Georg-Eckert-Institut BS78
'■ - '<(' Mi • —.....Ii
. - ' -y, ... ■■.. ■ • •:■ ■■
WKMOWMU
aus der
Menschen
und
Volkergeschichte.
Vom Beginn
der christlichen Zeitrechnung bis auf die neueste Zeit.
Ein
K'esekntk für alte Stände
von
H. Fsetmanu.
Ckorg-Ecfcert-Instftilt
U*ls««k "ior.da 3c!iu>buc!..ors
_ Braunschwelg
.. -Bibliothek-
Zweite s g a v e.
Siebenter Sand.
Leipzig, 1846.
erlag von Christ. Ernst Kollmann»
!n*err<aii$m^es Schulbuchinstilut
Inventarisiert untöf
k " 1SB1-S3 tä/J
ZnHalt.
I. Darstellung der hauptsächlichsten Weltbegebenheiten, vom west«
phälischen Frieden bis auf unsere Tage»
Seite.
Revolution in Spanien............1
Sturz der absoluten Königsgewalt . ... . . 1
Die Contrerevolution.......23
Uebersicht des Zustandes der Griechen unter der Herrschaft derOsmanen, seit
der Eroberung von Constantinopel bis zu ihrer Erhebung . . 47
Bruchstücke aus der Geschichte des griechischen Freiheitskampfes . 32
Bpsi'lanti's Feldzug in der Moldau und Walachei. — Maßregeln
der Pforte gegen den Aufstand der Griechen . . 52
Ausbruch und Fortgang der Jnsurrection im alten Hellas. —
Seeschlachten bei Mitylene und Samos . . . . 62
Griechenlands innere Verhältnisse.— Katastrophe auf Skio.—
Land - und Seetreffen......81
Errichtung der Centralregierung. — dritter Feldzug der Türken
gegen die Griechen. — Bozzari's Tod . . 93
Kolokotroni's Empörung. — Odysseus'Tod. — Ibrahim Pascha's
Feldzug im Peloponnes......103
Einnahme von Athen. — Die Intervention der verbündeten
Mächte .........123
Die Seeschlacht von Navarin......133
Abzug der Egypter aus Morea. — Friedensschluß . ' 140
Uebersicht der Geschichte Frankreichs seit der Restauration bis zum Jahre 1830. 196
Revolution in Frankreich im Jahre 1830. (Julirevolution.) . . 216
Revolution in Beligen im Jahre 1330. — Folgen derselben . . 261
Jnsurrection der Polen wider Rußland ...... 297
Revolution in Braunschweig ........ 334
Freiheitskampf und Staatenbildung im spanischen Amerika und in Westindien 343
Seite.
Erbsolgekrieg in Portugal.— Thronbesteigung der Königin'Maria da Gloria 358
Uebersicht der Geschichte Spaniens, seit der Restauration bis zum Tode
Ferdinands VI!..........364
Der spanische Bürgerkrieg nach dem Tode Ferdinands VIF. . . 370
Thronerrichtung in Griechenland.......421
Uebersicht der Geschichte der Stadt Hamburg, seit ihrem Entstehen bis
zum Jahre 1842, — Der große Brand in Hamburg . . 432
ll. Biographien, Charakterzeich-nungen und interessante Züge aus
dein Leben berühmter Männer und Frauen.
Seite.
Tod des Kaisers Alexander ........37
Ali Pascha von Janina ........72
Der Graf Kapodistrias (Kapo d'Jstrias) . . .. . .119
Caroline, Königin von England.......146
Don Miguel, Infant von Portugal.......172
Ludwig Philipp I., König der Franzosen .....238
Tod des Herzogs Ludwig Heinrich von Bourbon - Conds . . . 249
Die Herzogin von Berry, die Legitimisten und Republikaner in Frankreich 389
Die St. Simonisten ......... 398
Mehemed Ali, Wieekönig von Egypten, und Sultan Mahmud II. . 409
III. Historische Gemälde und denkwürdige Begebenheiten.
Seite.
Truppenaufstand beim Regierungsantritte des Kaisers Nieokaus von Ruß-
land . ................41
Die Auflösung der Janitscharen in Constantinopel . . ■. .113
Die Eroberung von Algier........ 204
Prozeß der Minister Karls X. ....... » 253
Mordanschlag auf den König Ludwig Philipp (Höllenmaschine.) . 403
Revolution in Spanien.
Sturz der absoluten Königsgewalt.
Ferdinand VIk. betrat, nachdem Napoleon seinen Kerker zu
Valen^ay geöffnet und ihm die Freiheit gegeben hatte, den spa-
nischen Boden, unbekannt mit der Lage der Dinge in seinem Va-
terlande, unbekannt mit dem Zustande und dem Geiste der spa-
nischen Armeen, unbekannt größtentheils sogar mit dem Hergange
der Ereignisse, die sich wahrend seiner Abwesenheit zugetragen hat-
ten. Seine Hofdienerschaft (Camarilla), die ihn in Saragossa
empfing, und vor Allen sein Beichtvater, Pater Cyrillo, bestimm-
ten ihn, seine Reise nach der Hauptstadt nicht, wie er gewollt,
auf geraden Wegen fortzusetzen, sondern vielmehr sich nach Va-
lencia zu wenden und dort einige Zeit sein Hoflager aufzuschla-
gen. Eine Gesandtschast der Cortes (Reichsstande) erschien hier
vor dem Könige und forderte ihn auf, die Constitution von 1812
anzunehmen und zu beschwören, erklärend, daß ihm, bevor er
dies gethan, kein Gehorsam würde geleistet werden. Allein die
Umgebungen Ferdinands protestirten gegen eine Urkunde, welche
die Majestät des Thrones entwürdige, und forderten ihn auf, die
Verfassung der Cortes aufzuheben und nach der Weise seiner Vor-
fahren, das heißt, unumschränkt zu herrschen. Unter diesen
Umstanden erließ Ferdinand am 4. Mai 1814 das merkwürdige
Decret, welches Spaniens neue Gestaltung ganzlich verwarf und
den verjährten Despotismus mit allen seinen Greueln wiederum
hervorrief. In diesem Decrete ward die von den Cortes verfaßte
N. G. iv. 1
— 2 —
Constitution völlig annullirt, und eilte diejenigen, welche dieselbe
fernerhin anerkennen würden, als Majestätsverbrecher mit dem
Tode bedroht. Zugleich ward aber auch den Spaniern die Ver-
sicherung gegeben, daß Maßregeln sollten getroffen werden, welche,
unbeschadet der Sicherheit und Ruhe des Staats, allen Untertha-
nen den Genuß einer zuträglichen Freiheit gewahren würden. Erst
nach Kundmachung dieser Erklärung setzte Ferdinand seine Reise
nach Madrid fort. Alle Städte und Ortschaften, durch welche er
zog, umgeben von einem starken Armeecorps, welches der Ge-
neral Eguia, ein Günstling Jnfantados, befehligte, em-
.psingen ihn mit lautem, stürmischen Jubel. Denn die Bethörten
glaubten fest an die Erfüllung der königlichen Verheißung, daß et
seinem Volke die Wiedergeburt bereiten werde, deren es sich in
dem sechsjährigen Kampfe gegen die französische Herrschaft so
würdig als fähig gezeigt hatte. Die constitutionellen Cortes wi-
versprachen zwar und protestirten gegen die Alleinherrschaft; Ferdi-
nand aber, des Volkes und des Heeres versichert, verlachte sie
und zog als absoluter König in Madrid ein.
Sofort sahen die Vaterlandsfreunde ihre Hoffnung auf eine
milde, dem Geiste der Zeit angemessene Regierung zerrinnen.
Denn diejenigen, welche jeder liberalen Ansicht, jeder Neuerung,
jeder Behauptung eines Menschenrechte abhold waren, umstrick-
ten mit ihren Nachschlagen den Monarchen ganzlich. Der Cha-
rakter des Königs selbst zeigte sich jetzt ganz anders, als nach
seinein nachgiebigen Benehmen in Bayonne und Valen<-ay zu
erwarten gewesen war, und harte, grausame Maßregeln kamen
an die Tagesordnung. Obwohl die AnHanger Frankreichs (Jose-
phinos oder Afran c esad os) für sich anführen konnten, daß
Ferdinand selbst sie an denjenigen Gebieter gewiesen hatte, den
der Kaiser von Frankreich den Spaniern geben würde, so wurden
doch alle, welche dem König Joseph gedient hatten, die Offiziere
bis zum Capitain, und die Civilbeamten bis zum Kriegscommif-
fair abwärts, mit ihren Frauen und Kindern auf immer aus
Spauien verbannt.*) Harter war das Loos der Liberalen
'*) Die Zahl öcv verjagten Unglücklichen, die auf französischem Gebiete ein
Asyl fanden, belief sich über 10,000 Individuen. Andere harrten in
Italien, in England, in Portugal u. f. w. aus mildere Gesinnungen
ihres angestammten Herrschers.
— 3 —
(Freunde und Anhänger der Corte?). Nicht wenige derer, welche
an dem Verdienste Theil hatten, Spanien dem aufgedrungenen
Herrscher entrissen zu haben, wurden eingekerkert und unter die
Folter geworfen (unter ihnen der muthige Vertheidiger von Sa-
ragossa, Calvo de Nosas, und der berühmte General Villa-
campo); wahrend diejenigen, die in Bayonne und Valen^ay
verzagt hatten, Belohnungen erhielten und hoch in der Gunst des
Monarchen standen. Auch das ungeheure Pfaffen- und Mönchs-
Wesen mußte sein Haupt wieder erheben. Durch den Einfluß des
königlichen Beichtvaters und zweier fanatischer Priester, des Cano-
nicus Ostolazza und des Hieronymiten-Mönchs Castro, die
sich des Vertrauens Ferdinands bemächtigt hatten, wurden alle
durch die Constitution aufgehobenen geistlichen Corporationen wie-
der hergestellt, die Jesuiten wurden wieder aufgenommen, und end-
lich auch durch ein Ediet das Schreckensgericht der Inquisition
wieder eingeführt, eine Maßregel, die ganz Europa in Erstaunen
versetzte.
Dabei herrschte in der innern Verwaltung eine solche Unord-
nung, daß die laufenden Staatsausgaben nicht mehr gedeckt wer-
den konnten, und der Schlund des ungeheuren Dcsicits sich noch
mit jedem Monate, ja, mit jeder Woche erweiterte. Nun wählte«'
aber die gegenwartige Negierung gerade die verkehrtesten Mittel,
die drückende Finanzverlegenheit zu beseitigen. Die der Tilgungs-
kaffe der Nation zugeschriebenen Güter sielen an ihre alten Besiz-
zer zurück, und sammtliche von den Cortes aufgehobenen Monopo-
le der vormaligen Regierung wurden wieder hergestellt; sogar
die Mesta, vermöge welcher der größte Theil des fruchtbaren
Ackers unbebaut mußte liegen bleiben, damit die von Provinz zu
Provinz wandernden Merinos-Heerden der königlichen Domainen,
der reichen Klöster und Prälaten auf gemeine Unkosten reichlichen
Fraß finden konnten. — Ueberdies herrschte König Ferdinand
nach Willkür und Laune und trug niemals Bedenken, auch an
denjenigen, welchen er kurz vorher noch großes Vertrauen erwie-
sen, Strenge zu üben. Indem solcher Gestalt die Negierung im-
mer mehr verhaßt ward, erwachten die Hoffnungen der liberalen
Partei. Die aus England oder Frankreich nach Spanien gebrachte
Freimaurerei gab dieser Partei eine Form der Wirksamkeit an die
Hand, welche durch ihre mysteriöse Beschaffenheit den National-
character ansprach und daher denjenigen Spaniern, welche sich
1*
— 4 —
mit den neuen Ansichten von Welt und Staat befreundet hatten,
eben die begeisterte Anhänglichkeit einflößte, wie das katholische
Kirchen- und Mönchsthum der altgläubigen Masse des Volks.
Jndeß blieben die Bemühungen der Vaterlandsfreunde lange Zeit
ohne Erfolg. Der Hauptsammelplatz der Liberalen war Cadix.
Mehrere empörende Maßregeln der Regierung brachten dort das
unter der Asche glimmende Feuer zum Ausbruch. In der Hoff-
nung, ihren alten Einfluß auf die Volksmasse nicht ganz einge-
büßt zu haben, griffen die Liberalen zu den Waffen, wurden aber
bald von der machtigeren Partei des von Pfaffen und Mönchen zur
blinden Wuth getriebenen Pöbels und von den Bajonetten der unter den
Befehlen eines Günstlings des Königs stehenden Truppen bewältigt.
Nun mußte das Racheschwert walten. Nur durch schnelle Stren-
ge, so flüsterte man dem Könige zu, könne man das lodernde
Feuer eines unausbleiblichen Bürgerkrieges löschen. Acht der vor-
nehmsten Häupter der freisinnigen Partei fielen an einem Tage
auf dem Blutgerüste. Weit Mehrere noch wurden in den Kerker
geworfen, um demnächst über sie als über Rebellen nach militai-
rischer Strenge zu richten.
Das Königreich Navarra hatte von alten Zeiten her große
Vorrechte besessen, welche bis jetzt von allen legitimen Königen
Spaniens waren anerkannt worden; unter der jetzigen Negierung
aber schien man solche nicht mehr beachten zu wollen, daher ver-
breitete sich täglich mehr der Geist wilder Unzufriedenheit in jenen
Provinzen. Epoz y Mi na, der berühmte Guerillasgeneral,
das Schrecken der Franzosen, und des Vaterlands rühmlichster
Vertheidiger, war der gefeiertste Mann in jenen Gegenden. Selbst
in Madrid ward sein Bildniß mit Enthusiasmus gekauft,
und Ferdinands Gesandter in Paris hatte erst kürzlich Mina als
einen Helden dargestellt, der in den verschiedenen Gefechten 12,WO
Franzosen zu Gefangenen gemacht. Dieser General, der zur Auf-
rechthaltung der Rechte Navarra's einige eigenmächtige Schritte
gethan hatte, sollte vom Commando der ihm sehr ergebenen Trup-
Pen entsetzt werden. Dies empörte sein innerstes Gefühl; er wollte
durch eine Militairverschwörung die Wiederherstellung der Consti-
tutton erzwingen. Allein kurz vor dem Augenblicke der Entschei-
dung ward sein Anschlag entdeckt, und nur durch schleunige Flucht
entging er dem ihm drohenden Schicksale. Wie in Navarra Mina
der gefeiertste Held gewesen, so galt in Asturien und Gali-
— 5 —
zien Juan Diaz Porlier als der furchtbarste Guerillas-Chef,
als der edelste und tapferste Held. Porlier vereinigte im Septem-
der 1815 einige Truppen und Mißvergnügte, bemeisterte sich der
Städte Corunna und Ferrol, entsetzte die königlichen Beamten
von ihren Posten, proclamirte die Constitution und setzte neue
Behörden ein. Allein er ward bald ein Opfer der Untreue. Ange-
lockt durch den hohen Preis von 1V,000 Piaster, der auf seine
Verhaftung gesetzt war, wurden die halbverhungerten Unteroffiziere
seines eigenen Heerhaufens seine Verräther. Sie überfielen den
allzu Sichern, als er eben mit seinen Offizieren zu Tische faß, und
bemächtigten sich seiner nebst vierunddreißig Offizieren, nach dem
heftigsten Widerstande, wobei auf beiden Seiten Blut geflossen
war. Von dem Gerichte zu Corunna ward dem Unglücklichen
der Strang zuerkannt, und der Stimmung des Hofes gewiß, war-
tete man nicht einmal die Bestätigung des Urthals von Madrid
ab. Am 3. October erlitt Porlier wirklich den Tod durch den
Strang, auf eine alles Menfchengefühl empörende Art.*) — Nach
der Hinrichtung des Urhebers kam die Reihe an die Teilnehmer
der Verschwörung. Elf Offiziere wurden verurtheilt, durch den
Rücken als Verrather erschossen zu werden; ihre Güter sielen der
Krone zu. Dreißig Offiziere kamen für eine Zeit von drei bis
zehn Jahren auf die Galeeren» Noch Mehrere sahen sich zu mehr?
jahriger Haft verdammt. Civilperfonen, auf denen nur ein Schein
von Verdacht ruhete, wurden mit schonungsloser Grausamkeit ver«
folgt, und die angesehensten Manner zum Strange, zur Galee-
renstrafe, oder Einsperrung in feste Schlösser verurtheilt.' —
Ferdinand hatte bei fema'Thronbesteigung den amerikanische n
*) Das Henken geschieht in Spanien auf eine abscheuliche ?trt. Der Hen-
ker nimmt den Kopf des Verürtheilten, nachdem er den Strang darum
geschlungen, zwischen seine Füße, setzt sich rücklings daraus und schwingt
sich mit ihm, bei einem gegebenen Zeichen, von der Leiter weg in die
Luft. Nun dreht er sich mit ihm nach allen Richtungen, hebt und senkt
sich öfters auf demselben, wie man beim Trottreiten zu thun pflegt, und
giebt ihm mit den Fersen tüchtige Stoße in die Brust. Dies geschehe,
sagen die Spanier, um die Leiden des Unglücklichen zu verkürzen!! Das
Gesicht des Gehenkten wird nie verschleiert. Wahrend der Exemtion
plärrt das Wölk geistliche Lieder. Es beginnt mit dem lautesten Tone,
und fallt mit der Stimme immer mehr und mehr, sowie die Schwin-
gungen und Bewegungen des Henkers schwächer werden, bis endlich dee
Gesang in einem leisen Summsen erstirbt.
— 6 —
Colonien geboten, die zur Erhaltung ihrer Verfassung ergriffenen
Waffen unbedingt niederzulegen und seinem Willen sich zu unterwer-
fen, dem General Pablo Morillo aber hatte er befohlen, ander
Spitze von 19,000 Mann die von Seiten der amerikanischen Behör-
den zu befürchtenden Widersprüche zu unterdrücken. Morillo ver-
langte spater Unterstützung, und der König bot Alles auf, um
Transportschiffe, Soldaten und Geld für die Ausrüstung einer Flotte
herbeizuschaffen, welche zur Erhaltung des schatzbarsten Kleinods sei-
ner Krone bestimmt war. England schlug sein Ansuchen um Schiffe
ab; Unterhandlungen mit Holland und Frankreich mißglückten eben-
falls, und so mußte die Regierung selbst einige halb verfaulte
Schiffe ausbessern lassen und sich andere, in einem fast ebenso schlech-
ten Zustande befindliche von Rußland auswirken. Auf diese Art
kam endlich im Hafen von Cadix eine Flotte zusammen. —<•
Wahrend dieser Vorrichtungen und der Zusammenbringung eines
Heeres hatte die Regierung alle Mühe, die fortwahrend im In-
nern des Reichs ausbrechenden Unruhen zu unterdrücken. Der
General Louis Lascy, auch ein ehemaliger Vaterlandsvertheidi-
ger, war entschlossen, seinem Vaterlande eine selbständige Ver-
fassung zu verschaffen. Er theilte seinen Vorsatz einem treuen
Waffengefahrten, dem General Milano, mit, und Beide
entwarfen gemeinschaftlich den Plan zum Umstürze der Regierung.
Man wollte die Constitution der Cortes proclamiren, die starken
Festungen Monjni und Figueras, wo Einverstandnisse statt-
fanden, besetzen und von dort aus das Panier constitntioneller
Freiheit für ganz Spanien aufstecken. Schon waren alle Vorbe*
reitungen getroffen; aber auch jetzt war der Verrath lockender,
als die Freiheit. Man hatte nicht alle Mitwisser des Geheimnisses
genau prüfen können; einer derselben verrieth das Vorhaben.
Die Verschworenen wurden umringt, entwaffnet und die Mehrzahl
gefangen genommen. Lascy war entflohen; aber heftige Gicht-
schmerzen verzögerten seine Flucht: er siel in die Hände seiner
Verfolger. Glücklicher hatte Milano sich in's Gebirge geflüchtet,
einen starken Haufen ehemaliger Guerillas um sich gesammelt und
drohte mit Verheerung der Umgegend, wenn sein verhafteter Freund
der Rache geopfert würde. Allein Lascy ward in der Stille an
Word eines königlichen Kriegsschiffes gebracht, nach der Insel
Maiorca geführt und'dort am Juli hingerichtet. —
7 —
Die zu der Einschiffung bestimmten Truppen sammelten sich
nur langsam; neue Auflagen zu ihrer Ausrüstung und Verpflegung
wurden allsgeschrieben, und eine gezwungene Anleihe eröffnet.
Soldaten und Matrosen liefen truppweise davon, bildeten Banden
auf eigene Hand und erhoben Brandschatzungen zu ihrem Unter-
halte. Unterdessen brach in Valencia eine weit bedeutendere Ver-
schwörung aus, die ursprünglich zwar nicht den Umsturz der Re-
gierung, wohl aber die Entfernung des Generals El i o beabsichtig-
ten, der als Gouverneur diese Provinz mit unmenschlicher Harte
behandelte. Durch Verrath wurden einige der Verschworenen e.nt-
deckt, und dreizehn von ihnen vor den Nichterstuhl einer von dem
Gouverneur dazu ernannten Commission gestellt. Elio trieb, im
stolzen Gefühle, eine Verschwörung entdeckt zu haben, deren Ent-
ftehungsgründe in ihm selbst lagen, die Grausamkeit auf's Höchste
und überschritt eigenmächtig die Grenzen, die ihm der König selbst
bezeichnete, dem die Strafbarkeit der Verhafteten nicht ganz ein-
leuchten wollte. Die Proclamation, die er am Morgep der Hinrich-
tung der für ihn als schuldig Erkannten zu Valencia erließ, ruft
uns die Zeiten der rohsten Barbarei zurück und empört die Mensch-
heit. Der angebliche Nadelsführer, der Obrist Vidal, ward
krank und entkräftet durch seine Wunden, deren Verband er zwei-
mal abgerissen, auf einer Bahre auf den Richtplatz getragen.
Der Henker riß ihm die Uniform vom Leibe, trat sie mit Füßen,
dann ward sie verbrannt. Dem bleichen, entstellten Unglücklichen
ward ein schwarzer Mantel mit weißem Kragen umgehangen f wor-
auf er besinnungslos niederfiel. Man schleppte ihn die Leiter hin-
auf; der Henker verrichtete sein schreckliches Amt nach gewohnter
Weise, und das Volk brüllte seinen Gesang dazu. Die übrigen
zwölf Verurtheilten wurden hinterrücks erschossen. Kurz darauf
ließ Elio noch 119 Personen verhaften, die er nach einem kurzen
Verhöre der Inquisition übergab. Diese Gelegenheit ward von
dem Schreckensgerichte mit Freuden ergriffen; die gräßlichsten Er-
sindungen der Folter wurden in Anwendung gebracht, denen Elio
kaltblütig zusah, und die Mehrzahl zu zehnjähriger Galeerenstrafe
verdammt. Zwar war der Madrider Hof nicht ganz mit Elio's
Verfahren zufrieden; der König selbst hatte den Prozeß Vidals
und seiner Genossen aufzuschieben befohlen. Die Nathe aber nann-
ten seine Grausamkeit einen zu weit getriebenen Eifer für die gute
Sache, und ein gelinder Verweis war seine ganze Strafe.
Das Elend des unglücklichen Landes ans seinen höchsten Gipfel
zu treiben, kam jetzt noch die furchtbarste Plage hinzu. Ein ko-
nigliches Schiff war nämlich aus der Havanna mit einer reichen
Ladung von Piastern, Silberbarren ?c. im Hafen von Cadix an-
gekommen. Geldmangel und Habsucht wirkten in gleichem Maße,
die ordnungsmäßige Quarantäne abzukürzen, welche das Schiff
zu halten hatte, und der Erfolg war, daß durch die mit dem
schrecklichen gelben Fieber behaftetete Mannschaft die Seuche nach
Cadix und den andalusischen Küsten gebracht ward. Cordons
wurden gezogen, als der Tod in Cadix und den umliegenden Ge-
genden taglich schon mehr als hundert Opfer forderte. Oeffentli-
che Gebete und Prozessionen wurden angestellt, aber thatige Hilfe
und Unterstützung blieben aus. So stieg die Seuche stufenweis.
Bald war sie auf der Flotte und unter den Landtruppen; und
trotz der geschärftesten Vorsichtsmaßregeln desertirten die Solda-
ten haufenweise in's Innere des Landes, brachten die Pestseuche
mit dahin und verbreiteten Jammer und Elend, wohin sie kamen.
Dabei traf Ferdinand VII. noch vor Ablauf dieses unheil-
vollen Jahres (1818) das schmerzliche Geschick, daß er seine acht-
zehnjährige Gemahlin bei der Geburt einer Tochter verlor; das
Kind überlebte die Mutter nur wenige Minuten. Kaum einen
Monat nachher starb sein Vater, Carl IV.; seine Mutter folgte
ihrem Gemahle noch schneller. So hatte der Monarch in Zeit von
zwei Monaten Vater, Mutter, Gattin und Kind verloren. Auch
von seiner ersten Gemahlin hatte er keine Kinder. Völlig ungleich
waren einander seine beiden Brüder, Carlos und Francesco
de Paula. Während der Erste, in blinde Bigotterie versunken,
sich in Gesellschaft seines Beichtvaters wöchentlich mehrere Male
die Disciplin mit starken Geißelhieben gab, hielt Francesco im
Hofe des Palastes Stiergefechte, wobei er, umgeben von seinen
Kammerherren, die Rollen der Picadores und Matodores spielte,
ja, mit eigner Hand sehr kaltblütig einen wüthenden Stier erlegte;
und während der lebensfrohe Francesco zuweilen seinem königlichen
Bruder rieth, seines Volkes Wünschen nicht so hartnäckig zu wi-
verstehen, hielt der finstere Carlos nur der eisernen, willkürlichen
Gewalt und dem Mönchswesen fanatische Lobreden und bestürmte
den Bruder, um kein Haar von den angenommenen Regierung^
marimen abzuweichen. —
— 9 —
Im August 1819 feierte der König seine Vermählung mit
der Nichte des Königs von Sachsen, Maria Josephia Ama-
lia. Das neue Eheband war jedoch nicht, wie man gehofft
hatte, vermögend, in dem bisher befolgten Regierungssysteme et-
was wesentlich zu andern. — Mit dem Ende des Jahres hatte
endlich das Pestübel seine furchtbare Starke verloren, und mit
neuem Eifer wurde die amerikanische Expedition betrieben. Ein
Corps von 30,900 Mann zog sich in Andalusien zusammen. Da
ereignete sich ein Umstand, der das Cabinet von Madrid in Er-
staunen und Angst setzte. Die Truppen verließen plötzlich ihre
Cantonnirungen und marschirten in verschiedenen Richtungen der
Hauptstadt zu. Der Hof g.rieth über diese so unerwartete Er-
scheinung in die höchste Bestürzung. Man sendete den Colonnen
Eilboten entgegen, um über diese allgemeine Bewegung Aufschluß
zu bekommen. Jeder Befehlshaber zeigte ausdrückliche Ordre des
Kriegsministers vor, doch fand es sich bei genauer Untersuchung,
daß sie nachgemacht und untergeschoben waren. Couriere mit Ge-
genbesehlen wurden sofort an die Truppen gesendet; man verord-
nete Verhaftungen, die kein Licht über das Ganze verbreiteten;
verhieß eine Belohnung von 30,000 Realen, nebst Sicher-
heit feiner Person, dem, welcher die Anstifter des Complotts be-
stimmt nachweisen werde: doch Alles blieb stumm, wiejDas Grab.
Vielleicht hatte man noch zu härteren Maßregeln seine Zuflucht
genommen, wenn nicht eben jetzt auf der Insel L eo n der gahrende
Vulkan der Revolution in volle Flammen ausgebrochen wäre.
Die Armee war nunmehr zusammengezogen und ein baldiges
Einschiffen stand zu erwarten. Ein großer Theil der Offiziere
hatte in dem vergangenen Kriege rühmlich für Freiheit und Va-
terland gefochten; sie erinnerten sich ihrer früheren Gefahren und
sprachen von der Nutzlosigkeit der gebrachten Opfer; mit schmerz-
lichem Gefühle hatten sie das traurige Schicksal ihrer ehemaligen
Anführer mit angesehen. Mit Widerwillen sahen sie sich zu den blu-
tigen Werkzeugen erkoren, welche die hochherzigen Grundsatze ihrer
Brüder jenseits des Meeres mit dem Schwerte in der Hand unter-
drücken sollten, die sie doch selbst im Stillen verehrten. Diese Abnei-
gung der Anführer ging auf die Soldaten über und brach in
thätliche Widersetzlichkeiten aus. Vier ant Fuße der Gebirge von
Ronda cantonnirende Bataillone erhoben zuerst das Losungswort
der Empörung, das bald mehrere wiederholten, und überrumpelten
— 10 —
in ebenso geheim gehaltenen, als mit ungemeiner Schnelle zurück-
gelegten Märschen die Stadt Ar cos, das Hauptquartier des
Oberfeldherrn Calderon und seines Generalstabes» Er selbst
mit fünf seiner Generale, dem königlichen Marineminister, dem
Intendanten und dem Schatzmeister ward von den Empörern auf-
gehoben, in einen benachbarten Meierhof eingesperrt und sorgfal-
tig bewacht. In den nächsten Tagen vereinigten sich noch mehrere
Truppen mit den aufrührerischen Bataillons, so daß bis zum 5.
Januar die Zahl der insurgirten Truppen schon bis zu 7000 Mann
angewachsen war. Von Arcos aus durchzogen sie in der größten
Ordnung und mit baarer Bezahlung ihrer Bedürfnisse einen
Strich von zwölf Meilen, ohne von den Einwohnern weder be-
günstigt, noch behindert zu werden, und setzten sich auf der Insel
Leon fest.*) Hier nahmen sie den Namen N a r i o n a l h e e r an,
bezogen ein verschanztes Lager und ernannten zu ihrem Oberfeld-
Herrn den Obristen Antonio Quiroga, einen warmen Anhan-
ger der guten Sache, welcher am 8. Juli vorigen Jahres abgefetzt
und in's Gefangniß geworfen, jetzt wieder in Freiheit gesetzt
worden war, und den Obristlieutenant Niego, ihren Anführer
bei der Einnahme von Arcos, zum zweiten Befehlshaber. Quiroga
erließ aus seinem Hauptquartiere zu San Fernando an die Ratio-
nalarmee, und sodann an die spanische Seemacht, zwei kraftige, mit
dem Ausdrucke hochbegeisterter Vaterlandsliebe abgefaßte Procla-
mationen. Um sich vor allen Vorwürfen persönlichen Ehrgeizes zu
sichern und dereinst seinen Anklagern dreist in's Auge schauen zu
können, schrieb er an den König einen Brief im Namen der infur-
girten Armee voll herrlicher Grundsatze, der, mit der Bitte um
eine freie Regierungsform, zugleich den uneigennützigen Wunsch
der Armee aussprach, sich für das künftige Wohl des klaglich ver-
walteten Vaterlandes aufzuopfern.
Die Nachricht von dieser Begebenheit verbreitete am Hofe
zu Madrid starren Schrecken, und der Geist der Unruhe zeigte sich
jetzt in der Residenz unverhohlen. Der König wollte sich dem
*) Die Insel Leon, welche der Fluß St. Petri umfluthet, ist westlich
durch die Bucht von Cadix und die Rhede von Puntqles geschlossen und
enthält zwei dicht an einander liegende Städte, San Carlos und
San Fernando, nebst mehreren ain Fuße befestigter Hügel liegen-
den Dörfern, und steht mit Cadix durch einen in seiner Mitte unter-
brochenen Damm in Verbindung.
— 11 —
Volke zeigen, wurde aber mit wüthendem Geschrei empfangen»
Die wallonischen Garden weigerten sich, auf die zusammenrottirten
Haufen zu feuern. Die Leibgarden zu Pferde ritten in starken
Trupps mit gezogenem Säbel durch die Straßen; das Volk wich
ihnen zwar aus, trat aber, sobald sie vorüber waren, wieder zu-
sammen. Die Königin zeigte sich. Man rief ihr zu, gegen sie
habe man nichts, der König aber solle seine verruchten Rathgeber
wegschicken, oder Madrid verlassen. Der Hof glaubte jedoch der
entfernten Empörung leicht machtig zu werden, und der General
Freyre, der zu Sevilla mit einigen dem Könige treu gebliebe-
Regimentern stand, ward sofort zum Oberbefehlshaber gegen die
Insurgenten ernannt. Er zog Truppen aus dem Innern von Spa-
nien an sich und setzte die Landmilizen der Provinzen in Bewegung.
