wurzeln zu suchen, verirrt sich aber im Walde und
findet den rechten Weg nicht zurück. Ängstlich blickt sie nach Hilfe umher; da
erscheint plötzlich der Berggeist in Jägerkleidung vor ihr, fragt sie, wer sie sei
und was sie hier beginne, und als sie ihm erzählt, daß sie die Wurzeln ver-
kaufe und für den Erlös sich und ihre Kinder ernähren müsse, die jetzt schon
sehnsüchtig auf sie warten, zeigt er ihr den rechten Weg und rät ihr, die Wurzeln
im Korbe fortzuwerfen und dafür das Laub von einem nebenstehenden Strauche
zu pflücken, das ihr mehr einbringen würde. Die arme Frau glaubte ihm. aber
nicht, sondern behält ihre Wurzeln und will den Heimweg antreten; Rübezahl
aber streift selbst eine Menge des Laubes ab und wirft es der Frau in den
Korb. Diese geht fort, fchüttet jedoch im Weitergehen das Lanb aus dem Korbe,
weil sie es für unnütz hält. Zu Hause angelangt, nimmt sie die Wurzeln heraus,
und als sie noch einig Blätter von dem Strauche findet, zeigt sie dieselben ihren
Hausgenossen und erzählt ihnen, daß ein Jäger sie ihr im Walde gegeben habe.
Während sie noch erzählt, verwandeln die Blätter sich in Gold, und nun merkt
sie erst, wer der verkleidete Jäger war und was er ihr geschenkt hat. Im guten
Glauben, daß sie die Stelle noch kenne, an der sie das Laub fortgeworfen hat,
geht sie zurück, findet jedoch kein Blättchen mehr.
Rübezahl beschenkt Spielleute. Vier Spielleute aus Böhmen kommen
im Sommer über das Gebirge, und als sie sich, vom langen Marsch ermüdet,
niedersetzen, um auszuruhen, kommt ein Herr vorbeigeritten, der bei ihnen hält
und sie fragt, was sie dort treiben? „Wir sind Spielleute", antworten sie;
„unsre Pfennige sind bald verzehrt, drum wollen wir Euch, wenn Ihr uns be-
zahlt, ein lustiges Stücklein spielen." Rübezahl, denn das war der Reiter, for-
dert sie auf zu spielen und gibt, ehe er weiterreitet, jedem Spielmann einen
Apfel, mit dem sie für diesmal fürlieb nehmen sollten. Die enttäuschten Leute
sehen die Äpfel an; drei von ihnen halten sie des Mitnehmens nicht wert, der
vierte jedoch steckt den seinen in die Tasche. Die nächste Herberge, in die sie
Rübezahlsagen. 159
kommen, ist von Gästen überfüllt, welche die Spielleute auffordern, einige Lieder
zu spielen. Das Geld, daß die Zuhörer ihnen dafür geben, bekommt der Wirt;
doch da es nicht ausreicht, sagen die ersten drei zu ihrem Gefährten, er möchte
doch seinen Apfel auch hergeben. Derselbe greift in die Tasche, nimmt den
Apfel heraus und fühlt sofort, daß er ganz schwer ist; schnell nimmt er ein
Messer, kratzt die Schale herunter und findet darin viele blanke Goldstücke.
Nun sehen die Gefährten ein, was sie von sich gewiesen, gehen schnell nach der
Stelle zurück, finden aber nichts mehr.
Rübezahl und die Studenten. Drei fröhliche Studenten gehen übers
Gebirge, verirren sich jedoch und kommen an ein Wirtshaus, wo sie den Wirt
bitten, ihnen zum rechten Wege zu verhelfen. Der Wirt bittet sie freundlich,
nachts bei ihm zu bleiben; sie aber gestehen ein, daß ihre Barschaft verzehrt ist
und daß sie ihm das Nachtlager nicht bezahlen könnten. Darüber beruhigt sie
der Wirt, bereitet ihnen ein gutes Mahl und fordert sie auf, sich einstweilen
mit Kegelschieben die Zeit zu verkürzen. Nachdem sie ihr Mahl verzehrt und
sich ausgeruht haben, bringt der Wirt sie auf den rechten Weg und gibt jedem
einen Kegel mit. Zwei von den Studenten verachten diese Gabe und werfen sie
von sich, der dritte aber behält die seine und nimmt sie mit zur Herberge. Als
er sie am nächsten Morgen betrachtet, findet er sie ganz schwarz und schwer,
schneidet mit einem Messer hinein und findet sie gefüllt mit Goldstücken. Die
beiden Gefährten bedauern, so unüberlegt gehandelt zu haben; schleunigst gehen
sie zurück, um ihre Kegel zu holen, die aber nirgends mehr zu sehen sind.
Rübezahl schenkt Edelsteine. Zur Zeit der Reformation geht ein
Pfarrer mit seinem Küster übers Gebirge, um drüben eine geistliche Handlung zu
verrichten. Auf seiner Wanderung kommt er an ein Bächlein, an dessen Rande ein
Italiener sitzt, eben damit beschäftigt, kleine Steine aus dem Wasser zu holen,
die er neben sich legt. Als er die beiden Wanderer näher kommen sieht, springt
er auf, läßt das Gesammelte liegen und läuft eilig fort. Der Pfarrer, erstaunt,
an dieser Stelle, an der er so oft vorübergekommen war, ein Bächlein zu finden,
hebt einige der Steine auf und steckt sie zu sich. Wie groß ist seine Überraschung,
als er am nächsten Tage die Steine vom Goldarbeiter untersuchen läßt und von
diesem hört, daß es köstliche Edelsteine sind! Ohne Zeit zu verlieren, kehrt er
nach der Stelle zurück; weit und breit ist jedoch weder Bächlein noch Stein zu sehen.
Rübezahl, ein Feind der Hunde. Allbekannt und weit verbreitet ist
der Glaube, daß Rübezahl keinen Hund auf dem Gebirge leide, weil er das Wild,
das sich dort zeigt, selbst jagen und keinem andern überlassen will. Der Jäger
des Herrn von Schassgotsch jedoch hatte seine Wohnung droben im Gebirge,
. ohne einen Hund dort behalten zu können. Als ihm sein Herr einstmals befahl,
einen Hund zu sich nach oben zu nehmen, wagte der Jäger ihn daran zu er-
innern, daß man oben keinen Hund halten könne. Der Herr gebot, daß sein
Befehl ausgeführt werde, und schweigend nahm der Jäger einen Windhund
nach seiner Wohnung. Ehe er dieselbe erreichte, begegnete er einem Manne, der
vor ihm stehen blieb und den vorübergehenden Hund lange Zeit starr ansah.
Der Jäger konnte sich das Benehmen des Mannes nicht erklären, vergaß die
Begegnung jedoch bald, als er seine Wohnung erreicht hatte, und sperrte den
Hund in einen Stall. Groß war seine Bestürzung, als er am nächsten Morgen
denselben leer fand und auf sein Rufen und Pfeifen auch kein Hund erschien.
160 Das Riesengebirge.
Als er sich am Tage auf den Weg machte, Wild zu suchen, in der Hoffnung,
gleichzeitig seinen Hund wiederzufinden, sah er zu seiner Betrübnis nur hier
und da an den Bäumen ein Stück des schönen Hundes hängen. So hatte Rübe-
zahl sich des lästigen Nebenbuhlers im Jagen entledigt.
Rübezahl als Hochzeitsgast. Einstmals reitet Rübezahl mit zwei Ge-
fährten aus, um sich ein wenig zu belustigen. Aus ihrem Marsche kommen sie in ein
Dorf, in dem soeben die Hochzeit zweier armen Leute gefeiert wird. Als die
Braut, wie es die dortige Sitte erfordert, mit ihren Gästen in die Schenke zum
Tanze geht, drängt auch Rübezahl sich hinein und bittet den Bräutigam, ihm
zu gestatten, mit seiner Braut einen Ehrentanz zu thun; das gibt dieser auch
bereitwillig zu. Während des Tanzes bindet Rübezahl der Braut zwei rote
Bänder um den Arm und gibt dem Bräutigam ein Geldstuck. Die Nacht der-
bringt er in der Schenke und rüstet sich am Morgen mit seinen Gefährten zum
Fortreiten. So schnell aber möchte der Wirt den hohen Gast nicht verlieren
und bittet im Namen des Bräutigams um die Ehre, das Frühstück bei ihm zu
verzehren. Rübezahl aber schlägt es ab, bezahlt feine Zeche und reitet von
dannen. Als die Gäste sich nun wiederum zusammenfinden, zeigt der Bräutigam
ihnen sein Geschenk; alle sehen es mit Verwunderung an, ohne zu wissen, was
es ist. Als der Pfarrer kommt, wird es auch diesem gezeigt; er nimmt es in
die Hand, wendet es hin und her und sieht, wie es sich in seinen Händen in
ein großes Goldstück verwandelt. Nun eilt auch die Braut mit ihrem Geschenk,
den beiden roten Bändern, herbei, und mit Staunen und Verwunderung sehen
die Umstehenden die Bänder sich in schöne Armspangen verwandeln.
Rübezahl hänselt einen Glaser. Auf seinem Spaziergange trifft
Rübezahl einen Glaser, der stöhnend seinen Glaskasten über das Gebirge -trägt.
„Ei", denkt Rübezahl, da ihn die Langeweile plagte, „du sollst mir ein wenig die
Zeit vertreiben und mir eine angenehme Stunde verschaffen." Schnell ver-
wandelt er sich in einen Holzklotz, den der Glaser mit erfreuten Mienen be-
trachtet, seinen Glaskasten daran stellt und sich selbst darauf niederläßt, um ein
wenig zu rasten. Das Plätzchen ist gar zu behaglich und schattig, und da nichts
ihn stört, schläft er ein wenig ein und denkt noch im Einschlafen: „Wenn doch
Rübezahl käme und mir den Glaskasten nach Hause trüge, wie dankbar würde
ich ihm sein." Kaum hatte er jedoch ein wenig geruht, da beginnt der Klotz sich
plötzlich zu regen; erschrocken erwacht der Glaser und muß nun ganz bestürzt
sehen, wie der Klotz seinen Glaskasten umwirft und die in demselben enthaltenen
Scheiben in tausend Stücke schlägt. Verzweifelt sieht er die Scherben an, ringt
die Hände und ruft: „Ich bin ein ruinierter Mann!" Trostlos und mit trüben
Gedanken an die Zukunft tritt er seinen Heimweg an. Rübezahl aber wollte.
den Schaden des Glasers nicht; denn während dieser noch jammerte, trug er den
Glaskasten mit den unversehrten Scheiben nach dem Hause des Glasers, der ihn
bei seiner Ankunft zu seiner großen Freude wiederfand.
Rübezahl bestraft einen Boten. Hoch oben aufdem Gebirge wandert
ein Bote, und da der steinige Weg ihm das Gehen erschwert, ruft er unmutig aus:
„Wenn Rübezahl doch für arme Leute hier oben Reitpferde halten möchte!"
Eine solche Sprache ärgerte den Berggeist, und er beschließt, den Boten zu be-
strafen. Kaum ist dieser einige Schritte weitergegangen, als sein Gehstock ihm
zerbricht. „Nun wird es noch mühseliger und schwerer vorwärts gehen", denkt
Rübezahlsagen. 161
der Bote, „wenn Rübezahl nur einige Bäume hätte wachsen lassen, -von denen
man sich einen Stab abschneiden könnte." Zu seinem Erstaunen findet er nur
wenige Schritte weiter an einem Felsblock einen ähnlichen Stock wie der seinige
war. Da kein Mensch zu sehen ist und auf sein Rufen und Pfeifen auch niemand
erscheint, so nimmt er sich getrost den Stock, wandert mit ihm fort und freut
sich des guten Tausches. Doch der Stock wird mit der Zeit schwerer und schwerer,
ohne daß der Bote die Ursache hiervon entdecken kann; und als er ihm zufällig
zwischen die Beine kommt, erhebt er sich plötzlich und trägt ihn durch Dick und
Dünn, über Wald und Feld, Berg und Thal, Wiesen, Abgründe und Klippen.
Der Bote erhebt ein furchtbares Geschrei, doch kein menschliches Wesen hört
ihn; fest klammert er sich an. Städte mit ihren Häusern und Türmen sieht er
unter sich, es schwindelt vor seinen Augen und er sieht nur noch, wie der Stock
in eine öde Felswildnis hineinstürzt. Er verliert die Besinnung, stürzt zu Boden
und als er erwacht, findet er sich vor seinem Hause, und neben ihm liegt Hut
und Stock. Verwundert sieht er sich um, fragt, wie er hierher gekommen sei,
und muß zu seinem Schaden noch den Spott der Nachbarn in den Kauf nehmen,
die ihn auslachen, daß er die Nacht vor seinem Hause und nicht drinnen zu-
gebracht habe.
Rübezahl hilft einem Bedrängten. Ein Bauer, der sich redlich von
früh bis spät quält, kommt durch Unglücksfälle von Jahr zu Jahr in größere
Schulden, die er, als ein Hagelschlag seine üppigen Felder trifft, nicht mehr im
stände ist zu bezahlen. Vergebens bittet er bei Freunden und Nachbarn um
ein Darlehen; überall wird er fortgewiesen, und als ein Gläubiger ihm seine
letzte Kuh nimmt, zieht Mangel und Not in sein Haus ein, Frau und Kinder
schreien nach Brot, das er ihnen nicht geben kann. In seiner Verzweiflung
denkt er an Rübezahl, der fchon fo manchem geholfen hat; er geht ins Gebirge,
ruft ihn und bittet, ihn zu retten. Da legt sich eine rußige Hand auf seine
Schulter, und als er sich umwendet, steht ein Köhler vor ihm, der zornig aus-
ruft: „Schon vielen half ich, die ich für treu und ehrlich hielt; doch keiner hat
meine Gabe wert geachtet; deinen Kindern zuliebe will ich dir die Sorgen
abnehmen. Doch halte die Pfennige zusammen, damit du wieder zu deiner
Habe kommst." Schweigend führt der Berggeist den Bauer an einen Schacht,
zeigt ihm eine Truhe mit Gold und fordert ihn auf, so viel zu nehmen, wie
er brauche. Darauf läßt er ihn einen Schein unterzeichnen, ermahnt ihn, fleißig
zu sein und in drei Jahren an demselben Ort das Geld zurückzugeben. Strahlend
vor Glück stammelt der Bauer seinen Dank und geht fort, um in der Stadt
Nahrungsmittel einzukaufen, die er seiner Frau und seinen Kindern nach Hause
bringt. Vereint mit seiner Frau arbeitet er früh und spät und hat die Freude,
seine Saaten aufs beste gedeihen zu sehen. Als das dritte Jahr vergangen ist.
zieht er seinen Sonntagsrock an und geht mit seiner Familie ins Gebirge, um
den Ort aufzusuchen, an dem er fein Geld zurückerstatten muß. Vergebens aber
sucht er den Schacht; nirgends ist die Stelle zu finden, aus der er vor drei
Jahren sein Geld holte. Plötzlich erhebt sich ein Wirbelwind, der ein Blatt dem
Bauer entgegentreibt, auf dem mit Kohle geschrieben stand: „Zu Dank bezahlt!"
Rübezahl beschenkt einen armen Schuster. Müde und matt, mit zer-
rissenen Stiefeln, von der Sonne ermattet, von Hunger und Durst geplagt, kommt
ein Schuster des Weges daher und ruht sich an einem schattigen Plätzchen aus.
Deutsches Land und Volk. VIII. 11
162 Das Riesengebirge.
Betrübt blickt er in die Ferne und sieht einen Wanderer in schöner Tracht
herankommen, der lustig ein Liedchen pfeift. Der arme Bursche faßt sich ein
Herz, tritt zu dem Wanderer und bittet kläglich um eine Gabe. Der Fremde
spricht ihm freundlich Mut zu, nimmt sein Frühstück aus der Tasche, teilt es
mit dem Schustergesellen und überreicht ihm, ehe er seinen Weg fortsetzt, ein
Paar neue, derbe Stiefel. Dem Gesellen kommen vor Freude die.Thränen in
die Augen, er nimmt die Hände des Gebers, küßt sie, stammelt seinen Dank
und geht weiter. Die schönen Stiefel leisten ihm zwei Jahre die besten Dienste;
doch endlich werden auch sie mürbe und schwach, und durch die Sohlen dringt
die Nässe. Der Geselle nimmt sie nun in die Hand, betrachtet sie wehmütig,
zerschneidet die Sohlen und sieht mit freudigem Erstaunen Dukaten herausrollen.
Rübezahl belohnt eine Spinnerin. Auf hartem Lager mit bleichen,
abgezehrten Wangen liegt eine kranke Frau, der das Nötigste zur Genesung,
die Pflege, fehlt. Ihr Töchterchen, das ruhig die Spindel' 'dreht, tröstet sie und
erzählt ihr, daß sie in dieser Woche fleißig gesponnen habe und das Gesponnene
jetzt zum Händler tragen wolle. Eilig macht sie sich auf den Weg, findet zu
ihrem Schrecken aber den Flnß ausgetreten, so daß kein Pfad mehr zu sehen ist.
Sie spricht sich selbst Mut zu, schürzt ihr Gewand auf und überschreitet den
Fluß. Glücklich hat sie schon das Ufer erreicht, geht schnell zum Händler, öffnet
sreudig ihr Körbchen, findet dasselbe jedoch zu ihrem Entsetzen leer. Flehentlich
bittet sie den Händler, ihr etwas Vorschuß zu geben, sie wolle es redlich ab-
arbeiten. Dieser aber weist sie mit harten Worten hinaus, und schweren Herzens,
mit thränenden Augen, geht sie fort. Unterwegs spricht ein Jäger sie an, er-
zählt ihr, daß seine Schwestern köstliches Linnen spinnen und bittet sie, am
brausenden Flusse auf ihn zu warten, er wolle sie ungefährdet an das Ufer
bringen. Stunde auf Stunde wartet das Mädchen dort; während die Mutter
unruhig ihrer harrt, sitzt sie weinend am Ufer und sieht, wie das Wasser von
Minute zu Minute steigt. Schon bricht der Abend herein, die Sterne stehen
am Himmel: da endlich erscheint der Jäger, füllt das Körbchen mit stärkendem
Wein und köstlichem Gespinst, nimmt das Mädchen in seine starken Arme, mit
denen er die mächtige Flut zerteilt, und bringt sie unversehrt in ihre Wohnung.
Hier erst gewahrt das Mädchen die köstlichen Spenden und merkt, daß Rübezahl
ihr Retter gewesen ist.
Rübezahl bestraft einen Schmarotzer. Ein unverschämter Patron,
der tags über auf der Bärenhaut liegt und sich stets von andern bewirten läßt,
geht eine reiche Edelsran um ein gutes, fettes Amt an. Zu dem Zwecke fertigt
er eine Bittschrift aus, in der er die Vorzüge der Dame unmäßig erhebt, und
hofft, durch diese Schmeicheleien die Gunst derselben zu erwerben. Da der Weg
zum Schlosse weit ist. streckt er sich unterwegs im Schatten nieder, um sich aus-
zuruhen und gleichzeitig den Brief noch einmal mit Wohlbehagen durchzulesen.
Durch das Aufflattern einer Krähe wird er erschreckt; das Blatt entfällt ihm
und der Wind führt es weit hinweg in die Berge. Mit Grimm sieht der
Speichellecker dem Spiel der Winde zu. als er hoch erfreut neben sich im Grase
eine Feder liegen sieht. Hastig ergreift er dieselbe, geht in eine Köhlerhütte und
schreibt seine schamlos dreiste Bitte zum zweitenmal auf. bemerkt aber nichV
daß sich durch unsichtbare Hand jedes seiner Schmeichelworte in ein Schmähwort
verwandelt, die mit beißendem Spott die Fehler der Dame rügen, die ihr
\
Rübezahlsagen. 163
vorwerfen, daß sie die Unterthanen drücke und falsch und lieblos sei. Mit immer
wachsendem Zorne liest darauf die Edelfrau das Blatt; ohnmächtig, vor Wut
läßt sie den erbärmlichen Wicht von ihren Hunden ans dem Schlosse jagen, der
nicht schnell genug das Weite erreichen kann.
Rübezahl verwandelt sich in einen Oberst. Eine alte Gräfin, die
von der Gicht geplagt ist, reist mit ihren Töchtern und Zofen nach Karlsbad,
um dort Heilung zu finden. Der Wagen, der mit Sachen schwer beladen ist,
geht nur langsam über die gebirgigen Wege, die vom Regen durchweicht sind.
Endlich kommt der Mond hervor und wirft sein mattes Licht auf den Weg, so ,
daß unheimliche Schatten hin und her wanken. Plötzlich.fragt Johann, der
Diener, der schon lange mit ängstlichem Gesicht in das Gebüsch gestarrt hat,
den Postillion: „Siehst du dort den Mann, der seinen Kopf unter dem Arme
trägt?" „Still", antwortet der Postillion, „schon lange sehe und beobachte ich
ihn mit Entsetzen." Immer näher und näher kommt das Ungetüm; schon ist
es dicht am Wagen, da schwingt es seinen eignen Kopf, wirft mit diesem den
Diener, so daß dieser herunterfällt und im Fallen den Kutscher mitzieht. Der
Fremde schwingt sich in den Sattel und fährt wie toll mit dem Wagen davon.
Die Damen schreien entsetzt um Hilfe; da naht sich dem kopflosen Manne plötzlich
ein zweiter, der in flüsterndem Tone den ersten zornig fragt, was er hier
beginne? Zitternd antwortet dieser: „Ach, Herr vom Berge, habt Erbarmen
mit mir, quält mich nicht zu grausam und verschont mich." „Deine Strafe
wirst du später bekommen", antwortet der zweite, „jetzt bestimme ich über die
Fahrt." — Sich tief verneigend tritt er an den Wagen, reicht den Damen
wohlriechende Essenzen, stellt sich als Oberst Riesenthal vor, ladet sie ein, in
sein Schloß zu kommen, und erzählt, daß dieser Schurke sich als Berggeist
Rübezahl vermummt habe, um sie irre zu führen. Bald hält der Wagen vor
dem Schloß, Diener gehen geschäftig hin und her; in den reich geschmückten
Zimmern ist Tageshelle und ein gemütliches Feuer prasselt im Kamin. Ein
Arzt ist zur Hand, der den Damen kleine Mittel gibt, den letzten Schreck zu
vertreiben, und endlich sind diese so weit hergestellt, daß sie sich zur Gesellschaft,
die im Schloß versammelt ist, begeben können. Mit silbernem Geschirr ist der
Tisch gedeckt, köstliche Speisen stehen darauf, bald ist Schreck und Reise ver-
gessen, und bei Tanz und Spiel, unter Scherzen und Lachen vergeht die Zeit.
Inzwischen stellen auch die Diener sich ein, die von Dornen arg geschunden sind
und beschämt gestehen, daß der Kopf, der so viel Unheil anrichtete, ein großer
Kürbis war. Die Helden werden weidlich ausgelacht und witzige und heitere
Gespräche wollen kein Ende nehmen. Der Koch bringt das Konfekt, und zum
Erstaunen aller hat er mit kunstvoller Hand den Überfall im Walde in den
Süßigkeiten dargestellt. Natürlich gab dies neuen Stoff zum Lachen; die Gräfin
scherzt am meisten und erklärt, daß sie an keinen Rübezahl glaube, sonst hätte
er gewiß nicht geduldet, daß sie so arg in Schrecken versetzt wurden. Schon
graut im Osten der Tag, und jeder der Gäste sehnt sich nach Ruhe. Nachdem
sie auf kostbaren Betten ausgeruht haben, rüsten sie sich zur Weiterreise, danken
dem Oberst Riesenthal mit warmen Worten für die Bewirtung und fahren ab.
Nach langer, mühseliger Fahrt kommen sie an ihren Bestimmungsort, und die
Gräsin eilt, im warmen Bade ihre matten Glieder zu stärken. Wer beschreibt
jedoch ihr Erstaunen, als sie am Kurhause den Arzt erblickt, der sie im Schloß
11*
164 Das Riesengebirge.
behandelt hat. „Wie ist es möglich", ruft sie, „daß derselbe Mann, den ich
vor kurzem noch im Schloß gesehen, bereits vor uns hier sein kann? Trügen
meine Sinne mich?" Schnell geht sie ihm entgegen, begrüßt ihn, freut sich, ihn
wiederzusehen und plaudert mit ihm von dem angenehmen Abend aus dem
Schlosse; er aber sieht sie verwundert an, versichert, daß er von allem nichts
wisse, und im Glauben, daß ihr Geist vielleicht gelitten hat, rät er ihr zu einem
Trank und beruhigt sie mit den Worten, daß das Bad ihr gewiß Heilung
bringen würde. Immer größer wird das Entsetzen der Gräfin, als sie am Abend
den Oberst mit seiner Gesellschaft erblickt; dieselben Gäste, die im Schlosse
waren, sind hier versammelt. Freundlich eilt sie auf dieselben zu, wird jedoch
mit kalten, spöttischen Mienen empfangen; man zuckt die Achsel, und alle sind
einig darüber, daß sie eine Geisteskranke vor sich haben. Da sie jedoch eine
Edeldame ist, so nimmt die Gesellschaft darauf Rücksicht, und nach und nach ver-
stummt der Spott. — Als nun die Badekur beendet ist und die Gräfin abreist,
macht sie im Gebirge Halt, um sich von dem Oberst Aufklärung zu verschaffen.
Doch — wohin sie auch schaut, vom Schlosse ist keine Spur zu finden, und
den Namen „Riesenthal" kennt niemand. Jetzt erst wird es ihr klar, daß Rübe-
zahl sie beschützt, gerettet und dann sein neckend Spiel mit ihr getrieben hat.
Rübezahl rettet einen Unglücklichen. Auf steinigem Wege, hart an
jähen Schluchten, irrt ein einsamer Wanderer, den Gram und Sorge ins Freie
getrieben haben. Er denkt über sein hartes Schicksal nach, das ihm keinen
Wunsch gewährt, jede Hoffnung vereitelt und sein Streben unbelohnt gelassen
hat. „Vielleicht", denkt er, „gibt die Bergesluft dir neuen Mut und frische
Kraft zum Streben und Ringen." In seine Gedanken vertieft, merkt er nicht,
daß ein schwerer, grauer Nebel sich auf das Gebirge legt; und unrettbar wäre
der Arme in den Abgrund, den er nicht sieht, gestürzt, hätte ihn nicht zu rechter
Zeit ein Fremder gerettet. Dieser sah die Todesgefahr, in welcher der Wanderer
schwebte, tritt schnell zu ihm und ruft: „Rührt keinen Fuß, denn neben Euch
ist ein tiefer Abgrund; reicht mir die Hand, ich geleite Euch und bringe Euch
an einen sicheren Ort! Seht, soeben fing ich diese schöne Forelle. Kommt mit
in meine Hütte und verzehrt sie mit mir." Der Wanderer nimmt dies An-
erbieten gern an und beide gehen der Hütte zu. Der Nebel schwindet nach und
nach, die Sonne bricht sich Bahn, köstliche Düfte steigen herauf, und mit dem
Licht und der würzigen Luft schwinden auch die finsteren Gedanken des Lebens-
müden, und fröhlich sieht auch er wieder in die Zukunft. — Auf sauber ge-
decktem Tische dampft die Forelle und köstlicher Wein ladet zur Mahlzeit ein.
Der Wirt tritt herein und entschuldigt sich mit verlegener Stirn, daß er den
Gast habe so lange warten lassen, da er vom gestrigen Feste noch müde war,
freut sich jedoch, daß seine Magd den Gast gut bedient hat. Scherzend droht
derselbe mit dem Finger und sagt: „Scherzt nur, mit wem Ihr wollt; Ihr
wäret es ja selbst, der mich in Euer gastliches Haus geleitet hat; den Fisch hattet
Ihr eben gesangen, und ohne Euch läge ich jetzt zerschmettert in der Tiefe."
„Nun denn", antwortet der Wirt, „so dankt Eurem Schöpfer, der Euch
„Rübezahl" zur Rettung sandte." Nun erst wird dem Gaste seine wunderbare
Rettung klar, und begeistert ruft er: „Auf dein Wohl! du Herr vom Berge.
Sei gesegnet immerdar!"
Adersbacher-Weckelsdorfer Felsen (mit der Sennerhlltte). Nach Zeichnung von G. Täubert.
Das Piildttiliurzrr Krrglanii.
Landeshuter Kamm. Das Waldenburger Bergland. — Waldenburg. — Charlotten-
brunn. — Altwasser. — Bad Salzbrunn. — Fürstenstein und der Fürstensteiner
Grund. — Der 20. August 1800 auf dem Fürstenstein. — Adersbach und Meckels-
dorf. — Von Schweidnitz nach dem Zobten. — Die Einsegnung des Lützowschen
Freikorps in Zobten. — Die Burg Kynsberg im Schlesierthale. — Die Sagen der
Kynsbnrg. — König Friedrich II. in Strehlen. — Warkotsch und der Jäger Koppel.
Landeshuter Kamm. Das Waldenbnrger Lergland. Der Teil des Riesen-
gebirges, welcher östlich von Schmiedeberg und den Grenzbauden liegt und bis
an den Bober reicht, heißt am passendsten das Landeshuter Gebirge, da es den
südlichen Teil des Landeshuter Kreises erfüllt und seine Grenze bildet; er ge-
hört seiner Natur nach zum Riesengebirge, besteht aus Gneis und Glimmer-
schiefer und hat breite und sanft gewölbte Rücken, deren Abhänge bewaldet sind.
An diesen Kamm schließt sich östlich das Waldenburger Bergland, welches
sich bis zum Eulengebirge hinzieht; es erfüllt den ganzen Waldenburger Kreis
und hat von diesem seinen Namen. Dieses 19 km. breite und 22 km aus-
gedehnte Gebiet bezeichnet man am besten nicht als ein Gebirge, sondern als
ein Bergland, da es keine deutlich ausgeprägten Züge enthält. Selbst die ein-
zelnen am meisten hervorragenden Spitzen ermöglichen nur zum Teil eine
Orientierung. Nirgends ist eine Ebene zu finden; reichbelebte Thäler zwischen
166 Das Waldenburger Bergland.
Porphyrbergen, die stark bewaldet sind und darum nicht überall Aussichtspunkte
bieten, durchziehen das mehr liebliche als großartige Land. Die Abhänge sind
zum Teil sehr schroff, die Bewässerung ist nicht reichlich. Nördlich von Walden-
bürg herrscht lebhafter Steinkohlenbergbau. Kranke suchen und finden Genesung
in den Badeorten Salzbrunn, Altwasser, Charlottenbrunn, Görbersdors. Nach der
Ebene hinaus erstrecken sich niedrige Ausläufer der Anhöhen bis nach Striegau.
Waldenburg. Der bedeutendste Ort der ganzen Gegend ist die Kreisstadt
Waldenburg, die von allen Seiten von bewaldeten Höhen eng eingeschlossen ist.
Die Stadt erhebt sich ziemlich in der Mitte des niederschlesischen Steinkohlen-
beckens, welches hier die mächtigsten, nur an einzelnen. Stellen durch Porphyr-
und Sandsteinlager unterbrochenen Kohleuflötze enthält. Bei der hohen Lage
des Ortes ist das Klima im allgemeinen rauh, und es herrschen fast nnaus-
gesetzt rauhe Luftströmungen, welche häufig Krankheiten der Atmungsorgane
herbeiführen. Die 12 060 Einwohner leben meist vom Bergbau und von der
Weberei. Die Anfänge des Bergbaues reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück.
Derselbe wurde aber durch den Dreißigjährigen Krieg lange Zeit unterbrochen
und erst 1743 wieder aufgenommen. In diesem Jahre waren nur 50 Arbeiter
in den Werken beschäftigt; die Zahl derselben stieg jedoch bis zum Jahre 1784
auf 424. Wegen der schnellen Entwicklung des Bergbaues wurde im Jahre
1778 eine Bergwerksdeputation errichtet, an deren Stelle 1793 ein Bergamt
trat, welches bis zum Jahre 1361 bestanden hat. Gegenwärtig werden in dem
ganzen Waldenburger Kohlenrevier über 10 000 Arbeiter beschäftigt und über
40 Millionen Zentner Steinkohlen gefördert, deren Absatz hauptsächlich nach
Niederschlesien gerichtet ist. In den zum Stadtbezirk gehörigen Gruben sind
2300 Arbeiter thätig, die gegen 12 Millionen Zentner Kohlen zu Tage
fördern. Die Weberei, welche schon im 14. und 15. Jahrhundert betrieben
wurde, beschäftigte sich bis zum Dreißigjährigen Kriege fast ausschließlich mit
der Fabrikation von Tuchen, in welcher Waldenburg selbst Schweidnitz und Janer
übertraf. Der Krieg vernichtete diesen Erwerbszweig. Erst zu Anfang des
18. Jahrhunderts hob sich die Weberei wieder, wandte sich aber von da ab
der Herstellung von Leinenwaren zu. Die fertigen Waren, mit denen Walden-
bürg einen lebhaften Handel nach Hamburg, England, Holland und Spanien
trieb, stellten im Jahre 1775 einen Wert von 160000 Mark, im Jahre 1800
einen solchen von mehr als 3 Millionen Mark dar. Die Drangsale des Krieges
von 1806 trafen in hohem Grade den Leinwandhandel von Waldenburg, desfen
frühere Blüte noch nicht ganz wieder hergestellt ist. Die Beteiligung der Stadt
selbst an der Leinwandweberei ist unbedeutend; vielmehr wird dieselbe an den
kleineren Orten des Kreises betrieben und beschäftigt über 4000 Arbeiter. Für
Leinenwaren sind über 2000, für Baumwollenwaren über 500, für Waren
gemischter Stoffe über 400 Handwebestühle im Gange; außerdem arbeiten fechs
große Fabrikanlagen mit fast 1400 Maschinenstühlen. In Waldenburg selbst
ist eine Spinnerei mit 300 Arbeitern. Unter den übrigen daselbst fabrikmäßig
betriebenen Gewerben ist zu nennen die Herstellung von Porzellan.. Die Por-
zellanfabrik beschäftigt 1300 Arbeiter und liefert jährlich Waren im Werte von
mehr als einer Million Mark, die in Schweden, Dänemark, Rußland, Frank-
reich, England und Amerika ihre Abnehmer haben.
Waldenburg. 167
Die Gründung von Waldenburg fällt in das Ende des 12. Jahrhunderts.
Sicher ist, daß schon 1191 die katholische Marienkirche daselbst bestand, deren
Erbauung einem Grasen Czettritz von Neuhaus zugeschrieben wird. Die Kirche
und namentlich die noch jetzt vorhandene, unterhalb des Altars sprudelnde, sür
besonders heilkräftig geltende Quelle wurde lange Zeit von Wallfahrern be-
sucht, zu deren Aufnahme nach und nach eine Anzahl Häuser entstand, welche
den Anfang der Stadt bildeten. Diese blieb etwa 500 Jahre im Besitze der
Grasen von Czettritz.
Im Jahre 1719 kaufte ein Graf zu Stolberg-Wernigerode die Herrschaft
Waldenburg, aus dessen Händen sie 1738 in den Besitz der Grafenfamilie
von Hochberg kam, welche bis 1809 die Grundherrschaft ausübte.
Während der Schleichen Kriege wurde die Stadt von Pandnren unter
dem Oberst Trenk, im französischen im Jahre 1807 von Württembergern unter
Vaudamme geplündert. Der Siebenjährige Krieg verursachte der Stadt 33 000,
der französische 126 000 Thaler Kosten.
Interessant sind Spaziergänge von Waldenburg aus nach allen Seiten hin.
Wenden wir uns nach Westen, so erreichen wir bald Hermsdorf und die Stadt
Gottesberg. Überall begegnet uns hier der Steinkohlenbergbau. Schornsteine
an den Förderungsschachten und Wettertürme, die dazu dienen, die schlechte Luft
aus den Gruben zu schaffen, ragen empor; die Vorwärtshütte läßt ihre gut
angelegten Hochöfen dampfen. An der Südseite des langen Dorfes Hermsdorf
stoßen wir auf ein mit Stangen nmzäuutes Loch, das der brennende Schacht
genannt wird, aus dem die heiße Luft eines feit Jahren brennenden Kohlen-
flötzes aufsteigt. Dem nahen Gottesberg wird das Trinkwasser, weil es im
Orte keins gibt, von dem gegen 7 km entfernten Orte Kohlau durch ein Hebe-
werk und durch Röhrenleitung zugeführt.
Wandern wir nach Süden, fo kommen wir durch das große Dorf Ober-
Waldenburg nach Dittersbach, in dessen Umgegend viel Rindviehzucht betrieben
wird, da die Berglehnen daselbst reichliches und gutes Futter bringen; denn sie
sind reich an Wiesen- und Grasplätzen. In der Nähe des Dorfes liegt das
Gut Neuhaus, zu dem die auf hohem Berge gelegene Burg Neuhaus gehört.
Die Mauern dieser Burg sind gut erhalten; sie zu durchstreifen ist interessant,
da eine in den Fels gehauene Zisterne und große Kellergewölbe trotz teilweiser
Verschüttung noch sichtbar sind. Von der Höhe blicken wir in den sogenannten
Schwarzen Grund, ein ganz unbewohntes Waldthal. Die Burg soll um 1360
von Bolko II. erbaut, dann 1390 zerstört und später wieder aufgebaut worden sein.
Im 15. Jahrhundert ist sie nach den Hussitenkriegen ein berüchtigtes Ranbnest
gewesen. Die Sage erzählt wie bei vielen andern Burgruinen auch hier von
verborgenen Schätzen, die derjenige hebt, der die Schlüssel zu ihnen finden wird.
Aber Burg Neuhaus hat auch eine schöne Sage aufzuweisen, die uns an die
Weiber von Weinsberg erinnert. Einst war nämlich der Burgherr von Neu-
haus in die Hände seiner Feinde gefallen. Da warf sich des Gefangenen Ge-
mahlin dem Führer der feindlichen Schar zu Füßen, als er sie von ihrer Burg
vertreiben wollte, und bat nur um die Gnade, so viel von ihrer Habe fort-
nehmen zu dürfen, als sie in einem Backtrog tragen könne. Als ihr diese
Gnade bewilligt war, legte sie ihren Mann in den Trog und befreite ihn so
aus der Gefangenschaft.
168 Das Waldenburger Bergland.
Von Neuhaus kommen wir auf lieblichen Wegen nach dem Marktflecken
Charlottenbrunn, der, von1500 Einwohnern bewohnt, in einem sich gegen
die Weistritz öffnenden, waldreichen, romantischen Thalkessel gelegen ist. Seit
dem Ende des 17. Jahrhunderts ist der Ort als Badeort in Aufnahme ge-
kommen und wird wegen seiner vorteilhaften Lage und wegen der leichten Ver-
daulichkeit seiner erdig-alkalischen Eisenwasser von 6° E. besonders Brust-
kranken und nervenschwachen Personen empfohlen. Das Bad ist jährlich von etwa
1000 Kurgästen besucht. Die Einwohner leben entweder von der Bewirtung
der Kurgäste oder vom Garn- und Leinwandhandel, oder sie suchen in den
Bergwerken der Umgegend Beschäftigung. Alle Häuser gruppieren sich um den
Brunnen und bilden nach Süden zu eine Gasse. Die Charlottenquelle ist mit
einem Häuschen überbaut; hinter dem Badehause, in welchem die Eisenquelle
sprudelt, ist eine Kolonnade errichtet, die bei ungünstigem Wetter viel benutzt wird.
So lieblich und freundlich Charlottenbrunn von Natur ist, soviel ist für die
Besucher desselben durch die Kunst geschehen. In dieser Beziehung hat sich be-
sonders der im Jahre 1868 daselbst verstorbene Apotheker und Brunneninspektor
Dr. Beinert verdient gemacht; er hat den Karlshain angelegt, den eine Menge
Wege durchkreuzen, von welchen jeder zu irgend einem durch Steininschriften
bezeichneten, mit einer Statue oder einem Denkmale geschmückten Platz oder
einer mineralisch, geologisch oder botanisch interessanten Gruppe führt. Der
höchste Punkt der Anlage ist die Ludwigshöhe; ein vielbesuchter Platz ist Garves
Ruh, der so genannt ist nach dem Philosophen Christian Garve, der hier gern
verweilte. Nicht weit von diesem Platz stoßen wir auf das Beinert-Denkmal,
einen 33/4 m hohen Sandsteinobelisk, der dem verdienstvollen Bürger Charlotten-
brunns zu Ehren errichtet worden ist. Eine lohnende Partie von dem Badeorte
aus ist die nach dem Dorfe Kynan und der Kynsbnrg, die auch vielfach von
Schweidnitz aus unternommen wird.
Altwasser. Trotzdem Waldenburg mit dem nördlich gelegenen Altwasser
Eisenbahnverbindung hat, ist, weil der Waldenburger Bahnhof von der Stadt
entfernt liegt, der Verkehr auf den Fuß- und Fahrstraßen zwischen beiden Orten
fast noch lebhafter als der auf der Bahn. Altwasser ist durch seine kohlensäure-
haltigen, erdig-salinischen Stahlquellen und durch sein mildes Klima schon früh
als Kurort bekannt geworden und wird bereits 1357 als Antiqua aqua be-
zeichnet. Sieben Quellen, von denen der Oberbrnnnen schon 1646 gefaßt war,
der Luisenbrunnen erst 1357 erbohrt wurde, waren in ihrem Charakter einander
ähnlich und wurden zum Trinken und Baden benutzt. Jetzt macht Altwasser
auf den Namen eines Badeortes keinen Anspruch mehr; denn die Quellen sind
zum Teil versiegt, zum Teil unbedeutend geworden, weil der mit großem Fleiß
betriebene Bergbau immer mehr in die Tiefe gegangen ist. So versiegten 1869
der Georgsbrunnen und der Friedrichsbrunnen durch das weitere Abbauen der
Kohlenflötze. Früher bot Altwasser mit seinen Naturreizen seinen Kurgästen ein
stilles und gemütliches Leben; in den letzten dreißig Jahren ist die Physiognomie
eine wesentlich andre geworden. Die Einwohnerzahl hat sich verdreifacht, ist auf
8100 gestiegen und mußte ein eignes Kirchspiel bilden; auch eine katholische Kirche
ist erbaut und 1870 eingeweiht worden. Der Ort erscheint, namentlich an Sonn-
tagen, sast wie eine Vorstadt von Breslau; und an Wochentagen macht der Qualm
Altwasser. Bad Salzbrunn. 169
der den Dampfessen entsteigt, den Aufenthalt unangenehm nnd ähnlicher dem
in einer Fabrikstadt, als dem in einer Sommerwohnung auf dem Lande. Im
Jahre 1875 sind mit der Eisenbahn dort 175 700 Personen angekommen
und 173400 abgereist. In den Gruben sind über 1100 Bergleute beschäftigt,
die jährlich über 3 V2 Million Zentner Steinkohlen zu Tage fördern. Aus mehreren
hunderttausend Zentnern Kohlen wird in Öfen Koks bereitet. Eine Porzellanfabrik
beschäftigt ungefähr 1500, eine Spiegelglasmanufaktur ungefähr 350 Arbeiter;
nicht weniger thätig ist eine Garnspinnerei.
Wer Altwasser besucht, unterläßt es nicht, sich den interessanten Fuchsstollen
anzusehen: eine Art Tunnel mit einem Geleise eiserner Schienen, auf denen in
kleinen Wagen die Steinkohlen hinausgefahren werden, deren weitere Verladung
auf dem davorliegenden kleinen Platze erfolgt. Bei dem die Aufsicht führenden
Steiger kann man die Erlaubnis erlangen, auf reinlichen Wagen in die Stollen
hineinzufahren. Der Fuchsstollen wurde 1792 als ein überwölbter Kanal an-
gelegt, der 21/2 km weit in das Innere des Berges führt, um den Abfluß des
Grubeuwassers zu ermöglichen. Dieses Wasser trug, wie ein kleiner Fluß, lange
schmale Kähne, in denen die geförderten Kohlen hinausgefahren wurden. Das
nahe Wirtshaus „Zur Schiffahrt" erinnert an jene Zeit. Mittwochs und Sonn-
abends war es Fremden gestattet, noch eingeholter Erlaubnis vom Bergamte in
Waldenburg auf einem solchen Kahne etliche hundert Fuß unter der Oberfläche
des Berges auf dem trüben Styx eine Wasserpartie in das Schattenreich zu
unternehmen. Nach dem Abbau der oberen Flötze genügte die Wassermenge
nicht mehr, uud deshalb hat jene Schiffahrt 1853 aufgehört. Die Sohle des
Kanals wurde der ganzen Länge nach überbrückt, ein Schienengeleise angelegt,
und die Fahrt erfolgt seitdem auf trockenem Wege, auf welchem jetzt täglich
über 3500 Tonnen (fünfmal soviel als früher) hinausgerollt werden.
Sad Zal)brunn. Nördlich von Altwasser liegt Schlesiens besuchtester Bade-
ort Salzbrunn, zu welchem jährlich über 2000 Kurgäste ihre Zuflucht nehmen.
Der Ort breitet sich in einem weiten, freundlichen, von der Salzbach durch-
flosseuen Thale aus und zerfällt in drei Teile, nämlich in Ober-, Nieder- und
Neu-Salzbrunn; er hat nahezu 6000 Einwohner, die fast nur von der Be-
wirtnng der Kurgäste und vom Bergbau leben; die Weberei, welche vor der
Benutzung der Salzbruuner Quellen den größten Teil der Einwohnerschaft
beschäftigte, wird jetzt nur noch in geringem Umfange betrieben. Über die Ge-
schichte des Ortes läßt sich nur sehr wenig sagen; er gehört seit 1405 zur Herr-
schast Fürstenstein, deren gegenwärtiger Besitzer der Fürst von Pleß ist. Die
älteste Quelle, der Oberbrunnen, war bereits im Jahre 1316 bekannt und be-
nutzt. Die späteren Kriegswirren brachten den Brunnen wieder in Vergessen-
heit; erst nachdem zu Anfang des 18. Jahrhunderts die übrigen Quellen entdeckt
worden waren, begann der Ruf Salzbrunns sich allmählich zu heben. Jetzt hat
der Ort längst den Charakter einer Stadt angenommen, deren Straßen gepflastert
sind, die Gas- und Wasserleitung hat, deren Wege besprengt werden.
Die Quellen werden meist zum Trinken benutzt, obgleich vier Häuser
Badeeinrichtungen enthalten und gegen 6000 Bäder meist zur Unterstützung der
Trinkkur verabreicht werden. Die Hauptquelle ist der Oberbrunnen, gewöhnlich
Salzbrunnen genannt, der einen anfangs säuerlichen, später salzigen Geschmack
170 Das Waldenburger Bergland.
hat; er wird rein oder auch mit Molken gemischt getrunken und hilft bei Leiden
der Atmungsorgane. Außer der Kurzeit werden jährlich von diesem Brunnen
ungefähr 200 000 Flaschen gefüllt, die bis nach Amerika gehen. Jenseit des
Mühlteiches entquillt der Mühlbrunnen, der weniger salzig schmeckt und weniger
getrunken wird. Ihm ähnlich ist die neue Quelle, deren Wasser auch versandt
wird. Salzbrunn hat auch Moorbäder. Molken werden bereitet aus der Milch,
die 150 Kühe, 600 Ziegen und 300 Schafe liesern.
Kürzere und längere Spaziergänge, die alle reiche Abwechselung bieten,
unterhalten den Fremden auss beste. Der schönste Ausflug ist der, welchen
Fürstenstein mit dem Fürstensteiner Grund gewährt. Von den vier
Thälern, welche von Salzbrunn aus parallel nebeneinander her nach Norden zu
lausen, ist der Fürstensteiner Grund der engste, tiefste und von den steilsten Wänden
eingefaßte. Viele gewaltige Felsmassen. die aus dem üppigen Banmwnchs hervor-
treten und den Weg wie den Hellabach zu beständigen Krümmungen nötigen,
die auch das Bett des Flusses mit ihren Trümmern so übersäet haben, daß das
Wasser unwillig brausend seinen Weg zwischen den hartköpfigen Eindringlingen
suchen muß, geben dem Thale einen wilden Charakter. Bald gelangen wir an
ein Gittertor. Wir durchschreiten die Thür und schlagen einen Fußweg ein,
der uns bergauf zum alten Schloß Fürstenstein, zur sogenannten alten Burg
führt. Gehen wir dann wieder in den Gruud hinab und in diesem nördlich
weiter neben dem Fluß, so erblicken wir auf einem Bergvorsprung des rechten
Ufers das neue Schloß, welches au der einen Stelle seine fünf Stockwerke zeigt.
Wann zuerst auf dem Fürstenberg oder Fürstenstein eine Burg erbaut
worden ist, läßt sich nun nicht mehr ermitteln. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts
war die Burg jedenfalls fchon von großer Bedeutung; denn alle Piasten aus der
Schweidnitz-Jauerschen Linie, denen die Burg gehörte, nannten sich Herren von
Fürstenberg: ein Beweis, daß sie diesem ihren Besitze Wichtigkeit beilegten. So
nannte sich Bolko I., ein Enkel des bei Wahlstatt gefallenen Herzogs Heinrich,
als er 1290 die Stadt Schweidnitz und ihr Gebiet erhielt, Herr von Fürstenstein.
Da er abwechselnd auf der Bonenburg bei Bolkenhain und auf dem
Fürstenstein wohnte, in beiden Burgen seinen Schatz verwahrte, so gehörte die
Burg Fürstenstein schon damals gewiß zu den wichtigsten Burgen seines Landes
und hatte wahrscheinlich schon die dem Feinde Ehrfurcht gebietende Gestalt, die
sie später hatte, als die Breslauer sie zur Zeit Podiebrads in Briefen an den
Papst den Schlüssel Schlesiens nannten. Die Burg sollte gegen Belagerungen
der Feinde schützen, war also sest gebaut und hatte, weil der Herzog nicht immer
in derselben wohnte, einen Burggrafen, welcher die Güter des Fürsten ver-
waltete, und auch eine Besatzung. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts
waren Friede, Ordnung und Ruhe in den Landen Schweidnitz und Jauer ge-
schwuuden, also auch auf dem Fürstenstein; denn nach Bolkos ll. Tode war seine
Witwe Agnes der Regierung, welche damals Ernst und Strenge forderte, nicht
gewachsen. Als Agnes starb, erhielt das Land Anna, Bolkos Nichte und Ge-
mahlin Karls IV., und so kam es unter böhmische Oberhoheit.
Den wilden Hussiten mußte der Fürstenstein wegen seiner Lage und Festig-
keit ein wünschenswerter Besitz sein. Schon im Jahre 1427 suchten sie die Burg
zu erobern, aber sie wurden zurückgeschlagen. Doch schon im folgenden Jahre
sinden wir die Feste in den Händen der Hussiten, die in derselben jedenfalls
Fürstenstein. 171
eine starke Besatzung zur Verfügung hatten; denn vom Fürstenstein aus durchzogen
die Hussiten plündernd das Land, nahmen fort, was sie bekommen konnten, und
brachten es in der festen Burg in Sicherheit. In dem schönen Schlesien herrschte der
Krieg und die Verwüstung damals an allen Orten. Durch den Krieg der Hussiten
verwilderten auch viele Schlesier, so daß sie an dem grausamen Kriegshandwerk
Gefallen fanden. Im Jahre 1445 ist im Besitze des Fürstensteins Hermann
Czettritz, ein wilder Ritter. Wie von Süden her die Böhmen, so fielen von
Norden her die Polen in das Land und machten es zum Schauplatz unerhörter
Greuel und Übelthaten.
Der Elisenhof in Salzbrumi, Nach Zeichnung von G. Täubert.
Der raublustige Adel schloß sich bald den Böhmen, bald den Polen an;
und alles sehdete, brannte und mordete; kein Eigentum war sicher, keiue
Straße ungefährdet; selbst schlesische Fürsten stellten sich oft an die Spitze solcher
Raubzüge. Damals stand an der Spitze derer, die für Recht und Gerechtigkeit
eintraten, die Stadt Breslau, der sich bisweilen noch andre Städte anschlössen.
Manche Raubburg haben die braven Bürger gebrochen, manchen frechen Räuber
gehängt; aber ihre Kräfte reichten nicht hin, und ihr Eigentum fiel oft in
Feindeshand. In dieses beunruhigte Schlesien wurde von des Kaisers Albrecht
Witwe Elisabeth der böhmische Kriegshauptmann Assenheim geschickt, damit er
Ruhe und Ordnung im Verein mit den Breslauern in das Land bringe und die
Polen vertreibe. Assenheim verjagte bald die Polen, drang bis in ihr eignes
Land, gefiel sich aber in dem ungefährlichen Kriegsleben so sehr, daß er seine
172 Das Waldenburger Bergland.
Räubereien in Schlesien, ohne einen Feind zu haben, fortsetzte. Die Stadt
Namslan hatte er zu seiner Feste gemacht, von der ans er die Umgegend bis
nach Öls hin brandschatzte, weil es der Herzog von Öls mit den Polen gehalten
hatte. Nun rief dieser die Polen nach Schlesien zurück; mit den Breslauern ver-
feindete sich Affenheim, weil diese sein Treiben mißbilligten. Dafür aber fand er
Raubgesellen in den Besitzern der Bonenburg und in Hermann Czettritz auf
Fürstenstein. Jetzt wurde von Namslau, der Bolkenburg und dem Fürstenstein aus
Schlesien verwüstet. Die Raubzüge brachten bedeutende Beute ein, welche die
Räuber in ihre festen Burgen schleppten. Geistliche und Lehrer griffen zu den
Waffen, um das Land zu schützen; der Bischof schlenderte den Bannstrahl auf
die rohen Ritter: aber alles war vergeblich. Drei Jahre, bis zum Jahre 1445,
wüteten die grausamen Menschen. Durch die Bemühungen der Herzogin Elisabeth
zu Liegnitz kam endlich ein Friede zustande. Aber Assenheim hielt nicht, was
er versprochen hatte; er zog plündernd nach Neumarkt, wurde aber dort ergriffen
und zur Strafe seines Rechtsbruches enthauptet.
Über dieses Urteil waren die Freunde des Assenheim empört, und sie be-
gannen wieder ihre Raubzüge gegen die Städter; erst im Jahre 1449 werden
endlich die Fehden beigelegt. Allein nach Verlauf von nicht mehr als zwölf
Jahren loderte durch Podiebrad fchon wieder die Kriegsfackel auf durch ganz
Schlesien, Mähren uud Böhmen, und die Schloßherren fanden abermals ihre
volle Beschäftigung. Podiebrad kam nach Schlesien, belagerte und bekam —
ob mit Gewalt oder durch Unterhandlungen ist ungewiß — den Fürstenstein
im Jahre 1463 und gab ihn seinen Getreuen. So wurde die Burg wiederum
eine Geißel für Schlesien. Zur Freude der Breslauer kam im Jahre 1474
Matthias von Ungarn mit 1500 Reitern und 3000 Trabanten, um endlich die
Frevler auf dem Fürstenstein zu züchtigen. Zwar erschütterten die Büchsen mit
Macht die Wehre und Türme der Feste, aber die Festung blieb uuerobert, die
Gewandtheit und Tapferkeit der Besatzung unbesiegt, und Matthias mußte die
Belagerung ausgeben, weil ihn ein Einfall der Türken nach Ungarn zurückrief.
Der Raubritter vom Fürstenstein konnte, wie früher, die Straßen unsicher machen.
Im Jahre 1509 kaufte den Fürstenstein Kunz von Hochberg, dessen Familie
ihn noch heute im Besitz hat. Im Dreißigjährigen Kriege mußte die Burg Haus
Heinrich von Hochberg verlassen, und sie wurde einmal von den Kaiserlichen,
zweimal von den Schweden erobert. Nach dem Frieden ließ dann der Besitzer
die Festungswerke abtragen und machte aus dem Hause des Krieges eine Stätte
des Friedens. Es würde zu weit führen, wenn wir uns bekannt machen wollten
mit der ganzen Kette von Sorgen und Mühen, welche die Familie Hochberg um
den Besitz des Fürstensteins durchzukämpfen gehabt hat, wieviel Leiden sie ge-
tragen, wieviel Geld sie dabei verausgabt hat; wie sie aber immer in der
Not Rettung gefunden, wie sie selbst vom ärmsten Bauer, wenn er nur noch
etwas hergeben konnte, unterstützt worden ist, weil sie überall Liebe gesäet und
Liebe geerntet hat. Wenn nach den Zeiten des Druckes und der Not friedlichere
Zeiten zurückkehrten, traten auch bald geordnetere Verhältnisse wieder ein. Ein
mühevolles Leben führte besonders Hans Heinrich I. von Hochberg, dessen
Verdienste Ferdinand III. dadurch auerkauute, daß er ihn 1650 zum Reichsfreiherrn
ernannte. Auf den Fürstentagen zeichnete sich der Besitzer von Fürstenstein sehr
aus, und Kaiser Leopold erhob ihn 1666 in den Reichsgrafenstand. Die Hochbergs
Der 20. August 1800 auf dem Fürstenstein. 173
begrüßten die Besitzergreifung Schlesiens durch Friedrich II. auch deshalb,
weil ihnen durch dieselbe freie Religionsübung gestattet wurde. Besonders
verdient machte sich um den Fürstenstein der Graf Hans Heinrich VI., welcher
1768 geboren wurde, die sorgfältigste Erziehung erhielt und ein Freund uud
Beschützer der Künste und Wissenschaften wurde. Er wurde im Verein mit
seiner hochverehrten Gemahlin der Schöpser der schönen Anlagen des Fürsten-
steins, welche die demselben von der Natur gegebenen Reize so sehr erhöhen.
Ihm dankt der Wanderer die schönen Partien im Grunde, im Thale des Hella-
baches, die schönen Waldgehege, die Ruhesitze und Aussichtsplätze, den wohn-
lichen Gasthos, das freundliche Schweizerhaus, die Erweiterung der Bibliothek.
Eingang in das alte Schloß Fürstenstein. Nach Zeichnung von G. Tänbert.
Der 39. August 1899 auf dem Fürstcnltein. Der schon erwähnte Gras
Hans Heinrich VI. von Hochberg war es anch, der die oben erwähnte sogenannte
alte Burg erbauen ließ. Kurz vor Ablauf des 18. Jahrhunderts legte er sie so
an, wie wenn sie aus den alten Zeiten herrühre, in denen hier vielleicht ein
kleines Kastell der „Vorstinburg" gestanden hat. Eine Zugbrücke führt zum
Eingangsthor, das zwischen zwei kleinen runden Türmen mit Spitzdächern liegt;
durch dieses gelangt man in den Burghos, der wie das von ihm umschlossene
Bauwerk sehr klein ist. Die Ausstattung im Innern der alten Burg ist wirklich
alt und zum Teil recht interessant; sie wurde durch Geschenke oder Kauf aus
andern Burgen zusammengebracht. In der Decke der Rüstkammer steckt ein
Pfeil, welchen im Jahre 1813 einer der Baschkiren hineinschoß. Unweit des
174 Das Waldenburgs Bergland.
Schlosses liegt der Turmerplatz, auf welchem der Besitzer Fürstensteins dem
Könige Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise ein Fest gab, wie es
Schlesien seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Ein Augenzeuge, der
Bibliothekar Giersberg, berichtet über das Fest ungefähr in folgender Weise:
„Der König, die Königin und Prinz Heinrich kamen mit ihrem Gefolge am
20. August 1800 um 1 Uhr mittags zu Fürstenstein an und erhoben sich um
4 Uhr durch das wilde, von hohen Felsen eng umschlossene Thal der Salzbach
zur Vorstinburg. Auf der Warte der Burg wehte bei der Ankunft der könig-
lichen Herrschaften das Hochbergsche Panier, von einem gepanzerten Reisigen
bewacht, und um die vor dem Burgthore befindliche Stechbahn saßen bequem
mehrere tausend Menschen aus einem siebenfachen Amphitheater. Schon früh
waren die zur Darstellung eines Ritterspieles vereinten, in Prachtkostüme des
Zeitalters Karls V. gekleideten Herren in die Burg eingezogen. Drei schlesische
Grasen waren als Kampfrichter, Graf von Hugk und Bethusy als Panierherr
bestimmt. Sechzehn schlesische Edelleute waren in vier Quadrillen geteilt und
hatten um sich einen Geheimschreiber, einen Herold, Knappen und Fußwache
zur Besatzung.
Als der Trompeter auf der Warte das Erscheinen der Fremden verkün-
digte, wurde Alarm geblasen. Nachdem die königlichen Herrschaften mit ihrem
Gefolge die der Burg gegenüberliegende Schaubühne bestiegen hatten, senkte sich
die Zugbrücke, und der von Trompetern begleitete Herold ritt aus der Burg,
um zu forschen, wer die angekommenen Fremden seien. Nachdem er Meldung
gethan hatte, sprengte der Panierherr, welchen die Ritterschar bis an die Schranken
begleitete, von der Burg bis zu dem Balkon und sprach folgende Reden:
1. An den König und die Königin. Als die fröhliche Knnde durch Schlösser,
Burgen und Gauen des Gebirges ertönte, der Vater, die holde Mutter des
Landes kämen wirklich zu uns, wollten selbst hier zu Vorstinburg weilen, er-
freute sich traun jeder der guten Einwohner dieses Landes; jeder harrte sehn-
suchtsvoll und ungeduldig der hohen Ankunft. Auch die zu dieser uralten Feste
verbrüderten Ritter blieben nicht lange aus; sie greisen nach alter deutscher
Sitte hastig zum längst müßigen Schwerte und zur Lanze, um den Tag zu feiern,
an welchem eure Ankunft zur Burg diese verherrlicht.
Wir bitten, es sei uns vergönnt, das Spiel zu beginnen, welches die älteste
deutsche Fürstentreue als Zeichen der Freude bei glücklichen Begebenheiten, als
Beweis der Ergebenheit erfand. Sind auch uufre Arme durch lange glückliche
Rast ungeübter, so hat es Ersatz in treuen Herzen, welche voll Liebe und Hoff-
uung warm für euch schlagen und uns hier versammelten.
Edles Königliches Paar! Ist es uns vergönnt? Darf das Ritterspiel be-
ginnen? Welch ein Glück für den Sieger, wenn unfre geliebte Landesmutter
ihn würdigen sollte, den Ritterdank aus ihren — aus solchen Händen —
zu empfangen.
2. An die Ritter (nach erhaltener Erlaubnis): Wackere Ritter, es ist euch
'vergönnt. Ihr trachtet nicht nach Lohn, sondern nach Ruhm, der unter diesen
Panieren nie fehlen kann; jenen habt ihr fchon durch den frohen Anblick. Bald
werden euch die Schranken geöffnet werden.
3. An die Kampftichter: Ehrsame Richter! Um wohl vorzustehen eurem
Amte, richtet gewissenhaft und streng. Seid eingedenk des Wahlspruches unsres
Der 20. August 1800 auf dem Fürstenstein. 175
Paniers. Seid nicht gegen einige gütig, sonst werdet ihr ungerecht gegen alle.
Seid immer streng gerecht — jedem das Seine — nicht nach Rücksichten, wohl
nach Recht und Thaten.
4. An das Volk: Versammeltes Volk! Es ist euch vor vielen vergönnt,
den Anblick, der heute uns hier alle beglückt, zu genießen. Mißbraucht diesen
Vorzug nicht. Still und ehrsam belugt das friedliche Spiel der Ritter. Im
Taumel der Freude vergeht nicht der hohen Anwesenden.
Nach diesen Worten begann die Ritterschar unter Anführung des Panier-
Herrn, der das königliche Panier vorantrug, den feierlichen Aufzug; und nach-
dem derselbe das Panier dem Gebrauche nach vor dem königlichen Balkon auf-
gepflanzt hatte, begann das Stechen nach alter Sitte und Ordnung.
Die höchste Probe der Geschicklichkeit bestand bei diesem Ritterspiel darin,
zu Pferde im Galopp Statuen von verschiedener Gestalt, wie Jungfrauen einen
Kranz, Bären und Sirenen einen Ring mit der Lanze abzustechen, und Mohren
mit dem Schwerte den Kopf abzuschlagen. Die Pracht und die Feierlichkeit der
Darstellung, abwechselnde Chöre von Musik, die Tausende von versammelten
Zuschauern und die Umgebung einer wilden, mit Überresten vergangener Jahr-
hunderte bezeichneten Natur machten das Ganze zu einem der interessantesten
nnd seltensten Schauspiele.
Nach beendigtem Turnier erhielten vier Ritter als Sieger aus der Hand
der Königin den Dank. Der Ritterdank bestand in zwei an Ketten und zwei an
Bändern hängenden goldenen und silbernen Medaillen mit dem Brustbilde des
hohen königlichen Paares in alter Rittertracht. Huldreich hängte die Königin
dem knieenden Sieger den Ritterdank um den Hals; feierliche Stille herrschte
während der schönen Szene.
Nach ordnungsmäßigem Abzüge der Ritter wurden die königlichen Herr-
schasten, während das Panier vorangetragen wurde, auf die Burg begleitet, wo
sämtliche Ritter dieselben auf der Brücke unter einem von ihren hochgehaltenen
Lanzen gebildeten Obdache empfingen. Das königliche Paar verweilte in den
dortigen Gemächern bis zur einbrechenden Nacht.
Die Menge der Zuschauer war so groß, daß der Wagenzug über eine
Meile einnahm. Die Illumination der fünf Fensterreihen des Schlosses, der
beiden Galerien des Turmes und des Schloßplatzes gewährte einen neuen über-
raschenden Anblick. Der festliche Zug wurde durch einen Maskenball beschlossen;
dann kehrten Tausende von Menschen wohlbefriedigt in ihre Heimat zurück."
In nnserm Jahrhundert haben noch öfter königliche Herrschaften auf kürzere
und längere Zeit den Fürstenstein besucht und sich auf demselben wohl gefühlt.
Das Haupt der Familie Hochberg erhielt im Jahre 1340 die Würde eines
Standesherrn in Schlesien und durch Erbschaft im Jahre 1846 das Fürstentum
Pleß in Oberschlesien. Wir hoffen, daß der Fürstenstein, von dem in alter Zeit
ebensoviel Unheil wie in den letzten Jahrhunderten Segen und Glück und Freude
über Schlesien gekommen ist, noch lange ein Eigentum der Hochberge, der Fürsten
von Pleß, die auf ihm nun schon fast 380 Jahre lebten und wirkten, bleiben
möge zu ihrem und des Landes Segen.
176
Das Waldenburger Bergland.
Kersbach und Weckelödorf. Die Umgegend von Waldenburg dürfen wir
nicht verlassen, ohne noch eine kurze Wanderung nach Süden unternommen zu
haben. Dort müssen wir noch Felsen betrachten, welche äußerst interessant sind,
aber vielleicht doch in höherem Rufe stehen, als sie verdienen. Weil sie mit der
Sudetenkette zusammenhängen und von den meisten Besuchern des Riesengebirges
bewundert werden, müssen wir sie hier in nnsre Betrachtung ziehen, obgleich
die Leute, welche dort wohnen, kaiserlich österreichische Untertanen sind. Wir
wandern nach den Felsen von Adersbach und Weckelsdorf. Diese Felsen hätten
wir schon vonLandeshut erreichen können.
Gehen wir nämlich von dieser Stadt nach
Süden, so erreichen wir bald das am
Bober gelegene kleine Liebau; von dort
gehen wir in südlicher Richtung, indem
wir das Überschaargebirge zur rechten
Hand (südlich) haben, nach dem nnbeden-
tenden Städtchen Schömberg, in welches
wir auch auf angenehmem Wege vom
Kloster Grüssau gelangen können. Von
Schömberg führt uns die Straße in der
Richtung, in der wir von Liebau ge-
kommen sind, weiter nach Merkelsdorf.
Dieses Dorf liegt von Waldenburg aus
südwestlich. Kommen wir von dieser
Stadt, so machen wir unterwegs einen
kleinen Abstecher nach dem berühmten
Kurort Görbersdorf, der kein Mine-
ralbad, sondern eine Heilanstalt für ver-
schiedene Krankheitsformen der Schwind-
sucht ist. Der Ort dehnt sich in einem
schönen Thale aus, dessen Seiten von
hohen, mit Nadel- und Laubholz be-
wachsenen Bergen umschlossen sind. Die
Anstalten daselbst sind großartig einge-
richtet; die eine umfaßt 110 Fremden-
zimmer, zwei Wintergärten, Speise- und
Lesesaal und ist von Parkanlagen um-
geben, die sich weit ausdehnen und uu-
mittelbar an den Wald anschließen. Von
Görbersdorf wendet sich die Straße nach Südwesten; wir stoßen auf einen
von den vielen Orten, die Friedland heißen, und verfolgen die Straße bis
Merkelsdorf. Die deutsche Grenze haben wir bereits überschritten, wir befinden
uns im ersten österreichischen Dorfe und treffen es hier, wie an so vielen
schlesisch-böhmischen Grenzübergängen. Daß wir von vielen Bettelkindern an-
gegangen werden, überrascht uns nicht; aber wir bewundern die Größe, das
Aussehen und die Einrichtung des Weinhanses, das uns durchaus nicht dorf-
mäßig, sondern fast großstädtisch erscheint. Der Wirt findet seine Rechnung;
denn hier herrscht nicht nur im Sommer reger Verkehr, sondern auch im Winter
Eingang in die Felsenstadt.
Adersbach und Weckelsdorf.
177
treffen sich hier oft von Norden und Süden her große Gesellschaften in Schlitten
zusammen, welche in Merkelsdorf die Annehmlichkeit der Schlittenfahrt durch
ein Glas guten Weines und durch einen munteren Tanz erhöhen.
In einer Stunde haben wir Adersbach erreicht und bleiben im Gasthose
„Zur Felsenstadt". Von der Sächsischen Schweiz her begleitet das Gebirge ein
Zug, der aus Sandstein besteht, aber nicht überall deutlich zutage tritt. Bei
Adersbach, dicht an der schleichen Grenze und an den Quellen der Metan,
eines Nebenflusses der Elbe, tritt dieser Sandstein entschieden aus und bildet
eine 4 km. lange und 2 km breite Ge-
steingruppe , die sehr bewundert wird.
Ursprünglich waren diese Steine ent-
schieden eine einzige große Felsmasse, die
aber bei ihrer ziemlich geringen Festigkeit
durch die jahrtausendelang anhaltenden
Einwirkungen der Witterung und des
Wassers tief durchrissen ist, so daß Gänge
und Spalten der verschiedensten Art und
Formationen entstanden sind, die wild
und sonderbar genug aussehen. Hinter
dem Gasthause steigen aus einer feuchten
Wiesenfläche die Sandsteinmassen empor,
und als Vorposten begrüßt uns der
umgekehrte Zuckerhut, ein oben breiter,
unten spitz zulaufender Block, der jeden
Augenblick — fo seltsam ist das Miß-
Verhältnis der Höhe und Breite zu der
schmalen Grundfläche —" umzustürzen
droht. Der Eingang in die eigentliche
„Felsenstadt" ist durch eine hölzerne
Thür verschlossen. Der Eintritt ist nur
gegen Erlegung bon einer Mark für die
Person gestattet; keine Person darf
ohne einen Führer — diese sind von
den Besitzern angestellt — eintreten.
Der Führer wird für seine Bemühung
mit einer Mark honoriert; auch für den
Führer wird das Eintrittsgeld von den
Fremden bezahlt. Auf diese Weise wird
der Fremde hier und in Weckelsdorf geschröpft. Nichtsdestoweniger wird er be-
friedigt die Felsen verlassen. Durch ausgewaschene Sandsteinmauern, auf deren
Höhen mächtige Nadelhölzer in die Luft ragen, gelangt man in die Felsen. Man
glaubt in eine ausgestorbene Stadt, deren Dächer längst niedergebrannt oder
versunken sind, zu treten. Einzelne Öffnungen deuten die Fenster an, zu beiden
Seiten laufen kleine Gassen aus. Den Wanderer erfüllt ein unheimliches Ge-
fühl der Öde, des Verlassenseins. Auf einem Fußsteige dringt man durch eine
enge, kalte und Pflanzenreiche Schlucht, welche ein Bach durchrieselt. Zu beiden
Seiten zeigen sich nun die merkwürdigen Steingebilde, denen lebhafte Phantasie
Deutsches Land und Volk. VIII. 12
Wasserfall bei Adersbach.
178 Das Waldenburger Bergland.
der Menschen aus entfernter Ähnlichkeit Namen beigelegt hat: hier steht ein
Kapuziner, dort ein linker Handschuh, ein Ratsherr in der Allongeperücke, eine
Urne, eine Nonne, ein Galgen, ein hohler Zahn, ein Walfisch, eine Pyramide,
der Breslauer Elisabethturm, der Mops u. s. w. Man gelangt endlich an den
Silberquell, der ein wohlschmeckendes, aber sehr kaltes Wasser hat. Bald wird
man in eine natürliche Grotte geführt, in welche das gesammelte Wasser des
Bächleins etwa 12 m hoch hinabstürzt. Die ohnehin eigentümliche Erscheinung
eines unterirdischen Wasserfalles macht bei der Enge des Raumes durch das
Tosen, den Wasserstaub und die momentane Verdickung der kühlen Luft einen
überraschenden Effekt. Das Waffer wird natürlich gestaut. „Plötzlich", so erzählt
W. A. Gerle, „wird die erste Schütze des oben in einem eignen Behälter ge-
sammelten Wassers geöffnet, und mit mächtigem Rauschen stürzt die Wasser-
masse, in weißen Schaum zerberstend, gleich Millionen und Billionen von Perlen
und Diamanten in das tiefe Becken hernieder. Doch horch, ein ferner Donner
schallt! Die zweite Schütze wird geöffnet, und mit brausender Gewalt tost ein
vermehrter Wasserfall hernieder. Es flimmert und schimmert der Wassersturz,
Kristalle entstehen und zergehen in unzählige Gruppen von Sternen und Blumen,
als wenn man in den blendenden Schimmer eines mit Edelsteinen gefüllten
Kaleidoskops schaute, bis endlich die ganze strahlende Erscheinung sich in der
Tiefe des Beckens in schäumenden Gischt auflöst und aus dem Wasserspiegel i
zerfließt. Ein ziemlich mühsamer Pfad durch eine Felsenspalte — die Wolfs-
schlucht genannt — wo die Kunst der Natur nur gerade soviel nachgeholfen
hat, um sie wegbar zu machen, führt auf die Höhe des Wasserfalles und gewährt
einen neuen, interessanten Anblick desselben, indem man oberhalb des Sturzes
in die gähnende Tiefe herabschaut, wie dort das Wasser braust und wogt.
Hier ist das von Sandsteinfelsen umgebene Wasserbecken mit dem für den Wasser-
fall gestauten Wasser: gegen ein Trinkgeld fährt ein Schiffer auf einem Kahn
den Reisenden etwa 300 Schritte über dieses merkwürdige Wasser hin. In
der Felsenstadt ist ein Echostein, wo ein vielfach widerhallendes Echo auf Rufen,
Blasen und Schießen (der Schuß kostet eine Mark) geweckt wird. Weiter westlich
liegen die unbedeutenden Trümmer der Burg Althaus, die auf eirör vorspringenden
Felsecke gleich einem Adlerneste aus dem höchsten Punkte von Adersbach ge-
standen hat; die Burg soll ein Räuberschloß gewesen sein.
Im Jahre 1772 besuchten zwei Engländer die Adersbacher Steine und
wollten ein Gewitter in denselben beobachten. Acht Tage harrten sie vergeblich.
Da endlich ballten sich beim Einbrüche der Nacht die Wolken über der Felsen-
stadt zusammen, und die Engländer eilten allein ohne Führer in die Wildnis
hinaus. Das Gewitter entlud sich auch bald mit seiner Furchtbarkeit über dem
Felslabyrinthe. Tausendfach dröhnte der Donner durch die Schluchten, der
Sturm heulte, der Regen schoß in Strömen herab und die Blitze erleuchteten
die Finsternis nur auf Momente, um die gespenstigen Schrecken der furchtbaren
Umgegend erkennen zu lassen. Die Engländer hatten gegen den herabströmenden
Regen unter einem überhängenden Felsblock Schutz gesucht. Kaum waren sie
dorthin getreten, so erfolgte ein Blitz, greller als alle bisher, und ein furcht-
barer Donnerschlag. Ein gewaltiger Felsblock löste sich von der Steinwand.
gegenüber und stürzte prassslnd, das Gestein unter sich zermalmend, vor den
bebenden Engländern nieder. Es war eine Erschütterung wie bei einem
Von Schweidnitz nach dem Zobten, 179
Erdbeben. Keiner von den beiden Neugierigen wurde verletzt. Beim Grauen des
Morgens, als das Wetter ausgetobt hatte, kehrten sie geisterbleich und abge-
spannt in den Gasthof zurück; sie erklärten, nicht um alle Schätze der Welt
würde man sie bewegen, noch eine solche Nacht zu erleben.
Die Weckelsdorfer Felsen stellen gleichsam den südöstlichen Teil der Aders-
bacher vor und sind von jenen durch kein ausfallendes Merkmal geschieden; sie
sind 5 km lang und an ihrer breitesten Stelle 4 km breit. Dies kolossale
Felsengebiet wurde erst im Jahre 1824 durch einen Waldbrand bekannt; seit
1847 besuchen Fremde diese Felsen, die verschiedene Namen führen, wie das
Rebhuhn, die harrende Braut, der Dom, die Nonne, der wandelnde Pilger
n. s. w. Auch wird Eintrittsgeld bezahlt und kostet es verschiedene Trinkgelder.
Von Schweidnitz nach dem Zodten. Die Einsegnung des Liitzower
Freikorps in Iobten. Von dem im östlichen Teile des Waldenburger Berg-
landes an der Weistritz gelegenett Schweidnitz aus, das in der Geschichte, wie
wir später sehen werden, öfter eine bedeutende Rolle gespielt hat, unternehmen
wir zwei Ausflüge, den einen durch das Schlesierthal nach dem Kynsberg, den
andern nach dem Zobten.
Die in nordöstlicher Richtung von Schweidnitz abgehende Straße führt uus,
wenn wir auf derselben 21 km gewandert sind, nach dem Städtchen Zobten,
das nur 2300 Einwohner hat und am Nordfuße des Zobtenberges auf meist
felsigem, mit nur mäßig ergiebigem Lehmboden bedecktem Grunde liegt. Ob-
gleich der Ort aus dem 12. Jahrhundert stammt, würde er doch nicht erwähnens-
wert erscheinen, wenn er nicht im Anfange des Jahres 1813 eine bedeutende
Berühmtheit Erlangt hätte.
Der Winter des Jahres 1812 war hereingebrochen und mit ihm das
schreckliche Unglück der Franzosen in Rußland. Durch Eis und Wüsteneien war
die große Armee gezogen, von Hunger und unsäglichem Elend getrieben; die
elenden Reste kehrten krank und matt in ihr Vaterland zurück. Tag für Tag
sah man durch die deutschen Gauen die schrecklichen Gestalten ziehen, die ent-
setzlich litten durch Kälte und Hunger. Der russische Winter und das Heer
des Kaisers Alexander hatten die große Armee vernichtet. Schon lange gährte
es in Deutschland gegen die Tyrannenherrschaft der Franzosen. Freudig wurde
deshalb die Verordnung aufgenommen, welche die Errichtung freiwilliger Jäger-
korps in Preußen verfügte. In Breslau herrschte reges Leben. Major von
Lützow, der bereits unter Schill gefochten hatte, erhielt die Aufforderung, die
Bildung eines Freikorps bei dem Könige zu beantragen. Der Antrag wurde
gestellt und am 18. Februar 1813 genehmigt. Die ersten, die dem Freikorps,
welches nun das Lützowsche Freikorps oder auch die Schwarze Schar hieß, bei-
traten, waren Ludwig Jahn und Friesen. Im „Goldenen Zepter" zu Breslau war
in jenen Febrmrtagen ein wunderbares Treiben. Da kamen die Hallenser mit
ihrer bunten, studentischen Tracht, mit Pistolen, Schlägern, Büchsen und Dolchen
bewaffnet; da kamen die Berliner Turner; Studenten aus Jena, Göttingen,
Greifswald, Königsberg, alle wollten den Ruhm teilen, die deutsche Freiheit zu
erkämpfen. Bald stand der Student in der Reihe neben dem Professor; Ärzte,
Künstler, Lehrer, Geistliche, Staatsbeamte aller Art traten in die Schar ein.
Die Lützowsche Freischar war die Poesie des Heeres, und so hat denn auch der
12*
180 . Das Waldenburger Bergland.
Dichter des Kampfes, Theodor Körner, in ihren Reihen gesungen, gefochten und
vollendet. Am 17. März erließ der König den Aufruf „An mein Volk" und
„An mein Heer". Immer mehr Freiwillige strömten zusammen. Über tausend
junge Leute sammelten sich in dem kleinen Zobten von Breslau aus. Noch
jetzt lesen wir am Hause, Schweidnitzer Straße Nr. 25, auf einer Marmor-
tafel: „Quartier des Dichters und Liitzowers Theodor Körner, März 1813."
Das Lützowdenkmal spricht für das bewegte Leben der Jugend in Zobten, die
zusammenströmte, um das Tyrannenjoch abschütteln zu helfen. Am 25. März
fand in dem nahen Rogau die Vereidigung des Korps in feierlicher Weise statt.
Die Schar marschierte aus nach dem Dorfe Rogau, dessen Kirche znr feierlichen
Einsegnung einfach ausgeschmückt war. Die Feier wurde eröffnet mit dem
Gesänge eines Liedes, das der unter den Freischärlern weilende Theodor Körner
gedichtet hatte:
„Wir treten hier im Gotteshaus
Mit frommem Mut zusammen.
Uns ruft die Pflicht zum Kampf hinaus,
Und alle Herzen flammen.
Denn, was uns mahnt zu Sieg und Schlacht,
Hat Gott ja selber angefacht.
Dem Herrn allein die Ehre!
Der Herr ist unsre Zuversicht,
Wie schwer der Kampf auch werde;
Wir streiten ja für Recht und Pflicht
Und für die heil'ge Erde.
Drum, retten wir das Vaterland,
So that's der Herr durch unsre Hand. #
Dem Herrn allein die Ehre!
Es bricht der freche Übermut
Der Tyrannei zusammen;
Es soll der Freiheit heil'ge Glut
In allen Herzen flammen.
Drum frisch in Kampfes Ungestüm!
Gott ist mit uns und wir mit ihm!
Dem Herrn allein die Ehre!
Er weckt uns jetzt mit Siegeslust
* Für die gerechte Sache-
Er rief es selbst in unsre Brust:
Auf, deutsches Volk, erwache!
Und führt uns, wär's auch durch den Tod,
Zu seiner Freiheit Morgenrot.
Dem Herrn allein die Ehre!"
Nach dem Gesänge hielt der Prediger des Ortes, Peters mit Namen, eine
kräftige, allgemein ergreifende Rede. Körner berichtet über die Weihe in einem
Briefe: „Kein Auge blieb trocken. Zuletzt ließ er uns den Eid schwören, für
die Sache der Menschheit, des Vaterlandes und der Religion weder Gut noch
Blut zu schonen und zu siegen oder zu sterben für die gerechte Sache. Wir
schwuren (während des Eides kreuzte Jahn mit dem Hauptmann von Helmenstreit
den Säbel am Altar). Darauf warf sich der Geistliche auf die Kniee und stehte
Gott um Segen für seine Kämpfer an. Es war ein Augenblick, wo in jeder
Brust die Todesweihe flammend zuckte, wo alle Herzen heldenmütig schlugen.
'UZMF Ulv zhzaiz; azq m azcuoßyJ izq öunuözjulD
182 Das Waldenburger Bergland.
Der Gesang „Eine feste Burg ist unser Gott" machte das Ende der erhebenden
Feier, die zuletzt noch mit einem donnernden Vivat, das die Krieger der
deutschen Freiheit ausbrachten, gekrönt wurde, wobei alle Klingen aus der
Scheide flogen und helle Funken das Gotteshans durchsprühten."
Das Korps war jetzt zum Abmarsch bereit. „Die Tracht der Soldaten
war", wie Jahn an seine Braut schreibt, „von Kopf zu Fuß ganz schwarz mit
einem bescheidenen roten Vorstoß und Aufschlag. Der Rock war altdeutsch,
vorn übergeschlagen, bis ans Knie reichend, anständig und zweckmäßig." Er
war mit zwei Reihen gelber Knöpfe besetzt. Die Schneider gaben ihm den
Namen Litewka. Die Kopfbedeckung bestand in einem schwarzen Tschako mit
Agraffe und schwarzem, seitwärts herabfallendem Haarbusche. Die Offiziere
trugen Kragen und Aufschläge von schwarzem Samt und statt der Epauletts
silberne Litzen um den äußeren Rand der ganzen Achselklappe.
Von Zobten gehen wir nach dem anmutig gelegenen Gorkau (190 Ein-
wohner) und ersteigen von dort aus den 718 m hohen Zobten. Der Gipfel
desselben bildet eine 200 Schritt im Durchmesser haltende, von Büschen und
Bäumen umgebene Wiese mit zwei Spitzen, deren eine der Bergkapelle zur
Basis dient; der zweite Gipfel, vom andern durch eine etwa 300 Schritt lange
Vertiefung getrennt, besteht aus kahlen Felsblöcken. Der Berg hat seinen Namen
aus dem Slawischen. Die Slawen nannten ihn gora sobotka, Feuerberg; denn
in vorgeschichtlichen Zeiten soll hier die Asenburg der Havarhaler gestanden haben;
dann wurden von den Slawen religiöse Feste begangen, und von den Freuden-
feuern, die diese Feste verherrlichten (sobudki), soll der Zobten seinen Namen
erhalten haben. Später finden wir hier den Grafen Peter Wlast, der die Zobten-
bürg vom Herzog Boleslaus III. von Polen im Jahre 1103 zu Lehen erhalten
hatte uud auf demselben ein Kloster gründete. Den geistlichen Herren behagte
aber die rauhe Bergluft nicht; sie siedelten nach vierzig Jahren zuerst in die
am Fuße des Berges gelegene Abtei Gorkau, später in das Breslauer Sand-
stist über. Die Burg auf dem Berge blieb noch bewohnt; sie wurde von Burg-
grasen verwaltet. Im Jahre 1428 wurde sie von dem wilden Hussiteuführer
Cholda erobert, der sich hier festsetzte und Wegelagerung trieb. Die vereinigten
Breslauer und Schweidnitzer erstürmten die Burg und reinigten sie von den
Räubern. Doch eine andre Räuberbande unter dem grimmigen Hauptmann
Hammerschlag nahm die Burg ein, welche die Bürger erst 1471 wieder er-
oberten. Der Zobten blieb verödet bis 1702. In diesem Jahre ließ auf dem
Berge der Prälat Sievert eine Kapelle erbauen, die 1834 der Blitz zerstörte
und 1851 der Fürstbischof von Breslau, Depenbrock, wieder aufbauen ließ.
Seit fcem Jahre 1854 findet jährlich am 2. Juli in der Kapelle Gottesdienst
statt, an den sich eine Art Volksfest für die Umgegend anschließt. Der Zobten
wird, über die Umgebung allein emporragend, in einem großen Teile Schlesiens
gesehen, erfreut sich einer gewissen Beliebtheit bei der Bevölkerung und gilt je nach
seiner bald helleren, bald dunkleren Färbung als Wetterprophet. Deshalb wissen
die Schlesier auch von dem „Zoten", wie sie den Berg nennen, viel zu erzählen;
manche Sage spielt sich auf ihm und in seiner Umgegend ab. Kostbare Schätze
sind in demselben verborgen; glücklich und reich wird der sein, der zur rechten
Zeit den richtigen Ort findet, um sie zu heben; es weiß nur niemand die Stelle,
an der das Gold in Stücken so groß wie Hühnereier zu finden ist.
Die Burg Kynsberg am Schlesierthale. 183
Die Surg Kynsberg am Schlesterthale. Zu den Burgen aus alter Zeit,
die Jahrhunderte hindurch dem Versall geweiht zu sein schienen, deren Uber-
reste jedoch in uusrer Zeit mit besonderer Sorgfalt gepflegt und erhalten werden,
gehört die Burg Kynsberg. 15 km von Schweidnitz erhebt sich im Schlesier-
thale an den Ufern der rauschenden Weistritz ein teils bewaldeter, teils entblößter
Felsenberg, auf dessen Scheitel die mächtigen Reste der Burg Kynsberg stehen.
Die Kapelle auf dem Zobtenberge. Nach Zeichnung von G. Täubert.
Es lohnt sich nicht nur, daß der rüstige Wanderer und Freund des Mittelalters
sich die stolz emporragende, durch ihr Alter denkwürdige Burgruine ansehe,
sondern auch der Spaziergang zur Burg ist der Mühe wert; denn er führt
uns durch anmutige Gegenden. Da liegen am Rande des Bachbettes die
freundlichen Gebirgshäuferchen mit ihren lachenden Gärten und den treuherzig
grüßenden Bewohnern; da umtönt uns das Gemurmel des Wassers, das schäu-
mend und in der Sonne glitzernd eilfertig den Weg in die Ebene sucht; da
umrauscht uns kühlend und angenehm der Wind, 'da schlägt an unser Ohr der
ergötzliche Gesang lustiger Waldvögel: das alles versetzt uns in eine Festtags-
stimmung, die nichts stören kann; denn alle Sorgen, die uns vielleicht noch vor
einigen Stunden drückten, haben wir auf der Wanderung vergessen.
Wer der Erbauer der riesigen Burg gewesen ist, läßt sich nicht feststellen,
da aus älterer Zeit keine Urkunden, die über die Burg Auskunft geben könnten,
vorhanden sind. Zur Zeit des Siebenjährigen Krieges hat nämlich hier auf der
Burg eine kaiserlich königlich österreichische Feldschneiderei gehaust, und die
184 Das Waldenburger Bergland.
ehrsamen Schneidermeister, die von der Bedeutung der Urkunden keinen Begriff
hatten, das alte Papier vielmehr für wertlos hielten, haben viele Urkunden zu
Maßen und Schnittmustern zerschnitten, so daß wir auf Vermutungen und Nach-
richten aus den benachbarten Gegenden angewiesen sind, wenn wir uns über
die Burg Kynsberg unterrichten wollen. Daß der Kynsberg schon von vor-
christlichen Einwohnern bebaut, auf ihm eine Burg angelegt ist, die dann im
12. Jahrhundert vom Herzog Boleslaw erweitert worden ist, erzählt die Sage,
der wir keinen Glauben zu schenken haben. Einstimmig berichten die älteren
und neueren schleichen Geschichtschreiber, daß die Burg Kynsberg eine von
denen ist, die der wackere Bolko I., Herr von Löwenberg, im 13. Jahrhundert
teils neu erbaut, teils wieder hergestellt hat. Bolko, der Freund deutscher Ver-
faffung, Kultur und Sitte, der viele Deutsche ins Land zog, der seine Bauten,
um seine Unterthanen zu schonen, durch seine Soldaten ausführen ließ, hat
gewiß an der Burg gearbeitet, um den Gebirgspaß, der von hier aus ins Flach-
land führt, gegen die räuberischen Einfälle der benachbarten Böhmen zu sichern.
Wie gut der erste Bolko gethan, daß er die feste Burg auf dem Kynsberg
anlegte, zeigte sich in den folgenden Jahren; denn Karl IV. teilte die Gelüste seiner
Unterthanen nach dem schönen Schlesien, und damals war unter Bolko II. die
Burg ein keineswegs überflüssiges Wächterhaus bei den feindlichen Besuchen der
benachbarten Tschechen. Auch als Jagdschloß wurde die Burg benutzt, wenn
der Wald widerhallte von dem Hallo des fürstlichen Jägers.
Die Burg Kynsberg oder, wie sie auch kürzer vom Volke genannt wird,
die Kynsburg, wurde, wie die meisten Burgen des Gebirges, mit ihren Dör-
fern und Vorwerken von einem Burggrafen verwaltet, der kein eigentlicher
Besitzer, sondern Verteidiger der Feste. Verwalter der Guter und Genießer der
Einkünfte war. Die Verleihung war eine Gnade des Fürsten, eine Belohnung
für treue Dienste, daher nicht erblich. Freilich wurden später diese Domänen
gegen Erlegung des Pfandschillings erblich und verkäuflich; aber es stand dem
Fürsten frei, sie gegen Rückzahlung des Schillings wieder an sich zu nehmen
oder einem andern die Einlösung zuzuwenden.
Die Kynsburg wurde im Jahre 1353 durch Bolko II. seiner Nichte Anna
verschrieben, die Karl IV. heiratete. So fiel das Herzogtum Schweidnitz und
mit ihm die Kynsburg nach Bolkos II. Tode an Böhmen. Damals war als
Verwalter der Burg genannt Ulrich Schoff. Dieser Burggraf war der Vater
des vielgenannten und weitbekannten Gotsche Schoff oder Gotsche Schaff, nach
welchem sich seine Nachkommen Schaffgotsch nennen. Obgleich Ulrich Schoff
erst 1412 starb, wird schon in einer Urkunde vom Jahre 1382 sein zweiter
Sohn Reincze (Reinhard) als Burggras auf Kynsberg genannt.
Solange die Bolkonen herrschten, bestand Ruhe und Friede, Sicherheit des
Lebens und Eigentums in ihren Fürstentümern. Als aber die Hussiten die
Länder verwüsteten und der Adel zu Räubereien griff, da wurde auch die Kyns-
bürg, wie so viele andre, ein Aufenthaltsort für Greuel und Übelthaten, eine
Zufluchtsstätte für Räuber und Mörder, eine Herberge für Gewalttätigkeiten
aller Art. Nichts, was gerühmt werden könnte, weiß die Geschichte zu erzählen
von den Burggrasen Kunz und Heinz Mühlheim, genannt Putschte; nur die
schlimmsten Schandthaten begingen die Burggrafen Ezettritz. Ordnung begann
erst wieder im Lande und auf der Burg zu herrschen, als dieselbe auf Befehl
Die Burg Kynsberg am Schlesierthale. 185
des Königs von Böhmen Ferdinand I. (später deutscher Kaiser) im Jahre 1545
gegen Erlegung des Pfandschillings an Matthias von Log au überging. Diesem
gemeinnützigen Manne spenden seine Zeitgenossen großes und wohlverdientes Lob;
er hat zur Verschönerung der Kynsburg manches beigetragen. Der Kaiser ehrte
diesen vortrefflichen Mann, trug ihm die ehrenvollsten Geschäfte auf, deren er
sich jederzeit zur Zufriedenheit seines Fürsten erledigte. Logan vermehrte und
verbesserte seine Güter, ohne daß ihm von irgend welcher Seite Habsucht oder
schmutziger Geiz zum Vorwurfe gemacht worden wäre.
Die Kynsburg. Nach Zeichnung von G. Täub er t.
Noch während er lebte, ernannte er seinen zweiten Sohn Matthias zum
Erben der Kynsburg. Dieser jüngere Matthias von Logau, ein Mann von
bedeutendem Vermögen, reichlich ausgestattet mit körperlichen und geistigen Vor-
zügen, befördert und empfohlen durch die Vorzüge seines Vaters, gelangte bald
zu hohem Ruhme und Ansehen. Er wurde 1566 Landeshauptmann der Fürsten-
tümer Schweidnitz und Jauer, 1570 Kammerpräsident und kaufte mit seinen
Brüdern die Fürstentümer Frankenstein und Münsterberg sür 180 000 Gulden,
eine Summe, die auf den damaligen Reichtum der Familien schließen läßt.
Allein die Ritter der beiden Fürstentümer wollten sich nicht zum Vasallentum
unter einem einfachen Edelmanns bequemen und bohrten so lange, bis endlich
Kaiser Maximilian II. die Fürstentümer an sich kaufte. Aber Matthias von
Logau war darum, daß ihn die Ritter nicht zum Herrn haben mochten, nicht
weniger angesehen als srüher; ja, sein Einfluß und seine Bedeutung stieg so
186 Das Waldenburg er Bergland.
sehr, daß ihn die Ungarn und Böhmen zum Statthalter verlangten, er sogar
nahe daran war, in Polen zum Wahlkönige erhoben zu werden. Dieser große
Logau starb 1593 zu Jauer; er ließ die Kynsburg verbessern und zeitgemäß
herstellen; deshalb wird das Wappen der Logauer mit der Jahreszahl 1551
und dem Zeichen M. v. L. noch zu seinem Andenken an der Abendseite der
Burgmauer aufbewahrt.
Ein Sohn dieses Matthias von Logau — er hieß Georg — war bereits
1577 Besitzer der Burg; er starb schon 1596, und jetzt geriet die Burg, da
Georg viel Schulden gemacht hatte, in die Hände der Gläubiger, aus denen
sie 1598 in kaiserlichen Besitz kam. Nun aber wechselten die Besitzer der
Kynsburg schnell, da der Kaiser Rudolf II., der in viele Händel verwickelt
war, sie nicht für sich verwalten lassen konnte. Als dann im Anfange des
17. Jahrhunderts die zerstörende Kriegsflamme über die Sudeten in das ge-
segnete Schlesien und in die stille Kynsburg, die an einem Verbindungswege
zwischen Böhmen und Schlesien liegt, einschlug, da wurde sie der Tummelplatz
erregter Leidenschaften und im Dreißigjährigen Kriege abwechselnd von den
Österreichern und Schweden besetzt. Der schwedische Oberst Devour ließ im
Jahre 1633 die Mauern der Burg allenthalben durchwühlen, um einem großen
Schatze auf die Spur zu kommen, der nach einer alten Sage aus den Zeiten
der Hussitenkriege irgendwo in der Burg versteckt lag. Man erzählt sich auch, daß
des Schweden Bemühungen nicht vergeblich gewesen seien, daß er ein goldenes
oder mit Gold gefülltes Eselsfüllen, welches man in einem Pfeiler angebracht,
gefunden habe. Als Umschrift, so erzählt man sich, hat das Eselsfüllen die
Worte getragen: „Gold ist mein Futter, nicht weit hiervon steht meine Mutter."
Dnrch diese Worte wurde Devour verlockt, noch weiter suchen zu lassen, um
auch den noch größeren Schatz im Esel zu haben; aber soviel er auch von den
Mauern hat zertrümmern lassen, einen Schatz hat er nicht mehr gesunden.
Unter den Besitzern der Burg im 17. Jahrhundert wird im Jahre 1607 Johann
Georg, Reichsgraf von Hohenzollern, genannt, dessen Familie jedoch die Burg
nicht lange gehabt hat; denn noch in demselben Jahrhundert gehört sie einem
Freiherrn von Rochow und später einem Freiherrn Gottfried von Eben, von
dessen einzigem Sohne folgendes erzählt wird: Der kleine Junker ritt täglich
in Begleitung eines großen Hundes nach Schweidnitz ^in die Schule. Gewöhn-
lich kehrte er zu einer bestimmten Stunde durch das Schlesierthal und über den
sogenannten Karretenweg, einen in Felsen gehauenen, schmalen Fahrweg,
zurück, der auf das Schloß führte und zur Bequemlichkeit der Bewohner des-
selben angelegt war. An diesen Weg stößt ein tiefes Thal mit schroffen Felsen-
wänden; wer strauchelt, stürzt in die jähe Tiefe und ist unrettbar verloren.
Eines Tages kam der kleine Junker nicht zur rechten Zeit nach Haufe. Nach-
dem die Eltern kurze Zeit über die Stunde der Rückkehr gewartet hatten, eilten
sie mit einigen Boten hinab und fanden bald das Pferd am steilen Abgrunde
stehen, aber ohne Reiter. Vorn neben dem Pferde stand der treue Hund, der
des Pferdes Zügel fest im Maule hielt. Als die besorgten Leute näher kamen,
fanden sie, daß der eine Fuß des Knaben fest im Steigbügel hing, der ganze
Körper aber, so daß der Kopf unten war, in das grauenvolle Thal hineinreichte.
Nur wenige Schritte noch hätte das Pferd zu machen gehabt, dann hätte sich
der Körper losgerissen und wäre in den Abgrund gestürzt oder er wäre von
Die Burg Kynsberg am Schlesierthale. 187
einem Felsen zerspalten. Die bewunderswerte Treue des Hundes hatte das
Unglück verhütet. Man band den Knaben sorgfältig los, hob ihn auf, und als
er wieder zu sich kam, erzählte er, daß das Pferd unversehens scheu geworden
sei und einen Satz gemacht habe, wobei er aus dem Sattel gestürzt sei. In
demselben Augenblicke ergriff der treue Hund die Zügel des Pferdes und hielt
sie fest, bis endlich Hilfe kam. Zum Andenken an diese wunderbare Rettung ließen
die Eltern den Junker mit Pferd und Hund malen in einem Gemälde, das
noch vorhanden ist. Im 18. Jahrhundert verfiel die Burg immer mehr, so
daß die Herrschaft ihre Wohnung in dem benachbarten Dittmannsdorf nahm.
Ode und verlassen von fast allem Leben, denn nur ein Beamter wohnte im
Thorhause, stürzte im Herbste des Jahres 1789 ein Teil der Seitenmauern
der Burg zusammen. Die Räume, welche mehrere Jahrhunderte hindurch den
Familien von Herzögen, Fürsten und Freiherren freundliches Obdach gewährt,
verfielen derartig, daß die Trümmer nur mit Lebensgefahr zu betreten waren.
Damit die Gläubiger der Herrschaft, die tief in Schulden geraten war,
befriedigt würden, wurden die Besitzungen in einzelne Teile zerteilt und ver-
kauft. Die Burg wurde auf diese Weise im Jahre 1823 durch gerichtlichen
Zuschlag Eigentum einiger Bauern, die schon früher Besitzer des Berges und
Waldes geworden waren. Es ging das Gerücht, die Bauern hätten den Kauf
nur gemacht, um die Burgruine niederzureißen und das Material für sich zu
verwenden, ferner auch, um zu verhindern, daß Fremde in ihr Gebiet kämen.
Ein Freund des Altertums wußte es dahin zu bringen, daß noch Nachgebote
gegeben werden konnten; er wollte die Burg vor dem Niederreißen retten. Da
meldete sich der Professor Büsching mit einem Nachgebot, und mit ihm wollte
jener Freund des Altertums nicht wetteifern, da er dieselbe Absicht wie dieser
hatte. Professor Büsching erstand die Burg, und so wurde die Ruine einem
so liebevollen Pfleger zu teil, wie sich nur je einer finden konnte. Mit einer
rührenden Zärtlichkeit hing er an seiner Kynsburg, ließ die Trümmer auf-
räumen, machte die Ruine wieder gangbar, stellte den Turm wieder her, versah
ihn mit einer Treppe, verwandelte die ehemalige Burgkapelle in ein freundliches
Zimmer, in welchem er sich gern selbst aufhielt, wenn seine amtliche Stellung
in Breslau ihm einen Ausflug gestattete; auch verschönerte er den Burghof durch
anmutige Gartenanlagen und sorgte für die Bequemlichkeit und Unterhaltung
der Burgbesucher. Im Jahre 1840 kam die Burg, nachdem sie siebzehn Jahre
liebevoll gepflegt worden, in die Hände des Grafen von Burghauß, der schon
früher die Herrschaft Kynau an sich gebracht hatte. Was Büsching begonnen hat,
setzt der Graf von Burghauß fort. Alljährlich wird mit den Verschönerungen
der Burg und ihrer Umgebung fortgefahren, so daß wir lebhaft an den alten
Matthias von Logau erinnert werden.
So lohnend der Spaziergang zur Burg ist, so interessant ist eine Wan-
dernng durch die Gemächer derselben. Außerhalb der Thorbrüstung erblicken
wir rechts die halb erhabenen Bilder der Stärke, Geduld, Klugheit und Hoff-
nuug, links die der Barmherzigkeit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Treue. Die
Bilder tragen die Unterschristen: Portitudo, Patientia, Prudentia, Spes, Caritas
und Fides. Mäßigkeit und Gerechtigkeit sind ohne Unterschriften. Über dem
Eingangsthor sehen wir die Wappen vom Grafen Hohenzollern und von Rochow.
Treten wir in das Schloß ein, so wird uns das Gefängnis gezeigt, in welchem
188 Das Waldenburger Bergland.
die Opfer der Raubritter geschmachtet haben; wir stellen uns an die Fenster,
von denen herab die Fräulein dem Ritterspiele zusahen; wir gelangen in die
geräumige, finstere Schloßküche, iu die Rüstkammer, in der jetzt das Bild auf-
bewahrt wird, welches die Rettung des Junkers von Eben darstellt, und in
andre Räume und weite Gänge. Ein Blick vom Turme erschließt uns eine
herrliche Rundschau auf bewaldete Berge, ins Thal der Weistritz, bis weithin
zu den Türmen von Schweidnitz, die aus den Gipfeln hervortauchen.
Die Zagen der Kynsburg. Das steinerne Kreuz im Teufelsthal.
In düsterer, einsamer Gegend, nahe am Eulengebirge, lag ein kleines Haus
mit einem Garten, welchs von einer älteren Dame, deren Nichte nebst einem
alten, Irenen Diener bewohnt wurde. In der Nähe des Hauses, am Fuße
eines Felsens, stand ein steinernes Kreuz, das zum Andenken an einen Zwei-
kämpf zwischen zwei Vettern gesetzt wurde, in dem der eine seinen Tod fand.
Als die Jungfrau einst, ihrer Gewohnheit gemäß, zu diesem Kreuze ging, wurde
sie plötzlich von einer Jagdgesellschaft überrascht, deren Hunde bei ihr vorbei-
stürzten. Ein junger Ritter wollte soeben vom hohen Felsen in den Abgrund
hinabklimmen, als einer seiner Begleiter ihn davor warnte, da, wie er sagte,
noch keiner seiner Vorfahren, seitdem sein Großvater am Kreuze seinen Vetter
erschlagen habe, sich hinuntergewagt hätte. Die Jungfrau kehrte eiligst nach
Hause zurück und erzählte ihrer Base das Erlebnis, die nach der Beschreibung
die richtige Vermutung aussprach, daß der Ritter der von Kynan sei, und da
dieser ihr Todfeind war, so verließ sie die Wohnung, um sich eine andre ver-
borgene zu suchen. Als der Ritter am nächsten Morgen, von Neugierde ge-
trieben, das Häuschen aufsuchte, fand er dasselbe leer und verlassen; nur ein
Bild, das einen Ritter darstellt, der einem vor ihm knieenden Gegner das
Schwert durch den Harnisch in die Brust stößt, während eine entfernt stehende
Frau einen Knaben in die Höhe hält, um ihn zum Zeugen des Mordes zu
machen, schmückte das Zimmer. Sofort erkannte der Ritter aus diesem Ge-
mälde, daß hier die Nachkommen des von seinem Großvater gemordeten Ritters
wohnen, und er beschloß, die böse That nach Kräften gut zu machen. Diese
Absicht sprach er dem Diener gegenüber aus, der ihm nun erzählte, daß seine
Herrin deshalb die Flucht ergriffen hätte, weil sie die Entdeckung, fürchtete.
Zum weiteren Reden aufgefordert, erzählte der Diener dem Ritter, daß dessen
Großvater Besitzer der Burg Kyusberg und der Umgegend von Kynan gewesen
sei, doch damit nicht zufrieden, auch Verlangen nach dem Weistritzthale und
dem größten Teile des Eulengebirges, das seinem Vetter, Albert von Falken-
berg, gehörte, getragen hatte. Auf hinterlistigem Wege lockte er diesen nach
dem Teuselsthale, wo er ihm das Schwert in die Brust stieß. Diese Greuel-
that wurde jedoch von der Gemahlin Falkenbergs gesehen, die dafür im Ge-
fängnis büßen mußte, wo sie starb. Ihre Kinder wurden von einem treuen
Diener gerettet und nach Breslau in ein Kloster gebracht. Der Haß gegen den
Mörder ihres Vaters wurde in ihnen genährt, und sie mußten schwören, den-
Mord zu rächen. Der Sohn, der auf einem Kreuzzuge fiel, hinterließ eine
Tochter, die nun von seiner Schwester erzogen wurde, und diese beiden Frauen
waren die Bewohnerinnen des Häuschen. Traurig hatte der junge Kynsberger
dies vernommen, und er beschloß, die Schuld seines Ahnen zu sühnen. Zwei
Die Sagen der Kynsburg. 189
Jahre vergingen, ohne daß er eine Spur der verschwundenen Frauen finde«
konnte, die Aufnahme bei einem Freund ihrer Familie gefunden hatten. Eines
Tages beschloß der Ritter, nach dem Teufelsthale auf die Eberjagd zu gehen,
obgleich seine Diener ihm erzählten, daß dasselbe von Teufels- und Gespenster-
gestalten heimgesucht werde. Wie erstaunte er, als er anstatt des Häuschens
ein schönes Gebäude erblickte, aus dem er jedoch eine klagende Frauenstimme
vernahm, die auf eine andre drohende antwortete. Er schlich heran und er-
blickte die so lange gesuchte Jungfrau an der Erde knieend, vor ihr eine Teufels-
gestalt mit einem Dolche. Ohne Besinnen drang er ein, erstach die Gestalt,
hob das Mädchen auf seinen Arm, lief mit ihr über Felsen zu seinen Dienern,
schwang sich auf sein Roß und, unbekümmert um die Verfolger, die auch bald
die Verfolgung aufgaben, eilte er der Kynsburg zu. Hier angekommen, er-
zählte das Mädchen, daß sie vor zwei Jahren auf einer Reise von Räubern,
die ihre Base und ihren Beschützer erstochen hatten, ins Teufelsthal geschleppt
worden fei, wo diese sich ein Raubnest erbauten und die Umgegend dadurch
in Schrecken versetzten, daß sie in Teufelsgestalt und Tierhäuten umherliefen.
Sie selbst rettete ihr Leben dadurch, daß sie ihnen vorredete, unter dem Kreuze
wäre ein Schatz verborgen, der erst nach zwei Jahren von einer reinen Jung-
frau erhoben werden könne. Diese Zeit war um, als der Ritter kam, und die
Jungfrau wurde soeben vom Räuberhauptmann mit dem Tode bedroht, wenn
ihr Wort nicht wahr würde und sie den Schatz nicht ans Tageslicht fördere.
Glücklich war sie nun gerettet; und da kein Hindernis im Wege stand, fand
ihre Vermählung mit dem Ritter statt, der durch seine Tapferkeit die Blutthat
des Großvaters gesühnt hatte.
Die Gluckhenne auf Kynsberg. In einer Stube der alten Burg ließ
sich von Zeit zu Zeit eine schwarze Gluckhenne mit goldgelben Küchlein sehen,
die stets unter dem Ofen hervorkam, weshalb das Zimmer auch von allen ge-
mieden wurde. Einem fremden Ritter, welcher auf Besuch kam, wurde dieses
Zimmer als Aufenthalt angewiesen; und nachdem er sein Abendbrot verzehrt
hatte, begab er sich mit seinem Knappen dahin zur Ruhe. Am nächsten Morgen
jedoch ließ er dem neugierigen Wirte sagen, daß er sogleich abreisen werde.
Erstaunt darüber, ließ dieser ihn bitten, noch das Frühstück mit ihm zu ver-
zehren, und dazu ließ der Ritter sich auch bewegen. Da dem Burgherrn das
verstörte Aussehen des Gastes auffiel, fragte er ihn, wie er geschlafen habe,
und hörte zu seinem Erstaunen, daß er überhaupt keinen Schlaf habe finden
können, da ein grauenvolles Ereignis ihn wach erhalten habe. „Kaum", so
erzählte er, „war ich ein wenig eingeschlummert, die Lampe brannte noch, als
ich durch ein sonderbares Geräusch geweckt wurde. Ich sah vor dem Ofen hervor
ein schwarze Henne mit gelben Küchlein bis in die Mitte des Zimmers kommen,
wo sie gluckte und scharrte und so arg mit den Flügeln schlug, daß die Lampe
erlosch. Darauf durchwandelte sie das ganze Zimmer, blieb dann vor meinem
Bette stehen, flatterte in die Höhe, worauf die Lampe wieder aufflammte, pickte
mit ihren Küchlein auf dem Fußboden, als ob sie Futter finde, kehrte dann
um und verschwand unter dem Ofen. Im Glauben, daß es eine wirkliche
Henne sei, die mit ihren Küchlein hier niste, sprang ich aus dem Bette, um
ihr Lager zu suchen, fand jedoch nichts. Nun weckte ich meinen Knappen, der
gar nicht aufgewacht war und nichts gesehen hatte, erzählte ihm das Geschehene,
190 Das Waldenburger Bergland.
und darauf blieben wir beide vor Grausen bis zum Morgen wach, und nun
erst erholten wir uns vou dem Entsetzen." Nicht länger zweifelte der Burg-
Herr an der Wahrheit des Geredes, über das er stets gespottet hatt.e, befahl
sofort, den Ofen abzureißen, unter dem man eine viereckige Vertiefung fand,
in der ein Kästchen mit den Gerippen zweier verwester Kinder verborgen war.
Die Gebeine wurden sofort geweihter Erde übergeben; welche Grenelthat hier
jedoch verübt worden war. ist nicht ans Tageslicht gekommen. Fortan aber waren
weder Henne noch Küchlein zu sehen.
Die große Forelle im Eselsbrunnen. Unweit der Kynsbnrg ist der
Eselsbrunnen, welcher den Burgbewohnern Koch- und Trinkwasser spendet.
Zum Hinaufschaffen des Wassers wurde ein Esel verwandt, daher der Name
Eselsbrunnen. Einer der Burgherren setzte eine Forelle in den Brunnen, um
das Wasser rein und klar zu erhalten, und verpflichtete den Eseltreiber, darauf
zu achten, ob die Forelle noch darin sei. In einer mondhellen Nacht stand der
Burgherr an einem Fenster des Schlosses, nachdenklich in die Ferne blickend.
Plötzlich bemerkt er einen Mann, der damit beschäftigt ist, den Brunnen aus-
zuschöpsen. Schnell nimmt er sein Sprachrohr zur Hand und ruft ihm mit
mächtiger Stimme zu: „Laß die Forelle stöhn, sonst ist der Strang dein Lohn!"
Der Mann hört nicht darauf; bald ist der Brunnen ausgeschöpft, eilig läuft
er mit der Forelle fort und läßt sie sich gut schmecken. Der Schrecken des Esel-
treibers, der am nächsten Morgen die Forelle vermißte, war groß; er machte
dem Burgherrn Anzeige davon, der den Dieb genau bezeichnen konnte und ihn
wirklich hängen ließ.
Die weiße Frau. Auch auf der Kynsbnrg zeigte sich öfters eine weiße
Frau, die aus dem Schlöffe hervorkam, unter der Kapelle hindurchging, an
den Pferdeställen vorüber und beim alten Stalle verschwand. Einst wurde iu
den Sälen ein großes Fest gefeiert; die Ritter thaten sich beim Weine gütlich,
während die Damen im Garten lustwandelten. Nur einen der Ritter, Bernhard
vonHangwitz, der unter den Jungfrauen eine Geliebte, Adelheid von Schaffgotsch,
hatte, litt es nicht unter den Zechern, weshalb er sich in den Rittersaal begab
und von dort träumerisch in den Burghof hinabsah. Plötzlich sieht er aus dem
Burgthor ein weißgekleidetes Fräulein hervorkommen, das mit langsamen
Schritten auf den Windebrunnen zugeht. In dem Glauben, daß es seine Ge-
liebte wäre, ruft er sie bei Namen; sie wendet ihm den Kopf zu, winkt mit
der Hand und tritt an den Brunnen heran, in welchen sie sich mit Blitzesschnelle
stürzt. Vor Angst und Entsetzen zitternd, läuft der Ritter schnell in den Hof
hinab, ruft laut um Hilfe und erzählt darauf den Herzueileuden, was geschehen ist.
Man fragt durcheinander, rät hin und her, was zu thun fei, als plötzlich alle
Damen, mitten unter ihnen Adelheid, aus dem Schloßgarten in den Hof kommen,
ohne zu ahnen, aus welchem Grunde sich die Ritter in dieser Aufregung befinden.
— Nun erst merkten alle, daß die weiße Frau, die sich von jetzt an öfter sehen
ließ, die Wandlerin war.
Die drei Altväter. Es war zur Zeit des Siebenjährigen Krieges.
Die Österreicher hielten das Weistritzthal in Händen, und mehrere Offiziere
kamen auch auf die Kynsburg, um das Innere derselben anzusehen. Sie trafen
außer dem Beamten und dessen Leuten niemand dort, da die Bewohner der
Burg dieselbe schon längst verlassen hatten, um eine sicherere Stätte aufzusuchen.
König Friedrich II. in Strehlen. . 191
Die Offiziere ließen den Verwalter zu sich rufen und befahlen ihm, alle Zimmer
zu öffnen, damit sie dieselben besichtigen könnten. Gern erklärte sich derselbe
hierzu bereit, machte sie jedoch darauf aufmerksam, daß sie auf einige Zimmer,
deren Schlüssel schon seit vielen Jahren verloren gegangen seien, verzichten
müßten. Die Ofsiziere verlangten jedoch, daß er einen Schlosser kommen und
die Schlösser öffnen lasse. Der Verwalter kam dem Befehle nach; und während
die Offiziere den einen Teil des Schlosses besichtigten, war in einem abgelegeneren
Teile desselben der Schlosser damit beschäftigt, die Thüren zu sprengen. Es
gelang ihm bei allen ohne Mühe, und endlich kam er an eine schmale, eiserne
Pforte. Er versuchte, dieselbe mit einem Nachschlüssel zu öffnen; dieser paßte
sogleich, die Thür sprang auf, er trat in ein dunkles Gemach, und was erblickte
er? An einem Tische saßen drei steinalte Männer mit lang herabhängenden
Bärten und Kleidern; vor ihnen war ein Buch aufgeschlagen, in welchem sie
lasen. Beim Öffnen der Thüre hefteten sie jedoch ihre Augen starr auf den
Eintretenden. Dieser wagte keinen Schritt weiter, sondern warf von Entsetzen
erfüllt die Thür wieder zu und lief, als ob er verfolgt würde, den Berg hinunter
nach seiner Wohnung, wo er bewußtlos niedersank. Er wurde ins Bett gebracht'
und konnte sich nur langsam von dem Schreck erholen. Als er später ans-
gefordert wurde, die Thür noch einmal zu zeigen, suchte er sie zwar, konnte
sie aber nirgends entdecken.
König Friedrich II. in Strehlen. Warkotsch und der Ääger Kappel.
In der Ebene, welche sich vom Nordabhange des Gebirges an ausdehnt, liegt
am linken Ufer der Ohle, eines Nebenflusses der Oder, die 7260 Einwohner
zählende Kreisstadt Strehlen. An die Stadt schließen sich die Kolonien der 1749
eingewanderten Böhmen an, die noch unter sich böhmisch sprechen, aber alle
der deutschen Sprache mächtig sind. Die Bürger bauen Tabak, Flachs, Rüben
und Getreide; viele leben auch von der Ausbeutung des in unmittelbarer Nähe
der Stadt sich findenden reichen Granitlagers. Die größte Blüte Strehlens
fällt in die Zeit von 1585—1604, in welcher die Stadt der Mittelpunkt des
Getreidehandels nach dem Gebirge war. Die Altstadt stand schon 1130; sie
gehörte bald zum Herzogtum Münsterberg, bald zu Brieg. Im Jahre 1428
wurde die Stadt zum Teil von den Hussiten zerstört, später wurde sie viermal
durch die Pest und eben so oft durch verheerende Brände heimgesucht. Als im
Jahre 1761 Laudon die Festung Schweidnitz eroberte, nahm Friedrich II., um
Neiße, Brieg und Breslau zu decken, in dem Dorfe Woiselwitz bei Strehlen
sein Hauptquartier. Hier wohnte der Baron von Warkotsch, der früher öfter-
reichischer Offizier gewesen war, damals aber unabhängig auf seinen Gütern
lebte. Warkotsch war ein Mann von hervorragender Bildung, den der König
als einen angenehmen Gesellschafter gern bei sich sah. Aber so freundlich der
Mann zum Könige that, so versteckt und heimtückisch war er. Schon im Sommer
1761 wollte Warkotsch den König aus seinem Gute gefangen nehmen und den
Österreichern überliefern; aber die Zietensche Schar, die unerwartet ihre Stellung
änderte, vereitelte damals seinen Plan. Jetzt schien ihn die Sorglosigkeit des
Königs zur Ausführung seiner Absicht anzuspornen. Der König bewohnte in.
Woiselwitz ein unansehnliches Häuschen, das nur 400 Schritt von der Stadt
192 Das Waldenburger Bergland.
Strehlen entfernt lag. Seine Bedeckung bestand aus einer Kompanie Grena-
diere, von denen 30 Mann die Wache hatten. In der Stadt selbst lagen 6000
Mann seiner besten Truppen. In der Dunkelheit der Nacht war jedoch auf
ihren schnellen Beistand nicht zu rechnen. Der Wald, der von hier ab zu dem
Heere Laudons führte, hätte allen Versuchen der Preußen, ihren Monarchen
zu befreien, ein Ziel gesetzt. Warkotsch wußte dies und entdeckte seinen Plan
dem bei Münsterberg stehenden Oberst Wallisch, der ihn genehmigte. Um die
Aufmerksamkeit der preußischen Truppen möglichst aus andre Dinge zu leiten,
sollten zehn um Strehlen gelegene Dörfer in Brand gesteckt werden. Die
Mittelsperson war der Priester Schmidt, an den die Briese bestellt wurden.
Warkotsch hatte in seinen Diensten einen jungen Mann, Kappel mit Namen,
der die Stelle eines Leibjägers bekleidete und sich des größten Vertrauens seines
Gebieters erfreute. Kappel wußte um den Verrat, besorgte alles und ver-
siegelte die Briefe, nachdem sie ihm der Baron vorgelesen hatte.
Am 29. November befand sich Warkotsch beim Könige und beritt dann
als Begleiter des Markgrafen Karl und des königlichen Adjutanten die Gegend
von Strehlen. Kappel, der König, der alle die Kreuz- und Querritte mit-
gemacht hatte, war müde uud ging mit übler Laune zu Bett. Warkotsch hatte
mit dem Oberst Wallisch die nötigen Verabredungen getroffen, daß gerade in
der Nacht vom 29. zum 30. November der Verrat ausgeführt werden sollte.
Wallisch hatte ihm das rechtzeitige Eintreffen von vier Schwadronen Husaren
zugesagt. Kappel wurde aus dem Schlafe geweckt, um einen Brief in das öfter-
reichische Lager zu bringen, durch welchen noch einige Punkte zu erledigen waren.
Mürrisch erhob er sich von seinem Lager, bestieg sein Pserd und ritt in die
rauhe und kalte Nacht hinaus. Auf dem einsamen Wege regte sich sein Ge-
wissen. Er kam zu dem Bewußtsein, daß er eine schändliche That unterstütze,
wenn er sein Schweigen nicht breche. Deshalb überbrachte er den Brief nicht
dem Oberst Wallisch, sondern dem Pastor Gerlach in Schönbrunn. Um Mitter-
nacht traf er bei dem Geistlichen ein. Dieser öffnete den Brief und schickte
Kappel mit demselben zum Könige.
Friedrich war tief erschüttert; er hatte nicht geglaubt, daß Warkotsch so
niederträchtig sein könne. Dennoch ließ er den verächtlichen Menschen nicht
ergreifen, fondern entfliehen, den Prediger Gerlach und den Jäger Kappel
belohnte er. Der Hof in Wien erklärte offen, daß er von dem Verbrechen
nichts gewußt habe, uud die gräflich Wallifchfche Familie sagte öffentlich aus,
daß sie mit dem Oberst Wallisch nicht verwandt sei. Warkotsch selbst wurde in
Österreich allgemein verachtet und geriet in die größte Armut. Maria Theresia
erbarmte sich füglich seiner und setzte ihm ein jährliches Almosen von 300
Gulden aus. Der König blieb nach diesem Vorfalle nur noch bis zum 9. De-
zember im Lager bei Strehlen. Dann bezog die Armee die Winterquartiere
längs der Oder von Brieg bis Glogan. Friedrich blieb während dieses Win-
ters in Breslau.
Das Häuschen, in welchem König Friedrich in Woiselwitz gewohnt hatte,
galt als Merkwürdigkeit und wurde allen Besuchern als solche gezeigt, bis es im
Jahre 1854 leider abbrannte.
Der Großvaterstuhl auf der Heuscheuer. Nach Zeichnung von G. Täubert.
Die frnffdjitft Wh,
Grenzen und Gestalt der Grafschaft. — Einfluß Böhmens auf Glatz. — Burgen
und Wohnungen. — Produkte und Sprache. — Das Euleugebirge und dessen Ge-
biet. — Festung Silberberg, das schlesische Gibraltar. — Langenbielan und Peters-
waldau, zwei schlesische Weberdörfer. — Friedrich II. in Kamenz. — Neurode. —
Das schlesisch-glatzische Grenzgebirge; Wartha; Reichenstein. — Das Bielengebirge;
Bad Landeck. — Das Schneebergsgebirge mit dem Schneeberg. — Das Habelschwerdter
Gebirge; die Seefelder; die Böhmischen Kämme; Reinerz. — Das Ratschen- und
Heuscheuergebirge; Cudowa. — Wünschelburg und Albendorf. — Die Neiße.
Grenzen und Gestalt der Grafschaft. Wenn wir eine Karte des preußischen
Staates oder auch nur eine der Provinz Schlesien zur Hand nehmen und uns
eine Linie von der Stelle im Südwesten der Provinz, an der die Olsa in die
Oder fließt, von der Stadt Oderberg nach dem Riesengebirge, also in der Rich-
tung von Südost nach Nordwest gezogen denken, so bleibt jenseit dieser Linie
in österreichisches Gebiet hineinragend ein Gebirgsland liegen, welches die Graf-
schaft Glatz heißt. Es ist ein anmutig heiteres Land, das aber nicht immer
diesen Namen führte. In früheren Jahrhunderten hieß es bald die Herrschaft
Glatz, bald der Glatzer Kreis oder Distrikt. Erst seit der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts kam die heutige Bezeichnung mehr und mehr auf, nachdem
der damalige König von Böhmen, Georg von Podiebrad, es im Jahre 1459 zu
Deutsches Land und Volk. VIII. 1Z
194 Die Grafschaft Glatz.
einer Grafschaft erhoben und Kaiser Friedrich III. im Jahre 1462 als solche
bestätigt hatte. Als das Land im Jahre 1742 an den König Friedrich II. von
Preußen abgetreten wurde, trat es in Verbindung mit Schlesien; aber die Be-
nennnng der Grafschaft dauerte auch unter preußischer Herrschaft fort.
Ursprünglich umfaßte das Land nnter den angegebenen Bezeichnungen nur
das Gebiet, welches zu der landesherrlichen Burg Kladsko, aus der später die
Stadt und Festung Glatz erwachsen ist, gehörte, keineswegs aber die spätere
Grafschaft gleichen Namens nach ihrem vollständigen heutigen Umfange.
Das Land, welches wir heute die Grafschaft Glatz nennen, ist eins der
merkwürdigsten Länder Deutschlands, weil es fast ganz von Gebirgen umgeben
und auf diese Weise von den benachbarten Ländern streng geschieden ist; denn
östlich zieht sich die Grenze über das Eulen-Reichensteiner und das zwischen Öfter-
reichisch-Schlesien und dem glatzischen Distrikte von Landeck liegende Gebirge,
im Süden über das Schneebergsgebirge, westlich über die Absenkungen des Habel-
schwerdter, Hohe-Mense, Ratschen- und Heuscheuergebirges, während im Norden
das Land in der Hohen Eule seinen Abschluß findet. Die volle Umfangslinie der
Grafschaft beträgt 210 km, von denen 195 km gebirgig sind, nur 15 km
auf die Pässe und Thäler gerechnet werden können. Das Hauptgestein der ge-
samten Erhebungen ist Gueis, neben dem sich auch Glimmerschiefer und Sand-
stein findet. So weit reicht die Grafschaft in österreichisches Gebiet hinein,
daß die Grenzlinie derselben nach dem benachbarten Kaiserstaat dreimal so lang
ist als die nach dem preußischen Schlesien. Drei Provinzen Österreichs stoßen
an die Grafschaft, nämlich Osterreichisch-Schlesien, Mähren und Böhmen. .
Von ganz besonderer Wichtigkeit wird das Ländchen mit seinen Gebirgen,
die zu dem großen Gebirge der Sudeten gehören, deshalb, weil wir hier die
Wasserscheide zwischen Elbe, Oder und Donau, also zwischen der Nord- und
Ostsee und dem Schwarzen Meere finden; denn die hier entspringenden Flüsse
wenden sich entweder nach Norden der Oder zu, oder sie fließen nach Westen
in die Elbe oder nach Süden in die Donau.
Man nennt die Grafschaft Glatz meist schlechthin ein Kessel- oder Gebirgs-
kesselland und hat zu dieser Bezeichnung auch volle Berechtigung; denn wenn
wir uns auf einem erhabenen Punkte im Innern des Landes befinden, etwa
bei der Johannesstatue auf dem höchsten Punkte der Glatzer Hauptfestung,
so erscheinen uns die Bedingungen erfüllt, die wir an ein Gebirgskesselland
stellen müssen, da wir uns ringsum von einer mehr oder weniger hohen Ge-
birgswand umgeben sehen, innerhalb welcher eine oft tiefgehende Senkung liegt.
Zwar nehmen wir Unterbrechungen dieser Senkung wahr; aber sie erscheinen
so unbedeutend, daß sie den Gesamteindruck nicht stören. Durchstreifen wir
freilich das Land, dann finden wir weder das Innere desselben vollständig eben
wie den Boden eines Kessels, sondern sehen, daß die Gebirge manche, nicht
niedrige Ketten ins Land senden, noch zeigen sich uns die umschließenden Ge-
birge als wirkliche Randgebirge. Die tiefste Furche im Thale zieht der Haupt-
sluß der Grafschaft, die Neiße, die auf der kurzen Strecke, auf der sie von
Süden nach Norden das Ländchen durchfließt, über 130 m fällt; ein Beweis,
daß das Glatzer Land im Norden tiefer liegt als im Süden.
Wenn wir nach den erwähnten Angaben die Grafschaft Glatz richtig und
genau nach ihrer Formation bestimmen wollen, so thun wir es am besten mit
Grenzen und Gestalt der Grafschaft. — Einfluß Böhmens auf Glatz. 195
den Worten Kutzens, eines Mannes, der die Grafschaft so genau wie selten
jemand kennt und in seinem Buche, welches dieselbe behandelt, seine Begeisterung
für das herrliche Land ausspricht. In diesem gediegenen Werke, das dieser
Beschreibung zu Grunde gelegt ist, sagt er: „Die Grafschaft Glatz ist ein teils
gebirgiges, teils plateauartiges Hochland mit hier und da sehr breiten und
vielverzweigten Grenzgebirgen, von denen die inneren Ränder zusammen mit
dem naheliegenden zentralen Gebiet desselben zu beiden Seiten der Neiße eine
längliche Kessellandschaft darstellen, welche in ihrer Ausbreitung ungleichmäßig
und durch Erhebungen verschiedener Art wiederholt unterbrochen ist."
Übersichtskarte der Grafschaft Glatz.
Cinstuß Lohmens auf Glatz. Das Land ist fast durchweg vortrefflich
bewässert. Wenn auch keins der fließenden Gewässer, welche das Land durch-
ziehen, schiffbar ist; wenn auch keins ein eignes Wassersystem bildet, das dem
Meere zufällt, so sind sie es doch, die ihre Thäler aus dem Herzen der Berge
gehöhlt und gegraben haben, welche die Psorten und Wege enthalten, die die Berg-
welt selbst erschlossen und geebnet hat, auf denen der Verkehr unterhalten wird.
Nicht weniger als gegen 300 größere und kleinere Wasseradern enthält
das kleine Land; sie sind unablässig, wenn auch unmerklich thätig und schaffen
herrliche Thäler und bringen Anmut, Abwechselung und Vielartigkeit in die
Landschaft. Von diesen fließenden Gewässern gehören gegen 240 zur Oder; die
13*
196 Die Grafschaft Glatz.
andern Flüßchen, welche nur die Grenzgegenden des Landes gegen Böhmen
benetzen, fließen in die Erlitz und Melau und mit diesen in die Elbe. Obwohl
nun die Neiße, welche die Grafschaft durchfließt, durch eine bedeutende Thal-
Öffnung bei der Stadt Wartha ihre Wasser der Oder zusendet und so das Land
mit dem preußischen Schlesien in die engste Verbindung bringt, so gehört
dennoch Glatz seiner Natur und Geschichte nach mehr zu Böhmen als zu
Schlesien. Auf dem uralten Wege von Nachod her zogen die Böhmen in das
Land, schufen dort ihre Ansiedelungen und richteten sich häuslich ein. Viele
Namen von Orten und Flüssen im Glatzer Lande verraten noch heut ihren
böhmischen Ursprung; besonders zahlreich sind böhmische Namen von Ort-
schasten, die an der Straße von Nachod über Lewin nach Reinerz führen. Daß
auch den Flüssen vielfach Slawen ihre Namen gegeben haben, beweisen Neiße
(Nizza), Viele (Biala), Weistritz (Bystrica) und Steina (Stynavia). Auch einzelne
Berge tragen Namen, die nicht deutsch sind, wie in Hradisee (bei Lewin) das
Wort Hrad = befestigter Platz, in Hummel das Wort Homole = Hügel liegt.
Offenbar hat nicht die Anmut der Gegend die Böhmen dazu verlockt, daß
sie ihre Eroberungen bis ins Thal der Neiße ausdehnten; denn als sie sich
dort niederließen, konnten die vielen Wälder, Moräste und Berge ihren Unter-
nehmungsgeist eher abschrecken als aufmuntern. Vielmehr wollten die Herrscher
Böhmens in der Grenzburg Klatzko (Glatz) ein festen Ort haben, von dem aus
sie ihr Land und besonders die in dasselbe führenden Päsfe gegen die östlichen
Slawen, die Polen, besser schützen könnten. So erscheint denn Glatz anfänglich
mit Böhmen in enger Verbindung, als zur Provinz Gräz. dem späteren Königin-
Gräz gehörig; doch tritt es schon im Jahre 1134 unter eignem Namen mit
eignem Heerbann neben dem von Gräz auf nnd wird im Jahre 1260 von
König Ottokar II. als eine Provinz für sich (provincia G-lacensis) aufgeführt
und späterhin als selbständiges, unter der Krone Böhmen stehendes Land er-
wähnt. Zwar wurde Glatz häufig bald pfandweise, bald durch Kauf andern
Fürsten und vornehmen Familien überlassen; aber das Lehnsverhältnis zu
Böhmen hörte nicht auf, bis die Grafschaft durch Preußen im Jahre 1741 in
Besitz genommen wurde. Auch nachdem Glatz preußisch geworden und zur
Provinz Schlesien geschlagen war, blieb es noch in kirchlicher Verbindung mit
Böhmen und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben; denn die Glatzer Geist-
lichkeit steht nicht unter dem Fürstbischof von Breslau, sondern unter dem
Erzbischos von Prag; ja, bis zum Jahre 1780 gehörten einige preußische
Grenzdörfer, die nicht selbständige Pfarrdörfer waren, zu böhmischen Pfarreien.
Aber nicht nur die äußerliche Verbindung in kirchlichen Dingen der Graf-
schaft mit Böhmen hat sich bis jetzt erhalten, sondern auch religiöse Gebräuche
der Bewohner weisen auf die Einwirkung Böhmens hin. So wird auch im
Glatzer Lande besonders Johannes von Nepomnk, der Heilige Böhmens, ver-
ehrt. Standbilder von ihm finden sich allenthalben auf Brücken, freien Plätzen,
an Häusern, Waldwegen und Bergen, und sein Fest wird feierlicher begangen
als in den meisten katholischen Gegenden der übrigen Nachbarländer. Selbst
Friedrich der Große wollte dieser Neigung des Volkes Befriedigung gönnen und
befahl, daß die Statue des heiligen Johannes ihren Standort auf dem höchsten
Punkte der Festung Glatz erhalte. Dort steht sie noch heute mit dem Gesicht
nach Böhmen gerichtet und ringsum schon aus der Ferne sichtbar.
'Einfluß Böhmens auf Glatz, 197
In den Sommermonaten begegnet man gar oft in der Grafschaft in den
Thälern und auf Bergen bald kürzeren, bald längeren Zügen von Pilgerscharen,
welche mit Fahnen, Kreuzen, Bildern von Heiligen unter Gebet, Gesang
und oft auch unter Musik einem der Gnadenörter zuwauderu. deren sich dort
mehrere finden, wie Albendorf in der Nähe der Heuscheuer und Maria-Schnee
auf dem Spitzigen Berge bei Habelschwerdt. Manches Jahr hat wohl an
hunderttausend solcher Wallfahrer aufzuweisen, die nur in kleinster Zahl aus
Schlesien, zumeist aus Böhmen, auch aus Mähren, Polen und Ungarn kommen.
Stadt und Festung Glatz.
Da hört man oft in fremden Zungen beten und singen auf deutscher Flur. Bei
dieser engen Verbindung besonders des westlichen Teiles der Grafschaft mit
Böhmen dürfen wir uns nicht wundern, daß noch heut die Einwanderungen
und Verheiratungen herüber und hinüber nicht selten sind; und vielleicht ist es
auch dem Einfluß des böhmischen Blutes zuzuschreiben, daß die Glatzer eine
hervorragende Vorliebe für Musik haben, die sich schon bei kleineren Knaben
und Mädchen oft in erstaunlichem Maße zeigt.
Auch einzelne Ereignisse in der Geschichte haben es bewirkt, daß Glatz
sich näher an Böhmen anschließen mußte. Als sich 989 die Herrscher von
Böhmen und Polen entzweit hatten, befehdeten sich beide Völker länger als ein
Jahrhundert; und die meisten Heere zogen durch das Glatzer Land, so daß ein
198 Die Grafschaft Glatz.
entsetzlicher Zustand der Unsicherheit und Bedrängnis im Lande herrschte; denn
fast täglich wurden die Bewohner durch Streifereien der Kriegsscharen geschädigt.
Erst als im Jahre 1163 Schlesien aufhörte, mit Polen verbunden zu sein; als
es anfing, von seinen eignen Herzögen regiert zu werden, hörten die Böhmen
und Polen auf, sich einander mit Eifersucht zu verfolgen, welche die Nachbarschaft
verursacht und genährt hatte. Als nun zwischen beiden Nationen ein mehr
friedlicher Zustand eintrat, wurde die Grafschaft Glatz nicht mehr verwüstet und
entvölkert; die Bevölkerung nahm zu, verwüstete Orte wurden wieder aufgebaut,
neue Dörfer angelegt.
