262. Warschau. 171 Das königliche Schloß liegt auf einer Anhöhe am linken Ufer der Weichsel und am nördlichsten Ende der Stadt. Schon Sigismund III. legte es an, August II. hat es erweitert, und der letzte König, Stanislaus August Poniatowski, vollendet. Man kann sagen: das Königsschloß wurde fertig, als die Könige nicht mehr da waren, die es dewohnen sollten. Der Thron-, Audienz- und Marmorsaal sind wahrhaft großartig und strotzen von reicher Vergoldung. Man glaubt sich, wenn auch nicht so vollständig, wie in der Stanislauskirche zu Krakau, in die Zeiten des alten mächtigen Polens ver- setzt. Herrliche Gemälde, auf die Geschichte des Landes bezüglich, schmücken die Wände; die Bildnisse der Könige und Marmorbüsten der großen Männer der Nation erzählen gleichsam von längst vergangenen Großthaten. Vom Schlosse herab zu den Ufern der Weichsel ziehen sich weitläufige und schöne Gärten; das Schönste aber ist die Aussicht, welche man aus der obern Etage auf diesen Strom genießt. Im Vordergrunde erblickt man seinen breiten Wasserspiegel selbst, aufwärts sowohl wie abwärts. Er ist mit Fahrzeugen aller Art bedeckt, Mast drängt sich an Mast, und nur die neue schöne Brücke unterbricht gleichsam die Wasserstraße, um zahlreichen Wagen und Fußgängern einen Pfad zu gönnen. Jenfeit des Flusses über- sieht man die Vorstadt Praga und Meilen weit die fruchtbare, mit Ortschaften bedeckte Niederung. Die Befestigung durch aufgeworfene Schanzen, welche Warschau in der Revolution des I. 1830 erhielt, wurde von den siegenden Russen abgetragen und dafür eine starke Citadelle errichtet. Die Lage an der schiffbaren Weichsel macht Warschau zu dem Orte, von wo aus die Producte des Königreichs aufgekauft und stromabwärts nach Thorn, Elbing und vorzüglich nach Danzig verschifft werden. Schiffbauholz, Getreide und Wolle sind die Hauptausfuhrartikel, die auf unzählige Weich- felkähne geladen und den Strom hinab versandt werden. Warschau läßt aber auch die auswärtigen Producte, deren das Land bedarf, kommen und vertheilt sie über das Königreich: Colonial-Waaren, Tabak, Wein und die Fabricate des europäischen Westens. Den innern Handel — das Aufkaufen für den Warschauer Großhändler und den Verkauf seiner bezogenen Vorräthe an die Detaillisten — besorgen meistens die (30,000) Juden, der Großhan- del selbst ist in ihren und den Händen der Deutschen. Auch ist Warschau noch immer, trotz aller Ungunst der politischen Verhältnisse, der Sitz aller Haupt- Lehr-Jnstitute (seit 1818 einer russischen Universität) und der gesammten wissenschaftlichen und geselligen Bildung der polnischen Nation.