In dem Schutze eines furchtbar verschanzten Lagers und mit
Lebensmitteln und Munition reichlich versehen, erwartete das Na-
tionalheer die königliche Armee, und Ferdinand, froh den Feind
nicht vor den Thoren der Hauptstadt zu sehen, überließ sich bei
dieser Sache gänzlich fremder Leitung. Freyre setzte sich mit einem
Corps von ungefähr LW0 Mann in Marsch und näherte sich der
Insel Leon. Die Constitutionellen zogen sich bei seinem Erscheinen
zurück. Nahe an ihren Cantonnirungen stieß Freyre auf die Na-
tionalarmee; mehrere Abtheilungen seiner Truppen, und namentlich
seine Artillerie, gingen zu den Insurgenten über. Die Besatzung
in den Werken vor Cadix weigerte sich bestimmt, gegen die söge-
nannten Aufrührer zu feuern. Freyre hielt indeß mit seinen Trup-
pen die Insel Leon von allen Seiten blockirt, und wahrend er drei
Regimenter als Verdachtige entwaffnen mußte, sahen die Jnsur-
genten der Blokade in ihren Cantonnirungen ruhig zu.
Quiroga's Truppen waren allerdings durch die zu ihnen über-»
gegangenen Bataillone betrachtlich verstärkt worden. Dennoch sah
er sich, nach einigen fruchtlosen Versuchen auf Cadix, genöthigt (theils
durch die Notwendigkeit", dem schon einreißenden Mangel an Lebens-
Mitteln zu steuern, theils durch den Wunsch, so manche noch schwan-
kende Gegend entscheidend für die Sache der Freiheit zu gewin-
nen), ein kleines Truppencorps ans Land zu senden, um jene Zwecke
zu erreichen. Man wollte dadurch zugleich dem Süden von Spa-
nien zeigen, daß es nicht Furcht sei, was das Nationalheer bis-
her auf der Insel Leon festgehalten. Niego erbot sich, die Co-
Wime zu führen und das kühne Wagstück zu bestehen. Er setzte
— 12 —
sich also am 27. Januar 1820 mit 1500 Mann und 40 Pferden
in Marsch, um das umliegende Land für die Freiheit zu begeistern.
Der höchst mühselige abenteuerliche Zug fand seiner unbedeuten-
den Zahl wegen nicht die gehoffte Aufnahme und Unterstützung.
Ueberall, wo er sich zeigte, waren zwar die Straßen mit staunen-
den Menschen gefüllt; doch zur thatigen Theilnahme schien keiner ge-
neigt, weil den Befreiern die Uebermacht der schnell auf Eilwagen
herbeigeführten königlichen Truppen auf den Ferfen war. Unauf-
hörliche Regengüsse, grundlose Wege, Mangel an den dringendsten
Lebensbedürfnissen, hatten nach wenigen Wochen den Muth der
Soldaten gebrochen. Die Hoffnung sank taglich mehr; die äußerste
Entkräftung brachte die patriotischen Krieger der Verzweiflung
nahe. Man beschloß endlich die Colonne auseinander gehen zu las?
sen und in einzelnen Haufen auf seine Rettung zu denken. Nach
fünfundvierzig mühselig verlebten Tagen nahmen die Helden von
einander schmerzlich Abschied und zerstreuten sich in den Gebirgen.
Eine andere Wirkung brachte das plötzliche Erscheinen des
geflüchteten Mina in Navarra hervor. Er hatte bisher in
Frankreich verborgen, doch bewacht von der argwöhnischen Politik des
Madrider Cabinets gelebt. Als er von den außerordentlichen Er-
eignissen bei Cadix Kunde erhielt, entfloh er so heimlich und vor-
sichtig aus Paris, daß man ihn dort noch krank im Bette liegend
glaubte, als er bereits in Navarra erschien, nachdem es ihn: gelungen
war, einem ihn in Bajonne erkennenden Polizeicommissair durch
glückliche Geistesgegenwart zu entrinnen. Mit der Losung: „es
lebe das Vaterland, es lebe die Constitution \" trat er am 26. Fe-
bruar in St. Estevan öffentlich auf. Kaum ward dies bekannt,
als Haufen seiner ehemaligen Anhänger von allen Seiten herbei-
strömten. Bald hatte er eine gutberittene, entschlossene Eavalerie
von 600 Mann an sich gezogen, drang mit immer vergrößerten
Heerhaufen weiter vor, bemächtigte sich einer Stückgießerei und
mehrerer Gewehrfabriken und erließ nun im Gefühle seiner Macht
an seine Waffenbrüder eine Proclamation, die er als Obergeneral
der constitutionellen Nationalarmee im Norden Spa-
mens unterzeichnete. Der dreiundachtzigjahrige Vicekönig von Na?
varra, Erp lata, flüchtete nach Pampelona; der Gouverneur von
Guipuscoa, Arezag a, rettete sich nach der Beste St. Sebastian.
Beide sendeten Eilboten nach Madrid und baten um Hülfe. Mina
zog indessen an der Spitze von 2000 Mann nach Pampelona und
— 13 —
verlangte, eingelassen zu werden. Explata wagte nicht, dies zu
verweigern; denn mehr als 29,(WO Menschen waren versammelt,
Mina's Einzug zu feiern. Alle warfen ihre Mantel auf seinen Weg.
Die Constitution ward feierlich ausgerufen und durch ein Tedeum
unter Kanonendonner und Glockengeläute die Scene verherrlicht.
In Aragonien fand dasselbe Schauspiel statt. Die Consti-
tution ward feierlich in der Hauptstadt Saragossa ausgerufen,
und das unblutige, fröhliche Ereigniß in einer Proclamation vom
5. Marz allen Aragoniern verkündigt. In Katalonien zwang das
Wölk in der Hauptstadt Barcelona den Gouverneur Castan-
nos, am 10. Marz die Constitution zu proclamiren; ihm zur
Seite stand beim Schwüre der Bifchof und ertheilte den Segen.
Darauf stürmte das Volk die Citadelle und den Kerker der Inqui-
fition. Es erbrach trotz allem Widerstande der Mönche die Thüren,
warf alle Bücher und Register der Inquisition zu den Fenstern
hinaus und führte im Triumphe die befreiten Schlachtopfer durch
die Gassen der Stadt. Stürmischer, als in Katalonien, brach die
Volkswuth in den südlichen Provinzen aus. Zu Murcia hatte
der Pöbel die Gebäude der Inquisition bis auf den Grund nie-
dergerissen, da man in den Archiven des furchtbaren Gerichts
eine zahlreiche Liste von Personen fand, die noch zur Verhaftung
und den scheußlichsten Martern bestimmt waren. Von diesen Mar-
tern aber machte ein Oberst, der erst kurz vor der Befreiung war
gefoltert worden, eine grausenvolle Beschreibung. Ruhiger ward
die Constitution am 10. zu Cartagena und am 12. Marz zu
Alica nte proclamirt. Auch in den innern Provinzen war bei
der Ungeheuern Katastrophe kein Blut geflossen. — Unterdessen
hatten auch die Patrioten von der Insel Leon weiter um sich ge-
griffen; die umliegenden Städte waren in ihren Händen; eine
selbstständige Regierung war bereits völlig organisirt.
In Madrid hatte der beängstigte König nach einander meh-
rere große Rathsversammlungen gehalten, wodurch fast jeden Tag
veränderte Rathfchläge erzeugt wurden; kein freisinniger Entwurf
wollte gelingen. Der Infant, Don Francesco allein, von der
Größe der Gefahr überzeugt, wagte es, seinem Bruder öffentlich
zu erklären, daß seine Krone auf dem Spiele stehe, wenn er nicht
schleunig die Constitution annähme. Ein vierundzwanzigstündiger
Arrest war die Belohnung für diesen gutgemeinten Rath, mir
hinzugefügter Drohung ernsthafterer Züchtigung bei Wiederholung
— 14 —
ähnlicher Prophezeihungen. Der größere Theil der Nathe, an
deren Spitze der Infant Don Carlos stand, erklarte sich gegen
alle gütlichen Verhandlungen mit den Nebellen und rieth, bis zum
letzten Augenblicke die Ehre der Krone zu vertheidigen. Andere
machten dem Könige den Vorschlag, in Kraft des heiligen Bundes
Frankreich um eine Hülfe von 40,000 Mann anzusprechen. Nur
Wenige verwarfen mit Abscheu diesen Plan und erklärten, keine
fremde Macht dürfe den spanischen Boden betreten. Der König
schien der Meinung der Letzteren beizupflichten. Doch kam kein
eigentlicher Plan, kein Resultat zu Stande. Indessen nahte die
Gefahr stündlich. Schon mußte man auch für die Erhaltung von
Cadix zittern. Fast alle Provinzen waren in Gahrung; die Gar-
nison der Hauptstadt ward unruhige selbst die Leibwache des
Königs ging beritten und bewaffnet zu den Insurgenten über.
Vergebens warfen sich einige Granden dem Könige zu Füßen und
beschworen ihn, durch die Annahme der Constitution sich und das
Reich zu retten; noch immer umstrickten ihn seine treulosen Rathe.
Endlich in der drängendsten Roth entschloß er sich, den Rath der
gemäßigten Partei zu befolgen, und am 6. Marz Morgens er-
schien in einer außerordentlichen Zeitung folgendes Decret: „Mein
königlicher Staatsrath hat nach reiflicher Erwägung die Zusam-
menberufung der Cortes für zweckmäßig zur Wohlfahrt der Mo-
narchie befunden, und da solche den von mir beschworenen Grund-
gesetzen der Regierung nicht entgegen steht, so befehle ich, daß sich
die Cortes unverzüglich versammeln sollen. Zu dem Ende wird
der Staatsrat!) auf die zweckmäßigen Maßregeln bedacht sein,
diesen meinen Willen zu erfüllen und die Vortrage der gesetzlichen
Volksrepräsentanten zu vernehmen. Nach diesem der allgemeinen
Wohlfahrt entsprechenden Beschlüsse wird mich mein Volk zu
Allem bereit finden, was dem Interesse des Staates und dem
Wohle meiner Unterthanen, die mir so viele Proben ihrer Anhang-
lichkeit gegeben, ersprießlich sein könnte."
Diese Bekanntmachung, die Madrids Bewohner noch vor
wenig Wochen mit Jubel würden ausgenommen haben, war jetzt
bei weitem nicht hinreichend, die Wünsche derselben in ihrer gan-
zen Fülle zu befriedigen. Die öffentlichen Anschlage wurden mit
Erbitterung heruntergerissen, und Quiroga's Proclamation unter
lautem Jubel verlesen. Mit wildem Geschrei forderte das Volk
die Constitution von 1812. „Wir wollen keine veralteten Cortes!
— 15 —
Es lebe die Constitution von 1812!" Mit diesem Geschrei um-
ringten Volkshaufen das Schloß und zwangen einige Mönche,
die ihnen aufstießen, mit in den Iubelruf einzustimmen. Die
Ofsiciere von der Garde verfügten sich gegen Abend nach dem
Constitutionsplatze, um dort die auf Befehl der Cortes im Jahre
1812 aufgerichtete Marmortafel, worauf die Constitution einge-
graben, und die von den Königlichen umgestürzt war, wieder auf-
zurichten; sie fanden aber dort unter Don Carlos eigenem Com-
mando ein Truppencorps aufgestellt und zogen sich, um Blutver-
gießen zu vermeiden, zurück. — So verging die Nacht unter
stürmischen Berathschlagungen im königlichen Palaste. Noch immer
Vieth Don Carlos nichts zuzugestehen, vielmehr Muth und Ent-
schlossenheit zu zeigen. Eindringlicher aber rieth Franzesco und
sogar der Bischof von Madrid zum Gegentheile. Endlich erschien
der General Balasteros, den man durch einen Eilboten aus sei-
ner Verbannung zu Valladolid nach Madrid berufen, um das
Commando der bewaffneten Macht zu übernehmen, weil er die
Zuneigung des Heeres, sowie des Volkes in hohem Grade besaß.
Dieser erkannte indeß bald den wahren Stand der Dinge und
äußerte bestimmt, nur schnelles Nachgeben könne den Thron retten.
Nun war längeres Widerstreben nicht mehr möglich. Es erschien
also am andern Morgen folgendes Publicandum: „Zur Vermei-
dung etwaiger Verzögerungen, welche meinen Staatsrath in
Ausübung deö gestern gegebenen Decrets, die schleunige Zusammen-
berufung der Cortes betreffend, behindern könnten, und um dem
allgemein ausgesprochenen Wunsche des Volkes entgegenzukommen,
habe ich mich entschlossen, die von den allgemeinen und außerordentli-
chen Cortes im Jahre 1812 gegebene Verfassung zu beschwören. Ge-
geben im Palast den 7. Marz 1820. Ich, der König."
Jetzt zweifelte man nicht mehr an der Aufrichtigkeit des kö-
niglichen Wortes. Die Freude des Volks ging in Enthusiasmus
über; der Ausruf: „es lebe der König! es lebe die Constitution!"
erfüllte aus tausend Kehlen die Straßen. Soldaten, Bürger, alle
Stande strömten in ungestümer Freude nach dem Schloßplatze, und
so oft der König auf dem Balcon erschien, tönte ihm ein tausend-
stimmiges Lebehoch entgegen. Im Taumel der Freude stürzte das
Volk in die Kerker der Inquisition und löste die Ketten der Ge-
fangenen, wobei rührende Scenen unvermutheten Wiederfindens
stattfanden. Hunderte von Schlachtopfern gingen aus den Mord-
— 16 —
höhlen hervor. Nun zeigte sich auch der König im Prado mit
den Infanten. Er ward mit Freudengeschrei bewillkonnnt, sowie
sein Bruder Franzesko. Ein widriges Gezisch und lautes Zeichen
des Mißfallens begleiteten dagegen Don Carlos. — Dem auf-
geregten Volke die Bereitwilligkeit zn zeigen, in seine Wünsche
einzugehen, entließ noch in der Nacht vom 7. zum 8. Marz der
König selbst die Inquisitoren mit der Aeußerung: „ihr Geschäft
tauge für Spanien nicht mehr." — Drei Abende hinter einander
war die Hauptstadt erleuchtet.
Um vorläufig die Constitution beschwören zu können, ernannte
der König eine provisorische Junta, deren Mitglieder alle bei der Na-
tion beliebte Manner waren. In ihre Hände legte Ferdinand den Eid
der Treue ab, mit.der Bemerkung, daß derselbe demnächst in den vor-
geschriebenen Formen vor den gesetzmäßig versammelten Cortes
solle wiederholt werden. Der Tag, an welchem die Eidesleistung
geschah, ward in Madrid als ein Festtag gefeiert. An demselben
Tage erschien auch ein königliches Decret, daß sogleich alle Perso-
nen, welche im ganzen Königreiche wegen politischer Meinung ein-
gekerkert worden, sollten in Freiheit gesetzt werden, und Alle und
Jede, die aus gleichen Ursachen sich außer dem Königreiche besan-
den, ungefährdet in ihre Wohnsitze zurückkehren könnten. Zwei
Tage spater nahm die provisorische Junta den Eid der Treue sür
die Constitution der königlichen Garde, und nach dieser der Garni-
son von Madrid, ab. Von ein Uhr Nachmittags marschirten die
Truppen auf dem Prado in Parade auf; die Anführer der einzel-
nen Corps leisteten den Eid in Gegenwart des Viceprasidenten
der Junta, des General Ball eferos, in die Hände des Königs.
Nach beendigter Feierlichkeit verlas der Statthalter der Provinz
Madrid die Constitution und hielt an die versammelte Armee fol-
gende Rede: „Soldaten! Die heilige Handlung, welche wir heute
begehen, wird eine der merkwürdigsten bleiben, welche je die Anna-
len der Geschichte verkünden. Die spateste Nachwelt wird denen
Lorbeerkranze winden, die mit seltenem Heldenmuthe die Bande
einer fremden Dynastie zersprengten, einen beispiellosen Krieg
rühmlich beendigten und für die Freiheit ihres Vaterlandes eine
unerschütterliche Stütze wurden. Ganz Europa wird neidisch un-
fern Großthaten zusehen und staunen, daß, ohne einen Tropfen
Blut zu vergießen, die spanische Nation ihre Verfassung zu andern,
ihre Unabhängigkeit, ihr Glück zu begründen vermochte.... Laßt,
— 17 —
Waffenbrüder, UNS alle Rache verbannen, allen Beleidigern her-
geben; Alle sollen an unserm Ruhme theilnehmen. Laßt uns zu-
gleich mit dem großen spanischen Volke ausrufen: „Es lebe der
König! es lebe die Constitution! es lebe die Nation!" — Bei
dieser Gelegenheit wurden auch zwei herrliche Proklamationen, eine
von Seiten beö Königs, die andere von Seiten der provisorischen
Junta an die Nation erlassen, in welcher ersteren wirklich milder
und väterlicher Ton ausgesprochen war. Selbst Don Carlos
schien sich bekehrt zu haben, indem er unverhohlen den neuen Auf-
schwung des Heeres und des Volkes unter dem Panier der Consti-
tution billigte, was er in einer Proclamation an die Nationalar-
mce kund gab. — Am 11. Marz 1820 begründete der König
durch ein besonderes Decret das Gesetz der persönlichen und der
Preßfreiheit. Die im Jahre 1814 bestandenen Behörden Und Tri-
bunale wurden wieder eingesetzt; einer jeden neuen Verordnung des
Königs lag eine frühere, von den Cortes getroffene Verfügung
zum Grunde, und es schien nun endlich mit den gegebenen Ver-
heißungen ehrlich gemeint zu sein.
So war in der Hauptstadt, wo am 13. Marz auf dem Eon-
stitutionsplatze unter unbeschreiblichem Volksjubel das Denkmal
der Constitution wieder aufgerichtet ward, die grüße und folgen-
reiche Revolution ohne Greuel und ohne Blutvergießen zu Stande
gekommen. Nicht also sollte es sein in der zweiten Stadt des
Königreichs, wo diese große Begebenheit hauptsachlich vorbereitet
ward, und wo schon lange der wahre Brennpunkt der liberalen Ideen
war, aus welchen Spaniens neue Gestaltung der Dinge hervor-
ging. Nicht unblutig sollte die Verfassung in Ca dir Annahme
finden. Als bereits mehrere See- und Artillerieofsiciere der dor-
tigen Truppen in ihrer Treue an die alte Verfassung zu schwan-
ken begannen, die Mannschaft bereits im hohen Grade unruhig
und auf dem Punkte war, sich mit den Truppen auf der Insel
Leon zu vereinigen, und das Volk sich in der größten Gahrung
befand, erschien der General Freyre am 8. Marz Abends persön-
lich in Madrid. Er gab auf die Bitte mehrerer Ofsiciere, durch
endliche Proclamirung der Constitution die allgemeine Spannung
zu heben, unbefriedigende Antworten und wollte am Ende die Feier-
lichkeit nur noch zwei Tage aufschieben. Noch am nämlichen
Abende versammelte er einen großen, aus sämmtlichen Officieren
der Seemacht zusammengesetzten Kriegsrath, welcher jedoch, ohne
N. G. IV. 2
— 18 —
einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben, wieder auseinander
ging. Am folgenden Tage ward er aus dem öffentlichen Spazier-
gange von einer Menge Bürger umringt, welche ihn beschworen,
die Proclamation der Constitution nicht langer aufzuschieben. Unter
dem Vorwande der zu diesem Volksfeste nöthigcn Vorbereitungen
verlangte er abermals einen Aufschub von zwei Tagen. Er zog
dabei ein Buch aus der Tasche, küßte es und sprach: „Dies sey
euch Bürge, daß ich mein Versprechen erfüllen werde." — Noch
am nämlichen Tage jedoch erschien ein öffentlicher Anschlag, wel-
cher die feierliche Handlung für den folgenden Tag, den Ii). Marz
ankündigte. Man meldete dem General O.uiroga die bevorstehende
Feierlichkeit und lud ihn zur Theilnahme ein. Quiroga aber, ent-
weder durch eine dunkle Ahnung von schwarzer Verratherei, oder
durch geheime Winke gewarnt, schickte einen Parlamentair an
Freyre, welcher für ihn und die Seinigen sicheres Geleit verlangte,
um die Einräumung zweier Forts für seine Truppen anhielt, auch
den General ersuchte, einige aus freigelassenen Verbrechern und
andern verdachtigen Leuten zusammengesetzte Truppencorps aus der
Stadt zu entfernen. Keiner dieser Vorschlage ward gewährt;
Quiroga blieb also bei den Seinigen in seinen Cantonnirungen
und schickte als Repräsentant der Nationalarmee von der Insel
Leon den Chef seines Generalstabs nebst zwei andern Ossicieren in
die Stadt.
Das Volk hatte indeß in Freyre's Verheißung kein Mißtrauen
gesetzt. Freudetrunken brachte es, mit Musikcorps die Straßen
durchschwarmend, der Constitution manches Lebehoch. Soldaten
und Bürger tranken Brüderschaft und berauschten sich in wilder
Freude. Die Stadt war die ganze Nacht erleuchtet. So brach
der Morgen des so lange sehnsuchtsvoll erwarteten Tages au. In
der Frühe schon zierten bunte Teppiche die Straßen, und zahl-
reiche Volkshaufen eilten nach dem Platze St. Antonio, weil da-
selbst, nach Ankündigung des Diario (offiziellen Tageblattes), das
große Fest gefeiert werden sollte. Es hatten dort Tausende bis
eils Uhr der Dinge, die da kommen sollten, in freudiger Spannung
geharrt: als plötzlich Gewehrfeuer aus allen Richtungen ihre Mas-
sen durchkreuzt. Die Bürger stürzen sich in die Seitengassen;
auch hier fliegen ihnen Flintensalven entgegen. Das Volk stürmt
dem Zeughause zu; es war leer, und die Kugeln der Soldaten
erwarten es auch dort. Den Säbel in der Faust sprengt die Cavalerie
— 19 —
nach und jagt die wehrlosen Haufen in die Bajonette der Infan-
terie. Weiber und Kinder werden wie Manner und Jünglinge
niedergemetzelt. — Bis drei Uhr Nachmittags dauerte das Ge-
wehrfeuer und das Niedersäbeln der Cavalerie, bis man unter dem
Geschrei: „Es lebe der König, nieder mit der Constitution!" zu
förmlicher Plünderung überging; erst um neun Uhr Abends endete
das traurige Schauspiel niit einer gräßlichen Stille. Vierhundert-
fünfzig Todte bedeckten die Straßen, WO bis 1000 Verwundete
schleppten sich blutend in ihre geplünderten Häuser. Freyre berich-
tete nun durch Eilboten nach Madrid, es sey ihm erst Abends
zehn Uhr gelungen, den lojalen Truppen Einhalt zu thun und die
Ordnung wieder herzustellen. Der General Campano erließ am
II. Marz folgenden Tagesbefehl, der als ein Denkmal roher
Barbarei hier wörtlich Aufnahme finden mag. „Es lebe der Kö-
nig! Es lebe die Religion! Ehre der tapfern und lojalen Befaz-
zung von Cadix! Ihre Treue und ihre Entschlossenheit, die sie
am gestrigen Tage bewiesen, verdienen den Dank aller treuen
Unterthanen des Königs, sowie des Generals, der die Ehre hat,
sie zu befehligen. Im Namen Sr. Majestät zolle ich den Anfüh-
rern, Officieren und Soldaten der Garnison für ihr ausgezeich-
netes tapferes Betragen meinen wärmsten Dank."
Von Mord und Wein berauscht, lagen die Soldaten am sol-
genden Morgen in ihren Kasernen. Die Bürger verschanzten und
bewaffneten sich in ihren verschlossenen Hausern, als jener Tagesbe-
fehl zur öffentlichen Kunde kam. Da begann die zügellose Soldateska
die Plünderung von neuem. Mehrere Kaufleute wurden in ihren
Hausern ermordet; die Büste Ferdinands, vom Blute der Erschla-
geliert bespricht, ward unter Leichenhügeln auf dem Platze aufge-
stellt. Durch dieses heuchlerische, verratherische Verfahren aufge-
bracht, schickte Quiroga einen Parlamentair an die Flotte, um eine
Erklärung ihrer Gesinnungen zu erhalten. Als diese als feinde
selig erkannt ward, demaskirte er zwei Batterien und hielt dadurch
die Flotte in Respect. Am 13. erhielt der General Baldes, der
Gouverneur von Cadix, ofsicielle Nachrichten von den Ereignissen
in der Hauptstadt. Er eilte, sie öffentlich bekannt zu machen; allein
die Bürger, neue Fallstricke, neue Hinterlist fürchtend, verhielten
sich ruhig in ihren Häusern; die Soldaten, für die Stimme eines
constitutionellen Monarchen taub, rissen die öffentlichen Anschlage
ab und traten sie mit Füßen.
— 20 —
Die Veranlassung zu diesen schaudervollen Auftritten wirb
sehr verschieden angegeben. Wahrend man einerseits behauptet,
die Günstlinge des Königs harten, erschreckt durch die Begeben-
heiten in Madrid, den Entschluß gefaßt, sich mit List der vor*
nehmsten Häupter der Insurrection zu bemächtigen und eine Eon--
trerevolution im Süden zu organisiren. Durch eindringliche Vor-
stellungen von der ihm drohenden Gefahr sei der König bewogen
worden, verschiedene geheime Befehle zu unterzeichnen, die sogleich
nach dem Süden abgesendet, und wodurch Freyre und O'Donne!
bevollmächtigt wurden, durch jedes zum Zweck führende Mittel sich
Riego's und besonders Quiroga's zu bemächtigen. Freyre habe
nun, zufolge der geheimen Instruction, in Verbindung mit Fran-
ziscaner Mönchen, durch unmaßige Verkeilung von Branntwein
und das Versprechen, daß der König ihre Treue ausgezeichnet be-
lohnen werde, die Soldaten zur wildesten Wuth aufgereizt» Von
Andern wird die Schuld lediglich auf die ungestüme Ungeduld des
Volks geschoben, und behauptet, daß Freyre zu dem Versprechen,
die Constitution zu proclamiren, sei gezwungen worden, daß er bis
zur Ankunft bestimmter Nachrichten aus der Hauptstadt habe Zeit
gewinnen wollen, daß der Ausruf: „Es lebe die Constitution!" schon
vor dem zn der feierlichen Handlung bestimmten Tage ausgebrochen,
und der General nicht im Stande gewesen sei, den Enthusiasmus
der Truppen zu zügeln, welche sich unaufgefordert zu Gunsten
des Königs erklart hatten. Doch sprechen mehr Zeugnisse für die
crstcre, als für die letztere Behauptung. —
Freyre spielte in aller Hinsicht noch immer eine verdächtige
Rolle. Zwar gab er Befehl, die Bataillone, die auf das Volk
gefeuert, von Cadix abzuführen, zögerte aber doch so lange wie
möglich, den Helden der Constitution, Quiroga und Riego, die
königlichen Verordnungen ossiciell mitzutheilen. Endlich am 16.
Marz wurden den Truppen auf der Insel Leon die Decrete vom
und 7. Marz zugestellt. Doch gewarnt durch den vielfältigen
Verrath, erklarte Quiroga, daß er die Insel so lange besetzt hals
ten werde, bis die versammelten Cortes ihm den Befehl zum Ge-
gentheile übersendeten. Dies geschah, und der König ernannte
zugleich die vormaligen Nebcllenhaupter Quiroga, Riego und
Arco Aguero, Chef des Generalstabs der Nationalarmee, zu
Brigadegeneralen. In einem ehrfurchtsvoll und bescheiden abgefaß-
ten Schreiben lehnten diese Manner die unerwartete Ehre ab; sie
— 21 —
wollten lieber ihren vormaligen Rang behalten und in den Augen
ihrer Mitbrüder nur als schlichte Freunde des Vaterlandes, nicht
als ehrgeizige Egoisten erscheinen; der König jedoch befahl ihnen,
den ihnen ertheilten Rang ohne weitere Weigerung anzunehmen.
— Am 26. Marz ward nun endlich die Constitution in Cadix
proclamirt und von allen Bürgerclassen auf's Neue beschworen.
Quiroga, Riego und der neue Gouverneur, Lopez Banos,
hielten am 4. April ihren Einzug in die Stadt. Das Volk nö-
thigte die Gefeierten, vom Pferde zu steigen, hob sie auf einen
Triumphwagen und führte sie mit unbeschreiblichem Jubel nach
dem Regierungspalaste. Soldaten zogen voran, und eine große
Zahl berittener Bürger schloß den Zug. Im Palaste angelangt,
mußte Quiroga sich auf dem Balkon dem Volke zeigen; Banos
setzte eine Lorbeer- und Rosenkrone auf sein Haupt, wobei der
tieferschütterte Held in Thranen ausbrach. — Am 24. Marz
überbrachten Abgeordnete der Bürger von Cadix dem Könige eine
Adresse, worin sie ihren Dank für das wohlthatige Decret vom
7. Marz aussprachen und mit lobenswerther Schonung über die
greuelvollen Auftritte vom 10. Marz ein vollkommenes Stillschwei-
gen beobachteten. —
Den auswärtigen Gesandten ward die Ankündigung der gro-
ßen Staatsveranderung in zwei ofsiciellen Noten zugestellt, mit
dem Ersuchen, solche ihren respectiven Höfen mitzutheilen. —
Kurz darauf erklärte sich der König zum ersten Soldaten des spa-
nischen Reichs und errichtete einen eigenen Stab für seine Per-
son, in welchen er die für die gute Sache am meisten verdienten
Generale aufnahm, die von nun an die Ehre genossen, in der
Nahe des Königs selbst zu dienen.
Die Eröffnung der ersten Ci-rteSsitzung war auf den 9. Juli
1820 festgesetzt. Der König sollte in derselben seinen Eid erneuern.
Zur bestimmten Zeit langten die Deputirten der Provinzen in Ma-
drid an. Ihre volle Zahl mußte sich auf 149 belaufen. Die
Wahlen waren im Ganzen, wiewohl an manchen Orten, z. B.
in Toledo, unter harten Kämpfen, zu Gunsten der liberalen Par-
tei ausgefallen; indessen zahlte man doch unter der Versammlung
eilf Bischöfe und dreißig niedrige Geistliche. Am 6. Juli hielt
die vorbereitende Junta ihre letzte Sitzung und erklarte die Cortes
für constituirt. Eine Deputation von zwei und zwanzig Mitglie-
dern begab sich darauf zuin Könige, der sich in den Escurial
— 22 -
zurückgezogen hatte, um ihm die Coustituirung der Cortes anzu-
zeigen. Der König ehrte die Abgeordneten wie Grandes von Spa-
nien und erklarte, am 9. Juli Morgens zehn Uhr werde er in
der Sitzung der Cortes erscheinen. Ferdinand begab sich selbigen
Tages zur anberaumten Zeit, begleitet von der Königin und sei-
nen Brüdern im feierlichen Zuge, wobei das Volk ihm mit lautem
Iubelgeschrei folgte, nach dem Sitzungssaale der Cortes. Am
Fuße der Treppe erwarteten ihn zwei Deputationen der Reichs-
stände; die eine, aus zweiunddreißig Mitgliedern bestehend, beglei-
tete den Monarchen in den Saal, die andere führte die Königin
und die Infanten auf eine für sie bereitete Tribüne. Der Prasi-
dent der Versammlung hielt eine Anrede. Er erinnerte darin an
Spaniens Glanz und Wohlstand unter den Cortes der vorigen
Jahrhunderte; doch auch an dessen Verfall, sobald Ehrgeizige die
Cortes verdrangt und die Könige zu ihrem Werkzeuge herabgewür-
digt hatten. Dann, einen Schleier über die nächste Vergangen-
heit Ziehend, ging er rasch auf den neuen Tag über, der für
Spanien aufgegangen. Hierauf leistete der König noch einmal
den Eid in der großen Versammlung und las dann eine lange
Rede ab, die mit folgenden Worten schloß: „Den Cortes liegt es
ob, die Wohlfahrt des Reichs durch gerechte und weise Gesetze
zu begründen; der königlichen Macht, über die Vollziehung der
Gesetze zu wachen, besonders des Staatsgrundgesetzes, dieses
Cmtralpunctes der Wünsche aller Spanier, dieses festen Horts
ihrer Hoffnungen. Das wird meine angenehmste, sowie meine
beständige Beschäftigung sein. Der Feststellung und der Erhal-
tung der Constitution will ich die Macht widmen, welche sie in
die Hände des Königs gelegt. Ich will keine andere Macht; sie
genügt zu meinem Glücke und meinem Ruhme. Zur Vollbringung
eines so großen und wohlthatigen Werks rufe ich den Beistand
und die Erleuchtung des höchsten Gebers alles Guten an und
fordere die Cortes zur thatigsten Mitwirkung auf!" Der Prasi-
dent dankte dem Könige für seine ausgesprochenen edlen und groß-
müthigen Gesinnungen; worauf sich die königliche Familie ent-
fernte und sich unter dem Zujauchzen des Volks nach dem Pa-
laste begab.
— 23 —
D ie Co ntrere Volution.