Freilich hatte das Land wieder durch die Hussitenkriege viel zu leiden,
da die Hussiten ihre Truppen meist durch die Pässe von Böhmen her nach
Norden führten; freilich mußte Glatz viel Schaden und Bedrängnisse aushalten
im 17. Jahrhundert, besonders zu Anfang und gegen Ende des Dreißigjährigen
Krieges, als Raub, Plünderung und die drückendsten Abgaben bei den Durch-
Märschen der kaiserlichen und schwedischen Truppen auf dem Laude lasteten;
freilich blieb die Grafschaft auch in den Schleichen Kriegen des großen Friedrich
nicht frei von harten Bedrängnissen; aber die lange Friedenszeit, die zwischen
den einzelnen Kriegen lag, hat das Ländchen bedeutend emporgebracht und zu
einer Perle des Reiches werden lassen.
Gurgen und Wohnungen. Als Zwischen- und Durchzugsgebiet ist die
Grasschaft deshalb besonders geeignet, weil sie eine nicht geringe Zahl von
Ein- und Ausgangsthoren ans der West- und Ostseite hat, von denen sich
immer je zwei entsprechen. Von ihnen sind die Pässe bei Wartha auf fchlesischer
und bei Lewin an der böhmischen Seite als Ein- und Ausgänge für friedliche
und kriegerische Zwecke von jeher am meisten aufgesucht gewesen; denn sie find
die offensten und gangbarsten und führen am kürzesten und bequemsten quer
durch das Innere des Landes bei dem Hauptorte vorüber.
Auf dieser Strecke stieß der Wanderer einst auf eine Reihe von festen
Schlössern und Burgen, die mit ihren Zinnen, Mauern und Mannschaften der
Gegend einen kriegerischen Anstrich gaben, die später gefürchtete Sitze wilder
Raubritter wurden und allmählich verödeten, deren spärliche Ruinen jetzt über
Hecken und Gebüsch aus ihrem eignen Schutte hervorragen und der Landschaft
den Reiz des Romantischen geben.
Die häufigen Kriege und Unruhen zwischen Polen und Böhmen veran-
laßten die Bewohner dazu, daß sie an besonders zu Schutz und Trutz vorteilhaft
gelegenen Orten feste Bauten anlegten und sich durch dieselben widerstandsfähig
machten. Da stand auf einem Berge bei Lewin das Schloß Hradisch, das die
Hnssiten zerstört haben. Zwischen Lewin und Reinerz schaute die Burg Hummel,
die in alten Urkunden in deutscher Zunge Landfried genannt wurde, weit in
das Land hinab. Auf der Höhe des heutigen Wartha erhob sich das Schloß
Bardo oder Byrdo, das sich die Polen als ein Grenzfchloß gegen die feindlichen
Einfälle der Böhmen angelegt hatten; es wurde 1096 von den Böhmen zer-
stört, die sich dann weiter abwärts an der Neiße auf einer felsigen Höhe ein
festeres Schloß bauten, das für sie ein Zufluchtsort sein sollte und den Namen
Kamenjecz (Felsenburg) erhielt, der später in Kamenz umgewandelt wurde.
200 Die Grafschaft Glatz.
Auch fern von der breiten Heerstraße standen Burgen auf den Höhen-
punkten, welche die Thäler zu schützen hatten, wie die Burg Schnellen- oder
Schnallenstein bei Mittelwalde, die schon seit den Hussitenkriegen in Trümmern
liegt, welche jetzt über den ringsum sich ausbreitenden reichen Schmuck der
frischesten Nadel- und Laubgehölze ernst hervorragen. Wie mächtig die Burg
Karpenstein bei Landeck einst gewesen ist, das beweisen die Reste ihrer starken
Grundmauern, die noch erhalten sind. Noch jetzt ein Herrensitz ist das alte
Schloß Rathen, unweit Wünschelburg, im Westen der Grafschaft.
Die Geschichte und die natürliche Lage der Grafschaft Glatz bestätigen
hinlänglich, daß wir es mit einem Lande von bedeutender Wichtigkeit zu thun
haben. Das erkannte nur zu gut Friedrich der Große, und deshalb widerstand
er mit der größten Zähigkeit und Ausdauer den angestrengtesten Bemühungen
Österreichs, die Grafschaft für sich zu behalten. Für ihn sollte Glatz nicht nur
das Land der Durchmärsche sein, nicht nur das Land, welches den Handel und
Verkehr zwischen Böhmen und Schlesien vermittelt: nein, ihm sollte es ein
Schloß vor Böhmen sein, durch welches er sein Land verschließen konnte gegen
feindliches Andringen, sür sich aber ausschließen könnte das Land der Feinde.
Hatte er Glatz, so konnte er die Feindseligkeiten leicht nach Böhmen hinüber-
spielen und Böhmen und Mähren bedrohen. Deshalb mußte Österreich, wenn
es den Frieden mit dem großen Könige haben wollte, sich bequemen, die Graf-
schast an Preußen abzutreten. Aber auch Österreich wußte, was es verloren
hatte; denn um Böhmen einigermaßen zu sichern, wurde schon 1780 die
Festung Josephstadt von Gruud auf neu gebaut und Königin-Gräz, das schon
Festungswerke hatte, zur eigentlichen Festung erhoben.
Von den verschiedenen Ortschaften, welche ihren Ursprung und ihr Wachs-
tum ihrer vorteilhaften Lage verdanken, sind zwei zu erwähnen, die im Laufe
der Zeit beide zu Städten erhoben worden sind, Lewin und Reinerz. Schon
gegen Ende des 12. Jahrhunderts war Lewin (Lewiniee), dessen Umgegend
mit Quellen gesegnet ist. vorhanden und gehörte zu der weiten Herrschast des
Bergschlosses Hummel. Reinerz taucht unter der böhmischen Benennung Dusnik
als ein der Hummelburg unterthäniges Dorf in der Geschichte auf, das reich
an Eisenerzen im 14. Jahrhundert deutsche Berg- und Hüttenleute erhielt,
Markt- und Stadtrecht bekam und als Stadt nach dem Gründer Reinhard
(oppiduin Reinhardi) den jetzigen Namen empfing.
Zu erhöhter Belebung durch neue Ansiedelungen, zu umfassenderer Kultur
des Landes trugen unstreitig die vielen Deutschen bei, die in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts unter König Johann ins Land gezogen wurden.
Diese Einwanderung hatte zur Folge, daß die deutsche Sprache sich immer
mehr verbreitete, die böhmische weniger gebraucht wurde und an die Stelle
vieler böhmischen Ortsnamen deutsche traten.
Sehen wir uns nun einmal um, wie in früherer Zeit sich der Einwanderer
ansiedelte und einrichtete, wie der Bauer in der Grafschaft wohnte. Zunächst
ist es natürlich, daß ein Dors in der gebirgigen Gegend ganz anders aussieht
als ein Dorf im Flachlande. Hier haben die Ansiedler eine Ebene, in der sie
sich ausdehnen, in der sie ein abgeschlossenes Dorf mit gerader Straße anlegen,
Gehöft an Gehöft reihen können. Anders ist es im Gebirgslande. Das Terrain
gestattet keinen regelrechten Grundplan, es gewährt dem Baumeister keinen
Burgen und Wohnungen. 291
weiten Spielraum. Zu Wohnstätten suchten die Leute meist eine Gegend im
Thale auf, um den erforderlichen Wasferbedarf nahe zu haben. Da aber die
Thäler meist sehr eng sind, so gestatteten sie nicht, daß die Bauern dicht neben
einander bauen konnten; nrtd so kommt es, daß verschiedene Ortschaften eine
Länge von mehr als 4 km haben und als sogenannte geschlossene Dörfer nicht
bezeichnet werden können.
Für den Häuserbau boten sich in der Grafschaft Glatz Steine und Holz zur
Genüge dar. Da aber die Steine nicht immer zur Hand waren, ihre Herbeifchafsung
sehr schwierig und kostspielig war, so bediente man sich beim Bauen meist des
Holzes, das in den weiten Wäldern in großer Menge und vorzüglicher Qualität
vorhanden und im Winter bei der gewöhnlich lange dauernden Schlittenfahrt
bequem herbeizuschaffen war. Da man auch Zeit hatte, das Holz gehörig
trocken werden zu laffen, so hatte man ein dauerhaftes und leicht warmhalten-
des Baumaterial. Daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir hören, daß
in früheren Zeiten die Häuser- und Wirtschaftsbauten und die Kirchen fast
dnrchgehends aus Holz aufgeführt wurden, während wir jetzt in der Grafschaft
meist massive Bauten finden. Die Häuser wurden größtenteils einstöckig auf-
geführt und erschienen nicht selten, weil sie sich dem Terrain anpassen mußten,
sehr uneben. Die Dächer waren mäßig abgeflacht und aus Schindeln gemacht;
sie sprangen über 1 m weit über die Hauswände vor und gewährten so einen
trockenen Raum zum Schutze des Hauses, zur Aufbewahrung für Holz und
Wirtschaftsgeräte. Die Giebelwände waren meist mit Brettern, die auch
Schnitzereien enthielten, verschalt; Hausthür, Fensterrahmen und Fensterladen
wurden gewöhnlich grün angestrichen, während jetzt an diesen Gegenständen die
blaue Farbe vorherrscht.
Ost finden wir dort auch die Buchstaben der beiden Namen des Besitzers
an den Giebeln, auch wohl Sprüche und Bilder von Heiligen. Einen Teil des
Hauses, zuweilen auch das ganze Hans, umzieht eine hölzerne Galerie.
Die innere Einrichtung des Hauses war gewöhnlich sehr einfach. Den
kleinen Leuten, den Häuslern, genügte schon eine Stube, eine Kammer und ein
Schuppen, der in gleicher Flucht an das Haus stieß. War der Grundbesitz so
groß, daß er dem Häusler gestattete, sich eine oder zwei Kühe zu halten, so
schlössen sich diesen Räumen unter demselben Dachstuhl noch ein Stall und,
wenn nötig, eine Scheune an.
Die größeren Wirtschaften umfaßten eine große Stube, in welcher sich
gewöhnlich zusammen die Familie und das Gesinde des Hausherrn aufhielt und
die auch oft als Küche diente; ferner eine kleine Stube, die den eigentlichen
Wohnraum des Hausherrn mit seiner Frau bildete, in welcher sich der große
Kleiderschrank der Hausfrau und das Himmelbett, in welchem die schweren Feder-
betten, der Stolz der Frau, aufgetürmt waren, und mehrere Kammern unter
dem Dache, in denen das weibliche Gesinde zu schlafen pflegte und die deshalb
die „Menscherkammern" hießen. Auch in diesen größeren Wirtschaften lagen
die Stallräume unter dem Dache des Wohnhauses, während die Scheune dem-
selben gegenüber oder im rechten Winkel zu demselben gebaut wurde. In der
Mitte des Hofes war die Düngerstätte, nicht weit von dieser der Zieh- oder bis-
weilen Drehbrunnen, häufig auch ein Taubenschlag. Im Obstgarten, der nicht
fern vom Wohnhause war, stand das kleine Backhaus.
202 Die Grafschaft Glatz.
Jetzt ist es in der Grafschaft anders geworden. Man baut vielfach massiv,
denn die Holzpreise sind bedeutend gestiegen; dagegen bleibt man bei dem
Schindeldach, weil es größeren Schutz gegen das Schneetreiben gewährt und
wohlfeiler ist. Die Häuser werden jetzt wohnlicher nnd bequemer eingerichtet.
Zu jeder Besitzung gehört ein Obstgarten und ein Blumengärtchen, so daß die
Dörfer, da bei den meisten Häusern der helle Anstrich fast jährlich erneuert
wird, einen freundlichen Eindruck machen.
Der Fremden Aufmerksamkeit im Lande erregen die umfassenden Gehöfte
und Gebäude der großen Güter uud Herrschaften und die Wohnsitze von deren
Eigentümern. Die Zahl jener Schlösser, die durch ihre Lage und den Schmuck
ihrer Parke und Gartenanlagen Interesse einflößen und zu Besuchen Lust er-
wecken, ist nicht klein; die nennenswertesten sind Grafenort, Kunzendorf, Ullers-
dorf, Pischkowitz, Waldstein, Rathen, Scharfeneck und Eckersdorf.
Produkte und Sprache. Die Grafschaft Glatz ist noch immer, trotzdem viel
Bäume niedergeschlagen sind, reich an Wald, denn noch über 33°/0 der Gesamt-
oberfläche des Landes ist bewaldet. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war das
Aussehen des Landes in dieser Beziehung noch ganz anders. Damals deckte den
ganzen Südwesten fast ausschließlich Wald, und jede Kultur fehlte noch. Wenn alfo
die Einschränkung des Waldgebietes, durch welche die Gründung von Dörfern
erst möglich wurde, für die Grafschaft eiue Wohlthat war, so trug doch auch der
Fortbestand der Wälder, besonders der Tannen- und Fichtenwälder, bedeutend
zum Wohlstande der dortigen Bevölkerung bei, da sie wichtige Beschäftiguugs-
und Nahrnngs-, ja Reichtumsquellen abgaben. Denn ans den Wäldern gewann
man Bauholz, Brennholz, Bretter und Schindeln um wohlfeilen Preis; man
verfertigte Schaufeln, Siebe, Spindeln, Mulden, Teller n. dgl. Viele Menschen
nährten sich durch Holzschlagen und Fuhrlohn. Ju früheren Zeiten brachte
auch das Flößen der Hölzer auf den kleineren Flüssen in die Neiße hinein
reichlichen Ertrag; da aber das Brennholz jetzt zumeist von den Käufern
an Ort und Stelle aufgesucht wird, hat das Flößen aufgehört. Auch Glas-
Hütten wurden früher im Innern der Wälder angelegt; und als das Holz noch
billig war, gab es deren im Glatzer Lande nicht wenige. Am bekanntesten ist
die Glashütte, welche im Jahre 1659 in Kaiserswalde auf dem an Adam
Peterhansel überladenen Waldstück angelegt wurde. Sie lieferte Waren durch
gauz Schlesien, über Posen bis nach Danzig. Als diese Hütte angelegt wurde,
kostete die Klafter weiches Brennholz ohne Schlag- und Fuhrlohn 10 Kreuzer,
im dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts 5 Groschen 4 Pfennige, im dritten
Jahrzehnt uufres Jahrhunderts 4 Mark, jetzt kostet sie über 9 Mark. Im
Heuscheuergebirge verdankte eine Glashütte, die 1770 gegründet wurde, ihr
Dasein besonders den Vergünstigungen, welche ihr Friedrich der Große gewährte,
der die Anlage von Glashütten in seinem Staate zu heben suchte.
Die umfangreichen Waldungen gaben auch Veranlassung zur Gründung von
Zündhölzersabriken, von denen einige noch jetzt einen bedeutenden Absatz erzielen.
Nahrung uud Beschäftigung verschaffte den Bewohnern nicht nur der
Wald, sondern auch die im Schöße der Erde verborgenen festen Massen halfen
schaffen und wirken. Da findet sich bei dem Dorse Herzogswalde, das 15 km
südlich von Habelschwerdt zu beiden Seiten der Neiße liegt, ein mächtiges
Produkte und Sprache. 203
Marmorlager, aus dem sehr schöner Marmor gewonnen wird, der zu Werken
der Kunst verarbeitet werden könnte, jetzt aber nur zum Kalkbrennen benutzt
wird. Kalklager von großer Mächtigkeit finden sich auch im Glatzer Kreise bei
Ullersdorf und Gabersdorf, bei den Städten Reinerz und Lewin, im Neuroder
Kreise bei Kunzendorf, Scharseneck und Albendorf.
Reiche Sandsteinlager im Heuscheuer und Habelschwerdter Gebirge ge-
währen manchem Glatzer sein Fortkommen; denn der in den Brüchen gewonnene
Sandstein wird zu Mühlsteinen, Thür- und Fensterfutter, Säulen. Trögen,
Platten u. dgl. verarbeitet. Wenn die Grasschaft erst neue, bessere und billigere
Verkehrsmittel haben wird als die jetzigen, dann werden die Brüche noch eine
viel reichere Ausbeute gewähren und die darauf bezüglichen Gewerbe einen
höheren Aufschwung gewinnen.
Eisenerz wird zu Tage gefördert und geschmolzen nicht nur in Reinerz,
sondern auch im Neuroder Kreise in den Dörfern Volpersdors und Schlegel.
Die westlichen Gebirge der Grafschaft senden vielfach Eisenquellen in die Ebene,
die eine nicht unbedeutende Zahl von Kurgästen heranziehen, wie Langenau,
Reinerz und Cudöwa. Alle drei sind öffentliche Kuranstalten, erfreuen sich
eines bewährten Rufes und find durch die Schönheit partienreicher Gegenden
sowie durch herrliche Garten- und Parkanlagen ausgezeichnet.
In früheren Jahrhunderten wurde im Glatzer Lande mehr, als es jetzt
geschieht, Bergbau betrieben. Im sogenannten Grunde des Schneebergsgebirges
und in vielen andern Gegenden des Landes finden wir im 16. Jahrhundert
Bergwerke, die sich einer hohen Blüte erfreuen. Am 24. März 1578 wurde
eine eigne Bergwerksordnung für die Grafschaft Glatz herausgegeben, in welcher
der Kaiser sagt, daß seit etlichen Jahren Bergwerke von allerlei Metall, als
von Gold, Silber, Kupfer, Blei, Eisen und Alaun, gefunden werden, und daß
ferner ohne Wissen und Willen des obersten Münzmeisters kein Alaun- oder
Eisenbergwerk angelegt werden solle, damit das Holz für die edlen Metalle
gespart werde. Durch den Dreißigjährigen Krieg geriet der Bergbau ins
Stocken, und seitdem hatte er seine frühere Höhe nicht wieder erreicht. So ist es
auch nicht in nnserm Jahrhundert gelungen, das Silberbergwerk zu Martinsberg,
das im Dreißigjährigen Kriege einging, wieder emporzubringen, da der karge
Gewinn Mühe und Kosten nicht genügend lohnte.
Nicht unerwähnt darf die Leinwandweberei bleiben, die auf wohlthätige
Weise die Zeit ausfüllt, welche die Acker-, Vieh- und Forstwirtschaft im Spät-
herbste und Winter übrig ließ. Aus allen diesen Thatsachen, die bisher an-
geführt sind, ergibt sich, daß eine Erwerblosigkeit in die Grafschaft fchwer ein-
dringen kann, daß es wenig Bettler gibt und man eine überraschend große
Sicherheit in Beziehung auf das Mein und Dein findet. Die Menschen leben
dort in stiller Genügsamkeit bei ihren gleichmäßigen Beschäftigungen im eignen
Hans und Hof; sie haben eine Neigung zur Arbeit, die sie mit freudiger Teil-
nähme fortführen; nur schwer und mit Unlust treten sie aus ihrem gewohnten
Geleise und Kreise heraus und können sich deshalb, wenn ihnen unerwartet
etwas vor die Augen tritt, nicht schnell entschließen. In seiner Religion ist
der Glatzer dem Hergebrachten stets getreu; er übt sie, ohne Andersgläubige
zu verfolgen. Mäßig ist er im Genuß von Speise und Trank, sparsam selbst
bei reichlichen Mitteln. Nur einmal im Jahre, nämlich im Herbst zur Zeit der
204 Die Grafschaft Glatz.
Kirmes, geht er mit den Verwandten und Freunden aus andern Dörfern aus
sich heraus und thut sich reichlich zu gute. Da er nicht häufig Gelegenheit hat
zu geselliger Unterhaltung, ist er gern schweigsam, spricht nur, wenn er sprechen
muß, aber dann unbefangen und in treuherziger Breite, ein Zeichen seiner Gut-
mütigkeit und Biederkeit. Eine Vorstellung von den Dialekten, die in der
Grafschaft gesprochen werden, gewinnen wir, wenn wir einige Strophen von
den Volksliedern genauer betrachten, die uns Kutzen mitteilt.
Um Mittelwalde, im Süden der Grafschaft, singt man:
„Nai, ech muß uf Tschihack zieh'n; „Nein, ich muß auf Tschihack geh'n!
Durte hot's gläh gud zu laba; Dort hat's, sagt man, gut zu leben,
Kucha hod's un guda Baba: Kuchen hat's und gute Baben.
Mandelkarne un Rosinka Maudelu und Rosinen
Un an guda Wein zu triuka, Und guten Wem zu trinken,
Nai, ech muß uf Tschihack zieh'n." Nein, ich muß auf Tschihack geh'n."
Tschihack ist ein böhmisches Grenzdorf und Jagdschlößchen an der Erlitz,
wohin öfters Lustpartien veranstaltet werden.
In der Mitte der Grafschaft wird gesungen:
„Sichelu scholla „ „Sicheln schallen,
Und Ihre folla Ähren fallen
Unger Sichel-Schoal. Unter Sichelschall.
Uf der Mädlan Hütta Auf der Mädchen Hüten
Zittern blohe Blüta, Zittern blaue Blüten,
Fröd is überall. Freud' ist überall.
Olles springet, Alles springet,
Olles singet, Alles singet,
Woas ock lolla koan, Was nur lallen kann.
Bei dem Arntemoale Bei dem Erntemahle
Ißt as enner Schoale Ißt aus einer Schale
Knaicht un Bauersmoan." Knecht und Bauersmann."
Ein Lied aus dem Norden der Grafschaft beginnt mit folgender Strophe:
„Vorbei seyn ez die Körmesfreda, „Vorbei sind jetzt die Kirmesfrenden,
Der Winter, Gretla, kimmt nn on, Der Winter, Gretchen, kommt nun an,
Du mußt a Wörtla met der reda, Du mußt ein Wörtchen mit dir reden
Mich ei or guda Mennng lohn, Und mich in guter Meinung lassen,
Ich kon's ju länger ne verhöla, Ich kann's ja länger nicht verhehlen,
Nu hier mich on, un nim der Zeit. Nun hör' mich an und nimm dir Zeit.
Ich will der olles klor erzähla. Ich will dir alles klar erzählen,
Wos mir so Hort am Herze leit." Was mir so nah am Herzen liegt."
Das Eulengebirge und dessen Gebiet. Wenn wir nun die Hauptteile
der Grafschaft Glatz noch etwas näher betrachten wollen, so beginnen wir am
besten mit dem Eulengebirge, welches auf der Ostseite des Landes liegt und
von der Nordspitze bis zur Stadt Wartha an der Neiße reicht; es ist unter den
Grenzgebirgen der Grafschaft das einzige, welches nirgends an nichtpreußisches
Gebiet stößt. Im Norden zieht sich das Gebirge, das im ganzen Sl1^ km
lang ist, noch II1/* km in den Schweidnitzer Kreis hinein, während von den
übrig bleibenden 261/4: km 83/4 km den Reichenbacher Kreis, 171/2 km
den Frankensteiner Kreis Schlesiens berühren. Die Eule, wie das Volk das
Das Eulengebirge und dessen Gebiet. — Festung Silberberg. 205
Gebirge kurzweg nennt, gehört zu den Kettengebirgen; die durchschnittliche Höhe
des Kammes beträgt 330 m. Das Gebirge fällt nach Schweidnitz, Reichenbach
und Frankenstein allmählich ab, nach der Glatzer Seite zu ist der Abfall kürzer
und steiler. Die Thäler sind meist eng und schwer passierbar. Das Gestein
des Gebirges ist vorzüglich Gneis; an der Westseite legt sich ein schmaler,
langgestreckter Zug von Steinkohlengebirge vor, gewissermaßen ein Ausläufer
der mächtigen Steinkohlenformationen der Waldenburger Gegend.
Das Eulengebirge läßt sich in drei Teile einteilen, von denen der eine,
nördliche oder vielmehr nordwestliche, außerhalb der Grafschaft liegt; der
südliche oder südöstliche reicht von Silberberg bis zur Neiße bei Wartha. Zwi-
scheu beiden Teilen liegt der Abschnitt, welcher als der Kern des Gebirges
anzusehen ist. Von diesem Kerne, der Zentralmasse, ziehen unsre Aufmerk-
famkeit besonders auf sich die Hohe Eule und das Sonnengebirge. Die Hohe
Eule ist ein etwa 2650 m langer, an einigen Stellen bis zu 200 m breiter,
schwach gewellter Rücken, der jetzt von jüngerem Fichten- und Tannenwald be-
deckt ist, innerhalb dessen hier und da eine kleine Wiese und eine große Menge
Blau- oder Heidelbeersträucher angetroffen werden.
Über den langgestreckten Rücken geht die Grenze zwischen Schlesien und
der Grafschaft, die durch einen etwa S1/^ m breiten, frei durch den Wald
führenden Weg bezeichnet ist. An die Hohe Eule schließt sich südöstlich das
Sonnengebirge an, dessen Hauptpunkte die Sonnenkoppe und der Kuh- oder
Turmberg sind. Die Aussicht von diesen beiden Punkten, die früher die ge-
nußreichste im ganzen Eulengebirge war, ist jetzt durch den heranwachsenden
Wald gehemmt. Dennoch wird die Sonnenkoppe in den Sommermonaten gern
besucht, denn der Aufenthalt auf derselben gewährt viel Freude und Genuß.
Festung Silberberg, das Weitsche Gibraltar. Zur Zentralmasse des
Eulengebirges gehören auch die Silberberger Kämme, deren höchster Teil erst
durch Gebilde menschlicher Kunst, durch Festungswerke, die jetzige, schon aus
weiter Ferne auffallende Form erhalten hat. Die Stadt Silberberg, die zum
Frankensteiner Kreise gehört, verdankt ihren Namen und ihre Entstehung dem
im Jahre 1370 von Meißener und Reichensteiner Bergleuten auf Silber und
Blei eröffneten und bis zum Anfang des Dreißigjährigen Krieges daselbst am
Nordabhange des Eulengebirges fortgesetzten Bergbau. Die späteren Versuche
zur Wiederaufnahme desselben in den Jahren 1750 und 1812 blieben ohne
Erfolg. In die Felsen, welche über die stufenförmig angelegte Stadt sich er-
heben, ließ Friedrich der Große in den Jahren 1765—77 die für eine Be-
satzung von 5000 Mann ausreichenden, seit 1860 zu militärischen Zwecken
nicht mehr benutzten Festungswerke mit einem Kostenaufwand von 4 V2 Millionen
Thalern ausführen. Die Festung erhielt wegen ihrer vortrefflichen Anlagen
den Namen „Schlefisches Gibraltar", und der Hauptbau derselben, der Donjon,
dessen Wallgang 64.0 vi über dem Meere liegt, die Bezeichnung „Wunderbau".
Die benachbarten Höhen des hohen Spitzberges, der großen und kleinen Stroh-
Haube, sowie des Hohensteines und Hahnenkammes waren mit Nebenwerken
ausgerüstet. Beschossen wurde die Festung im Jahre 1807 von Franzosen und
Bayern. Jetzt hat die Stadt Silberberg noch nicht 1500 Einwohner, die sich
wegen der geringen Ertragsfähigkeit des meist felsigen Bodens vorzugsweise
206 Die Grafschaft Glatz.
dem Gewerbebetrieb zugewendet haben. Die Uhrenfabrikation, die Woll- und
Twist- (Baumwollengarn-) Spinnerei beschäftigen gegen 200 Personen, die
übrigen Gewerbe sind von geringer Bedeutung. Wenn auch der Ort klein und
unbedeutend ist, so wird er doch oft besucht, besonders weil die Spaziergänge
auf den Höhen sehr angenehm sind. Von den Wällen herab hat man eine
herrliche Aussicht sowohl nach Schlesien als auch nach der Grafschaft hin, und
die wechselvolle und frische Anmut der reizenden Thalschluchten fesselt den Blick
des Wanderers.
Daß die Festung Silberberg gerade an dieser Stelle des Eulengebirges
erbaut wurde, dazu gab die freie und kuppenartige Form einiger Berggipfel
sowie die Lage des Orts Veranlaffung, da hier nämlich von jeher eine Paß-
straße aus einem wichtigen Teile Schlesiens nach der Grafschaft Glatz und nach
Böhmen führte und durch die neue Festung ein wichtiges Mittelglied zwischen
den Festungen Glatz und Schweidnitz gewonnen wurde. Auf der Paßstraße bei
Silberberg vorbei zogen gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges schwedische
Heerhaufen; im Siebenjährigen Kriege nahmen in diesen Gegenden bald preußische,
bald österreichische Heeresteile Stellungen und Lagerstätten ein. An diese Zeit
erinnern noch jetzt Bruchstücke und Schanzen, die zwar gegenwärtig bereits
völlig mit Rasen bedeckt und mit Gesträuch bewachsen, aber in ihrer früheren
Bestimmung noch hinlänglich erkennbar sind. Auch manche noch übliche Namen,
wie Kanonenweg, Husarensteg, Kroatenplan, weisen auf jene Kriegszeiten hin.
Langtnbitlau und pcterswaldau, )wei schleiche Webcrdörfer. Im
Reichenbacher Kreise zieht sich 5 km südwestlich von der Kreisstadt in einer
Länge von 9 km am Fuße des Eulengebirges hinauf das Dorf Langenbielau,
das in Nieder- und Oberlangenbielau zerfällt. Das Klima ist bei der nach
Nordosten* zu offenen Lage des Ortes rauh, aber gesund. Der Boden besteht
meist aus Granit, Kalk und rotem Sandstein. Die das Dorf der Länge nach
durchfließende Viele wird zur Abführung der unreinen Abflüsse der zahlreichen
Fabriken des Ortes benutzt, das für die Haushaltungen erforderliche Wasser
dagegen aus Brunnen bezogen. Das Dorf oder die Dörfer I, II, III, IV,
haben 13 400 Einwohner. Bereits seit dem 14. Jahrhundert ist die Weberei
der Haupterwerbszweig der Einwohnerschaft. Es bestehen gegenwärtig sieben
größere Fabrikanlagen für Weberei mit über 2000 Stühlen, vier Bleichereien,
ebensoviel Färbereien, zwei Baumwollspinnereien, eine Kanevasfabrik. Der
größte Teil der Bewohner treibt die Handweberei im eignen Hause, der kleinere
Teil ist in den Fabriken beschäftigt. Außer den Webereien finden wir in dem
Dorfe zwei Mehlmühlen, eine Brettschneiderei, eine Preßhefen-, eine Stärke-
fabrik, sämtlich mit Dampfbetrieb, und eine Zuckersiederei. Der Versand der
fertigen leinenen, wollenen und baumwollenen Zeuge ist außer nach den größeren
Städten der Provinz Schlesien und den Nachbarprovinzen auch nach Dänemark,
Schweden, Amerika und Rußland gerichtet. In dem Dorfe befindet sich ein
Kranken- und ein Waisenhaus; es hat auch Gasbeleuchtung. Natürlich ist die
Gemeindeverwaltung nach Art der städtischen Verwaltungen eingerichtet.
Von der Kreisstadt Reichenbach aus 5 km westlich, am Fuße der Hohen
Eule, liegt das Dorf Peterswaldau, das in Ober-, Mittel-, Nieder- und Königl.-
PeterSwaldau zerfällt. Der vorherrschend lehmige, über einen Untergrund aus
Friedrich II. in Kamenz. 207
Urgestein, Gneis und Glimmer gelagerte Boden ist ziemlich ergiebig. Gleichwohl
ist der Ackerbau des Dorfes von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist die
Weberei, welche den Haupterwerbszweig der 7800 Einwohner bildet und vor-
zugsweise auf die Herstellung baumwollener Gespinste gerichtet ist. Vier Baum-
Wollspinnereien, zwei mechanische Webereien und zwei Stärkefabriken beschäftigen
über 600 Arbeiter. Die fertigen Waren gelangen zum größeren Teile in
Deutschland und Österreich zum Absatz. Durch den Bezug der Rohstoffe steht
Peterswaldau viel mit England und Amerika in Verbindung.
Lcmgenbielan vom Abhänge des Kriihenberges aus gesehen.
Friedrich II. in Kamen). Nicht weit von der Neiße entfernt liegt im
Frankensteiner Kreise in schöner und gesunder Gegend das Dorf Kamenz,
Kreuzuugspunkt der Breslau-Mittelwalder und Neiße-Frankensteiner Eisenbahn.
Obgleich der Ort eine gute Strecke östlich von den Ausläufern des Eulengebirges
liegt, so verdient er doch in Verbindung mit demselben genannt zu werden,
weil er noch an der linken Seite der Neiße liegt. Kamenz verdankt seinen
Ursprung dem Böhmenherzog Brzetislans, der hier 1096 eine Kirche und Burg
Kamieuiza (Kamenjeez) erbaute. Größere Bedeutung gewann der Ort, als im
Jahre 1209 daselbst durch denAugustiner-Chorherrn Pogarell eine Cisterzienser-
abtei gegründet wurde, die 1811 aufgelöst worden ist. Bei der Auslösung
gingen die 31 Stiftsdörfer der Abtei durch Kauf in den Besitz der Prinzessin
Marianne der Niederlande über. Dieselbe ließ an Stelle des 1817 abgebrannten
208 Die Grafschaft Glatz.
alten Schlosses ein neues nach einem von Schinkel entworfenen Plane erbauen und
mit Parkanlagen versehen. Jetzt besitzt das Schloß Prinz Albrecht von Preußen.
Der Boden von Kamenz ist für den Ackerbau vorzüglich geeignet. Von
den durchweg wohlhabenden Grundbesitzern und Ackerbauern wird lebhafter
Getreidehandel am Orte, nach den zunächst gelegenen Marktplätzen und nach
Breslau getrieben. Im Sommer verkehren in Kamenz, das nnr 550 meist
katholische Einwohner in 42 Häusern hat, viele Fremde, welche die reizende
Lage des Ortes und die Sehenswürdigkeit des Schlosses anzieht.
Als Friedrich II. von Preußen nach der Beendigung des ersten Schleichen
Krieges gar bald erkennen mußte, daß es Maria Theresia mit der Abtretung
Schlesiens nicht Ernst gewesen sei, hielt er sich bereit für schlimme Fälle.
Nachdem er im August 1744 mit 100 000 Preußen in Böhmen eingerückt
war und schnell ganz Böhmen besetzt hatte, wurde er durch deu Prinzen von
Lothringen wieder nach Schlesien zurückgedrängt. Als dann Maria Theresia
mit ihren andern Feinden Frieden gemacht hatte, konnte sie dem König von
Preußen mit so bedeutender Macht entgegentreten, daß sie des Sieges und
glücklichen Erfolges glaubte gewiß sein zu können. Friedrich II. ging in der
Mitte des März 1745 zur Armee und nahm sein Hauptquartier im Kloster
Kamenz. Ehe er noch große Truppenmassen um sich hatte, begab er sich mit
geringer Begleitung nach Kamenz, um das Kloster in Augenschein zu nehmen.
Aber Kroaten, welche in dortiger Gegend umherschweiften, hatten erfahren, daß
der Preußenkönig im Kloster sei, und beabsichtigten nun, den König ihrer Feinde
gefangen zu nehmen. Noch zur rechten Zeit wurde der Abt des Klosters von
der Gefahr benachrichtigt, in welcher der König schwebte. Schnell überredete
er den König, er solle sich als Mönch verkleiden, und sobald dies geschehen war,
rief er die Mönche durch die Abendglocke zum Gebet zusammen. Mit ihnen
begab sich der König ungekannt zur Kirche. Vergeblich durchsuchten die Kroaten
das ganze Kloster, kamen in die Kirche, wagten es aber nicht, die Mönche im
Gottesdienste zu stören, und zogen uuverrichteter Sache wieder ab.
Neurode. Wenn wir, wie wir die östlichen Ausläufer des Eulengebirges
verfolgt haben, uns auch vom Kamme aus nach Westen wenden, so stoßen wir
auf die Höhen, welche zum größten Teile zum heutigen Neuroder Kreise gehören,
dessen Mittelpunkt die Kreisstadt Neurode mit 6900 Einwohnern ist, die einzige
städtische Niederlassung im ganzen Gebiete des Eulengebirges auf der Glatzer
Seite. Der Ort wurde im 13. Jahrhundert durch Deutsche gegründet, die der
König Ottokar II. von Böhmen begünstigte. Den Ansiedlern schien zwar an-
sangs die von steilen Bergen umgebene, fast schluchtenartige Gegend nicht sehr
verlockend; aber nachdem sie die Wälder, die bis dahin alles Land ringsum
bedeckten, ausgerodet hatten, befanden sie sich wohl und bauten sich eine Anzahl
Wohnhäuser. Der Ort wurde 1428 von den Hufsiten zerstört, litt wiederholt
durch Epidemien und durch Überschwemmungen der zwar kleinen, aber bei
Hochwasser gefährlichen Walditz.
Die Bewohner Nenrodes nähren sich von der Tuchmachern, der Weberei
und dem Bergbau. Reiche Steinkohlenlager befinden sich um den Ort, in den
Gruben, die dem Grasen von Magnis gehören, werden über 800 Arbeiter be-
schäftigt; die jährliche Ausbeute beträgt gegen 1 700 000 Zentner Kohlen, welche
Das schlesisch-glatzische Grenzgebirge. 209
vorzugsweise nach der Grafschaft Glatz und nach Niederschlesien abgesetzt werden.
In den Neuroder Kohlen finden sich häufig und in ganz besonderer Schönheit
Versteinerungen, die sehr gesucht sind.
Das schlesisch-glatzische Grenzgebirge; Wartha, ^eichenstem. Bei Wartha
windet sich die Neiße zwischen fast unersteiglich schroffe Abhänge in vielen
Biegungen hindurch, bis sich ihr die schlesische Ebene öffnet. Dieser tiefe
und breite Einschnitt bei Wartha gewährt den Eindruck einer gewaltsamen Zer-
spaltung, denn das Gebirge setzt sich rechts von der Neiße in südöstlicher Richtung
ohne größere Unterbrechung bis zur äußersten Südostspitze der Grafschaft fort.
Friedrich II. als Chorherr in Kamenz.
Ein gemeinschaftlicher Name für dieses ganze Gebirge, das nicht nur
an Preußisch-Schlesien, sondern auch an Österreichisch-Schlesien und Mähren
stößt, ist bei dem Volke flicht vorhanden; am geeignetsten würde man es das
schlesisch-glatzische Grenzgebirge nennen, das man in das Wartha-, das Reichen-
steiner- und das Grenzgebirge von Österreichisch-Schlesien und der Grafschaft
Glatz zerlegen könnte. Der erste Abschnitt reicht von dem Passe bei Wartha
bis zu dem bei Reichenstein, durch welchen die Kunststraße von dieser Stadt
nach Glatz gelegt ist. Dieser Teil des Gebirges ist vielfach auf- und auseinander
getrieben, hat tiefe Buchten und Thäler, viele größere und kleinere, höhere und
niedrigere, öfters sehr zierliche Kuppen mit spitzen Gipfeln oder mit fcharf
bezeichneten Rücken.
Deutsches Land und Volk. VIII. 14
210 Die Grafschaft Glatz.
Das lieblich gelegene Wartha hat nur 1150 fast ausschließlich katholische
Einwohner, die zum großen Teil von der Bewirtung der Wallfahrer leben,
deren jährlich über 40 000 aus Böhmen und Schlesien die Stadt besuchen.
Der Ort soll bereits im 10. Jahrhundert entstanden sein; er entwickelte sich
jedoch erst, nachdem hier 1115 von einem böhmischen Edelmann eine Marien-
kapelle erbaut worden war und die Wallfahrten zu dem in derselben aufgestellten
Gnadenbilde begannen. Der Abt Johann des Klosters Kamenz, zu dessen Besitz
Wartha seit 1299 gehörte, erbaute mit Genehmigung des Herzogs Bolko 1421
eine neue größere Kirche, welche indes bereits 1425 von den Hussiten zerstört
wurde. Erst 1682 legte der Abt Augustin den Grund zu der noch jetzt vor-
handenen großartigen Kirche, die im Jahre 1760 von Friedrich dem Großen
eine Orgel erhielt, die zu den größten in Schlesien gehört.
An das Warthagebirge schließt sich das von Reichenstein, einer Stadt, in
deren Nähe große Kalksteinbrüche sind und sich Arsenikerze finden. In' dem
Arsenikbergwerk, dem ältesten des preußischen Staates, sind gegen hundert, in
den vier Kalkbrüchen und den dreizehn Kalköfen des Ortes gegen 70 Arbeiter
beschäftigt. Die Stadt, mit 2200 Einwohnern, ist bereits im 12. Jahrhundert
durch ihren Bergbau auf Gold bekannt geworden, der am blühendsten im
16. Jahrhundert war, während dessen jährlich 20 000 bis 25 000 Dukaten in
dem im Jahre 1520 hier errichteten Münzhause geprägt wurden. Jetzt werden
nur noch Arsenikerze zu Tage gefördert, und zwar jährlich 46 000 Zentner im
Werte von 82 000 Mark. Aus den Schlacken der Arsenikerze Gold zu ge-
Winnen, ist in neuerer Zeit wiederholt versucht, aber der Kostspieligkeit wegen
wieder ausgegeben worden.
Das Melengebirge; Sab Landeck. Durch die Biela, einen Zufluß der
Neiße, ist ein Gebirge von dem schlesisch-glatzischen Gebirge getrennt, welches
man, weil es fast ganz im Wassergebiete der Biela liegt, das Bielengebirge
nennen kann. Nach Süden, nach Mähren zu, fällt dieses Gebirge steil ab und
sendet seine Wassex in die March.
Die Biela, die sich durch andauernde Wasserfälle und schnellen Lauf aus-
zeichnet, verschönt diesen Teil der Grafschaft ganz besonders. So reizend das Thal
ist, so wenig Nutzen bietet es seinen Bewohnern oberhalb des Badeortes Landeck;
denn der Boden steht an Fruchtbarkeit dem der Neiße- und Steinathäler nach,
das Klima ist rauh und läßt edlere Feldfrüchte und Obstsorten nicht gedeihen;
wohl aber wird herrlicher Flachs geerntet, und reiche und kräftige Nahrung
findet das Vieh in Wald und Wiese. Milder wird das Klima unterhalb Laudeck,
weil das Thal sich mehr von den hohen Bergen entfernt, dort hilft die Natur
der Landwirtschaft, die ergiebig arbeitet. »
Landeck liegt, weil es von starken Höhen umgeben ist und die Biela dort
eine bedeutende Biegung macht, in jeder Beziehung günstig. Dazu kommt, daß
seine sechs Heilquellen, die zu den erdig - salinischen Schwefelwässern von
20—29 °C. gehören, von Kranken viel und gern aufgesucht werden. Die älteren,
bereits im 13. Jahrhundert vorhandenen Badeanlagen wurden durch die Tataren
1241, dann wieder während der Hussitenkriege zerstört und erst 1498 vom
Herzog Georg von Münsterberg wieder hergestellt. Der große Stadtbrand
im Jahre 1739 und der Siebenjährige Krieg hemmten die schnellere Entwicklung
Das, Schneebergsgebirge mit dem Schneeberge. 211
des Bades, die erst mit dem Beginn nnsres Jahrhunderts eifriger gefördert
wurde. Das Bad ist jährlich von etwa 3000 Kurgästen und 2000 Durch-
reifenden besucht, die auf ihren Ausflügen nach dem Glatzer Gebirge Landeck
berühren. Der Ort hat nur 2700 Einwohner, von denen sich ungefähr 600
mit der Anfertigung waschlederner Handschuhe beschäftigen, deren jährlich
etwa 14000 Dutzend im Werte von 210 000 Mark angefertigt und nach der
Provinz Brandenburg, nach den Rheinlanden und nach Süddeutschland ab-
gesetzt werden.
Bad Landeck.
Das Schneebergsgebirge mit dem Schneeberge. Im Süden der Graf-
schaft löst sich das Schneebergsgebirge beinahe vollständig von den andern
Gebirgszügen ab, bildet fast ein für sich bestehendes Ganze und ragt wie eine
langgestreckte Gebirgsinfel in das Land hinein; es ist kein Kettengebirge, wie
die Eule, auch kein Plateaugebirge, sondern ein Massengebirge, eine Gebirgs-
gruppe. Als seinen Mittelpunkt, seinen Kern macht sich der Schneeberg geltend,
der nach allen Seiten hin mit den benachbarten Bergen und Gebirgszügen
verbunden ist; doch bleibt die höchste dieser Verbindungsflächen immer noch
230 in hinter seiner Höhe zurück.
Der Schneeberg, der auch zum Unterschiede von andern Bergen desselben
Namens der Große Schneeberg genannt wird (nach den umliegenden Orten auch
der Altstädter, der Spieglitzer, der Grnlicher Schneeberg), hat seinen Namen
14*
212 Die Grafschaft Glatz.
erhalten, weil er länger als alle umliegendenHöhen, nicht selten sieben Monate lang,
mit Schnee bedeckt ist, weil seine glänzende Hülle weit ins Land hinein leuchtet.
Nach ihm, der 1417 m hoch ist, nennt man das Gebirge, zu dem er gehört, am
besten das Schneebergsgebirge, nicht das Glatzer Schneegebirge, wie es vielfach
genannt wird. Sowohl wenn wir von Westen her durch den Wölfelsgrund,
als auch wenn wir von Nordosten durch den Klessengruud den Schneeberg
besteigen wollen, bleibt er nnsern Augen verborgen, bis wir in eine Höhe von
fast 1100 m gelangt sind. Dann aber tritt er von fast allen Seiten frei aus
dem Gebirge hervor und bietet sich uns mit seinem ziemlich steil emporsteigen-
den Gipfel in seiner ganzen Mächtigkeit dar. Anfangs gehen wir noch durch
Wald, der aber die Aussicht nach der Höhe nicht mehr hindert. Allmählich
wird der Wald dünner, der Fichte Wuchs bleibt niedrig, bis ihr Wachstum fast
ganz aufhört. Auch die Eberesche, die sich noch öfter findet, ist nicht mehr zum
Baum aufgeschossen, sondern nur eine Art Strauchwerk. Je näher wir dem
Gipfel kommen, desto leerer und öder wird der Abhang. Endlich hört das
Holzwerk ganz auf; wir haben den Gipfel erreicht, der vollständig kahl ist. Die
Scheitelfläche des Gipfels ist ein sanft geneigtes Plateau, das von Westen nach
Osten 527 m, von Süden nach Norden 340 m mißt. Obgleich der Gipfel
kahl ist, entbehrt er doch nicht alles Lebens der Pflanzen- und Tierwelt. Es
wachsen aus demselben Moose, und wenn die Fröste nicht störend wirken, gleicht
er im Juli oft einer blumigen Wiese. Bis zu seiner Höhe versteigt sich der
wilde Auerhahn, die Schildamsel, auch die Berg- oder Schneelerche; selbst der
Schmetterling besucht die Blumen des Berges. Zumeist aber herrscht auf der
umfangreichen Hochfläche eine Totenstille; denn selbst die Elemente schweigen
dort oben; der Sturm, der in den tiefer liegenden Wäldern tobt, dringt nicht
bis an das kahle Haupt des Berges. Die schauerliche Stille unterbricht nur
zuweilen das Gesumme eines Insektes oder der ängstliche Ruf einer Lerche.
Dennoch ist der Aufenthalt auf dem Gipfel nicht unangenehm, vielmehr äußerst
interessant; ja, es gibt Wanderer, die den Schneeberg mit Vorliebe oft be-
stiegen haben, um sich eine Freude zu bereiten, wie Kutzen, der die Natur so
sehr liebte und mit Entzücken von den Eindrücken spricht, die er auf dem
kahlen Gipfel gewonnen hat. Der Blick reicht über Schlesien bis Breslau, über
Mähren bis Olmütz, tief nach Böhmen hinein, und weit entlang über die schle-
sischen Grenzgebirge wie über die reizenden Thäler der Biela, Neiße und Steina;
gegen Süden öffnet sich uns das Marchthal, das an drei Seiten von hohen
Bergmauern umgeben ist.
Daß wir den Schneeberg jetzt bequem bereisen, daß wir uns dort gut
aufhalten können, haben wir der Prinzessin Marianne der Niederlande zu
danken, die nicht nur die Wege in Ordnung bringen ließ, sondern auch im
Wölfelsgrunde unfern des Wasserfalls ein geräumiges Gasthaus und oben am
westlichen Fuße des Berggipfels ein ähnliches Gebäude hat errichten lassen.
Der Berg spendet nicht nur der Wölfel und der March, deren Thäler nach den
Flüssen ihre Namen tragen, Frische und Belebung; sondern er wird auch, weil
die Wölfel der Neiße und somit der Oder, die March der Donau ihr Wasser
abgibt, die Wasserscheide zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meere. Auch
eine politische Scheide ist er, weil an ihm die Länder Böhmen, Mähren und
Glatz zusammenstoßen.
Das Habelschwerdter Gebirge mit der Hohen Mense s. w. 213
Die Wölfel führt uns in den Wölfelsgrnnd. Die Natur will uns hier
nach vielen Seiten hin überraschen; denn wohin wir auch blicken, überall finden
wir uns erfreut. Da stehen vor uns die Höhen geschmückt mit den verschiedensten
Laub- und Nadelhölzern; da wachsen im Thalgrund üppige Pflanzen; da springt
die rauschend dahin eilende Wölfel über unzählige Steinmassen in die Tiefe
und bildet einen Wasserfall, der zu den schönsten Deutschlands — was die
Alpen bieten, liegt außerhalb uusrer Betrachtung — gehört.
Der ohnehin schnelle Fluß beschleunigt schon eine Strecke vor der Stelle
des Falles seinen Laus, drängt sich zwischen zwei hohe Felsen hindurch und
stürzt, ohne daß jemals, wie bei vielen Wasserfällen im Riesengebirge, wegen
Wassermangels eine künstliche Spannung nötig wäre, in einem gewaltigen
Bogenfatze gegen 20 m in eine kesselförmige Felsschlucht. Der Volksglaube hält
die Schlucht noch immer für unergründlich, obgleich vor einer Reihe von Jahren
kühne Schwimmer das kalte Bad nicht fcheuten, den Kessel zu durchsuchen wagten
und die Tiefe nicht über 2 m fanden. Interessant ist die Mitteilung, die ein
Forstmann gemacht hat, über feine Beobachtung der Forellen; er behauptet
nämlich, daß die Forellen im Monat November, wenn sie im Laichen sind, mit
unglaublicher Schnelligkeit und Geschicklichkeit das in die Tiefe stürzende Wasser
des Falles durchdringen und ihre Reise oberhalb des Sturzes im Flusse fortsetzen.
Da, wo die Wölfel ihre schönen Umgebungen verläßt, steht der Spitzige
Berg, der auf der Westseite des Schneebergsgebirges am weitesten vorgeschoben
ist. Dieser Berg erfreut sich weit und breit eines bedeutenden Rufes durch
sein Wallfahrtskirchlein „Maria zum Schnee, Maria ad nivem", das 1781 und
1782 aus reichlichen Spenden von Wallfahrern erbaut worden ist. Noch jetzt
ziehen jährlich viele Tausende von Menschen hinauf, um zu beten, nicht nur
aus Schlesien, sondern auch aus Mähreu und Böhmen.
Das Habelschwerdter Gebirge mit der Hohen Mense und dem Heidel-
berg; die Zeefelder; die böhmischen kämme; Reiner). Ein etwa ll km
langer Kamm verbindet das Schneebergsgebirge mit dem Habelschwerdter Ge-
birge, das sich von Südosten nach Nordwesten hin mehr als 37% km weit
erstreckt und hauptsächlich aus Gneis, Glimmerschiefer und Quadersandstein
besteht. Genannt ist das Gebirge nach der an seinem Abhänge liegenden Kreis-
stadt (5550 Einwohner), die sich zwischen der Neiße und der Weistritz an einem
Hügel hinaufzieht. Das Klima des Gebirges ist rauh und wenig verlockend
zur Gründung menschlicher Niederlassungen. Deshalb sieht man daselbst
auf der Höhe nur selten ein kleines Dorf oder wenige Kolonistenhäuser, die
meistens erst in neuerer Zeit entstanden sind. Zwei Berge, die über 100 m
die Gebirgsmasse überragen, ziehen uustt Ausmerksamkeir auf sich, der Schwarze
Berg und der Heidelberg. Dieser wird zum Unterschiede von andern Bergen
desselben Namens nach dem in der Nähe gelegenen Badeorte Langenau auch
der Langenauer Heidelberg genannt; er ist mehr als 940 m hoch und hat
einen durch drei längliche und sanfte Einschnitte gegliederten Rücken. Nach der
Grafschaft zu hat das Gebirge liebliche Thäler; reiche Abwechselung gewähren
an den Abhängen größere und kleinere Waldstreifen, Wiesen, Äcker und viele
Ansiedelungen. Eins der bedeutendsten Längenthäler des Gebirges ist das der
Erlitz oder der Wilden Adler, das fast 22% km lang die Grenze von Glatz
214 Die Grafschaft Glatz.
und Böhmen bildet. Die Erlitz hat ihre Quellen an den Seeseldern, einem
eigentümlichen Revier von wenig anziehendem Aussehen. Die Gegend ist öde,
menschen- und verkehrsarm. Es liegen nämlich die Seeselder in einer Höhe
von 784 m, indem sie einen Raum von 90 ha umfassen, auf der Wasserscheide
der Oder und Elbe. Sie enthalten dunkles, schillerndes und ockerreiches Torf-
Wasser von etwas faulem Geschmack. Daß sie unergründlich sind, ist eine für
das Volk längst ausgemachte Sache. Die Entwässerung der Felder begann bald
nach der preußischen Besitznahme der Grafschaft; es wurden Gräben nach der
Weistritz und nach der Erlitz geleitet, aber entwässert oder vielmehr entsumpft
ist die Gegend nicht worden. Die Felder sind mit einem Rasen überdeckt, der
aus Moos, Heide-, Beerenkraut und andern Torfpflanzen gebildet wird; nn-
mittelbar unter dieser Decke liegt ein durch seine Mächtigkeit ausgezeichnetes
Lager von Torf, der fest, schwarz und als Feuerungsmittel brauchbar ist. An
einzelnen Stellen liegt der Torf 7 in tief; unter demselben befindet sich eine
Sohle von verhärtetem, grauweißem Thon, der als Ofenkitt benutzt werden
kann. Erst unter dem Thon lagert Quadersandstein. Wenn lange Zeit trockenes
Wetter gewesen ist, kann ein vorsichtiger Wanderer die Seefelder ohne Gefahr
passieren. Aus ihnen heraus tritt die Erlitz, die sich durch das Gebirge hin-
durchbricht und nach Böhmen zur Elbe wendet.
Nördlich von den Seefeldern liegt die Hohe Menfe, an deren östlichem
Abhänge wir das höchstgelegene Dorf der Grafschaft, Gruuwald, finden in einer
Seehöhe von 870 m. Hier entspringt die Reinerzer Weistritz; an sie schließen
sich die Böhmischen Kämme, die westlich von der Erlitz ziemlich steil emporsteigen
und sich gegen 18 km von Süden nach Norden hinziehen, auch zahlreiche Ausläufer
nach Westen entsenden, die allmählich in niedrige Hügellandschaften übergehen.
Reinerz (3330 Einwohner), das seine Bedeutung und seinen Ruf dem
daselbst in frühester Zeit betriebenen Bergbau auf Eisen verdanken soll, liegt
an der Weistritz und ist nach dem großen Brande im Jahre 1845 meist massiv
aufgebaut worden. In einem engen Thale, in der Vorstadt Vorder-Kohlan,
ist seit 1797 das Bad Reinerz eingerichtet, nachdem neben der bereits seit 1623
gebrauchten kalten (11° C.) Quelle noch eine zweite, die sogenannte laue (17,5 0 C.)
Quelle, entdeckt worden war. Außer den genannten sind jetzt noch drei andre
Quellen zum Trinken und Baden in Benutzung; sie werden gegen Brust-,
Luftröhren- und Unterleibskrankheiten gebraucht. Die Zahl der Kurgäste beträgt
jährlich 2000 bis 2500; der Aufenthalt daselbst ist wegen der lohnenden Aus-
flüge angenehm.
Das Ratschen- und Heuscheuerg ebirge; Cudowa. In der Nähe von
Reinerz liegt ein steiler, bewaldeter Bergkegel, der die Ruine des Hummel-
schlosses trägt, eines Schlosses, von dem die Sage mehr weiß als die Geschichte.
Nordwestlich von Reinerz liegt ein kurzer Bergrücken, den man das Ratschen-
gebirge nennt, dessen Mittelpunkt der Ratschenberg ist. Dieser Berg ist bis
zum Gipfel hinauf kahl; an seinem Abhänge zieht sich entlang bis zur Höhe
die Kolonie Ratschenberg, die einen malerischen Anblick gewährt. Auf dem
Gipfel soll eine im Jahre 1428 von den Hnssiten zerstörte Burg gestanden
haben, doch sind Spuren derselben und Nachrichten über ihr Bestehen bis jetzt
noch nicht aufgefunden. Der Berg gelangte zu einer historischen Bedeutung,
Das Ratschen- und Heuscheuergebirge. 215
weil von ihm aus in Kriegszeiten gewöhnlich Feuersignale gegeben wurden.
Im Jahre 1778, bei Beginn des Bayrischen Erbfolgekrieges, rückte Friedrich II.
in ein Lager am Ratschenberge. Als er bald darauf weiter nach Böhmen vor-
gegangen war. schickte er das Korps des Generalleutnants von Wunsch auf den
Ratschenberg, von wo es das feindliche Land beunruhigte. Tausende von
Preußen raffte damals die Ruhr hinweg; sie sind am Ratschenberge begraben.
Bad Reinerz.
Im Gebiete des Ratschengebirges liegt der Badeort Cndowa, der richtiger
Chndöba (d. h. Armut) heißt. Die Heilquellen des Ortes waren schon 1622
bekannt, aber erst 1792 wurden sie so eingerichtet, daß Cndowa den Namen
eines Brunnen- und Badeortes verdient, in dem Heilung von Blutarmut und
von den mit dieser zusammenhängenden Krankheiten gesucht wird. Leicht aus-
führbare und lohnende Ausflüge nach der Heuscheuer, den Adersbacher Felsen,
sowie nach Böhmen machen den Aufenthalt in Cudowa angenehm. Trotzdem
der Ort herrlich gelegen ist und die Quellen kräftig sind, ist der Besuch noch
recht schwach, weil die Einrichtungen mehr auf die Erlangung der Gesundheit
der Gäste als auf die Vergnügungen derselben berechnet sind.
Das Heuscheuergebirge beginnt an dem linken Ufer der Reinerzer Weistritz
dort, wo auf dem rechten Ufer das Habelschwerdter Gebirge aufhört. Es ver-
folgt die Richtung von Südosten nach Nordwesten; dem Wesen nach gehört es
zu den Adersbacher und Weckelsdorfer Felsen, denn die Hauptmaste desselben
ist Sandstein. Es besteht aus zwei Hauptzügen, von denen der östliche, welcher
216 Die Grafschaft Glatz.
dem Innern der Grasschaft zugewandt ist, die bedeutendsten Erhebungen im
nördlichen Teile hat, nämlich die kleine und große Heuscheuer, welche letztere
auf ihrem höchsten Punkte, dem Großvaterstuhle, sich 940 m über die See
erhebt. Nähert man sich diesem Teile des Gebirges von Osten, also vom Steina-
thale, so steigt er so jäh aus der Tiefe auf, daß er wie eine undurchbrochene, senk-
rechte Felsenmauer unsern Blick fesselt, während er sich aus der entgegengesetzten
Seite als eine Hochfläche darstellt, über welche fast nur die Gipfel des Gebirges
emporragen, die von dem Bache Rotwasser durchflössen wird, der bei dem
Dorfe Karlsberg entspringt und in die Reinerzer Weistritz hinabfließt. Die
Heuscheuer und mit ihr das Dorf Karlsberg gehören zu den besuchtesten Punkten
der Sudeten, weil die Felsbildung eine sehr eigentümliche und die Aussicht
wegen der Mannigfaltigkeit der sich dem Auge darbietenden Bergzüge und
Spitzen eine sehr lohnende ist. Schon vom Tafelstein blicken wir nach Braunau,
dem Riesengebirge, dem Waldenburger Bergland und den Silberberger Festungs-
linien. Früher hieß dieser Teil der Heuscheuer der breite Stein; aber der Berg
hat seinen alten Namen aufgeben müssen, seitdem der Minister Hoym auf dem-
selben im Jahre 1791 „getafelt" hatte. Eine in den Felsen gefügte Platte
sagt uns, daß Friedrich Wilhelm II. am 10. August 1790 den Berg besucht
hat. Wir steigen höher bis auf den Großvaterstuhl, von dem aus die Umsicht
nach allen Seiten hin eine umfassendere ist. Geländer schützen uns, daß wir
nicht in die Tiefe stürzen. Friedrich Wilhelm III. verweilte hier 1790 als
Kronprinz, 1813 als König.
Wie die Felsen von Adersbach und Weckelsdorf, sind auch die der Heu-
scheuer vielfach zerrissen und zerklüftet, zertrümmert und von der Witterung
zerfressen. In vielen Spalten bleibt der zusammengewehte Schnee den ganzen
Sommer hindurch liegen; den seltsamen und wunderlich gestalteten Felsen werden
nach ihrer Ähnlichkeit mit Gegenständen aus der Tier- und Menschenwelt merk-
würdige Namen gegeben; in den Schluchten herrscht das Düstere und Starre,
das Verzerrte und Tote beginnt sich geltend zu machen.
Erst seit dem Jahre 1790 ist das Heuscheuergebirge mehr bekannt ge-
worden, aber seit dieser Zeit wird es alljährlich von immer mehr Fremden
aufgesucht. Der alte Pabel, der Schulze von Karlsberg, nahm sich besonders
des Heuscheuerberges an, sorgte für Wege. Treppen, Zugänge und gab vielen
Steingebilden die Namen, die sie jetzt allgemein führen. Wer mit Vorsicht
reisen will und ein Freund von Gefahren ist, der sucht auch den Spiegelberg
auf, dessen Felsenränder arg zerklüftet sind, der viel von Pflanzen überwucherte
Spalten aufweist, die selbst Einheimischen Gefahren bringen. Vom Spiegel-
berg abwärts gelangt der Abenteuer suchende Wanderer ins wilde Loch, wo die
Kultur noch nichts gethan, die Wege eng, zum Teil unpassierbar sind. Die
Unwegsamkeit im Heuscheuergebirge ist noch nicht so gehoben, daß die Wälder,
mit denen die Berge bedeckt sind, bequem und ohne Gefahr abgeholzt werden
können. Von den wenigen Ortschaften im Gebirge ist das Dorf Karlsberg das
bekannteste, das erst Karl VI. als Karolusberg angelegt hat; der Name Heu-
scheuer soll daher kommen, daß an der Stelle, wo jetzt Karlsberg steht, einst
nach einem Waldbrande viel Gras wuchs, das von den Umwohnern als Heu
massenhaft gesammelt und benutzt wurde.
Wünschelburg und Albendorf. — Die Neiße. 217
Wünschtlburg und Oldendorf. Nicht mehr innerhalb des Gebirges, aber
ganz nahe demselben und von ihm abhängig liegt in einem von der Posna
durchflössen^ und bewässerten Thale die kleine Stadt Wünschelburg mit 2000
Einwohnern. Hier stand schon 1290 eine Kirche, hier erbaute Bolko von
Schweidnitz 1342 ein Jagdschloß, von dem heute nichts mehr vorhanden ist.
Der Ort wurde 1418 zur Stadt erhoben.
Nur 4 km südöstlich von Wünschelburg liegt das einst sehr berühmte,
kleine Dorf Albendorf, dessen Kirche im Verhältnis zu dem einfachen Dorfe
prächtig und großartig genannt werden muß. Die breite Treppe, die zum
Gotteshause führt, hat 33 Stufen, die an die 33 Lebensjahre Christi erinnern
sollen. Die Thorwege umher sollen an die Thore Jerusalems erinnern. Auf
47 Stufen, weil Christus aus seinem Leidenswege 47 Blutstropfen vergoß,
steigt man den Kalvarienberg hinan, auf dem 58 Kapellen mit bunten Holz-
siguren zu finden sind, welche Ereignisse aus dem Leben Christi darstellen.
Nach der Sage stand da, wo jetzt die Kirche steht, vor Zeiten eine Linde, unter
der ein Blinder oft betete. Nachdem er sich eines Tages fühlbar an derselben
gestoßen hatte, betete er nochmals, fühlte eine Erschütterung und sah mit offenen
Augen ein Bild der Maria. Dankbar für die wunderbare Heilung errichtete
er unter der Linde einen steinernen Altar, der die Inschrift 1218 trug. Im
Jahre 1623 wurde dort eine Kirche erbaut, an deren Stelle 1720 die jetzige
trat, zu der in manchen Jahren gegen 30 000 Pilger wandern, um zu beten
und Heilung von ihren Gebrechen zu erstehen.
Die Reiße. Wenn wir uns nun im Innern der Grafschaft Glatz umsehen
wollen, nachdem wir den sie umgrenzenden Gebirgen und den diesen Bergen
naheliegenden Gegenden gefolgt sind, so gehen wir am besten der Neiße nach,
welche die Grafschaft durchfließt. Dieser Fluß entspringt auf dem Schneebergs-
gebirge aus vielen Quellen und Rieseln, die sich in einem einheitlichen Flußbett
vereinigen und bei dem Dorfe Neißbach den Namen Neiße annehmen. In
schnellem Laufe und mit raschem Fall, gehemmt durch viele kleine Windungen,
fließt die Neiße in südwestlicher Richtung bis Bobischau, dem letzten Dorfe vor
der südlichen Grenze der Grafschaft gegen Böhmen, dann wendet sie sich nach
Nordwesten und bald direkt nach Norden. Zunächst kommen wir zu dem Städtchen
Mittelwalde, das 2500 Einwohner hat, deren Erwerbszweige vorzugsweise
die Weberei und Fabrikation von Schnupftabak bilden. In drei Fabriken werden
jährlich ungefähr 500 Zentner Schnupftabak im Werte von 25 000 Mark
hergestellt. Der Ort stammt aus dem Ende des 13. Jahrhunderts und wurde
von den Hnssiten zerstört und von den Schweden niedergebrannt; die alte katho-
lische Kirche hat als Altarbild die Madonna, welche Papst Jnnocenz XI. dem
Könige Sobieski zur Erinnerung an den Entsatz von Wien schenkte.
Ungefähr 10 km flußabwärts liegt das Dorf Langenau, das in Ober-
und Nieder-Langenau geteilt ist, welches letztere seit dem Anfange unsres Jahr-
Hunderts als Badeort in Aufnahme gekommen ist. Das Wasser der beiden
heilkräftigen Quellen, die in 24 Stunden 66 000 Liter geben, ist ein alkalisch-
erdiger Eisensäuerling. Auf dem rechten User der Neiße finden sich reiche
Moorlager, welche zur Anlegung eines Moorbades Veranlassung gegeben haben.
218 Die Grafschaft Glatz.
Der Aufenthalt in Langenau ist durch das gesunde Gebirgsklima und durch
ebenso bequeme als lohnende Ausflüge nach den Bergen sehr angenehm.
Nach kurzer Wanderung gelangen wir an die Stelle, an der von rechts
her sich die Wülfel nach einem etwa 15 km. langen Laufe in einer Breite
von 51/2 m in die Neiße ergießt. Wo nach einem Laufe von etwas mehr als
15 ILM die Weistritz von der linken Seite her in die Neiße fließt, da liegt
die von 5550 Einwohnern bewohnte Kreisstadt Habelschwerdt, deren Bürger
meist Landwirtschaft und Viehzucht treiben, weil auf den umliegenden Wiesen
und in den nahen Waldungen guter Graswuchs ist.
Gehen wir weiter die Neiße hinab, so gelangen wir zur Mündung der
Biela, die von der rechten Seite kommt, bei dem Bade Landeck vorbeifließt und
in einer Breite von 211l2 m nach einem 40 km langen Laufe in die Neiße
geht. Unmittelbar darauf fließt von der linken Seite her nach 22 V2 km langem
Laufe die Reinerzer Weistritz in den Hauptfluß der Grafschaft, zu deren Haupt-
stadt wir nach kurzer Wanderung kommen. Wir eilen an Glatz vorüber und sind
bald an der Mündung der 52 V2 km langen Steina, die ein linker Nebenfluß
der Neiße ist, die sich jetzt nach Osten wendet, bei Wartha vorüberfließt und
die Grafschaft verläßt. Ein Stück Erde haben wir nun durchwandert, das
reich ist an Naturschönheiten, wie wenige Gebiete Preußens, ja des ganzen
Deutschland.
Auf der Höhe der Heuscheuer.
Der Elbfall und Elbbach.
Die schlejischr« Gebirgspässe unb ihre Wrzel.
Allgemeines. — Striegau. — Die Schlacht bei Hohenfriedberg am 4. Juni 1745. —
Die Schlacht bei Sorr (Trantenau) am 30. September 1745. — Die heißen Tage
des Jahres 1866 in und um Trautenan. — Gitschin am 29. Juni 1866. — Der
27. Juni 1866 bei Nachod und der 28. bei Skalitz. — Landeshut. — General Fouque
bei Landeshut im Jahre 1760. — Johann Christian Günther, geboren in Striegau. —
Bolkenhain und Bolkoburg. — Burg Schweinhaus. — Die Festung Glatz. — Glatz
im Jahre 1622. — Glatz im Jahre 1742. — Das Jahr 1760 in Glatz. — Glatz im
Jahre 1807. — Schweidnitz (1345, 1428, 1522). — Die Belagerungen der Stadt
im Dreißigjährigen Kriege. — Die Preußen in Schweidnitz (1741). — Schweidnitz im
Siebenjährigen Kriege. — Friedrich im Lager von Buuzelwitz. — Die Schlacht bei
Burkersdorf am 21. Juli 1762. — Die Schlacht bei Reichenbach am 16. August
1762. — Die Päsfe aus Österreichisch-Schlesien. — Neiße. — Friedrich von Sallet. —
Joseph von Eichendorff. — Binzer.
Allgemeines. Die Kette der Sudeten ist kein zusammenhängendes Ge-
birge, das ohne Einschnitte und Thäler zwei Länder voneinander scheiden könnte.
Wir haben im Gegenteil schon gesehen, daß durch tiefe Furchen an verschiedenen
Stellen ein Übertritt von der einen Seite des Gebirges nach der andern möglich
ist. In den Kriegen der Hnssiten, in den 30 Kriegsjahren des 17. Jahr-
Hunderts spielten die Pfade, welche die Böhmen und Mähren nach Schlesien,
die Schlesier in das tschechische Land führten, eine bedeutende Rolle. Aber
220 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
wichtiger noch wurden sie in Zeiten, die uns näher liegen und die wir bis jetzt
fast ganz unberücksichtigt gelassen haben. Nördlich und südlich von den Sudeten
hat Friedrich der Große so manche Entscheidungsschlacht geliefert, dort ist viel
Blut geflossen, auf daß Schlesien preußisches Land würde. In neuester Zeit
find in dem ewig denkwürdigen Jahre 1866 infolge des schnellen Vorrückens
der Preußen zwar jenfeit, aber doch noch in unmittelbarer Nähe der schleichen
Berge die Treffen geliefert, die den zwischen Österreich und Preußen ent-
brannten Krieg schnell beendigten.
Weil die Pässe, welche durch das Gebirge führen, besonders in den schreck-
lichen Zeiten der Kriege von der größten Wichtigkeit und Bedeutung find, haben
die Preußen und Österreicher von Norden und Süden her, um sich gegen
etwaige feindliche Angriffe zu schützen, in stark geschützten Festungen kräftige
Riegel denselben vorgeschoben. Interessant ist es, einen Blick auf jene Städte,
Festungen und Burgen zu werfen, welche den Feinden wehren follten, und der
Thätigkeit nachzugehen, welche die bedeutendsten Feldherren des vorigen und
nnsres Jahrhunderts in jenen Gegenden entfalteten.
Striegau. An einem Gewäsfer, welches das Striegauer Wasser heißt,
das sich in die Weistritz, einen Nebenfluß der Oder, ergießt, liegt die Kreisstadt
Striegau, ein alter Ort, der schon im 12. Jahrhundert als Wallfahrtsort er-
wähnt wird, dessen Name allein für das Alter bürgt; denn Striegau hat einen
polnischen Namen, der entstanden ist ans trzi gore, d. h. drei Berge, da drei
Berge, der Breiteberg, Kreuz- und Georgenberg, sich in unmittelbarer Nähe
der Stadt erheben. Vielleicht schon im 12. Jahrhundert ist daselbst die groß-
artig schöne katholische Kirche im gotischen Stile mit hohem Dache erbaut;
Bolko von Schweidnitz umgab den Ort, der im 14. Jahrhundert Stregonia
Castrum hieß, mit einer Mauer und befestigte ihn. Hussiten und Kaiserliche
bedrängten ihn wiederholentlich. Jetzt ist Striegau Kreisstadt, hat fast 11000
Einwohner, erfreut sich eines blühenden Ackerbaues, sendet Getreide bis in die
Mark Brandenburg und beschäftigt viele Arbeiter in den nahen Granitbrüchen.
Die graubräunliche Boluserde, die als Striegauer Erde bekannt ist, die 1568 der
kaiserliche Leibarzt Johann Montanns, ein geborner Striegauer, an dem nahen
Georgenberg entdeckte und unter dem Namen Siegelerde als Heilmittel in den
Handel brachte, dient gegenwärtig nur noch zum Malen und Färben.
Die Schlacht bei Hohenfriedberg am 4. 3uitt 1745. In Striegaus
unmittelbarer Nähe liegt das Dorf Hohenfriedberg, dem Friedrichs des Großen
Sieg einen unsterblichen Namen verliehen hat. Maria Theresia beruhigte sich
nicht bei dem Frieden zu Breslau im Jahre 1742; ihr Streben ging dahin,
sich Schlesien möglichst bald zurückzuerobern. Die günstige Zeit für sie, um
den Kampf mit Friedrich aufzunehmen, schien schon in zwei Jahren gekommen
zu sein. Aber der preußische König ließ nicht die Gefahr an sich herankommen,
sondern ging derselben, so groß sie auch war, kühn entgegen. Mit 80 000
Mann rückte er im August 1744 in Böhmen ein und eröffnete den zweiten
Schleichen Krieg. Am 18. September nahm er Prag, und mit Leichtigkeit
breiteten sich seine Truppen weit nach dem südlichen Böhmen aus, das fast
unbesetzt war. Bald aber zog der Prinz Karl von Lothringen mit einem
Die Schlacht bei Hohensriedberg am 4. Juni 1745. 221
zahlreichen österreichischen Heere gegen Friedrich, der sich nun wegen der schlechten
Verpflegung seiner Truppen und der feindlichen Haltung der Bevölkerung unter
vielen Verlusten noch im Herbste nach Schlesien zurückziehen mußte. Dorthin
folgten ihm die Österreicher, mit denen sich die Sachsen vereinigt hatten, und
überschwemmten ganz Oberschlesien, mehrere Festungen fielen in ihre Hände.
Die Lage des Königs war außerordentlich bedenklich; denn auf seinem
Rückzüge aus Böhmen hatte er den größten Teil seines Geschützes eingebüßt;
seine Kassen waren so erschöpft, daß er sein ganzes Silbergerät in die Münze
schicken mußte. Aber mit der Gefahr wuchs auch sein Mut.
Seinen Truppen, seiner Umgebung zeigte sich der König heiter und zu-
versichtlich wie immer. Peinlich für den großen Geist war es, daß er warten
mußte, daß er nicht rasch und kühn die Entscheidung erzwingen konnte. Mit
dem Ausgange des April kamen sonnige Tage und mit diesen froherer Mut.
Der König verlegte sein Hauptquartier nach dem schönen Kamenz, um mög-
licherweise den Angriff des Feindes zu erwarten. Damals schrieb er: „Meine
Armee ist in guter Disposition, ich habe den Geist aller meiner Offiziere wieder
auf den Ton gehoben, den ich wünschen kann, ich habe ihnen Freudigkeit und
Vertrauen eingehaucht; wir alle werden unsre Schuldigkeit thun und mit unserm
Blute besiegeln, daß der Feind sich täuscht, wenn er uns unwürdig behandeln
oder von uns einen Schritt erwarten zu können glaubt, der die Ehre des Staates
und die Ehre eines jeden von uns verletzen würde."
Der Plan des Königs war, die Heere des Feindes zu einer Entscheidung^
schlacht über die Berge in die schlesische Ebene zu locken; aber die langsamen
und unklaren Bewegungen der großen Armee, wie die Feinde sich nannten,
ließen nicht erkennen, ob das Heer über Friedland oder über Trautenau auf
Schweidnitz oder auf Glatz oder Troppau vorgehen wolle. Da nun bald von
verschiedenen Seiten Einfälle in Schlesien drohten und beabsichtigt schienen, so
war es dem Könige ersichtlich, daß die Feinde seine Armee auseinander ziehen
und auf diese Weise untüchtig machen wollten. Deshalb zog Friedrich seine
Truppen möglichst dicht bei dem Paß von Wartha zusammen und legte sie zwischen
Patschkau, Kloster Kamenz und Frankenstein, und befahl auch dem Markgrafen
Karl von Brandenburg, der bei Troppau stand, bis Ziegenhals und Neustadt
zurückzugehen, damit er im Augenblicke der Gefahr zur Hand sei, und nur
wenige Truppen in Jägerndorf unter dem General Bredow zurückzulassen.
Gegen Ende des April drangen die Feinde über Trautenau, Troppau und
Ostran vor, so daß die Lage Bredows in Jägerndorf bedenklich wurde; die
Hauptmacht fiel von Trautenau her in Schlesien ein. Da wollte Friedrich den
Feind glauben machen, daß er den Angriff von Troppau her erwarte und fürchte;
er befahl daher dem Markgrafen Karl, mit seinem Korps wieder nach Jägern-
dorf hinaufzuziehen und das Gerücht auszusprengen, daß die ganze Armee nach-
komme, um auf Olmütz zu marschieren. Obgleich der Markgraf den Plan des
Königs nicht durchschaute, folgte er, wenn auch zögernd.
So stand nun im ersten Drittel des Mai die preußische Armee in einer
Linie von fast 225 km am Fuße des Gebirges und in den Vorthälern des-
selben, die Hauptmasse aber stand um Kamenz. Der Feind zog immer mehr
Truppen um Trautenau und Braunau zusammen, und schon kamen seine
Patrouillen über Kloster Grüssau hinaus bis dicht vor Landeshut; als er aber
222 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
weiter vordrangt wurde er zurückgeschlagen, denn Friedrich war mit seinen An-
Ordnungen noch nicht fertig. Er bedurfte, um eine Schlacht zu wagen, jetzt
der Truppen, welche der Markgraf Karl von Brandenburg in Jägerndorf be-
fehligte; aber wie sollte er zu ihm seinen Befehl gelangen lassen? Er hatte es
nicht hindern können, daß die Österreicher sich zwischen Frankenstein und Jägern-
dorf festsetzten und ihn von dem Markgrafen abschnitten. Weder der schnelle Feld-
jäger, noch der schlaue Spion vermochte einen Weg durch die Österreicher hindurch
zu finden; ein Trupp von 120 Husaren mußte umkehren, als er sich durchschlagen
wollte, Weiler auch auf den entlegensten Umwegen nicht vorwärts kommen konnte.
In seiner Not wandte sich der König an seinen erprobten General Zielen
und befahl ihm, er folle alles daran setzen, was es auch koste, um mit feinem
Regimente bis Jägerndorf durchzukommen, und dem Markgrafen den Befehl
überbringen, daß er sogleich aufbreche, sich mit dem Feinde in kein ernsthaftes
Gefecht einlaffe und seinen Marsch nach Frankenstein nehme. Friedrich fügte
noch hinzu, Zieten möge diesen Befehl im ganzen Regiment bekannt machen,
damit, wenn auch nur ein einziger Husar durchkäme, der Markgraf auf jeden
Fall vom Willen des Königs unterrichtet würde.
Der alte Zieten war nicht wenig erstaunt, als er diesen Befehl las, denn
er glaubte sicher, daß kein Mann bei diesem Unternehmen mit dem Leben davon-
kommen würde. Unmöglich konnte sich ein einziges kleines Regiment durch eine
ganze Armee auf einem 75 Kur langen Wege durchschlagen. Dennoch ge-
horchte Zieten, weil der König befohlen hatte, aber er machte es anders, als
es der König wünschte. Er sagte zunächst keinem Husaren, was zu thun sei.
Sein Regiment hatte bisher rote Dolmane und gewöhnliche Filzmützen
getragen. Kürzlich waren aus Berlin für dasselbe blaue Pelze und neue
Schuppmützen angelangt, eine Uniform, in der seine Husaren dem Feinde nicht
bekannt waren, die vielmehr Ähnlichkeit mit derjenigen der österreichischen
Splenyihusaren hatte. Mit dieser Uniform wollte er die Feinde in ihrem
eignen Lager täuschen. Schnell hatten sich die Zietenschen Husaren dem Feinde
unkenntlich gemacht. Auf Kreuz- und Querstraßen nahm der alte General seinen
Weg. Mit größter Wachsamkeit und Umsicht wußte er den Feind zu umgehen,
und als der Abend anbrach, hatte er fast den halben Weg zurückgelegt. Bei
Ottmachau ging er über die Neiße, ließ in einen dichten Wald einbiegen, die
Husaren absitzen, um die Pferde zu füttern und das Nachtlager einzurichten.
In der Nacht hörte man von Neustadt her schießen, aber Zieten blieb in seinem
Busch, bis die tapfere Garnison von Neustadt die Österreicher abgeschlagen hatte.
Als die Feinde sich am Morgen zurückzogen brach er auf und rückte in Neustadt
ein, um Leute und Pserde ordentlich zu verpflegen. Kaum war dies geschehen,
so ließ er wieder aufsitzen und schlug mit seinem Regiment die Straße ein, auf
welcher die abziehenden Österreicher einHerzogen, nachdem er vorher den strengsten
Befehl gegeben hatte, es solle niemand bei irgend einer Gelegenheit abfeuern.
Sorglos ritten die Husaren daher; unter dem Anschein der größten Ruhe und
Sicherheit ging der Zug den Österreichern nach und mitten durch sie hin.
Einige geborne Ungarn, die bei dem Regimente standen, mußten Vorausreiten
und die Feldwachen bei den Dörfern und einzelnen Posten freundlich begrüßen.
Ein österreichisches Dragonerregiment stieß auf die Husaren, aber es hatte nicht
den mindesten Verdacht, daß die blauen Pelze Preußen feien. Schon war
Die Schlacht bei Hohenfriedberg am 4. Juni 1745. 223
Zieten mitten im Lager der Österreicher, als sein Regiment erkannt wurde.
Schnell verbreitete sich die Nachricht: „Die Preußen sind da!" Da gaben die
Husaren ihren Pferden die Sporen und jagten davon nach Jägerndorf zu. Die
österreichische Kavallerie folgte dem Zieten fast auf dem Fuße, aber konnte ihm
nicht viel anthnn, denn die Husaren hatten reiten gelernt und wußten den Vor-
sprnng zu benutzen.
Mit Jubel und Frohlocken wurde Zieten vom Markgrafen aufgenommen,
dem er die Befehle des Königs überbrachte. Dieser traf sogleich die erforder-
lichen Anstalten, um am nächsten Tage aufbrechen zu können.
Schlacht bei Hohenfriedberg. Nach W. Camphausen.
Mit größter Vorsicht führte er sein Korps nach Frankenstein; erst gegen Ende
des Monats Mai konnte er dort eintreffen, weil er nur auf Umwegen und bei
Tage marschieren konnte.
Am 27. Mai abends waren alle Regimenter, die der König zusammen-
ziehen wollte, bei Frankenstein versammelt. Damals erst wurde allgemein an-
erkannt, daß unverkennbaren Nutzen das Zurückschlagen der Feinde bei Landeshut
gebracht hatte; denn durch dieses Gefecht waren die Österreicher ins Gebirge
zurückgestaut worden, wo sie weder Raum noch Vorräte hatten. Jetzt gab
Friedrich für den Augenblick ganz Oberschlesien auf und zog sich nach Schweid-
nitz und von dort nach Freiburg mit seinem ganzen Heere zurück.
Der Feind war in vollem Anmärsche, und da er die Absicht des Königs
nicht kannte, erstaunt, alle Pässe von den Preußen geräumt zu finden; er sah
224 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
in diesem Weichen nicht, daß er in die Falle gelockt werden sollte, sondern
meinte die Schwäche des Gegners zu fühlen und wurde um so sicherer. Schon
entwarf der Prinz Karl von Lothringen Pläne über einen nach dem Siege
vorzunehmenden Marsch auf die Kurmark und gegen Berlin. Unbehindert rückte
er in die Ebene vor bis in die Gegend von Striegan, schlug bei Hohenfriedberg
sein Lager auf und besetzte die Anhöhen um Striegau. „Jetzt ist der Feind da,
wo wir ihn haben wollen", sagte der König, berief am Z.Juni seine Generale
und gab den ersehnten Befehl zum Aufbruch und Abmarsch.
In der größten Stille wurde aufgebrochen und marschiert, während die
Lagerfeuer weiter brannten. Um Mitternacht war die Armee bei Striegau.
Der 4. Juni sollte nicht nur über den Besitz Schlesiens, sondern über die
Existenz des preußischen Staates entscheiden: es sollte pro aris et focis, wie
der König sagte, gekämpft werden.
Die Österreicher und Sachsen, ihre Verbündeten, glaubten indessen leichtes
Spiel zu haben, sie meinten mit ihren Hüten die Preußen aus dem Lande
jagen zu können und hielten den König, der keinen Paß besetzt hatte, für schwach
und entmutigt; sie glaubten, er habe sein Lager verlassen, um einen Zusammen-
stoß zu vermeiden.
Die preußische Armee ruhte um Striegau nur wenige Stunden aus; mit
dem ersten Morgenrot vertrieb sie die in Sorglosigkeit eingeschläferten Feinde
von den Höhen und weckte sie mit den Schüssen der Kanonen. Die Sachsen
wurden zuerst angegriffen und wehrten sich hartnäckig; kurz vor 5 Uhr morgens
waren sie gänzlich geworfen. Auch der Prinz von Lothringen wurde geschlagen.
Schon um 9 Uhr war die Schlacht entschieden. Dem tapfern und mutigen Vor-
gehen der Preußen konnte nichts widerstehen. Besonders thaten sich die Bairenther
Dragoner, jetzt das zweite Kürassierregiment in Pasewalk, hervor, und sie
führen heut noch Auszeichnungen zur Erinnerung an die denkwürdige Schlacht.
Dieses eine Regiment sprengte 20 österreichische Bataillone auseinander und
nahm ihnen 2500 Gefangene, 4 Kanonen und 66 große und kleine Fahnen ab.
Die Preußen hatten glänzend gesiegt, Wunder gethan, sich selbst über-
troffen. Freilich hatte Friedrich 808 Tote und 3423 Verwundete. Die Feinde
gaben ihren Verlust auf dem Schlachtfelde auf 4607 Österreicher und 4964
Sachsen, Tote und Verwundete, an; am Abend der Schlacht waren schon über
7000 Gefangene, unter denen gegen 200 Offiziere waren, eingebracht. Zu
diesen Gefangenen des ersten Tages kamen noch viele in den nächsten Tagen
hinzu. Beim ersten Appell der Österreicher in Landeshut am Abend des 5. Juni
sollen 25 000 Mann gefehlt haben. Mit der Schlacht bei Hohenfriedberg hatten
die Österreicher die Hoffnung, der Kaiserin Schlesien wieder zu gewinnen,
aufgegeben: das muß man aus den Gewalttätigkeiten, Plünderungen und Schand-
taten folgern, welche der geschlagene Feind beim Rückzüge verübte, denn die
Soldaten begingen viehische Laster, schlugen die armen Landbewohner, steckten
ihnen brennende Lichter in die Nasenlöcher und fuhren ihnen mit glühendem
Eisen in die Ohren. Die Erbitterung war so groß, daß, als Friedrich nach
Landeshut kam, einige Tausend evangelische Bauern ihn baten, alle katholischen
Bauern in der Umgegend totschlagen zu dürfen^ der König aber verwies sie
auf den Spruch: „Segnet die, so euch fluchen, thut wohl denen, die euch ver-
folgen." Sie meinten, der König habe recht, und beruhigten sich.
Die Schlacht bei Sorr (Trautenau) am 30. September 1745. 225
Die Schlacht bei Sorr (Trautenau) am 30. September 174). Nach
dem Siege bei Hohenfriedberg war Friedrich II. sehr geneigt zum Frieden; auch
glaubte er, daß Maria Theresia ihm jetzt den ungefährdeten Besitz Schlesiens
und der Grafschaft Glatz zugestehen werde. Er folgte der geschlagenen öfter-
reichischen Armee nach Böhmen hinein, lieferte kleinere Scharmützel und Treffen
und hoffte auf Frieden; aber die Kaiserin von Oesterreich wollte, nachdem ihr
Gemahl zum deutschen Kaiser erwählt war, Schlesien unter keiner Bedingung
aufgeben. Der Prinz Karl von Lothringen sammelte wieder Truppen in
Böhmen, um den König zu schlagen und zu vernichten. Je größere Truppen-
massen nach Böhmen zusammengezogen wurden, um so mehr mußte sich Friedrich
nach der schleichen Grenze zurückziehen. Dazu kam noch, daß er in dem seind-
lichen Lande für seine Truppen nicht die unbedeutendste Zufuhr, nicht die ge-
ringsten Nahrungsmittel erhielt; er mußte also auch die Fahrt den Bauern
kürzen, die mit ihren Gespannen rastlos von Schweidnitz her den nötigen Pro-
Viani heranschasften. Bei jedem Marsch, den der König rückwärts machte, wurde
der weit überlegene Feind übermütiger und sein loses Volk zudringlicher. „Ich
habe so viel Ärger", schrieb Friedrich, „Unruhe und Verlegenheiten auf dem
Arm, daß ich nicht weiß, wie ich nicht unterliege." Er ärgerte sich, daß er es
nicht mit einem ordentlichen Kamps zu thuu hatte, sondern daß es nur kleine
Scharmützel waren, die ihm seine Lage unangenehm machten. Auf sein An-
fragen wegen eines Waffenstillstandes gingen die Österreicher nicht ein; aber sie
erkannten aus ihnen, daß der Feind den Waffenstillstand brauche, daß die
Streifereien zu wirken begannen, daß Friedrich an den Rückzug denken müsse.
Der Prinz von Lothringen seinerseits trat mit seinen Marschällen in Beratung,
wann und wie ihr gesunkener militärischer Ruf wieder herzustellen sei, und der
Hos in Wien forderte auf zu rascherem Thun, zu entscheidendem Borgehen. In
der Nähe von Trautenau setzten sich die Österreicher fest, und der König war
nun, da er um Jaromirz lagerte, von diesem Orte abgeschnitten. Die Zufuhren,
die ihn von Braunau her erreichen sollten, wurden durch Pauduren- und
Husarenschwärme aufgehoben. Nur die Verbindung mit Glatz über Nachod war
uoch offen. Um sicherer zu gehen, setzte er bei Jaromirz am 18. September
auf das linke Elbufer über, ohne vom Feinde verfolgt zu werden.
Der König war wie auf der Folter, aber er verbarg seiner Umgebung,
was in ihm vorging. Am liebsten hätte er sich auf den ihn umschleichenden
Feind gestürzt, um nur der Sache ein Ende zu machen. Er mußte weichen,
aber er wollte so wenig wie möglich zurückgehen. 22% km von Jaromirz
bei dem Dorfe Sorr auf dem Wege nach Trautenau schlug er ein Lager auf.
Hier wollte er bis in den Oktober hinein bleiben und die Gegend gründlich
auszehren, um es der feindlichen Armee unmöglich zu machen, den Winter hin-
durch der schleichen Grenze nahe zu bleiben; aber es sollte anders kommen,
als der König gerechnet hatte.
Täglich fanden Gefechte statt; aber nicht die österreichische Armee focht mit
den Preußen, sondern kleine Abteilungen, die bald hier, bald dort erschienen
und zu schaden suchten. Massen von Truppen lungerten und lauerten in den
Wäldern und Bergen um das Lager und zeigten sich mehr lästig als gefährlich,
mehr dreist als tapser. Der Feind konnte von den Höhen, die er besetzt hielt,
bis auf Friedrichs Lager schauen; aber der König traute dem Prinzen von
Deutsches Land und Volk. VIII. . 1h
226 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Lothringen nicht zu, daß er mit seiner geschlagenen Armee es wagen werde,
sich einer neuen Gefahr auszusetzen. Dieser aber dachte anders; er glaubte
mit seinen mehr als 30000 Mann über die 19 000 Preußen siegen zu müsseu
und hatte seinen Plan vortrefflich angelegt. In aller Stille hatte er am
29. September vormittags die Armee aufbrechen und auf zwei Wegen durch
den Wald nach Sorr marschieren lassen. Während der Nacht rückten die Truppen
auf die Höhen, die in der rechten Seite des preußischen Lagers sich bis zu der
Paßhöhe des Weges nach Trantenau hinzogen. Auf der linken Seite des
Lagers stand eine starke Armee, um den Preußen, wenn sie gegen die Armee
auf den Höhen Front machte, in den Rücken zu fallen. Die Ausgänge waren
besetzt und durch Verhaue gesperrt. Karl von Lothringen glaubte, nachdem ihm
die Ausführung feines Planes so weit gelungen war, schon gesiegt zu haben; denn
wenn die Preußen ans der Falle, in der sie saßen, gegen die Übermacht
nicht durchbrechen konnten (und es schien undenkbar, daß sie es auch nur ver-
suchen würden), so war ihnen jeder Rückzug gesperrt, und sie mußten die Waffen
strecken oder sich in die Pfanne hauen lassen.
Am 30. September, morgens 5 Uhr, waren die Generale du jour im
Zelte des Königs, als die Husarenpatrouille meldete, daß der Feind aufrücke
und bereits alle Höhen rechts besetzt habe. Der König lief vor das Zelt und
fand alles,. wie gemeldet war. Er befahl dem nächsten Tambour, General-
marsch zu schlagen. Während die Kavallerie sattelte, die Bataillone antraten,
eilte er selbst mit dem Prinzen Leopold zu deu Husaren auf die Vorhut, um
sich umzuschauen. Die eben ausgehende Sonne beleuchtete die Höhen, während
die Gründe noch mit Nebel bedeckt waren. Man fah die feindliche Schlacht-
linie auf dem Höhenzuge sich formieren, eine Linie von etwa 3^ km Länge;
die Artillerie hatte sich schon so aufgestellt, daß ihr Feuer die Straße unten
bestrich und^ihre Geschosse zum Teil den einen Ausgang des Lagers erreichten;
auch die linke Seite war schon besetzt.
Weder im Lager, das der Feind schon im Rücken bedrohte, konnte man
sich verteidigen wollen, noch daran denken, nach Trantenau zu marschieren, da
dem Prinzen Karl der nähere Weg dorthin offen stand und die Armee in dem
engen Flußthal der Aupa die Feinde auf den Fersen gehabt hätte. Der König
wußte, was er von seinen Truppen erwarten konnte. Man dachte weder an
die Zahl der Feinde, noch an ihre vorteilhaste Stellung, sondern nur an
Schlagen und Siegen. Es galt, den Feind in seiner Stärke zu fassen und ihn
da, wo er die Entscheidung schon in der Hand hatte, über den Haufen zu
werfen. Schon begann der Nebel zu sinken, als der König sein verwegenes
Manöver unternahm. Die Kavallerie mußte geworfen, die Artillerie zum
Schweigen gebracht werden. Unter den Augen des Feindes, unter seinen Bat-
terien zogen die preußischen Truppen — manche Granate riß acht, zehn Pferde
nieder — zum Angriff. Das Vorgehen der preußischen Kavallerie war furchtbar.
In kurzer Zeit brachten die Kürassiere, Garde du Corps und Dragoner die
Österreicher zu voller Auflösung und Flucht die Bergsteilen hinab, die in ihrem
Rücken lagen, die meisten Husaren setzten den Flüchtigen nach und hetzten sie
weiter. Die Grenadiere greifen die Artillerie trotz des furchtbaren Feuers an
und dringen mit schwerem Verluste bergan vorwärts, während mancher Held
fällt. Niederstürzt Wedell, der Leonidas von Selmitz; Prinz Albert, der Königin
Die heißen Tage des Jahres 1866 in und um Trautenau. 227
Bruder, der seinem gelichteten Bataillone voran weiter stürmt, sinkt mit zer-
schmettertem Kopfe zu Boden.
Um 11 Uhr war der glorreiche Kampf zu Ende. Friedrich hatte den
Sieg unter schweren Verlusten errungen; von 409 Offizieren waren 109, von
12 576 Unteroffizieren und Gemeinen 3088 tot oder verwundet; das Bataillon
Wedell, das mit 12 Offizieren, 23 Unteroffizieren, 358 Grenadieren am
Morgen ausgerückt war, zählte an kampffähigen Leuten nur noch einen Offizier,
8 Unteroffiziere, 85 Grenadiere. Zu dem schmerzlichen Verlust tapferer Krieger
kam noch der des ganzen Gepäcks mit der Kriegskasse. Der Offizier, welcher
den Geheimrat Eichel mit der Kanzlei und die königliche Bagage nach Trautenau
bringen sollte, verirrte sich, wurde mit seinem ganzen Zuge gefangen genommen
und nach Königgrätz abgeführt. Der König hatte fast nichts mehr, kaum noch
ein Hemd zum Wechseln; er schrieb nach der Schlacht auf ein Blatt aus seinem
Taschenbuch mit Bleistift an Podewils nach Berlin: „La bataille a ete terrible
mais tres glorieuse; j'ai pense etre surpris, rnais, Dieu soit loue, tont est
bien. Beancoup de prisonniers. En nn mot c'est nne grande aff'aire. Yoilä
tout ce que j'ai le temps de yous dire. Tont mon bagage est au diable
et Eichel pris."
Was galt der ganze Verlust gegen die Thatsache, daß man so umstellt,
in solchem Terrain den Sieg errungen, daß das Heer, in seiner Lagerruhe
überrascht, tigerhaft wie mit einem Sprunge ohue Anlauf sich auf den Feind
gestürzt, ihn gefaßt, zerfleischt hatte? .„Die Tapferkeit der Truppen", schreibt
der König, „hat die Fehler ihres Feldherrn gut gemacht und den Feind für
die seinigen gezüchtigt."
Tief zerrüttet zog die'sächsisch-österreichische Armee zurück 'mit dem be-
schämenden Gefühle, von dem schwächeren Feinde, der völlig überrascht, von
allen Seiten eingeschlossen, ihr schon für verloren gegolten hatte, vollkommen
geschlagen zu fein.
Die heißen Tage des Jahres 1866 in und um Trauteuau. Nur drei
Jahre über ein Jahrhundert waren feit dem Hubertsburger Frieden vergangen,
der den Siebenjährigen Krieg zwischen Österreich und Preußen beschloß, als
beide Mächte sich wiederum feindlich gegenüber traten und einen gewaltigen
Krieg führten, in dem ein Schlag dem andern folgte, den man nicht unpassend
den siebentägigen genannt hat; denn auf den knappen Zeitraum einer einzigen
Woche (vom 27. Juni bis zum 3. Juli) zusammengedrängt liegen die ewig
denkwürdigen Ereignisse, die einen Glanzpunkt in der preußischen Geschichte bilden.
Die Österreicher hatten es auf Schlesien abgesehen und sammelten in
Böhmen ihre Truppen. Ihnen gingen drei preußische Armeekorps entgegen.
Das erste (preußische) Armeekorps unter dem General von Bonin ging von
dem Schweidnitzer Hochlande aus über Liebau in das feindliche Land und wollte
in gerader Richtung nach Josephstadt. Am 27. Juni stieß es in Trauteuau
auf dreifache Übermacht unter dem Feldmarschall-Leutnant von Gablenz. Die
furchtbare Hitze hatte den Marsch auf der einzigen Straße außerordentlich be-
schwerlich gemacht. Kaum waren die Truppen ermattet in die Nähe der Feinde
gekommen, so wurden sie auch schon denselben entgegengeführt. Die Österreicher
wurden von Kuppe zu Kuppe zurückgetrieben; aber immer neue Truppen rückten
228 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
zur Unterstützung des Feindes heran, und immer schwieriger wurde es den vor-
gegangenen Truppen, sich in ihrer Stellung zu halten. Dennoch nahmen die
Preußen die Stadt Trautenau und brachten auch durch ihr energisches Auf-
treten das Feuer zum Schweigen, das sie daselbst empfing. Um 3 Uhr nach-
mittags schien der Kampf entschieden. Der Feind war überall zurückgedrängt
die Windischgrätz-Dragoner hatten sich vergebens bemüht, der Schlacht eine
v andre Wendung zu geben; sie wurden vom ersten preußischen Dragonerregiment,
den alten Litauern Jorks, in die ihnen gebührenden Schranken zurückgewiesen.
Um diese Zeit erschien ein Offizier des preußischen Generalstabes und
meldete, daß bei Qualisch die erste Garde-Infanteriedivision stehe und bereit
sei, das erste Armeekorps zu unterstützen. Der General von Bonin hielt das
Gefecht für beendet, der Feind war geschlagen, neue Streitkräfte wurden im
Anmarsch nicht bemerkt; er glaubte also die Hilfe der Garde nicht nötig zu
haben und nicht ihren starken Marsch unnütz verlängern zu sollen. Deshalb
schlug er die ihm dargebotene Hand aus.
Plötzlich, um 4 Uhr fuhr der Feind viel Artillerie auf und beschoß die
preußischen vordringenden Bataillone. Gleichzeitig ging Gablenz, der bisher
nur die eine Hälfte seiner Truppen ins Feuer geführt hatte, mit großen Massen
auf der Straße von Pilnikau vor. Bonin war, als er diese frischen, aus-
geruhten Soldaten heranziehen sah, keinen Augenblick zweifelhaft, was er zu
thun habe. Seine Soldaten waren feit dem frühen Morgen marschiert und
hatten, ohne abkochen zu können, acht Stunden im heftigsten Gefecht gestanden,
sie waren ermattet und mußten unterliegen; er hielt es also für ratsam, einen
Kampf nicht weiter fortzusetzen, der ihm als alleinige Frucht nur ein Zurück-
schlagen der Österreicher bringen, ihn aber, wenn die Femde noch mehr Truppen
heranzogen, in eine verhängnisvolle Lage versetzen konnte. Das Gefecht wurde
abgebrochen, die Preußen wichen langsam zurück. Der Feind hatte so gelitten,
daß er nicht zu folgen wagte, er begnügte sich damit, den Preußen Trautenau
entrissen zu haben.
Die Garde hatte inzwischen ihren Marsch nach Eipel und Kosteletz fort-
gesetzt, ohne auf einen Feind zu stoßen. Aber noch in der Nacht erhielt der
Prinz August von Württemberg, der das Gardekorps führte, Nachricht von
dem Verlauf des Gefechtes bei Trautenau und beschloß, sofort den Feind an-
zugreifen; vom Oberkommando, an das er sich wandte, erhielt er die Ge-
nehmigung zum Angriff.
Das Boninfche Korps war stark gelichtet und, vieler Stabsoffiziere, Haupt-
leute und Leutnants beraubt, bis nach Goldenöls gewichen. Am 28. Juni, früh
um 3 Uhr, brachen die Garden auf. Die erste Garde-Infanteriedivision
wurde nach Rognitz dirigiert, überraschte den Feind zum Teil noch im Biwak,
warf die ersten Truppen über den Haufen und rückte vorwärts. Die Kanonen-
fchüffe weckten den Feind, der sich schnell ordnete und seine Artillerie ins Gefecht
führte. Die Garde drang unaufhaltsam vorwärts über Schluchten und Berge.
Wo der Kampf schwierig wurde und die Soldaten fchwer rangen, eilte schnell
ein Bataillon unter jubelndem Hurra den Bedrängten zu Hilfe. Der Feind
wurde von Stellung zu Stellung getrieben, bis sich das Korps gänzlich auf-
löste. Das Gablenzsche 'Korps war am Abend des 28. Juni nicht mehr. Was
noch lebte, floh ohne Ordnung davon auf der Straße nach Königinhof, auf der
Gitschin am 29. Juni 1866. 229
Tornister, Gewehre, Wagen aller Art im wirren Durcheinander lagen. Massen
von Gefangenen wurden eingebracht. Der Feind verlor 4—5000 Tote oder
Verwundete, 5000 Gefangene, 3 Fahnen und 10 Geschütze.
Trantenau gehörte wieder den Preußen, aber die Stadt war verwüstet, die
Einwohner waren meist geflüchtet; viele Häuser waren zn Lazaretten eingerichtet,
in den Bogengängen am Markte lagen die" Verwundeten, die Kirchen waren
mit Gefangenen angefüllt. Heute erinnert uns an den wütenden Kampf auf
der Gablenzhöhe, die früher der Galgenberg hieß, das Schlachtendenkmal,
eine 16 m hohe, schlanke Pyramide aus Eisen mit Inschriften und Verzierungen,
ein schönes, weithin sichtbares Monument. Auf dem Kapellen- oder Johannes-
berg, wo der Kampf am hitzigsten gewesen ist, sind mehrere Denkmale aufgestellt,
unter diesen auch das vom Offizierkorps des 6. ostpreußischen Infanterie-
regiments Nr. 43 „den gefallenen Kameraden" errichtete, eine abgestutzte Py-
ramide aus Sandstein, oben auf einer Kugel ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln.
Gitschm am 29. ÄUlll 1866. Wie die Preußen den Österreichern durch
das Gebirge zu früh nach Trantenau kamen, so geschah es auch im Westen von
diesem Orte. Die preußische Elbarmee unter dem General Herwarth von
Bittenfeld, die 40 000 Manu stark war, rückte von Dresden aus über Schluckenau,
das südlich von Bautzen liegt, in Böhmen ein und ging in südöstlicher Richtung
vorwärts, um mit dem Prinzen Friedrich Karl, der die erste Armee in einer
Stärke von 100 000 Mann befehligte, Fühlung zu behalten. Die Armee des
Prinzen Friedrich Karl marschierte von Zittau aus^nach. .Reichenberg. Erst
jenseit dieser Stadt suchten die Österreicher, die unter Clans Gallas, 60 000
Mann stark, stanW, ihre Feinde aufzuhalten; die Übergänge über» das Gebirge
waren nicht gesperrt worden. Die schwachen Avantgarden des Clam'Gallas
wurden von Herwarth von Bittenfeld am 27. Juni bei'Hühnerwasser, vom
Prinzen Friedrich Karl am 26. Juni bei Liebenau über Turnau zurückgedrängt,
aus Podol gejagt und die ganze Armee gezwungen, nach hartnäckigem Kampfe
ihre überaus feste Stellung bei Münchengrätz am 28. -Mlfzugebeu. Alsbald
vereinigten sich die beiden preußischen Armeen, die erste und die Elbarmee, und
rückten gemeinsam vor.
Gallas hatte in Gitschin Halt gemacht und das bergige Terrain besetzt.
Hier hoffte er die Preußen zum Stehen zu bringen und zurückzutreiben. Gitschin
ist schon durch Wallenstein geschichtlich berühmt geworden, der dort ein Schloß
hatte, es zur Hauptstadt seiner böhmischen Besitzungen machte und in der 2 km
nordöstlich von der Stadt gelegenen Kartaufe begraben ist. Eingeschnittene
Wege, Alleen, Gräben, Teiche in unmittelbarer Nähe der Stadt lassen die
Stadt leicht verteidigt, schwer eingenommen werden. Die Österreicher hatten
sich vorzüglich aufgestellt, so daß der Kampf ein sehr blutiger wurde. Von
drei Seiten griffen die Preußen am 29. Juni an, und schon im.Laufe des Vor-
mittags fanden kleine Zusammenstöße statt; das eigentliche Gefecht aber begann
erst am Nachmittage gegen 4 Uhr und währte bis um Mitternacht: da erst war
Gitschin in den Händen der Preußen. Viele Häuser trugen noch später Spuren
des nächtlichen Kampfes, der in der Verwirrung des Rückzuges für Österreicher
und Sachsen heillos war.
230 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Die Verluste der Preußen waren beträchtlich, die'der Österreicher aber
weit bedeutender; die Zahl der Gefangenen betrug über 5000. Der Feldzeug-
meister Benedek, der Oberfeldherr der ganzen österreichischen Armee, mußte die
Operationen bei Gitschin aufgeben und sich in einer weiter zurückgelegenen
Stellung konzentrieren.
Der 27. Zum 1866 bei tlachod und der 28. bei ZKalitz. Auch durch
die Grafschaft Glatz rückte ein Teil der gewaltigen zweiten preußischen Armee,
die der Kronprinz befehligte, in Böhmen ein. Zu dieser 116 000 Mann starken
Armee gehörte das von Boninsche Korps, welches, wie wir sahen, nach Trau-
tenau vorrückte. Heiße Kämpfe sollten die Truppen zu bestehen haben, welche
durch die Grafschaft über Reinerz und Lewin in den Paß von Nachod einzogen.
Es war das fünfte Armeekorps unter dem General von Steinmetz, das bereits
am 26. Juni nachmittags ein leichtes Scharmützel mit den Österreichern bei
seinem Einmarsch nach Böhmen zu bestehen hatte. Als am folgenden Tage die
Österreicher bei Nachod ihre Feinde fchlagen wollten, nachdem sie als Herren
des Landes sich die günstigsten Plätze zur Aufstellung ihrer Truppen gesucht
hatten, traf der Kronprinz, der von Frankenstein her nach Braunau eingerückt
war, noch rechtzeitig ein. Ein Teil der Artillerie, 90 Geschütze, wurde in die
Gefechtslinie vorgezogen. Den feuerspeienden Schlünden, dem Feuergefecht der
Infanterie, dem schnellen Angriff der Kavallerie konnten die Österreicher nicht
Widerstand leisten; sie flohen, nachdem sie sich tapfer geschlagen hatten.
Der Kronprinz, der bis zum Ende des Gefechtes zugegen war, wurde,
als er das Schlachtfeld beritt und den braven Soldaten für ihre Tapferkeit im
Namen des Königs dankte, überall mit einem Jubel begrüßt, der nicht enden
wollte. Für den folgenden Tag hatte der Kronprinz als Parole Nachod aus-
gegeben, als Feldgeschrei Steinmetz.
Am Morgen des 27. Juni hatte nur der Vortrab des Korps die Branka-
höhe bei Nachod erreicht. So weit die wenigen Truppen auch schauten, nir-
gends erblickten sie einen Feind. Mühsam wand sich die preußische Armee
durch den engen Thalweg hindurch. Da plötzlich wird der Feind erblickt; das
sechste österreichische Armeekorps, Ramming, ist im Anzüge. Was war da zu
thun? Hätten sich die wenigen Bataillone zurückgezogen, so war das ganze
preußische Korps, das noch in den Engen war, so gut wie besiegt. Nun aber
hielten 5 Vz Bataillone und zwei Jägerzüge drei Stunden lang gegen 21 öfter-
reichische Bataillone, die nach und nach ins Feuer gerückt waren, tapser stand,
bis die Hauptmacht von Reinerz herbeikam, deren Reserve überhaupt erst in
Nachod eintraf, als der Kamps bereits zu Ende war.
Die zahlreichen Kugelfpuren in den Mauern der Kirche, des Turmes und
des Kirchhofes von Nachod geben Zeugnis von dem Kampfe, der hier getobt;
und außer den kleinen Kreuzen und Denkmälern, welche die Feldfrüchte über-
ragen, mahnen an die Verluste eine Pyramide von unpoliertem roten Marmor
mit der Inschrift: „Den hier gefallenen Waffenbrüdern die Kameraden des k. k.
6. Armeekorps" und Denkmäler für gefallene österreichische Ossiziere. Anch
den Gefallenen der Preußen ist auf dem Platze, wo sie fielen, ein Denkmal gesetzt.
Die Österreicher geben ihren Verlust bei Nachod auf 232 Offiziere, 5487
Maun (inkl. 2300 Gefangene), 432 Pferde, 8 Kanonen, 17 Fuhrwerke, 1 Fahne
Der 27. Juni 1866 bei Nachod und der 28. bei Skalitz. 231
und 2 Standarten an, während der Sieger 62 Offiziere, 1060 Mann und
222 Pferde als tot oder verwundet zu registrieren hatte.
War schon der Tag von Nachod für die preußischen Waffen ehrenvoll, der
28. Juni war es in noch höherem Grade. Steinmetz brach am 28. Juni aus
der Nachoder Gegend nach Westen zu auf, um sich nach Gradlitz zu begeben,
aber er war noch nicht weit gekommen, als sich ihm die Österreicher entgegen-
stellten. Bei Skalitz standen sie mit zwei neuen Korps in der Schlachtlinie und
hatten in langer Linie ihre vielen Geschütze zum Teil hinter Eisenbahndämmen.
Preußische Vorposten an der schlesisch-böhmischen Grenze.
In der Nähe der Anpa war eine vor Skalitz belegene Anhöhe mit Artillerie,
Infanterie und Jägern besetzt. Die Schlacht mußte begonnen werden. Nach
kurzem Geschützfeuer stürmten die Feinde mit aller Energie in dichten Kolonnen
heran, aber das Schnellfeuer des preußischen Fußvolkes und teilweise das Ba-
jonett vereitelten die Versuche, die Preußen zu werfen. Die Österreicher wichen;
der Bahnhof von Skalitz bildete ihren letzten Verteidigungspunkt vor der Stadt.
Jäger schössen hinter einer schnell errichteten Schutzwand von Eisenbahnschwellen
sicher hervor, während andre aus allen Fenstern des Bahnhofsgebäudes feuerten,
und nur ein Angriff, welcher der-Verteidigung an Energie gleichkam, konnte
hier siegen. Während hier nm 3 Uhr am Nachmittage der Kampf noch tobte,
begann fchon das vom Norden her anrückende Gros die Erstürmung der Stadt
gleichzeitig an mehreren Punkten; Schützenabteilungen hatten sogar weiter oberhalb
232. Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
die Aupa überschritten und die in der Stadt befindlichen Österreicher um-
gaugen. Dennoch mußten die noch verteidigten Hänser einzeln erobert werden,
bis die verschiedenen Kolonnen an der Aupabrücke zusammentrafen, den Gegnern
die Rückzugslinie abschnitten und die nach Josephstadt hin Abgezogenen verfolgten.
Dieser Tag raubte dem Sieger als tot oder verwundet 62 Offiziere und 1300
Mann, kostete den Besiegten 205 Offiziere und 5372 Mann, die Gefangenen
eingerechnet. In dieser Schlacht stand der Erzherzog Leopold, der das 8. öfter-
reichische Armeekorps kommandierte, dem 6. preußischen Grenadierregiment,
dessen Chef er war, gegenüber und hatte so Gelegenheit, dasselbe nicht nur im
Parade-Exerzieren kennen zu lernen.
Das Lager wurde auf dem Schlachtfeld, das gleichzeitig ein Leichenfeld
geworden war, aufgeschlagen. Die Verwundeten und Toten waren so zahl-
reich, daß sie oft an andre Plätze geschafft werden mußten, damit nur Platz
wurde zum Zusammensetzen der Gewehre und Ablegen der Tornister. So wurde
denn unmittelbar neben den Toten und Verwundeten, neben den gefallenen
Pferden und den offenen Gräbern geruht, geschlachtet, gekocht, gegessen, ge-
schlafen und mit den Verwundeten in brüderlicher Freundschaft und Soldaten-
Kameradschaft geplaudert und gescherzt. Soviel es die Zeit bis zum Abend
gestattete, wurden die Verwundeten verbunden und nach der Stadt Skalitz in
die Lazarette geführt, getragen und gefahren.
An den für Preußen so glorreichen Tag erinnert uns manches Denkmal
auf dem Schlachtfelde. Hier ruht auf einem 2 m hohen Postament ein liegender
Marmorlöwe, dem ehrenden Andenken aller k. k. Krieger gewidmet; dort steht
das Denkmal für einen preußischen Offizier, hier ein Obelisk mit der Inschrift:
„Das Offizierkorps des k. k. 5. Jägerbataillons den am 28. Juni 1366 ge-
fallenen Kameraden", dort eine Sandsteinpyramide mit den Worten: „Dem
Andenken der preußischen und österreichischen Krieger, die im Kampf bei Skalitz
gefallen und jetzt friedlich beisammen liegend der Auferstehung warten."
Diese wilden Kämpfe waren das Vorspiel zu dem gewaltigen Ringen um
Köuiggrätz am 3. Juli, durch welches ungefähr 450 000 Männer von der
Ostsee, vom Rhein, vom Adriatischen Meere, von Ungarn und Siebenbürgen
das Gerüst zu einem politischen Neubau zimmerten.
Laildcshut. Nachdem wir nun die. Gegenden kennen gelernt haben, in
welchen sich die wichtigen Schlachten des Jahres 1866 abspielten, die Orte
auf böhmischem Boden, welche dem Eindringen eines feindlichen Heeres soviel
Schwierigkeiten bereiten, weil sie den Pässen, welche durch die Sudetenkette
führen, wie schwere Riegel vorgeschoben sind, weil sie als natürliche Festungen
das Land schützen, kehren wir zu den Pässen selbst zurück und verweilen zu-
nächst bei Landeshut. Diese Stadt liegt auf dem Wege zwischen Striegau und
Bolkenhain einerseits und Trantenan anderseits. Wir zählen in der Stadt 5800
Einwohner, deren Haupterwerbszweig die Leinenfabrikation ist. denn dort haben
wir 15 Leinenfabriken, von denen die bedeutendste über 2000 Arbeiter be-
schäftigt; eine Flachsgarn-Maschinenspinnerei arbeitet mit 7500 Spindeln. Der
Boden um die Stadt ist in den Thalgegenden sehr fruchtbar und weist in der
Nähe des Bober üppige Wiesen auf; in der Umgegend sind bedeutende Forsten.
Landeshnt wurde im Jahre 1294 vom Herzog Bolko I. von Schweidnitz zur
Landeshut. — General Fouque bei Landeshut im Jahre 1760. 233
Stadt erhoben. Viele Häuser am Markt haben noch sogenannte Lauben, d. h.
statt der Parterrestuben offene Hallen, die. nebeneinander liegend, bedeckte
Wege bilden und den Verkäufern auch bei ungünstigem Wetter Schutz und
trocknen Ausenthalt gewähren. An Merkwürdigkeiten ist die Stadt arm. Am
Fuße des Kirchbergs liegt die evangelische Gnadenkirche, so genannt, weil sie
eine derjenigen sechs Kirchen Schlesiens fft, die der Kaiser infolge der Ein-
Wirkung Karls XII. von Schweden im Alt-Ranstädter Vertrag den Evangelischen
zu bauen erlaubte. Auf dem Militärkirchhof bewundern wir ein Denkmal im
gotischen Stil aus Sandstein, das für 42 preußische und 57 österreichische
Krieger errichtet ist, die 1866 hier ihren Wunden erlagen.
Landeshuts Geschichte erzählt uns von vielen traurigen Tagen. Die Hus-
siten haben die Stadt belagert, in dem Dreißigjährigen Kriege ist sie 27mal
geplündert worden. Hier warf der General von Winterfeld am 22. Mai 1745
die Österreicher nach Böhmen zurück und bereitete so, wie wir gesehen haben,
die Möglichkeit zum Gewinnen der Schlacht bei Hohenfriedberg vor. Sein
mutiges Vorgehen an diesem Tage brachte ihm zwei leichte Verwundungen und
die Ernennung zum Generalmajor ein.
General Fouque bei Laudeshut im Jahre 1760. Heftiger als im zweiten
Schleichen Kriege rangen Preußen und Österreicher bei Landeshut miteinander
im Siebenjährigen Kriege. Mit großen Siegeshoffnungen eröffneten die Feinde
Friedrichs den Feldzug des Jahres 1760. Sie stellten an 300 600 Mann ins
Feld, denen Friedrich mit nur 90 000 Mann die Spitze bieten konnte. Er
beschloß deshalb, sich nur auf die Verteidigung zu beschränken. Mit 40 000
Mann wollte er selber Sachsen gegen die Hauptarmee unter Daun decken;
Prinz Heinrich, der mit 35 000 Mann auf der Grenze von Schlesien und der
Lausitz stand, sollte bereit sein, entweder ein anrückendes russisches Heer ab-
zuhalten oder auch Sachsen Hilfe zu bringen; der General de la Motte Fouque,
der Liebling Friedrichs, hatte mit noch nicht 10 000 Mann Schlesien gegen
Laudon zu schützen, der mit 31000 Mann heranzog. Laudon war schon im
Mai :n die Grafschaft Glatz eingebrochen, nahm sein Lager bei Frankenstein
nnd sandte Streifpartien bis Breslau. Fouque, welcher einsah, daß er sich
einer so bedeutenden Übermacht gegenüber nicht halten könne, verließ sein festes
Lager bei Landeshut und stieg in die Ebene von Schweidnitz nieder, um das
flache Land möglichst zu schützen, in der Hoffnung, daß er sich je nach den
Umständen unter die Kanonen einer der großen Festungen zurückziehen könne.
Da sandte der König an den General einen verletzenden Brief: „Ich danke es
Euch mit den Teufeln, daß Ihr meine Berge verlassen habt. Schafft mir meine
Berge wieder, es koste, was es wolle!" Fouque beschloß nun, sich die Stellung
von Landeshut wieder zu erobern und sie bis auf den letzten Mann zu verteidigen.
Laudon hatte, sobald Fouque die Stellung von Landeshut aufgegeben
hatte, dieselbe von 13 Bataillonen und 18 Schwadronen besetzen lassen und
war dann zurückgekehrt, um Glatz zu belagern. Auf die erste Kunde, daß
Fouque wieder gegen Landeshut vorrücke, brach Laudon von Glatz auf, nach-
dem er dort eine hinlängliche Streitmacht zur Bewachung zurückgelassen hatte.
Am 22. Juni hatte er alle andern Truppen um Landeshut zusammengezogen,
31000 Mann. Nach Einbruch der Nacht rückten sie in die ihnen angewiesenen
234 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Stellungen. Gegen 3 Uhr morgens am 23. Juni gaben vier Granaten das
Zeichen zun: Angriff. Von fünf Seiten zugleich griffen die Österreicher an.
Mit unwiderstehlicher Gewalt stürmten die von Laudon geführten Bataillone
gegen den linken preußischen Flügel, den der Oberst von Rosen kommandierte.
Seine Mannschaften wehrten fich rechtschaffen, kein Mann streckte das Gewehr,
es mußte den Gefangenen aus der Hand gerissen werden. Obgleich verwundet,
stellte sich Rosen an die Spitze des Bataillons und führte es gegen den vor-
dringenden Feind, aber er brach zusammen und wurde gefangen genommen.
Auch die andern Positionen wurden erobert. Am längsten hielt sich Fouque
selbst auf dem Galgenberge. Von drei Seiten schmetterten die österreichischen
Geschütze in die Preußen; Laudon ließ stürmen, aber viermal wurden feine
Truppen zurückgeworfen; es gelang ihnen nicht, die Preußen vom Galgenberge
zu vertreiben. Fouqui sah seine Truppen zusammenschwinden und beschloß,
weil auch die Munition zu mangeln anfing und feine Leute schließlich doch alle
zusammengehauen werden mußten, sich durchzuschlagen. Er selbst eröffnete den
Zug; es gelaug ihm, den Fluß zu überschreiten und die Höhe jenseit des-
selben zu gewinnen. Hier gedachte er, ein Viereck zu bilden und den General
Schenkendorff, der noch auf dem Galgenberg geblieben war, zu erwarten. Doch
bald wurde er umringt und seine Schar aufgelöst; nur eine Abteilung rettete
sich durch den Wald. Nach achtstündigem Kampfe hatten die Österreicher den
Paß erobert, den mit Recht eine Inschrift an einem dortigen Felsen „die
preußischen Thermopylen, 23. Juni 1760" nennt.
Fouque selbst wurde schwer verwundet; mit seinem unter ihm totgeschossenen
Pferde stürzte er zu Boden. Mehrere seiner tapfersten Soldaten versuchten ihn
zu retten, umringten ihn und fochten fo lange, bis sie neben ihm hinsanken. Der
General bekam noch zwei Säbelhiebe im Arm und im Rücken, und österreichische
Reiter wollten ihm eben den Todesstoß geben, als die seltene Treue seines
Reitknechtes Trautschke ihm das Leben rettete. Er warf sich auf seinen Herrn
und fing mit seinem Leibe alle die Hiebe auf, die diesem zugedacht waren, in-
dem er fortwährend schrie: „Wollt ihr denn den kommandierenden General
umbringen?" Dreizehn Säbelhiebe hatte er schon empfangen, als ein öfter-
reichischer Oberst herbeikam und seinen Leuten gebot, Einhalt zu thun. Der
bluttriefende Feldherr, der wie Leonidas gefochten hatte, wurde unter dem
Pferde hervorgezogen und den Ärzten übergeben. Auch Trautschke, der schwer
verwundet war, blieb bei seinem Herrn. Beide wurden wieder hergestellt.
Fouque ging mit den wenigen ihm übrig gebliebenen Soldaten in die Gefangen-
fchaft; er mußte bis nach Karlstadt in Kroatien wandern. Nach dem Frieden
kehrte er zurück und genoß wieder die innigste Freundschaft seines Königs bis
zu seinem Tode.
Es war mörderisch gekämpft worden, denn 2400 Preußen und 3000
Österreicher lagen tot oder verwundet auf dem Kampfplatz, 4000 Preußen
wurden gesangen genommen und nur 1500 entkamen glücklich bis Breslau.
Das arme Landeshnt gab Laudon wie eine eroberte Stadt der Plünderung
preis, wodurch nicht nur manches Menschenleben vernichtet wurde, sondern auch
der Stadt ein Schaden von 630 000 Thalern erwuchs.
Als Fouque auf dem Schlachtfeld mit Staub und Blut bedeckt unter feinem
Pferde hervorgezogen wurde, bot ihm der österreichische Oberst, der die
Johann Christian Günther, geboren in Striegan. 235
Ermordung des Generals durch sein Einschreiten verhinderte, sein Paradepferd
an. „Ich würde das schöne Sattelzeug mit meinem Blute verderben", sagte
Fouque und schlug das Anerbieten aus. „Ich kann Ew. Exzellenz versichern",
entgegnete der Oberst, „daß mein Sattelzeug unendlich an Wert gewinnt, wenn
es mit dem Blute eines Helden bespritzt wird." Fouque wurde schnell ver-
bunden und zu Laudon geführt, der den tapfern Feind mit vorzüglicher Achtung
empfing. Auch in Wien begegnete man dem General mit Hochachtung, ent-
blödete sich aber nicht, ihm sein ganzes Vermögen zu konfiszieren. Die schwere
Verwundung, die Anstrengung des Transportes trugen ihm eine schwere Krank-
heit zu. welche seine Lebenskräfte wesentlich erschütterte. Nach dem Huberts-
burger Frieden traf er am 15. April in Glatz ein. Bald darauf berief ihn der
König durch eine herzliche Einladung nach Potsdam, vier Wochen später schrieb
Friedrich an ihn: „Melden Sie mir, ich bitte Sie, wie es mit Ihrer Gesund-
heit steht. Ich werde Ihnen meinen Leibarzt schicken, damit Sie sich richtiger
Medikamente bedienen und keine Quacksalbereien brauchen, welche Ihnen nichts
helfen." Fouques Antwort lautete klagend über Schwäche der Beine, der Brust
und der Stimme. „Ich tauge nichts mehr. Für mich ist nur das Domherrn-
leben und die Ruhe heilsam. Lassen Sie, Sire, mich diese für den Rest meines
Lebens genießen." Der König hatte ihn vorher zum Domherrn von Branden-
bürg ernannt und antwortete: „Sie werden in Brandenburg leben, solange Sie
wollen; jedoch Sie werden mich manchmal besuchen. Es ist nicht weit. Wenn
ich erfahre, daß Sie kommen wollen, so schicke ich Ihnen halbwegs meine Pferde
entgegen. Adieu, mein lieber Freund; ich bin der Ihrige mit Herz und Seele."
Friedrich ließ Fouques Wohnung in Brandenburg fürstlich möblieren und gab
ihm zu Weihnachten 1763 eine Anweisung auf 5000 Thaler aus der Hofstaats-
kasse. Auch iu den folgenden Jahren war der König oft aufmerksam gegen den
tapfern General. Am 1. Juni 1764 meldete sich Friedrich bei Fouque an:
„Ich werde ohne Umstände zu Ihnen kommen wie ein alter Freund, wenn ich
Brandenburg passiere. Ich werde den 4. mittags da sein. Ich bringe nur
einen einzigen Freund mit, den Erbprinzen von Braunschweig, welcher Ihrer
Freundschaft und Achtung wert ist, so daß wir unser drei sein werden, wenn
es Ihnen recht ist. Es gehört nur weuig dazu, mich zu sättigen. Ich verlange
von Ihnen nur eine gute Suppe und eine Schüssel Spinat, ein freundliches
Wirtsgesicht und Sie bei guter Gesundheit zu treffen. Den letzten Artikel
empfehle ich Ihnen am meisten." Wie eine Mutter war der König um den
hinfälligen Freund besorgt. Im Mai 1773 speiste der König zum letztenmal
bei Fouque. Der alte General hörte schwer und konnte nur noch vermittelst
einer Maschine sprechen. Am 5. September 1773 schreibt der König noch an
seinen alten Freund: „Ich wünschte, mein Lieber, Ihr Zustand gestattete es,
daß ich Sie hier iu Potsdam umarmen könnte." Der Wunsch des Königs ging
nicht in Erfüllung. Am 3. Mai 1774 starb Fouque, 76 Jahre alt. Die
Todesnachricht erschütterte den König tief.
Äohann Christian Günther, geboren in Striegan. Auf unsrer Wan-
derung durch den Paß, in dessen Mittelpunkt Landeshut liegt, kehren wir zu
dem Orte zurück, von dem wir ausgegangen sind, zu Striegau, dem Geburts-
orte Günthers, des einzigen großen deutschen Dichters zu Anfang des vorigen
236 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Jahrhunderts, dem es beschieden gewesen wäre, einer der größten Dichter
nnsrer Nation zu werden, wenn freundliche Gestirne seinem Dasein gelächelt
hätten. Aber wie kein zweites, war dieses Dichterleben von Not und Elend zer-
rissen, wie auf keinem zweiten lastete auf diesem unseligsten deutschen Dichter
das Verhängnis der Poeten, das Leben nicht verstehen zu können, und fo ist er
nach einem kurzen, stürmischen Leben zu Grunde gegangen verfluchend und verflucht,
zu Grunde gegangen am Elend der Armut und am Elend eines verfehlten Lebens.
Die Geschichte Günthers steht neben der Heinrich von Kleists auf einem
der dunkelsten Blätter unsrer Literaturgeschichte; sie ist von wahrhaft erschüt-
ternder Tragik, und tiefes Mitleid erfaßt uns, wenn wir fehen, wie soviel
Genie, soviel Kraft und Können im Schlamm der Not verendete.
Freilich ging Günther nicht ohne eigne Schuld unter; aber wer wollte
dem Dichter zum Vorwurf machen den heißen Liebes- und Lebensdurst, der
die Unregelmäßigkeiten feines Lebens verschuldete? Das Schicksal schreitet durch
dies Leben mit unerbittlicher Strenge; und so steht er in unsrer Erinnerung
rührend und ergreifend wie Ikarus, welcher der Sonne entgegenflog, berauscht
von ihrem Glanz und ihrer Schönheit, und dem, je näher er dem himmlischen
Gestirn kam, die Flügel von Wachs schmolzen, die ihn über diese jämmerliche
Erde erhoben, bis er tot niedersank, von niemand beklagt, vom dumpfen
Volk angestaunt, aber von den Strahlen der Poesie umwoben, i- -
Lieben, Sündigen und Sterben, das ist dieses Dichters Leben; die Liebe
war der Urquell seines Schaffens, die Liebe war ihm Leben, er liebte rasend,
heiß und glühend, und auf seinem Grabstein noch mahnt er den Wanderer, eilend
weiter zu ziehen, „sonst steckt dich auch mein Staub mit Lieb' und Unglück an."
Liebe und Unglück haben sein Dasein zerwühlt. Sein Leben war ein be-
ständiges Taumeln zwischen der Liebe, die ihn umschlang, und dem Schmutz
der Landstraße; denn auch ein merkwürdiger Wandertrieb beseelte ihn, der ihn
nirgends Ruhe finden ließ, und so hat er sich langsam zu Tode geliebt und zu
Tode vagabundiert. Sein Leben war ein kurzer Frühling voll Sonnenglanz
und Blütenduft und grenzenloser Liebesseligkeit, dem aber um fo schneller der
trübe, stürmische, trostlose Herbst folgte, der die Blüten jäh vernichtete, in den
kein Abglanz ihrer Düfte, kein Schimmer ihrer Farbengluten hinüberdrang.
Johann Christian Günther wurde am 8. April 1698 (oder 1695) zu
Striegau als Sohn eines angesehenen Arztes geboren. Schon früh erwachte
in dem Knaben der Trieb zur Poesie, der aber von dem Vater streng nieder-
gehalten wurde, vielleicht weil dieser fürchtete, diese poetische Befähigung könnte
den sich in dem Kinde zeigenden Hang zur Unbändigkeit befördern nnd sein
Leben vernichten. Mit zwölf Jahren wurde er auf die evangelische „Gnaden-
schule" nach Schweidnitz geschickt, fand daselbst freundliche Aufnahme und die
ermunterndste Anerkennung seiner poetischen Bestrebungen. Besonders wandte
der Rektor der Schule dem jungen Genie sein lebhaftestes Interesse zu und trug
viel zu seiner Förderung bei. Im Jahre 1714 lernte Günther in dem elter-
lichen Hause eines Schulfreundes seine erste und jedenfalls echteste Liebe, Leonore,
kennen, eine Liebe, die von nachhaltigem Einfluß auf sein Dichten war. denn
die um jene Zeit entstandenen Lieder zeichnen sich vor den früheren durch große
Innigkeit und Tiefe des Gefühles aus. Von Schweidnitz wandte sich Günther
im Herbst 1715 zunächst nach der Universität Frankfurt a. O., um Medizin
Johann Christian Günther, geboren in Striegan. 237
zu studieren, aber er blieb dort nicht lange, ging nach Berlin und von dort
nach Wittenberg. Anfangs studierte er hier mit großem Fleiße; bald aber geriet
er in den Strudel des Studentenlebens jener Zeit; Spiel, Trunk und wüste Zer-
streuungen erschöpften seine Mittel und zwangen ihn, eine zeitweilige Aufbesserung
seiner Lage durch Gelegenheitsdichtungen zu suchen. Diese unwürdige Thätigkeit
und sein wüstes Leben scheinen auch der erste Anlaß zu dem Zerwürfnis mit seinem
Vater gewesen zu sein. Nachdem es Günther endlich gelungen war, von seinen
Gläubigern loszukommen, wandte er sich nach Leipzig, und hier begann dann
die verhältnismäßig glücklichste Periode in seinem Leben. Durch einen Kreis
von Gönnern und vertrauten Freunden wurden ihm ausreichende Geldmittel
zur Verfügung gestellt, und in den Leipziger künstlerischen Kreisen fand er die
freundlichste Aufnahme und vielfache Anregung zu neuem Schaffen. Nach dem
Frieden zu Passarowitz im Jahre 1718 dichtete er eine Ode auf deu Sieger
von Belgrad und Peterwardein, den Prinzen Eugen, die leider weder klingende
Anerkennung noch ein Amt einbrachte; aber sie machte den jungen Dichter
bekannt und bewirkte, daß der Professor Burchard Mencke ihn an den König
von Polen und Kurfürsten von Sachsen für die Stelle eines Hofdichters empfahl.
Leider geschah hier, was seines ganzen Lebens Fluch gewesen war, er wußte
sich nicht zu zähmen; feierlich bezecht, präsentierte er sich dem Könige und ver-
fäumte so den Moment des Glückes, der seinem ganzen Leben eine bessere
Wendung gegeben hätte. Nach mannigfachen Irrfahrten, die den Dichter auch
zu feinem Vater führten, der ihm, dem Untergegangenen, mit seinem Fluche
die Thür wies, findet er in Breslau Rast. Hier wird er dem Grafen Schaffgotsch
als Hauslehrer empfohlen; aber er war wieder betrunken, als man ihn dem
Grasen vorstellen wollte. Er benahm sich so, daß seine Breslaner Freunde es
gern sahen, daß er mit einem Freunde nach Lauban ging, um sich als Arzt
niederzulassen; man gewährte ihm Reisegelder und Unterstützungen, nur um
ihn los zu werden. In Laubau erfüllten sich Günthers Hoffnungen aus eine
ärztliche Praxis nicht; er verfiel in eine schwere Krankheit, die ihn dem drückend-
sten Mangel, dem tiefsten Elend preisgab. In seinen Gedichten klagt er über
das schnelle Versiegen seiner Kräfte.
Noch einmal raffte er sich auf. Vou seinen Freunden mit Mitteln unter-
stützt, geht er nach Kreuzburg, läßt sich dort als Arzt nieder und verlobt sich
mit der Tochter des dortigen Pfarrers. Durch Fleiß und Ausdauer hätte er
sich eine Existenz gründen können; aber seine Zigeunernatur ließ ihn in dem
wilden Leben der polnischen Grenzbewohner versumpfen. Die Aussöhnung mit
seinem Vater, die der Pfarrer zur Bedingung für die Ehe seiner Tochter mit
Günther gestellt hatte, schlug fehl; er machte zwecklose Kreuz- und Querzüge
durch Oberschlesien und ging endlich, um seine Studien zu vervollständigen und
sich den medizinischen Doktorgrad zu erwerben, nach Jena; aber es zeigte sich,
daß seine Kraft schon erschöpft, fein Körper zur Arbeit schou unfähig war.
Der Schleier des Todes breitete sich um ihn, und er verschied plötzlich am
15. März 1723, noch nicht ganz 25 (28) Jahre alt. Der Tod war eine Er-
lösung für den Unglücklichen, der körperlich völlig zerrüttet nur sich selbst zur
Qual leben konnte.
Günther war ein Dichter von Gottes Gnaden. Das beweisen uns seine
Gedichte, von denen die letzten vollendet in der Form, reich und tief an Gedanken
238 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
und Ausdruck sind. Hören wir nur die ersten drei Strophen seines Abendliedes,
in dem er reine und fromme Anschauungen mit begeisteter Wärme ausspricht:
„Abermal ein Teil vom Jahre, Nimm das Abendopfer hin,
Abermal ein Tag vollbracht! Das ich heute schuldig bin,
Abermal ein Brett zur Bahre Denn es sind nicht schlechte Sünden,
Und ein Schritt zur Gruft gemacht. Welche mich dazu verbinden.
Räch n°nd"°ch^der°Fwig,-it! frencr Bat«! Seine (gute
Also müssen wir aus Erden t"6" nberschwengltch graß
3» d°m T°d° reif« werden,
Herr und Schöpfer aller Dinge, Gib der Buße stets Gehör,
Der du mir den Tag verlieh'n, Denn dein Knecht verspricht nunmehr,
töre, was ich thränend singe, Dein Gesetz und deinen Willen
aß mich würdig niederkniet. Nach Vermögen zu erfüllen."
