— 139 — Friedrich Ratzel. Die deutsche Landschaft. Aus der „Deutschen Rundschau", herausgegeben von Julius Rodenberg. 22. Jahrgang, Heft 12, Seite 346 bis 367, Berlin 1896, Gebrüder Paetel. Auch das Alter der Völker hat tröstliche Vorteile. Wir sind heran- gereift und in unser Land hineingealtert. Die wachsende Zahl der Sohlen, die diesen Boden beschreiten, und der Hände, die ihn bearbeiten, ist greifbar. Durch den Volkskörper sich fortpflanzend, kommt die ver- vielfältigte Berührung mit der Erde selbst denen zum Bewußtsein, die ihren Mutterboden nicht mehr zu fühlen scheinen. Wir mögen uns in amerikanische Baumwolle kleiden und indischen Weizen essen, wir sind doch von den Erzeugnissen und Schätzen dieses Fleckchens Erde nie so abhängig gewesen wie heute. Unsere Vorfahren waren entschiedener auf das hingewiesen, was ihr Boden ihnen bot; aber wir sind mit doppelten und dreifachen Zahlen auf derselben Fläche dennoch ab- hängiger von ihm. Ohne das Eisen und die Kohlen dieses Bodens wären wir ein ganz anderes Volk, anders von Besitz und innerem Aufbau. Wie nützt der Verkehr Deutschlands Küsten, Ströme, Pässe in jährlich steigendem Maße aus! Und politisch halten wir ohne Zweifel als ge- einigtes und wohlgerüstetes Volk dieses unser Land fester denn jemals vorher. Daß das alles eine Menge von neuen, geistigen Beziehungen schaffen muß, ist klar. Bewiesen wird es schon durch Karten und Bücher, aus denen wir sehen, welche Fortschritte Kenntnis und Ver- ständnis unseres Landes gemacht haben. Auch die Kunst trägt das Ihre dazu bei. Hat nicht die deutsche Landschaft erst in unserem Jahr- hundert die künstlerische Verwertung gefunden, zu der früher nur An- laufe und Versuche gemacht waren? Und daß der Poesie das Ver- ständnis der landschaftlichen Schönheit unserer Heimat überhaupt erst in der Zeit aufgegangen sei, wo man mit empfindsamer Betonung das Wort „romantisch" zu verwenden begann, wird von Kennern behauptet. Es ist zwar nicht ganz richtig. Aber die lyrische Vertiefung in den Reichtum der deutschen Landschaft haben allerdings Brockes und Haller den Gebildeten erst lieb und vertraut gemacht. Nur sollte man darüber nicht vergessen, daß tausend Jahre vorher einfache Bauern und „be- schränkte" Mönche ihre Höfe, Klöster und Kapellen mit erstaunlichem Blick für das Schöne und Große in der Natur gerade an die Punkte hingesetzt^haben, deren Reize den Gebildeten durch die Lyriker des acht- zehnten Jahrhunderts wieder erschlossen werden mußten. So wenig haben die Brüder van Eyck die Reize der Maaslandschaft oder Albrecht Dürer die Schönheit der fränkischen Berge „entdeckt", wie Ewald v. Kleist als Neufinder landschaftlicher Merkwürdigkeiten seiner „Bilder¬