Spanien war nunmehr in aller Form eine constitutionelle Mo-
narchie, welche durch die Cortesversammlungen regiert ward. Der
Kampf des spanischen Volkes und dessen endliche Befreiung hatte bei
den auswärtigen Nationen lebhaftes Mitgefühl erweckt. Anders jedoch
bezeigte sich die Theilnahme des heiligen Bundes, da in Folge des
Glücks, das der spanische Aufstand gemacht hatte, die Anhänger der
Demokratie auch an andern Orten ihr Haupt erhoben, in Portugal
und Neapel ahnliche Aufstande Statt fanden, und selbst in Deutsch-
land bedenkliche Umtriebe zum Vorschein kamen. Auf einem Eon-
gresse zu Verona gegen Ende des Jahres 1822 erklarten die
Hauptmachte der heiligen Allianz: „Spanien habe aus dem Schöße
der Civilisation als eine von den Erhaltungsgrundsätzen, worauf
der europaische Bund beruhe, feindselig getrennte Macht sich erhoben,
und die Monarchen konnten solches Uebel unmöglich mit Gleich-
gültigkeit betrachten." Die von Verona aus in Folge dieser Erkla-
rung dem österreichischen, preußischen und russischen Geschäftsträger
zu Madrid übersendeten Depeschen, welche dem spanischen Mi-
nisterium sollten mitgetheilt werden, besagten: „Die spanische Eon-
stitution sey aller Orten der Vereinigungspunkt und das Feldge-
schrei einer gegen die Sicherheit der Throne und die Ruhe der
Völker verschworenen Faction; weswegen denn Spanien durchaus
jene Negierungsform mit einer andern verwechseln müsse, in wel-
cher die Rechte des Monarchen mit dem wahren Interesse der Na-
tion glücklich vereinbart waren." Preußen fügte noch insbesondere
hinzu: „Nur unter dieser Bedingung könne die spanische Regierung
darauf rechnen, ihre freundschaftlichen Verhaltnisse zu den freut-
den Machten beizubehalten." Das spanische Cabinet seinerseits
erklärte dagegen den Höfen: „Die spanische Nation sei von einer
Verfassung regiert, die der Kaiser von Nußland feierlich anerkannt
habe; die Spanier, welche diese im Jahre 1814 gewaltthatig um-
gestürzte Constitution im Jahre 1820 neuerdings proclamirt hät-
ten, wären die ruhmvollen Organe des allgemeinen Wunsches
gewesen. Der constitutionelle König von Spanien habe den freien
Gebrauch der Rechte, welche das Grundgesetz ihm einräume, und
Alles was man dagegen anführe, sey Erfindung der Feinde Spa-
niens." Nach dieser Antwort war der Krieg zwischen Spanien
und der heiligen Allianz entschieden, und Frankreich übernahm es,
denselben zu vollziehen. Nachdem Ludwig XVIII. am 28. Januar
1823 in einer sehr bündigen Rede den Kammern seine übernom--
mene Verpflichtung dargethan, wurden die Zurüstungen zu dem
Kriege sofort betrieben. Schon im Anfange Januars hatten die
Gesandten von Oesterreich, Preußen und Nußland ihre Passe ge-
fordert, und wenige Tage dflrauf verließ auch der papstliche Nun-
tius Madrid.
Wahrend solchergestalt Spanien von Außen von Feinden be-
droht ward, war die innere Lage desselben wenig erfreulicher.
In allen Provinzen hatten sich, unter Anführung fanatischer Mön-
che, sogenannte royalistische Glaub ensarmeen gebildet, welche
von den Ultra-Royalisten in Frankreich reichliche Unterstützung
erhielten, und weit und breit ward das Land durch wüthenden
Partheienkampf der Ultra's und Liberalen verheert. Dazu kamen
in der Hauptstadt die geheimen Hofintriguen von der einen, und
Mißtrauen und Erbitterung von der andern Partei. Die könig-
liche Familie auf ihren fast taglichen Spazierfahrten zu sehen,
gab schon allein ein Bild von dem Stande der Dinge in Ma-
drid. Da standen auf beiden Seiten der großen Schloßtreppe in
dichten Reihen Gardisten und Carabiniers; am Kutschenschlag
aber zwei Stabsofft'ciere und vier Grenadiere. Auf dem Schloß-
platze waren aufmarschirt die Jnfanteriegarde und eine starke Ab-
theilung der Garden zu Pferde, das den hohen Wagen, sobald
der König und die Königin auf der vorgesetzten Fußbank hinein-
gestiegen waren, festgefchlossen umgaben, Der König immer sin-
slex, die Königin immer blaß, leidend und mit gesenktem Blicke.
In dem folgenden Wagen Don Carlos mit seiner Gemahlin,
dann Don Francesco, und in den letzten drei oder vier Wagen
das vornehme Hofgesinde. Wie ein Trauer - oder ein Gefangenzug
ging die Fahrt langsam vorwärts und kehrte auch so wieder zurück. —
Inzwischen rüsteten sich bßi den kriegerischen Aussichten die Cor-
tes nach allen Kräften. Sie beschlossen eine neue Aushebung für das
Militair, ermächtigten die Regierung zur freien Einfuhr von Waffen
und Kriegsbedürfnissen, überwiesen die für verkaufte Nationalgüter
eingehenden Summen, wie auch den Ertrag der Bergwerke für den
Krieg an den Fi nanzminister ; wobei überdies noch alle Provinzen
— 25 —
verpflichtet wurden, auf's Thatigste zur Bekleidung, Bewaffnung
und Ausrüstung ihrer Continente mitzuwirken. Die Festungen
wurden nach Möglichkeit mit allem Röthigen ausgerüstet, auch
mit solchen Befehlshabern und Truppen versehen, auf deren Fran-
zosenhaß man rechnen konnte. — Ein Decret der Cortes vom
17. Marz verfügte, im Falle des Krieges, die Verlegung der könig-
lichen Residenz in einen festen Platz. Ferdinand weigerte sich, diesem
Decrete die Sanction zu geben, und unterzeichnete nachher in heftiger
Entrüstung darüber die Entlassung der Minister, die jenen Beschluß
ihm vorgelegt hatten. Als sich diese Nachricht in Madrid verbrei-
tete, versammelten sich zahlreiche Gruppen vor dem Sitzungshause
der Cortes, und die wüthendsten verlangten, man solle den Kö-
nig absetzen und eine Regentschast ernennen. Erbitterung und
Mißtrauen gegen ihn wuchsen, und so hatte Ferdinand nur die
Wahl, das abgedankte Ministerium wieder einzusetzen, oder ein
neues zu ernennen, welches noch liberaler, als das alte war.
Um seiner königlichen Würde nichts zu vergeben, entschloß er sich
zu dem Letzteren. Die furchtbare Gemüthserschütterung jedoch warf
ihn auf's Krankenlager.
Inzwischen zog sich das französische gegen Spanien bestimmte
Heer, zu dessen Anführer der Herzog von Angouleme ernannt
war, in den Pyrenäen zusammen. Sobald die am 15. Marz
erfolgte Abreise des Herzogs zur Armee in Madrid bekannt ge-
worden, mithin an dem Einbrüche der Franzosen in Spanien kein
Zweifel mehr war, drangen die Cortes auf schleunige Entfernung
des Königs. Der Aerzte Berichte lauteten dahin, daß die Un-
paßlichkeit desselben keineswegs so bedeutend sey, daß man bei der
Reise nach Sevilla Gefahr für sein Leben zu besorgen habe.
Man hatte durch mobile Colonnen die Banden der Insurgenten
zerstreuen lassen, die sich besonders in den Gebirgen von R o n-
da und in der Sierra Morena gesammelt, welche die
königlichen Reisenden passiren mußten; überdies wurden 5000
Mann, theils Linientruppen, theils Milizen, befehligt, den König
zu geleiten, um ihn gegen jede Gefahr von Seiten der Jnfurgen-
ten zu schützen. Als diese Vorkehrungen getroffen waren, mußte
Ferdinand mit seiner Familie die befohlene Reife am 20. Marz
antreten, wobei sich in Madrid durchaus keine Volksbewegung zu
Gunsten des eines heimlichen Einverständnisses mit Spaniens Fein-
den beschuldigten Monarchen zeigte. Ungefährdet trafen die Rei-
— 26 -
senden am 10. April Mittags zu Sevilla ein, wo vorerst die
Residenz sein sollte. Gefolgt waren dem Monarchen der englische,
der nordamerikanische und der portugiesische Gesandte, welche, wie
auch sechszig Mitglieder der Cortes mit ihrem Präsidenten, Tags
darauf in Sevilla anlangten. Mit ihnen zugleich kam die Kunde
von dem Ueberganae der Franzofen über Spaniens Grenzfluß, die
Bidassoa, nach Sevilla, wo man indessen auf das wichtige
Ereigniß schon so gefaßt war, daß keine gefährliche Volksbewe-
gung dadurch entstehen konnte.
Das französische Heer, dessen Vortrab am 7. April in Spa-
nien eingedrungen war, bestand aus 94,000 Mann und war in
vier Hauptcorps getheilt, von denen das erste von dem Marschall
Oudinot, das zweite von dem Generallieutenant Molitor, das
dritte von dem Fürsten von Hohenlohe, und das vierte von dem
Marschall Moncey befehligt wurde. Nachdem die Hauptmasse
auf spanischem Boden angelangt war, ward sogleich zur Einschtie-
ßung der wichtigen Festung St. Sebastian geschritten. Man
hatte hier auf Einverständnis; mit dem Commandanten gerechnet,
der aber kürzlich durch einen andern war abgelöst worden. Die
Aufforderung ward daher nicht nur mit Hohn zurückgewie-
sen, sondern die Franzosen erlitten auch durch mehrere Ausfalle der
Besatzung betrachtlichen Verlust. Unterdessen rückte das Haupt-
Heer, ohne Widerstand zu finden, immer weiter vor. Jrun, To-
losa, Villafranca, Pancorvo wurden am ö., 10. und 14.
April genommen, und am 17. war Augoulerne's Hauptquartier
zu Vittoria, wo es einige Tage blieb. — Die Glaubenstrup-
pen hatten mittlerweile ihre Operationen mit denen der französi-
schen Armee vereinigt. Allenthalben, wo sie hinkamen, waren
Plünderung, Sengen, Morden und Verwüsten an der Tagesord-
nung. — Wahrend der Herzog seinen Marsch gegen Madrid
fortsetzte und am 22. April im Burgos einzog, drang Molitor
durch Navarra gegen Aragoniens Hauptstadt, Saragossa, vor,
welche er ohne Widerstand einnahm. Pampelona wieß jedoch
alle Aufforderungen zur Uebergabe entschieden zurück.
Madrid war seit Wochen schon so gut wie verödet. Alle Be-
Hörden zogen ab; die kriegslustigen jungen Leute verließen die
Stadt zu Hunderten und bildeten Guerillashaufen; alle Straßen
waren mit Auswanderern bedeckt, die ihre besten Habseligkeiten mit
sich fortschleppten. Die spanische Besatzung, noch etwa 6000 Mann
— '27 —
stark, unter dem General O'Donnel, Grafen von Abisbal,
schloß bei Angouleme's AnnahruiH eine (Kapitulation. Allein der
Anführer eines Corps der Glaubensarmee, das beim Vorrücken der
Franzosen zu mehreren Tausenden angewachsen war und sich mit
diesen zugleich der Hauptstadt genähert hatte, wollte von der Ueber-
einkunft nichts wissen, um die günstige Gelegenheit zur Rache und
Plünderung nicht ungenützt zu lassen. Er rückte mit seiner Schaar
am 20. Mai vor Ankunft der Franzosen in die Stadt; der Pöbel
strömte von allen Seiten hinzu, und unter wüthendem Geschrei
wurden die Hauser der constitutionell gesinnten Bürger mit Gewalt
erbrochen und geplündert, Menschen auf's Fürchterlichste gemißhan-
delt und gemordet. Die Besatzung, von welcher, in Gemaßheit der
Capitulation, der größte Theil schon abgezogen war, trieb zwar die
wüthenden Banden zurück, doch konnte der aufgeregte Pöbel erst
durch den am 23. Mai Morgens erfolgten Einmarsch des Vor-
trabs der französischen Truppen zur Ruhe gebracht werden. Am
24. Mai hielt der Herzog von Angouleme, an der Spitze der
Nachhut, seinen Einzug in Madrid. Er setzte sofort ein proviso-
rische Regierung ein, und dem Volke ward in einer Proclamation
verkündigt: „daß keine von den Verordnungen der rebellischen Re-
gierung anerkannt, sondern 'Alles vorläufig auf den Fuß wieder herge-
stellt werden solle, wie es vor dem 9. Marz 1820 gewesen; bis der Kö-
nig freiwillig die seiner Weisheit gut dünkenden Abänderungen
in der Verfassung und Verwaltung des Reichs treffen werde." —
Den wüthenden, von den Ultra-Royalisten aufgereizten Pöbel völlig
im Zaume zu halten, waren selbst die französischen Truppen nicht
vermögend. Man hörte daher taglich von Mordthaten und Ver-
giftungen. In mehreren Straßen wurden Freudenfeucr angezün-
det, wozu die Mobilien der Constitutionell-Gesinnten das Mate-
rial lieferten. Kaum war die Ausführung des rasenden Beginnens
mehr zu verhindern, die Hauser aller wohlhabenden Kaufleme nieder-
zureißen, welche die Fonds zur Vollführung der Revolution der-
gegeben hatten. Innerhalb sechs Tagen nach Madrids Besetzung
verließen mehr als 300 Familien auf gut Glück, aus Furcht für
ihr Leben, die Stadt. In Folge getroffener Maßregeln der pro-
visorischen Regentschaft, an deren Spitze der berüchtigte Jnfantado
stand, waren bereits bis zum i. Juli die Gefängnisse mit 44,000
wegen politischer Meinung eingekerkerten Personen bevölkert.
— 28 —
Inzwischen befand sich der König fortwährend in seiner Gefan-
genschaft in Sevilla. Bei der Nachricht, daß die Franzosen von
Madrid her im Anzüge seien, ward in einer Cortessitzung am 23.
Mai die Verlegung des Regierungsitzes nach Cadix decretirt.
Am 11. Juni erhielt man von dem Marsche der Franzosen
durch die Sierra Morena Kunde, und nun galt kein Zögern mehr.
Eine Deputation der Cortes begab sich nach dem Palaste, den
König zu ersuchen, daß er binnen vier und zwanzig Stunden sich
zur Reise nach Cadix anschicke. Ferdinand aber erklarte den Ab-
geordneten, sein Gewissen erlaube ihm ebenso wenig, als das In-
teresse seiner Unterthanen, Sevilla zu verlassen. Auf diese Erkla-
rung loderte bei den Cortes die Flamme des Unwillens mächtig
aus. Man zeigte aufgefangene Briefe des Königs vor, worin er
sich über seine schmähliche Gefangenschaft beklagte und seine Freunde,
die Franzosen, um Rettung bat. Nun ging der Vorschlag bei
den Cortes durch, den König für periodisch verrückt zu erklären
und sofort eine Regentschaft anzuordnen. Die Cortes blieben zu-
sammen; dem Monarchen ward angedeutet, daß er binnen wem?
ger Stunden abreisen müsse, und Ferdinand wagte keinen Wider-
stand mehr, da er wußte, daß die heftigen Liberalen zum Aeu-
ßersten entschlossen waren. Am 12. Juni in der Frühe verließ die
königliche Familie unter einer starken Truppenbedeckung Sevilla.
Eine dumpfe Erstarrung, die Schreckliches befürchten.ließ, herrschte
in der Stadt. Kaum waren die königlichen Gefangenen einige
Stunden entfernt, so brach unter Anführung von Mönchen und
Zigeunern die Volkswuth los. Die Verwirrung ward bald furch-
terlich. Der Pöbel mordete und plünderte ohne Unterschied Eon?
stitutionelle und Royallsten; so das Archiv der Cortes und das
Gepäck der Königin. Vor dem Jnquisitionsgebäude lagen mehrere
Pulverfässer, wobei eine Wache aufgestellt war. Die Plünderer
schrien: „In den Fässern ist Geld!" und stürzten darauf zu. Der
wachthabende Offizier aber schleuderte eine brennende Lunte in
das Pulver; ein Theil des Gebäudes flog in die Lust, und zwei
Tage nachher zog man noch achtzig Leichen unter dem Schutte
hervor. Einige Hundert der königlichen Garden hatten sich dem
Haufen der Plünderer zugesellt, und als am 16. ein Corps con-
stitutioneller Truppen auf Sevilla anrückte, warfen die Royalisten
sich in die Häuser und feuerten aus denselben; die Constitutionel-
len schössen mit Kanonen die beiden Hauptthore ein; die Reiterei
— 29 —
sprengte in die Stadt, und nun begann ein entsetzliches Gemetzel
unter den fliehenden Royalisten; die Straßen waren bald mit
mehr als 800 Stödten und Verstümmelten bedeckt. In der Ver-
zweiflung über diese graßlichen Ereignisse hatte der Kriegsminifter,
Salvador, durch einen Schnitt mit dem Rasirmesser seinem
Leben ein Ende gemacht. — Mittlerweile war Ferdinand mit sei-
ner Familie am 17. Juli ohne Gefährde nach Cadix gelangt.
Die Cortes hatten schon am 14. Juli auf einem Dampfschiffe die
Stadt erreicht, wo sie den König empfingen und sogleich decre-
tirten, daß die interimistische Regentschaft jetzt, da der König in
Sicherheit sey, ihre Endschaft erreicht habe, und die ordentlichen
Cortessitzungen am 18. wieder beginnen sollten. —
Die Uneinigkeit der spanischen Feldherrn hatte indeß die
schnellen Operationen des Herzogs von Angouleme gar sehr begün-
stigt. Der General Brodefoule war in Andalusien eingedrun-
gen und nahm, ohne bedeutenden Widerstand zu finden, Cor-
dova ein, und der General Bourmont setzte sich zu Merida
in Estremadura fest; der Marschall Molitor rückte in Murcia
ein, und am 13. Juli siel ein ziemlich ernstes Gefecht bei Lorca vor,
welches die Franzosen mit Sturm nahmen. Bourmont rückte
hierauf gegen Sevilla, zwang einige ihm aufstoßende spanische
Truppencorps zum Rückzüge in die Gebirge und bemächtigte sich
der Stadt ohne fernem Widerstand. Inzwischen war Brodefoule
vor Cadir gerückt, wo erbereits das aus drei Linienschiffen, fünf
Fregatten, vier Kriegsbrigg's und mehreren kleineren Fahrzeugen be-
stehende französische Geschwader unter dem Commando des Contre-
admiral Hamelins vorfand. Jedoch war er nicht im Stande,
mit seinem Heere, selbst nach Vereinigung mit dem Bourmont'schen
Corps, Cadix ganz einzuschließen. Auch nöthigten oftmals widrige
Winde die französische Flotte, sich von der Küste zu entfernen;
wodurch dann das Einlaufen spanischer Schiffe begünstigt ward,
so daß in der Stadt kein Mangel zu befürchten war. Aus Frank-
reich ward noch ein Reservecorps der französischen Hauptarmee
nachgeschickt, und Angouleme brach mit allen disponiblen Trup-
pen den 28. Juli nach Cadix auf. Nachdem der Herzog am 13.
August im Hauptquartiere vor der Festung angekommen war, schritt
man zu entscheidenden Operationen gegen diesen Platz.
Am 19. August wurden die Laufgraben gegen das die Stadt
deckende Fort Louis auf der Insel Trocadero eröffnet; der
— 30 —
Generalissimus war selbst dabei gegenwärtig und ermunterte die
Arbeiter zur Thatigkeit. Das Kanonenfeuer der Spanier von der
Trocadero aber war überaus heftig, und der Hauptangriff auf die-
sen Punkt konnte erst am 31. August geschehen. Nach einem ta-
pftrn Widerstande wurden die Verschanzungen von den Franzosen
erstürmt, welche dabei über einen fünfunddreißig Klafter weiten, da
wo das Wasser am niedrigsten, vier und einen halben tiefen Graben
setzen mußten. Der Verlust an Todten und Verwundeten mochte
von beiden Seiten fast gleich sein; indeß fielen von den Spaniern
über KHK) Mann mit vierzig Offizieren in Gefangenschaft. —
Am 0. September ward durch das Bombardement ein großes
Holzmagazin auf der Cadix gegenüberliegenden Insel P'un-
tales in Brand gesteckt, wodurch eine furchtbare Feuersbrunst
entstand, die zur Nachtzeit die ganze Stadt erleuchtete und alle
schon angstliche Gemüther mit Angst und Furcht vor den Dingen,
die nun kommen würden, erfüllte. Ein Wassenstillstand zum Un-
terhandeln ward geschlossen, der aber zu keinem genügenden Re-
sultate führte. Nun legte sich am 20. September der Contread-
miral Netours mit zwei Linienschiffen und mehreren Fregatten
dem Fort St. Petri gegenüber und sendete demselben binnen
dritthalb Stunden 3909 Kugeln zu, wahrend auch die Landbatte-
rie ein furchtbares Feuer auf dasselbe unterhielt; worauf die Be-
fatzung des Forts sich ergab. Nunmehr ward am 23. September
Cadix selbst von der Seeseite bombardirt, und am 28. sollte der
Angriff gegen die Insel Leon stattfinden. Auf diese Nachricht ward
der General Alava mit neuen Vorschlagen von den Cortes in's
Hauptquartier Angouleme's gesendet, dieser jedoch verwarf solche.
Bald darauf aber erschien ein Kammerherr des Königs, Graf de
las Torres, mit einem eigenhändigen Schreiben Ferdinands,
worin dieser dem Herzoge meldete, die Cortes hatten sich aufge-
löst und die absolute Gewalt wäre in seine Hände zurückgegeben,
er wolle folgendes Tages (am 29. Sept.) im französischen Haupt-
quartiere eintreffen. Doch war die Sache noch nicht ganz im
Reinen; Ferdinand mußte zuvor ein feierliches Amnestie -Decret
erlassen, daß Niemand wegen seiner politischen Meinungen und
früheren politischen Handlungen verfolgt, oder gar bestraft werden
solle. Jetzt fügten sich die Liberalen in ihr Schicksal, die Klüge-
ren aber flüchteten bei Zeiten nach Gibraltar.
— 31 —
Um 1. October Morgens bestieg der König in Begleitung
der Königin, der Prinzen und Prinzessinnen seiner Familie, un-
ter dem Donner des Geschützes von den Wallen der Stadt und
der Uferbatterieen, seine vergoldete Gondel, und um Mittag lan-
dete er im Port St. Maria. Der Herzog von Angouleme em-
psing ihn beim Aussteigen; ein Knie beugend überreichte er dem
Könige seinen Degen. Ferdinand umarnDe den Herzog, und die
Königin reichte ihm die Hand zum Kusse. Eine ungeheure Volks-
menge war Zeuge dieses Austritts. — So ward Ferdinands VII.
Befreiung vollbracht auf dem äußersten Felsen Spaniens, eben da,
wo die Revolution begonnen hatte. —
Ferdinand entsetzte sogleich den Commandanten seiner Garde,
Grafen Palafox, den Major-Domo Altamira, den Groß-
ftallmeister Copons und den Palastcommandanten St. Cruz
ihrer Würden, die der Herzog von Jnfantado und andere erprobte
Absoluto's erhielten. Ein schlimmes Vorzeichen, wie es mit dem
Amnestie-Decret solle gehalten werden! Auch erließ Ferdinand,
ehe er nach Sevilla abreiste, einen Befehl, daß kein Constitutio-
neller (Cortesdeputirter, Staatsrath, Minister:c.) sich bei schwe-
rer Strafe auf des Königs Wege bis auf eine Entfernung von
fünf Wegstunden solle blicken lassen; und so konnte man wohl
ahnen, was bald geschehen werde.
In den Provinzen spielten die Anführer der verschiedenen
spanischen Armeecorps, Mori llo, Quiroga, Ballest er os,
Lopez Banos, Riego, Mi na und Andere noch eine Weile
ihre Rollen fort. Doch da bereits ganz Spanien sichern unter dem
Schwerte der Franzosen und des Glaubensheer lag, welches durch des
plünderungssüchtigen Pöbels Zuströmen wenigstens um's Vierfache
vermehrt war, so waren alle ihre Anstrengungen gegen die furcht-
bar restaurirte absolute Gewalt fruchtlos. Sie mußten, nach-
dem Ferdinands Amnestiedecret vom 29. September völlig zurück-
genommen war, ihr Vaterland verlassen, oder mit dem Tode
ihre Vaterlandsliebe büßen. Das letztere Loos traf unter Andern
den kühnen Riego. Er hatte sich bei der Belagerung von
Cadix durch manchen kühnen Ausfall neuen Ruhm erworben und
glaubte sein Vaterland durch einen Zug in Spaniens südliche
Provinzen retten zu können. Er entkam glücklich aus Cadix und
erschien unvermuthet zu Malaga, wo er bald mehrere Tausend
Fußganger und einige Hundert Reiter unter seiner Fahne vereinigte.
— 32 —
Er war eben in Begriff, noch einige andere Corps an sich zu
ziehen, als die Franzosen unter Molitor erschienen. Bald wurden
Riego's Truppen eingeholt, und ein blutiges Treffen begann so-
gleich am 13. September früh Morgens. Die Spanier wurden
im heftigen Gefechte von einer Stellung zur andern getrieben, und
Riego trat endlich den Rückzug an, um sich nach Cartagena, wo
er auf bedeutende Hülfe rechnen konnte, durchzuschlagen. Allein
er fand den Weg dahin schon gesperrt, und sein Heer löste sich nun
auf und rettete sich in die nahen Bergschluchten. Er selbst floh,
von wenigen Ofsicieren, worunter ein englischer, begleitet, in die
Waldung, worauf er, bis zum Tode ermüdet, durch Verrath eines
Mönchs und einiger Bauern, in einem einsamen Pachthofe, wo
er einige Stunden Ruhe gesucht, gefangen genommen und mit
auf den Rücken gebundenen Händen, unter Flüchen, Verwünfchun-
gen und Mißhandlungen, nach Carolina ins Gefangniß geschleppt
ward. Eigentlich war Riego nur kriegsgefangen, und der franzö-
fische Obergeneral hatte ihn billig schützen sollen; allein er ward
gegen alles Kriegsrecht, auf Angouleme's Befehl, der realistischen
Behörde als ein Hochverrather überliefert, und nun konnte ihn
nichts mehr retten. Wahrend seines Transports nach Madrid ver-
mochte kaum die ihm mitgegebene Bedeckung von spanischen Frei-
willigen und französischen Soldaten, den von fanatischen Mönchen
in allen Ortschaften, durch welche der Zug ging, aufgehetzten Pö-
bel von scheußlichen Mißhandlungen des Gefangenen abzuhalten.
Zu Madrid ward er in ein Gefangniß gebracht, dessen Wände
mit dicken Bohlen verschlagen waren, und mit Ketten belastet, welche
durch in der Mauer befestigte Ringe gezogen waren. Nur durch
eine etwa sechs Zoll breite vergitterte Oeffnung drangen Luft und
Licht in das scheußliche Gefangniß. Die Anklage gegen den Un-
glücklichen sollte nicht weitläufig sein, um jede, das Mordschauspiel
verzögernde Verteidigung abzuschneiden. Sie lautete also auf
Hochverrath und Verbrechen der beleidigten Majestät, weil Riego
an der gewaltsamen Wegführung des Königs aus Sevilla, wie auch
an der Errichtung der verruchtenRegentschaft Theil genommen habe.
Nach den spanischen Gesetzen war er demnach des Todes schuldig.
Sein Vermögen, so lautete die Fiscal, müsse consiscirt, seinem Leben
durch den Strang ein Ende gemacht, sein Kopf ausgestellt, der Leib
. geviertheilt, und die vier Theile desselben sollten zu Sevilla, auf
der Insel Leon, zu Malaga und zu Madrid ausgehängt werden.
— 33 —
Fürbitten und Verwendungen für den Unglücklichen wurden an-
gewendet. Seine Gattin und sein Bruder Miguel baten den König
von Frankreich, ihn unter seinen machtigen Schutz zu nehmen, da sein
Schicksal ja in Frankreichs Händen liege. Diese Bitten wurden von
allen Verwandten Riego's unterstützt. Sie riefen sogar des Königs
von Großbritannien Fürsprache an; doch Alles umsonst, Alles zu
spat! Die wilde, rachsüchtige Wuth wollte ihr Opfer um keinen
Preis fahren lassen. Die königliche Kammer der Alcalden in Ma-
drid verurtheilte den Don Raphael de Niego zur Strafe des Gal-
gens, zur Erstattung der Prozeßkosten und zur Consiscation seiner
Güter. Am 7. November früh Morgens ward der Bejammerns-
würdige, matt und schon durch die im Kerker erlittene schmähliche
Behandlung bis auf den Tod entkräftet, in einem Korbe, den
ein Efel zog, zur Richtstätte geschleift, wo bonzenartige Domini-
caner noch mit Bekehrungswuth auf ihn einstürmten. Er konnte
aus Schwache nicht mehr antworten. Das zahllose Volk verhielt
sich wie in dumpfer Erstarrung bei der Hinrichtung ruhig, und erst
als der Henker auf des Erdrosselten Nacken sprang, erscholl aus
vielen tausend Kehlen der graßliche Ruf: Es lebe die Religion!
Es lebe der König! —
Höchst wahrscheinlich würde der tapfere Mina, wäre er in die
Gewalt der wüthenden Royalisten gerathen, kein besseres Schick-
sal, als Niego, gehabt haben. Allein er hielt sich bis zu dem
Zeitpunkte, wo fernere Verteidigung Wahnsinn gewesen wäre,
bis er einsah, daß längerer Widerstand nur das Kriegselend sei-
nes Vaterlandes verlängere, und er doch am Ende der furchtbaren
Uebermacht nachgeben müsse. Er schloß also am 2. November
mit dem Befehlshaber der französischen Truppen, Moncey, eine
Capitulation ab, welche die ehrenvollste war, die in diesem Kriege
ein spanischer Feldherr geschlossen hat, und wodurch zugleich,
so viel es die Umstände gestatteten, Ehre, Eigenthum und Leben
den seinen Befehlen bisher untergebenen Constitutionellen vollkom-
men gesichert wurden. Doch verließen Alle ihr Vaterland. Einige
gingen nach der Schweiz, Andere nach Frankreich, und Mina wählte
England, wohin er seine Gattin schon früher gesendet, zu seinem
künftigen Aufenthalte. Am 26. November kam er auf einem franzö-
fischen Schiffe zu Plymouth an und ward daselbst mit unaussprech-
lichem Volksjubel empfangen, ja, von dem Volke auf den Schultern
in den Gasthof getragen, den er zu seiner Wohnung erwählt hatte-
N. G. IV. 3
— 34 -
In Estremadura dauerte der Widerstand gegen die Absoluten
am längsten, weil der dortige Befehlshaber der konstitutionellen
am Empecinado sein Schicksal ahnte, welches ihn wirklich traf,
als er einem Haufen sogenannter königlicher Freiwilligen in die
Hände siel, die ihn, obwohl er in Badajoz capitulirt, als einen
verruchten Rebellen festhielten. Auch an diesem Unglücklichen kühlte
sich nachmals, wie an Riego, die Rache der Roy allsten. —
Der wieder mit der vollen absoluten Gewalt bekleidete König
Ferdinand traf nunmehr in diesem Sinne seine Regierungsmaßre-
geln. Schon am 1. October hatte er zu Port Maria ein Decret
erlassen, das, im geraden Widerspruche mit seinem Manifeste vom
28. September, alle Acte der constitutionellen Regierung für kraftlos
und nichtig erklärte, weil er, bis jetzt im Zustande der Gefangenschaft,
gezwungen gewesen, die ihm vorgelegten Gesetze zu sänctioniren.