Wie tief es ihn ergriffen hat, daß sein Vater sich nicht mit ihm aussöhnen
wollte, daß er ihn von sich stieß, weil er wußte, der Ungeratene werde sein
Versprechen doch nicht halten, sagt er in folgenden Strophen:
„Mit dem im Himmel war' es gut, Du kannst ja wohl dies Ehrenpfand
Ach, wer versöhnt mir den auf Erden? Nicht ganz und gar zurücke schlagen.
Wofern es nicht die Liebe thut, Verschmähst du auch dies Lösegeld,
Wird alles blind und fruchtlos werden. Zu welchem soll ich auf der Welt
Wer glaubt wohl, hartes Vaterherz, Mehr Neigung, Herz und Zuflucht tragen?
Der Eltern Blfttt rüLTÄT* Ach, mach' nns nicht das Ende schwer!
Ifi ffÄt teer »ei, «« will mit Lnst nach gröh're Plagen,
nfTM-fUv+ rJ rwvAitf Und wenn es selbst dein Sterben war',
s ÄÄ Äl wallen, Als I°>ch-" H°b noch langer tragen^
^loy ourcy mein Meni) veugen wotten. Der Notzwang lehrt uns freilich viel.
Ich bin und bin auch nicht verwaist: Versöhnt dich weder Mund noch Kiel,
Dies Rätsel kostet mich viel Thränen. So ist doch nichts umsonst geschrieben:
Ach, Vater, bist du, was du heißt, Die Welt erfährt den treuen Sinn,
So höre mein gerechtes Sehnen. Mit dem ich dir ergeben bin,
Ich küsse dich mit Mund nnd Hand: Du magst mich hassen oder lieben."
Lolkenham und die Lolkoburg. Westlich von Striegau liegt in einem lieb-
lichen Thale die kleine Kreisstadt Bolkenhain. Weil sie zu den Thoren gehört,
die das Gebirge öffnen und schließen, hat sie eine bewegte Vergangenheit. Schon
im 11. Jahrhundert bestand an dem wichtigen Platze eine Stadt Hain, welche
1241 die Tataren zerstörten. Sie wurde von Bolko I., dem Herzog von
Schweidnitz, wieder ausgebaut, befestigt und erhielt von ihm ihren jetzigen Namen.
Um den Eingang ins Gebirge zu schützen, legte Bolko von Schweidnitz
neben der Stadt aus einem Hügel die Bolkobnrg an mit kolossalen Mauern
und hohem Turme. Die Mauern sind 4x/2 m dick, teils kantig, teils halbrund,
und jetzt durch eine Holztreppe besteigbar gemacht, der Turm ist 28 in hoch.
Wie die Bewohner ehemals in den Turm gekommen sind, läßt sich nur erraten,
da keine Thür zu demselben führte. Tritt man jetzt zu der in ihm gemachten
Öffnung hinein, so sieht man sich nach Zurücklegung einiger Stufen in einer
Schauder erweckenden, dunklen Tiefe, in dem ehemaligen Burgverließ. Über
sich bemerkt man eine ehedem ganz runde Öffnung, über welche ein eiserner
Deckel, der durch eine Kette festgehalten wurde, gelegt war und der wahrschein-
lich nur dann einmal weggerückt wurde, wenn man sich einer überflüssig ge-
wordenen Person entledigen wollte und sie hier von oben hinabstürzte.
Bolkenhain und die Bolkoburg. — Burg Schwciuhaus. 239
Die Bolkoburg ist auch deshalb wichtig, weil hier Bolkosll. (gest. 1368)
einziger Sohn, der letzte Abkömmling der Herzöge von Schweidnitz und Jauer,
durch einen Steinwurf getötet wurde und mit ihm der Mannesstamm der
Schweidnitzer Herzöge erlosch. Nach der Sage hatte der junge Bolko mit Jakob
Thau, dem Hofnarren seines Vaters, gescherzt, der das Recht hatte, wie alle seine
Standesgenossen, mit seinem Herrn jedweden Spaß zu treiben. Der junge
Prinz klopfte dem Narren an die Stirn, um anzudeuten, daß sein Kopf leer sei.
Da ergriff derselbe ein Ziegelstück, drohte, warf und traf den fürstlichen Jüng-
ling so unglücklich gegen die Schläfe, daß derselbe leblos zu Boden sank.
Bolkoburg und Burg Schweinhaus. Zeichnung von A. Richter.
Als die Burg 1392 an Böhmen fiel, erhielt sie einen Burghauptmann
und wurde ein verrufenes Raubnest. Im Jahre 1703 kauften sie die Mönche
von Grüssau, die sie bis zu ihrer Säkularisation 1810 behielten. Jetzt ist sie
Staatseigentum, und ihr Verfall schreitet schnell fort.
Burg Schweinhaus. Von der Bolkoburg soll ein unterirdischer Gang
nach der nahen Burg Schweinhaus, dem Stammsitz der Familie von Schweinichen,
geführt haben. Schweinhaus ist Schlesiens weitläufigste und zugleich am wenigsten
altertümliche Ruine. Sie hat große Fenster, hohe Zimmer, an manchen Stellen
Stuckverzierungen. Leider geschieht zu ihrer Erhaltung von Menschenhand
nichts und das Wetter wirft bei jedem Sturm einzelne Teile des Riesengebäudes
hinab, das zur Zeit des Siebenjährigen Krieges noch bewohnbar war.
240 Die schlesischen Gebirgspässe und ihre Riegel.
An den unterirdischen Gang, der beide Burgen verband, knüpft sich eine
liebliche Sage. Hans von Schweinichen auf Schweinhaus und Zedlitz von
Bolkobnrg lagen einst in schwerer Fehde miteinander, und der Schweinhäuser
wußte nicht, wie er seinem Gegner beikommen sollte. Da entdeckte er den Gang,
der zur Burg des Feindes führte und längst vergessen war. Er ließ auf die
Bolkoburg von einigen Mannen einen Scheinangriff machen, während er selbst
mit einer auserlesenen Schar durch den Gang gehen und im Innern des seind-
lichen Schlosses stehen wollte. Noch war er auf seiner unterirdischen Wanderung
nicht weit gekommen, als er auf eine eiserne Thür stieß, dieselbe öffnen ließ
und sich alsbald in einem Gemach befand, in der ein wunderschönes Mädchen
saß, das er als die seit drei Jahren verschwundene Tochter seines Gegners
erkannte. Während er noch mit der lieblichen Jungfrau sprach und erfuhr, daß
ihr Vater sie hier verborgen halte, um sie den Nachstellungen des Herzogs von
Schweidnitz zu entziehen, der sie zur Gemahlin haben wolle, stürzt von der
andern Seite durch eine andre Thür mit geschwungenem Schwerte der Ritter
von Zedlitz iu das Gemach und rennt gegen Hans von Schweinichen. Beide
kämpfen kurze Zeit miteinander, halten dann inne, sprechen sich aus, versöhnen
sich, und Hans heiratet die Jungfrau. So hatte die Fehde ein Ende, und der
Herzog von Schweidnitz mußte sich zufrieden geben.
Die Festung Glatz. Ein wie wichtiger Punkt die Festung Glatz ist, das
haben uns Friedrich II. und Maria Theresia gezeigt, diese, da sie alle nur
möglichen Anstrengungen machte, sich die Festung zu erhalten, jener, da er unter
keinen Bedingungen auf Glatz beim Frieden verzichten wollte. Schon im
10. Jahrhundert lag da, wo jetzt die Festung liegt, eine Grenzfeste der Böhmen
gegen die Polen, die den böhmischen Namen Kladsko führte. Der befestigte
Platz sollte die Umgegend mit ihrer Bevölkerung gegen feindliche Einfälle
schützen. Auf hohem Berge lag das Kastell oder Schloß, an das sich der Burg-
flecken an dem Abhänge des Berges anschloß, so daß auch dieser Flecken von
dem anstürmenden Feinde schwer genommen werden konnte und gegen die Über-
slutuugeu der Neiße durchaus sicher war.
Vermöge ihrer Bestimmung waren der Feste zu wiederholten Malen
knmmer- und verlustvolle Tage beschieden, denn oft wurde sie belagert, oft ein-
geschlossen. Eine Übergabe an den Feind erfolgte dreimal, nämlich 1622, 1742
und 1760. Schon im 11. und 12. Jahrhundert wurde Glatz von polnischen
Heerhaufen viermal (1010, 1049, 1056 und 1114) belagert, 1428 lagen die
Hussiteu vier Wochen hindurch vergeblich vor der Stadt, 1469 und 1470 ver-
wüsteten Breslauer Truppen Stadt und Umgegend.
Glatz im Jahre 1622. Schwere Tage sollte im Dreißigjährigen Kriege
das Jahr 1622 über Glatz bringen. Die Bewohner der Festung waren schon
im Jahre 1527 zum größten Teil zur lutherischen Kirche übergetreten. In
dieser lutherischen Stadt trotzte nach der feigen Flucht Friedrichs vou der Pfalz
der junge Graf Bernhard von Thnrn der Übermacht des Kaifers. Er besetzte
die Burg und zog einen Teil der in Oberschlesien zersprengten protestantischen
Scharen an sich. Im festen Einverständnis mit der Bürgerschaft machte er
unaufhörliche Ausfälle und Streifzüge in die umliegeude Gegend und füllte zu
. Glatz im Jahre 1742. 241
großem Schaden des Landes die Festung mit den Vorräten, die für den Fall,
daß sie belagert wurde, nötig waren. So trieb er es neun Monate, bis ihm
die Kaiserlichen von allen Seiten näher auf den Hals rückten, seinen Raum
täglich enger beschränkten und endlich im September.1622 zur eigentlichen Be-
lagerung schritten.
Zur verzweifelten Gegenwehr entschlossen, zündete Thnrn selbst am
13. September die Vorstädte an; aber gegen seine Absicht geriet auch die
Domkirche und das Schloß in Flammen und beide brannten gänzlich nieder.
Am folgenden Tage zündeten in den Vorstädten die Kaiserlichen an, was Thurn
noch übrig gelassen hatte, und 930 Häuser wurden ein Raub der Flammen.
Während das Feuer wütete, versuchten die mit den Kaiserlichen verbündeten
Schlesier auf Glatz einen Sturm, wurden aber mit Verlust von 500 Mann
zurückgeschlagen. Die Garnison mußte zu gleicher Zeit die Stürmenden bekämpfen,
die Belagerer beobachten, und das brennende Niederschloß mit der Munition
und dem Provianthause retten. Die Soldaten trugen das Pulver in offenen
Fässern unter den Mänteln durch den Hof mitten durch das Feuer, und die
Bürger gaben, weil man wegen des Brandes nicht zur Munition gelangen
konnte, alle ihre metallenen Gefäße her, aus denen mitten auf dem Markte in
Eile Kugeln gegossen wurden.
Umsonst hatte der feindliche Führer Lichtenstein den Grafen Thurn dadurch
zur Übergabe zu bewegen gesucht, daß er einen Trommelschläger mit einem
Schreiben an ihn schickte, in welchem er ihm meldete, daß Tilly Heidelberg
erobert habe. Thurn ließ ihm zurücksagen: „Was geht mich Heidelberg und
die Zeitung an, ich bin jetzt in Glatz." Aber gegen Ende des Oktober sah er,
als er keine Hoffnung auf Entsatz hatte, die Notwendigkeit der Übergabe ein und
begab sich selbst ins kaiserliche Lager, um eine ehrenvolle Kapitulation zu er-
zielen. Graf Thurn erhielt freien Abzug und verpflichtete sich, seine Mannschaft
fortzuschicken und die Staaten des Kaisers zu verlassen, Den Glatzer Bürgern
wurde völlige Amnestie und Religionsfreiheit bewilligt. So zog die Besatzung
am 23. Oktober ab, und Thurn begab sich nach der Mark Brandenburg. Ferdinand
war erbittert gegen die Glatzer, nahm ihnen ihre Privilegien, Kirche und Schule.
Um ihn zu besänftigen, traten sie alle zur katholischen Religion über und er-
hielten dann 1629 einen Teil ihrer Privilegien zurück, mußten aber zu ewigem
Andenken an ihr abscheuliches Laster der beleidigten Majestät eine Abgabe von
jedem Gebräu Bier zahlen.
Im Besitze der Kaiserlichen wurde Glatz im Verlauf des Krieges noch
viermal (1638, 1642, 1643 und 1645) vergeblich von den Schweden berannt.
Glatz im Jahre 1742. Als im Jahre 1741 Österreich nicht auf die
Friedensvorschläge Friedrichs des Großen einging, konnte der preußische König
seine Feindseligkeiten nicht einstellen, sondern setzte sie fort und schickte im Januar
1742 den Erbprinzen Leopold von Anhalt nach Glatz. Dieser rückte am 9. Januar
von allen Seiten bis auf Kanonenschußweite an die Festung heran und forderte
die Übergabe. Die Werke der Festung waren in nicht besonders gutem Stande;
der strenge Frost, der die Gräben mit einer Eisdecke überzogen hatte, machte
die Verteidigung noch schwieriger. Deshalb hatten die Unterhandlungen mit
dem Kommandanten bald den gewünschten Erfolg. Schon am 11. Januar be-
setzten drei preußische. Bataillone Glatz, fünf Schwadronen Husaren wurden in
Deutsches Land und Volk. VIII. 16
242 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
den Vorstädten untergebracht. Es herrschte fortan zwischen der österreichischen
Besatzung des Schlosses und den Preußen Waffenruhe. Die Zitadelle dagegen,
das Donjon, blieb unter dem Oberstleutnant Fontanella noch in österreichischen
Händen. Der König selbst, der am 24. Januar in Glatz eintraf, bot dem
Kommandanten eine ehrenvolle Kapitulation an, die dieser jedoch ablehnte.
Derselbe hatte kurz vorher, um den guten Mut, der unter der Besatzung herrschte,
zu zeigen, oben seinen Leuten einen Ball gegeben. Dabei fehlte es auf der
Zitadelle an Trinkwasser und geschmolzener Schnee mußte aushelfen.
Am 20. Februar 1742 nahm der Erbprinz von Anhalt in Glatz die
Huldigung ab. Im Amtshause leistete der Adel, die Geistlichkeit und Abgeord-
nete der Städte und nachher auch die Bürgerschaft von Glatz den Eid der Treue.
Die Grafschaft wurde von nun an eng mit Schlesien verbunden und ein Teil
dieser Provinz, was sie bisher eigentlich nie gewesen war.
Indessen blieb die Zitadelle von Glatz noch immer in österreichischen
Händen, die Besatzung war zahlreich genug (angeblich 2000 Mann), von einem
entschlossenen Manne kommandiert, und noch monatelang wehte die öfter-
reichische Fahne auf dem Donjon. Endlich aber machte sich die Not unter den
Eingeschlossenen fühlbar, die Lebensmittel begannen zu mangeln und die Be-
satznng schmolz durch Krankheiten hin, die Desertion nahm immer zu. Viele
hatten sich den harten Winter zu nutze gemacht und waren, wenn der Schnee,
der die Abhänge des Schloßberges bedeckte, eine Eisdecke zeigte, auf dieser
herabgeglitten und fast immer davongekommen. Kurz, die Besatzung war im
April auf etwa 432 Mann zusammengeschmolzen. Der Kommandant erlangte
auch jetzt noch eine ehrenvolle Kapitulation, freien Abzug mit allen militärischen
Ehren. Die Besatzung zog nach Mähren ab; als sie am 9. Mai in Brünn
anlangte, sollen nicht mehr zehn diensttüchtige Leute übrig gewesen sein.
Der General Fonque, der im Jahre 1760 den Paß von Landeshut ver-
teidigte, wurde durch des Königs Gnade und Vertrauen Kommandant der
Festung Glatz.
Er that für die Festung und die Grafschaft, was er thnn konnte, um die
Unordnung zu beseitigen und den bürgerlichen Erwerb zu heben. Daß ihn die
Glatzer als ihren Vorgesetzten anerkannten, beweist folgende Anekdote:
Der König kehrte gegen Ende des Juni 1742 aus Böhmen durch den
Kreis Glatz nach Schlesien zurück. Er wußte, als er bei einem Dorfe war.
nicht, ob er sich schon diesseit der schlefischen Grenze befand, und fragte einen
Bauern: „Ist dies Dorf österreichisch?" „Nein, Herr", lautete die Antwort.
„Also ift das Dorf preußisch?" fragte der König weiter. „Nein, Herr", ent-
gegnete der Bauer. „Versteht Er mich nicht?" fuhr der König fort. „Nein,
Herr", sagte der Gefragte zum drittenmal: „Das Dorf ist fnckhesch (fouquesch).
Der König verstand nun und lachte über diesen neuesten deutschen Kleinstaat.
Das Jahr 1760 in Glatz. Im Jahre 1760 war Laudon im Begriff,
Glatz zu belagern und den Preußen wieder fortzunehmen, als ihn Fouque, wie
wir gesehen haben, nach Landeshut rief. Nachdem hier am 23. Juni das für
Preußen so unglückliche Treffen geschlagen war, konnte die Belagerung von
Glatz bald wieder aufgenommen werden. Es mußte den Österreichern daran
gelegen fein, die Festung in ihre Gewalt zu bekommen, da sie Friedrich hatte
befestigen lasten und sie mit vielen Vorräten versehen war. Die Besatzung
Glatz im Jahre 1807. 243
bestand aus 2400 Mann, leider unzuverlässigen Leuten. Überläufern und Ans-
ländern, die von einem Italiener, dem Oberst b'D, schlecht befehligt wurden. In
der Nacht zum 21. Juli wurden die Lausgräben eröffnet, nnS am 26. stürmten
die Österreicher das Außenwerk. Die bunt zusammengesetzte Besatzung machte
einen Aufruhr, ganze Kompanien warfen das Gewehr weg, und in vier Stun-
den war die Festung ohne die geringste Unterhandlung in den Händen der
Österreicher. Die Sieger fanden hier ungeheure Vorräte, unter denen sich
2000 Zentner Pulver und 200 Geschütze befanden. Der König kassierte alle
Offiziere der Besatzung und ließ d'O zum Tode verurteilen, der jedoch noch auf
dem Richtplatze begnadigt und des Landes verwiesen wurde.
Glatz im Jahre 1807. Noch einmal sollten über Glatz schwere Tage
hereinbrechen, als der Corse Napoleon unser Vaterland mit seinen Heeren über-
schwemmte und über Deutschland die Tage der tiefsten Schmach kamen. Erfurt
war den Franzosen am 15. Oktober 1806 übergeben worden, und dem uu-
rühmlichen Beispiele dieser Stadt folgten schnell nacheinander Spandau, Stettin,
Küstrin, Magdeburg, Hameln und andre. In Schlesien gab sich der Graf
Götzen, der später zum Generalgouverneur eingesetzt wurde, viel Mühe und
setzte seine ganze Energie ekn, das Land seinem Könige zu erhalten, aber leider
war der Verteidigungszustand der Festungen ein trauriger, da man gar nicht
an die Möglichkeit gedacht hatte, daß der Feind sobald hier eindringen könnte;
die Besatzungen waren unzureichend, und die Polen unter ihnen desertierten oft
gewaltsam. Ebenso fanden sich so zahlreich Verräter, daß die Feinde sehr genau
wußten, was in den Festungen vorging. So kapitulierte schon am 2. Dezember
1806 Glogau, am 5. Januar 1807 Breslau, am 16. Januar Brieg, am
16. Februar Schweidnitz, Neiße erst am 16. Juni. Graf Götzen suchte die
Grafschaft Glatz zu halten und von hier aus gegen den Feind vorzudringen.
In kurzer Zeit hatte er ein kleines Heer gerüstet. Alle Anordnungen bei dem-
selben waren gut getroffen, und der Graf gewann das Zutrauen der Einwohner.
Viele Forstbeamte, Pächter, Referendarien, Studenten und andre, welche durch
die Kriegsverhältnisse aus ihrem früheren Wirkungskreise gerissen worden,
traten zu seinem Heere und schafften sich wohl auf eigne Kosten Pferde und
Waffen. Unermüdlich schadete Götzen dem Feinde in kleinen Gefechten auch
außerhalb der Grafschaft, bis Vaudamme mit aller Macht gegen Glatz vorwärts
ging. Götzen deckte die Stadt durch Besetzung der nächsten Berghöhen. Van-
dämme wünschte eine persönliche Zusammenkunft mit dem Grasen und erhielt
sie, erklärte, daß alle Verteidigung nnnützerweise Blut kosten werde, daß sie
nur mit Zerstörung enden könne, da für Preußen alles verloren sei; er drohte,
daß, wenn er erst Gewalt gebrauchen müsse, er die ganze Grafschaft, in welcher,
wie er wisse, Götzen den größten Teil seiner Anverwandten habe, in eine Ein-
öde verwandeln und die Stadt Glatz mit hundert Mörsern in einen Aschen-
hausen verwandeln werde; dagegen versprach er im Falle der Übergabe der
Festungen Glatz und Silberberg, das sich auch noch hielt, den Truppen freien
Abzug mit Beibehaltung ihrer Waffen auszuwirken.
Der Graf entgegnete darauf, daß die angedrohte Zerstörung der Güter
seiner Anverwandten ihn nicht von der Erfüllung seiner Pflicht abhalten werde,
und daß diese Drohung überhaupt seine Ehre beleidige, da alle Privatrücksichten
der Pflicht nachstehen müßten.
16*
244 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Noch 14 Tage lang hatten darauf die Preußen sich gegen die andringenden
Feindein ihrem Lager bei Glatz gehalten, als in der Nacht vom 23.Zum 24. Juni
die Feinde das preußische Lager erstürmten. Die Erbitterung der Feinde — es
waren Bayern und Württemberger — war dabei so groß, daß sie preußische
Offiziere, die sich schon ergeben hatten, noch niederhieben und die Verwundeten
mit den Kolben ihrer Flinten tot schlugen. Jetzt konnte die Feinde nichts mehr
hindern, zur Beschießung von Glatz vorzuschreiten. Es fand sich, daß in der
Festung nur etwa auf zwölf Tage Schießbedarf vorrätig war, daß man also nach
dieser Zeit doch übergeben müsse. Sollte man nun noch die Stadt der Be-
schießung aussetzen? Götzen ließ sich also auf Unterhandlungen ein und ver-
sprach, die Festung nach vier Wochen zu übergeben, wenn sich bis dahin die
Verhältnisse nicht änderten. Durch diese mutige Ausdauer des Götzenschen
Korps wurde Glatz den Preußen erhalten; denn ehe die vier Wochen nm waren,
kam die Nachricht vom Frieden.
Schweidnitz. Das an der Weistritz gelegene Schweidnitz hat, weil es ein
Ort von großer Bedeutung ist, in seiner Geschichte manche Belagerung auf-
zuweisen. Der Ort hat gewiß schon im 11. Jahrhundert bestanden, denn im
12. baute Peter Wlast in demselben eine Kirche, und in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts finden wir dort schon ein Franziskaner-(Minoriten-)Kloster.
Auch weisen die krummen Straßen mit ihren Nebengassen, die dicht ineinander
gedrängten Häuser, der unregelmäßige Bau derselben auf das hohe Alter der
Stadt hin; denn es ist wohl anzunehmen, daß Schweidnitz nach den Verheerungen,
die es durchzumachen hatte, im großen nnd ganzen wieder so aufgebaut wurde,
wie es vor den Unglücksfällen gestanden hatte. So wurde der Ort schon 1241
von den Tataren zerstört, stand aber bereits nach neun Jahren wieder in dem
Ansehen einer Stadt, die noch im 13. Jahrhundert mit einer Mauer umgeben,
im 14. weiter befestigt und mit dem Magdeburger Rechte ausgestattet wurde.
Es gereichte der Stadt zum großen Segen, daß sie infolge der 1278 vorge-
nommenen Teilung des Herzogtums eigne Fürsten erhielt. Diese schenkten
ihrer Hauptstadt ganz besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge. Bolko I., der
in der Geschichte Schlesiens der Ruhmvolle heißt, verdient unter diesen Fürsten
hervorgehoben zu werden; er ist der Gründer des Schlosses Fürstenstein und
der Kynsburg, er umgab mehrere Städte mit Mauern und führte strenges
Regiment, er war fromm und stiftete mehrere Klöster, stattete auch einzelne, die
schon bestanden, reichlich aus.
Schweidnitz wird von Johann von Böhmen belagert (1345).
Während Bolko und feine Nachfolger in dem schönen Bestreben wetteiferten, das
Fürstentum immer mehr zu heben, wurde die Ruhe des Landes durch äußere Feinde
bedroht. Johann von Böhmen (S. 10) war mit der Oberhoheit über die Herzog-
tümer, deren Fürsten sich ihm freiwillig unterstellt hatten, nicht zufrieden und
trachtete danach, auch Schweidnitz zu bekommen, gegen das er 1345 zu Felde zog.
Johann hatte feine Heerhaufen in zwei Teile gesondert, den einen führte er
selbst gegen Schweidnitz, der andre zog unter einem tapferen Führer gegen die
Stadt Bolkenhain, auf deren Burg sich Bolkos Schatzkammer befand. Viermal
wurde das Schloß und die Stadt Bolkenhain bestürmt, viermal wurde der
Sturm mit Mut zurückgeschlagen, denn die Stadt war mit Mauern, Wällen
Schweidnitz. 245
und Gräben gut befestigt und für die damalige Zeit ein Hauptbollwerk des
Landes. Gleichen Widerstand erfuhr Johann selbst vor den Mauern der Stadt
Schweidnitz. Er hatte den Schwur gethan, nicht eher abzuziehen, als bis er
seine Hand an die Mauern der Stadt gelegt haben würde. Schon weilte er
zehn Wochen vor dem bereits von Bolko I. mit dreifachem Mauerwerk und
Mauertürmen befestigten Orte; an der Wachsamkeit und der energischen Gegen-
wehr der Mannen und Bürger scheiterte jeder Versuch einer schnellen Eroberung.
Schweidnitz von der Friedrichstraße gesehen.
Da fiel Kasimir von Polen in des Königs Länder ein. und gegen ihn mußte
Johann seine Waffen kehren; um jedoch seinem gegebenen Ritterworte nicht un-
treu zu werden, schloß er einen Vertrag mit dem Herzog von Schweidnitz, dem
zufolge er vor seinem Fortgange an das Stadtthor kam und dasselbe mit seiner
Hand berührte. Beseitigt war die Gefahr, welche die Stadt bedrohte;, im
Kampfe für den heimischen Herd hatten sich die Bürger tapfer gezeigt, und nun
erstarkte Schweidnitz in rascher EntWickelung. Der Handel wuchs; berühmte
Ausfuhrartikel wurden und waren Bier, Leinwand, Tuch und gegerbtes Leder.
Nach dem Aussterben der Herzogslinie der Bolkonen gehörte Schweidnitz
von 1392 bis 1741 zu Böhmen, bez. zu Österreich.
Die Hussiten vor Schweidnitz (1428). Der aufstrebenden Stadt, die
durch ihre Gewerbthätigkeit von Jahr zu Jahr gewann, legten sich die Hussiten-
kämpfe in den Weg. Das ganze Land Schlesien befand sich fast zwei Jahrzehnte
hindurch in großer Unruhe, in welcher Handel und Gewerbe nicht gedeihen konnten.
246 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Brennend und mordend kamen die Hussiten im Jahre 1423 auch in die Gegend
von Schweidnitz, verwüsteten die Vorstädte, konnten aber die Stadt selbst nicht
erobern. Wie so manche Bürger schlesischer Städte, hatten auch die Schweid-
nitzer damals ihre ganze Kraft aufgeboten, die Feinde der Ruhe und Ordnung,
die Verwüster des Vaterlandes in ihre Schranken zu verweisen. Sigismund
bedachte daher mit dankbarem Sinne reichlich mit Freiheiten die Bürger, welche
ihm den Thron hatten zurückkämpfeu helfen, und begünstigte vor vielen Bürgern
die Schweidnitzer. So gereichte es der Stadt zum Vorteil, daß sie treu zum
Fürsten in unruhigen Zeiten gehalten hatte. Handel und Gewerbe blühten bald
wieder. Den größten Nutzen brachte im 15. Jahrhundert den Schweidnitzern
ihr Bier, das sich weit und breit des besten Rufes erfreute. Die Keller, in
denen das Schweidnitzer Bier ausgeschenkt wurde, in denen die angesehenen
Bürger ihre Erholungsstunden beim Glase verlebten, mehrten sich in den Städten
Deutschlands. Weil von Jahr zu-Jahr mehr Bier in Schweidnitz gebraut
wurde, hob sich auch die Böttcherzunft, die sich mit der Verfertigung der
Braubütten und Bierfässer beschäftigte, zu ungeahnter Wohlhabenheit.
Belagerung infolge eines Münzstreites (1522). Ein interessantes
Stück mittelalterlichen Städtelebens spielt sich im Jahre 1522 in Schweidnitz ab.
Im 15. und 16. Jahrhundert brachte das Münzwesen in Schlesien viel Wirren
hervor, weil mit dem Münzen des Geldes manche Schwierigkeit verbunden
war (S. 28). Jährlich wurden dreimal neue Münzen geprägt, die alten ab-
geschafft, und die neuen hatten oft andern Wert als die früheren. Der König
Ludwig suchte durch königliche Befehle und Beschlüsse der Fürstentage den
schlechteren Münzen (zwölf neue Münzen im Wert von acht alten) Geltung und
Verbreitung zu verschaffen. Mit dieser Verordnung waren mehrere Städte'
unzufrieden, und diese machten Gebrauch von ihrem alten Rechte, selbst prägen
zu dürfen. Da diese Münzen aber vom Hose nicht anerkannt wurden, so
entstanden ernste Unruhen. Am weitesten gingen die Schweidnitzer in ihrer
Unzufriedenheit. Der König richtete in Schweidnitz eine eigne Münzoffizin
ein und empfahl den Ratleuten und Ältesten der Stadt, dieselbe zu fördern.
Zum Münzmeister bestellte er Paul Monan, einen Schweidnitzer Patrizier,
und gab ihm das Privileg, halbe Weißgroschen (S. 30) nach dem von ihm für
die neue Münze angegebenen Werte zu schlagen.
Der Münzmeister gehörte zu den Patriziern, die sich durch ihre Anmaßungen
in der Handhabung des Stadtregiments die Liebe und das Vertrauen der von
ihnen geleiteten Bürgerschaft längst verscherzt hatten. Deshalb regte sich in
den Handwerkern der Stadt großer Unwille gegen ihn, der immer heftiger
wurde, während die Patrizier es mit Paul Monau hielten, der fogar das Amt
eines Bürgermeisters oder Consul dirigens erhielt. Die Bürger beklagten sich
beim Polenkönig, der durch Monau meinte in seinen Rechten verletzt zu sein,
und dieser Fürst forderte die Verhaftung des Münzmeisters. Der Rat hatte
Not, die Innungen (Zechen) in ihre Schranken zurückzuweisen; die Schusterzeche
stürmte besonders gegen Monau an, so daß die Rädelsführer derselben gefangen
genommen und erst für eine Bürgschaft von 200 Gulden aus der Haft eut-
lassen wurden. Die Spannung zwischen beiden Parteien wurde noch größer,
als der Rat von Schweidnitz sich an Friedrich H. von Liegnitz um Unterstützung
gegen die Zechen wandte, und dieselbe erhielt. Der Herzog von Liegnitz hemmte
Schweidnitz. 247
den Verkehr, sperrte die Hauptstraßen, besonders die nach Breslau, mit bewaff-
neten Kriegern, nahm den Tuchmachern ihre Tuche fort, ließ ihre Wagen weg-
führen und einige Leute verhaften. Der Rat der Stadt schenkte nun am Feste
der heil, drei Könige 1522 dem Herzog Friedrich II. ohne Wissen und Willen
der Gemeinde eine große Büchse. Kaum wird dies unter den Zechen ruchbar,
so treten ihre Deputierten vor den Rat, werfen ihm sein Benehmen als ge-
wissenlos und verräterisch vor, weisen ihm nach, wie die Väter der Stadt bei
ihrer Amtsführung seit Jahren nur ihr eignes Interesse im Auge gehabt und
auf Kosten der Kommune sich bereichert hätten. Sie beschuldigten den Rat,
daß er es nicht mit den Bürgern halte, sich ihrer nicht nach Gebühr annehme,
frei und ungehindert mit ihrem Eigentnme schalte. Diese und andre Klagen
wurden den Vätern der Stadt in dreister Sprache mit unverhohlenem Unwillen
vorgebracht und die Gewissenlosigkeit der Amtsführung ihnen zum Vorwurf
gemacht. Der Rat erkannte aus diesen Äußerungen, wie gereizt die Stimmung
der Bürger war, und um nicht noch ärgere Auftritte zu erleben, verließen vierzig
Patrizier (nur drei Mitglieder des Rates blieben zurück) heimlich die Stadt
und verfügten sich unmittelbar zum Herzoge von Liegnitz, indem sie die fürst-
lichen Kleinode und alles Geld vom Rathause mit sich nahmen. Sobald der
Abzug der Ratsmitglieder unter der Gemeinde ruchbar wurde, stürmte der
Pöbel die Häuser derselben, zapfte Bier- und Weinfässer ab, nahm vieles
Tragbare hinweg, erbrach dann die Münzstätte und richtete bedeutende Ver-
heernngen an. Auf einer Versammlung der Fürstentumsstände ließen die Bürger
die Privilegien der Stadt und ihre alten Gerechtsame ablesen, erboten sich zu
einer gerichtlichen Untersuchung, ob sie die neue landesherrliche Münze-annehmen
müßten, und führten heftig Klage über den Herzog von Liegnitz, daß er ihnen
die Landstraße verlege, Roß und Wagen plündere und raube und sie in Ge-
fangenfchaft fortführe. Da es zu keiner Vereinigung der Stände kam, schlössen
die Hauptzechen der Stadt miteinander ein Schutz- und Trutzbündnis.
Der Hof in Prag ist indes von der Aufregung, die zu Schweidnitz herrscht,
von der Entweichung des Rates und der drohenden Stellung der Zünfte benach-
richtigt und fordert acht Personen nach Prag, damit sie Rede stehen. Die
Schweidnitzer aber schicken mehr als 70 Abgeordnete zum König, verehren
ihm sechs Faß Schweidnitzer Bier und der Königin einen Kopfputz für 42 Schock
böhmischer Groschen, machen auch dem Bischof des Königs ein Geschenk in Geld
und hoffen so sich eines günstigen Eindrucks zu versichern. Nachdem die Ab-
geordneten lauge gewartet haben, erhalten sie die Erlaubnis, nach Hause zurück-
zukehren und in Breslau ihre Angelegenheit dem Markgrafen Georg von Bran-
denburg, dem Bevollmächtigten des Königs, vorzutragen. Zögernd machten sich
69 Bürger aus den Weg nach Breslau, denn sie versprachen sich von ihrem
Vortrage nicht viel Gutes. Als sie in Breslau ankamen, wurden mehrere ge-
fangen genommen und im Juni (1522) nach kurzem Verhöre drei auf dem
Marktplatz als Unruhestifter enthauptet. Zugleich rüstete sich Georg von Bran-
denburg zur Belagerung der Stadt Schweidnitz, weil er vermutete, daß auch
diese Strenge die gereizte Stimmung der Bürger nicht beruhigen werde. Die
Belagerung, zu der die Breslauer Geld, Geschütze und Mannschäst hergeben
mußten, begann am 14. Juli unter Anführung Georgs von Brandenburg und
Friedrichs II. von Liegnitz. Die Stadt befand sich in einem Zustande, in dem
248 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
sie wohl nicht lange eine Belagerung hätte aushalten können. Die Mauern
waren baufällig, es fehlte an Geschütz und Munition, denn der Rat hatte die
Büchsen vernagelt und das Pulver mit Heringslake verdorben. Da wurde
offenbar, was begeisternde Aufregung vermag, wenn es gilt, den heimischen Herd
zu schützen. Männer, Frauen und Jungfrauen schafften Holz, Bretter und Steine
zur Ausbesserung der Mauern herbei, andre stießen Salpeter, Schwefel und Kohle,
um nenes Pulver zu bereiten. Die Bürger wehrten sich tapfer mit den wenigen
Waffen, die ihnen zu Gebote standen, und erwarteten Hilfe von Böhmen. Der
schwache König gebot aus Furcht vor den Böhmen die Aufhebung der Belagerung
und befahl den Breslauern, die Schweidnitzer in Freiheit zu setzen. Die Bürger
erhielten die königliche Verzeihung unter der Bedingung, daß sie den alten Rat
wiedereinsetzten. Diesthaten siezwar, aber die königliche Münze nahmen sie nicht
an und behandelten auch die wieder eingesetzten Ratsmänner und ihre Familien
entehrend, indem sie dieselben beschimpften, sogar in der Kirche austrommelten.
Die Belagerungen der Stadt im Dreißigjährigen Kriege. Oft
noch nach dem Jahre 1522 gab es in Schweidnitz Reibereien zwischen dem Rate
und den Bürgern, die jedoch nie wieder zum offenen Kriege führten. Die Refor-
mation hatte in Schweidnitz Eingang gefunden. Das Kriegsglück der kaiserlichen
Waffen zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges, die Gewalt, mit der in Böhmen
uud Mähren die alte Kirche wieder eingeführt wurde, ließ wie so viele Schlesier,
so auch die Schweidnitzer bange besorgt um ihre Zukunft sein. In der That
sollten sie bald fühlen, wie schwer der Krieg auf einem Orte lastet, der auf einer
für beide Parteien wichtigen Stelle liegt. Als Wallenstein im Jahre 1626 mit
kaiserlichem Kriegsvolke den Grafen von Mansfeld verfolgte, nahm er am 23.
und 24. August sein Hauptquartier zu Schweidnitz und verursachte der Stadt
7200 Gulden Kosten, nur der Vorbote größerer Beschwerlichkeiten. Im folgen-
den Jahre spannte der Herzog Albrecht von Sachsen-Laueuburg seine Forde-
ruugen so hoch, daß die Bürger schon ihr Gold und Silber dem Rate brachten,
damit dieser den Herzog befriedigen könnte.
Im August desselben Jahres (1627) lagerte Wallenstein wieder mit 15 000
Mann auf den nächsten Dörfern um die Stadt.
Im Januar 1629 erschien der Graf Dohna mit seinen Lichtensteinern
(S. 23), um das Werk der Bekehrung in Schweidnitz vorzunehmen. Dem
Bürgermeister Erasmus Junge, als einem Hauptrepräsentanten der lutherischen
Ketzer, schickte man 100 Mann Einquartierung ins Haus. Zuerst verlockte man
die Bürger, sich mit schweren Summen von den Einquartierungen loszukaufen,
dann schickte man ihnen nichtsdestoweniger eine große Anzahl Soldaten zur
Verpflegung zu. Nur wer sich bei den Dominikanern Beichtzettel holte und so
seinen Übertritt zum Katholizismus bekundete, wurde des Druckes überhoben.
In die Wohnungen, in denen für Unterbringung der Soldaten der Raum zu
beengt war, .begab man sich haufenweise und forderte Speise und Trank; in
den Gasthäusern ließen sich die Lichtensteiner köstlich bewirten, führten am
andern Tage die Wirte in die Läden und zwangen die Kaufleute, Zahlung für
ihre Zeche zu leisten; den Ratskeller, in dem auf Rechnung der Kommune der
Ausschank fremden Weines betrieben wurde, plünderte man förmlich. Am Tage
nach der Ankunft der Lichtensteiner betrat der Prediger Bartsch zum letzten-
mal die Kanzel, verließ sie aber nach dem Gebete, weil der Lärm, den die
Die Belagerungen der Stadt im Dreißigjährigen Kriege. 249
Soldaten im Gotteshause machten, so groß war, daß er nicht predigen konnte.
Um nicht ganz ihres Glückes und Wohlstandes beraubt zu werden, wurden
viele Bürger zum Schein katholisch. Als die Lichtensteiner abzogen, setzten ihr
Werk die in die Stadt gerufenen Jesuiten fort. — Im Jahre 1632 wurde
Schlesien der Schauplatz des Krieges. Ein brandenbnrgisch-sächsisch-schwedisches
Heer besetzte Schweidnitz, trotzdem sich die Stadt durch Erlegung von 4500
Thalern von der Einquartierung losgekauft hatte. Die Soldaten lagen drei
Monate in der Stadt und in den Vorstädten. Damals wurden die Jesuiten
und katholischen Priester wieder vertrieben und die lutherischen Geistlichen
zurückberufen. Die so schwer heimgesuchte Stadt wurde im folgenden Jahre
(1633) so hart mitgenommen, daß nur noch wenige Bürger am Ende des
Jahres übrig waren. Im Mai vernichtete eine Feuersbrunst 520 Häuser, im
Juli wurde die Stadt durch die Kaiserlichen unter Wallenstein verheerend, aber
erfolglos beschossen, und die Pest raffte den größten Teil der Einwohnerschaft
fort. Erst gegen Pfingsten des Jahres 1634, als die Pest aufgehört hatte,
fing man mit Ernst an, auf die Wiederherstellung der Stadt hinzuarbeiten;
man begann sich wieder häuslich einzurichten, und die bürgerliche Betriebsam-
feit regte sich. Doch war der Krieg noch nicht zu Ende. Die Kaiserlichen und
mit ihnen die Jesuiten waren nach Schweidnitz zurückgekehrt. Da nahte sich
Torstenson mit einem schwedischen Heere im Jahre 1642 der Stadt, die sich
verteidigen wollte. Das kaiserliche Heer, das den Bürgern Hilfe zu bringen
suchte, wurde vor Schweidnitz von den Schweden gänzlich geschlagen, und nun
folgte eine wütende Beschießung der Stadt. Weil auf keine Hilfe mehr zu
rechnen war. mußten die Bürger sich der Gnade des Belagerers überlassen, und
wie an so vielen Orten wüteten auch hier die Schweden entsetzlich. Die schwe-
dische Besatzung sah die Bewohner der Stadt als einen Feind an und behandelte
sie als einen solchen. Damals verließ mancher sein Haus und wandte den
Rücken der Heimat, die ihm kein sicheres Obdach mehr bot. Aber noch war
das Maß des Unglücks nicht voll. Der Kaiser suchte wieder zu erobern, was
er verloren hatte, und wollte die schwedischen Besatzungen aus den Städten
seiner Länder vertreiben. Am 24. November 1643 langten kaiserliche Truppen
an, um Schweidnitz zu entsetzen, und die Blockade begann. Was nun die be-
drängte Stadt leiden mußte, spottet jeder Beschreibung. Die Hungersnot hatte
eine solche Höhe erreicht, daß Hunde-, Katzen- und Pferdefleisch für Lecker-
bissen galten; man bat den Scharfrichter um das Fleisch der gefallenen Tiere
zur Nahrung. Nach lange vergeblich wiederholten Bitten gab endlich der Kom-
Mandant den Bürgern, die es wünschten, freien Abzug, weil er hoffte, nach
Verminderung der Einwohnerzahl sein Heer länger halten zu können. Als die
Thore geöffnet wurden, verließen Hunderte, die fast verhungert waren, die
Stadt. Die Soldaten rissen die Häuser nieder, um Holz zu gewinnen. Am
Ende des Jahres standen nur noch 118 Häuser in höchst baufälligem Zustande.
Erst am 14. Mai 1644, nachdem die Hungersnot tatsächlich den höchsten Grad
erreicht hatte, erfolgte die Übergabe der Festung an die Kaiserlichen. Als 1648
Friede geschlossen wurde, lag Schweidnitz, dem ein besonders hartes Los zugefallen
war, in Schutt und Asche, die Bewohner waren größtenteils ausgestorben, Habe
und Gut dahingeschwunden und die Mittel völlig erschöpft, denn allein an Ver-
pflegungsgeldern für Einquartierung hatte die Stadt 373 160 Thaler ausgegeben.
250 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Die Preußen in Schweidnitz (1741). Unfälle mancher Art hatte '
Schweidnitz zu bestehen gehabt, aber sich immer wieder erholt, als am I.Januar
1741 einige preußische Truppen in die Stadt einzogen, denen am folgenden Tage
der Generalfeldmarschall Schwerin folgte. Ohne Widerstand zu erfahren, hatten
sich die Preußen in den Besitz der Stadt gesetzt, die von den Österreichern
schlecht bewacht und nicht im stände war, eine Belagerung auszuhalten. Am
26. Januar kam der König zum erstenmal nach Schweidnitz und gewann durch
sein freundliches Benehmen die Einwohner. Vier Wochen später verweilte er
zwei Tage in der Stadt; er ließ überall die kaiserlichen Doppeladler abnehmen
und den preußischen Adler an dessen Stelle setzen. Oberst Fouque wurde Kom-
Mandant der Stadt und traf Verordnungen, durch die er sich die Herzen der
meisten Bürger gewann, während nur die Katholiken sich freuten, wenn den
Preußen von Österreich her Gefahr drohte. Die verdächtigen Beamten wurden
entlassen, die Bürger leisteten den Unterthaneneid und ließen ein dreimaliges
„Es lebe Friedrich, der König von Preußen!" erschallen.
So war Schweidnitz eine preußische Stadt geworden und blieb unter dem
Zepter Preußens. Der Wohlstand des Örtes hob sich von Jahr zu Jahr durch
die Fürsorge der Regierung. Vom Jahre 1747 —1753 wurde Schweidnitz zu
einer Festung umgewandelt und außerhalb der Vorstädte wurden Forts und
Redouten angelegt.
Schweidnitz im Siebenjährigen Kriege. Im Jahre 1756 war das
Kriegsungewitter drohend ausgezogen. Nach dem für Friedrich unglücklichen
Ausgange der Schlacht bei Kollin fielen 1757 die Österreicher in des Königs
Lande ein. Der österreichische Feldherr Nadasdy rückte gegen Schweidnitz und
begann am 31. Oktober das Bombardement auf die Festung, die von mehr als
6000 Mann befetzt war. Groß war die Verwüstung und der Schaden, den
die Bürgerschaft infolge der Belagerung erfuhr, und die drohende Lebensgefahr
war geeignet, den Schrecken und das Entsetzen der Bewohner zu vermehren.
Schon am 1. November verursachte eine Bombe einen Brand, den der Wind
schnell von Haus zu Haus trug, so daß ein Teil der Stadt niederbrannte. Bis
zum 13. November hielt sich die Festung. An diesem Tage zogen die sieg-
reichen Österreicher ein, am 14. verließen die Preußen den Ort und streckten
die Waffen. Die Österreicher erbeuteten 130 Geschütze einen großen Munitions-
Vorrat und 236 000 Thaler Kassengelder. Für die Bürger folgten nun Tage
der Bedrückung und Erpressung; die Anhänglichkeit an die preußische Regierung
galt als Verbrechen, der österreichische Doppeladler wurde an die Stelle des
niedergerissenen preußischen Adlers gesetzt. Der Österreicher größtes Bemühen
war, das feste Bollwerk nicht wieder aus ihren Händen zu lassen. Ihre Be-
satzung wuchs auf 8000 Mann. Weil sie, als sich das Kriegsglück wieder für
Friedrich entschied, eine Belagerung durch die Preußen befürchteten, wurden
schnell die Verschanzungen verstärkt und Lebensmittel von allen Seiten in die
Festung geschafft; aber diese konnten nicht weit reichen, da die Zahl der essenden
Menschen sehr groß war. Viel Sorgen machte es den Bürgern, daß die La-
zarette sich mit Kranken füllten; es lagen am 20. Januar 1758 über 1600
Soldaten danieder. Der Kommandant traute vielen Bürgern nicht weit und
behandelte sie deshalb sehr streng. Am 1. April begann die lange gefürchtete
Belagerung, die der preußische Oberst Balbi leitete. Nach tapferer Verteidigung
Schweidnitz im Siebenjährigen Kriege. 251
streckten am 18. April 1758 die Österreicher die Waffen und wurden Kriegs-
gefangene. Auf diese Weise war Schweidnitz wieder in die Hände der Preußen
gefallen. Kurze Zeit hatte die österreichische Herrschaft gedauert; lange genug
hatte sie den Bewohnern geschienen, die der Drangsale so viele zu bestehen
gehabt hatten. Wiederum mußte der österreichische Doppeladler dem preußischen
einfachen Adler weichen, die Väter und Beamte der Stadt wurden wieder für
König Friedrich in den Eid genommen, die Gebäude wurden nur notdürftig
wieder hergestellt, weil zu befürchten stand, daß die Stadt im Verlaufe des
Krieges von einer abermaligen Belagerung heimgesucht werden könnte.
Kaum hatte in dem verhängnisvollen Jahre 1761 Friedrich sein Lager
bei Bunzelwitz in der Nähe von Schweidnitz verlassen, als die Festung von den
Österreichern angegriffen wurde.' In Schweidnitz waren ungefähr 500 Ge-
fangene, unter ihnen der Major Roea, der sich das besondere Vertrauen des
Kommandanten von Zastrow erworben und dem man mehr Freiheit bewilligt
hatte, als ratsam war. Roca hatte Gelegenheit, alle die Plätze zu erspähen,
die schwach verteidigt waren, und dem österreichischen General Laudon darüber
Mitteilungen zukommen zu lassen. Die Besatzung bestand aus nur 3800 Mann,
unter denen mehrere von nicht ganz zuverlässiger Gesinnung waren. Am 29.
September verabredeten sich der österreichische Generalfeldzeugmeister Laudon
und der russische General Czernitschesf eine Überrumpelung der Festung; die
Nacht vom 30. September zum 1. Oktober wurde-zur Ausführung des kühnen
Wagestückes bestimmt. Der Kommandant von Zastrow war nicht ganz in Un-
kenntnis über den feindlichen Anschlag gelassen teils durch Überläufer und
Bauern, teils durch eigne Wahrnehmungen. Er traf deshalb seine Vorkehrungen,
so gut er konnte. In der festgesetzten Nacht langten die Österreicher und Rusfen
gegen 2 Uhr in aller Stille bei der Festung an. Tapfer wurde gefochten, aber
der Widerstand der Preußen war erfolglos. Um 6 Uhr waren die Österreicher
Meister der Stadt. Sie hatten den Sieg teuer erkauft, denn sie hatten über
1500 Mann eingebüßt. Wieder begann die Plünderung. Mit Hieben und
Kolbenstößen wurden die Bürger mißhandelt, und rührend war es anzusehen,
wenn Kinder sich unter heißen Thränen an die Soldaten schmiegten und um das
Leben ihrer Eltern baten. Schränke, Tische, Kisten und Kasten wurden gewaltsam
aufgerissen; Kasfengelder, Kaufmannswaren, das bare Vermögen der Bürger
und wertvolle Effekten wnrden ein Raub der Plündernden, viele der Reichsten
kamen in wenigen Stunden an den Bettelstab. Dabei ist zu erwähnen, daß
die Rusfen die größte Mäßigung zeigten und sich nicht am Plündern beteiligten.
So war Schweidnitz wieder in den Händen der Österreicher und hatte
zum drittenmal in diesem Kriege seinen Oberherrn gewechselt. Die Bürger
ertrugen, was sie nicht ändern konnten, denn sie waren schwer geprüft. Die
Österreicher suchten sofort mit 6000 Soldaten und Bauern die Werke der
Festung wieder herzustellen und noch fester zu machen, als sie vor der Er-
stürmung waren; sie boten alle Mittel auf, den Platz zu behaupten, während
Friedrich, den die Nachricht von der Erstürmung der Festung sehr niedergebeugt
hatte, Zeit und Gelegenheit suchte, den Waffenplatz, dessen Wichtigkeit für den
Feldzug in Schlesien er mit richtigen Blicken ermaß, wieder zu erobern.
Als die Preußen am 21. Juli 1762 bei Burkersdorf gesiegt hatten,
schritten sie zur Belagerung des Platzes, der nun außerordentlich fest war,
252 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
dessen Besatzung und Bürger sich mit Lebensmitteln auf drei Monate versehen
hatten. Die Belagerung selbst begann am 7. August abends. Bei Tag und
Nacht wütete der Kampf über und unter der Erde, denn Minen und Galerien
wurden angelegt, damit man dem Feinde nahe käme. Sehnlichst wünschten di?
Bürger den Ausgang der Belagerung und die Übergabe des Waffenplatzes an
die Preußen. Der Generalleutnant von Tauentzien forderte vergeblich zur
Kapitulation auf, die Österreicher hielten aus. Ein Werk des Zufalles wurde
endlich Veranlassung zur Übergabe der Festung. Eine preußische Granate fand
den Weg zu einem feindlichen Pulvermagazin, zündete es an, und die Bastion
eines Forts wurde mit zwei Kompanien in die Luft gesprengt. Da erst kapi-
tnlierte der Kommandant am 9. Oktober. Um 7 Uhr morgens am 11. Oktober
rückten die Preußen in Schweidnitz ein, um von der Festung Besitz zu nehmen,
die österreichische Besatzung (3 Generale, 17 Stabsoffiziere, 219 Offiziere,
8734 Mannschaften, 4 Geistliche, 40 Medizinalbeamte) marschierte mit klingen-
dem Spiele ab und streckte das Gewehr.
Schweidnitz war und blieb fortan preußisch. Im Jahre 1307 hielt es
sich süns Wochen gegen die Bayern; seit 1864 ist es aus der Zahl der Festungen
ausgeschieden. Jetzt hat Schweidnitz 19 500 Einwohner, von denen sich viele durch
die Bebauung des fruchtbaren Ackers nähren, auf dem Flachs, Hanf und Getreide
gebaut wird. Seitdem es aufgehört hat, Festung zu sein, hat es durch Anlagen
von Promenaden und ausgedehnten Plätzen an Schönheit gewonnen; es hat ein
altes Rathaus mit einem Turm, zwei evangelische und zwei katholische Kirchen.
Friedrich im Lager von Lmyelwitz. Nördlich von Schweidnitz liegt der
Ort Königszelt, der erst seit dem Jahre 1863 besteht. Bis zu dieser Zeit
gehörte der kleine Ort zur Gemeinde Bunzelwitz; er ist entstanden, als die
Breslau-Waldenburger Bahn gebaut wurde. Von dort aus wurde 1844 die
Seitenlinie südlich nach Schweidnitz, 1856 die nördlich nach Striegau angelegt.
Den schönen Namen Königszelt erhielt das 1000 Einwohner zählende Dorf,
weil man das Andenken an Friedrichs des Großen Wohnen in einem Zelte im
Lager des nahen Bunzelwitz im Jahre 1761 verewigen wollte.
Das Jahr 1761 war für Friedrich II. ein Jahr der höchsten Not. Die
Russen unter Butturlin und die Österreicher unter Laudon hatten zusammen
fast 150 000 Mann, Friedrich nur 50 000 Mann. Der König suchte durch
geschickte Märsche die beiden feindlichen Heere, die sich vereinigen wollten, um
ihn anzugreifen, auseinander zu halten. Aber Laudon wußte es so geschickt
einzurichten, daß er am 12. August unweit Striegau mit den Russen zusammen-
traf. Nun war die Lage des Königs äußerst gefährlich geworden, weil man
ihn schnell von drei Seiten eingeschlossen hatte. Friedrich entwich auf dem
Wege nach Schweidnitz und blieb auf offenem Felde mit seinem Heere bei
Bunzelwitz. Der feindlichen Übermacht eine Schlacht anzubieten, wäre eine
Verwegenheit gewesen, denn selbst der Sieg wäre nur mit den bedeutendsten
Opfern zu erringen gewesen und hätte keine Vorteile gebracht, eine Niederlage
aber hätte die schrecklichsten Folgen gehabt. Deshalb ließ Friedrich ein möglichst
fest verschanztes Lager aufschlagen. Einige Gegenden des Lagers waren durch
Moräste, andre durch das Striegauer Wasser gedeckt. Um das ganze Lager
wurden tiefe Gräben aufgeworfen, von denen einige eine Tiefe von 5 m
Friedrich im Lager von Bunzelwitz. 253
hatten. Vor den Linien rammten die Soldaten Palissaden ein, und vor diesen
wurden noch drei Reihen Wolfsgruben gegraben, die 2 m tief waren. Vier
verschanzte Hügel innerhalb des Lagers stellten Bastionen vor, und der so-
genannte Würbener Berg war einer Zitadelle ähnlich. Überall wurden Bat-
terien angelegt. Man hatte zusammen 460 Geschütze und 133 Minen dem
Feinde entgegenzustellen. Alle befanden sich auf Anhöhen, deren Zugänge auch
schon von der Natur durch Bäche und sumpfige Wiesen beschwerlich gemacht
waren. Die eine Hälfte des Heeres arbeitete immer und die andre ruhte. So
ging es Tag und Nacht ununterbrochen fort.
Bnttnrlin und Laudon wollten den König angreifen, aber ehe sie noch
ihren Kriegsplan entworfen hatten, war aus dem Lager eine uneinnehmbare
Festung geworden. Jetzt wollte der russische General die Verantwortlichkeit
für ein ihm tollkühn scheinendes Unternehmen nicht auf sich laden und weigerte
sich, feine Truppen gegen das Lager zu führen, so sehr auch Laudon in ihn
drang. Friedrich aber war jeden Augenblick zum Kampfe vorbereitet. Bei
Tage mußten seine Soldaten rasten; sobald aber die Abenddämmerung anbrach,
wurden die Zelte abgebrochen, und alle Regimenter traten hinter ihren Ver-
schanzungen ins Gewehr. So standen Fußvolk, Reiterei und Geschützmacht
alle Nächte in Schlachtordnung. Der König befand sich gewöhnlich bei einer
Hauptbatterie und teilte alle Anstrengungen mit seinen Leuten. Meist brachte
er die Nacht mitten unter den Soldaten am Wachtfeuer zu auf bloßer Erde
oder auf einem Bund Stroh. Erst nach Aufgang der Sonne legten die Truppen
ihre Waffen nieder.
Hatten die preußischen Truppen in ihrem befestigten Lager auch keine er-
müdenden Märsche und andre Kriegsstrapazen zu bestehen, so war ihre Lage
doch sehr beschwerlich. Die Hitze war drückend und an Lebensmitteln nichts
als Brot vorhanden. Es fehlte an Schlachtvieh und an Gemüse; die Soldaten
hatten nichts zu kochen und wurden des Wassers und Brotes überdrüssig. Hierzu
kam das Bedürfnis nach Schlaf, das alle Tage dringender wurde, da an keine
nächtliche Ruhe zu denken war. Das Mißvergnügen der Truppen beim ganzen
Heere war allgemein, und Friedrich mußte dies mit ansehen, ohne die Lage seiner
Krieger verbessern zu können. Von der Außenwelt empfing er keine Nachricht:
von seinem Lande, von aller Welt war er abgesperrt. Das waren schwere
Tage, vielleicht die schwersten im Siebenjährigen Kriege.
Nicht die Preußen allein hatten mit Entbehrungen zu kämpfen; auch im
feindlichen Lager herrschte Not und zum Teil noch größere Mißstimmung.
Friedrich wußte dies und erwartete daher alles von der Zeit und noch mehr
vom Hunger. Er selbst hatte wenigstens Brot für die Soldaten und Futter
für die Pferde. Der Mangel an den notwendigsten Bedürfnissen konnte nicht
ausbleiben bei den zahlreichen feindlichen Heeren, die, zwischen Bergen ein-
geschränkt, unmöglich fortdauernd Unterhalt finden konnten. Der König hatte
Sorge getragen, daß den Feinden alle Zufuhren abgeschnitten wurden. Der
General von Platen fiel den Russen in den Rücken und bemächtigte sich einer
wohlverschanzten Wagenburg mit vielen Lebensmitteln und Kriegsvorräten, ja
er bedrohte sogar das russische Hauptmagazin in Posen, wodurch die Russen in
solche Angst gerieten, daß sie ihren Rückzug antraten. Nachdem sie also zwanzig
Tage Entwürfe gemacht und verworfen hatten, zogen sie uuverrichteter Sache ab.
254 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Butturlin ging am 13. September über die Oder und ließ nur den
General Czeruitscheff mit 20 000 Mann bei den Österreichern zurück. Diese
Nachricht erregte einen Jubel im preußischen Lager, als ob man den herrlichsten
Sieg erfochten hätte. Obgleich das Heer Laudons mit den zurückgebliebenen
Russen noch doppelt so stark war wie das preußische, so waren die Preußen
doch sicher, da die Verbindung mit der Außenwelt wieder hergestellt war und
das Lager mit Lebensmitteln reichlich versehen werden konnte.
Friedrich blieb nach dem Abmarsch der Russen nur noch 14 Tage in seinem
Lager, dann nahm er seinen Marsch nach Münsterberg.
Die Erinnerung an dieses Lager wird durch einen Gedenkstein im Wäldchen
am Nordende des Bahnhofs von Königszelt wachgehalten. Im Jahre 1791
wurde dort eine abgestumpfte Pyramide errichtet, auf der eine Vase ruht; die
Inschriften an den vier Seiten melden Widmung, Zweck und Gründung derselben.
Die Schlacht bei Burkersdorf am 21. 3uli 1762, Ungefähr ebensoweit
nach Süden hin von Schweidnitz entfernt, wie Königszelt und Bunzelwitz nach
Norden hin von dieser Stadt liegen, stoßen wir im Thale der Weistritz
auf das Dorf Burkersdorf, welches den großen Friedrich im Jahre 1762 in
großer Verlegenheit sah. Zwar hatte sich der König in Bunzelwitz im Jahre
1761 gehalten, aber als er abgezogen war, hatte ihm Laudon die Festung
Schweidnitz entrissen. Die Sorgen und Mühen schienen nicht enden zu wollen.
Da kam ihm plötzlich Rettung von einer Seite, von der sie kein Mensch er-
warten konnte. In den ersten Tagen des Jahres 1762 starb Elisabeth, die
Kaiserin von Rußland, Friedrichs unversöhnlichste Feindin, und ihr folgte auf
dem Throne ihr Neffe Peter III., ein eifriger Verehrer des großen Königs.
Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt machte er Frieden mit Preußen,
schloß sogar mit dem König Friedrich ein Bündnis und ließ dieselben Russen,
die eben noch als Friedrichs Feinde in Schlesien gewesen waren, als Verbündete
in einer Stärke von 20 000 Mann unter dem General Czernitscheff zu ihm
stoßen. In Verbindung mit diesen neuen Freunden hoffte Friedrich die Öfter-
reicher, denen das Bündnis ihrer Feinde höchst unerwartet kam, zu schlagen.
Um Schweidnitz, das die Österreicher stark befestigt hatten, sollte die ent-
scheidende Schlacht stattfinden. Alsbald aber kam über den Preußenkönig das
Unglück eben so schnell wie vor wenigen Monaten das Glück. Peter III. war
in Rußland entthront und ins Gefängnis geworfen worden. An seine Stelle
war seine Gemahlin Katharina getreten, die für Friedrich nicht die Zuneigung
ihres unglücklichen Gemahles hegte, fondern an Czernitscheff den Befehl stindte,
mit seinem Korps unverzüglich die preußische Armee zu verlassen und sich nach
Polen zurückzuziehen. Diese Nachricht brachte der russische General dem Könige
am 18. Juli, gerade als die Schlacht in wenigen Tagen geliefert werden follte.
Ein Donnerschlag aus heiterem Himmel kann aus ein schreckhaftes Gemüt nicht
heftiger und erschütternder wirken, als diese Botschaft auf den König wirkte.
Czernitscheff verehrte Friedrich den Großen und wollte ihm gern gefällig sein,
aber er mußte gehorchen. Als sich nun der König schnell faßte, seine Pläne
änderte und den General bat, er 'möchte nur drei Tage den Befehl seiner
Kaiserin geheim halten und dann während der Schlacht, welche die Preußen
den Osterreicheru liefern würden, ein müßiger Zuschauer sein, entgegnete
Die Schlacht bei Reichenbach am 16. August 1762. 255
Czernitscheff: „Machen Sie mit mir, was Sie wollen, Sire. Was ich Ihnen
zu thun verspreche, kostet mir wahrscheinlich das Leben; aber hätte ich deren
zehn zu verlieren, ich gäbe sie gern hin, um Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Sie liebe."
Czernitscheff blieb. Friedrich aber nutzte die kurze Spanne Zeit, die ihm
gegeben war, vortrefflich aus und stellte am 20. Juli fein Heer zwischen Schweid-
nitz und den Höhen von Burkersdorf, auf denen die Österreicher standen, ans.
Der österreichische General Daun hatte eine scheinbar uneinnehmbare Stellung
genommen auf Höhen, die jäh und steil abfallen und mit den nicht minder
schroffen Leutmannsdorfer Bergen eine Hügelkette bilden. Durch Schluchten.
Abgründe, Gräben und Gebüsch war der Zugang zu dem Lager überaus erschwert.
Mit großer Sorgfalt suchte sich Friedrich von der Örtlichkeit und den Be-
festigungswerken zu unterrichten. Sein Geschütz ließ er sich dnrch Kanonen, die
von Breslau herbeigeschafft wurden, verstärken. Während der ganzen Nacht vom
21. Juli wurden die Geschütze aufgefahren und alles zum Kampfe vorbereitet.
Beim Anbruch des 21. Juli wurden die Regimenter zum Angriff beordert.
Die Soldaten mußten die steilen Abhänge erklettern und erst oben einen festen
Stand zu gewinnen suchen. Es empfing sie ein furchtbarer Kartätscheuhagel,
so daß Hunderte zu Boden stürzten. Mehrere Abteilungen wichen sogar zurück,
aber unaufhaltsam schickte ihnen Friedrich Verstärkungen nach, bis die Höhen
zum Teil besetzt waren. Erst nachdem er einige Regimenter auf den Höhen
hatte, fiel er dem bestürzten Feinde in den Rücken. Nun kletterten die Preußen
wie die Katzen an den jähen Abhängen in die Höhe; die Österreicher wehrten
sich tapfer, aber in vier Stunden waren alle Anhöhen erobert und der Feind
im vollen Rückzüge.
Die Russen standen in Reihe und Glied und schauten dem Kampfe zu;
die Österreicher waren der Meinung, jene seien noch ihre Feinde, und mußten ihnen
deshalb einen Teil ihres Heeres entgegenstellen. Friedrich hatte also erreicht, was
er wollte; er hatte seine Feinde getrennt. Nach der Schlacht versorgte Friedrich
die Armee reichlich mit Lebensmitteln und schenkte dem General einen kostbaren,
mit Brillanten besetzten Degen und dankte ihm für sein Entgegenkommen.
Die Schlacht bei Selchenbach am 16. ÄuguIi 1762. Südöstlich von
Burkersdorf liegt die Kreisstadt Reichenbach, die zum Unterschied von andern
Städten gleichen Namens den Zunamen „unter der Eule" oder „in Schlesien"
führt. Am Fischerberge in der Nähe von dieser alten Stadt, die durch die Hussiten
und im Dreißigjährigen Kriege viel zu leiden hatte, standen sich im Sieben-
jährigen Kriege zum letztenmal Österreicher und Preußen auf offenemFelde gegen-
über in einem Kampfe, in welchem die Preußen über Laudon Sieger blieben.
Auch sonst ist Reichenbach noch geschichtlich bekannt, denn hier fand im
Jahre 1790 der Kongreß statt, auf dem zwischen Prenßen, Polen, England.
Holland und Österreich die Konvention abgeschlossen wurde, durch welche der
Weiterbestand der Türkei gesichert blieb; hier wurden im Jahre 1813 im Haupt-
quartier des Kaisers von Rußland und des Königs von Preußen zwischen den
Staatsministern dieser Monarchen und dem britischen Gesandten während des
Waffenstillstandes die Verhandlungen gepflogen, an die sich der am 14. und
15. Juni 1813 abgeschlossene doppelte Snbfidienvertrag anreihte, welcher den
Abbruch der Friedensverhandlungen in Prag herbeiführte.
256 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
Vit Pässe aus Ofterreichlsch-Schlesien. Die Kette der Sudeten ist mit dem
Jsergebirge, dem Riesengebirge, dem Waldenburger Bergland und dem Glatzer
Gebirge noch nicht abgeschlossen. Das Gebirge setzt sich in derselben Richtung
von Nordwesten nach Südosten noch weiter fort in dem Altvatergebirge oder
dem mährisch -schleichen Gesenke. Dies hat seinen Namen wohl nicht, weil
es sich nach dem Flusse March und dessen buntem Wiesen- und Ackerthale hin-
senkt, sondern es heißt eigentlich Gessenike (von jesnik, Esche), Eschengebirge.
Das Gesenke gehört in seinen südlichen Abschnitten zu Mähren, im inneren
Kern zu Österreichisch-Schlesien und nur in den nördlichen und nordöstlichen
Ausläufern und Absenkungen zu Preußisch-Schlesien.
Während die nordwestliche Hälfte des etwa 75 km langen Gebirges nicht
viel hinter den erhabensten Kuppen und Rücken des Riesengebirges zurück-
steht, kann die südöstliche Hälfte eigentlich nur als eine Zusammensetzung und
Anhäufung von niedrigen Bergen und wellenförmigen Flächen gelten; sie stellt
eine hier und da bewaldete, weit mehr jedoch bebaute Berglandschaft dar, welche
zu den gangbarsten Teilen der Sudeten gehört und von Straßen aller Art
durchzogen wird.
Diese Abflachung und der Mangel eines schärfer ausgeprägten und zu-
sammmeuhäugenden Kammes hat unstreitig dazu beigetragen, daß dort die
Sudeten, die sonst in ihrer ganzen Ausdehnung Schlesien von Böhmen und
Mähren trennen, fast niemals eine besondere politischeLandesgrenze gebildet haben.
Nach Osten hin flacht sich das niedere Gesenke, wie man den südöstlichen
Teil des Gebirges nennt, so ab zwischen der Oppa und dem obersten Laufe der
Oder, daß diese an ihm entlang da, wo sie nach Norden ihren Lauf beginnt,
in dieser Richtung mit Leichtigkeit ihren Weg verfolgen kann, gerade so wie die
östlich benachbarte Senkung der Vorkarpathen der Weichsel, die dort etwa in
einer Entfernung von 15 km mit der Oder parallel fließt, in nordöstlicher
Richtung Raum zu bequemem Weiterkommen gewährt. Indem nun in eben
denselben Richtungen die Ebenen von Schlesien und Polen an jenes Gebiet der
Oder und Weichsel sich anschließen, unmittelbar südlich dagegen in dem Thale
der March die große Landaustiefung von Mähren bis zur Donau und gegen
Wien hin sich öffnet, war von der Natur selbst eine weite und lange Straße
zwischen dem Süden und Norden, zwischen Wien und der Ostsee angebahnt,
als deren Durchgangsthor das Thal zwischen den äußersten Senkungen der
Gebirge an der Oder und Weichsel betrachtet werden kann.
Diese Pforte öffnete den Verkehrs- und Handelszügen von Süden her
den natürlichsten und kürzesten Weg nach Norden; die Öffnung selbst war für
die Verbindung hinlänglich bequem, und so konnte es nicht fehlen, daß diese so-
genannte mährische Pforte von alten Zeiten her durch Völker- und Handelszüge
belebt und eins der merkwürdigsten Völker- und Verkehrsthore des ganzen
Donau-, Oder- und Weichselgebietes wurde. Hier zogen römische Kaufleute
längs der March ins Weichsel- und Oderland und handelten nordische Waren
ein, insbesondere aus den fernen Küstengegenden des Baltischen Meeres den
Bernstein. Noch mehr wurde der Verkehr belebt, seitdem die deutschen Ritter
in dem Mündungsgebiete der Weichsel ihren Ordensstaat zu begründen an-
gefangen hatten. Da zogen durch diese mährische Pforte aus vielen deutschen
Ländern Fürsten und Ritter zu frommer Hilfe.
Die Pässe aus Osterreichisch-Schlesien. 257
Auch durch Völker- und Heereszüge finden wir in den verschiedenen Jahr-
Hunderten die mährische Pforte belebt. So drängten während der römischen
Kaiserzeit Quaden, Markomannen, Sarmaten und andre Völker auf diesem
Wege nach den unteren March- und Donaugegenden; so zogen später im 13.
Jahrhundert mongolische Horden, im 17. schwedische und polnische, im 18.
preußische, im 19. russische Heerhaufen durch diese Pforte nach Süden bald zur
Hilfe, bald zur Bedrängung und Gefährdung; und Olmütz, deffen Gegend ein
berühmtes Schlachtfeld ist, hat vorzugsweise zur Bewachung dieserHaupteinbrnchs-
station seine Befestigung erhalten, sowie auf der nördlichen Seite.des Gesenkes
Kosel und Neiße gegen südliche Feinde eine gleiche Bestimmung erhalten haben.
Friedrich II. bricht in Schlesien ein (1740). Nach E. Hunten.
Die nordwestliche Hälfte des Gebirges, die auch wohl das Hohe Gesenke
heißt, bildet drei durch tiefe Thaleinschnitte und Gebirgsspalten voneinander
gesonderte Hochmassen, welche außerdem noch von mehreren andern sehr an-
sehnlichen Erhebungen umgeben sind.
Die höchste Erhebung des Gesenkes ist der Altvater, und nach ihm heißt
das Gebirge auch das Altvatergebirge. Der Altvater, der auch der mährische
oder Neißer Schneeberg heißt, ist 1487 m hoch. Sein Scheitel ist eine flach-
gewölbte Kuppe; keine Spitze begünstigt eine Umsicht von ihm aus, niedriges
Gras bekleidet ihn. Trotzdem reicht die Aussicht, die er gewährt, iu weite
Ferne bis zur Oder und den Karpathen. Auf dem Berge steht ein Stein, der
Deutsches Land und Volk. VIII. 17
258 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
zwar nicht, wie der Glatzer Schneeberg, das Zusammenstoßen dröier Länder,
aber doch die Grenzen dreier Herrschaften in Schlesien und Mähren bezeichnet.
Die Nordseite des Steines zeigt in erhabener Arbeit den Bischofshut und Krumm-
stab mit dem Zeichen „E. "W. 1721", d. h. Episcopus Wratislaviensis, weil
die Besitzungen des Breslauer Bischofs im österreichischen Schlesien bis dorthin
reichen. Auf der Südostseite finden wir ein Ordenskreuz mit vier Lilien-
Verzierungen mit den Buchstaben „F. L.", d. h. Franz Ludwig, der damalige
Hoch- und Deutschmeister, also Inhaber der Herrschaft Freudenthal. Au der
Sudwestseite, ist ein Löwe abgebildet, das Symbol der Herrschaft Wiesenberg
in Mähren.
Die drei Straßen, welche uns von Österreich nach dem preußischen Schlesien
sühreu, sind folgende: 1) Von Sternberg in Mähren, das bekanntest durch
sein Liechtensteiner Schloß, seine Fabrikation von Leinen- und Baumwollen-
zeugen, seinen Kirschenbau, gelangen wir in nordöstlicher Richtung nach dem
Städtchen Freudeuthal im österreichischen Schlesien, einer Besitzung des deutschen
Ritterordens, zu der auch der nahe Badeort Karlsbruuu oder Hinnewieder
gehört. Die Straße führt uns weiter nach Jägerndorf an der Oppa, dem
Hauptort des seit 1623 dem Fürsten von Liechtenstein gehörenden Herzogtums,
mit zwei Kirchen und Schloß Lobenstein und der Ruine Schellenberg. —
2) Von Hohenstadt an der March kommen wir über Goldenstein nach Frei-
Waldau an der Biela, am Fuße der Goldkappe, einer österreichischen Besitzung
des Fürstbischofs von Breslau, die durch ihre Leinenfabriken wichtig ist, und
von dort,nach Zuckmantel, das am Fuße der 813 m hohen Bischofskoppe liegt.
Zuckmantel ist ein freundliches Städtchen mit 4900 Einwohnern, dessen Häuser
in einer langen Reihe stehen. Hier entstand durch den Papierfabrikanten Weiß
seit 1841 die erste Fabrik von Waldwolle zur Füllung von Matratzen u. s. w.,
die aus Fichtennadeln präpariert wird. Die nahe Bischofskoppe ist der letzte
bedeutende nördliche Bergvorsprung des Gesenkes; sie hat die Gestalt einer
Glocke und wird, weil sie eine herrliche Aussicht nach Schlesiens Flächen bis
zu den Karpathen hin gewährt, viel besucht, obgleich die Ersteigung, da der
Berg sehr steil ist, nicht ohne Mühe geschieht, und heißt auch der oberschlesische
Zobten. Nordwestlich von Zuckmautel liegt die kleine preußische Stadt Ziegen-
hals. — 3) Zu demselben Ziele, nach Zuckmautel und Ziegenhals, können wir
auch gelangen von Freudenthal über Engelsberg und das östlich vom Altvater
gelegene Würbenthal und Hermannstadt.
Neiße. Allen diesen Pässen ist auf der preußischen Seite als Riegel vor-
geschoben die Festung Neiße, die älteste deutsche Stadt Oberschlesiens. Schon
um 1015 soll eine dem Apostel Jakobus und der heiligen Agnes gewidmete
Kapelle dort vorhanden gewesen sein. Als Jaroslaw im 46. Jahre seines
Lebens in den geistlichen Stand trat, verzichtete er auf die Nachfolge in der
Regierung des väterlichen Landes — er war ein Sohn Boleslaws des Langen
zu gnnsten seiner jüngeren Brüder, behielt aber für sich die Fürstentümer Oppeln
und Neiße. Oppeln fiel nach seinem Tode an den ihn überlebenden Vater
zurück, das Fürstentum Neiße aber vermachte er bei seiner Erhebung auf den
bischöflichen Stuhl im-Jahre 1199 mit Genehmigung seines Vaters Boleslaw
auf ewige Zeiten der schleichen Kirche. Die Folgen dieses Vermächtnisses an
Neiße. 259
das Bistum waren von großer Wichtigkeit und bis in die späteste Zeit von
hoher Bedeutung, denn das Bistum gelangte durch dasselbe zu äußerem Glanz
und hohem Ansehen. Indem Neiße einen kleinen Kirchenstaat in Schlesien bil-
dete, hatte das Bistum mit Recht den Namen des goldenen verdient, den es
in der Folge führte. Weil die Bischöfe von Breslau in die Reihe der welt-
lichen Fürsten von Schlesien traten, behaupteten sie von dieser Zeit an einen
bedeutenden Rang unter den schleichen Fürsten, den sie auch unter der Ober-
Hoheit der böhmischen Könige behielten.
Neiße.
Da Neiße bis zur Säkularisation im Jahre 1310 eine rein katholische
Stadt blieb, die Versuche, die Reformation einzuführen, durch die Anstrengungen
der Bischöse fast erfolglos blieben, so hatte es die inneren Unruhen und bürger-
lichen Zwistigkeiten nicht durchzumachen, von denen so viele Städte Schlesiens
heimgesucht wurden.
Als Friedrich II. in Schlesien im Jahre 1741 einrückte, richtete er sofort
sein Augenmerk auf das befestigte Neiße und ließ es, weil es ihm nicht die
Thore öffnete, fondern sich zur Wehr setzte, am 19., 20. und 21. Januar be-
schießen, ohne jedoch Erfolg zu haben. Die rauhe Jahreszeit, der heftige
Widerstand und die Schwäche' des Belagerungskorps bestimmten den König,
seine Truppen die Winterquartiere beziehen zu lassen. Maria Theresia freute
sich über die von den Bürgern bewiesene Anhänglichkeit an Österreichs Sache,
lobte die Bewohner von Neiße und sandte ihnen Truppen, welche die Stadt
17*
260 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
noch besser gegen die Preußen schützen sollten. Nach dem Abzüge der Preußen
wurde Neiße reichlich mit Lebensmitteln versehen und noch stärker befestigt.
Dennoch mußte es, als die Preußen die Belagerung wieder aufnahmen, am
1. November 1741 kapitulieren. Am 2. November zog der König Friedrich II.
an der Spitze von 6000 Mann feierlich in die Stadt ein.
Bald nach der Einnahme beschloß der scharfblickende Herrscher, Neiße zu
einem wichtigen Hauptwaffenplatze zu erheben, und erteilte die nötigen Befehle.
Am 29. März 1742 wurde zu der neuen Festung und dem Fort Preußen der
Grundstein gelegt. Als Meister der Kriegskunst ordnete der König zum großen
Teil selbst an, was für die Befestigung von Neiße gethan werden sollte. Bis
# zum Jahre 1756 wurde rastlos gearbeitet, so daß Neiße aus seinen Vorrats-
Häusern eine in Mähren operierende Armee versorgen konnte. Im August 1758
wurde Neiße von den Österreichern eingeschlossen, die dem Verteidiger, dem
General von Treskow, öfter Anträge zur Kapitulation machten. Nach der
Niederlage Friedrichs bei Hochkirch galt das schwach besetzte Neiße in den Augen
der Welt für verloren, uud dennoch hielt es sich und Friedrich entsetzte es.
Der österreichische Feldherr Daun sah die heiß ersehnte Siegesfrucht sich ent-
rissen, als er sie schon erhascht zu haben glaubte; Friedrichs kühner, schneller
und musterhafter Marsch hatte Neiße befreit.
Denkwürdig ist die Zusammenkunft Friedrichs II. mit Joseph II. in Neiße
im Jahre 1769. Der Kaiser Joseph wünschte den großen Gegner seines Hauses
persönlich kennen zu lernen und traf unter dem Namen eines Grafen von
Falkenstein am 25. August 1769 in Neiße ein und nahm seine Wohnung in
dem Gasthofe zu den drei Kronen. Der König war bereits am 21. dieses
Monats zu einer großen Heerschau dort angekommen.
Nach drei bitteren und blutigen Kriegen zwischen Preußen und Österreich
mußte es ein höchst merkwürdiges und erfreuliches Zusammentreffen der beiden
Fürsten werden. Mit Recht sah man diesen Besuch als einen Beweis dafür an,
daß aller Groll und alle Zwietracht zwischen beiden regierenden Häuptern er-
loschen sei. Kaum war der Kaiser in dem ihm zur Wohnung angewiesenen
bischöflichen Palast angekommen, als ihn der König mit seinem Besuche über-
raschte. „Nun sehe ich die Erfüllung aller meiner Wünsche", rief jener, und
dieser antwortete: „Dies ist der schönste Tag meines Lebens! Er wird die
Epoche der Vereinigung zweier Häuser sein, die zu lange Feinde gewesen sind
und deren gegenseitiges Interesse es erfordert, sich einander eher beizustehen
als sich aufzureiben." Der Kaiser erwiderte: „Für Österreich gibt es kein
Schlesien mehr." Beide Herrscher unterhielten sich wie zärtliche Freunde geheim
und vertraut. Noch war das Mordgewühl des Siebenjährigen Krieges in frischem
Andenken. Jetzt sah man die Monarchen der beiden einst feindlich sich gegen-
überstehenden Staaten sich umarmen und die Generale Seydlitz, Tanentzien mit
Lasey und Laudon und andern friedlich an einer Tafel speisen. Der König
machte hier gelegentlich dem General Laudon, den er an seine Seite nötigte,
das bedeutende Kompliment: „Ich sehe Sie lieber an meiner Seite als mir
gegenüber."
Die Arglist und Gewalt des Corsen Napoleon, der im Vertrauen auf seine
soldatische Überlegenheit Krieg auf Leben und Tod gegen die Staaten führte,
hatten es dahin gebracht, daß der größere Teil Deutschlands ihn, gegen den
Neiße. 261
es sich hätte schützen sollen, zum Schutzherrn erwählte. Preußen rüstete gegen
den Imperator mit Zusammenraffung aller Kräfte im Jahre 1806 zum Streit;
aber bald nach der Kriegserklärung folgte Schlag auf Schlag. Schon am 13.
Januar 1807 standen die Vorposten der mit den Franzosen verbündeten Bayern
nur eine Meile von Neiße. Diese Feste, durch das Beispiel der übrigen gewarnt,
auf lange Zeit mit Mundvorrat und Kriegsschützzeug, auch mit einer Besatzung
von mehr als 8000 Mann ausgerüstet, stand unter dem Kommando der Ge-
nerale von Steensen und von Wegern. Gegen Ende des Februar begann
Vandamme mit württembergischen Hilfsvölkern die Belagerung. Die Besatzung
der Festung hält sich tapfer trotz der fürchterlichsten Angriffe. Bomben und
Granaten fallen in zahlloser Menge auf die Schutzwerke und Gebäude der Stadt.
Ein Munitionskarren wird von einer feindlichen Granate getroffen, und mit
einer alles erschü!ternden Explosion werden Artilleristen und Pferde zerstückelt.
Eine Bombe schlägt in das Salzmagazin, die Kirche und das Kollegium der
Jesuiten gerät in Feuer und die stolz sich erhebenden brennenden Türme gewähren
ein schauerlich schönes Schauspiel; die schmelzenden Glocken entstürzen der Höhe,
den in dem Kollegium geborgenen Mundvorrat verzehrt die Glut. Verwüstung
folgt auf Verwüstung, Belagerer und Belagerte gönnen sich keine Ruhe.
°Jm Anfange des Monats Mai hatte die Besatzungsmannschaft schon über
1000 Mann verloren; die Befestigungswerke waren durch das feindliche Geschütz
zum Teil ruiniert; die Nahrungsmittel wurden immer knapper, trotzdem der
einzelne Mann in der Woche nur 1/2 Pfund gesalzenes und 1j<.A Pfund frisches
Fleisch erhielt. Obwohl gegen Ende des Mai die Mannschaft in Neiße auf
zwei Dritteile der anfänglichen Stärke zusammengeschmolzen war, die Soldaten
auch infolge des schweren Dienstes und der schlechten Nahrung meist kraftlos
und kränklich waren, fo wurde doch im Kriegsrate, weil noch bis zum 15. Juni
der Pulvervorrat ausreichte, beschlossen, die Verteidigung fortzusetzen; aber der
Zustand der Dinge änderte sich durch eine Unterredung zwischen Vandamme
und Steensen. Die beiden Generale einigten sich dahin, daß die Festung Neiße
mit dem Fort Preußen, wenn bis Zum 16. Juni keine Hilfe anlange, an diesem
Tage dem Belagerungskorps übergeben werden solle; daß aber bis zu diesem
Termine alles in einstweiliger Verfassung und in Waffenruhe bleiben, von beiden
Teilen keine neuen Arbeiten vorgenommen werden sollen; daß, wenn während
dieser Zeit irgend ein Entsatz herankäme, der Waffenstillstand als beendigt anzu-
sehen und die Garnison zu dem freien Gebrauche ihrer Verteidigungsmittel zu
schreiten berechtigt sei. Zu diesem Schritte sah sich der Kommandant gezwungen
infolge der beträchtlichen Verminderung seiner Garnison, des Mangels an barem
Gelde, frischem Fleische und Heilmitteln. Auch war das Pulver schon auf nur
1900 Zentner geschmolzen, während über 6000 Zentner bereits verschossen
waren. Am 15. Juni, dem Tage der Übergabe der Festung, zogen nur 3700
Mann Infanterie und Artillerie, 400 Mann Kavallerie ab; in den Lazaretten
blieben über 600 Kranke und Verwundete zurück. Der Feind ehrte die Aus-
dauer der Verteidiger des ihnen anvertraut gewesenen Platzes, besonders den
Mut und die geschickte Umsicht der Artillerie und des Jngenienrkorps. Vandamme
selbst schrieb am 15. Juni an den General Steensen, daß die Verteidiger Neißes
bei ihm in hoher Achtung ständen und er es sich zum Ruhm anrechne, einem
Feinde begegnet zu sein, der seiner Pflicht in so würdiger Weise genügte.
262 Die schlesischen Gebirgspässe und ihre Riegel^
Nun wurde Neiße nach französischem Muster eingerichtet, an Vandamme
wurden 25 000 Thaler Glockengelder gezahlt, aber dem Übermut und den Be-
drückungen der württembergischen Soldaten ward wenig gesteuert. Nach dem
Frieden von Tilsit (1807) erfolgte am 13. November 1808 unter des Volkes
jubelndem Zuruf die Wiederbefetzuug der Stadt durch preußische Truppen. Im
folgenden Jahre trat die neue Stadtordnung für Neiße ins Leben. Im Jahre
1810 besuchte der König Friedrich Wilhelm III. die Stadt, besichtigte die
Truppen, ging in die Pfarrkirche, unterrichtete sich von dem durch das Bom-
bardemeut der französischen Kriegsvölker verursachten Schaden und begab sich
in die neu angelegte Gewehrfabrik. Als im Jahre 1810 die Einziehung der
Klöster und Stifter beschlossen wurde, weil ohne diese Maßnahme die Zahlung
der französischen Forderung nicht möglich gewesen wäre, hörte auch Neiße auf,
bischöfliches Eigentum zu sein.
Als sich dann 1813 das tief-
gebengte Deutschland erhob;
als sich unter den Deutschen die
am tiefsten gebeugten Preußen
besonders hervorthaten durch
staunenerregende Krastent-
Wickelung; als die Gefahren des
Krieges, der Deutschland be-
freien sollte, auch Schlesien
bedrohten: bezog die königliche
Familie die ehemalige Refi-
denz der Bischöse in Neiße,
während schwere Krankheiten
in den mit Kranken und Ver-
wundeten überfüllten Hospitä-
lern in der Stadt zahlreiche
Opfer forderten. Als Friede
geschloffen war, Ruhe und Ein-
tracht wiederkehrte, hob sich
auch Neiße schnell wieder empor
von den Schlägen, von denen
es betroffen war. Jetzt gehört
die an der Mündung der Freiwaldauer Biele in die Glatzer Neiße gelegene Stadt
und Festung zu den bestgebauten und belebtesten Städten Oberschlesiens; sie hat mit
der militärischen Besatzung 19 800 Einwohner, hat bedeutende Fortifikationen, ein
bombensicheres Arsenal, große Feldbäckerei, großartige Kasernenbauten; sie macht
mit ihren freundlichen Häusern und sauberen Straßen einen angenehmen Eindruck.
Friedrich von Saliet. In Neiße wurde in einem Hause am Ringe am
20. April 1812 Friedrich von Sollet geboren. Als er zwei Jahre alt war.
verlor er seinen Vater. Mit seiner Mutter, die wieder heiratete, zog er nach
Breslau, trat in das Kadettenkorps zu Potsdam im Jahre 1824 ein. ging
1826 in das zu Berlin über und wurde im Jahre 1829 als Sekondelentnant
nach Mainz versetzt. Das nach äußerem Scheine trachtende Treiben feiner
Friedrich von Sallet. — Joseph von Eichendorff. 263
Standesgenossen, das leere und affektierte Wesen der vornehmen Welt behagte
ihm wenig. Eine von ihm verfaßte Satire auf den Militärstand erregte fo
großes Aufsehen, daß er nach Jülich in Festungsarrest gehen mußte. Als er
aus demselben zum Regimente zurückkehrte, wurde er nach Trier versetzt, nahm
1837 seinen Abschied und lebte fortan in Breslau, bis er am 21. Februar
1843 infolge eines Luftröhren- und Lungenleidens starb. Sallet hatte einen
außerordentlich regen Geist; er beschäftigte sich viel mit den neueren Sprachen
und dem Lateinischen, mit Geschichte und Philosophie. In vielen seiner poetischen
Versuche neigte er zur Satire, die Romantiker mit ihrer Überschwenglichkeit
geißelte er mit treffendem Witz. Die Sammlung seiner Gedichte enthält po-
litische und lyrische Gedichte, Epigramme, Balladen, Romanzen, Legenden,
Parabeln, Märchen und ein Laien-
evangelinm. Wie gemütvoll der Dich-
ter sich uns oft zeigt, das mag das Ge-
dicht „Die Sternschnuppe" beweisen:
„Wißt ihr, was es bedeutet,
Wenn von dem Himmelszelt
Ein Stern herniedergleitet
Und schnell zur Erde fällt?
Die Lichter, die dort glänzen
Mit wundermildem Schein,
Das sind in Strahlenkränzen
Viel tausend Engelein.
Die sind als treue Wachten
Am Himmel aufgestellt,
Daß sie auf alles achten,
Was vorgeht in der Welt.
Wenn unten auf der Erde
Ein guter Mensch, gedrückt
Von Kummer und Beschwerde,
Voll Andacht aufwärts blickt —
Und sich zum Vater wendet
In seinem tiefen Weh,
Dann wird herabgesendet
Ein Engel aus der Höh'!
Der schwebt in seine Kammer
Mit mildem Friedensschein
Und wieget seinen Jammer
In sanften Schlummer ein.
Joseph von Eichendorff. Eine Gedenktafel an einem Hanse in Neiße sagt
uns: „Hier lebte und starb der Dichter Joseph von Eichendorff." Dieser begabte
Dichter wurde am 10. März 1788 zu Bubowitz bei Ratibor geboren, besuchte
das Gymnasium zu Breslau, studierte in Halle und Heidelberg (1805—1808)
die Rechte, machte Reisen durch Deutschland, Frankreich und Österreich, machte
den Feldzug 1813 im Lützowschen Korps mit, trat dann in den Staatsdienst,
wurde 1821 Regierungsrat in Danzig, 1824 Regierungs- und Oberpräsidialrat
Joseph von Elchendorff.
Das ist's, was es bedeutet,
Wenn von dem Himmelszelt
Ein Stern herniedergleitet
Und schnell zur Erde fällt."
264 Die schleichen Gebirgspässe und ihre Riegel.
in Königsberg, 1841 -Geheimer Regierungsrat im Ministerium. Den Staats-
dienst verließ er 1344 infolge eines Zwistes mit dem Minister Eichhorn und
lebte darauf an verschiedenen Orten, zuletzt in Neiße, wo seine Tochter der-
heiratet war, wo er auch am 26. November 1357 starb. Eichendorff erinnert
in seinen Dichtungen bald an Goethe, bald an Uhlaud; er ist der letzte Dichter
aus der romantischen Schule. In seinen Liedern, die vielfach komponiert sind,
leben wandernde Musikanten, Zigeuner, Landsknechte, Studenten, Matrosen,
Jäger; sie tragen die bestimmtesten Spuren von der Einwirkung des Volks-
liedes und sind auch zum Teil in den Mund des Volkes übergegangen. Nicht
ohne ergriffen zu werden von tiefer Wehmut singen wir das Lied: „In einem
kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad." Ergebung in den Willen Gottes
spricht sich aus in dem herrlichen Morgengebet:
„O wunderbares, tiefes Schweigen,
Wie einsam ist's noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging der Herr durchs stille Feld!"
Das Gefühl, daß wir die Welt verlassen müssen, wenn wir sie auch noch
so lieb gewonnen haben, bringt der Dichter zum Ausdruck in dem Gedicht:
„O Thäler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäst'ge Welt. . .
Schlag' noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!"
Binder. Auf dem Kirchhofe des der Stadt Neiße nahegelegenen Spazier-
ortes St. Rochus liegt der Mecklenburger Binzer begraben. Als nach den
Freiheitskriegen die Erwartungen vieler Deutschen nicht in Erfüllung gingen,
bildeten sich unter den jungen Leuten, besonders unter den Studenten, viele
Verbindungen, in deren Burschenliedern sich oft der Schmerz darüber ausspricht,
daß nun doch das Deutsche Reich nicht in seiner alten Herrlichkeit wieder auf-
geblüht ist. A. Binzer. Bursch in Kiel und Jena, dichtete damals das Lied,
das noch heute von der Jugend gesungen wird, das gesungen wurde zu Jena
bei der Auflösung der Burschenschaft am 19. November 1819:
„Wir hatten gebauet ein stattliches Haus
Und d'rin auf Gott vertrauet trotz Wetter, Sturm und Graus."
Achtzehnte Abteilung.
Wasserpolacken.
von ller %Ut bis m Weichsel.
Die Gdrr uub ihre Umgczriü nun irr Guellr bis Kriez.
Quelle der Oder. — Graf Albert Joseph von Hoditz auf Roßwalde. — Ratibor.—
Die Wasserpolacken. — Kofel. — Der alte Neumauu. — Oppeln. — Die Piasten zum
Briege. — Georg Wilhelm, der letzte Sproß des Hauses der Piasten im Briege. —
Brieg unter kaiserlicher Regierung bis zur Einnahme durch die Preußen. Die Schlacht
bei Mollwitz am 10. April 174,).. — Friedrich von Logau.
Cwtlle der Oder. Vom Altvater aus erstreckt sich ein Arm des mährisch-
schleichen Gesenkes nach Südosten zu, tief nach Mähren hinein. Dieser Teil
des Gesenkes, in welchem sich der Lieselberg befindet, heißt das Odergebirge,
weil auf demselben, und zwar auf der nördlichen Abdachung, beim Dorfe Kozlau
die Oder entspringt in einer Höhe von 627 m. Das Thal des noch kleinen
Flusses ist flach, mit Tannenwald bedeckt und sumpfig. Die Oder wendet sich
zuerst nach Nordosten, dann nach Südosten und kommt der March und so dem
Donaugebiete bis auf einige Meilen nahe. Bald aber fließt sie nach Norden
und tritt der jungen Weichsel ziemlich nahe.
Nachdem die Oder einen Weg von ungefähr 60 km zurückgelegt, sich ihr
Thal schon erweitert hat und ihre Ufer sumpfig geworden sind, nimmt sie von
268 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
der linken Seite her die Oppa auf, die 120 km lang ist, aus der kleinen, mitt-
leren, weißen und schwarzen Oppa zusammenfließt, von dem Altvatergebirge
herkommt und bei ihrer Mündung 19 in breit ist und mehr Wasser mit sich
führt als die Oder. Während der größeren Hälfte ihres Laufes bildet sie die
Grenze zwischen Österreich und Preußen. Rechts nimmt sie die 52 km lange,
vom Altvater kommende Möhra auf. Lieblich liegt zwischen der Oppa und
Oder die Hauptstadt des österreichischen Schlesien, Troppan, mit mehr als
20 000 Einwohnern, in deren Nähe das Bad Johannisbrunn gelegen ist. Nach-
dem die Oder von der linken Seite die Oppa aufgenommen hat, bildet sie selbst
30 km lang die Grenze zwischen Österreich und Preußen bis Oderberg. Fast
der Mündung der Oppa gegenüber, nur eine kurze Strecke unterhalb, fließt die
von den Beskiden kommende Ostrawitza in die Oder unweit Mährisch-Ostran.
Bei Oderberg mündet in die Oder die ebenfalls von den Beskiden kommende
Olsa. Jhrö Quelle liegt nur wenig südlich von der Weichselquelle; sie tritt bei
Teschen aus dem engen Thale, hat dann sumpfige Ufer und mündet, nachdem
sie einen Lauf von 96 km zurückgelegt hat. Oderberg (Bohumin) hat nur 1600
Einwohner und ist der letzte Ort im österreichischen Schlesien, der an der Oder
liegt. Von nun an tritt der Fluß ganz in preußisches Gebiet und nimmt die im
ganzen nordwestliche Richtung, während die Weichsel sich nach Nordosten wendet,
so daß beide Ströme, die hier so nahe zusammengekommen waren, daß zwischen
ihnen nur die wenige Meilen weite mährische Pforte lag, sich immer weiter
voneinander entfernen. Die von der linken Seite kommende Zinna geht bei
Katfcher vorbei in die Oder, einem Orte, dessen Boden sehr fruchtbar ist, der
beinahe 4000 meist katholische Einwohner hat, die in kirchlicher Beziehung
noch jetzt dem Erzbischof von Olmütz unterstellt sind. Die Zinna, die nur
38 km lang ist, entspringt unweit Leobschütz und umfließt einen großen Teil
dieser alten Stadt, die schon vor dem Jahre 1000 von Slawen gegründet
worden ist, aber bereits am Ende des 13. Jahrhunderts vollständig deutsch war
und jetzt 12 018 Einwohner hat.
Graf Ulbert Äosepij von Hoditz auf Uoßwalde. Unweit der Stadt Leob-
schütz, aber schon in Mähren, liegt das Gut Roßwalde, das in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts einen merkwürdigen Besitzer gehabt hat, der mit Preußens
König Friedrich in nahe Berühruug kam. Dieser merkwürdige, vielleicht wunder-
liche Mann war der Graf Albert Joseph von Hoditz, der 1706 geboren wurde,
sich 1734 mit der verwitweten Markgräfin Sophie von Baireuth vermählte,
später aber in freiwillig getrennter Ehe lebte. Hingerissen von einer unbändigen
Neigung zu den Künsten, verzichtete er auf alle glänzenden Ämter und Ehren-
stellen, zu denen ihn sein Stand, seine Talente und sein Reichtum berechtigten,
und beschloß, sein Leben allein dem Schönen zu widmen. Sein Landgut Roß-
Walde, auf das er sich zurückzog, sollte der Wohnsitz der Freude und des guten
Geschmackes, ein Heiligtum der Musen und Grazien werden. Dort wollte er
Gesellschaften gebildeter Menschen gastfrei um sich her versammeln und durch
einen Wechsel der mannigfaltigsten Lustbarkeiten, bei denen sich alle schönen
Künste vereinigen sollten, entzücken und bezaubern. Da die Leibeigenschaft auf
seinen Gütern eingeführt war, so konnte er sich unter seinen Unterthanen nicht
Graf Albert Joseph von Hoditz auf Roßwalde. 269
nur so viel Diener ausheben, wie ihm beliebte, sondern auch die Dienerschaft
mit sehr geringen Kosten unterhalten. Andre Gutsherren machten ihre Unter-
thanen zu Läufern. Kutschern, Köchen und Lakaien: der Graf Hoditz beschloß,
aus seinen Leibeignen Künstler zu machen. Dieses Kunstpersonal bestand,
als der Gras sich einrichtete, noch aus 90 Personen. Sein Park, seine Ge-
bäude mit ihren vielen Verzierungen, sein Theater — alles dies war zum
großen Teile das Werk seiner Bedienten. Unter ihnen gab es Maler und Bild-
Hauer, Vergolder und Maschinisten, Feuerwerker und Wasserkünstler; für sie
war das ganze untere Geschoß seines Schlosses in Werkstätten verwandelt. Die
Kapelle von Musikern, die er unter seinen Leuten ausgebildet hatte, fand selbst
bei strengen Kritikern Beifall; auch Schauspieler, Tänzer und Sängerinnen, die
er hatte ausbilden lassen, wurden gelobt.
Bei seinen Schauspielen und Festen brauchte Hoditz noch Figuranten und
Statisten. Das waren diejenigen von seinen Unterthanen, die sich durch Ge-
lehrigkeit oder eine angenehme Figur auszeichneten. Sie blieben im Bauern-
stände, mußten aber, wenn es verlangt wurde, zum Hose kommen; die un-
geschicktesten unter ihnen stellten bei seinen Schäferfesten, in passende, zierliche
Kleidungen gesteckt, bald an Bäumen gelehnt, bald auf Rasen hingestreckt.
Arkadier vor. Die Kinder mußten bei den Festen bald als Liliputter, bald als
monströse Zwerge drollige Szenen aufführen.
Das Schloß zu Roßwalde, einst ein altes, düsteres Gebäude, hatte Hoditz
in einen heiteren und freundlichen Palast verwandelt. Hohe, helle, mit Ge-
mälden, mit Statuen nud Springbrunnen verzierte Bogengänge und eine lange
Reihe von Gesellschaftszimmern und festlichen Sälen kündigten den Charakter
des gastfreien, fröhlichen Hausherrn an. Der Weinkeller, ein großes, weites
Gewölbe, aus welchem dem Besucher frische, von leise rauschenden Spring-
wassern gekühlte Luft entgegenströmte, war ringsum mit Fächerschränken besetzt,
die zahllose, mit den herrlichsten Weinen gefüllte Flaschen in zierlicher und
systematischer Anordnung enthielten. In den Gartenanlagen wechselten antike
und moderne, französische und holländische, gotische und chinesische Dekorationen
miteinander ab; über 4000 Wasserkünste in denselben erhöhten die Abwechselung.
Leider fanden sich ernste und lustige, heilige und profane Gegenstände bunt
durcheinander gemischt. Neben den Götterstatuen der Griechen stand auf einem
Kalvarienberg das Bild des Gekreuzigten und in dessen Nähe das Grab des
Arminins. In einer Gegend des Parkes hatte der Gras eine lilipnttische Stadt
anlegen lassen, deren Häuser nicht über 1 m hoch waren; im Verhältnis
zu diesen Häusern standen die Thore, Mauern, Brücken. Gassen. Plätze, der
königliche Palast und die Kirche. So war der wunderbare Landsitz beschaffen,
den sich der seltsame Mann mit beträchtlichen Kosten und unverdrossener Thätig-
keit geschaffen hatte, um nicht nur sich und seine Freunde zu ergötzen, sondern
auch Fremden und Unbekannten Vergnügen zu machen, die bald in größeren,
bald in kleineren Gesellschaften nach Roßwalde wallfahrteten. In der Nähe des
Gutes lag die Meierei. Dorthin führte der Graf seine Gäste oft zu Schiffe.
Eine Reihe reich verzierter Gondeln erwartete sie am Ufer des Kanals. Rüstige
Ruderknechte, bald als Türken, bald als Venezianer gekleidet, setzten die Schiffe
in Bewegung; eine Barke mit Musik fuhr voran, Schwäne begleiteten die kleine
Flotte, die zwischen den reizenden Ufern dahinschwamm, bis sie bei der Meierei
270 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
landete, wo ein Chor niedlicher Bauernmädchen die Aussteigenden empfing und
bei Musik und Gesang bewirtete. Viele Fremde fanden in der Bibliothek und
den Kunstsammlungen des Grafen Unterhaltung; andre ergötzten sich bei den
Ausführungen deutscher Komödien, italienischer komischer Opern, französischer
Trauerspiele, von Pantomimen und Balletten.
Friedrich der Große besuchte im Jahre 1770 den Grafen in Roßwalde
und war durch die Großartigkeit der arrangierten Feste, in denen Schlag auf
Schlag Wunder auf Wunder folgte, überrascht. Hoditz hatte alles aufgeboten,
um den Helden würdig zu empfangen, und alles gelang nach Wunsch. Der
König schenkte dem Grafen zum Danke eine prächtige, mit Diamanten und seinem
Bildnisse verzierte Dose, in der eine Anweisung auf 10 000 Thaler lag. Diese
Einlage mußte dem Besitzer von Roßwalde sehr angenehm sein; denn obgleich
er sehr reich war, lebte er doch in einer solchen Sorglosigkeit, daß seine Aus-
gaben größer wurden als seine reichlichen Einnahmen. Seine Güter ließ er
durch Pächter verwalten, die ihm kaum die Hälfte von dem gaben, was er
hätte fordern können. Er geriet in eine immer bedrängtere Lage und sah
endlich keinen andern Ausweg, als das Anerbieten des Königs von Preußen,
in Potsdam zu wohnen, anzunehmen. Friedrich II. bot alles aus, um dem
armen Greise den schweren Schritt zu erleichtern; er räumte ihm und den treuen
Dienern ein geräumiges Haus ein, unterhielt ihm eine gute Tafel und setzte
ihn durch ein beträchtliches Jahrgeld in den Stand, eine Kapelle zu besolden
und selbst noch zuweilen kleine Feste zu geben. Die Musik erfreute den Grafen;
bei süßen Tönen vergaß er die düsteren Vorstellungen, die seinen Geist be-
unruhigten. So verlebte er noch einige Jahre, bis er endlich, da seine Kräfte
erschöpft waren, am 18. März 1778 in feinem 72. Jahre aus dem Leben fchied.
Ratibor. Nur einige Meilen unterhalb der Stelle, an welcher die Zinna
in die Odev geht, liegt in einem anmutigen Teile des Oderthales, rings um-
geben von Hügelland, das nach Norden hin den Charakter der Ebene annimmt,
die von fast 13 400 Einwohnern bewohnte Stadt Ratibor. Ursprünglich war
die Bevölkerung der Stadt slawisch; im 13. Jahrhundert wurde der Ort ger-
mauisiert; unter Karl IV. und Wenzel erhielt das slawische Element wieder den
Vorzug: man schrieb alles mährisch, sprach polnisch und kleidete sich deutsch.
Im Jahre 1741 wurde das österreichische Herzogtum Ratibor von preußischen
Truppen besetzt und 1745 durch den Dresdener Frieden dauernd mit Preußen
vereinigt. In einer Entfernung von 15—20 km von Ratibor werden Stein-
kohlen gefördert.
Der Boden um die Stadt erzeugt alle Arten von Getreide, Zucker-
rübeu, Raps und Holz; Ackerwirtschaft wird von der Stadtbevölkerung wenig
getrieben, dagegen bedeutender Gartenbau und lebhafter Gemüsehandel, welcher
einen großen Teil Oberschlesiens versorgt. Heute wird in der Stadt Vorherr-
schend deutsch gesprochen, aber in der ländlichen Umgebung slawisch, und zwar
auf dem linken Oderufer böhmisch oder mährisch, auf dem rechten ein mit
vielen deutschen Wörtern untermischtes Polnisch.
Ratibor. — Die Wasserpolacken. 271
Die Walserpolacken. Auf der rechten Seite der Oder hat sich in ganz
Oberschlesien das polnische Element erhalten, das im Laufe der Zeit aus Mittel-
und Niederschlesien vollständig verdrängt worden ist; aber nicht das reine Polnisch
wird hier gesprochen, sondern das sogenannte Wasserpolnisch, und diejenigen,
welche diese Sprache sprechen, heißen die Wasserpolacken. Ein wirklicher Pole,
der des Deutscheu nicht mächtig ist, kann die Sprache dieser Polen, in der oft
nur eine polnische Endung an ein deutsches Stammwort gehängt wird, gar
nicht verstehen. Da werden am Hause die fensterlatki (Fensterladen) geschlossen,
der Soldat putzt am Helm die schuppenketki (Schuppenketten) u. dergl. Am
meisten sind diese Wasserpolacken im Beuthener Kreise vertreten.
Die Bevölkerung des Beuthener Kreises wohnt in den beiden Städten
Beutheu und Tarnowitz, dem Marktflecken Myslowitz und 112 Dörfern, zu
denen 91 Rittergüter kommen. Man kann im Kreise noch drei Hauptklassen
der Bewohner unterscheiden: die Reste der urpolnischen Bevölkerung, die heute
meist bäuerliche Grundbesitzer und kleine Bürger der Städte sind, die deutschen
eingewanderten Familien aus alter Zeit, die zum Teil halb polnisch gewordene
Kleinbürger und alte Bergleute sind, und die neu Eingewanderten aus allen
Teilen Preußens uud Polens, zu denen viele Handarbeiter, Gruben- und
Hüttenbeamte, Gewerbtreibende n. s. w. gehören. Auch die alten Polen sprechen
das Polnische nicht mehr rein, sondern vermischen es mit deutschen Ausdrücken.
Sie unterscheiden sich von der Volksmenge durch charakteristische, oft gefchmack-
volle Kleidung. Fast jede Gemeinde hat einen andern Schnitt und andre Farbe.
In einigen Gemeinden trägt man lange, meist hellgraue Röcke mit blanken
Knöpfen und verschiedenfarbigem Schnurbesatz, in andern ist die Kleidung durch-
weg blau und kurz; die Roßberger Bauern tragen weite blaue Beinkleider, eine
blaue, am Hälfe ausgeschnittene Weste und einen ganz kurzen blauen Rock mit
blanken Knöpfen und bunt ausgeuähteu Knopflöchern. Viele dieser alten Fa-
milien befinden sich in sehr guten Umständen. Obgleich sie alle nur polnisch
sprechen und die polnische Sprache durch häufigen Zuzug aus Polen lebendig
erhalten wird, unterscheiden sie sich doch durch ihre Gesinnungsweise wesentlich
von den Nationalpolen. Sie halten sich selber für Deutsche oder besser für
Preußen uud sehen ihre Stammesgenossen jenseit der Grenze für eine fremde
Nation an. Namentlich trägt der Dienst im preußischen Heere viel dazu bei,
in ihnen das lebhafte Bewußtsein der Angehörigkeit zum preußischen Staate
wach zu erhalten, aber sie leiden noch an manchem Nationalfehler ihrer Stammes-
genoffen nnd'sie sind meist hartnäckig, lieben nicht selten den Trunk, arbeiten
nicht gern viel und sind meistenteils roh, unwissend, abergläubisch, aber bildungs-
fähig. Der alten deutschen eingewanderten Familien gibt es nur wenige; sie
haben sich leicht akklimatisiert und bilden den gebildeteren Teil der besitzenden
Klassen. Die neuen Einwanderer sind — wohl wegen der Nähe der polnischen
Grenze — meist Polen, d. h. polnische Arbeiter im Bergbau und Hüttenbetrieb.
Daß sich deutsche Sprache und Sitte unter dem arbeitenden Teile der Be-
völkernng nicht Eingang verschaffen konnten, liegt daran, daß deutsche Arbeiter
nur ungern und wenig sich mit dem polnischen Landvolke vermischen. Selbst
deutsche Handwerksgesellen halten hier nicht lange aus. Lebensgewohnheit,
Nahrung, Sprache, Wohnung und Erholungen sind verschieden von dem, was
sie in ihrer Heimat zu finden gewohnt waren. Nur da haben sich deutsche
272 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
Arbeiter erhalten, wo sie in größerer Menge bei einander wohnen und miteinander
arbeiten konnten. Namentlich fand dies auf größeren Eisenwerken statt, wo
eine gewisse Intelligenz zur Verrichtung bestimmter Arbeiten erfordert wurde.
- In welchem Zustande sich leider die Arbeiter nicht im Beuthener Kreise
allein, sondern in allen den Gegenden Oberschlesiens befinden, in denen sie
durch den Bergbau und den Hüttenbetrieb zu Tausenden zusammenkommen, mag
aus der einen Thatsache hervorgehen, daß in einem einzigen Jahre im Beuthener
Amtsgericht über 22 000 Bagatellprozesse verhandelt wurden. Die Arbeiter
ergeben sich vielfach dem Trünke, die Frauen dem Nichtsthun und der Un-
sittlichkeit, die Bande der Familie sind meist locker. Deshalb herrscht unter
den Arbeitern viel Elend, das trotz der energischsten Anstrengungen des Staates
und der Unternehmer nicht zu bekämpfen ist.
Kostl. In dem südöstlichen Teile Schlesiens, in den Kreisen Pleß und
Beuthen, entspringen drei Flüsse, die sich der Oder als rechte Nebenflüsse zu-
wenden, die Rauda, die Birawka und Klodnitz, in deren Nähe Gleiwitz liegt.
Nur eine kurze Strecke oberhalb der Stelle, an der die Klodnitz in die Oder
fließt, liegt an der Oder die frühere Festung Kofel. Diese Stadt liegt in einer
tiefen Einsenkung und ist infolgedessen gegen die Einflüsse der Luftströmungen
von den Karpathen und Beskiden, dem mährischen Gesenke und dem Altvater
her ziemlich geschützt und hat 5000 Einwohner. Der Name der Stadt soll
von drei Brüdern Koziot (Ziegenbock) herrühren, von denen die Sage geht,
daß sie um die Mitte des 12. Jahrhunderts als Raubritter auf dem alten
Schlöffe, dessen Befestigungen noch zum Teil vorhanden sind, gelebt haben.
Daher hat die Stadt auch drei Ziegenköpfe im Wappen. Kofel war fchon im
13. Jahrhundert ein fester Platz des Fürstentums Oppeln, hatte in der ersten
Hälfte des 14. Jahrhunderts eigne Fürsten, stand dann unter fremden Fürsten
und hatte unter den Drangsalen des Dreißigjährigen Krieges sehr zu leiden.
Bald nach dem Breslauer Frieden (1742) wurde Kosel durch Friedrich
den Großen befestigt und seine Besatzung verstärkt, es wurde zu einem festen
Verteidiguugsorte eingerichtet. Aber die Festungswerke waren noch nicht voll-
endet, als Österreich im zweiten Kriege sich Schlesien wiederzuschaffen suchte.
Bereits im Dezember 1744 war ganz Oberschlesien außer Neiße und Kosel in
den Händen der Österreicher. Im Mai 1745 überrumpelten die Ungarn das
schwach besetzte Kosel und nahmen die Festung durch die Treulosigkeit eines
preußischen Fähnrichs, aber schon am 5. September desselben Jahres war es
wieder, nachdem es belagert und beschossen worden war, in den Händen der
Preußen. Im Siebenjährigen Kriege wurde die Festung tapfer gegen die vielen
und hartnäckigen Angriffe der Österreicher gehalten. Während der langen
Blockade in den Jahren 1761 und 1762 war der Geldmangel so groß, daß
Notmünzen aus Kartenblättern, auf welchen der Wert mit dem Siegel und der
Unterschrift des Kommandanten stand, auch Münzen aus Messingblech mit dem
Stadtwappen, dem Wert und der Jahreszahl 1761 ausgegeben werden mußten.
Der Krieg hatte deutlich gezeigt, ein wie wichtiger Platz Kosel ist, und deshalb
wurde die Festung nach dem Frieden mit bedeutender Anstrengung noch mehr
befestigt, als es schon vor dem Kriege verschanzt worden war. Nach der Teilung
Polens, als ein Feind nicht nur von Süden, sondern auch von Osten her zu
Der alte Neumann. 273
fürchten war, wurden an den Festungswerken noch ansehnliche Verbesserungen
vorgenommen, welche Kosel zu einer Hauptfestung erheben sollten.
Der alte Reumann. Noch war man im Umbau der Festung begriffen,
als zu Ende des Oktober 1806 der königliche Befehl eintraf, die Festung in
Verteidigungszustand zu setzen. Kommandant von Kosel war damals David
von Neumann. Dieser tapfere Offizier wurde am 23. August 1735 bei Wehlau
in Preußen geboren und als Leutnant im Infanterieregiment von Rothkirch
am 10. Juni 1779 von Friedrich II. in den Adelstand erhoben. Seit 1792
Major, erwarb er sich im nächsten Jahre den Verdienstorden. Im Jahre 1802
ernannte ihn der König zum Kommandanten von Kosel. Neumann, damals
schon 67 Jahre alt, hatte einen schweren Posten, weil die Festung noch nicht
fertig war. Als im Jahre 1806 Kosel in Verteidigungszustand gesetzt wurde,
war das Fort Friedrich Wilhelm nur mit einem tüchtigen Erdwalle versehen,
das Mauerwerk des Montalembertschen Turmes war zwar aufgeführt, aber
außer dem inneren Holzwerk zur Aufstellung der Geschütze waren weder die
Wohnstuben des unteren noch die Batterien des oberen Stockes angefangen, ja
es fehlten sogar noch die Treppen zu den verschiedenen Etagen; von den Wohn-
kasematten war nichts fertig als die nackten Mauern. So war vieles unvollendet;
schnell wurde gearbeitet und zu Ende geführt, was zu machen war. Häuser,
Zäune und Bäume bis auf 800 Schritt vom Glacis der Festung wurden nieder-
gerissen und abgehauen. Verteidigt sollte Kosel werden durch 4250 Mann mit
67 Offizieren, während es nach dem Plan von 1805 zur Verteidigung 6000
Mann bedurfte. Die Garnison war also nicht allein der Zahl nach unvoll-
ständig, sondern bestand auch zum Teil aus unsicheren Leuten, die nicht in
Altpreußen ausgehoben waren. In der Festung waren 229 Geschütze, Proviant -
war nur auf zwei Monate vorhanden, als die Franzosen, deren Oberstkomman-
dierender im Auftrage des Prinzen Jerome Napoleon der General Vandamme
war, im Anfange des Jahres 1807 heranrückten. Am 24. Januar schickte der
General Deroy an den Kommandanten der Festung, von Neumann, ein Schreiben,
welches lautete: ... „Ich habe Ew. Hochwohlgeboren aufzufordern, die Festung
Kosel nebst der in derselben befindlichen Besatzung, Artillerie und andern
königl. preußischen Gerätschaften dem meinem Kommando untergebenen königl.
bayrischen Truppenkorps, welches die Festung bereits diesseit und jenseit der
Oder eingeschlossen hat, zu übergeben. Ich erwarte, daß Ew. Hochwohlgeboren
sich um so mehr werden hierzu geneigt finden, als bei den bestehenden Ver-
. Hältnissen, wo die Festungen Glogau, Breslau und Brieg bereits eingenommen,
Schweidnitz und Neiße aber eingeschlossen sind, auch das während der Be-
lagerung von Breslau zum Entsatz dieser Festung herbeigeeilte königl. preußische *
Truppenkorps zurückgeschlagen und beinahe gänzlich aufgerieben ist, eine Ver-
teidigung der Festung Kosel unnötig wäre und nur zum großen Nachteil der
guten Einwohner gereichen würde, da hingegen bei alsbaldiger Übergabe dieses
vermieden wird und ich zum Vorteil der Stadt freundschaftliche Bedingungen
eingehen kann, worüber alsbald eine Kapitulation abgeschlossen werden könnte,
wozu ich Überbringer dieses, den königl. bayrischen Herrn Generalmajor und
Brigadier von Raglowich, jedoch unter der mir vorbehaltenen Ratifikation,
beauftragt habe. Deroy, Generalleutnant."
Deutsches Land und Volk. VIII. 18
274 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
Die Antwort, welche der Kommandant erteilte, lautet: „Ew. Exzellenz
habe ich die Ehre, auf das an mich ergangene Schreiben Folgendes zu erwidern:
Ich habe meinem Monarchen mein Ehrenwort gegeben, die mir anvertraute
Festung bis auf den letzten Blutstropsen zu verteidigen und keine Rücksicht auf
irgend ein äußeres Verhältnis zu nehmen, sondern nur für die Erhaltung
meiner Festung zu leben und zu sterben. Halten Ew. Exzellenz diese meine
Äußerung für keine militärische Phrase der Prahlerei oder Zeremonie. Mein
Betragen wird Ew. Exzellenz meinen Stolz verraten, durch Erfüllung meiner
Pflicht nicht nur die Gnade meines Königs, sondern auch die Achtung Ew.
Exzellenz zu verdienen, u. s. w. von Neumann."
Der Feind besah sich nun die Festung näher und gab sofort die Hoffnung
ans, sie schnell nehmen zu können; er machte sich also an eine ordentliche Be-
lageruug und Beschießung. Am 4. Februar sollen innerhalb acht Stunden
1250 feindliche Schüffe auf Stadt und Festung gefallen sein; die Kasernen, mit
Ausnahme der neben der Garnisonkirche gelegenen, und ein Vierteil der Bürger-
Häuser waren zusammengeschossen. Am 5. Februar hatte Kosel Ruhe, denn
der Feind forderte zur Kapitulation auf; aber Neumann ließ ihm sagen, er
werde thun, wozu ihn der Befehl seines Königs und seine Ehre verpflichte.
Daraus begann wieder das Bombardement. Am 11. Februar, als Tauwetter
eingetreten war, das für die feindlichen Batterien nachteilig wirkte, versuchte
es der Feind wieder, eine Kapitulation zu ermöglichen, und der General ließ
dem Kommandanten sagen, daß Schweidnitz sich ergeben habe und die Russen
von Napoleon geschlagen seien; aber Neumann ließ sagen, er werde sich nicht
im geringsten an Ereignisse kehren, die außerhalb seiner Festung vorfielen.
Die Beschießung wurde fortgesetzt und richtete entsetzliche Verheerungen an.
Am 1. März erfolgte wieder eine Aufforderung zur Kapitulation; aber der
kranke Kommandant diktierte im Bette, während Wurfgeschosse vor und hinter
seine Kasematte fielen, eine Antwort, in der folgende Worte standen: „Ihre
Königliche Majestät, mein gnädigster Monarch, den ich»nicht allein als Unter-
than verehre, sondern den ich auch liebe und anbete, weil er es verdient, hat
mir in einem Allerhöchsteignen Kabinettsschreiben durch einen Kurier seine
Allerhöchste Willensmeinung über meine zu leistende Verteidigung erklärt. Diese
Forderung meines Königs, des besten Monarchen auf Erden, ist noch nicht
erfüllt, folglich darf und kann ich an keine Kapitulation denken." So spricht
der tapfere Verteidiger von Kosel, den kein Ordensband zierte, der keine be-
rühmten Ahnherren aufzuweisen hatte; und sein Name wird mit Ruhm und
Ehren genannt werden, während die Namen der Befehlshaber Magdeburgs,
Küstrins u. s. w. mit Schande belastet, von Freund und Feind tief verachtet, in
den Annalen der Geschichte Preußens verzeichnet sind. Als die Krankheit des
Kommandanten einen bedenklichen Charakter annahm, übernahm der Oberst
von Putkammer die Geschäfte desselben. Am 16. April verschied der alte
Neumann in einem Alter von 711/2 Jahren. Sein Nachfolger von Putkammer
hielt sich noch bis zum 18. Juni, trotzdem Krankheiten viele Menschen fort-
rafften, Arzneimittel, Lebensmittel und Trinkwasser fehlten. Ein eisernes
Denkmal in Pyramidenform ehrt den alten Neumann, den tapferen Verteidiger
der Festung. Im Jahre 1873 wurde Kosel entfestigt; die Festungswerke sind
seitdem zum großen Teile geschleift worden.
1
Oppeln. — Die Piasten zum Briege. 275
Oppeln. Wenn wir von Kofel den Lauf der Oder verfolgen, so gelangen
wir zunächst nach Krappitz, wo die Hotzenplotz von links her in die Oder
mündet; dann kommen wir nach Oppeln, dem Sitz der Regierung für Ober-
fchlesien. Oppeln hat 12 500 Einwohner, von denen noch einige polnisch
sprechen. Über 1000 Arbeiter und Arbeiterinnen sind in den zehn großen
Zigarrenfabriken der Stadt beschäftigt. Die Oder durchfließt mit einem Neben-
arm, dem Mühlgraben, die Stadt und bildet eine Insel, die Pascheke heißt,
auf der das alte, 1426 erbaute Schloß stand, von dem nur noch ein stattlicher
runder Turm und der am Eingange stehende Flügel erhalten sind.
Oppeln.
In unsrer Zeit hat die Pascheke. die mit schönen Promenaden und Park-
anlagen versehen ist, durch mehrfache Villeubauteu einen neuen Schmuck erhalten.
Der Ursprung der Stadt läßt sich bis ins 8. Jahrhundert zurückführen.
Vom Jahre 1163 an hatte Oppeln selbständige Herzöge, deren dauernde Re-
sidenz es 1273 wurde. Wie so viele Städte Schlesiens, wurde es im 17. Jahr-
hundert arg durch die Pest, durch Brände und durch die Heereszüge des
Dreißigjährigen Krieges schwer heimgesucht.
Die piasten )UM Kriege. Seume behauptete einmal, es würde besser
gehen in der Welt, wenn mehr gegangen würde. In unsrer Zeit möchten viele
Von denen, welche auf die körperliche Ausbildung unsres Volkes fast noch
größere Sorgfalt verwendet wissen wollen als auf die geistige, diesen Ausspruch
18*
#
276 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
des berühmten Spaziergängers von Syrakus wohl nicht unterschreiben, denn
sie würden mit diesem Wunsche nicht zufrieden sein; ihnen steht das Turnen,
Baden, Springen, Tanzen, Ringen und Rudern höher als die Wissenschaft,
und ginge es nach ihnen, so hätten die Leiter der höheren Bildungsschulen die
aufzunehmenden Schüler nur nach ihrer Muskelstärke zu untersuchen. Wir
wollen auf unsrer Wanderung durch Schlesien auch ihren Bestrebungen Rech-
nnng tragen, denn es hilft ja nichts, gegen den Strom schwimmen zu wollen;
und hier haben wir es leicht, ihnen zn folgen, denn wir gehen mit dem Strom.
Demnach steigen wir in Oppeln in einen leichten Kahn, rudern mit kräftigen
Armen stromabwärts, das gespannte Segel, welches der Wind aufbläht, macht
uns die Fahrt leicht und läßt uns ein wenig ruhen. Bald erreichen wir die
Stelle, an der die Malapane von rechts her in die Oder fließt. Sie entspringt
auf der Tarnowitzer Hochebene, nimmt während ihres 98 km langen Laufes
manches Flüßchen auf und gibt ihr Wasser der Oder. Von jetzt ab wendet sich
der Strom immer weiter nach Westen, macht manche Windungen und gewinnt
an Wasser durch die von der linken Seite ihm zuströmende Glatzer Neiße. In
der Richtung, aus welcher die Neiße kommt, fließt nun die Oder weiter; sie
biegt sich nämlich nach Norden, bis sie von der rechten Seite her den Stober,
der durch ausgedehntes Weideland fließt, aufnimmt. Dann strömt sie in der
Richtung dieses Flusses nach Westen weiter bis Brieg. Hier verlassen wir den
Kahn, um uns in der merkwürdigen Stadt ein wenig umzusehen und uns mit
ihrer Geschichte bekannt zu machen. Brieg ist eine Kreisstadt mit 16 500 Ein-
wohnern und hat eine bedeutende Vergangenheit hinter sich.
Als im Jahre 1163 Schlesien unter Piasten trat, die sich immer mehr
von der polnischen Oberhoheit befreiten, wird des Ortes Brieg noch keine Er-
wähnung gethau, entweder weil er überhaupt noch nicht bestanden oder weil
er noch ein unbedeutendes Fischerdorf war. Boleslans erhielt in der damaligen
Teilung Breslau. Liegnitz uud Oppeln, also auch das Gebiet, in welchem später
Brieg sich entwickelte; er und seine Nachkommen faßten immer mehr festen Fuß
im Lande dadurch, daß sie deutsche Ritter in ihr Gebiet beriefen, mit deren
Hilfe sie die Kriege gegen die Polen führten. Deutsche Ordensleute schufen
mildere Sitten unter dem Volke; Ansiedelungen deutscher Anbauer machten das
Land ergiebig. Der Raubzug der Mongolen im Jahre 1241 hat in Schlesien
die Verbreitung des Deutschtums nicht aufgehalten, sondern gefördert; besonders
die Gründung deutscher Städte wurde seitdem mit erneutem Eifer betrieben;
durch die Deutschen wurde zu den vorhandenen drei Ständen, dem Adel, der
Geistlichkeit und den Bauern, der vierte, der Bürgerstand, geschaffen, ein freies
Mittelglied zwischen dem Adel und den Bauern. Ihm wurden zum Unterhalte
die Erwerbsthätigkeit und der Handel angewiesen, eine Quelle, welche nur
durch Arbeitsamkeit und Geschicklichkeit ergiebig werden konnte.
Zu den Städten, welche nach der Mongolenzeit ins Leben gerufen wurden
und Stützen des Fürsten werden sollten, gehörte die deutsche Stadt Brieg, deren
Gründung in das Jahr 1250 fällt. Schon vor dieser Zeit bestand der Ort
als ein polnisches Dorf oder Städtchen ; denn in einer Urkunde vom Jahre -
1235 wird von einer Abgabe gesprochen, die an den Hof des Fürsten gezahlt
und an seinen Rentmeister (claviger) in Visokebreg abgeführt werden soll.
Visokebreg ist der polnische Name für Brieg von wysoki, hoch und breg, brzeg,
%
Die Piasten zum Briege. 277
Ufer. Daher heißt die Stadt in den ältesten Urkunden civitas in alta ripa und selbst
in deutscher Umbiegnng „Zum Briege". Hier wird also Brieg als Sitz eines fürst-
lichen Rentmeisters erwähnt. Eine Urkunde vom Jahre 1241 ist im Schlosse
zu Brieg ausgestellt (cis eastrv in alta ripa). Ob sich bei diesem Schlosse ein pol-
nisches Städtchen befunden habe, darüber gibt es keine Nachrichten. Wahrschein-
lich standen hinter dem Schlosse an der Oder längs des hohen Ufers mehrere
Fischerhütten, und die Fischer hatten die Verpflichtung, das Schloß zu bewachen.
Das Rathaus zu Brieg mit dem Denkmal Friedrichs des Großen.
In der Stiftungsurkunde der Stadt vom Jahre 1250 wird der fchon
bestehende Ort nicht genau bezeichnet; Herzog Heinrich III. sagt, er habe
seine Stadt auf dem hohen Ufer drei Männern nach deutschem Rechte auszu-
setzen übertragen. Wer sich zum Bürger meldet, soll sechs Jahre Abgaben-
sreiheit haben und Freiheit vom Kriegsdienst, wenn nicht etwa Gefahr für
das ganze Land eintritt. Die Einwohner haben freie Fischerei in der Oder,
eine Meile auf- und eine Meile abwärts. Holz zum Häuserbau mögen sie
fällen, wo sie es finden. Auf der linken Oderseite haben sie die niedere Jagd
auf Hasen; auf beiden Seiten des Fluffes erhält die Stadt sechs große Hufen
278 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
Viehweide. Während der sechs Freijahre dürfen die Bürger ihre Waren ohne
Zoll durch des Herzogs Land führen. Der Pole oder jeder freie Mann, der
seinen Wohnsitz hier hat, muß sich deutsches Recht gefallen lassen. Von den
Schenken zahlt die Stadt dem Herzoge jährlich 20 Mark; in der Stadt hat
der Herzog zehn Fleischbänke zu seinem Nutzen, die übrigen hat der Richter
und andre Bürger, denen er sie verliehen hat. Der Herzog bewilligt den Bür-
gern, innerhalb der bestimmten Wassergrenze Mühlen zu bauen, so viele sie ver-
mögen. Innerhalb einer Meile soll keine Schenke angelegt werden, durch welche
ihnen die erteilte Freiheit verkürzt würde. Alle Dörfer innerhalb einer Meile
sollen ihr Recht von der Stadt nehmen. Zur Vermeidung größerer Gefahren
und um die Wut gottloser Feinde abzuwehren, verspricht der Herzog, mit Gottes
Hilfe die Stadt innerhalb zweier Jahre zu befestigen.
An die Stelle des polnischen Ortes Visokebreg trat nun die deutsche Stadt
„Zum Briege" (civitas seuoppidum in altaripa, civitas Bregensis); es war die
erste deutsche Stadt in diesem Teile des Fürstentums Breslau; die andern Städte
des späteren Fürstentums Brieg sind später, aber noch in demselben Jahrhundert,
aus deutsches Recht gesetzt worden, nämlich Karlstadt 1261, Grottkau 1268,
Kreuzburg 1274, Nimptsch 1282, Ohlau und Strehlen zwischen 1266 und 1290.
Woher die bürgerliche Bevölkerung in Brieg kam, läßt sich nicht angeben.
Zwei der Unternehmer waren aus Reichenbach und Goldberg, den früher ge-
gründeten deutschen Städten in Schlesien. Ob aber die Ansiedler ebenfalls
vorzüglich aus diesen oder aus andern schleichen Städten oder aus andern
deutschen Ländern herangezogen wurden, ist nicht bekannt. Versagt wurde den
Polen das Bürgerrecht nicht, sobald sie sich dem deutschen Gesetz unterwarfen.
Die vielen polnischen Namen unter den alten Bürgerfamilien Briegs lassen
vermuten, daß viele Polen das Bürgerrecht erwarben, nach deutschem Rechte
lebten, die deutsche Sprache annahmen und bis auf einzelne polnische Sitten
vollkommen germanisiert wurden. — Über die kirchlichen Verhältnisse der neuen
Stadt ist in der Stiftungsurkunde nichts gesagt, und es ist deshalb wahrscheinlich,
daß sie unverändert geblieben sind, denn jedenfalls hatte Brieg, lange bevor es
eine deutsche Stadt wurde, eine Pfarrkirche.
Die Lage der Stadt war sehr günstig; denn Brieg genoß die Vorteile des
Stromes, ohne den Nachteilen der Überschwemmung ausgesetzt zu sein. Frucht-
bares Getreideland umgab die Stadt auf dem linken User, das rechte hatte
Viehweide und Wald im Überfluß. Wenn sie dennoch in den ersten Jahren
nicht recht vorwärts kam, so lag der Grund zu diesem ungünstigen Erfolge in
den Zeitverhältnissen, weil die Fürsten vielfach wechselten und sich einander
befehdeten, auch fremde Kriegsvölker ins Land zogen. Das große Herzogtum
blieb nicht zusammen, sondern oft teilten sich mehrere Brüder in den Besitz,
die dann tauschten, auch raubten und nahmen; der Besitzer war also ungewiß,
und dadurch wurden die Verhältnisse unruhig. Bald blieb in den Kämpfen der
Breslauer mit den Herzögen von Glogau und Schweidnitz nichts mehr übrig,
als ein Streifen Landes längs der Oder vom Schwarzwasser und der Katzbach
bis zur Neiße, vom Fuße des Gebirges bis eine halbe Meile über die Oder
hin, der fruchtbarste Teil uud eigentliche Kern von Niederschlesien. Dieses Land
zerfiel im Jahre 1311 in die drei Fürstentümer Liegnitz mit Goldberg und
Hainau, Breslau mit Neumarkt, Brieg mit Ohlau uud Grottkau.
Die Piasten zum Briege. 279
Seit dem Jahre 1311 ist Brieg ein unabhängiges, selbständiges Fürsten-
tum und ist es geblieben bis zum Jahre 1521. Der erste Herzog war
Boleslaus III. Sechzig Jahre hatte die deutsche Stadt bestanden, ehe sie der
Mittelpunkt eines eignen Fürstentums wurde. Vierzig Jahre war Boleslaus
ihr Herr. In welchem Zustande befand sie sich am Ende des ersten Jahr-
Hunderts ihres Bestehens? Wahrscheinlich ist der Wohlstand ein sehr bescheidener
gewesen. Wir haben uns ein Städtchen von vielleicht 300—400 hölzernen
Bürgerhäusern zu denken; in der Mitte derselben steht das Rathaus mit Brot- und
Schuhbänken und Kaufkammern. Die Stadt hatte vier Mühlen, von kirchlichen
Gebäuden zwei Bettelklöster der Minoriten und Dominikaner, eine Pfarrkirche,
die Hospitalkirche, zwei Hospitäler, die Antonierkirche und zwei Seelenhäuser.
Gute Tage verlebte Brieg als Hauptstadt des ersten eignen Herzogs nicht,
denn Boleslaus war sehr verschwenderisch und stets in Geldverlegenheit. Oft
hatte er große Strecken seines Besitzes verpfändet; als er nichts mehr zum Ver-
pfänden hatte, nahm er zur Beraubung der Geistlichen und Klöster seine Zu-
flucht und fiel in den Bann, in welchem er siebzehn Jahre lebte, weil er die
ihm von der Geistlichkeit gestellten Bedingungen nicht erfüllen wollte. So war
er 66 Jahre alt geworden, als er zu Ostern 1352 nach vierzigtägigem Fasten
bei Tische dreizehn junge Hühner verzehrte und übermäßig trank. Am Tage
darauf verfiel er in schwere Krankheit und bat seine beiden Söhne inständigst,
sie möchten ihn und sein Land, auf welche Weise sie könnten, vom Banne be-
freien. Sein ältester Sohn Wenzel eilte nach Breslau, unterhandelte mit dem
Bischof, und noch in derselben Nacht kamen zwei Domherren nach Brieg, die
den Herzog vom Banne befreiten. Voll von Freude erhob Boleslaus die Häude
zum Himmel, dankte Gott und verschied gegen die Morgendämmerung (1352).
In traurigen Umständen ließ dieser erste Fürst von Brieg die Seinigen
zurück. Das Fürstentum Brieg ist unter ungünstigen Vorzeichen in die Welt
getreten, denn sein erster Regent endete mit Bankrott. Nachdem seine Witwe
Katharina noch bis 1353 in dem verpfändeten Fürstentume regiert hatte, über-
nahm 1359 sein jüngerer Sohn Ludwig die Regierung. Dieser Ludwig war
das Gegenteil seines Vaters; er suchte zu erhalten und wieder zu gewinnen,
was jener verschleudert oder verschuldet hatte, und ein langer Friede förderte
seine Bemühungen; er nahm sich der Armen an und genoß die Liebe seiner
Uuterthauen. Als er in Brieg seinen ständigen Wohnsitz nahm, war für eine
fürstliche Wohnung noch wenig gesorgt. Das Schloß scheint bis dahin nur von
Holz gebaut gewesen zu sein und war in Verfall geraten. Ludwig baute sich
ein neues, steinernes Haus, denn von einer Urkunde wissen wir, daß sie in
diesem (in nova domo lapidea) aufgenommen ist. Als Gönner der Geistlichkeit
und Beförderer der Kirche sorgte der Herzog noch mehr für das Haus des
Herrn als für seine eigne Wohnung. Die neue Domkirche wurde unmittelbar
ans Schloß gebaut. Die Domherren waren damals fast die einzigen Personen
in der Stadt, welche Muße hatten, neben dem geistlichen Amte der Wissen-
schaft zu leben; sie halfen dem Fürsten, der selbst die Wissenschaft liebte und
historische Bücher abschreiben ließ, auch der Kirche Bücher schenkte, bei der
Ausfertigung von Urkunden.
Unter Ludwig nahm die Stadt an Wohlstand zu, denn sie erwarb neue
Landgüter unter seiner Regierung und baute die Pfarrkirche zu St. Nikolai um,
280 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
zum Teil neu. Diese Kirche ist das schönste Denkmal gotischer Baukunst in Brieg.
Das hohe Mittelschiff ruht von den Türmen bis zum Altar aus acht kolossalen
Pfeilern; die geringe Breite von 8V2 m gegen 30 m Hohe macht den Eindruck
des Erhabenen, und das helle Licht, welches durch die hohen Chorfenster und die
zahlreichen oberen Seitenfenster einströmt, zieht Blick und Sehnsucht nach oben.
Ludwig starb im Alter von 82 Jahren im Jahre 1398, und nun war
Brieg wieder am Ende seiner guten Tage; denn Ludwig II., der Enkel des
ersten Ludwig, war viel auf Reisen, z. B. in Prag, in Palästina, in Ungarn;
die Stadt erfuhr, daß sie einen Fürsten hatte, fast nur, wenn er Geld brauchte.
Er begleitete den Kaiser nach Kostnitz. Hier belehnte Sigismund den Burggrafen
Friedrich von Hohenzollern 1417 für vorgestreckte Gelder mit der Mark Bran-
denburg, und hier vermittelte auch der Kaiser das Ehebündnis zwischen Ludwig II.
von Brieg und Liegnitz, das er inzwischen erhalten hatte, und der ältesten
Tochter des neuen Kurfürsten Friedrich von Brandenburg, Elisabeth. Sie ist
die erste hohenzollernsche Prinzessin, welche sich mit einem schleichen Piasten
verband; die Verbindung der Herzöge von Liegnitz und Brieg mit den Hohen-
zollern ist also eben so alt wie der Ankauf dieser in Brandenburg, und die
verwandtschaftlichen Bande sind seitdem fast in jeder Generation erneuert worden.
Seitdem sich Ludwig mit Elisabeth vermählt hatte, lebte er meist in Liegnitz,
nach Brieg kam er nur, wenn er dort zu thuu hatte.
Die Plage, welche seit 1426 alljährlich bis 1433 über Schlesien kam,
sollte auch Brieg heimsuchen. Die Hussiteu kamen 1428 nach Brieg und haben
die Stadt geplündert, die Kirchen ausgebrannt und viele Einwohner getötet;
am Leben blieben nur die Bürger, welche sich in die Wälder jenseit der Oder
geflüchtet hatten. Als Ludwig 1436 starb, schien sich die gesellschaftliche Ord-
nung in ihre Elemente aufzulösen. Es war eine unruhige, herrenlose Zeit.
Die Herzogin-Witwe Elisabeth hatte das Fürstentum mit vielen Schulden be-
kommen, war den schwierigen Umständen nicht gewachsen und fand nirgends
Rat und Unterstützung. Die schleichen Herzöge lebten in Streit miteinander,
und auf Anstiften des Herzogs von Öls wurde Brieg 1444 wieder angegriffen
und geplündert. Außerdem war es bald Georg Podiebrad von Böhmen, bald
Kasimir von Polen, bald Matthias von Ungarn, die Schlesien nicht zur Ruhe,
nicht zum Frieden kommen ließen; sie alle hätten gern Schlesien gehabt und
kamen mit ihren Truppen, um ihre vermeintlichen Rechte hier und dort geltend
zu machen und sich an verschiedenen Orten festzusetzen. Wenn nun schon die
beständige Unruhe schwer auf Brieg lastete und auch die der verwitweten
Elisabeth folgenden Herzöge nicht viel für die Stadt thaten, fo wurde Brieg
auch noch zu Ende des 15. und im Anfange des 16. Jahrhunderts von andern
Unglücksfällen heimgesucht, so daß es sich nicht erheben konnte. So ging in
den Jahren 1495 und 1501 das Wasser über alle Dämme weg und drang
in die Straßen, Kirchen und Scheunen, in welchen man damals Fische fing;
im Jahre 1507 fiel der Hagel am Tage Sophie zwischen 18—19 Uhr —
so berichtet der Stadtschreiber, denn damals wurden die Stunden des Tages
noch bis 24 gezählt — wie Hühnereier und Nüsse groß, so daß er die
Fenster fast aller Kirchen zerschlug, das Getreide dem Erdboden gleichmachte
und das Vieh auf dem Felde tötete. In demselben Jahre brannte die halbe
Stadt nieder. Im Jahre 1513 war der Winter 16—18 Wochen lang so
Die Piasten zum Briege. 231
streng, daß viele Menschen auf der Straße erfroren. Als in dem wirren
Durcheinander die kleinen schleichen Herzöge sich nicht allein zu helfen wußten,
stellten sie sich freiwillig unter österreichische Oberhoheit; und das that auch
1521 Friedrich II. von Liegnitz und Brieg, besonders da von Osten her ein
entsetzlicher Feind das Deutsche Reich vielleicht bis zur Elbe hin zu beunruhigen
drohte. Dieser Feind war der Türke. Der Kampf gegen die Türken hat mit
kurzen Unterbrechungen über 200 Jahre gedauert, und Schlesien wurde wäh-
rend dieser Zeit fortwährend teils zu Geld- und Truppenleistungen heran-
gezogen, teils mußte es auf seinen eignen Schutz im Falle eines Einfalles der
Türken bedacht sein. Im Briegschen war schon 1526 ein Gebot ergangen,
daß alle Kirchenglocken von den Dörfern außer je einer in die Städte geschafft
werden sollten, damit aus ihnen Büchsen gegossen würden. In der Stadt Brieg
wurden damals die Mauern ausgebessert, die Stadtgräben erweitert und die
Befestigungswerke verstärkt. Im Jahre 1529 kamen die Türken bis Wien, im
Jahre 1532 machte Soliman einen Zug bis vor Graz in Steiermark, und
1536 und 1537 bedrohte er von neuem Ungarn. In wie großer Besorgnis
um diese Zeit die Schlesier waren, das berichtet uns das Brieger Stadtbuch
in der Bemerkung, der Türke habe (1541) Ofen eingenommen und sei gesonnen,
auch die andern Lande, als Osterreich, Mähren, Schlesien, einzunehmen.
Im Innern des Landes verursachte natürlich die Reformation viel Auf-
reguug der Gemüter. Brieg gehörte nicht zu den ersten Städten, welche sich der
Lehre Luthers günstig zeigten: es folgte erst dem Beispiele der Städte Breslau
und Liegnitz. Der Herzog Friedrich H. war in der römischen Kirche auferzogen
und hatte durch eine Wallfahrt nach Jerusalem und zu den heiligen Orten seine
Ergebenheit gegen diese bewährt. Als die Lehre Luthers auftauchte, nahm er
sie nicht sofort an, sondern Jahre vergingen, bis er den reformatorischen Be-
strebungen in Kirche und Schule Schutz angedeihen ließ; er sagt selbst im Jahre
1527, daß er anfänglich die Lehre Luthers für eine neue, fremde Lehre an-
gesehen habe, ja mit schimpflichen Reden und Verboten dagegen verfahren sei
aus Besorgnis, es möge durch Zulassung derselben etwas wider Gott und die
heilige christliche Kirche gehandelt werden. In Brieg wurde durch Vermittlung
des Dr. Heß aus Breslau vom Jahre 1525 in der Domkirche und in der
Pfarrkirche das Evangelium nach Luthers Lehre verkündigt. Die Einführung
der Reformation erfolgte nicht gewaltsam plötzlich, sondern allmählich dadurch,
daß man einen katholischen Gebrauch nach dem andern fallen ließ. Daß der
Herzog der Lehre Luthers geneigt war, verdroß den König Ferdinand, der ihm
sagen ließ, die neue Lehre verfälsche das Wort Gottes und erzeuge vielerlei
Glauben, was unleidlich sei; denn wie ein Gott und eine Taufe, so solle auch
nur ein Glaube und eine Kirche sein. Obgleich diese Äußerung den Herzog
schmerzte, so blieb er doch seinem Vorhaben treu; denn er hatte sich überzeugt,
daß die römische Kirche damals aus einem Reiche Gottes ein weltliches Reich
geworden war. daß sie, welche die Leidenschaften überwinden sollte, selbst von
den weltlichsten Leidenschaften zerrissen wurde, daß ihre Oberen mit fürstlichem
Glänze sich umgaben, mehr mit weltlichen als geistlichen Sorgen beschäftigt
waren und ihre Priester Gottesdienst und Seelsorge wie einen weltlichen Er-
werbszweig ausbeuteten. Er wollte also zunächst eine strengere Kirchenzucht
und verordnete 1534 für Brieg, wer ein ärgerliches Leben führe und das
282 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
Abendmahl nicht an allen hohen Festtagen (Weihnachten, Ostern, Pfingsten)
empfange und seinen Gottesdienst, als einem rechtschaffenen Christen gezieme,
nicht verüben werde, folle als ein ruchloser Mensch und Teufelskind aus der
Stadt Vertrieben werden.
Als die religiöse Bewegung entstand, war es also keineswegs auf eine
Trennung von der Kirche abgesehen, sondern auf Beseitigung der eingerissenen
Mißbräuche, auf tiefere Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Herzens.
Deshalb schenkte der Herzog auch dem Schulwesen besondere Aufmerksamkeit
und beabsichtigte in Liegnitz eine Universität zu stiften. In Brieg mehrte sich
die Zahl der Schüler, so daß an der Stadtschule um die Mitte des 16. Jahr-
Hunderts ein Rektor und zwei Kollegen wirkten.
Friedrich II. ist es auch, der mit Joachim II. von Brandenburg im Jahre
1537 die bekannte Erbverbrüderung schloß, durch welche später Friedrich II.
von Preußen seine Ansprüche auf Liegnitz, Brieg und Wohlan begründete. Nach
feinem Tode (1547) beginnt durch seinen Sohn Georg für Brieg eine glück-
lichere Zeit, denn Georg II. ist unbestritten der bedeutendste Fürst unter den
Brieger Piasien; er hat das Fürstentum in einen Stand gesetzt, daß man das
alte Land nicht mehr erkannte und das neue nicht ohne Bewunderung ansehen
konnte. Seine 39jährige Regierung war ein großer Segen für sein Land, und
die Folgen seines segensreichen Wirkens dauern zum Teil heute noch fort. Auch
den Anblick seiner Gestalt hat das Schicksal der Nachwelt erhalten; denn die
unglücklichen Wechselfälle seines Hauses haben sein lebensgroßes Steinbild über
dem Schloßthore verschont, und von dort blickt er noch heute mit seiner Ge-
mahlin Barbara auf den ehemaligen Schauplatz seiner Thätigkeit hernieder.
Georg half mit seinen Mannen dem Kaiser im Kampfe gegen die Türken;
durch Weisheit wußte er manche Streitigkeiten beizulegen und es so einzurichten,
daß auch in kirchlichen Dingen die Katholiken und Protestanten mit seinen Ent-
scheidungen meist zufrieden waren. Adel und Städte verhandelten mit dem
Fürsten auf den Landtagen. Absichtlich hat Georg niemand Unrecht gethan,
niemand ließ er abweisen oder warten, stets antwortete er gütig, oft vergaß er
Speise und Schlaf über Beratungen und Rechtssachen. Untreue Beamte durften
am wenigsten auf Schonung rechnen. Obgleich Brieg auch von 1547—1586
viel durch Brände und Seuchen zu leiden hatte, hob es sich dennoch bedeutend,
weil Ordnung herrschte und der Fürst für seine Stadt besorgt war. Die Stadt-
ordnnng von 1550, die Georg entworfen hatte, geht bis in die kleinsten Punkte
und bestimmt jedem sein Recht und seine Pflicht und dem Übertreter des Ge-
fetzes seine Strafe.
Georg baute sich ein prächtiges, viereckiges Schloß, an drei Seiten mit
fünf Wandelungen (Stockwerken) übereinander und dreifachen Galerien. Hinter
dem Schlosse erbaute er eine Reitbahn, vor demselben legte er einen Lustgarten an.
Auch die Schloßkirche wurde ausgebaut und geschmückt, von 1564—1569 wurde
ein zweites schloßähnliches Gebäude, das Gymnasium, errichtet. Das Rathaus
erhielt damals seine heutige Gestalt, der Ratsturm wurde höher als vorher erbaut.
Von Georg stammt die Errichtung der Schützengilde; die Bürger sollten
sich, da stets die Gefahr eines Türkeneinfalles drohte, im Gebranch des Schieß-
gewehres üben. Um den Eifer der Bürger zu beleben, war der Fürst selbst
oft bei den Übungen der Schützen gegenwärtig.
Die Piasten zum Briege. 283
Im Privatleben war Georg gerade und ausrichtig, trug Freundschaft wie
Unwillen auf der Stirn und hielt es für edler, offen zu zürnen als heimlich
zu grollen. Wo er zu tadeln hatte, da tadelte er, selbst wenn er wußte, daß
er beleidigte. Mit Barbara von Brandenburg hat er 411/4 Jahre in sehr glück-
licher Ehe gelebt; sie begleitete ihn auf Reisen, pflegte ihn in Krankheiten und
schenkte ihm zwei Söhne und fünf Töchter. Georg entschlief, nachdem er herzlich
von sämtlichen Familiengliedern, welche in Brieg waren, und von seinen Räten
Abschied genommen hatte, an einem bösen Katarrh sanft am 8. Mai 1586.
Portal des ehemaligen Piastenschlosses in Brieg.
Die lateinische Inschrift auf dem Sarge faßt die Züge seines Charakters
zusammen und lautet deutsch: „Hier liegt der gottselige Fürst Georg IL,
entsprossen aus kaiserlichem und königlichem Stamme, des treuen Fürsten
Friedrichs IL trefflichster Sohn, ein großmütiger Held, durch That und Namen
berühmter Fürst, eifriger Nachfolger des Ruhmes seiner Vorfahren, die Zierde
des ganzen Geschlechts, Erbe der väterlichen Tugenden, den Kaisern und
Königen von Böhmen und mehreren Großen Deutschlands verwandt und ver-
fchwägert, vielen Königen, Baronen, Magnaten, Rittern lieb und wert, des
284 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Sörieg.
Landes Schlesien Augapfel, ein heilbringendes Gestirn des Vaterlandes,' der
rechtgläubigen Religion Beschützer, der Kirchen Erhalter, der Schulen Stifter,
der Gemeinden Hersteller, der Bedrängten Zuflucht und der Bittenden Helfer;
ein friedlicher Herrscher, um das allgemeine Beste und das Wohl einzelner
vielfach höchst verdient, seines Landes Pfleger und Vermehrer, gegen die Nach-
barn dienstfertig, überall ein fleißiger Erhalter guter Ordnung, ein wachsamer
Aufseher guter Disziplin; der lateinischen Sprache wohl kundig, eines lebhaften
Gedächtnisses, in Ratschlägen weise, in Urteilen behutsam, im Kriege tapfer, in der
Regierung billig, in Unterhandlungen glücklich, im Verweisen freimütig, im Um-
gange mit seinesgleichen höflich und freundlich, in Strafen gnädig, zum Verzeihen
geneigt, zur Hilfe bereit, zum Heilen sorgsam, zum Wohlthun gütig, zum Han-
deln rasch, kurz von allen Guten um vielfacher Ursache willen herzlich geliebt."
Barbara überlebte ihreu Gemahl um fast ueun Jahre und wohnte bis zu
ihrem Tode auf dem Schlosse zu Brieg. Ihre beiden Söhne regierten gemein-
schaftlich das Land als gute Fürsten. Als der jüngere der beiden Brüder 1592
starb, regierte Joachim Friedrich allein, an den 1596 Liegnitz fiel, so daß er
unter sich die drei Fürstentümer Liegnitz, Brieg und Wohlan hatte. Er hatte
1588 mit dem Einfall der Polen und von 1592 mit dem Kriege gegen die
Türken zu thun, mußte die Truppen gegen die Feinde berufen, die Leute ab-
senden, die Lasten verteilen, die Stellung der Pferde leiten und hatte so, um
nach allen Seiten gerecht zu sein, viel Mühe und Arbeit. Leider mußte er sich
auch in die kirchlichen Angelegenheiten mischen, um Frieden zu stiften: denn
einerseits suchten die Katholiken das Gebiet, welches sie verloren hatten, wieder
zu erwerben, anderseits machten ihnen die Protestanten ihre Bemühungen leicht,
weil sie nicht friedlich nebeneinander lebten; es traten unter ihnen Schwärmer
auf, die von Liegnitz her kamen, und neben den Lutheranern fanden Calvinisten
Eingang und Aufnahme. Um jeden Zwist zu beseitigen, erließ Joachim Friedrich
eine Kirchenordnung, in der genau festgesetzt wurde, wie die gottesdienstlichen
Handlungen verrichtet werden sollten. — Joachim Friedrich war leutselig, jeder-
mann zugänglich, von Prunk wie von Roheit weit entfernt, folgsam als Knabe,
bescheiden als Jüngling, ernst als Mann, ohne Falsch und Heimlichkeit.
Im Anfange des 17. Jahrhunderts wurden Briegs Bauten vielfach ver-
bessert und verschönert; später, als die Kriegsheere auch Schlesien durchzogen,
mußten alle Kräfte auf die Befestigung und Verteidigung der Stadt verwendet
werden. Unzuträglichkeiten im Innern des Fürstentums kameu dadurch auf,
daß der Hof, der früher streng lutherisch war, zur reformierten Kirche über-
trat und nun an der Hofkirche reformierte Geistliche wirkten und am fürstlichen
Gymnasium reformierte Lehrer bevorzugt wurden, während die Bürger der
Stadt und des ganzen Fürstentums lutherisch gesinnt blieben. Zugleich begann
durch die Vorgänge in Böhmen der Kamps gegen die Katholiken im Jahre 1618,
durch welche auch die protestantischen Brieger in große Verlegenheit gerieten,
da ihre Verpflichtungen gegen die Glaubensgenossen und die gegen den Lehns-
Herrn in Widerspruch standen. Als sie sich endlich für die Böhmen entschieden
hatten und die Sache des Winterkönigs Friedrich schlecht ablief, mußten sie
unter schweren Bedingungen mit Ferdinand Frieden machen.
Am 19. März 1625 wurde Brieg von einem schweren Schlage getroffen.
Die Herzogin Dorothea Sibylla, die Tochter des brandenburgischen Kurfürsten
Die Piasten zum Briege. 285
Johann Georg, die Gemahlin des Brieger Herzogs Johann Christian, starb
in einem Alter von 35 Jahren. Sie war eine gute Landesmutter und starb
mit großer Seelenruhe. Wie es Gott gefällt, sagte sie, denn unsre bleibende Wohn-
statte ist nicht hier, sondern im Himmel. Die Trauerrede, welche der Rektor
Laubanus im großen Saale des Gymnasiums der Verstorbenen hielt, atmet den
tiefen Schmerz des Landes über die verlorene Fürstin, die in ganz Deutschland nicht
ihresgleichen hatte. Martin Opitz nennt die Herzogin in seinem Trauergedicht
„Des Landes Zier und Lust, die Königin der Frauen, den Spiegel aller Zucht,
in dem man konnte schauen der höchsten Tugend Schar." Der Dahingeschiedenen
wurden ein deutsches, ein griechisches und 37 lateinische Leichengedichte verfaßt;
der vierzehnjährige Sohn Georg hielt der Mutter am dritten Tage nach der Be-
stattnng eine lateinische Leichenrede, die auf die Hörer einen tiefen Eindruck machte.
Der Krieg, welcher in Böhmen so schnell beendet worden war, wurde im
Reiche fortgesetzt. Die protestantischen Heere kamen auch nach Schlesien. Gegen
diese zog Wallenstein, dessen Truppen Brieg im Jahre 1627 besetzten. Das
Fürstentum Brieg mußte für den Unterhalt von zwei Regimentern Infanterie
und einer Kompanie Kavallerie sorgen, sogar diesen Truppen, als sie schon
abgezogen waren, Lebensmittel nach Neiße auf Wallensteins Befehl nachschicken.
Im Jahre 1629 ist in der bedrängten Stadt wieder eine kaiserliche Garnison.
Nach wenigen Jahren, 1633, erscheinen vor Briegs Thoren die Sachsen und
Schweden mit 15 000 Mann. Als die Sachsen Anstalten zum Angriff machten
und schon das Geschütz herangefahren wurde, kapitulierte der Herzog und mußte
eine sächsisch-schwedische Besatzung vou 600 Mann aufnehmen. Was die Stadt
von diesen Gästen gelitten hat, ist nicht zu beschreiben. „Diese Hochzeit hat
lange gedauert und viel gekostet", sagt das Stadtbuch. Mit den Lieferungen
an Brot, Bier und Fleisch waren die Soldaten bald nicht mehr zufrieden; sie
verwüsteten und verheerten in Stadt und Umgegend, hieben Bäume um, ver-
wüsteten Gärten, brachen Kirchen ab, legten Bauernhöfe in Asche. Den um
Brieg liegenden Städten Ohlan, Strehlen und andern ging es nicht besser.
Wen die Soldaten verschonten, den raffte die Pest fort, die im Jahre 1633
in Brieg 3439 Opfer forderte. Krieg und Pest hatten diese früher so glück-
lichen und wohlhabenden Landschaften ins äußerste Elend gebracht und die
Bevölkerung aufgerieben. In Nimptfch blieben nur 10, in Ohlan nur 20
Bürger, in Strehlen einige 20 Paar Eheleute übrig; Schutz war nirgends zu
finden. Erst 1635, nach dem Frieden zu Prag, zogen die sächsischen Garni-
sonen aus Schlesien ab, die Schweden wurden nach Pommern zurückgedrängt.
Aber schon 1639 kamen die Schweden in das so vielfach heimgesuchte Land
zurück, der schwedische Generalissimus Torstensohn bemächtigte sich im Jahre
1642 des ganzen Schlesiens außer Lieguitz, Breslau und Brieg.
Doch Torstensohn glaubte, er müsse auch Brieg nehmen, und begann diese
Stadt am 29. Juni 1642 zu belagern. Nur zwei kaiserliche Regimenter, 1200
Mann stark, unter dem Kommandanten Mörder, waren in Brieg; aber die
tapferen Bürger halfen den Soldaten. Bis in die fünfte Woche hinein, nämlich
bis zum 25. Juli, hielt Brieg die Belagerung des schwedischen Generals unter
unsäglicher Not aus. Torstensohn ließ Gräben um die Stadt ziehen und Feuer-
kugeln und Granaten hin-einfchlendern, selbst das Schloß verschonte er anfangs
nicht; er ließ dem Kommandanten sagen, er solle die Stadt ihm übergeben, da
286 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
er auf keinen Fall abziehen werde, ohne sie genommen zu haben, er solle nicht
durch seine Hartnäckigkeit den Krieg mit seinen Beschwerden in die Länge ziehen.
Aber Mörder blieb fest in seinem Entschluß, die Stadt zu halten. Um Blei
und Zinn zu gewinnen, schonten die Bürger die Gräber nicht. In Brieg herrschte
die größte Not, Pferde und Rindvieh starben vor Hunger; die Frauen konnten
den Soldaten keine Speisen verabreichen, weil sie einerseits nichts hatten, woraus
sie die Speisen hätten bereiten können, weil sie anderseits aber auch selbst auf
den Wällen und Türmen sein und die Stadt verteidigen helfen mußten. Am
25. Juli gab endlich Torstensohn die Belagerung auf, weil Entsatz unter dem
General Piceolomini im Anzüge war. Die Brieger hatten auf den Wällen
54 Tote und 50 Verwundete gehabt, und in der Stadt waren, trotzdem 113
Granaten und Feuerkugeln hineingeworfen waren, nur drei Menschen erschlagen
worden; die Schweden sollen 800, nach andern Angaben 1400 Mann verloren
haben. Auch in den folgenden Kriegsjahren fand Brieg keine Ruhe. Endlich
wurde in der Stadt am 19. November 1643 durch Trommelschlag der Friede
verkündet und durch vier Trompeter an den vier Ecken des Ringes ausgeblasen,
am 20. Dezember durch ein Dankfest mit Dankpredigt, durch Lösung der Kanonen
und Feuerwerk gefeiert. So große Verheerungen der Krieg auch zurückgelassen
hatte, so konnten die Einwohner doch hoffen, durch Fleiß und Anstrengung im
Laufe des Friedens die Verluste zu ersetzen, und die Zeit, die zwar immer noch
nicht ganz ruhig war, heilte die Wunden. Die Stadt wurde neu befestigt, Schloß
und Kirche ausgebaut. In die verwüsteten Dörfer zogen viele geflüchtete Polen,
auch Böhmen und mährische Brüder, die der Gegend schnell neues Leben gaben.
Georg Wilhelm, der letzte Sproß des Hauses der Plasten im Sriege
(1675). Mit schwerer Wehmut verweilen wir bei dem jugendlichen Georg
Wilhelm, dem letzten Herzoge von Brieg. Schon waren die tiefen Wunden,
welche der Krieg geschlagen hatte, etwas vernarbt, als dieser Fürst die Herr-
schast übernahm. Georg Wilhelm war im Jahre 1660 aus dem Schlo.ß in
Ohlau geboren; er entwickelte schnell ein starkes Gedächtnis und zeigte ein feu-
riges Temperament, spielend lernte er in zarter Jugend mehrere fremde Sprachen,
las und liebte Poesien, beschäftigte sich gern mit den Geschichtschreibern und
Rednern; Reiten, Tanzen, Fechten lernte er fertig; er war von schöner Gestalt
und bezaubernder Freundlichkeit, ernst in Geschäften, heiter bei seinen Er-
holungen. Zu seinem vierzehnten Geburtstage überreichte ihm sein Lehrer
Bohne eine Schrift über die Bestimmung eines christlichen Fürsten. Was in
diesem Buche Bohne dem Prinzen empfiehlt ■— wir werden unwillkürlich beim
Lesen desselben an Xeuophons Kyropädie erinnert — das zu beobachten und
zu halten, schien ihm eine heilige Pflicht. Die Tugenden, denen er nachstreben
sollte, waren Gerechtigkeit, Tapferkeit, Großmut, Staudhaftigkeit, Vorsicht,
Klugheit, unverdrossener Fleiß in Kunst und Wissenschaft, Verschwiegenheit,
Gesprächigkeit und Wahrhaftigkeit im gebührlichen Gebrauch der Zunge, Ge-
horfam gegen die Mutter, Eintracht mit den Verwandten, Milde und Gut-
thätigkeit gegen treue Diener, Sparsamkeit im Zusammenhalten des Seinigen
und Vermeiden unnützer Ausgaben, Barmherzigkeit gegen die Armen, Unrecht-
leidenden und Hilflosen, Sanftmut zur Bezwingung des unzeitigen, ungerechten
Zornes, Friedfertigkeit gegen jeden, Aufrichtigkeit, Keuschheit, Mäßigkeit und
Georg Wilhelm, der letzte Sproß des Hauses der Piasten im Briege. 287
gute Ordnung in Essen, Trinken, Schlafen, Wachen, Ruhe, Bewegung, Liebe
und Furcht des Schöpsers im ganzen Leben. Unter den Augen und der Obhut
eines Lehrers, der sich bemühte, alle diese Tugenden seinem Zögling zu eigen
zu machen, hatte Georg Wilhelm das vierzehnte Jahr, mit welchem er sür
mündig erklärt wurde, erreicht.
Als der Prinz 14^ Jahre alt war, ein Jüngling von blühender Gesichts-
färbe, blondgelocktem Haar, das bis auf die Schultern herabfiel, großer, kräf-
tiger Gestalt, reiste er auf Wunsch der Landstände zur Huldigung nach Wien.
Sobald er dort am 19. Februar 1675 angekommen war, meldete er bei Hofe
seine Absicht, und der Kaiser bestimmte den Tag der Audienz und Huldigung.
Georg Wilhelm legte vor dem Throne mit eignem Munde den Huldigungseid
ab und hielt mit größter Geistesgegenwart einen von ihm selbst verfaßten Vor-
trag, über welchen der Kaiser und die anwesenden Staatsmänner sehr günstig
urteilten. Der spanische Botschafter sagte damals von dem Brieger Fürsten,
die Christenheit habe keinen Fürsten von so geringem Alter und so vieler Fähig-
keit, und Lohenstein erzählt, die ganze Stadt Wien und der Hof habe von nichts
als dem jungen Piasten gesprochen.
Nach beendigter Huldigung kehrte der Fürst nach Brieg zurück. Die Land-
stände, gegen 500 Mann zu Roß, kamen ihm entgegen und führten ihn ins
Schloß unter Lösung der Kanonen, während Bürgerschaft und die Kompanien
geworbener Soldaten mit fliegenden Fahnen im Gewehr standen. Dann leisteten
die Stände den Eid der Treue. Die Freude in dem ganzen Fürstentum war
groß. Auch die Stände von Wohlau und Liegnitz huldigten dem jugendlichen
Fürsten mit großer Freude und erwarteten eine thaten- und segensreiche Regierung.
Im September hielt Georg Wilhelm in Liegnitz einen Landtag ab, ging
von dort nach Breslau und kehrte nach Brieg zurück, um eine Hirschjagd zu
beginnen. Hier hatte er am 15. November bei rauher Witterung in den Wäl-
dern der rechten Oderseite sich erkältet und trat, um sich zu erwärmen, in ein
Bauernhaus, in welchem zu seinem Unglück die Kinder an den Blattern krank
lagen. Der Fürst wurde in Fieberschauern zu Wagen nach Brieg gebracht.
Die Ärzte waren sehr sorgfältig, aber kein Mittel besiegte das heftige Fieber.
Die Kinderpocken zeigten sich bald auf dem ganzen Körper, verschwanden jedoch
wieder und warfen sich aufs Innere. Der Kranke litt mit größter Sanftmut
die brennendsten Schmerzen und zeigte festes Vertrauen auf Gott und die Hoff-
rtuug auf ewiges Leben. Am 21. November war er eine Leiche. Mit ihm
erlosch der piastische Stamm in Schlesien, wie ein Licht, das im Verlöschen
noch einmal hell aufflackert.
Aus dem Briefe, den der Fürst eigenhändig während seiner Krankheit an
den Kaiser geschrieben hat, mögen nur wenige Worte hier Platz finden, damit
sie uns einen Beweis geben, wie berechtigt die Erwartungen der Schlesier von
den Talenten des letzten Piasten waren; er schrieb: „Allergnädigster Kaiser,
König und Herr! Ich bin zwar der Hoffnung und des Vorsatzes gewesen, Ew.
Majestät und dero glorwürdigstem ErzHause noch durch langwierige treue
Dienste mich wohlgefällig zu machen und dies, was ich bei meiner Jugend
annoch nicht zu thuu vermocht, mit zunehmendem Alter in desto vollkommener
Devotion derselben darzustellen. Es scheint aber, daß bei jetziger meiner Un-
päßlichkeit der Allerhöchste seinem nnerforschlichen Gutbefinden nach dieses durch
288 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
einen frühzeitigen Tod zu unterbrechen und mich, ehe ich fast den rechten An-
fang solches meines getreuesten Vorhabens habe machen können, hinwieder dieser
Sterblichkeit zu entnehmen gemeint sei. Diesen himmlischen Ratschluß nehme
ich mit unerschrockenem und willigem Gemüte an. Bevor ich aber solche Schuld
der Natur bezahle, lege ich mit unsterblichem Danke für allen meinem Hause
und mir erzeigten kaiserlichen Schutz, Huld und Gnade dasjenige zu dero Füßen
allergehorsamst nieder, was Ew. Majestät die Rechte nach meinem Tode zu-
eignen. Ew. Majestät mögen geruhen, nicht allein meine Frau Mutter und
Schwester, fondern auch meinen Vetter und meine treuen Diener zu gerechtester
Beachtung sich empfohlen fein zu lassen, vornehmlich aber meine lieben Unter-
thanen bei ihren Privilegien und bisherigen Glaubensübungen in kaiserlichen
Hulden und Gnaden ferner allergnädigst zu erhalten. Der Allerhöchste setze
Ew. Majestät diejenigen Jahre, welche sein göttlicher Wille mir verweigert,
hierfür in Gnaden zu und verhänge an Deroselben höchst löblichem ErzHause
den anjetzo an dem meinigen sich ereignendem fatalem periodum nimmermehr."
Die Bestattung war sehr feierlich. Die Leiche wurde einbalsamiert, in
fürstlichen Schmuck gekleidet und auf einem Gerüst in der Silberkammer Tag
und Nacht von zwei Adeligen und zweien vom Magistrat, Schoppen oder an-
sehnlichen Bürgern bewacht, zwei Bürger standen vor der Thür. Das Zimmer
war mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, vier Wachskerzen brannten Tag und
Nacht. Erst am 30. Januar 1676 abends wurde der Sarg von zwölf Edel-
leuten aus der Silberkammer auf eine schwarz bekleidete Bühne mitten aus den
Schloßplatz gesetzt. Auf dem Sarge lag ein vergoldetes Schwert und der rot-
famtene, stark mit Diamanten besetzte Fürstenhut. Am Haupte waren die Buch-
staben 6-. AV. aus Diamanten gebildet. Um 7 Uhr abends wurde mit allen
Glocken geläutet, 32 Edelleute stellten sich um die Leiche und hoben sie auf den
Trauerwagen, 16 andre hielten einen schwarzsamtenen Traghimmel. Aus dem
Schloß zog man in die Kirche. Vor der Leiche gingen etwa hundert Edelleute
von drei Marschällen geführt; der sechsspännige Leichenwagen wurde von drei
Marschällen geleitet, neben demselben gingen die 16 Edelleute, die den Trag-
Himmel hielten, und die 32 Träger. Darauf folgten von drei Marschällen geführt
die Leidtragenden, deren erste die Herzogin-Mutter war. An diese schlössen sich
die Stände an, der Magistrat von Brieg, die Doktoren und Gelehrten. In
der Kirche wurde der Sarg auf ein Castium doloris im Chor gesetzt. An beiden
Seiten des Chores war der Stammbaum der Herzöge dargestellt. Piast lag in
Lebensgröße unten auf einem Altare und von ihm stieg der Stammbaum auf
bis zum Gipfel. Bei jedem Zweige stand auf einem viereckigen Blechschilde
ein Name, den Gipfel bildete Georg Wilhelm. Aus dem Wolkenhimmel langte
eine Hand hervor und brach den Gipfel ab. Der Geistliche predigte über
Chron. 34, 24—25: „Und Jofua starb und ward begraben unter den Grä-
bern seiner Väter."
Die Leiche blieb acht Tage lang in der Schloßkirche stehen. Während
dieser Zeit wurden die zum Begräbnis berufenen Stände bei Hofe gespeist, und
bei der letzten Trauermahlzeit wurde an alle Gäste eine Denkmünze mit des
Herzogs Bild verteilt. Der Sarg ruhte auf Standbildern von vier Tugenden:
Fortitudo uud Spes (Tapferkeit und Hoffnung) standen am Haupt, Liberalitas
und Justitia (Freigebigkeit und Gerechtigkeit) zu den Füßen. Über den vier
Brieg unter kaiserlicher Regierung u. s, w. 289
Tugenden waren vier Eitelkeiten als Kinder gebildet mit Fürstenhüten. Nach
der Ausstellung in der Kirche wurde die Leiche in Begleitung von Edellenten
und Hofdienern nach Liegnitz geführt. Auch dort wurde am 5. Februar 1076
ein nächtlicher Trauerzug mit Fackeln vom Thore zur Johanniskirche veran-
staltet und dann die Leiche Von 16 Edelleuteu in die Gruft getragen.
Sriey unter kaiserlicher Regierung bis zur Einnahme durch die Preußen.
Die Schlacht bei Mollwitz am 10. Äpril 1741. Nach dem Tode des letzten
Piasten fielen die Herzogtümer Liegnitz, Brieg und Wohlau an den Kaiser,
weil Kurbrandenburg nicht die Kraft hatte, seine Erbansprüche zur Geltung
zu bringen (vgl. S. 22 und 24).
Was Herzog Friedrich von Liegnitz gefürchtet hatte, als er 1537 die
Erbverbrüderung mit Joachim II. von Brandenburg abschloß, ging in Erfüllung.
Am 27. und 28. Februar 1676 huldigten die Stände dem Kaiser, der ihnen
versprach, die Privilegien zu achten, und schon am 21. März desselben Jahres
wurde die Schloßkirche in Brieg versiegelt, wie es schon am 30. Januar mit
der Liegnitzer Schloßkirche geschehen war. „weil Schloßkapellen allezeit zur
Religion des Fürsten gehörten." Die Schloßkirche in Brieg wurde erst am
5. Februar 1677 wieder eröffnet und dem katholischen Gottesdienste geweiht.
Vergebens beriefen sich die Stände auf ihre dem Kaiser im Dreißigjährigen
Kriege bewährte Treue, vergebens auf die Fürbitte ihres letzten Herzogs auf
dem Sterbebette; vergebens verwendete sich für die Brieger der Kurfürst von
Brandenburg. Es war mit der freien Religionsübung vorbei, wenn sie auch
in allgemeinen Ausdrücken zugesichert wurde. Auf den Kammerdörfern wurden
die erledigten Predigerstellen durch katholische Geistliche besetzt; auch den Privat-
Patronen machte man ihr Wahlrecht bei Besetzung einer Predigerstelle unter
Vorwänden aller Art streitig. Der Stadtmagistrat zu Brieg, welcher mit Ka-
tholiken besetzt worden war, besetzte die erledigten Stellen auf den Stadtdörfern
mit katholischen Geistlichen. Im Jahre 1706 waren im Fürstentum Brieg schon
56 evangelische Kirchen eingezogen. Die Jesuiten ließen sich 1681 in Brieg
nieder, gründeten daselbst eine Schule, erbauteu sich eine neue Residenz und
von 1735 —1739 eine Kirche. Die Kapuziner kamen 1682 und begannen
alsbald den Bau ihres Klosters mit kaiserlicher Unterstützung; sie lebten von
Almosen in einer fast ganz protestantischen Stadt und hielten deshalb stets gute
Freundschaft mit den Bürgern. Einen plötzlichen Umschwung brachte die
Alt-Ranstädter Konvention (S. 24), die im Jahre 1706 KarlXII. von Schweden
veranlaßte. In Zukunft wurden den Protestanten nicht nur keine Kirchen ge-
nommen, sondern sie bekamen viele, die ihnen geraubt waren, wieder heraus
und durften ihre Religion frei ausüben.
Am 20. Oktober 1740 war der letzte männliche Sproß des Habsburgischen
Hauses, Karl VI., gestorben, am 16. Dezember schon überschritt Friedrich II.
von Preußen mit seinem Heere die Grenze von Schlesien, um seine Ansprüche
auf Liegnitz, Brieg und Wohlau geltend zu machen. Da herrschte alsbald unter
den Schlesieru viel Angst und großer Schrecken. In Breslau trafen fast täglich
hochbepackte Wagen ein, in welchen besorgte Familien vom Lande ihre wert-
vollen Habseligkeiten hinter schützenden Mauern vor den Schrecknissen des
Krieges zu bergen gedachten. Aber die treffliche Mannszucht der Preußen und
Deutsches Land und Volk. VIII. . 19
290 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
das leutselige Austreten des Königs, die Versicherung, daß es nicht auf Unter-
drückung der katholischen Religion abgesehen sei, wie von Wien aus verbreitet
wurde, beseitigten bald jede Furcht.
Friedrich II. unterhandelte mit den Breslauern und fand in der schleichen
Hauptstadt Aufnahme, auch verlegte er in die Nähe von Breslau, bei Ohlau,
seine Hauptmagazine und das schwere Geschütz. Schlesien war schnell besetzt
bis auf die drei Festungen Glogau, Brieg und Neiße. Zwar wurde Glogau
erobert, aber des Königs Lage wurde sehr bedenklich. In Mähren sammelte
sich zu Anfang des Jahres 1741 das österreichische Heer, dessen Kommando
einem mit dem Kriegshandwerke wohlvertrauten, überlegenden und keineswegs
unbegabten Feldherrn, dem Grafen Neipperg, übertragen worden war. Als
dieser General über 15 000 Mann zusammen hatte, entschloß er sich, über das
Gebirge direkt auf Neiße loszugehen. Der Gedanke war äußerst kühn, aber
dennoch gelang seine Ausführung trotz der ungünstigsten Jahreszeit und der
grundlosen Wege in dem hohen Gebirge. Am 5. April zog Neipperg unter
dem Jubel der österreichisch gesinnten Einwohnerschaft in Neiße ein, wo noch
Verstärkung an Truppen zu ihm stieß. Mit diesem einen Marsch Neippergs
hatte Friedrich ganz Oberschlesien verloren, er hatte bereits ohne Kampf eine
schwere Niederlage erlitten. Von Neiße konnte Neipperg in zwei Tagemärschen
Brieg erreichen und von dort nach Ohlau gehen, wo der König seine schwere
Artillerie, seine Munitionsvorräte und reiche Magazine hatte, und sich sogar
Breslaus bemächtigen. Nur Entschlossenheit, rasches Handeln, ein siegreicher
Kampf konnten vielleicht noch Rettung bringen. Der König und der Graf
Schwerin sammelten in größter Eile, was sie an Truppen zur Hand hatten,
um den Feind noch vor Ohlan zu treffen. Neipperg war über die Stellung
seines Gegners-schlecht unterrichtet und mußte auch seinen durch den Marsch
über das Gebirge schwer mitgenommenen Truppen mehr Rast gönnen, als
seinen Plänen förderlich war. Dazu kam, daß in jenen Tagen häufiges Schnee-
treiben den Österreicher hinderte, über die Stellung des Königs durch aus-
geschickte Reiter Erkundigungen einzuziehen. In der Nähe von Brieg, in dem
Dorse Mollwitz, machte er Halt, um mit der Festung Fühlung zu behalten und
von dort aus für einige Tage verpflegt zu werden, da seine Proviantkolonnen
noch zurück waren. Hier war Friedrich entschlossen, dem Feinde eine Schlacht
anzubieten. Den 9. April hatte er als Schlachttag angesetzt; aber er mußte
diesen Tag seinen Soldaten als Rasttag gönnen, weil seine ganze Infanterie
infolge des vielen Schnees und nassen Wetters unbrauchbar geworden wäre.
Am 10. April rückte er auf Mollwitz los. Es ist fast unerklärlich, wenn man
auch das Schneegestöber jener Tage in Anschlag bringt, daß Neipperg von der
Stellung des Königs keine Kunde bekommen hatte bis zum Mittage des 10.
April, trotzdem Friedrich sich seit dem 8. April mit seinem Heere in einem
nur 1Vä Meile von Mollwitz entfernten Dorfe befand.
Nach dem Unwetter der letzten Tage glänzte jetzt heller Sonnenschein über
das beschneite Gefilde. Die preußische Infanterie erhielt neue Feuersteine und
der Mann 36 Patronen. Die Truppen gaben Brotbeutel und Tornister auf
die Kompaniewagen ab, und in vier Kolonnen rückte das Heer vor.
Der König konnte von der Unfertigkeit der österreichischen Aufstellung
keine Ahnung haben und ordnete deshalb ganz methodisch sein Heer zur Schlacht.
Die Schlacht bei Mollwitz am 10. April 1741. 291
Dasselbe zählte 17 760 Mann Infanterie und 4680 Reiter, im ganzen 22440
Mann mit ungefähr 22 Kanonen, während die Österreicher nur 12 700 Mann
Infanterie mit 18 Geschützen in die Schlacht geführt haben, aber 9460 Reiter
hatten, so daß die Totalsumme einen nur geringen Unterschied ergab. Preußen
und Österreicher standen sich in zwei Treffen gegenüber. Um 2 Uhr nachmittags
gab der König das Zeichen zum Beginne der Schlacht. Mit klingendem Spiel
und fliegenden Fahnen rückten die Preußen vor, während der österreichische
Oberbefehlshaber noch nicht ganz mit dem Aufstellen der Truppen fertig war
und den Befehl erlaffen hatte, daß nur ein allgemeiner Angriff in der ganzen
Linie erfolgen solle. Diese Probe hielten die an ungestümes Vorbrechen ge-
wöhnten österreichischen Reiter nicht aus; sie verlangten, gegen den Feind geführt
zu werden, und ihr tapferer Führer, der General Römer, wagte den Angriff
auf eigne Faust. Nicht im Trabe, fondern im vollen Galopp mit furchtbarem
Geschrei ließ Römer die Geschwader seiuer schweren Reiter daherbrausen. Un-
widerstehlich war ihr Anprall. In wilde Flucht wurden die angegriffenen
Schwadronen geworfen und in diese Flucht die Schwadronen des zweiten Tres-
fens mit fortgerissen. Die Bemühungen des Königs, die Truppen zum Stehen
zu bringen, waren vergeblich. Als sich aber die österreichische Kavallerie gegen
die preußische Infanterie wandte, mußte sie bittere Erfahrungen machen. Die
angegriffenen Grenadierbataillone bewahrten unerschrocken die musterhafteste
Haltung; die Reiter gingen vor dem vernichtenden Feuer der tapferen Infanterie
zurück. Aber allmählich wurde auch das Fußvolk unsicher und begann in Ver-
wirrung zu geraten. Da bangte dem General Schwerin um Leben und Freiheit
des Königs; er suchte denselben auf und drang in ihn, das Schlachtfeld zu ver-
lassen, seine Person in Sicherheit zu bringen. Schwerin stellte ihm vor, wie
er sich nach Oppeln begeben, dann auf dem rechten Oderufer nach Ohlau gehen,
dort die 7500 Mann des Herzogs von Holstein an sich ziehen und so dem
Feinde, selbst wenn dieser siegen sollte, weiteren Widerstand bereiten könne.
Doch der König wies das Anerbieten unwillig zurück und folgte dem Vorschlage
erst, als auch andre Freunde ihm denselben Rat gaben.
Nun übernahm Schwerin das Kommando, und mit dem Bewußtsein, jetzt
alles in seiner Hand zu haben, kam ihm eine gewisse Zuversicht wieder; er war
entschlossen, „die Bataille zu gewinnen oder den Verlust nicht zu überleben."
Der Anfang des zweiten Aktes der Schlacht unter Schwerins Befehl war
nicht viel versprechend. Die österreichische Kavallerie hielt die Schlacht für
gewonnen, die preußische Kavallerie war geschlagen; deshalb hatte Schwerin
alles Recht, die Partie nicht als verloren anzusehen, denn wenn nur In-
santeriemassen beider Heere miteinander zu ringen hatten, waren die Preußen
nach allen Richtungen hin im Vorteil. Er feuerte also seine Soldaten an und
rückte mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen vorwärts. Die Preußen
verstanden es besser, mit dem Gewehre umzugehen als die Österreicher, und
der eiserne Ladestock gestattete dem Preußen fünf Schüsse gegen zwei seines
Feindes mit dem hölzernen Ladestock, der in der Hitze des Gefechtes leicht brach.
Neipperg sah seine Truppen immer mutloser werden, und da er sich vergebens
bemühte, seine Reiterei zusammenzubringen und gegen die Infanterie zu jagen,
mußte er sich um 7^ Uhr abends zurückziehen; den Preußen blieb der Sieg
und das Schlachtfeld.
292 Die Oder und ihre Umgegend von der Quelle bis Brieg.
Das fünfstündige blutige Ringen hatte auf beiden Seiten schwere Opfer
gekostet; bei beiden Heeren war fast ein Viertel der Mannschaft tot oder verwundet.
Der König war über Löwen nach Oppeln geritten, und als er dort ankam
mit seiner geringen Begleitung in dem Dunkel der Nacht, wurde auf ihn ge-
schössen, denn Oppeln war von Österreichern besetzt worden; er kehrte also
schnell nach Löwen zurück, wo er die Nachricht vom Siege bei Mollwitz erhielt.
Er war ziemlich 24 Stunden im Sattel gewesen und schreibt selbst, daß er in
dieser Zeit zwei Tage lang weder geschlafen noch gegessen habe.
Die Schlacht von Mollwitz hat ihre große Bedeutung in dem, was sie
verhütet und abgewendet hat. Neipperg war zurückgedrängt und stand in festem
Lager hinter der Neiße. Der König beeilte sich nun, die einzige Frucht zu
pflücken, die ihm der Sieg hatte reisen lassen, nämlich die Eroberung von Brieg.
Hier standen unter dem Kommandanten, dem Grafen Piceolomini, ungefähr
2200 Mann; zur Schanzarbeit waren gegen 1000 Bauern vom Lande herein-
gezogen worden. Die Festung war schon vor der Schlacht bei Mollwitz von
Preußen zerniert gewesen, aber der König hatte die Truppen, die dort statio-
niert waren, zur Teilnahme an der Schlacht gezogen. Die Zeit der Freiheit
benutzten die Brieger, um Proviant in die Stadt zu schaffen; sie nahmen sogar
elf Schiffe fort, welche den Preußen Proviant zuführen sollten. Am 11. April
begann die Einschließung wieder. Der Kommandant von Brieg entschloß sich,
die zahlreichen österreichischen Verwundeten, welche nach der Schlacht ohne alle
ärztliche Pflege aus dem Schlachtfelde lagen, in die Stadt aufzunehmen; es
waren ihrer an 500, von denen der größte Teil starb. Gegen Ende April
wurde die Belagerung ernster in Angriff genommen, denn die Festung leistete
kräftigeren Widerstand, als die Preußen vermutet hatten. Piceolomini hielt
tapser aus, obgleich das Bombardement der Feinde unter den Bürgern Schrecken
und Angst verbreitete und manche Gebäude in Flammen gerieten.
Erst am 4. Mai kam die Kapitulation zustande. Die Besatzung erhielt freien
Abzug mit allen militärischen Ehren unter der Verpflichtung, innerhalb zweier
Jahre nicht mehr gegen den König von Preußen zu dienen. Gegen 500 Mann
traten zu den Preußen über. Am Sonntag, den 7. Mai, wurde ein Tedeum in
den Kirchen der Stadt gesungen. Die Bürgerschaft huldigte dem Könige von
Preußen, der über die Gewinnung der Festung sehr erfreut war, da sie ihm
nur wenig Opfer (er beziffert seinen Verlust auf fünf Mann) gekostet hatte.
Seit dieser Zeit ist Brieg eine preußische Stadt, deren Festungswerke im
Jahre 1807 durch Bayern und Franzosen zerstört wurden. Brieg zählt jetzt
über 16000 Einwohner, von denen die Hälfte katholisch, die Hälfte evangelisch
ist; es hat zwei katholische und zwei evangelische Kirchen. In der Stadt selbst
wird nur deutsch, in der Umgegend auch noch polnisch gesprochen. In der
dortigen bedeutenden Lederfabrik werden jährlich gegen 140 000 Stück Häute
verarbeitet und 21 000 Zentner Leder im Werte von mehr als 1 Million Mark
hergestellt. Briegs Posamentierwaren, die etwa 120 Arbeiter fertigen, werden
durch ganz Deutschland und nach Rußland, Oberitalien und der Schweiz abgesetzt.
Friedrich von Logau, ausgezeichneter Epigrammatist, geb. 1604 auf
dem väterlichen Landgute Brokutt in Schlesien, war einer der berühmtesten
Schüler des von Herzog Georg II. in Brieg gestifteten Gymnasiums und starb
am 5. Juni 1655 als Kanzleirat in Liegnitz.
«
Einzug Friedrichs in Breslau. Nach A. Menzel.
Die schleffchc HauMM und ihre Umzebunzen,
Der Ring und das Rathaus. — Blücherplatz. Taueutzienplatz. — Die Promenaden.
— Das heutige Breslau. — Breslaus älteste Zeit. — Breslau in Abhängigkeit. —
Die Jahre 1740 und 1741. — Breslau während des Siebenjährigen Krieges. —
Die Schlacht bei Zeuthen am 5. Dezember 1757. — Breslau im Frühjahr 1813. —
Kaiser Wilhelm in Breslau im Jahre 1882. — Das Bistum Breslau. — Die Refor-
mation in Breslau. Johann Heß. — Die Universität. — Berühmte Breslauer. — Die
zweite schlesische Dichterschule. — Das Heldengrab zu Krieblowitz. — Breslauer Sagen.
Der Ring und das Nathans. Breslau, die dritte Haupt- und Residenz-
stadt Preußens und das Zentrum Schlesiens, liegt fast in der Mitte der Pro-
vinz an der Mündung der Ohlau in die Oder, welche die Stadt in mehreren
Armen durchströmt, in einer weiten, fruchtbaren und gut angebauten Ebene,
und zerfällt in die Altstadt, Neustadt, die Sand- und Dom-Insel und fünf
Vorstädte; die Einwohnerzahl ist auf ziemlich 270 000 in den letzten Jahr-
zehnten schnell gestiegen.
Der stattlichste Platz in der Stadt ist der Ring. Es ist, als hätten die
Bürger, welche ihn vor 600 Jahren anlegten, geahnt, daß hier der Handel
gar sehr wachsen und aufblühen werde. Er liegt in der Mitte der Stadt und
bildet ein regelmäßiges Viereck, welches von Ost nach West 300 Schritte lang
und von Nord nach Süd 250 Schritte breit ist. Wenn man die Gebäude in
seiner Mitte fortnehmen könnte, so würde er einen Flächenraum von fast 4 ha,
einnehmen. Sechzig hohe und ansehnliche Häuser, von denen die meisten noch
294 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
mit altertümlichen Giebeln geschmückt sind, umgeben den Ring, und von den
vier Ecken gehen acht gerade Hauptstraßen aus, welche als Verlängerungen der
Marktseiten zu betrachten sind.
Jetzt ist der Platz nur noch mit 98 „ grundsesten" Buden jahrmarkt-
ähnlich besetzt, nachdem schon mehr als 170 angekauft und abgebrochen worden
sind, weil der von ihnen früher eingenommene Raum dem heutigen Personen-
verkehr zu sehr fehlte.
Von allen Häusern, welche die Mitte des Marktes einnehmen, begrüßen
wir zuerst das alte, ehrwürdige Rathaus, das in der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts in gotischem Stil erbaut ist. Die Außenseite ist mit kunstvollen
Steinmetzarbeiten an den Erkern, Gesimsen und Giebeln, mit Figuren und
Schnörkeln, die zum Teil schon abgebrochen sind, reich ausgestattet. Viele kleine
Türme zieren das Rathaus; der Hauptturm, der achteckig ist und einen Kranz
mit zwei Durchsichten hat, in welchem die Glocken der Stadtuhr hängen, ist
1558 zum Teil umgebaut, zum Teil erhöht worden. Man setzte auf die
Mauern das Holzwerk, beschlug es mit Kupfer, das grün angestrichen wurde,
und fügte das goldene Gepränge hinzu. Zur Verzierung wurden noch zehn
Knöpfe angebracht. Als die Spitze stand, stellte man auf die acht Ecken des
Kranzes vier Löwen und vier Engel, von denen die letzten wieder abgenommen
wurden. Am Turme sieht man das aus Stein gehauene und ausgemalte
Stadtwappen.
Wann die Stadtuhr auf dem Turme eingerichtet ist, läßt sich nicht be-
stimmen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie aus dem 14. Jahrhundert
stammt. Sie hatte, wie man sich ausdrückte, den ganzen Zeiger, d. h. auf
dem Zifferblatt standen die Zahlen von 1—24 und der Zeiger ging in 24
Stunden einmal herum.
Im Jahre 1580 wurden neue Zeigertafeln, deren eine 131/2 Zentner
wiegt und 4% m im Durchmesser hat, aufgezogen, die zur halben Uhr ein-
gerichtet waren, d. h. die Scheibe enthielt nur die Zahlen von 1 —12 und
der Zeiger ging in zwölf Stunden einmal herum. Am 24. Juli 1580 wurde
zu Maria Magdalena von der Kanzel verkündigt, daß die halbe Uhr ein-
geführt sei, und daß die Stadtuhr an diesem Tage um Mittag 12 Uhr schlagen
werde; man solle sich künftighin danach richten, daß der Tag seinen Anfang
um Mitternacht nehme.
Von dem Glockenspiel, welches sich am 9. Oktober 1550 zuerst hören
ließ und alle halbe Stunden das Lied „Verleih uns Frieden gnädiglich", zur
ganzen Stunde „Veni creator spiritus" spielte, ist nichts mehr vorhanden;
es ist vielleicht schon 1558 bei der Reparatur und Erhöhung des Turmes
wieder abgenommen worden.
Am Haupteingange stehen zwei alte, aus Stein gehauene Figuren; die
zur linken Hand stellt einen Mann mit einem Hammer dar, der um den Leib
eine Tasche trägt; über ihm stehen die Worte:
„Ich bin der Voitknecht,
Wer nicht Recht thut, ford're ich vor Recht."
Ein Vogtknecht nämlich hatte das Amt, die Parteien vor den Stadtvogt
zu laden. Fand er sie nicht zu Hause, so schlug er als Zeichen der Vorladung
Der Ring und das Rathaus. 295
einen hölzernen Pflock in die Thür, und solche Pflöcke trug er in der Tasche
stets bei sich. Zur rechten Seite steht ein Gewappneter mit der Überschrift:
„Ich bin des Rats geharnischter Mann,
Wer mich anfaßt, der muß ein Schwert han."
Diese Figur stellt einen Beamten, des Rates reisigen Knecht, dar, der die
Pflicht hatte, in voller Rüstung, besonders zur Nachtzeit, die Nachbarschaft der
Stadt zu durchlaufen und alles Verdächtige zu berichten.
Marktplatz in Breslau.
Im ersten Stock befindet sich der Fürstensaal, der nicht groß, aber schön
gewölbt ist, dessen Gewölbe in der Mitte von einer Säule getragen wird. Auf
der rechten Seite an der Wand führt ein Wappen die Inschrift:
Felix 1 . . s timet,
Infelix f civ"as <luae tempore pacis bella < .
d- H-:
UnglüMch } ^ bic Stadt, welche zur Zeit des Friedens Kriege {
Hier in diesem Saale wurden die schlesischen Fürstentage abgehalten, auf
denen das Recht hatten zu erscheinen die Fürsten und Standesherren, die De-
putierten des Adels der Erbfürstentümer und der Stadt Breslau, die Ab-
geordneten von acht Städten mit zusammen einer Stimme. Hier huldigten im
Jahre 1741 die Schlesier feierlich Friedrich II. Auf einem drei Stufen hohen
296 Die schleiche Hauptstadt und ihre Umgebungen,
Gerüste stand ein Thronsessel, dessen Rücken mit dem preußischen Adler und
dem Namenszug des Königs geziert war. Ans dem Sessel nahm der König
Platz; ihn umstanden die anwesenden Prinzen und Minister. Der geheime
Justizrat Baron von Arnold las die Eidesformel vor. Zuerst schwuren die
Deputierten des Fürstbischofes knieend, dann die Deputierten der Fürsten von
Öls, Bernstadt, Münsterberg und Sagan knieend, die Deputierten der freien
Standesherren stehend, das Domkapitel zu Breslau, die übrigen Kapitel, die
fürstlichen Prälaten und Deputierten der geistlichen Stifter und Orden knieend,
endlich die übrigen Stände und Deputierten der Städte stehend. Während der
Huldigung der Fürsten und Geistlichen, welche knieten, saß der König und hatte
den Hut auf dem Haupte; als die andern den Eid stehend ablegten, stand er
und nahm den Hut ab. Die Versammlung belief sich auf 400 Menschen; die
ganze Handlung dauerte zwei Stunden.
Unter dem Rathanse befindet sich der Schweidnitzer Keller, eine spezielle
Merkwürdigkeit der Stadt. In den frühesten Zeiten war er ein Weinkeller.
Indes hörte der Weinschank allmählich aus, und an seine Stelle trat der Aus-
fchank zuerst eines städtischen, auf Kosten der Kämmerei gebrauten, dann aber
des berühmten uud beliebten Schweidnitzer Bieres, von welchem er den Namen
bekam. Außer diesem Biere wurde auch Goldberger, Striegauer, Frankfurter,
Krofsener, Zerbster, Warschauer, Merseburger, Prager uud Mannheimer Bier
geschenkt. Der Ertrag des Kellers war in den ältesten Zeiten sehr ansehnlich,
weil es noch keine andern Erholungsörter in der Stadt gab. Im Jahre 1760
wurde er für 2600 Thaler verpachtet. Er ist den ganzen Tag über mit dur-
fügen Menschen angefüllt.
Nach der Westseite des Ringes hin hat seine Hauptfront gerichtet das
Stadthaus. Früher sta^nd hier das Leinwandhaus, von dem noch ein Teil der
Steinarbeiten herrührt. In diesem Gebäude befindet sich die Stadtbibliothek,
die aus den Büchersammlungen der drei großen evangelischen Kirchen hervor-
gegangen ist und über 200 000 Bände, gegen 1500 Manuskripte enthält. In
dem unterirdischen Teile des Hauses, dem Stadthauskeller, herrscht der Bier-
könig Gambrinus.
Vor dem Stadthause steht die von dem Schlesier Kiß hergestellte Reiter-
statue Friedrichs II. Das Postament ist aus fchlesifchem Marmor; sie wurde
aus freiwilligen Beiträgen von 1842—1847 errichtet.
An der Westseite des Rathauses steht die ebenfalls von Kiß modellierte,
1861 durch freiwillige Beiträge errichtete Reiterstatue Friedrich Wilhelms III.
Vor der Rathaustreppe (im Osten des Platzes) steht die Staupsäule, einst
der Pranger, das Zeichen der ehemaligen Gerichtsbarkeit des Rates. Dort
wurden in alter Zeit die Verbrecher enthauptet.
Der Ring wird durch die in seiner Mitte stehenden Gebäude in vier Teile
geteilt. Die Seite nach Westen hin heißt der Paradeplatz (forum pompae prae-
sicliariomm). In alten Zeiten wurden auf diesem Platze glänzende Turniere ge-
feiert, so z. B. zu Ehren des Königs Ladislaus im Jahre 1454 (S. 19). Hier
ließ Sigismund im Jahre 1422 den Prager Bürger Johann Krafa grausam
hinrichten (S. 17). Hier wurden auch die Verräter Friedrichs des Großen,
Baron Warkotsch und Genossen (S. 192), nachdem sie selbst entflohen waren,
in ihren Bildern gevierteilt und verbrannt. Friedrich II. hatte das Urteil
Der Ring und das Rathaus. 297
bestätigt mit den Worten: „Das mag immer geschehen, denn die Porträts werden
vermutlich ebensowenig taugen als die Originale selbst." Hier wurde im Jahre
1571 in der Mitte des Platzes in Gestalt eines runden Turmes die Wage er-
baut, auf der alle eingeführten und abgehenden Kaufmannsgüter, die über 10
Zentner betrugen, gewogen werden mußten. Die Häuser, welche diesen Teil
des Ringes abschließen, sind alle hoch und zum Teil schön. Das merkwürdigste
derselben heißt die sieben Kurfürsten; es ist ganz gl fresco bemalt mit dem
Kaiser und den sieben Kurfürsten und passenden Inschriften. Hier pflegten die
Könige von Böhmen und die Kaiser bei ihrer Anwesenheit in Breslau zu wohnen.
Stadthaus, Tcnkmal Friedrich Wilhelms III. und Elisabethturm.
Nach Süden hin liegt der Ring beim alten Galgen oder die Galgenseite,
so genannt, weil hier der alte Galgen aufgestellt war. Diese Seite heißt auch
der Hühnermarkt (forum gallinarum), weil hier besonders Federvieh verkauft
wird. Von den diese Seite abschließenden Häusern verdient der „Goldene Becher"
genannt zu werden, in welchem 1438 der Kaiser Albrecht II. die Treppe hinab-
siel und ein Bein brach. Als ein Teil dieses Marktes ist der Fischmarkt (forum
piscium) anzusehen, auf dem in Fischtrögen alle Arten von Fischen zum Ver-
kauf ausgeboten werden.
Die Ostseite oder „Grüne Röhrseite" enthält die Vorderseite und den
Haupteingang des Rathauses. Unter den Häusern, die diesen Platz begrenzen,
ist zu nennen das sogenannte alte Rathaus, ein Privatgebäude, über dessen
Thür steinerne Bildwerke angebracht sind, die daran erinnern sollen, daß hier
298 Die schlesischc Hauptstadt und ihre Umgebungen.
die durchreisenden sächsischen Könige von Polen öfters Wohnung genommen
haben. In dem Hausflur rechts sieht man den polnischen und schlesischen Adler
und den böhmischen Löwen in Stein gehauen.
Nach Norden hin liegt der Naschmarkt, der so genannt wird, weil früher
der Fruchtmarkt hier abgehalten wurde: er erhält seinen schönsten Schmuck durch
die ihn abschließenden reichen Läden der Gold- und Silberarbeiter, welche die
ganze Riemerzeile entlang eine kostbare Auswahl ihrer glänzenden Kunst-
erzeugnisse zur Schau stellen.
Auf dem Ringe ist seit den ältesten Zeiten täglich der lebhafteste Verkehr.
Daher wohnen hier hauptsächlich Kaufleute, welche an großen Schaufenstern
prachtvolle Waren aller Art ausgestellt haben. Rund um den Markt und in
den nächsten Straßen reiht sich immer ein Laden an den andern. Deshalb ist
das Drängen der Menschen, das Rasseln der Güterwagen, das Jagen der
Kutschen. Droschken und Omnibus nirgends so lebhaft als gerade in diesem
innersten Teil der Stadt. Aber nicht nur Kaufleute, sondern auch Hausfrauen
aller Stände verkehren auf dem Ringe und machen ihre Einkäufe bei den Land-
leuten, die Obst und Gemüse, Beeren und Pilze, Eier und Butter, Hühner
und Gänse in großen Massen feilbieten. Schöne Blumen und Früchte gewähren
in dem bunten Gemisch eine angenehme Abwechselung. Besondere Marktzeiten
erhöhen zuweilen noch die Lebhaftigkeit des Verkehrs; keine derselben hat aber
ein so eigentümliches Gepräge, wie der weltberühmte Wollmarkt, der hier in
jedem Frühjahr abgehalten wurde. Gutsbesitzer und ihre Schäfer stellen dann
die Wolle der edelsten Merinoschafe in großen Ballen zum Verkauf aus. Fa-
brikauteu und Kaufleute aller Nationen kommen herbei und machen ihre Einkäufe.
ölitcherplah. Tauentzienplatz. Von der südwestlichen Seite des Ringes
gelangt man auf den Salzring, auf dem die Salzverkäufer einst ihre Bnden
hatten. Der Platz heißt heute der Blücherplatz, weil auf ihm das dankbare
Schlesien im Jahre 1827 dem vom Volke geliebten Feldherrn Blücher durch
Rauchs Meisterhand ein 130 Zentner schweres ehernes Standbild hat errichten
lassen, damit der mannhafte Geist der Nation im Anschauen der hohen Helden-
gestalt lebendig erhalten bleibe. Das Standbild ist des Helden würdig, kräftig,
ernst und kühn; es trägt die Inschrift: „Mit Gott für König und Vaterland."
Vor dem Schweidnitzer Thore liegt der Tanentzienplatz, der geschmückt ist
durch das Denk- und Grabmal des Generals Friedrich Bogislaw von Tauentzien.
Im Jahre 1760 hatte der tapfere Verteidiger der Stadt hier mutig einen
Ausfall gegen die Österreicher, die unter Laudon standen, gemacht; hier wollte
der Held auch begraben sein.
Am 31. Juli 1760 erschienen die Österreicher unter Laudon vor Breslau.
Tauentzien, der Kommandant der Stadt, hatte nur 3000 Mann, mit denen er
9000 österreichische Kriegsgefangene, die fortwährend sich zu empören bemüht
waren, in Ruhe halten mußte. Von seinen 3000 Mann waren 2000 Aus-
länder und Überläufer, die sich oft als unzuverlässig erwiesen; nur auf den
Rest von 1000 preußischen Soldaten konnte er sich verlassen, und diese kleine
Schar bewachte nicht nur jene 9000 Kriegsgefangenen, sondern deckte auch die
Stadt gegen 50 000 vor ihren Mauern liegende Österreicher. Laudou fürchtete,
Friedrich möchte zum Entsätze herbeieilen, und entschloß sich daher nach
Blücherplatz. Tauentzienplatz. 299
fruchtloser Belagerung zu Unterbandlungen. Er forderte Tauentzien auf, sich zu
ergeben, und bemerkte, Breslau sei eine Handelsstadt und keine Festung. Es
wäre daher gegen allen Kriegsgebrauch, sie gegen große Übermacht zu der-
teidigen. Die Russen würden in zwei Tagen mit 75000 Mann erscheinen,
und da er glaube, die Einwohner würden lieber Österreicher als Russen
aufnehmen, so wolle er der Besatzung die Übergabe freistellen; würde sie aber
verweigert, so solle die Stadt aus 45 Mörsern in Brand gesteckt werden.
Tauentzien antwortete kurz, Breslau sei eine Festung, und er würde den Feind
auf den Wällen erwarten, wenn auch die Häuser in Flammen aufgehen sollten.
Laudon machte nun den Versuch, die Bürger gegen ihren Kommandanten auf-
zuwiegeln, und fügte zugleich die Bemerkung hinzu, daß er sie für dessen
Hartnäckigkeit verantwortlich mache. Die Drohung hatte keinen Erfolg, die
Beschießung nahm ihren Anfang; aber Tauentzien wußte so vorzügliche Maß-
regeln zu treffen, daß die feindlichen Kugeln nur wenig Schaden anrichteten.
Alle Angriffe, die Laudon unternahm, schlug er siegreich zurück, und das durch
die Kugeln in der Stadt angestiftete Feuer wurde fortwährend schnell gelöscht.
Nochmals sandte Laudon einen Offizier mit der Aufforderung zur Übergabe.
Tauentzien antwortete: „Ich habe einen sehr untergeordneten Begriff von der
Ehre eines Kommandanten, der eine Festung übergibt, ehe Bresche geschossen
ist." „Wenn das ist", erwiderte der Offizier, „so werden wir die Laufgräben
eröffnen." „Das habe ich schon längst erwartet", versetzte der Kommandant,
und so schieden sie voneinander. Prinz Heinrich, welcher von der Gefahr unter-
richtet war und sich in der Nähe von Glogau befand, eilte auf beiden Ufern
der Oder zum Entsätze herbei. Am 5. August hob Laudon die Belagerung
auf und zog sich zurück.
Weil Tauentzien in Breslau soviel ausgestanden hatte, deshalb wollte er
hier begraben sein. Das Piedestal des ihm errichteten Denkmals ist von weißem
Marmor, über welchem sich ein Sarkophag von grauem Marmor erhebt, auf
dem wieder eine Minerva von weißem Sandstein liegt. Sie stützt sich auf ihr
Schwert und blickt trauernd auf den Sarkophag; ausgezeichnet schon ist das
Gewand. Das Werk ist eine Schöpfung Schadows. Auf einer Tafel, die von
dem Sarkophag auf das Piedestal herabreicht, erblickt man das Brustbild des
Generals, umgeben von einem Kranze vergoldeter Lorbeerblätter. Auf einer
zweiten Tafel unterhalb liest man: „Verteidigung von Breslau 1760. Hinter-
lassene Werke Friedrichs II., Band IV, Kap. 12." An der Vorderseite stellt
ein Basrelief den Ausfall des Generals aus Breslau vor. Ein zweites Bas-
relief stellt die Übergabe von Schweidnitz dar. Die eine Nebenseite enthält
folgende Inschrift, welche auf der entgegengesetzten auch in lateinischer Sprache
zu lesen ist: „Bogislaw Friedrich von Tauentzien, Ritter des Schwarzen Adler-
ordens, General der Infanterie, Inspekteur in Schlesien, Gouverneur der
Hauptstadt Breslau, in allen Kriegen um Schlesien ein tapferer Mitstreiter;
Böhmisch-Neustadt ward durch ihn dem Feinde unüberwindlich. Bei Kollin
hielt er als Anführer der Leibgarde lange den wankenden Kampf auf und fank
endlich, auf den Tod verwundet. Breslau, von Feinden umringt, innerhalb
von Gefangenen bedroht, ward mit schwacher Besatzung von ihm beschützt, be-
wahrt, erhalten. Schweidnitz eroberte er wieder. Schon grau unter den Waffen,
ward er Friedrichs, des Retters deutscher Freiheit, Begleiter. Von Friedrich
300 Die schlcsische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Wilhelm geschäht, mit verdienten Belohnungen umgeben, hörte er auf zu leben
und zu wirken den 20. März 1791. Geboren im Heldenvaterlande Pommern
den 8. Apil 1710."
Vit |U'0MClIrti)nt. Der schönste Schmuck der Stadt Breslau sind die
Promenaden, Baumgänge an Stelle der 1807 gesprengten Festungswerke,
4 Ion lang, welche die innere Stadt mit Ausnahme der Nordwestecke ein-
schließen. Wie ein frischer Kranz von grünem Laub und duftigen Blnmen
ziehen sich ihre schattigen Baumreihen und geschmackvollen Gartenanlagen um
die innere Stadt und gewähren täglich vielen Tausenden einen angenehmen
Spaziergang. Durch den zahlreichen Besuch aller Stände werden sie fast zu einem
Gesellschaftsgarten, in welchem man mit dem Freunde zusammenkommt, und
Bekannte, die sich sonst nicht treffen, finden sich wohl hier zusammen. Die
glückliche Lage dieses beliebten Erholungsortes zwischen den alten und neuen
Stadtteilen bewirkt, daß er für alle Bewohner Breslaus gleich wertvoll ist, da
er von jeder Straße ans binnen wenigen Minuten erreicht werden kann und
sowohl einen kürzeren Besuch als auch einen längeren Aufenthalt gestattet. Die
breite Wasserfläche, welche sich an der Seite der Promenade hinzieht, erfrischt
die Luft an heißen Sommertagen; Schwäne und schöngefiederte Enten beleben
das Bild, und Kinder und Erwachsene eilen ans Ufer, um sie zu füttern.
Selbst der Winter mit feinen kalten Tagen ist nicht im stände, hier Stillstand
zu gebieten. Die Bewegung wird sogar noch lebendiger und fröhlicher. Kaum
sind die Knaben und Mädchen zu zählen, die sich hier auf spiegelglatter Eis-
fläche tummeln, und Herren und Damen eilen auf Schlittschuhen und Stuhl-
schütten wie im Fluge dahin. Am Ufer stehen die Zuschauer zu Hunderten und
rufen und winken ihren Angehörigen lachend zu; alles ist heiter und lustig.
Die Breslauer Promenade ist eigentlich eine doppelte, eine innere und
eine äußere, welche durch einen breiten Kanal getrennt, aber durch viele Brücken
verbunden find. Der Kanal, jetzt Stadtgraben genannt, ist der ehemalige Wall-
graben der Festung; und eine vierfache Baumreihe ist an die Stelle der hohen
Erdwälle getreten, die früher mit Wachen besetzt und mit Kanonen und Kugeln
reichlich versehen waren. Oft genug donnerten von oben herab die Geschütze
gegen den anstürmenden Feind, und nicht gering waren die Leiden und die
Verluste, welche die Einwohner in solchen Zeiten zu leiden hatten. Jetzt hat
die Stadt ihre Ketten gesprengt, das alte Kleid ist ihr viel zu enge geworden,
und wenn ein neuer Wallgraben künftig die Stadt einschließen sollte, so müßte
er wohl fünf- bis sechsmal so lang sein als der vorhandene. Graben und
Wälle umschlossen die Stadt auf drei Seiten, auf der West-, Süd- und Ost-
seite, während auf der Nordseite die Oder au ihre Stelle trat.
Die schönste Zierde der Promenade und zugleich (in gewisser Beziehung)
der ganzen Stadt bildet die Lieb ichhöhe. Die Brüder Gustav und Adolf
Liebich erfreuten sich gern der herrlichen Aussicht, die sich dem Besucher von
der ehemaligen Taschenbastion nach den fernen Bergen hin darbietet. Als aber
die Häuser der Vorstadt sich erhoben, welche den Blick in die Ferne immer
mehr beschränkten, entstand in ihnen zuerst der Wunsch, hier ein Gebäude er-
richtet zu sehen, durch welches man die verlorene Aussicht wieder gewinnen
könne. Der anfänglich bescheidene Plan wurde in großartiger Weise von den
Die Promenaden.
301
Brüdern ausgeführt, so daß sie sich den Dank der Bürger und Besucher Bres-
laus für alle Zeiten gesichert haben. Sie ließen im Jahre 1366 einen acht-
eckigen Aussichtsturm, iu dem eine Wendeltreppe in die Höhe führt, der jedem
Besucher unentgeltlich offen steht, erbauen und übergaben das fertige Werk am
12. September 1867 der Stadtgemeinde zum Eigentum, und das dankbare
Publikum nennt die Höhe, auf welcher der Aussichtsturm errichtet wurde, die
„Liebichhöhe". Von hier aus gewinnen wir einen Blick auf die turmreiche
Stadt und auf das Gebirge, wie er sich selten findet.
Liebichs Höhe.
„Die Stadt Breslau ehrt dankbar die Gründer dieses Baues", sagt die
Inschrift einer Marmorplatte über dem Eingange, welche die Porträts der
beiden Brüder enthält.
Am Fuße der Liebichhöhe macht die Promenade eine Wendung nach
links; wir befinden uns auf der Morgenseite der Stadt und erreichen, nachdem
wir an mehreren öffentlichen Gärten vorübergekommen find uud noch einige
Straßen überschritten haben, bei der Mündung der Ohlau den zweiten Höhen-
punkt der Promenade, die Ziegelbastion. Die Aussicht wetteifert an Schönheit
mit dem Blick von der Liebichhöhe, und manche geben ihr sogar den Vorzug.
Die großartigen gotischen Kirchen des Domes uud des Sandes stehen uns hier
gegenüber, und vor denselben breitet sich der ausgedehnte Wasserspiegel des
Oderstromes aus, der bis weit hinauf sichtbar wird.
302 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Dag heutige Breslau. Breslau ist stets die volkreichste aller schleichen
Städte gewesen und hat den Rang als Hauptstadt des Herzogtums Schlesiens
immer behauptet; es ist das Herz des Landes. Als solches ist es der Ausgangs-
punkt der Schienenwege nach Oberschlesien, Posen, der Mark, nach Nieder-
schlesien und der Grafschaft Glatz, welche mit benachbarten Bahnnetzen in
Verbindung stehen und sich namentlich an eine russische und sieben öfter-
reichische Bahnlinien anschließen. Breslau ist sowohl für die wissenschaftlichen
Gebiete, als auch für Handel und Gewerbe von hervorragender Bedeutung.
St. Salvatorkirche.
An der Spitze der wissenschaftlichen Institute steht die Universität; dazu kommen
5 Gymnasien, 2 Realschulen, 3 höhere Bürgerschulen, 2 höhere Töchterschulen, ein
Schullehrerseminar, ein jüdisch-theologisches Seminar, eine Taubstummen- und
eine Blindenlehranstalt, eine Handels- und eine Bauschule, 100 Elementarschulen
und Privatlehranstalten. Von den öffentlichen Sammlungen sind zu erwähnen
das Provinzialmnfeum der bildenden Künste, das Museum schlesischer Alter-
tümer, die Bildergalerie, der zoologische und der mustergültig angelegte bo-
tanische Garten, die Universitätsbibliothek, die Stadtbibliothek, die Dombibliothek,
Das heutige Breslau. 303
mehrere Volksbibliotheken. Breslau besitzt 12 Verlagsbuchhandlungen, 26
Sortimentsbuchhandlungen (zum Teil mit Verlag), 13 Antiquariats- und
10 Kolportagebuchhandlungen, 13 Kunsthandlungen und 15 Leihbibliotheken.
Für den Breslauer Zwischen- und Ausfuhrhandel sind von Wichtigkeit der
Woll-, Flachs-, Leder-, Maschinen- uud Honigmarkt, 4 Jahrmärkte, 5 Roß-
und Schlachtviehmärkte, tägliche Getreidemärkte. Im Jahre 1875 sind auf
dem Wollmarkte 63 000 Zentner Wolle verkauft, dem Honigmarkte 7100
Zentner Honig zugeführt worden.
Neue Synagoge.
Auf den Roß- und Viehmärkten sind 6400 Pferde. 1709 Stück Rind-
Vieh, 32 Ziegen, 2452 Schweine und 2592 Ferkel zum Verkauf gestellt
worden. Das auf dem Schlachtviehmarkt aufgetriebene Vieh bezifferte sich
auf 9686 Ochsen, 8359 Kühe, 28336 Kälber, 84022 Hammel uud 45 529
Schweine. Das städtische Großgewerbe ist vertreten durch 13 Maschinenbau-
Anstalten. 2 Eisenbahnwagenbau-Anstalten, 13 Bau- uud Möbeltischlereien,
7 Parkettfabriken, 21 Zigarren- und 2 Zigarettenfabriken, 10 Ölfabriken,
32 Bierbrauereien, 62 Spiritusbrennereien und Likörfabriken, 100 Rum- und
304 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Spritfabriken, je 12 Leder- und Lederwarenfabriken, 31 Strohhutfabriken.
Der Fonds- und Effektenverkehr wird durch die Reichsbaukhauptstelle und
81 andre Bankgeschäfte vermittelt. Die gesamten Handelsinteressen werden
durch eine Handelskammer wahrgenommen. Unter den zahlreichen Wohl-
thätigkeitsanstalten sind hervorzuheben die Volksküchen, Suppenanstalten, 29
Krankenheilanstalten (unter denen das „Allerheiligen-Hospital" seit 1526, das
Kloster der „Barmherzigen Brüder" seit 1711 die größten sind), 17 Alters-
Versorgungsanstalten, 9 Waisenanstalten. Von den 26 Vereinen für Kunst und
Wissenschaft stehen die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur und der
Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens mit verdienstvollen Leistungen
obenan. Für Musik und Gesang sind 42 Vereine thätig. Handel, Gewerbe
und Landwirtschaft haben sich zu 39 Vereinen zufammengethan.
Unter den Gebäuden Breslaus find außer deu bereits angeführten zu
nennen 37 Kirchen, das königliche Schloß, das Ständehaus, das neue Theater,
General-Landschastsgebäude, Regierungsgebäude, die Universität. Breslau ist
Sitz des Oberpräsidenten, des Konsistoriums, des Fürstbischofs, des Proviuzial-
Schulkollegiums, der Generalkommission zur Regulierung der gutsherrlichen und
bäuerlichen Verhältnisse der Provinz, der Eichungs- und Fabrikinspektion, des
Oberbergamtes, der königlichen Direktion der Rentenbank für die Provinz
Schlesien, der königlichen Regierung. Hier befindet sich ein Oberlandesgericht,
eine Oberstaatsanwaltschaft, Eisenbahndirektionen, das Generalkommando des
6. Armeekorps und eine Oberpostdirektion.
Breslaus älteste Zeit. Wann Breslau gegründet worden ist, läßt sich
nicht nachweisen (S. 4 und 5). Um das Jahr 1900 wird die Stadt schon
erwähnt unter den Namen AVracislawia, AVortizlava, Wroclaw, AVraclaw,
AVratislawia. Deshalb hat es auch den Buchstaben W in seinem Wappen. Der
Name läßt sich schwer erklären. Diejenigen, welche der Meinung sind , Breslau
sei schon von den Germanen vor dem Eindringen der Slawen gegründet worden,
lassen den Stadtnamen aus Wurzelau entstehen, weil die Gegend viele Bäume
hervorbrachte. Andre behaupten, die Stadt sei erst von Slawen gegründet,
welche ihr auch den Namen von „wrot, Rückkehr" oder „brod, Furt" und
„Slavianie, Slawen" gegeben hätten, so daß AVrotslawa oder Brodslawa
Slawenrückkehr oder Slawenfurt hieße. Jedenfalls war Breslau, als es sich
zu heben anfing, eine heidnisch-polnische Stadt, in die erst das Christentum ein-
geführt wurde, welche die eingewanderten und von den Fürsten begünstigten
Deutschen allmählich zu einer deutschen Stadt machten. Zur Zeit der Uu-
abhängigkeit Schlesiens war Breslau ein eignes Herzogtum und Residenz der
Herzöge. Das durch den Einfall der Mongolen in Schlesien verhängnisvolle
Jahr 1241 war auch für Breslau unheilvoll. Der Herzog sammelte seine
Streitkräfte bei Liegnitz und überließ die Hauptstadt ihrem Schicksale. Alle
Einwohner flüchteten sich aus ihren Häusern hinüber auf die befestigte Dominsel
in die alte herzogliche Burg und waren entschlossen, sich bis aufs äußerste zu ver-
teidigen. Alle Gebäude auf dem linken Oderufer fetzten sie in Flammen, um den
Feinden nichts zur Plünderung zu lassen. Die Mongolen hielten sich denn auch nicht
lange mit der Belagerung der Breslauer auf, sondern wandten sich nach Liegnitz.
Als fie sich nach Ungarn zogen, erhob sich Breslau verjüngt aus seiner Asche.
Breslau in Abhängigkeit. — Die Jahre 1740 und 1741. 305
Greslan in Abhängigkeit. Im Jahre 1327 wurde Breslau böhmisches
Lehen (s. S. 10). Der neue Landesherr, Johann von Böhmen, und sein Sohn
Karl wollten sich die mächtige Stadt geneigt machen und bestätigten ihr nicht
nur alle Vorrechte, welche die wohlwollenden Herzöge ihr früher zugewendet
hatten, sondern sie fügten noch neue hinzu. Wie der König Johann mit dem
Bischof von Breslau im Jahre 1339, die Breslauer mit den Domherren des
Schweidnitzer Bieres wegen im Jahre 1380 in Streit gerieten und in beiden
Fällen die Bürger zu leiden hatten, weil sie in den Bann gethan wurden, ist
bereits (S. 10 und 14) erzählt. In den Hussitenkriegen stand Breslau mit
dem ganzen Schlesien gegen die tschechischen Nachbarn im Kampfe und wollte
den böhmischen Georg Podiebrad lange nicht als einen christlichen König an-
erkennen, trotzdem der Papst selbst begütigend zur Anerkennung riet (S. 20).
Im Jahre 1526 kam Breslau, als zu Böhmen gehörig, an Österreich. Im
Dreißigjährigen Kriege litt es weniger als das übrige Schlesien und hatte eine
Art Neutralität gegen den Kaiser wie gegen die Schweden behauptet, indem es
seine Wälle mit seinen eignen Truppen besetzte.
Die Jahre 1749 und 1741. Als im Dezember 1740 Friedrich IL in
Schlesien einfiel, war die Provinz in keiner Weise gerüstet, einen feindlichen
Einbruch abzuwehren. Der Kommandant von Glogau (Graf Wallis) hatte nach
altem Herkommen die militärischen Maßregeln im Kriegsfalle in Schlesien zu
treffen, die Streitkräfte möglichst in den festen Plätzen zu konzentrieren und die
letzteren nach Kräften zu verproviantieren. Da derselbe aber fürchten mußte,
bald selbst in Glogau eingeschlossen zu werden, so wurde das Oberkommando
über die Truppen in Schlesien dem erfahrenen und tüchtigen General Brown
übergeben, dessen Aufgabe es zunächst war, dafür zu sorgen, daß die Festungen
des Landes wenigstens Widerstand leisteten, der dem Feinde möglichst Abbruch
thun, jeder Entscheidung aber ausweichen sollte, bis zum Frühjahr ein zu sam-
meludes Heer den Kampf ernstlich aufzunehmen vermöge.
Breslaus Befestigungswerke, die zum größeren Teile noch aus dem 16.
Jahrhundert herrührten, konnten namentlich mit Rücksicht auf die Größe der
Stadt nicht für stark gelten. Weil man es aber im Dreißigjährigen Kriege ver-
mocht hatte, mit eigner städtischer Miliz sich aller Feinde zu erwehren und eine
Neutralität zu behaupten, welche sogar den Truppen des eignen Landesherrn
die Thore verschlossen gehalten hatte, und weil man dadurch gerade vielen
Drangsalen entgangen war, hielt man jetzt um so mehr daran fest, in dem
Rechte des Selbstschutzes das vornehmste Privilegium, den eigentlichen Hort
der städtischen Freiheit zu erblicken. Da man aber in Wien mit Recht auf den
Besitz der Hauptstadt des Landes großen Wert legte und namentlich der Mi-
nister Graf Starhemberg im Kriegsrate darauf gedrungen hatte, daß man sich
ja Breslaus versichern solle, und man der Meinung war, daß die Breslauer
Stadtmiliz einem wirklich kriegstüchtigen Heere nicht viel Widerstand werde
leisten können, so erging an Breslau die Weisung, die Stadt solle diesmal sich
zur Einnahme einer kaiserlichen Besatzung bequemen, wobei ausdrücklich ver-
bürgt wurde, daß dieser Ausnahmefall den Privilegien der Stadt unschädlich
sein würde. Die Breslauer, selbst die bestgesinnten der städtischen Beamten,
wie der von der Regierung mit Gunstbezeigungen überhäufte Syndikus von
Deutsches Land und Volk. VIII. 20
\
4'
306 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebuugeu.
Gntzmar, der faktische Leiter der städtischen Verwaltung, erschraken aufs höchste
über dies Ansinnen und beriefen sich auf die großen Vorteile der im Dreißig-
jährigen Kriege so glücklich bewahrten Neutralität. Zwar vermochte eine stärkere
Pression, Drohung mit der größten Ungnade, den Rat in seiner engeren Ver-
sammlung znm Nachgeben zu bringen; aber ehe noch die Zustimmung des
Plenums eingeholt war, wurde dieser Beschluß infolge eines Auflaufes einer
unbewaffneten Menge von Zunftgenossen, die auf das Rathaus drangen, wieder
zurückgenommen und vom Rate die Erklärung abgegeben, bei dem Widerstande
der Bevölkerung müsse die Einnahme der Besatzung abgelehnt werden.
Nach dieser Erklärung hatten die österreichischen Behörden nicht den Mut,
die Besetzung Breslaus durch kaiserliche Truppen doch noch auszuführen, was
unzweifelhaft thunlich gewesen wäre. Ja, in solche Angst geriet der alte Prä-
sident Gras Schaffgotsch, daß er selbst zum Feldmarschall Brown eilte, und als
dieser erklärte, man solle einige Ruhestörer beim Kopfe nehmen, in den „Goldenen
Baum" am Ringe fuhr, ihn dringend bat, er möchte vorsichtiger in seinen
Äußerungen sein, denn der Pöbel sei in seiner Wut im stände, sie alle um-
zubringen; am besten sei es, er verlasse die Stadt. Brown verließ wirklich die
Stadt. In der Besatzungsfrage ließ er sich von dem Rate ein Attest über seinen
bewiesenen, leider erfolglos gebliebenen Eifer ausstellen.
Jetzt war das Schicksal Breslaus besiegelt. Zwar machten sich die Bürger
mit vielem Geräusch an die Selbstverteidigung; aber sie mußten bald einsehen,
daß eine wirksame Verteidigung nicht möglich war, wenn sie nicht sämtliche
Vorstädte niederbrennen wollten, eine Maßregel, zu der sie sich nicht entschließen
konnten. Der Rat schrieb deshalb unter den ausgiebigsten Versicherungen der
Ergebenheit nach Wien, insofern Breslau keine eigentliche Festung und seine
Werke wohl geeignet, den Anprall eines wilden Schwarmes, etwa von Polen,
abzuwehren, aber nicht stark genug sei, um der Belagerung einer regulären Armee
zu widerstehen; und da auf Ersatz nicht zu hoffen sei, werde die Stadt, um
dem äußersten Ruine zu entgehen, sich bemühen, eine Neutralität, wie bei
früheren Gelegenheiten, zu bewirken.
Den Schildwachen wurde streng anbefohlen, ohne besondere Ordre nicht
zu schießen, damit man nicht von seiten der Stadt den ersten Anlaß zu Feind-
seligkeiten gäb.e; und um allem möglichen Unglück vorzubeugen, ließ der Rat
am 29. Dezember das vorrätige Pulver nach Brieg schaffen. In so imponie-
render Haltung erwartete man den Feind, dem man das Zugeständnis der Neu-
tralität abzugewinnen dachte.
Der König eilte nach Breslau. Die letzten Stunden des scheidenden
Jahres (1740) fanden ihn schon im Angesicht der Breslauer Türme, iu Pilsnitz,
wo ihm der Besitzer, ein Breslauer Patrizier, splendide Aufnahme bereitete.
Die Preußen wußten genug von der Lage der Dinge, um sich vor der kriege-
rifcheu Ausrüstung der Wälle nicht zu fürchten; sie riefen den Stadtsoldaten
auf den Wällen scherzhaste Begrüßungen zu und besetzten die Vorstädte. In
der von allen Seiten eng umschlossenen Stadt scheint nicht allzugroße Nieder-
geschlagenheit geherrscht zu haben; denn es ist bekannt, daß es an jenem
denkwürdigen Silvesterabend in den Bierhäusern recht lustig und Heitel zuging.
Ängstlicher mögen die Herren vom Rat das alte Jahr beschlossen haben.
Die ersten Stunden des neuen Jahres brachten ihnen den ersten Gruß einer
Die Jahre 1740 und 1741. 307
anbrechenden neuen Zeit. Noch in der Nacht wurden sie sämtlich geweckt, um
einen Brief aus dem preußischen Hauptquartier zu vernehmen, der ihnen für
den beginnenden Tag die Ankunft zweier preußischer Offiziere mit den Vor-
schlagen des Königs ankündigte. Man empfing die Offiziere mit militärischen
Ehren und geleitete sie nach dem „Goldenen Baum" am Ringe, wo man ihnen
die Räume, die vor 14 Tagen der österreichische Oberkommandant erzürnt der-
lassen hatte, als Wohnung anwies.
Die Breslauer gingen nicht auf die Vorschläge des Königs ein; es wurde
ein Neutralitätsvertrag geschlossen mit dem Zusätze: „bei den jetzigen Konjnnk-
turen und solange dieselben dauern werden", ein Zusatz, der dem König jeden
Augenblick freie Hand ließ. Friedrich durfte in einer Vorstadt ein Magazin
anlegen und zu dessen Besatzung ein Bataillon zurücklassen, auch Lebensmittel
aus Breslau beziehen. Der Vertrag wurde am 3. Januar 1741 unterzeichnet.
Der König hielt noch an demselben Tage als Gast zu Pferde mit vielen
Prinzen und Generalen feinen Einzug in die Stadt durch die Schweidnitzer
Straße und begab sich in die für ihn eingerichtete Wohnung im königlichen
Bankgebäude, das damals dem Grasen Schlegenberg gehörte. Alles Volk
drängte sich herbei, um ihn zu sehen. Es war nicht, als ob ein fremder Fürst
seinen Einzug hielt, sondern als käme der Landesherr zu den Seinigen. Friedrich
gewann sogleich alle Herzen durch die freundliche Begrüßung der Ehrenwachen,
durch seine Herablassung und sein Wohlwollen gegen jedermann. Die Bürger
ergötzten sich an den schönen, geübten und glänzenden Truppen, die man täglich
durch die Stadt oder an derselben vorbeiziehen sah, und sie erstaunten über
die gute Ordnung und Mannszucht, welche die Preußen beobachteten. Der
König selbst zeigte sich oft dem Volke und gab den Breslauer Spitzen am
5. Januar einen Ball, auf dem er die Polonaise tanzte. Damals senkten sich die
ersten Wurzeln patriotischer Gesinnung für das Haus Hohenzollern in die Ge-
muter der Bürger. Erst am 6. Januar verließ der König die Stadt, um die
Eroberung Schlesiens zn vollenden.
Das niedere Volk, welches an den Sturz der österreichischen Herrschaft
auch Hoffnungen auf Erleichterung des Druckes der allerdings hoch gestiegenen
und übel verteilten Steuern knüpfte, pries Friedrich am meisten und nannte ihn
schon damals in Breslau seinen König und Landesvater. Jubelnd sang man
der verhaßten Aceise ihr Grablied:
„Nun ruhen all' Acciser, Da mußten wir stets laufen
Weil Preußen, der Erlöser, Nach Zetteln und sie kaufen,
Befreit uns von der Last, Wenn was kam in die Stadt.
Die dieses Land gedrucket, Gott ändert jetzt die Sachen, •
Es ganz und gar verschlucket Wir sind aus ihrem Rachen,
Und ausgesogen bis aufs Blut. Wie ist es nun so gut gemacht!"
Später, als die Leute mit dem preußischen Adler bekannt wurden, meinten
sie, der Adler habe nur einen Kopf und Hals, der werde wohl nicht so viel
fressen als der vorige, welcher zwei Köpfe hatte.
Anders freilich sah es in den höheren Kreisen aus. Von einer wirklichen
Anhänglichkeit an Österreich war in denselben allerdings nicht die Rede, aber
für preußische Sympathien war der Boden noch ungünstiger. Die großen Kaus-
leute wußten, daß sie durch den Anschluß an Preußen in die Lage kommen
20*
308 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
würden, gleichsam von vorn anzufangen und sich neue Absatzwege eröffnen zu
müssen, nachdem sie erst kürzlich für ihren Handel durch den erleichterten Ver-
kehr mit den übrigen österreichischen Erblanden für schwere Einbußen Ersatz
gefunden hatten. Den Bürgern, die tatsächlich eine fast republikanische Selbst-
ständigkeit genossen, mußte die straffere Art preußischer Staatsform wenig zu-
träglich erscheinen. Nur wenige wünschten die preußische Herrschaft offen herbei,
die meisten schwebten in großer Angst und Ungewißheit und äußerten sich, um
nicht in Verlegenheit zu kommen, gar nicht. Wie konnten sie sich auch für
Preußen äußern, da sich die Verhältnisse jeden Tag ändern konnten, und dann
mußten sie sich die Rache Österreichs gefallen lassen! Der Breslauer Magistrat
spielte deshalb ein zweideutiges Spiel nach Preußen und Österreich hin.
Da kam der Tag von Mollwitz. Die Freunde Friedrichs sprachen in der Stadt
mit Aufregung und Begeisterung. Ms aber weitere Nachrichten über Friedrichs
glücklichen Waffengang ausblieben, sprachen sich wieder die österreichisch Ge-
sinnten freier aus und erhoben ihre Köpfe; und als zwei schwerverwundete
preußische Soldaten im Kloster der barmherzigen Brüder nach einem protestan-
tischen Geistlichen verlangten, meinte der Magistrat, das sei wider die Neutralität.
Allmählich begann das Treiben in Breslau auch den König in seinem
Feldlager zu beunruhigen. Breslauer Damen aus der Aristokratie, meist aus
Böhmen und Österreich gebürtig, zettelten eine Verschwörung gegen die Prenßen
an und suchten Breslau den Österreichern in die Hände zu spielen. Friedrich
mußte seinen Feinden zuvorkommen, und um nicht unnütz Blut zu vergießen,
brauchte er eine Kriegslist. Die Truppen der Preußen in der Nähe der Stadt
Breslau wurden in aller Stille vermehrt und dann die Stadt überrumpelt.
Am 10. August 1741 morgens um 6 Uhr fuhren zum Ohlauer und zum
Sandthore Fuhrmannswagen in die Stadt, welche auf den Zugbrücken hielten,
als ob etwas am Wagen gebrochen sei, und so das Aufziehen der Brücken ver-
hinderten. So konnte das preußische Kriegsvolk überall ungehindert eindringen;
die Soldaten verteilten sich aus die Wälle und entwaffneten die Bürgerwache
ganz freundlich und mit Lachen, jedenfalls ohne irgendwo Widerstand zu finden.
Auf dem Ringe trafen die von allen Thoren herbeieilenden Truppen, In-
fanterie und Kavallerie, an 5000 Mann stark, zusammen. Die Hauptwache
auf dem Ringe wurde ohne Mühe entwaffnet, an den Ecken aller auf den Ring
mündenden Straßen wie auch an sonstigen Hauptknotenpunkten der Stadt wurden
Kanonen aufgepflanzt, neben denen Soldaten mit brennenden Lunten standen,
Reiterpatrouillen durchzogen die Stadt: nirgends hat sich eine Hand zum
Widerstand erhoben, kein Tropfen Blutes ist geflossen, in wenig Stunden war
alles beendigt.
Der Neutralitätsvertrag hatte so allerdings recht schnell sein Ende gefunden,
die österreichische Partei stellte in ihrem Jngrimme die Besetzung Breslaus auf
eine Stufe mit der schmachvollen Okkupation Straßburgs durch Ludwig XIV.;
aber Friedrichs Verfahren erscheint vollständig gerechtfertigt, dieser Schritt als
ein Akt politischer Notwehr, wenn man die so sehr zweideutige Haltung des
Breslauer Magistrates in Erwägung zieht.
In Breslau beeilte man sich, den neuen Stand der Dinge sogleich rechtlich
anerkennen zu lassen. Der Leiter der ganzen Unternehmung, Schwerin, hatte
schon um 8 Uhr den Magistrat sowie die Ältesten der Kaufmannschaft und
Die Jahre 1740 und 1741. 309
der Zünfte aufs Rathaus beschieden, und als die Herren in voller Amtstracht
sich dorthin begaben, trafen sie an den Ecken des Ringes aufgestellte Geschütze.
Auch auf der großen Freitreppe des ehrwürdigen Rathauses schritten sie an
den strammen Gestalten preußischer Grenadiere vorbei, die mit stummer Bered-
samkeit den Ernst der Situation verkündeten. Unter diesem Eindrucke leisteten
die Herren auch ohne jede Schwierigkeit die von ihnen verlangte sofortige Hul-
digung und den Eid der Treue. Als Schwerin, der den Akt der Eidesleistung
mit einem Hoch auf den König beschlossen hatte, das Rathaus verließ und von der
Freitreppe die wogende neugierige Menge erblickte, die sich unbekümmert um die
drohenden militärischen Anstalten auf dem Ringe versammelt hatte, brachte er
noch einmal ein YivatFridericus aus, das dann gleichfalls seinen Widerhall fand.
Um 1 Uhr ritt der Feldmarschall auf den Salzring, auf den die 750
Stadtsoldaten mit ihren Offizieren, alle nur mit dem Seitengewehre bewaffnet,
beschieden waren. Denselben wurde in aller Kürze eröffnet, der König be-
absichtige, sie nun in seinen unmittelbaren Dienst zu nehmen, und es wurden
ihnen die Kriegsartikel und der Fahneneid vorgelesen. Als sie nun erfuhren,
daß sie fortan dem König allezeit zu Wasser und zu Lande getreulich zu dienen
hätten, so erregte zwar diese weite Ausdehnung ihrer Wehrpflicht bei den nicht
übermäßig streitbaren Wächtern des Breslauer Gemeinwohles einigen Schrecken;
als man sie jedoch beruhigte, es werde nicht beabsichtigt, sie zu scharfen Attacken
auswärts zu verwenden, sondern sie bei der Stadt zu belassen, nahmen sie
gesagter jeder seine zwei Zehngröschler (50 Pfennige), um des neuen Kriegs-
Herrn Gesundheit zu trinken. Aus ihnen wurde der Stamm eines Garnison-
regiments gemacht, die Offiziere traten in die preußische Armee über, die
Bürgermiliz hörte ganz auf.
Der bedeutungsvolle Tag verging ganz ruhig, obwohl die preußischen
Soldaten, deren musterhafte Mannszucht sonst alle Berichte ohne Ausnahme
rühmen, im Ratskeller, dem Bitterbierhause und den sonstigen altberühmten
Lokalen recht fröhlich waren und muntere Lieder sangen.
Am folgenden Tage leistete die protestantische Geistlichkeit willig die Hul-
digung; die katholische dagegen (der Fürstbischof war außer Landes) antwortete
mit einer verhüllten Weigerung, als Schwerin sie fragte, ob sie Friedrich als
ihren König anerkennen wolle. Zwar gaben die Breslauer Klöster einen Tag
später nach und leisteten die Huldigung, die Domherren jedoch blieben bei ihrer
Weigerung, weil sie die österreichische Armee fürchteten; doch holten sie später
bei der Landeshuldigung das Versäumte nach.
Am Sonntag nach der Besitzergreifung wurde in allen Kirchen Breslaus
ein Dankgottesdienst abgehalten.
Freilich fühlten nun die Breslauer bald, daß sie nicht mehr den öfter-
reichischen Herrn hatten. Als am 10. August abends die Thorschlüssel zum
erstenmal nicht auf dem Rathause, sondern auf der Kommandantur abgegeben
werden mußten, erklärte der Rat, er hoffe, daß alles bald wieder in den alten
Stand kommen werde. Als dies nun nicht geschah, sondern das Festnngs-
kommando mit allerlei Forderungen hervortrat, wurde dies mit Befremden
und Widerstreben aufgenommen. Was hier so unangenehm überraschte, war
nicht nur die ungewohnte Notwendigkeit, das Militär, das bisher in Breslau
eine so untergeordnete Stellung eingenommen hatte, als herrschende Macht
310 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
anzuerkennen und seine Interessen selbst denen des gewerblichen Verkehrs voran-
gestellt zu sehen; es war schon der Zwang eines schnellen und pünktlichen
Gehorsams, den man in der österreichischen Zeit nicht gelernt hatte. Man
mußte durchaus den alten Gewohnheiten entsagen, man durfte sich nicht mit
den Beamten der Regierung in Unterhandlung einlassen, sondern sollte pünktlich
und schnell gehorchen. Diese Zerstörung der alten Sitten und Gewohnheiten
erzeugte zunächst ein lebhaftes Gefühl der Unbehaglichkeit; man fing an, wie
ein Berichterstatter aus damaliger Zeit schreibt, einzusehen, daß die branden-
burgischen Hosen doch noch enger säßen als die böhmischen. Friedrich gab den
Breslauern in der Person des Kriegsrates Blochmann einen neuen Ratsdirektor,
der den Bürgern bald zeigte, daß das Ende des freistädtischen Breslau heran-
gekommen war. Einrichtungen, die beinahe ein halbes Jahrtausend bestanden
hatten, erloschen jetzt; die alte Form der Verfassung, die einst unter den Pia-
stischen Herzogen sich gebildet und allen Wechsel der Dynastien überdauert hatte,
zerbrach fast geräuschlos in der Hand des großen Hohenzollern. Wie die Bres-
lauer Stadtverfassung verschwand um dieselbe Zeit die schlesische Ständeverfassung,
ein gleichfalls altes, ehrwürdiges Gebäude. Die ganze Besitzergreifung fand
ihren Abschluß in der feierlichen Landeshuldigung, welche im Fürstensaale des
ehrwürdigen Breslauer Rathauses stattfand. Am Abend der Huldigung (am
7. November) wurde in der Stadt illuminiert, was, da es ohne jede offizielle
Anregung zustande kam, immerhin als ein Zeichen günstiger Gesinnung, der
Einwohnerschaft angesehen werden darf.
Auch eiue Medaille zur Erinnerung an die Huldigung wurde geschlagen.
Sie zeigte auf der einen Seite das Brustbild Friedrichs mit der Umschrift:
„Fridericus Borussorum Supremus Silesiae Inferioris Dax". Aus der andern
Seite war Schlesien als eine mit dem schlesischen Adler geschmückte Frauens-
Person dargestellt, die dem König von Preußen eine Krone anbietet; diese Seite
hat die Umschrift: „Justo Yictori". Von diesen Medaillen wurde eine größere
Anzahl verschenkt; auch erhielten sie mehrere Offiziere, besonders diejenigen,
welche bei Mollwitz mitgefochten hatten, und Friedrich der Große ließ ihnen
sagen, er schicke ihnen diejenige Medaille, zu welcher sie den Stempel gemacht hätten.
Die Gesinnung des Königs trat in jenen Tagen deutlich und charakteristisch
hervor. Er verbot die Kanonensalven, weil man Pulver sparen müsse; er ver-
warf die Ausschmückungen des Huldigungssaales als unnötig; er wies das ihm
angebotene Geschenk von 100 000 Thalern zurück, um zu zeigen, daß für der-
gleichen „Geschenke", die entschieden in das Gebiet der Bestechlichkeit fielen, im
preußischen Rechtsstaate kein Raum sei; er richtete am Tage nach der Huldigung
an die höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger der neuen Provinz eine
Ansprache, durch welche er seine neuen Unterthanen über seine Absichten be-
lehrte. Mit fester Energie und ohne Schonung machte sich der König daran,
Schlesien, und besonders Breslau, mit seinen alten Staaten aufs engste zu
vereinigen. Die Breslauer wurden aus einer gewissen Gedankenlosigkeit in eine
srische Bewegung auf allen Gebieten hineingetrieben. Friedrich der Große gab
auf diese Weise den Breslauern ein Vaterland. Gleichgültig kehrten sie in der
Stunde der Gefahr der alten Verbindung mit Österreich den Rücken; aber an
Preußen haben sie stets treu festgehalten, wenn auch schwere Drangsale über
die Monarchie hinzogen.
Breslau während des Siebenjährigen Krieges. 311
Breslau während des Siebenjährigen Krieges. Schon lange bevor man
auswärts an einen dritten Krieg zwischen Friedrich und Maria Theresia dachte,
zeigten sich in Breslau die Vorboten desselben. Im Monat Mai 1756 wurden
die Schanzarbeiten wieder angefangen, vor den Thoren Häuser eingerissen, Re-
kruteu eingestellt. Die ersten Siege der Preußen wurden der Stadt und dem
Dome durch 15 blasende Postillione bekannt gemacht, abends wurde mit allen
Glocken geläutet und am folgenden Sonntag fand in allen Kirchen unter Ka-
nonendonner Dankgottesdienst statt.
Nach der unglücklichen Wendung der preußischen Angelegenheiten durch
die Schlacht bei Kollin hatte der Herzog von Bevern Schlesien zu decken. Am
22. November 1757 standen bei Breslau den 30 000 Preußen 80 000 Öfter-
reicher gegenüber. Beide Armeen rangen miteinander in furchtbarem Feuer.
Als die Kaiserlichen schon triumphierten, eilte ihnen Bevern mit der grimmigsten
Erbitterung über die Leichen hin noch einmal entgegen; aber er mußte dem
österreichischen Führer, dem Prinzen von Lothringen, nachdem er 6200 Tote
und 3000 Gefangene verloren hatte, das Feld lassen und sich durch Breslau
zurückziehen. Auf einer Rekognoszierung wurde er gefangen genommen, und
nun übernahm der General von Kyan den Oberbefehl über das Bevernfche
Korps, das sich zurückzog, um sich mit dem aus Sachsen kommenden Könige
zu vereinigen.
In Breslau glaubte sich der Kommandant, General von Leßwitz, mit
seiner 3000 Mann starken Besatzung nicht halten zu können und schloß höchst
übereilt eine Kapitulation, infolge deren er mit seinen Truppen freien Abzug
erhielt. Dies Verfahren des Generals, der ohne Not die Hauptstadt der Pro-
vinz, die mit ungeheuren Vorräten aller Art angefüllt war, überlieferte, erzürnte
den König so sehr, daß er den Schuldigen zur Kassation und zu mehrjährigem
Festungsarrest verurteilte.
Breslau war nun wieder österreichisch, und die Freunde der Kaiserin sahen
ihre lange genährten Hoffnungen erfüllt. Indes dauerte die österreichische Herr-
schaft nicht lange. Die unmittelbare Folge des berühmten Sieges bei Leuthen
war die Belagerung Breslaus von preußischer Seite, die schon am 7. Dezember
begann. Der Prinz Karl von Lothringen, der voraussetzen konnte, der König
werde das so wenig haltbare Breslau gewiß nicht in seiner Gewalt lassen, ließ
18 000 Mann als Besatzung und 5000 Verwundete in der Stadt zurück und
entzog diese Mannschaften, die er ohne Überlegung dem Sieger in die Hände
spielte, seiner schon ansehnlich geschwächten Armee. Schon am 7. Dezember
verjagte der König die Panduren aus den Vorstädten, am 10. dieses Monats
wurden Schanzen errichtet am Kloster der barmherzigen Brüder und aus dem
Mauritiuskirchhofe. Die Beschießung richtete viel Schaden in der Stadt an.
Am 19. Dezember kapitulierte die Festung, und 18 000 Soldaten mußten das
Gewehr strecken. Es wurden 13 Generale und 700 Ossiziere zu Kriegs-
gefangenen gemacht, und Friedrich nahm sein Hauptquartier in Breslau.
Als dann in den Jahren 1753 und 1759 Friedrich große Verluste er-
litten hatte, geriet im Jahre 1760 Breslau in neue Gefahr. Wie mutig die
Stadt damals Tanentzien gegen Laudon verteidigte, wissen wir bereits (S. 298).
Im Jahre 1761 verschlimmerte sich die Lage des Königs noch mehr durch die
Vereinigung der Russen und Österreicher, die er nicht hatte verhindern können.
312 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Auch Schweidnitz ging verloren. Den Winter von 1761 zu 1762 brachte der
König in seinem wieder aufgebauten Schlosse in Breslau zu, um seiner Armee
nahe zu bleiben. Hier war es, wo er ohne Beistand und ohne Hoffnung seinem
Untergange gelassen entgegensah und nnr zuweilen dem innern Schmerze durch
den Ton seiner Flöte Ausdruck gab. Sein Stern schien erlöschen zu wollen,
denn von seinen Gegnern hatte er auf keine Großmut zu hoffen.
In dieser hoffnungslosen Zeit starb die russische Kaiserin Elisabeth. Ihr
Nachfolger, Peter III., schloß mit Friedrich Frieden und bald darauf sogar ein
Bündnis. Breslau war damals der Schauplatz wichtiger Ereignisse, der Aus-
enthalt merkwürdiger Personen. Die Österreicher wollten den Nachrichten über
Friedrichs Allianz mit Peter keinen Glauben schenken; und als Tschernitscheff
mit andern russischen Generalen in einem großen Aufzuge nach Breslau kam,
behaupteten die gefangenen österreichischen Offiziere, das sei alles nur Blend-
werk, und die mit russischen Ordensbändern gezierten Befehlshaber seien ver-
kleidete preußische Offiziere.
Die Schlacht bei Reuthen am 5. Dezember 1757. Was der General
von Leßwitz hingab, als er so schnell am 24. November 1757 Breslau den
Österreichern opferte, hat er wohl selbst nicht recht bedacht. Friedrich aber
wußte, daß er den Krieg nicht mit Erfolg weiter führen konnte, wenn er nicht
zuvor Breslau wieder in seinen Besitz brachte. Er beschleunigte seinen Marsch
nach Schlesien, legte mit seinem Heere in 16 Tagen 41 Meilen zurück und kam
am 28. November nachmittags in Parchwitz an, wo er bis zum Morgen des
4. Dezember verweilte zur Sammlung, Erfrischung und Ermutigung seines
Heeres. Hier erwartete er den General Zieten, dem er das Kommando des
Bevernschen Korps übertragen hatte. Schon am 3. Dezember vereinigten sich
beide Heere, die nun zusammen nur 32 000 Mann ausmachten. Dazu kam,
daß es Friedrich an Geschütz fehlte, denn Breslau und Schweidnitz, Festungen,
aus denen er seine Artillerie nehmen zu können gehofft hatte, waren in den
Händen der Feinde. In seiner Not ließ er durch Zieten von den Wällen von
Glogau zehn schwere zwölfpfündige Kanonen und sieben Mortiers herbeischaffen,
die ihm dann in der Schlacht vortreffliche Dienste leisteten und unter dem Namen
„Brummer" bekannt wurden. Eine Freude war es für den König, daß seine
Truppen guten Mutes waren und viele Überläufer vom Feinde zu ihm kamen,
die lieber unter ihm, als im Glücke der Österreicher kämpfen wollten. Am
Nachmittage des 3. Dezember versammelte er alle Generale in Parchwitz um
sich und hielt an sie eine Anrede, welche noch nach Jahren diejenigen begeisterte
und zu Thränen rührte, die sie gehört hatten. Es war die Sprache der Wahr-
heit und das Erzeugnis einer Gemütsstimmung, die jeden Ton unmittelbar zum
Herzen des Hörers trug.
Die Österreicher hatten 85 000 Mann, die durch die von ihnen errungenen
Erfolge gehoben in einer fast unangreifbaren Stellung dicht bei Breslau standen.
Der oberste Befehlshaber derselben war Prinz Karl von Lothringen, ein Mann
von feurigem Mute und nicht ohne Feldherrntalent. Ihm zur Seite stand der
Graf Daun, ein besonnener und tapferer General, ein Meister in der Wahl
sicherer Stellungen, höchst berechnend und sorgsam für die Verpflegung seiner
Truppen, aber nicht ein Freund von raschem und kühnem Vorgehen. Beide
Die Schlacht bei Zeuthen am 5. Dezember 1757. 313
Männer standen sich also schon ihrer Natur nach schroff gegenüber, und so
waren sie auch oft in ihren Ansichten über die Führung des Krieges verschieden.
Daun wollte jetzt in dem festen Lager bleiben und die Bewegungen des Königs
abwarten; der Prinz Karl aber, dem unerfahrene Schmeichler zustimmten,
meinte, man müsse dem Feinde entgegengehen, und seine Meinung drang im
Kriegsrate durch. Die Österreicher verließen alsbald ihre feste Stellung und
gingen in der Richtung nach Parchwitz; einige Abteilungen kamen bis Neumarkt.
Als Friedrich dies erfuhr, war er voll Zuversicht und sagte mit großer Heiter-
keit: „Der Fuchs ist aus seinem Loche gekrochen; nun will ich auch seinen
Übermut bestrafen."
Am 3. Dezember war alles zum Aufbruch bereit; am nächsten Morgen
erfolgte der Abmarsch nach Neumarkt zu. An diesem Tage bemächtigte sich der
König in der Stadt der österreichischen Feldbäckerei mit allem, was dazu ge-
hörte, und 80 000 Brotportionen. Am 5. Dezember brach Friedrich noch bei
dunkler Nacht früh um 4 Uhr von Neumarkt auf und begab sich zur Vorhut,
die sich so formierte, daß die Reiterei voranging und das Fußvolk folgte. Der
Morgen war trübe und nebelig, die Stimmung des Heeres feierlich.
Es fing eben an zu dämmern, als die beiden Heere sich einander zu Gesicht
bekamen. Die Österreicher standen in unübersehbaren, ungeheuren Linien und
konnten kaum ihren Sinnen trauen, als sie die kleine Schar der Preußen zum
Angriff heranrücken sahen.
Die feindliche Schlachtlinie war fast eine ganze Meile lang; Friedrich
konnte nur siegen, wenn er es verstand, seine geringe Truppenzahl durch schnelle
und kräftige Verwendung gleichsam zu verdoppeln. Zunächst wurden drei säch-
fische Kavallerieregimenter von der preußischen Reiterei angegriffen und völlig
geschlagen; der sächsische Führer, Gras Nostitz, fiel mit Wunden bedeckt den
Preußen in die Hände und starb am 7. Januar in Breslau.
Als Friedrich seine Feinde aufgestellt sah, sagte er sich sogleich, daß sie
einen großen Fehler gemacht hatten, weil von ihnen ein Terrain gewählt war,
das, wie sie wußten, ihm durch mehrere Manöver, die er dort abgehalten hatte,
bekannt war. Er entwarf alsbald seinen großartigen Schlachtplan: Der linke
Flügel der Feinde mußte mittels der sogenannten schiefen Schlachtordnung an-
gegriffen, zuvor aber auf den rechten Flügel ein Scheinangriff gemacht werden.
Graf Lnchesi, der den rechten Flügel der Österreicher befehligte, glaubte ganz
sicher, als er die ersten Unternehmungen der Preußen wahrnahm, daß es auf
ihn abgesehen sei, trotzdem ihm von den Seinigen gesagt wurde, daß seine
Stellung durch Gräben, Sümpfe und Seen geschützt sei. Er forderte Ver-
stärkungen für seinen Flügel und erklärte, wenn ihm diese nicht zu teil würden,
könne er wegen des unglücklichen Ausganges der Schlacht nicht verantwortlich
sein. Da führte Daun selbst ihm die Reserve zu, und ein großer Teil der
Reiterei des linken Flügels mußte über eine halbe deutsche Meile in vollem
Trabe ebenfalls dahin abgehen. Mit dieser falschen Auffassung des Grasen
Lnchesi in betreff der Absichten des Königs war der erste wesentliche Grund
zu dem glänzenden Siege, den Friedrich erfocht, gelegt worden.
Als Friedrich merkte, daß er die Österreicher in die Irre geführt hatte,
rückte er mit den Truppen, welche wirklich angreifen sollten, nicht weiter vor,
sondern ließ sie parallel mit der österreichischen Front hinter Hügeln nach dem
314 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
linken Flügel marschieren. Nun glaubten die Österreicher, der König habe ihre
Stellung zu stark gefunden und wage keine Schlacht. „Die guten Leute paschen
ab, lassen wir sie doch in Frieden ziehen", sagte Daun. Nadasdy aber, der
Oberbefehlshaber des linken Flügels, sah bald die preußischen Kolonnen hinter
den Hügeln hervorkommen und wußte, daß sein Heer angegriffen werden sollte.
Mehr als zehn hintereinander abgeschickte Boten mußten dem Prinzen Karl die
augenscheinliche Gefahr melden. Dieser befand sich in der größten Verlegenheit,
da die Berichte von zwei seiner vornehmsten Feldherren gerade entgegengesetzt
waren. Als Nadasdy erhört wurde, war es zu spät.
Gegen 1 Uhr, als nur noch vier Stunden des kurzen Dezembertages übrig
waren, gab der König den Befehl zum Angriff. In einem spitzen Winkel dringen
die Preußen in einzelnen Abteilungen (en eclielon) schnell einander folgend auf
den linken Flügel ein und werfen in gewaltiger Kriegswut alles über den
Haufen. So oft auch frische Regimenter heranrückten, sie wurden zurück-
geschlagen, die Reihen gesprengt. Die kaiserlichen Kürassiere wurden durch die
preußische Reiterei aus dem Felde geschlagen Viele Tausende der Österreicher
konnten zu keinem Schusse kommen; sie mußten mit der Masse fliehen. So
gingen die Preußen vorwärts bis zum Dorfe Leuthen, das die Österreicher
besetzt hielten. Hier entbrannte der Kampf am gewaltigsten; denn sobald sich
die „Berliner Wachtparade" dem Dorfe näherte, spieen die Schießscharten Tod
und Verderben. Dichter Kugelregen drang von allen Seiten in die preußischen
Reihen, die schon begannen mutlos zu werden und mit sich überlegten, ob sie
nicht besser thäten, das Dorf aufzugeben, als der Hauptmann von Möllendorf
sich an die Spitze der Garde stellte und rief: „Jetzt wollen wir zeigen, was
wir können! In fünf Minuten muß das Dorf uns gehören! Ein schlechter
Kerl ist, wer einen Schritt rückwärts thnt!" Durch den Kugelhagel hindurch
drang Möllendors mit den Seinigen gegen das Kirchhofsthor, das eingeschlagen
wurde. Der Eingang ins Dorf und somit das Dorf selbst war gewonnen.
Allein der Kampf um Leuthen ist noch nicht beendet. Hinter dem Dorfe setzen
sich die Österreicher von neuem fest. Dort stehen die geworfenen Regimenter
zu einem Knäuel zusammengeballt, zur äußersten Anstrengung entschlossen. Der
Kampf wütet mörderisch. Erst nach 4 Uhr, als der Graf Luchesi, dessen
Truppen noch kein preußisches Feuer an diesem Tage geschmeckt hatten, vom
rechten Flügel herbeieilte und bald geschlagen war, hielt die österreichische In-
fanterie nicht mehr aus. Die Soldaten wichen aufgelöst nach der Gegend von
Lissa. Die Preußen machten auf dem Schlachtfelde 21500 Gefangene und
eroberten 134 Kanonen und 50 Fahnen. Die Österreicher hatten gegen 10 000,
die Preußen über 6000 Tote und Verwundete.
Am Abende brach Friedrich mit einem kleinen Trupp nach Lissa auf. Das
ermüdete Heer blieb auf dem Schlachtfelde, und viele der tapfern Soldaten
sanken vor Hunger, Frost und Mattigkeit auf den feuchten Boden hin. Gegen
7 Uhr abends war der König mit seiner kleinen Truppenabteilung in die Nähe
des Fleckens Lissa gekommen und ritt selbst nach dem Schlosse, dessen Besitzer,
Baron Mndrach, er als seinen treuen Anhänger kannte, während die Soldaten
die Brücke des Ortes besetzen sollten. Er stieg unbesorgt vor dem Hanse ab.
Als er eintrat, fand er sich jedoch von einer großen Menge österreichischer
Offiziere, die hier Zuflucht und Erholung gesucht hatten, umgeben.
Breslau im Frühjahr 1813. 317
Mit der an ihm oft bewunderten Gegenwart des Geistes begrüßte er die
Erstaunten mit den Worten: „Bon soir, Messieurs. Gewiß haben Sie mich hier
nicht erwartet. Kann man hier noch unterkommen?" Die Offiziere, durch diesen
sicheren Ton irre gemacht, glaubten, er habe eine größere Truppenmasse bei sich,
ergriffen dienstfertig die Lichter und leuchteten dem König hinauf in eins der
Zimmer. Friedrich unterhielt sich mit ihnen, bis immer mehr von seinen Truppen
nachgekommen waren und die Offiziere gefangen genommen werden konnten.
Breslau im Frühjahr 1813. Als Napoleon, der gemachte Kaiser der
Franzosen, dessen Schöpfungen beim ersten Sturm zusammenbrachen, während
Friedrichs des Großen Bau Jahrtausende überdauern wird, wie ein Lavastrom
verheerend und sengend sich über Deutschland ergoß, wurde auch Breslau im
Jahre 1306 in Verteidigungszustand gesetzt, die Garnison verstärkt und mit
Lebensmitteln versehen. Am 6. Dezember kam der französische GeneralVandamme
mit den Belagerungstruppen, welche hauptsächlich aus Bayern und Württem-
bergern bestanden, vor der Stadt an, und sogleich begann das Feuer an den
Wällen. Der Kommandant schien Breslau aufs äußerste verteidigen zu wollen
und ließ die Häuser der Vorstädte abbrennen, damit sich der Feind nicht in
ihnen festsetzen sollte. Vom 10. Dezember an wurde die Beschießung der Stadt
mit schwerem Geschütz heftig und für die Stadt so verderblich, daß die Ein-
wohner in Keller und Gewölbe flüchteten. Viele suchten ein Unterkommen im
Schweidnitzer Keller und im Fürstensaale auf dem Rathause. Zwei Kirchen
und mehrere Wohnhäuser bräunten nieder; viele Bürger wurden getötet oder
verwundet. Am 26. Dezember war Waffenstillstand, und es wurde Kriegsrat
gehalten, weil der Feind die Übergabe gefordert hatte. Weil aber eine De-
putatiou von Bürgern erklärt hatte, die Bürger seien bereit, alles für König
und Vaterland aufzuopfern und die Besatzung nach Kräften mit allen Bedürf-
nissen zu unterstützen, sprachen sich die Offiziere gegen die Übergabe aus, und
es wurde beschlossen, die Verteidigung fortzusetzen.
Unterdessen hatte der Fürst vou Pleß in Oberschlesien ein kleines Heer
von 8000 Mann gesammelt und suchte Breslau zu entsetzen. Er kam auch bis
in. bie Nähe der Stadt, sein Plan wurde aber verraten; Vandamme ging ihm
entgegen und schlug ihn bei Ataschin. Die Breslauer hatten sein Herannahen
nicht gemerkt und keinen Ausfall gemacht. Jetzt wurde die Belagerung immer
hitziger, die Leiden der Bürger immer größer. Am 5. Januar 1807 wurde
die Kapitulation abgeschlossen. Die Festung mußte dem Feinde übergeben
werden, und die Besatzung wurde zu Kriegsgefangenen gemacht. Am 7. Ja-
nuar erfolgte die Übergabe, und am 3. Januar hielt Hieronymus, der Bruder
Napoleons, in Breslau seinen Einzug. Alle Häuser wurden mit Einquartierung
belegt und eine Kontribution von 5 Millionen Thalern vom Breslauer Re-
gierungsbezirk gefordert. Die Festungswerke wurden zerstört und 2000 Land-
leute mußten an der Niederreißung und Abtragung derselben arbeiten.
Nach dem unglücklichen Frieden von Tilsit begann die Thätigkeit des edlen
Freiherrn von Stein und des geistvollen Generals von Scharnhorst ihre Früchte
zu tragen; denn nachdem die „große Armee" Frankreichs beinahe gänzlich auf
den Schneefeldern Rußlands elend umgekommen war, verlegte, um freier hau-
deln zu können, der König Friedrich Wilhelm III. im Januar 1813 seine
318 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Regierung von Berlin nach Breslau, wohin er Scharnhorst berief, damit er
die militärischen Angelegenheiten leite, und wo sich auch in aller Stille der
Freiherr von Stein einfand. In Breslau trafen bald alle die Helden des
Freiheitskrieges, Blücher, Gneisenau, Knesebeck und andre, zusammen; Breslau
wurde die Stadt, von welcher die Erhebung und Rettung des Staates ausging.
In Breslau zog am 15. März 1813 der russische Kaiser Alexander ein, nach-
dem er am 23. Februar mit dem Könige von Preußen einen Bund zur Be-
freiung Deutschlands und Europas von der Fremdherrschaft geschlossen hatte,
und die Herzen aller Einwohner schlugen ihm voll entgegen. Von Breslau aus
erging am 16. März Preußens Kriegserklärung an Frankreich und am 17.
März des Königs ewig denkwürdiger „Aufruf an mein Volk", der überall mit
der größten Begeisterung aufgenommen wurde. Zahlloses Volk war damals
in Schlesiens Hauptstadt. Um das königliche Schloß sammelten sich die jungen,
freudig bewegten Männer und zeigten durch Hurrarufe, daß sie ihren König
liebten. In Breslau stiftete auch Friedrich Wilhelm III. den Orden des eisernen
Kreuzes zur Belohnung der Tapferkeit in dem bevorstehenden harten Kampfe.
Leider war über die Verhandlungen in Breslau zu viel Zeit dahingegangen.
Früher als die Verbündeten war Napoleon mit seinen Rüstungen fertig; er
eilte mit einem neuen Heere herbei und drohte vermessen, der preußische Name
solle gänzlich ausgelöscht werden aus der Reihe der Völker. Aber Gott hat
es anders gewollt. Waren auch die vereinigten Preußen und Russen in den
ersten Schlachten nicht entschieden Sieger, so merkte doch Napoleon bald an der
Kühnheit und Todesverachtung der jungen preußischen Krieger, daß ihm dies-
mal sein Vorhaben nicht so leicht gelingen werde. Der General Schuler, der
mit eiuer Heeresabteilung Breslau decken sollte, stand an der Weistritz. Da
aber die Hauptmacht der Franzosen gegen ihn vordrang, so mußte er sich näher
nach Breslau heranziehen. Am 31. Mai kam es bei Neukirch zu einem heftigen
Gefecht, in welchem die Preußen 120, die Franzosen aber 800 Mann verloren.
Wenn sich auch General Schuler am folgenden Tage bis Ohlau zurückziehen
mußte, so war doch Breslau vor einem plötzlichen Überfalle bewahrt worden.
Am 1. Juni 1813 zogen die Franzosen unter dem Befehle des Marschalls
Ney zum zweitenmal in Breslau ein, besetzten die Thore und lagerten sich auf
dem Markte und in den Straßen. Gegen die Bewohner benahmen sie sich mit
ängstlicher Höflichkeit, und in die Häuser kamen sie nur, wenn sie einen Truuk
begehrten. Ihre Mannschaften waren auch nicht geeignet, Schrecken einzujagen;
sie waren meist sehr junge Leute, schlecht bekleidet und so ermüdet, daß sie auf
das Straßenpflaster hinsanken, sobald es ihnen gestattet war. Man staunte in
Breslau über dieses ungewohnte Betragen der Feinde. Es hatte aber seinen
Grund darin, daß sie einerseits die Erhebung des Landsturmes, d. h. einen
Überfall fürchteten, anderseits den strengsten Befehl vom Kaiser hatten, nicht
feindlich aufzutreten, damit sie den Waffenstillstand, den er wünschte, nicht hinderten.
Dieser Waffenstillstand, welcher auf sechs Wochen geschlossen wurde, be-
freite die Stadt Breslau von den feindlichen Gästen. Sie verließen am 11. Jnni
die Stadt und zogen sich nach Liegnitz zurück, weil die Bestimmung getroffen
war, daß Breslau und das benachbarte Gebiet während dieser Zeit von keinem
der beiden Heere betreten werden sollte. Seit dieser Zeit hat die Stadt keinen
Feind mehr gesehen.
320 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Kaiser Wilhelm m Breslau im Jahre 1882. Wie treu Schlesien, und
besonders Breslau, zu den Hohenzollern hält, das kann der beurteilen, der in
der letzten Hälfte des August und in der ersten des September 1882 in Breslau
weilte. Im August besagte das Leben und Treiben in den Straßen der Haupt-
stadt Schlesiens, mit welcher freudigen Begeisterung die Bürger ihrem kaiser-
lichen und königlichen Herrn entgegenharrten. Nicht allein hingebende Treue
und Verehrung für das angestammte Herrscherhaus, dankesvolle Anerkennung
hohen Strebens, glorreicher Thaten und landesväterlicher Fürsorge brachte man
dem Kaiser entgegen; sondern es zeigte sich auch das Gefühl, das mehr oder
weniger in alle Kreise des Volkes gedrungen ist, daß der Name des Kaisers
Wilhelm des Siegreichen zu den glänzendsten zählt, von denen die Geschichte
berichtet, daß Sage und Dichtung ihn preisen werden, wie nur je einen Helden,
daß seine typische Gestalt fortleben wird in unsres Volkes Überlieferungen gleich
derjenigen Karls des Großen, des schwäbischen Rotbarts und Friedrichs des
Einzigen. Eine pietätvolle Bewunderung konnte das scharfe Auge des greisen
Monarchen aus jedem Antlitz herauslesen, das in Breslau zu ihm aufschaute.
Der Kaiser gedachte damals gewiß lebhaft jener Tage, in denen er als sechzehn-
jähriger Jüngling an der Seite seines Vaters in Breslau weilte uud von hier
aus jener alle Herzen entflammende Ausruf „An mein Volk" erging.
Die Fenster seines Schlosses gehen nach dem bis heute noch unverändert
gebliebenen Platze hinaus, auf welchem damals Friedrich Wilhelm III. die
Blüte der schlesischen Jugend, die ihm in der Waffenkleidung vorgeführt wurde,
militärisch begrüßte.
Am Abend des 5. September 1882 zog Kaiser Wilhelm, umgeben von
den Prinzen seines Hauses, mit glänzendem Geleite in Schlesiens Hauptstadt
ein. Was im September 1875 während der Kaisertage man kaum zu hoffen
gewagt hatte, wurde zur schönen Wirklichkeit. Breslau sah den erhabenen
Herrn noch einmal wieder in voller Lebensfrische und Rüstigkeit trotz hohen
Alters, sah ihn im Königsschloß residieren, um seiner ernsten, hohen kriegs-
herrlichen Pflicht, dem Manöver beizuwohnen, zu genügen und die Huldigungen
entgegenzunehmen, in welchen die Gefühle und Gesinnungen der hingebenden
Verehrung, Liebe und Treue seiner Schlesier ihren beredten und würdigen
Ausdruck finden sollten.
Das Bistum Sreslau. Als das Christentum in Schlesien eingeführt wurde
und die ersten Geistlichen in diesem Lande festen Fuß faßten, wählten sie sich
nicht Breslau zu ihrem Wohnsitze, sondern den kleinen Ort Schmogra (S. 5)
und später Riczin. Ob diese beiden Ortschaften wirklich je Bischofssitze in dem
jetzigen Sinne des Wortes gewesen sind, läßt sich nicht sicher entscheiden; aber
es ist wahrscheinlich, daß die Geistlichen, die sich daselbst niederließen, Missions-
geistliche waren, die erst Boden für das Christentum in Schlesien gewinnen
wollten. Die Namen der Bischöfe, welche uns überliefert werden und deren
Träger in Schmogra und Riczin residiert haben sollen, werden am besten ins
Gebiet der Sage verwiesen.
Im Jahre 1000 wird Breslau als Bistumsitz genannt. Von gesicherten
Stiftungen, von geordneten Verhältnissen, die durch die ewigen Kriege zwischen
Kaiser Wilhelm in Breslau im Jahre 1882. 321
Polen, Böhmen und Deutschen unmöglich waren, verlautet lange wenig. Noch
im Jahre 1075 klagte der Papst Gregor VII. über die wirren kirchlichen Ver-
Haltnisse in Polen, zu welchem Schlesien tatsächlich noch bis in unser Jahr-
hundert hinein gerechnet wurde; denn obgleich sich die Zugehörigkeit Breslaus
zu dem Erzbistum Gnesen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr lockerte,
war doch erst E. von Schimonsky (1824—1832) der erste rechtlich nicht mehr
unter Gnesen stehende Bischof von Breslau.
Im 12. Jahrhundert befestigte sich das Christentum immer mehr, uameut-
lich durch die von Fürsten und Laien ausgegangene Berufung von Mönchen.
Im Jahre 1108 wurde das erste Kloster des Landes in Gorkau am
Zobten gegründet und mit flandrischen Mönchen besetzt. Bald darauf begann
die bedeutende Thätigkeit des Grafen Peter Wlast für kirchliche Stiftungen (S. 6).