Er bestätigte ferner alle Verfügungen der zu Madrid am 26. Mai
eingesetzten Regentschaft, bis er selbst im Stande sein würde,
seine Völker vollkommen zu beglücken. Diesem trefflichen Decrete
folgte am 4. October ein ahnliches, welches alle Personen aus
Madrid zu vertreiben befahl, welche wahrend der constitutionellen
Regierung bürgerliche oder Militairstellen bekleidet hatten. Dar-
auf erschien aus Sevilla, wo Ferdinand mit lautem Volksjubel
empfangen, wo Illuminationen veranstaltet, Stiergefechte gehal-
ten, auch Trauergottesdienste für die in Verteidigung der Sache
Gottes und des Königs gefallenen Krieger veranstaltet wurden, ein
Decret, welches die ganze spanische Armee auflöste. Darnach kam
eine fromme Verordnung: „Man solle dem Allerhöchsten wegen
der vorgefallenen Greuel Sühnopfer im ganzen Reiche darbringen,
Missionen bereiten, um die verderblichen und ketzerischen Lehren
auszurotten, auch alle Geistlichen, welche Agenten der gottlosen
Faction gewesen, in Klöster von der strengsten Observanz einsper-
ren." Zu gleicher Zeit befahl der König, eine Junta zu errich-
ten, aus Mannern, die fromm und echt monarchisch gesinnt wa-
ren; in Gemeinschaft mit diesen wolle er alle Bücher aus Spanien
verbannen, welche der Jugend eine gottlose antimonarchische Geistes-
richtung geben könnten, dagegen diejenigen Bücher verbreiten lassen,
welche die Menschen zu würdigen Stützen des Thrones und des
Altars bildeten. Nicht allein aber stieß der absolute König Alles
um, was während der Cortesregierung gebaut war, sondern er
wollte auch keine der Capitulationen halten welche die Franzosen
— 35 —
mit den konstitutionellen Generalen abgeschlossen, und wodurch sie
ihnen Erhaltung ihrer Ehre, ihrer Freiheit und ihres Eigenthums
verheißen hatten. Die Folge davon war, daß die Unglücklichen
nach Gibraltar, nach Tanger, nach Frankreich, ja, selbst jenseits
des Weltmeers flüchteten. — Auf allen Straßen sah man Mön-
che, die wüthende Predigten hielten, und zerlumpte Soldaten von
der Glaubensarmee in großer Zahl umher schwärmen. Hierdurch
sahen sich die unglücklichen, vertriebenen Liberalen taglich den
gröbsten Mißhandlungen preisgegeben, und Ferdinands bisherigen
Decrete setzten wenigstens 8000 Personen in die Notwendigkeit,
Passe zu verlangen; diese hingen wieder mit 30,000 Anderen durch
die Bande der Verwandtschaft zusammen. Sie waren meistens
Leute von ausgezeichnetem Range und sahen sich nun ihrer Stel-
len entsetzt, bei bitterer Armuth und Verzweiflung der Verfolgung
und dem Hohne der rohsten Fanatiker preisgegeben»
Bei diesem Stande der Dinge hielt der restaurirte absolute
Monarch am 13. November auf einem prächtigen antiken Triumph-
wagen, der fünfundzwanzig Fuß hoch war, seinen feierlichen Ein-
zug in Madrid. Hundert gleichgekleidete Manner zogen das gigan-
tische Fuhrwerk, und Gruppen von Tanzern und Tänzerinnen
umtanzten es singend. Der Zug wurde durch die Corps der
Freiwilligen, der neugekleideten Bataillone der Guiden und der
Gensd'armen vervollständigt. Des Abends war Madrid erleuch-
tet, und wer irgend konnte, hing rothe und blaue, zuweilen mit
Gold verbrämte Tücher aus den Fenstern. Der Pöbel schrie im-
merfort: „Es lebe der König! Es lebe die Inquisition!" — Nir-
gends jedoch war herzliche, offene Freude; denn statt das Wort
der Versöhnung zu vernehmen, folgten nun noch schneller Ver-
Haftungen auf Verhaftungen. Der König aber begab sich, das
Wetter mochte noch so schlecht seyn, taglich in die Kirche, seine
Gebete zu verrichten.
Indessen war seit dem Monat October der Feldzug der fran-
zösischen Armee in Spanien beendet. Nach einer Uebereinkunft
der beiden Regierungen blieben in Cadix und auf Leon, in den
Hauptfestungen Kataloniens, auch in einem Theile von Aragonien,
französische Besatzungen. Außerdem wurden an den Grenzen noch
zwei Beobachtungscorps aufgestellt. — Daß die zerstreuten, jedes
Vereinigungspunktes beraubten spanischen Liberalen sich fernerhin
3 * '
— 36 —
mit Erfolg wieder erheben könnten, schien demnach fast un-
möglich. —
Herrlicher, als je nach einem sieggekrönten Feldzuge unter
der früheren Regierung, war der Triumpheinzug Angouleme's nach
dem spanischen Kriege. Eine zahllose Menschenmenge war ihm
bis Neville aus Paris und der Umgegend entgegen geströmt;
vom Boulogner Hölzchen bis zur Barriere de l'Etoile bildeten
Truppen auf beiden Seiten Spaliere, und zwischen diesen hin-
durch ritt der Prinz, umgeben von den Marschallen Reggio,
Ragusa und Lauriston, und gefolgt von einem ebenso zahl-
reichen als glanzenden Generalstabe bis zu dem Zelte an der
Barriere, welches, mit Fahnen und allegorischen Sinnbildern
geschmückt, zu seinem Empfange bereitet war. Hier bewillkomm-
neten ihn die Damen der Halle und die Kohlentrager, und an
der Spitze der Municipalitat trat Chabrol, der Seine -Prafect,
heran und hielt eine zierliche Lobrede. „Krieger ohne Furcht, Er-
oberer ohne Rache! — sprach er — Ihr tapferer Degen hat auf
die Stimme eines machtigen Monarchen die Anwendung der
Tapferkeit durch edlen und legitimen Gebrauch geheiligt! die
Trophäen des Krieges zum Tröste eines unterdrückten Volkes umge-
wandelt.... Die Namen P a m p e l u n a, T r o c a d e r o und St. P e-
tri sind mit andern berühmten für immer vereinigt! Dies, Mon-
seigneur, sind die Ergebnisse dieses denkwürdigen Feldzuges! dies
das Werk, das Sie vollbrachten"! — Der Prinz antwortete beschei-
den und setzte dann seinen Zug unter dem Donner der Kanonen
fort nach den Tuilerien, wohin die Nationalgarde auf der einen,
die königliche Garde auf der andern Seite Spaliere bildeten.
Dort angekommen, warf sich Angouleme dem Könige zu Füßen;
der aber hob ihn auf, umarmte ihn und sprach: „Mein Sohn,
ich bin mit Ihnen zufrieden." Hierauf führte der König, umge-
den von den Kindern Frankreichs, den Herzog auf den großen
Balcon, wobei das Volk ein lautes Iubelgeschrei anstimmte.
Abends war die Stadt erleuchtet, und die Theater gaben Gele-
genheitsstücke. Der rechte Volksjubel begann jedoch erst bei den
Festen, die vom 12. December an Paris dem Heere zu Ehren
veranstaltete. In den Kasernen gab es Gastmahler, und im olym-
pischen Circus ward ein großes Schauspiel mit Evolutionen auf-
geführt, betitelt: „Die Pyrenäen, Cadix und Frankreich. Glei-
cher Jubel bei den Spielen auf den Elyfeifchen Feldern, bei den
- 37 —
köstlichen Feuerwerken und bei den Vertheilungen von Lebensmit-
teln und Wein. Dann folgten Balle für die Damen der Halle
auf den Marktplatzen, wahrend Prinzen und Prinzessinnen, Ge-
nerale und hohe Diplomaten, auf dem Stadthaufe bei Schmauß
und Tanze sich ergötzten.
AoH des Maiser VtlexanSer.
Alexander hatte sich, nach der Errichtung des heiligen Bun-
des, von Paris nach Brüssel begeben, um die Vermahlung
seiner Schwester Anna mit dem Prinzen von Oranien zu schlie-
ßen. Bei dieser Gelegenheit besuchte der Kaiser auch das Schlacht-
feld von Waterloo. Eine zweite Vermahlung, die seines Bru-
ders Nico laus mit der Tochter des Königs von Preußen, Char-
lotte, knüpfte das Band der Freundschaft zwischen diesen bei-
den Monarchen noch enger. In Warschau ward Alexander als
nunmehriger König von Polen mit großen Feierlichkeiten empfan-
gen. Er hatte dem Königreiche eine constitutionelle Verfassung
bewilligt und ordnete eine Regierung an, dessen oberste Leitung
der General Zajonczu, mit dem Titel eines Vicekönigs, erhielt.
Am 13. December 1815 traf er wieder in seiner Residenz Peters-
bürg ein. — Die Stürme des Krieges unterbrachen nun die
Ruhe der Lander und Völker nicht weiter, und Alexander wid-
mete die nun folgenden friedlichen Regierungsjahre der inneren
Verwaltung seines weitlausigen Reiches. Er machte oftmalige
Reisen, selbst in die entferntesten Provinzen desselben, und kein
Beherrscher Rußlands, selbst Peter der Große nicht, hat so weite
und anhaltende Reisen gemacht, als Alexander. Ein Geist der
Religiosität ward ebenfalls in ihm vorherrschend, wozu ihn wohl die
wundervollen Ereignisse seiner Regierung stimmen konnten, wobei
die Hand der Vorsehung sichtbarlich gewaltet hatte; und die-
ftr Geist verbreitete sich bald über seinen Hof und die höheren
Klassen der Hauptstadt.
Gerade ein Iahrzehend war verflossen, seit Alexander auf
der Höhe des Ruhmes gestanden hatte: als die Kunde von seinem
Tode ganz Europa erschütterte, weil sie so ganz unerwartet er-
scholl. Im Herbste des Jahres 1825 hatte er eine Reise in die
südlichen Provinzen seines Reiches zu machen beschlossen, um die
Armeen in Volhynien, Podolien, vielleicht auch in Bessarabien,
zu besichtigen. Seine Gemahlin, Elisabeth, war zu Wieder-
Herstellung ihrer wankenden Gesundheit einige Tage früher nach
diesen Gegenden abgereist und erwartete ihren Gemahl in Tagan-
rog, welche Stadt, am nordöstlichen Ende des Asow'schen Meer-
busens gelegen, sich durch ein herrliches, mildes Klima auszeich-
net, und wo der Kaiser auch des Nachts am 23. September ein-
traf. Aon da aus besuchte er die nahen und fernen Provinzen
dieser Gegenden, unter andern auch die Krimm. Bei seiner Rück-
kehr aus derselben ward er durch eine schöne malerische Gegend
und eine üppige Vegetation so überrascht, daß er gegen den Ge-
neral Diebitsch und den- Grafen Woronzow äußerte: „Sollte
ich mich einst von den Sorgen der Regierung zurückziehen, so
wünschte ich mein Leben auf diesem Punkte zu beschließen." Er
kehrte hierauf in einem benachbarten Kloster ein und überließ
sich mehr als eine Stunde ernsten und religiösen Betrachtungen.
Bei seiner Rückkehr zur Gesellschaft klagte er über Frost und Uebel-
sein, welches ihn veranlaßt?, nach Taganrog zu seiner Gemahlin
zurückzukehren. Auffallend jedoch ist es, daß der Kaiser bei seinem
Ausenthalte zu Neu-Tscherkask, unter den donischen Kosaken,
anscheinend fröhlich und wohlgemut!), in herrlicher Gesundheitsfülle
erschienen war, ja, sogar am 3. November Abends auf einem ihm
zu Ehren veranstalteten Balle, mit der Gemahlin des Atamans
Jlowaisky eine rasche Polonaise tanzte. Den 18. November
langte er in einem bedenklichen fieberhaften Zustande zu Tagan-
rog an. Noch an demselben Tage schrieb er der Kaiserin Mut-
ter, daß er sich unwohl fühle, aber bei strenger Diat und Scho-
nung die unbedeutende Unpäßlichkeit leicht überwinden werde. In
der That mochte der Kaiser seinen Zustand nicht für sehr gefähr-
lich halten; denn auf seine feste Gesundheit bauend, weigerte er
sich vierzehn Tage lang, kraftige Arzneimittel, welche die Aerzte
dringend einpfählen, anzuwenden — immer mit der Acußerung, er
— 39 —
befinde sich wohl. .Der Leibarzt des Kaisers, Doctor Wylie, hat
über den Krankheitszustand, wahrend der letzten Lebenstage des
Monarchen, folgenden Bericht gegeben: „?tm 23. November wur-
den die bereits Tags zuvor verordneten Blutegel gebracht und
sollten an den Hals, an die Schlafe und hinter den Ohren ange-
legt werden; allein der Kaiser verweigerte dies zwei Tage hindurch
schlechterdings. Der im Gemüthe höchst aufgeregte Kranke nahm
endlich, gegen seinen Willen, anderthalb Unzen von einem Aufgusse
auf Sennesblatter. Kaum aber hatte er es hinuntergeschluckt, als er,
wie von Etwas ergriffen und wie von Furcht betäubt, einen Schau-
der über den ganzen Körper empfand. Diese verschiedenen Gemüths-
bewegungen, die zuweilen bis zur gänzlichen Erschöpfung gingen,
als wenn Etwas gegen Wunsch und Ueberzeugung geschehen wa-
re, dauerten bis gegen Mittag fort. In Ermangelung anderer
Mittel, die ohne Ausnahme zurückgewiesen wurden, schlug ich
kalte Umschläge auf den Kopf und kalte, säuerliche Abwaschungen
vor, konnte aber nur ein einziges Mal, als die Diener Sr. Ma-
jestat ein Hemde anzogen, demselben theikweise den Rücken mit
einem in Wasser und Essig angefeuchteten Schwamm waschen.
Ein Mehreres ließen Se. Majestät nicht zu, wollten auch nichts
von den Blutegeln hören. Nachdem der Kaiser zwei Tassen grü-
nen Thee mit (Zitronen getrunken, stand er auf und verrichtete
Alles, was zur Reinlichkeit des Körpers gehört, wie gewöhnlich,
ohne Jemandes Beihülfe, und stieg wieder in's Bette. Dann
rief er mir und versuchte einige Worte hervorzubringen, wobei
eine gewisse Geistesexaltation wahrzunehmen war. Ohne richtige
Idcenverbmdung, wollte der Kaiser mit mir sprechen und sagte:
„„Mein Freund, welche Handlung, welche fürchterliche Hand-
lung!"" Dieser Seelenzustand dauerte ungefähr eine Minute.
Se. Majestät sahen mich dabei mit einem fürchterlichen Blicke an.
Es war, wie es mir schien, das erste Zeichen des eintretenden
Deliriums. Daß Gemüthsbewegungen Krankheiten Hervorbingen
können, ist wohl mehr als wahrscheinlich. An einem der vergan-
genen Tage hatte mir der Monarch gesagt: „„Ich wünschte, daß
Du Dein Augenmerk auf meine Nerven richten möchtest; denn sie
sind in großer Unordnung."" Ich antwortete: „Ich glaube,
das begegnet den Monarchen hausiger, als andern Menschen."
Se. Majestät erwiederten: „„Und in diesen Zeiten mehr, als in
jeder andern, habe ich Ursache dazu."" — Der Puls schlug fünf-
— 40 —
undneunzig Mal in einer Minute. Von diesem Augenblicke an
stellten sich Betäubung, Bewußtlosigkeit und Irrereden ein. Des-
sengeachtet wurden kalte Umschlage, spanische Fliegen und andere
äußere Mittel, namentlich Blutegel, fortwahrend mit Unwillen
zurückgewiesen. Alles Flehen, daß mir gestattet würde, sie an-
zuwenden, war vergebens. Ich erhielt zur Antwort: „„Ich will
nicht, geh' fort von mir! Ich will nicht beruhigt sein; quäle
mich nicht mit Deinen bestandigen Bitten. Ich weiß sehr wohl,
was mir schadet und nützet; ich verlange blos Ruhe und Einsam-
Fett. Ich vertraue dem Willen des Höchsten und meiner Eon-
stitution."" Um acht Uhr wollte der Kaiser nicht langer im Bette
bleiben, so sehr wir es auch anriethen, und wirklich erfolgte eine
Ohnmacht, um derentwillen der Kranke wieder zu Bette gebracht
ward und alsbald wieder zu sich kam. Wir verschrieben Chinin
und andere zweckmäßige Mittel; allein der Patient wies Alles zu-
rück und wollte nicht einen Tropfen mehr nehmen. Am nächsten
Morgen (27. November) fand sich früh um vier Uhr brennende
Hitze mit Betäubung und Sehnenhüpfen ein, als Vorboten des
Todes. Ihre Majestät die Kaiserin befahlen mir, dem Monar-
chen das bevorstehende Ende anzukündigen. Welch ein bitterer Auf-
trag! Als ich mich dessen entledigte, fragte der Kaiser: „„Ist es
wirklich dahin gekommen?"" Nachdem ich dies bejahet hatte, ließ
der Kaiser seinen Beichtvater rufen und nahm um fünf Uhr das
Abendmahl. Auf meine Bitte, welche der Beichtvater unterstützte,
ließ es der Kaiser sich nun gefallen, daß fünfunddreißig Blutegel
in der Nahe der Ohren angelegt wurden; das auf die innere
Seite des Beines gelegte Senfpflaster aber riß der Monarch, so-
bald es zu schmerzen begann, mit eigner Hand und mit Unwillen
ab. Die Nacht verging in völlig betäubendem Schlafe; um acht
Uhr Morgens hörten die Geistesverrichtungen auf. Um fünf Uhr
Abends verfiel der Kranke in einen todähnlichen Schlaf. Die-
fer Zustand hielt bis zum 30. November an, wo Abends um eilf
Uhr der Todeskampf begann und des folgenden Vormittags um
eilf Uhr fünfzig Minuten dem Leben des Monarchen ein Ende
machte." — Alexander starb im achtundvierzigsten Jahre seines
Alters und im fünfundzwanzigsten seiner Negierung, gerade 100
Jahre nach Peter dem Großen, dessen Todesjahr bekanntlich 1723
ist. Die Kaiserin Elisabeth drückte ihm die Augen zu, kreuzte ihm
die Arme über die Brust — dann ank sie, im Uebermaße des
Schmerzes ohnmächtig nieder. — Schon den 16. Mai 1826
folgte sie ihrem Gemahle zu Bietkeff, unweit Kaluga, in die
Wohnungen des ewigen Friedens nach.
beim Regierungsantritte des Kaller Nicolaus von Ausland.
Am 9. December traf der Trauerbote mit der Nachricht von
des Kaisers Tode in Petersburg ein. Der Großsürst Nicolaus
erhielt sie zuerst und eilte, den Archimandriten zu beauftragen, die
Schreckenspost der Kaiserin Mutter, mit dem Kreuze in der Hand
und begleitet von den Tröstungen der Religion zu überbringen.
Da der Entschlafene keine Kinder hinterließ, war sein Bruder,
der Großfürst Constantin, der Nächste zur Thronfolge. Sobald
man sich daher von dem ersten Schrecken erholt hatte, ließ der
Großfürst Nicolaus die Garden, den Generalstab, alle Regimenter
der Petersburger Besatzung und sämmtliche Staatsbehörden ver-
sammeln und dem Kaiser Constantin I. den Eid der Treue lei-
sten. Der Großfürst Michael aber eilte nach Warschau, wo
sich der neue Herrscher aufhielt, und kam vor Ablauf Decembers
von da zurück, ohne daß etwas Bestimmtes von Constantins bal-
diger Ankunft in der Hauptstadt des Reichs verlautbar geworden
wäre. — Unterdessen hatte der Senat das Testament des ver-
storbenen Kaisers eröffnet und darin eine Urkunde gefunden, wovon
Abschriften auch beim heiligen Synod, beim Staatsrathe und in die
Kathedrale zu Moskau waren niedergelegt worden, und worin aus-
drücklich gesagt war, daß der Großfürst Constantin, zu Gunsten
seines Bruders Nicolaus, auf die Krone verzichte» Diesem Docu-
mente waren beigefügt: Erstens ein Brief Constantins an den Kaiser
Alexander (datirt Petersburg, den 14. Januar 1822), worin Erste-
rer feierlich der Krone, welche ihm nach den Bestimmungen des
von Paul !. erlassenen Thronfolgegesetzes, kraft des Rechtes der
— 42 —
Erstgeburt zukäme, entsagte.*) Ferner ein Antwortschreiben des
Kaisers, worin derselbe seinem Bruder eröffnete, daß der Kai-
serin Mutter seine Willensmeinung mitgetheilt worden, und daß
auch sie seiner Meinung beipflichte. Endlich ein Manifest des
Kaisers Alexander, worin derselbe Constantins Entsagung geneh-
migte und nach den Statuten des Erbfolgegesetzes seinen zweiten
Bruder Nicolaus zum Thronerben ernannte. Dieser jedoch er-
klärte: wenn sein Bruder vor drei Jahren der Krone entsagt habe,
so könnten seitdem die Gesinnungen desselben sich geändert haben;
er selbst wolle von den damaligen Bestimmungsgründen keinen
Vortheil ziehen. Ueberdies sei jene Thronentsagung zur Zeit, da
sie geschehen, nicht öffentlich publicirt und zur Gesetzeskraft erhoben
worden; er halte es also für nöthig, Constantins nochmalige freie
und feierliche Entsagung zu Gunsten seiner zu erhalten, bevor er
sich entschließe, das ihm übertragene Herrscheramt anzutreten.
Die Kaiserin Mutter billigte diese Erklärung, und so ward eine
Deputation des Senats zu dem Großfürsten nach Warschau ge-
sendet, um dessen letzten entscheidenden Entschluß zu vernehmen»
Die Gesandtschaft kam zurück und brachte ein Schreiben Constan-
tins an seine Mutter mit, welches besagte, daß er bei dem Ent-
schlusse, der Krone zu Gunsten seines Bruders Nicolaus zu entsa-
gen, beharre; ferner ein Schreiben an den nunmehrigen Kaiser
selbst, worin er denselben Entschluß aussprach, auch dem kaiserli-
chen Bruder den Eid der Treue als Unterthan leistete und sich
hlos den ihm von Paul I. verliehenen Titel Cesa rewitsch vor-
behielt. — Als diese Briefe, welche aller Ungewißheit über Eon-
stantins wirkliche Verzichtleistung auf Nußlands und Polens Krone
ein Ende machten, zu Petersburg eingetroffen waren, erklarte
Nicolaus sich förmlich zum Kaiser von Rußland, König von Polen
und Großherzog von Finnland und befahl, es solle ihm und sei-
nem Sohne Alexander gehuldigt, und seine Thronbesteigung vom
1. December 1825, als dem Todestage des verewigten Kaisers,
datirt werden. —
*) Durch seine Verzichtleistung auf die Thronfolge hatte Constantin seinen
Bruder, den Kaiser, bewogen, nachdem seine Ehe mit einer Prinzessin
von S a ch s e n - C o b u r g getrennt worden, in seine zweite Vermählung mit
der polnischen Gräfin Grudzinska zu willigen. Sie ward zur Fürstin
von Lowiez erhoben, dem Großfürsten aber nur zur linken Hand an-
getraut.
— 43 —
Alexander hatte in den letzten Jahren seine Aufmerksamkeit
vorzüglich auf das innere Leben der andern Staaten, vornehmlich
von Deutschland gerichtet, wo vielfache Umwalzungsentwürfe zum
Vorscheine kamen, und die Furcht, daß die revolutionairen Bestre-
bungen, die er im übrigen Europa bekämpft, in Rußland Eingang
finden möchten, hatte seine Tage getrübt. Dem Nebel vorzubeugen,
hatte er allmalig Erneuerung und Verstärkung der Maßregeln
eintreten lassen, durch welche schon unter seinen Vorgangern, in
den ersten Zeiten der Revolution, der Gedanken- und Bücherver-
verkehr Rußlands mit dem Auslande beschrankt worden war. Aberdie
verbotene Frucht reizte um so mehr. Die unter den höheren Klas-
sen des Landes herrschende Gewohnheit, ihre Kinder von sranzösi-
schen Lehrern erziehen zu lassen, und die in den letzten Kriegen
gemachte Bekanntschaft mit Deutschland und Frankreich, hatte auch
bei einem Theile des russischen Ofsizierstandes Vorstellungen erzeugt,
die von der Form und dem Geiste der russischen Verfassung sehr
verschieden waren; das Beispiel der Soldatenaufstande im südlichen
und westlichen Europa aber hatte die Entwickelung des gahrenden
Stoffs gefördert. In einem zwiefachen Bunde, des Nordens und
des Südens, wurde über dem Gedanken gebrütet, die Einführung
einer Constitution nach dem Muster der amerikanischen zu erzwin-
gen. Die Stifter dieser Bündnisse waren der Fürst Eugen Obo-
lensky und der Oberstlieutenant Alexander Murawief.
An der Spitze des nördlichen Bundes, der zu Petersburg seinen
Hauptsitz hatte, standen der Fürst Trubetzkoi und ein Garde-
lieutenant, Nylejef; an der Spitze des südlichen, dessen Central-
punkt Tulczin war, der Oberst Pestel und der Intendant
Juschnewsky. Manche geheimnisvolle Winke über diese gefahr-
lichen Complotte waren dem verstorbenen Kaiser noch in der letzten
Zeit zugekommen und hatten sein Gemüth verdüstert und ver-
stimmt.
Jetzt, wo die Hauptstadt dem Kaiser Nicolaus huldigen sollte,
beschlossen die Verschworenen des nördlichen Bundes, diese Veran-
lassung zum Sturze der Regierung zu benutzen. Die mitverbündeten
Offiziere hatten unter den Truppen die Meinung verbreitet, die
Thronentsagung Constantins sei eine Erfindung, mithin müßten
sie dem ihm geleisteten Eide treu bleiben. Der 26. December war
zur Huldiguug bestimmt. Am Morgen dieses Tages, als ganz
Petersburg in unruhiger Thatigkeit war, die Staatsbeamten im
— 44 —
Winterpalaste, die Bürger in den Kirchspielen zur Eidesleistung
sich versammelten, ward dem jungen Kaiser gemeldet, daß sich
Widerspenstigkeit bei den Truppen zeige. Die Garden zu Pferde,
die Chevaliergarde und die Fußgarderegimenter Preabraschensky
und Semelowsky, nebst den Gardejagern und den Sapeurs,
hatten den Eid geleistet, aber bei der reitenden Artillerie war er
verweigert worden, und vier Offiziere deshalb festgenommen; eine
schreckende Vorbedeutung, die bald in Wirklichkeit überging, da das
Regiment Moskau gegen Mittag seine Kaserne verließ, nach dem
Senatsplatze marschirte und laut den Großfürsten Constantin zum
Kaiser ausrief. Auf die Nachricht hiervon befahl der Kaiser Nico-
laus, die Garde-Sapeurs und Pionniers, auf deren Ergebenheit er
als ihr ehemaliger Chef bauen konnte, zur Beschützung des Pala-
stes herbeizuholen. Inzwischen hatte sich das Volk in starken
Haufen um das vor dem Senatspalaste aufmarfchirte Truppencorps
versammelt und stimmte in den Iubelruf: „Es lebe Constantin,
unser Kaiser!" freudig mit ein. In diesen Ruf mischte sich bald
noch ein anderer: „Es lebe die Constitution!" unverstanden von den
Meisten derjenigen, die ihn nachriefen.*) Der Militairgouverneur von
St» Petersburg, General Miloradowitsch, ein Zögling Su-
warow's und, wie dieser, ein Liebling der Soldaten, nahte den
aufrührerischen Truppen, in der Hoffnung, seine Erscheinung und
wohlbekannte Stimme werde sie zum Gehorsam zurückbringen. Ein
Pistolenschuß warf ihn vom Pferde, und leblos ward er hinwegge-
tragen. Auf diefe Kunde stieg der Kaiser selbst zu Pferde, ritt
nach dem Platze, wo die Aufrührer standen, und suchte den ausbre-
chenden Orcan durch freundliche Worte zu beschwören. Wieder-
holte Botschaften gingen an die Rebellen. Es half nichts: die
Aufruhrer blieben stehen in drohender Stellung. Da ließ der
Kaiser ein Bataillon des Garderegiments Preobraschensky gegen
sie heranrücken. Noch spendete er jedoch Worte des Friedens und
der Ermahnung; allein nur von Gnade und unbedingter Unter-
werfung war die Rede. Die Nebellen blieben fest, hoffend auf
eine entscheidende Katastrophe, sobald nur mehrere Regimenter
ihrem Beispiele folgten. Auch waren sie wirklich schon durch
*) Einige Soldaten sollen auf Befragen, warum sie die Constitution hoch
leben ließen, geantwortet haben: „weil sie die Gemahlin des Großfür-
sten Constantin ist."
starke Corps von der Leibgrenadier- und Marine-Garde verstärkt
worden. Die in den Kasernen zurückgebliebenen Compagnien des
Regiments Moskau, welche eben zur Unterstützung ihrer Cameraden
nachrücken wollten, wurden aber plötzlich durch die Ankunft ihres
Chefs, des Großfürsten Michael, der gerade wahrend des Lär-
mes von Warschau zurückkam, aufgehalten, und der junge Fürst
wußte sein Ansehen bei den rohen Kriegern so gut zu benutzen,
daß sie auf sein Zureden nicht nur den geforderten Eid leisteten,
sondern sich größtentheils bereitwillig zeigten, ihm gegen ihre eige-
nen Cameraden zu folgen. — Mittlerweile hatten sich mehrere treu-
gebliebene Regimenter der Gardeartillerie um den Kaiser versam-
melt; der Metropolitan von Petersburg war erschienen und suchte
mit seinem heiligen Ansehen den tobenden Haufen zu beschwichti-
gen, ward aber mit Hohn zurückgewiesen. Da mußte Gewalt
entscheiden, worauf die Bethörten nach so langen nachgiebigen
Unterhandlungen nicht gefaßt waren. Der Kanonendonner krachte,
Traubenschüsse rissen die Glieder des geschlossenen Vierecks ausein-
ander, die Pöbelhaufen zerstaubten nach allen Seiten hin, und
nun hieb die Reiterei auf die Flüchtigen ein. Der Platz vor dem
Senatspalaste war binnen wenigen Minuten gereinigt. Die Flie-
henden wurden zu Hunderten ergriffen, die Todten in die Newa
geworfen. Nicht Wenige vom Volke hatten ihr Zusehen und ihre
Verbrüderung mit den Aufrührern mit dem Leben bezahlt. Keiner
der eigentlichen Haupter und Anstifter des Aufstandes war dabei;
sie wurden am frühen Morgen in ihrem Verstecke aufgespürt und
nebst den gefangenen Offizieren auf die Festung von Petersburg
in Verwahrung gebracht.
An demselben Tage, an welchem dies in der Hauptstadt ge-
schal), wurden nach einem Befehle des General D iebitfch, auf
eine kurz vor dem Tode Alexanders eingegangene Anzeige, die
Haupter des südlichen Bundes in Toubczin verhaftet. Der
Oberstlieutenant Murawief, sobald er erfahren, daß er bereits
als einer der Hauptverschwörer entdeckt sei, entkam zu seinem Re-
gimente und setzte sich mit demselben zur Wehre, wurde jedoch,
nachdem er von einer Kartatschenkugel und einem Säbelhiebe schwer
verwundet worden, übermannt und gefangen; und nun streckten
auch seine Anhänger, 70t) an der Zahl, die Waffen. Das gericht-
licke Verfahren, welches hierauf in Petersburg zur Untersuchung
dieser Vorgange angeordnet ward, enthüllte den Ursprung, die Or-
— 46 —
gam'sation, den Zweck und die Verzweigung der Verschwörung.
Die Verbindung war größtentheils unter jungen Leuten aus den
reichsten und vornehmsten Familien, besonders vom Militair, ge-
knüpft. Ihr offen vorgelegter Zweck war Wohlthätigkeit und hö-
here Volksbildung; ihr geheimer, den nur einige Eingeweihte kann-
ten, die obenerwähnte politische Reform. —- Das Endurtheil
des Tribunals verhing über die Verführten, wie über die Versüh-
rer, Lebensstrafe; der Kaiser ließ jedoch dasselbe nur an den fünf Letz-
teren, den eigentlichen Hauptern, und zwar in gemilderter Form —
anstatt des Rades, durch den Strang — vollziehen (25. Juli 1826).
Die Uebrigen wurden zu Zwangsarbeiten in den Bergwerken ver-
urtheilt, oder nach Sibirien verbannt. Die verführten Garderegi-
menter erhielten zwar Begnadigung, wurden aber nach dem Kau-
kasus geschickt, um ihre Schuld gegen die neuerdings aufrührerisch
gewordenen Bergvölker zu sühnen. Wie weit sich wahrend hun-
dertundsünfundzwanzig Jahren in Rußland die Sitten gemil-
dert hatten, erhellt aus dem Betragen der beiden Herrscher von
damals und jetzt. Hatte nämlich Peter der Große mit eigner
Hand geholfen, als an den empörten Strelitzen die Todesstrafe
vollzogen ward, so geschah es nun, daß der Kaiser Nicolaus bei
einem Verhöre einem Jünglinge, welcher in Thranen zerfloß und
kein Tuch hatte, sich dieselben zu trocknen, sein eignes Taschentuch
reichte. Als der Unglückliche ihm das Tuch zurückgeben wollte,
erwiederte der gerührte Fürst: „Behalte es und erinnere Dich da-
bei, daß es Dein Kaiser gewesen, der Dir die Augen getrocknet
hat."