Boleslaw der Lange berief die ersten deutschen Mönche im Jahre 1175 in das
Land, und zwar nach Leubus. Das erste Nonnenkloster entstand im Jahre
1202 in Trebnitz. Zwanzig Jahre später wurde Heinrichau gegründet. So
entfaltete sich das kirchliche Leben immer mehr nach allen Richtungen hin; die
Schenkungen wurden so gehäuft, daß in Trebnitz 1000 Personen Unterhalt
fanden, daß das Sandstift in Breslau im Jahre 1250 gegen 40 Ortschaften
mit Markt- und Zehntrechten und 52 Kirchen mit ihren Zehnten besaß.
Bis zum 13. Jahrhundert hatten fast alle wichtigeren Mönchsorden und
geistlichen Ritterschaften in Schlesien Fuß gefaßt, und die Klöster wußten es
durchzusetzen, daß sie wie Staaten im Staate fast von jeglicher Unterordnung
und Verpflichtung gegen das Land befreit wurden. Dabei darf nicht vergessen
werden, daß die immer herrlicher sich entfaltende Blüte des Landes zum großen
Teil auf den Schultern der Mönche ruhte. So gewann das Bistum, welches
das ganze kirchliche Leben umfaßte, schnell an Macht und wurde sehr eiufluß-
reich. Der Bischof Nanker trat kühn dem König Johann im Jahre 1339 ent-
gegen (S. 11); vor seinem Nachfolger Pogarell mußten sich Breslaus Bürger
demütigen, und der Bischof Wenzel belegte wiederum im Jahre 1381 die Bres-
lauer mit dem Banne (S. 15). Das sind Thatsachen, die uns deutlich die
Macht des Bischofs beweisen, wie auch die reichen Einkünfte dem Bistum den
Namen des goldenen verliehen.
Die Deformation in Breslau. Johann Heß. Als Luther im Jahre 1517
feinen Kampf mit Tetzel begann, der die Spaltung der Christenheit in Deutsch-
land hervorrief, saß in Schlesien Johann Thurso, ein Mann von ebenso vor-
trefflichem Charakter als großer Einsicht und Gelehrsamkeit, auf dem bischöflichen
Stuhle. Ihm folgte, als der Streit größere Ausdehnung annahm, Jakob von
Salza, der nicht duldete, daß die Ablaßprediger in seinem Bezirke herumzogen.
Aber seit den ältesten Zeiten war der Magistrat zu Breslau der Gegner des
Bischofs und Kapitels: bei Streitigkeiten griff dann der Bischof zum Bann, die
Stadt zu den Waffen; oft hatte gemeinschaftliches Interesse auf Jahre Frieden
und Bündnis gestiftet, aber nie war der Groll ganz erloschen. So kam es, daß
die Lehre Luthers, die dem Bischöfe nicht lieb war, bei den Bürgern Beifall fand.
Als Luther am 20. Dezember 1520 dem Papste den Gehorsam aufsagte,
entschieden sich viele Bürger Breslaus offen für ihn. Damals war die Pfarre
Deutsches Land und Volk. VIII. 21
322 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
zu Maria-Magdalena unbesetzt; denn als 1517 der Pfarrer gestorben war,
entstanden Streitigkeiten über die Wiederbesetzung des Amtes, so daß nur ein
Administrator vom Bischof eingesetzt wurde. Im Jahre 1523 berief der Ma-
gistrat in die offene Stelle den Dr. Heß, einen Freund Luthers. Johann Heß
wurde am 23. September 1490 zu Nürnberg geboren, wo sein Vater ein an-
gesehener Kaufmann war. Er studierte zu Zwickau, Leipzig und Wittenberg,
wurde im Jahre 1511 Doktor der Philosophie und ging nach Schlesien. Im
Jahre 1513 war er Sekretär des Bischofs Johann Thurso, bald darauf Er-
zieher des Prinzen Joachim von Münsterberg-Öls, dann machte er eine Reise
nach Italien, wurde 1519 zu Bologna Subdiakon, zu Ferrara Doktor der
Theologie, zu Rom 1520 Diakon. Während er noch auf dieser Reise war,
machte ihn sein Gönner, der Bischof Thurso, zum Kanonikus und ließ ihn nach
seiner Rückkehr zum Priester weihen. Auch der neue Bischof, Jakob von Salza,
war ihm gewogen; er rief ihn nach Breslau und stellte ihn als Prediger an
der Domkirche an.
Schon damals scheint er seine Neigung zu den Reformatoren, mit denen
er Briefe wechselte, verraten zu haben. In Nürnberg, wohin er im Jahre
1522 eine Reise von Breslau aus unternahm, verhehlte er seine' Liebe zur
Reformation nicht mehr, sondern bekannte sich öffentlich auf der Kanzel als
Anhänger Luthers. Dem Bischof war der Abfall eiues so gelehrten Mannes
und beliebten Predigers unangenehm, dem Magistrat von Breslau sehr er-
sreulich, denn einen solchen Mann wollte er zum Pfarrer zu Maria-Magdalena
haben und wählte ihn. Der Magistrat zeigte seine Wahl dem Bischof an,
wartete dessen Bestätigung aber nicht ab, sondern führte den Dr. Heß unter
großer Versammlung des Volkes in den Pfarrhof am 21. Oktober 1523 ein
und nahm dem damaligen Pfarrverwalter die Schlüssel ab. Am 25. Oktober
hielt Heß seine erste Predigt, und die Kaplans wurden aufgefordert, ihn als
ihr Oberhaupt anzuerkennen. Heß war ein eifriger Seelsorger, aber er änderte
nicht gewaltsam, sondern behielt die überkommenen Gebräuche bei und beguügte
sich zunächst damit, das Abendmahl unter beiden Gestalten zu erteilen und durch
seine Vorträge seine Zuhörer allmählich auf eine größere Trennung vorzu-
bereiten. Bald wurden bei dem Gottesdienste deutsche Lieder gesungen, und
bei der Taufe und dem Abendmahl wurde die deutsche Sprache gebraucht; dann
wurde das Fasten jedem freigestellt und die Priester durften in den Ehestand
treten. Heß verheiratete sich am 8. September 1525, und mit diesem Schritte
hatte er dem Bischof jede Hoffnung auf Wiederherstellung der Einigkeit schwinden
lassen. Nach diesem Zeitpunkt wurden auch bald die Wallfahrten, Prozessionen,
Weihungen u. dgl. abgeschafft.
Johann Heß blieb im ruhigen Besitze seines Amtes, welches er mit großem
Segen verwaltete; besonders sorgte er für die Armenpflege. Gewöhnlich waren
damals die Kirchthüren von armen Leuten umlagert. Schon wiederholt hatte
Heß von der Kanzel herab die Gemeinde ermahnt, sich dieser Unglücklichen an-
zunehmen; aber seinen Worten schenkte man kein Gehör. Da weigerte er sich
mehrere Sonntage nacheinander zu predigen. Um die Ursache befragt, ant-
wortete er: „Der Herr Jesus Christus liegt vor der Kirchthür; über den mag
ich nicht hinwegschreiten." Das half. Es wurden Almosenpfleger eingesetzt
und Heß an deren Spitze gestellt, die fremden Bettler ausgewiesen und die
Die Universität. 323
hilfsbedürftigen Gemeindeglieder in den Hospitälern versorgt. Seinen Be-
strebungen hat Breslau das Allerheiligenhospital zu verdanken. Ein Jahr nach
dem Tode Luthers — also im Jahre 1547 — rief ihn der Herr zu sich; er
starb mit den Worten: „Ach komm', Herr Jesu!" Vor dem Altare der Maria-
Magdalenenkirche liegt er begraben.
Inzwischen war in der Kirche zu St. Elisabeth Ambrosius Moibanus an-
gestellt worden, der in Ingolstadt, Tübingen und Wittenberg studiert hatte,
sich durch Thätigkeit und Klugheit auszeichnete, ein Freund Luthers und des
Dr. Heß war. Nach dem Tode des Pfarrers zu Maria-Magdalena im Jahre
1547 übernahm er als Pfarrer zu St. Elisabeth die Aufsicht über die Bres-
lauer Kirchen, und so wurde die Kirche zu St. Elisabeth die erste protestantische
Haupt- und Pfarrkirche zu Breslau.
Immer mehr breitete sich die neue Lehre in Breslau aus; jetzt haben in
der schleichen Hauptstadt die Anhänger der evangelischen Lehre sechs statt-
liche Pfarrkirchen.
Die Universität. „Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er
an physischen verloren hat." Mit diesen denkwürdigen Worten sprach König
Friedrich Wilhelm III. bereits wenige Wochen nach dem Tilsiter Frieden den
Grundgedanken aus, aus welchem die Wiedergeburt Preußens nach jähem und
tiefem Fall hervorgehen sollte und glorreich hervorging. Eine der wichtigsten
Schöpfungen, welche dieser Gedanke zu Tage förderte, war die Berliner Univer-
sität. Es lag in der Natur der Sache selbst, daß schon der Gedanke der Er-
richtung einer Universität zu Berlin sofort die Frage hervorrief, was denn
neben der neuen aus der alten in dem so überaus nahen Frankfurt an der Oder
werden solle. Nebeneinander konnten beide offenbar kaum bestehen, geschweige
denn fröhlich gedeihen, und es war klar vorauszusehen, daß Frankfurt ein Auf-
blühen Berlins nicht hindern, sondern diesem vielmehr über kurz oder lang zum
Opfer fallen werde.
Bei den Verhandlungen über die Errichtung einer Universität in Berlin
und das Schicksal Breslaus war die Leopoldina in Breslau nicht in Betracht
gekommen. Sie war vom Kaiser Leopold I. im Jahre 1702 gestiftet, den
Jesuiten unterstellt worden und nie zu voller EntWickelung gelangt. Der Je-
suitenorden hatte sich auf die Errichtung einer theologischen und philosophischen
Fakultät beschränkt, die Gründung einer juristischen und medizinischen der Zu-
kunft überlassen. Wie kärglich das Institut ausgestattet war, geht schon daraus
hervor, daß der Etat auf das Jahr 1810—1811 für das gesamte Personal,
den Notarius, Pedell, für die Universitätsfeierlichkeiten zusammen die Summe
von 7625 Thalern anweist. Die Professoren unterrichteten meist auch an den
Gymnasien, an der Universität allein nur dann, wenn sie für den andern Dienst
zu alt und schwach waren. Diese enge Verbindung der Anstalten wirkte natür-
lich auch auf die Lehrweise der Professoren und auf die von ihnen den Stu-
denten gegenüber geübte Disziplin. Die Studenten mußten die Kollegia in einer
vorgeschriebenen Reihenfolge hören und halbjährige Examina bestehen. Durch
diese Einrichtung wurden sie in einer geistigen Unmündigkeit erhalten, die
gar leicht zur geistigen Bequemlichkeit und Trägheit führte. Kaum war die
21*
324
Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Universität Berlin gegründet, als auch das Ministerium daran ging. Breslau zu
reformieren. Schon im Winter 1810—1811 wurden Pläne entworfen, unter
welchen diejenigen der Verlegung Frankfurts nach Breslau und der Vervoll-
ständigung der Leopoldina zur Universität mit zwei theologischen (katholischen
und evangelischen) Fakultäten, einer juristischen, medizinischen und philosophischen
Fakultät scharf hervortreten. Als die ersten Nachrichten von diesen Absichten
des Staates sich verbreiteten, machten sie in Frankfurt und in Breslau einen
sehr verschiedenen Eindruck. Dort herrschte Mißmut und Verstimmung, hier
allgemeine Freude.
Bereits am 24. April 1811 unterzeichnete Friedrich Wilhelm III. folgende
Kabinetts ordre: „Da bei der Nähe der Universität in Berlin sich die in Frank-
furt nicht länger erhalten kann, wie die Erfahrung jetzt schon hinreichend erweist,
mäßig wenig Professoren siedelten nach Breslau über, für die zurückbleibenden
wurde freigebig gesorgt. In Breslau wurde tüchtig gearbeitet, damit die Vor-
lesungen zur festgesetzten Zeit in würdiger Weise beginnen könnten. Das
Universitätsgebäude wurde eingerichtet. Professoren berufen, die Wissenschaft-
lichen Institute ins Leben gesetzt. Es ist müßig, zu streiten, ob die Universität
in Breslau eine Fortsetzung der Frankfurter oder der Leopoldina ist; sie ist
zum großen Teile eine neue Stiftung, und mit vollem Rechte steht um das
Bildnis Friedrich Wilhelms III. auf dem Medaillon der Kette, welche den Rektor
an festlichen Tagen ziert, die Umschrift: Fridericus Gruilelmus III, Borussiae
Eex, Univ. Litt. Stator.
Am 19. Oktober 1811 wurde die Universität feierlich eröffnet, am 21.
desselben Monats begannen die Vorlesungen.
und kein Zweifel ist, daß sie
sich bald von selbst auflösen
würde; da dagegen die Ein-
ziehung der geistlichen Güter
in Schlesien die dortigen
litterarischen und Kunstschätze
mehrt, ein zweckmäßigeres
Lokal darbietet und die Lage
der Provinzen dafür spricht,
so setze ich hiermit fest:
1) Die Universität Frankfurt
wird nach Breslau verlegt.
2) Zu Michaelis 1811 fangen
daselbst die Vorlesungen an."
Bald nach Veröffentlichung
dieser Ordre wurde in Frank-
furt gepackt. Die Bücher,
naturhistorischen Sammlun-
gen, Akten u. s. w. machten
gegen 750 Zentner aus, die
auf Kähnen nach Breslau ge-
schafft wurden. Verhältnis-
Berühmte Breslauer.
325
Berühmte Sreslauer. Von den vielen NM Wissenschaft und Kunst höchst
verdienten Männern, die in Breslau das Licht der Welt erblickt haben, mögen
nur wenige hier erwähnt werden. Der Philosoph Christian Wolf wurde in
Breslau am 24. Januar 1679 als Sohn eines Gerbers geboren. Er besuchte
in seiner Vaterstadt das Gymnasium zu Maria-Magdalena und studierte in
Jena anfangs Theologie, dann Philosophie und Mathematik. In Leipzig wurde
er Magister, im Jahre 1706 zu Halle Professor der Mathematik. Nachdem
er schnell berühmt geworden war, suchte ihu Peter der Große wiederholentlich
nach Rußland zu ziehen: aber Wolf blieb in Halle. Der außerordentliche Ruhm,
den er im In- und Auslande er-
langte, erregte den Neid seiner
Kollegen, von denen mehrere seine
erklärten Feinde wurden, da sie
sast keine Zuhörer hatten, während
sich Wolfs Vorlesungen eines zahl-
reichen Zuspruchs erfreuten. Die
erbitterten Professoren wußten
Wolf so zu verleumden, daß ihn
der König Friedrich Wilhelm I.
aller seiner Ämter entsetzte und
ihm befahl, binnen 24 Stunden
nach Empfang der Ordre die Stadt
Halle und alle königlichen Lande
bei Strafe des Stranges zu räu-
men. Wolf gehorchte am 10. No-
vember 1723 und ging nach
Merseburg, von wo er sofort durch
den Landgrafen von Hessen als
Hofrat und Professor nach Mar-
bürg berufen wurde. Dort blieb
er 17 Jahre, machte die Univer-
sität blühend und verfaßte viele
philosophische Schriften. Ver-
gebens bemühte sich der König
von Preußen, der bald eingesehen hatte, daß Wolf bei ihm angeschwärzt war,
diesen großen Gelehrten für seine Lande wieder zu gewinnen. Erst unter
Friedrich II. kehrte Wolf am 6. Dezember 1740 nach Halle zurück. Die
ganze Stadt jubelte über seine Ankunft, viele Einwohner gingen ihm entgegen,
die Studierenden empfingen ihn zu Pserde und brachten ihn im Triumphe
zur Stadt. Er verlebte noch glückliche Tage, wurde 1745 in den Reichsfrei-
Herrnstand erhoben und starb am 9. April 1754 gekannt und geachtet von
ganz Deutschland. Seine Philosophie ist die Leibnizsche und beruht auf dem
Grundsatze: Diese Welt ist die vollkommenste uud beste.
Auch Christian Garve, der 1742 zu Breslau geboren wurde, der Sohn
eines wohlhabenden Färbers, studierte anfangs Theologie, dann Philosophie
und Mathematik in Frankfurt an der Oder. In Halle wurde er Magister,
dann in Leipzig der Liebling Gellerts. Lange Zeit lebte er in Breslau im
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.
326 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Privatstande nur seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen und Forschungen, bis
er nach Gellerts Tode in Leipzig außerordentlicher Professor der Philosophie
wurde; doch zwang ihn anhaltende Kränklichkeit bald zur Rückkehr iu den
Privatstand; er verlebte den Rest seiner Jahre in Breslau und starb am
I.Dezember 1798. Viele seiner populär-philosophischen Aufsätze werden noch
jetzt gern gelesen.
Noch ein Philosoph von großer Bedeutung wurde in Breslau geboren,
nämlich Friedr. Dan. Ernst Schleiermacher (geb. 21. November 1768), der
geniale Ubersetzer des Plato. Vielleicht noch hervorragender als diese Leistung
sind seine Arbeiten auf dem Gebiete der Theologie, namentlich nennenswert
sind seine Reden; er starb am 12. Februar 1834 zu Berlin als Prediger und
Professor der Theologie. Neben ihm steht der Breslauer Friedr. Aug. Gotttreu
Tholuck, der am 30. März 1799 geboren wurde und am 10. Juni 1877
zu Halle als Professor der Theologie starb; er ist einer der namhaftesten Ver-
treter des Pietismus und von großem Einfluß als Erbauungsschriftsteller und
akademischer Lehrer gewesen.
Breslau ist die Vaterstadt zweier bedeutender Maler. Dort wurde am
15. Februar 1808 Karl Friedr. Lessing, der Großneffe des Kritikers Gotthold
Ephraim Lefsing, geboren, der als Landschafts- und Historienmaler bedeutend
ist und 1855 Galeriedirektor in Karlsruhe wurde; dort auch stand die Wiege
des ausgezeichneten Historienmalers Adolf Friedr. Erdmann Menzel (geb.
8. Dezember 1815), der als Illustrator der Zeit und des Lebens Friedrichs des
Großen Hervorragendes leistete und im Jahre 1853 Mitglied der Akademie
und Professor in Berlin wurde.
Weniger als Maler, mehr als Dichter bekannt ist der Breslauer August
Kopisch. Geboren im Jahre 1799 als Sohn wohlhabender Eltern, erhielt
er eine sorgfältige Erziehung. Der Umgang mit ausgezeichneten Männern,
Bewegung in der freien Natur weckten frühzeitig in dem Knaben den Sinn für
Poesie. Da der junge Kopisch zugleich von einer unbegrenzten Neigung zum
Zeichnen erfüllt war, bezog er 1815 die Kunstakademie zu Prag. Der neu-
gewählte Beruf hatte ihn indessen der Poesie nicht abtrünnig gemacht; und als
in patriotischer Begeisterung die Hälfte seiner Mitschüler gegen Napoleon mit
zu Felde zog, dichtete er, noch zu jung, um selbst iu die Reihen der Kämpfenden
zu treten, vaterländische Oden in Klopstocks Art. Ein Übel an der rechten
Hand, das er sich durch einen Stnrz auf dem Eise zuzog, störte plötzlich
seine Studien und hat, da es sich nie ganz wieder verlor, überhaupt seine künst-
lerische Ausbildung gehindert. Er studierte nun fleißig die Geschichtschreiber
und Dichter der alten Griechen und Römer und die Volkslieder, besonders
die der Serben.
Von 1819 an lebte er mehrere Jahre in Dresden und unternahm eine
Reise nach Italien, wo er Heilung seines Übels erwartete. In Rom ver-
schlimmerte sich seine Hand so, daß er der geliebten Malerei ganz entsagte und
sich ausschließlich der Poesie widmete. Angezogen von Neapels Reizen und
seinem buntbewegten Volksleben, verweilte er drei Jahre in der herrlichen Stadt.
Wie noch kein Deutscher lebte Kopisch im Volke und in den Volkstheatern. Im
Umgange mit Douizetti, im täglichen, freundschaftlichen Verkehr mit dem Lust-
spieldichter Camerano, dem Inbegriff des ganzen neapolitanischen Volkslebens,
Berühmte Breslauer.
327
wurde er von diesem als Don Augusto Prussiano auf die Bühne gebracht
zum unendlichen Jubel seiner Freunde und des Publikums, das ihn kannte.
Auf einer seiner Wanderungen auf der Insel Capri entdeckte er die weltberühmt
gewordene blaue Grotte. Später bereiste er Sizilien. Im Jahre 1828 kehrte
er mit reichen Schätzen in seinen Mappen und mit noch reicheren in seinem
Kopfe nach Deutschland zurück. Von 1838 ab lebte er mit dem Prädikat Pro-
fessor meist in Berlin bis zu seinem Tode am 3. Februar 1853. Von seinen
Gedichten sind die schalkhaf-
ten, munteren und neckisch-
märchenhaften die besten.
„Des kleinen Volkes Über-
fahrt" und „Die Heinzel-
männchen" sind allgemein
bekannte Gedichte, die gern
gelesen und gelernt werden.
Die Historie von Noah:
„Als Noah aus dem Kasten
war", wird in heiterer Ge-
sellschaft oft gesungen mit
ihrer nützlichen Lehre:
„Ein kluger Mann hieraus
erficht,
Daß Weins Genuß ihm schadet
nicht;
Und item, daß ein guter
Christ
In Wein niemalen Wasser
gießt:
Dieweil darin ersäufet sind
All sündhaft Vieh und Men-
schenkind."
Adolf Friedrich Erdmann Menzel.
„Blücher am Rhein
fehlen dürfen:
wird in keinem der Jugeud gewidmeten Lesebuche
Die Heere blieben am Rheine steh'n:
Soll man hinein nach Frankreich geh'n?
Man dachte hin und wieder nach,
Allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Nach Frankreich geh'n ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?" — „Der Feind? — Dahier!"
„Den Finger dranf, den schlagen wir!
Wo liegt Paris?" — „Paris? — Dahier!"
„Den Finger drauf, das nehmen wir!
Nun schlagt die Brücken über'n Rhein;
Ich denke, der Champagnerwein
Wird, wo er wächst, am besten sein!"
Im Fache der Erzählung und des historischen Romans gehörte zu den
beliebtesten Schriftstellern feiner Zeit der am 27. September 1779 in Breslau
geborne Karl Franz van der Velde; er studierte die Rechte und bekleidete
dann mehrere juristische Ämter, war endlich Stadtgerichtsdirektor zu Winzig.
328 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Vielfache Krankheiten trübten seine Tage; er starb, nachdem ein Schlagfluß
seine ganze linke Seite gelähmt hatte, an Brustwassersucht am 6. April 1824
in Breslau. Veldes Romane führen uns Zeit- und Sittengemälde aus den
verschiedensten Ländern der Erde vor Augen; bald weilen wir im deutschen
Vaterlande, bald an den Grenzen Nordamerikas, bald in Mexiko, bald in Cor-
siea, bald im höchsten Norden Europas, bald am Kap, bald in China: überall
malt der Dichter Ort- und Zeitverhältnisse künstlerisch ans und weiß spannend
zu erzählen. So gern und so viel die Werke Veldes noch vor einem Menschen-
alter gelesen wurden, so vergessen sind sie jetzt zum großen Teile, nachdem
neuere Werke die alten verdrängt haben. Zu den jetzt am meisten gelesenen
Verfassern historischer Romane gehört Wilhelm Häring, der im Jahre 1797
zu Breslau geboren wurde, seine Romane unter dem Namen Wilibald Alexis
herausgab und nach vielen und schweren Leiden im Jahre 1871 am 16. De-
zember zu Arnstadt starb. Häring nahm sich Walter Scott zum Muster und
ahmte dem großen Engländer mit vielem Geschick nach. In seinen schönsten
Romanen behandelt er ausschließlich preußische Stoffe, die er sich durch gründ-
liches Studium, tiefes Eindringen in die Zeiten, die er schildert, zu eigen
gemacht hat. So hinreißend weiß er zu erzählen, daß wir in der Zeit, die er
uns vorführt, zu leben glauben. Im „Cabanis" behandelt er das Hosleben
Friedrichs des Großen, im „Roland von Berlin" schildert er den Kampf der
brandenburgischen Städte gegen den Kurfürsten Friedrich den Eisernen; „Der
falsche Waldemar" und „Die Hosen des Herrn von Bredow" geben uns ein
Bild des brandenbnrgifchen Ritterwesens im Mittelalter; „Ruhe ist die erste
Bürgerpflicht" und „Isegrim" enthalten patriotische Bilder aus der napoleonischen
Schreckenszeit. In Verbindung mit seinem Freunde Hitzig gab er den „Neuen
Pitaval" heraus, eine Sammlung von Verbrechergeschichten. Seine „Novellen"
sind zwar etwas schwerfällig geschrieben, haben aber meistens den Vorzug einer
guten Erfindung. Als Dramatiker ist Häring nicht so bedeutend als in der
Erzählung. Sein erstes Stück, „Der verwunschene Schneidergesell", ist zugleich
sein bestes; es ist ein Fastnachtsschwank, in welchem er die unbefangene Heiter-
keit der österreichischen Dichter fast erreicht. In dem Lustspiel „Die Sonette"
geißelt er das Treiben der Schauspielerinnen und Rezensenten.
Die zweite schleiche Dlchtcrschule. Der erste Vertreter der sogenannten
zweiten schleichen Dichterschule, deren Dichter sich die süßlichen und schwül-
stigen Italiener zu Vorbildern nahmen und deren Werke sich deshalb auch durch
Schwülstigkeit in der Darstellung auszeichnen, ist Christian Hoffmann von
Hoffmannswaldau. Dieser Dichter wurde am 25. Dezember 1618 zu
Breslau geboren, besuchte zuerst die Schulen seiner Vaterstadt, dann das Gym-
nasium in Danzig, wo er in Opitz einen Teilnehmer in seinen dichterischen
Versuchen fand. Später bezog er die Universität Leiden und führte lange Zeit
ein nnstätes Leben, da er die Niederlande, England, Frankreich und Italien
bereiste und über Wien in die Heimat zurückkehrte. Im Jahre 1646 wurde
er Ratsherr der Stadt Breslau, 1657 erhielt er den Titel eines kaiserlichen
Rates und starb am 18. April 1679. Schon früh zeigte sich in Hoffmannswaldau
Lust und Liebe zur Dichtkunst; er wollte durch die Poesie nur „belustigen" und
räumte deshalb in der Dichtkunst der Phantasie größere Rechte ein, als ihr
Die zweite schlesische Dichterschule. 329
zukommen; seine Dichtungen enthielten Mutwillen und Frivolität und sinnliche
Glut; er dichtete außer vielen andern Gedichten auch Heldenbriefe, in denen er
eine Reihe historisch berühmter Liebesbegebenheiten nach dem Vorbilde Ovids
durch Briefe, die er die Liebenden aneinander richten läßt, schildert. Einen
falschen Freund stellt er in folgenden Versen dar:
„Was ist doch insgemein ein Freund iu dieser Welt?
Em Spiegel, der vergrößt und fälschlich schöner machet,
Ein Pfennig, der nicht Strich und nicht Gewichte hält,
Ein Wesen, so aus Zorn und bitt'rer Galle lachet,
Ein Strauchstein, dessen Glanz uns Schand' und Schaden bringt,
Ein Glas, an Titeln gut und doch mit Gift erfüllet,
Ein Dolch, der schreckend ist und uns zu Herzen dringt,
Ein Heilbrunn, wie er heißt, aus dem Verderben quillet,
Ein goldgestickter Strang, der uns die Gurgel bricht,
Ein Freund, der ohngesähr das Herze hat verloren,
Ein Honigwurm, der stets mit süßem Stachel sticht,
Ein weißes Hennenei, das Drachen hat geboren,
Ein falsches Krokodil, das weinend uns zerreißt,
Ein recht Sirenenweib, das singend uns ertränket,
Ein Saft, der lieblich riecht und doch die Haut durchbeißt,
Ein Mann, der uns umhalst, wenn seine Hand uns henket,
Ach, hätt' ich, was ich schrieb, nicht auch zugleich erfahren!"
Sowohl im grellen Auftragen der Farben als in der Schlüpfrigkeit der
Darstellung wird Hoffmannswaldau noch überboten durch Daniel Kaspar
von Lohenstein, der im Jahre 1635 zu Nimptsch im Fürstentum Brieg ge-
boren wurde. Erst sieben Jahre alt, trat er in das Gymnasium zu Breslau
ein, lenkte durch sein Talent und seinen Fleiß die Aufmerksamkeit seiner Lehrer
auf sich, dichtete, 15 Jahre alt, das Trauerspiel „Ibrahim Bassa" und bezog
im Jahre 1650 die Universität Leipzig, um Rechtswissenschaft und neuere
Sprachen zu studieren; er machte viele Reisen, wurde dann Syndikus der Stadt
Breslau, kaiserlicher Rat und starb als Protosyndikus in Breslau im Jahre
1683. Lohenstein war ohne Zweifel ein bedeutendes dichterisches Talent und
hätte gewiß etwas Bedeutendes geleistet, wenn er nicht auf die Nachahmung
Hoffmannswaldaus und der Italiener versallen wäre. In seinem vier dicke Bände
starken Roman „Arminins und Thusnelda" entfaltet er den ganzen Reichtum seiner
wüsten Vielwisserei. Wie überschwenglich Lohensteins Poesie ist, mögen die Lobes-
erhebungen beweisen, welche der Dichter die Sonne über die Rose sagen läßt:
„Dies ist die Königin der Blumen und Gewächse,
Des Himmels Braut, ein Schatz der Welt, der Sternen Kind,
Nach der die Liebe seufzt, ich Sonne selber lechze,
Weil ihre Krone Gold, die Blätter Samet sind,
Ihr Stiel und Fuß Smaragd, ihr Glanz Rubin beschämet,
Dem Safte Zucker weicht, der Farbe Schneckenblut,
Weil ihr Geruch die Luft mit Balsame besämet,
Wenn der beliebte West ihr tausend Huld anthnt.
Kurz, sie ist ein Begriff der schönen Welt, ein Spiegel
Der Anmut und der Lieb' ihr wahres Ebenbild:
Der Dorn ist ihr Geschoß, die Blätter sind die Flügel,
Zur Fackel dient ihr Glanz, das Laubwerk ist ihr Schild."
330 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Das Htldengrab zn krieblowitz. Von Breslau aus führt uns in süd-
westlicher Richtung die Freibnrger Bahn nach dem Städtchen Kanth, das an
der Weistritz liegt, dessen 2951 Einwohner sich hauptsächlich vom Ackerbau und
von der Töpferei ernähren. Eine halbe Stuude oberhalb der Stadt liegt, eben-
falls an der Weistritz, das Dorf Krieblowitz, wo der Fürst Blücher, der Mar-
schall Vorwärts, die letzten Jahre seines Lebens zubrachte, indem er sich mit
Landwirtschaft beschäftigte. Wie thateureich war das Leben, das hier sein
Ende fand! Gebhard Leberecht von Blücher wurde 1742 zu Rostock geboren.
Ohne Wissen seines Vaters nahm er als schwedischer Husar während des Sieben-
jährigen Krieges Dienste, geriet in preußische Gefangenschaft, trat in preußische
Dienste und wurde bald Stabsrittmeister. Als er sich 1772 durch Einschub
gekränkt fühlte, nahm er seinen Abschied, kaufte sich iu Pommern an und wurde
Landrat. Nach Friedrichs II. Tode stellte ihn Friedrich Wilhelm II. wieder in
die Armee ein, und zwar in dasselbe Regiment, aus dem er geschieden war,
unmittelbar vor den Major, der ihm einst vorgezogen war. In den Rhein-
seldzügen zeichnete er sich als Oberst aus, kehrte 1794 als Generalmajor zurück,
that den siegreichen Franzosen im Anfange nnsres Jahrhunderts erheblichen
Schaden und wirkte im Freiheitskampfe in mehreren Schlachten entscheidend.
Im Jahre 1813 übernahm er, 71 Jahre alt, den Befehl der preußischen Armee
von 25 000 Mann, zu denen 15 000 Russen stießen; er focht bei Lützen. Bautzen
und Hainau, siegte an der Katzbach, ging bei Wartenburg über die Elbe, trug
durch das Gefecht bei Möckern am 16. und später am 18. Oktober viel zur
Entscheidungsschlacht bei Leipzig bei, überschritt am 1. Januar 1814 bei Kaub
den Rhein, drang rasch gegen Paris vor, stürmte den Montmartre, wodurch
Paris fiel. Im Jahre 1815 befehligte er die 115 000 Mann starke preußische
Armee in Belgien, wurde von Napoleon bei Ligny geschlagen, erfocht mit
Wellington den Sieg bei Belle-Alliance am 18. Juni und stand schon am 29.
Juni wieder vor Paris. Friedrich Wilhelm III. schus einen besondern Orden,
das eiserne Kreuz in einem Stern mit goldenen Strahlen, nur für ihn. Nach
dem Kriege zog sich Blücher auf sein Gut Krieblowitz zurück, wo er starb. Im
Volke lebt der Held noch fort als Marschall Vorwärts. In Berlin steht des
Helden Statue mit gezücktem Schwerte gegenüber der Königswache, in Breslau
errichtete ihm die dankbare Stadt ein Monument; der König Friedrich Wilhelm IV.
ließ über seiner Grust in Krieblowitz ein kolossales Denkmal aus Granitquadern
errichten, des Mannes würdig, der von der ganzen deutschen Nation dankbar
verehrt wird. Wohl weilt der Wanderer gern bei dem Denkmal im Schatten
dreier Linden und denkt der großen ehren- und ruhmreichen Zeit; wem es aber
nicht vergönnt ist, in Krieblowitz des alten Blücher zu gedenken, der nimmt sich
ein Denkmal zu Hand, das den Helden nicht weniger ehrt als der Marmor, ein
Denkmal, das dem siegreichen Feldherrn Ernst Moritz Arndt setzte, indem er sang:
„Was blasen die Trompeten, Husaren heraus!
Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus;
Er reitet so freudig sein mutiges Pferd, ^
Er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.
O schaut, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schaut, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter, wie greifender Wein,
Drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein."
Breslauer Sagen.
331
Lreslaucr Sagen. Die Armesünderglocke.
„War einst ein Glockengießer Ein ehrenwerter Meister,
Zu Breslau in der Stadt Gewandt in Rat und That."
So beginnt ein schönes Gedicht von Wilhelm Müller, das uns erzählt von
einem berühmten Glockengießer in Breslau, der eine große Glocke für einen
der beiden Türme der Maria-Magdalenenkirche schon bis zum Guß vollendet hatte.
Blücherdenkmal zu Kneblowitz,
Die aus Lehm gebrannte Form war fest in den Boden eingerammt, die In-
schriften und Bilder waren sorgsam geschnitten, das Metall kochte im Ofen,
als der Meister zum Bürgermeister gerufen wurde. Er war zwar unwillig
über die Störung, ging aber, nachdem er seinem Lehrling befohlen hatte, ja
nicht vorwitzig dem Zapfen des Ofens zu nahe zu kommen. Der Knabe aber
schlug den Zapfen ein und das fließende Metall ergoß sich in die Form. Der
zurückkehrende Meister erschlug im Zorn seinen Lehrling, da er fürchtete, lange
Zeit vergeblich gearbeitet zu haben. Aber die Glocke war wohl gelungen. Reue-
voll kleidete sich der Meister sonntäglich, stellte sich dem Gericht und wurde
bald zum Tode verurteilt. Er hörte sein Urteil ruhig an und bat nur, es
möchte auf seinem letzten Lebensgange mit seiner Glocke geläutet werden. Dieser
sein letzter Wunsch wurde ihm erfüllt, und seitdem wurde die Glocke „Maria"
nur noch angeschlagen, wenn ein armer Sünder zur Richtstätte geführt wurde.
Der steinerne Kopf an der Kathedrale. In Breslau lebte einst ein
sehr geschickter und angesehener Goldschmied, Namens Frank, der ein liebliches
332 Die schlesische Hauptstadt und ihre Umgebungen.
Töchterlein und einen hübschen, aber trotzigen und leichtsinnigen Burschen hatte.
Aus diesem Lehrling und dem Töchterchen des Meisters wurde gar bald ein
Liebespaar; aber Meister Frank dachte nicht daran, dem armen und unerfahrenen
Burschen seine Tochter zu versprechen. Darüber ergrimmte der Bursche und
zog hinaus in die Welt; er hoffte durch seine Geschicklichkeit in der Weite
seine Nahrung zu finden, aber niemand nahm ihn in Arbeit, weil er sich nicht
als Geselle ausweisen konnte. So kam er denn bald herunter, irrte planlos
umher in zerrissenen Kleidern und halb verhungert. Als er eines Tages er-
wachte — er hatte unter freiem Himmel im Walde geschlafen — standen einige
wild aussehende Männer um ihu, die ihn aufforderten, einer der Ihrigen zu
werden; sie seien Straßenräuber, die ein lustiges Leben führen. Der Bursche
nahm den Vorschlag an, blieb über zwei Jahre bei den Räubern und hatte das
Glück, allein den Verfolgern zu entgehen, während alle seine Kameraden der
Gerechtigkeit in die Hände fielen. Mit den geraubten Schätzen beladen, ritt er
in seine Vaterstadt ein, ging zum Vater seiner Geliebten und bat um die Hand
derselben; er erzählte, wie ihm in der Welt alles geglückt sei und er als reicher
Mann zurückkehre; aber Meister Frank glaubte dem Burschen nicht und warf
ihn zur Thür hinaus. Wütend und Rache schnaubend eilte der Räuber nach
der Insel des Domes, wo der ihm verwandte Domtnrmwart ihm eine Herberge
gab. In der Nacht schlich er fort, erbrach den Laden des Goldschmiedes, warf
Stroh, Zunder und zuletzt eine brennende Lunte hinein und entfloh dann. Kaum
hatte er den Dom erreicht, da weckte die Sturmglocke die Bürger; denn des Gold-
schmieds Haus brannte hell, und vom Sturme getrieben wälzte sich die Flamme von
Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Der boshafte Brandstifter steckte den Kops
durch eine Luke des Domturmes und sog gierig den Rauchdampf ein, der den Turm
einhüllte. Da kam ihm plötzlich ein wunderliches Grausen an; es kam ihm vor,
als werde ihm die Luke zu eng. Er wollte seinen Kopf zurückziehen, aber konnte es
nicht. Immer enger zog sich das steinerne Band um seinen von der Anstrengung
geschwollenen Hals. Er zerschlug sich die Häude an der Mauer, die ihn gesangen
hielt; er schrie um Hilfe, die Augen traten starr aus ihren Höhlen, und sehr
bald endete der Verräter sein Leben durch Erstickungstod. Das Gesicht an der
Mauer des Turmes, noch heute sichtbar, ist das Konterfei des Bösewichts.
Hofer mit dem langen Barte. Zur Zeit Karls Y. lebte in Breslau
ein Weißgerber, der Hofer hieß uud einen so langen Bart hatte, daß er ihm
bis auf die Sohlen feiner Füße reichte. Damals ließ sich in Wien ein fremder
Mann mit einem langen Barte für Geld sehen; und als zwei Ratsherren aus
Breslau erklärten, daß in ihrer Vaterstadt ein Mann lebe, der einen längeren
Bart habe, wollte das der Kaiser nicht glauben, befahl dann aber, daß Hofer
auf seine Kosten nach Wien kommen und, wenn er den Sieg über den Fremden
davontragen würde, sich eine Gnade von ihm ansbitten folle. Hofer reiste nach
Wien, stellte sich dem Kaiser vor, und es zeigte sich alsbald, daß sein Bart
länger war als der des Fremden. Als nun der Kaiser den Sieger ausforderte,
sich eine Gnade auszukitten, sagte Hofer, der ein reicher und bereits bejahrter
Mann war, er bedürfe nichts; allein wenn ihm der Kaiser eine Gnade bewilligen
wolle, so möge er befehlen, daß, wenn er gestorben sein würde, der gesamte
Breslauer Rat seine Leiche begleiten solle. Diese Ehre ist ihm bewilligt worden,
und das Grabmal Hofers ist noch heute in der Kirche zu St. Barbara zu sehen.
Die Piastenburg zu Liegnitz.
Der schlejW Schlnlhteilslllß, die Klihblich.
Liegnitz. — Die Mongolenschlacht im Jahre 1241. — Die Klöster Leubus, Trebnitz,
Heinrichau. — Die Schlacht auf den Pfaffendorfer Höhen bei Liegnitz am 15. August
1760. — Die Landwehrschlacht an der Katzbach am 26. August 1813. — Die Ritter-
akademie zu Liegnitz. — Sehenswertes in und um Liegnitz.
Liegnitz, die Hauptstadt des Regierungsbezirkes, Fürstentums und Kreises
Liegnitz in Niederschlesien, liegt in lieblicher Gegend von reizender Umgebung,
mit mäßigen Höhenzügen umkränzt; es hat 37 157 Einwohner, von denen drei
Viertel evangelisch, die übrigen meistens katholisch sind. Neben und durch die
Stadt fließt von Süden nach Norden die Katzbach, ein reißender Fluß, der
nach einem Laufe von 90 km und einem Gefälle von 350 vi unterhalb
Parchwitz in die Oder mündet. Einst umgaben Sümpfe und Waldungen die
Stadt. Jetzt sind die Sümpfe ausgetrocknet und die Wälder gelichtet, und
üppige Saatfelder, fruchtbare Kräutereien, blumenreiche Anlagen wechseln mit
Baumgruppen, Villen und stattlichen Gebäuden in wohlthuender Mannigfaltig-
keit ab, so daß mit Recht Liegnitz jetzt das zweite Auge Schlesiens genannt wird.
Der Ort ist sehr alt, wie die in der Umgegend aufgefundenen Urnen und
Geräte beweisen. Auch der Name scheint für ein hohes Alter der Stadt zu
sprechen, wenn anders wirklich Liegnitz aus Lygiorum yicus oder Lygii vicus
334 Der schlesische Schlachtenfluß, die Katzbach.
entstanden ist. Dann hätte der Ort schon vor der slawischen Einwanderung
bestanden und wäre von deutschen Lygiern bewohnt gewesen. Später gehörte
er zum großen Polenreiche und wurde, als sich Schlesien von Polen trennte,
im Jahre 1163 Hauptstadt eines piastischen Fürstentums.
Die Mongolcnschlacht im Jahre 1241. Heinrich der Bärtige starb im
Jahre 1238. Ihm folgte sein Sohn Heinrich II., der Fromme, der mit Anna,
der Tochter des Königs Ottokar von Böhmen, vermählt war. Er hatte noch
nicht lange regiert, als seinem Reiche der Untergang vom fernen Osten her drohte.
Die Tata, welche als Ausgeburten des Tartarus, der Hölle, von den
Abendländern Tataren genannt wurden (?), waren eine zahlreiche Völkerschaft,
welche jahrhundertelang im nordöstlichen Asien herumziehend ihre Herden
weidete. Es waren kleine, gedrungene Gestalten; ihre Gesichter hatten tief-
liegende Augen, stark hervorspringende Backenknochen uud kleine Nasen. Von
Jugeud auf au Reiten uud Bogenschießen auf Jagden und Raubzügen gewöhnt,
fochten sie auch nur zu Pferde, indem sie ihre Pseile abschössen, doch in der
Nähe das längere Schwert gebrauchten. Erbarmen gegen die Feinde kannten sie
nicht. Aus einem ihrer vorzüglichsten Stämme, den Mongolen, entsprang der
gewaltige Temudschin, der seit 1209 als der Dschengischan, d. h. Chan der
Chane oder König der Könige, die Herrschaft über alle Tata errang, welche nach
dem nun vorherrschenden Stamme häufig insgesamt Mughals(Mongolen) genannt
wurden. Der Dschengischan hatte bis zum Indus und Dnjepr alle Staaten er-
obert und großenteils verheert, die blühenden Städte verbrannt und zerstört,
die zahlreichen Einwohner erbarmungslos niedergehauen oder in die Sklaverei
mit sich fortgeschleppt und überall Schrecken, ja Entsetzen verbreitet. Unter
seinem Sohne und Nachfolger, dem Großchane Oktai, überschwemmten die Mon-
golen, befehligt von dessen Neffen Batu, mit unzählbaren Reiterscharen vom
Aralsee her Rußland, verwüsteten, verbrannten, mordeten ohne Schonung und
zogen über die rauchenden Trümmer von Moskau und Kiew gegen Polen und
Ungarn. Während Batu mit der Hauptmacht in Ungarn eindrang, fiel ein Teil
der Mongolen unter Peta in Polen ein, kämpfte glücklich, verbrannte Krakau
und zog im März 1241 nach Oberschlesien. Der Herzog von Oppeln versuchte
vergeblich, ihnen den Übergang über die Oder zu wehren; sie schwammen bei
Ratibor durch den Fluß und zogen gegen Breslau, wo die Bewohner in ihrer
Burg mutig die anrückenden Feinde erwarteten. Ohne die Burg erobert zu haben,
zogen sie weiter. Als Heinrich II. von dem Anzüge der Feinde hörte, verließ
er Liegnitz und ritt zu seinem in der Gegend des heutigen Wahlstadt aufgestellten
Heere. Am 9. April (1241) gab er den Befehl zum Angriff. Die Mongolen
hatten ihr Heer in fünf Haufen geteilt, ebenso teilte Heinrich das seinige. Den
ersten Hausen bildeten die Kreuzträger oder Kreuzfahrer mit den 600 Berg-
knappen der Goldberger, den zweiten die polnischen, den dritten die oberschle-
fischen Truppen, den vierten die deutschen Ritter, den fünften der Herzog selbst
mit dem Kerne seiner schleichen und in Deutschland geworbenen Truppen. Der
erste Hause machte den Angriff, und die Mongolen zogen sich zurück, um nach-
her über die unbesonnen vordringenden Kreuzfahrer herzufalleu und sie nieder-
zuhauen. Nicht glücklicher focht der zweite und dritte Haufe; es erhob sich im
entscheidenden Augenblicke unter den Polen ein Geschrei: „Schlagt tot, schlagt
Die Mongolenschlacht im Jahre 1241. 335
tot", was falsch verstanden wie „Fliehet, fliehet" klang. Unordnung riß ein,
und die Mongolen jagten ihre Gegner in die Flucht. Nun standen die beiden
letzten Haufen allein noch auf dem Schlachtfelde, und wenngleich ihre Feinde
ihnen weit überlegen waren, so hatten sie doch eine geordnete Stellung und
eine regelmäßige Art des Angriffes voraus, und außerdem waren sie durch ihre
Panzer und Rüstungen ziemlich gesichert vor den Pfeilen der Mongolen, die
dagegen vor ihren Streichen nicht durch Panzer geschützt waren. Schon glaubten
die Christen den Sieg erfochten zu haben, als sich plötzlich das Glück wendete
und eine allgemeine Flucht den Mongolen den Sieg in die Hände gab.
Als Ursache dieses schnellen Wechsels gibt man an, die Mongolen hätten eine
lange Stange in Gestalt eines Kreuzes erhoben; auf deren Spitze hätten sie einen
Menschenkopf von fürchterlichem Aussehen gesteckt, welcher einen starken und
stinkenden Rauch von sich geblasen habe. Man vermutet, daß diese Stauge ein
Werkzeug gewesen sei, Steine und brennende Stoffe fortzuschleudern, wie es
die Mongolen in ihren Kriegen in China kennen gelernt hatten; andre glauben,
sie sei nur ein Feldzeichen gewesen, um die Streiter zusammenzuhalten. Was
es auch für ein Ding war, die Christen hielten es für eine teuflische Zauberei,
der sie nicht widerstehen könnten, und flohen. Nur Herzog Heinrich wehrte sich
noch, und vier Ritter hielten bei ihm aus. Er wollte sich endlich durch die
Feinde durchschlagen, aber er verlor sein Pferd; einer seiner Begleiter brachte
ihm ein frisches; drei seiner Treuen fielen neben ihm. Schon an der linken
Hand verwundet, wollte der Herzog noch einen kräftigen Hieb thuu, als ein
Mongole ihn mit seiner Lanze unter der Schulter traf und niederstieß. Der
treue Jwanowitz entkam mit zwölf Wunden bedeckt; aber über Heinrichs Leich-
nam sielen die Mongolen her, entkleideten ihn und hieben ihm den Kopf ab,
den sie auf einer Stange als Siegeszeichen forttrugen. Mit diesem Kopfe ritten
sie vor das Schloß von Liegnitz, in welchem vier Söhne Heinrichs in Sicher-
heit waren. Indem die Mongolen den Liegnitzern Heinrichs Haupt zeigten,
hofften sie, das Schloß werde sich ihnen ergeben. Da sie aber ernste Gegen-
wehr fanden, zogen sie ab und nahmen bald darauf ihren Rückzug an der Seite
des Gebirges nach Mähren zu. Ihr Aufenthalt in Schlesien hatte kaum sechs
Wochen gedauert, und dennoch war das ganze Land von Ratibor bis Liegnitz
verheert und verwüstet, und alle Orte, durch welche sie zogen, waren von ihnen
niedergebrannt worden. Wie groß ihre Anzahl in der Schlacht bei Liegnitz ge-
wesen, ist nicht genau anzugeben, wahrscheinlich aber betrug sie nicht über 50 000
streitbare Männer. Heinrichs Heer soll sich auf 30 000 Mann belaufen haben.
Vieles hat eine spätere Zeit zu dieser Begebenheit hinzugedichtet. So sollen die
Mongolen jedem in der Schlacht gefallenen Christen ein Ohr abgeschnitten und
mit diesen Ohren neun Säcke gefüllt haben. Noch jetzt feiern die Liegnitzer all-
jährlich am Sonntage nach dem 9. April das Ohrenfest. Zahlreiche Scharen von
Bewohnern der Stadt und Umgegend ziehen an diesem Tage nach Wahlstadt,
und in den Kirchen wird von den Geistlichen des furchtbaren Kampfes gedacht;
auch Gemälde am Altar und an der Decke der katholischen, am Altar der evan-
gelischen Kirche stellen Szenen der Schlacht dar.
336 Der schlesische, Schlachtenfluß, die Katzbach.
Die Klöster Leubus, Trebnitz, Heinrichau. Nicht weit von der Stelle,
wo die Katzbach in die Oder fließt, liegt auf der rechten Seite des Stromes
Lenbns, das bis 1810 Cistercienserabtei und Schlesiens schönstes und größtes
Kloster war. Es ist wohl in das Gebiet der Sage die Nachricht zu verweisen,
daß Kasimir I. von Polen (gest. 1058) das Kloster Lenbns an der Oder ge-
stiftet und in dasselbe die Benediktiner gesetzt habe. Verbürgt ist die Angabe,
daß Boleslaus der Lange, der Großvater des bei Wahlstadt gefallenen Heinrich,
die Cistercienser nach Leubus berief. Im Jahre 1175 stiftete er das Kloster,
wie es in der Urkunde heißt, aus Liebe zu dem Heilande Jesus Christus und
zur Ehre der allerseligsten Jungfrau, um für das Heil seiner Seele sowie der
Seelen seiner Eltern und Anverwandten zu sorgen, und widmet es den Cister-
densern, die durch strenge Klosterzucht, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit sich vor
andern auszeichnen. Deshalb nimmt er alles, was dem Stifte Leubus gehört,
in seinen besondern Schutz und empfiehlt dasselbe auch dem Schutze seiner
Nachfolger im Hinblick auf den himmlischen Lohn. Das ganze Besitztum des
Stiftes soll einzig und allein dem Abte und den Brüdern gehören, die der
Herzog nicht als Landwirte oder Anbauer, sondern als Gelehrte, als Pfleger
des Gottesdienstes und als Männer aufgenommen habe, die ihr Leben der Be-
trachtung himmlischer Dinge weihen. Deshalb schenkt der Herzog dem Stifte
mehrere Dörfer und erteilt ihm eine Menge von Privilegien. Herzog Heinrich I.
bestätigte nicht nur die Stiftung seines Baters, sondern fügte viele neue Schen-
hingen hinzu, so daß sich Leubus zu bedeutender Höhe emporschwang. Auch
seine Nachfolger bedachten das Stift mit fürstlichen Spenden. In den Anfang
des 14. Jahrhunderts fällt die Stiftung der Fürstenkapelle an der Stiftskirche
zu Leubus, eins der schönsten Denkmäler mittelalterlicher Baukunst, das noch
heute die Blicke aller auf sich lenkt, welche diese majestätische Kirche besuchen
und den reichen Schatz von Monumenten mit Aufmerksamkeit betrachten, die
das Innere der Kirche in sich bewahrt. In dieser Kapelle fand seine Ruhe-
statte Boleslaus III., Herzog von Brieg, ein Fürst, der seine Regententugenden
durch grenzenlose Verschwendungssucht befleckte. Die von ihm gestiftete Fürsten-
kapelle steht mit der Stiftskirche zu Leubus in Verbindung und ist eins der
schönsten in Kreuzesform und im reinsten gotischen Stil aufgeführten Gebäude.
Die Kapelle ist im Rohbau aufgeführt und mit einem Türmchen, das ein
Glöckchen trägt, geschmückt; das Innere ist mit weißen und blauen Marmor-
quaderu gepflastert; das aus rotem Steiu gefertigte, aber angestrichene Grabmal
des Herzogs erhebt sich mitten im Kreuze der Kapelle über dem Fußboden.
Der Herzog ruht auf diesem Grabmale ^dessen obere Platte an den vier Ecken
von vier schlesischen Adlern getragen wird, in voller Rüstung, in der Rechten
ein Kirchengebäude haltend, mit der Linken das Schwert fassend und mit den
Füßen auf einen Löwen tretend; die Fürstenkrone hat er auf dem Haupte und
mit dem Fürstenmantel ist er bekleidet.
In Frieden lebten die Mönche in Leubus und erfreuten sich ihres reichen
Besitzes, bis im Juni 1432 die Hufsiteu unter Prokop das Kloster ausplün-
derten, die Stiftsgebäude in Brand steckten und die friedlichen Bewohner des
Stiftes auf die unmenschlichste Weise mißhandelten. Der damalige Abt Martin
mußte mit seinen grausam gepeinigten Ordensbrüdern die Flucht ergreifen, auf
welcher mehrere das Leben einbüßten. Das Stift wurde in die traurige Lage
Die Klöster Leubus, Trebnitz, Heiurichau. - 337
versetzt, mehrere Güter an benachbarte Gutsbesitzer veräußern zu müssen, damit
die Mönche dem augenblicklich eingetretenen Geldmangel einigermaßen abhalfen.
Allmählich wurde die Lage des Klosters wieder eine bessere; es wurde im Jahre
1310 aufgelöst. Die Abtei ist jetzt eine Jrrenheilanstalt; in den ehemaligen
Ökonomiegebäuden befindet sich ein königliches Landgestüt.
Die bedeutendste Stiftung Herzog Heinrichs I. und seiner Gemahlin, der
heiligen Hedwig, ist unstreitig die des Klosters Trebnitz. In einem fruchtbaren
Thale im östlichen Schlesien liegt das freundliche Städtchen (4733 Einw.) lang
hingestreckt am Quellbache der Schätzka mit dem imposanten Stistsgebände und der
majestätischen Kirche. Sanft aufsteigende Hügel, größtenteils mit Buchen, Birken
und Lärcheubäumen bewachsen, umgürten fast in einem Halbkreise auf der
Morgenseite das Kloster, so daß es den Reisenden, die von Militsch kommen,
erst sichtbar wird, wenn sie die Nähe der Stadt erreicht haben. Mit großem
Eifer betrieb das Fürstenpaar den Bau des Klosters, so daß schon ein Jahr,
nachdem Heinrich I. die Regierung angetreten hatte, das Gebände unter Dach
gebracht war. In demselben Jahre (1203) zogen geistliche Jungfrauen in das
Kloster ein, obgleich die feierliche Einweihung erst 1219 erfolgte. Hundert
Nonnen bewohnten das Kloster, denen als erste Äbtissin Petrussa, die Er-
zieherin der heiligen Hedwig im Kloster Kitzingen, vorgesetzt wurde. Das
Kloster war gegründet worden, damit die Nonnen an heiliger Stätte Tag und
Nacht das Lob Gottes mit Gebet und Chorgesang verkündeten nnd zu ewigen
Zeiten für das Seelenheil des fürstlichen Stifters und seiner Verwandten beteten,
damit die Nonnen durch Werke der Barmherzigkeit und der christlichen Liebe
den Bedrängten hilfreich beistehen und den Druck schweren Knmmers den Be-
lasteten erleichtern möchten; damit das schwache Geschlecht daselbst eine Zusluchts-
stätte des Trostes zur Sühnung seiner Sünden durch die Erbarmungen und
Gnade Gottes finden möge.
Die Sage erzählt über die Veranlassung zur Stiftung des Klosters Trebnitz
Folgendes: Herzog Heinrich war ein Freund der Jagd. In den dichten Wal-
düngen um Trebnitz ging er dieser seiner Lieblingsbeschäftigung gern nach. Als
er eines Tages ein Wild eifrig verfolgte, merkte er nicht, wie er sich immer
hastiger von seinem Gefolge entfernte und in die Tiefe eines Snmpfes und da-
durch in die größte Lebensgefahr geriet. Er vermochte es nicht, sich mit seinem
Pferde herauszuarbeiten. Da that er das Gelübde, ein Kloster dort zu gründen,
wo er sich in der großen Lebensgefahr befand, wenn er gerettet würde. Gott
rettete den Herzog und nahm sein Gelübde mit Wohlgefallen an. Diese Sage
ist weit verbreitet, aber nicht geschichtlich wahrscheinlich, weil in der Stiftungs-
Urkunde des Klosters der wunderbaren Rettung des Herzogs nicht gedacht wird.
Ebenso unhaltbar ist die Sage, welche sich an den Namen Trebnitz knüpft. Als
die Äbtissin mit ihren Nonnen in das Kloster eingezogen war, habe man sie
gefragt, ob noch etwas fehle; darauf habe sie „Trzeba nie", d. h. „Es ist weiter
nichts nötig", geantwortet; aus diesem Trzeba nie sei Trebnitz entstanden.
Aber wir wissen, daß der Ort Trebnitz, der höher liegt als das Kloster, schon
bestand, als das Kloster gegründet wurde. Ferner ist nicht anzunehmen, daß
die erste Äbtissin Petrussa aus Kitzingen der polnischen Sprache mächtig war.
In Trebnitz war die Herzogin Hedwig gestorben, und hier wurde auch
ihre Heiligsprechung im Jahre 1263 gefeiert. Statt der alten Kapelle St. Peter
Deutsches Land und Volk. VIII. 22
338 - Der schlcsische Schlachtenfluß, die Katzbach.
und Paul wölbte sich bald über dem neuen Grabe der Heiligen die majestätische
Hedwigskapelle, zu welcher der Erzbifchof Wladislaus von Salzburg, ein Enkel
der Herzogin, mit eigner Hand im Jahre 1268 den Grund legte. Diese Pracht-
volle Kapelle wird mit Recht ein schätzbares Mausoleum des Piastischen Fürsten-
Hauses genannt, denn außer einem Teile der Gebeine der heiligen Hedwig ruhen
in derselben die sterblichen Überreste von 13 fürstlichen Personen.
Bis die Hnssiten in Trebnitz einfielen, entwickelte sich dasselbe immer mehr
ohne Störung; aber als diese wilden Horden im Jahre 1432 heranzogen,
brannten sie das Städtchen Trebnitz völlig aus; die wehrlose Äbtissin flüchtete
sich mit ihrem Konvente vor der Grausamkeit und Wut der Unmenschlichen, um
nicht ein Opfer ihres Blutdurstes zu werden. Als die Chorfrauen in ihr Stift
zurückkehrten, war das Stiftsgebäude, diese Wohnstätte des Friedens und diese
Zufluchtsstätte aus dem Weltgetümmel, ausgeplündert, aus der Kirche waren
die silbernen Bildnisse der Stifter mit den Feinden verschwunden, die Glocken
zerschmolzen, das Blei von den Dächern genommen. An ein Wiederherstellen
der Gebäude konnte unter den damaligen trostlosen Umständen sobald nicht
gedacht werden. Doch die Zeit heilte auch diese so schwere Wunde. Das Kloster,
dem freilich die Prüfungen nicht ganz erspart blieben, bestand fort bis zum
Jahre 1810.
Heinrich I., der Bärtige, stiftete auch das Kloster Heinrich au im jetzigen
Kreise Münsterberg; er berief in dasselbe Cistereiensermönche, die sich besonders
mit der Unterweisung der Jugend befaßten und viel Gutes stifteten.
Die Schlacht auf den pfaffeudorfer Höhen liei Lieguit; am 15. August
1760. Mit der Tatareuschlacht und dem Falle Heinrichs II. tritt ein natür-
licher Abschnitt in der Geschichte Schlesiens überhaupt, noch mehr aber in der
historischen Entwickelnng der Stadt Liegnitz ein. Von dem schweren Unglück,
das über sie hereingebrochen ist, erholt sie sich allmählich besonders durch den
Fleiß der Deutschen, welche durch die Piasteu in Stadt und Land gezogen
werden. Es ist nicht nötig, daß wir die Geschichte des Herzogtums genauer
verfolgen, nachdem wir die wichtigsten Momente derselben schon bei der Be-
trachtung des Herzogtums Brieg, mit dem Liegnitz eng zusammengehört, kennen
gelernt haben. Wir eilen deshalb über Jahrhunderte hinweg und erfahren, daß
am 27. Dezember 1740 die ersten Preußen nach Liegnitz kamen, denen die
kleine österreichische Besatzung wich. Als die Preußen einzogen, hatte die Stadt
noch nicht 5000 Einwohner. Während der drei Schleichen Kriege hatte auch
Liegnitz viel zu leiden; ein schwerer und harter Kampf fand im Jahre 1760
in der Nähe des Ortes statt.
Mit Siegeshoffnungen hatten Friedrichs Feinde den Feldzug des Jahres
1760 eröffnet; sie hatten bedeutende Heere aufgebracht, während Friedrich nur
verhältnismäßig wenig Truppen ihnen entgegenstellen konnte, denn er hatte mit
Ausnahme der Bataillone, die in den schlesischen Festungen standen, kaum
90 000 Mann; die Heere Österreichs und Rußlands zusammen beliefen sich
beim Beginn des Feldzuges auf 280 000 Mann. Die Russen befehligte Soltykow,
die Österreicher Laudon, der durch seine einsichts- und nachdrucksvolle Ent-
schlossenheit bei Kunersdorf die Entscheidung herbeigeführt hatte.
Die Schlacht auf den Pfaffendorfer Höhen bei Liegnitz. 339
Im Juli des Jahres 1760 stand der König Friedrich noch in Sachsen,
als ihn Laudons Fortschritte in Schlesien, die Niederlage Fouques bei Landes-
Hut, die Übergabe von Glatz, die Bedrohung von Breslau nötigten, der be-
drängten Provinz zu Hilfe zu eilen. Er legte vom 3. August, wo er unterhalb
Meißen unfern der Elbe stand, mit 30000 Mann bis zum 7. August, wo er
bis Bunzlau vorrückte, also in fünf Tagen, ohne Ruhetag zwanzig Meilen zurück,
während der österreichische Feldherr Daun mit 65 000 Mann ihn im Rücken
oder zur Seite oder vorn teils begleitete, teils bedrohte, teils belästigte. Nach
zweitägiger Ruhe führte der König seine Armee weiter in der Richtung zwischen
Goldberg und Liegnitz gegen die Katzbach. Vom 10. bis 13. Angnst sehen wir
Friedrich immer in Bewegung, bald bei Tage, bald in der Nacht, bald diesseit,
bald jenseit der Katzbach. Er hatte nur noch Brot für drei Tage; seine Armee
war mit 2000 Wagen belastet, welche bei den Märschen ungemein beschwerlich
sielen. Daun hatte sich mit Laudon vereinigt, und so standen dem Könige mehr
als 80 000 Österreicher gegenüber, die ihn sicher im Sacke zu haben glaubten
und meinten, sie hätten nur noch den Sack zuzuschnüren; Friedrich aber war
immer auf der Lauer, einen Vorteil zu erringen, und suchte durchzuschlüpfen,
sich mit dem Prinzen Heinrich zu vereinigen und nach Breslau zu gelangen,
während er alles entbehrliche Fuhrwerk, also alle leeren Brot- und Mehlwagen,
nach Glogau schickte. Inzwischen glaubte auch der vorsichtige Daun, der Cune-
tator der Österreicher, handeln zu müssen; er untersuchte genau die Stellung,
in welcher sich der König befand, und baute nun seinen Plan auf. Aus den
Bewegungen der Österreicher merkte Friedrich, daß ihm ein Angriff drohe; da
er aber die Vorsicht Dauns kannte, so meinte er seine Stellung verändern und
auf diese Weise die Pläne des Generals vernichten zu müssen. Deshalb ritt er
am Nachmittage des 14. August aus und faßte den Entschluß, in der folgenden
Nacht seine Truppen aufbrechen und auf die nordöstlich von Liegnitz liegenden
Pfaffendorfer Höhen marschieren zu lassen. Er entwarf seinen Plan außer-
ordentlich sorgfältig, bestimmte genau die Stellen, an denen die Truppen das
Wasser zu überschreiten hätten, wann und wie sie sich ausstellen und marschieren
sollten. Mitteilungen eines aufgefangenen berauschten österreichischen Offiziers
riefen keine Änderungen in seinen bereits getroffenen Maßregeln hervor.
Abends am 14. August erfolgte der Aufbruch der preußischen Armee nach
Pfassendorf in aller Stille in vier Abteilungen. Die Truppen zogen durch
Liegnitz, wo mehrere Straßen, damit das Geräusch des fahrenden Geschützes
vermieden würde, mit Stroh bedeckt waren. Nach Mitternacht bezogen die
Preußen ihre neue, hinter dem Dorfe gelegene, auf Höhen befindliche Stellung.
Die Brücken, die der König hatte schlagen lassen, waren bereits abgebrochen.
Die Truppen waren während ihres Marsches von den Österreichern nicht be-
unruhigt, ja vielleicht nicht einmal wahrgenommen worden, da eine Zahl der
preußischen Feldwachen auf ihren alten Posten geblieben, die Wachtfeuer unter-
halten und alle Viertelstunde das gewöhnliche „Wer da?" gerufen hatte. Diese
Soldaten blieben im Lager bis gegen halb 2 Uhr und folgten dann erst der Armee.
Auf den Höhen waren die Truppen formiert und lagerten in feierlicher
Stille, die so oft der Vorbote großer Ereignisse auf den kriegerischen Schau-
Plätzen ist. Die Infanterie lag bei dem Gewehr, und auch die Kavallerie war
abgesessen; die einen erwarteten schweigend oder in leisen Gesprächen das Ende
22*
340 Der schlcsische Schlachtenfluß, die Katzbach.
der Nacht, die andern verfielen bald in festen Schlaf. Auch der müde König
hatte sich bei einem Feuer hingestreckt und schien, in seinen Mantel gehüllt, ein-
geschlummert zu fein, wie einst Alexander vor der Entscheidungsschlacht von
Arbela. Nicht lange darauf, als eben das erste Dämmern des sehr nebeligen
Morgens sichtbar wurde, kam der Major von Hundt vom Rekognoszieren zurück-
gesprengt und rief laut und hastig: „Wo ist der König? wo ist der König?"
„Hier ist er", rief ihm der General von Schenkendorff zu. Der König aber,
wie aus dem Schlafe auffahrend, fragte: „Was ist? was ist?" „Jhro Majestät,
der Feind ist da!" erwiderte der Major. Friedrich schien der Aussage nicht
vollen Glauben schenken zu wollen. Da versicherte von Hundt nachdrücklich:
„Jhro Majestät, hole mich der Teufel, der Feind ist da; ich bin selbst auf feine
Infanterie gestoßen und nicht 24 Schritt von ihr gewesen; er hat alle meine
Vedetten schon zurückgeworfen und ist kaum 400 Schritt mehr entfernt." „Halt'
Er ihn fo lange als möglich aus", war des Königs Antwort, und nnn rief er:
„Pferd her!" Sogleich bestieg er dasselbe und bemerkte, daß Hundt sich nicht
getäuscht hatte. „Wie wird es gehen, mein lieber Schenkendorsf?" fragte er
den bei ihm stehenden General. „Ich will einmal die Bursche fragen", ant-
wortete dieser. „Nun, Grenadiere, was meint ihr? Werdet ihr als ehrliche
Kerls fechten?" „O ja", riefen sie, „wenn Sie uus anführen, soll sie der
Teufel holen!"
So erstaunt der König war. den Feind vor sich zn sehen, so erstaunt war
auch Laudon, daß er den König auf den Pfaffendorfer Höhen fand, denn der
Lberstkommandierende Daun hatte seinen Plan entworfen unter der Annahme,
daß der König noch in seinem alten Lager sei. So begann denn im Morgengrauen
die Schlacht. Die Artillerie auf dem Rehberge mit zehn schweren Zwölf-
pfündern fügte den Österreichern empfindlichen Schaden zu. Laudon, der mit
Dann vereint den König überfallen sollte, sah sich dem gewandten Gegner allein
gegenüber und wußte seine Kräfte zusammenzunehmen. Die preußische Ka-
vallerie auf dem linken Flügel eröffnete den Kampf nicht mit Glück, die Dra-
goner wurden geworfen, bis der General von Bülow dem weiteren Vordringen
der Österreicher ein Ende machte und sie in die Sümpfe trieb. Der König be-
gann auf dem rechten Flügel den Angriff; die Österreicher kamen ins Weichen,
und dies erhöhte den Mut des linken preußischen Flügels. Der Major von
Möllendorf drang mutig vor, warf die Feinde aus dem Dorfe Panten, machte
viele Gefangene und eroberte mehrere Geschütze. Immer neue Truppen führte
Laudon ins Feuer; doch hielten die Preußen unerschrocken und heldenmütig
stand. Insbesondere erwarb sich das Regiment Bernburg deu höchsten Grad
militärischer Auszeichnung. Dieses Regiment hatte am 21. Jnli 1760 bei der
Belagerung von Dresden die Aufgabe, die Laufgräbeu zu decken. Wie tapfer
es auch focht, es mußte der Übermacht der Österreicher weichen, weil es nicht
zu rechter Zeit unterstützt wurde. Der König, über den ganzen Gang der Be-
lagerung ohnehin verstimmt, geriet über diesen Vorfall in solchen Zorn, daß
er, um die beiden ersten Bataillone des Regiments, die zuerst gewichen waren,
zu bestrafen, ihnen die Säbel abnehmen und die Hutschnüre abschneiden ließ.
Eingedenk der unverdienten Schmach, die das Regiment vor Liegnitz tilgen
wollte, rückte es in geschlossener Linie und mit gefälltem Gewehr gegen die
feindliche Kavallerie vor, schlug alle Angriffe derselben ab, stach eine Menge
Die Schlacht auf den Pfaffendorfer Höhen bei Liegnitz. 341
Reiter vom Pferde nnd trieb mehrere Regimenter in wilder Flucht vor sich her.
An einigen Stellen, wo das wackere Regiment vorzugsweise bedrängt wurde,
brachte ihm die herbeieilende Kavallerie im Augenblicke der Not rettende Hilfe
und befreite bei dieser Gelegenheit einen Teil der durch die österreichische Reiterei
kurz zuvor gemachten Gefangenen.
Die Flucht der feindlichen Kavallerie brachte bald auch die Infanterie des
rechten österreichischen Flügels vollends um ihre Haltung; sie wich überall und
floh in Zerstreuung hinab iu das Katzbachthal, wo sie sich zum Rückzug sam-
melte, der früh gegen 6 Uhr mit Ordnung erfolgte.
Friedrich der Große und das Regiment Bernburg.
In weiser Mäßigung widerstand der König der Versuchung, den Feind
zu verfolgen und weitere Früchte des Sieges zu erzielen, denn er wußte noch
nicht, wie Zieten mit dem Feldmarschall Daun fertig geworden war.
Als sich Daun überzeugt hatte, daß der König sein altes Lager aufgegeben
habe, beschloß er, über die Katzbach zu gehen und die Preußen zu verfolgen.
Um 4 Uhr morgens schon war Liegnitz mit Kroaten und Husaren besetzt. Kurze
Zeit darauf wollte Daun einen Angriff auf Zietens Abteilung machen; aber
der Übergang über das Schwarzwasser machte den Österreichern Schwierigkeiten,
und die übergegangene Kavallerie empfing Zieten mit einem kräftigen Kartätschen-
feuer und einigen Schwadronen von Husaren und Dragouern so, daß sie sich eiligst
zurückzog. Neue Versuche mißlangen, selbst Daun vermochte nichts auszurichten;
es kam zwischen Zieten und Daun zu keinem ernsten und andauernden Kampfe.
So war Preußens Friedrich der überall drohenden Gefahr wieder ent-
gangen. War auch der glückliche Ausgang der Schlacht kein solcher, daß er
342 Der schlesische Schlachtenfluß, die Katzbach.
eine Entscheidung für den Krieg herbeiführte, so dars man doch nicht übersehen,
daß ein unglückliches Ende derselben den König unfehlbar in die äußerste Not
gebracht hätte. Der Gewinn dieser Morgenschlacht war nicht unbedeutend, denn
die Österreicher hatten 2000 Mann Tote, an 4000 Verwundete, und 4000
Mann waren gefangen genommen worden; außerdem verloren sie 82 Kanonen
und 23 Fahnen und Standarten.
Die Preußen hatten 96 Offiziere und 3420 Mann eingebüßt, nämlich
12 Offiziere und 763 Mann waren tot, 74 Offiziere und 2415 Mann ver-
wundet, 10 Offiziere und 242 Mann gefangen und vermißt.
Friedrich, der selbst während des Kampfes ein Pferd unter dem Leibe
verloren und einen Prellschuß erhalten hatte, belohnte noch auf dem Schlacht-
felde das Verdienst. Dem Regiment Bernburg sprach er laut und öffentlich
seinen Dank aus und versprach ihm baldigste Rückgabe der bei Dresden ent-
zogenen Ehrenzeichen. Da trat der Flügelmann der Leibkompanie vor und sagte:
„Ich danke Ew. Majestät im Namen meiner Kameraden, daß Sie uns unser
Recht zukommen lassen. Ew. Majestät sind doch nun wieder unser gnädiger
König?" „Ja, Kinder", antwortete Friedrich, „und alles soll vergessen sein."
Zielen wurde zum General der Kavallerie ernannt, zwei andre Generale er-
hielten den Schwarzen Adlerorden. Nachdem noch Viktoria geschossen worden war,
brachen die Sieger noch vormittags nach Parchwitz auf; Zieten, welcher die Be-
erdigung der Gefallenen und den Transport der Verwundeten und der Beutestücke.
anzuordnen hatte, folgte am Abend des bedeutungsvollen Tages seinem Könige.
Am Säkulartage der Schlacht, am 15. August 1860, ist auf dem weithin
sichtbaren Rehberge ein Denkmal enthüllt worden: Auf drei Granitfelsen erhebt
sich eine Säule mit dem die Flügel weit ausdehnenden preußischen Adler; das
Postament trägt eine kurze Inschrift; das Ganze ist eine Nachbildung des be-
kannten Brunzlowschen Denkmals im Parke des Berliner Jnvalidenhauses. Ein
älteres, kleines Monument auf einer von drei Bäumen eingefaßten Anhöhe, im
Volksmunde das „Trommeldenkmal" genannt, enthält auf einer abgestumpften
Säule als Inschrift die Strophe aus dem Gleimschen Siegesliede nach der
Schlacht bei Lowofitz, welche mit den Worten „Auf einer Trommel saß der
Held" anfängt. Zu diesen beiden Erinnerungszeichen an den Tag von Liegnitz
ist noch ein drittes gekommen, die nach der Schadowschen Statue Friedrichs des
Großen in Stettin modellierte, aus dem Friedrichsplatze (früher Schulplatz) am
15. August 1869 enthüllte Statue des Siegers von Liegnitz.
Die Landwehrschlacht an der katztiach am 26. August 1813. Noch ein-
mal wurde in der Nähe von Liegnitz an der Katzbach eine Schlacht geliefert,
die von solcher Bedeutung ist, daß sie ein nicht zu unterschätzendes Glied einer
Schlachtenkette genannt werden muß, die entscheidend auf die Geschicke Europas
wirkte. Diese Schlacht wurde in dem denkwürdigen Jahre 1813 geschlagen.
Den verbündeten Preußen und Russen hatten sich die Österreicher gegen das
Vordringen der „großen Nation" angeschlossen. Im August hatte Blücher, der
Marschall Vorwärts, die französischen Marschälle Ney und Macdonald über die
Katzbach, den Bober und den Queis zurückgedrängt. Da eilte Napoleon mit
starker Macht nach Schlesien, um die „versoffenen Husaren" zu züchtigen.
Blücher wußte, daß er der großen Truppenmacht nicht gewachsen war und wich
Die Landwehrschlacht an der Katzbach am 26. August 1813. Z4Z
deshalb der entscheidenden Schlacht aus, zog sich Schritt für Schritt, von Stadt
zu Stadt, von Fluß zu Fluß unter hartnäckigem Widerstande zurück. Der
wackere Jork und der kühne Gneisenau kannten ihren Führer nicht wieder, denn
sie hielten denselben für zu vorsichtig.
Als aber der Verfolgungseifer der Franzosen nachließ und Blücher ver-
mutete. Napoleon habe seinen Plan geändert, mußten diePreußeu wieder vorrücken.
Die Landwehrschlacht an der Katzbach am 2S. August 1813.
In der That hatte Napoleon der Schleichen Armee nur den Marschall
Macdonald mit 80 000 Mann gegenüber gelassen und hatte über die übrigen
Truppen anders verfügt. Blüchers Heer, die Schlesische Armee, bestand aus
zwei russischen Korps unter Sacken und Langeron und einem preußischen, das
Aork führte; Gueisenau bildete die Seele des Blücherscheu Generalstabes. Es
waren im ganzen 95 000 Mann; alle waren beseelt von unbegrenzter Tapfer-
keit und echter Vaterlandsliebe, alle waren unmutig und verdrießlich, wenn es
nicht vorwärts ging; aber der gute Wille allein erzielt in dem Kriege keine
Erfolge; denn die zahlreiche Landwehr im Heere war zu zwei Dritteilen nur
mit Piken bewaffnet, da man bei den gelieferten österreichischen Gewehren in
der Eile vergeffen hatte, die Zündlöcher einzubohren. Als Schutz gegen Wind
und Wetter besaßen die Wehrmänner nur eine Tuchmütze, einen kurzen Tuch-
rock, der beim Regen — und es regnete im August fast unaufhörlich — stark
einlief, leinene Beinkleider und kurze Schuhe, uud diese waren oft im erbärm-
lichsten Zustande. Mäntel und Tornister fehlten. In dieser Kleidung mußten
344 Der schlesischc Schlachtenfluß, die Katzbach.
diese wenig geübten Truppen täglich mit dem gut bewaffneten Feinde kämpfen,
tagelang im Regen marschieren und unter freiem Himmel im Schmutz liegen;
dazu fehlte es oft an Brot, weil die Proviantwagen im Schmutze stecken blieben.
So waren denn die Beschwerden, mit denen Blücher zu kämpfen hatte, in der
That recht erheblich. Dennoch durchdrang ihn und seine Scharen neuer Mut,
als es wieder vorwärts ging.
Zwar waren die Wege so aufgeweicht, daß vielen Landwehrmännern die
Schuhe im Kote stecken blieben; zwar steigerte ein heftiger Nordwind, der den
Leuten ins Gesicht wehte, die Mühe des Vorwärtskommens; zwar schleppten nnr
mühsam die Pferde Kanonen und Wagen Hügelauf und hügelab; zwar arbeitete
sich mit Beschwerden die Reiterei durch den aufgeweichten Lehmboden: aber es
ging doch vorwärts, und Vaterlandsliebe und Begeisterung für Blücher ließen
die Soldaten alle Mühen vergessen, alle Schwierigkeiten gering erscheinen.
Blüchers Entschluß war, sich mit den Feinden zu schlagen; er ging ihnen
also entgegen. Jork marschierte im strömenden Regen an der wütenden Neiße
entlang von Jauer aus bis dahin, wo sie sich mit der Katzbach vereint; er blieb
auf der Hochebene am rechten Ufer des Flusses stehen, neben ihm bei Eichholz
standen Russen nnter Sacken, während Langeron mit der andern Abteilung der
Russen auf dem linken Ufer der Neiße bei Hennersdorf stand. Blücher wollte
noch über die Katzbach gehen und dann mit dem Feinde kämpfen; aber Macdonald,
der ihn noch in Jauer vermutete, kam ihm entgegen und bewegte sich in drei
großen Heeressäulen vorwärts. Als Blücher den Feind vor sich wußte, be-
sichtigte er mit Gneisenau das Feld und überzeugte sich, daß die Stellung seiner
Truppen nicht ungünstig war. Sacken freute sich auf die Schlacht und sagte
dem Adjutanten, der ihm den Befehl überbrachte: „Antworten Sie dem General:
Hurra!" Aork erhielt den Befehl, so viel Feinde auf die Hochebene hinauf-
zulassen, als er schlagen könne; dann solle er angreifen und sie die steilen Ufer-
ränder hinunterstürzen. Unwillig entgegnete Jork: „Reiten Sie hin und zählen
Sie; ich kann bei dem Regen meine eignen Finger nicht mehr zählen." Dennoch
gehorchte Aork, der Blüchers Plan mißbilligte. Als die Franzosen auf Langeron
stießen, drängten sie ihn schnell zurück; denn dieser Russe dachte nur an den
Rückzug und hatte sein schweres Geschütz bis auf 30 Sechspfünder bereits nach
Jauer zurückgesandt. Die eigentliche Schlacht begann erst um 2 Uhr. Die
Preußen rückten im Sturmschritt vor, während uuter Kartätschenhagel viele
Kämpfer fielen; was leben blieb, ließ sich nicht beirren. Als sie in den Bereich
der Flintenkugeln kamen, verdoppelten sie ihre Schritte, fällten das Gewehr
und griffen die Franzosen unter fürchterlichem Hurrageschrei an. „Hurra,
drauf!" riefen die Ofsiziere, und nun nahmen die Soldaten die Gewehre ver-
kehrt imd schlugen mit den Kolben auf die verdutzten Frauzofen los; es wurde
nicht Pardon gegeben, die Blntarbeit schlug alles zu Boden. Die Schlacht löste
sich in eine Anzahl einzelner Gefechte auf, in denen die Kriegsfurie mit un-
gebundener Wildheit wütete. „Hurra, hurra!" scholl es von allen Seiten,
Landwehr und Linie drangen unaufhaltsam vorwärts. Wo Gefahr war, da
war auch Blücher; und wo er sich an die Spitze stellte, den Degen zog und
„Vorwärts" kommandierte, da wurde auch wacker eingehauen, und in wenigen
Minuten war der Feind geworfen. Blücher war damals wieder so recht in
seinem Element, der kühne Husar, der alte Haudegen.
Die Ritterakademic zu Liegnitz. 345
In zwei Stunden war ein vollständiger Sieg errungen, der den Preußen
und Russen nur 2500 Mann gekostet hatte. Die Niederlage des Feindes, eine
der fürchterlichsten, welche jemals durch eine Schlacht von so kurzer Dauer
herbeigeführt wurde, war entschieden. Mit Zurücklassung sämtlicher Kanonen,
Munitions- und Gepäckwagen drängten und stürzten Mann und Roß in die
angeschwollenen Wildwasser hinab, und die, welchen es geglückt war. das jen-
seitige Ufer zu erreichen, entgingen nicht dem mörderischen Kugelregen, den die
am diesseitigen höhern Ufer aufgepflanzten Geschütze nachsendeten. Den Fran-
zosen kostete die Niederlage 103 Kanonen, 250 Muuitionswagen, 18 000 Ge-
fangene, 12 000 Tote und Verwundete.
Der 26. August 1813 gehört zu den unvergeßlichen Ehrentagen ans der
Zeit der Befreiungskämpfe: die Schlacht an der Katzbach war nächst jener bei
Großbeeren der erste große Sieg, welchen die Heere der Verbündeten davontrugen.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß der preußische Soldat damals nach
der Weise des alten Dessauer Marsches sang:
„So leben wir, so leben Nut an der Neiße."
An der wütenden Neiße wurde die Schlacht durch die Preußen entschieden,
die Russen brachten sie an der Katzbach zu eiuem glücklichen Abschluß; es geschah
aus Aufmerksamkeit gegen den russischen General Sacken, daß Blücher den
Siegesplatz die „Schlacht an der Katzbach" nannte. Durch sein wirksames Ka-
nonenseuer von Eichholz her, durch die Mitwirkung seiner tapferen Reiterscharen,
welche den Feind in die Katzbach hinabjagten, und vor allem durch den freu-
digen Hurragruß, mit welchem er Blüchers Aufforderung beantwortete, hatte
Sacken bei der Feuer-, Blut- uud Wafsertaufe seine Patenstelle gewissenhaft
vertreten. „Wir verdanken dem General Sacken sehr viel", äußerte Blücher
am Tage nach der Schlacht vor der Front. „Seine Zwölfpfünder auf den
Höhen von Eichholz erleichterten uns die Arbeit, seine Kavallerie vollendete
den Sieg. Deu Mann laßt uns in Ehren halten." Als darauf Sacken sich
bei Blücher einfand, wo man sich gegenseitig beglückwünschte, wurde er von den
Preußen als guter Kamerad mit vielfach wiederholtem Hurra begrüßt.
Die Rittkrakademie Mtgllltz. Es war am 28. April 1646, als der
Herzog Georg Rudolf das St. Johannisstift in Liegnitz fundierte; dieses sollte
gleichsam der Universalerbe des hochherzigen Fürsten werden, dem Kindersegen
in zwei Ehen versagt war. Der Zweck dieser Stiftung war „die Erhaltung
der christlichen, evangelischen Kirchen und Schulen, insonderheit Besoldung und
Unterhaltung der bei der sürstlichen Stiftskirche zu <Zt. Johannis in Liegnitz
jetzt und künftig bedienten Kirchen- und Schuldiener." Zur Erreichung dieses
Zweckes wies der Herzog außer zwei Vorwerken, die er 1640 der Johanniskirche
zugewandt hatte, zehn Güter, drei Gärten, sechs Häuser und verschiedene
Zinsen an; der Wert des Gesamtkapitals kann bei der Gründung des Stiftes
auf mindestens 300 000 Mark veranschlagt werden. Durch zwei Urkunden aus
den Jahren 1649 und 1653 hat der Herzog sein edles Werk „repetiert uud
bestätigt". Zu dieser reichen Schenkung ist noch die namentlich im juristischen
Fache vorzügliche Bibliothek des Herzogs gekommen. Schon im Jahre 1693
sprach der Landeshauptmann von Liegnitz es in einer Denkschrift aus, man
könne die Überschüsse des St. Johannisstifts am allerbesten zur Aufrichtung
346 Der schlefische Schlachtenfluß, die Katzbach.
einer Akademie und zur Salarierung eines Sprachmeisters, Bereiters, Fecht-
Meisters und musikalischer Instrumente Kundiger anwenden und dadurch das
Geld, welches die adlige Jugend außer Landes nach Frankreich und an andre
Orte schleppe, im Lande erhalten, die Jugend aber zur Erlernung von der-
gleichen Exerzitien nach Liegnitz verweisen.
Was 1693 angeregt wurde, ging 1708, freilich in andrer Weise, als es
der Stifter beabsichtigt hatte, in Erfüllung. In diesem Jahre wurde in Liegnitz
die Josephinische Ritterakademie gegründet. Im Eingange der Privilegien und
Ordnungen vom 19. April 1708 heißt es: „Demnach Wir bei Uns landes-
väterlich erwogen, welchergestalt die junge Ritterschaft und Noblesse Unsres
Erbherzogtums Schlesien, teils aus Mangel näherer Gelegenheit und zwar
öfters mit Widerwillen und großen Unkosten ihrer Eltern außer Landes in
fremde Schulen und Akademien, vielmal mit schlechten Progressen verschickt
worden, teils auch aus Mangel der hierzu nötigen Mittel, ob sie schon gute
und fähige Jngenia und Qualitäten von sich-spüren lassen, gar zurückbleiben
müssen und sich Uns und Unserm ällerdurchlauchtigsteu ErzHause von Österreich
wie auch dem Vaterlande mit der Zeit ersprießliche Dienste zu leisten nicht
habilitieren können: als haben Wir allergnädigst beschlossen von den weiland
fürstlichen Gestiftsgütern, Kapitalien und Jntraden bei St. Johannis in Liegnitz
eine adlige Ritterschule oder Akademie unter dem Namen St. Josephi an- und
aufzurichten, woselbst nicht allein diejenigen, welchen Gott einiges Vermögen
beschert hat, mit weit geringeren Unkosten, andre aber und von Mitteln ganz
entblößte Junge von Adel auch gar ohne Entgelt, insgesamt aber gleich-
sam vor den Augeu ihrer Eltern, Vormünder nnd Befreundeten ritterliche
Qualitäten und Wissenschaften erlangen und also dermaleinst Gott nnd Unserm
allerdurchlauchtigsten ErzHause und ihrem Vaterlande, auch ihnen selbst mit
Ruhm und Ehren dienen können."
Die Verordnungen bestimmen weiter, daß die Akademie nur für die adlige
Jugend errichtet sein soll; Aufnahme sollen finden zunächst Söhne von Ein-
gebornen und Angesessenen des Fürstentums Liegnitz, dann von Brieg und
Wohlau, dann vom übrigen Schlesien; der Aufzunehmende muß das sechzehnte
Lebensjahr erreicht haben. Anfangs wurden nur zwölf Personen unterhalten,
von denen fünf katholischer Religion, sieben aber der unveränderten Augsbur-
gischen Konsession zngethan sein können; später wurde die Zahl nach Proportion
erhöht. Niemand soll länger als drei Jahre die Anstalt besuchen. Katholische
und Evangelische sollen ihren Gottesdienst nach Belieben zu suchen haben, alles
Disputieren in Glaubenssachen soll scharf verboten sein. Der Rat der Stadt
soll mit der Akademie, welcher der Kaiser den Burgfrieden erteilte, nichts zu
thuu haben. Ein Direktor oder Oberhofmeister, bei welchem die Konfession
alternieren soll, leitet die Anstalt.
Am 7. April 1708 wurde der Platz für das Gebäude der neuen Lehr-
anstatt abgesteckt. Der erste Direktor war der kaiserliche Rat Friedrich Siegfried
von Pomikau aus Nesselwitz und Karmin. Unter den ersten wissenschaftlichen
Lehrern der Akademie war Professor primarius Dr. August Bohse, der bei der
Einweihung der Anstalt eine in vieler Hinsicht interessante Rede hielt; er sagte
nämlich, „daß viele behaupten, es sei die Gelehrsamkeit eine Sache, welche
mehr dem bürgerlichen als dem adligen Stande zukäme, ja es laufe das Studium
Die Ritterakademie zu Liegnitz. 347
fast wider die Reputation eines Kavaliers, indem selbigem weit anständiger sei, ein
Pferd geschickt herumzutummeln und Degen und Pistolen wohl zu führen zu wissen."
Die Lektionen begannen erst im folgenden Jahre; das Unterrichtswesen der
Anstalt trug längere Zeit den Charakter einer Universität; es fanden Vorlesungen
über Institutionen, angewandte Mathematik, Heraldik u. s. w. statt. Erst allmählich
wurde die Akademie mehr und mehr Schule, die juristischen Studien abgeschafft,
das Latein (1792) eingeführt, nachdem schon 1743 die Übertragung des Vize-
direktorates von dem Stallmeister auf den Professor primaria erfolgt war.
Am 19. März 1709 feierte die Ritterakademie zum erstenmal das Namens-
fest ihres kaiserlichen Gründers, wobei einige Reden im neuen Auditorium ge-
halten und abends das Gebäude illuminiert wurde; damals waren 24 Akademisten
in Liegnitz. Daß diese Herren Akademiker nicht durchweg solide lebten, beweist
der Umstand, daß schon 1713 den Liegnitzer Weinschenken und „Italienern",
auch Kaffee- und Theeschenken und Handelsleuten durch ein Regierungsreskript
publiziert worden ist, daß sie den Akademisten nichts verleihen oder borgen, weder
Wein noch Thee und Kaffee, auch um ihr Geld einschenken sollten bei Strafe von
50 Thalern. Die Strafe wurde im Wiederholungsfalle noch erheblich verschärft,
das Edikt auch 1723 und 1724 erneuert. Auch wurde im Jahre 1726 den
Professoren geboten, „mit den Akademisten sich keineswegs familiär zu machen."
Die Gebäude der Akademie waren meist hölzern, mit Schindeln gedeckt,
ungleich, boten wenig Bequemlichkeit und entsprachen nicht der Würde der
Anstalt. Deshalb wurde der Neubau der Gebäude beschlossen. Am 5. Juli 1728
wurde derselbe mit der Eröffnung des ersten Grundgrabens begonnen. Der
Bau hat im ganzen zehn Jahre in Anspruch genommen.
Interessant ist ein Streit, den die Profesforen und Exerzitienmeister der
Akademie im Jahre 1732 mit dem Rate der Stadt Liegnitz hatten. Dieser
hatte nämlich 1726 bestimmt, daß weder fremdes Bier noch Fleisch eingeführt,
noch Pfuscher geduldet werden sollten; die Lehrer aber ließen sich die nötigen
Viktnalien und das Bier aus der Ferne kommen und beriefen sich auf die
Stiftungsurkunde, laut welcher der Rat mit der Akademie nichts zu thuu habe.
Der Rat wollte sich dies Vorgehen nicht gefallen lassen und schritt gegen die
Übertreter seiner Verordnung im Jahre 1732 ein. Die Lehrer wurden mit
ihrer Beschwerde abgewiesen. Da verschafften sie sich ärztliche Atteste, welche
das Liegnitzer Bier für nicht zuträglich erklärten, und so umgingen sie das Gesetz.
Die Vorarbeiten und Ausgrabungen zum Neubau waren 1735 so weit
fertig, daß die Grundsteinlegung erfolgen konnte. Die Stadt fchenkte bei der
Feierlichkeit sechs große Kannen Wein, die Bürger hatten sich in den Gassen,
durch welche der Festzug ging, in Reihen gestellt und präsentierten unter flie-
genden Fahnen und klingendem Spiel das Gewehr. Die Anstalt stand damals
im vollsten Glanz; sie wurde von mehreren Prinzen besucht und hatte Pen-
sionäre aus der Lombardei, Ungarn, Litauen und Polen.
Am 22. Februar 1741 traf Friedrich II. zum erstenmal in Liegnitz ein
und speiste mit dem Herzog von Holstein in der Ritterakademie. Im Jahre
1763, dem Jahre des Hnbertsbnrger Friedens, wurde am 19. März, wie
gewöhnlich, das Josephsfest gefeiert. Von diesem Jahre ab verlegte man die
Feier der Gründung auf den Friedrichstag, den 5. März, wobei es bis 1774
geblieben ist. Aber die ersten Jahrzehnte preußischer Regierung waren für die
348 Der schlesische Schlachtenfluß, die Katzbach^
Ritterakademie nicht günstig; denn die Zahl der Schüler sank im Jahre 1778
bis auf zwei, so daß die Anstalt mehr Lehrer als Schüler hatte. Mit geringer
Schülerzahl schleppte sie sich bis in den Anfang nnsres Jahrhunderts hin, 1805
dachte man daran, sie in ein landwirtschaftliches Institut umzuwandeln; sie kam
aber 1809 unter die Oberaufsicht der königlichen Regierung und wurde eine allge-
meine Vorbereitungsanstalt für die höhern Stände. Neben dem 1792 eingeführten
Lateinischen wurde auch im Griechischen unterrichtet. Jetzt hat die Ritterakademie
den Lehrplan eines Gymnasiums und wird von 180—200 Schülern besucht.
Sehenswertes m und NM Fiegnih. Außer der Ritterakademie hat Liegnitz
ein städtisches Gymnasium, das 1309 aus den beiden Psarrschuleu entstanden
ist und jetzt in 11 Gymnasial- und 3 Vorschulklassen von 500 Schülern besucht
wird. Der schöne Neubau der Anstalt ist ebenso sehenswert wie die Unter-
oder Niederkirche, die eigentlich „Zu unsrer lieben Frauen" heißt und nachdem
Brande im Jahre 1822 im Rohbau mit zwei Türmen aufgeführt ist; ferner die
alte Oberkirche zu St. Peter und Paul; das alte Rathaus, in dessen Hausfluren
wir alte Waffen, wie Schwerter, Lanzen, Büchsen, Helme und Panzerhemden,
finden; und das Regierungsgebände, das im Rohbau auf der Stelle des früheren,
im Jahre 1835 abgebrannten Schlosses prächtig dasteht, während den Eingang
noch das Schloßportal vom Jahre 1533 bildet. Neu gebaut ist auch nach dem
Brande vom Jahre 1845 das Schießhaus, das Eigentum der Schützen, die in
Liegnitz keine unbedeutende Rolle spielen. Die Schützengilden sind Gesellschaften
zum Schutze ihrer Vaterstadt und bilden ein letztes Überbleibsel der früher allen
deutschen Bürgern als Recht zukommenden Waffenfähigkeit. Der Liegnitzer
Schützen Geschicklichkeit im Gebrauche der Feuerwaffen erregte nach dem Be-
richte eines alten Chronisten die Bewunderung aller derjenigen Fremden, die
ihren Schießübungen beizuwohnen Gelegenheit fanden. Daß aber die Liegnitzer
selbst den Übungen hohen Wert beilegten, beweisen die für die besten Schüsse
ausgesetzten Gewinne, z. B. ein Pokal im Werte von 20 Thalern und zwei
Ochsen (1548) oder eine goldene Kette im Werte von 20 Dukaten (1549).
Noch jetzt wird alljährlich am Psingstdienstage ein Hauptschieß«: begonnen, das
bis zum darauf folgenden Donnerstage dauert. Das Mannschießen, das in
älteren Zeiten alljährlich gefeiert wurde, wird jetzt alle drei Jahre abgehalten
und ist ein großartiges, fast eine Woche währendes, allgemeines Bürger- und
Volksfest. Der Aus- und Einzug der Innungen, bei welchem die Schützengilde
dem Gebrauche gemäß den Zug beschließt, dürfen als Glanzpunkte dieses von
den Liegnitzern außerordentlich hochgehaltenen Festes bezeichnet werden.
Rings um die Stadt ziehen sich auf dem guten Boden die sehenswerten,
sogenannten Kräutereien, d. h. Landwirtschaften, die fast nur vom Gemüsebau
leben und ihre Produkte weithin, auch nach Breslau und Berlin, namentlich
aber nach dem Gebirge verkaufen. Wie umfangreich diese Anlagen sind, dürfte
die eine Thatsache beweisen, daß in fruchtbaren Jahren nahezu eine Million
Schock Gurken mittels der Eisenbahn verschickt wird.
Aus den schönen Promenaden, die der Stadt ein freundliches Aussehen
geben, bewundern wir ein Denkmal: einen in Bronze gegossenen, sterbenden
Löwen auf Marmorsockel mit der Inschrift: „Den aus Kreis und Stadt Liegnitz
1866, 1870—71 gefallenen Helden."
Glogau (Oderbrücke und Schloß).
Der MmjHc Kiuiilrüllini »»!> dir Uordscite Schicht»?.
Namslau. — Das Hcldengrab zu Minkowski. — Öls. — Das Katzengebirge. —
Der Totengräber in Guhrau. — Glogau. — Die Wahl des Platzes zur neuen Dom-
kirche. — Herzog Hans der Grausame. — Die verhungerten Ratsherren. — Singen
oder Springen. — Der Statthalter Johann Polak von Karnikow (1493). — Glogau
im Dreißigjährigen Kriege. — Andreas Gryphius. — Grimberg. — Karl XII. von
Schweden in Freystadt (1707). — Sagan. Der Turm von Sagan. — Der Hunger-
turm in Priebus. — Sprottau. — Bunzlau. — Marl-in Opitz.
Ramslau. Der Landrücken, welcher Schlesien nach Polen hin abgrenzt,
wird nicht selten mit gemeinsamem Namen der polnische Landrücken ge-
nannt; die Geographen nennen ihn die uralisch-karpathische Landhöhe.
Den südlichen Teil dieses Rückens haben wir bereits als die Höhen von Tar-
nowitz kennen gelernt, auf denen kleine rechte Nebenflüsse der Oder entspringen.
Diese Höhen flachen sich, je weiter wir nach Nordwesten gehen, um so mehr ab.
Wir kommen nach Kreuzburg am Stober, wo am 13. Juli 1816 Gustav Freytag,
der Schöpfer der „Ahnen", geboren wurde.
Nordwestlich von Kreuzburg liegt in ebener, an Nadelholzwaldungen reicher
Gegend Namslau, eine Stadt von 5868 meist deutsch redenden Einwohnern.
In der Umgebung wird viel polnisch gesprochen. Die Städter bauen wenig
Getreide, da der Boden meist sandig ist; doch wird viel Flachs und Kartoffeln
350 Der polnische Landrücken und die Nordscite Schlesiens.
gebaut. Für den Schwarzviehhandel ist Namslau der bedeutendste Marktplatz
der Provinz; es gelangen jährlich 22 000 Stück meist aus der Provinz Posen
aufgetriebene Schweine und Ferkel im Werte von 450 000 Mark zum Verkauf.
Das Heldeilgrab JU Minkowski. Unweit der Stadt Namslau liegt das
Dorf Minkowski, bekannt durch Seydlitz' Grab. Der tapfere und ausgezeich-
nete Reitergeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz wurde am Z.Februar 1721
zu Kalkar bei Kleve geboren, trat mit 17 Jahren in ein Küraffierregiment ein,
wurde im ersten Schleichen Kriege gefangen, aber bald ausgewechselt und Ritt-
meister bei eiuem neuen Husarenregiment; er zeichnete sich aus bei Hohenfried-
berg, wo er einen sächsischen General gefangen nahm, wurde bei Sorr verwundet,
und unternahm bei Zittau einen kühnen Reiterangriff. Als Major organisierte er
ein Dragonerregiment und in Schlesien ein Kürassierregiment, dessen Oberst er
1755 wurde. Im Siebenjährigen Kriege zeichnete er sich in verschiedenen
Schlachten aus. Friedrich II. übertrug ihm, der die Reiterei wie keiner zu
leiten verstand, das Kommando über die ganze Kavallerie seines Heeres, und
Seydlitz brachte es dahin, daß die vor 1740 kaum gekannte preußische Kavallerie
einen welthistorischen Ruf bekam. Mit feiner Reiterei entschied Seydlitz die
Schlacht bei Roßbach, mit ihr stellte er bei Zorndorf die verlorene Ordnung
wieder her, befreite die Infanterie von den sie umzingelnden Russin, eroberte
die verlorenen Kanonen wieder und noch 120 feindliche dazu uud uahm 20
Fahnen. Seine Wunden hinderten ihn, am Feldzuge 1760 teilzunehmen; 1762
that er sich in der Schlacht bei Freiberg hervor. Nach dem Frieden wurde er
Inspektor der schleichen Kavallerie, und sein Regiment zu Ohlau war bald
der Mittelpunkt des Unterrichts für die Kavallerie von ganz Europa. Er starb
nach zehnjähriger Friedensrast am 7. November 1773, erst 52 Jahre alt, ein
vollkommener Meister der Kriegskunst, und wnrde zu Minkowski bestattet.
Sein Heldenname ist nicht besteckt durch Züge der Grausamkeit oder Habsucht.
Seydlitz trat mit seinem unerschrockenen Worte ein, wo es galt, für andre zu
sprechen; ohne Rücksicht auf Personen und mit Hintansetzung des eignen In-
teresses zeigte er stets Pflichttreue und Gerechtigkeitsliebe. Soldatische Derbheit
und Freimütigkeit, gewaltthätiger Sinn und edle Menschenfreundlichkeit, groß-
mütige Gesinnungen und eigenmächtige Handlungsweise, also kriegerischeTugenden
und menschliche Schwächen, vereinigten sich in ihm. Mit einer tollkühnen Tapfer-
keit verband sich ein seltener, genialer Feldherrnblick, der den rechten Augenblick
zu erfassen wußte. Zu. früh, noch ehe er die Ruhe am Abende seines Lebens
einernten konnte, schloß er zu Minkowski seine thatenreichen Tage.
Olö. Bei Namslau fließt die Weida vorbei, die von den Trebnitzer
Höhen kommt und unterhalb Breslau in die Oder geht, nachdem sie auf der
rechten Seite die Olse aufgenommen hat, an der die alte Stadt Ols liegt in
sandiger Gegend mit lehmigem Untergrund, einem Boden, der für den Gemüse-
bau besonders geeignet und reich an trefflichen Wiesen ist. Öls hat 10157 Ein-
wohner und ist eine der ältesten Städte Schlesiens. Es wurde 937 gegründet
und verdankt seinen Namen den in der nächsten Umgebung vielfach vorkommenden
Erlenwaldungen (ol8za — Erle). Die Stadt erhielt 1255 deutsches Recht,
gehörte ursprünglich zum Fürstentum Breslau, kam 1294 an das Fürstentum
Öls. — Das Katzengebirge. — Der Totengräber in Guhrau. 351
Glogan, wurde 1312 Sitz eigner Fürsten aus dem Hanse der Piasten. Als das
Fürstenhaus 1492 ausstarb, fiel Öls an Böhmen, kam aber schon nach drei
Jahren durch Tausch wieder an die Piasten, und zwar au die von Münsterberg.
Nach dem Erlöschen des Mannesstammes dieser Linie (1647) kam es an den
Schwiegersohn des letzten Herzogs der Münsterberger Linie, an Silvins Nimrod
von Württemberg, der auf diese Weise der Stifter der Linie Württemberg-Öls
wurde. Als diefe 1792 erlosch, fiel Öls an den Gemahl der einzigen Tochter
und Erbin des letzten Herzogs von Württemberg-Öls, an den Herzog Friedrich
August von Braunschweig. Öls gehört noch jetzt als Mediatfürstentnm dem
Herzoge von Braunschweig.
Die Geschichte der Stadt Öls enthält eine lange Reihe von Kriegsdrang-
salen und Unglücksfällen. Im Jahre 1432 zündeten die Einwohner selbst aus
Furcht vor den herannahenden Hnssiten ihre Stadt an; 1535 wurde Öls durch
Gewitter und Orkan verheert, 1627 während 30 Wochen von den Wallensteinern
heimgesucht, 1634 abwechselnd von Schweden, Sachsen und Kaiserlichen erstürmt
und geplündert; es wurde auch vou 1631 —1634, dann wieder 1709 von der
Pest stark mitgenommen.
Öls besitzt ein im Jahre 1594 angelegtes evangelisches Gymnasinm mit
reicher, gräflich von Kospothischer Stiftung. Von den Kirchen ist die Schloß-
kirche die älteste, die 979 erbaut worden ist und das Grabmal des 1565 ver-
schiedeueu Herzogs Johann, des Erbauers des noch vorhandenen, weitläufigen
Schlosses enthält. In der Schloßbibliothek finden sich mehrere Handschriften,
auch Briefe von Luther und Melanchthon. Den Schloßplatz ziert ein Obelisk
mit Fürstenhut, welche die Stände des Fürstentums 1731 zur Feier der goldenen
Hochzeit ihres Herzogs haben aufrichten lasfen.
Dag katzcttgebirge. Nördlich vou Öls erheben sich die Trebnitzer Höhen
oder das Katzengebirge bis zu einer Höhe von 360 in. Diese Höhen ziehen sich
zwischen der Weida und Ölse einerseits und der Bartsch anderseits hin, in der
Richtung von Osten nach Westen, und schließen ein fruchtreiches und anmutiges
Stück Erde ein. Hier liegt Trebnitz, in desfen Umgebung wir auf ausgedehnte
Eichen-, Buchen- und Birkenwaldungen stoßen, hier Obernigk, der Lieblings-
aufenthalt Holteis. Im Norden der Höhen fließt die Bartsch, die in der Provinz
Posen entspringt, die, sobald sie in Schlesien eintritt, von vielen Sümpfen und
Seen umgebeu ist. Au diesem Flusse liegt Militsch, das wir schon als Eigentum
des Breslauer Domstiftes kennen gelernt haben (S. 11V Weiter abwärts liegt
Trachenberg in ebener, Wasser- und waldreicher Gegend mit ausgedehnten Wiesen
uud gutem Ackerboden, der Hauptort des Mediatfürstentums Trachenberg, das
sich seit 1641 (1742 wurde es in ein Fürstentum umgewandelt) im Besitze der
Grafen von Hatzfeld befindet.
Äer Totengl'llbtl' in Guhrau. Wandern wir an dem rechten Ufer der
Bartsch flußabwärts entlang, so kommen wir bald nach dem Acker- und Garten-
bau treibenden, von über 4200 Menschen bewohnten Guhrau. Hier wütete
im Jahre 1656, wie der damalige Stadtvogt Felbiger berichtet, die Pest so
fürchterlich, daß im ganzen nur zwei Häuser von der Krankheit verschont blieben.
Es war nämlich in jenem Jahre (1656) Lissa von den Polen verbrannt worden,
352 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
und deshalb kamen von dort her damals nach Guhrau viele Flüchtlinge. Vier-
zehn Tage vor Johanni kamen in zwei Häusern die ersten Pestfälle vor. .Die
schreckliche Krankheit griff schnell entsetzlich um sich. Bald waren drei Toten-
gräber nacheinander gestorben. Da wurde für dieses Amt Adolf Hennig aus
Fraustadt gewonnen, der von seinem Weibe Anna, die, um sich gegen die Pest
zu schützen, stets betrunken war, unterstützt wurde. Die Pest ließ nicht nach,
sie forderte immer neue Opfer. Nun verbreitete sich das Gerücht, der Toten-
gräber habe die Leiche eines Kindes zu Pulver verbrannt, das Pulver auf die
Gassen und in die Brunnen gestreut und so der Krankheit Verbreitungsstoff
gegeben. Für das Gerücht fand sich aber kein Beweis. Der Verdacht lenkte
sich dann auf das Weib des Totengräbers. Die Frau wurde in scharfes Verhör
genommen, gestand aber nichts; dann wurde sie für eine Hexe erklärt, mußte
die Probe im Wasser aushalten und wurde, weil sie auf dem Wasser schwamm,
eingesperrt, gestand aber nichts. „Da hat ihr der Teufel im Gefängnis den
Hals gebrochen und sie ist verbrannt worden."
Der Totengräber, „der alte Bösewicht", wurde auch eingezogen und sollte
bekennen, wohin er das Kind gethan habe. An der von ihm bezeichneten Stelle
fand man aber die Leiche nicht, und nun verlangte das Volk seinen Tod. Der
Mann suchte sich in seiner Verzweiflung zu erhängen, wurde aber verhindert,
es zu thun. Er wurde gefoltert. Der Berichterstatter sagt selbst, er habe aufs
schärfste anziehen lassen. Da gestand der Totengräber, er habe drei Kinder
gepulvert, das Pulver in die Gaffen und Brunnen gestreut, um die Pest allent-
halben zu erregen. Mit diesem Geständnis war die hohe Obrigkeit noch nicht
zufrieden. Der Unglückliche wurde wieder auf die Folter gefpauut und gestand,
als er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, daß er in Fraustadt die Hexerei
erlernt habe, zu verschiedenen Malen mit dem Teufel ausgefahren sei und viel
Böses gestiftet habe. Der Stadtvogt erzählt, daß wegen dieser Greuelthaten
folgendes Gericht mit dem Bösewicht vorgenommen worden ist: 1) Ich habe
ihn auf allen vier Ecken mit glühenden Zangen an Brüsten und Armen reißen
lassen. 2) Vor dem Gloganer Thore ist ihm, weil er dort zum erstenmal das
Pulver gestreut hat, die rechte Wade am Bein ausgerissen worden. 3) Auf der
Guhrgasse wurde die linke Wade ausgerissen. 4) Beim Gerichte wurden aus
ihm (er lebte noch) vom Haupte bis auf die Füße zwei lange Riemen geschnitten.
5) und 6) Er ist gevierteilt und als Hexer verbrannt worden. So geschehen
am 30. August 1656.
Welch eine Reihe c.^setzlicher Grausamkeiten! Die Pest verheert die Stadt.
Man hat keinen Totengräber mehr, die Leichen zu begraben; ein Fremder über-
nimmt das schlimme Amt, die Pest verschont ihn: da geben ihm die Bewohner
der Stadt im blinden Wahn und Aberglauben den martervollsten Tod für
feine Aufopferung.
Gloqau. Unterhalb der Bartfchmünduug liegt an dem linken Ufer von
Schlesiens Hauptstrom die Stadt und Festung ersten Ranges Glogan mit
18 630 Einwohnern. Das Gewerbe hat sich daselbst, weil der Ort Festung ist,
nicht bedeutend entwickeln können. An größeren gewerblichen Anlagen hat die
Stadt auszuweisen die weltbekannte karthographische Anstalt von E. Flemming,
verbunden mit Stein-, Kupfer- und Buchdruckerei, mit Absatz nach allen Gegenden
Glogau. — Die Wahl des Platzes zur neuen Domkirche. 353
der Erde. Glogau treibt seit längerer Zeit einen lebhaften Handel mit Landes-
erzeugnissen und Kolonialwaren nach der Umgegend und der Provinz Posen;
es hat ein evangelisches und ein katholisches Gymnasium und zwei Töchter-
schulen. Sage und Geschichte der Stadt und Umgegend sind an vielen Stellen
zu interessant, als daß sie unberücksichtigt bleiben dürften.
Glogau war am Ende des ersten Jahrtausend ein aus ärmlichen Hütten
bestehender und, wie die Sage erzählt, wehrloser Slawenort am rechten Oder-
user, der seinen Namen von dem die Gegend bedeckenden Gesträuch und Dorn-
gestrüpp, das im Polnischen glog heißt, erhalten hat. Das Gesträuch wurde
erst 1630 ausgerottet und bei der Befestigung der Stadt benutzt. Zu Anfang
des 12. Jahrhunderts verlegte man die Stadt Glogau auf das linke Oderufer
und legte neue Gärten um dieselbe an. Der Herzog Boleslaw berief nach
Glogau Prälaten und Kanoniker und hielt durch diese Stiftung, ohne es zu
wollen, das Aufblühen der Stadt zurück. Die polnischen Domherren, ihren hei-
mischen Sitten und Rechten zngethan, hielten Glogau auf, während Breslau und
Liegnitz durch Annahme deutscher Rechte und Sitten vorauseilten. Der Geschicht-
schreiber Curäus bemerkt, daß zu dieser Zeit die Christenpriester noch beweibt,
der Mönchsorden in Schlesien wenige gewesen, das heilige Abendmahl unter
beiden Gestalten gespendet und mit ihm keine feierlichen Umzüge gehalten seien.
Die Wahl des Platzes zur neuen Domkirche. Konrad II. ging aus
dem Kampfe mit seinen Brüdern im Jahre 1252 als Besitzer von Glogau hervor.
Sein Leben war vielbewegt und thatenreich; er bemühte sich, deutsche Sitte in
seinem Lande zu verbreiten. Vielen Zwist hatte er mit der Domgeistlichkeit,
die seinen Bestrebungen feindlich gegenüberstand; und obgleich er kein Feind
der Kirche war, suchte er doch die Macht der Geistlichen einzuschränken und auf
nur geistliche Dinge zurückzuführen. Wenn er oft mit großer Strenge verfuhr,
so gab er auch nicht selten nach, besonders wenn ihn seine Gemahlin Salome,
eine fromme und kluge Fürstin, bat.
Konrad wollte den Dom außerhalb der Stadt verlegen und gab für sein
Vorhaben den Domherren manche Gründe an, er wolle das Stift erweitern
und um dasselbe eine schöne Vorstadt anlegen; hauptsächlich aber war es ihm
darum zu thuu, die Domherren aus der Stadt zu bringen. Daß es zu keinem
Streite zwischen dem Herzoge und der Geistlichkeit kam, hat wohl zumeist die
Herzogin Salome durch begütigende Worte und Versprechungen veranlaßt.
Die Sage berichtet, der Herzogin habe es sehr am Herzen gelegen, für
den neuen Dom die rechte Stelle zu sinden, und sie habe ihren Gemahl gebeten,
er möchte damit einverstanden sein, daß sie sich durch Gott ein Zeichen geben
lasse, aus welcher Stelle der Dom erbaut werden solle. Der Herzog versagte
seiner Gemahlin den frommen Wunsch nicht. Die Herzogin nahm sich nun vor.
eine Taube einmal unter Beten fliegen zu lassen, und wo diese sich niederlasse,
solle, wenn es irgend möglich wäre, der Dom erbaut werden.
Nach einigen Tagen ging die Herzogin im Schloßgarten spazieren. Da
ging ein Landmädchen an der Gartenpforte vorüber;, es trug einen Handkorb,
in welchem eine Taube lag, die weiß wie Schnee war und keinen Flecken hatte.
Auf die Frage, was die Jungfrau mit der Taube vorhabe, erklärte sie, sie habe
die Taube, die herrenlos zu sein scheine, im Freien gefangen; wenn es der
Herzogin genehm sei, möge sie das Tierchen behalten. Salome nahm die Taube
Deutsches Land und Volk. VIII. 23
354 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
gegen ein reiches Geschenk, gab ihr Futter und behandelte sie zärtlich. Nach
nicht langer Zeit erschien die Herzogin auf der Galerie des Schloßturmes mit
der Taube, deren weißer Hals mit einem rosaseidenen Bändchen geschmückt war.
Der Fürstin Antlitz strahlte in freudiger, fast andächtiger Verklärung; mit den
Worten „Vollziehe deine fromme Sendung" setzte sie die Taube auf ihre Hand.
Das Täubchen rührte sich nicht, sondern niedergekauert schien es sich ganz be-
haglich in der weichen Hand der Herzogin zu befinden. Die hohe Dame unter-
nahm nun einen Rundgang auf der Galerie; als sie uach Norden kam, wurde
die Taube munter, rauschte plötzlich davon, schwang sich hoch empor, schwebte
in der Luft, gleichsam um sich über.dem Gewühl der Stadt zurecht zu finden,
flog dann davon über den einen Oderarm und ließ sich auf der Insel nieder,
welche die Oder bei Glogau dadurch bildet, daß sie sich iu zwei Arme spaltet,
und auf welcher sich die Trümmer des alten Schlosses befanden.
Schnell meldete die Herzogin ihrem Gemahl, wo sich die Taube nieder-
gelassen hatte; der Herzog freute sich über das Zeichen, da er selbst sich diesen
Platz schon für den Dom gewählt hatte; er sagte: „Die Taube hat den Herren
des Domes ein schönes Stück Land zu wählen verstanden."
Der Herzog erbaute den neuen Dom, und die Herzogin schmückte ihn durch
reiche Gaben glänzend aus. Der Dom in der Stadt wurde zu einem Domini-
kanerkloster umgeschaffen, das Salome mit vielen Geschenken bedachte und in
dem sie bestattet wurde.
Herzog Hans der Grausame. Einer der unruhigsten, wildesten und
grausamsten Fürsten, welche im Herzogtums Glogau regiert haben, war JohannII.,
gewöhnlich Hans II. genannt; seine ganze Regierungszeit war eine ununter-
brochene Kette der abenteuerlichsten und zügellosesten Handlungen, durch die er
uameuloses Elend über das Land brachte.
Johann II. war Herzog von Sagan. Im Jahre 1472 hatte er sein
Herzogtum verkauft und lebte als Freibeuter. Da starb im Jahre 1476 Herzog
Heinrich XI. von Glogau, Johanns Oheim. Sofort trat er mit Ansprüchen auf
dieses Fürstentum in Schlesien auf, während die Könige von Polen und Ungarn
Glogau als offenes Lehen ansahen und für sich beanspruchten und der Kurfürst
Albrecht Achilles von Brandenburg das Herzogtum als sein Eigentum erklärte,
da seine Tochter Barbara, die Witwe Heinrichs, von ihrem verstorbenen Gemahl
die allein eingesetzte Erbin sei. So entbrannte der Kampf um das Land von
allen Seiten König Matthias von Ungarn unterstützte den Herzog Hans, um
ihm das Herzogtum gewannen zu helfen uud es dann für sich einzuziehen. Es
währte nicht lange, so hatte Hans sich ganz Glogau mit unmenschlicher Grau-
samkeit erobert. Bald seufzte das Fürstentum unter der fürchterlichsten Bedrückung;
denn Summen auf Summen preßte Hans aus dem Lande, um verschwenderisch
leben zu können und stets kriegsgerüstet und zu Raufereien kampfbereit zu sein;
er konnte sich rühmen, in wenigen Jahren 600 Dörfer in Brand gesteckt zn
haben. Zwei Gutsbesitzer feines Landes, die er um ihren Reichtum beneidete,
ließ er fälschlich beschuldigen, dann gefangen nehmen und hinrichten; ihr Ver-
mögen machte er zu seinem Eigentums. Die Leiden Glogans waren ohne Bei-
spiel; aus der geringfügigsten Veranlagung nahm er den Bürgern ihre Vorrechte,
bemächtigte sich der Stadtgüter uud verkaufte sie; wer Widerspruch erhob, wurde
gesangen genommen, gemartert und hingerichtet.
Die verhungerten Ratsherren. — Singen oder Springen. 355
Die verhungerten Ratsherren (1483). Im Jahre 1483 beschuldigte
Hans sieben Ratsherren, sie hätten die Absicht gehabt, ihn an Matthias von
Ungarn zu verraten, um sich seiner Herrschaft zu entledigen. Hans verlangte
nämlich von den Glogaueru. sie sollten bei seinen Lebzeiten dem Herzog von
Münsterberg die Thronfolge versprechen; die Glogauer aber hatten schon vor
dem Regierungsantritt des Herzogs Hans dem König Matthias versprochen, einer
seiner Söhne solle Glogau bekommen, und sie wollten ihr Versprechen nicht brechen.
Domkirche zu Glogau.
Die sieben Ratsherren, welche dies dem Herzog erklärten, wurden gesangen ge-
nommen und in den scheußlichen runden Schloßturm gesperrt. Dort ließ sie
der Herzog langsam verhungern und verdursten. Unter den fürchterlichsten
Qualen verschied einer nach dem andern.
Singen oder Springen. Herzog Hans verschonte auch das Domkapitel
nicht, wenn er Geld brauchte. Die geistlichen Herren aber wollten die ihnen
auferlegte Steuer nicht bezahlen. Hans ließ die Domherren vor sich kommen
und sagte ihnen: „Ihr Domherren sollt, was ich begehre, auszahlen; wo nicht,
so müßt ihr fort, und ich will eure Präbeuden einziehen und von euren Ein-
künften meine Soldaten bezahlen. Sofort besetzte er den Dom mit Polen, die
er in seinen Dienst genommen hatte. Darauf wurde der Herzog mit der ganzen
Stadt Glogau in Bann gethan. und die Geistlichen stellten allen Gesang und
Gottesdienst in den Kirchen ein. Dem Fürsten lag daran, daß der Bann auf-
gehoben wurde; weil er aber wußte, daß er seinen Willen den Domherren
23*
356 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
gegenüber nicht würde durchsetzen können, griff er zur List. Er ließ den Geist-
lichen sagen, er habe ihnen wichtige Mitteilungen zu machen; da sie aber nicht
zu ihm, dem Gebannten, kommen würden, noch er zn ihnen gehen wolle, möchten
sie nur ihm entgegengehen, er wolle bis zur Schloßbrücke zu ihnen kommen.
Die Priester gingen aus den Vorschlag des Herzogs ein, ohne eine List zu ahnen.
In Prozession kamen sie heran, von der andern Seite erschien der Herzog, der
den Befehl erteilt hatte, seine Leute sollten hinter den Geistlichen während der
Unterredung schnell die Brücke abbrechen. Als dies geschehen war, sagte der
Herzog: „Liebe Väter, seht euch um und überlegt, ob ihr singen oder springen
wollt." Die Domherren sahen vor sich das Schloß des Herzogs, in dessen Ge-
walt sie sich nicht begeben mochten, hinter sich das offene Wasser; sie mußten
also entweder in das Wasser springen oder singen, d. h. den Bann lösen. Sie
erklärten sich zum Singen bereit. Nun wurde die Brücke wieder belegt und
der Gottesdienst abgehalten.
Der Statthalter Johann Polak von Karnikow (1493). Gegen
Ende des 15. Jahrhunderts hatte Glogau viel unter dem Drucke eines gewalt-
thätigen Statthalters zu leiden. Der Herzog Johann Albert von Glogau war ein
Freund der Polen und hielt sich beständig in Polen auf. Zu seinem Statthalter
hatte er Johann Polak von Karnikow ernannt, der von polnischer Abstammung und
ein Feind des deutschen Wesens und freien Bürgertums war; er entzog der
Stadt ihre Vorrechte und legte ihr eine Steuer nach der andern auf. Eiuer
neuen Steuer auf das Bier hatten sich die Ratsherren entschieden widersetzt,
und besonders thätig bei dem Widerstande waren der Bürgermeister Arnold und
der Ratsschöffe Link gewesen. Da ergrimmte Polak und entzog der Bürgerschaft
das Recht, ihre Ratsherren frei zu wählen. Gegen diese Verfügung sprachen
sich entschieden Arnold und Link in der Ratsversammlung aus und beantragten
die Absendnng einer Bittschrift an den Herzog; aber sie fanden im Rate nicht
die gewünschte Unterstützung, weil viele Ratsherren durch Polak eingeschüchtert
waren. Die Ausregung unter den Bürgern war groß; mit Blitzesschnelle war
das neue Unglück in der Stadt bekannt geworden, unter den Fenstern des Bürger-
meisters versammelte sich viel Volk, und es fielen drohende Worte. Arnold
ermahnte die Leute, auseinander zu gehen und nicht noch das Unglück der Stadt
zu vergrößern. Die Bürger befolgten gehorsam seinen Rat, und es fand keine
Ruhestörung statt, obgleich am Abend die Schanklokale überfüllt waren und es
in denselben bis zur Nacht gar lebhaft zuging.
Polak war über alles, was vorgefallen war, genau unterrichtet. Am an-
dern Tage gingen Arnold und Link zu ihm nach gemeinsamer Verabredung,
um womöglich durch Bitten etwas zu erreichen.
„Was wollen die Herren?" herrschte Polak die Männer an, als sie vor-
gelassen waren. „Wollt ihr um Verzeihung bitten wegen eures Ungehorsams
und eures ungebührlichen Verhaltens gegen euren Herrn? Nun, eure Worte
sind immer schön, doch in euren Thaten seid ihr Verräter!"
Der Statthalter hatte offenbar die Absicht, den Bürgermeister zu reizen;
dieser aber unterdrückte seine Aufregung und antwortete mit Ruhe und Würde,
er bitte nur ehrfurchtsvoll um die Erhaltung der verbrieften Gerechtsame des
Herzogtums und der Hauptstadt. Polak lachte und antwortete höhnend. Als
ihm Arnold die Entgegnung nicht schuldig blieb, griff er wütend zur Klingel
Der Statthalter Johann Polak von Karnikow (1493). 357
und befahl dem eintretenden Diener: „Der Hauptmann der Schloßwache!" mit
fürchterlicher Betonung. Dann sagte er mit Kälte: „Ich will doch sehen, ob
ich diesen Freiheitsschwindel der Deutschen nicht bändigen werde; erst nur die
Häupter der Empörung, das übrige Volk wird dann schon zu Kreuze kriechen."
„Die Macht eines Statthalters, ja eines Fürsten ist vergänglich, der
deutsche Freiheitssinn währt ewig, er kann gebeugt, doch nicht gebrochen werden",
entgegnete Arnold ebenfalls mit eisiger Kälte.
Wenige Minuten später waren beide Männer Gefangene des Schloßturmes,
in welchem vor einigen Jahren sieben Glogauer Ratsherren verhungert waren.
Die Bürger wußten, daß Arnold und Link zum Schlosse gegangen waren, ver-
gebens warteten sie auf ihre Rückkehr, bald erfuhren sie die Gefangennahme.
Nun wurde die Aufregung zu vollständigem Ausruhr: die Bürger traten zu-
sammen, die Sturmglocke wurde geläutet, die empörte Menge zog vor das Rat-
haus. Die Lärmenden forderten die Gefangenen heraus, die Ratsherren ver-
wiesen sie nach dem Schlosse an den Statthalter. Dorthin zog nun die ganze
Schar, aber Polak hatte sich zu einem kräftigen Empfange vorbereitet, falls die
Bürger Gewalt gebrauchen wollten. Die Unzufriedenen lärmten und schrieen,
aber handelten nicht; es fehlte ihnen ein entschiedener Führer. „Laßt uns
eine Deputation an den Herzog senden!" tönte es in die Menge hinein. Dieser
Vorschlag wurde angenommen. Daß mit der Ausführung desselben nichts er-
reicht werden würde, wußte der Rat, aber er war zufrieden, daß sich das
drohende Gewitter vor dem Schlosse zerteilte.
Eine Deputation von zehn Bürgern wurde an den Herzog nach Posen
gesandt; sie mußte dort lange warten und richtete nichts aus. Der Herzog
billigte die Schritte Polaks, der nun seine Grausamkeit noch verschärfte; er ver-
langte von dem Magistrate die Auslieferung von zehn Bürgern, die den Auf-
stand veranlaßt und geleitet hatten. Der Magistrat folgte. Angst und Schrecken
verbreitete sich nun in der Stadt, keiner war seiner Freiheit und seines Lebens
sicher, nachdem Verrat und Bosheit auch in jene Kreise gedrungen waren. Nicht
deutsche Richter, sondern eine polnische Kommission sollte auf Polaks Veranlassung
die Schuld der Verhafteten prüfen; eine ärgere Verhöhnung des Rechts und
der Gerechtigkeit war nicht möglich, denn es war von vornherein ausgemacht,
daß die Gefangenen schuldig sein mußten. Als erstes Opfer fiel der Bürger,
der bei dem Aufruhr die Sturmglocke geläutet hatte, am 3. Oktober 1493.
Nachdem Polak den Ratsschöffen Link aus dem Gefängnis entlassen hatte, gab
er Befehl, der Rat solle die andern Gefangenen hinrichten lassen; er werde ver-
reisen, und wenn er in einigen Tagen zurückkehre, dürfe keiner der Eingekerkerten
mehr leben. Entsetzen verbreitete die furchtbare Nachricht in der Stadt, der
Jammer der Frauen und Kinder war groß; man bestürmte den Magistrat mit
Bitten, der nicht den Mut hatte, gegen den Wüterich ungehorsam zu sein.
Dennoch gelang eine Vermittlung durch einen Edelmann in Glogau, den ein-
zigen Freund Polaks. Als der Tyrann auf sein Schloß zurückgekehrt war,
verwandelten sich auf sein Verlangen die Glogauer Bürger in eine große Büßer-
gemeinde. Sie erschienen in dürstigster Kleidung, unbedeckten Hauptes, mit
bloßen Füßen vor dem Schloß, ließen sich auf die Kniee nieder und riefen Gnade.
Nachdem sie sich zu blindem Gehorsam bereit erklärt, auch versprochen hatten,
nur willenlose Knechte des Statthalters sein zu wollen, wurden die Gefangenen
358 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
mit Ausnahme eines Bürgers, für welchen die schreckliche Demütigung nach einigen
Wochen wiederholt wurde, begnadigt. Der Bürgermeister Arnold wurde enthauptet.
Fünf Jahre hat das Scheusal Polak in Glogau gehaust uud der Bürger
Recht und Eigentum gekürzt. Als 1496 Glogau unter böhmische Oberhoheit
kam, wurde Polak seines Amtes entsetzt. Unter Sigismunds Regierung erholte
sich die Stadt von den Bedrängnissen, die sie mehrere Jahre hindurch betroffen
hatte. Der König begünstigte die Stadt, und die Einwohner kamen durch neu
aufblühenden Handel wieder zu Ruhe und Wohlstand.
Glogau im Dreißigjährigen Kriege. Was Glogau durch dieLichteu-
steiuer Dragoner, die sogenannten Seligmacher, zu leiden hatte, ist bekannt (S. 23).
Doch begannen mit den schrecklichen Qualen, die den Bürgern durch die Peiniger
auferlegt wurden, erst die Widerwärtigkeiten des Krieges. Da Glogau eine
Festung von strategischer Bedeutung ist, so wüteten die Kämpfer beider im
Streite liegenden Hauptparteien um den Besitz dieses Ortes. Im Jahre 1632
rückten die Schweden unter Arnheim und Duval gegen Glogau, griffen die Stadt
in der Nacht vom 10. zum 11. August an drei Orten zugleich an und eroberten
sie im ersten Anlaufe; die Kaiserlichen zogen sich zurück. Im folgenden Jahre
erschien Wallenstein mit 40 000 Mann in Schlesien, eroberte das schwach be-
setzte Glogau wieder und erhielt das ganze Fürstentum vom Kaiser zum Ge-
schenk, gelangte jedoch nicht in den eigentlichen Besitz wegen seines bald nachher
erfolgten Sturzes. Das nächste Jahr (1634) führte die Schweden unter Arnheim
wieder in die Nähe von Glogau. Zwar schlug die österreichische Garnison den
ersten Sturm ab, sie war aber zu langem Widerstande zu schwach und ergab sich.
Schon am 16. März 1635 ging es infolge eines Separatfriedens zwischen
Sachsen, Schweden und dem Kaiser wieder in österreichische Hände über. Aber
bereits 1642 erstürmten die Schweden unter Torstenfon wieder die Stadt. Bei
einem von der Besatzung gewagten, aber zurückgeschlagenen Ausfalle drangen
die Schweden mit den fliehenden Österreichern in die Stadt, und andre Ab-
teilungen erstiegen die Ringmauern an mehreren Stellen; der Kommandant
mußte kapitulieren. Alle Vorräte fielen in die Hände der Sieger, die Stadt
wurde, um zu ihrer Leidenshöhe emporzusteigen, der Plünderung preisgegeben
und ging zum Teil in Flammen auf. Die Versuche der Österreicher, die Festung
wieder zu gewinnen, waren ohne Erfolg; Glogau blieb in den Händen der
Schweden bis zum Westfälischen Frieden. Die Glogauer Protestanten durften
sich außerhalb der Stadtmauern eine Kirche aus Lehm erbauen (S. 24); das
war alles, was ihnen statt der gehofften Religions- und Gewissensfreiheit ge-
währt wurde. Während des Krieges uud bei dem Drucke der Zeit war die
Blüte der Stadt, ihr Ansehen, ihre Macht, der Sinn für Bürgerrecht und
Bürgerwürde verschwunden.
1741. Als Friedrich II. in Schlesien einrückte, ließ er, um schnell vor-
wärts zu kommen, bei Glogau ein Blockadekorps zurück, das gegen Ende des
Jahres 1740 durch Truppen unter dem Oberbefehl des Prinzen Leopold von
Dessau verstärkt wurde. Mit jedem Tage wurde die Festung enger umgarut,
ohne daß die Preußen Widerstand gefunden hätten, weil der Festuugskommau-
dant Graf Wallis vom Wiener Hofe den ausdrücklichen Befehl hatte, die Feind-
feligkeiten nicht anzufangen. Die Preußen begannen in der Nacht vom 8. zum
9. März 1741 gerade um Mitternacht den allgemeinen Angriff: ein Posten von
1741. 1806—1814. 359
40 Österreichern wurde in der Nähe der Schloßbastion aufgehoben, der Haupt-
wall erstiegen, ehe das Festungsgeschütz abgefeuert werden konnte, die Thor-
wache besetzt! alles dies war das Werk einer halben Stunde. Die österreichische
Besatzung warf sich ins Schloß, mußte sich aber am nächsten Morgen ergeben.
Graf Wallis mit 2 Geueraleu, 36 Ober- und Stabsoffizieren und 855 Unter-
offizieren und Gemeinen wurde kriegsgefangen; erobert wurden 64 Kanonen,
5 Mörser, 1300 Zentner Pulver. Die Preußen hatten 4 Tote und 29 Ver-
wundete, die Österreicher ungefähr ebensoviel. Zum Denkmal dieser preußischen
Wassenthat wurde in eine Futtermauer der Kreuzbastei eine Sandsteintafel mit
der Inschrift „F. R. 1741" eingelegt; die Bastei erhielt den Namen Friedrich.
Das Plündern war den siegenden Truppen untersagt. Am dritten Tage nach
der Einnahme huldigten Magistrat, Geistliche und alle Beamten namens der
Bürgerschaft iu Gegenwart des Fürsten Leopold und der Markgrasen Karl und
Wilhelm dem Könige von Preußen.
Seit 1742 begannen die zur Verstärkung der Festuug nötigen Bauten.
Gloglau blieb während der Schleichen Kriege in preußischem Besitz.
1806—1814. Als im Jahre 1806 der Krieg des Frankenkaisers Napoleon
eine für Preußen unglückliche Wendung genommen hatte und dem Prinzen
Hieronymus Napoleon die Aufgabe zugefallen war, mit Franzosen, Bayern und
Württembergern unter Vandamme Schlesien zu erobern, war es die Festung
Glogan, auf die es die Feinde zunächst abgesehen hatten. Festnngskommandant
war damals der Generalmajor von Marwitz, stellvertretender Gouverneur
der Generalleutnant von Reinhard. Am 21. Oktober 1806 ging der Befehl
ein, Glogau solle gegen einen Handstreich gesichert werden. Sofort wurden die
Arbeiten begonnen; aber als sich schon am 7. November der Feind von allen
Seiten zeigte, war die Befestigung noch lange nicht vollendet. Noch am 7. Novem-
ber abends erschien ein Unterhändler bei dem Gouverneur und forderte zur
Übergabe der Festung auf. Er wurde abgewiesen, ebenso wie ein zweiter am
15. November. Damals hätten vielleicht die Feinde von Glogau zurückgedrängt
werden können, denn Napoleon hatte die Bayern abberufen, und das Heer der
Belagerer bestand aus nur 5000 Württembergern; aber es geschah nichts, es
fehlte an der nötigen Thatkrast. Als das Belagerungsgeschütz der Feinde von
Küstrin herangekommen war und man anfing, die Stadt zu beschießen, wurde
sie am 3. Dezember übergeben. Daß die Übergabe damals noch nicht notwendig
war, das steht jetzt wohl so ziemlich fest. In die Hände der Feinde sielen 208
Stück schweres Geschütz und ein großer Vorrat von Gewehren, Kugeln und
Pulver; das Gewehr streckten 3374 Mann, unter diesen 72 Offiziere. Durch
den Besitz von Glogau wurden die Feinde Meister eines großen Teiles von Schlesien
und erhielten Geschütz, mit dem sie die andern Festungen angreifen konnten.
Glogau mußte, um der Plünderung zu entgehen, an Vandamme 25 000
Thaler bezahlen; es erhielt einen französischen Gouverneur. Auch nach dem
Frieden zu Tilsit blieb die Festung (mit Stettin und Küstrin) mit 10 000 Mann
französischer Besatzung in den Händen der Feinde. Im Schlosse zu Glogau
redete der brutale Imperator im Jahre 1807 die preußischen Stände also an:
„Ihr habt den Frieden gewünscht; ich habe ihn euch soeben gegeben; der Krieg
war eine Thorheit (sottise), zu welcher die Hofleute den König verleitet haben;
sie hätte ihm beinahe den Verlust des Thrones zugezogen. Ihr werdet Preußen
360 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
bleiben, aber nicht mehr das sein, was ihr wäret. Ich hoffe, dies wird die letzte
Thorheit eures Königs gewesen sein."
Am 15. August 1898 wurde mit vielem Gepränge, mit Erleuchtung,
Feuerwerk und Gastmählern, während die Bürger seufzten, der Geburtstag des
Kaisers gefeiert. Dann wurden die Befestigungswerke auf Kosten Preußens
wieder ausgebessert und vervollständigt. Wie sehr Glogau während der fran-
zösischen Herrschaft litt, läßt sich in Kürze nicht beschreiben: aber daß die Not
keine kleine gewesen ist. liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, daß für die
Bürger zu den vielen Abgaben, welche der Krieg und unglückliche Friede von
den andern Städten forderte, noch die Erhaltung der französischen Truppen
hinzukam. Wie jedoch allenthalben nach den Unfällen der französischen Armee
im Jahre 1812 ein frischer Geist und Sinn die Bürger beseelte, so wurden
auch die Glogauer immer mehr von Abscheu gegen die Franzosen erfüllt. Sie
hatten die Reste der großen Armee zurückkehren fehen in den abenteuerlichsten
Aufzügen, wie sie in Felle von Katzen und Hunden, in zerlumpte Mäntel ge-
hüllt mit erfrornen Händen, Füßen und Nasen durch die Stadt zogen.
Der Krieg gegen Frankreich war erklärt. Am 10. März war das noch
immer von Franzosen besetzte Glogau völlig gesperrt, und nun erfuhren die
Glogauer nichts mehr von dem, was außerhalb ihrer Stadt vorging. Russische
Truppen begannen am 19. März die Beschießung Glogaus. Unter den Be-
lagerern waren auch Preußen, was man erst im Mai erfuhr, als bei einem
Ausfalle einige Preußen gefangen eingebracht wurden. Was mußten die Ein-
wohner jetzt empfinden, da sie sich noch immer der Gewalt französischer, also
ihnen jetzt feindlicher Truppen bloßgestellt fahen! Erst am 10. April 1314
ergaben sich die französischen Truppen unter der Bedingung freien Abzuges.
Glogau hatte während der Belagerung unbeschreiblich gelitten nicht durch die
Preußen und Russen, die es mehr eingeschlossen hielten als eigentlich angriffen,
sondern durch die in der Stadt entstandene Not, welche durch Mangel an Lebens-
Mitteln, durch Krankheit und durch den Druck, besonders durch die ungeheuren
Forderungen der französischen Behörden, herbeigeführt wurde. Der Kehricht
aus den Pferdeställen konnte nicht fortgeschafft werden, sondern wurde auf die
Straßen gebracht und verpestete die Luft. Weil es an Brennholz fehlte, riß
man Häuser ein und brauchte die Balken als Brennholz. Viele Hunderte von
Einwohnern wurden aus der Stadt gelassen, weil es an Lebensmitteln fehlte,
so z.B. am ersten Adventsonntage 1900 Menschen. Von der Besatzung liefen
viele davon, denn sie wurde schlecht verpflegt, und man sah Soldaten bei den Ein-
wohnern Brot erbetteln. Als die Besatzung durch Raketen von der Lage Deutsch-
lands erfuhr, forderten über 2000 Mann Deutsche, Spanier und Holländer ihre
Entlassung und erhielten sie am 23. Januar 1814. Der französische Gouverneur
Laplane stellte seine ungeheuren Geldforderungen öfter unter angedrohter Plün-
derung, am 25. Januar sogar unter Androhung, das Rathaus in die Luft
sprengen zu lassen, wozu er schon zwölf Fässer Pulver in die Keller desselben
hatte bringen lassen. Der auf den Straßen aufgehäufte Mist mußte endlich
am 3. Februar verbrannt werden, wodurch aber die Krankheiten noch vermehrt
wurden. Erst nachdem die Nachrichten von der Thronveränderung in Frank-
reich angekommen waren, ersolgte der Abschluß der Kapitulation am 10. April
1814. Die am 17. April ausmarschierende Besatzung bestand noch aus 2429
Andreas Gryphius. 361
Mann; 740 Kranke blieben zurück. Als die Feinde zum Thore hinauszogen,
ließen die von den Franzosen lange Zeit gedrückten Einwohner von dem Rat-
Hausturme die Melodie des Liedes „Nun danket alle Gott" blasen.
Andreas Oryphius. Der talentvollste Dichter der ersten schleichen Schule,
der durch sein oft übertriebenes Pathos den Übergang zur zweiten bildet, ist
Andreas Gryphius. Der Name des Dichters ist latinisiert aus dem deutschen
Namen Greif hervorgegangen. Gryphius wurde in Glogau als Sohn des
Archidiakonns bei der evangelischen Kirche am 11. Oktober 1611 geboren; er
befand sich noch im vierten Lebensjahre, als er seinen Vater plötzlich verlor.
Andreas Gryphius.
Des armen Waisenkindes Jugend war eine vielfach getrübte. Andreas besuchte
die Schulen zu Görlitz. Glogau und Fraustadt und beschäftigte sich gern mit
fremden Sprachen; er lernte nicht nur das Lateinische, Griechische, Hebräische und
Chaldäische, sondern erlangte auch einige Fertigkeit im Sprechen des Schwedischen
und Holländischen. Zwanzig Jahre alt, ließ er sein Gedicht „Der Kindes-
mörder Herodes" drucken. Als in Fraustadt wegen der schwer um sich greifenden
Pest die Schule geschlossen wurde, ging er auf das Gymnasium nach Danzig,
übernahm 1636 eine Stelle als Erzieher im Hause des kaiserlichen Pfalzgrafen
in Schlesien, Georg von Schönborn, wurde am 26. November 1637 zum kaiser-
lichen Poeten gekrönt, zur Würde eines Magisters der Philosophie und mit
seinen Nachkommen in den Adelstand erhoben.
Durch sein Gedicht „Der Brand von Freystadt", in welchem er die Leiden
seines Vaterlandes durch die Walleusteiner schildert, kam er in den Verdacht,
362
Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
als wolle er das Volk aufwiegeln, und floh deshalb nach Schlesien; er ging
nach Leiden in Holland, studierte Auatomie und hielt von 1639 —1644 daselbst
Vorlesungen in den verschiedensten Wissenschaften; denn er war nicht nur in
elf Sprachen bewandert, er lehrte auch Philosophie, Geschichte, Geographie,
Mathematik und Physik. Drei Jahre brachte er auf Reisen in England, Frank-
reich und Italien zu; 1647 kehrte er iu feine Heimat zurück und schlug die
ehrenvollsten Anerbietungen nach Upsala und Frankfurt an der Oder aus. Im
Jahre 1659 wurde er von den Landständen des Fürstentums Glogau zum
Syndikus gewählt. Dieses Amt verwaltete er bis zu seinem Tode mit treuer
Pflichterfüllung, seine freie Zeit widmete er dichterischen Arbeiten. Er versuchte
sich in den verschiedensten Zweigen der Dichtkunst. „Man zeige mir einen",
sagt Gervinus, „der alle ernsten und großen Gattungen Kirchenlied, Ode, Satire,
Trauerspiel und Lustspiel so selbständig, mit so passend geändertem Tone, mit
solcher Bemeisterung der poetischen Vorstellungen und Sprache behandelt hat."
Harte Schläge trafen den Dichter. Als Waisenkind war er in frühester
Jugend dem Wohlthätigkeitsfinn von Freunden und Verwandten überlassen;
als Jüngling zog er von Stadt zu Stadt, um seine Studien zu vollenden; nach
langem Wanderleben fand er Ruhe in seiner Vaterstadt, aber seine Leiden hören
nicht auf. Durch den Tod verliert er seinen Bruder und seine Schwester, dann
erliegt er selbst, noch nicht 48 Jahre alt, am 16. Juli 1664 feinen Leiden,
plötzlich vom Schlage getroffen mitten in einer Versammlung der Landesältesten
zu Glogau. Unter seinen Trauerspielen ist das bekannteste „Karl Stuart";
gelungener sind seine Lustspiele „Peter Squenz" und „Horribilikribrifax"; in
diesem Stücke gibt er vorzügliche Charakterbilder der Soldaten des Dreißig-
jährigen Krieges, in jenem behandelt er einen der Episode in Shakespeares
Sommernachtstraum verwandten Stoff. Die Liebe zu seinem unglücklichen
Vaterlande spricht er im Jahre 1636 in einem Sonett aus, das beginnt:
„Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun',
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun'
Hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat anfgezehret."
Über die Hinfälligkeit des Irdischen singt er:
„Die Herrlichkeit der Erden Der Ruhm, nach dem wir trachten,
Muß Rauch und Asche werden, Den wir unsterblich achten,
Kein Fels, kein Erz kann steh'n. Ist nur ein falscher Wahn.
Wird als ein leichter Traum vergehen. Fragt keiner, was man hier gethan."
Grüllticrq. Nördlich von Glogau treten wir in eine Gegend, die uns an
den Süden und den Rhein erinnert. Die dortigen flachen Sandhügel in einer
verhältnismäßig milden Niederung haben nämlich Weinbau veranlaßt, der in
einem weiten Umkreise von Sagan bis Züllichau, von Beuthen bis Frankfurt
an der Oder mit Grünberg als Mittelpunkt getrieben wird und bereits in
den letzten Jahrhunderten des Mittelalters in dieser wie in andern Gegenden
Schlesiens betrieben wurde. Der Ruf des Gewächses ist schlechter als es, wie
die Weinhändler am besten wissen, verdient. Von den großen Quantitäten
(S. 33), die man hier produziert, werden seil Jahrzehnten die besseren Sorten
Dies, was uns kann ergötzen,
Was wir für ewig schätzen,
Sobald der Geist gewichen
Und dieser Mund erblichen,
Grünberg. — Karl XII. von Schweden in Freystadt. 363
meist unter fremdem Namen getrunken oder versendet, während der Ruf sich
auf die teilweise viel schlechtere Bereitung in früherer Zeit und besonders aus
die minder genießbaren Sorten gründet, die unter dem Namen des Grünebergers
getrunken werden. Dieser hat nun freilich längst Spott eingeerntet, und der
Breslauer Dichter Kopisch macht ihm in seinem Gedichte „Satan und der
schlesische Zecher" ein eben nicht schmeichelhaftes Kompliment in den Worten:
„Da lallte der Teufel: He Kamerad, Mit den Studenten Nacht und Tag:
Beim Fegfeuer, jetzt Hab' ich's satt. Doch länger zu trinken solch einen Wein,
-> Ich trank vor Hunderl Jahren zn Prag Müßt' ich ein geborener Schlesier sein."
Außer dem bedeutenden Tranbenversand erfolgt noch die Kelternng, und
es werden jährlich in Grünberg 21800 hl Wein gekeltert. Der weiße Wein
dient zur Champagnerfabrikation, welche durch eine im Orte befindliche, weit
bekannte Fabrik betrieben wird*). Außerdem ist in der von 13 039 Einwohnern
bewohnten Stadt die Gewerbthätigkeit rege, die sich besonders auf die Her-
stellung von Tuch richtet. — In der Nähe der Stadt befindet sich ein mächtiges
Braunkohlenlager, das seit 1847 bergmännisch abgebaut wird.
Als die Preußen am 18. Dezember 1740 vor Grünberg rückten, fanden
sie die Stadt gesperrt. Der Offizier, der hineingeschickt wurde, traf den Magistrat
feierlich auf dem Rathause versammelt; er verlangte von dem Bürgermeister
die Thorschlüssel und drohte, als dieser sie ihm verweigerte, die Thore zu
sprengen und nachher mit der Stadt übel zu Verfahren. Da brach der Bürger-
meister in die Worte aus: „Hier auf dem Ratstische liegen die Thorschlüssel.
Ich werde sie nicht übergeben, aber wollen Sie selbst sie nehmen, so kann ich
es nicht hindern." Der Offizier nahm die Schlüssel, ließ die Thore öffnen und
dann dem Bürgermeister melden, er könne die Stadtschlüssel wieder abholen
lassen. Dieser aber weigerte sich, dies zu thun und sagte: „Ich habe die Schlüssel
nicht gegeben, ich werde sie auch nicht holen und annehmen, es sei denn, daß
man sie wieder auf die Stelle hinlegt, von der man sie weggenommen." Dies
geschah. Man legte die Schlüssel wieder auf den Ratstisch, und der Bürgermeister
stattete dafür seinen Dank ab.
Karl XII. von Schweden in Freystadt (1797). Südlich von Grünberg
liegt an einem Ausläufer des Katzengebirges das von noch nicht 4000 Menschen
bewohnte Freystadt, eine Ackerbau, Viehzucht uud Kleingewerbe, vornehmlich
Schuhmacherei treibende Stadt. Die Pferdemärkte dieses Ortes gehören zu den
größten Schlesiens.
Als Karl XII. von Schweden im Anfange des 18. Jahrhunderts in wenigen
Jahren mit einem unbedeutenden Heere die Dänen, Russen und Polen besiegt
hatte, kam er an die Grenzen Schlesiens im Jahre 1707. Hier eilten ihm aus
den zunächst liegenden Kreisen Scharen von Klage führenden Protestanten ent-
gegen. Er war zu Pferde an der Spitze seiner Truppen, als ihn mitten im
Walde jenseits Grünberg eine große Menge Menschen mit Jubelgeschrei empfing.
Hier hielt der König und sprach mit allen. Mit einem Bürger aus Frey-
stadt, einem ganz einfachen Manne, unterhielt er sich lange. Als nun der König
mehrere Tage darauf nach Freystadt kam uud in einem Hause am Markte
*) Über den sich an den schlesische» anschließenden Weinbau um Krossen vergl.
„Unser deutsches Land und Volk" Bd. IX, S. 481.
364 Der polnische Landrücken und die Nordselte Schlesiens.
wohnte, hörte er, bevor er ausritt, jeden täglich freundlich an, und stets waren
viele Personen vor seinem Hause versammelt, um ihn zu beglückwünschen. Eines
Tages standen, als er ansreiten wollte, viel vornehme Leute am Hause; er
redete wieder leutselig, setzte sich zu Pferde und sprach dann, indem er feierlich
ernst in die Versammlung blickte: „Welches find die vornehmsten Geistlichen
unter euch?" Ein Baron und der Erzpriester traten näher an den Monarchen
und nannten ihre Namen. Karl fuhr fort: „Man hat einem ehrlichen Bürger
(er nannte Vor- und Familiennamen) seine Kinder genommen, um sie katholisch
zu erziehen, seinem sterbenden Weibe hat man den evangelischen Geistlichen
versagt und den von ihr hinterlaffenen Acker für die Kirche verkauft; aber ich ver-
lange, daß diesen und allen andern ähnlichen Beschwerden binnen 24 Stunden
abgeholfen sei, oder, meine Herren, ich statuiere ein Beispiel des Schreckens
für andre, und ihr betretet den Weg, auf dem sieben meiner Reiter heute zum
Richtplatz geführt wurden." Man hatte nämlich an demselben Morgen sieben
Deserteurs am Galgen bei Freystadt gehängt. Der König ritt fort. Ein Mann
aus seiner Begleitung trat auf seine Veranlassung an die von der Drohung
noch ganz betäubten Geistlichen und lud sie zum Mittagessen ein. Ehe der
König zurückkam, war den Beschwerden des Bürgers abgeholfen.
SlMIl. Am Bober liegt südlich von Freystadt die von noch nicht 11400
fleißigen Menschen bewohnte Stadt Sagan (polnisch Zegan, d. i. Brandfleck).
Die Einwohner beschäftigen sich namentlich mit der Anfertigung von Tuchen
und wollenen Waren. Die Stadt hat ein katholisches Gymnasium, evangelisches
Schullehrerseminar und ein Strafgefängnis für 400 weiblicheZnchthausgefangene.
Nach einer Sage wurde die Stadt Sagan im Jahre 700 von Saganna,
einer Tochter der Polenkönigin Wanda, auf der Stelle, wo jetzt das Dorf
Brennstadt liegt, gegründet. Ihr soll Premizlaw und diesem Pribislaw gefolgt
sein, dem man die Erbauung des Schlosses und der Stadt Priebus an der
Lausitzer Neiße zuschreibt. Um das Jahr 1140 wurde die Stadt Sagan dort
aufgebaut, wo sie jetzt liegt; sie gehörte bis zum Jahre 1163 zu Polen, stand
dann bis 1395 unter den Herzogen von Glogau und war bis 1472 felbstän-
diges Fürstentum. Von den Gloganer Herzögen trennte sich nämlich der eine,
mit Namen Johann, nahm sich Sagan und nannte sich Johann von Sagan.
Er kaufte die Herrschaft Priebus, die verkauft worden war, im Jahre 1413
zurück und vereinigte sie wieder mit Schlesien.
Der Turm von Sagan. Johann war ein unverträglicher Fürst und
Verschwender. Weil er mehr ausgab als er einnahm, war er oft in Geldver-
legenheit. Deshalb beneidete er das reiche Kloster seiner Stadt und hatte Ab-
neigung gegen die Mönche. Der Abt aber war stolz und that den Herzog, um
ihn seine geistliche Übermacht fühlen zu lassen, aus kleinen Veranlassungen in
den Bann. Weil nun Johann den Bann nicht achtete, sondern nur um so auf-
gebrachter wurde, entfloh der Abt vor seinem Zorne, wurde aber eingeholt und
1429 in den Schloßturm gesetzt.
Drei Monate später ließ der Herzog den Abt gefesselt auf einem Wagen
durch die Stadt und durch das Wasser fahren und forderte persönlich die Ein-
wohner aus, sich dies Schauspiel anzusehen. Als das für den Abt geforderte
Sagau. — Der- Hungerturm in Priebus. 365
Lösegeld verweigert wurde, ließ er ihm, der nur noch ein Auge hatte, dieses
Auge ausstechen und gab ihm die Erlaubnis, in sein Kloster zurückzukehren.
Als der Herzog einst sein edles Leibroß bis aufs Blut gepeitscht und ge-
spornt hatte, bat ihn seine sanfte Gemahlin, er möchte von solcher Grausamkeit
abstehen und bedenken, daß auch dieses Tier ein Geschöpf Gottes sei, an welchem
sich zu vergreifen große Sünde sei. Johann erzürnte über diese Mahnworte
und rief: „Fühle selber, wie das thut!" Er zwang nun seine Gemahlin, nieder-
zuknien, ritt auf ihr mit Sporen wie auf einem Pferde und riß ihr tiefe Wunden
ins Fleisch. Als dies geschehen war, trieb er sie aus dem Hause und verstieß
sie, da sie ihm längst ein Dorn im Auge gewesen.
Jetzt aber trat der sromme Abt vor ihn, verwies ihm seine Grausamkeit
und forderte ihn auf, in sich zu gehen, damit er nicht einmal plötzlich in seinen
Sünden dahinfahre. Johann aber lachte, zeigte auf den hohen, festen und neuen
Kirchturm und sprach: „Psaff, wenn der Kirchturm einfällt, will ich dir glauben!"
Am 12. Februar 1439 stürzte der Kirchturm ohne Veranlassung ein und ver-
letzte nur den Turmwächter, so daß er einen lahmen Fuß bekam. Als der Herzog
erfuhr, was geschehen war, wurde er krank und starb nach wenigen Wochen. Er
wurde auf seinen Wunsch in der Mitte der Klosterkirche zu Sagau begraben,
„damit die Geistlichen, die er im Leben so sehr beleidigt hatte, nach seinem Tode
ihn täglich mit Füßen treten möchten", wie in den Vitae Abbatum Sagan. steht.
Der Hungerturm in Priebus. Johann hinterließ vier Söhne:
Balthasar erhielt Sagan, Johann bekam Priebus; jeder dieser beiden Herzöge hatte
einen Bruder zu erhalten. Die Einkünfte der Fürsten waren aber so gering,
daß sie ihren Brüdern nur so viel abgeben konnten, daß diese in Sagan bei
einer Bürgerssrau zu Tische gingen. Sie nahmen deshalb Kriegsdienste. Auch
Balthasar verließ sein Land als unversöhnlicher Gegner Podiebrads und ging
zu den Breslauern, wo er von den Gaben einiger Freunde lebte. Sein Land gab
Podiebrad an Johann von Priebus, der sich nun Johann II. von Sagan nannte.
Balthasar ging nach Rom und verschaffte sich dort eine Bannbulle
gegen seinen Bruder; zugleich ermahnte der Papst die Breslauer, dem Herzog
Balthasar beizustehen und gegen Hans, wenn er das Land seinem Bruder nicht
herausgeben sollte, von der Bannbulle Gebrauch zu machen. Aber die Breslauer
wollten Johann von Sagan nicht reizen und zögerten mit der Meldung der
päpstlichen Befehle. Endlich im Jahre 1463 wurde Sagan mit dem Banne
bedroht und der Gottesdienst untersagt; aber weder der Herzog noch das Land
achteten auf diese Verkündigung. Im Gegenteil begann Johann schon im Jahre
1464 mit Feindseligkeiten gegen die Breslauer vorzugehen und nahm ihren
Freunden, Kaufleuten aus Nürnberg, vier Wagen von großem Werte auf offener
Landstraße fort, während Balthasar von seiner Anhänglichkeit an den Papst
keinen Vorteil hatte. Erst im Jahre 1467 gelang es Balthasar mit Breslauer
Truppen und den Lausitzer Feinden seines Bruders, sich in den Besitz von
Sagan zu setzen. Johann aber sammelte um Priebus ein Heer und zog gegen
Sagan im Jahre 1472. Die Belagerer warfen glühende Kugeln und brennendes
Geschoß in die Stadt, die in Brand geriet und mit allen Kirchen und einem
großen Teil des Klosters, in das sich die Bürger mit ihrem Hab und Gut ge-
flüchtet hatten, ein Raub der Flammen wurde. Balthasar hielt sich nach dem
Brande noch neun Tage in dem Schlosse, mußte sich dann ergeben, wurde nach
366 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
Priebus geführt und in den dortigen Schloßturm gebracht. Dort starb er nach
zwei Monaten entweder vor Gram und Hunger oder an einer durch den schlechten
Aufenthalt entstandenen Krankheit. Der Turm zu Priebus heißt noch heute der
Hungerturm. Johann hielt sich zu Sagan auf. Bei Tische überfiel ihn einmal
eine unerklärliche Bangigkeit, das Messer fiel ihm aus der Hand, und er er-
innerte sich mit Angst seines gefangenen Bruders. Sogleich eilte er nach Priebus
aufs Schloß, ließ das Gefängnis öffnen und fand seinen Bruder tot auf dem
Boden liegen, und das Fleisch war von den Armen geriffen. Auf dem Tische
stand geschrieben: „Der Durst quälte mich mehr als der Hunger." Ob Johann
absichtlich seinen Bruder hat verhungern lassen oder ob die Schuld einen Ver-
trauten des Herzogs trifft, der den Gefangenen unter seiner Aufsicht hatte und
ihm die Speisen entzog, ist nicht entschieden.
Die Besitzer Sagans nach Johann II. Johann II. verkaufte 1472
Sagau an die Herzöge von Sachsen. Er lebte als Freibeuter, bis er um 1476
in der Geschichte Glogaus wieder auftritt, wo wir ihn kennen gelernt haben.
Als Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen bei Mühlberg (1547) ge-
fangen worden war und Herzog Moritz die Kurwürde erlangt und das Land
seines geächteten Vetters bekommen hatte, gab er dem König Ferdinand für die
Herrschaft Eulenburg das Fürstentum Sagan, das auf diese Weise an Böhmen
kam. Im Jahre 1627 wurde Wallenstein mit dem Fürstentum belehnt; nach
seinem Tode fiel es an den Kaiser zurück, der es 1646 an den Fürsten Lobkowitz
verkaufte. Noch heute wird das Haus Nr. 28 in der Hospitalstraße als das
gezeigt, in welchem Keppler (1628—1630) im Dienste Wallensteins sein Ob-
servatorium eingerichtet hatte.
Fürst Wenzel Eusebius von Lobkowitz kaufte das Fürstentum (1646) für
den niedrigen Preis von 30 000 Gulden; es war aber auch nicht mehr wert,
da nur wenige Dörfer zur Kammer gehörten und das Land durch den Krieg
arg verwüstet war. Fürst Lobkowitz nahm sich der Regierung des Landes mit
Sorgfalt an, ordnete viele Angelegenheiten, forgte für den Landmann und be-
förderte die Kunst; er war am Hofe gern gesehen, weil er sehr thätig und
witzig war. Die Bevorzugung, deren ihn der Kaiser würdigte, erregte den Neid
der Hofleute. Ohne sich einer Schuld bewußt zu sein, wurde er auf sein Gut
Raudnitz verbannt. Dort ließ er sich ein Zimmer einrichten, von dem die eine
Hälfte mit prächtigen Tapeten und Geräten geziert, die andre wie eine schlechte
Bauernhütte eingerichtet war. Denjenigen, die ihn besuchten, zeigte er in diesem
Zimmer das Sonst und Jetzt. Hier verfertigte er seine Grabschrift in lateinischer
Sprache, die in der Übersetzung also schließt: „Ich war Graf, Fürst. Herzog,
bin Staub, Schatten, Nichts: Erwägt es, ihr Großen, denn klein ist der Raum,
der Tod und Leben trennt. Erwäg' es auch du, o Wanderer! Wünsche mir
Ruhe und gehe von dannen!"
Bon einem Nachkommen des Fürsten Wenzel von Lobkowitz kaufte Sagan
im Jahre 1786 Peter Biron, Herzog von Kurland und Semgallen; 1862 kam
es durch Erbgang in den Besitz des Herzogs von Sagan und Valencay.
Sprottau. Gehen wir von Sagan aus dem Laufe des Bober entgegen,
so gelangen wir bald an die Stelle, wo die Sprotte sich in den Bober ergießt.
Dort liegt in ebener, sandiger und lehmiger Gegend, von bedeutenden Forsten
Sprottau. — Bunzlau. 367
umgeben, die von 7231 Menschen bewohnte Stadt Sprottau. Diese Stadt ist
wahrscheinlich im 11. Jahrhundert angelegt worden; in der Mitte des 13. Jahr-
Hunderts erhielt sie deutsches Recht durch die Herzöge von Sagau; durch den
Dreißigjährigen Krieg hat sie viel gelitten. Seitdem sie die Eisenbahn bekommen
hat, hebt sie sich immer mehr. In kurzer Zeit sind daselbst mehrere Fabriken
entstanden. Die Stadtgemeinde besitzt eine Ziegelei, eine Gasanstalt und Wasser-
leitnng, ferner 7149 lia Forst und mehrere Güter. Dieses Vermögen wirft
einen so reichlichen Ertrag ab, daß Kommunalsteuern nicht erhoben werden.
Eine Zierde der Stadt ist das 1862—65 erbaute Rathaus.^)
öut!)lau. Der Quelle des Bober bedeutend näher liegt Buuzlau am
rechten Ufer des Flusses mit 10 790 Einwohnern. Bis gegen die Mitte des
13. Jahrhunderts gab es in Buuzlau viel Bergleute, welche Bergbau auf Gold
und Silber betrieben. In der Schlacht bei Wahlstadt gegen die Tataren im
Jahre 1241 fiel ein großer Teil derselben, so daß der ohnehin nur wenig
*) Über Muskau, die Schöpfung des Fürsten Pückler, hat im IX. Bande dieses
Werkes (S. 430 ff.) O. Schwebet geschrieben; Görlitz und die Landskrone hat im
VII. Bande (S. 348 ff.) H. Gebauer in den Kreis seiner Schilderungen gezogen.
Zu dem, was auf S. 43 und 44 über Robert Rößler gesagt ist, brachte am
20. Mai 1883 das Sprottauer Wochenblatt in einem Extrablatt folgende betrübende
Ergänzung: „Heute morgen 4 Uhr starb plötzlich am Gehirnschlage der Direktor
nnsres Realgymnasiums, der bedeutendste schlesische Dialektdichter nach dem Heim-
gange Karl von Holteis, Herr Dr. Rößler, nachdem er am Tage vorher noch
Schule gehalten und den Abend vor seinem Tode in heiterem Freundeskreise ver-
bracht hatte, in einem Alter von 45 Jahren. Sein liebenswürdiger, offener und
biederer Charakter, sein hoher Sinn für alles Gute und Edle, sein reiches Wissen
werden ihm neben seinen zahlreichen Schriften, die Eigentum des Volkes geworden,
überall und namentlich in den Herzen der Schlesier ein dauerndes Andenken stiften.
Mit uns und seinen Schülern, denen er ein treuer Freund und,.Berater war, trauern
um ihn seine Gattin und drei noch unerzogene Kinder. — Über den Lebensgang
des Dahingeschiedenen liegen folgende Mitteilungen vor: Robert Rößler, geboren
1838 zu Großburg bei Strehlen, war von 1851—1860 Schüler des Maria-Magdalena-
Gymnasiums in Breslau und von da an bis 1864 Studiosus philol. in Breslau:
er wurde 1865 auf Grund seiner Abhandlung: „De rebus internis ducatus BregensiS'
regnante Ludovico I" zum Dr. phil. promoviert, legte im August das Examen
pro facultate docendi ab und erhielt Michaelis desselben Jahres eine Stelle als
Hilfslehrer an der Realschule I. Ordnnng zu Landeshut in Schlesien. Von Michaelis
1866 war er Hilfslehrer am königlichen Gymnasium zu Ratibor, von Michaelis 1868
an ordentlicher Gymnasiallehrer daselbst, und im Sommer 1870 wurde er zum Rektor
der neu zu gründenden höheren Bürgerschule in Striegan gewählt. Ostern 1880 folgte
er einem Rufe als Direktor der hiesigen Realschule I. Ordnung. — Er nahm an
dem dänischen Feldzuge 1864 in Jütland teil als Unteroffizier im 3. niederschles.
Infanterieregiment Nr. 50, stand 1866 als Offizier beim 2. weftprenß. Landwehrregi-
rricnt Nr. 7 (Bat. Hirschberg) in der Festung Glogau, diente 1870 beim 1. oberschles.
Landwehrregiment Nr. 22 (Bat. Ratibor) in Glatz, Hannover, Wilhelmshaven a. N.
und in Frankreich, zuletzt längere Zeit als Platzmajor der Citadelle Amiens. Er
war im Besitz der Kriegsdenkmünzen von 1864 und 1870—71, sowie des Eisernen
Kreuzes II. Klasse und der Landwehrdienstauszeichnung. Aus feiner reichen littera-
nschen Thätigkeit sind unter andern folgende Schriften zu verzeichnen: „De Martins-
gons", „De Sammelwuche", „Schnoken", „Gemütliche Geschichten", „Durf- und
Stadtleute", „Närrische Kerle", „Aus Krieg und Frieden", „Mein erster Patient". —
bOtt seinen Urknndenanszügen nennen wir: „Wie erwarb Sprottan seinen Grund-
besitz? (1260—1810)"; „Regesta Ludovici I Bregensis", „Herzog Heinrich IX. von
Bneg und Lüben (1344—1399)", „Striegan im 14. Jahrhundert".
368 Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
lohnende Bergbau von da ab aufhörte; dagegen kam die Töpferei in Aufnahme,
die jetzt einen Haupterwerbszweig der Einwohnerschaft bildet. Die sehr an-
sehnliche Anzahl von Thonwarenfabriken erhält ihr Material aus den umfang-
reichen Thonschichten der Umgegend der Stadt und liefert das weithin bekannte
Bunzlauer Töpsergeschirr.
Das Waisenhaus zu Buuzlau entstand ohne landesherrliche Beihilfe. Ein
Maurermeister der Stadt, Gottfried Zahn, der erst in seinem 24. Lebensjahre
das Schreiben und Lesen erlernt hatte, wurde durch die Bekanntschaft mit den
Frankeschen Stiftungen in Halle bewogen und durch das Mitleid mit armen,
verwaisten Kindern getrieben, auf die Gründung eines Waisenhauses für feine
Gegend zu denken. Er hatte kein Vermögen, aber ein festes Vertrauen auf
Gott. Zuerst nahm er 1744 einen Lehrer in sein Haus und ließ durch den-
selben Kinder, meistens unentgeltlich, unterrichten; sein Haus richtete er zu
einer Schule ein und hatte einmal 24 arme Kinder in demselben beisammen.
Allein diese Schule wurde als ein Eingriff in die Stadtschulenrechte untersagt. Zahn
gab jedoch seinen Gedanken nicht auf; nach eingezogener königlicher Bewilligung
erhielt er von dem Magistrate die Erlaubnis, eine Schulaustalt zu gründen,
wenn er sich verpflichten wolle, einen Lehrer und zwei Waisenkinder in der-
selben unentgeltlich zu versorgen. Diese Bedingung ging er 1753 ein und sing
am 14. März 1754 seine Schule in seinem Hause wieder an. Sehr bald fanden
sich nun auch Wohlthäter, welche durch Geldbeiträge Zahns Unternehmen unter-
stützten oder Kleidungsstücke und Bücher für die armen Kinder schenkten. Zahn
vergrößerte dnrch Ankauf eines benachbarten Hauses seine Anstalt und legte
1755 den Grundstein zu einem größeren Waisenhause. Die Anstalt wurde
einem Gymnasium ähnlich ausgebildet, auch wurden Kinder für Geld als Pen-
sionäre in derselben ausgenommen; städtische Kinder durften die Schulstunden
besuchen. Zahn starb am 22. September 1758 und hatte die gegründete Hoff-
nung zum ferneren Gedeihen seines Waisenhauses noch erlebt. Nach seinem
Tode übernahm der zweite Pastor zu Bunzlan, Woltersdorf, die Direktion, und
unter ihm gedieh die Anstalt immer mehr. Im Jahre 1764 gingen zum ersten-
mal Zöglinge des Hauses auf die Universität ab. Eine mit der Anstalt ver-
bnndene Buchdruckerei vermehrte die Einkünfte.
In Bunzlan ist dem Fürsten Kntusow ein Denkmal errichtet worden. Die
Stadt hatte durch die Gewaltherrschaft der Franzosen zu Anfang nnsres Jahr-
Hunderts erheblich gelitten; sie nahm lebhaft teil an der allgemeinen Erhebung
gegen die Unterdrücker. Am 13. April 1813 zog der russische Kaiser Alexander
in Bunzlan ein. In seiner Begleitung befand sich Kntosow, der, im Jahre
1745 geboren, im Jahre 1805 das erste russische Armeekorps gegen die Fran-
zosen und unter Kaiser Alexander das verbündete Heer am 2. Dezember in der
Schlacht bei Austerlitz befehligte. Für seinen Sieg bei Smolensk erhielt er den
Beinamen Smolenskij. Er erkrankte in Bnnzlau am Nervenfieber. Als der
König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., am 22. April 1813 auf kurze Zeit
in die Stadt kam, ging er fofort, ohne die Gefahr der Ansteckung zu scheuen,
zu dem kranken Fürsten, der am 28. desselben Monats starb. Am 9. Mai
wurde die Leiche in feierlicher Prozession nach Petersburg geführt. Ten Zug
eröffneten die Schulkinder der beiden christlichen Konfessionen, ihnen folgte die
evangelische und katholische Geistlichkeit, in deren Mitte sich der Pope befand,
Martin Lpitz. 369
der bei dem verstorbenen Fürsten gewesen war. Ter große zinnerne Sarg
stand auf einem mit sechs Pferden bespannten Wagen, dem der fürstliche Wagen
und die Dienerschaft des Fürsten folgte.
Martin Opih. Im 16. Jahrhundert blühte in Schlesien, das die Brücke
für den Übergang der Litteratur aus dem deutschen Süden in den Norden bildet,
die Dichtkunst. Die Dichter jener Zeit werden als die erste schlesische Schule
gewöhnlich zusammengefaßt. Der Führer dieser Männer ist Martin Opitz, der
am 23. Dezember 1597 zu Bunzlau als Sohn eines wohlhabenden Bürgers
geboren wurde. Nachdem er einige Zeit die Stadtschule seines Geburtsortes
besucht hatte, ging er nach Breslau auf das Gymnasium zu Maria-Magdalena
und entschied sich, nachdem er die Schule verlassen hatte, sür das Studium der
Rechte; aber er dachte im Jahre 1618 in Frankfurt an der Oder nicht viel an
die Jurisprudenz, sondern beschäftigte sich meistens mit dem Studium der Poesie.
Martin Opitz.
Im Jahre 1619 ist er in Heidelberg, wo in einem Kreise von gelehrten und
geistvollen Männern seine Bildung mächtig vorschritt; er schrieb hier viel in
lateinischer und deutscher Sprache, in Prosa und Versen, ernsthaften und lustigen
Inhaltes. Er wendete sich nach Tübingen und Straßburg und nach Leiden in
Holland, wo er ein „Trostgedicht in den Widerwärtigkeiten des Krieges" schrieb.
Gegen Ende des Jahres 1621 ist Opitz wieder in Schlesien am Hofe des Her-
zogs von Liegnitz, 1622 geht er als Professor der Philosophie an die hohe
Schule zu Weißenburg in Siebenbürgen und genießt die Gunst des Fürsten
Bethlen Gabor in hohem Grade; aber der äußere Glauz seiner Stellung be-
friedigt ihn nicht, das Klima des halbbarbarischen Landes drückt ihn nieder, sein
Herz ist erfüllt von Sehnsucht nach dem Vaterlande uud uach seinen Freunden.
In diesem Zustande schreibt er in etwas schäferlicher Sentimentalität „Zlatna
oder von der Ruhe des Gemütes". Die Sehnsucht nach der Heimat wird in
ihm so stark, daß er um seine Entlassung bittet. Er kehrt nach Bunzlau zurück,
Deutsches Land und Volk. VIII. 24
370
Der polnische Landrücken und die Nordseite Schlesiens.
ist 1623 wieder in Liegnitz, macht 1624 eine Reise nach Sachsen und den um-
liegenden Ländern und wird unter dem Namen „der Gekrönte" vom Fürsten
Ludwig von Anhalt in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Im
Jahre 1625 erhält er in Wien aus der Hand des Kaisers den Lorbeerkranz,
dann lebt er wieder in Schlesien, zumeist in Breslau, und wird 1628 vom
Kaiser Ferdinand II. unter dem Namen Opitz von Boberfeld in den Adelstand
erhoben. In Paris lernte er den berühmten Hugo Grotius kennen. Im Jahre
1633 läßt er sich als Historiograph mit einem Ehrensolde des Königs von
Polen in Danzig nieder und stirbt dort an der Pest, die damals verheerend
durch Deutschland zog, am 20. August 1639.
Opitz verdient den Namen des Vaters und Wiederherstellers der deutscheu
Dichtkunst. In das Jahr 1624 fällt sein „Buch von der deutschen Poeterei",
durch welches er der Schöpfer einer regelmäßigen deutschen Prosodie wurde;
als Hauptzweck der Dichtkunst stellt er neben der Ergötzung die Absicht zu lehren
und zu unterrichten hin. — Opitz kämpfte gegen den Gebrauch der Fremdwörter,
verfiel aber, während er die Form der Darstellung reinigte, in den Fehler der
Breite. Dennoch war er damals der berühmteste, von ganz Deutschland ge-
feierte Dichter. Die große Zahl lateinischer und deutscher Totenklagen, die bei
seinem Ableben erschien, beweist, welch hohe Stellung der Dichter unter seinen
Zeitgenossen eingenommen hat. Viele Dichter ahmten ihm nach, folgten blind-
lings ihrem Vorbilde, dem „Boberschwan".
Das kleine Gedicht „Lebenslust" mag von der Art, wie Opitz scherzend
zu dichten pflegte, eine Probe geben:
„Ich empfinde fast ein Grawen,
Daß ich, Plato, für und für
Bin gesessen über dir;
Es ist Zeit hinauß zu schämen,
Vnd sich bey den frischen Quellen
In dem Grünen zu ergehn,
Wo die schönen Blumen stehn
Vnd die Fischer Netze stellen.
Worzu dienet das studieren
Alß zu lauter Vngemach?
Bnterdessen läufst die Bach
Vnsers Lebens, daß wir führen,
Ehe wir es inne werden,
Auff jhr letztes Ende hin,
Dann kömpt ohne Geist und Sinn
Dieses alles in die Erden.
Holla, Junger, geh' vnd frage,
Wo der beste Trunck mag seyn,
Nimb den Krug vnd fülle Wein.
Alles Trawern, Leid vnd Klage,
Wie wir Menschen täglich haben,
Eh' vns Clotho fortgerafft,
Wil ich in den süssen Sasst,
Den die Traube gibt, vergraben.
Kanffe gleichfals auch Melonen
Und vergiß des Zuckers nicht;
Schawe nur, daß nichts gebricht.
Jener mag der Heller schonen,
Der bey seinem Gold vnd Schätzen
Tolle sich zu krencken Pflegt
Vnd nicht satt zu Bette legt;
Ich wil, weil ich kann, mich letzen.
Bitte meine gute Biüder
Anff die Musie vnd ein Glaß;
Nichts schickt sich, dünkt mich, so baß
Alß gut Tranck vnd gute Lieder.
Laß' ich gleich uicht viel zu erben,
Ey so Hab' ich edlen Wein;
Will mit andern lustig seyn,
Muß ich gleich alleine sterben."
Volkstrachten in Posen.
Land und Leute im Groszherzuztuiu fa|en.
Allgemeines. — Die älteste Zeit Posens. — Deutsche Kultur und deutsches Leben
im Posenschen. — Die Teilungen Polens. — Posen, ein Teil des Herzogtums
Warschau. — Die Bemühungen der Polen im 19. Jahrhundert. — Lage, Grenzen,
Flüsse, Bodenbeschassenheit, Viehstand, Pflanzen, Mineralien, Eisenbahnen. — Ver-
waltung und Bevölkerung der Provinz Posen. — Die Polen. — Polnische Küche. —
Familien- und Ortsnamen.
Allgemeines. Viele von denen, die im westlichen, mittleren oder südlichen
Deutschland wohnen, erschrecken schier, wenn sie von der Provinz Posen hören,
weil sie eine ganz falsche Vorstellung von diesem Lande haben. Sie meinen,
wer hier lebe, der lebe wie in der Verbannung, wie in Sibirien; er werde
seines Lebens nicht froh, weil er womöglich mit Bären und Wölfen zu kämpfen
habe, die in ungeheuren Wäldern Hausen und in die Ställe und sogar in die
Wohnungen eindringen und Kinder und Vieh rauben. Wo der Mensch wohne,
da habe er sich eine niedrige Hütte Angebaut, die nie ein Haus im bescheidensten
Sinne genannt werden könne; Unsauberkeit in des Wortes verwegenster Be-
deutung herrsche in diesen Behausungen und auf den Höfen, von Ungeziefer
könne kaum ein Mensch verschont bleiben, fahrbare Straßen gebe es im Lande
nur wenige, und der Deutsche könne, wenn er nicht polnisch verstehe, im Lande
24*
372 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
nicht durchkommen. Diese und ähnliche Vorstellungen sind vollkommen irrig,
denn man lebt in der Provinz Posen wie in jedem andern deutschen Lande und
hat hier dieselben geordneten Zustände wie anderswo. Wer geselliges Leben
liebt, findet Gesinnungsgenossen, er mag einem Stande angehören, welchem er
will; wer für Naturschönheiten schwärmt, findet im Posener Lande deren in
Hülle und Fülle. Partien an den Ufern der Obra halten den Vergleich mit
den schöneren Gegenden Thüringens aus; wer sich nach des Tages Last und
Hitze bei einem Glase guten Weines oder Bieres erholen will, dem fehlt es
nicht an Gelegenheit zu einem gemütlichen Kneipabend; wer gern Theater und
Konzerte besucht oder wissenschaftliche Vorträge und Vorlesungen hört, kann
auch diesem Vergnügen nachgehen. Ter Besitzer hat sich seine Häuser ebenso
bequem eingerichtet, wie sie sich der Deutsche in andern Ländern in ähnlichen
Verhältnissen einrichtet, und der Beamte findet selbst in kleineren Städten
Mietswohnungen, die geräumig und hoch sind, in denen die Zimmer dnrch
große Flügelthüren miteinander verbunden sind. Freilich darf man nicht allent-
halben hohe Ansprüche machen, aber das darf man auch in andern Gauen nnsres
Vaterlandes nicht. Auch im Posenschen gibt es große Sandslächen, wie z. B.
auch in Brandenburg! auch hier finden sich Dörfer, in denen der Wirt kein gutes
Bier hat, aber wo fänden sich solche Dörfer nicht? Dagegen gibt es hier kaum
ein Dorf, in dessen wenn auch noch so kleinem und bescheidenem Wirtshause
man nicht ein Glas guten Ungarweines und eine Tasse guten Kaffees, wenn
auch aus einfachem Geschirr, zu trinken bekäme. Die herumziehenden. Söhne
und Töchter der Kunst, die eine Scheune oder eine Wirtsstube zu ihrem Musen-
stall Herrichten und „Preziosa" ohne Musik geben, beschränken ihre Kunstreisen
nicht auf unfre Provinz allein, sondern auch in andern Provinzen finden sich
Städte ohne ständiges Theater. Wie oft ist es deshalb vorgekommen, daß Be-
amte aus Westfalen oder den Rheinlanden unglücklich über ihre Versetzung in
die Provinz Posen waren, sich aber hier bald wohler und glücklicher befanden
als in ihrer Heimat! Wie wäre das aber auch anders möglich? Würden wir
Deutsche, wollten und müßten wir jene Vorwürfe als berechtigt anerkennen,
uns nicht das entsetzlichste, jammervollste Armutszeugnis ausstellen? Arbeiten
Deutsche hier doch schon seit fast einem Jahrtausend mit unermüdlichem Fleiß;
und sie sollten das Land nicht weiter gebracht haben? Schon seit dem 10. Jahr-
hundert wird die Provinz Posen von Deutschen bewohnt; sie wurden von den
polnischen Großen in das Land gezogen und später besonders unter Friedrich
dem Großen in großen Massen dort angesiedelt, um Wüsteneien zu bevölkern,
Wälder auszurotten, Städte zu gründen, Manufakturen und Fabriken anzulegen,
Handel und Gewerbe in Ausnahme zu bringen, fo daß historisch nachzuweisen ist,
daß die Provinz nicht dem polnischen Adel, sondern vorzugsweise den Deutschen
alles zu danken hat, was zur Kultur und Bildung des Landes beigetragen hat,
und daß die deutsche Bevölkerung nicht nur das größere Verdienst um die
gebesserten Verhältnisse der Provinz, sondern unbedingt auch völlig gleiches
Anrecht mit den Polen auf dieselbe hat.
Deutsche Kultur und deutsches Leben im Posenschen. 373
Die älteste Jeit Gosens. Ob die ersten Bewohner des Landes, welches
wir hier einer Besprechung unterziehen, Deutsche oder Slawen gewesen
sind, ob die Grenze und Scheide beider Völker die Oder oder die Weichsel
gewesen ist, das läßt sich nicht sicher entscheiden. Was wir aus den ältesten
Zeiten wissen, ist nicht so bedeutend und sicher, daß es diese Frage ent-
scheiden könnte. Wir wissen nämlich, daß schon die römischen Kansleute und
vor ihnen wahrscheinlich schon handeltreibende Griechen eine Straße nach der
Ostsee hin zn ziehen pflegten, die mitten durch das Posener Land ging. Die
Lage der von den alten Geographen erwähnten Ortschaften läßt sich nicht genan
feststellen; die Straße selbst, die durch dichte Wälder und weite Sümpfe führte,
nicht sicher verfolgen. Auch geben die Namen der Orte, durch welche sich die
Handelsstraße hinzog, keinen zuverlässigen Anhaltspunkt für die Entscheidung
der Frage, ob sie slawischen oder deutschen Ursprungs sind.
Die Slawen, und zwar die Lechen, welche sich an der Weichsel niederließen
und das westlich von diesem Strome gelegene Land bevölkerten, hatten keine
Neigung zu festen Wohnsitzen. Die Bauart der Lechen war ärmlich, die Ge-
bände nicht dauerhaft; gab es Kämpfe und Kriege, so wurden die Hütten nieder-
gebrannt und Weiber, Kinder und Habe in Sicherheit gebracht und in die
dichten Wälder oder auf trockene, ringsum von weiten Sümpfen umschlossene
Stellen geschleppt.
Deutsche Kultur und deutsches Lebeil im posenscheu. Als unter den
Lechen sich ein Teil, nämlich die Polen, mächtig hob und vielleicht im Anfange
des 10. Jahrhunderts sich eine Fürstenherrschast entwickelte, da bestanden bereits
Städte, wie Krnschwitz und Gnesen, die zn ihrem Schutze gegen andringende
Feinde mit Schanzen umgeben waren. Auch Posen wird damals ein nicht
unbedeutender Ort gewesen sein, da es im Jahre 968 zum Bischofssitze erhoben
wurde. Mit der Annahme und Ausbreitung des Christentums unter den Polen
beginnt der Einfluß der Deutschen auf dieses Volk. Denn die Polen wurden
hauptsächlich durch Deutsche zum Christentum bekehrt, und polnische Herrscher
verschwägerten sich häufig mit deutschen Fürstenhäusern; der erste Bischof von
Posen war ein Deutscher uud der erste Erzbifchof von Gnesen ums Jahr 1000
war auch ein Deutscher. Das Bistum Posen wurde dem Erzbischof von Magde-
bürg unterstellt. In welchem Ansehen damals das dichtbevölkerte, für damalige
Zeit sehr hoch kultivierte Deutschland in dem mit dichten, wertlosen, von zahl-
reichen Wölfen, Bären und Bibern bewohnten Wäldern bedeckten Polen, das nur
eine sehr dünne Bevölkerung ohne alle Kultur hatte, stand, ergibt sich daraus,
daß sich die schleichen Piasten schon um 1200 gänzlich an Deutschland anschlössen.
Dem deutschen Kaiser unterwarf sich 986 Miecyslans. Nach Ottos III.
Aofre schüttelte Boleslaus die Abhängigkeit vom Deutschen Reiche ab, so daß
nun eine Zeit der Kriege begann, in der bald die Deutschen, bald die Polen
Sieger waren. Im Jahre 1013 mußte sich Boleslaus dem Kaiser unterwerfen,
und er erhielt eroberte Gebiete als Vasall des Deutschen Reiches. Aber einen
neuen Krieg erregte der Polenherzog, aus dem er als Sieger hervorging uud
durch den er 1013 einen günstigen Frieden errang. Mit diesem Feldzuge war
das Übergewicht Deutschlands über Polen aufgehoben.
374 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
Es ist merkwürdig, daß die ältesten polnischen Städte, die einst in großer
Blüte gestanden haben, im Laufe der Zeit sehr heruntergekommen sind. Das
alte Kruschwitz, welches im Jahre 1816 nur 135 Einwohner hatte, war kaum
noch eine Stadt zu nennen. Dennoch läßt sich diese Thatsache geschichtlich er-
klären. Die ältesten Städte wurden natürlich in Gegenden angelegt, die von
Natur schon einen bedeutenden Schutz gegen nahende Feinde gewährten, in
Sumpfland, an abgelegenen, schwer erreichbaren Orten. Als aber später die
Kriegführung eine andre wurde, als die Stadtbewohner auch Handel und Acker-
bau treiben wollten, wurden neue Städte an gesünder gelegenen Orten gegründet,
die schnell aufblühten, die alten aber erhielten nicht nur keinen Zuzug, sondern
mancher Bürger suchte sich auch eine bessere, neue Heimat. Die Behauptung,
welche von polnischer Seite zuweilen aufgestellt wird, daß durch die Einwirkung,
Einwanderung und Thätigkeit der Deutschen die polnischen Städte zurückgegangen
seien, ist geradezu aus der Luft gegriffen.
Als die Polen in die Geschichte eintraten, herrschte bei ihnen schon eine
starke Unterdrückung des Volkes. In Polen gab es keine feste, öffentliche Ord-
nung; wer Freiheit genießen wollte, mußte Gewalt haben; die Fürsten und
Großen schalteten nach Willkür und drückten die Masse zu Boden; das wachsende
Herrschertum überbürdete die Landleute noch mehr.
Nicht herausgerissen wurde das Volk aus seiner üblen Lage, aber eine
günstige Veränderung wurde doch herbeigeführt, und eine zum Bessern treibende
Kraft kam in das Polenreich durch die Einwanderung der Deutschen.
Vorläufer waren die Geistlichen. Die christlich gewordenen polnischen
Herrscher schenkten, um ihre Frömmigkeit zu beweisen, zu verschiedenen Zeiten
mehr oder minder große Wüsteneien an geistliche Stiftungen. Diese Geschenke
hatten indes, solange sie wüst blieben, für die Empfänger nur einen sehr ge-
ringen Wert; diese mußten daher daran denken, die Ländereien urbar zu machen.
Hierzu waren aber die Polen als Leibeigne überhaupt nicht zu haben. Man
mußte sich daher nach andern Ländern umsehen, und deshalb fiel der Blick vor
allen Dingen auf das dicht bevölkerte Deutschland, aus welchem zahlreiche,
fleißige, zuverlässige und bemittelte Ansiedler leicht zu beschaffen waren, nur
mußte man ihnen Bedingungen stellen, durch welche sie sich bewogen fühlten,
Deutschland zu verlassen und nach Polen auszuwandern.
Die geistlichen Orden also waren es zuerst, welche deutsche Ansiedler nach
Polen zogen. Die Mönche waren ja anfangs selbst meist Deutsche und kannten
deutschen Fleiß. Im Kloster Lubin (Kreis Kosten) wurde zum erstenmal im
Jahre 1190 ein Pole zum Abt gewählt. In die von Gnesen 1234 gestiftete
Cistercienserabtei Obra wurden sogar nur Deutsche aufgenommen. Nach und
uach wurden Kirchen und Klöster in allen wichtigeren Orten gegründet; Eister-
cienfer hatten Klöster in Paradis, Priment, Blefen, Lekno, Dominikaner in
Posen, Wronke, Benediktiner in Lubin, Johanniter in Bromberg. Die Kirchen
und Klöster wurden Ausgangsstätten höherer Bildung.
Zu ihrem eignen Vorteil sorgten die Mönche unausgesetzt für einträgliche
Ackerwirtschaft, brachten Obst- und andre Nutzbäume nach Polen, und so ge-
wann das Land. Geistliche suchten die Bauern von den drückenden Lasten zu
befreien, sie der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen und unter das Gericht
des Klosters und der Kirche zu bringen.
Deutsche Kultur und deutsches Leben im Posenschen. 375
Den Geistlichen folgten in der Herbeiziehung der Deutschen ins Land die
Landesherren und der Adel später, als sie aus Erfahrung die großen Vorteile
kennen gelernt hatten, welche die Deutschen als Landwirte den Polen brachten.
Um die Deutschen zu bewegen, nach Polen überzusiedeln, gewährte man ihnen
freie Besitzverhältnisse nach eigner Wahl. Bevor ein neues Dorf angelegt
wurde, holte man die landesherrliche Genehmigung ein, und diese enthielt stets
die ausdrückliche Bestimmung, das Dorf dürfe „zu deutschen Rechten" angelegt
werden und solle frei fein vom polnischen Rechte.
Inzwischen vollzog sich in Polen eine Veränderung der Bevölkerung nicht
plötzlich, fondern langsam — durch den Zuzug der Juden. Einzelne Juden
gab es in Polen schon 1085, in Massen zogen sie erst im 12. Jahrhundert in
polnisches Land, als mit dem Beginn der Krenzzllge die Wallfahrer ihr Werk
mit dem grausamen Hinschlachten der Juden begannen. Die Juden wurden in
Deutschland gedrückt, und sie nahmen deshalb ihre Zuflucht zum polnischen
Lande, wo sie Raum fanden und lange Zeit keinen Verfolgungen ausgesetzt
waren. In Polen suchten sie ihren Erwerb als Kaufleute, Kleinhändler, Wirte
und Geldleiher der großen Herren, denen sie aus ihren Verlegenheiten halfen.
Was der unterdrückte, stumpfsinnige Bauer nicht that, was der vornehme, sorglose
Herr nicht besorgte, das unternahm der betriebsame, fleißige und gewitzigte Jude.
Die Juden bildeten geschlossene Gemeinden, ihre Vorstände besorgten die
Verwaltung ihrer Angelegenheiten, ihre Sprache war die deutsche, ihr Bildungs-
stand dem polnischen weit überlegen.
Aber die Deutschen hörten nicht auf, in Posen einzuwandern. Die An-
legung deutscher Dörfer ging der Gründung deutscher Städte voran. Es kamen
Holsteiner, Westfalen, Friesen, Lübecker, selbst Holländer und Flandrer und
machten sich unter polnischer Herrschaft ansässig. Wo deutsches Recht erteilt
wurde, waren anfänglich auch Deutsche vorhanden; erst später nahmen auch
slawische Bewohner in Gegenden des Posener Landes deutsches Recht an. Aber
die Deutschen verdrängten keineswegs die alten Insassen des Landes; sie besetzten
leeren Boden, denn das Land zwischen Oder und Weichsel war nur schwach
und dünn bevölkert, und weit und breit lag es öde und unangebant. Die
Deutschen verdrängten also keine Polen, sondern sie schoben sich zwischen die
Polen ein und besetzten Land, das erst durch ihren Fleiß und ihre Arbeit Wert
bekam. So blühten zahlreiche deutsche Dörfer in Polen auf und wurden wohl-
habend und glichen in äußerem Ansehen, Landbau, Sprache, Sitten und Charakter
ganz den gewöhnlichen deutschen Dörfern in den benachbarten deutschen Pro-
vinzen. Leider hielt sich diese Blüte und dieses Aussehen im Laufe der Jahr-
hunderte fast nur bei jenen deutschen Dörfern, welche geistlichen Stiftungen
angehörten, weil diese die Lasten nicht steigerten; der Adel aber verfuhr, je mehr
seine Macht wuchs, auch desto willkürlicher gegen die deutschen Ansiedler und
gewährte ihnen häusig nicht einmal das versprochene deutsche Recht und be-
drückte sie durch Auferlegung von schweren Abgaben, Diensten und Lasten, fo
daß sich aus manchen Dörfern die Deutschen wieder zurückzogen, weil sie nicht
in die polnische Dienstbarkeit eintreten wollten. Da kam es denn öfter zu
Reibereien zwischen Polen und Deutschen, während noch in der Mitte des
13. Jahrhunderts der den Deutschen nicht gerade holde Bischof Bogufal von
Posen erklärte, daß sich keine andern Völker in der Welt einander so nahe stehen
376 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
und so befreundet seien als Slawen und Deutsche (Nec aliqna gens in mundo
est sibi tarn communis et familiaris veluti Slavi et Theutonici). Aber schon
damals sahen die Herren in Polen mit Ingrimm auf die Deutschen, weil das
deutsche Recht sie in ihrem Treiben und in ihren Bedrückungen störte? ein Teil
des Adels zerfiel mit den Fürsten, welche die Deutschen in ihren Rechten in
Schutz nahmen; denn die Herrscher förderten noch immer die deutsche Ein-
Wanderung, weil sie einsahen, daß sie ihrem Lande zum Segen gereichte.
Das Land, welches im Jahre 1815 als Provinz Posen umgrenzt wurde,
ist bis dahin nicht ein großes Ganze gewesen; die Grenzen des Posener Landes
waren in den verschiedenen Zeiten des Mittelalters und der Neuzeit bis in
unser Jahrhundert hinein mannigfaltig. Die südlichen Teile der jetzigen Provinz
Posen gehörten längere Zeit den fchlefifchen Herzögen, besonders denen von
Glogan; von Norden her machten die Pommern Eroberungen bis südlich von
Nakel; Bromberg und Polnisch-Krone gehörte um 1370 den Stettiner Herzögen;
auch der Deutsche Ritterorden unternahm erobernde Feldzüge ins Posener Land.
Von Westen her suchten die Markgrafen von Brandenburg Teile des Polen-
reiches zur Neumark zu schlagen; sie hatten z. B. 1320 Schwerin und Blesen
in ihrem Besitz. Anderseits dehnte sich Posen im 15. Jahrhundert bis in das
jetzige Westpreußen hinein aus.
Die Städte im Posenschen waren meist eigentlich nur große Dörfer, da
ihre Bewohner Ackerbau trieben, also von der Beschäftigung der Bauern lebten;
die bürgerlichen Gewerbe standen meist hinter der Bebauung des Landes zurück.
Erst im Laufe der Zeit trat der Handwerkerstand, welcher die eigentliche Stärke
der Städte ausmachte, hervor, und dann begann auch bald der Handel. Deutsche
Zunftordnungen fanden Eingang.
Gesetzgebung, Gerichtspflege, Polizeiverwaltung war die eigne Sache der
Bürger. An der Spitze der Ratsherren (consules providi) stand ein Bürgermeister
(proconsul, protoconsul, preconsul), in Rechtshändeln urteilten die Schöffen.
Der Starost oder Landeshauptmann (capitaneus) hatte den Bürgern nicht
zu gebieten. Die Stadt stand weder unter seiner Macht noch unter der des
Woiwoden (palatinus, dux). Der Starost war nur der Vorgesetzte der um die
Städte herumwohnenden polnischen Dorfinsassen. Da aber die Städter mit den
Dorfbewohnern zu thun hatten, fo kamen sie auch öfters mit dem Starost zu-
sammen und hatten mit ihm Händel, besonders da nicht selten der mächtige
Pole seine Befugnisse überschritt.
Bis ins 14. Jahrhundert hinein hatten sich die Posener Städte in schwer
zu richtenden Streitigkeiten ein Erkenntnis aus Magdeburg geholt. Diese Ver-
bindnng mit Deutschland in Rechtssachen zerriß Kasimir, da er es den Städten
verbot, sich aus Magdeburg Entscheidungen zu holen, und einen eignen Gerichts-
Hof für die Bürger einsetzte. Durch diese Verordnung beginnt eine Verhängnis-
volle Wendung im Leben der Städte, denn nun kam bald die Macht der Ver-
waltung in die Hände von Edellenten. Zu dem Widerwillen der vornehmen
Polen gegen das Deutsche gesellte sich der Adelshaß gegen das Bürgerwesen,
gegen Fleiß, Ordnung und wahre Freiheit. Noch andre Umstände hemmten die
freie Entwicklung der deutschen Städte im Posenschen. Es entstanden zu viel
Städte, und so stand dem Aufkommen der einen Stadt das der andern entgegen.
Zur rechten EntWickelung des städtischen Lebens sind großeMenschenansammlungen
Deutsche Kultur und deutsches Leben im Posenschen. 377
erforderlich; wo viele Städte nebeneinander sind, kann sich keine in hervor-
ragender Weise erheben. Nur das in der Mitte der Landes gelegene Posen
gedieh wenigstens zur Höhe einer Mittelstadt. Dem Gedeihen der Städte
wirkte auch der Umstand entgegen, daß die Juden, die doch den größten Teil
des Handels in ihren Händen hatten, ihre für sich bestehenden Gemeinden bilden
mußten. Wäre die damalige Unduldsamkeit nicht so kurzsichtig gewesen, daß
sie die Juden nicht Bürger werden ließ, wären die Juden als gleichberechtigte
Mitglieder in die städtischen Verbindungen hineingezogen worden, dann hätten
sie sich der Stadt gegenüber nicht gleichgültig verhalten, sondern wären Förderer
derselben geworden. Städte ohne Handel werden nie emporkommen, denn im
Handel liegt eine Hauptquelle städtischer Wohlhabenheit.
Da auch die Handelsleute, welche zwischen Preußen und Schlesien der-
kehrten, Zölle an die polnischen Fürsten bezahlen mußten, so vermieden sie,
wenn sie nur konnten, das Posener Land, und so ging den Städten auch die Ein-
nähme, welche sie von dem Aufenthalt der Kaufleute hätten haben können, verloren.
Dem Wohlstande des Landes arbeitete die Gewohnheit, die Häuser aus
Holz zu bauen, entgegen; denn Steinbrüche gab es nicht und Ziegeleien nur
wenig, Holz aber lieferten die dichten Waldungen in vorzüglicher Güte um ge-
ringe Kosten. Zu rohen Balken behauene Baumstämme wurden wagerecht
übereinander gelegt und die Fugen mit Lehm ausgefüllt. Auf diese Weise ge-
baute Häuser finden sich noch heute in der Provinz Posen. Diese Bauart ver-
anlaßte, daß Feuersbrünste schnell um sich griffen, entsetzlich wüteten, oft große
Teile der Städte einäscherten und so den Wohlstand der Bürgerschaft auf mehrere
Jahre herunterbrachten.
Zu all diesem Elend kam hinzu, daß die Städte schwere Pflichten hatten;
denn sie mußten hohe Abgaben zahlen und im Falle eines Krieges bewaffnete
Fußgänger stellen, sie hatten aber keine Rechte. Man behauptete, es gebe in
Polen überhaupt nur zwei Stände, die Geistlichkeit und den Adel. Im Jahre
1538 stritt man sich darüber, ob Bürger auf dem Reichstage erscheinen dürften,
und 1544 wurden die Städteboten geradezu aus der Versammlung des Reichs-
tages hinausgejagt. Im 17. Jahrhundert durften nur sieben polnische Städte
auf dem Reichstage sich an der Königswahl beteiligen, und von diesen sieben
Städten gehörte nur eine, nämlich Posen, nnsrer Provinz an. Mehr als hundert
Städte des Reiches waren ohne Stimme. Fast ohne Widerstand ließen die
Bürger diese Nichtachtung über sich ergehen, denn sie hatten nicht die Macht,
sich der Gewalt zu widersetzen.
Zu den Ursachen, welche die Städte schwächten, gehören auch die im
16. Jahrhundert um sich greifenden Zerwürfnisse um den Glauben.
Anfangs schien es, als ob die Reformation in Deutschland auf die pol-
nischen Städte einen günstigen Einfluß haben würde; es schien, als würden sich
die Städte durch den Zuzug der protestantischen Deutschen heben. Die Resor-
mation fand nämlich auch in Polen schnellen Eingang. Die deutschen hier an-
gesiedelten Edelleute und viele polnische Adlige nahmen das protestantische
Glaubensbekenntnis an und erwirkten 1574 völlige Religionsfreiheit in den
polnischen Landen. Diese Duldsamkeit, die in ganz Polen gegen Protestanten
und Juden damals noch geübt wurde, bewog die in Deutschland hart bedrückten
Protestanten aus der Lausitz, aus Böhmen und Schlesien, aus der Mark und
378 Land und Leute im Grotzherzogtum Posen.
aus Pommern nach Polen zu wandern. Hier nahmen auch die katholischen
Adligen diese fleißigen, rechtschaffenen und im Gewerbe geschickten Deutschen
gern auf: und Polen war vielleicht nie in einer blühenderen Lage als damals,
wo Deutsche und Polen friedlich neben- und durcheinander wohnten und von
Nationalhaß keine Rede war. Die Woiwoden Lukas und Stanislaus von Gorka
waren es besonders, welche die Protestanten begünstigten und sie in ihren Herr-
schaften ansiedelten. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges nahmen die Ein-
Wanderungen der deutschen Protestanten gegen die früheren Jahre noch zu.
Freilich waren die Rechte, welche in der Reformationszeit den eingewanderten
Deutschen gewährt wurden, geringer als die der früheren Zeit, und die ihnen
auferlegten Lasten waren bedeutender.
Der Friede aber sollte in Polen nicht lange bestehen. Die Väter der
Gesellschaft Jesu, die sich die Aufgabe gestellt hatten, dem Protestantismus in
jeder nnr möglichen Weife entgegenzuwirken, hetzten zunächst das Volk gegen
die Juden, dann gegen die Protestanten. Seitdem die Jesuiten festen Fuß ge-
faßt hatten, gab es öfter Reibereien zwischen Polen und Deutschen in den
Städten; bei diesen gegenseitigen Bekämpfungen war die katholische (d. h. die
polnische) Partei im entschiedenen Vorteile. Die protestantischen Gemeinden
waren vielen Bedrückungen und Beraubungen ausgesetzt: ja die der Bürger-
freiheit und dem Deutschtum feindseligen Bestrebungen gelangten bald zur voll-
ständigen Herrschaft. Der Adel gebot, er machte die Gesetze. Überall war ein
starkes Drängen, das deutsche Recht nach und nach abzuschaffen. Durch die
vielen Unruhen in Deutschland war das Volk gedrückt im eignen Vaterland;
konnte man. da deutschen Bürgersinn erwarten von den Deutscheu, die mitten
im Polenlande wohnten und bedrückt wurden? Die-den Deutschen zugesicherten
Rechte wurden gebrochen, es gab keinen Schützer des Rechts.
Von Jahr zu Jahr wurde der Starost mächtiger, ein Recht nach dem
andern maßte er sich an; er bemühte sich, wenn er keine Mittel mehr fand, die
Städte zu drücken, dieselben dadurch herunterzubringen, daß er in ihrer Nähe
Gegenstädte gründete, die mit der alten Stadt zu wetteifern hatten und ihr die
Erwerbsquellen entziehen sollten.
Die unter einem Grundherrn stehenden Städte hatten noch viel mehr Not,
schwere Abhängigkeit von sich abzuwenden. Nur Geschichtsmacher, nicht Männer,
denen die Wahrheit über alles geht, können behaupten, die den deutschen Ein-
Wanderern zugesicherten Rechte seien getreulich gehalten worden. Die Zeit ging
hinweg über die alten Freibriefe, der Adel wollte nur dienstbare Bürger sehen,
nur Bürger, die nahezu fronpflichtigen Hörigen glichen.
Je mehr das Recht der Städte herabgedrückt wurde, um so mehr ver-
siegten auch die Quellen des Erwerbes. Für Landstraßen, Regulierung der
Ströme, Erleichterungen im Verkehr sorgte niemand. In der Verwaltung
herrschte kein einmütiges Wesen, in jedem Bezirke hatte Willkür freien Spiel-
räum. Die Gerichte versielen, Frevel blieben ungestraft oder wurden nicht
gehörig gezüchtigt.
Zu allem Unglück kam der Krieg hinzu. Der erste Schwedenkrieg Gustav
Adolfs ließ die Provinz Posen unberührt; aber im zweiten Kriege Karls X.
Gustav und im dritten Karls XII. (1701 — 1719) wurde das Posener Land
hart mitgenommen. Zu dem Kriege gesellte sich die Pest. Die Städte konnten
Die Teilungen Polens. 379
also nicht in der Blüte bestehen, sie mußten verkommen. Gnesen, einst die
Hauptstadt Polens, hatte 1744 nur noch 60 Bewohner.
Die Deutschen nahmen, um sich vor Bedrückungen sicher zu stellen, vielfach
polnische Namen, Sitte und Sprache an. So weit ging die Polomsierung, daß
z. B. Lukaszewiez für das Jahr 1634 nur noch 31 deutsche Namen in der
Stadt Posen zählt.
Die Teilungen Polens. Das war der Zustand des Landes, als Friedrich II.
im Jahre 1772 einen Teil desselben in Besitz nahm. Der offizielle Bericht
aus dem Jahre 1773 über den Zustand Polens zu jener Zeit, welcher sich in
den Akten der Regierung zu Bromberg befindet, sagt Folgendes: „Die Vieh-
rassen waren schlecht und entartet, die Ackergeräte im hohen Grade unvollkommen
und außer der Pflugschar ohne alles Eisen; die Äcker waren ausgesogen, voller
Unkraut und Steine, die Wiesen versumpft, die Wälder unordentlich ausgehauen
und gelichtet, das Land wüst und leer? Die alten festen Städte, sogenannte
Schlösser, lagen in Schntt und Trümmern, ebenso die meisten kleinen Städte
und Dörfer. Die meisten der vorhandenen Wohnungen schienen größtenteils
kaum geeignet, menschlichen Wesen zum Aufenthalte zu dienen. Die roheste
Kunst, der ungebildetste Geschmack, die ärmlichsten Mittel hatten aus Lehm und
Stroh elende Hütten zusammengestellt. Durch unaufhörliche Kriege und Fehden
der vergangenen Jahrhunderte, dnrch Feuersbrünste und Senchen, durch mangel-
hafteste Verwaltung war das Land entvölkert und entsittlicht. Die Justizpflege
lag ebenso im Argen wie die Verwaltung. Der Bauernstand war ganz ver-
kommen. Ein Bürgerstand existierte gar nicht. Der Netzedistrikt war fast ganz
entvölkert, so daß z. B. die Stadt Bromberg im Jahre 1772 kaum 800 Ein-
wohner besaß. Wald und Sumpf nahmen die Stätten ein, wo vordem — nach
den noch jetzt vorhandenen altgermanifchen Begräbnisplätzen zu urteilen —
eine zahlreiche Bevölkerung Platz gefunden hatte."
Ein Staat, in welchem solche Zustände herrschten, konnte nicht fortbestehen;
das Staatsband zerfaserte sich zusehends, Polen mußte den Nachbarn zur Beute
fallen. So kam denn durch die erste Teilung Polens von der jetzigen Provinz
Posen der Netzedistrikt an Preußen. Da viele Polen mit den Verhältnissen in
ihrem Lande unzufrieden waren, den Untergang ihres Reiches als unvermeidlich
vorausfahen, fo verbanden sie sich und suchten Schutz und Hilfe bei den Nach-
barstaaten; die Teilung geschah also nicht nur mit Zustimmung, sondern auf
Wunsch vieler polnischen Großen, die in dieser Teilung eine große Wohlthat,
Rettung aus heillosen Zuständen und wilder Gesetzlosigkeit erblickten. Die
Teilung wurde notwendig, aber sie brachte Preußen weder Gewinn noch Freude,
sondern nur Sorge, Not, Ärger und Verdruß. Am 1. September 1773 ge-
nehmigte der polnische Reichstag die Schmälerung des Reiches und verstand
sich zur Abtretung des Netzedistriktes an Preußen, nachdem Friedrich II. sich schon
vorher durch seinen Bevollmächtigten von Brenkenhoff dort hatte huldigen lassen.
Das Posener Land wurde durch die erste Teilung durchschnitten. Der
fortan zu Preußen gehörige Teil blühte schnell unter des großen Friedrich
landesväterlicher Sorge auf. Der König reiste selbst in dieses verödete Land
und begann alsbald mit großen Unternehmungen, welche zum großen Teil
Brenkenhoff leitete. Große Striche Landes längs der Netze wurden entwässert,
380 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
das Bett der Netze wurde tiefer gelegt, weite Moraststrecken wurden trocken
gelegt. Kolonisten aus Thüringen, Sachsen, Böhmen wurden in das Land
gezogen, deutsche Handwerker ließen sich in den Städten nieder. Wie auf dem
Lande Lein- und Hopfenbau gepflegt wurden, so arbeiteten in den Städten
Tuchmacher, Färber, Gerber, Strumpfweber, Zuckersieder. Der Handel wurde
gehoben durch den Bromberger Kanal, der, nachdem eben erst der Netzedistrikt
preußisch geworden war, angelegt wurde, zwischen den Städten Bromberg und
Nakel geht, die Brahe mit der Netze, das Weichselgebiet mit dem der Oder
verbindet. An dem Kanäle arbeiteten zu gleicher Zeit 500 Arbeiter; 14 Monate
nachdem das Werk in Angriff genommen worden, war es vollendet, so daß
1775 bereits 225 Schiffe und 1151 Holzflöße die neue Wasserstraße passierten.
Der Kanal hatte 740 000 Thaler gekostet.
Auch für die Rechtspflege und den Unterricht sorgte der König in seinem
neu erworbenen Lande. Die geistliche Gerichtsbarkeit wurde beschränkt, das
polnische Recht blieb in Kraft, doch diente das allgemeine Landrecht Preußens
zur Aushilfe. In einem Menschenalter verzehnfachte sich die Einwohnerzahl
des Distriktes.
Der polnische Teil blieb hinter diesem Ausschwung weit zurück. Es wurden
zwar auch hier durch die eingerichteten Kommissionen für die gute Ordnung
Versuche zur Besserung der verrotteten Zustände gemacht, aber diese Kommissionen
richteten nicht sonderlich viel aus. Das Jahr 1789 mit seinen von Frankreich
kommenden Freiheitsideen wirkte auch auf die polnischen Städte und den pol-
nischen Adel. Aber der nach einer besseren Gestaltung ringenden Partei gelang
es nicht, rasch und vollständig mit ihren Plänen durchzudringen, und so war
denn das polnische Reich unrettbar verloren: die Nachbarn teilten sich in Polen
zum zweiten- und drittenmal.
Friedrich Wilhelm II. von Preußen besetzte das ganze Posener Land und
ließ sich im Jahre 1793 in Posen die Treue schwören in einem Eide, den in
seinem Auftrage von Möllendorf und von Danckelmann abnahmen. Jedoch
ging die Besitzergreifung Südpreußens (so nannte man die Gegenden südlich
vom Netzedistrikte) nicht ohne Blutvergießen von statten. Die Teilung, die der
feige Reichstag bereits anerkannt hatte, suchten mehrere Polen mit heldenmütiger
Tapferkeit rückgängig zu machen. Die Polen wurden von Dombrowski und
Madalinski geführt; sie fochten aufs tapferste, aber Friedrich Wilhelm II. be-
hauptete seine Beute, und Posen war für Polen verloren.
Durch den Übergang in preußische Verwaltung veränderte und verbesserte
sich der bis 1793 polnische Teil der Provinz Posen wesentlich, wenn auch kein
Friedrich II. damals König von Preußen war. Freilich folgte der alten Un-
gebnndenheit und Zügellosigkeit mit einem Male die peinlichste Strenge, und
man fühlte deshalb den Druck aufs empfindlichste. Dazu kam, daß damals nicht
gerade die besten Beamten in das neu erworbene Südpreußen gingen, die das
harte Regiment tyrannisch handhabten, sich der Völlerei Hingaben, aus Eigennutz
manches thaten, was dem redlichen Manne unverantwortlich erscheinen muß.
Dennoch kam in die Provinz mehr Ordnung und mehr Sicherheit, auch mehr
Verkehr. Der Bürger fand Recht dem Edelmanns gegenüber, das preußische
Landrecht wurde eingeführt, die Zahl der Handwerker wuchs, Brücken, Wege,
Straßenpflaster, Brunnen, Armenanstalten wurden eingerichtet, man dachte an eine
Die Bemühungen der Polen im 19. Jahrhundert. 331!
Verbesserung des Schul- und Erziehungswesens, der Zinsfuß wurde herab-
gebracht, der Wert des Bodens und der Häuser stieg iu kurzer Zeit an einzelnen
Orten auf das Siebenfache.
polen, ein Teil des Herzogtums Warschau. Selbstverständlich war der
Preuße den Polen verhaßt, da er mit Anschauungen in die Provinz kam, die
von den hergebrachten Ansichten abwichen. Als daher Preußen im Kampfe mit
Frankreich unterlag, erhoben sich die Polen und die preußische Herrschaft brach
zusammen. Napoleon erschien mit seinem Marschall Davoust in Posen, die
preußischen Beamten wurden verjagt, die preußischen Einrichtungen abgeschafft;
nur im Netzedistrikt wünschten die Bewohner preußisch zu bleiben.
Der große Corse verfügte über Polen; das Posener Land wurde durch
den Tilsiter Frieden vom Jahre 1807 ein Teil des Herzogtums Warschau und
blieb es, bis Frankreichs glanzvolles Gestirn 1812 unterging. Die Verhältnisse
bekamen französischen Zuschnitt; Ausländer, zu denen auch die Deutschen ge-
hörten, wurden zu Ämtern nicht zugelassen. Die Städte bekamen eine neue
Verfassung, aber diese kam meist nicht zur Durchführung, es sank vielmehr alles
in das alte Gleis zurück; das Land wurde ein Sammelplatz von Gaunern;
Napoleon brachte nur Kampf und Elend. Die Steuern wuchsen, schwere Kriegs-
lasten fielen auf die Bürger, die Durchmärsche der Soldaten durch die Städte
und die Einquartierungen hörten nicht auf; das Land wurde gründlich aus-
gesogen und kam wieder zurück.
Die Bemühungen der polen im 19. Jahrhundert. Erst als 1815 Posen
wieder an Preußen kam, wurde es Heller und besser. Damals wurde das Land
Posen in seinem gegenwärtigen Umfange bestimmt und dem preußischen Staate
unter dem Titel eines Großherzogtums Posen einverleibt. Leider ging es mit
dem Lande nicht so schnell vorwärts, als es hätte gehen können, wenn die
Regierung damals andre Grundsätze befolgt hätte. Das preußische Regiment
hätschelte damals das Polentum und begünstigte besonders den polnischen Adel.
„Man ließ", schreibt General von Grolman im Jahre 1831, „alles schlechte
Polnische bestehen und setzte alles Deutsche, wenn es sich nicht unwürdig polo-
nisiert hatte, zurück sowohl im Amt als im gesellschaftlichen Leben." Dennoch
empfand man die preußischen Einrichtungen mit Unlust, besonders drückend
erschien das Soldatenwesen mit seinen Aushebuugen und seiner Herrschaft.
Die unzufriedenen Polen klagten, waren mit der Regierung nicht zufrieden und
schwärmten für ein selbständiges polnisches Reich, für Polens Wiedergeburt.
Mag man über die Teilungen Polens 1773, 1793 und 1795 denken,
wie man will: das muß jeder zugestehen, daß sich Preußen die ihm jetzt ge-
hörenden Teile Polens in den Jahren 1813 und 1814 rechtlich erkämpft, das
Land den Polen als seinen offen erklärten Feinden im Kriege mit den Waffen
in der Hand — polnische Regimenter kämpften noch 1814 vor den Thoren
von Paris in den Reihen der Franzosen, der Unterdrücker Europas, gegen die
Verbündeten — abgenommen und auf dem Wiener Kongreß 1815 durch den
Beschluß aller europäischen Mächte als Kriegsentschädigung zuerteilt er-
halten hat. Preußen besitzt demnach gegenwärtig die Provinz Posen als ein
382 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
mit dem Blute seines Volkes durch die Waffen rechtmäßig erobertes Land mit
demselben Rechte, mit dem es die Provinzen Sachsen, Westfalen und die Rhein-
lande befitzt, deren Bewohner weder je daran gedacht haben, noch je daran
denken werden, diesen rechtmäßigen Besitz der preußischen Regierung als eine
Ungerechtigkeit vorzuwerfen. Daß aber die Einverleibung der Provinz Posen
in den preußischen Staat nicht als ein Unglück, vielmehr nur als ein großes
Glück für diese selbst zu betrachten ist, wird jeder zugeben, der die wohl-
wollenden, väterlich weisen Grundsätze kennt, nach denen Posen regiert wird,
der aber auch den mehr als traurigen Zustand, in welchem sich diese Provinz
1815 befand, mit dem gesegneten Zustande vergleicht, in welchem sich die Pro-
vinz jetzt befindet, einem Zustande, der am besten alle Klagen und Beschwerden
der unzufriedenen Polen Lügen straft.
Da hört man die Polen klagen, und sentimentale Deutsche und Ausländer
beteu es ihnen nach, ohne daß sie zuvor geprüft hätten, es fei ihnen 1815 zu-
gesichert worden, daß den polnischen Einwohnern der Provinz Posen ihre
Nationalität, daß ihre Sprache erhalten werden solle, daß ihnen der Zutritt
zu den Staatsämtern offen gestellt sei, daß ein besonderer Statthalter polnischer
Nationalität sie regieren, daß ihre Religion und ihre Kirche geschützt werden
solle; statt dessen werde das nationale Leben der Polen erstickt, die polnische
Sprache erdrückt, der Zutritt zu den Staatsämtern ihnen nicht gewährt, ein
polnischer Statthalter ihnen nicht gegeben, alles, was zu gunsten der Polen
fpreche, werde mißachtet und nur das ihnen Nachteilige hervorgesucht, ihre
Gesetze würden mit Füßen getreten. Das sind Äußerungen, welche nnsre ge-
rechten Könige unumwunden des Wortbruches beschuldigen, Verleumdungen
gegen den König, also Majestätsbeleidigungen. Wer Posen nicht als innig zur
preußischen Monarchie gehörig anerkennen, sondern an diesem Verhältnis rütteln
und schütteln will, sür den hat das Strafgesetzbuch den Namen des Landes-
Verräters und die Strafe des Zuchthauses.
Im Jahre 1816 wurde das Gerichtswesen geordnet, dann wurden die
Provinzialstände 1824 eingeführt, deren 48 Stimmen so verteilt waren, daß
die Städte nur 16, der Adel 24, der Bauernstand 8 hatte, so daß der Land-
tagsbeschluß in die Hände der polnischen Edelleute gelegt, die städtische Meinung
gewichtlos gemacht und dem Landtage ein polnisches Gepräge verschafft wurde.
Die Kreisordnung vom 26. Dezember 1828 wies den Städten eine Vertretung
auf den Kreistagen zu; die Städteordnung vom Jahre 1831 wurde fchon 1832
in Posen, Rawitsch, Fraustadt und Lissa und nach und nach in allen übrigen
Städten der Provinz eingeführt. Die Judenreviere in den Städten hatten ein
Ende; die Juden, welche ein namhaftes stehendes Gewerbe, eine Kunst oder
Wissenschaft, die sie nährte, betrieben, die ein Grundstück von 2006 Thalern
Wert besaßen oder ein Vermögen von 5000 Thalern aufwiesen, wurden Stadt-
bürger und standen den Christen in der Stabt gleich. Viele strebten nun vor-
wärts und bildeten sich auf den höheren Lehranstalten aus, fo daß aus der
Provinz Posen eine staunenswerte Anzahl von jüdischen Gelehrten hervorging.
So ist das kleine Scherkowo der Geburtsort von zwei Gelehrten ersten Ranges,
der Profesforen Fürst in Leipzig und Grätz in Breslau.
Es wurde bald anders im Posenfchen. Nicht der Abhub des Beamten-
standes kam in die Provinz, fondern ehrliche, tüchtige Männer, die sich mit
Die Bemühungen der Polen im 19. Jahrhundert. 383
treuem Fleiße anstrengten, die in den andern preußischen Landen bestehenden
Einrichtungen ins Posensche zn verpflanzen und dieses dem Kernlande gleich-
zustellen. Klosterräumlichkeiten wurden zu Lehranstalten, Besserungsanstalten,
Irrenhäusern (Owinsk) nützlich verwendet, höhere und niedere Schulen gegründet,
Gaunernester (Betsche) aufgehoben, Kunststraßen angelegt.
Trotz der Fürsorge, die dem Lande zu teil wurde, waren die Polen nicht
zufrieden. In den- ersten Jahren nach der Besitznahme der Provinz verhielten
sie sich im ganzen ruhig. Die ersten Anzeichen unruhiger Bestrebungen zeigten
sich jedoch schon im Jahre 1825. Die ersten Beweise rebellischer Gesinnungen
und Bewegungen gaben sich im Jahre 1330 nicht nur durch einen Geist der
Unruhe und Widerspenstigkeit kund, sondern am schlagendsten durch massenhafte
Übertritte von reicheren und ärmeren Edelleuten, Geistlichen, Lehrern und
Schülern in das gegen Rußland sich empörende sogenannte Königreich Polen.
Die Aufforderung der Regierung zur Rückkehr in das Vaterland blieb nn-
berücksichtigt, die Übergetretenen wurden verurteilt, aber von der nur zu milden
Regierung fast sämtlich begnadigt. Seit 1832 wirkten die ins Ausland, nach
Frankreich, Belgien und England geflüchteten Polen mächtig auf die unzufriedene
Stimmung der Polen im Posenschen ein, Priester und Lehrer säeten Zwietracht,
lehrten Ungehorsam und Auflehnung. Im nächsten Jahrzehnt erhitzte sich die
Stimmung. Im Herbst 1845 suchten polnische Gewerbtreibende die Festung
Posen zu überrumpeln. Die im Februar 1846 beabsichtigte Empörung wurde
entdeckt und niedergeworfen, ehe sie sich entwickeln konnte. Das Jahr 1848
brachte natürlich viel Unruhen über die Provinz Posen, die meistens von der
Stadt Posen ausgingen und in ihr die Stützpunkte hatten und deshalb am besten
der Geschichte dieser Stadt einverleibt werden. Der ganzen polnischen Be-
völkernng hatte sich damals der einmütige Gedanke bemächtigt, es habe die
Stunde der Wiedergeburt Polens geschlagen. Der Aufstand war so mächtig,
daß ihm gegenüber anfänglich die königlich preußischen Behörden machtlos waren;
der Sturm raste, die Deutschen waren niedergeschlagen, die Polen gingen im
raschen Handeln vorwärts; mit wehender polnischer Fahne zogen sie auf den
Marktplatz und riefen die freigewordene Polenrepublik aus und rissen die
preußischen Adlerschilder herunter oder verdeckten sie durch die polnische Adler-
sahne, Jubel herrschte allenthalben. Das geschah, während bestimmt wurde,
daß die Deutschen in der Folge als Polen deutscher Abkunft angesehen werden
sollten. Die Auswanderung der Deutschen begann. Die Landstraßen nach
Deutschland waren mit Flüchtigen bedeckt, die in Glogau, Berlin und Stettin
Sicherheit suchten.
In Bromberg blieb die Regierung fest, die Deutschen hielten zusammen.
In der von den Polen ausgeschriebenen Versammlung erhob sich der tausend-
stimmige Ruf: „Wir wollen Deutsche sein und Deutsche bleiben!"
Während der König einer polnischen Deputation eine nationale Reorga-
nisation versprach, begannen auch im Regierungsbezirk Posen die Deutschen
sich zu regen und gründeten Vereine zur Wahrung der deutschen Interessen;
aber diese Gegenbewegung der Deutschen hatte keinen Mittelpunkt, keinen Zn-
sammenhang und somit auch keine nennenswerten Erfolge. Die Zustände ver-
wirrten und verschlimmerten sich von Tag zu Tag. Erst als die Deutschen
gegen den Übermut der Polen für die Erhaltung des Deutschtums in die
384 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
Schranken traten und sich zum Kampfe gegen die Polen anschickten, lenkten diese
ein und forderten die Seele der deutschen Bewegung, Herrn von Schreeb, auf,
an den polnischen Versammlungen teilzunehmen, aber sie verlangten von ihm,
er solle die Deutschen beschwichtigen, die Deutschen möchten sich mit ihnen gegen
die Regierung vereinigen. Schreeb mußte bald die Unterhandlungen abbrechen
und schied mit den Worten: „Bisher haben wir freundschaftlich verhandelt,
fortan werden wir mit dem Schwert als Männer gegeneinander stehen und
wollen uns ritterlich schlagen." Die Deutschen organisierten sich, die Juden
schlössen sich ihnen an; durch Bekanntmachungen und Denkschriften suchten thätige
Männer den Bewohnern der Provinz die richtige Darstellung der Begeben-
heiten nicht ohne Erfolg zu verschaffen. So begann die Entwicklung der deutschen
Kraft, in vielen Städten kam ein kräftiges deutsches Bewußtsein zum Ausbruch.
„Wir haben nie auf das Recht verzichtet", sprach das deutsche Nationalkomitee
in Posen, „als deutsche Männer bei Deutschland zu bleiben; wir konnten darauf
nicht verzichten, denn wir gehören für immer untrennbar zu unserm Vaterlande,
zu Deutschland." In der Versammlung in Schneidemühl hörte man die Worte:
„Die deutsche Bevölkerung des Großherzogtums Posen ist bei der gesamten
deutschen Nation klagbar geworden, daß Deutschland ihrer zu vergessen scheine.
Das ganze Vaterland ist einstimmig für Schleswig, so sei es auch einstimmig
für Posen; denn hier ist mehr als Schleswig. Deutschland hat ein altes Recht
auf seinen Boden, die Karte des alten Germaniens zeigte hier die Stammsitze
und heiligen Haine der Burgundionen. Ein Jahrtausend lang ringt Deutsch-
land um den Wiederbesih seines Ostens, den das Slawenvolk überschwemmt
und zertreten hat. Für Posen gilt dasselbe Recht, welches Schlesien und Sachsen,
die Marken, Pommern und Mecklenburg au Deutschland bindet. Gleichgesinnt
mit den deutschen Bewohnern wollen auch Hunderttausende unsrer slawischen
Brüder mit nichten unter das polnische Regiment zurück."
Vou diesen Tagen an konnte Posen nicht mehr ein polnisches Land genannt
werden. Die Zurücksührung zum alten Polentum scheiterte an dem sich auf-
raffenden Deutschtums. Im Kampfe war der Deutsche der Sieger. Zwar son-
derten sich vielfach die Polen von den Deutschen, aber frisches Leben entwickelte
sich im Posenfchen. Reger Fleiß, schaffende Arbeit und zunehmende Bildung
halfen vorwärts.
Die unzufriedenen Polen blieben nicht lange ruhig. Im Jahre 1859
wurde wieder gegen die Deutschen gehetzt. Deutsches Wesen, hieß es, habe keine
Berechtigung im Posener Lande, es müsse ausgerottet werden; die Zeitungs-
schreiber suchten die Deutschen anzufeinden, man kokettierte mit polnischer Kokarde
und polnischer Tracht. Doch schwächten die Polen ihre Stärke, da sie sich an
der Erhebung des sogenannten Kongreßpolens im Jahre 1863 beteiligten.
Wünschen wir, daß es bald keinen Polen in der Provinz Posen mehr
gibt, der den Deutschen das Recht, hier zu leben, streitig macht; mögen sie
vielmehr alle einsehen, daß Posen ein Land gemischter Bevölkernng ist, in dem
der Deutsche gleichberechtigt mit dem Polen unter deutschem Zepter wohnt.
Lage, Grenzen, Flüsse, Bodenbeschaffenheit u. s. w. 385
Lage, Grenzen, Misse, Lodenbeschaffenheit, Viehstand, Manzen, Mine-
ralien, Eisenbahnen, Verwaltung und Bevölkerung der Provinz Posen.
Die Provinz Posen ist ein Teil des norddeutschen Tieflandes; sie liegt an der
Nordabdachung der Karpathen und Sudeten, ist durch einen Höhenzug im Norden
vom eigentlichen Küstentieslande der Ostsee und im Süden durch Hügelreihen
vom Oderthale getrennt, sie gehört zu den östlichen Provinzen des preußischen
Staates und liegt zwischen 33° und 36° östlicher Länge und 51° 10' bis
53° 27' nördlicher Breite.
Die Nordgrenze gegen Westpreußen (Regierungsbezirk Marienwerder)
von der Weichsel bis zur Drage, einem Zufluß zur Netze, beträgt 260 km.
Im Westen grenzt Posen an Brandenburg (Regierungsbezirk Frankfurt) und
Schlesien (Regierungsbezirk Liegnitz), von der Drage bis Schlichtingsheim in einer
Länge von 320 km, im Süden an Schlesien (Regierungsbezirk Liegnitz, Breslau,
Oppeln) von Schlichtingsheim bis zur Prosna in einer Länge von 240 km; die
Ostgrenze gegen das russische Polen und Westpreußen ist 875 km lang, von
denen 150 km durch den Grenzfluß Prosna gebildet werden. Im Nordosten
ist die Weichsel eine kurze Strecke Grenzfluß.
Der Flächeninhalt der Provinz beträgt 28 954,36 qkm (5258 □Meilen),
also ungefähr Via vom gegenwärtigen Gesamtgebiet des Königreichs Preußen.
Posen ist ursprünglich Meeresboden gewesen und nach und nach auf-
geschwemmt und angespült worden. Das beweisen die allenthalben in Feld und
Wald umherliegenden Felsblöcke und Felstrümmer, welche einstmals durch die
Gewalt der Wogen oder des Eises vom hohen Norden her zu uns gebracht
worden sind. Im ganzen ist Posen ein Flachland mit wellenförmigen Erhebungen,
das sich im Durchschnitt um 66 m über den Spiegel der Ostsee erhebt. Die
Deutsches Land und Volk. VIII. 25
386 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
Provinz ist unter allen preußischen Provinzen die am meisten ebene. Nur ein-
zelne Hügel und Hügelketten treten aus der wellenförmigen Oberfläche hervor
und gestatten meist einen weiten Blick auf die Umgegend. Solche Erhebungen
finden sich besonders in der Nähe der Flüsse, der Warthe und Obra. An dem
Nordrande ziehen sich die Ausläufer des prenßisch-pommerschen Landrückens hin.
Der Annaberg bei Owinsk ist 309 m hoch, der nördlich von Bromberg gelegene
Bahnhof Klarheim (Kotomierz) liegt 100 m über der Ostsee.
Vier größere Flußthäler, das der Warthe, Netze, Obra und Bartsch, durch-
ziehen die Provinz; ihre Wasserscheiden treten oft kaum merklich hervor. Selbst
die Wasserscheide zwischen Warthe und Weichsel, welche in den Nordosten der
Provinz eintritt, macht sich wenig bemerkbar; sie wird von dem Bromberger
Kanäle durchschnitten und hat die Anlage von Schleusen nötig gemacht, durch
welche die Flußkähne auf dem Kanäle'in die Höhe gehoben und gesenkt werden.
Alles fließende Wasser in der Provinz wird durch die Weichsel und die
Oder der Ostsee zugeführt. Die Weichsel entspringt auf den Karpathen, durch-
strömt in einem weiten Bogen das ehemalige Königreich Polen, berührt Krakau
und Warschau und tritt als ein breiter, schiffbarer Strom oberhalb der Festung
Thorn in Westpreußen ein, unterhalb Thorn an die Grenze der Provinz Posen.
Zu ihrem Stromgebiete gehört die Brahe, die aus einem See aus dem preußisch-
pommerschen Landrücken entspringt, in schnellem Laufe Westpreußen durchströmt,
oberhalb Krone in die Provinz eintritt, Bromberg berührt und bei dem Dorfe
Deutsch-Fordon in die Weichsel mündet.
Die Oder hat ihre Quelle im mährischen Gesenke, sie durchströmt die
Provinzen Schlesien und Brandenburg, bildet in Pommern das Pommersche
Haff und mündet in die Ostsee. Posen berührt sie selbst nicht, aber zu ihrem
Stromgebiete gehören aus der Provinz die Flüsse Warthe, die Bartsch und
die faule Obra.
Die Warthe entspringt in Rußland, 50 km nordwestlich von Krakau auf
dem schlesisch-polnischen Landrücken; sie tritt unterhalb der russischen Stadt
Peisern als schiffbarer Fluß in die Provinz Posen (Kreis Wreschen) ein, fließt
bei Schrimm, Posen, Obornik, Obersitzko, Wronke, Zirke, Birnbaum und Schwerin
vorbei, verläßt dann die Provinz und fällt als 120 m breiter Fluß bei Küstrin
in die Oder, deren größter Nebenfluß sie ist. Die Warthe ist 787,5 km lang,
von denen 277,5 km auf Posen fallen; sie hat ein starkes Gefälle, meist niedrige, nur
an wenigen Stellen eingedeichte User und richtet deshalb in manchen Jahren,
wenn der Schnee plötzlich schmilzt,' große Überschwemmungen und viel Schaden
an. In trockenen Sommern ist sie für beladene Fahrzeuge mittlerer Größe nicht
schiffbar, sie friert mit Grundeis meist im Dezember zu und wird im Februar
oder zu Anfang des März wieder frei. Von der linken Seite nimmt sie die
Prosna ans, die in Schlesien entspringt und 150 km laug die Grenze zwischen
Rußland und Polen bildet; ferner die Obra, die bei Koschmin entspringt, mehrere
Seen durchfließt, die Städte Beutfchen, Tirschtigel, Meseritz und Blesen berührt
und bei Schwerin mündet; sie ist 187,5 km lang, ihre niedrigen Ufer bilden
das Obrabrnch und bedeutende Wiesen. Von den rechten Nebenflüssen ist als
der größte zu nennen die Netze, die aus den in den Kreisen Jnowrazlaw,
Mogilno, Gnesen und dem angrenzenden Rußland gelegenen Seen entspringt,
bei Nakel schiffbar wird, dann die Provinz in westlicher Richtung durch nasses
Lage, Grenzen, Flüsse, Bodenbeschafsenheit u. s. w. 387
Bruchland durchströmt, von rechts her die Drage aufnimmt und in der Provinz
Brandenburg sich mit der Warthe vereinigt; der Fluß ist 247,5 lang und
bei der Mündung 80 m breit.
Die Bartsch entspringt südlich von Ostrowo im Kreise Adelnan, tritt nach
Schlesien über und mündet, nachdem sie die aus dem Krotoschiner Kreise
kommende Orla aufgenommen hat, oberhalb Glogau in die Oder.
Die faule Obra kommt aus dem Meseritzer Kreise und fließt nach kurzem
Laufe in Schlesien der Oder zu.
Die Provinz Posen ist reich an stehenden Gewässern; sie enthält mehrere
Hunderte von Seen und Teichen, die eine Gesamtfläche von 252 qkm haben.
Die Ufer der meisten sind flach, sandig oder sumpfiges Wiesenland; nur wenige
sind von Wäldern bekränzt und gewähren einen lieblichen Anblick. Der größte
dieser Seen ist der Goplosee beiKruschwitz, der 28 km lang, an einzelnen Stellen
3 km breit und 7—14 m tief ist. Die Städte Gnesen, Tremessen, Wongro-
Witz, Rogasen, Wöllstein liegen an größeren Seen.
Der Boden Posens ist sehr mannigfaltig. Regellos wechseln oft die Erd-
schichten miteinander. Neben lockerem Sande finden wir tiefen Moorgrund
oder Thonboden. Anderseits haben weite Strecken eine gleichförmige, srucht-
bare Bodenmischung und bieten dem Auge, so weit es reicht, den Anblick einer
nur selten von Wald und Busch unterbrochenen, mit Wiesen oder üppig grünenden
Getreidefeldern gesegneten Ebene dar. Weite Wiesen dehnen sich an den Ufern
der Warthe, Netze und Obra aus. Fruchtbarer Weizenboden findet sich in den
Kreisen Schroda, Wreschen, Fraustadt. Gnesen und Jnowrazlaw; Sandboden
ist am stärksten vertreten in den Gegenden, welche der Neumark zunächst liegen
und welche an Westpreußen anstoßen.
Posen hat ein gemäßigtes, den Ackerbau begünstigendes Klima; das Ther-
mometer steigt im Sommer selten über -}~ 250R., fällt im Winter nur aus-
nahmsweise unter —18°R, Südwest- und Nordostwind sind vorherrschend;
jener bringt im Sommer Regen, im Winter Tauwetter, dieser ist im Sommer
trocken, im Winter scharf und schneidend. Die ersten Spuren des Pflanzen-
lebens zeigen sich im letzten Drittel des Monats März; um diese Zeit ist der
Frost und Schnee gewöhnlich so weit aus der Erde, daß der Landmann mit der
Bestellung des Ackers beginnen kann. Im April wechseln noch häufig warme
und kalte Tage, auch der Mai, der die Obstblüten bringt, ist meist noch sehr
unbeständig. Juni, Juli und August sind die heißen Monate, die viel Gewitter
bringen. Die Getreideernte beginnt im zweiten Drittel des Juli, die Kar-
tosfelu werden nach Michaelis geerntet. Die Wintersaat wird im September
und Oktober bestellt. Anfangs November verlieren die Bäume ihr Laub, das
Vieh bleibt oft bis nach Martini auf der Weide. Die größte Kälte ist gewöhnlich
in der Mitte des Januar.
In Posen steht die Schafzucht auf einer ziemlich hohen Stufe, denn die
Wolle folgt in betreff ihrer Güte gleich nach der schleichen. Die Kreise Schrimm,
Schroda, Wreschen und Pieschen weisen treffliche Schafherden auf; es finden
sich in der Provinz nahe an 2 7/i 0 Millionen Schafe. Gutes Rindvieh (man hat
gegen 580 000 Rinder gezählt) ist im Netze- und Obrabruche. Das kleine
polnische Pferd verschwindet immer mehr, an seine Stelle ist das kräftige deutsche
Pferd getreten. Schweine werden gegen 320 000 gezogen und bilden einen
25*
388 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
einträglichen Handelsartikel. Ziegen und Esel findet man selten, in einigen
Gegenden blüht die Bienenzucht. In den wasserreichen Gegenden zieht man
viel Gänse, die einen bedeutenden Ausfuhrartikel nach Berlin bilden. Die
Wälder enthalten Wildbret aller Art, wenn auch in geringer Menge. Wölfe
find selten; die größten sonstigen Raubtiere, die aber auch nur noch hier und
da vorkommen, find der Fuchs und der Dachs. Für die Hebung der Fischzucht
wird in der neueren Zeit mit gutem Erfolge gearbeitet. In den Sümpfen
findet man Blutegel.
Eigentümliche Pflanzen besitzt die Provinz nicht. Größere Waldungen
(meist Nadelholz oder gemischt mit Laubholz) haben die Kreise Birnbaum und
Czarnikau. Die Privatwaldungen sind in den letzten Jahrzehnten stark gelichtet
worden, da man die Waldflächen abholzte uud den Boden für den Ackerbau
benutzte. Angebaut werden Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hülsenfrüchte, Kar-
toffeln, Raps, Lupinen, an einzelnen Orten auch Tabak, Flachs und Runkelrüben.
Der Hopfenbau blüht um Neutomifchel, Opaleuiza und Bentfchen. Zur Zeit
des Hopfenmarktes ist besonders in Nentomischel reges Leben. Wein wird in
größerem Maßstabe gewonnen in der Gegend von Bomst, Unruhstadt und
Wollstein; aber dieser Wein ersrent sich keines besondern Rufes, er übertrifft
an Säure den Grüneberger, nnd „Bomster Schattenfeite" ist sür einen Mann,
der ein Glas guten Weines gern trinkt, ein entsetzliches Wort. Der Obstbau
macht in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte, ebenso der Gemüsebau.
Viel Heu liefert die Netze- und Obragegend.
An mineralischen Produkten ist die Provinz arm; im Vergleich mit andern
Provinzen nnsres Vaterlandes liefert fie wenig Erzeugnisse. Ein Steinsalz-
lager befindet sich bei Jnowrazlaw, das bergmännisch ausgebeutet wird. Braun-
kohlen werden längs der Warthe von Obornik bis Zirke, besonders in der Gegend
von Wronke, ferner im Bromberger Kreise gefunden. Große Torflager hat
die Netzegegend und das Cybinathal. Bernstein kommt an einigen Orten, aber
nur in geringer Menge und in kleinen Stücken vor.
Die auf unfern Feldern umherliegenden und von uns zum Bauen oder
Pflastern benutzten Steine sind Quarz, Feuerstein, Feldspat, Glimmer. An Ge-
birgs- und Felsarten lagern in oft großen Geschieben Granit, Syenit, Gneis,
Glimmerschiefer, Porphyr, Thonschiefer, auch Basalt. Guten Töpferthon findet
man in mächtigen Lagern im Warthethale bei Posen; ein bedeutendes Gips-
lager, welches abgebaut wird, ist bei Wapuo, südlich von Exin.
Die Gewerbthätigkeit ist im ganzen in der Provinz noch gering. Nur in
den größeren Städten werden Dinge angefertigt, welche über die gewöhnlichen
Lebensbedürfnisse hinausgehen. Der Handel ist nicht bedeutend. Das Fabrik-
Wesen ist nur durch einige Eisenfabriken und Maschinenbauanstalten in Posen,
Bromberg, Jnowrazlaw, Schönlanke und Gnesen, dann durch Dampfmühlen,
Glashütten und Brennereien vertreten. Verkehr und Handel erleichtern die
vielen Chausseen, welche die Provinz in allen Richtungen durchschneiden, ferner
die beiden Wasserstraßen, d. i. die Warthe und die Netze, auf denen Hunderte
von Kähnen die verschiedenen Waren bringen und holen. Wichtiger für den
Verkehr sind die Eisenbahnen, deren Netz immer dichter wird. Die Provinz
durchschneiden folgende Bahnen: 1) die Ostbahn den nördlichen Teil des Regie-
rnngsbezirks Bromberg von Kreuz über Bromberg bis an die westpreußische
Verwaltung und Bevölkerung der Provinz Posen. 339
Grenze; 2) die oberschlesische Bahn von Posen nach Breslau mit der Abzweigung
Lissa-Glogan; 3) die Posen-Stargardter Bahn; 4) die Märkisch-Posener Bahn
von Posen nach Guben mit der Abzweigung Bentschen-Frankfnrt; 5) die Posen-
Thorner Bahn mit der Zweigbahn Jnowrazlaw-Bromberg; 6) die Öls-Gnesener
Bahn; 7) die Posen-Kreuzburger Bahn; 8) die Posen-Belgarder Bahn von
Posen über Schneidemühl nach Pommern.
An der Spitze der Verwaltung der Provinz steht der Oberpräsident, welcher
seinen Sitz in Posen hat. Unter seiner Leitung stehen das Provinzial-Schul-
kolleginm, die beiden Regierungen zu Posen und Bromberg und die Provinzial-
Steuerdirektion.
Zur Zeit hat die Provinz 14 Gymnasien, nämlich zwei in Posen, je eins
in Ostrowo, Lissa, Krotoschin, Meseritz, Schrimm, Rogasen, Bromberg, Jno-
wrazlaw, Gnesen, Schneidemühl, Wongrowitz und Nakel; die vier Realgymnasien
sind in Posen, Bromberg, Rawitsch und Fraustadt. Jn Tremessen und Kempen
sind Progymnasien; auch die höhere Knabenschule in Schwerin bereitet seit
mehreren Jahren ihre Schüler für die Gymnasialprima vor und hofft auf
ihre Anerkennung als Progymnasium. Die fünf Lehrerseminare befinden sich
in Bromberg (evangelisch), Koschmin (evangelisch), Paradies (katholisch), Exin
(katholisch) und Rawitsch (simultan). Präparandenanstalten sind in Czarnikau,
Rogasen, Lissa und Meseritz. Ein Lehrerinnenseminar ist in Posen. Mittelschulen
befinden sich in Posen und Bromberg, Taubstummenanstalten in Posen und
Schneidemühl, Irrenanstalten in Owinsk und Kowanowko, eine Blindenanstalt
ist in Bromberg, eine landwirtschaftliche Schule in Samter, eine Gärtner-
lehranstalt in Koschmin. Volksschulen sind in Städten und Dörfern ausreichend
vorhanden, und die Eltern werden gezwungen, ihre Kinder vom sechsten bis zum
14. Lebensjahre regelmäßig in die Schule zu schicken, so daß der Bildungsgrad
des Volkes von Jahr zu Jahr steigt, obgleich noch immer Posen in seiner Volks-
bildung im ganzen den übrigen Teilen des Staates nachsteht.
Posen besteht aus zwei Regierungsbezirken, nämlich aus Posen mit
17 506,4 qkm und Bromberg mit 11 447,g qkm. Die Regierung zu Posen um-
faßt die Abteilung für das Innere (I), die für die Kirchenverwaltung und das
Schulwesen (II) und die für die Domänen, Forsten und direkten Steuern (III).
Bei der Regierung zu Bromberg sind die erste und zweite Abteilung vereinigt.
Der Regierungsbezirk Bromberg hat außer dem Stadtkreise Bromberg
noch neun Kreise, nämlich den Landkreis Bromberg, Wirsitz, Kolmar, Czarnikau
im Norden, Wongrowitz, Gnesen, Mogilno, Jnowrazlaw im Süden; Schubin
ist ein Binnenkreis. Der südlich von diesem Bezirke gelegene Regierungsbezirk
Posen ist außer dem Stadtkreise Posen in folgende 17 Kreise geteilt: Wreschen,
Pieschen im Osten, Schildberg, Adelnan, Krotoschin, Kröben, Fraustadt im
Süden, Bomst, Meseritz im Westen, Birnbaum, Samter, Obornik, Schroda im
Norden; Posen, Schrimm, Kosten und Buk sind Binnenkreise.
Jeden Kreis verwaltet ein Landrat. Die Kreise sind in Distrikte (so die
17 Kreise des Regierungsbezirks Posen in 80) geteilt, die den Distrikts-
kommissarien unterstellt sind. — Die militärpflichtigen Mannschaften des Regie-
rungsbezirks Posen gehören zum fünften, die des Regierungsbezirks Bromberg
zum zweiten Armeekorps (Pommern). Der kommandierende General des erst-
genannten hat seinen Sitz in Posen, der des letzten in Stettin.
390 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
Die kaiserlichen Oberpostdirektionen, unter denen das ganze Postwesen
der Provinz steht, haben ihren Sitz in Posen und in Bromberg.
Das Oberlandesgericht hat seinen Sitz in Posen; unter demselben stehen
die sieben Landgerichte in Posen, Lissa, Meseritz, Ostrowo, Bromberg, Gnesen
und Schneidemühl. Außerdem sind in jedem Kreise mehrere Amtsgerichte.
Die katholische Kirche steht unter der Leitung des Erzbischofs von Posen
und Gnesen; an jedem dieser Orte steht dem Erzbischos ein Domkapitel und
ein Konsistorium zur Seite. Der erzbischöfliche Stuhl ist zur Zeit unbesetzt.
An der Spitze der evangelischen Kirche der Provinz steht das evangelische Kon-
sistorium zu Posen, dem ein Generalsuperintendent vorsteht.
Die meisten Polen sind katholisch, nur um Adeluau und bei Bomst gibt
es mehrere polnisch-protestantische Gemeinden mit etwa 11000 Mitgliedern.
Die meisten Deutschen sind Protestanten, doch wohnen längs der schleichen
Grenze gegen 100 000 deutsche Katholiken. Der gemeine Mann hält in der
Provinz Posen polnisch und katholisch, deutsch uud protestantisch für gleich-
bedeutend. Die Zahl der Altlutheraner und Reformierten ist nur gering. Ein
Drittel der Bewohner sind Protestanten, zwei Drittel Katholiken.
Posen zählt 1703 400 Einwohner; auf der Quadratmeile leben durch-
schnittlich 3238 Menschen. Die Einwohner sind Deutsche, Polen und Juden. In
der Provinz wohnen ungefähr 56 600 Juden, die alle deutsch sprechen; sie leben
vorzugsweise in den Städten und treiben Handel, leichtes Handwerk und Schank-
Wirtschaft, sind thätig und nüchtern; ihre Verhältnisse sind gesetzlich geordnet,
ihre Lage ist gegen früher wesentlich gebessert, denn sie haben dieselben Rechte
und Pflichten wie die übrigen Staatsangehörigen. In der neueren Zeit ist ihre
Zahl im Abnehmen. Amerika und Australien locken viele junge Leute hinüber;
reich gewordene Handelsleute ziehen nach Berlin, um hier dem Weltmarkte näher
zu stehen. Auch die Deutschen leben meist in den Städten; alle deutschen Stämme
sind hier vertreten; manche, wie die Bamberger um Posen, haben bis jetzt die
eigentümliche Tracht und die Mundart ihrer Vorfahren beibehalten. Die deutschen
Kolonien auf dem Lande kennzeichnen sich meist leicht durch deutsche Ortsnamen
oder durch ein an den polnischen Dorfnamen angehängtes „Hauland".
Die Zahl der Deutschen in der Provinz Posen ist nicht viel geringer als
die der Polen. Im Norden und Westen der Provinz, also in den Kreisen
Bromberg. Wirsitz, Schubin, Kolmar, Czarnikau, Birnbaum, Meseritz, Bomst
und Fraustadt sind die Deutschen iu der Mehrzahl. Im östlichen Teile, also
in den Kreisen Mogilno, Gnesen, Wongrowitz, Wreschen, Pieschen, Adeluau,
Schildberg, Schroda und Kosten sind die Polen überwiegend.
Vit poleil. Will man die Polen mit wenigen Worten charakterisieren,
so muß man sie als einen kräftigen Menschenschlag bezeichnen, der leicht erregt,
heitern Sinnes und gastfrei ist und große Anhänglichkeit an Religion, Sprache
uud Sitte der Vorfahren hat. Kirchliche Feste und Jahrmärkte bieten oft Ge-
legenheit zu geselligem Trünke, bei dem nicht immer Maß gehalten wird.
Die polnische Sprache soll für den Fremden unter allen slawischen Sprachen
die schwierigste sein, teils wegen der großen Mannigfaltigkeit in der Aussprache
der Vokale und einer solchen Zusammenfügung der Mitlaute, daß nur eine
slawische Zunge sie besiegen kann — welcher nichtslawische Mund möchte den
Die Polen. 391
Ortsnamen Szczebrzeszyn richtig aussprechen können? — teils wegen ihres
verfeinerten und künstlichen grammatikalischen Baues. In letzterer Hinsicht
unterscheidet sie sich wesentlich von der russischen Sprache, welche, obschon sehr
reich, doch merkwürdig einfach und leicht zugänglich ist. Talvj sagt in seinem
Handbuche einer Geschichte der slawischen Sprachen und Litteratur: „Die pol-
nische und böhmische Sprache sind nach dem Ausspruche der kompetentesten
Richter vor allen andern tauglich, die Schönheiten der klassischen Sprachen wort-
getreu wiederzugeben, und die polnische Prosa ist der lateinischen mit einer
Vollkommenheit nachgebildet, welche in dem goldenen Zeitalter der polnischen
Litteratur einer ihrer charakteristischsten Züge war. Es ist daher wirklich be-
fremdend, daß die polnische Sprache, wenigstens die jetzt lebende, in ihren sonst
so hoch stehenden poetischen Arbeiten die Einführung der klassischen Prosodie
unterlassen hat. Übrigens ist es sehr wahrscheinlich, daß sie ursprünglich wie
alle andern slawischen Sprachen kurze und lange Silben besessen hat. Solange
jedoch polnische Dichter schreiben, haben sie die Silben nie gemessen, sondern
nach Art der Franzosen gezählt. Mit Ausnahme weniger neuerer Dichter,
welche in ungereimten Versen schrieben, und einiger weniger Versuche, die
griechischen Regeln über den Aceent auf die polnische Sprache anzuwenden, ist
alle polnische Poesie wie die französische gereimt, und der französische Alexandriner
ist eine bei den polnischen Dichtern sehr beliebte Form."
Es ist bekannt, daß, wie jetzt der vornehme Pole neben dem Polnischen
sich gern des Französischen bedient, er in früheren Zeiten vielfach lateinisch
sprach, aber bei Anwendung dieser Sprache den Accent meist unberücksichtigt
ließ. Da soll einst ein Pole, als ihm gesagt wurde, er möge mehr auf die
Quantität der Silben Rücksicht nehmen, geantwortet haben: Nos Pölöni non
cürämüs quantitätem syHäbärüm. Grammatisch richtig wird das übliche
Latein auch nicht immer gewesen sein. Sagt man doch einem Geistlichen nach,
der von dem Konsistorium gefragt wurde, weshalb er einem Verstorbenen seines
Sprengels nicht das kirchliche Geleit gegeben habe, er habe über den Toten be-
richtet: Moruit, nec confituit, nec accipuit corpum Christi. Er sollte also
schreiben: Mortuus est nec confessus est nec accepit corpus Christi. Er starb,
ohne gebeichtet und den Leib des Herrn empfangen zu haben.
Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, wie sich die Polen zur deutschen
Regierung, zu den Deutschen verhalten, so müssen wir zugeben, daß diejenigen,
welche mit den jetzigen Einrichtungen unzufrieden sind, sich in der großen Minder-
zahl befinden; aber es läßt sich nicht leugnen, daß die wenigen Polen, welche
noch für die Herstellung ihres Vaterlandes schwärmen, eine erstaunenswerte
Thätigkeit entwickeln. Die polnischen Tagelöhner und Dienstboten wünschen
sich gewiß die alten polnischen Verhältnisse nicht wieder zurück, sie sind jetzt
gegen die Willkür ihrer Herrschaft durch die Gesetze und den Schutz der Polizei-
behörden sicher gestellt; eine Beschwerde gegen die preußischen Behörden ist
wohl von ihnen noch nie erhoben worden. Der polnische Bauer erkennt die glück-
liche Lage an, in der er sich jetzt befindet, die er dem Wohlwollen der preußischen
Regierung verdankt, denn er ist befreit aus den drückenden Verhältnissen, in
denen er sich ehedem befand. Zwar ist der erste Eindruck, den der mit unsrer
Provinz unbekannte Deutsche vom polnischen Bauer empfängt, keineswegs günstig.
Schon in seiner äußeren Erscheinung, in dem langen Rock von grobwollenem,
392 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
selbstgewirktem Zeuge, in dem schmutzigen Schafpelze, den er im Winter trägt,
in dem ungeordneten, langen Haupthaare und schlecht gepflegten Barte empfiehlt
er sich nicht. Im allgemeinen steht er auf sehr niedriger Bildungsstufe. In
der Jugend hat er sich nur die notdürftigsten Kenntnisse angeeignet. Je älter
er wird, desto mehr entfchlägt er sich der Kunst des Lesens und Schreibens, die
er sich einst hat widerwillig aufdrängen lassen und von der er keinen Gebrauch
zu machen weiß. Aber die polnischen Bauern sind ein kräftiger, leiblich uud
geistig gesunder Menschenschlag von unzweifelhafter Kulturfähigkeit und, wie es
scheint, dazu bestimmt, von sich aus ihre Nation zu verjüngen, abgestorbene
Glieder zu ersetzen, krankende mit frischen Säften zu versorgen. Der Bauer ist
freier Eigentümer seiner Hufe; die ehemaligen Lasten und Dienste sind beseitigt.
Was sich jetzt noch dem Aufblühen des Bauernstandes entgegenstellt, ist Haupt-
sächlich der aus feiner Vergangenheit überkommene Mangel an Trieb zur
Thätigkeit, ferner seine Bedürfnislosigkeit, die ihn lehrt, mit einem geringen
Erwerbe zufrieden zu sein, endlich die Zähigkeit, mit welcher der Bauer überall
an veralteten, unzureichenden Grundsätzen des Wirtschaftsbetriebes festhält. Nicht
mit einem Schlage konnte aus dem Leibeignen ein thätiger Landwirt werden;
aber die Macht der Trägheit wird immer mehr weichen, der Ertrag und der
Wert der Grundstücke Posens stetig zunehmen. Wenig Ansprüche macht der
Bauer in bezug auf seine Wohnung. Ein Besitzer von 70 und mehr Morgen
Land bewohnt oft einen unter niedrigem Strohdache aus Lehm kunstlos errich-
teten Bau, in dem wir nicht immer den Luxus eines gedielten Fußbodens finden;
einige roh gearbeitete Stühle, ein Tisch, eine große Lade, zuweilen eine Kommode
sind ausser den Betten das einzige Gerät; die Wände sind mit wenigen grob
gemalten Heiligenbildern geschmückt. Die Wirtschaftsgebäude sind meist bau-
fällig, gegen Wind und Regen schlecht verwahrt, mit Stroh gedeckt und aus
Lehm errichtet. Der meist enge Hof, in dem die Geräte durcheinander liegen,
gewährt kein Bild von Ordnung. Oft muß man erstaunen über die Dürftigkeit
der Saat auf fruchtbarem Boden, eine Folge schlechter Düngung und Bestellung.
Der Viehstand beschränkt sich auf die notwendigsten Tiere, die nur geringen
Ertrag liefern. Die Pferde fehen zwar klein und schwächlich aus, werden aber
meist nicht schlecht gefüttert und sind den Anstrengungen, die ihnen zugemutet
werden, vollkommen gewachsen; denn der polnische Bauer schont seine Pferde
nicht, er liebt schnelles Fahren selbst auf holperigen oder von Regen und Schnee
aufgeweichten Wegen.
Das Gemütsleben des polnischen Bauern steht im Einklänge mit feiner
traurigen Vergangenheit, mit den Ebenen des Landes, mit dem unfreundlichen
Aussehen der schattenlosen Dörfer, mit der dumpfen Luft der engen Wohnungen,
in denen er nach harter Feldarbeit im Sommer den langen Winter hindurch
träge hinbrütet. Da ertönt selten ein munteres Volkslied, ein kräftiges Sol-
datenlied. Nur im Rausche legt der Bauer seine friedliche Gesinnung ab: da
läßt er sich zu Händeln und Gewaltthätigkeiten herbei, die nicht in seiner Natur
liegen. Er ist meist bedächtig und vorsichtig, oft aber auch im Gegensatz hierzu
leichtblütig und sorglos. Bei der Verheiratung werden die künftigen Existenz-
mittel in Erwägung gezogen, uud da gibt es oft ein Handeln und Bieten, das
freilich dem ehelichen Glücke später keinen Abbruch thut. An eine Verbesserung
seiner Lage denkt der Bauer wenig. Er ist zufrieden, wenn sein Grundstück ihn
Die Polen. 393
und die Seinigen dürftig ernährt. Sparen ist nicht seine Sache. Oft noch viele
Jahre, bevor er arbeitsunfähig wird, entäußert er sich feiner Besitzung zu
gunsten eines Sohnes oder Schwiegersohnes.
Dieser verpflichtet sich alsdann mit der Übernahme der Wirtschaft zur
Lieferung des Altenteils an den früheren Besitzer, eines bestimmt festgesetzten
Anteils von den Früchten des Gutes, eine Lieferung, durch die der Alte in
den Stand gesetzt ist, bis an seinen Tod ein mäßiges, wenn auch kärgliches
394 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
Dasein zu fristen. Diese Einrichtung ist die natürliche Altersversorgung des
altgewordenen Wirtes; aber sie wird zu einem wahren Verderb, wenn, wie es
häufig geschieht, der Wirt im kräftigen Mannesalter die Wirtschaft abgibt, wo-
durch nicht nur der Arbeit tüchtige Kräfte entzogen werden, fondern dem Grund-
besitz auch auf eine unberechenbare Reihe von Jahren eine Last aufgebürdet
wird, die je länger desto drückender wird und zwischen den Gliedern der Familie
oft zu Streit und kostspieligen Prozessen führt, ja sogar nicht selten die Quelle
von Verbrechen wird.
Während der deutsche Bauer oft mißtrauisch und hartnäckig ist, finden wir
den polnischen gutmütig, nachgiebig und mit feinen Nachbarn verträglich. Nur
wenn er erregt und berauscht ist, bricht er leicht in die kräftigsten Flüche und
Schimpfworte aus. Gegen diejenigen, die über ihm stehen, ist er unterwürfig
und in der Art demütig, wie es einem freien Manne nicht gut ansteht. Den
Behörden gegenüber ist. er auch unterwürfig und vertrauensvoll, denn er weiß
die Wohlthat eines geordneten Rechtszustandes zu schätzen; er vergilt die Pflicht-
treue und Unbestechlichkeit des preußischen Beamten durch ein Vertrauen, wie
man es iu gleichem Grade bei seinen deutschen Standesgenossen nicht findet;
er mißtraut seiner eignen Einsicht, ordnet sich der bessern Einsicht unter und
verlangt, daß man ihn bevormunde.
In den wichtigsten Rechtsarigelegenheiten überläßt er fich gern gänzlich
dem Richter und traut demselben, der natürlich viel lieber mit dem polnischen
als mit dem deutschen Bauer zu thun hat. Von den nationalen Bewegungen
hält sich der Bauer fern; die Fragen nach der Gleichberechtigung der polnischen
Sprache mit der deutschen oder nach der Errichtung polnischer Lehranstalten
berühren ihn nicht.
Der polnische Bauer ist ein vortrefflicher Katholik; treue kirchliche Ge-
sinnnng geht bei den Polen bis in die höheren Stände hinauf, in denen be-
sonders die Frauen den größten Eifer an den Tag legen, indem sie die kirch-
lichen Satzungen gewissenhaft beobachten und der Geistlichkeit äußerst ergeben
sind. Deutsche Katholiken behaupten, es fehle der polnischen Frömmigkeit die
wahre Andacht und Innerlichkeit; dadurch aber geschieht der Macht der Kirche
kein Abbruch.
Der Bauer ist anhänglich an seinen ererbten Glauben, der ihn in seinem
Elend Trost und Erhebung brachte. In den weiten Hallen des Gotteshauses,
die in so schroffem Gegensatze zu den engen Räumen seiner Wohnung stehen,
in dem Gepränge des Gottesdienstes, im Glänze der Prozessionen, im An-
schauen der Statuen und Bilder der Heiligen findet der Bauer die einzige
Anregung seiner Phantasie.
So kommt es, daß der Bauer nicht das geringste Interesse für die Wieder-
Herstellung seines Vaterlandes hat; es fällt ihm nicht ein, für die Losreißung
der Provinz Posen von Preußen irgend welche Opfer an Gut und Blut zu
bringen; der Hinweis auf die glanzvolle Vergangenheit erinnert ihn höchstens
an die Willkürherrschaft seines ehemaligen Grundherrn, und von der Verheißung
einer bessern Zukunft hält er nicht viel; er ist Pole und will Pole bleiben, aber
der polnische Nationalstaat scheint ihm nur eiu hoffnungsloses Elend zu bieten.
Als Polen unterging, verlor der Bauer nichts; die späteren Veränderungen
seiner Lage waren ebenso viele Verbesseruugen, die er der Fremdherrschast
V
Die Polen.
395
verdankte. Der Bauer weiß, daß der Adel das Land zu Grunde richtete, und
deshalb sang er auch schon bald nach 1772 vom Adel:
Jeder Versuch zur Aufreizung findet im polnischen Bauer einen sehr nn-
empfänglichen Boden. Die Masse der Polen gehört also keineswegs zu den
unruhigen, stets zu Revolutionen geneigten Unterthanen Preußens. Zu den
beklagenswerten Unruhestiftern gehört in der Provinz Posen nur ein äußerst
geringer Teil der polnischen Bevölkerung, der es sich aber — leider — zur
Lebensaufgabe gemacht zu haben scheint, die an Zahl vielleicht das Zweihundert-
fache überwiegende Masse seiner Landsleute durch beständige Aufstachelungen
zum Treubruch gegen den Herrscher, ja bis zur Revolution zu treiben; der
gleichzeitig an das wenig unterrichtete Ausland seinen Schmerzensschrei richtet,
der sich unglücklich und grausam unterdrückt nennt, um Mitleid, womöglich
thätige Teilnahme zu erregen. Diese Unruhestifter gehören meistens dem Adel
an, einige sind Litteraten und einige Bürger kleiner Städte. Wollte man die
Unzufriedenen zählen, so würde man vielleicht 2000 Seelen finden, die in
Preußen noch für die Wiederherstellung des Polentums schwärmen — und
diese wenigen Menschen wagen es unausgesetzt, mit den maßlosesten, durchaus
unberechtigten, ja völlig ungesetzlichen Ansprüchen der Regierung und dem
Träger der Krone entgegenzutreten.
Der polnische Edelmann (es gibt natürlich auch ehrenvolle Ausnahmen)
sehnt sich zurück nach den polskie czasy, nach den polnischen Zeiten, in denen
der Grundbesitz seines Vaters viel größer war als jetzt der seinige, in denen
es noch keine freien Bauern gab; er haßt die neue Regierung, die allein sein
Herunterkommen verschuldet hat, weil sie allen Wohlstand von Gesetz und Ord-
nuug, von Fleiß und Mäßigkeit abhängig macht. Als 1848 ein adliger Frei-
heitsapostel in einen Krug kam und einen alten Mann für die dawna Polska,
für das alte Polen zu begeistern suchte, da öffnete dieser das Hemd und mit
den Worten „dzgkujg, pan, za waszq, wolnosc, ich danke, Herr, für Eure Frei-
heit" zeigte er ihm die vielen Narben der Wunden, die ihm einst der Kurbatsch
des Woiwoden geschlagen hatte. — Damals behauptete auch der polnische Bauer
Pruszak und rief seinen Landsleuten zu: „Nicht eher wird in Polen Ruhe
werden, bevor nicht alle Edelleute hängen!" — Im Jahre 1859 schrieb ein
polnisches Blatt: „Der Adel ist der Feind des Volkes, der die Thränen und
das Blut des Volkes trinkt, der zuerst aus dem Wege geräumt werden muß?"
Ju den ersten Jahren nach der preußischen Besitzergreifung von 1315
folgte eine gewisse Abspannung auf die Anstrengungen und Enttäuschungen der
napoleonischen Zeit. Man hatte genug des politischen Haders und freute sich
des friedlichen Gedeihens und Aufblühens der Provinz unter dem neuen Regi-
ment. In Posen entwickelte sich eine wahrhaft glänzende Geselligkeit, zu welcher
der Statthalter Fürst Autou Radziwill das Beispiel gab, an welcher der pol-
nische Adel und das preußische Beamtentum und Militär gleichmäßig teilnahmen.
Die liebenswürdigen Eigenschaften der Polen, der Luxus des Adels verliehen
dieser Geselligkeit einen hohen Reiz; Deutsche und Polen drehten sich gemeinsam
„Panowie! Panowie!
Coscie mieli wglowie
Zescie nas zdradzili
I kraj swöj zgubili?"
„Ihr Herren! Ihr Herren!
Was hattet ihr im Kopfe,
Daß ihr uns verrietet
Und unser Land verspieltet?"
396 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
im deutschen Walzer und in der polnischen Mazurka. Der rnssisch-polnische
Aufstand trübte nur wenig diese gegenseitig freundlichen Beziehungen. Aber
allmählich zog sich der polnische Adel von dem deutschen zurück. Eine gewisse
Gewitterschwüle lagerte sich über der Provinz und entlud sich 1846 iu einem
Versuche zum Aufstande, der sofort Deutsche und Polen in die schroffste Stellung
zu einander brachte, und schon 1848 standen beide Nationalitäten sich in erbittertem
Hasse einander gegenüber. Der Pole braucht jetzt das Wort Msiniso (Deutscher),
mit einem gehässigen Zischlaut ausgesprochen, als ein verächtliches Schimpfwort,
und das Wort Prusak (preußischer Beamter) kaum besser, nur mit einer Bei-
Mischung von Furcht. Den Niemiec und Prusak haßt er mehr als den
Moskowiter, weil des Deutschen höhere Bildung ihn zeitiger und sicherer unter-
jocht als die bloße Körperkraft des Russen. So hat denn der Verkehr der
Deutschen mit den Polen fast ganz aufgehört.
Der polnische Edelmann ist in allen Hauptstädten Europas ein viel und
gern gesehener Gast. Schon der Typus seines Gesichtes und der fremdländische
Aceent in seiner Aussprache macht ihn zu einer interessanten Persönlichkeit.
Er ist freundlich und entgegenkommend, verbindlich und von leichten Formen
und hat dadurch etwas Bestechendes, sein Austreten ist ritterlich; durch die
Freundschaft, die er sich gewinnt, erwirbt er sich zugleich die Teilnahme für
das Unglück feiner Nation.
Man kann nicht sagen, daß der Pole für die Erhaltung feines Edelhoses
unermüdlich thätig ist, wie meistenteils der Deutsche. Ein polnischer Landsitz
befriedigt selten nach allen Seiten hin das Auge. Bald erinnert der morsche
Gartenzaun, bald das wuchernde Unkraut des Gartens, bald der vernachlässigte
Zustand der Wirtschaftsgebäude, bald Unordnung andrer Art an die sprich-
wörtlich gewordene polnische Wirtschaft. Das Herrenhaus ist vielleicht aus
irgend einem Grunde vor Jahren nicht fertig gebaut worden, der Haupteingang
kann nicht benutzt werden, weil die Rampe noch fehlt, er ist mit Brettern ver-
schlagen; dem Übelstande wird nicht abgeholfen, denn man hat sich gewöhnt,
den Seiteneingang über den schmutzigen Hof zu benutzen. Ebensowenig stören
einige herunterhängende Tapetenfetzen in den schönsten Zimmern, auch schadet
es nichts, wenn sich derjenige, der sich aus ein Plüschsofa niederläßt, einstweilen
von einer sich erhebenden Staubwolke umgeben sieht.
Der Edelmann rechnet ungern; er lebt mit Vorliebe einen Teil des Jahres
in Paris, hält sich schöne Pferde, herrlichen Ungarwein, übt Gastfreundschaft,
bis alles, was in Küche und Keller war, verzehrt und ausgetrunken ist; spielt
leidenschaftlich, kümmert sich aber wenig um die Wirtschaft und um die Einnahmen
aus seinen Besitzungen. Die Vögte sind meist schlecht gestellt und werden reich
durch Unterschleif. Ein Pächter erzählte einst, er habe an einen polnischen
Edelmann seine Kaution und sein ganzes kleines Vermögen verloren. Er hatte
natürlich seine wenigen Groschen nicht hypothekarisch eintragen lassen von dem
Besitzer einer Herrschaft, die mehr als eine Million im Wert hatte. „Einmal",
fo erzählt jener Mann (Grenzboten 1863, Nr. 5), „brachte ich meine Pacht auf
das Schloß. Der Herr war daheim. Natürlich hatte er das Haus voll Gäste,
Professoren (Gymnasiallehrer) aus Breslau, Posen n. s. w. Wir gingen zur
Tafel. Es waren vielleicht fünfzehn Personen, die aufs ausgesuchteste bewirtet
wurden. In dem anstoßenden Saale war ein zweiter Tisch gedeckt. An diesem
Die Polen. 397
speisten die Kinder sowie deren Lehrer und Bonnen, auch einige Emigranten,
während die Vornehmen derselben mit uns schmausten und zechten. Es folgte
ein drittes Speisezimmer für die vornehmeren Hansofstzianten. Dazu kommt
die niedere Dienerschaft, die sür eine solche Gesellschaft in Küche, Keller und Stall
nötig wird. Hajduk (Diener), pisarz (Schreiber), kucliarz (Koch), Jowiec
(Jäger), ogrodnik (Gärtner), stangret (Kutscher), parobek (Knecht), chlopiec
(Junge), ströz (Nachtwächter), pastuch (Hirte), der ganze Hofstaat (czeladz) ist
natürlich nicht in je einem Manne vertreten; vielmehr haben die meisten von
diesen ihr eignes Hauswesen und manche von ihnen sogar noch ihr besonderes
Gesinde. Dies alles zehrte an dem einen Manne. Ich fing an zu begreifen,
daß auch eine tägliche Einnahme von 200 Thalern für gewisse Ansprüche zu
geriug sein könne. Sinnend blickte ich nach der in verschiedenen Farben glän-
zenden Kristalldecke des Saales, durch welche das Licht hineinfiel. „Was hast
du?" fragte mich der Graf. — „Ich überlege mir, gnädiger Herr, ob ich Ihre
Herrschaft annehmen würde, wenn ich alle Lasten derselben tragen sollte." —
„Schwachkopf, Murrkopf, man muß leben und genießen." — Ich war über
Nacht geblieben und früh auf, um den Hof, den fchönen Garten zu besehen, in
dem etwa eines der Kinder verdrossen mit dem noch verdrosseneren Lehrer
spazieren ging. Der Park ist eine Provinzialberühmtheit und wurde früher
meilenweit aufgesucht. Der Graf und seine Gäste hatten keine Freude an ihm.
Sie hatten bis tief in die Nacht Karten gespielt und den Morgen verschlafen.
Es sah noch um 10 Uhr überall wüst aus. Gegen Mittag fpielten und tranken
sie wieder. Mir war wohl, als ich das prächtige Schloß im Rücken hatte."