Am 1. August 1826 hielt Nicolaus seinen Einzug in die alte
Czarenstadt Moskau, und der II. desselben Monats ward zum
Krönungsfeste bestimmt. Es wohnten dieser Feierlichkeit der Groß-
fürst Michael, beide Kaiserinnen und die Großfürstin Helena
Paulowna bei; der Cesarewitsch Constantin war gleichfalls er-
schienen, um jeden Zweifel an der Freiwilligkeit seines Opfers zu
heben. Nachdem in der Himmelfahrtskirche, wo dieKrönungs-
feierlichkeit vor sich ging, die Hauptceremonie vorüber war, sank
Nicolaus mit seiner Gemahlin vor der Kaiserin Mutter auf die
Knie und empfing von den mütterlichen Händen mit dem Zeichen
des Kreuzes den Segen; worauf die drei Brüder sich herzlich
umarmten, und Nicolaus alsdann die Feierlichkeit mit einem lau-
ten, inbrünstigen Gebete beschloß. Dreimal hunderttausend Menschen
I
— 47 —
wogten an diesem Tage jubelnd auf den großen Platzen Moskau's;
am Abende überstrahlte die Beleuchtung des Kreml die ganze Stadt»
Man schlug die Gesammtkosten der Krönungsfeier auf sechzehn
Millionen Rubel an; auch wurden bei derselben 120,WV Bauern
verschenkt.
tteber ficht
des ZuÜandes der Griechen unter der Herrschaft der
Osmanen, feit der Eroberung von Eonüantinopet bis zu
ihrer Erhebung.
Wir haben, nach dem Falle Constantinopels und der Un-
terwerfung des ganzen morgenlandischen Kaiserreichs unter die
Herrschaft der Türken (s. alt. Gesch. B. II. „Eroberung von Eon-
stantinopel und Untergang des griechischen Kaiserthums."), die
Griechen aus den Augen gelassen, weil ein Volk, das unter dem
eisernen Scepter einer despotischenMacht aller freien Regsamkeit, alles
nationellen Lebens entbehrt und nur eine Art von Pflanzen- oder
Schattenleben lebt, wenig Interesse erwecken kann. Jetzt aber, da
uns der Lauf der Geschichte in dieZeit geführt hat, wo der Geist dieses
Volks, durch die politischen Ereignisse aus dem langen Knechtschasts-
schlafe mächtig aufgerüttelt, im Begriffe steht, seine Ketten zu zer-
brechen, und die Augen von ganz Europa auf den Erfolg seines
kühnen Unternehmens gelenkt hat, müssen auch wir dem Gange die-
ser hochwichtigen Begebenheit folgen. Bevor wir uns jedoch zu den
kriegerischen Ereignissen wenden, welche den Aufstand der Griechen
in allen Provinzen des osmanischen Reichs begleiteten, ist es
nötlng, einen Blick zurück auf die Verhaltnisse Griechenlands un-
ter der türkischen Herrschaft zu werfen.
Mohamed II. hatte aus allen seinen Eroberungen in den
Provinzen des griechischen Reiches vierPaschaliks (Statthalterschaf-
— 48 -
ten), die von Macedonien, Thessalien, Negroponte und
Morea gebildet und aus den großen Gütern der vertriebenen,
getödteten und in die Sclaverei verkauften Einwohner militairische
Lehngüter gebildet. Die kleineren Güter behielten die Ueberwun-
denen als Lehnvasallen dieser so belehnten Miliz gegen Entrichtung
des Karadsch (Kopfgeldes) an den Staatsschatz und des Frucht-
zehnten an ihre Lehnsherrn. Die nächsten Landschaften um die
Hauptstadt und die Küsten des schwarzen Meeres, sowie das Land-
gebiet des ehemaligen Kaiserstaats von Trapezunt (Kleinasien)
fielen den Gliedern der kaiserlichen Familie und einigen Großen
des Reichs nach dem Rechte großer Domainen zu. Die Unter-
thanen dieser Landstriche erkannten in diesen ihre Herren, und der
Sultan war für sie nur oberster Lehnsherr. Weiter in der Nahe
der bulgarischen Berge herrschten türkische Bey's, die sich nach
langen Kämpfen fast alle bis auf ihre Heerfolgepflicht von der
Pforte unabhängig gemacht. Dasselbe Verhaltniß fand in Ser-
vien, in Bosnien und in den Berggegenden der Donau statt.
In Macedonien und Albanien war das System der Pascha-
regierung eingeführt, und hier besonders war der Sitz des Elends
und der Sclaverei des griechischen Volks. Der District des Pascha
(das Paschalik) zerfiel hier in Agaliks, Bezirke, denen ein Aga
mit der ganzen Machtvollkommenheit des Pascha vorstand, in
Woiwodeliks und Cadiliks. Hier galt der Grieche, der Ge-
richtsbarkeit der türkischen Cadi unterworfen, vollkommen für
den Sclaven seines türkischen Herrn. Den Karadsch mußte jeder
Grieche über zwölf Jahre bezahlen; diese Abgabe war an sich un-
bedeutend; allein die Aga's und Woiwoden waren die Pachter die-
ser Revenue, und dadurch wurde sie willkürlich und drückend.
Won hier ab gegen die Berggegenden im Süden und Westen war
die politische Lage der Griechen eine bessere. Diese Landschaften,
durch Gebirge begünstigt, hatten den Waffen der Türken lange wider-
standen und waren erst nach hundertjährigem Kampfe auf sehr gün-
stige Capitulationen unterworfen. Sie wurden von Demogeron-
t e n, (auch A r ch o n t e n, E p h o r e n, P r i m a t e n und, mir dem türki-
schen Namen, Kascha Baschi) d. i. Lokalobrigkeiten, regiert, die
aus Griechen selbst gewählt, die eigenen Angelegenheiten der Ge-
meinden besorgten. Die Demogeronten hatten sich durch theilweise
Vererbung der Aemter auf ihre Familien zu einer besonderen
Klasse in der griechischen Nation, gleichsam als eine Art von
— 49 —
Provinzial-Adel, nach und nach erhoben. Die Gebirge selbst aber
blieben, als die ebenen Landschaften sich dem Sieger unterworfen,
in der Gewalt bewaffneter Freiheitskämpfer. Man nannte sie
Klephthen (d. i. eigentlich Räuber). Sie retteten, wenn gleich un-
ter einem bedenklichen Namen und unter nicht minder bedenklicher
Form die griechische Freiheit und Unabhängigkeit in die unzu-
gänglichen Gebirge Griechenlands. Sie unterwarfen sich nie der
Herrschaft ihrer Glaubensfeinde, sondern bekriegten sie in unter-
brochenen Kämpfen, und es hat bis auf die neuste Zeit herab
manche solcher Klephthen gegeben, die sich rühmten, daß ihre Vor-
fahren niemals den von jedem Rajah (Nichtmohamedaner) zu zollen-
den Karadsch an die osmanische Regierung gezahlt haben. Um sich
dieser Klephten in gewisser Hinsicht wenigstens zu versichern, über-
trug die Pforte denen von ihnen, die sich unter bestimmten Be-
dingungen dazu verstanden, die Polizei in einzelnen Orten und Gegen-
den, die den Ueberfällen jener Klephthen und anderer z. B. albanischer
Räuber besonders ausgesetzt waren. Man nannte sie Armato-
len (von den Waffen, die sie bestandig bei sich trugen) und ihre
Corps Armatoliks. Doch blieben auch diese nur so lange in
solchen untergeordneten Verhaltnissen zur Regierung, als es ihnen
selbst beliebte, stets den Rücktritt in das frühere Klephthenleben sich
stillschweigend vorbehaltend. Ihre Chefs nannte Man Armato-
len, d.h. gleichsam eine bewaffnete, von den Behörden anerkannte
Macht, und sie waren als solche mil'itairisch organisirt, wie dies
auch bei den eigentlichen Klephthen der Fall war.
In der Hauptstadt bildete sich seit dem Anfange des acht-
zehnten Jahrhunderts eine Art von Adel in den sogenannten Pha-
narioten (nach dem einen Theile Constantinopels Phanar,
den die vornehmern Griechen bewohnten, also genannt). Sie
kamen zu Anfange des sechszehnten Jahrhunderts zuerst als Schrei-
ber bei der hohen Pforte in Ansehen; einige Familien dieses be-
günstigten Viertels wurden durch Handel und Industrie, Vorzug-
lich als Edelsteinhändler und Wechsler, wohlhabend. Die Grie-
chen als Schreiber der Pascha's und Bey's, als Intendanten, Rech-
nungssührer, Auffeher u. dgl. beherrschten ihre rohen Herren und
leiteten sie durch Schlauheit, wohin sie wollten. Nachdem es einem
Griechen des Phanars, Panagiotti, gelungen war, die türkischen
Minister zu überzeugen, wie gefährlich es für sie fei, sich in ihrem
Verkehre mit den ausländischen Mächten fremder Dolmetscher zu
N. G. IV. 4
— 50 —
bedienen, während ihnen selbst der Koran verbiete, ausländische
Sprachen zn erlernen, ward für ihn die Würde eines Pfortendol-
metschers (Dragoman) gestiftet und seit jener Zeit, 1670, mit
Griechen des Phanars besetzt. Eine Laufbahn der Jntrigue ward
mit dieser neuen einflußreichen und eintraglichen Würde für die
Griechen eröffnet. Bald folgte die noch einträglichere Stelle eines
Dragoman der Flotte und des Kapudan-Pascha (Großadmiral),
und das Ansehen der phanariorischen Griechen wuchs mit jedem
Jahre. Von diesen Würden erhoben Jntriguen und Bestechungen
sie in weniger, als einem halben Jahrhunderte zu dem Range von
Fürsten und Hospodaren der Moldau und Walachei. — In
einem Reiche, wo Alles kauflich ist, waren es eigentlich die reichen
griechischen Banquiers des Phanars, welche alle Aemter besetzten.
Kein Pascha konnte seine Ernennung, kein Kadi seine Wahl durch-
setzen ohne ihre Hülfe. Der Mufti, (die höchste geistliche Würde)
der Kapudan-Pascha, die hohe Pforte selbst verkauften diesen Ban-
quiers ihre Anstellungsmandate in blanco, und der griechische
Wechsler überließ diese dann den Meistbietenden. Mit den geist-
lichen Stellen aber trieb der Patriarch es ebenso, und wie seine
Würde selbst der Preis des Meistgebotes war,*) so besetzte er auch
auf gleiche Weise willkürlich und ausschließlich alle geistlichen
Stellen und die bischöflichen Stühle. Die Bischöfe machten sich
für ihre Auslage dann an den gezwungenen Antrittsgeschenken von
ihrem Sprengel, an dem Verkaufe der niederen geistlichen Würden,
Dispensen k. bezahlt, und so bildete das ganze hierarchische Ge-
baude ein zweites System der Bedrückung und Aussaugung, un-
ter dem das unglückliche griechische Volk seufzte, und zu dem sich
Türken und Christen, Bischöfe und Pascha's nur zu oft gegenseitig
die Hand reichten.
Eine etwas regere Thätigkeit, als bei dem übrigen Theile der
Nation, herrschte bei den Handel treibenden Griechen; in einzel-
nen Städten des festen Landes und den größeren Inseln des Archi-
pelagos eine gewisse Gewerbsthatigkeit, die freilich von derRe-
*) Die Summe, welche der Patriarch zu zahlen hatte, betrug zuweilen bis
300,000 Ducaten; der geringste Bischofssitz kostete wiederum 10,000 Pia-
ster, und diese steigerten sich nach Maßgabe der Einträglichkeit oft bis
zu 120,000Piaster; ja, es war dieser Handel mit den geistlichen Würden
gewissermaßen das bedeutendste Einkommen des Patriarchen,
— 51 —
gierung selbst ebenso wenig begünstigt und befördert ward, als
der Landbau und die Pflege des Bodens überhaupt. Doch gelang-
ten die Griechen dadurch zu dem Besitze von Handelsverbindungen,
und freisinnige Ideen und der Sinn für wissenschaftliche Bildung
gingen daraus hervor. Griechische Kaufleute sendeten ihre Söhne
erst als Handelsagenten, bald aber auch, um zu ftudiren, nach Deutsch-
land, Frankreich und Italien. Hier lernten sie ihre Ahnen und
ihren alten Ruhm kennen und brachten das Verlangen zu ihrer
politischen Wiedergeburt zurück. Allmälig begann eine moralische
Revolution in den Gemüthern der Griechen sich zu entwickeln, die
natürlich auch zu ihrer politischen und geistigen Wiedergeburt fuh-
ren mußte. Aus diesen nationalen Elementen: Demogeronten,
Phanarioten, geistlichen und weltlichen Primaten, Klephthen und
handeltreibenden Griechen, bestand die griechische Nation vor dem
Beginne des Aufstandes im Jahre 1821. Sie waren zwar ein
durch die grausamste Bedrückung erniedrigtes Volk, hatten jedoch
in ihrem Charakter noch die Spuren edler Abkunft beibehalten
und bewahrten damit zugleich theilweise ihre Nalionalsitten, ihre
Gebrauche und die Ueberreste der wohlklingendsten aller Sprachen.
Gebieterische Nothwendigkeit zwang sie, sich gegen ihre tyrannischen
Beherrscher zu verstellen, und man beschuldigte sie daher des Lugs
und Trugs. Stolz, Hochmuth, Habsucht und Geiz konnten nur
mit Recht den reichen und vornehmen Griechen, besonders den
Phanarioten, vorgeworfen werden. Allein das sind die Laster
eines Freigelassenen, der stolz und kriechend zugleich ist, und diese
Ausgearteten wurden von ihrem Volke selbst verachtet. Die Masse
des Volks war roh, tapfer, maßig und für die geisterhebende Idee
der alten Freiheit noch immer empfanglich.
4*
52 —
Wruchfiücke aus der Geschichte Heb griechi-
schem Freiheitskampfes.
Vpsilanti's Feldzug in der Moldau und Walachei. —
Maßregeln der Pforte gegen den Aufstand der
Griechen.
Das Volk der Griechen aus dem Staube bev Knechtschaft,
in welcher es seit vier Jahrhunderten schmachtete, zu erheben und
eine politische Wiederherstellung Griechenlands zu bewirken, dazu
stiftete im letzten Jahrzehende des achtzehnten Jahrhunderts ein
Grieche aus Thessalien, Rhigas, eine Verbindung unter dem
Namen Hetaria (Verbrüderung). Indem er alle gleichgestimmte
Patrioten in diesen Bund aufnahm, beabsichtigte er einen Aufstand
durch ganz Griechenland gegen das Joch der Türken vorzuberei-
ten. Namentli'.^ suchte er zu solchem Zwecke auf die griechischen
Klephthen wirken, weil er deren Benutzung in dem Kampfe
für die politische Unabhängigkeit richtig zu würdigen wußte, und
besonders für sie dichtete er seine patriotischen Freiheitsgesange,
zum Thcil nach französischen Revolutions-Hymnen, die dann spa-
ter das ganze griechische Volk begeisterten. Doch sollte sein eigent-
Itcher Plan nicht zur Ausführung kommen, indem gerade am
Vorabende der dahin abzielenden Ereignisse das Einschreiten der
österreichischen Regierung zu Gunsten der Pforte die Ausführung
im Keime erstickte. Rhigas ward im Mai 1798 zu Wien gefangen
genommen und an die Türken ausgeliefert, die ihn nebst sieben
jungen und gebildeten Griechen, seinen Mitverschwornen, zu
Belgrad auf eine qualvolle Weise hinrichten ließen. Wiewohl
durch Rhigas Tod die ganze Unternehmung vernichtet ward, so
blieb doch, was er durch diese politische Hetaria bezweckt und ver-
mittelte nicht erfolglos für Griechenland; der Enthusiasmus und
ein vereintes Streben nach Freiheit war dadurch lebendig und
rege geworden.
Im Jahr 1814 ward zu Wien, wahrend des dort gehaltenen
Congrefses, eine neue Hetaria gestiftet, welche Anfangs unter dem
Namen der Philomusischen Gesellschaft allein die geistige Bil-
— 53 —
dung der griechischen Nation zu beabsichtigen erklärte, in der
That aber gleich Anfangs die politische Tendenz hatte, als ein
Bund zur Rettung Griechenlands zu wirken. Doch sollte sie die
Revolution selbst nur vorbereiten und einleiten, und daher nahm
sie unter anderm auch besonders der Beförderung des Volksunter-
richts und der Volkserziehung wahr. Neue Schulen wurden errich-
tet; junge Lehrer, auf Deutschlands Hochschulen und in Frankreich
gebildet, traten an die Spitze derselben, in welchen lernbegierige
Jünglinge und Manner, selbst Greise, sich versammelten. — Die eu-
ropaische Politik fand beim Entstehen dieses Bundes nichts gegen den-
selben zu erinnern. Seine Verfassung war einfach, man erkannte kein
Oberhaupt, sein Symbol war ein goldener Ring mit dem Bilde
zweier Nachtvogel. Eine Reihe glänzender Namen aller Nationen,
sogar aus der fürstlichen und diplomatischen Welt, waren Theilneh-
mer an dieser Verbindung, die, in allen türkischen Provinzen zer-
streut, zuletzt auf 8l)Mw Mitglieder zahlte. Jndeß fehlte es noch
für den Augenblick der Thatigkeit an einem bestimmten Plane, ebenso
wie an den nöthigen Mitteln und an der gehörigen Vorderes-
tung zum Aufstande. Man sah sich daher nach einem Oberhaupte
des Bundes, nach einem leitenden Anführer für die ganze Unter-
nehmung um, dem man das Weitere überlassen könnte. Die
Wahl siel, nachdem der im russischen Ministerium angestellte Graf
Kapodistrias, ein Grieche von den ionischen Inseln, sie abge-
lehnt hatte, auf den Fürsten Alexander Vpsilanti, dessen be-
rühmte Vorfahren lange Zeit als Hospodare der Moldau und
Walachei unter türkischer Oberherrschaft regierten, dessen Urgroß-
vater, Großvater und Oheim den Tod durch die seidene Schnur
gefunden, und dessen Vater nur durch die Flucht nach Rußland
gleichem Schicksale entronnen war. Er selbst stand seit dem Jahre
1798 in russischen Diensten und war bis zu dem Range eines
Generalmajors emporgestiegen. Vpsilanti nahm die Wahl an und,
wie er vorgab, nur mit Zustimmung des russischen Kaisers, ver-
ließ Anfangs Marz 1821 mit mehreren Offizieren griechischer Her-
fünft sein neues Vaterland, um in der Moldau als Befreier und
Hersteller der griechischen Nation aufzutreten. Durch einen unvor-
hergesehenen Umstand war der Ausbruch des Aufstandes falbst,
freilich viel zu früh, schon herbeigeführt worden.
Ende Januars 1821 war zu Bucharest der Hospodar der
Walachei, Alexander Suzzo, gestorben, der durch seinen Geiz
— 54 -
und feine Bedrückungen die Walachen in das äußerste Elend ge-
bracht und die allgemeine Unzufriedenheit bis auf's Höchste gestei-
gert hatte. Ein Bojar der geringeren Klasse, Theodor Wla-
dimiresko, der mehrere russische Orden trug, weil er als Ossi-
zier im russischen Heere sich ausgezeichnet, benutzte die augenblick-
liche Verwirrung, die diesem Todesfalle folgte, um die Fahne der
Empörung zu erheben, und forderte in einer Proclamation das
walachifche Volk auf, sich ihm anzuschließen, um die alten Vor-
rechte des Vaterlandes wieder zu erlangen. Der Divan in Bu-
charest, weit entfernt, Abstellung der gegründeten Beschwerden zu
versprechen und dadurch das Volk zu beruhigen, sendete Truppen
aus, um Wladimiresko's zusammengelaufene Haufen auseinander
zu treiben und sich des Empörers gegen die legitime Herrschaft zu
bemächtigen. Allein die Truppen des Divan gingen zu Theodors
Panier über. — Die Hetaristen der Walachei hielten diese ganz
fremdartige Bewegung für das erwartete Zeichen des Aufstandes
und glaubten, diesen Anlaß benutzen zu müssen, ihren Lehren Aus-
sührung zu geben. So ward Vpsilanti wider seinen Willen ge-
zwnngen, mit einigen hundert Mann, die er in Bessarabien ge-
sammelt, den Pruth, die Grenze zwischen Rußland und der
Moldau, zu überschreiten. Er nannte sich den Repräsentanten
Griechenlands und verhieß den Beistand einer großen Macht, frei-
lich ohne directe Autorisation, aber von dem Benehmen des russi-
schen Cabinets gegen ihn und sein Volk sich hinreichend hierzu
ermächtigt glaubend.
Iassi, die Hauptstadt der Moldau, ward schnell erreicht.
Alle Türken, die man daselbst antraf, dreißig an der Zahl, wur-
den uingebracht. Der Hospodar der Moldau, Fürst Michael
Suzzo, erklärte sich sogleich offen für Vpsilanti; die Prinzen
Cantacuzenos, Nikolans Suzzo nebst allen im Dienste des
Fürsten befindlichen Arnauten, vereinigten sich gleichfalls mit ihm.
Er ließ Jeden, der unter feine Fahnen trat, vor dem Bilde des
Erlösers einen Eid schwören, daß er fest und treu die heilige Sache
des Vaterlandes verfechten, die Waffen nicht eher, als nach Be-
freiung desselben, niederlegen und selbst seines leiblichen Bruders
nicht schonen wolle, wenn er in ihm einen Verrather am Vater-
lande erkenne. Am 17. und 18. März that er in zwei Procla-
»Nationen — eine an die Bewohner der Moldau, die andere an alle
Griechen gerichtet — den Zweck seines Erscheinens kund. In der
— 55 —
letzteren hieß es: „Auf! Auf! Für den Glauben und das Vater-
terland! Die Stunde ist gekommen, Griechen! Das Vattrland
ruft uns! Die Servier und Sulioten sind bereit; ganz
Epirus erwartet uns bewaffnet und ist für die Freiheit begei-
stert. Welches Griechen Herz könnte auch bei dem Rufe des Va-
terlandes gleichgültig und unthatig bleiben ?c. " Diesen Procla-
mationen folgte ein Aufruf an Auslander, der sie aufforderte, zum
Kampfe gegen die Türken nach Griechenland zu kommen. Unter
den herbeiströmenden Griechen fehlt es nicht an Begeisterung für
das Unternehmen, und ebensowenig bei andern an Aufopferungen
mancher Art; allein es fehlte theils von oben an großer Charakter-
starke, militärischem Scharfblicke, Energie und dem Geiste, aus We-
nigem viel zu schaffen; daran fehlte es Vpsilanti, fehlte es feinem
Unterfeldherrn Cantacuzeno und allen Hauptern der Jnfurrection;
von unten fehlte es an der notwendigen Subordination und dem
Zutrauen in die Führer des Ganzen überhaupt, durchgängig aber
an dem rechten Sinne für das gewagte Unternehmen. Der Kern
der theils mitgebrachten, theils in der Moldau gewonnenen Be-
freiungsarmee war die sogenannte heilige Schaar, die aus
griechischen Jünglingen und Hetaristen bestand, aber nicht mehr
als einige Hundert Mann ausmachte. Mit dieser allein konnte
Vpsilanti wenig ausrichten. Außerdem zahlte sein Heer Albanesen,
Servier, Bulgaren iz. k,, und schon in dieser Hinsicht entwickelte
sich der Aufstand in der Moldau durchaus nicht auf eine natio-
nelle Weise. Der Keim des Mißlingens aller Plane Vpsilanti's
lag jedoch schon in dem festgewurzelten Hasse der Bojaren und des
Volks gegen jene reichen griechischen Fürstenfamilien, welche ihnen
die Pforte als Regenten aufgedrungen, und die ihre Herrschaften
nie zu etwas anderem, als zur Ausplünderung und zur Befriedigung
ihrer Habgier benutzt hatten. — Mit noch nicht tausend Mann,
die nothdürftig bewaffnet worden waren, verließ Bpsilanti zu An-
fange des April die Moldau und begab sich in die Walachei.
In einem Aufrufe, den er hier erließ, verhieß er den Walachen, als
ein Bote ihrer politischen Wiedergeburt und Glückseligkeit zu erscheinen.
Allein die Bojaren und Neichen hatten keinen Sinn für diese Frei-
heit. Die Hauptstadt befand sich schon in den Händen Wladi-
miresko's und seiner auf mehrere Tausend angewachsenen Schaar.
Alle Großen hatten schon bei seinem Vorrücken sich mit ihren Fa-
Milien und Schätzen nach Siebenbürgen geflüchtet; viele Hauser
— 56 —
standen ganz leer und waren verschlossen; die Stadt erschien also
fast wie eine verödete Ruine, und ein Ausruf PpManti's, daß di^
Entflohenen zurückkehren möchten, fand wenig Gehör. — Inzwi-
schen hatte auch Wladimiresko ebenfalls eine Proclamation erlas-
sen, worin aber keineswegs von der allgemeinen griechischen Frei-
heit, sondern nur von der von den Türken zu erzwingenden Ab-
stellung der Mißbrauche in der Regierung der Walachei die Rede
war. Bei dieser Einseitigkeit der Absichten wollte Theodor auch
weder Vpsilanti's weit umfassende Plane, noch dessen Autorität
als oberster Feldherr anerkennen. Dennoch vereinigten sich beide
Abtheilungen zu gemeinschaftlichen Waffenthaten, jede unter ihrem
Anführer.
Die Verbindung Vpsilanti's mit den südlichen Griechen blieb
indeß durch die Servier unterbrochen, auf deren Ausstand man
vergeblich gerechnet, nur auf ein gemeinschaftliches Streben, ohne
gegenseitigen Beistand beschrankt; und zwei Proklamationen des
Kaisers Alexander, welche der russische Consul zu Jassi ausgehen
ließ, und in welchen Vpsilanti's Unternehmen höchlich gemißbilligt,
der Fürst zur Verantwortung nach Rußland gefordert, und das
Volk ermahnt ward, unter seine rechtmäßige Regierung treu und
gehorsam zurückzukehren, zerstreute bald die Tauschung, als
habe man von außen her Hülfe zu erwarten. So sah sich denn
Vpsilanti, als die Türken unter vier Pascha's mit 30,1)00 Mann
nach der Walachei und Moldau anrückten, auf eine Defenfion be-
schrankt, für die seine Mittel auf keine Weise berechnet waren. In
dieser Lage hatte er mit Umsicht die feste Stellung von Tergo-
witz, mitten in der Walachei, gewählt, wahrend Wladimiresko
und der Chef der Arnauten, Komi na r Sowa, mit ihrem meh-
rere Tausend starken Heere, Bucharest und die Armee Vpsilanti's
vor dem Andringen der Osmanen decken sollten. Diese waren
indessen über die Donau gegangen und rückten von Silistria
und Prail heran. Sogleich entspann sich eine Verratherei. Wla-
dimiresko zog sich mit seinen Truppen nach Pitejcht zurück und
unterhandelte in geheimem Briefwechsel mit den türkischen Anfüh-
rern, während in der Armee Vpsilanti's noch die größte Sicherheit
und Unthatigkeit herrschte. Glücklicherweise ward der Verrat!)
durch die Entschlossenheit eines thessalischen Häuptlings, Geor-
gekiö, der Wlademiresko von seinen eigenen Kriegern verhaften
ließ, abgewendet. Der Verrather ward gefesselt nach dem Haupt-
quartiere Upsilanti's gebracht, wo er auf dessen Befehl enthauptet
wurde. Hiermit war wohl der Hauptverrather aus dem Wege
geschafft, doch ließ sich ebenso wenig auf irgend einen der Arnau-
tenführer bauen, deren Treulosigkeit Vpsilanti vielmehr bei jedem
Unternehmen fürchten mußte.
Bald ereignete sich eine graßliche Scene, welche unleugbar
durch VeKath herbeigeführt ward. Die Stadt Galacz, welche
noch von 1500 Griechen besetzt war, ward am 12. Mai von 4000
Türken überfallen. Die Griechen hatten sich bei Annäherung der-
selben in den Straßen eiligst verschanzt und wehrten sich daselbst
init dem Muthe der Verzweiflung bis zum 13. Mai Abends. Als
sie nun durch die Uebermacht der Angreifenden bis auf einige
Hundert Mann zusammengeschmolzen waren, sammelten sie sich
unter ihrem tapferen Anführer in dichte Massen, brachen durch die
schlechtgeordneten Haufen ihrer Feinde und gelangten so zu dem
Corps, welches unter Cantacuzeno an der Donau stand. Sobald
die Türken sich im ungestörten Besitze der Stadt sahen, ermordeten sie
alle Einwohner, die ihrer Wuth nicht früh genug entrinnen konn-
ten, ohne Unterschied, ob Moldauer, Griechen oder Fremde. Dann
überschwemmten sie das Land nach allen Richtungen und begingen
überall Greuel der scheußlichsten Art.
Auf die Nachricht von diesen entsetzlichen Vorgangen wich
Cantacuzeno ohne Zögern nach dem Pruth zurück, wiewohl er
noch 3Q00 Mann beisammen hatte. Die Türken rückten also,
ohne kraftigen Widerstand zu finden, in Jassi ein, wo die Mord-
seenen von Galacz sich erneuerten. — Die Entscheidung des gan-
zen Unternehmens Vpsilanti's rückte heran. Der Fürst hatte sich
beim 'Andringen der Osmanen mit dem unmittelbar unter seinen
Befehlen stehenden Hauptcorps, das sich auf 5000 Mann belau-
fen mochte, nach der kleinen Walachei zurückgezogen. Vor der
Fronte seines Heeres ließ er die Proklamationen des russischen
Consuls in Jassi verlesen und hielt dabei eine Anrede, worin er
Jeden, der nicht mit ihm sein wolle, aufforderte, die griechischen
Fahnen zu verlassen. Keiner entfernte sich; Alle schienen vom
höchsten Muthe begeistert. Am 18. Juni hatten sich die Türken
seiner festen Stellung bei Nimnik (ein den Abhängen der Kar-
paten) bis auf einige Meilen genähert und standen bei dem
Kloster Drag och an. Gegen den Rath des bedächtigen Georgi-
kas ward der Angriff von Seiten der Griechen beschlossen, und
- 58 —
die Armee brach gegen Dragochan auf. Den Vortrab bildete
Georgikas mit 1000 Mann. Kaum sah sich derselbe jedoch von
den Türken mit Uebermacht angegriffen, als sogleich die Bulgaren
und die früher unter Wladimiresko gestandenen Panduren die
Flucht ergriffen. Georgikas ward also gezwungen, sich mit seinem
auf wenige Hunderte zusammengeschmolzenen Haufen auf die etwa
800 Mann starke heilige Schaar zurückzuziehen. Die siegen-
den Türken folgten den Weichenden mit wilder Wuth, und im
Augenblicke des ersten furchtbaren Angriffes auf die griechischeHaupt-
armee gab die feige Flucht Carowias, des Anführers der Ar-
nauten (der Reiterei), das Zeichen zu einer allgemeinen Auflösung.
Umsonst strebte Vpsilanti, die Fliehenden an der Oltai zu sammeln;
nur die heilige Schaar, durch eine kurze, kraftige Rede eines Nes-
fen des ermordeten Patriarchen Gregorus (s. unten) zur hoch-
sten Begeisterung entflammt, leistete Widerstand. Sie rückten in
geschlossenen Gliedern gegen den Feind und fielen Mann für
Mann im heiligen Kampfe. Allein ihre heldenmüthige Aufopfe-
rung war vergeblich; Vpsilanti mußte nebst denen, die seine Sache
zu der ihrigen gemacht hatten, dieselbe ganzlich aufgeben, theils
durch Benrath, theils durch die Schlechtigkeit derer, die sich zu
ihm gesellt hatten. Nachdem er durch eine, seine treulosen Was-
fengefahrten der Verachtung aller Redlichen preisgebende, Procla-
matton Abschied vom Kriegsschauplätze genommen, *) eilte er mit
*) Die Proklamation lautete: „Soldaten! nein, diesen ehrenwerthen,
diesen heiligen Namen will ich nicht durch Anwendung auf Leute, wie Ihr,
beflecken — Feiger, unmännlicher Haufe! Euer Verrath, Eure Falschheit
zwingen mich, Euch zu verlassen. In Zukunft ist zwischen mir und
Euch jedes Band zerrissen. Aber tief in meiner Seele werde ich die
Schande tragen, Euer Anführer gewesen zu sein. Mit Füßen habt Ihr
Eure Eidschwüre getreten. Ihr habt Gott und das Vaterland verra-
then. Ihr habt mich in dem Augenblicke verlassen, wo ich hoffte zu sie-
gen, oder rühmlich mit Euch zu sterben. Wir sind für alle Zeiten geschie-
den. Macht Euch auf zu den Türken, den allein würdigen Freunden
Eurer Gesinnungen. Schleicht hervor aus dem Dickicht, steigt herab
von den Bergen, den Freistätten Eurer Feigheit, und eilet zu ihnen, küsset
ihre Hände, von denen noch das heilige Blut der unmenschlich geschlach-
teten Häupter unserer Kirche, der Patriarchen, der Erzpriester und an-
derer schuldlosen Mitbrüder ohne Zahl, herabträufelt! Ja, eilet und
kaufet nur Knechtschaft mit Eurem Leben, mit der Ehre Eurer Frauen
und Eurer Kinder! Ihr aber, Schatten der ächten Hellenen aus der
— 59 —
zwei seiner Brüder und mit einigen Freunden der Grenze zu, um
durch die österreichischen Staaten den Peloponnes zu erreichen,
wohin bereits sein Bruder DemetrioS in seinem Namen gegangen
war. Als er aber in Siebenbürgen angekommen, ward er
von den österreichischen Behörden verhaftet und als Staatsgesan-
gener nach der Festung Munkacs in Ungarn abgeführt.
Bis in's Jahr 1824 ward er daselbst festgehalten, von wo
man ihn alsdann nach Theresienstadt in Böhmen brachte.
Als im Herbste 1827 wegen seiner sechsjährigen Kerkerhaft seine
Gesundheit sehr angegriffen war, bewirkte der russische Kaiser Ni-
colaus seine Freilassung. Aber kaum war er aus seinem Ker-
ker getreten, als ihn am 30. Januar 1828 zu Wien eine Krank-
heit hinwegraffte. Er stand in seinem sechsunddreißigsten Lebens-
jähre. —
Cantacuzeno harte kein besseres Loos. Die unter ihm com-
mandirenden Arnautenanfübrer, Caminar Sawa und Andere,
gingen nämlich ebenfalls mit tausend wohlbewaffneten Arnauten
zu den Türken über, welche ihnen Gnade und Verzeihung verhei-
ßen hatten. Darauf ward Cantacuzeno am 25. Juni bei Ninka
von den Türken mit überlegener Kraft angegriffen, und sein gan-
zes Corps auseinander gesprengt. Er selbst rettete sich auf's russische
Gebiet und ward nebst Allen, die ihm gefolgt, zu Sculeni un-
ter scharfe Aufsicht gestellt, wahrend jene Verrather den Lohn ihrer
Treulosigkeit von den treulosen Türken selbst empfingen. Man
lockte sie nach Bucharest, welches der Kiaja-Bey mit 3000
Mann besetzt hatte, und Sawa siel, als er zum türkischen Ober-
befehlshaber in's Zimmer trat, von zwanzig Pistolenkugeln durch-
bohrt. Diese scheußliche Mordscene, wozu ein großherrlicher Fir-
man den Kiaja-Bey bevollmächtigt hatte, war zugleich das Signal
zur Niedermetzelung aller in der Stadt befindlichen Arnauten. Doch
wehrten sich diese wüthend und verteidigten sich in Häusern, Kir-
chen und Klöstern gegen die blutgierigen Türken so anhaltend,
daß 1000 derselben zugleich ihren Tod mit den 800 niederge-
metzelten Arnauten fanden, —
heilsgen Schaar, die Ihr, verrathen, als Opfer für die Befreiung des
Vaterlandes gefallen seid, empfanget durch mich den Dank Eures Volkes!
Noch wenige Zeit, und Denkmaler werden Eure Namen der Unsterblich-
keit weihen:e. :c."
— 60 —
Nach der Schlacht bei Dragochan hatte Georgekis die Trüm-
mer der Armee gesammelt und den Kampf noch eine Weile fort-
gesetzt, wenn gleich ohne Erfolg in der Hauptsache und gleichsam
nur in der Absicht, nicht mit Schimpf, sondern mit Ruhm zu
enden. Er warf sich in die Moldau und vertheidigte sich hier, mit
wenigen Getreuen, fünf Monate lang wider die zahlreichen Os-
manen, immer von ihnen verfolgt. Endlich, nachdem er ihnen
Taufende getödtet, ward er von dem Bischof von Romano ver-
rathen, mit fünfhundert der Seinigen in das feste Kloster Seko
bei Niamts gelockt und endete, nachdem er sich hier noch fünf
Tage ohne Lebensmittel vertheidigt, indem er sich mit acht seiner
Getreuen in einem Thurms, seiner letzten Zuflucht, in die Lust
sprengte. Einen ahnlichen ruhmvollen Ausgang fand ein anderer
Anführer, der Hetarist Athanasios von Agrapha, Dieser zog
sich mit 450 Griechen, von einem starken türkischen Corps verfolgt,
bis an denPruth zurück, vertheidigte sich bei Wardein drei Tage
lang heldenmüthig und durchschwamm, als seine Munition er-
schöpft war, mit der Halste der Seinigen denPruth, worauf ihn
die russischen Vorposten in Empfang nahmen. Somit hatte die
Jnsurrection in der Moldau und Walachei für dieses Mal ihr
Ende erreicht; die Sache selbst, der dieselbe dienen sollte, konnte
zum Glück durch den schlechten Ausgang nicht mehr unterdrückt
werden, da Vpsilanti's Bewegung in der Moldau den Aufstand
in Griechenland selbst schon zur Entscheidung gebracht hatte.
Die Unbesonnenheit des phanariotischen Fürsten Monist,
der im Marz 1821 einen von Vpsilanti an ihn gerichteten Brief
aus Furcht dem Dtvan mittheilte, brachte die Türken so in Wuth,
daß sich die Schreckensscenen der ersten Christenverfolgung erneuer-
ten. Der Brief ward gedruckt, in allen Moscheen verlesen, und
der Pöbel der Hauptstadt auf jede Weise gegen die aufrührerischen
Rajah's entflammt. Der Patriarch in Constantinopel, Grego-
rius, erhielt Befehl, einen geistlichen Bannbrief auszufertigen,
den Fluch über Michael Suzzo, den rebellischen Hospodar der
Moldau, über Alexander Ypsilanti und alle diejenigen aus-
zusprechen, welche an dem Aufstande gegen die Pforte Theil ge-
nommen. Sowie die Sachen standen, konnte die hohe grtechi-
sche Geistlichkeit sich der Erfüllung dieses Befehls nicht entziehen.
Die Aufrührer wurden daher als Feinde der Ruhe und Ordnung
verflucht, und der Bannbrief ward, außer von dem Patriarchen,
— 61 —
von den Metropoliten von Jerusalem, Cesarea, Nikome-
dien, Adrianopel und Angora unterschrieben. Zugleich er-
klarte der Sultan, der Jslamismus sey bedroht; deinzufolge wur-
den alle Muselmanner zu den Waffen gerufen. Dies war nun
das Signal zu den Ausbrüchen des wildesten Religionsfanatismus.
Jünglinge, Greise und Manner bewaffneten sich. Zur Mordlust
gesellte sich Plünderungssucht und Raubgier. Morusi ward das
erste Opfer der also erregten Volkswuth; er ward als Hochverra-
ther enthauptet. Mehrere der vornehmsten phanariotischen Familien
theilten sein Loos; ein Schauspiel, welches die wilde Wuth des
türkischen Pöbels erst recht entflammte. Die Straßen der Haupt-
stadt wurden zu einem Schlachtfelde für die Griechen. Da ver-
fügte sich der vierundsiebzigjahrige Patriarch zum Großvezier, ihn
zu fragen, wenn es des Mordens genug seyn werde. Die Ant-
wort bewies ihm seine eigene Gefahr. Unterdessen erschien das
Osterfest. Pöbel und Janitscharen belagerten am ersten Ostertage
(22. April) die Hauptkirche der Griechen; der russische Gesandte
fehlte. Eben als Gregorius das Hochamt beendigt, und nach ge-
gebenem Bruderkusse dem Himmel dafür dankte, daß er dieses
Fest noch unter den Seinen erlebt habe, stürmte der Pöbel die
Psorten deS Tempels. Der greise Priester ward vom Hochaltare
gerissen und nebst sechs Bischöfen an dem Hauptthore seiner Kir-
che aufgeknüpft. Drei Tage lang floß das Blut der Christen in
der Hauptstadt; der Phanar ward verwüstet; Europaer in Men-
ge, Russen und Spanier waren unter den 30MV Leichen dieser
Tage. Die Gesandten der christlichen Machte begnügten sich mit
fruchtlosen Protestationen, ja, einige verschlossen ihre Hotels den
Flüchtigen. Zu Anfange Mai's gab der Sultan Befehl, fammtli-
che in Constantinopel befindliche christliche Kirchen niederzureißen
und der fanatische Pöbel befolgte gern dieses Gebot. Sechszehn
Gotteshauser wurden, nachdem alle Kirchenschatze und heiligen Ge-
faße geraubt, der Erde gleich gemacht; wobei es auch an Mord-
greueln nicht fehlte.
Von hier aus verbreitete sich das Morden nach der Küste
von Asien hinüber; in allen großen Städten des Reiches floß
das Blut der Christen in Strömen. In Adrianopel zog der
Türkenpöbel den vormaligen Patriarchen von Constantinopel, Cy-
riklas, aus seinem stillen Asyle, unfern der Stadt, und machte
seinem Leben durch ben Strang ein Ende; welches schreckliche Loos
— 62 —
mehrere Bischöfe und die reichsten Einwohner Adrianopels theilen
mußten. In Salonichi sah man dieselben Abscheulichkeiten ver-
üben, lieber hundert griechische Mädchen, worunter zwei Prin-
zessinnen Morusi, wurden daselbst dem wilden Pöbel (eine jede
für einen Piaster) preisgegeben und erlagen fast alle den erdulde«
deten Mißhandlungen. In Smyrna durchstreiften Janitscharen
Tag und Nacht die Stadt und hieben oder schössen Jeden nieder,
der ihnen begegnete. Auch drangen sie mit Gewalt in die Hau-
ser und plünderten und mordeten, ohne auf die Befehle des Stadt-
commandanten zu achten, der auf dringendes Verlangen des eng-
tischen Gesandten in Constantinopel, Lord Strangford, gemes-
senen Befehl erhalten, mit Gewalt Ruhe und Ordnung wieder-
herzustellen. Auch der französische Consul in Smyrna, David,
bemühte sich, den Greueln Einhalt zu thun; allein als erst die
Nachricht von der Verbreitung der Jnsurrection auch über Morea
einlief, war nichts mehr vermögend, der wilden Rachgier des nach
Blut dürstenden Pöbels Schranken zu setzen.
Ausbruch und Fortgang der Jnsurrection im alten
Hellas. — Seeschlachten bei Mitylene und
S a m o s.
In dem eigentlichen Griechenland war der langst vorbereitete
Aufstand im April 1821 ausgebrochen. Die Maßregeln der Tür-
ken, demselben zuvorzukommen, indem sie hier Entwaffnung,
dort sogar Niedermetzelung der griechischen Bevölkerung anordneten,
hatten den Ausbruch der Revolution nicht verhindert; sie beschleunig-
ten ihn vielmehr, wenn er wirklich für diese Zeit von den Haup-
tern der Hetaria noch nicht bestimmt war. Im alten Pelopon-
nes (Morea) erfolgte er in den ersten Tagen des April. Die
tapferen Häuptlinge der Mainoten hatten die Freiheitsfahne er-
hoben, und unter dem Jubelgeschrei: „Es lebe das Vaterland!
Freiheit oder Tod!" strömten von allen Seiten der Halbinsel die
bis zur Verzweiflung gereizten Hellenenschaaren zu dem erhobenen
Freiheitspanier. Der Erzbischof von Patras, Ger man os,
richtete das heilige Kreuz auf und erließ einen neuen Aufruf, worin
— 63 —
er sagte: „ Auf, Griechen! Heldensöhne der Heldenväter! Jeder
umgürte sich mit seinem Schwerte; denn besser ist es, mit den
Waffen in der Hand zu fallen, als das Elend des Vaterlandes
zn sehen und die Schändung des Hciligthums! Auf! zerreißt
eure Ketten und zerbrecht das Joch, welches man euch auf-
gelegt; denn wir sind Gottes Erben in Christo! Morgen zie-
hen wir, mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes an der Spitze,
nach Patras! Soldaten des heiligen Kreuzes! es ist Gottes
Sache selbst, die ihr zu vertheidigen berufen seyd! Ich erlasse
euch die Fasten, damit ihr Muth und Kräfte gewinnt zum
heiligen Kampfe!" — Die mannhaften Gebirgsbewohner wa-
ren die Ersten, welche dem Rufe folgten, und mit der reli-
giösen Begeisterung verknüpfte sich die politische für Griechen-
lands Freiheit, Ehre und alten Ruhm in den Aufrufen der Füh-
rer des Volkes. Diese waren: Kolokotronos, Häuptling der
Klephthen, Petros Mauromechales, Oberfeldherr der
Spartaner (Mainoten), Dyrvanutis vom Parnaß, An-
druzzo und dessen Sohn Odysseus aus Livadien u. A.
An die europaischen Höfe erging ein Manifest: „Mit gerechtem
Begehr ruft unsere Mutter Hellas, von welcher auch ihr seyd
erleuchtet worden, um schleunige, menschenfreundliche Hülfe auf
an Geld, an Waffen, an gutem Rathe, dessen theilhaftig zu wer-
den wir voll guter Hoffnung sind. Wir aber wollen euch ver-
pflichtet sein und zur rechten Zeit durch die That unsere Dank-
barkeit für euern Beistand darthun," — Gar bald verbreitete
sich der Aufstand auch über die nördlichen Provinzen, wie Attika,
Aetolien, Akarnanien, und zugleich bewaffneten sich die Agra-
phen und die mittagigen Thessalier. Sie vereinigten sich in
Paradisos und leisteten einander feierliche Eide, das Schwert
nicht eher niederzulegen, als bis die Freiheit errungen sey. — In
zwei Heerhaufen zogen die Hellenen über den Peloponnes, der eine
gegen den korinthischen Meerbusen, der andere gegen Mi-
sitra; und das erste Treffen mit den Türken bei Anapoli siel
günstig für die griechischen Waffen aus. Ein zweites bei Patras
nicht minder, obgleich die griechischen Schaaren, aus Mangel an
Geschütz, die Citadelle, wohin die geschlagenen Türken sich zurück-
zogen, nicht zu erobern vermochten. — Ein glücklicher Umstand
erleichterte den Anfang des hellenischen Freiheitskampfes. Der Pa-
scha von Morea, Churschid Achmed, einer der wildesten Bar-
— 64 —
baren, war im vorigen Jahre vom Sultan befehligt worden, den
Rebellen Ali Pascha von Ganina mit ganzer Macht zu bekam-
pfen (f. hinten). Er verließ also den Peloponnes mit seinem
12,VW Mann starken Heere und zog vor Janina, wodurch es
den Griechen um Vieles leichter ward, die Fahnen des Aufruhrs
zu erheben.
Inzwischen hatte sich die Jnsurrection auch über die Inseln
des Archipelagus verbreitet. Die Abgesandten Npsilanti's hat-
ten die größeren derselben, Hydra, Jpsara und Spezzia für
ihre Ideen zuganglich gesunden, doch ward die Ausführung des
Aufstandes immer noch verschoben. Als man aber um die Mitte
Aprils in Hydra erfuhr, daß die griechischen Matrosen am Bord
der türkischen Flotte im Hafen von Prevesa ermordet worden
seyen, war man hier und in Jpsara und Spezzia zum bewaffne-
ten Aufstande, zur Rache für die Frevel, sogleich bereit. In we-
nigen Tagen waren, wahrend Alt und Jung mit nie gesehenem
Eifer Hand anlegte, die Handelsflotten der drei Inseln in eine
Kriegsflotte verwandelt, und am 2s. April lag eine Escadre von
dreißig größeren Briggs und unzahligen kleineren Fahrzeugen segel-
fertig auf der Rhede von Hydra. Vorzüglich die Inseln hatte
eine begeisternde Bewegung ergriffen. Bobolina von Spezzia
— die nachmals so berühmte Heldin Griechenlands — bemannte
auf ihre Kosten drei Schiffe, die sie selbst befehligte. — Auch die klei-
neren Inseln rüsteten Schiffe aus, die sich den übrigen anschlössen,
und so war gegen Mitte Mai's die Flotte der Jnselgriechen an
hundert Segel stark. Sie standen unter Leitung einer gemein-
schaftlichen Admiralität, und Jakob Tombazis war zum allge-
meinen Admiral (Navarchen) derselben ernannt. Sie ward in vier
beinah gleich starke Divisionen getheilt, deren erste ihre Station
vor den Dardanellen, die zweite in den Cycladen hatte;
die dritte beschirmte die drei meerbeherrschenden Inseln;
die vierte endlich hielt sich in den ionischen Gewässern und beob-
achtete die türkische Flotte in den Hasen von Aetolien und Epi-
rus, wahrend kleinere Schiffsabtheilungen die Verbindung un-
terhielten. — Unterdessen, und ehe man den Kapudan-Pa-
scha (Großadmiral der türkischen Flotte) im Archipelagus erwar-
ten durste, beschloß die Admiralität der Union, die Festungen
an der Küste Morea's durch ihre Flotte wo möglich zur Ueber-
gäbe zu bewegen. Die schwachen Besatzungen von Philatra,
— 65 —
Gergagliana und Arcadia und andere wurden zur Capitu-
lation gezwungen. Doch keine der größeren hatte sich ergeben, als
die Flotte Anfangs Juni vor Patras eintraf, diese Festung zu
blockiren.
Auf dem Feftlande wurden die Türken nach harten Kämpfen
überall vom flachen Lande vertrieben und in die festen Platze ge-
worfen. Am hartnackigsten war der Kampf im Epirus. Chur-
fchid Achmed gab die Belagerung von Janina auf und rückt
nach den Passen von Mezzovo, wo man ihn jedoch so übel em-
pfing , daß sein Heer fast ganz gesprengt und zur Flucht nach
Bosnien hin gezwungen ward. Nun suchten die Hellenen im
Innern des Landes die festen Punkte zu gewinnen und theilten
daher ihre Streitkräfte in fünf Heerhaufen, welche über Thessa-
lien hinaus den Aufstand auch nach Macedonien und Thra-
cien verbreiten sollten. Im Peloponnes hielten etwa 15,000
Mann Koron, Patras und Napoli blockirt. Die Uebrigen
hatten Tripolizza, die Hauptstadt Morea's bercnnt, wo die Tür-
ken alle griechischen Einwohner niedergemetzelt, und weswegen die
Hellenen geschworen hatten, an ihnen das Recht der Vergeltung
auszuüben. In jenen Gegenden war Petros Mauromechales,
der Mainottenhauptling, der vornehmste Führer, wie denn auch unter
seinen Fahnen dietapfersten und bestbewaffneten Kriegerfochten. Er
war es, der in Kalamata die erste politische Versammlung, die Ge-
rusia (Senat), auf dem Festlande von Griechenland constituirte. Ein
zweites Hellenencorps hatte sich aus den wildesten und erbittertsten
Feinden der Türken in Aetoli en und Akarnanien gebildet, wo es
die von den Osmanen besetzten Vesten, besonders Lepanto, einschloß,
wahrend die Hauptpasse zwischen Tepelien und Klissura von
den Sulioten besetzt wurden. — Die Mönche vom Berge
Athos und die reichen Bischöfe lieferten Gewehre, Munition uud
Kanonen zu dem heiligen Kriege. — Freilich waren alle jene
griechischen Heerhaufen keine auf europaische Art gebildete Heer-
massen. Zu einem regelmäßigen Kampfe fehlte es ihnen fast an
Allem, und namentlich an einer gehörigen Leitung. Es fehlte
ihnen europäische Taktik und Kriegsübung, und vor Allem an kriegs-
erfahrenen Ofst'cieren. Der Krieg bestand in: Anfange fast nur
aus Hin- und Herziehen, aus Scharmutziren und Plänkeln, aus
Ueberfällen und dergleichen mehr, nach Art der Guerillas; Alles
hatte gleichsam einen antiken Character und erinnerte an die Kriege
N. G. IV. 5
— 66 -
längst vergangener Zeiten, in demder Einzelne, oft freilich zum Nach-
theile Aller, Alles galt und schroff hervortrat; im Uebrigen mußten die
undisciplinirten Griechen nothwendig erst den Krieg im Kriege
selbst lernen und sich ihre Waffen vom Feinde erbeuten. Das
Schicksal Griechenlands mußte jedoch mehr durch den See-, als
durch den Landkrieg entschieden werden, und die tteberlegenheit der
griechischen Marine zeigte sich auf allen Punkten, wo sie mit der
türkischen zusammentraf, da diese ihre besten Matrosen, die grie-
chischen, verloren hatte.
In den ersten Tagen des Juni verkündigten Schnellsegler
der vor Patras liegenden griechischen Flotte das nahe Erscheinen
der türkischen Flotte außerhalb der Dardanellen und die Gefahr
Jpsara's, der äußersten der verbündeten Inseln. Tombazis sen-
dete Hülfe voraus. Im stolzen Gefühle feiner Uebermacht segelte
der Capudan- Pascha mit fünf Linienschiffen, drei Fregatten und
fünf Briggs aus den Dardanellen gegen die bei Tenedos statio-
nirte griechische Division» Diese zog sich bis in den Gols von
Adramiti. Die Türken verfolgten sie hitzig; sobald sie aber das
Cap Baba umsegelt und in die Meerenge zwischen Troas und
der lesbischen Küste bei Mitylene gelangt waren, sahen sie sich
am 10. Juni plötzlich von vierzig griechischen Schiffen angegriffen.
Der Kampf war wüthend von beiden Seiten; allein die Griechen
hatten den großen Vortheil besserer Manövrirkunst. Sie steckten
mittelst einiger Brander eins der türkischen Linienschiffe in Brand,
enterten in der allgemeinen Verwirrung die andern und erfochten
einen vollständigen Sieg. Ein türkisches Schiff von vierundzwan-
zig Kanonen und neunhundert Mann Besatzung war den Griechen
in die Hände gefallen, die übrigen waren verbrannt. Nur der Capu-
dan-Pascha mit seinem Dreidecker und wenigen kleinen Fahrzeu-
gen entrann der mörderischen Vernichtung durch eilige Flucht nach
den Dardanellen, — Doch schnell verstärkt erschien die türkische
Flotte bereits am 12. Juli wieder außerhalb der Dardanellen und
war vier Linienschiffe, fünf Fregatten, vier Corvetten und dreißig
kleinere Kriegsfahrzeuge stark. Sie steuerte diesmal nach Scala-
nuova, wo sie viele asiatische Truppen an Bord nahm und mit
denselben vor Sa mos erschien. Der erste Angriff ward von den
heldenmüthigen Samiern siegreich zurückgeschlagen. Mittlerweile
erschien Tombazis mit drei Abtheilungen der griechischen Flotte,
jede etwa dreißig Segel stark. Sie stellten sich in einer Gegend
— 67 —
an der Küste auf, die wegen der kleinen Inseln und Felsen für
ihre kleineren Schiffe sehr vortheilhaft war. Die Türken machten
den Angriff (24. Juli), verwickelten sich aber in den Inselgruppen
dergestalt, daß ihre tiefgehenden Schisse unmöglich frei manövri-
ren konnten. Nachdem das Gefecht mehrere Stunden gewährt,
zog Tombazis, der bisher in scheinbarer Unthätigkeit dem Kampfe
zugesehen, seine besten Schiffe schnell zusammen, warf sich damit
auf den Mittelpunkt der türkischen Flotte und steckte vermittelst
Brander mehrere ihrer Fahrzeuge in Brand. Da überfiel die
Türken ein panischer Schrecken. Sie steuerten unverzüglich in's
offene Meer. Der Capudan-Pascha entwich nach Kos und ließ
zwei Fregatten in der Griechen Gewalt. Ein türkisches Linien-
schiff und mehrere mit Truppen beladene Transportfahrzeuge
wurden den Flammen zum Raube, andere in's Meer versenkt.
Damit endete denn der so stolz angekündigte Seezug der Türken
für diesen Sommer.
Inzwischen war dem ersten begeisterten Sturme im Pelopon-
nes selbst ein gefahrlicher Stillstand gefolgt. Die Diseiplin der
Griechen verschwand vor den Festungen, die sie weder regelmäßig
zu belagern, noch einzunehmen verstanden; es fehlte an Material,
an einer leitenden Regierungsbehörde. Die einzige Versammlung
dieser Art war die obenerwähnte Gerusia zu Kalamata, doch ihr
Ansehen im Lande war gering. Im Innern standen theils die
Primaten und die Geistlichkeit, theils die alten Klephthenhauptlinge
an der Spitze der Volksbewegung. Germanos war das Haupt
der Ersteren, Kolokotronis der angesehenste unter den Letzteren. *)
Dieser Häuptling und die Primaten waren für die Beibehaltung
des bis jetzt herrschenden Systems der Willkür und Verwirrung;
wogegen die Hetäristen für die Aufstellung einer geordneten Ver-
fassung und einer disciplinirten Kriegsmacht thätig waren. —• So
war die Lage der Dinge in Morea, als der Fürst Demetrius
Bpsilanti, der Bruder des unglücklichen Alexanders daselbst er-
schien. Er stellte sich dem Senate zu Kalamata als Oberfeldherr
*) Er war der Sohn eines im Jahre 1790 ermordeten Häuptlings.
Die Berge Arkadiens waren die Zeugen seiner dreißigjährigen Kämpfe,
Kriegslisten und Siege gewesen, bis er endlich von seinen Bergen ver-
trieben, in russische Dienste gegangen war, von wo er beim Ausbruche
der Jnsurrection nach Morea, das ihn mit Jubelruf empfing, zurück-
kehrte.
r
I
— 68 —
des ganzen Griechenheeres vor und verlangte, daß die Metropoli-
ten, die Bischöfe, die Klephthenheerführer, selbst der Senat, seine
höchste Autorität anerkennen sollten. Daß ein solches Begehren
keine günstige Aufnahme finden konnte, lag in der Natur der
Sache. Demetrius war ohne Kenntniß des Volks, das er beHerr-
schen wollte; er hatte noch keine Proben von ausgezeichneter Tapfer-
keit gegeben; seine Abstammung von den ehemaligen Beherrschern
des griechischen Reichs reichte nicht hin, die Ansprüche derer, die
den Aufstand der Nation zu Stande gebracht und ihn bisher ge-
leitet, zu beschwichtigen. Noch weniger aber waren die nach Rache
dürstenden gemeinen Griechen geneigt-', bei der Erstürmung türki-
scher Besten seinen Befehlen, der gefangenen Türken zu schonen,
unbedingt Folge zu leisten. Der Fürst erklarte also, daß er den
Peloponnes verlassen und nicht eher zurückkehren werde, als bis
alle Feldherren der Hellenen sich in irgend einer Stadt des befrei-
ten Landes versammelt und sich über die Mittel, das Vaterland
durch gemeinschaftliche, auf Einheit abzweckende Operationen zu
retten, verstandigt hatten. Er ging darauf nach der Insel Hydra,
ward aber bald von dort zurückgerufen, und ihm das Versprechen
gegeben, seine Forderungen sollten hinsichtlich eines Congresses er-
füllt werden. — Solcher Zwiespalt lahmte die jungen Kräfte des
Aufstandes und würde wahrscheinlich der griechischen Jnsurrection ein
schnelles Ende bereitet haben, hatte nicht unter den Pascha's, welche
vereint zur Unterdrückung des Aufruhrs wirken sollten, eine noch
viel größere Uneinigkeit Statt gefunden; hier ging man sogar so
weit, daß Jeder den Andern im Stiche ließ, sobald er es thun
konnte, ohne sich bei der Regierung in dem Lichte eines Ver-
rathers blos zu stellen. —
Zu Ende des August rückten 20,(KM) Türken aus SR um t Ii
gegen die durch Leonidas Opfertod so berühmten Thermopy-
len an, welchen Hauptpaß die Hellenen unter Odysseus be-
setzt, hatten. Schon am 3. September traf die Vorhut der Tür-
ken mit den Griechen zusammen. Am folgenden Tage rückte die
ganze türkische Macht vor. Wahrend tausend Palikaren ihnen
den Paß von vorn verschlossen, stürzte Odysseus mit ebenso Vie-
len auf ihre Nachhut, und nun entfpann sich das wildeste Gefecht,
das bald in ein mörderisches Handgemenge überging. Die Grie-
chen aber erfochten nach achtstündigem Kampfe den Sieg. 300
Wagen mit Lebensmitteln, sieben Kanonen, siebzehn Fahnen, viele
— 69 —
prachtig geschirrte Pferde und andere Kriegsbedürfnisse waren die
Beute dieses Tages. Die Türken ließen 1200 Todte auf dem
Kampfplatze. Die ganze Armee löste sich in Verwirrung und
Schrecken auf und entfloh in die Walder. — Wenige Tage zu-
vor war Navarino, der wichtigste Kriegshafen in Morea, er-
obert, wahrend die türkische Flotte noch immer in Kos eingeschlos-
sen ruhte. Fünfhundert Türken wurden in Navarino ein Opfer
der Volkswuth. — Zu gleicher Zeit hatten die Mainotten und
Kolokotroni mit seinen Ackadiern die Belagerung von Tripolizza,
der festesten Stadt im Peloponnes, begonnen. Fremde Philhel-
lenen waren dabei mit Geld und Waffen erschienen. Jndeß
ging die Belagerung mit einigen unbrauchbaren Geschützen er-
folglos fort; eine Bresche entstand nicht; doch war gegen die
Mitte Septembers der Hunger unter der Besatzung ausgebrochen;
die türkische Cavalerie (6000 Mann stark) räumte das Feld, und
sowenig die Griechen auch die Kunst der Belagerung verstanden,
so schien sich die Stadt doch ihrem Falle zu nähern. Die Beute-
gier Kolokotroni's strebte daher nur darnach, seinen Nebenbuhlex
Bpsilanti von dem Belagerungsheere zu entfernen, und schlau be-
nutzte er zu diesem Zwecke das Erscheinen der türkischen Flotte in
dem Golfe von Korinth, um ihn mit 900 Mann zur Deckung
der achajischen Küste hinwegzusenden. Die Türken, vom Hunger
geängstigt, erboten sich endlich, gegen freien Abzug mit Weib und
Kind zu capituliren. Kolokotroni trat mit dem Befehlshaber in
Unterhandlungen. Die Palikaren hierüber aufgebracht und den
Verlust ihrer Beute fürchtend, begannen hierauf am 6. October
ohne Befehl den Sturm. Die solcher That sich nicht versehenden
Türken wurden mit Windesgewalt von den Mauern hinabgewor-
sen. Sie flüchteten nun in die Häuser, verrammelten solche und
leisteten den verzweifeltsten Widerstand. So dauerte der Kampf
bis zum Abende. Neber 500 Griechen fanden den Tod. Türken
und Juden wurden niedergemetzelt. Die sich in den Hausern noch
halten wollten, verbrannte man mit den Häusern zugleich, und nur
einige Aga's nebst den Harems zweier Pascha's entgingen, weit
hohes Lösegeld durch ihre Erhaltung konnte gewonnen werden, der
allgemeinen Niedermetzelung, Die Stadt, mit Leichen gefüllt, bot
den scheußlichsten Anblick dar und ward von der Pest verheert,
als Upsilanti am 16. October dahin zurückkehrte. Unterdessen
hatte die Nachricht von Odysseus Siege in den Thermopylen ganz
— 70 —
Griechenland mit großem Jubel, die Türken jedoch mit Schrecken
erfüllt.
Die türkische Flotte war inzwischen durch ein Geschwader,
das der Pascha von Egypten zu ihr stoßen ließ, wie auch durch
mehrere Barbareskenfahrzeuge verstärkt, in der Mitte Septem-
bers vor Patras erschienen, dessen Befehlshaber, mit Hülfe der ihm
zugeführten Landtruppen, am 19. September einen kraftvollen
Ausfall gegen die griechische Blokadearmee unternahm, dieselbe
durchbrach und sogar das auf den Höhen von Umbia gelegene
Kloster, wo das griechische Hauptmagazin war, erstürmte und zer-
störte. Dann wendete er sich nach Vostidscha. Hier schreckte ihn
jedoch die Stellung Npsilanti's zurück; dagegen gelang es an der
gegenüber liegenden Küste, bei der gewerbreichen Stadt Galaxidi,
den Türken, achtunddreißig griechische Handelsfahrzeuge zu erobern.