Das eheliche Verhältnis der Polen ist meist ein glückliches; der Pole hat
sein Weib lieb und hält es gut, und es verdient in der Regel beides. Weiber
und Männer sind sich gleich. Sie ruhen beide gern; müssen sie sich aber rühren
oder haben sie den Segen des Fleißes gekostet, so sind sie arbeitsam und geschickt,
dabei willig und genügsam. Heine behauptet und mit ihm gewiß viele Männer,
die Polinnen seien meistens von wunderbarer Schönheit; wenn er aber sagt,
selbst an den Ufern des Ganges gebe es kein schöneres Weib als in Polen, die
zartesten und lieblichsten Blumen lassen sich nicht mit einer Polin vergleichen,
Raffaelfche Bilder seien Farbenkleckse gegen diese Altarbilder der Schönheit,
die der lebendige Gott in seinen heitersten Stunden fröhlich hingezeichnet habe,
so müffen wir diese Aussprüche für dichterische Übertreibungen halten.
Der Pole hat einige Sprichwörter, die nicht zu beweisen scheinen, daß er
fein Weib ehrt und achtet. Er sagt z.B.: „Nüsse, Stockfische und Frauen sind
erst gut, wenn sie geklopft find (orzech, stockfisz, niewiasta jednym koz-
laltom zujq,, nie dobrego nie czyni^,)", ober: „Wer trinkt, wird rund, wer
liebt, gefuud, wer fein Weib schlägt, selig (kto pije, ten tyje, kto miluje, bywa
zdröw, kto bije zong, bgdzie zlawion)"; aber er ist tatsächlich befser, als er
sich selbst in seinen Sprichwörtern darstellt; der Stock hat bei den polnischen
Frauen gewiß nicht mehr Arbeit als bei den deutschen.
Die katholische Geistlichkeit hält meistenteils zu den Polen und stellt sich
der Regierung gegenüber feindlich; viele Geistliche sind des Deutschen nicht
völlig mächtig oder wollen es nicht verstehen. Ein Geistlicher in einer kleinen
Stadt, der von der Staatsregierung 150 Thaler erhält, um deutsch zu predigen,
schickt eine polnische Quittung ein. Diese wird ihm selbstredend zurückgeschickt,
398 Land und Leute im Großherzogtuin Posen.
und er antwortet, er sei nicht so weit der deutschen Sprache mächtig, um eine
deutsche Quittung auszustellen. Vor 20 Jahren — heute ist es nicht viel
anders — sangen Kinder in den Schulen Lieder, die zum offenen Aufruhr an-
regten; das bekannteste unter denselben ist das Boze cos Polskg, dessen erste
Strophe lautet: „Gott, der du Polen durch so viele Jahrhunderte — Mit dem
Glanz der Macht und des Ruhmes umgeben hast — Der du es mit dem Schilde
deiner Obhut bedeckt hast — Gegen das Unglück, das es betreffen sollte —
Vor deinen Altar bringen wir unser Flehen — Wolle uns wiedergeben, o Herr,
das Vaterland, die Freiheit!" „Boze cos Polskg przez tak liczne wieki —
Otaczal blasMem potggi i clrwaly, — Cos jq, zasianial tarczq, swej opieki, —
od nieszczgsc, ktöre przywalic jq, mialy — Przed Twe oltarze zanosim
blaganie — Ojczyzng wolnosc racz nam wröcic Panie!"
Die preußische Regierung hat diesem und ähnlichen Liedern die Ehre er-
wiesen, ihren Gesang in den Schulen zu untersagen; vielleicht wäre es besser
gewesen, den Kindern ihr Spielzeug zu lassen. Natürlich hat das Verbot einen
besondern Eifer erregt; ein Propst schrieb der Regierung, er habe das Lied nicht
gekannt, da es aber die Behörde für gefährlich halte, sich vor ihm fürchte, wie
Herodes vor dem Jesuskinde, so werde er es sich verschaffen, es von Kleinen
und Großen singen lassen u. s. w., „weil ich ein Pole bin".
Die polnische Küche. Eigenartig ist in mancher Beziehung die Kochkunst
der Polen auch im Großherzogtum Posen. Ein charakteristisches Merkmal der
polnischen Küche ist, daß die Speisen meist stark mit Pfeffer, Ingwer, Zimt
und Zwiebeln gewürzt sind, eine Eigentümlichkeit, die ebenso in der Hütte des
Arbeiters wie im Schlosse des Magnaten hervortritt. Wenn auch die Ein-
sührung der allgemeinen europäischen Küche bereits manches verwischt und
beseitigt hat. so gibt es doch hier noch viele Spuren jener altpolnischen Küche
aus der berühmten oder vielmehr berüchtigten und selbst den Polen heute ver-
ächtlicheu Zeit, welche die sächsischen Polenkönige herausführten, in der die
Völlerei zur Regel und fast zur Nationaltugend wurde, wie uns das bekannte
Sprichwort sagt:
„Za kröla Sasa „Unterm Sachsenkömg
Jedz, pij i popuszczaj pasa." Iß, trink und laß den Gurt nach."
Es war jene Zeit (1700—1763), in welcher der Bräutigam in den Augen
seiner Dulciuea und ihrer Eltern zum Helden emporstieg, wenn er die ritterliche
Kunst zeigte, einen Kapaun „in der Luft", also nicht auf der Schüssel, zu zer-
teilen; wo bei reichen Gelagen unter den fünfzig andern vorgesetzten Gerichten
einem jeden Gaste ein ganzes junges Ferkel mit Füllung vorgesetzt und von
diesem verzehrt wurde; wo es für eine ganz gewöhnliche Küchenkunst galt, einen
und denselben ungeteilten Fisch an einem Ende zu braten, am andern zu rösten
und in der Mitte zu kochen; wo es als Grundsatz für einen Gastgeber galt:
„Lieber für einen Thaler Verlust als für einen Pfennig Schande."
Diese Zeiten sind freilich jetzt vorüber. Das deutsche Wort „Ein pol-
nischer Magen kann viel vertragen" findet zwar heute auch noch seine Anwen-
dung; aber wenn die Menge der Speisen, die ein polnischer Magen aufnehmen
kann, bei diesem Worte ins Auge gefaßt wird, so findet es wohl mehr An-
Wendung auf den einfachen Mann als auf den Edelmann, bessere Beziehung
Die polnische Küche. 399
jedoch hat es auf die den Deutschen manchmal absonderlich erscheinende Art
der Zubereitung der Speisen.
Eine der beliebtesten Suppen ist der barszcz, eine aus Fleischbrühe, durch
rote Rüben rotgefärbte säuerliche Suppe, mit Zuthat von etwas Mehl und
saurer Sahne, in der Regel mit der bekannten, in kleine Stücke geschnittenen
polnischen Bratwurst oder mit Schweinsohren gekocht.
Eine nicht minder beliebte und beim Schlachten eines Stückes von Geflügel
gekochte Suppe ist die Blutsuppe oder Schwarzsauersuppe, die czernina, die
man aus dem frischen, auf Essig abgelassenen Blute des geschlachteten Geflügels,
indem man starke Gewürze und Backobst hinznthut, bereitet.
Gern gegessen werden die zrazj, eine Art länglicher Fleischklopse, in denen
das nicht durch Zerhacken, sondern durch Stampfen bearbeitete Fleisch unter
Zuthat von Speck, Zwiebeln, Butter und geriebenem Brot cylinderartig zu-
sammengerollt und, damit die einzelnen Stücke beim Schmoren nicht zerfallen,
mit Bindfäden umwickelt werden.
Ein Nationalgericht der Polen ist ferner der bigos, Sauerkohl mit Fleisch-
stücken; diese werden besonders gekocht, in ihrer Brühe wird der Sauerkohl
gedämpft, darauf wird beides vermengt und Stücke von abgekochter polnischer
Bratwurst werden hinzugethan. Das so gewonnene Gericht unterliegt mehrere
Wochen nicht der Fäulnis und kann lange von frischem aufgewärmt werden.
Die berühmte und dem Polen fast unentbehrliche polnische Bratwurst ist
den meisten Deutschen bekannt, denn sie findet überall Liebhaber. Sie wird
vielfach von Deutschen nachgemacht; zu bemerken ist hierbei jedoch, daß der
Deutsche bei der Zubereitung dieser Wurst oft das Fleisch zu fein bearbeitet
und hackt, der Pole aber hackt es nicht, sondern schneidet es nur in ziemlich
große Stücke. Die polnische Bratwurst wird in der Regel nicht geräuchert,
sondern gedörrt; sie hält sich, da sie stark gesalzen und gewürzt wird, sehr lange.
Flaki heißt ein Gericht, an welches der Deutsche mit einer Art von Ab-
scheu denkt, weil es vom Rindermagen zubereitet wird. Der sehr lange und
sorgfältig gereinigte Magen des Rindes wird abgebrüht, in Stücke geteilt, in
Wasser mit Butter, Ingwer, Pfeffer und Salz gekocht, die Stücke werden dann
in ganz feine Scheiben geschnitten und in saurer Sahne und etwas Mehl
noch einmal abgekocht. Das Gericht soll — so versichern die Polen — vor-
trefflich schmecken.
Gern essen die Polen Klöße; es gibt Mehl-, Kartoffel-, Hefen-, Quark-
und mit Fleisch gefüllte Klöße; die beiden letzten Arten sind ganz besonders
eine Nationalspeise der Polen und werden hier pirogi genannt.
Auch Fische ißt der Pole gern, am liebsten den Karpfen in polnischer Sauce.
Die eigentümliche Feier von zwei Festen, die mit der Küche zusammen-
hängt, darf nicht unerwähnt bleiben. Zum Osterfeste wird schon am Sonnabend
der Tisch selbst bei armen Leuten aufs üppigste gedeckt mit dem sogenannten
Weiheessen, swigconka oder swigcone. Die Speisen, nämlich Kuchen, besonders
Napfkuchen, Schinken, Bratwurst, Ostereier, werden vom Priester, der am Sonn-
abend Nachmittag von Haus zu Haus geht, unter Zeremonien geweiht; sie bleiben
unangerührt bis zum folgenden Tage, wo sie erst, wenn die Familie aus der
Kirche zurückgekehrt ist, kalt gegessen werden. Der Vorrat reicht in der Regel
mehrere Tage, der fortwährend gedeckte Tisch ist immer der ganzen Familie und
400 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
den Gästen zugänglich. Natürlich kommen hier häufig Diätfehler vor, da die
Fleischspeisen nach den vorangegangenen, streng gehaltenen siebenwöchentlichen
Fasten vortrefflich munden.
Ein zweites, in ähnlicher Weise gefeiertes Fest ist der heilige Abend (wigilia).
Während der Deutsche seinen Christbaum anzündet und am Genuß von Pfeffer-
kuchen, Nüssen und Äpfeln seine Freude findet, hält der Pole ein stattliches
Mahl, bei dem neun Gerichte nach traditioneller Sitte vorkommen sollen. Weil
der heilige Abend ein Fasttag ist, fehlt das Fleisch; dagegen fehlen, wenn irgend
möglich, nicht Mandel- oder Mohnsuppe, Mohnklöße und Karpfen in brauner,
polnischer Sauce.
Familien- und Ortsnamen. Betrachten wir nun noch kurz einige der
in unsrer Provinz vorkommenden Familiennamen. Natürlich tragen im großen
und ganzen die Namen der Polen ein polnisches, die der Deutschen ein deutsches
Gepräge; aber es haben sich auch einzelne polnische Familien germanisiert und
ihrem Namen ein deutsches Kleid angezogen, wie Grörsze in Gursche verwandelt
ist, häufiger jedoch ist das Umgekehrte der Fall. Versetzen wir uns, um für
einen Teil der veränderten deutscheu Namen ein Verständnis zu gewinnen, in
die Zeit der deutschen Einwanderung. Deutsche Kolonisten kommen in die pol-
nische Gegend; da sie in geringer Zahl erscheinen, können sie sich keine deutsche
Schule einrichten, keinen deutschen Geistlichen halten. Ihre Kinder werden vom
polnischen Propst getauft, die Namen in die Kirchenbücher eingetragen; er schreibt
die Namen, die er hört, Schulz, Schumann, Wiese, Schneider, nach polnischer
Art, nämlich Szulc, Szuman, AVize, Sznayder. So entstanden Namen, die wir
jetzt verwundert ansehen. Oft ist der deutsche Name nicht ohne Willen und
Absicht des Trägers polonisiert worden. Der Deutsche, der nur zu gern für
fremde Eigentümlichkeiten schwärmt und oft in der Ferne das Glück sucht, das
er in der Nähe haben könnte, ist oft absichtlich Pole geworden und schreibt dann
seinen Namen in der oben angegebenen Weise um. Andre Familien begnügen
sich noch nicht mit diesem Umschreiben, sie übersetzen, um zu zeigen, daß sie
Polen geworden sind, ihre Namen und ändern sie gänzlich um. Deutsch sind
ursprünglich gewesen: BiaJkowski (Biberstein), Bydzinski (Warben), Trzcinski
(Rohr), G-ostyriski (Bock), Drzewiecki (Nostitz), Grabowski (Götzendorf), Ro-
gowski (Horn), Bronikowski (Oppen), Brudzewski (Brause), Haza y. Radlic
(Hase von Nadlitz), Stoliiiski (Kalkstein), Groiuchowski (Glnchow), Kossowski
(Goldstein) u. s. w.
Über die Ortsnamen in der Provinz Posen gibt Kattner in den Grenz-
boten (Jahrgang 1876, Heft 21) einen vortrefflichen Überblick, in welchem er sich
für möglichste Verdeutschung der polnischen Namen anfs wärmste ausspricht.
Aus diesem Aufsatze mögen als Schluß dieses Kapitels einige der treffendsten
Sätze angeführt sein, besonders da die einzelnen Hefte der Zeitschrift, in der
die fleißige Arbeit erschienen ist, oft schwer zugänglich sind. Kattner meint,
daß der Deutsche keinen tödlicheren Feind besitze als den Polen; selbst der Fran-
zose sei nicht so grimmig auf den Deutschen zu sprechen als der Pole. Nach
einer Angabe des Dziennik poznanski verlangen ja die Polen von den Deutschen
nichts andres als ihren Haß. Brachte doch der Bielgrzym in Pelplin, Organ
des dortigen Bischofs, ein Gedicht, in dem folgende Stellen vorkommen: „Wer
Familien- und Ortsnamen. 401
die Sprache unsrer Feinde (die deutsche Sprache) redet, der tritt die Gebeine
seiner Väter mit Verachtung, der ist im Geiste ein Sklave und versinkt im
Schlamme der Gemeinheit." „Polen, sei du uns in deinem häuslichen Kreise
eine Abwehr gegen den Feind, stoße ihn mit einem polnischen Worte hinweg
wie den Teufel mit geweihtem Wasser." „Ihr Mütter zukünftiger Mütter,
schreibt in die Seelen eurer Kinder mit feuriger Inschrift, daß derjenige, der
die Feinde (die Deutschen) in sein Haus einführt, sich schändet und sein Volk
verrät und daß er mit jedem fremden Worte den Mord an seinem Vaterlande
vervollständigt." Solche und ähnliche Giftäußerungen sind in Menge bekannt
geworden. Was sollen wir Deutsche diesem tödlichen Hasse gegenüber thuu?
Sollen wir durch Opfer denselben zu versöhnen suchen? Müssen wir nicht
vielmehr eine Versöhnnng für unmöglich halten? Würden Deutschland, Ruß-
land und Österreich noch so großmütig sein, würden six das ganze Jagellonen-
reich wiederherstellen: der Pole würde doch nicht zufrieden sein, sondern stets noch
Glieder von uuserm Leibe zu reißen suchen. Wenn wir also keinen Selbstmord
an uns begehen wollen, so müssen wir den polnischen Bestrebungen, wo wir
nur können, mit Macht und Kraft entgegentreten. Warum sollen wir nun im
deutschen Lande, im rechtmäßig erworbenen deutschen Lande, wie auf Seite 381
dieses Buches nachgewiesen ist, uns abmühen mit schwer, für viele unmöglich
auszusprechenden Ortsnamen? Ist es nicht billig, daß wir die polnischen
Ortsnamen in der Provinz nach deutscher Rechtschreibung schreiben oder sie
durch Beseitigung mancher Konsonanten der deutschen Zunge anpassen oder ins
Deutsche übersetzen oder deutsche Namen statt der bisherigen polnischen ein-
führen? Solche Umänderungen sind denn auch in den letzten Jahren oft unter
Widerspruch der Bevölkerung in Westpreußen und Posen vielfach geschehen.
In Westpreußen hat besonders der deutsche Gutsbesitzerstand seine deutsche
Gesinnung durch die Germanisierung der Ortsnamen bewiesen; in der Provinz
Posen ist durch die Regierung viel für die Umgestaltung der Namen geschehen.
So haben wir jetzt ein Choclschesen (seit neuester Zeit Kolmar), nicht mehr
Chodziez, ein Samotschin und nicht mehr Szamocin, ein Inowrazlaw und nicht
mehr Inowraclaw. ein Kraschwitz und nicht mehr Kruszwice, ein Usch und
nicht mehr Uszcz (Us'c), ein Pakosch und nicht mehr Pakosc, ein Kletzko und
nicht mehr Kiecko, ein Grollantsch und nicht mehr (xolancz, ein Janowitz und
nicht mehr Janowiec, ein "VVongrowitz und nicht mehr Wongrowiec. Leider
soll es sogar vorkommen, daß Deutsche gegen die Germanisierung der Orts-
namen aus trägem Hange am Bestehenden und Querköpfigkeit bei Mangel an
deutschem Nationalgefühl Protest erhoben. So wird erzählt, daß die Stadt-
verordneten von Jnowrazlaw sich gegen die Umwandlung des e in z aus-
gesprochen haben.
Die Umwandlung der Namen ist wirklich notwendig. Wie kann z. B. ein
Deutscher wissen, daß in seinem deutschen Vaterlande der Name des Städtchens
Xions, das in den letzten Jahren so oft genannt worden ist, Kschons ausgesprochen
wird? Wie man für Ostrzeszow den Namen Schildberg gesetzt hat, läßt sich
auch für Xions eine deutsche Bezeichnung sinden. Czerniejewo ist in Schwarzenau
übersetzt, Miasteczko in Friedheim verwandelt worden, Trzemeszno in Tremessen.
Diese letzte Veränderung wurde als prinziplos bezeichnet und geschmacklos ge-
nannt, aber mit Unrecht; denn sie enthält den alten Namen noch so deutlich,
Deutsches L-md und Volk. VIII. 26
402 Land und Leute im Großherzogtum Posen.
daß ihn der Geschichtsforscher leicht wieder erkennen kann, und ist vortrefflich
gelungen nach den alten Vorbildern Krossen, Lefsen, Plessen. Dem Städtchen
Ryczywol wurde durch königl. Kabinettsordre der Name Ritschenwalde beigelegt.
Die Verwandlung in deutsche Namen ist natürlich bei kleineren Ortschaften,
Dörfern, Rittergütern, Vorwerken, Forsthäusern und Eisenbahnstationen bis jetzt
häufiger vorgekommen als bei Städten. So wurde aus Rozano (Oberförsterei)
Rosengrund, aus Kotomierz (Rittergut) Klarheim, aus Marcelewo (Vorwerk)
Fichtenau, aus Mruczyn Friedingen, aus Trzciniec (Dorf) Schönberg.
Gegen das Prinzip der Ortsnamen-Verdeutschung läßt sich durchaus nichts
einwenden; jedoch gibt es Tadler, welche die Art der Verdeutschung mißbilligen
und meinen, es werde der Schein für das Wesen geschaffen. Das ist nun freilich
in gewissem Sinne richtig, denn der Schein ist etwas Äußerliches, wie der Name;
und sowenig ein Tisch zum Besen wird, wenn ich ihn Besen nenne, sowenig wird
ein polnischer Ort zu einem deutschen, wenn er einen deutschen Namen bekommt.
Aber wir müssen bedenken, daß viele Ortschaften der Provinz in Wirklichkeit ganz
deutsche oder zum großen Teile deutsche ihrem Wesen nach sind; wenn also
der polnische Name beseitigt wird, so wird der polnische Schein, den der Ort noch
trägt, entfernt und deshalb ist die Änderung in einen deutschen Namen notwendig.
Auch der Einwand, es werden durch die Germanisierung der Namen ge-
schichtliche Erinnerungen verwischt, ist gehaltlos. Wie viele slawische Namen
von Orten westlich von der Oder sind außer Gebrauch gekommen und ver-
schwunden, und doch kennt der Geschichtsforscher noch die Geschichte jener Orte!
Wer sagt heute noch Bydgoszcz für Bromberg, Wschowa für Fraustadt, Walcz
für Deutsch-Krone? Übrigens sind die neuesten slawischen Ortsnamen für den
Ursprung der Städte völlig bedentnngs- und wertlos, die späteren geschichtlichen
Erinnerungen aus christlicher Zeit sind den Forschern längst bekannt.
Mag immerhin dieser oder jener Name in deutscher Wendung manchem
nicht passend erscheinen (es wird auch hier, wie überall, nie allen recht gemacht
werden können), der Deutsche muß in seinem Lande die Namen seiner Ortschaften
nach seiner Zunge einzurichten sich bemühen, das ist sein Recht, feine Pflicht;
kleine Mißgriffe, die vorkommen können, kommen bei der Wichtigkeit und Be-
dentung des Gegenstandes nicht in Betracht, sie dürfen der Freude des Patrioten,
der deutsche Kultur und deutsches Leben weiter nach Osten Vordringen sieht,
keinen Eintrag thun. Unrecht handelt, wer mit blinder Wut und aus Mitgefühl
für die Polen das Streben, den Städten des Pofener Landes, Westpreußens
und Oberschlesiens deutsche Namen zu geben, zu unterdrücken und demselben
entgegen zu arbeiten sucht.
Das ungefähr sind die Gedanken, die Kattner in dem oben erwähnten Aufsatze
in den Grenzboten ausführt; er sagt, daß er sich durch seine Bemühungen manchen
Feind zugezogen habe, aber er verteidigt seine Ansicht mit Mut uud weicht nicht ab.
Nachdem wir nun die Provinz Posen in ihrer geschichtlichen Entwicklung
in den Hauptzügen kennen gelernt, uns mit der Einrichtung derselben, wie sie
jetzt besteht, bekannt gemacht, auch Land und Leute nach den wichtigsten Rich-
tuugen hin an nnsern Augeu vorübergeführt haben, wenden wir uns den einzelnen
Orten zu und betrachten die wichtigsten derselben nach Lage, Sage und Ge-
schichte. Naturgemäß beginnen wir mit der Hauptstadt des Landes, mit Posen,
einer Stadt, mit der wir uns noch am längsten zu beschäftigen haben werden.
71
Der Dom zu Posen.
StM und Münz JJBffn.
Gründung der Stadt. — Posen im 17. und 18. Jahrhundert. — Posen seit dein
Jahre 1793. — Die Forts. — Wilhelmsstraße und Wilhelmsplatz. — Rathans. —
Schloß. — Regierungsgebäude. — Raezynskische Bibliothek. — Der Dom. — Das
Denkmal des Adam Mickiewiez.
Gründung der Stadt. Posen ist die größte Stadt, die Hauptstadt der
Provinz Posen. Wann diese Stadt, die sich durch die Fürsorge der preußischen
Regierung immer mehr entwickelt und zu bedeutender Blüte entfaltet, gegründet
worden ist, darüber läßt sich keine zuverlässige Auskunft geben. „Die Anfänge
dieser Stadt", sagt Lukaszewicz in seinem historisch-statistischen Bild der Stadt
Posen, „verlieren sich in die Dämmerung der ersten neun Jahrhunderte nach
Christus. Vergebens wäre es, wenn wir bei den Geographen und Historikern
Alt-Griechenlands und Roms eine Erwähnung derselben suchen wollten; denn
das erobernde Schwert der Römer, aufgehalten durch zahllose germanische
Stämme, durch den unermeßlichen Flächenraum zwischen Italien und den Län-
dern, die später Polen genannt wurden, durch undurchdringliche Wälder und
Sümpfe und vor allem durch die Rauheit des Klimas der jetzt deutschen Land-
striche, sowie durch den Mangel an Lebensmitteln zum Unterhalt seiner Legionen
in den Wohnsitzen der Germanen, die vom Ackerbau wenig verstanden, erreichte
niemals die Ufer der Warthe. Nicht geringere Schwierigkeiten hatte anderseits
26*
404 Stadt und Festung Posen.
der Unternehmungsgeist der griechischen Kaufleute zu überwinden, um bis in
diese Gegenden durchzudringen."
Zwar werden von den alten Geographen Völkerstämme genannt, die um
die Weichsel und die Prosna, einen Nebenfluß der Warthe, wohnten; auch Ort-
schaften werden erwähnt, die sich jene Völker angelegt hatten, aber über die
Stadt Posen finden wir keine Nachricht. Ihr Name Poznan gibt uns die Ge-
wißheit, daß ihr Ursprung slawisch ist. Die Sage berichtet über die Gründung
Posens folgende wenig glaubwürdige Geschichte:
In der Mitte des 6. Jahrhunderts nnsrer Zeitrechnung lebten die slawischen
Völker an den Ufern der Weichsel, March und Elbe in großer Besorgnis; denn
sie fürchteten, Belisar, der gewaltige Feldherr des oströmischen Kaisers Jnstinian,
der das große und mächtige Vandalenreich zerstört und den König der Vandalen
Gelimer in Fesseln auf seinem Triumphwagen heimgeführt hatte, werde auch
nach Norden kommen und ihrem Reiche ein Ende machen. Ein andrer Feind,
die raub- und mordsüchtigen Avaren, die vom Kaspischen Meere her in Europa
einfielen und bis an die Donau vordrangen und alle die Völker, welche sie in
den Gegenden fanden, welche sie besetzen wollten, der Vernichtung weihten, ver-
mehrte ihre Furcht. Sie- liebten ihr Vaterland und ihre Freiheit und hatten
doch keinen bedeutenden Anführer. Ein tapferes und in der Arbeit ausdauerndes
Volk waren diese Slawen; sie hatten sich an die leichteste Nahrung gewöhnt,
waren keine Freunde großer und reinlicher Häuser, sie führten in ihren weiten
Wäldern fast ein Nomadenleben und hielten nur in kleinen Stämmen zusammen.
Aber in der Zeit der Not und Bedrängnis fühlten sie, daß sie alle zusammen-
halten und ein einziges Volk bilden müßten unter einem gemeinsamen Ober-
Haupte. Aus ihrer Mitte wollten sie sich keinen Führer wählen. Sie hatten
aber gehört, daß unter ihren Stammverwandten im Süden sich drei Brüder
durch Tapferkeit und Weisheit vor allen Menschen auszeichneten, sie hießen
Lech, Czech und Ruß. Zu ihnen sandten die Slawen mit der Bitte um Führer-
schaft. So wurden diese drei Männer, weil der Ruf von ihrem hervorragenden
Wesen sich weithin verbreitet hatte, Gründer und Führer der drei mächtigsten
slawischen Völker, der Reußen, Czechen oder Böhmen und Lechen oder Polen.
Ruß hatte mit den Seinigen die Gegenden östlich von der Weichsel bis zum
Dnjepr und Don und der Wolga besetzt, Czech zog in die Thäler der March,
Moldau und Elbe, Lech aber überschritt rauhe Gebirge und wilde reißende
Ströme, bis er in die weiten Ebenen hinabstieg, die von der Weichsel durch-
strömt werden. Hier fand er große Sümpfe, ausgedehnte Waldungen, sandigen
Boden, aber auch fruchtbare Auen: da beschloß er zu bleiben und sein Volk
zu einem mächtigen, thatkräftigen Volke zu erheben.
Lange hatten sich die drei Brüder nicht gesehen; jeder hatte sein Volk ge-
führt und regiert, sie wußten kaum noch voneinander. Auf ihren Streifzügen
treffen sich da plötzlich einmal zufällig die drei Brüder unweit der Stelle, wo
die Cybina sich in die Warthe ergießt. Anfangs erkennen sie sich nicht. Be-
troffen stehen sie sich gegenüber. Da plötzlich erkennt jeder seinen Bruder und
wie aus einem Munde rufen sie poznajg, ich erkenne. In diesem Augenblicke
zeigten sich drei Kraniche über ihren Häuptern und zerstreuten sich mit großem
Geschrei nach Osten, Westen und Süden. Zum Andenken an dieses Zusammen-
treffen und Wiedererkennen nannten sie die Stelle Poznanie, und so entstand Posen.
Gründung der Stadt. 405
Das scheint festzustehen, daß die Stadt in den ersten Jahrhunderten ihres
Bestehens nur an den Ufern des Flüßchens Cybina und auf dem rechten Ufer
der Warthe lag und daß der Hauptpunkt der Ansiedelung der Hügel war, aus
dem heute die Kirche des heiligen Johannes von Jerusalem steht; denn dieser
Ort war von den heidnischen Bewohnern Posens zu Brand- und andern Opfern
für die Götter bestimmt.
Die Nachkommen Lechs waren wackere und tapfere Fürsten, wie ihr Ahn-
Herr; der letzte derselben hieß Popiel, nach dessen Tode Piast eine neue
Dynastie gründete. Mieczyslaus I. aus dem Stamme der Piasten nahm im
Jahre 966 das Christentum an und gründete im Jahre 968 das Bistum Posen.
Es ist dies das erste Mal, daß der Name Posen (Poznan, lateinisch Posnaniä)
aus dem Dunkel der Sage an das Licht der historischen Thatsachen hervortritt.
Der Posener Sprengel stand zuerst unter dem Erzbischos von Magdeburg und
umfaßte einige Zeit ganz Polen; auch sah sich Mieczyslaus genötigt, im Jahre
986 den Kaiser Otto I. als Lehnsherrn anzuerkennen.
Mieczyslaus starb 992 und wurde im Dome zu Posen beigesetzt. Ihm
folgte fein tapferer Sohn Boleslans Chrobry, der Begründer polnischer Macht
und Größe, dem es gelang, sich vom deutschen Kaiser unabhängig zu machen.
Als im Jahre 1000 der Kaiser Otto III. nach Posen kam, um von dort
aus barfuß nach Gnefen zu gehen und das Grabmal des heiligen Adalbert zu
besuchen, ließ der freigebige Boleslaus den ganzen Weg bis nach Gnesen mit
verschiedenfarbigem Tuche bedecken, damit sich der Kaiser nicht die Füße verletze.
Otto richtete in Gnesen ein Erzbistum ein, unter dessen Obhut später der
Papst das Posener Bistum stellte.
Auch die Gebeine des Boleslaus, der 1025 starb, wurden in dem Posener
Dome beigesetzt. Wenn nun auch damals schon Posen nicht unbedeutend war,
besonders weil die Fürsten mit ihren Leuten, welche einen Stadtteil, die Schrodka,
bewohnten, sich dort aufhielten, es auch bereits eine urbs, d. h. eine Stadt von
größerer Ausdehnung und Bedeutung, heißt, so beginnt es doch erst in der
Mitte des 13. Jahrhunderts bedeutend zu wachsen; denn im Jahre 1253 ver-
pflanzten die Herzöge Przemyslaus und Boleslaus, zwei Brüder, die Einwohner
der Schrodka auf das linke Wartheufer und legten so einen neuen Stadtteil an;
die Schrodka aber schenkten sie der Posener Kathedrale als Entschädigung für
das Land, auf welchem sie den neuen Stadtteil erbaut hatten, da dasselbe den
Posener Bischöfen gehörte. Mit der Einrichtung der Stadt, der das Magde-
burger Recht verliehen wurde, war ein Deutscher, Namens Thomas, wahr-
scheinlich aus Guben gebürtig, betraut worden. Das Jahr 1253 kann also mit
Recht als das Gründungsjahr der Stadt Posen angesehen werden. Die Urkunde,
welche uns über die damaligen Verhältnisse Auskunft gibt, ist, wie die meisten
Urkunden aus damaliger Zeit, in lateinischer Sprache abgefaßt und uns erhalten.
Die deutsche Übersetzung lautet: „Im Namen unsres Herrn Jesu Christi
Amen. Weil die Gottheit der Erde will, daß nichts verschwinde, sondern dem
Andenken aller aufbehalten bleibe, daher fuchte die Gebrechlichkeit der mensch-
lichen Verhältnisse sich in einem Kunstwerk das Mittel, durch welches die Kraft
des Werkes der Nattzr durch den Willen des Künstlers erfetzt ward. Damit
nun dasjenige, was einst geschah, nicht durch den Wandel der Zeit dem Ge-
dächtnisse entschwinde, pslegt man es durch Schriftzeichen zu verewigen, und
406 Stadt und Festung Posen.
wir thun deshalb den Lebenden und den Nachkommen durch gegenwärtige Schrift zu
wissen, daß wir, Premisl und Boleslaw, leibliche Brüder durch Gottes Barmherzig-
keit, Herzöge von Polen, vermöge unsres eignen Willens und auf den Rat unsrer
Landstände, sowie unter Einwilligung des Hochwürdigen Vaters in Christo, des
Bischofs Boguphal und des ganzen Posenschen Domkapitels, dem ehrenwerten
Thomas und seinen Nachkommen vergönnen, die Stadt, welche Posen allgemein
genannt werden soll, nach deutschem Rechte zu errichten. In derselben bestätigen
wir auf acht Jahre das Recht, daß die Bürger dieser Stadt unter dessen Schutz
in unser Land mit Handelswaren und andern nützlichen Dingen kommen und
es wieder verlassen können, auch auf dem Flusse, der die Warthe genannt wird,
und befreien sie von Zoll und der Geldabgabe und von allen andern Ansprüchen,
mit welchen sie belästigt werden könnten, dergestalt, daß sie nach Ablauf dieses
Zeitraumes den Zoll nach Billigkeit zahlen. Der Fluß aber, welcher die Warthe
genannt wird und bei der genannten Stadt vorübersließt, foll ihnen eine Meile
weit auf- und abwärts mit allen Nutzungen von dem Fischfange und von der
Anlage von Mühlen zu besitzen vergönnt sein, jedoch mit der Ausnahme, daß
wir in diesem Bezirke eine nach nnserm Gefallen anzulegende Mühle uns vor-
behalten wollen." Nachdem darauf in der Urkunde angegeben ist, welche Dörfer
zur Stadt gehören, welche Gerechtsame die Bürger der Stadt und ihr Advokat
(Thomas) haben sollen, heißt es zum Schluß: „Ohngeachtet aller andern Ge-
richte soll bei vorkommendem Zank und Schlägereien und allen Streitigkeiten,
welche zwischen Deutschen und Polen entstehen möchten innerhalb und außerhalb
derselben, so weit ihr Bezirk sich erstreckt, dem vorgedachten Advokaten und
seinen Nachkommen die Befugnis übertragen werden, zu entscheiden und zu ver-
gleichen. (Ein wichtiges Vorrecht wurde also unserm Thomas und seinen Nach-
kommen zugestanden. Es ward ihm das Richteramt über Deutsche und Polen
eingeräumt und sein Gerichtssprengel so weit ausgedehnt, daß selbst die Polen
in einem polnischen Lande von ihm, dem Deutschen, Recht nehmen mußten.)
Damit nun die Kraft dieser Schenkung und Bestätigung sowohl den Lebenden
als den Nachkommen kund werde, haben wir diese Urkunde unter Beidruckung
unsres Jnsiegels zu verstärken für gut befunden (Ilt autem donacionis et con-
firmacionis nostre vigor tarn presentibus quam futuris innotescat, presentem
paginam sigilloruin nostrorum impressionibus clignani duximus roborandam)."
Seit dieser Zeit, seit 1253, bestand Posen gleichsam aus zwei besondern
Städten, von denen die auf dem linken Ufer der Warthe gelegene Stadt unter
dem Fürsten, die auf dem rechten Ufer gelegene unter dem Bischöfe stand. Beide
waren durch eine Strecke Landes voneinander getrennt, auf welcher heute die
Walischei (chwaliszewo) steht; beide erweiterten ihren Umfang im Verlaufe der
Zeit dergestalt, daß sie sich einander näherten und allmählich zu einer und der-
selben Stadt verwuchsen.
Im 16. Jahrhundert schon fand die Reformation in Posen, obgleich es
Hauptsitz der Geistlichkeit war, Eingang. Im Jahre 1522 bekannten sich zwei
Prediger zur Lehre Luthers, ein dritter war verdächtigt, daß er den Ansichten
Luthers huldige. Protestantische Flüchtlinge aus Böhmen kamen nach Posen,
fanden zwar daselbst keine Aufnahme, ließen aber heimliche Anhänger der neuen
Lehre daselbst zurück, die im Jahre 1555 offen auftraten und sich bald Kirche,
Schule und Spital gründeten. Die lutherische Lehre griff immer weiter um
Gründung der Stadt.
407
sich, fand von Jahr zu Jahr mehr Anhänger, so daß der päpstliche Nuntius
die Geistlichkeit zur Wachsamkeit gegen die Ketzerei aufforderte. Um das Luther-
tum zu bekämpfen, kamen die Jesuiten nach Posen. Im Jahre 1570 predigten
daselbst die beiden ersten Jünger des Ordens des heil. Loyala, 1573 eröffnete
derOrden seinKolle- ___
gium in der Stadt
unter großen Feier-
lichkeiten. Bald wa-
ren die Jesuiten der
Mittelpunkt des in-
neren Lebens; sie er-
hielten von der Stadt
im Jahre 1580 ein
neues Schulgebäude,
legten eine Biblio-
thek, Sternwarte,
Apotheke und Drucke-
rei an und dachten
daran, ihr Kollegium
zur Universität zu er-
heben. In der That
erhielten sie 1611
vom Könige Univer-
sitätsrechte für die
philosophische und
theologische Fakultät.
Daß Posen nicht zur
vollen Universität
unter Leitung der Je-
suiten wurde, schei-
terte an der Eifer-
sucht der alten Hoch-
schule zu Krakau. Die
Jünger Loyolas be-
seelten ihre Schüler
von dem bittersten
Haß gegen Anders-
gläubige, gegen Pro-
testanten und Juden.
Diese Schüler, deren
Sinn mit Gehässig- Standbilder der Könige Mieczislaw und Boleslaw in der „Goldenen Kapelle"
keit getränkt war, ver-
ursachten denn auch oft Unruhen, griffen Kirche und Schule der Protestanten an und
zertrümmerten sie und behaupteten, Ketzer hätten überhaupt nicht das Recht, in
der Stadt zu leben, es müsse nur ein Glaube sein; wer sich nicht zur römischen
Kirche bekannte, war Mißhandlungen ausgesetzt. Nach und nach verließen die
Protestanten die Stadt, suchten sich eine neue Heimatsstätte, viele gingen nach
408 Stadt und Festung Posen.
Lissa. Als die Ketzer der Unduldsamkeit gewichen waren, begann die Hetze gegen
die Juden, deren damals in Posen 2300 lebten. Der König verwendete sich
für die Verfolgten vergeblich bei der Stadtobrigkeit. Als Heuschrecken, giftiges
Ungeziefer und schmutziges Gewürm, als Ursache der Pesten nnd häufigen Brände
in der Stadt wurden die Juden dargestellt. Kein Jude durste sich mit dem
Gefühl der Sicherheit auf den Straßen sehen lassen; nicht selten wurden sie
geschlagen, ihre Kramläden und Häuser beraubt, ihre Synagoge verwüstet, und
oft waren die Jesuitenschüler die Anstifter der Unruhen; aller Unfug aber ging
straflos aus. Trotz der Verfolgungen blieben die Juden in Posen; sie suchteu
Schutz beim Könige, der ihnen denselben versprach, aber in der Stadt wurde
dem königlichen Befehle wenig Folge gegeben. Die Juden blieben nicht nur
in Posen, sondern sie breiteten sich immer mehr aus.
Den Übermut der Jesuiten und ihrer Schüler hatten nicht nur Ketzer und
Juden, sondern auch die katholischen Bürger zu fühlen. Schlägereien, ja sogar
blutige Raufereien zwischen Bürgern und Schülern waren nicht selten, selbst
dem Bürgermeister wurde eine Tracht Prügel angedroht, wenn er nicht so Recht
sprechen wolle, wie die Schüler es wünschten. Die Stadtobrigkeit war ein*
geschüchtert, der Jesuitendirektor heischte. Die geistlichen Anstalten, zuerst
Spitäler, dann Klöster, nahmen zu. sie wuchsen wie Pilze aus der Erde. Bei
diesen Zuständen ging natürlich das Deutschtum in Posen schnell zurück: die
Polonisierung nahm überhand, die deutsche Sprache geriet in Abnahme. Im
Jahre 1543 wurden die Akten des städtischen Kriminalamtes zum erstenmal
in polnischer Sprache geführt; bis dahin hatte man sich der lateinischen und
deutschen Sprache bedient.
Posen im 17. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert kam Posen nicht
viel vorwärts. Zwar werden in demselben nur zwölf Pestjahre verzeichnet, und
es wird berichtet, daß die Krankheit nur selten mehrere Tausende von Menschen
hinraffte; zwar trat die Warthe, wenn auch gleich häufig, wie im 16. Jahr-
hundert, doch nicht gleich verderblich, über ihre Ufer; zwar werden nur fünf
große Feuersbrünste erwähnt, die nicht so mächtige Verheerungen wie in früheren
Zeiten anrichteten: aber Unfälle andrer Art ließen Posen nicht in die Höhe
kommen. Es fehlte der Stadt an der rechten Bürgerkraft; sie wurde vom Adel
beherrscht. Die Adligen kamen zu bestimmten Zeiten des Jahres, besonders zur
Zeit des Karnevals, um Michaelis und Johannis, nach Posen und ließen daselbst
viel Geld darauf gehen. Dieser Verkehr zwischen Stadt und Land hätte Posen
heben müssen, wenn nicht die Adligen sich oft Ungebührlichkeiten hätten zu
schulden kommen lassen, die meist ungestraft hingingen.
Da versammelt ein Edelmann seine Mannen um sich und haut mit ihnen
ohne weiteres auf die ruhigen Bürger ein, nur um seinen Übermut zu befrie-
digen. Da nahen der Stadt von einem Edelmanns geführte Scharen und schreiben
Geldzahlungen aus. Da dringen Edelleute bewaffnet in den Rathaussaal, jagen
den Rat auseinander und schießen auf die sich ansammelnden Bürger. Da
stürzen sich die Leute eines Edelmannes am hellen Tage in das Haus eines
Schneiders, bringen ihm eine tödliche Wunde bei und schlagen seine Frau uud
seine Gesinde zu Krüppeln. Da treiben die Jesuitenschüler ungestraft ihr über-
mütigesWefen weiter fort. So z.B. dringen im Jahre 1639 ungefähr zwanzig
Schüler in das Haus eines Bürgers, schleppen den Mann auf die Straße hinaus
Posen im 17. Jahrhundert. 409
und schlagen ihn, während mehrere hundert Menschen ruhig zusehen, in einer
Entfernung von nicht mehr als 100 Schritten vom Jesuiteukollegium, der
Wohnung ihres Rektors und ihrer Lehrer, unbarmherzig mit Stöcken und
werfen ihn in den Rinnstein. Kein Mensch wagt es, dieser Grausamkeit und
zügellosen Keckheit der Schulbuben Einhalt zu thuu. Veranlassung aber zu
diesem barbarischen Verfahren der Schüler war der Umstand, daß jener miß-
handelte Bürger einen ihrer Mitschüler, der zwei Jahre bei ihm gespeist hatte nnd
1 V2 Jahr das Kostgeld schuldig geblieben war, aus seinem Hause entfernt hatte.
Unheilvoll war es für Posen, daß im Jahre 1655 die Schweden in die
Stadt einzogen. Der König Johann Kasimir von Polen hatte nämlich nach
dem im Jahre 1654 erfolgten Tode der Königin Christine von Schweden, der
Tochter Gustav Adolfs, Ansprüche auf den schwedischen Thron erhoben als
zweiter Sohn des Königs Siegmund aus dem Hause Wasa. Christine hatte
aber bei ihren Lebzeiten zu ihrem Nachfolger ihren Vetter KarlX. Gustav von
Pfalz-Zweibrücken, den Sohn der Katharina, der Schwester Gustav Adolfs,
bestimmt, und dieser war auch von den schwedischen Ständen zum Könige ge-
wählt worden. Johann Kasimir wollte wenigstens Livland von Schweden an
Polen abgetreten wissen; aber der kriegerische Schwedenkönig Karl dachte daran,
die Grenzen seines Reiches auf Kosten Polens zu erweitern. Ein schwedisches
Heer durchzog alsbald Pommern und die Neumark und fiel in Polen ein, das
fast gar nicht verteidigt wurde. Im Juli 1655 war er vor Posen und zog
in die Stadt, die sich nicht schützen konnte, ein. Kanm aber war das schwedische
Heer eingerückt, als es sich sofort unerhörte Plünderungen, Unbilden und Ge-
waltthätigkeiten erlaubte und niemand verschonte. Die Schilderungen, welche
Männer geben, welche die Schwedenwirtschaft in Posen mitgemacht haben,
müssen jeden fühlenden Menschen mit Grausen und Entsetzen erfüllen. Ihre
Bosheit ließen die Schweden besonders an weltlichen nnd Ordensgeistlichen aus;
die Jesuiten und Bernhardiner, von denen sie einen erschlugen, jagten sie aus
der Stadt, der Weihbischof von Posen wurde in der Vorhalle der Kathedrale
von drei schwedischen Kugeln durchbohrt; die an zwei Kirchen angestellten
Priester wurden auf dem Schlosse eingesperrt und hatten im Gefängnis ent-
setzlich zu leiden, Raub und Mord fand auf allen Wegen statt. Den außerhalb
der Stadt lagernden Truppen mußten die Bürger täglich 15 Ochsen, 100 Schafe,
3000 Laibe Brot, deren jeder 8 Pfund wiegen mußte, und 130 Tonnen Bier
liefern. Schon in der zweiten Nacht fingen die Schweden an die Läden zu
plündern, ganze Fässer Wein aus den Kellern auf den Markt zu schleppen und
um diese gelagert zu zechen und sich wie Tiere aus dem Boden herumzuwälzen.
Einige Tage nach der Besitzergreifung der Stadt verlangten die Schweden die
Herausgabe aller Urkunden; und als sich die Ratsherrn weigerten, der unbilligen
Forderung Folge zu leisten, wurden sie ins Gefängnis gesteckt und der Bürger-
meister auf allen seinen Wegen bewacht. Dann richteten die Feinde eine eigne
Verwaltung ein, so daß die polnischen Beamten nichts mehr zu sagen hatten.
Die Kirchen wurden geplündert, ihrer Schätze beraubt, und wenn die Schweden
nicht Kostbarkeiten genug fanden, bekamen die Priester Prügel mit der An-
Weisung, die fortgeschleppten Schätze hervorzuholen. Nur die Pfarrkirche über-
ließen sie den Katholiken zum Gottesdienst, die Schlüssel zu den übrigen Kirchen
nahmen sie sort. Die Vorstädte wurden in Brand gesteckt und dort, wo Häuser
410 Stadt und Festung Posen.
gestanden hatten, Schanzen aufgeschlagen. Posen behielt schwedische Truppen,
auch als die Hauptmasse der Schweden weiterzog, Warschau und Krakau nahm,
das polnische Heer entwaffnete und den König Johann Kasimir zwang, nach
Schlesien zu fliehen. Karl X. Gustav von Schweden hatte keinen Bundes-
genossen; der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg hatte das
ihm angebotene Bündnis abgelehnt, ja er sah sich sogar, als die Schweden es
in seinem Nachbarlande zu arg trieben, genötigt, mit 8000 Mann Branden-
burgern nach Prenßen zu gehen, um dieses Land zu schützen. Da aber verließ
der Schwede Krakau, eilte nach Preußen, überrumpelte die Brandenburger und
zwang den Kurfürsten, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Johann Kasimir
hatte inzwischen Zeit gewonnen, Warschau zurückzuerobern und die Schweden
aus einem großen Teile seines Landes zu vertreiben. Nun rückten die ver-
einigten Schweden und Brandenburger gegen die Polen vor und schlugen sie
in einer dreitägigen Schlacht bei Warschau. In diesem Feldznge kamen auch
die Brandenburger unter dem General Derfflinger nach Posen, und von ihnen
erzählen die Chronisten, daß sie noch ärger hausten als die Schweden; denn
während ihres kurzen Aufenthaltes in der Stadt zerstörten und verbrannten
sie 14 Kirchen und 5 Klöster. Das Elend, welches die Posener durch die
Brandenburger und Schweden zu erleiden hatten, führte die Polen zu dem
Entschluß, mit einem Heere die Stadt zu belagern und zu befreien. In Posen
lagen 1657 noch 2000 Brandenburger. Von den Polen wurde die Stadt be-
schössen, und Scharmützel fanden vor den Mauern statt; die Belagerer errangen
bald nicht unbedeutende Vorteile, die Belagerten aber verloren in den kleinen
Kämpfen viele Mannschaften, Krankheiten nisteten sich bei ihnen ein und eine
Hungersnot stand bevor. Deshalb entschloß sich die Besatzung zu folgender
Kapitulation der Stadt: „Die Besatzung des Kurfürsten von Brandenburg
verläßt die Stadt. Alle Kircheugeräte, alle Bücher, in denen öffentliche Ver-
Handlungen enthalten sind, ferner die Kirchenbücher, Archive, deponierten Gelder
des Adels, die Waren der Kaufleute und das Vermögen der Einwohner sollen
im allgemeinen wie im besonderen unangetastet bleiben. Die gemachten Schulden
bezahlt die Besatzung bar. Meldet sich ein Einwohner beim Kommandeur
wegen eines ihm zugefügten Schadens vor dem Abzug der Garnison aus der
Stadt, so ist derselbe verpflichtet, Schadenersatz zu gewähren. Reklamationen,
welche nach dem Ausmarsch der Garnison bei demselben erhoben werden, haben
keine Gültigkeit. Die Besatzung zieht bewaffnet, mit wehenden Fahnen und
brennenden Lunten ab und begibt sich nach Driesen in der Mark, nachdem ihr
eine Abteilung polnischer Truppen zugewiesen worden ist, die sie bis an die
Grenze begleitet. Ferner soll es der Posener Besatzung gestattet sein, sich mit
den in Kurnik stehenden brandenburgischen Truppen zu vereinigen. Die Be-
satzuug nimmt die ihr gehörigen Geschütze mit, die schwedische aber überläßt sie
der Stadt. Den Frauen der schwedischen Beamten und Soldaten steht es frei,
gleichzeitig mit der Garnison auszurücken." Ein polnischer Geschichtschreiber
berichtet zu diesem Auszuge der Truppen, der alsbald erfolgte: „Auf diese
Weise wurde die Stadt von fremden Truppen befreit, fand sich selbst wieder
und sah sich, als sie nach zweijährigem Schlafe wieder erwachte, ihres Schmuckes,
ihrer Bewohner und ihrer Waren beraubt; sie glich denjenigen, welche aus der
Lethargie erwachen und wieder zur Besinnung kommen." Nach dem Abzüge
Posen im 18. Jahrhundert. 411
der Brandenburger kehrte der Bischof nach Posen zurück und weihte die durch
die Schweden entheiligte Kathedrale wieder ein. Die Stadt aber war lange
Zeit ein öder und ungesunder Ort, denn sie war entvölkert und mit Unrat
aller Art angefüllt.
Posen im 18. Jahrhundert. Wenn schon das 17. Jahrhundert den
Posener Bürgern manches trübe Jahr brachte, im 18. sollte es ihnen nicht besser
ergehen. Polen war ein Wahlreich geworden, und August von Sachsen im Jahre
1698 auf den polnischen Thron erhoben. Dieser König zog sächsische Truppen in
das polnische Reich und suchte im Jahre 1700 sein Land durch einen Feldzug
gegen Schweden zu vergrößern. In Schweden war nämlich 1697 Karl XII. in
einem Alter von 15 Jahren auf den Thron gekommen. Nach dem Testamente
seines Vaters hätte Karl noch zwei Jahre unter der Vormundschaft seiner Groß-
mutter und fünf königlicher Räte stehen müssen; aber „wegen seines hohen Ver-
standes und seiner königlichen Talente und Tugenden, die sein Alter weit über-
trafen", wurde der jugendliche Prinz vom Reichstage für mündig und zum
Regenten proklamiert. Er trat die Regierung an ohne Bildung und Kenntnis des
hohen Regentenberufes als ein Wildsang mit dem tollkühnen Mute eiues Wage-
Halses, dem außer der wilden Bärenjagd und andern halsbrecherischen Ver-
gnüguugen nur das Exerzieren seiner Soldaten Freude machte. Als aber,
während sich der König, durch seine Vergnügungen in Anspruch genommen,
wenig um Regierungsgeschäfte kümmerte, im Jahre 1700 August von Polen
mit seinen Sachsen in Livland einfiel, Friedrich IV. von Dänemark den Herzog
von Holstein angriff und Peter von Rußland sich mit diesen Feinden gegen
Schweden vereinigte, änderte sich Karl plötzlich; er vergaß seine wilden Spiele,
lebte wie ein alter, in Strapazen grau gewordener Krieger und begann den
Kampf, der ihm bis zum Jahre 1709 unendlich viel Ruhm einbrachte, schließlich
aber sein Reich unglücklich machte. Schnell wurde Dänemark entwaffnet, dann
Peter von Rußland geschlagen und August von Polen zum Frieden gezwungen.
Ja, um seinen Einfluß auf Polen möglichst weit auszudehnen, entzweite er die
polnische Nation, ließ von einem Teil derselben auf dem durch ihn zusammen-
berufenen Reichstage zu Warschau den König August absetzen und den Woiwoden
von Posen, Stanislaus Leszczynski, zum Könige wählen, einen Mann, der ohne
Verbindungen mit auswärtigen Mächten, ohne Ansehen im Vaterlande, nur von
der Laune der Schweden abhing, den als ohnmächtigen König nur die Macht
Karls auf dem Throne erhalten konnte. Zwar wurde von der Gegenpartei der
Beschluß des Reichstages zu Warschau für einen Hochverrat erklärt. Leszczynski
nicht als König anerkannt; aber Karl setzte es durch, daß sein Schützling 1705
in Warschau gekrönt wurde und August nach Sachsen fliehen mußte. Erst 1709,
als sich das Glück Karls gewendet hatte, kehrte August nach Polen zurück;
Leszczynski floh und lebte mehrere Jahre in Weißenburg im Elsaß, von wo
aus er seine Tochter mit Ludwig XV. von Frankreich vermählte.
Während der Dauer dieses Krieges hatte Posen wieder viel von den
Schweden zu leiden. Im Jahre 1703 hatten die Schweden schon begonnen,
die Stadt zu überrumpeln, als die Posener als Zeichen der Übergabe eine weiße
Fahne aufpflanzten. Nichtsdestoweniger erstiegen die Feinde vermittelst an-
gelegter Leitern die Mauern und öffneten die Thore von innen. Der Markt
wurde besetzt, der Magistrat aber, weil er den Schweden nicht entgegengezogen
412 Stadt und Festung Posen.
war, auf einige Zeit im Rathause eingesperrt und die Siadt mußte hohe Zah-
lungen an die Schweden leisten; so im Jahre 1703: 145 376 Gulden, 1704:
211432 Gulden, und so ging es fort bis zum Jahre 1709. Der schwedische
Oberst Liliehök, der die Stadt befestigte, ließ die Vorstädte zerstören und er-
weiterte die Festungswerke, um Posen besser verteidigen zu können. Viele
Bürger verließen ihre Heimat und zogen nach schleichen Städten. Aber Posen
konnte nicht ruhig im Besitz der Schweden bleiben. Polen, Russen und Sachsen
suchten die starke Festung, in der 6000 Schweden lagen, wieder zu gewinnen.
In den letzten Tagen des September 1704 begann ein 34 000 Mann starkes
Heer unter dem General Brandt und dem Russen Patkul die Festung einzu-
schließen und zu beschießen. In der Mitte des Oktober gelang es den Be-
lagerern, in die erste Mauer Bresche zu schießen, aber über Nacht füllten die
Schweden die entstandenen Lücken mit Flechtwerk und Erde wieder aus. Nach
wenigen Tagen gewannen die Belagerer neue Vorteile und schössen Lücken in
die Mauern; die Not der Schweden in der Stadt war entsetzlich, die Lebens-
mittel waren so knapp, daß 300 Pferde geschlachtet werden mußten, weil es
an Futter fehlte; die Deutschen in der Stadt waren bewaffnet worden, um an
der Verteidigung teilzunehmen: da plötzlich ziehen die Belagerer ab, da Karl XII.
mit einem starken Heere den Seinigen zu Hilfe kam.
Während der Belagerung waren 9715 eiserne Kugeln von 14—27 Pfund
Schwere in die Stadt geworfen worden. Karl hielt sich einige Tage in Posen
auf; auch im September 1707 verweilte er daselbst. Leszczynski hatte einen
nur unbedeutenden Anhang; Verschwörungen wurden gegen ihn gemacht, so
eine im Jahre 1706, deren Seele ein Franzose war, der sich ins schwedische
Heer eingeschlichen hatte, um den König zu ermorden; er wurde mit seinen
Genossen geköpft und aufs Rad geflochten. Im August 1709, nach der für
Karl XII. unglücklichen Schlacht bei Pnltawa, verließen die Schweden Posen, das
teils durch den Krieg, teils durch eine furchtbar wütende Pest völlig verödet war.
Aber auch jetzt follte Posen noch keine Ruhe haben; denn nun begannen
die inneren Kämpfe, da der polnische Adel die sächsischen Regimenter, die August
im Lande zu halten gedachte, aus dem Lande treiben wollte. So zogen Polen
im Jahre 1716 in die Stadt ein und hieben von der sächsischen Besatzung
100 Mann und mehrere Bürger nieder, plünderten und brandschatzten die Stadt,
fielen über die Juden her, zerstörten die protestantische Kirche und ließen die
Befestigungen von den Bürgern zerstören, um Posen zu einem offenen Orte zu
machen; was sie an Waffen und Kriegsgerät fanden, schleppten sie fort.
Zwei Jahre später ist in Posen wieder eine sächsische Besatzung, die auch
die Bürger bedrückte.
Durch die zahlreichen Kriege, die Streitigkeiten und Hetzereien der Geistlich-
keit und der Polen war Posen so herabgekommen, daß es 1732 ein Städtchen
von nur 3—4000 Einwohnern war, während es 1567 gegen 30 000 Ein-
wohner gezählt haben soll.
Im Jahre 1753 wurde das Fest des 500jährigen Besitzes des Magde-
burger Stadtrechtes gefeiert.
Wieder kamen schwere Tage für Posen mit der Zeit des russisch-preußischen
Krieges. Die Russen richteten sich in Posen ein und wählten es zu einem
Platze für die Aufspeicherung ihrer Vorräte. Im Jahre 1758 kamen 8000
Posen seit dem Jahre 1793. 413
Russen auf ihrem Durchmarsche nach Posen, 1759 rückten die Preußen in die
Stadt ein, nahmen die russischen Magazine fort und zerstörten, was sie nicht
mitnehmen konnten. Kaum waren sie abgezogen, als der russische Marschall
Fermor mit seinen Heerhaufen ankam. Auch in den folgenden Jahren bis 1763
standen abwechselnd bald Preußen, bald Russen in Posen, das nicht zur Ruhe
kommen sollte. Als dann endlich Friede wurde, gab der Rat den Meistbietenden
die leerstehenden Häuser und wüsten Bauplätze unter der Bedingung, daß sie
dieselben binnen drei Jahren herstellten oder bebauten. Das Gerichtsgebäude
war in einem solchen Zustande, daß man sich im Winter nicht zu heizen getraute
uud die Schreiber öfter das Tintenfaß unter dem Arme halten mußten, um
dasselbe warm und somit die Tinte flüssig zu erhalten. Im Jahre 1779 gab
es etwa 350 Häuser in Posen. Um diese Zeit begann die Kommission der
guten Ordnung, die es sich zur Aufgabe machte, die Stadt wieder in Blüte zu
bringen, ihre Thätigkeit. Ihr war es zu verdanken, daß Posen im Verlaufe
von zehn Jahren sich wieder aus den Trümmern erhob, der Handel von neuem
anfing zu blühen, die Bevölkerung sich verdoppelte und die Schulden zum Teil
getilgt wurden. Im Jahre 1787 hatte Posen schon wieder 1211 Gebäude.
Als 1773 der Jesuitenorden aufgehoben wurde, konnte das Jesuitengymnasium
nur noch bis 1730 fortbestehen. In diesem Jahre wurde es gleichzeitig mit
dem alten vom Bischof Lnbranski 1519 gestifteten Kollegium aufgehoben und
für beide Anstalten eine Woiwodschaftsschule im Mariengymnasium und ein
geistliches Seminar eingerichtet; aber das Gymnasium wurde mehr von jungen
Adligen aus der Umgegend als von Bürgersöhnen besucht. Der Unterricht
geriet in völlige Verwahrlosung; die Sternwarte der Jesuiten war versallen
und mußte 1735 eingerissen werden, die Bücherei wurde zum Teil zerstreut,
die Werkzeuge zur Beobachtung des Himmels gingen an die Krakauer Universität
über, auch die Naturaliensammlung und die physikalischen Instrumente waren
beiseite gebracht.
Posen seit dem Äahre 1793. Infolge der zweiten Teilung Polens nahm
Preußen von einem großen Teile Polens im Jahre 1793 Besitz und bildete
aus demselben die Provinzen Süd- und Südostpreußen. In die Stadt Posen,
die zu Südpreußen gehörte, rückten die Preußen am 12. Febrnar 1793 ein
und am 7. Mai ließen sie sich huldigen. Posen war damals von 12 533 Ein-
wohnern bewohnt, von denen 7437 Katholiken, 3021 Juden, 1913 Lutheraner,
115 Calvinisten, 47 Griechischgläubige waren. Die preußische Regierung nahm
sich der Stadt als der ersten des Landes mit besonderer Fürsorge an. Be-
Hörden, wie die Kriegs- und Domänenkammer oder Regierung, die Steuer-
direktion und das Oberlandesgericht, auch ein Regiment Fußvolk wurden in
sie gelegt; die Überreste der Befestigungen wurden geschleift. Hertzberg schreibt
in seinem Buche „Südpreußen und Neu-Ostpreußen" im Jahre 1798: „Seit
der preußischen Besitznehmung hat sich diese Stadt (Posen) durch viele schöne,
große Anlagen und neue Gebäude so sehr zu ihrem Vorteil verändert, daß
Reisende, die vormals hier gewesen sind, sie jetzt kaum mehr kennen." Die
Wilhelmstraße wurde nach dem Muster der Linden in Berlin angelegt; sie
endigte mit dem Paradeplatz; ein andrer Neubau, die Friedrichstraße, durchschnitt
414 Stadt Md Festung Posen.
sie. Beleuchtung der Stadt am Abende führten die Preußen ein, für die Nacht
hielt die Stadt zwölf Wächter.
Über Posener Verhältnisse aus dem Jahre 1793 gibt uns ein deutliches
Bild ein Brief des in der deutschen Litteratnrgeschichte bekannten Günther von
Göcking, des Freundes mehrerer Mitglieder des Hainbundes, der an seinen
Freund Gleim unter dem 11. Juni 1793 von Berlin aus schreibt, nachdem er
eben von Posen zurückgekehrt ist (mitgeteilt in den Posener Provinzialblättern
1880, Nr. 37): „Seit acht Tagen, liebster Gleim, bin ich wieder hier. Von Süd-
prenßen habe ich wenig gesehen, bloß den Strich von Meseritz nach Posen.
Der Boden ist fruchtbar, das Land über mein Erwarten angebaut, die Wälder
-aber, deren ich selbst nach den neuesten Karten viel zu finden gedachte, sind nur
noch wenige. Der Adel hat sie größtenteils ausgerottet und zum größten Teile
deutsche Kolonisten darauf gefetzt. Dies hat den Holzpreis sehr gesteigert.
Man hat zwar hin und wieder sehr guten Torf gefunden, aber niemand gräbt
ihn. Hausmiete und Feuerung kommen in Posen fast eben so hoch zu stehen als
in Berlin, ja die erstere fast noch höher. Dagegen sind die ersten Lebensbedürf-
nifse wohlfeil, und eine Familie, die eine eingerichtete Wirtschast hat und auf
Delikatessen Verzicht thut, kann dort recht gut fertig werden. Seidene und
lederne Waren ausgenommen, sind alle übrigen teurer als hier. Die Hand-
werker arbeiten schlecht. Alle guten Möbel läßt man aus den schleichen
Herrnhuterkolonien kommen. Die beste Arbeit aller Art machen noch die
Juden, die alle Handwerke ohne Ausnahme treiben uud in manchen Städten
eigne Zünfte haben. Überhaupt ist bei dieser Volksklasse, wenn man den Teil
des Adels ausnimmt, der Reisen ins Ausland gemacht hat, die meiste Kultur.
Ihre Anzahl wird sich in Südpreußen auf nahe an 150000 Seelen erstrecken.
Bürger und Bauer sind mit der preußischen Besitzergreifung sehr zufrieden,
und in der That gewinnen sie auch viel dadurch. Es ist unglaublich, was sich
der begüterte Adel gegen die übrigen Stände bisher erlaubt hat. Der Adel
scheint sich gutwillig in sein Schicksal zu ergeben. Die, welche den roten Adler-
orden erhalten hatten, brüsteten sich nicht wenig damit, und um die Landrats-
stellen bewerben sich eine unglaubliche Menge Kandidaten. Im ganzen ist die
Nation um ein volles Jahrhundert gegen die Einwohner der alten Provinzen
zurück. Es wird viele Mühe und Geduld kosten, sie gesitteter und reinlicher
zu machen. In ganz Posen, so bedeutend die Stadt auch ist, gibt es kein Wirts-
Haus, worin ein rechtlicher Mensch abtreten könnte; und logiert man auch im
besten Privathaus, so bekommt man dennoch weder Handtuch noch Waschbecken
und am wenigsten ein Bett. Drei Nächte mußte ich auf einem Gartensofa liegen,
ehe meine neuen Matratzen fertig wurden. Der Adel macht großen Aufwand
in Equipageu und Livreen; diese waren ebenso modern und glänzend als in
Berlin. Alle Damen schminken sich, sie mögen es nötig haben oder nicht; sie
tragen sich sehr bloß, und nach ihren Nationalbegriffen von Schicklichkeit läuft
es gar nicht wider den Anstand, sich von Bekannten auf den Bufen küssen zu
lassen. Dagegen wird sich nicht leicht eine zu einem Kusse auf den Muud ent-
schließen. Sie sprechen fast alle französisch, die Männer auch deutsch. Sie sind
offen und höflich, aber nicht so liebenswürdig als nnsre Landsmänninnen."
Am Ablaufe des 18. Jahrhunderts bestand Posen aus 1309 Wohnhäusern,
16 öffentlichen Gebäuden außer den 29 Kirchen, dem Domkapitel, den drei
Posen seit dem Jahre 1793. 415
Kollegienstiftern, neun Klöstern. Zur Stadt gehörten 18 Mühlen, deren
Kämmerei-Einnahme wie -Ausgabe 13—14 000 Thaler betrug; die Stadt war
mit 51500 Thaleru verschuldet. Bewohner gab es 15 253. In den Klöstern
lebten 258 Mönche und 118 Nonnen. Seit dem Herbst 1794 erschien in Posen
eine deutsche Zeitung unter dem Titel der Südpreußischen. Um das Schulwesen
zu heben, berief die Regierung bessere, deutsche Lehrer an das Gymnasium und
eröffnete die neue Lehranstalt feierlich zu Ostern 1804; auch ein katholisches
Schullehrerseminar wurde eingerichtet.
Die preußischen Bemühungen um die Hebung der Stadt wurden durch
den Krieg unterbrochen. Nur 13 Jahre hatte die preußische Herrschaft gedauert.
Nach der für Preußen so unglücklichen Schlacht bei Jena rückte der Marschall
Davonst mit der französischen Avantgarde im Anfange des November 1806 in
Posen ein. Alsbald wurden die beiden der preußischen Regierung anhänglichen
Bürgermeister vor dem Rathause von den Franzosen standrechtlich erschossen.
Am 27. November desselben Jahres erschien Napoleon selbst in Posen und
wurde von den polnischen Großen mit Jubel empfangen. Durch den Tilsiter
Frieden wurde 1807 aus dem bisherigen Südpreußen, einem Teile Westprenßens
und dem Netzedistrikt das Herzogtum Warschau gemacht und unter den König
von Sachsen, Friedrich August, gestellt. Die deutschen Beamten wurden eut-
lassen und alles nach französischem Muster eingerichtet; nicht einmal der Wilhelm-
straße ließ man ihren Namen, sie hieß fortan Napoleonsstraße. Die neue Ver-
fafsuug brachte der Stadt keinen Segen, ihre Schulden stiegen. Die Zeit des
Warschauer Herzogtums war trübselig und kurz.
Am 14. Februar 1813 ritten Kosaken in Posen ein. Im Jahre 1815
gelangte die Stadt Posen als Hauptstadt des Großherzogtums Posen wieder
an Preußen; die Stadt hatte damals 18 211 Einwohner. Dort residierte bis
zu seinem Umzüge nach Berlin der mit dem königlich preußischen Regentenhause
. '.'rwaudte Fürst Anton von Radziwill als königlicher Statthalter; an der Spitze
0 r Verwaltung steht seit 1815 ein Oberpräsident.
'm 4. Januar 1832 wurde in Posen die Städteordnung vom 17. März
1 geführt; es wurden nach derselben 24 Stadtverordnete auf drei Jahre
ger von denen jährlich acht ausschieden und durch Neuwahlen ersetzt wurden;
die verordneten wählten die höheren Magistratsbeamten auf zwölf Jahre,
un ^durften der Bestätigung der Regierung. Im Jahre 1833 wurde
die ...?rwaltung von der Kommunalverwaltung getrennt.
-Äie nruhen des Jahres 1830 im russischen Polen übten ihren Einfluß
auch auf Posen; denn mancher junge Mann verließ Posen und ging über die
Grenze. Die preußische Regierung befürchtete ernstlichen Aufruhr und gab
deshalb dem Generalfeldmarschall v. Gneisenau, der am 24. August 1831
zu Posen an der Cholera starb, den Oberbefehl über die vier östlichen Armee-
korps, während die Stelle des Oberpräsidenten im Dezember 1830 E. H. Flottwell
ehielt, der dieses Amt bis zum Januar 1841 verwaltete. Über die Grund-
sätze seiner Verwaltung spricht sich Flottwell in seiner Denkschrift in folgenden
Worten aus: „Während meiner Wirksamkeit in dem Zeiträume vom Dezember
1830 bis zum Beginne des Jahres 1841 habe ich die der Verwaltung der
Provinz gestellte Aufgabe dahin verstehen zu müssen geglaubt, ihre innige Ver-
bindung mit dem preußischen Staate dadurch zu fördern und zu befestigen, daß
416 Stadt und Festung Posen.
die ihren polnischen Einwohnern eigentümlichen Richtungen, Gewohnheiten,
Neigungen, die einer solchen Verbindung widerstreben, allmählich beseitigt, daß
dagegen die Elemente des deutschen Lebens in seinen materiellen und geistigen
Beziehungen immer mehr in ihr verbreitet, damit endlich die gänzliche Ver-
einigung beider Nationalitäten als der Schluß dieser Ausgabe durch das ent-
schiedene Auftreten deutscher Kultur erlangt werden möge." Nach dem Abtreten
Flottwells wurden die Bestrebungen der Polen selbst von höchster Stelle be-
gnnstigt, und so begann es denn mit dem Ansänge der vierziger Jahre unter
den Polen zu gähren, und die Regierung mußte Vorsichtsmaßregeln treffen
gegen Unternehmungen, die auf Wiederherstellung des alten Polenreiches hin-
zielten. Schon im Jahre 1845 war eine Verschwörung gegen die Deutschen
vollkommen organisiert; doch ehe sie zum Ausbruch kam, erhielt der Polizei-
Präsident der Stadt Nachricht von derselben, auch daß sie uuter den Offizieren
und Unteroffizieren der in Posen garnisonierenden Truppen Anhänger gefunden
habe. Der 29. November, der Jahrestag des Ausbruches der polnischen Revo-
lntion vom Jahre 1830, sollte der Tag der Erhebung sein: die Verschworenen
wollten sich des Kernwerkes, der königlichen Kassen und der königlichen Beamten
bemächtigen. Doch der gefürchtete 29. November ging ohne Aufstandsversuche
vorüber, da schon vor demselben zahlreiche Verhaftungen stattgefunden hatten.
Darauf wurde der 17. Februar 1846 als Tag des Ausstandes bestimmt. Die Stadt
sollte an vier Ecken angezündet, während der dadurch entstehenden Verwirrung
das Kernwerk (Festungswerk) überrumpelt, die königlichen Kassen in der Stadt
gesprengt, die Spitzen der Behörden verhaftet und am nächsten Tage eine pro-
visorische Regierung eingesetzt werden. Zu gleicher Zeit sollte der Aufstand in
Krakau und Galizien beginnen und dann das Königreich Polen proklamiert
werden. Aber der klug angelegte Plan wurde verraten. In der Nacht vom
5. zum 6. Februar erschien in dem Arbeitszimmer des Polizeipräsidenten ein
Mann und versprach ihm Aufschlüsse von ungeheurer Wichtigkeit zu geben,
wenn er ihm um 2 Uhr nachts folgen wollte. Nachdem der Präsident seinem
Diener den Auftrag gegeben, wenn er bis 5 Uhr morgens nicht wieder da sei,
Nachforschungen zu veranlassen, folgte er um 2 Uhr dem Führer nach einem
Hinterzimmer im Bazar, in dem zwei Personen an einem Tische mit geladenen
und gespannten Pistolen saßen. Sie waren bereit, dem Polizeipräsidenten die
vollkommensten Aufschlüsse über eine bevorstehende Revolution zu geben, wenn
er sie nicht verrate und außerdem nichts notiere. Nachdem dies Versprechen
gegeben war, erhielt der Präsident die genaueste Nachricht von den Operations-
plänen der Verschworenen und erfuhr die Namen der Verschwörer. Alsbald
wurden von den Behörden die nötigen Maßregeln getroffen. Es gelang, den
Führer Mieroslawski in der Nähe von Gnefen zu verhaften; man fand bei
ihm die Organisationspläne für das Heer und eine genaue Liste der Ver-
schworenen; ihm selbst war die Rolle eines general en chef im Großherzogtum
(b. h. in ber Provinz) Posen zuerteilt. In ber Stabt nnb Festung würben
nmsassenbe Vorsichtsmaßregeln getroffen. Währenb nun in bieser Zeit in Krakau
unb Galizien ber Anfstanb wirklich ausgebrochen war, blieb es in Posen ruhig,
ba fast alle Räbelsführer (über 300 Personen, meistens ben höheren Stänben
angehörig) verhaftet unb teils im Kernwerk, teils im Garnisonlazarett unter-
gebracht waren.
Posen feit dem Jahre 1793. 417
Die Verschworen beschlossen, ihre Führer aus den Gefängnissen zu be-
freien. In der Nacht vom 3. zum 4. März sollten sich die Polen, zunächst in
der Wallischei, dem polnischen Stadtteile, erheben, und während des Tumultes
sollten die Gefängnisse gesprengt werden. Aber auch von diesem Vorhaben
waren die Behörden am 3. März in Kenntnis gesetzt worden, so daß die Auf-
rührer auf bewaffneten und wohlorganisierten Widerstand stießen und auseinander
gehen mußten, nachdem zwei ihrer Anführer beim Einfahren in die Stadt ver-
wundet, einer getötet worden war.
Am 7. März wurde über Posen der Belagerungszustand verhängt. Etwa
250 von den 700 Ergriffenen wurden in Berlin vor den Staatsgerichtshof
gestellt und gegen acht auf Todesstrafe, gegen fünfzig auf Gefängnisstrafe erkannt.
Der 20. August 1848 brachte diesen Verurteilten Befreiung und Amnestie.
Schon infolge der Pariser Februarrevolution regten sich die Polen in
Posen und dachten wieder an eine Wiederherstellung des Königreichs; die Auf-
regung war unerhört. Die ankommenden Zeitungen, die nur durch einen Kampf
zu erringen waren, wurden als Gemeingut betrachtet; niemand durste sie be-
halten, der sich nicht zum lauten Vorlesen bequemte. Schnell sonderten sich
bestimmte Kreise ab. Bald sah man die Polen nur in denjenigen Restaura-
tionen, von denen sich die Deutschen immer mehr zurückzogen.
Da nun die Polen glaubten, daß ihr Aufstand 1846 entschieden gelungen
wäre, wenn sie einen politisch richtigeren Zeitpunkt abgewartet hätten, so war
es natürlich, daß sie jetzt, als das französische Königtum gestürzt war, sich in
fast sämtlichen deutschen Staaten die Unzufriedenen erhoben hatten, der Kampf
des Volkes in Berlin begonnen hatte, den Augenblick für ihre große Schild-
erhebung gekommen glaubten. Am 20. März verbreitete sich mit Blitzesschnelle
das Gerücht von einem Aufstande durch die Stadt. Wie aus der Erde gerufen,
standen die preußischen Soldaten auf den Straßen, das Schloß, in welchem der
Oberpräsident der Provinz wohnt, wurde stark besetzt und auf dem Kanonen-
und Wilhelmsplatze konzentrierten sich bedeutende Truppenmassen, die Läden
wurden geschlossen, aber es kam zu keinem bedenklichen Auftritte. Die Ver-
anlassung zur Unruhe war eine aus Polen bestehende Deputation, die sich zum
Oberpräsidenten mit dem Gesuche begab, eine Petition durch Bevollmächtigte
an den König nach Berlin senden zu dürfen. Die Genehmigung wurde erteilt.
Nach der Rückkunft der Deputation vom Oberpräsidenten steckte sich hier und
da ein Pole eine Schleife von weißen und roten Bändchen an. Es bildete sich
das polnische Nationalkomitee. So war der Nachmittag gekommen, die Unruhe
war geschwunden, und das schöne Wetter lockte die Bevölkerung auf die Straßen,
in denen meistenteils von Damenhänden aus den geöffneten Fenstern die roten
und weißen Bändchen, Schleifen und Kokarden wie ein Schwärm bunter
Schmetterlinge herabschwebten; bald zeigte sich auch hier und da eine polnische
Fahne, und ehe der Abend kam, trug alles, was sich Polen nannte, bis auf den
zerlumpten Bettler, die nationalen Abzeichen.
^ Leider blieb es nicht bei dieser friedlichen Begeisterung; es wurde ein
Geist heraufbeschworen, der schwer zu bändigen war und einer nach Freiheit
strebenden Nation ebenso unwürdig ist wie eines jeden einzelnen Edelmannes.
Der Vorsitzende des polnischen Komitees, Buchhändler Stefanski, verbreitete
eine gedruckte Ansprache an die Deutschen, welche unter vielen Schmähungen
Deutsches Land und Volk. VIII. 27
418 Stadt und Festung Posen.
auf die Deutschen die Worte enthielt: „Fragt euch selbst, ob ihr irgend welchen
Anspruch darauf machen könnt, von uns einen Funken der Achtung oder Zu-
neignng zu erwarten? Noch ist es Zeit, einen großen Fluch zu sühnen; der-
streicht sie ungenützt, so werdet ihr oder eure Kinder von demselben zermalmt
werden. — Und unsre Kinder werden euch lieben und hochschätzen, wie wir
euch hassen und verachten."
Solche Worte richteten die Polen an die Dentschen, während eine Depn-
tation sich zum König von Preußen begab, um auf dem Wege der Petitiou die
nationale Freiheit zu erlangen!
Zwar fühlte das polnische Komitee die Ungehörigkeit und das Aufreizende
in der von Stefanski verbreiteten Schrift und erließ deshalb an die Deutschen
am folgenden Tage einen versöhnlichen Zuruf: „Wir bieten euch die brüderliche
Rechte und hoffen und erwarten, daß unsre Sache mit euch auf dem Wege fried-
licher Verhandlung sich beilegen lassen wird und muß"; zwar erwiderten noch an
demselben Tage die Deutschen den Grnß, der ihnen zugerufen war; und er-
hebend war der Moment, als das Bruderwort aus deutschem und polnischem
Munde erklang und die deutschen Farben von den Polen, die polnischen von
den Deutschen an Brust und Hut getragen wurden; aber nur zu bald mußten
sich die Deutschen überzeugen, daß die Polen es nur mit Versprechungen hielten;
denn sie wollten den Deutschen keine Rechte einräumen, sie lehnten den Beitritt
der Deutschen zu den Verhandlungen des Nationalkomitees entschieden ab.
Deshalb bildete sich am 23. März ein deutsches Nationalkomitee, das sich die
Aufgabe stellte, die Eintracht zwischen Polen und Deutschen aufrecht zu erhalten.
Aber die Bemühungen dieses Komitees wurden von den Polen verdächtigt.
Unterdessen waren die Polen auch außerhalb der Stadt thätig; es sollte
alles im Namen des polnischen Nationalkomitees geschehen, und bereits in den
ersten Wochen des April standen etwa 15 000 Mann unter den Waffen, deren
Oberbefehl v. Mieroslawski übernahm.
Der Deputation unter Führung des Erzbischofs hatte der König in der
Audienz vom 24. März nationale Reorganisation des Großherzogtums ver-
heißen. Am 27. März bildete sich in Posen infolge dieses Zugeständnisfes
eine Reorganisationskommission aus acht Polen und zwei Deutschen, die unter
dem Vorsitz des Oberpräsidenten ihre Beratungen hielt. Die Deutschen waren
gegen diese Reorganisation, weil sie völlige Polonisieruug fürchteten, sandten
eine Deputation nach Berlin, hielten eine Volksversammlung ab und beschlossen
die Errichtung einer deutschen Bürgerwehr. Es wurde erreicht, daß durch
Kabinettsordre vom 14. April bestimmt wurde, die nationale Reorganisation
solle auf diejenigen Landesteile, in welchen die deutsche Nationalität vorherrschend
sei, nicht ausgedehnt werden. Am 2. Mai wurde ein großer Teil des Groß-
Herzogtums, auch Stadt und Festung Posen, in den Deutschen Bund aufgenommen;
am 12. Mai wurde die Demarkationslinie, welche die deutschen Teile von den
polnischen schied, bekannt gemacht. Inzwischen war es zum Kampfe zwischen
Polen und Preußen gekommen, aus dem die letzteren endlich siegreich hervor-
gingen, so daß Mitte Mai der Ausstand als unterdrückt angesehen werden konnte.
Am 14. Februar 1849 beschloß die preußische zweite Kammer die Einverleibung
des gesamten Großherzogtums in den Deutschen Bund, aus dem es 1851
wieder ausgeschlossen wurde.
Die Forts. 419
Im Jahre 1848 hatte Posen ohne den Soldatenstand 42 000 Einwohner,
von denen 18 000 Polen waren, die vorwiegend die niedere, unbemittelte und
ungebildete Bevölkerung ausmachten.
Immer noch nicht ruhte der unruhige Geist der Polen; der Bazar blieb
der Mittelpunkt der polnischen Bestrebungen, die Jesuiten, die längst wieder
hergestellt und anch nach Posen zurückgekehrt waren, bemächtigten sich der Vater-
landsliebe der Polen. Um 1860 war die Thätigkeit für die Wiederherstellung
des alten Polenreiches in vollem Zuge. d. h. man ging neuer Zerrüttung ent-
gegen. Zum Glück für Posen lenkten die Kämpfe im russischen Polen im Jahre
1863 die Kräfte ab und schwächten dieselben: denn der Aufstand veranlaßte
viele Polen, nach Rußland zu gehen und die Waffen für das gehoffte neue Reich
zu führen, und die Warnungen von Seiten des Oberpräsidenten vor der Be-
teilignng am Aufstande fruchteten wenig. Im April fand im Palais des Grafen
Dzialynski zu Posen eine Haussuchung statt, bei der eine Brieftasche mit zahl-
reichen Notizen über die Aufständischen gefunden wurde. Auf Grund derselben
wurden zahlreiche Verhaftungen in Posen vorgenommen, die Gefangenen im
Kernwerke untergebracht und dann nach Berlin abgeliefert, wo sie vor den
Staatsgerichtshof gestellt wurden.
Im Jahre 1866 wurde die Provinz Posen mit den übrigen Bestandteilen
des preußischen Staates in den „Norddeutschen Bund" aufgenommen, und
seit dieser Zeit ist die Provinz eine deutsche und gehört nunmehr mit zum
Deutschen Reiche.
Schon 1858 war die Einwohnerzahl Posens auf 47 500 gestiegen; jetzt
hat es 65 713 Einwohner, von denen fast die Hälfte des Deutschen und
Polnischen, ungefähr ebensoviel nur des Deutschen, wenige Tausende nur des
Polnischen mächtig sind.
Die Forts. Posen ist jetzt eine Festung ersten Ranges. An die Stelle
der mittelalterlichen Befestigungen sind seit dem Jahre 1828 neue Festungs-
anlagen getreten, unter denen die wichtigste das Kernwerk, das Fort Winiary,
ist, welches an der Stelle angelegt worden ist, wo bereits im 13. Jahrhundert
das Dorf Winiary lag. Die Bauern dieses Dorfes siedelten sich 1828 an
einem einige tausend Schritte von ihrem bisherigen Wohnsitze entfernten Orte
an und gaben demselben auch den Namen Winiary. Die Regierung hat Posen
zu einem so bedeutenden Waffenplatze erhoben gewiß nicht nur, um die Reihe
der Festungen im Osten des Staates gegen äußere Feinde zu vervollständigen,
sondern wohl auch um sich gegen innere Feinde zu sichern. Unter den andern
Forts sind noch zu nennen die Forts Radziwill, Hake, Steinäcker. Durch Auf-
stauung des Wassers der Warthe und Cybina vermittelst Schleusen können die
Festungsgräben mit Wasser gefüllt und viele Wiesen unter Wasser gesetzt werden.
U3ill)chnftr(t(k Ulli) UHlljclntsplrttj. Der Hauptverkehr der Fremden ist
jetzt in der schattigen Wilhelmstraße und auf dem Wilhelmsplatze in dem neuen
Stadtteil; dort sind auch die besuchtesten und am besten eingerichteten Hotels.
Die schönen Kastanien- und Lindenalleen, sowie die Glaeis der Festungswerke
bieten Gelegenheit zu Spaziergängen. Hier in der Neustadt zeigt sich Posen
dem Fremden als Großstadt, hier fühlen wir uns in einer bedeuteuden Hauptstadt
27*
420 Stadt und Festung Posen.
einer Provinz. Die Straßen sind breit, prächtige Häuser mit eleganten Läden
und großen Spiegelscheiben reihen sich dort aneinander. Elegante Kutschen
rollen an uns vorüber, schwerfällige Landwagen sehen wir ankommen und zu den
Thoren hiuaussahren, stolze Reiter auf geschniegelten Pferden blicken nach dem
bunten Getriebe der lustwandelnden Spaziergänger, unter denen sich der rastlose
Geschäftsmann seinen Weg sucht. Des Abends finden wir Vergnügen an Kon-
zerteu, Theatervorstellungen, Vorträgen; an Nachmittagen finden sich Gelegen-
heiten zu schönen Ausflügen in die Umgegend mit der Bahn (z. B. nach Moschin)
oder mit Wagen; in den besuchtesten Konditoreien liegen viele Zeitungen aus,
in vielen Weinstuben und Restaurationen wird viel gegessen und getrunken;
Droschken, die seit 1345 eingeführt sind, bringen den müden Wanderer nach
Hanse und erleichtern dem eilenden Arzte und Kausmanne den Verkehr.
Das Rathaus. Auf dem Alten Markte in der Stadt zieht das Rathaus
unsre Aufmerksamkeit auf sich. Vor demselben steht eine steinerne Säule aus
alter Zeit, die wir, obgleich sie stark beschädigt ist, noch als einen Pranger er-
kennen. Oben auf der Säule befindet sich eine Figur, welche den Scharfrichter
mit dem zum Hiebe erhobenen Schwert darstellt. Die Jahreszahl 1535 weist
ans die Errichtung des Prangers hin, die übrigen in die Säule eingetragenen
Zahlen auf das Jahr der betreffenden Todesstrafen.
Das Rathaus wurde wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert, bald nach-
dem die Altstadt Posen gegründet war, angelegt. Im Jahre 1508 wurde es
abgebrochen und ein neues Gebäude aufgeführt, das 1535 abbrannte. Durch
einen italienischen Baumeister aus Lucca wurde das Rathaus wieder hergestellt
und durch einen Turm geschmückt, der 1675, vom Blitze getroffen, niederbrannte;
aber schon 1698 war ein neuer Turm vollendet, der zwei Glocken im Gewicht
von 157 und 100 Zentnern trug. Ein Orkan warf 1725 die Spitze des Turmes
mit den Glocken um; erst unter der Regierung des Stanislaus August erhielt
der Turm die neue Spitze, die er noch heute trägt; am 19. Juni 1793 wurde
der große kupferne Adler mit dem Wappen des Königs und der Republik auf
der Brust auf die äußerste Spitze des Turmes gebracht.
Unter den vielen Zimmern und Sälen des Rathauses befindet sich auch
eins, die frühere Folterkammer, in der noch vor hundert Jahren an verdächtigen
Menschen, die nicht eingestehen wollten, glühende Eisen zur Auwendung kamen.
Heute dient die Folterkammer friedlicheren Zwecken; es ruhen dort viele Tausende
von Wertpapieren der Sparkasse und aller städtischen Fonds hinter Schloß und
Riegel. Alle halbe Jahre erscheinen auch noch jetzt in diesem Räume Männer
mit großen eisernen Instrumenten, sie treiben indes ein weniger grausames
Geschäft — es ist die Kassendeputation, welche die Konpons abschneidet.
Schloß. Das Schloß wurde schon 1253 von den Fürsten Przemyslaw
und Boleslaw auf dem Schloßberge angelegt. In demselben residierten die
Fürsten. Später wohnten daselbst die großpolnischen Generale. Als das Schloß
1536 abgebrannt war, baute es der General Gorka wieder aus; im Jahre 1655
nahm der schwedische Kommandant dort seinen Sitz. Da es durch die Schweden-
kriege sehr gelitten hatte, baute es 1783 der General Raczynski wieder aus.
Hier wohnten die polnischen Könige, wenn sie Posen besuchten; hier fanden die
t
Regierungsgebäude. 421
Versammlungen der Adligen aus der Posener und Kalischer Woiwodschaft statt,
wenn ein König gestorben war und ein neuer gewählt werden sollte; hier be-
fand sich das Schloßgericht für die Adligen, welches der General von Großpolen,
leitete. Jetzt hat in demselben das königliche Oberlandesgericht seinen Sitz.
Uegierungögedäude. Das königliche Regierungsgebäude gehörte srüher
den Jesuiten. „In der Zeit", sagt Lukascewicz. „als Dr. Martin Luther,
Das neue Zeughaus zu Poseu.
Calvin und Zwingli ganze Nationen der katholischen Kirche abwendig machten,
erstand der von Ignatius Loyola gestiftete Jesuitenorden, der in einigen Ländern
die Ausbreitung der Reformation aufhielt, in andern sie völlig ausrottete oder
ihr auch den Weg zu denselben versperrte." Auch viele Polen hatten begierig
die Reformation ergriffen, und so geriet die katholische Kirche in Gefahr. Des-
halb berief der Posener Bischof die Jesuiten aus Braunsberg nach Posen, wo
sie sich anfänglich in bescheidenen Räumen mit mäßigen Mitteln niederließen.
Als aber die Zahl der Jefuiten in Posen auf 70 Ordensgeistliche stieg, sich
ihnen viele Laienbrüder, welche sich mit Künsten und Handwerken beschäftigten,
anschlössen, auch ihre Einkünfte wuchsen, kauften sie sich mehrere Grundstücke
und führten ein großes Gebäude auf, das im Jahre 1733 vollendet wurde und
aus einem Mittelbau und zwei Seitenflügeln besteht. Die Mauern des höchst
solid gebauten Gebäudes sind über dem Fundamente 2 m dick; die Kellerräume.
4.22 Stadt und Festung Posen.
das ganze Parterregeschoß und die Bel-Etage sind überwölbt; über dem Par-
terregeschoß erheben sich noch drei Stockwerke. Indessen erfreuten sich die Jesuiten
nicht lange dieser geräiunigen, herrlichen, gesunden und anmutigen Räume, da
sie dieselben nur 40 Jahre lang bewohnten und sie bereits im Jahre 1773,
als ihr Orden durch die bekauute Bulle des Papstes Clemens XIV. aufgehoben
wurde, zu ihrem großen Leidwesen wieder verlassen mußten. Im Jahre 1730
wurde das ehemalige Jesuitenkollegium zur (polnischen) Nationalschule umgeformt,
und seit 1794 hatte die südpreußische Kriegs- und Domänenkammer in dem
stattlichen Gebäude ihren Sitz, auch residierten hier die Minister v. Voß und
Graf v. Hoym. Seit 1315 befindet sich in dem Gebäude die königliche Regie-
rnng; von 1315—1830 residierte hier der Fürst-Statthalter Anton v. Radziwill'.
seitdem enthält das Gebäude in der Bel-Etage des Mittelbaues die Wohnung
des Oberpräsidenten.
Uaczynstiische Bibliothek. Ein stattliches Gebäude ist das der Raczynskischen
Bibliothek. Die Front schmücken 24 gußeiserne korinthische Säulen; das Gebäude
ist nach dem Vorbilde des Lonvre angelegt und trägt die Inschrift Biblioteka
RaczynsMch. Der Graf Eduard Raczynski (geb. 1737, gest. 1345), der Er-
bauer des Hauses und Gründer der Bibliothek, war eiu ausgezeichneter Mann,
der sich viele Verdienste um die Stadt Posen erworben und seine bedeutenden
Einkünfte meist zu wohlthätigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Zwecken
verwendet hat. Die Bibliothek wurde von ihm im Jahre 1337 gestiftet; er
schenkte das Gebäude mit 20 000 Bänden und 66 000 Mark zur Unterhaltung
und Vergrößerung der Bibliothek seiner Vaterstadt. Jetzt hat die Bibliothek,
die täglich benutzt werden kann, über 30 000 Bände. Der prächtige Bau ist
Sammelplatz und Mittelpunkt der slawischen Litteratnr, in der die Polen eine
ehrenvolle Stellung einnehmen. Hinter dem Lesezimmer, in welchem die in Ol
gemalten Porträts des Grafen Eduard Raczynski und seiner Gattin, einer ge-
bornen Gräfin Potocka, hängen, befinden sich drei Bibliothekssäle.
Der Vom. Unter den katholischen Kirchen Posens, von denen 14 noch
jetzt dem öffentlichen Gottesdienste dienen, ist besonders der Dom oder die
Kathedrale zu St. Peter und Paul zu nennen. Als im Jahre 966 Mieezyslaw I.
das Christentum angenommen hatte, legte er in seiner Hauptstadt Posen auf
der rechten Flnßseite den Dom an. Wahrscheinlich war dieses älteste christliche
Gotteshaus Posens ans Holz erbaut. Im Jahre 1502 wurde dasselbe, mag
es nun zu klein gewesen sein oder einzustürzen gedroht haben, fast ganz ab-
getragen und in prächtigerer Gestalt wieder aufgebaut. Offenbar ging man
unverzüglich an den Bau des Domes, denn wir wissen, daß derselbe schon 1522
auf Kosten des Bischofs Lobranski mit Kupfer gedeckt wurde. Leider wurden
bald Ausbesserungen nötig, entweder weil die Bauleute zu wenig haltbares
Material genommen hatten oder weil das Gebäude durch die vielen Über-
schwemmungen litt. Bei einer solchen Reparatur setzten 1622 zwei Leute,
welche das Dach des Turmes ausbesserten, die Kirche in Brand, so daß sie mit
den Türmen und Kapellen vollständig in Flammen aufging. In der Mitte
Das Denkmal des Adam Mickiewicz. 423
desselben Jahrhunderts stand die Kirche vollendet wieder da; aber schon 1725
stürzte ein gewaltiger Orkan beide Türme um, und 1772 brannte die Kirche
durch die Unvorsichtigkeit zweier Knaben, denen der Kirchendiener erlaubt hatte,
mit Licht in den Türmen nach Tauben zu suchen, nieder. Allein durch die
Bemühungen des Domkapitels und der damaligen Bischöfe wurde das Gebäude
bald wieder hergestellt und nahm die Gestalt an, in welcher wir es heute sehen.
Am 29. November 1853 stand der Dom in Gefahr, zum drittenmal ein Raub
der Flammen zu werden, da ein Glasergeselle aus Unvorsichtigkeit glühende
Kohlen in einem Kohlenbecken über Nacht auf einem Boden über einem der
Seitenschiffe hatte stehen lassen. Nur durch die angestrengteste Thätigkeit der
Behörden und Löschmannschaften wurde dem Brande Einhalt gethan, bevor er
großen Schaden anrichtete.
Im Dome liegen fast sämtliche Bischöfe und Erzbischöfe Posens sowie
Mieezyslaw I. und Boleslaw und mehrere ihrer Nachfolger begraben. Das
Grabmal jener beiden Könige befand sich früher in der Mitte der Kirche und
war mit einem einfachen weißen Steine bedeckt. Im Jahre 1744 wurde ein
neues Denkmal errichtet und dieses 1766 durch ein andres ersetzt, das 1790
durch den Einsturz eines Turmes zertrümmert wurde. Schon 1814 regte der
Posener Bischof den Gedanken an, daß den Königen ein Denkmal gesetzt werde.
Es wurden Sammlungen veranstaltet; jedoch kam nicht soviel Geld ein, daß
das Denkmal iu der ursprünglich beabsichtigten Weise ausgeführt werden konnte;
das meiste hat für diese Sache der Gras Eduard Raezynski gethan, der in der
Königskapelle im Jahre 1838 die herrlich gelungene eherne Grnppe der Könige
Mieezyslaw und Boleslaw Chrobry von Professor Rauch, welche ihm 36 000
Mark gekostet hatte, aufstellen ließ, während seine Gattin der Kapelle das
Mosaikbild über dem Altare, welches 800 Dukaten gekostet hat, von Professor
Salandri in Venedig gemacht ist und die Himmelfahrt Maria nach dem be-
rühmten Gemälde Tizians in der Akademie zu Venedig darstellt, schenkte.
Außerdem enthält die Kapelle noch manche kostbare und sehenswerte Kunstwerke.
In der Nähe des Domes befindet sich das erzbischöfliche Palais, das
während des zweiten Schwedenkrieges derartig verwüstet wurde, daß der Bischof
es nach dem Fortgange der Schweden abbrechen und neu aufführen ließ; der
Neubau wurde 1732 vollendet, dann in neuerer Zeit noch einmal umgebaut
und im Innern geschmackvoll ausgeschmückt.
Die katholische Pfarrkirche, neben dem jetzigen Regierungsgebände gelegen,
gehörte früher den Jesuiten; der Grundstein zu derselben wurde 1651 gelegt,
der Bau aber durch die Schwedenkriege unterbrochen, so daß die Einweihung
erst 1705 stattfinden konnte. Sie ist dem heiligen Stanislaus geweiht, und
deshalb wird das Kirchensest derselben am 8. Mai gefeiert.
Außer den vielen katholischen Kirchen hat Posen vier evangelische Kirchen:
die Kreuz-, Petri-, St. Pauli- und Garnisonkirche, ein Bethaus der Altlutheraner,
eins der Jrvingianer, eins der griechischen Gemeinde und vier Synagogen.
Das Denkmal des ^fmnt Mickiewic). Auf dem schön gehegten Platze
hinter dem Chorschlusse der St. Martinskirche befindet sich das im Jahre 1859
errichtete Standbild des von den Polen sehr gefeierten Dichters Adam Mickiewicz.
424 Stadt und Festung Posen.
Dieser berühmteste neuere polnische Dichter wurde am 25. Dezember 1798 bei
Nowogrodek (in Litauen) geboren, ward 1823, weil er politisch verdächtigt
war, ins Innere Rußlands verbannt und machte seit 1829 Reisen.
Im Jahre 1840 wurde Mickiewiez Professor der slawischen Litteratur
am College de France, wo er seine berühmten „Vorlesungen über slawische
Litteratur" hielt. Wegen Teilnahme an Towianskls Mystizismus wurde er
suspendiert und starb am 26. November 1855 zu Konstantinopel.
W. Goldbaum schildert uns in seinem vortrefflichen Buche „Entlegene
Kulturen" (Berlin 1877) den unglücklichen Dichter in packenden, ergreifenden
Worten. „Ju der gesamten Weltlitteratur", beginnt Goldbaum, „gibt es kein
traurigeres Dichterschicksal (als das des Mickiewiez). Der Anfang ist Licht und
Ruhm, das Ende Verfall und Nacht. Man nennt Günther und Musset, Grabbe
und Poe, wenn man das Wort vom Kainsmal der Dichtung an Beispielen er-
Härten will. Aber unseliger als sie alle ist Adam Mickiewiez, der Vaterlands-
sänger ohne Vaterland. An der Vergeudung und Selbstzerstörung, aus eigner
Schuld gehen jene kläglich zu Grunde. Der Pole büßt, was nicht er verschuldete;
er wird geahndet für die Sünden seines Volkes.
„Und nicht er allein. Seit dem politischen Untergange ihrer Nation sind
alle polnischen Poeten Märtyrer; vor demselben waren alle ohne Ausnahme
Stiefkinder der Muse. Jene steuerten eine Nationallitteratur zusammen, zu der
die Nation fehlt; um diese flutete ein nationales Leben und sie wurden sich
desselben nicht bewußt. Erst wenn man sie verloren, singt man von der Heimat,
sagt irgendwo Heinrich Heine.
„Eine Epoche der Zerrissenheit war auch uns beschieden; sie entsprach dem
Jammerbilde, welches durch Jahrhunderte die politische Gestaltung Deutschlands
darbot. Aber Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung blieben unfern Poeten fern.
Auch die zaghaftesten unter ihnen beklagten nur, daß es nicht ihnen vergönnt
sei, die Wiedergeburt des Vaterlandes mit eignen Augen zu schauen. Den
Glauben an die Zukunft gaben sie nicht preis. Das ergreifende Schauspiel
einer dichterischen Begeisterung, welche zu Häupten einer schönen Leiche flackert,
ging von den Polen aus, und die erste Rolle in demselben führte Adam Mickiewiez.
„Eine Sehnsucht ohne Erfüllung, ein Feuer ohne belebende Glut, eine Klage
ohne Vorsätze und ein Haß ohne Thatkraft! Was kann mit alledem der größte
dichterische Genius zustande bringen? Adam Mickiewiez verherrlicht in seinem
Epos „Konrad Wallenrod" den Verrat am Feinde. Das ist ein typischer Zug.
Wo alles übrige Hoffen zerronnen ist, bleibt als Rettungsanker der Verrat.
Er versinkt in den Schlamm der Mystik. Wenn die Sehnsucht auf Erden ge-
scheitert, flüchtet sie gen Himmel.
„Von Marie Szymanowska, der reizenden Klavierspielerin, an ihren Freund,
den deutschen Dichterfürsten, empfohlen, kam Adam Mickiewiez nach Weimar.
Goethe empsing ihn mit Wohlwollen, und um ihm zu beweisen, wie sehr er seine
Gaben ehre, schenkte er dem Fremden eine Feder als Erinnerungszeichen.
„Damals war Adam in der That ein Dichter. Und mehr als dies, er war
ein Reformator. . . . Der Poet durchmißt die ungeheuren Weiten des Zaren-
reichs. Er irrt bis an den Saum des Pontus und schwelgt in den Reizen der
taurischen Halbinsel. Aber das lockende Bild der Heimat weicht nicht vor seinem
Auge. Er denkt an den Niemen und fragt in bangen Schauern:
Das Denkmal des Adam Mickiewicz. 425
„Mein Heimatfluß, o Riemen, wo sind die lieben Quellen,
Die so viel Hoffnung bargen, des reichen Glücks so viel?
Wo sind der Kindheil Freuden, ihr unschuldvolles Spiel?
Wo ist des stillen Herzens so stürmisch süßes Schwellen?
Wo lacht mir wieder Lauras, der Freunde Angesicht?
Ach, alles ist vergangen — nur meine Thränen nicht/'
„Der Hauch des Südens weht ihm lind und verführerisch um das Antlitz;
fernher schimmert die Brandung des Meeres, und ihr frischer Atem kühlt ihm
die Stirn. Er aber spürt nichts davon, denn sein Geist ist daheim. . . .
„Er wandert westwärts, den Ruhm seiner Gedichte zur Seite. ... Da
ereilt ihn die Kunde von der Erhebung seines Volkes, und flammende Be-
geisterung rührt ihm die müde Seele. Die „Ode an die Jugend" tönt von
seiner Zunge und wird zur Marseillaise der polnischen Revolution.
„Das fühllos kalte Eis zerbricht,
Kein Irrtum trübt fortan das Licht,
Das Morgenrot der Freiheit ist erglommen —
O Sonne der Erlösung, sei willkommen!"
„Ein Jubel ohnegleichen entzündet sich an den Strophen des vergötterten
Dichters. Sie werden mit großen Lettern, weithin sichtbar, an die Wände des
Warschauer Rathauses geschrieben; einzelne Verse rufen von den Standarten
der polnischen Regimenter den Todesmut der Kämpfer wach. Aber der Jammer
von Ostrolenka und Praga löscht sie mit seinen Thränen aus und er bricht
auch den Poeten mitten entzwei. Die Quellen, die einst so mächtig in seinem
Innern sprangen, sickern nur noch spärlich ein halbes Jahrzehnt, dann sind sie
für immer versiegt. Er hat die Hoffnung verloren und mit ihr die würdevolle
Hoheit seines Genius. In den Vorlesungen über slawische Litteratur, welche
er im College de France einem zahlreichen Hörerkreise hält, irrt seine Bered-
samkeit ziellos vor sich hin; bald gilt sie einem Mahnruf zur Versöhnung zwischen
Russen und Polen, bald ergeht sie sich in nebelhaften messianischenVerkündigungen,
von denen die Jünger auf geistige Störungen in dem Gedankenleben des Meisters
schließen. Er verliert den Lehrstuhl, dämmert in einsilbigem Tiefsinn unthätig
weiter, geht schließlich als Sendbote der französischen Regierung nach beendetem
Krimkriege an den Bosporus und stirbt auf türkischer Erde. . . .
„Das Bild seines größten Dichters ist Polens Bild. Man hat Adam
Mickiewicz wiederholt und mit gutem Rechte den Fürsten unter den slawischen
Dichtern geheißen. Aber von denen, welche dieses prunkende Beiwort gläubig
nachbeten, ahnen vielleicht die wenigsten, wie viel Herzleid und Jammer es
umschließt. Ihnen steht der feurige Sänger vor dem Geiste, welcher in herben
Sonetten sein Heimweh und sein Vaterland beklagte, in köstlichen Epen sein
armes Volkstum verherrlichte und in schwungvollen Liedern seine verlorene
Jugendliebe betrauerte. Darüber hinaus sind kaum dunkle Gerüchte bis zu
ihnen gedrungen von den mystischen Irrungen, welchen der alternde Poet ver-
siel, und von den verscherzten Lebensfreuden, denen sein müder Geist, von der
gemeinen Not des Daseins umdüstert, mit melancholischer Zähigkeit nachbrütete.
„An den feurigen Sänger von ehedem gemahnte schon Anno 1840 kaum
noch ein leiser Zug. Die stolzen Tage waren dahin, in denen er, bewundert
und angestaunt, mit seinem sprühenden Geiste die Salons der edlen Marie
426 Stadt und Festung Posen.
Szymanowska belebte und Alexander Puschkin, den Liebling der Petersburger
Gesellschaft, durch seine unvergleichliche Beredsamkeit in den Hintergrund schob.
Er hauste als Professor des College cle France mit Weib und Kindern im
dumpfen Quartier zusammengepfercht abseits vom Getümmel der Weltstadt, in
nächster Nähe des Luxembourg, und starrte halb im Traume den Ringelwolken
nach, welche von der unentbehrlichen Tabakspfeife emporstiegen. Bisweilen
scheuchte ihn die unliebsame Zudringlichkeit neugieriger Landsleute aus feinem
Brüten aus, welche haufenweise in seine enge Klause wallfahrteten, um den
Heros ihrer nationalen Dichtung von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Dann
ward er, je nach dem Charakter der Eindringlinge, unwirsch oder salbungsvoll,
barsch oder füßlich, aber niemals mehr hell und beredt, wie in den Tagen
schaffensfreudiger Jugendlichkeit. Zwei bartlose Burschen, adliger Eltern ver-
zogene Kinder, stehen eines Tages mit glotzäugiger Bewunderung vor seinem
Arbeitstische. „Woher kommt ihr?" fragt er kurz und rauh. — „Aus der
Heimat." — „Und wozu kommt ihr?" — „Um Französisch zu lernen." —
„Nicht übel. Aber was trug euch sonst eure Mutter noch auf?" — „Mickiewiez
zu besuchen." — „Das ist geschehen." — „Ja." — „So lebt wohl." — Und
verdrossen kehrt der Alte den verblüfften Jungen den Rücken; er will nicht ge-
stört sein in seinen wirr verschlungenen Gedankenreihen. . . .
„Adam Mickiewiez litt nicht gerade Hunger in Paris; aber es ist gewiß,
daß sein karges Einkommen bei weitem nicht ausreichte, um ihn und seine zahl-
reiche Familie gegen die peinigendsten Sorgen sicher zu stellen. Es könnte ver-
wunderlich erscheinen, daß die begüterten polnischen Emigranten, welche mit ihm
eine Art von Heiligenknlt trieben, ihren Dichter so jämmerlich im Stiche ließen.
Allein es wäre ungerecht, sie zu beschuldigen, denn sie wußten nicht, welche
Dürftigkeit in Adams Hause herrschte. Er hätte auch jedes Almosen schroff
und empfindlich zurückgewiesen, weil er nicht wellte, daß man sich um ihn be-
kümmere. „Scher' dich um dich, Bruder!" rief er einst bei einem Mittags-
mahle einem Freunde zu, der ihn mit der wohlgemeinten Frage, warum er
nicht effe, aus feinem Brüten aufgerüttelt hatte.
„Die Armut hätte der Poet vielleicht ohne Einbuße seiner geistigen An-
lagen erduldet; aber sein Haus war freudeleer und poesielos, denn er hatte ein
Weib an seinen Herd geführt, welches ihm von Anfaug an keine Liebe, sondern
nur das Gefühl der Dankbarkeit eingeflößt hatte, die Celine Szymanowska, die
Tochter jener Marie, für welche einst der alte Goethe geschwärmt und in deren
Hause zu Petersburg der junge Mickiewiez eine freundliche Zuflucht gefunden
hatte. Sie war eiu stilles, opferfähiges Geschöpf gewesen, eine Dulderin, die,
ohne zu grollen, die Not ihres Daseins mit ihrem Gatten redlich teilte, aber
um der Inbegriff seines Glückes zu werden und in seiner Erinnerung das Bild
der verherrlichten Laura (der Jugendliebe des Dichters) auszulöschen, um mit
einem Worte das Weib eines Dichters zu sein, dazu fehlte es ihr an beweg-
lichem Temperament und wohl auch au kluger Auempfindung. Die Liebe hätte
den armen Mickiewiez vielleicht von dem Rande des Abgrundes hinweggezogen;
statt ihrer aber nagte die Reue an feiner Seele, und die Ehe aus übel an-
gebrachter Dankbarkeit ward ihm zur Wüste."
Diesem großen Dichter errichteten die dankbaren Polen im Jahre 1859
das Denkmal an der Martinskirche in Posen.
Im Kegierimgskezlrk pofcn.
Kleine Städte im Regierungsbezirk Posen. — Rogalin. — Die Betscher Gauner.
Kleine Städte im Regierungsbezirk Posen. Gerade südlich von Gnesen
liegt, mit der Eisenbahn zu erreichen, Öls. Die zwischen beiden liegende Strecke
von ungefähr 150 km führt uns durch den östlichen Teil des Regierungs-
bezirks Poseu.
Noch im Kreise Gnesen liegt die Stadt Zydowo (Zidowo). Wenn die
Annahme einzelner Altertumsforscher richtig wäre, dann müßte Zydowo eine
der ältesten Städte Posens sein; denn es wird angenommen, daß dieser Ort
das alte Setidawa sei, ein Ort, durch den die Handelsleute der alten Griechen
und Römer auf ihren Fahrten nach der Ostsee zogen. Doch läßt sich diese
Meinung nicht beweisen. Wahrscheinlich ist Zydowo vielmehr eine der jüngsten
Städte nnsrer Provinz und hat seinen Namen von dem Worte zycl, Jude, und
bedeutet soviel als Judenstadt. Das Dorf hat wenig über 400 Einwohner.
Die erste Stadt im südlichen Regierungsbezirk der Provinz ist die Kreis-
stadt Wreschen mit 4780 Einwohnern. Hier sammelten sich im Jahre 1848
428 Im Regierungsbezirk Posen.
die ausständischen Polen; gegen 2500 Mann sollen hier zusammengekommen
sein. Ehe sie abzogen, begingen sie manche Grausamkeiten an den Einwohnern.
Mieroslawski führte die Polen gegen die Preußeu, die unter dem General
Hirschfeld standen. Bei Sokolowo kam es zur Schlacht. 300 Edelleute giugeu
auf die preußischen Geschütze los. Die Mehrzahl fiel, aber die Preußeu mußten
weichen, wurden aus einer Stellung nach der andern geworfen und zogen sich
nach Gnefeu zurück. Den Polen kostete dieser Sieg gegen 700 Gefallene und
ebensoviel Verwundete, die nach Wreschen gebracht und dort verpflegt wurden,
so daß die ganze Stadt einem Lazarett glich.
Südlich von Wreschen liegt das kleine Miloslaw; dann fahren wir über
die Warthe unweit Neustadt, kommen nach Jarotfchin, einem Orte von 2500
Einwohnern, die sich vielfach vom Holzfahren aus den reichen nahen Waldungen
nach der Warthe hinunter nähren. Hier wird die Öls-Gnefener Bahn von der
Pofen-Kreuzburger Bahn geschnitten.
Schon im Kreise Krotoschin, südlich von Jarotschin, liegt Koschmin (4200 E.),
Knotenpunkt von vier Chausseen, Sitz eines Lehrerseminars. Hier finden wir das
Schloß der Familie Sapieha, die einst in Großpolen die reichste und angesehenste
war, deren Andenken bei uns nur noch in dem Namen des Sapiehaplatzes in
Posen fortlebt. Vor mehr als hundert Jahren gebot über das ganze Land
rings um feine Feste der Fürst Marcin Sapieha. Nur das kleine Wilkowo ge-
hörte dem Szlacheie Sewerin Wilkonski. Vergebens bemühte sich der Fürst,
den Alten durch den Anblick roter und weißer Gulden zum Verkauf des Gütchens
zu locken. Dieser mochte nicht von der Kirche lassen und den teuern Gräbern;
es trat eine böse Spannung zwischen dem Magnaten uud dem Edelmanns ein.
Da kam der Fürst dem edlen Wilkonski freundlich entgegen, mit Bruderkuß lud
er ihn persönlich zur Osterseier auf das Schloß.
Ostern wurde damals von den Polen noch seierlicher begangen als heute.
Die geweihte Speise bildete den Festschmaus, rauschend und glänzend ging es
auf dem Schlosse her, der Ungarwein floß in Strömen, und der Tag ward zur
Nacht, die Nacht zum Tage, bis alle drei hochheiligen Feiertage vorüber waren.
Der Fürst machte den liebenswürdigsten Wirt; er streichelte und küßte den alten
Sewerin, strich ihm den langen Bart, um die letzten Spuren des früheren
Grolles wegzufchmeicheln. Unterdessen brachen die Kosaken des Marcin Sapieha
auf Befehl ihres Herrn in Wilkowo ein, rissen das Wohnhaus, die Hütten der
Bauern, die ehrwürdige Kirche nieder und legten sie in Asche; dann pflügten
sie die leergebrannten Stätten um, streuten Salz in die Furchen und trieben
die Bewohner des früheren Dorfes mit Peitschenhieben ins Gebüsch.
„So rächte sich Marcin Sapieha
Zur Zeit der freien und erlauchten Republik Polonia,
Als man nach Christus lausend schrieb
Sieben hundert zwei und vierzig."
Wir kommen nach Krotoschin, einem freundlichen Ort von 8300 Ein-
wohnern, dem Geburtsorte des Dichters Otto Roquette, der Hauptstadt des
Fürstentums, mit welchem Friedrich Wilhelm III. den Fürsten von Thurn und
Taxis beschenkte, als in Preußen eine königliche Post eingerichtet wurde. Einst
war die Stadt noch viel unbedeutender, was schon der Umstand beweisen kann,
daß sie in dem Hexameter genannt wird, mit dem der Posener die sieben
Kleine Städte im Regierungsbezirk Posen. 429
bedeutendsten und herrlichsten Städte seiner Provinz im ironischen Sinne an-
führt: Tirschtiegel, Bomst. Meseritz, Krotoschin, Schrimm. Schroda, Filehne.
Das an der schleichen Grenze gelegene kleine Zduny mit 3300 Ein-
wohnern war einstmals so blühend, daß man von Krotoschin bei Zduny sprach.
Östlich vom Krotoschiner Kreise liegt der von Adelnau, dessen größte Stadt
Ostrowo (9100 E.) ist. Es ist nämlich eigentümlich in der Provinz Posen, daß
die Kreisstädte oft nicht die bedeutendsten Städte ihres Kreises sind. So ist
gewiß im Kröbener Kreise die wichtigste Stadt Rawitsch (12 260 E.), im
Fraustädter Lissa (11758 E.), im Bomster Wollstein (2803 E.), im Schildberger
Kempen (6168 E.), im Buker Grätz (3701 E.), im Oborniker Rogasen (5235 E.),
im Wirsitzer Lobsens (2579 E.), im Kolmarer Schneidemühl (11610 E.), im
Czarnikauer Schönlanke (4108 E.).
Der südöstlichste Kreis der Provinz Posen ist der Kreis Schildberg, in
dem das Dorf Doruchow liegt, wo noch im Jahre 1775 unglückliche Weiber
als Hexen verbrannt wurden. Damals noch glaubte man, daß Hexen mit ihren
Zauberkünsten Vieh und Menschen schädigten, die Früchte des Feldes verdarben,
allerhand Tücke ausübten. Im August 1775 verbreitete sich eines Abends im
Dorfe das Gerücht, daß auf Befehl des Gutsherrn sieben Hexen aufgefangen
wären. Unter großem Auflauf des Volkes und in Gegenwart des Gutsherrn
wurde mit den unglücklichen Opfern in dem noch heute existierenden Teiche eine
Wasserprobe vorgenommen. Man brachte sie auf die Brücke, band ihnen die
Hände zusammen und warf dann eine nach der andern ins Wasser. Hielt sie
sich auf der Oberfläche, so galt ihre Teufelskunst als erwiesen, sie war eine
Hexe; ging sie aber unter, dann galt es als Zeichen der Unschuld. Da keine
unterging, erklärte man sie alle für Hexen.
Nach dieser Probe wurden sie auf einen Speicher geführt, an Händen und
Füßen gebunden, so daß sie weder stehen, noch sitzen konnten, und in Fässer
gesteckt. Jedes Faß wurde mit dicker Leinwand überzogen. In derselben Nacht
wurden noch andre sieben Weiber als der Hexerei verdächtig eingebracht.
Um die Weiber zum Geständnis zu bringen, wurden sie gefoltert, d. h.
sie wurden an einen Pfahl gebunden und das Folterrad so in Bewegung ge-
setzt, daß die Zacken einer eisernen Harke tief in das Fleisch eindrangen. Das
Blut strömte von den Unglücklichen herab, die Knochen knackten und ein wildes
Heulen entrang sich der Brust der Gefolterten; drei erlagen sofort den Qualen.
Am folgenden Tage wurden die unglücklichen Weiber, die noch lebten, von den
Henkersknechten auf Wagen gepackt und in Begleitung eines Geistlichen zur
Verbrennungsstätte gefahren. Hier brachte man sie auf den Scheiterhaufen,
mit dem Gesichte nach unten gekehrt, befestigte Hals und Füße an Balken und
legte Feuer an. Man hörte das Knistern des Kienholzes und das Wimmern
der in Asche übergehenden Geschöpfe. Das versammelte Volk betrachtete kalt-
blütig das schaudererregende Schauspiel und hatte kein Wort des Entsetzens.
Was hatte diese grausame That veranlaßt? Die Frau des Gutsherrn
war in eine gefährliche Krankheit verfallen, und man behauptete, diese sei ihr
von den Hexen angethan worden.
430 Im Regierungsbezirk Posen.
Nogalw. Dem Posener Domkapitel schenkte 1247 der Herzog Boleslaw
das in einer schönen Gegend an der Warthe gelegene Dorf Rogalin. Um die
Mitte des 14. Jahrhunderts ging es in den Besitz eines gewissen Jakusz
(Jaeussius) über, wurde aber bald darauf wieder den Kronglltern einverleibt.
Im Jahre 1360 tauschte es der König Kasimir mit dem Johanniterorden für
andre Güter um mit Abtretung aller ihm zustehenden Rechte, außer der Jagd
auf Rehe und Hirsche. Die umfangreichen Wälder um Rogalin sind so dicht,
daß noch im vorigen Jahrhundert Verbrecher daselbst ihre Schlupfwinkel, Un-
glückliche dort ihre Zuflucht finden konnten. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts
wurden noch an dem nach Posen führenden Wege im Walde Grabhügel der
dort erschlagenen Reisenden gezeigt; daneben stand ein Kreuz aus dem Grabe
eines Einsiedlers, der um das Jahr 1780 sich hier niedergelassen, mehrere
Jahre gewohnt und hier in der Einöde sein frommes Leben beschlossen hatte;
niemand wußte, woher er gekommen war; die tiefen Narben, Spuren davon-
getragener Wunden, erwarben ihm Achtung der Bewohner der Umgegend, die
seine Bedürfnisse zu stillen bemüht waren.
Im Jahre 1604 wurde Rogalin Eigentum der Helene Arciszewska, der
Mutter des Christoph Arciszewski, jenes berühmten Führers und Admirals
der holländischen Truppen in Brasilien: das bescheidene Rogalin trifft der
Ruhm, die Geburtsstätte des großen Kriegers zu sein, der hier seine Jugend-
jähre verlebte, bis er in holländische Dienste trat. Jetzt gehört das Dorf der
Familie Raczynski.
Im Jahre 1820 wurde hier nach dem Muster der Kirche in Nimes in
Südsrankreich, die dort unter dem Namen maison guarree (viereckiges Haus)
bekannt ist, eiu Gotteshaus errichtet. Die Rogaliuer Kirche mit ihren in die
Mauer eingesenkten Säulen an den beiden Langseiten gehört der Bauart an,
welche die Griechen Psendoperipteron nannten. Sie zählt längs der länglichen
Wand zehn Säulen korinthischen Stiles, von denen acht in die Mauer ein-
gelassen sind; die Vorderfront (portique) ist mit sechs Säulen geziert; die
Länge der ganzen Kirche, einschließlich der Kolonnade, beträgt 23 in, die Breite
14 m; die Breite gleicht vollständig der Höhe, und dies Verhältnis war es auch,
das der Kirche zu Nimes den Namen des viereckigen Hauses gegeben hat. In
der Fassung der hintern Wand fühlte sich der Baumeister der Kirche zu Rogalin
gedrungen, von seinem Modell abzuweichen, denn die an der Hinterwand an-
gebrachten Fenster gestatteten nicht, diese mit Säulen zu schmücken, welche die
Kirche zu Nimes von allen Seiten umgeben.
Unter der Kirche zu Rogalin befindet sich eine Grabkapelle in überwiegend
gotischem Stile. Dieser Stilwechsel dürfte das Einzige sein, das dem sonst so
schönen und symmetrischen Bau vorzuwerfen wäre.
Noch manche Geschichte, manche Sage könnte hier angeführt werden, die
sich in diesem oder jenem Städtchen der Provinz Posen zugetragen oder ab-
gespielt hat, noch mancher Ort genannt werden, der eine denkwürdige Berühmtheit
erlangt hat; aber so vieles von dem, was berichtet wird, gehört nicht der
Provinz Posen eigentümlich an. Ich denke an die sogenannten Schwedenschanzen,
vielleicht Verteidigungs- uud Zufluchtsstätten, die aus einer Zeit stammen, in
der man an die Schweden im Posenschen noch nicht dachte, die sich nicht nur
bei uns, sondern im ganzen nördlichen Europa finden.
Die Betscher Gauner. 431
So hat auch Posen seine Schlösser, in denen um die mitternächtliche
Stunde ein dumpfes Geräusch entsteht, ein donnerähnliches Krachen die Wände
erschüttert, die Thüren von selbst aufspringen und Erscheinungen verschiedener
Art, meist Personen in schneeweißem Gewände gesehen werden; aber welche
Gegend, welche Provinz hätte derartige Schlösser, Häuser, Kirchen nicht auf-
zuweisen? Auch vom wilden Jäger erzählt man in verschiedenen Kreisen, von
dem gottlosen und grausamen Menschen, der ein leidenschaftlicher Jäger war,
die größten Feiertage nicht beachtete, die Andacht der Gläubigen störte und
an Festtagen die Leute zu Dienstleistungen beim Jagen zwang, der nun weiter
jagt die Nächte durch bis an den jüngsten Tag.
Die Betscher Gauner. Ich wende mich fort von der Sage und der
grauen Vorzeit, in der sie spielt, und berichte zum Schluß noch kurz über Be-
gebeuheiten, die sich in nnferm Jahrhundert in unsrer Provinz abspielten, die
lange Jahre manchen ruhigen und friedfertigen Bürger in Aufregung hielten,
über die Gauner in Betsche.
Betsche (polnisch Pszczewo) ist eine kleine Stadt des Meseritzer Kreises
von ungefähr 1921 Einwohnern, reizend gelegen zwischen zwei Seen. Wann
der Ort gegründet ist, läßt sich nicht bestimmt angeben; vielleicht hieß er früher
Psechen, gehörte zu Pommern und ist der Ort, bei welchem der polnische
Herzog Wladislaw im Jahre 1090 die Pommern schlug. Später gehörte Betsche
wahrscheinlich dem Posener Bischof, und seine Bewohner hatten teil an den Be-
freiungen der geistlichen Unterthanen. Wenige Jahre, nachdem es an Preußen
gekommen war, wurde es dem verschuldeten Generalleutnant Fürsten von Hohen-
lohe-Jngelfingen gegeben, von dem es in den Besitz des Baron Hiller von
Gärtringen überging.
So unbedeutend Betsche seiner Größe nach war und noch gegenwärtig ist,
denn es hatte am Ausgange des vorigen Jahrhunderts nur 580 Einwohner
in 107 Wohnhäusern, so berühmt ist es und berüchtigt bis weit über die
Grenzen Posens, ja des ganzen Preußens im ersten Drittel dieses Jahrhunderts
geworden. „Wohl seit dem Anfange unsres Jahrhunderts", sagt Wnttke im
Städtebuch des Landes Posen, „war Betsche das Nest einer weitverzweigten
jüdischen Gaunerbande. Der vierte Teil der ganzen Einwohnerschaft bestand
aus abgefeimten Menschen, die aus Dieberei ein Handwerk machten und ihr
Unwesen auf ein weites Bereich ausdehnten. Hier war die Handwerksstätte,
welche weit und breit die Diebe mit Handwerkszeug versorgte; hier wurden
feile und falsche Zeugen beschafft. Die Judenältesten waren die ärgsten Diebe
und Hehler, ja, von der ersten Magistratsperson bis zum Ackerknecht herab, war
gewissenhafte Rechtschaffenheit verschwunden." Mit diesen Worten macht Wuttke
den Bewohnern Betsches, die dort zu Anfang unsres Jahrhunderts lebten, einen
so harten Vorwurf, daß wir geneigt sind, in ihnen eine arge Übertreibung zu
finden und die Wahrhaftigkeit des gelehrten und gründlichen Forschers in Zweifel
zu ziehen. Schlagen wir aber die Quelle auf, der Wuttke folgte, das Buch,
welches uns nach den Kriminalakten und andern zuverlässigen Quellen die
Geschichte der Betscher Diebesbande vorführt (ich meine das Buch von Thiele:
432 Im Regierungsbezirk Posen.
„Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigentümlichkeiten und
ihre Sprache"), so müssen wir finden, daß das Städtebuch das Unwesen in
Betsche mit recht milden Worten charakterisiert. Thiele sagt: „Gleich einem
Krebsschaden griff die Kalamität immer weiter um sich, bis alle Schranken
zusammengestürzt waren und die Regierungsfürsorge sich nur noch darauf be-
schränken konnte, den sittlichen Brand soviel als möglich in den Kreis einzu-
dämmen, wo er, immer neue Nahrung findend, einmal nicht mehr zu dämpfen war.
Es war hier, wo man in einem Zeitraum von zehn Jahren vier Magistratsvorsteher
wegen der empörendsten Pflichtverletzungen dem Gesetze verfallen sah: es war
hier mit einem Worte der Zentralpunkt des gaunerischen Verkehrs nicht nur in
Preußen, sondern im ganzen östlichen Deutschland." Begnügen wir uns nicht
mit diesem Urteil, sondern gehen wir den Dieben ein wenig nach, suchen wir
ihrem Treiben und den Bemühungen der Polizei unter der Führung des ge-
nannten Buches zu folgen.
In Berlin wurden am 1. Januar 1826 einem Kaviarhändler aus Ruß-
land 6000 Thaler gestohlen mittels Nachschlüssels, ein Diebstahl, der damals
großes Aufsehen erregte. Der Verdacht lenkte sich auf den Bedienten des Be-
stohlenen, der zur Untersuchung und Hast gezogen wurde, aber freigesprochen
werden mußte. Noch in demselben Jahre wurden in Berlin mehrere freche
Diebstähle verübt, unter denen der von 2500 Thalern bei einem Tuchhändler
besonders hervorragte. Auch die folgenden Jahre brachten eine Reihe von
Diebstählen, deren Thäter nicht ermittelt werden konnten. Im Jahre 1830
wurden vornehmlich die Kassen der Buchhändler bestohlen. Nicht weniger als
33 Diebstähle, deren Thäter nicht aufzufinden waren, kamen in diesem einen
Jahre zur Anzeige; ungefähr 9000 Thaler waren gestohlen worden. Als nun
gar in der Nacht zum 23. Dezember desselben Jahres in der Quästur der könig-
lichen Universität mit erstaunlicher Kühnheit und Gewalt 2300 Thaler Gold
und Kurant gestohlen waren, ein Diebstahl, zu dessen Vollführung nicht weniger
als acht Thüren und zwei mit Eisen beschlagene Geldkasten erbrochen worden,
da schien in Berlin Eigentum überhaupt nicht mehr sicher zn sein. Nur der
unausgesetzten Thätigkeit der Polizei gelang es, die Diebe aufzufinden. Es
waren nämlich öfters zwei fremde Juden in Begleitung des in Berlin wohnenden,
als Nachschlüsseldieb bekannten Löwenthal gesehen worden. In Erfahrung wurde
gebracht, daß die Fremden schon wiederholentlich gestohlen hatten. Einige der
bestohlenen Buchhändler sagten aus, daß sie die beiden Fremden vor den bei
ihnen verübten Diebstählen in ihren Geschäften gesehen hätten. Nun wurde
bei Löwenthal Haussuchung gehalten. In seiner Wohnung war seine Ehefrau
Fanny, die Tochter eines berüchtigten Diebes aus Betsche, sein elfjähriger
Sohn Louis und ein Dienstmädchen, die Tochter eines sehr verrufenen Diebes
aus Potsdam.
Zunächst fiel es den Polizeibeamten auf, daß sie bei Löwenthal rot-
buchenes Holz fanden, dasselbe Holz, aus dem ein zugespitzter Keil in dem
Lokale der Universitätsquästur gesunden war. Der Verdächtige hatte ein nicht
unbedeutendes Warenlager, und als er gefragt wurde, wie er zu den Waren
gekommen fei, holte er aus einer Rocktasche eine Rechnung über dieselben hervor
und steckte bei dieser Gelegenheit seiner Frau zwei zugleich aus der Tasche ge-
zogene Nachschlüssel zu. Lange suchten die Beamten noch nach weiteren verdächtigen
Die Betscher Gauner. 433
Gegenständen vergeblich, bis ein am Fenster stehender Blumentopf die Auf-
merksamkeit eines Beamten auf sich zog. Der Topf wurde zerschlagen und es
fanden sich in einem Läppchen in der Erde 29 doppelte, 15 einfache und 12
halbe Friedrichsdor Geld, das nach der Aussage des Löwenthal schon lange
dort von ihm aufbewahrt wurde. Weil nun schon mehrere Thatsachen gegen
Löwenthal sprachen, wurde er, seine Frau, sein Sohn und sein Dienstmädchen
verhaftet. Weitere Nachsuchungen brachten eine Börse mit 64 Lonisdor zum
Vorschein, von denen der bestohlene Qnästor einige als ihm entwendet erkannte,
und einen Nachschlüssel, der in einem Vogelbauer versteckt war und der, wie sich
bald herausstellte, das Gewölbeschloß in der Quästur öffnete. Als der Gefangene
einsah, daß ihm kein Leugnen seine Freiheit wiedergeben würde, daß zu viele
Thatsachen gegen ihn sprachen, da gestand er ein, daß er einer wohlorganisierten
Diebesbande angehöre und gestehen werde, wenn ihm Ungestraftheit zugesichert
würde. Die Behörden waren anfänglich wohl im Zweifel, ob einem so ge-
fährlichen Menschen ein solches Zugeständnis gemacht werden könne. Da man
aber kein Mittel fand, der Diebe habhaft zu werden, so wurde dem Löwenthal
Begnadigung versprochen, wenn er alles gestände und jeden Dieb namhaft machen
würde. Nun gestand Löwenthal, daß er eigentlich ein Nepper, d. h. ein Be-
trüger, sei, erst 1828 ein Gannew, d. h. ein Dieb, geworden sei und sich einer
Chawrusse, d.h. einem Diebesverein, angeschlossen habe und bei 37 Diebstählen
beteiligt sei. Nenn sehr gefährliche Diebe wurden von ihm namhaft gemacht
und von der Polizei verhaftet, er selbst in Freiheit gesetzt.
Unter den Verhafteten befanden sich auch zwei Polizeivigilauteu, Jonas
und Rosenthal. Solche Vigilanten sind Menschen, die meist wegen Diebstahls
mehrere Male bestraft worden, dann aber in den Dienst der Polizei getreten
sind, um ihr beim Auffinden der Diebe behilflich zu sein; sie bekommen, wenn
sie Diebe aussindig machen, für ihre Thätigkeit vom Staate eine Vergütigung;
ihre Dienste sind, weil solche Menschen mit den Schlichen der Diebe am besten
bekannt sind, oft von großem Nutzen.
Die Gauner wußten Rosenthal und Jonas allmählich auf ihre Seite zu
ziehen, so daß diese zwar meist nicht persönlich stahlen, aber die Aufmerk-
samkeit der Polzei von den Dieben ablenkten und für diesen Dienst einen Teil
der Beute erhielten. Rosenthal verstand sich außerdem vorzüglich auf das
Baldowern, d. h. er wußte Gelegenheiten zum Stehlen auszukundschaften und
diese den Gaunern anzugeben. Leider konnte die Polizei mit den Verhafteten
nichts anfangen, da kein einziger gestand, und schon war man nahe daran, die
Menschen frei zu geben, als Mißgunst eines Gefangenen die Angelegenheit in
ein andres Fahrwasser brachte. Wohlauer nämlich wußte, daß er von Löwenthal
verraten worden und daß dieser für den Verrat in Freiheit gesetzt war; zugleich
war es ihm nicht unbekannt geblieben, daß der Angeber nur unter der Be-
dingung eines vollständigen Bekenntnisses begnadigt war, dieser aber einige
Diebe aus seiner Verwandtschast verschwiegen hatte. Nun wünschte anch er die
Freiheit zu erhalten, wenn er alles entdecken würde. Als ihm dies nicht ge-
währt wurde, rächte er sich an Löwenthal, indem er erklärte, daß dieser kein
vollständiges Bekenntnis abgelegt habe. Der entlassene Schuft und andre Diebe
wurden eingezogen. Wiederum gestand niemand; vor allen Dingen leugnete
der Vigilant Rosenthal, auf dessen Aussage alles ankam, hartnäckig. Wohlauer
Deutsches Land und Volk. VIII. 23
434 Im Regierungsbezirk Posen.
selbst mußte den Menschen in eine Falle locken und zum Geständnis bringen.
Er schrieb nämlich im Einverständnis mit der Behörde an ihn einen Brief uud
übermittelte ihm denselben durch den ins Geheimnis gezogenen Ofenheizer.
Rosenthal antwortete, wurde dann dem Wohlauer gegenübergestellt und ihm
sein Brief vorgelegt. „Um alle Erfahrungen seines 60jährigen Lebens betrogen,
sank er lautlos auf einen Stuhl nieder. Unfähig, ein Wort hervorzubringen,
machte endlich ein Strom von Thränen seinem Herzen Luft und er versprach,
nunmehr ein offenes Bekenntnis über alles abzulegen, was er je in seinem
Leben bedangen habe. Ein Raub und mehr als 200, größtenteils gewaltsame
Diebstähle, unter denen sich allein 36 Kasseneinbrüche befinden, wurden von
ihm nach und nach eingestanden. Erst durch dieses Geständnis erhielt die Unter-
suchung ihren grenzenlosen Umfang.
„Mehr als 500 Personen waren des Diebstahles, der Diebeshehlem ober
des Meineides für den Nachweis des Alibi der Diebe bezüchtigt, deren Ver-
Haftung also größtenteils Erfordernis war. Sie wohnten in fast allen Pro-
vinzen des preußischen Staates, vornehmlich aber in dem Großherzogtum Posen,
und dort wieder vorzugsweise in dem Städtchen Betsche."
Wie aber konnte man der Gauner habhaft werden? Gerade im Pofenfchen,
wo die meisten und gefährlichsten Verbrecher nisteten, sah es mit der obrig-
keitlichen Gewalt am übelsten aus, waren die Behörden am unzuverlässigsten.
Der gewöhnliche Weg, auf dem man nach Dieben fahndete, konnte daher zu
keinem Resultate führen. Deshalb wurde eine besondere Untersuchuugskom-
Mission, die aus einem Justiz- und zwei Polizeibeamten bestand, eingesetzt
und ins Posensche, besonders nach Betsche geschickt; diese sollte gegen die ab-
gefeimtesten Gauner und Diebe operieren und bedurfte zu diesem Zwecke eines
Menschen, „der mit Lokal- und Personalkenntnis ausgerüstet, in die Mysterien
des Diebes- und Gaunerwesens eingeweiht und mit Umsicht und Gewandtheit
die dem Auge des Beamten oft tief verdeckten Spuren der Verbrechen und
Verbrecher zu ermitteln im stände war, mit einem Worte, sie bedurfte eines
Vigilanten." Niemand war zu diesem Posten geeigneter als Rosenthal, der,
seit dem Jahre 1802 von der Polizei verfolgt, die Provinz Posen, die damals
zum Herzogtum Warschau gehörte, nach allen Richtungen hin durchstreift, in
den berüchtigtsten Diebesnestern gewohnt und mit Gaunern verkehrt hatte, der
auch durch sein Geständnis Sicherheit zu gewähren schien dafür, daß er ein
etwaiges Vertrauen der Behörden nicht mißbrauchen würde. Er wurde also
der Kommission als Vigilant beigegeben.