Nach diesem Siege unternahmen sie unter dem deckenden Feuer
ihrer Schiffe die Landung auf der Küste, eroberten nach tapferer
Gegenwehr von Seiten der Einwohner Galaxidi mit Sturm,
säbelten, was sich von der Bevölkerung nicht zeitig genug in's
nahe Gebirge flüchten konnte, nieder und verwandelten nach völli-
ger Ausplünderung die Stadt in einen Aschenhaufen. Vpsilanti
sah den Brand der Stadt drei Tage lang, ohne von der andern
Seite der Küste her etwas unternehmen zu können; während der
Pascha von Patras mit der errungenen Beute nach der Beste zu-
rückkehrte, wo er mit wildem Iubelgeschrei empfangen ward. —
Der allgemeine Wunsch der Oberhaupter der Griechen ging
dahin, eine regelmäßige Regierung für den zur Wiedergeburt auf-
strebenden Griechenstaat zu errichten. Es ward daher ein Congreß
von Abgeordneten famintlicher griechischen Provinzen und der In-
seln nach Epidauros im Golf von Aigina berufen. Der Zweck
war, einen Bundesstaat mit republikanischer Verfassung zu errich-
ten, und es sollte die neue griechische Republik aus den sechs Staa-
ten Morea, Livadien, Thessalien, Macedonien, Epi-
rus und den Inseln gebildet werden. Den 15. December 1821
waren neunundfunfzig Äolksdeputirte, theils Geistliche und Grund-
eigenthümer, theils Primaten und Land- und Stadtbewohner, in
Epidauros versammelt, und Ne ophytos, Erzbischof von Talan-
ta, weihte den Congreß durch eine religiöse Handlung ein. Eine
Commission unter dem Fürsten M a u r o k ar d a t o entwarf die
Acte der Unabhangigkeitserklarung und den Plan einer Verfassung,
— 71
die auch noch vor Ende des Jahres zu Stande kam. Die Re-
gierung, in ihren Grundlagen republikanisch, ruhte in zwei vom
Wolke ausgehenden Gewalten, einem gesetzgebenden Senate, aus
sämmtlichen Deputaten, und einem vollziehenden Rathe, aus fünf
Mitgliedern bestehend. Dieser letztere, vom Senate außerhalb
desselben gewählt, sollte das Recht haben, sieben Minister für die
einzelnen Zweige der Verwaltung zu ernennen. Die richterliche
Gewalt war von jenen andern beiden unabhängig. Zum Präsiden-
ten des gesetzgebenden Senats ward Vpsilanti ernannt; Mauro-
kordato ward Präsident des Vollziehungsrathes; der Phanariot
Negris Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Bevor hier-
ans der Congreß sich auflöste, erklärte er in einer Proclamation
an die Nation vom 12. Januar 1822 die Unabhängigkeit Grie-
chenlands, auf die Grundlage der provisorischen Verfassung von
Epidauros. Wie unvollkommen diese auch wohl sein mochte, und
wie wenig sie in ihrer republikanischen Form der politischen Uu-
Mündigkeit des griechischen Volkes entsprach, so war doch durch sie
eine gewisse Ordnung und Einheit in die Angelegenheiten Grie-
chenlands gebracht; weshalb sie auch für das augenblickliche Be-
dürfniß wohl genügend und heilbringend gewesen wäre, hätte sie
nicht allzusehr den Sieg der Insel- und Hetaristenpartei über die
militärischen Häuptlinge des Volks zur Schau getragen, wodurch
den späteren Zwistigkeiten von Seiten der habsüchtigen und nach
Macht strebenden Häuptlingen und Primaten zugleich Nahrung
gegeben ward. Deshalb hatte auch ein einziger der Militairchess
die Verfassungsurkunde von Epidauros selbst unterschrieben. Diese
nämlich und die Primaten glaubten durch den thätigen Antheil,
den sie an dem Aufstande genommen hatten, auf die ersten Stellen
im Staate Anspruch zu haben, während auf der andern Seite
die Volksvertreter fürchteten, durch tatsächliche Anerkennung die-
ser Ansprüche die Macht und den Einfluß Jener noch zu vermeh-
ren, und sie daher fast ganz unbeachtet ließen. Diese ganzliche
Ausschließung der Militairchess aber von aller Theilnahme an der
Regierung mußte den Erfolg haben, die Behörde selbst in den
Augen eines Volks verächtlich erscheinen zu lassen, das für den
kriegerischen Ruhm fast noch allein Sinn hatte, und das seine An-
führer im Felde abgöttisch verehrte. Zugleich- bewies diese Aus-
schließung ein Mißtrauen gegen die Häuptlinge, in deren Händen
gleichwohl ganz allein die militärische Macht blieb; denn noch
I
— 72 —
hatte die Regierung keine andere Kriegsmacht, als die bewaffneten
Haufen jener Führer. Besonderen Antheil an der Zurücksetzung der
Militairchefs und Primaten hatte Maurokordato. Durch ihn sah sich
auch Vpsilanti, der bisherige Generalissimus, von der Prasidentur
des ausübenden Nathes, mithin von der Stelle, die er allein für
sich begehrte, verdrangt. Nichtsdestoweniger fuhr dieser mit dem-
selben Eifer für die Sache des Volkes fort, thatig zu sein. Noch
vor Auflösung des Congresses eroberte er die Festung Akroko-
rinth. Kolokotroni, wenig bekümmert um die neue Constitution
und den Senat, den er verachtete, kehrte zur Belagerung von Pa-
tras zurück. Andere Kriegshäupter folgten seinem Beispiele. So
begann der neue Feldzug dennoch wieder ohne Plan und Ueber--
einstimmung; was gerade jetzt um so gefahrlicher für die Interessen
Griechenlands war, als eben zu dieser Zeit die Pforte die größten
Rüstungen zu Wasser und zu Lande machte, ihre Streitkräfte an der
Donau gegen Morea in Bewegung setzte und eine furchtbare Flotte
nach den Dardanellen schickte, da überdies auch der Untergang Ali
Pascha's Churschid freies Feld gewahrte, mit dem dadurch dispo-
nibel gewordenen Heere Griechenland anzugreifen, wo er wollte.
9CH, Mascha von Janina.
Ali von Thebeleni, der fast unabhängige Statthalter der
Pforte zu Janina, Jllyrien, Epirus und Nordgriechen-
land, ein Ungeheuer, gegen den alle uns aus der Geschichte der
älteren und neueren Zeit bekannte Tyrannen milde, sanfte Herrscher
waren, dieser Wütherich war es, der durch seine unmenschliche Ver-
folgung der Griechen zuerst dieses Volk aus seinem langen Schlum-
mer weckte, in ihm die erste Idee eines vereinten Widerstandes
gegen seine Unterdrücker hervorrief und so zur Wiedergeburt des
unterjochten Hellas den nächsten Anlaß gab. — Ali war der Sohn
des Bei von Thebeleni und gründete durch glückliche Raubein-
I
— 73 —
falle nach und nach ein kleines Reich für sich, drang den kleineren
albanesischen Häuptlingen seinen Schutz auf und erhob sich durch
die Politik seiner Mutter Chamso (einer Frau, die, ganz gegen
die Gewohnheit der Morgenlanderinnen, nach dem Tode ihres
Mannes die Herrschast blutig und kräftig fortführte) durch Wer-
ratherei, Mord und Bestechung — seine liebsten Waffen — nach und
nach zum Bei von Th ebeleni und zum Pascha vonTricala. In
dieser Eigenschaft begann er nun einen blutigen Vertilgungskrieg
gegen die griechischen Armatolen und die Häuptlinge der wilden
Klephthen, nachdem er sich ihrer durch Vorspiegelungen der Frei-
heit bedient hatte, sich auch zum Pascha von Ianina zu erheben.
Kampf, Jntriguen, Meuchelmord, Alles diente ihm nun zu Er-
reichung seiner Zwecke; was diesen widerstand, oder nicht in seine
Dienste trat, ward auf Leben oder Tod verfolgt. Im Jahre 1790
begann er den Krieg gegen die wegen ihrer Tapferkeit so berühm-
ten Sulioten, eine noch freie griechische Völkerschaft in den
Gebirgen längs der Küste von Epirus, Corfu gegenüber und
in der Nahe seiner Hauptstadt Janina ansäßig. Der Krieg
zwischen Rußland und der Pforte hatte es den Sulioten möglich
gemacht, einen Verein griechischer Klephthenchefs in den Bergen
von Suli zu gemeinschaftlicher Verteidigung zusammenzubringen.
Von allen Seiten strömten die Häuptlinge herbei, schlugen Ali's
Heere und vernichteten sie. Erst nach Beendigung des russischen
Krieges, dem er in der Armee des Sultans hatte beiwohnen
müssen, konnte Ali daran denken, den erfahrenen Schimpf an den
Sulioten zu rächen. Er begann damit, durch Schmeicheleien und
Verheißungen die Klephthen zur Neutralitat zu bewegen, dann
übersiel er plötzlich die nun allein stehenden Sulioten (S. 92.),
welche, etwa 8000 Seelen und 12 bis 1400 waffenfähige Männer
stark, einen heldenmüthigen Widerstand leisteten. Drei Stürme
von Ali's Truppen gegen ihre uneinnehmbaren Berge waren be-
reits blutig zurückgeschlagen; selbst Weiber und Kinder kämpften mit
nie gesehener Wuth gegen sie. Da ergriff Schrecken die Muhameda-
ner; sie flohen mit einem Verluste von 3W0 Mann; Ali bot nun
Frieden an und erhielt ihn gegen eine Entschädigung. Zum Er-
satze dafür eroberte er mit seinen albanesischen Truppen, deren er
jetzt 12,000 Mann unter den Waffen hielt, mehrere feste Städte,
in deren Herrschaft die Pforte ihn bestätigen mußte, und die Kla-
gen seiner Feinde im Divan erstickte er durch Geld oder Dolche.
— 74 —
Alle seine anderweitigen Eroberungen waren jedoch nicht im
Stande, seinen Durst nach Rache gegen die unbezwinglichen Sulio-
ten zu ersticken. Nachdem er sich noch in den Besitz einiger an-
derer Provinzen gesetzt hatte, scheuete er nun die Pforte selbst nicht
mehr, erklarte laut seine Absicht, für sich allein regieren zu wollen
(1799), und rief ganz Albanien in die Waffen gegen die ver-
haßten Sulioten. Diese, obgleich nicht zum Kampfe gerüstet, schlu-
gen dennoch Ali's Uebersall mit gewohnter Tapferkeit zurück. Nun
begann dieser die denkwürdige Belagerung der suliotischen Berge.
Mit zwölf Festungen, die er an den Hauptausgangen derselben
errichten ließ, schloß er die tapfern Griechen ein und glaubte sie
nun unter ihren Felsen auszuhungern. Wirklich erreichte die Hun-
gersnoth in der kleinen Republik eine erschreckende Höhe; allein
ein glücklicher Ausfall von sechshundert Sulioten nach Parga
zu verschaffte den Bedrängten Lebensmittel und Kriegsbedürfnisse.
Zehn Monate hatte diese Belagerung bereits gedauert, als der
Ungehorsam des Pascha von Adrianopel die Belagerten vom
Hungertode befreite. Ali Pascha zog gegen jenen, und die Sulio-
ten benutzten die dadurch gewonnene Muße trefflich zu neuer
Kriegsrüstung; als Ali am Schlüsse des Jahres 1801 wieder vor
ihren Bergen erschien, waren sie auf das Aeußerste vorbereitet,
und die Söldner des Tyrannen wurden abermals zurückgeschla-
gen. Zweitaufend Türken waren bereits in dem neuen Feldzuge
geblieben, allein Ali lagerte noch immer mit 18,VW Mann vor
Suli; mit diesen grub er den Belagerten die Quellen ab, worauf
die Roth an mehreren festen Punkten den höchsten Grad erreichte.
Was die Gewalt der Waffen nie vollbracht haben würde, gelang
dem Hunger: man verlangte zu capituliren; die Schaaren trenn-
ten sich, um ihre heimathlichen Berge zu verlassen. Einzeln wurden
sie nun von den verratherischen Türken überfallen und nach Übermensch-
lichen Kämpfen überwunden und vernichtet. *) Nur einige Trümmer
*) Hundert Weiber hatten sich mit einem Haufen Kinder auf einen steilen
Felsen geflüchtet, den sie mit der größten Anstrengung erklettert hatten,
und von dessen Höhen sie Augenzeugen des schrecklichen Schicksals ihrer
Gefährten wurden. Als sie sahen, wie die barbarischen Muhamedaner
Anstalt machten, auch ihnen ein Gleiches widerfahren zu lassen, so fas-
scn sie schnell einen Entschluß, um der ihnen zugedachten Schande zu
entgehen. Sie nehmen sich bei den Händen, beginnen einen Tanz, und
begleiten ihn mit patriotischen Gesängen. Bei der Annäherung der Tür-
I
— 75 —
dieser heldenmüthigen Völkerschaft waren nach Parga entkommen
(im December I8l)3). *)
Nach diesem blutigen Siege ging Ali gerades Weges auf
die Vernichtung aller griechischen Stamme zu, so weit nur
seine Waffen reichten. Durch Jrttriguen und Gewalt unterwarf er
sich die meisten Klephthenchefs; nur wenige flüchteten in die höch-
sten Gebirge Aetoliens und Akarnaniens. Die Districte Mit-
telgriechenlands mußten ihn für ihren Herrn erkennen; nach und
nach wurden alle Verhältnisse derselben mit der Pforte zerrissen;
sie waren Unterthanen des Pascha's, der sie mit Abgaben erdrückte
und sie zwang, ihre Privilegien ihm auszuliefern, was ihn dann
gegen den Anspruch des Großherrn sicherte. Die Pforte war zu
ohnmachtig, die Ausbreitung seiner Herrschaft zu hindern; des
Sultans (Mahmud II.) persönlicher Haß gegen ihn schreckte ihn
nicht, so lange er alle seine Kapidgi - Baschi's auffangen und er-
ken an der Seite des Felsen stoßen sie ein langes durchdringendes Ge-
schrei aus, umfassen sich auf das Engste und stürzen sich sammt den
Kindern in die Tiefe eines furchtbaren Abgrundes.
*) Nach der Einnahme Suli's ließ Ali während einer ganzen Woche die
ausgesuchtesten Grausamkeiten an den gefangenen Sulioten verüben. Die
Unglücklichen wurden nach Isnina abgeführt, um dort hingerichtet zu
werden, weil die Feste, welche Ali seinen Soldaten geben wollte, durch
dieses Schauspiel sollten verherrlicht werden. Der Ersindungsgeist der
rohen Krieger ward in Anspruch genommen, um neue Martern zu er-
sinnen, und der Erfinder erhielt jedesmal das Vorrecht, auch selbst der
Vollstrecker derselben zu seyn. Man sollte glauben, wenn man sich
an alle jene den Menschennamen brandmarkende Grausamkeiten erinnert,
die uns schon in der älteren und neueren Geschichte vorgekommen sind,
so kenne man alle nur erdenkliche Qualen; allein die Bosheit Ali's
und seiner Waffengefährten ging doch noch weiter. Nachdem sie z. B.
den Sulioten Nasen und Ohren abgeschnitten, machten sie einen Salat
aus denselben und zwangen sie, ihn zu essen. Einem jungen Menschen
loste man die Haut vom ganzen Kopfe ab, ließ sie über die Schultern
herab hangen, und zwang ihn durch Peitschenhiebe in diesem Zustande
nackt in dem Hofe des Serails herum zu laufen. Nachdem Ali Pa-
fcha über dieses Schauspiel sich satt gelacht, ließ er ihm eine Lanze
durch den Unterleib bohren; endlich machte man seinen Qualcn auf einem
Scheiterhaufen ein Ende. Eine große Anzahl dieser Unglücklichen ward
lebendig in ungeheuer große, mit Wasser angefüllte Kessel geworfen, un-
ter denen ein höllisches Feuer gemacht ward, und so wurden sie gesotten
Alis Hunden zum Schmause vorgeworfen. (Diese Thatsachen sind von
mehreren der glaubwürdigsten Augenzeugen erzahlt.)
— 76 —
morden lassen konnte, und so lange seine Heere seine Feinde im
Serail selbst zittern machten. —
Durch eine unerhörte Frevelthat bekam er die Festung Kar-
diki in seine Gewalt. Diese Stadt war amphitheatralisch auf
einem sehr hohen Berge erbaut. Die Hauser, welche auf lauter
abgesonderten Felsstückcn lagen, waren von Quadersteinen und
hatten sammtlich Schießscharten, so daß sie ebenso viele kleine
Festungen bildeten. Die tapfersten Muselmanner bewohnten sie,
und Mustapha, Pascha von D elvi na, sowie die mächtigsten
Bei's des Districts befanden sich dort. Mit allen seinen Schätzen
gelang es Ali nicht, einen einzigen Verrather daselbst zu erkaufen.
Das Glück der Waffen war abwechselnd und entschied nichts.
Da sollte der Hunger den Sieg bestimmen. Nach einem Monate
der engsten Blokade gingen dein Volke die Lebensmittel aus, und
die Hauprer sahen sich zu einer Capitulation gezwungen. Ali
nahm alle Artikel derselben an, deren einer besagte, daß Musta-
pha-Pascha nebft zweiundsiebzig Bei's sich frei nach Janina bege-
ben und dort mit den ihrem Range zukommenden Ehrenbezeigun-
gen bleiben sollten, bis die Bedingungen des Tractats erfüllt seyn
würden. Bei ihrer Ankunft zu Janina nahm Ali sie anscheinend
auf das Freundschaftlichste auf und räumte ihnen einen seiner
Paläste zur Wohnung ein. Hierauf begab er sich nach Kardiki,
um, wie er sagte, den Einwohnern die Garantie seines verspro-
chenen Schutzes zu geben. Eine Menge Truppen begleiteten ihn
dahin. Bei seiner Ankunft ließ er den Kardikioten sagen, sie
sollten sich, die Weiber ausgenommen, vor ihm einfinden, um
seiue Freundschastsversicherungen zu empfangen; zu dem Ende
sollten sie sich in einem Chan versammeln und ihn daselbst erwar?
ten. Die Unglücklichen, durch dieses Benehmen ganz sicher ge-
macht, warfen sich unter einander ihr ungerechtes Mißtrauen ge-
gen diesen Mann vor und eilten frohen Muthes dem bezeichne-
ten Orte zu. Ali traf bald darauf, von seinen Truppen umgeben,
an dem Chane ein. Vor der Hauptthür desselben gab er ihnen
das Zeichen einzudringen, indem er mit seiner donnernden Baß-
stimme das Wort Mordet! rief. Zwei Abtheilungen seiner Krie?
ger weigerten sich jedoch, den Henker zu machen. Datritt Atha-
nasius Vaga, Ali's Bastard und General eines albanesischen
Corps, vor und bietet seinem Vater seinen Arm an. In einem
Augenblicke sind die Mauern und Gipfel mit Meuchelmördern be-
I
— 77 —
deckt. Ali Pascha giebt das Zeichen zum Angriffe, indem er einen
Carabiner auf die Hausthür abdrückt. Eine Generalsalve folgt
diesem Schusse, und ein entsetzliches Geschrei ertönt aus dem In-
nern. Die Henker feuern nun durch alle Oeffnungen des Chans;
einige der unglücklichen Schlachtopfer versuchen es, durch die Fen-
fter oder das Dach zu entkommen, werden aber sogleich von den
Mördern niedergehauen. Eine ganze Stunde dauert das Zusam-
menschießen, bis endlich eine Todesstille in dem Gebäude entsteht,
aus dessen Oeffnungen Ströme von Blut fließen. — Nach dieser
Metzelei wurden auch die Weiber und Kinder aus Kardiki getrie-
ben und nach Missolunghi, Anatoliko :c. transportirt, die
Greise und Kranken aber erwürgt. — Die zweiundsiebzig Gei-
seln ließ Ali nun, mit Ausnahme Mustapha-Pascha's, gleich-
falls ermorden. Den Letzteren ließ er drei Tage keine Nahrung
reichen, worauf ihn das Ungeheuer, keinen Widerstand mehr
fürchtend, mit eigner Hand erdrosselte.
Nach dem Falle der französischen Macht wurden die ioni-
schen Inseln, die seit dem Frieden von Campo Formio unter
Frankreichs Herrschaft gestanden, für einen Freistaat erklart und
durch einen Vertrag der europaischen Hauptmächte (vom ö. Nov.
1814) unter die unmittelbare Schutzherrschast Englands gestellt.
Die Einwilligung der Pforte ward durch Ueberlassung mehrerer
ehemaliger venetianifcher Platze auf dem Festlande des alten Epi-
rus erkauft. Ali Pascha hatte sich langst in den Besitz dieser
Städte gesetzt und nur die starke Festung Parga, die von einem
tapfern Volke bewohnt war, weder durch Gewalt noch durch List
zu bezwingen vermocht. Jetzt auf's Neue von ihm angegriffen,
warfen sich die Parganioten den Englandern in die Arme. Doch
Thomas Maitland, der Gouverneur der ionifchen Inseln, ver-
kaufte den Ort (1817) für 300,000 Pfd. Sterling an Ali Pascha;
so wurden die unglücklichen Christen durch Hülfe der Britten ihrem
Todfeinde überliefert. Viertausend der bedauernswerthen Einwoh-
ner verließen Parga und flüchteten nach den ionischen Inseln, wo
sie noch lange ohne Obdach und ohne Eigenthum umherirrten und
unter den Palmbaumen schliefen.
Indeß nahte allmalig auch für den blutigen Satrapen
die Strafe für eine beispiellose Laufbahn von Schuld und Ver-
brechen heran. Seine Macht hatte im Jahre 1820 ihren höchsten
Gipfel erreicht; der Reichthum ganzer griechischer Districte war
— 78 —
durch Erpressungen ohne Zahl in seinen Schatz geflossen; derHandelder
Seeorte war in seinen Händen; Kaufleute und Fabrikanten waren
überall nur seine Pächter; sein Reich zählte so viele Einwohner,
als Schweden und Norwegen zusammen, und neun Zehn-
theile alles Grundeigenthums war sein. Er besaß prächtige Pa-
läste zu Janina und in allen andern Städten seines Staates;
der halbe Divan stand in seinem Solde. Da erweckte Jsmael
Pacho-Bei, sein ehemaliger Diener, den Haß seiner Feinde bei
der Pforte, und diese schritt nunmehr mit Nachdruck dazu, den Em-
pörer gegen ihre Oberherrfchast zu züchtigen. Jsmaels laute
Klagen zogen zuerst die Absetzung Veli-Pasch a's, Ali's Sohn,
dem das Gouvernement von Lepanto genommen ward, herbei;
Ali rächte sich durch einen Mordanfall auf Pacho-Bei, der den
ganzen Divan in Bewegung brachte. Der Sultan, außer sich
vor Zorn, befahl seine Bestrafung und verkündigte Jedem den
Tod, der nur für Ali zu sprechen wagen würde. Dieser ward
für einen Rebellen erklärt und zu seiner Rechtfertigung an die
Pforte beschieden. Jsmael von Janina erhielt die Oberherrschaft, und
alle Pascha's Rumili's wurden aufgeboten, diese Entscheidung in
Ausführung zu bringen. Ali, der wohl einsah, daß es jetzt um ihn ge-
schehen sei, wenn er nicht die kräftigsten Mittel anwendete, seinen Sturz
abzuwehren, setzte sich schnell in den furchtbarsten Vertheidigungs-
zustand. Die reichsten und angesehensten Personen seines Reichs,
Türken sowohl als Griechen, ließ er daher gefangen nehmen und
als Geiseln in's Castell von Janina schleppen. An 20,000 Berg-
klephthen, denen jede Gelegenheit zum Plündern und Racheüben
gegen die verhaßten türkischen Zwingherrn recht war, nahm er in
seinen Sold^ Die Armatoliks der überwundenen Klephthen stellte
er in aller Eile wieder her und versprach Allen, welche für ihn die
Waffen ergreifen würden, vollkommene Steuerfreiheit. Sämmtliche
Einwohner seiner Hauptstadt, vom Bifchof bis auf den geringsten
Mann, mußten Tag und Nacht an Janina's stärkerer Befestigung
arbeiten. Mittlerweile zog er seine Hauptmacht bei den fünf
Brunnen, zwischen Janina und Prevesa zusammen, wo er auch
einen Telegraphen errichtete, mittelst welchem ihm von der Seeküste
binnen anderthalb Stunden Nachrichten zukommen konnten.
Soliman, Pascha von Skutari, war indessen mit dem
Vortrab der Executionsarmee, 15,000 Fußgängern und 5000 Rei-
tern, in Thessalien eingerückt und verkündigte den Griechen die
- 79 —
Befreiung von Ali's Joch und ihre alle Unabhängigkeit^), Vier-
zehn starke Westen waren Ali's Bollwerke; er selbst lag mit
10,TO Mann Kerntruppen in Ianina. Der Anfang des Feld-
zugs war äußerst glänzend für die türkischen Waffen gegen den
furchtbaren Rebellen. Ali, an dessen Redlichkeit fast Niemand
glaubte, ward von dem größten Theile seiner Anhänger verlassen.
Selbst seine Söhne, Aeli und Saleh Pascha, sielen von ihm
ab und überlieferten sich, um Gnade beim Großherrn zu finden,
freiwillig in die Hände des Befehlshabers der türkischen Flotte.
Muhamed, ein Neffe Ali's, übergab nach kurzem Widerstände
die Festung Parga. Mehrere andere Festungen öffneten den Sie-
gern die Thore, und dem verlassenen Ali blieb nichts übrig, als
sich mit seinen treuen Anhängern in die Beste Janina und das
für unüberwindlich gehaltene Fort Tepleni zurückzuziehen. Js-
mael begann die Belagerung Janina's. Nun aber nahm die Sa-
che durch Ali's unerschütterliche Sündhaftigkeit und stets rege
Schlauheit, sowie durch die Unentschlossenheit und Uneinigkeit der
türkischen Heerführer und den Mangel an Disciplin unter ihren
Truppen, für den Bedrängten eine weit günstigere Gestalt an.
Ali sparte auch seine seit sechzig Jahren aufgehäuften Schatze nicht,
und Geldgier und Nohheit der umwohnenden Horden verschafften
ihm bald neue Anhänger. Die Neste der Sulioten, 900 Köpfe
stark, unter Kizzos und Markos Bozzaris erschienen von
neuem unter den Belagerern; Ali kaufte sich von diesem. Feinde
los, indem er ihnen ihre Berge wieder gab. So zogen nach sieb-
zehnjähriger Trennung die tapfern Bewohner von Suli wieder in
ihre Heimath ein. Bald vereinigten sich 3000 griechische Flücht-
linge mit ihnen. Sie übersielen einen türkischen Transport von
zweihundert mit Munition und Lebensmitteln beladenen Wagen
(im Dec. 1820), wodurch die in den Ebenen von Janina lagernde
türkische Armee dem Hunger und den größten Entbehrungen preis-
gegeben ward; welches dann, wie gewöhnlich, bewirkte, daß Tür-
ken, Albanesen, Griechen k. schaarenweis die Fahnen verließen,
um sich plündernd und mordend über das unglückliche Land zu
+) Solimans Schreiber, ein Grieche und Hetärist, hatte die Pxoclamation
so verfaßt, daß sie einen förmlichen Aufruf an die Griechen zu den
Waffen gegen die Pforte enthielt. Soliman mußte mit seinein Kopfe
diesen Trug seines Schreibers bezahlen.
— 80 —
verbreiten. Ein anderer 5000 Mann starker Haufe, den Ali in
der Gegend seines Geburtsortes durch Gold und herrliche Verspre-
chungen zu den Waffen gerufen hatte, sperrte die Passe und er-
schwerte dadurch dem Belagerungsheere die Zufuhr. Ein mit den
Sulioten verabredeter Anschlag, das türkische Lager zu überfallen,
wozu Ali 2009 Mann aus der Festung wollte mitwirken lassen,
ward jedoch verrathen. Omar Pascha, der eine Abtheilung des
türkischen Heeres vor Ianina befehligte, war so glücklich, die
Boten mit den Briefschaften aufzufangen; die aus der Festung
rückenden Schaaren wurden mit Uebermacht angefallen und ganz-
lich vernichtet (26. Jan. 1821.). Mit den Köpfen der Erschla-
genen sendete man zwar Tartaren auf flüchtigen Rennern nach
Constantinopel, aber die Siegstrophaen sah man doch nicht, wie
sonst gebrauchlich, auf den Mauern des Serails ausgesteckt, weil
die übrigen Nachrichten vom Erfolge der türkischen Waffen gegen
den Rebellen sehr widrig lauteten. Bald darauf erhob sich der
Peloponnes, wie wir wissen, in den Waffen, und der Aufstand
in der Moldau und Walachei war ausgebrochen. Durch die Er-
eignisse im Norden und Süden Griechenlands gewann Ali, wie
er berechnet hatte, wahrend des Jahres 1821 wieder Luft. —
Im Jahre 1822 mußte Churschid in Folge dringender Befehle
die Belagerung mit erneuerter Kraft beginnen. Den Sulioten
und Albanesen, die in Ali's Solde standen, hatte dieser die Wer-
sicherung gegeben, im Falle des Sieges seine Schatze mit ihnen
zu theilen. Sie verlangten aber für diese Verheißung ein sicheres
Unterpfand, und da er das stets ablehnte, so schlössen sie mit
Churschid einen Vertrag, worin sie, gegen Belohnung mit einem
Theile der Schatze Ali's, versprachen, ihn ganzlich seinem Schicksale
preiszugeben. Ueberdies wußte Churschid Ali's eigene Gattin durch
große Verheißungen zu gewinnen, daß sie ihren Gemahl bewog, zur
Aussöhnung mit der Pforte die Hand zu bieten. Von diesem
Augenblicke an war Ali's Untergang unabwendbar. Er begann,
aus dem drei Stockwerk hohen Thurme der Citadelle von Janina,
wo er alle seine Schatze aufgehäuft und schon den Entschluß ge-
faßt hatte, sich im äußersten Falle mit demselben in die Lnst zu
sprengen, thörichter Weise mit Churschid zu unterhandeln, der ihm
bei dem Koran und seinem Barte den feierlichsten Eid leistete, daß
sein Leben und der Genuß seiner Schatze ihm nach freiwilliger
Uebergebung gesichert bleiben sollten. Ali ging in die Falle und
— 81 —
ergab sich seinem Gegner, der ihm freundlich begegnete und ihn
ruhig am 1. Februar nach dem im See von Janina gelegenen
Sommerpalaste abziehen ließ. Kaum aber war auf Ali's
Befehl die Citadelle von Janina den Türken ausgeliefert worden,
als ein Unterbefehlshaber Churschids mit 60 Mann auf der Insel
erschien und dem wehrlosen Greise einen Firman des Großherrn
überreichte, worin sein Todesurtheil ausgesprochen war. Sogleich
rief Ali: „Ihr Verrather! Glaubt Ihr mich wie ein Weib zu
fangen!" Die Worte wurden mit einem Pistolenschuß begleitet,
der den Offizier tobt zu Boden streckte. Nun aber hob die Metze-
lei an. Ali's sechs Gefährten wehrten sich, wie er selbst, auf's
Tapferste, und fielen erst unter den Dolchen der Henker, nachdem
sie zwölf derselben niedergemacht, kämpfend an der Seite ihres er-
mordeten, nie besiegten Herrn. Er fiel, vierundachtzig Jahre alt,
am 5. Februar 1822.
Ali's Haupt ward nun vom Rumpfe getrennt und nach Eon-
stantinopel gesendet, wo die Ankunft desselben einen wahrhaft un-
befchreiblichen Jubel verursachte. Der Sultan selbst legte auf alle
ersinnliche Weise seine Freude an den Tag und spendete Gnaden-
bezeigungen aller Art aus. Ja, er kaufte sogar einige Sclaven
frei und begnadigte mehrere zum Tode verurtheilte Armenier. —
Durch die Gebietsvertheilung Ali's ward der Saame gefährlicher
Feindschaft unter den Pafcha's, zumal gegen Churfchid, ausgefäet,
was wieder viel zur Rettung von Griechenlands Freiheit beitrug.
Griechenlands innere Verhaltnisse. — Katastrophe
auf Scio. — Land- und Seetreffen.
Nachdem am 26. Januar 1822 die Akropolis (Citadelle) von
Korinth in die Hände der Griechen gefallen war, ward der Sitz
der Regierung nach dieser Stadt verlegt, und nun von Seiten
der Volksreprasentanten mit Eifer daran gearbeitet, im Gange der
Verwaltung eine gewisse Ordnung herzustellen. Ein oberstes Kriegs-
gericht ward angeordnet; die Grundlagen der Constitution so viel
als möglich in Kraft gefetzt, und die Willkürlichkeiten aus der alten
N. G. IV. 6
Zeit der Unterdrückung her, die Ermordung der Gefangenen^ oder
der Verkauf derselben in Sclaverei, singen an bestraft zu werden;
auch die Trennung der Civilgewalt von der militärischen Anfüh-
rerschaft war ziemlich gelungen. Da die Hauptsorge der Regie-
rung noch immer auf Verteidigung des Landes gerichtet sein
mußte, aber nicht Geldmittel genug vorhanden waren, die Streiter
für's Vaterland mit klingender Münze zu bezahlen, so sah man sich
genöthigt, ihnen den Sold in Grundstücken zu entrichten; woran
die Regierung allerdings einen reichlichen Vorrath besaß, indem zwei
Dritttheile des Landes aus vormaligen Domainen des Sultans
oder Besitzungen der Pascha's und Bei's bestanden. Durch diese Vor-
kehrungen gewannen die kriegerischen Unternehmungen Zusammen-
hang. Bisher hatte Jeder, dem es in den Sinn kam, einen Trupp
Kricgsleute zu sammeln, vor seinem Hause eine Fahne aufgepflanzt,
und mochte er nun 50 oder 1000 Mann zusammengebracht haben,
so ließ er sich Capitano nennen, führte den Krieg auf seine
eigene Hand und nahm von Niemandem eine Weisung an. Hielt
nun ein solcher Capitano einen Engpaß oder einen andern wichti-
gen Posten besetzt und gab seinen Untergebenen Veranlassung zur
Unzufriedenheit, so verließen sie ihn und begaben sich unter die
Fahne eines Andern; auf diese Weise kam mancher wichtige Po-
ften in die Gewalt der Feinde. Diesem Unfuge zu steuern, ward
jetzt die Militairorganisation eifrigst betrieben. Doch war es schlech-
terdings unmöglich, das europaische Kriegssystem schnell einzufüh-
ren, man mußte immer noch vor der Hand Kriegshaufen von
1000, 500, 150, ja, sogar von 25 Mann bilden, deren Führung
den Capitano's anvertraut blieb. Im Februar 1822 ward indeß
aus den nach Griechenland gekommenen Europaern ein Corps
gebildet, welches den Namen Bataillon der Philhellenen
führte, und auch der Anfang zur Errichtung eines ersten regulai-
ren griechischen Linienregiments gemacht. Zum Anführer sammt-
licher regulairer Truppen ernannte die Regierung den vormals wür-
tembergischen General von Normann, der am 7, Februar mit
sechsundvierzig andern Offizieren, die sich ganz der griechischen
Sache weihen wollten, zu Navarino angekommen war.