Gleichzeitig mußte gegen alle in der Provinz Posen zu verhaftenden Per-
sonen vorgeschritten werden. Die Nacht vom 20. zum 21. Januar 1832
war zur Verhaftung ausersehen, weil am Abend vorher der jüdische Sabbat
begonnen hatte und um jene Zeit gerade Vollmond war, beide Thatfachen aber
voraussetzen ließen, daß die jüdischen Verbrecher, welche bekanntlich am Sabbat
nicht reisen dürfen und nur in dunklen, weder durch Mondschein noch durch
Schnee erhellten Nächten auf Diebstahl ausziehen, in ihren Wohnungen an-
getroffen werden würden.
In jener Nacht also sollten von mehreren landrätlichen Behörden die ihnen
bezeichneten Personen verhaftet werden, während die Kommiffarien selbst sich
nach Betsche wandten, Verhaftungen und Haussuchungen vornahmen.
Die Betscher Gauner. 435
Trotz der größten Vorsicht, die von den Behörden beobachtet wurde,
hatten die Diebe Nachricht bekommen von dem Streiche, den man gegen sie vor-
hatte, und wären die Beamten nur 24 Stunden später erschienen, so hätten
sie das ganze Nest leer gefunden, denn der nächstfolgende Tag war von allen
Gaunern in Betsche zur gemeinschaftlichen Flucht bereits festgesetzt worden,
wie sie dies später selbst gestanden haben. Die Kommissarien trafen am
21. Januar früh um 4 Uhr mit Gendarmen und zuverlässigen Meseritzer
Bürgern in Betsche ein, sämtliche Häuser, in denen zu verhastende Ver-
brecher wohnten, wurden in aller Stille mit Zuziehung des herbeigekommenen
Bürgermeisters umstellt, vorläufig jeder Einwohner, der sich auf der Straße
sehen ließ, festgenommen zur Verhütung von Verdunkelungen der Thatsachen,
dann wurden die Verhaftungen der Diebe vorgenommen. Es wurde ans Fenster
gepocht. Die Leute, welche noch im tiefsten Schlafe lagen, erwachten, fragten,
wer da sei, und der Bürgermeister sagte dann, es solle geöffnet werden, er habe
eine schleunige Mitteilung zu machen. Der Schlaftrunkene öffnete alsbald Thür
oder Fenster und wurde von den Gendarmen ergriffen und gefesselt. So ging es
von Haus zu Haus. Die unternehmendsten Verbrecher wurden gefaßt, nicht
einem einzigen Gauner gelang das Entkommen. Alle Verhafteten wurden am
nächstfolgenden Tage geschlossen nach Berlin abgeführt. In derselben Nacht
erfolgten auch Verhaftungen in andern Orten der Provinz Posen, wie in
Rostarczewo, Rackwitz, Bentschen, Schermeisel, Grätz und andern Städten „Es
gewährte im Monat Januar und Februar eiueu eignen Anblick, täglich die
Transporte jener berüchtigten, oft ergrauten Übelthäter durch die Straßen
Berlins kommen zu sehen, die, auf Bauernwagen geschlossen, mit finsterem Trotze
in den verdächtigen bärtigen Gesichtern ihrem Verhängnisse entgegenfuhren,
das sie sich denn freilich wohl so schwer nicht vorstellen mochten, wie es sich
doch in der That für sie gestalten sollte." Da sich die Diebesbande weit über
das Posensche Gebiet hinaus ausgedehnt hatte, mußten auch in andern Pro-
vinzen Verhaftungen vorgenommen werden. Zu Anfang des Monats Juni
waren im Posenschen 59, im Regierungsbezirk Frankfurt a. O. 22. im ganzen
also 81 Personen verhaftet. Durch die Haussuchungen, die sich den Verhaftungen
anschlössen, waren ungefähr 12 000 Thaler in Beschlag genommen und Sachen
im Werte von einigen tausend Thalern mit Beschlag belegt worden. Infolge
der Eingeständnisse wurde die Ausdehnung der Untersuchung beispiellos. Bald
waren 197 Menschen zur Haft gezogen, andre verdächtige Personen mußten
auf freiem Fuße gelassen werden, weil es an ausreichendem Gesängnisraume
mangelte. Dazu kam, daß die Untersuchung dem Staate in wenigen Monaten
schon 11 000 Thaler gekostet hatte, die Kosten also bei noch größerer Aus-
dehnnng der Angelegenheit unerschwinglich werden mußten. Als daher im
Sommer 1834 der Abschluß der Untersuchung erfolgte, ohne daß alle Ver-
dächtige verhaftet waren, fanden sich in dieselbe verwickelt 520 Personen, von
denen nur 204 zur Untersuchung gezogen waren. So wurden viele sehr ge-
fährliche Diebe und Diebeshehler aus längere oder kürzere Zeit für die mensch-
liche Gesellschaft unschädlich gemacht. „Der größte Teil der in die Untersuchung
verflochtenen Individuen", sagt Thiele in dem bereits angeführten Buche, „ge-
hört der Klasse jener unverbesserlichen Gauner an, die, den Gesetzen aller Länder
hohnsprechend, keinen andern Lebenszweck kennen als die Vermögensbeschädigung,
28*
436 Im Regierungsbezirk Posen.
deren Stammtafeln nichts als Räuber und Diebe nachweisen. Eine wahre Geißel
aller öffentlichen Kassen und begüterten Privatpersonen, hatten sie es verstanden,
seit einer Reihe von Jahren, ja seit einem Menschenalter ihr verbrecherisches
Treiben fortzusetzen, größtenteils nur von und durch Diebstahl zu leben und
oft zahlreiche Familien zu erhalten, ohne von der strafenden Gerechtigkeit mehr
als höchstens oberflächlich berührt zu werden."
Von den in der Verhandlung erörterten Verbrechen bestehen 506 aus
Raub und gewaltsamen oder sonst beträchtlichen Diebstählen, durch die 46 öffent-
liche Kassen und 460 Privatpersonen, soweit sich der Betrag hat feststellen lassen,
um mehr als 210 000 Thaler bestohlen worden sind: die Akten bestehen aus
2050 Bänden. An Zuchthausstrafe wurde in erster Instanz erkannt auf 1264
Jahre, an körperlicher Züchtigung auf 1380 Streiche. Zu 10 Jahren und
darüber sind 56 Individuen verurteilt, das höchste Strafmaß ist 30 Jahre;
freigesprochen find von den Angeschuldigten nur fünf Personen.
Merkwürdige Resultate hat die Untersuchung des gaunerischen Banden-
Wesens zu Tage gefördert, von denen nur einiges angeführt werden soll. Die
Diebe sind vollständig organisiert, jeder hat bestimmte Aufgaben, die zu lösen
er am meisten geeignet erscheint, jeder hat seinen Spitznamen, mit dem er ge-
rufen wird, nm nicht verraten zu werden; die Diebe sprechen ihre eigne Sprache,
in der vieles aus dem Hebräischen entlehnt ist; sie wenden dieselbe an, um von
unbemerkten Lauschern nicht verstanden zu werden. Mehrere Diebe vereinigen
sich zu einer Chäwre oder Chawrnsse, d. h. zu einer Diebesbande. Jede Ge-
sellschast hat einen Bohnherrn oder Balmassematten, d.h. einen Anführer; seine
Wahl hängt von der Größe seiner Geschicklichkeit'im Einbrechen, im Öffnen von
Schlössern oder dergleichen ab. Jede Chawrusse besitzt ihr gemeinschaftliches
Schränkzeug (d.h. das zum Einbrechen erforderliche Werkzeug), ihre Klamoniß
(d. h. Nachschlüssel) und ihr Fuhrwerk. Die Diebe zerfallen in verschiedene
Klassen. Diejenigen, welche mittels nächtlichen Einbruchs stehlen, heißen Schrän-
ker; Nachschlüsseldiebe werden Taltalmifch, auch Kuffer, Latthener genannt. Die
bei Tage stehlen, heißen Jommakkener; ein Schottenseller betreibt den Diebstahl
auf Messen, Märkten und in Kaufläden; ein Torfdrucker oder Seifensieder ver-
übt den Taschendiebstahl ans Messen und Märkten, im Theater und bei Volks-
festen; Chalseu sind Leute, die beim Umwechseln des Geldes stehlen; Kitten-
schieber sind solche, die sich in Häuser einschleichen, besonders in den Morgen-
stunden, dann in die Zimmer treten und, wenn sie keinen Menschen in denselben
finden, Geld und Wertsachen entwenden; Goleschächter pflegen von Reise- und
Frachtwagen Koffer oder Warenballen abzuschneiden; die Tchillesgänger gehen
in den Abendstunden oder in der Dämmerung auf Diebstahl aus; die Nepper
prellen besonders die Landleute, indem sie ihnen falsche Ware für richtige, un-
echte für echte ausgeben, z. B. Tombak für Gold, Neusilber für echtes Silber.
Eine wichtige Rolle fpielt in der Bande der Baldower, oft alte und schwache
Leute, die selbst nicht mehr stehlen können; sie haben die günstige Gelegenheit
zum Diebstahle auszukundschaften, ihnen gebührt dann ein bedeutender Anteil
an der Beute.
An vielen Stellen haben die Diebe ihre Chessen Spiesen oder Ehesten
Pennen (d. h. ihre Diebesherbergen), in denen sie zusammen ihre verderblichen
Pläne schmieden und das geraubte Gut verprassen.
Die Betscher Gauner. 437
„Was dem Juden, wenn er zum Verbrecher wird", sagt Thiele, „und
was daher auch dem jüdischen Gauner noch über alles den Stempel der nie-
drigsten Verächtlichkeit und Schlechtigkeit aufdrückt, das ist seine empörende
Frömmelei. Sechs Tage in der Woche fürchten sie sich nicht des Frevels gegen
göttliche und menschliche Gesetze, indem sie ihre Hand nach fremdem Eigentum
ausstrecken, und sie würden auch am siebenten keinen Gewissensskrupel dabei
finden; wenn nicht rabbinische Dogmen ihnen am Sabbat jede Art von Ge-
schäften untersagten. Ihr Geschäft aber ist der Diebstahl, welcher sie nährt,
und nur weil er ihr Geschäft, nicht weil er ein Verbrechen ist, halten sie ihn
am Sonnabend für unerlaubt, glauben nur au diesem Tage mit demselben die
Gottheit und die Heiligkeit des Sabbats zu beleidigen. Noch ehe die Sterne
am Freitag am Horizont funkeln, unterbricht der reisende Dieb seine Tour und
beeilt sich, eine Herberge zu erreichen, wo er den Schabbes feiern kann, an
welchem ihm ja das Reisen verboten ist. Mit dem Anzünden der Sabbatkerze
verschließt der Schärfenfpieler sein Haus, das die ganze Woche dem Verbrechen
geöffnet war, in dem vielleicht noch vor wenigen Stunden der Raub der vorigen
Nacht geteilt worden ist.
Ehrsamen Schrittes und andachtsvollen Angesichts geht er in die Syna-
goge, um dort in dem Gebete den Gott Israels um Segen in seinen Ge-
schäften anzurufen.
„O über diese Menschenrasse, die das Genießen eines Stückchens gesäuerten
Brotes, das Schreiben ihres Namens am Sabbat für eine größere Sünde hält
als das nach Systemen und mit kalter Berechnung herbeigeführte Verderben
ihres Mitmenschen!"
Trotz der größten Aufmerksamkeit, welche in den Gefängnissen von den
Beamten beobachtet wird, unterhalten sich doch die Verhafteten miteinander in
der ihnen eigentümlichen Sprache. Es möge hier eine Unterredung angeführt
sein, welche zwischen den Gefangenen Elias Nelky und Brusendorf, von denen
dieser in einem Gefängnisse im ersten Stocke, jener in einem des zweiten Stock-
Werkes saß, am 9. Dezember 1831 morgens 4 Uhr in Berlin stattfand und
die belauscht worden ist.
Nelky: Nachbar oben. Haft du den Keim (Juden) neben dir gefragt, wie
er sich ans Jüdisch (mit hebräischem Spitznamen) nennt?
Brusendorf: Nein. Das habe ich ganz vergessen.
N. Es ist wirklich wahr, daß er pfeift (einräumt).
Br. Aber aus keine Cheffen (zur Bande Gehörige); nur auf den Sslicherer
(Verräter) Löwenthal.
N. Das ist sehr gut, dann ist er doch brav. Das habe ich auch gethan;
ich habe ihn auch versslichent (verraten).
Br. Das ist recht. Nur nicht geschont.
N. Den Tag, als ich mit Wohlauer oben konfrontiert wurde und ihn
dabei schimpfte und in die Augen schlug, sagte mir der Balverschmai (Verhörs-
Herr, Untersuchungsrichter), es hätten nach Wohlauer schon mehr eingeräumt;
es kämen noch 50 Menschen in diese Untersuchung, und sie würde noch drei Jahre
dauern. Das ist aber nicht wahr, denn so viel Spitzbuben sind gar nicht mehr
auf freiem Fuß.
Br. Das glaube nicht. Das ist ein Blefser (Schreckwort).
438 Im Regierungsbezirk Posen.
N. Er hat es aber registrieren lassen. Ob der dicke Rosenthal Wohl ein-
gestehen wird?
Br. Der gewiß nicht. Er liegt ja an der Barsel (Kette).
N. Das ist ihm recht. Mag er nun dafür büßen, daß er manchen Ehesten
(Genossen) ins Unglück gebracht hat.
N. Wird Schacher (ein Mitgefangener) wohl pfeifen?
Br. Der gewiß nicht.
N. Wenn ihm aber Wohlauer ins Ponim (Gesicht) kommt, ob er sich
dann nicht wird schrecken lassen?
Br. Er wird noch nicht einmal wissen, daß Wohlauer pfeift. Sag' es
ihm doch.
N. Das thne ich nicht; ich traue keinem mehr. Mag pfeifen, wer da
will, ich nicht.
Br. Du kannst auch nur wenig Knaß (Strafe) bekommen, denn du bist
ja noch nicht bestraft.
N. Ja, vier Wochen wegen Torfdrucken (Taschendiebstahl), aber nicht
wegen gewaltsam. Wer ist denn der Bernhardt, von dem du mir neulich sagtest?
Ist er Torfdrucker oder Schränker (Einbrecher)?
Br. Er ist Schränker. Der ist ein tüchtiger Gannew (Spitzbube). Er
hat noch Brüder, die auch chesse (brave) Juugens sind.
N. Schmuse (sprich) man betnch (leise). Der Balmach (Soldat, Schild-
wache) hat schon gemossert (gedroht, gewarnt); er will uns anzeigen. Hast du
denn noch Schnisfling (Schnupftabak)?
Br. Nein, ich habe keinen. Wenn du welchen hast, so laß mir doch an
der Kutsche (Schnur, Bindfaden) etwas herunter.
In dieser Weise unterhielten sich die Diebe in den Gefängnissen und ver-
ständigten sich untereinander. Jetzt ist von ihnen keiner mehr in Haft, mancher
ist im Gefängnis gestorben, die meisten sind in die Freiheit, nachdem sie ihre
Strafe abgesessen hatten, zurückgekehrt. In Betsche aber wurde eine gute Ver-
waltung eingeführt, und der Ort besindet sich in beträchtlichem Steigen; er
zählt jetzt schon 1921 Einwohner.
Der Dom von Gnesen.
Im Kkzimnzsbrzirk fmnlierg.
Die Sage von der Gründung Gnesens. — Die ersten Herrscher. — Kruschwitz und
der Mäuseturm am Goplosee. — Piast und seine Nachkommen. — Der heilige
Adalbert. — Bromberg. — Pan Twardowski. — Kleine Städte im Regieruugs-
bezirk Bromberg. — Wongrowitz. — Czarnikau. — Tremessen. — Jnowrazlaw.
Die Sage von der Gründung Gnesens. Posen können wir auf sechs ver-
schiedenen Bahnstrecken verlassen. Schlagen wir zunächst den nach Nordosten
führenden Weg ein, um nach dem alten Gnesen zu gelangen. Wenn wir un-
gefähr 30 km. gefahren find, halten wir bei Pudewitz, einem Örtchen von
etwa 2000 Einwohnern, das schon vor 1250 gegründet ist, im Genuß des
Magdeburgischen Rechtes und unmittelbar dem Landesherrn untergeben war.
Hier verlassen wir den Regierungsbezirk Posen und treten in den von Brom-
berg über. Sobald wir 20 km weiter in nordöstlicher Richtung gefahren sind,
sind wir in Gnesen angelangt.
Gnesen (Grniezno) soll um das Jahr 550 n. Chr. gegründet worden sein.
Als die drei Brüder Rus, Czech und Lech, die lange voneinander getrennt
waren, sich an den Ufern der Cybina zusammenfanden und mit dem Worte
poznajg (ich erkenne) sich wiedererkannten, erbauten sie dort, wo sie sich fanden,
die Stadt Poznan (Posen) und trennten sich dann; Lech blieb an den Ufern
der Cybina, während seine Brüder abzogen und ihre Reiche gründeten. Einst
gelangte Lech, so erzählt die Sage, auf einem seiner Beutezüge in eine Gegend
östlich von Posen, wo sieben bewaldete schöne Hügel lagen. Bei dem Herannahen
440 Im Regierungsbezirk Bromberg.
der Menschen erhob sich von den Hügeln ein ungemein großer Schwärm von
weißen Riesenadlern, und der ganze Hain war mit Adlernestern angefüllt.
Lech wurde von einem dieser Adler, der sich in seinem Nacken verfing, über-
fallen, und erst nach tapferer Gegenwehr gelang es ihm, den Aar zu bewältigen.
Auf dem Hügel, auf dem sich das Nest (gniazdo) des Tieres befand, legte er
eine Burg an; dort baute er, ein königlicher Aar, sich sein Nest, von dem aus
er mit seiuem Geschlechte die Lande weit umher beherrschen wollte. Er faud
die Gegend vorzüglich geeignet zur Gründung einer festen Stadt, ließ den Hain
niederhauen, erbaute neben der Burg zum Dauke den Göttern, die ihn so günstig
geführt hatten, einen Tempel und ließ ringsherum eine Stadt erbauen, welche
er G-niezna, d. h. Nest, nannte. So wurde die Stadt Gnesen gegründet.
Zum Andenken an jene Adler und in Verehrung des göttlichen Winkes
erkor Lech den Adler zum Sinnbilde und Zeichen seiner Herrschaft. Deshalb
ist der weiße Adler mit ausgebreiteten Fittichen auch in das Wappen des pol-
nischen Reiches aufgenommen worden.
Lech bemühte sich, sein Volk zu Ackerbauern zu machen; er selbst bebaute
bei seiner Residenz die jungfräuliche Erde, die noch kein Pflug berührt hatte.
Sie lohnte die Arbeit mit reichem Ertrage, und bald entstanden Meiereien,
größere und kleinere Dörfer in der Nähe Gnefens, und immer zahlreicher
drängten sich die Einwohner nach dem Sitze ihres Herzogs, der dem Volke
weise Gesetze gab und Recht und Ordnung im Lande mit Kraft. Klugheit und
Mäßigung handhabte.
Lechs Tod verbreitete tiefe Trauer über das ganze Land. Die angesehensten
Männer aus allen Gegenden des Reiches kamen in Gnesen zusammen, um über
das Wohl des Staates zu beraten. Da zeigte sich wieder der alte Unabhängig-
keits- und Freiheitssinn der Lechiten; sie wollten sich keinem Manne unterwerfen
und doch ein zusammengehöriges Volk bleiben. Deshalb wählten sie keinen
König, sondern zwölf Männer, die sich durch Reichtum, Ansehen und ehren-
werten Charakter auszeichneten, denen sie die Sorge für das Reich auftrugen.
Aber jetzt wollte jeder herrschen, keiner gehorchen; der starke Mann unterdrückte
den schwachen, bis sich ein stärkerer wieder des starken bemächtigte; Eigennutz
trat an die Stelle des Gemeinsinnes, Privatleidenschaft an die Stelle der Ge-
rechtigkeit. Während Unfriede im Reiche herrschte und jeder unbewußt am
Untergange seines Vaterlandes arbeitete, stürmten die Nachbarn als Feinde in
das Land ein, eroberten große Striche desselben und schleppten die Einwohner
als Sklaven hinweg. Der Ruhm und die Macht der Lechiten war eingehüllt
in tiefe Schmach und arges Zerwürfnis. Fast 150 Jahre gingen so in großem
Elend hin. '
Die ersten Herrscher. Da erinnerten sich die wackeren Männer, die von
quälendem Schmerz über die Leiden des Vaterlandes erfüllt waren, an ihren
Stammvater Lech und an seine Weisheit; sie beriefen das Volk zu eiuer großen
Versammlung an die Quellen der Weichsel. Unter der Volksmenge trat ein
Mann auf, Crae mit Namen, der durch Rechtlichkeit, Weisheit und Erfahrenheit
im Kriegswesen bekannt war, und zog durch seine Reden die Aufmerksamkeit
der Anwesenden auf sich. „Lächerlich ist", so sprach Crae, „ein verstümmeltes
Tier und ein kopfloser Mensch. Was ist ein Körper ohne Seele, was eine
Die ersten Herrscher. 441
Welt ohne Sonne, was ein Reich ohne König?" Darauf schilderte er in den
lebhaftesten Farben die Leiden des Landes und die Schmach des Volkes und
führte als Ursache des Verfalles an, daß dem Reiche das Haupt, der König,
fehle. Lauter Beifall ward dem Redner zu teil; die Versammlung bat ihn, die
Krone anzunehmen und das Reich aus den Trümmern wieder auszurichten:
Crae sträubte sich lange, die ihm angebotene Ehre anzunehmen. Endlich gab
er den eindringlichen Bitten nach, ergriff das Zepter und handhabte die ihm
übertragene Macht mit solcher Weisheit und Mäßigung, daß er Vater des
Volkes genannt wurde. Mit den Nachbarn führte er siegreiche Kriege, viele
Feinde unterwarf er seiner Herrschast. An der Weichsel gründete er eine Stadt,
die er nach seinem Namen Krakau nannte, machte sie zu seinem Wohnsitze und
sprach von dort aus Recht und gab den Lechiten, d. h. den Polen, Gesetze, welche
noch lange nach ihm als die Grundlage des polnischen Rechtes geachtet wurden.
Krakau konnte jedoch lange Zeit nicht zu der gewünschten Blüte gelangen;
denn in den Höhlen um die Stadt lag ein riesengroßer, grimmiger Drache, der
die Herden auf den Triften, das Zugvieh auf den Feldern, selbst Menschen an-
fiel und verschlang. Kein Wunder war es also, wenn die Menschen in bestän-
diger Angst waren, sich nicht in jene Gegend wagten, in der sie nicht sicher
leben konnten. Kein Fremder kam, um sich in Krakau niederzulassen; und die-
jenigen, welche dort wohnten, entschlossen sich, dem wilden Getier allwöchentlich
eine bestimmte Anzahl Vieh zum Fräße preiszugeben; doch reifte bei vielen
der Entschluß, lieber die Stadt zu verlassen, als täglich ihr Leben uud Gut
bedroht zu sehen. Da rief der alternde Crae, der seinem Vaterlande ein zärt-
licherer Sohn als seinen Söhnen ein zärtlicher Vater war, seine beiden Söhne,
Lech und Crac, zu sich und sprach zu ihnen: „Euch, meines Lebens Hälfte, habe
ich in meinen Tugenden erzogen; ich habe gewollt, daß ihr tapfer seid und die
Verteidigung und Beschirmung des Wohles eurer Mitbürger übernehmt. Zaudert
also nicht, sondern gehet hin und waffnet euch zur Erlegung des Ungeheuers,
das die Bürger peinigt." Die Söhne gehorchten willig den Worten des Vaters,
konnten aber mit den Bürgern das Ungeheuer nicht so leicht besiegen, als sie
gehofft hatten.
Aus den Worten des Vaters hatte der jüngere Bruder erkannt, daß beide
Söhne dem Vater gleich lieb sind, beide ihm in der Herrschaft folgen sollen.
Er, ergrimmt über dieses Ansinnen, betrachtet fortan seinen ältern Bruder als
Feind und erschlägt ihn, um in den alleinigen Besitz der väterlichen Krone und
Herrschaft zu gelangen. Von dem Morde seines Bruders kehrt er heim zum
Vater und weint, der Drache habe den Bruder erschlagen; der trauernde Vater
begrüßt seinen Sohn und dankt ihm für die Tapferkeit, daß er dem Ungetüm
wenigstens den teuren Leichnam entrissen habe.
Als man einsah, daß man im offenen Kampfe den Drachen nicht besiegen
konnte, nahm man zur List Zuflucht. Rinderhäute wurden mit Pech, Schwefel
und andern brennenden Stoffen angefüllt, in die Nähe der Höhlen geworfen
und an versteckten Stellen angezündet. Der Drache stürzte sich auf die Häute
und verschlang sie mit gewohnter Gier, wurde aber nun vom innern Brande
im Leibe verzehrt.
So wurde Krakau von der Plage befreit und gewann bald an Größe und
Ausdehnung, so daß Gnesen fast gänzlich verdunkelt wurde. Crac regierte noch
442 Im Regierungsbezirk Bromberg.
viele Jahre und starb in hohem Alter. Auf die Kunde von seinem Tode verfiel
das Land in tiefe Trauer; das Volk strömte aus allen Himmelsgegenden herbei,
um der Beerdigung der fürstlichen Leiche beizuwohnen.
Ohne Schwierigkeit wurde der nach dem Morde Lechs einzige Sohn des
Verstorbenen gewählt und auf den Thron gehoben. Crac II. war ein verruchter
Erbe seines Vaters. Daß seine Hand durch den Brudermord befleckt war, blieb
nicht mehr verborgen. Bald verbreitete sich das Gerücht von der schändlichen
That. Erst flüsterte man es sich leise von Mund zu Mund zu, dann kam der
Frevel klar an den Tag. Von solchem Haß waren die Polen gegen ihren
Fürsten erfüllt, daß sie ihn vom Throne stießen und bei Todesstrafe aus dem
Reiche verbannten.
Auf den.verwaisten Thron erhob das Volk mit allgemeiner Übereinstimmung
eine Tochter Cracs I., die Wanda hieß, ein Mädchen von solcher Schönheit und
Anmut, daß jeder, der sie ansah, bezaubert wurde. Durch die Würde ihres Be-
nehmens, durch Wohlredenheit und Geistesfülle zog sie die Gemüter und Herzen
aller an sich. Zahlreiche Bewerber um ihre Hand fanden sich bei ihr ein; aber
sie wies sie alle zurück, widmete sich nur der Verwaltung des Staates und
regierte auf dem väterlichen Throne so vorsichtig, weise und gerecht, daß alle
ihr Herrschertalent und ihre Staatsklugheit bewunderten.
Als der von Wanda verschmähte mächtige Fürst Rithogar in Schmerz und
Zorn darüber, daß er verschmäht war, ein großes Heer sammelte, um in Polen
einzufallen und mit Gewalt der Waffen zu erlangen, was er in Güte vergebens
begehrt hatte, sandte er fürstliche Boten zur kampfbereiten Fürstin mit der
Weisung, sie sollten Schmeichelei, Bitten, Versprechungen, kurz alles aufbieten,
um den hartnäckigen weiblichen Sinn zu beugen. Wanda aber antwortete
männlich fest und mit Würde: „Für ein so schwaches und des heiligen Ehe-
bündnisses so unwürdiges Weib hält mich euer Fürst, daß er meint, ich, erhaben
durch den Ruhm und die Macht meiner Herrschaft, könne so schweres Unrecht,
mit dem er mein Reich angegriffen hat, vergessen und mich mit meinem Lande
ihm unterwerfen und zu der Erniedrigung meines Volkes und meiner Krone
die Zustimmung geben? Kampf hat er mir angesagt; wohl, er rüste sich!"
Die Gesandten zogen sich beschämt und bestürzt zurück. Als es aber zur Schlacht
kommen sollte und Rithogars tapfere Mannen den edlen Zorn verletzter Jung-
fränlichkeit aus den Augen der Fürstin flammen sahen, da sank ihr Mut und
ihre Kraft fiel in die Fesseln übermächtigen Zaubers. Nicht Bitten noch Über-
redungskünste, nicht Drohungen noch Strafen vermochten die Mannen zum
Kampfe gegen Wanda zu bewegen. Rithogar stürzte sich in Verzweiflung
darüber, daß alle seine Pläne schimpflich scheiterten und sein früherer Ruhm
gänzlich vernichtet war, ins Schwert. Mit unversehrtem Heere kehrte Wanda
triumphierend nach Krakau zurück und wurde mit unermeßlichem Jubel und
großen Feierlichkeiten empfangen. Glücklich über den wunderbar errungenen
Sieg und den bedeutenden Erfolg des Krieges, ordnete sie den Göttern dreißig-
tägige Opfer und Feste an und stürzte sich am Schlüsse der Feste, nachdem sie
reichliche Belohnungen an ihre Getreuen und verdienstvolle Männer ausgeteilt
hatte, vor den Augen ihres Volkes unter Gebeten, daß die Götter ihr gnädig
sein möchten, von der Weichselbrücke hinab in den flutenden Strom. Das ge-
schah um das Jahr 750 unsrer Zeitrechnung.
Die ersten Herrscher. 443
Mit Wandas Tode war Cracs Geschlecht erloschen. Da wollten die
Polen nicht unter die Herrschaft der Könige zurückkehren. In der Volksver-
sammlung wählten sie zwölf Führer, für jede Provinz einen, und nannten sie
Woiwoden, d. h. Führer der Heere. Diesen übertrugen sie die Sorge im Kriege
und die Verwaltung der Provinzen im Frieden; sie hatten das Land gegen die
Anfälle der Feinde zu schützen, das Heer einzuberufen, Zucht über die Wider-
spenstigen zu führen und Recht und Gerechtigkeit zu üben.
Aus jener Zeit schreibt sich die alte polnische Reichsversassnng her, nach
der jede Provinz ihren Woiwoden oder Palatinen hat.
Damals war jeder darauf bedacht, seinem Amte mit dem größten Fleiße
obzuliegen, damit in den Gemütern nicht die Sehnsucht nach einem Fürsten
erwache. Viele Jahre blühte der Freistaat, es war eine goldene Zeit. Aber
wandelbar sind die menschlichen Dinge; die Stimmung des Volkes ist wie ein
Scheit Holz auf schaukelnder Woge. Bald wurden die einen der Herrschaft der
Woiwoden überdrüssig, andre glaubten unter einem Herrscher besser beraten
zu sein. Die benachbarten Ungarn und Mähren benutzten die inneren Unruhen in
Polen, fielen in das Land ein und verwüsteten es grausam, denn die Woiwoden
wurden, so tapfer fie auch waren, geschlagen. Wie die Zahl der Krieger Polens
schwand, so wuchs die der Feinde, und Schrecken und Verzweiflung bemächtigte
sich des ganzen Volkes.
Da trat ein Mann auf, der den verlorenen Staat aus dem Verfalle wieder
aufrichtete und ihn zu dem alten Glänze zurückführte. Dieser Mann hieß
Przemysl. Er war aus unbekanntem Geschlecht, aber erfahren und hervor-
ragenden Geistes, ein Kriegsmann von ausgezeichneter Tapferkeit und Schlau-
heit, weit im Lande berühmt durch feine Gerechtigkeit. Durch eine List hatte
er die Feinde in einen Hinterhalt gelockt, in Unordnung gebracht und dann be-
siegt; die ungeheure Beute hatte er seinen tapferen Kampfgenossen überlassen.
Das Volk erhob ihn zum Fürsten, und weil er durch List den Sieg errungen
hatte, nannte man ihn Leszek, den Listigen.
Przemysl oder Leszek regierte viele Jahre in Kraft und Weisheit. Er
starb kinderlos. Da trat das alte Leiden der Polen wieder hervor, der heftigste
Streit über die Nachfolge in seiner Herrschaft. Der eine berief sich auf seine
edle Geburt, ein andrer auf seinen Reichtum, dieser auf seine rühmlichen Thaten,
jener aus feine Ahnen. Jeder suchte sich die Krone anzueignen, keiner wollte
dem andern nachstehen, die Verwirrung stieg mit jedem Tage; des Gezänkes
war kein Ende. Schon schien es, als sollte das Streiten in offenen, blutigen
Kampf übergehen, als man beschloß, die Wahl durch einen Wettlauf nach einem
Ziele zur Entscheidung zu bringen. Jede List, jeder Betrug, jede Gewaltthat
schien so bei der Ernennung des neuen Fürsten ausgeschlossen. Eine große
Ebene in der Nähe von Krakau wurde zum Wahlplatz auserlesen, der Tag des
Wettlaufes festgesetzt, eine Anzahl ehrwürdiger Greise zu Kampfrichtern bei der
Feierlichkeit bestellt. Dennoch mißlang der Plan. Ein verschlagener und zu-
gleich ehrgeiziger Mann hatte, um sich den Sieg zu sichern, in einer finstern
Nacht den ganzen Rennplatz mit Fußangeln unter dem Rasen belegt und nur
einen schmalen Weg, auf dem er selbst zu rennen beabsichtigte, freigelassen; aber
sein Betrug wurde entdeckt. Zwei Jünglinge von niedriger Herkunft gingen
am Abende vor dem Wahltage auf den Rennplatz und begannen zu laufen, um
444 Im Regierungsbezirk Bromberg.
sich einen Scherz zu machen. Da wurden ihre Füße durch die Angeln arg ver-
wundet; sie errieten die Hinterlist, entdeckten den freien Weg und belegten auch
ihn mit Angeln, damit dem Erfinder des Planes seine Absicht vereitelt werde.
Kaum hatte am andern Morgen das Rennen begonnen, so herrschte die
allgemeinste Verwirrung; denn die an den Füßen durch die Fußeisen verwun-
deten Rosse bäumten sich, kehrten um, sprangen seitwärts, stürzten und warfen
ihre Reiter ab. Nur der eine der beiden Jünglinge, die am Abende vorher
den Betrug entdeckt hatten, kam mit seinem Rosse ungefährdet ans Ziel; der
andre aber machte sich, als er die tollgewordenen Rosse sah, zu Fuß auf, ver-
mied durch geschicktes Springen die Angeln und umfaßte als zweiter das Ziel.
Der Jüngling, der zuerst das Ziel erreicht hatte, wurde unter Jubelruf
als König begrüßt. Als man aber sah, daß er die Füße seines Pferdes mit
starken eisernen Schienen beschlagen hatte, so daß die Angeln dem Tiere nichts
schaden konnten, bemächtigte sich des Volkes eine unbeschreibliche Wut; er wurde
für den Erfinder der Tücke gehalten, um sich mit Hinterlist des polnischen
Thrones zu bemächtigen, vor Gericht gezogen, zum Tode verurteilt und alsbald
in Stücke zerrissen; sein Freund aber, der zu Fuß nach dem Ziele gerannt war,
wurde unter Beifallruf auf den Königsthron erhoben; er nannte sich Lesko
oder Leszek II.
Der neue König bewährte sich bald durch glänzende Edelthaten und aus-
gezeichneten Heldenmut, wie selten ein Königssohn; für sich lebte er sparsam
und mäßig, verschwenderisch nur gegen Arme, freigebig gegen Gäste und Pflicht-
treue Diener. Nie vergaß er seiner niedern Herkunft; bei öffentlichen Gelegen-
heiten ließ er, prangend in der Fülle der Macht, des Glanzes und Ruhmes,
während der Königsmantel feine Schultern schmückte, neben dem Throne seine
früheren Bauernkleider anfhängen.
Er hinterließ einen einzigen Sohn, der auch Leszek hieß und den die Polen
in Rücksicht auf die Thaten und Verdienste des Vaters auf den Thron erhoben;
er nannte sich Leszek IU. und zeigte sich des geschenkten Vertrauens würdig;
seine Tapferkeit erwarb ihm Ehre und Ansehen im Vaterlande und bei Fremden.
Unter ihm dehnte sich das polnische Reich von der Weichsel bis zur Elbe und
über die ganze südliche Ostseeküste hinaus.
Kraschwitz und der Mänscturm am Goplosee. Leszeks Sohn Popiel
verlegte seinen Wohnort von Krakau fort, entweder weil diese Stadt zu weit
von dem Mittelpunkte des Reiches entfernt war, oder weil er lieber in Ebenen
wohnte, nach dem alten Gnefen, das viel an Glanz verloren hatte und fast ganz
untergegangen war. Doch auch dort gefiel es ihm nicht. Um sein Andenken
lebendig zu erhalten, erbaute er sich in den weiten kujawischeu Ebenen auf einer
Landzunge des Goplosees eine stattliche Königsburg und gründete neben der-
selben eine Stadt, die er Kruswice (Kruschwitz) nannte (Kruschwitz liegt im
Jnowrazlawer Kreise, in nordöstlicher Richtung von Gnesen 50 km entfernt).
Die neue Stadt gewann bald, da der Fürst viel Kolonisten uud Kaufleute dorthin
zog, eine ansehnliche Ausdehnung.
Popiel hatte nicht den hohen und edlen Sinn seiner Väter ererbt; er ergab
sich der Ruhe und Schlaffheit. Die Nachwelt weiß nichts Ruhmwürdiges von
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Kruschwitz und der Mäuseturm am Goplosee. 445
ihm zu erzählen. Er starb zu Anfang des 9. Jahrhunderts und hinterließ
einen einzigen Sohn, der nach ihm Popiel hieß.
Als der ältere Popiel starb, war der junge Fürst, der auf den Thron
erhoben wurde, noch nicht mündig; erfahrene Männer führten für ihn die Re-
gierung. Je mehr Popiel IL heranwuchs, desto unbequemer wurde ihm strenge
Zucht und Sitte, desto niedriger sein Sinn; für weise Lehren hatte er kein Ohr,
Warnungen waren ihm lästig, wackerer Männer Gesellschaft mied er, in träger
Ruhe, leichtfertigem Spiel, üppigen Tänzen und wilden Gastmählern lebte er
dahin, zum Waffenhandwerk zeigte er keine Lust. Seine Ratgeber hofften, wenn
er sich vermähle, würde er auf den Pfad der Tugend zurückkehren; aber sie
hatten sich getäuscht, denn die Gattin bestärkte den Fürsten in seinen Lastern,
da Ehrgeiz, Habsucht, Herrschsucht und Tücke sie zu jeder Schandthat fähig machten.
Ihr waren die verständigen Männer, die einst den jungen Fürsten bevormundet
hatten, noch lästiger als ihm; sie wirkte Tag und Nacht auf den Gemahl ein
und suchte ihn zu dem Entschluß zu führen, daß er sie aus dem Wege räume.
Der Mäuseturm am Goplosee.
Popiel ließ sich von dem ränkesüchtigen Weibe leiten, er heuchelte Reue, schluchzte
und seufzte und wußte die Greise zu täuschen. Sie nahmen, ohne an Arglist
und Falschheit zu denken, den mit Gift gefüllten Becher und kamen alle um.
Freilich siel der Verdacht des Mordes auf Popiel und sein schändliches Weib;
aber wer hätte gewagt, diesen Verdacht auszusprechen?
Die Sterne des Vaterlandes waren untergegangen; die Mörder freuten
sich des gelungenen Frevels und erdreisteten sich, den Greisen schnöden Verrat
und Verschwörung nachzusagen. Das Land zitterte in Schrecken vor der Wut
und Grausamkeit des Tyrannen, der sich nun ungehemmt seinen wilden Lüsten,
seinen sittenlosen Begierden, der Roheit seiner entarteten Natur überließ.
Doch in nicht gar langer Zeit überraschte den Bösewicht mitten in seinen
Freveln die Rache des Himmels. Der König saß beim schwelgerischen Mahle.
Da stürzen mit Entsetzen die Diener in den Saal und berichten, aus den Leichen
der gemordeten Greise seien unzählbare Scharen von Mäusen hervorgekrochen,
eine unermeßliche Flut dieser entsetzlichen Tiere erfülle Hof und Schloß. In
alle Zimmer drangen die Mäuse, auch in den Speisesaal kamen sie. Umsonst
446 Im Regierungsbezirk Bromberg.
suchte man sie mit Besen, Schaufeln und Waffen fern zu halten; sie fielen den
König, die Königin und ihre beiden Söhne an. Diese flüchteten sich in ein
festes, gemauertes Zimmer mit eisernen Thüren, aber auch dort hinein gelangen
die furchtbaren Verfolger, sie wissen das Gemäuer zu durchbrechen. Verzweis-
luug erfaßt den König und seine Familie; keine Waffen, keine Mauern gewähren
ihm Sicherheit. Da läßt er große Feuerherde errichten in ungeheuren Kreisen,
flüchtet sich in ihre Mitte und läßt ein Feuer rings um sich her anzünden; aber
auch die Flammen geben keine Hilfe, denn die Scharen der Mäuse dringen
durch das Feuermeer und greifen die Flüchtigen an. Ein Floß wird erbaut und
auf demselben ein großer hölzerner Turm, in den sich der König mit der Ge-
mahlin und den Kindern flüchtet; er steuert hinaus in den Goplofee, um auf
dem Wasser sicher vor den verfolgenden Scharen zu wohnen. Aber die Mäuse
durchschwimmen auch die Fluten, durchbohren die Nachen, welche der königlichen
Familie Lebensmittel bringen sollen, zernagen die Balken des Flosses und Turmes,
und der König muß, wenn er nicht im Wasser umkommen will, aus das Land
zurückkehren. Alle Elemente, Erde, Wasser und Feuer, versagen dem Verbrecher
ihren Schutz; denn neue Haufen von Mäusen fallen ihn an, und mit Entsetzen
verlassen den vom Himmel Gebrandmarkten seine Diener und sein Gefolge.
Bluttriefend schließen sich die Verlassenen in den höchsten und festesten Turm
des Schloffes ein; aber auch dort werden sie von ihren Feinden erreicht. Zuerst
werden die beiden Söhne vor den Augen ihrer Eltern, dann die schamlose
Königin, zuletzt Popiel selbst von den Mäusen elendiglich zerfleischt, getötet und
so ausgezehrt, daß auch nicht der kleinste Knochen von ihnen auf Erden zurück-
blieb. Als dies Rachewerk vollendet war, verschwanden die furchtbaren Tiere.
Noch jetzt werden bei dem kleinen Städtchen Krnschwitz (744 E.) auf einem
Hügel am westlichen User des Goplosees die Ruinen eines achteckigen Turmes von
sehr altertümlicher Bauart gezeigt, welcher nur unter dem Namen des Mäuse-
turmes und als der Schauplatz des Unterganges von Popiel und seinem Ge-
schlechte bekannt ist.
Erbittert war das Volk gegen Popiel und sein Geschlecht. Wohl lebten
noch viele Verwandte des von den Mäusen verzehrten Fürsten, aber die Polen
mochten keinen derselben aus den Thron erheben. In der Nähe von Krufchwitz
kamen die Edlen zusammen und berieten sich und stritten lange, konnten aber
nicht einig werden, bis die Erinnerung au ein vor mehreren Jahren geschehenes
Wunder, das noch in frischem Andenken aller war, dem Streit ein Ende machte.
Plast und seine Nachkommen. Nach alter, heidnischer Sitte feierte näm-
lich im Jahre 901 Popiel das Haarbeschneidnngsfest -seiner beiden Söhne und
hatte zu diesem Feste viele Freunde und Edle eingeladen. Auch zwei Fremde
kamen zu dem Feste nach Kraschwitz; sie waren nicht geladen und wurden zur
Teilnahme nicht nur nicht aufgefordert, sondern sogar von den unfreundlichen
Bürgern geschmäht. Das ungastliche Benehmen der Bürger bewog sie, in die
Vorstadt zurückzukehren, und hier blieben sie zufällig vor der Hütte eines Bauern
stehen, der dem Fürsten gehörte. Zwar war der Bauer sehr arm, aber was
er hatte, bot er den Fremden an, er gab, was die Armut zu geben vermochte.
Die Fremden nahmen die Einladung an, traten in die niedrige Hütte ein und
wurden von den Hausleuteu aufs herzlichste bewillkommt und umarmt. „Freut
Piast und seine Nachkommen. 447
euch", sagten die Fremden, „daß wir zu euch gekommen sind, denn nnsre An-
kuuft wird euch Glück bringen, und an euren Nachkommen werdet ihr Freude
und Ehre erleben." Der Bauer hieß Piast und war weit im Lande bekannt
durch seine Arbeitsamkeit, Rechtlichkeit und Mildthätigkeit. Nun fragten die
Fremden, ob sie nicht etwas zu trinken bekommen könnten. „Ja, liebe Freunde",
sagte Piast, „ich habe ein Fäßchen Bier, das ich bis zum Fest der Haar-
beschneidung meines Sohnes aussparen wollte; aber wenn es euch beliebt, so
trinkt es aus." Auch ein Ferkel hatte sich Piast gemästet, um es mit seinen
Freunden am Feste seines Sohnes zu verzehren. Jetzt schlachtete er es und
setzte es seinen Gästen vor. „Fehlt auch den Gerichten", sagte der Wirt, „das
süße Gewürz, so fehlt doch nicht die süße Würze der Zuneigung." Die Fremden
sagten darauf: „Deine Liebe gibt deinem Werke den rechten Wert; denn wie
viel jemand erstrebt, so viel leistet er; und es kann nicht unschmackhaft sein,
was durch das Salz der Liebe gewürzt und mit dem Honig des Herzens be-
träufelt wird." Unter diesen und ähnlichen Gesprächen trinken sie vom Biere
und langen von der Speise zu, aber es scheint, als ob sich der Vorrat nicht
mindere, sondern vermehre. Die Fülle des Bieres wuchs, alle vorrätigen leeren
Gefäße und die, welche in Eile aus der Hofburg herbeigeholt wurden, waren
bald mit Bier gefüllt, und als das Ferkel zerlegt war, hatte man zehn Mulden
voll Fleisch. Unter Zustimmung der Fremden werden der König, die Königin
und der ganze Hof mit allen Gästen zum Gastmahl eingeladen; sie würdigen
den armen Bauer ihres Besuches, alle essen und trinken, aber die Fülle der
Speisen und Getränke läßt nicht nach, ungeachtet der großen Zahl der An-
wesenden. Nach dem wundersamen Festmahle schoren die beiden Fremden dem
Knaben des Piast das Haar und gaben ihm den Namen Ziemowit.
Diese wunderbare Begebenheit war noch in frischem Andenken bei dem
zur Königswahl in Kraschwitz versammelten Volke. Die Aufmerksamkeit der
Menge lenkte sich. auf den Mann, dessen Haus von den Göttern selbst in er-
stannlicher Weise gesegnet worden war. Man begab sich also zum Hause des
Piast, welcher der großen Versammlung ein kleines Gefäß von dem Wunder-
bier, das er bei dem Haarbefchneidungsfest seines Sohnes Ziemowit erspart
und beiseite gelegt hatte, preisgab. Aus dem unscheinbaren Gefäße schenkte der
Bauer fort und fort eine solche Fülle des köstlichsten Getränkes, daß allen An-
wesenden das große Wunder in die Augen fiel und Piast als ein heiliger, von
den Göttern vorzüglich begnadeter Mann erschien, der allein der Krone des
Reiches würdig sei.
Am andern Tage erschienen wieder die Edlen des Volkes vor der Hütte
des armen Bauern und trugen ihm einstimmig die Herrschaft an. Der be-
scheidene Piast erschrak nicht wenig und lehnte die angebotene Krone ab. Erst
als sich ihm die beiden wunderbaren Gäste wieder unter den Versammelten
zeigten und ihm zuredeten, die Krone anzunehmen, widersetzte er sich nicht
länger dem allgemeinen Beschlüsse. So wurde er unter allgemeinem Jubel der
Edlen und des Volkes aus seiner Niedern ländlichen Hütte mit seinem Weibe
und seinem Sohne in den königlichen Palast geführt. — Piast erweckte den
Funken des Ruhmes der Polen wieder unter der Asche. Mit ihm begann eine
neue Fürstenreihe, deren Größe um fo erhabener, je unansehnlicher ihr Ursprung
war, die viele Jahrhunderte hindurch im Reiche blühte und segensreich wirkte.
448 Im Regierungsbezirk Bromberg.
Unter Piasts weiser Regierung herrschte innere Ruhe; er hielt die Feinde
im Zaume und säuberte das Land von Räubern. Um das Andenken an den
grausamen Popiel zu vertilgen, verlegte er seinen Wohnsitz von Krnschwitz
wieder nach Gnesen, wo er auch geboren sein soll.
Piast erreichte das hohe Alter von 120 Jahren, und bei seinem Tode
wurde nach dem einstimmigen Willen des Adels und des Volkes sein einziger
Sohn Ziemowit zum Herzog erkoren und eingesetzt; denn er hatte sich schon
bei Lebzeiten seines Vaters im Krieg und Frieden durch Tapferkeit und Klugheit
ausgezeichnet; er war unempfindlich gegen Frost und Hitze, unermüdlich in An-
strengungen, mäßig in Speise und Trank, freigebig, einfach, streng und gütig
und versprach deshalb dem Reiche eine glückliche Zukunft; und in der That er-
füllte er alle die Hoffnungen, die von ihm gehegt wurden.
Ziemowit starb nach einer segensreichen, glücklichen Regierung zu Gnesen;
die Krone wurde im Jahre 932 auf seinen Sohn Leszek übertragen, der weniger
kriegerisch gesinnt war als sein Vater. Ihm folgte sein Sohn Zemomysl, der
den Ruhm der Tugend, Tapferkeit und Weisheit mit Recht davontrug. Als
ihm, der schon auf dem vom Vater ererbten Throne saß. ein Sohn geboren
wurde, sollte der Geburtstag des Knaben zu einem Tage tiefer Trauer werden,
denn das Kind wurde blind geboren. Der Vater ließ den blinden Knaben
sorgfältig erziehen. Als das Kind sieben Jahre alt war, ordnete der Herzog
zu seiner Haarbeschneidung ein großes Fest an, bei dem es den Namen Mieszko
erhielt. Während im Schlosse der lauteste Jubel herrschte, jeder sich der aus-
gelassensten Freude hingab, zog sich der Herzog zurück und war traurig, da er
des Unglücks seines Kindes gedachte. Da erscholl plötzlich die Kunde, der
blinde Knabe sei sehend geworden. Die Nachricht bestätigte sich, die Mutter
selbst führte den sehenden Knaben in den Saal. Unermeßlich war die Freude
der Anwesenden, die Mutter wurde von tiefer, frommer Rührung, der Vater
von heiligem Ernste ergriffen; die ältesten Räte deuteten das Wunder dahin,
daß bisher das Polenreich in Nacht und Blindheit befangen gewesen und Mieszko
von den Göttern bestimmt sei, es zu erleuchten und zu herrlichem Glänze
emporzuführen.
Im Jahre 963 übernahm Mieszko nach dem Ableben seines Vaters die
Regierung. Die ersten Jahre verflossen so, daß es schien, als ob sich die Weis-
sagung, die man dem siebenjährigen Knaben verkündigte, nicht erfüllen würde.
Da er von den Nachbarn, die ihm feindlich gesinnt waren, hart bedrängt wurde,
schloß er mit dem slawischen Böhmenherzog Boleslaw ein Freundschaftsbündnis,
das ihn dahin brachte, daß er die Tochter des Boleslaw, die Dubrawka hieß,
als Gattin heimführte.
Nur mit Mühe konnte Dubrawka, die eine eifrige Christin war, dahin
gebracht werden, dem heidnischen Polenherzog ihre Hand zu geben; sie folgte
aber dem Wunsche ihres Vaters, weil sie in diesem Wunsche einen Wink des
Himmels erblicken zu müssen glaubte. Im Jahre 965 zog sie mit glänzender
Pracht und großem Gefolge in Gnesen ein. Ties aber bekümmerte sie es, ihren
Gemahl in den Irrtümern des Heidentums verstrickt zu sehen. Rastlos arbeitete
sie mit geängstigtem Gemüte, sich mit ihm im Glauben zu vereinigen, und ihre
Bemühungen waren nicht erfolglos; denn schon im folgenden Jahre entschloß
sich Mieszko, dem heidnischen Glauben zu entsagen und sich taufen zu lassen.
Der heilige Adalbert. 449
Mit den Vornehmsten des Volkes empfing Mieszko in Gnesen die Taufe und
hieß fortan Mieczyslaw; auch feine Schwester wurde getauft und erhielt den
Namen Adelheid.
So erfüllte sich die Weissagung, die sich an das Wunder knüpfte, das dem
siebenjährigen Knaben zu teil wurde. Wie der damals leiblich blinde Knabe
sehend wurde, so wurde ihm, als er zum Manne geworden war, das himmlische
Licht der göttlichen Wahrheit erschlossen, und er lebte zum Segen seines Volkes.
Mehrere Tage dauerten die Feste zur Feier der Taufe des Mieczyslaw;
dann kehrten die Gäste reich beschenkt in ihre Heimat zurück. Der getaufte
Fürst war unermüdlich für den Glauben, den er angenommen hat, thätig; er
gründete die Bistümer Guesen und Krakau und noch sieben Bistümer und viele
Kirchen und Klöster und verlieh ihnen reichliche Güter und Einkünfte. Der
Adel folgte dem Beispiel des Fürsten und war für die Ausbreitung des Christen-
tnms eifrig bemüht und suchte nicht nur neue kirchliche Bauten aufzuführen,
sondern auch das Heidentum auszurotten. Die heidnischen Bilder wurden zer-
krochen und die Tempel der Götter verbrannt. Der Herzog selbst begann das
Zerstörungswerk. In Gnesen ließ er das von Lech gegründete Heiligtum zer-
stören, die Bilder der Götter in den nahen See versenken, dagegen eine christ-
liche Kirche bauen, die er dem heiligen Georg weihte.
Mit solcher Strenge wurde das Christentum eingeführt, daß z. B. jedem,
der ertappt wurde, in der Fastenzeit Fleisch gegessen zu haben, die Zähne aus-
gebrochen wurden.
Als im Jahre 992 Mieczyslaw starb, folgte ihm sein Sohn Boleslaw
Chrobry, der seine Herrschaft bis zur Oder ausdehnte und nach Südosten bis
Kiew vordrang, von wo er als Sieger, mit Schätzen reich beladen, heimkehrte.
Kaiser Otto III. besuchte ihn in Gnesen und ernannte ihn zum Könige von
Polen. Boleslaw erhob das von seinem Vater gestiftete Bistum Guesen zum
Erzbistume und unterstellte ihm die Bistümer Krakau, Breslau und Kolberg.
Bis zum Ausgange des 14. Jahrhunderts galt Gnesen als die Hauptstadt
Polens, und hier wurden die Könige gekrönt. Als im Jahre 1386 die Jagellonen
auf den Thron gelangten, wurde zwar der Königssitz wieder nach Krakau ver-
legt, aber der Erzbifchof von Gnesen galt stets als Primas, d. h. als erster im
Reiche nach dem Könige. Diese hohe Würde haben die Gnesener Erzbischöfe
noch bewahrt, als nach dem Aussterben der Jagellonen im Jahre 1572 Polen
ein Wahlreich wurde, bis endlich mit der Teilung Polens gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts diese Würde verloren ging.
Ver heilige ^Xbrtlbcrt. Das Erzbistum Gnesen war deshalb für die
Polen von hoher Bedeutung, weil die Erzbischöfe als Nachfolger des heiligen
Adalbert galten, dessen Leben von der Legende reichlich ausgeschmückt ist.
Der heilige Adalbert, der in der Taufe den Namen Woyciech erhielt,
wurde iu der Mitte des 19. Jahrhunderts als Sohn eines mächtigen böhmischen
Grafen geboren, der sehr mildthätig gegen die Armen, kirchlich nicht streng und
fromm war, während seine Gemahlin ein unübertroffenes Muster von weiblicher
äugend, Frömmigkeit und Reinheit in Wandel und Sitte war. Woyciech sollte
ein wackerer Kriegsmann werden. Als aber der Knabe gefährlich erkrankte und
am Rande des Grabes lag, da gelobten die Eltern, das Kind, wenn es gesund
Deutsches Land und Volk. VIII. 29
450 Im Regierungsbezirk Bromberg.
werden sollte, dem geistlichen Stande. Alsbald wich die Krankheit von dem
Knaben. Zuerst lehrte ihn die Mutter beten, dann wurde er zur Erziehung
Priestern übergeben; aber zweimal entfloh er aus Furcht der Schule, und der
Vater mußte ihn mit harten Schlägen strafen und zum Unterricht zurückbringen.
Da erst öffneten sich Herz und Ohr des Knaben den heilvollen Studien.
Nach Vollendung des ersten Unterrichts wurde Woyciech der damals in
großer Blüte stehenden Klosterschule zu Magdeburg überwiesen und besonders
der Obhut des damaligen Erzbischoss Adalbert anvertraut, der den Jüngling
so lieb gewann, daß er ihm statt des weltlichen Namens Woyciech bei der Weihe
zum geistlichen Stande seinen eignen Namen Adalbert erteilte, zum Beweise,
welche Hoffnungen in seiner neuen Bestimmung auf ihn gesetzt seien. Der junge
Adalbert, entsprach den Erwartungen durch seinen Ernst beim Unterricht, durch
die lebendigste Teilnahme an allen Übungen zur Bildung seines Geistes, durch
die strengste Reinheit und Frömmigkeit in seinem Wandel, durch den regsten
Eifer in allen göttlichen Dingen.
Der Tod entriß dem jungen Adalbert im Jahre 981 plötzlich seinen
Gönner, den Erzbischos, dem er mit ungeteilter Liebe zugethan war. Nachdem
Adalbert neun Jahre in Magdeburg geblieben war, ging er nach Prag, wo er
sich bald das Vertrauen und die Liebe seines Bischofs und Fürsten gewinnen
sollte. Aber hier mußte er auch die Mühen und Gefahren, die er in seinem
Berufe zu bestehen hatte, kennen lernen; denn die Böhmen waren noch jung im
Christentum, und heidnische Sitten zeigten sich noch an vielen Orten. Von Prag
aus riefen die Eltern den jungen Priester nach ihrem Wohnort. Adalbert legte,
weil er verschiedene heidnische Orte durchwandern mußte, das priesterliche Ge-
wand ab und begab sich mit bloßen Füßen auf die Reise. Durch unwegsame,
rauhe Waldgebirge führte ihn der Weg; glücklich kam er bei seinen Eltern an.
weihte die Kirche, die sein Vater auf seine Ermahnung erbaut hatte, ein und
schied schon am vierten Tage nach seiner Ankunft von den Seinigen, um nach
Prag zurückzukehren.
Als 933 der Bischof von Prag starb, konnte man keinen würdigeren Nach-
folger als Adalbert finden, da er geborner Böhme war und sein Adel, der
Reichtum seines Geschlechts, sein tiefes Wissen und die Liebenswürdigkeit und
Reinheit seiner Sitten mit so hoher Ehre im vollsten Einklänge standen. Unter
jauchzendem Zuruf des gesamten Volkes wurde Adalbert zum Bischof des Landes
erwählt, und durch das ganze Land verbreitete sich allgemeine Freude.
Nachdem die Wahl geschehen war, begab sich der Seelenhirt über die
Tiroler Alpen nach Verona, wo ihm der Kaiser Otto II. mit Ring und Stab
die Bestätigung verlieh und der Erzbischos von Mainz mit dem heiligen Öle
die bischöfliche Weihe erteilte. Aus einfachem Pferde, das von einer hänfenen
Halfter gelenkt wurde, kehrte der demütige Mann, der an Pracht fo weit hinter
seiner Begleitung zurückblieb, wie er sie in wahrer Tugend und Gottesfurcht
überragte, nach Böhmen zurück, und als er sich der Stadt Prag näherte, stieg
er von seinem Pferde und ging mit nackten Füßen in die Stadt.
Ausschließlich dem Dienste Gottes und dem Heile der ihm anvertrauten
Herde widmete er sich. Nachts schlief er auf der bloßen Erde oder auf groben,
wollenen Decken; er fastete streng, besuchte die Gefangenen und Kranken, arbeitete
mit eigner Hand in Garten und Feld, tröstete die Trostlosen, half den Hilflosen,
m
Der heilige Adalbert. 451.
gab den Armen, verwaltete das Bistum mit der größten Sorgfalt. Aber die
Sitten der Böhmen waren noch schauerlich; die Bemühungen des sorgsamen
Hirten blieben erfolglos, so daß der Papst selbst dem Bischof auf seine Frage,
was er thun solle, den Rat erteilte, das schändliche Volk, das nicht folgen wolle,
zu meiden. Adalbert verließ Böhmen und ging nach Rom. Auf der Grenze
Böhmens wandte er sich zu dem Lande der Frevel zurück und sprach: „Wie du
der Lehren des Heiles entbehren willst, so sollst du entbehren des befruchtenden
himmlischen Regens und hinschmachten in verdorrender Trockenheit!"
Zu Anfang des Jahres 934 nahte Adalbert mit wenigen Begleitern der
heiligen Roma, wiederholte dem Papste mündlich die betrübenden Gründe, die
ihn dazu bewogen hatten, Prag zu verlassen, und legte seinen Bischofsstab in
die Hände des heiligen Vaters nieder. Nach wenigen Jahren nahm der fromme
Mann das Mönchsgewand an und lebte fern vom Getriebe der Welt in einem
Kloster Roms auf dem aveutinifchen Berge. Dort verwaltete er die gemeinen
Wochendienste, reinigte die Küche, säuberte die Speisegeräte, holte Wasser vom
Brunnen und bediente die Klosterbrüder bei Tische: kurz, er unterzog sich in
tiefster Demut den niedrigsten Diensten und beschwerlichsten Arbeiten.
Inzwischen trug das Land Böhmen schwer an dem Fluche des von ihm
verkannten und verscheuchten Bischofs; denn seitdem Adalbert das Land ver-
lassen hatte, regnete es in demselben nicht: ehern schien der Himmel und die
Erde hart wie Eisen. Da flehten die Böhmen zu Gott um Regen, sie wall-
sahrteten zu den Gräbern der Heiligen; aber umsonst, der Himmel öffnete sich
nicht. Nun erst wußte der Herzog von Böhmen und sein Volk, daß ihnen ein
Adalbert fehlte. Gesandte gingen im Jahre 993 nach Rom. gelobten dem
Papste für das Volk Reue und Besserung und flehten um Adalberts Rückkehr.
Da der Papst dem Versprechen der Besserung traute, gab er dem frommen
Adalbert Ring und Stab zurück und hieß ihn die stillen Mauern des Klosters
verlassen und die verwaiste Herde in Böhmen leiten.
Als Adalbert das Land Böhmen betrat, fand er der Bewohner Sitten
nicht geändert; Roheiten und Übertretungen der Gebote Gottes mußte er allent-
halben wahrnehmen, aber er bat den Herrn, den Fluch vom Lande zu nehmen.
Von einem hohen Berge in der Nähe des Städtchens Nepomuk schaute er weit
hinein in das Land Böhmen, das zu seinen Füßen ausgebreitet lag, die Wiege
seines Lebens, den Verächter seiner Handlungen, das noch lechzte unter dem
Fluche der Dürre. Eingedenk der Gnadenfülle des Allmächtigen, machte er nun
ein Kreuz nach allen vier Weltgcgenden, löste den Fluch und segnete sein Volk.
Siehe da, alsbald zogen aus den Schluchten und Thälern der Gebirge ringsum
Wolken herauf, wogten wie ein graues Tuch über das ganze Land hin und
fenkten sich als befruchtender, alles erfrischender Regen auf die dürstende Erde
nieder. Alle Fluren. Wälder uud Auen atmeten wie neu erschaffen auf. und
Böhmen erkannte, daß sein Bischof zurückgekehrt war.
■ Adalbert zog bald darauf in Prag ein, das Volk jubelte und jauchzte ihm
entgegen; aber des Bischofs Herz wurde wenig erfreut, denn bekannt war ihm
ja des Volkes wandelbare Gesinnung und Hartnäckigkeit in den Sünden. Als
er sein Amt wieder angetreten hatte, kündigte er, wie ehemals, den Lastern und
dem sündhaften Leben des Volkes den Vernichtungskampf, drang auf Beseitigung
der heidnischen Mißbräuche und predigte gegen den zuchtlosen Wandel der
29*
0
452 Im Regierungsbezirk Bromberg.
Geistlichkeit. Dadurch sah er sich bald von einer großen Schar offener und
heimlicher Feinde umringt und verfiel dem Volkshasse in so hohem Grade, daß
er an der Besserung der Menge verzweifelte und zum zweitenmal seinem
bischöflichen Amte eutsagte.
Adalbert begab sich nach Ungarn und von dort nach Rom, wo er im
Kloster von den Mönchen und ihrem Abte mit außerordentlicher Freude wieder
ausgenommen wurde; er fühlte sich glücklich wie jemand, der nach den wildesten
Stürmen in den erwünschten Hafen der Heimat gelangt ist. Hier erfaßte ihn
bald mächtig der Drang, auszuziehen als ein Apostel zu den Heiden, die noch
nie das Wort vernommen, und dessen Wahrheit mit seinem Blute zu besiegeln.
Aber der Herzog der Böhmen forderte Adalberts Rückkehr nach Prag, und der
Papst befahl dieselbe mit der Erlaubnis, Adalbert dürfe, wenn die Böhmen
ihn wieder mit feindlicher Gesinnung aufnehmen und seinen Ermahnungen nicht
folgen würden, in die Länder der Heiden ziehen und dort das Evangelium predigen.
Voll inniger Trauer schied Adalbert aus der Stille des Klosters und machte
sich auf deu Weg nach Böhmen. Unterwegs hörte er von einer grauenvollen
That. Die Wut der Böhmen hatte sich von ihm gegen seine fünf Brüder ge-
wandt; die vier jüngeren waren von ihnen erschlagen worden, der älteste war
zum Herzog von Polen, Boleslaw, der dem Mieezyslaw gefolgt war, geflohen
und dort liebevoll aufgenommen worden. Deshalb zog er es vor, nach Polen
zu gehen. Zuvor aber ließ er die Böhmen fragen, ob sie wünschten, daß er
zu ihnen zurückkehre; doch sie wiesen ihn von sich, verhöhnten ihn und schmähten
auf ihn. So hatte er den Böhmen gegenüber seine Pflicht erfüllt und war dem
Befehle des Papstes gefolgt; er war von seinem Volke und Vaterlande ver-
schmäht und zurückgewiesen.
Adalbert verweilte einige Zeit bei Boleslaw, predigte dann das Evange-
lium um Krakau und in Ungarn, wo heidnisches Wesen wie Unkraut unter den
Christen aufzuwuchern begann. Nur kurze Zeit blieb er nach diesen Zügen in
Gnesen, denn er war entschlossen, als Apostel des Glaubens zu den heidnischen
Preußen zu ziehen. Im Frühling des Jahres 997 brach er nach einer seier-
lichen Messe mit zwei zum Bekehrungswerk ausgewählten Begleitern von Gnesen
aus auf und trat die gefahrvolle Reise in das heidnische Land an. Er begab
sich an die Weichsel, wo Boleslaw sür ihn ein Schiff mit 30 Bewaffneten
bereit hielt. Mit diesem fuhr er stromabwärts bis nach Danzig, der Grenzstadt
in Boleslaws Reiche. Hier bekehrte er viele Heiden, taufte sie, las ihnen die
Messe und segnete sie. Weiter fuhr er den Strom hinab bis in die offene See,
landete dann, um den Preußen das Evangelium zu verkündigen. Als die Wan-
derer die erste Nacht auf festem Lande im Gebiete der Heiden zubrachten, wurden
die Schiffer flüchtig, denn sie fürchteten sich in den feindlichen Gebieten.
Adalbert war mit seinen beiden Genossen ohne jede Hilfe. Schnell ver-
breitete sich die Nachricht durch das Preußenland, es seien Fremdlinge an-
gekommen aus fernen Weltteilen mit unbekannter Tracht und unerhörtem Glauben.
Die Menge, schnaubend vor Zorn und Wut, umdrängte die Priester; aber Adalbert
ließ sich nicht beirren, er betete und predigte in der Mitte der Tobenden. Da
schlugen die Wilden auf ihn ein und sagten, er solle sich davonmachen, wenn
er nicht getötet sein wolle. Bekümmert wich er vor der Menschenmasse und
sagte zu seinen Begleitern: „Was beginnen wir? Wohin wenden wir uns?
Der heilige Adalbert. 453
Unser Aussehen, der Ausdruck unsrer Mienen, unsre Tracht und Sprache ist
diesem Volke ein Greuel. Legen wir daher unsre geistliche Ordenstracht ab,
lassen wir unser geschorenes Haar wachsen und frei herabhängen und gewinnen
wir sein Vertrauen, wenn wir ihm ähnlicher erscheinen, reden mit den Leuten
in ihrer Weise, leben mit ihnen und verdienen mit unsrer Hände Arbeit uns
unsern Unterhalt. Dann wird mit Gottes Hilfe sich wohl Gelegenheit finden,
ihnen das Wort zu predigen und diesem Eingang in Herz und Geist zu verschaffen."
Die Wanderer zogen si.ch zurück, durchschweiften die Gegend, lebten kärglich
und ruhten, wenn sie ermüdet waren. So ruhten sie auch einmal nach langem
angestrengten Marsche aus, schlummerten bald ein, wurden aber plötzlich
durch eine heransprengende Reiterschar erweckt, gebunden und fortgeschleppt.
Tod des heiligen Adalbert.
Sie hatten nämlich nach den Begriffen der Heiden ein entsetzliches Verbrechen
begangen: denn sie hatten den heiligen Hain und das heilige Land betreten, das
den Göttern Perkunos, Potrimpos und Piknllos geweiht war und von keinem
Sterblichen betreten werden durste. Die drei Dulder wurden auf eine Anhöhe
geführt. Ein Götzenpriester stößt mit aller Kraft einen starken Wurfspieß durch
Adalberts Brust; er hält es für seine Pflicht, dem Übertreter der Göttergebote
die erste Wunde zu geben. Darauf stürzen andre Heiden herbei. Von sieben
Lanzen wird Adalbert durchbohrt, aus sieben Wunden rinnt sein Blut. Da
lösen sich, während er noch aufrecht steht, feine Fesseln durch himmlische Macht,
mit schwacher Stimme spricht er: „Gott sei mir gnädig"; daraus stürzt er, in-
dem er die Arme ausbreitet, zu Boden, bildet mit seinem Körper die Gestalt
eines Kreuzes und gibt seinen Geist auf. So starb Adalbert am 23. April
des Jahres 997.
Da durch das Blut Adalberts die beleidigten Götter gesühnt waren, ließ
man die beiden Priester, die den Bischof begleiteten, leben. Als dann die
Preußen wohl nicht ohne Mitwirken der beiden Freigelassenen erfahren hatten,
daß der Polenherzog Boleslaw dem Geopferten sehr zugethau war, bewahrten
sie die Leiche und boten sie dem Herzog zum Kauf an. Kein Preis erschien
454 Im Regierungsbezirk Bromberg.
dem Herzog zu hoch. Mit vielem Golde uud Silber schickte er Gesandte nach
Prenßen, welche die Leiche einlösen sollten. Soviel Gold forderten die Preußen,
als die Leiche wiegen würde. Zum großen Erstaunen der Heiden erwies sich
der Leichnam so leicht, daß nur eine winzige Summe gezahlt wurde und die
Polen mit vollen Kisten abziehen konnten.
Boleslaw eilte mit Priestern und Adligen dem Zuge, der den tenern Leib
brachte, entgegen, fiel auf die Kuiee, als er ihn erreichte, betete inbrünstig zu
Gott und übergab den heiligen Leichnam den Augustinern in Trzemeszno
(Tremessen). Doch bald schmerzte es ihn, daß er entfernt war von der Ruhe-
statte des Heiligen, und deshalb ließ er den Leichnam nach Gnesen in die Kathedral-
kirche bringen. Viele Gläubige wallsahrteten aus allen Gegenden Deutschlands,
Polens und Ungarns zum Grabe des Heiligen; auch der Kaiser Otto kam, um
in Gnesen am Grabe des Freundes zu beten.
Als Boleslaw gestorben war, riß Zwietracht unter den Polen ein, und
diese benutzte der Herzog von Böhmen und Mähren, im Jahre 1039 in Polen
einzufallen. Alles schlug er zu Boden, die Burgen nahm er ein, reiche Schätze
an Gold und Silber raubte er; erobernd, verbrennend und zerstörend drang er
bis nach Gnesen vor. Die Besatzung der Stadt war zu schwach, als daß sie
hätte widerstehen können. Die Böhmen nahmen die Stadt ein und führten
nach Prag als herrlichste Siegesbeute die Gebeine des Mannes fort, den sie
bei seinen Lebzeiten so sehr gekränkt uud von sich gestoßen hatten; aber noch
nach der Überführung des Leichnams nach Prag wirkte der Heilige an feiner
Stätte in Gnesen Wunder und bethätigte seine Zuneigung zum polnischen Volke.
Ja, es stellte sich heraus, daß in Gnesen die Gebeine des Heiligen auch nach
dem Raubzuge der Böhmen waren, so daß viele das Wunder einer Verdoppelung
der Leiche annahmen. Später aber erzählten die Gnesener Domherren, ihre
Vorgänger hätten die gierigen Böhmen mit Schlauheit getäuscht, ihnen wohl
den silbernen Sarg verabfolgt, aber einen falschen Leichnam hineingelegt und
den echten für ihre Kirche zurückbehalten.
Im Jahre 1480 wurde in der Kathedrale zu Gnesen dem heiligen Adalbert
ein Mausoleum errichtet. Die Kathedrale hat ein sehr hohes Mittelschiff und
zwei niedrigere Seitenschiffe. Um 1760 verzehrte ein gewaltiges Feuer, durch
welches die Stadt sehr litt, auch die Dachstühle und die beiden Türme des
Domes. Das Gewölbe des Mittelschiffes hatte durch den Brand fo fehr ge-
litten, daß es abgebrochen und ein neues statt des fchönen fpitzbogigen alten
Gewölbes errichtet werden mußte. Auch die mit Kupfer gedeckten Helme der
Türme wurden nach jenem Brande neu errichtet. Der Dom hat eine Länge
von 80ui, eine Breite von 37 m und bis zum Dachfirst eine Höhe von 97 in
und das Mittelschiff eine folche von 30 m. In den Kapellen befinden sich
Denkmäler ehemaliger Erzbifchöfe von Gnesen. Von den vier Orgeln in der
Kirche hat die größte 32 Register.
Von den fünf Glocken hängen vier auf dem nördlichen Turme; die größte,
die Adalbertglocke, hängt auf einem niedrigen Glockenturme, hat 2 m im untern
Durchmesser, ein Gewicht von 150 Zentnern uud wird von acht Mann geläutet;
sie ist die größte Glocke in der Provinz Posen.
Die Gebeine des heiligen Adalbert werden in einem silbernen Sarge auf-
bewahrt, welcher ein Teil des Adalbertmonumentes ist. Dieses Monument ist
Bromberg.
455
an die Stelle des 1480 errichteten Mausoleums im Jahre 1662 gesetzt worden.
Auf den vier marmornen Eckpfeilern erhoben sich früher vier vergoldete, hol-
zerne Säulen mit einem Baldachin darüber, eine Nachbildung des Grabes des
heiligen Petrus in der Peterskirche zu Rom. Der Erzbischof von Przyluski
hat vor mehreren Dezennien diesen geschmacklosen, 13 m hohen Baldachin ent-
fernen und statt dessen vier Engel aus getriebenem Silber, zu denen Rauch die
Modelle gefertigt hatte, aufstellen lassen. Der silberne Sarg, 2 m lang, im
Jahre 1662 von Peter von der Rennen in Danzig aus starkem Silber ge-
arbeitet, enthält zwei Widmungs-
tafeln und zehn vortreffliche Bas-
reliefs, welche das Leben und
Leiden des heiligen Adalbert dar-
stellen. Während dieser Sarg
die Gebeine des Heiligen enthält,
befindet sich sein Haupt in der
außerordentlich reichen Schatzkam-
mer des Domes, welche zwischen
den beiden Türmen unter der
Orgel liegt.
Ein merkwürdiges Denkmal,
welches sich gleichfalls auf das
Leben des heiligen Adalbert be-
zieht, sind die uralten, ehernen
Thüren an dem südlichen, inneren
Eingange der Kirche. Ob diese
Erzthüreu, welche 3 m hoch und
zusammen 2 m breit sind, früher
das Stadtthor von Kiew gebildet
haben und von Boleslaw nach
Gnefen gebracht worden sind, wie
die Sage behauptet, läßt sich mit
Recht bezweifeln; aber nicht leug-
nen läßt sich, daß sie ein hervor-
ragendes Kunstwerk aus alter Zeit
sind. Auf jedem Flügel sind neun
Darstellungen enthalten, die von
einem lichten, phantastischen Rauchwerk umgeben sind, in welches der Künstler
Greifen, Kentauren und andre Gebilde der Phantasie verflochten hat.
Grabmal des heiligen Adalbert vor der Restauration.
Lromberg, polnisch Bydgoszcz, trägt seinen deutschen Namen von der Brahe,
an der es gebaut ist, die hier 15 Ion weit schiffbar wird. Der Ort, der gegen
Pommern zu gelegen war, hatte schon in früher Zeit eine Burg; er war eine
Zollstätte für den Verkehr von und nach Pommern, aber weil er an der Grenze
jag, war er auch oft der Zankapfel zweier Feinde, die miteinander stritten.
Den Polen wurde Bromberg bald durch die Pommern, bald durch die Preußen
abgenommen, aber immer wieder erobert. Wiewohl die Stadt im 14. Jahr-
hundert noch klein war, herrschte in derselben doch schon reges Leben. Danziger
456 Im Regierungsbezirk Bromberg,
Handelsleute machten damals in Bromberg so ansehnliche Geschäfte, daß sie da-
selbst eine eigne Niederlassung hielten. Auch Mönche zogen sich in die Stadt; ein
Karmeliterkloster wurde um 1400 gegründet. Im großen Kriege zwischen dem
preußischen Orden und den Polen im Jahre 1409 gewannen die Ritter Bromberg
durch Verrat und äscherten die Stadt ein: die Kirche und alle Häuser wurden
niedergebrannt, Menschen und Vieh fortgeschleppt. Auf diese Kunde eilte der
König Wladislaus mit seinem Heere gen Bromberg, beschoß mit schwerem Ge-
schütz die Burg und nahm sie nach achttägigem Angriff stürmend ein. Ohne
Zögern ließ er die Befestigungswerke ausbessern. Die Kriegswogen wälzten sich
mehrmals über die unglückliche Gegend; indessen erhob sich die Stadt von
neuem. Die Bernhardiner, welche sich im 15. Jahrhundert daselbst nieder-
ließen, predigten deutsch. Damals trieb Bromberg nicht unbedeutenden Handel
mit Bier und Getreide, das zu Wasser nach Danzig geschafft wurde; später kam
auch noch Töpferware, die in Bromberg gebrannt wurde, in auswärtigen Vertrieb,
Holz aus den nahen Forsten wurde auch stromabwärts zum Verkaufe gebracht.
Die Stadt war also im Wachsen; sie verwand die Pestjahre 1495, 1497
und 1535 und den Brand, der sie 1511 oder 1512 traf. Der namhafte Ge-
winn, den der Getreidehandel abwarf, lockte viele Edelleute an, sich in Brom-
berg als Getreidehändler niederzulassen; da sich aber mehrere derselben den
Leistungen entzogen, die den Bürgern oblagen, so erwirkten diese eine Er-
klärung vom Könige, daß niemand, der in Bromberg ansässig sei oder ein Ge-
werbe betreibe, von der Gerichtsbarkeit und den Lasten der Stadt befreit werden
könne. Eine Veränderung brachte der Stadt das Eindringen der Reformation.
Wenn wir auch nähere Nachrichten über die damalige Stimmung der Bewohner
nicht haben, fo wiffen wir doch, daß die Bernhardiner 1590 einen protestan-
tischen Edelmann ergriffen und ins Klostergefängnis schleppten, aus dem er
durch einen Freund befreit wurde, woraus ein Streithandel entstand, der bis
vor den Reichstag gebracht wurde. Im 17. Jahrhundert sank Brombergs
Bedeutung durch Seuchen und Kriege, welche die Stadt verheerend heimsuchten.
Das Wiederausleben nach den schweren Heimsuchungen war nnr eine Nachblüte,
denn das Geschick der Stadt hing mit dem des polnischen Reiches zusammen,
und das folgende Jahrhundert brachte neues Elend. Im Jahre 1772 hatte
Bromberg nur noch etwa 500 Bewohner. Zwanzig Jahre später lebten schon
4000 Menschen in der Stadt, denn Friedrich II. nahm sich ihrer Hebung mit
Einsicht und Nachdruck an. Mit der Eröffnung des Bromberger Kanals wa?en
dem Gewerbfleiße günstigere Aussichten gegeben. Eine Zuckersiederei wurde
begonnen, eine evangelische Kirche eingerichtet, die Stadt gepflastert, Bauten
aufgeführt. Die Polen stürmten 1794 die Stadt, trieben 60 000 Gulden ein,
nahmen das Bildnis Friedrichs des Großen aus dem Rathause; sie blieben nur
14 Tage daselbst. Das Jahr 1306 brachte wieder schwere Tage und Be-
trübnis, denn während der Zeit des Warschauer Herzogtums war Bromberg
der Sitz einer Präfektur, eines Gerichtes und eines Postamtes; es gehörte zu
den schönsten Städten des von Napoleon geschaffenen Staates. Der Handel
mit Getreide, Wein, Metallen, Holz, Leder und Wolle war in Blüte. Außer
der Zuckersiederei gab es auch eine Tabaksspinnerei, Zichorien-, Öl-, Weinessig-,
Neublaufabriken; Gerberei, Tuch- und Leinwandbereitung war in starkem Be-
triebe. Als Bromberg wieder an Preußen kam, hatte es 6100 Einwohner.
Pan Twardowski^ 457
Die neue Entwickelung seit 1772 war entschieden deutsch, und während
der Stürme, welche die Polen in unsern Tagen erregten, stand Bromberg als
ein Hort der Deutschen fest. Als im März 1343 einige polnische Edelleute
dem Bürgermeister seine Amtsgewalt abnehmen und einen Polenausschuß ein-
richten wollten, erhob sich rasch und gewaltig die Kraft der Deutschen. „Wir
sind Deutsche und wollen Deutsche bleiben. Es ist notwendig, daß wir als
Männer auftreten, des deutschen Namens würdig, uns fest aneinander schließen,
Mann an Mann, Ort an Ort. Lassen wir das Banner eines tausendjährigen
Ruhmes von unsern Türmen wehen, ein sichtbares Zeichen nnsres ernsten Willens."
So erscholl es damals in Bromberg tausendstimmig; es bildete sich ein Bürger-
ansschuß zur Wahrung der preußischen Interessen im Großherzogtum Posen.
Zur Belebung der Deutschen erschien seit Anfang April die Bromberger deutsche
Zeitung. Hier in Bromberg wurde damals als Ziel, das erstrebt werden müsse,
aufgestellt, das ganze Posen bei Deutschland zu erhalten, einer teilweisen pol-
nischen Reorganisation entgegenzuwirken. Brombergs Verhalten im Jahre 1848
ist der Glanzpunkt in der Geschichte der Stadt und des Landes. Jetzt hat die
Stadt 34 044 Einwohner; in derselben sind zwei katholische, zwei evangelische,
eine lutherische Kirche, ein stattliches Regierungsgebäude, Gymnasium, Real-
schule, evangelisches Lehrerseminar, Blinden- und Taubstummenanstalt.
Pan Twardowski. Ein Teil einer unter den Polen weitverbreiteten
Sage spielt in Bromberg, nämlich ein Abschnitt der Lebensgeschichte des Pan
Twardowski. Dieser Twardowski ist nämlich für die Polen das, was für die
Deutschen der Doktor Faust ist. Gar vieles weiß die Sage von ihm zu er-
zählen; aber alles, was berichtet wird, läßt sich nicht in den Rahmen einer
Lebensbeschreibung zusammenbringen; hier mögen einige Abschnitte genügen.
Twardowskis Seele war durch seinen Vater an den Teufel verkauft worden.
Als nämlich ein polnischer Edelmann mit Namen Twardowski aus der Gegend
von Podgörze gegenüber von Krakau einmal eine Reise machen mußte und zur
Nachtzeit durch Felder und Wälder auf elendem Klepper ritt, wurde er von einem
starken Gewitter überrascht. Während der Donner brüllte und die Blitze kreuz
und quer durch die Lüste zuckten, um die nächtliche Finsternis auf Augenblicke
in die Helle des Tages zu verwandeln, verlor der Edelmann den Weg und
geriet in eine Gegend, die durch Bäche aufgeweicht und durchrissen war. In
seiner Not wußte er sich nicht mehr zu helfen und schwebte in großer Angst.
Da nahen sich ihm Räuber, um ihn auszuplündern. „Helfe mir, wer will",
sagte der Bedrängte, „und wenn's der Teufel ist!" Alsbald erschien eine Schar
Reiter, welche den Edelmann aus der Gewalt der Räuber befreiten. Der Anführer
derselben, der kein andrer als der zur Hilfe herbeigerufene Fürst der Hölle war,
erbat sich von Twardowski als sein Eigentum das aus, was er bei seiner Heimkehr
zu Hause treffen würde, doch ohne daß er jetzt wisse, was es wohl sei. Twardowski
war zufrieden. Der Teufel setzte unter einem breitästigen Eichbaume auf einer
Pergamentrolle den Kontrakt auf, den dann der Edelmann mit seinem eignen
Blute unterschrieb. Als er zu Hause ankam, hatte ihm seine Gattin ein Söhnchen
geschenkt. Groß, ja unermeßlich war seine Betrübnis, daß er die Seele des
Kindes dem Teufel verschrieben hatte, besonders da ihm die teure Gattin bald
nach der Geburt des Kleinen starb und er mit feinem Sohne allein zurückblieb.
458 Im Regierungsbezirk Bromberg.
Nun wich der Segen vom Edelhofs, denn Twardowski verfiel in Schwer-
mut und kümmerte sich nicht mehr um sein Gut. Das Unkraut wucherte im
Garten, Feld und Wiesen trugen nichts, die Gebäude begannen zu verfallen.
Unmutig und gleichgültig zog Twardowski durch Wald und Flur und dachte
nur mit Grimm im Herzen und einem Flnch auf den Lippen daran, daß er
sein einziges Kind der Hölle geopfert hatte.
Der Knabe wuchs heran und zeichnete sich durch Geist und Witz aus, so
daß alle Nachbarn den Vater um sein liebliches Kind beneideten. Dieser aber
war traurig und wurde immer schwermütiger, je heiterer er seinen Sohn sah.
Diese trübe Stimmung des Vaters entging dem Kinde nicht. Der Knabe spielte
um den Vater, sehte sich auf den Schoß und liebkoste lachend und scherzend
den betrübten Mann und fragte ihn nach der Veranlassung zu seinem herben
Schmerze. Lange verschwieg der Vater die Ursache seines Grames. Als aber
das Kind immer wieder in den Vater drang und bat, da erwachte in dem Alten
der Drang, mitzuteilen, und er erzählte dem Kimbeit das schwerste Geheimnis
seines Lebens. Da sprang das Kind schnell von den Knieen des Vaters herab
und sagte tröstend: „Beruhige dich, Väterchen, ich werde selbst zur Hölle gehen
und die Verschreibuug, die dich bindet, holen."
Der junge Twardowski besuchte in Krakau die Schule, Tag und Nacht
studierte er mit großem Eifer und las heilige und erbauliche Bücher, vielfach
dachte er über das Wesen der Dinge nach. So erreichte er das fünfzehnte Jahr
und glaubte, daß nun für ihn die Zeit gekommen sei, die Reise in die Hölle zu
unternehmen. Es lebte damals in Krakau ein alter Mann, ein Glöckner, der
war so alt, daß er selbst nicht die Zahl seiner Jahre angeben konnte. Zu ihm
ging der Knabe, um sich von ihm in der schweren Angelegenheit Rat zu holen.
Der Alte saß auf einem Steine vor der Kirche und betete den Rosenkranz,
als Twardowski kam. Der Knabe störte den Beter nicht. Erst als der Greis sich
mühsam erhob, trug er ihm sein Anliegen vor, nachdem er ihm die runzelige,
zitternde Hand geküßt hatte.
Lange sann der Greis nach, was da zu thuu sei. Nach langem Sinnen
erteilte er dem Knaben einen Rat, wie er, ohne Schaden zu leiden, zur Hölle
gelangen könne. Der Knabe lauschte aufmerksam den Worten des Alten, merkte
sich dieselben wohl und beschloß, nach ihnen zu handeln. Nachdem er viele
Mühen und Gefahren bestanden hatte, gelangte er in die Hölle.
„Was begehrst du, reine Seele, hier?" fragten die Teufel den Knaben
und suchten ihn zu berühren; er aber besprengte sie mit Weihwasser; da wanden
sie sich zu seinen Füßen und krümmten sich und ließen den unschuldigen Knaben
ziehen. „Ich begehre die Urkunde, durch welche mein Vater einst meine Seele
der Hölle verschrieb", entgegnete der Jüngling. Nun wichen die Teufel zu
beiden Seiten von ihm, um ihm nicht Rede zu stehen; er aber ging weiter bis
in die tiefste Tiefe der dunklen Hölle, wo Luzifer selbst saß. Der oberste der
Teufel machte allerlei Ausflüchte, aber Twardowski ließ nicht ab von seinem
Begehren; es blieb dem Teufel nichts übrig, er mußte den Kontrakt geben und
tröstete sich mit dem Gedanken, daß er den Twardowski doch auch ohne diesen
Kontrakt in die Hölle bekommen werde.
Mit dem Papier in der Hand trat der Jüngling den Rückweg an; die
Teufel grollten ihm, und als er durch das Thor ging, fchlug es der Pförtner
Pan Twardowski. 459
so schnell hinter ihm zu, daß es ihm den einen Fuß verletzte und Twardowski
fortan hinkte. Jetzt sank er auf d?e Kuiee und betete mit dankendem Gemüte
zu Gott. Bald kam er in das Haus seines Vaters, der die Urkunde freudigen
Herzens annahm und in geweihtem Feuer verbrannte.
Der alte Twardowski gewann für den Rest seiner Tage seine Ruhe wieder;
der Jüngling aber bezog die Hochschule zu Krakau und wurde wegen seiner
Talente, seines Eifers und seines Fleißes der Liebling seiner Lehrer. Er
war noch Schüler in Krakau, als er au das Sterbebett seiues Vaters gerufen
wurde. Kindlich beweinte er den Tod des Vaters.
Der junge Twardowski ergab sich nunmehr gäuzlich den wissenschaftlichen
Studien, alles andre war ihm gleichgültig, beachtete er nicht. Bald wurde aus
dem Schüler ein berühmter Meister. Aus den fernsten Ländern eilten die be-
rühmtesten Theologen, Philosophen, Ärzte und Astrologen nach Krakau, um mit
Twardowski sich in wissenschaftliche Gespräche einzulassen uud ihn anzustaunen.
Dennoch fand er keine Seelenruhe, keine Befriedigung; je mehr sich die Menschen
um ihn drängten, desto leerer und öder wurde es in ihm. Um sein Gut be-
kümmerte er sich uicht, es war verpfändet und verwahrlost; und warum sollte
er sich um Dinge kümmern, die ihn von der Wissenschaft abziehen mußten!
Wareu doch seine Ansprüche ans Leben so sehr gering, so unbedeutend. Je
mehr er die Wissenschaft als seine Trösterin und Freundin umfaßte, um so mehr
wurde er der Welt eutrückt. Die Leere nahm zu in ihm; er entdeckte mit
Schrecken, daß er seinen Glauben, seine Zuversicht zu Gott verloreu hatte.
Die Zeit war gekommen, daß ihn der Teufel mit Erfolg versuchen konnte.
Meister Twardowski beschloß, zum Teufel feine Zuflucht zu nehmen. Es war
Nacht. Die Verschwörung begann und gelang, der Böse erschien.
Twardowski stellte zuerst feine Bedingungen. Der Satan versprach, ihm
alle jene Wünsche zu erfüllen, dafür aber müsse ihm der Meister seine ganze
Seele, nnd wäre es auch nach dem längsten Leben, verschreiben; er müsse ihm
zur Hölle folgen mit denen, die an feine Macht geglaubt hätten und durch ihn
verderbt wären; verschreiben müsse er sich der Hölle mit Haut und Haaren,
damit nicht seine Seele, wenn er auf dem Krankenbette liege, von Pfaffen ge-
knetet, zum Himmel zurückkehre. Der Meister ging aus diese Vorschlüge ein,
nur sollte ihn der Teufel an keinem andern Orte als in Rom (Rzym) holen
dürfen. Nach langem Reden gab auch zu dieser Beschränkung der Böse seine
Einwilligung.
Nun konnte die Urkunde ausgefertigt werden. Der Teufel hat das Per-
gament mitgebracht, das in Italien zurecht gemacht war; es war eine Menschen-
haut, die aus dem Rücken eines Erhenkten herausgeschnitten war, besonders
hart deshalb, weil sie bei Lebzeiten des Verbrechers mit Stockschlägen tüchtig
gehärtet und nach seinem Tode am Galgen getrocknet war. Mit Twardowskis
warmem Blute, das aus dem geritzten Finger hervorquoll, wurde die Urkunde
geschrieben, dann von dem Meister unterschrieben uud untersiegelt; da krähte
der Hahn zum erstenmal. Alles war verschwunden. Der bleiche Strahl des
dämmernden Tages fiel auf des Meisters mattes Auge, die Aufregung der
Nacht lag bleischwer in seinen Gliedern; lange kämpfte er in sitzender Stellung
mit dem Schlummer, bis endlich fein Haupt sich auf den Arm senkte und er in
tiefen Schlaf verfiel. Als er nach langen Stunden erwachte, war heller Tag.
460 Im Regierungsbezirk Bromberg.
Noch war er matt von den Vorgängen der letzten Nacht, mühsam erhob er
seine Augenlider. Alles sah er mit andern Augen, anders erschien ihm die
Welt, anders erfaßte er die Dinge als am Abend znvor.
Er kehrte nach Krakau zurück. Da schien es ihm, als ob die Glocken, die
von den Türmen herab ihre Stimme erschallen ließen, ihm zuriefen: „Wehe,
wehe der sündhaften Seele, die sich Gott und der Ewigkeit um schnöder Weltlust
und irdischer Weisheit willen widersetzt! Wehe der Seele, die sich dem Satan
überliefert! Wehe der Seele des Meisters, die heute und für immer dem Himmel
gestorben ist und anfängt der Hölle zu leben! Wehe der Seele Twardowskis!"
So, glaubte er, sprachen die ehernen Zungen der Glocken, und es schien ihm,
als ob die Menschen diese Sprache verständen, denn mit Ehrfurcht machten sie
ihm Platz und staunten ihn an als einen Zauberer und Wundermann. Eine
alte Frau küßte dem Meister ehrerbietig die Haud und erbat sich Rettung für
ihre kranke Tochter. Twardowski besann sich nur kurze Zeit, dann sagte er
das nötige Mittel und entließ die beruhigte Alte. Studenten kamen und be-
grüßten den Gelehrten unter lautem Jauchzen und Mützenschwenken und riefen
ein Vivat nach dem andern. Zu diesen luftigen Schülern gesellten sich Scharen
aus dem Volke, die ebenfalls unter Lärmen den Ruhm des Meisters priesen,
und sie geleiteten den erfreuten, von Ruhm gekrönten Mann (sein Ruhm war
über Nacht gekommen) uuter Jubelrufen nach Hause. Aber in den Jubel hinein
riefen die Glocken: „Wehe der Seele Twardowskis! Wehe deiner Größe, Meister,
weil du dich der Hölle verkauft hast!" Unwillig und ungeduldig blieb er stehen
und rief: „Schweigt, ihr Glocken!" Da rissen die Stränge der Glocken, die
Glöckner stürzten zu Boden, und die Glocken verhauchten mit einem langen
Ton ihr Geläute.
Ehrfurchtsvoll neigte vor Twardowskis Weisheit und Ruhm jeder sein
Haupt. Sein Haus wurde geradezu belagert, denn die seltsamsten Gerüchte von
seinen Wunderkuren, seinen weisen Ratschlägen und seiner Zauberei waren im
Umlaufe. Auf Befehl des Königs mußte er mit feinem Diener Matthias Krakau
verlassen; sie eilten nach Bydgoszez (Bromberg) und blieben hier längere
Zeit und konnten sich des Andranges der Bittsteller kaum erwehren. Jeder
wünschte von dem Wunderdoktor Abstellung seiner Leiden oder Erfüllung
seiner Wünsche. Allen riet Twardowski, aber zu ihrem Verderben, denn sie
alle verfielen dem Teufel.
In Bromberg wohnte ein Edelmann, der sein schönes, vom Vater ererbtes
Gut verpraßt hatte und nun zwecklos und elend im Lande umherirrte. Der
Verschwender schließt Freundschaft mit dem Zauberer, erzählt ihm von seiner
verzweifelten Lage und bittet, er möchte ihm mit seiner wunderbaren Kunst
helfen. „Eile", sagt Twardowski, „nach einem entlegenen Orte (der Zauberer
bezeichnet denselben genau) und suche eine leere Hütte auf. Wenn dann die
Nacht beginnt, so ziehe aus der Tasche neun Geldstückchen hervor und zähle sie
ohne Unterlaß von eins bis neun und rückwärts wieder von neun bis eins,
und zähle immer fort, bis es zu tagen beginnt. Nur mußt du dich im Zähleu
nicht irren, sonst ist alle Mühe vergebens. Vor Geistern brauchst du dich nicht
zu fürchten, denn ich gebe dir mein Wort, daß diese dir nichts Böses zufügen
werden. Erfüllst du dies treulich, so wirst du sicher ein reicherer Mann werden,
als du gewesen bist."
Pan Twardowski. 461
Der arme Mensch befolgte den Rat des Zauberers; er findet die leere
Hütte, fetzt sich hinein und zählt mit aller Anstrengung neun Groschen hin und
her. Schon beginnt es schwach zu tagen, da erscheint der Böse und fragt, ob
er sich nicht geirrt habe. Der arme Edelmann verneint es freudig. „So rechne
weiter, denn der Morgen ist nicht mehr fern", sagt der Böse und verschwindet.
Nun will der Arme weiter zählen, aber er weiß nicht, wo er stehen geblieben ist.
Aus war es mit seinem Reichtum; voll Verzweiflung verläßt er die Hütte, die
Teufel treten ihm, wie er in die Stadt zurückkehrt, in den Weg, necken ihn und
zerzausen ihm das Haar; er bereute seine That und weihte im Kloster sein
Leben der Buße.
Eines Tages kam in Bromberg ein alter Herr zu Twardowski, ein ehe-
maliger Bürgermeister, und bat um Rat und Hilfe, denn in seinem Hause treibe
der Satan sein Unwesen; wenn die Nacht hereinbreche, beginne der Spuk, dann
gehe es hoch und toll her, dann höre er, wie Lieder gesungen werden, wie man
kichere und flüstere, und er könne nicht schlafen bis zum Morgen. Twardowski
fragte den alten Slomka (so hieß der Bürgermeister), ob er ein junges Weib
habe. Als diese Frage bejaht wurde, meinte der Zauberer, daß der Spuk nur
zu beseitigen sei, wenn entweder seine Frau alt oder er jung würde. Nach
einigen Tagen trat Slomka am frühen Morgen bei Twardowski ein und bat
ihn flehentlich, er möchte ihn verjüngen. Das war eine mühsame und kost-
spielige Arbeit, die mehrere Tage dauerte, denn der Zauberer mußte sich erst
mancherlei seltene und teure Kräuter verschaffen und Salben machen. Als alle
Vorbereitungen getroffen waren, that der Bürgermeister so, wie wenn er sich
zu einer großen Reise rüste; er nahm Abschied von seinem jungen Weibe und
übergab seinem Bruder das Haus, selbst aber bezog er bei Nacht ein entlegenes,
gemietetes Haus in der Vorstadt. Twardowski erschien, gab dem alten Manne
einen Schlaftrunk ein, legte ihn mit Hilfe feines treuen Dieners in einen Keffel
und kochte ihn lange, dann falbte er ihn mit verschiedenen Salben zehn Tage
lang und ließ die Seele, die er beim Beginnen der Verjüngung aus dem Körper
herausgenommen und in einem luftdicht verschlossenen Glase ausbewahrt hatte,
wieder vorsichtig in den Mund des toten Körpers gleiten. Slomka war jung
geworden und eilte nach Hause. Hier war große Gesellschaft bei der Frau
Bürgermeisterin. Niemand erkannte ihn. Erst als er viele Fragen, die ihm
seine Frau vorlegte und die nur er beantworten konnte, richtig beantwortete,
glaubte man ihm, und die Frau Bürgermeisterin war über die Verwandlung
ihres alten Mannes in einen jungen sehr erfreut.
Das Gerücht von dieser That verbreitete sich schnell. In großen Scharen
eilten Greise und alte Weiber herbei und wollten mit Twardowskis Hilfe wieder
jung werden; aber der Meister, der dies vorausgesehen hatte, war und blieb
verschwunden. Sein Diener saß vor der Thür und sagte allen: „Der Meister
ist nicht zu Hause."
Matthias hatte zwar genau acht gegeben bei dem Verjüngungsprozeß,
aber der Schüler und Diener darf sich nicht dem Meister gleichstellen, wenn er
nicht seinen Übermut schwer bereuen will. Das sollte auch Matthias erfahren.
Weil er glaubte, das Verjüngen zu verstehen, nahm er, um sich viel Geld zu
verdienen, in Abwesenheit seines Herrn eine Bestellung an und versprach, einen
Starosten zu verjüngen. Er kam in das Schloß und gab sich für den Meister
462 Im Regierungsbezirk Bromberg.
aus. Der Zauber gelaug vortrefflich, bald lag der Körper des alten Starosten
frisch und verjüngt da, aber Leben konnte Matthias ihm nicht zurückgeben;
denn die Seele war ihm entwichen, weil er das Gefäß, in das er sie gesperrt,
nicht luftdicht verschlossen hatte. Er versuchte zu fliehen, aber die Flucht miß-
lang; der Schwarzkünstler wurde von den Richtern zum Flammentode verurteilt.
Das Begräbnis des Starosten fand mit großem Gepränge statt; hinter
dem Sarge schritt, mit Eisenketten beschwert und eine brennende Fackel in der
Hand, Matthias einher, der schon nach wenigen Tagen den Scheiterhaufen be-
steigen sollte. Nun bereute er seiue böse That und hatte im Gefängnis Sehn-
sucht nach einem Priester. Ein Geistlicher von ärmlichem Aussehen, als wäre
er ein Bettelmönch, erscheint in der dunklen Zelle, und ihm bekennt Matthias
sein Unrecht. Aber ein höhnisches Gelächter erscholl unter der Kutte bei dieser
Anklage, denn Pan Twardowski hatte sich unter dem Gewände des Mönches
in die Zelle geschlichen. „Willst du mir treu sein, alle meine Befehle genau
vollziehen, so rette ich dich", sagte Twardowski. „Das schwöre ich Euch", eut-
geguete Matthias „ich will Euch nie verlassen, Euer Diener, Euer Sklave, Euer
Hund will ich sein." Der Zauberer nahm den Diener bei der Hand, öffnete
das Pförtchen, und beide verließen die Zelle. Die Wache that ihnen nichts.
Als Matthias nach kurzer Zeit von dem Fenster eines Hauses auf den Markt-
platz hinausschaute, sah er, wie er — in zweiter Gestalt zum Holzstoß geführt
wurde, während er selbst gerettet und gesichert war. Der Diener des Zauberers
weinte aus Rührung über seinen Doppelgänger, wunderte sich aber nicht wenig,
als er sah, wie sich der vermeintliche Missethäter auf dem Holzstoß in ein
Bund Stroh verwandelte und alles Volk, über dieses Wunder entsetzt, sich be-
kreuzte und die Flucht ergriff.
Nachdem Twardowski längere Zeit in Bromberg zugebracht hatte, kehrte
er nach Krakau zurück und begann wieder sein einsiedlerisches Leben. In dem
Bewußtsein, alle Macht und alles Wissen zu umfassen, fühlte er sich nicht glücklich.
Der Gedanke quälte ihn, daß er die Welt noch nicht genossen habe und nun zu
alt und abgelebt sei, um sie noch genießen zu können. Arbeit und Sorge hatten
sein Haar gebleicht und ausfallen lassen, seine Augen waren von Ringen um-
geben, seine Wangen eingefallen wie altes Pergament, seine Haltung hinfällig
und gebückt. Er rief seinen treuen Diener herbei und sagte ihm, daß er ihn
verjüngen solle. Der Zauberer gab die sorgfältigste Unterweisung, beschrieb
jede Zeit, jede Salbung, jedes Mittel aufs genaueste. Drei Jahre, sieben Monate
und sieben Tage wollte der Zauberer im Grabe ruhen, nachdem er in bestimmter
Reihenfolge sieben Tage mit sieben Salben und Kräutern zur Zeit des Neu-
mondes in schlafendem Zustande gesalbt war. Unter dem Schein von sieben
aus Leichenfett bereiteten Kerzen war der Körper auszugraben. Die Verjüngung
gelang. Aus dem geöffneten Sarge dufteten Blumen dem Diener entgegen, in
die sich die Hobelspäne verwandelt hatten, und in den Blumen lag ein kleiner
Knabe, der in wenigen Tagen zum kräftigen Jüngling gedieh.
Für Twardowski begann ein neues Lebeu. Er bezog ein großes Haus,
mietete zahlreiche Dienerschaft, richtete das Haus so prachtvoll ein, daß es von
Gold und Silber strotzte, versorgte seinen Keller mit edlen, feurigen Weinen,
seinen Marstall mit den prächtigsten Pferden und besorgte sich aus Deutschland
kostbare Kutschen. Die Bücher blieben bestaubt im Winkel liegen. An Freunden
Pan Twardowski. 463
fehlte es dem reichen Manne nicht. Auf seinem Tische dampften die ausgesnch-
testen Speisen, die Becher schäumten vom edelsten Wein, Geld besorgte der
Teufel in gewünschter Menge.
Der Diener Matthias aber beneidete seinen Herrn um den Reichtum, und
das mochte Twardowski nicht leiden. Deshalb verwandelte er ihn in eine Spinne,
die in einer Ecke des Fensters ihre Netze spann und auf Mücken Jagd machte.
Alles hatte der Meister im Überfluß, aber es fehlte ihm das Weib. Auch
das Weib sollte er jetzt finden. Ein adliges Fräulein, eine Waise, die schöne
Agnes, gewann Twardowski lieb; sie war 25 Jahre alt und in der Blüte ihrer
Schönheit, hochmütig aus ihre Geburt und stolz auf ihr ungewöhnliches Wissen;
dem Twardowski gegenüber war sie heiter, freundlich und gefühlvoll, sie schätzte
in ihm den berühmten Gelehrten und Arzt. Er ahnte nicht, daß sie in ihm
nicht den jungen, hübschen Freier verehrte, daß sie ein kaltes und berechnendes
Weib war, dem die Äußerlichkeiten des Glückes und die Bewunderung der Menge
über alles ging. Von dem Zauber ihrer Schönheit war er so berauscht, daß
seinem durchdringenden Verstand das wahre Wesen des Weibes, an das er seine
Zukunft zu fesseln entschlossen war, entging.
Die Liebe Twardowskis zu Agnes wuchs von Tag zu Tag. Wo es ihm
nur möglich war, suchte er sie zu sehen; er verfolgte sie bis in die Kirche, be-
gleitete sie auf Spaziergängen und widmete seine ganze Zeit ihrem Dienste.
Leider wußte er, daß der Pflegevater des Mädchens ihm die Hand der Agnes
nicht geben würde, weil sie einen reichen Kaufmann heiraten sollte; daß sie ent-
erbt werden würde, wenn sie sich den Zauberer zum Manne wählen sollte.
Der Teufel riet deshalb zur Entführung. Twardowski sollte dem jungen
Mädchen durch einen Brief seine Liebe erklären, ihr eine Zeit zur Entführung
bestimmen und ihr sagen, er wolle sie in eine entlegene Waldkapelle führen, in
die er einen Geistlichen bestellt habe zur Vollziehung der Trauung. Der Geist-
liche aber wollte der Teufel sein. Agnes ging auf den Vorschlag Twardowskis
ein. An einem Sonntage nach beendigtem Nachmittagsgottesdienste stieg sie in
einen Wagen des Zauberers, der für sie vor der Kirchthür bereit stand.
Twardowski ritt zu Pferde der Kutsche nach. Endlich kam man in einen
dunklen, dichten Wald, der Kutscher hielt die Zügel an, und man stand plötzlich
vor einer Kapelle, deren Thür offen war.
Das Brautpaar trat in die Kapelle ein, vor deren Altar mit der Stola
geziert ein Mönch stand, der des Brautpaares harrte. Die Kapelle war alt,
düster und verfallen, Feuchtigkeit floß von den Wänden herab, die Fenster
hatten Wind und Sturm zerschlagen, auf dem Boden lagen Trümmer, an den
Wänden hingen zersetzte Gemälde. Den Altar bedeckte ein beflecktes Tischtuch,
zwei tief herabgebrannte Kerzen brannten in zwei elenden Holzleuchtern, ein
weißes Kreuz fand sich an den Stufen des Altars. Die Trauung wurde aufs
eiligste vollzogen. Das junge Paar stieg in die Kutsche, und im Fluge ging es
zurück nach Krakau. Gäste waren geladen zu einem großartigen Mahle, aber
sie wußten nicht, wem zu Ehren das Fest sein sollte. Alle waren erstaunt, als
sich die Neuvermählten zeigten; am meisten überrascht von den Geladenen waren
der Pflegevater der Agnes und der junge Mann, den sie heiraten sollte. Doch
bald beruhigten sich die Gäste, sie ließen sich die Speisen und den Wein gut
schmecken und tanzten munter.
464 Im Regierungsbezirk Bromberg.
Em Jahr lang dauerte Twardowskis Glück. Dann änderte sich die Ge-
sinnung der Agnes; Stolz und Herrschsucht machten sich immer mehr bei ihr
bemerklich; auch gab sie sich keine Mühe, ihre Gleichgültigkeit gegen Twardowski,
der sie noch immer leidenschaftlich liebte, zu verbergen. Ja der Meister mußte
sich sogar überzeugen, daß seine Frau ihm untreu war: er überraschte sie mit
ihrem Geliebten, als sie den Gatten fern glaubte, und hörte, wie sie ihrem
Liebhaber sagte, daß sie Twardowski nie geliebt, daß sie ihn nur der Stellung
halber geheiratet und bisher ihre Rolle gut gespielt und sich einen Vogel ge-
fangen habe, der nun sicher und ruhig im Käfig sitze. Bei solchen Gesprächen
überraschte Twardowski das Paar. Den Liebhaber des untreuen Weibes ver-
wandelte er in die Gestalt eines räudigen Hundes und sagte ihm, alle Welt
werde ihn mit Steinwürfen und Stockschlägen jagen. Agnes wurde deshalb von
ihm verstoßen mit den Worten: „Hebe dich aus meinem Hause hinweg! Auf den
Straßen magst du dein Brot erbetteln; gehe, versuche das Elend und koste die
Not!" Die Diener eilten herbei und schafften die Jammernde zum Hause hinaus.
Jahre vergingen, Twardowski ergab sich dem wüsten Leben und verachtete
das weibliche Geschlecht, von dem er glaubte, daß es wahre Liebe nicht kenne.
Einst fuhr er in seinem Wagen durch die Straßen von Krakau und über einen
Platz fort. Da bemerkte er auf dem Platze die Bude einer Töpferin, und
plötzlich erkannte er in dem bleichen, abgehärmten Gesichte seine verstoßene
Gattin. Ein schmutziges, zersetztes Kleid schlotterte um den verfallenen Leib;
ihre einst so schönen Augen waren in den Höhlen zurückgetreten, ihr Haar
flatterte wild um die Stirn, die Lippen waren farblos und dünn. Zu ihren
Füßen lag der häßliche, graue Hund — einst ihr Geliebter, jetzt ihr treuer
Wächter, den fie aus Erbarmen vor dem Verhungern schützte.
Der Meister erglühte in seinem Zorn und sein Rachegefühl erwachte. Er
fuhr mit seinem Wagen durch die Töpfe, daß sie in Scherben gingen, und der
Jammer des Weibes und des Hundes Geheul waren Musik für seine Ohren.
So oft er an der Bude der Händlerin vorbeifuhr, wiederholte er diesen Akt
der Rache, bis das Weib sich eine andre Stätte suchte, um ihr Leben kümmer-
lich zu fristen.
Der Rest von Twardowskis Leben war voll von Bitterkeit und Trauer.
Zum zweitenmal war er alt geworden, ihn erfreute weder die Welt noch die
Wissenschaft. Trübsinnig, schweigsam, gesenkten Hauptes, mit eingefallenem
Antlitz ging er einher und war die Zielscheibe des Volkswitzes. Er verzichtete
aus die Freuden des Lebens, und seine Frennde und Anhänger zogen sich von
ihm zurück. Nur sein Diener Matthias war ihm in der Gestalt einer Spinne
treu geblieben. Dennoch wollte der Greis noch leben und mied deshalb die
Alpen, um nicht nach Rom zu gelangen; denn nur in Rom konnte ihn der
Teufel holen, Twardowski aber hatte sich vorgenommen, die List der Hölle zu
überlisten. Endlich wurde der Teufel unmutig und aller der Dienste über-
drüssig, die er fast stündlich seinem Gebieter leisten mußte und die sich in alle
Ewigkeit schienen fortsetzen zu wollen. Er greift zu einer List, nimmt die Ge-
stalt eines Dieners an und bittet den Herrn Twardowski als berühmten Arzt,
seinem todkranken Gebieter zu Hilfe zu eilen. Dieser, gutmütig, arglos und
gern zu Helsen bereit, wirft sich sogleich in seinen Wagen und jagt nach dem
bezeichneten Orte. Der Teufel aber wußte es einzurichten, daß plötzlich eine
Pan Twardowski. 465
Achse des Wagens und ein Rad zerbrach. Kein Dorf, viel weniger ein Schloß
ist in der Nähe; dem Reisenden bleibt nichts übrig, als in eine unfern belegene
ärmliche Schenke einstweilen einzutreten, bis der Wagen notdürftig wiederher-
gestellt fein würde. Twardowski trat an das trübe Fenster der großen, düstern,
unreinlichen Gaststube, in der ein altes, zahnloses Mütterchen unter mißtönendem
Gesänge spann und dabei die Wiege eines schlafenden Kindes mit dem Fuße
fchaukelte, das an demselben Morgen erst getauft war.
Als Twardowski aus dem Fenster über das Feld hinaussah, bemerkte er,
daß es sich über den Himmel wie ein gelbrötlicher Wetterschein legte. Ein
dumpfes Brausen erfüllte die Luft, die Erde schien in ihren Grundfesten zu
wanken, in dichten Schwärmen ließen Krähen und Raben sich krächzend auf dem
Dache der Schenke nieder und umkreisten sie mit wildem Geschrei. Da trat
unwillkürlich die Erinnerung an den Kontrakt mit dem Teufel vor seine Seele,
die er gern auf immer aus derselben verbannt hätte.
„Wie heißt diese Schenke?" fragte er die Alte mit unsicherer Stimme.
„Der Ort heißt Rzym (Rom)", antwortete die Frau gleichgültig; aber sie
schrie laut auf vor Schrecken, als sie sah, daß Twardowski wie angedonnert
zusammenfuhr, seine Mienen voll Entsetzen sich verzerrten, daß er erbleichte,
zitterte und in Ohnmacht zusammenzusinken drohte.
„Wie wechselt Ihr die Farbe, gnädiger Herr", rief sie bestürzt, „wird Euch
unwohl oder seid Ihr gar zum Tode krank?" Sie eilte hinaus, um ihm
schleunig einen Trunk frischen Wassers zu holen.
Kaum hatte das Weib das Zimmer verlaffen, so trat der Teufel in feiner
vollen Amtstracht ein. Twardowski schauderte, und in der Angst des gewissen
Todes und ewiger Höllenqual riß er das nengeborne Kind aus der Wiege und
hielt es vor sich als einen schirmenden Schild gegen den Widersacher. Der
Feind konnte an das makellose Gottesgeschöpf nicht Hand anlegen, er mochte
sich drehen, springen und ringen, wie er wollte. Ermüdet durch lange frucht-
lose Bemühungen, griff Satan seinen Gegner bei der Ehre an. „Schäme dich,
Twardowski", sagte er. „Ziemt es dir, so hinterlistig unfern Vertrag zu brechen?
Quid cogitas, domine Twardowski? An nescis pacta nostra? Verbum nobile
debet esse stabile (Kennst du unfern Vertrag nicht? Edelmanns Wort muß
gehalten werden)."
Twardowski sah ein, daß er sein adliges Wort, das er durch Schrift und
Blut befestigt hatte, halten müsse. Er legte das Kind in die Wiege zurück, und
sofort fuhr sein Gefährte mit ihm zum Rauchfang hinaus. Die Schwärme der
Uhu, Eulen, Raben und Krähen erhoben ein lautes Freudengekrächze.
Beide fliegen höher und höher. Twardowski gewinnt die Geistesgegen-
wart wieder; er blickt hinunter, und in grauer Ferne liegt die Erde unter ihm
ausgebreitet. Tiefe Trauer ergreift des Zauberers Herz; er hat alles zurück-
gelassen, was ihm lieb und teuer gewesen war. Er kommt in Gegenden, in
denen kein Geier, kein Adler mit seinen Flügeln die Luft bewegt, von denen
aus der Wanderer nicht mehr auf die Erde hinabblicken kann. Da ziehen noch
einmal in lebhafter Gestaltung die Bilder der Vergangenheit an seiner Seele
vorüber. Mit seiner Erinnerung an das Glück seiner Jugend, an die Zeit der
Unschuld und des frommen Glaubens klingt wieder in den Tiefen seines Herzens,
wie der Ton einer sanft geschwungenen Glocke, ein Lied, das er einst zu Ehren
Deutsches Land und Volk. vitt. 30 Georg-Eckert-Instltüt
für inte 1I9
Schulb",: ohforschung
BraunsdrA'sig
SchijSbuchbibriiothek
466 Im Regierungsbezirk Brombcrg.
der Mutter des Herrn gedichtet hatte. Noch einmal stimmt er es an mit be-
klommener Brust, mit der ganzen Gewalt kindlicher Empfindung und Gläubig-
keit. Dieser Augenblick vernichtete die Macht der Hölle. Der Teufel erschrak
vor der Macht des gläubigen Sinnes, ließ Twardowski aus seinen Klauen los
und verschwand.
Der Meister blieb allein, er schwebte zwischen Himmel und Erde, auf den
Lippen lag ihm noch das heilige Lied. „Weile hier bis zum Tage des jüngsten
Gerichts!" So erklang es aus der Tiefe. Nun schwebt Twardowski im lichten,
farblosen, unermeßlichen Weltenraum; kein Laut der Erde drangt zu ihm, er
sieht nichts, um ihn liegt die unendliche Leere, er ist allein. Betend und sinnend
schwebt er in den Lüften; im Fluge rauschen die Jahre vorüber, welche die
Dauer seiner Strafe bezeichnen. Da bemerkt er, daß sich etwas an seine Hand
hängt. Es ist sein treuer Diener Matthias in Gestalt der Spinne. Er ist seinem
Meister gefolgt, um mit ihm das Los zu teilen. „Du bist es, mein Matthias,
du bei mir?" rief der Zauberer. „Immer bei Euch, mein Herr und Meister!"
entgegnete die Spinne.
Von da ab heftete sich die Spinne an Twardowskis Füße und verblieb
bei ihm für immer. Jeden Morgen schoß sie an langen Fäden zur Erde hinab,
schleppte sich fort und kroch an bekannten Orten umher und suchte Nahrung,
welche sie ihrem Herrn brachte, der, von Gram und schweren Gedanken ge-
soltert, dahinsiechte.
Wo liegt Rzym (Rom), der Unglücksort Twardowskis? Da die Sage von
dem großen Zauberer dem ganzen Polenlande angehört, so werden viele Orte
bezeichnet, an denen Twardowski vom Teufel geholt wurde, und die Frage ist
nicht zu entscheiden. Hier rühmt sich eine Herberge zwischen Krakau und Lem-
berg, dort eine Schenke bei Rogowo im Regierungsbezirk Bromberg, dort wieder
ein Ort au den Ufern des Dnjepr in der Nähe von Pultawa, der Ausgangs-
pnnkt von Twardowskis Höllenfahrt gewesen zu sein.
Kleine Städte im Regierungsbezirk Momberg. Ungefähr 50 km nord-
westlich von Gnesen liegt die Kreisstadt Wongrowitz; keine Bahn, nur eiue
Chaussee führt dorthin. Unterwegs halten wir noch im Kreise Gnesen bei der
kleinen Stadt Kleyko. Diese Stadt hat jetzt 1951 Einwohner; sie war schon
um die Mitte des 13. Jahrhunderts gegründet, denn um diese Zeit sprach sie
der Herzog Premisl seinem Bruder Boleslaw zu. Kletzko hatte deutsches Recht;
diejenigen, welche sich dort ansiedelten, wurden von allen Abgaben losgesprochen,
nnd es wurde ihueu für die Umgegend freie Jagd auf Hasen gestattet. Im
Jahre 1331 war Kletzko eine mit Palissaden umgebene und durch eine Burg
geschützte Stadt mit einer Kirche; aber sie wurde von dem Heere des Ordens
der Deutschen Ritter eingenommen und niedergebrannt. Ungefähr 100 Jahre
später äscherte eine Feuersbrunst die inzwischen wieder aufgebaute Stadt aber-
mals ein. Der König Kasimir IV. stellte um 1450 der Stadt, um ihr auf-
zuhelfen, eine neue Urkunde aus, gestattete freies Holz zum Häuserbau, gewährte
freien Fischfang im nahen See, erlaubte einen dreitägigen Jahrmarkt und machte
die Reisenden der Stadt und ihre Waren von Zins frei. Nach wenigen Jahren
hatte sich die Stadt so weit erholt, daß sie zur Stellung von zehn Kriegern
herangezogen wurde. Aber wiederum suchte Feuer die Stadt heini, durch Kriege
Wongrowitz. 467
und Einquartierungen hatte sie zu leiden, so daß sie nicht recht vorwärts kam.
Im Jahre 1816 hatte sie nur 676 Einwohner.
Unter den Steinen, aus denen die Kirche von Kletzko erbaut ist, sinden
sich mehrere sogenannte Näpfchen- oder Schalensteine; das sind Steine mit einer
oder mehreren, kleineren oder größeren, häusig ganz runden, künstlichen Ver-
tiefungen. Sie sind gefunden worden an Kirchen im nördlichen Europa, in der
Regel in Manneshöhe, meist zur Seite der Eingangsthür der Kirche. Die
Löcher haben eine eigentümliche Art Glasur. Zuweilen finden sich auch daneben
rillenartige, horizontal sich hinziehende kleine Vertiefungen. Man hat solche
Steine in der Provinz Posen nicht nur in Kletzko gefunden, sondern auch in
Pudewitz, Jnowrazlaw, in Posen selbst an der alten Marienkirche in der Nähe
des Domes; an der Pfarrkirche zu Wongrowitz hat man 820, an der Kirche
in Lekno (bei Wongrowitz) 245 Löcher oder Näpfchen gezählt. Woher stammen
diese Löcher? Was haben sie zu bedeuten? W. Schwartz sucht (Posener Provin-
zialblätter 1879, Nr. 1) eine Deutung, aber er kommt zu keinem sicheren Resultat.
Die einen sind der Ansicht, die Näpfchensteine seien Ziegelmarken, die bei je
100 Steinen gemacht wurden. Dagegen spricht der Umstand, daß die betreffenden
Steine sich meist zusammen auf eiuer Seite der Kirche und nur in Mannshöhe
finden. Ferner greifen die Löcher zuweilen in den die Steine verbindenden
Kalk hinüber, ein Zeichen, daß sie erst an der Mauer gemacht sind. Andre
meinen, die Löcher seien mit einem spitzen Stock zu abergläubischen oder kirch-
lichen Zwecken eingedreht worden, z. B. damit man bei gewissen Prozessionen
„reines" Feuer für die Prozessionskerzen entzünden könne. Doch ist es sehr
zweifelhaft, ob so durch Drehung eines Stäbchens in einem Ziegel Feuer zu
entzünden ist, und jene Annahme ist nur eine Vermutung, für die jede Über-
lieferung fehlt. Wieder andre nehmen an, die Löcher seien Kugelspuren von
Kämpfen, die an den Kirchen in alten Zeiten stattgefunden haben. Freilich
bleibt es dann auffallend, daß keine Kugel je einen Stein zersplitterte; aber es
wird behauptet, daß eine eiserne Kugel wohl einen dünnen Stein zersplittern
kann, in dicke, starke Steine aber durch Zusammendrücken der Masse ein Loch
machen muß.
Woilgrmmh. Wongrowitz (W^growiec) liegt an der Wolna. Im Jahre
1145 wurde hier ein Kloster der Cistereienser gestiftet, die von dem nahen
Lekno kamen. Die Ansiedelung gedieh, die Abtei kam zu Reichtum. Unter den
Stürmen des 16. Jahrhunderts litt die Stadt, zu Ende desselben hatte sie nur
noch 115 Häuser, im 18. Jahrhundert blieb sie in ihren Verhältnissen, erst in
uusrer Zeit hob sie sich wieder; sie hat jetzt 4385 Einwohner.
Vielleicht ist das nahegelegene Lekno älter als Wongrowitz; es wird als
Dorf schon im 12. Jahrhundert erwähnt. Lange Zeit blühte hier ein Cister-
eienserkloster. Als aber die Mönche der Sage nach den Einwohnern Leknos
großes Unrecht zufügten, rächten sich diese an denselben, worauf die Mönche
den Ort nunmehr verließen und nach Wongrowitz übersiedelten. Jetzt hat die
Stadt 652 Eiuwohner.
Zu Anfang des 17. Jahrhunderts hatten beide Städte keine schlechten
Schulen, wie wir aus einem Visitationsberichte des Gnesener Archidiakon Vinzenz
von Seve vom Jahre 1608 erfahren. „Die Schule zu Lekno", sagt der Revisor.
30*
468 Im Regierungsbezirk Bromberg.
„in der gegenwärtig als Rektor Jaeobus Czaplik weilt, ist in gutem Zustande.
Derselbe bezieht als Jahrgehalt acht Gulden. Die Ordensgelübde hat er nicht
abgelegt. Sein Kantor ist Martinus aus Lekno; beide sind fleißig und walten
gut ihres Amtes." Ausführlicher und interessanter sind die Angaben über die
Schule zu Wongrowitz. „Wongrowitz hat auch eine Schule, deren Rektor gegen-
wärtig Albertus Chassius aus Wongrowitz ist. Die Ordensgelübde hat er nicht
abgelegt; als Gehalt bezieht er zwölf Gulden vom Magistrate der Stadt. Sein
Kantor, Andreas von Konarzewo, bezieht von ihm an Gehalt fünf Gulden und
zehn Groschen. Das Schulgebäude bedarf keiner Reparatur und hat den Vor-
teil eines geheizten Zimmers für die Schüler, deren mehr als achtzig sind.
Der Rektor ist ein rechtschaffener Mann, von ehrenwertem Rufe und angemessenem
Wissen; er unterweist seine Schüler sorgfältig in den Wissenschaften und Sitten,
unterrichtet sie an Sonn- und Festtagen in der christlichen Heilslehre, trägt
auch dafür Sorge, daß jeder fein Gebetbuch habe, und sieht darauf, daß in der
Schule wie außerhalb die Ehrbarkeit in den Sitten immer gewahrt werde.
Außerdem lehrt er seine Schüler und weist sie an, auf den Straßen sittsam ein-
herzugehen." Die Einnahmen der Lehrer erscheinen nach obigem Bericht äußerst
dürftig; doch kamen dazu wohl, wie anderwärts, außer einem geringen Schnl-
gelde der Kinder freie Wohnung, Benutzung von Acker- und Gartenland sowie
mancherlei Leistungen an Naturalien.
Czarnikau. Der am meisten westlich gelegene Kreis des Bromberger
Regierungsbezirks ist der von Czarnikau, der von dem Wongrowitzer Kreise
durch den zwischen beiden liegenden von Kolmar (Chodschesen) getrennt ist.
Czarnikau ist eine unbedeutende Stadt, wie es deren so viele im Pofenfchen
gibt, von nicht viel über 4483 Einwohnern. Die Stadt liegt an der Netze
und nicht an der Eisenbahn; nach der an der Ostbahn gelegenen Station
Schönlanke führt von Czarnikau aus eine Chaussee. In alter Zeit gehörte der
Ort den Pommern. Im Jahre 1108 unterwarf sich Boleslaw III. Burg und
Stadt und zwang die Einwohner zum Christentum. Im Jahre 1773 wurde
die Stadt preußisch und hob sich. Neben dem Ackerbau wurde Spitzenklöppelei,
Tuchweberei, auch Zwirndrehen daselbst getrieben. Im Jahre 1848 rissen die
Polen die Gewalt an sich, nahmen die Kassen weg und ließen die polnische Fahne
vom Kirchturme wehen. Allein die Einwohner duldeten dies nicht; sie be-
waffneten sich, trieben den polnischen Kreiskommissar mit seinen Scharen aus
der Stadt heraus und nahmen die polnische Fahne ab. Mittlerweile hatte auch
der vertriebene Landrat einige Hundert deutsche Baueru gesammelt und bewehrt
und zog mit ihnen gegen die Stadt; er fand in ihr die Ordnung schon wieder
hergestellt. Die Deutschen Czarnikaus errichteten einen Ausschuß und eine
Bürgerwehr, schlössen sich dem Austreten der Bromberger an und machten deren
Vorschläge und Anträge zu den ihrigen. Am 9. April fand in Czarnikau selbst
eine Volksversammlung des Kreises statt neben den beiden allgemeinen Ver-
sammlungen zu Bromberg und Schneidemühl. Die hier Gewählten bildeten
das deutsche Komitee. Sie entwickelten große Thätigkeit und Nachdruck. Am
10. April erklärten sie, von polnischer Reorganisation könne keine Rede
mehr sein, weil ihre Bedingung nicht erfüllt worden sei; denn der polnische
Adel mit seinem Anhange habe eine revolutionäre Regierung der bestehenden
Tremessen. 469
gegenübergestellt. „Mit perfiden Empörern unterhandelt man nicht. Der Anblick
der jüngst erlebten Szenen, der polnischen Frechheit nnd Perfidie von der einen,
der Schlaffheit und Treulosigkeit des Beamtentums von der andern Seite, haben
in uns das entschiedene Gefühl hervorgerufen, der Provinz Posen nicht mehr
angehören zu wollen." „Wir wissen, was wir wollen; wir wollen nur Ver-
nünftiges und werden diesen unsern Willen, der zugleich ein vollkommen loyaler
ist, mit kräftiger Hand ausrecht zu erhalten wissen." So groß war die Ent-
rüstung, daß der Landrat am 19. April Beauftragte der deutschen Gemeinden,
welche bewaffnet nach Posen ziehen wollten, um dem dortigen Unwesen ein
Ende zu machen, zurückhalten mußte.
In der Nähe von Czarnikau liegt das Dorf Lubasz. Es ist ein inter-
essantes Terrain um Lubasz; auf der Nordseite sind bewaldete Höhenzüge, in
deren Mitte sich nach allen Seiten verästend ein hübscher See hinzieht, süd-
lich von demselben auf eiuem kleineren Höhenzuge, dem fogenannten Krasne,
liegt jetzt Dorf und Kirche. Daß diese Stelle auch schon zur Heidenzeit be-
wohnt gewesen ist, ergibt sich daraus, daß man hier zahlreiche Urnen mit
Menschenknochen gefunden hat. Das Dorf ist für uns deshalb merkwürdig,
weil hier eine Sage geht, die sich bei Slawen und Deutschen an vielen Orten
findet, eine Sage, die von untergegangenen Kirchen, Schlössern und Dörfern
berichtet; denn die Sage erzählt, das alte Lubasz habe mit Schloß und Kirche
jenfeit des Sees gestanden, da, wo die Allee von der jetzigen Kirche zwischen
Wiesen hindurch in die Waldpartien am See führt. Weil aber die Bewohner
böse waren, ist dort einst alles versunken; nur eine alte Eiche erinnert noch an
die Stelle, wo das Schloß gestanden hat. Zuweilen hört man auch in der Tiefe
die Glocken der Kirche läuten, überhaupt ist es an dem Orte nicht geheuer.
Oft läßt sich um Mitternacht hier ein Mönch sehen. Vermummt und gebeugt,
mit einem Rosenkranze in der Hand sieht man ihn langsamen Schrittes in den
Gebüschen auf und ab gehen. Dann leuchten Tausende von Lichtern auf,
erhellen den ganzen Waldkessel und den Spiegel des Sees. Wer den Mönch
sieht, den erfaßt tiefer Schauder, dem er nicht entgehen kann, denn überall be-
gegnen ihm Spukgestalten.
Tremessen. Wenden wir uns von Gnesen aus mit der Bahn nach Nord-
osten zu, so gelangen wir nach Tremessen (Trzemeszno), einer uralten Stadt,
die jetzt 4439 Einwohner hat. Bald nachdem Mieczyslaw das Christentum
angenommen und bei seinen Unterthanen eingeführt hatte, stiftete er hier ein
Augustinerkloster, das lange Zeit geblüht hat. Unter preußischer Regieruug
bekam die Stadt ein Gymnasium und ein Alumnat zur Heranbildung katho-
lischer Priester. Beide Anstalten bestehen nicht mehr. Das Gymnasium wurde
1863 geschlossen, weil die Zöglinge desselben sich an den polnischen Bewegungen
beteiligten. Seit 1866 hat die Stadt eiu Progymnasium. Im Jahre 1843
waren anfangs die Polen Herren der Stadt. Hier sammelten sich ihre Haufen;
1500 Polen standen hier am 9. April, und ihr Befehlshaber entbot alle
Gemeinden des Mogilnoer Kreises nach Tremessen, „um im Namen Gottes
Rache zu üben für die Beraubung der Kirchen, das Schmähen der Geistlichkeit
und alle Verbrechen der zügellosen preußischen Bande." Die Stadt wurde ver-
barrikadiert. Am 10. April rückten preußische Truppen zum Sturm au. Da
470 Im Regierungsbezirk Bromberg.
wendete sich die Wut der Polen gegen wehrlose Einwohner. Vier Männer,
unter ihnen ein 60jähriger Greis, wurden hingeschlachtet, andre schwer verletzt
und mißhandelt oder eingesperrt, ihre Häuser wurden ausgeplündert.
Änowrazlaw. Fahren wir in der Richtung, in der wir von Gnesen ge-
kommen sind, weiter, so kommen wir über die kleine Kreisstadt Mogilno (2464 E.)
nach Jnowrazlaw, einer Stadt in dem weizenreichen Kujawien, die wahrscheinlich
eine bedeutende Zukunft hat. Jnowrazlaw (Inowroclaw = Jungbreslau) wird
schon im 12. Jahrhundert erwähnt. Der Handelsweg zwischen Preußen und
der Lausitz ging über diesen Ort, und das kam ihm sehr zu statten. Nachweis-
lich hatte die Stadt in der Mitte des 13. Jahrhunderts Magdeburger Recht
und durfte fünf Sechstel der Abgaben von Gebäuden, Verkaufsbänken und
Gärten zum Stadtbesten einbehalten und verwenden und zahlte nur den sechsten
Teil an den Herzog; sie war durch Mauern geschützt und hatte ein Schloß, in
welchem ein Starost saß. Im 14. und 15. Jahrhundert hatte sie viel durch die
Kriege mit den preußischen Rittern zu leiden. Als um 1430 (genaue Nach-
richten fehlen) die Stadt durch die Ritter eingeäschert worden war, erwirkte sie
sich die Ausstellung eines neuen Freibriefs von König Kasimir IV. Zufolge
dieser neuen Urkunde besaß die Stadt ein Bad, dessen Einnahmen sie bezog,
Wiesen und Weiden, sowie die halbe Benutzung einer Strecke der Netze, hielt
am Dienstag einen Wochenmarkt und stand in der Magdeburger Freiheit. Von
den Gefällen der Vogtei fiel ihr ein Drittel zu. Von den Häusern und Grund-
stücken wurde ein Zins an den Herrscher abgeführt. Die Bürger durften Wein
und Met am Rathaus verkaufen. Auswärts gebrautes Bier sollte aber weder
in der Stadt selbst, noch im Umkreise auswärts geschenkt werden. Im 16. Jahr-
hundert kam die Stadt sehr herunter, sie hatte zum Kriege nur einen Fuß-
gänger, einen vierspännigen Wagen uud eine Marketenderin zu stellen. Im
Jahre 1772 wurde Jnowrazlaw (es hieß damals auch Jungbreslau) preußisch,
und hier leistete der Netzedistrikt am 22. Mai 1775 die Erblandeshuldigung.
Namens der Stadt that dies ihr Bürgermeister Georg Wolter. Die 190 Wohn-
gebäude, welche die Stadt damals hatte, waren meist schlecht und von Holz
gebaut. Das schlechte Rathaus auf dem Markte hatte neben sich einen alten
Tnrm. Ein Kloster der Franziskaner und fünf Kirchen waren am Orte. Die
Straßen waren so schmutzig, daß man bei üblem Wetter kaum durchkommen
konnte. An gutem Trinkwasser litten die Bewohner Mangel. „Auf dem Markte
ist statt eines Wasserbehälters ein großer Sumpf oder Teich", schreibt 1793
der Bromberger Hosgerichtsrat Holfche. Längst hat sich das Aussehen der Stadt
geändert. Die Stadt hat schöne Gebäude, ein freundliches Aussehen und 11 558 E.
Ein mächtiges Steinsalzlager, das vor wenigen Jahren dort entdeckt ist, gewährt
reiche Ausbeute; die eingerichtete Saline hat einen großartigen Betrieb. Durch
Auslaugung des Salzgesteines mittels eingeleiteten Süßwassers -wird eine Sole
gewonnen, und das hat Veranlassung zur Gründung des Solbades Jnowrazlaw
gegeben, das von Jahr zu Jahr mehr in Aufnahme kommt.
Ende des achten Bandes,
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