Nichts destoweniger befand sich die Regierung, bei dem Wi-
derstreben der Militairpartei, immer noch in einer gedrängten,
schwierigen Lage. Da man den Angriff Churfchids von der
Seite von Patras her befürchtete, sendete der Senat Befehl an
— 83 —
Kolokotroni, den Golf zu überschreiten und die Einschiffung der
Türken auf alle Weise zu hindern. Doch Kolokotroni versagte die-
fem Befehle den Gehorsam und weigerte sich geradezu, den Pelo-
ponnes, den er gleichsam als seine Domaine ansah, zu verlassen;
nur hier, erwiedcrte er, könne er Krieg führen, hier waren feine
Mittel seine Popularität. Glücklicher Weise machte die Unthatig-
keit des Seraskiers (Oberfeldherrn) der Türken diefen Ungehorsam
unschädlich; Churschid blieb nämlich im Epirus, wo er noch
immer den heftigen Streit über die Theilung von Ali's Schätzen
nicht völlig ausgeglichen hatte und seine ganze Armee daselbst ge-
gen einige Hundert Sulioten beschäftigte. Noch unglücklicher
lief ein Versuch des Senats gegen Odysseus ab, den man, trotz
seiner großen Verdienste und des neuen Andenkens an seinen Sieg
in den Thermopylen, im Verdachte eines geheimen Einverständnisses
mit dem Feinde hatte. Odysseus war jedoch die Seele des Wi-
Verstandes, den die Türken in Thessalien, Livadien undBöo-
ti en fanden. Ungeachtet dessen berief ihn der executive Rath, auf
Antrag einer dem tapfern Häuptlinge feindlich gesinnten Partei,
vom Commando ab und sendete zwei Abgeordnete gegen den ver-
dienstvollen Sohn Andruzzo's, der ihrer Autorität spottete. Ueber
dem Gastmahle, zu dem Odysseus seine Gegner eingeladen
hatte, rief der Capitano seine Offiziere zu Richtern zwischen ihm
und der Regierung auf, und die Folge dieses Aufrufs war die
Niedermetzelung der Abgesandten derselben. Dies Verbrechen blieb
ungestraft; nur gegen minder machtige Häuptlinge, als Odysseus
und Kolokotroni waren, durfte der Senat es wagen, seinen Aus-
sprüchen Ausführung zu geben.
Unterdessen bereiteten sich furchtbare Ereignisse auf der Insel
Scio vor, dem alten Chios, das Paradies der Griechen
genannt. Diese höchst fruchtbare, am Eingange des Golfs von
Smyrna gelegene Insel, zahlte an 160/000 christliche Einwohner,
von denen etwa 1600 die Hauptstadt gleiches Namens bewohn-
ten. Hier war gewissermaßen der Centralpunkt der neueren grie-
chischen Aufklärung. Auch hatte die Insel mehrere Vorrechte
(hier wurden Terpentin und Mastix bereitet, der sonst nirgends
im türkischen Reiche gemacht werden durfte); sie war gleichsam
eine Domaine der Sultanin Fatime, die Macht genug im Serail
besaß, um jede Bedrückung der Scioten zu verhindern, wodurch
sie waren außer Stand gesetzt worden, .die Steuern und Abgaben
6*
— 84 —
zu entrichten, welche den Haupttheil der Einnahme der Prinzessin
ausmachte. Unter solchen Begünstigungen hatte sich die Insel, ihr
Interesse ganzlich von der allgemeinen Sache Griechenlands tren--
nend, in einer ruhigen Neutralität bis in den Marz 1822 erhal-
ten. Allein um diese Zeit ward sie von Sa mos aus fast gewalt-
sam zur Theilnahme an der Revolution getrieben. Am 25. Marz
vor Tagesanbruch landeten 3000 bis 4000 Samier, von dem
griechischen Fürsten Lykurg Logotheti geführt, auf Scio, wo
sie bereits von einem Haufen Scioten, die von dem kühnen Unter-
nehmen unterrichtet waren, erwartet wurden. Von allen Bergen
loderten Signalfeuer, und schnell versammelten sich mehrere Tau-
send Menschen in der Nahe des Landungsplatzes. Der Pascha
sendete 500 Türken zum Recognosciren; aber bald kamen diese in
wilder Flucht zurück. Der griechische Vortrab erschien bereits
Mittags auf einer die Hauptstadt und das Castell beherrschenden
Anhöhe, und nun warfen sich die etwa 4000 Mann starken Tür-
ken in das Fort, wohin sie achtzig der vornehmsten Scioten, und
unter diesen auch den Erzbischof, als Geisel mit sich nahmen. —
Um drei Uhr Nachmittags rückten die Griechen in die Stadt; an
der Spitze ihrer Heerschaaren trugen Popen die Fahne des Kreu-
zes, und der tausendstimmige Ruf: „Es lebe die Freiheit!" flog
durch die Straßen. Wahrend der ganzen Nacht war die Stadt
erleuchtet. Fürst Logotheti errichtete sogleich eine Regierungs-Iunta
von sechs Ephoren, sendete dem französischen Consul Bourville
eine Sicherheitswache und ließ sammtlichen europaischen Agenten
verbieten, türkisches Eigenthum auf ihre Schiffe zu nehmen. Bour-
ville wies die Sicherheitswache zurück, und der Pascha beantwortete
die erhaltene Ausforderung der Citadelle nur mit furchtbaren Ver-
wünschungen und Drohungen.
Zehn Tage lang hatte diese Lage der Sache gedauert, als
der Kapudan-Pascha mit einer furchtbaren Flotte, bestehend aus
zwei Dreideckern, vier Zweideckern, zehn Fregatten und achtzehn
kleineren Kriegsschiffen mit 1200 Mann Landungstruppen an Bord,
auf der Höhe von Scio erschien. Am 14. April, nachdem die
Schiffe von Hydra und Jpfara, welche um Scio kreuzten,-
vor der feindlichen Uebermacht die Flucht ergriffen hatten, setzte
der Kapudan-Pascha seine raub- und mordgierigen asiatischen Hör-
den an's Land, und es begann ein mörderischer Kampf. Die
Griechen, auch von der Citadelle aus beschossen, mußten eine Stel-
lung, eine Batterie nach der andern verlassen und wurden bis in die
Straßen der Stadt mit unaufhaltsamer Wuth verfolgt. Logotheti
zog sich mit den Ueberresten der kämpfenden Samioten und Sdo-
ten in die Gebirge. Nach ihrem Abzüge verübten die Türken in
der eroberten Stadt und deren Umgebung die schrecklichsten Greuel.
Im griechischen und katholischen Quartiere ging Feuer auf, und Nie-
mand unternahm es dessen Wuth zu steuern. Alle Häuser wurden
verwüstet und geplündert, die Kirchen entheiligt, die Todten selbst
aus den Gräbern gerissen, und ihre Gebeine zerstreut. Mordbren-
ner durchstrichen täglich mit Fackeln in den Händen die Stadt
und das umliegende Land. Die öffentliche Bibliothek, das Gym-
nasium, drei kostbare Klosterbibliotheken, die Pestlazarethe, das
Hospital und das Irrenhaus, siebzig Kirchen in der Stadt und
den umliegenden Bezirken, alles lag nach Zehn Tagen in Asche;
fünf schöne blühende Dörfer in der Nähe der Stadt waren nur
noch rauchende Schutthaufen. Dabei das furchtbare Gemetzel unter
den wehrlosen Griechen, deren in den ersten Schreckenstagen an
40,000 das Leben einbüßten! Da schützte weder Alter, noch Geschlecht;
Greise, Kinder, Frauen und Jungfrauen wurden Opfer fanatischer
Wuth. Ja, der Ermordeten waren bald so viele, daß ihre Leich-
name die Luft zu verpesten drohten, und man aus Smyrna eine
Anzahl Juden holen mußte, die befehligt und mit Säbelhieben
gezwungen wurden, die Leichname der christlichen Hunde,
womit sich rein rechtgläubiger Moslemim verunreinigen mochte, ins
Meer zu werfen.
Den furchtbaren Greueln auf der Insel Einhalt zu thun, er-
wirkten endlich die Consuln Englands, Frankreichs und Oesterreichs
eine Amnestie von dem Kapudan-Pascha für das Innere derselben,
besonders für die sogenannten Mastixdörfer, und begaben sich selbst
nach jenen Dörfern, die Bewohner zur Niederlegung der Waffen
und Abfendung zweier Primaten aus jedem Dorfe zu bewegen;
wogegen sie sich für die Amnestie verbürgten. Trotz dieser Bürg-
schaft aber ließ der Kapudan-Pascha am 23. April sammtliche in
der Citadelle gefangene Geiseln, nebst dem Bischöfe und den Ab-
geordneten aller Dörfer, gegen hundert an der Zahl, aufknüpfen.
Doch immer noch war der Blutdurst der Barbaren nicht gestillt;
unter dem Vorwande, daß viele der angesehensten Einwohner der
Hauptstadt sich nach den Mastixdörfern geflüchtet, ward eine Horde
von Mordbrennern dahin abgesendet, um alle dort befindliche Fremde
— 86 —
als nicht in der Amnestie begriffen, niederzumachen, oder in die Scla-
verei zu bringen. So dauerte das Morden und Brennen fort, bis die
ganze, zuvor blühende und volkreiche Insel einem weiten, schreckvollen
Grabe, einer graßlichen Einöde glich. Die wenigen Geretteten hatten
sich in Steinklüfte und Felshöhlen auf dem Gebirge verkrochen, von wo
aus es Einigen gelang, sich auf die an der Westküste kreuzenden griechi-
schen Fahrzeuge zu retten. — Nach amtlichen Berichten waren bis
zum 20. Mai schon 30,000 Weiber und Kinder von Smyrna aus
in die Sclaverei geführt. Augenzeugen erzählen, daß man daselbst
5000 Kinder aufgehenkt, ersauft oder von den Hausern hinabge-
stürzt habe; daß bei Tschesme an fünfzig bis sechszig mit Stricken
zusammengebunden und dann ersauft worden waren. Ein derzei-
tiges öffentliches Blatt schließt seine schaudervolle Schilderung der
verübten Barbareien auf Scio mit den Worten: „Es gibt nicht
Thranen genug, um das Schicksal der Insel zu beweinen!"
Wahrend der Kapudan-Pascha sich anschickte, mit seiner Flotte
die verwüstete Insel zu verlassen, erschien die griechische Escadre,
fünfzig kleine Kriegsschiffe stark, unter dem Admiral Miaulis
in der Nahe von Scio, um das an ihren Glaubensgenossen ver-
übte Blutbad zu rächen. Mehrere Gefechte, die Miaulis mit
einzelnen Abtheilungeu der feindlichen Flotte bestand, waren wenig
entscheidend. Allein in der Zwischenzeit hatten die Hydrioten zwei
Brandschiffe ausgerüstet und den unerschrockenen Jpsarioten Ka-
naris beauftragt, die Feinde mit diesen Rachewerkzeugen zu züch-
tigen. Kanaris erschien am 17. Juni bei den griechischen Schiffen,
und nachdem Miaulis die Türken durch verstellte Flucht sicher ge-
macht hatte, segelte Jener unter fremder Flagge auf die vor Anker-
liegende türkische Flotte zu, die sich, von zwei vermeintlich befreun-
beten kleinen Fahrzeugen sich nichts Böses versehend, nicht weiter um
sie bekümmerte. Um Mitternacht aber, mitten unter dem Freuden«
danket, welches die beutebeladenen Türken hielten, hing Kanaris
seine Brander, den einen an das Admiralschiff, den andern an das
Schiff des Kapudan-Bei. Die Explosion krachte fürchterlich. Das
Admiralschiff von achtzig Kanonen, mit dem Oberbefehlshaber und
dem ganzen Generalstabe, flog in die Luft und bedeckte mit seinen
glühenden Trümmern Himmel und Meer. Das andere Linien-
schiff hatte kaum ein besseres Schicksal: es entrann der ganzlichen
Zerstörung nur als ein völlig unbrauchbares Wrack. Zweitausend
zweihundertundneunzig Mann, worunter die vornehmsten Offiziere,
— 87 —
waren habei ums Leben gekommen. Die ganze türkische Flotte
kappte in wilder Hast und Verwirrung die Anker und entfloh nach
Tschesme. Der kühne Kanaris und seine Gefährten kamen
glücklich nach Hydra zurück, wo sie als Helden des Vaterlandes
mit allgemeinem Jubel empfangen wurden.
Bis um die Mitte des Jähres 1822 war der See- wie der
Landkrieg mit gleichem Glück' und Ruhme von den Griechen ge-
führt worden. Vier Monate nach dem Falle Ali's hatte der tür-
kische Oberfeldherr Churschid sich allein mit den Sulioten beschäf-
tigt, da er aus Mißtrauen gegen die ihm untergebenen Pascha's
nichts Entscheidendes zu unternehmen wagte. Im Juni aber ka-
men ihm aus Constantinopel bestimmte Befehle zu, unverzüglich
einen Hauptschlag auszuführen und dadurch den gesunkenen krie-
gerischen Geist der Muselmänner von neuem zu beleben. Nun
rief er ganz Macedonien zu den Waffen und befahl, daß alle
Türken jenes Gebietes vom fünfzehnten bis zum sechzigsten
Jahre sich unverzüglich bei Larissa versammeln sollten. Sie ström-
ten herbei, und schon vor Ablaufe des Juni waren unter acht Pa-
scha's und vierzig Bei's über 40,000 Mann vorhanden, welche, in
drei Corps vertheilt, den großen Entscheidungskampf bestehen soll-
ten. Churschid überließ dem neuen Pascha von Janina, Omer
Vrionis die Bezwingung der Sulioten und drang mit dem
Hauptheere unaufhaltsam nach Theben vor. Die griechische Re-
gierung floh nach Arg os, ohne Mittel, dem Feinde in der Landenge
Widerstand zu leisten. Odysseus, welcher die Engpasse des Jsth-
mus besetzt hielt, befürchtete, wenn er zu lange verweile, von der
türkischen Uebermacht völlig erdrückt zu werden, und zog sich in
geschlossener Ordnung nach Athen zurück. Churschid, um keine
Zeit zu verlieren, sendete den Pascha Dram-Ali mit 39,000
Mann schleunigst über die Erdenge nach dem Peloponnes. Die
schwache Besatzung von K orinth, wo es an allen nöthigen Ver-
theidigungsmitteln fehlte, sah die ganze Ebene von Türkenschwär-
men bedeckt und räumte die Festung, ohne einen Angriff zu erwar-
ten. Daher bemächtigte sich Dram-Ali ohne allen Widerstand
des leeren Platzes; worauf er 6000 Mann gegen Patras, dessen
Besatzung sich mit ihnen zu verbinden ausgerückt war, und 12,000
Mann nebst 1000 Pferden nach Argos sendete. Alles floh vor
dem anrückenden Feinde. Die Regierung verließ Argos und flüch-
tete von da nach den an der östlichen Küste des Peloponneses
— 83 —
liegenden Schiffen, um dort das Weitere abzuwarten. In dieser
Noth war es die Popularität Kolokotroni's, die Morea rettete.
Ohne Befehl abzuwarten, hatte er die Belagerung von Patras
aufgehoben und sich nach Tripolizza hinabgezogen, seine Eroberung
vor dem Feinde zu sichern. Hier wuchs seine Macht. Der Ruf
des alten Klephthenhäuptlings wirkte wunderahnlich: ganz Morea,
das sich Maurokordatos Vorstellungen versagt hatte, griff jetzt zu
den Waffen. Alle persönlichen Zwistigkeiten wurden für den Au-
genblick vergessen, sowie jeder Streit im Commando der Armato-
lis. Ueber 4000 Mainotten stürzten aus ihren Bergschluchten,
unter Anführung ihres tapfern Häuptlings Mauromichales, die
Lailioten und Andere zogen herbei, und in wenigen Tagen war
eine Streitmasse von 12,(KM) Kriegern versammelt, welche Sieg
oder Tod wollten.
Npsilanti's standhafter und unerschrockener Muth trat dem
Feinde zuerst entgegen. Er hatte sich im Augenblicke der
höchsten Gefahr mit kaum 200 entschlossenen Gefährten in die
alte, halb zerstörte Citadelle von Argos geworfen und sich darin
befestigt; während Kolokotroni bei Lerna eine starke Position ein-
nahm, die ihn mit dem Süden und Westen in Verbindung erhielt»
Geschickt hatte man den Feind in die weiten Schluchten zwischen
Korinth und Argos gelockt, wo sich die wilden Schaaren, meistens
Reiterei, nun aller Lebensmittel beraubt sahen, sür deren Wegschaf-
fung der alte Häuptling gesorgt hatte. Während nun der Hun-
ger im Lager der Türken herrsche, verstärkte 'sich Kolokotroni's
Heer mit jedem Tage. Vpsilanti war nach einer heldenmütigen
Verteidigung in der halb verfallenen Beste, womit er die Feinde
aufgehalten, durch einen meisterhaften Rückzug zu ihm gestoßen.
Da zwang der Hunger die Türken zur Rückkehr nach Korinth.
Alle Hohlwege und Berge aber zwischen Argos und Korinth
waren von den Griechen besetzt; worauf am 4, August der alte
Klephthenchef aus seinem Lager bei Lerna aufbrach, sich auf die
Nachhut des fliehenden Feindes stürzte und 5000 Nachzügler und
unberittene Cavaleristen niederhieb. Von diesem Augenblicke an drang
der Schrecken in die Reihen der Türken; ihr Rückzug artete in die
wildeste Flucht aus; vor sich fanden sie die Mainotten und andere
Gebirgsbewohner, hinter sich Kolokotroni's wüthendeKriegerschaaren»
Mit ungeheurem Verluste schlugen sich die Flüchtigen durch die von
den Griechen vertheidigten Desileen, und nicht der dritte Theil der
türkischen Armee erreichte am dritten Tage ihres Abzuges aus
Morea Korinth. Ansehnlich war die Siegesbeute: sie bestand in
150 Kameelen mit dem sammtlichen Gepäck' und Kriegsgerathe,
nebst 2000 Pferden — So hatten sich Kolokotroni, Vpsilanti,
Nikitas und andere Militairschefs der schwierigen Aufgabe, den
Peloponnes und mit ihm Griechenland zu retten, auf eine rühm-
würdige, ans Wunderbare grenzende Weise entledigt. — Koloko-
troni ließ die Flüchtigen verfolgen und Korinth blockiren und eilte
selbst nach Tripolizza, um dort bei dem Senate die Versorgung
seines Heeres mit Lebensmitteln zu betreiben, die der verwüstete Isth-
mus nicht mehr darbot. Allein hier fand er bösen Willen, Undank
und Vorwürfe bei derselben Regierung, deren Existenz er so eben
gerettet, und die sich selbst durch ihre Flncht fast um alles Ansehen
gebracht hatte. Mehrere Monate verstrichen in fruchtlosen Dis-
cussionen, während der Hunger in den Reihen der Griechen wüthete.
Bald schwächte Krankheit und Elend aller Art das griechische
Heer, mit so reißender Schnelligkeit, daß die Türken, von dieser
Lage der Dinge wohl unterrichtet, schon im Begriffe waren, eine
zweite Invasion zu beginnen. Allein Kolokotroni eilte mit neuer
Mannschaft herbei, den Isthmus zu verschließen, ließ starke Ver-
schanzungen an der Nordseite desselben aufwerfen und von meh-
reren Armatolis besetzen, um zu verhindern, daß die in Korinth
eingeschlossenen Türken nach Livadiey durchbrachen und sich dort
mit Churschids Heerhaufen wieder vereinigten.
Wahrend dieser Vorgäbe hatte Maurokordato eine Expedi-
tion nach Epirus unternommen, deren Hauptzweck die Befreiung
der Sulioten sein sollte, welche sich, in ihren Bergen einge-
schlössen, mit verzweifeltem Muthe gegen Omer Vrionis Verth ei-
digten. Er begab sich, mit den regulairen Truppen unter Tarella
und dem Corps der Philhellcnen unter der Begleitung Normans
und mehrerer Militairchefs nach Missolunghi, wohin ihm unver-
zugleich 2000 Peloponneser folgen sollten. Leider aber war die
Ausführung dem entworfenen Plane nicht entsprechend. Mauro-
kordato fand zu Missolunghi Uneinigkeit unter den Häuptlingen,
die sich ihm anschließen sollten, und aus dem Peloponnes führte
ihm ein Sohn Kolokotroni's statt der 2000 nur 500 Mann zu.
Der heldenmüthige Markos Bozzaris, einer der ersten unter
den Kampfern des neuen Griechenland, war mit ihm. Maurokor?
dato setzte mit seiner Division in der Nacht vom 2. Juni über
dcN Golf, sendete 700 Palikaren nach den Bergen der Sulioten
voraus und blieb mit den regulairen Truppen in der Nahe von
Misjolunghi stehen, um hier die Ankunft der ostgriechifchen Kleph-
thenchefs zu erwarten. Allein diese waren ihrem alten Führer
Odysseus lieber gefolgt, der um diese Zeit Athen belagerte und
einnahm. So blieb denn Maurokordato's kleine Schaar, wie sie
war, nämlich kaum <£000 Mann stark, und es ward Omer Vrio-
nis leicht, sie nach einem heftigen Angriffe, welcher die Griechen
zu einer unvorsichtigen Theilung ihrer Kräfte verleitete, von allen
Seiten zu umgehen. Verrath half ihm sie völlig besiegen. Mar-
kos Bozzaris war mit seinen fast 1000 Mann starken Armatolis
vorausgeeilt, um bis zu den Sulioten, durchzudringen und die
ganze Schaar hatte zur Unterstützung dieses Planes eine Bewe-
gung vorwärts bis Peta, einem Dorfe wenige Meilen von Arta,
gemacht. Der Capitano Gogo verrieth dem Feinde die ganze
Unternehmung. Die Griechen wurden am 16. Juli von 6000
Türken nebst 1200 Mann Reiterei umringt und auf das Wüthendste
von allen Seiten angegriffen. Die Albanefen rückten vor und
schwenkten ihre zahlreichen Fahnen. Der Angriff geschah in Mas-
sen und fast ohne Ordnung. Die Hellenen empfingen sie mit
einem starken Gewehrfeuer, und bald bedeckten ganze Haufen alba-
nesifcher Todten das Schlachtfeld. Zwei Stunden stand das Ge-
fecht völlig unentschieden. Da erscholl auf einmal das Geschrei:
„Gogo flieht, wir sind umgangen!" In der That war es so.
Der Verrather hatte seine Stellung verlassen, und die Türken
drängten mit Uebermacht durch die von ihm besetzt gehaltene Schlucht,
und nun ergoß sich der ganze Schwärm auf die Philhellenen.
Diese wehrten sich mit dem Muthe der Verzweiflung; doch nach
stundenlanger Blutarbeit lag das ganze schöne Corps dahingestreckt
auf dem Wahlplatze. Die regulairen Truppen flohen und rissen
die Aetolier und Akarnanier mit sich in die Flucht. Norman, der
Chef der Philhellenen, war hart verwundet und starb bald nachher
an einem hitzigen Fieber; Tarella verblutete an einer Todeswunde,
und noch viele andere berühmte Helden waren nebst achtundvierzig
Offizieren gefallen. Alle von den Türken gefangenen Griechen
und Philhellenen wurden im Jubel von den Albanefen nach Arta
geführt und an verschiedenen Orten der Stadt hingerichtet.
Maurokordato und Bozzaris zogen sich mit dem Neste ihrer
Truppen, etwa 600 Mann, nach Missolunghi zurück. Die Su-
— 91 —
lioten, welche sich und ihre feste Stadt so lange tapfer vertheidigt
hatten, sahen nun Alles für verloren an und unterhandelten durch
Mitwirkung von englischen Commissairen, besonders des Consuls
von Prevesa. Man mußte ihnen freien Abzug nach den ioni-
schen Inseln zugestehen, und englische Fahrzeuge schifften sie hin-
über. — Omer Vrionis, dieses Feindes ledig, konnte nun seine
ganze Macht gegen Missolunghi richten. Maurokordato tauschte ihn
durch Unterhandlungen, und was nicht schon früher geschehen war,
um diesen, selbst durch die Natur und seine Lage wichtigen und
begünstigten, Ort zu befestigen, geschah nunmehr in Eile. Aber die
Macht, die Maurokordato und Bozzaris den Feinden entgegen
zu setzen hatten, stand im Mißverhaltnisse zu dem Angriffe, der im
November von den Türken unter drei Pascha's erfolgte; und nur
mit dem heroischen, Alles aufopfernden Muthe der Griechen und mit
der größten Ausdauer und Klugheit von Seiten der Befehlshaber
konnte derselbe zurückgewiesen werden. Gegen Ende Novembers
endlich erschien der sehnlichst erwartete Beistand. Es waren 1500
Mann unter Anführung des Kapitano Mauromichales. So-
gleich nahmen die Sachen in Missolunghi eine andere Gestalt an.
Ein glücklicher Ausfall folgte dem andern, und Maurokordato fen-
dete den Armatolis von Akarnanien und Aetolien Befehl zu, der
Belagerungsarmee in den Rücken zu fallen — Diese brachen
auch von allen Seiten dergestalt hervor, daß Omer Vrionis bald
für seine eigene Existenz zu fürchten begann. Er versuchte nun
das Aeußerste, die Festung zu nehmen, und befahl am 24. Decem-
ber einen allgemeinen Sturm. Seine Artillerie erschütterte die
schwachen Mauern der Stadt; man schlug sich mehrere Stunden
lang Mann für Mann. Doch der Sieg blieb den Griechen, und
1200 Türken bedeckten die Wahlstatt, welche der Pascha in gro-
ßer Eile verließ. Dieser Unfall reichte hin, den stolzen Muth der
Sieger von Peta wieder zu beugen; in den ersten Tagen des
Januar 1823 sah sich Omer Vrionis genöthigt, die Belagerung
ganz aufzuheben und, mit Zurücklassung von 10 Kanonen, aller
Kriegsmunition und des größten Theils seines Lagers, Missolunghi
zu verlassen. Da loderten die Signalfeuer von den hohen Thür-
men der Festung und. bald von allen Höhen der aetolifchen und
akarnanischen Berge. Die tapfere Besatzung und die Armatolis
folgten dem fliehenden Feinde; Gefechte nun bei Tage und bei Nacht;
auch die letzte Kanone mußten die Türken im Stiche lassen, und
— 92 —
da Omer Vrionis noch einen bedeutenden Verlust beim Uebergange
über den angeschwollenen Achelaus erlitt, rettete er sich nur durch
seine zahlreiche leichte Reiterei vom ganzlichen Verderben. — Die
Geschicklichkeit und Standhastigkeit Maurokordato's und des hel-
denmüthigen Bozzaris hatten der griechischen Sache diesen neuen
Sieg errungen, der den Feldzug von 1322 glorreich zu Ende
führte. Im Peloponnes war inzwischen (12. December) auch die
Stadt und Festung Anapli (Napoli di Nomania, auch Nauplion)
in die Hände der Griechen gefallen.
Nicht minder glücklich war während der letzten Monate des
Jahres 1822 der Kampf der Hellenen zur See gewesen. Zu
den wichtigsten Ereignissen gehörte vor allen die Eroberung der
Hauptstadt und Festung Kanea auf der Insel Kandia, wodurch
die Griechen ein ungeheures Uebergewicht zur See, selbst gegen
den furchtbaren Pascha von Egypten, M ehe med Ali, erhielten.
Diese Eroberung hatte im November stattgefunden, und man
konnte demnach die große, wichtige und reiche Insel als der tür-
kischen Herrschaft entrissen ansehen. Der wohl angelegte Plan einer
Mitwirkung der türkischen Flotte zu den Landoperationen war
ganzlich vereitelt worden; denn sobald die osmanische Flotte, sechs
Linienschiffe, zehn Fregatten und dreißig Corvetten, nebst mehreren
Transportschiffen, im Meerbusen von Argos einzudringen versuchte,
waren auch schon die kühnen Hydrioten und Ipsarioten zu ihrem
Empfange bereit. Ware es ihr gelungen, die ganze flache Insel
Spezzia, und dann auch das festere Hydra zu nehmen, so wäre
dadurch der ganzen griechischen Marine ein Hauptschlag versetzt
worden, und auf ihrer Marine ruhte gxößtentheils die Hoffnung
der Griechen selbst. Das Vorhaben der feindlichen Flotte mußte
also jedenfalls verhindert werden. Der griechische Admiral Miau-
lis erwartete daher init seinem Geschwader (siebenundfunfzig Briggs,
jede zu zehn bis sechszehn Kanonen) die Feinde bei Spezzia selbst,
um den neuen Kapudan-Pascha, Abdullah, zugleich von einer
Landung und von dem Eindringen in den Golf von Argos abzu-
halten, und bot ihm die Schlacht an. Die Türken aber hatten Vör-
den griechischen Brandern eine so große Furcht, daß sie ihre Ka-
nonen schon außerhalb Schußweite und zwar von beiden Borden
zugleich abfeuerten, als wollten sie sich auf ihrer Flucht im dich-
ren Rauche ihrer eigenen Geschütze verbergen. Der kühne Miaulis
und Kanaris, der unternehmende Branderführer, verfolgten sie
— 93 —
und setzten dem Admiralschiffe so gewaltig zu, daß es auf den Grund
stieß und kaum konnte gerettet werden. Unter den Kanonen des unge-
heuern türkischen Orlogs nahmen nun die Griechen mehrere zum
Theil christliche Transportfahrzeuge; die osmanische Flotte aber
entfloh nach Tenedos, wo ihr noch ein traurigeres Schicksal als
in dem Golfe von Argos, bereitet ward.
Nach dem Rückzüge des türkischen Großadmirals aus dem
Meerbusen von Argos, rüstete Kanaris zwei Brander aus, ließ
seine Matrosen türkische Kleidung anlegen und traf mit zwei ip-
sariotischen Briggs die Verabredung, die Brander scheinbar bis in
die Nahe der türkischen Flotte zu verfolgen. Dies geschah. Jene
flüchteten bis mitten unter die türkischen Fahrzeuge und na-
Herten sich dem Admiralchiffe und dem des Kapudan-Bei. Nun
bestiegen die Griechen ihre Schaluppen, und kaum hatten sie sicb
von den Brandern entfernt, als diese mit furchtbarem Geprassel
in hellen Flammen aufloderten. Das Admiralschiff kappte sogleich
die Anker; die übrigen Schiffe, in schrecklicher Verwirrung, thaten
dasselbe und flohen; allein der Dreidecker des Kapudan-Bei von
vierundsiebzig Kanonen, mit IHM Mann und der ganzen Heeres-
kasse an Bord, ward ein Kaub der Flammen und flog unter schreck-
lichem Gekrache in die Luft (22. November). Mehrere der in wil-
der Eile fliehenden Schiffe stießen an einander, liefen auf
den Strand und scheiterten an der asiatischen Küste. Einige
wurden ein Raub der in der Nahe harrenden griechischen Escadre,
und überhaupt retteten sich von der großen türkischen Flotte nur
wenige Kriegsfahrzeuge unbeschädigt nach den Dardanellen, aus
denen sie sich nun so bald nicht wieder hervorwagten. Die Grie-
chen blieben Herren des Archipelagus.
Errichtung der Centralregierung. — Dritter Feld-
zug der Türken gegen die Griechen. —
Bozzaris Tod.
Durch die günstigen Resultate des Jahres 1822 neu ermu-
thigt, hatten die griechischen Freiheitskämpfer das Neujahr 3823,
als die Morgenröthe einer unangetasteten Freiheit und Selbststan-
— 94 —
digkeil, mit Jubel und patriotischer Gegeisterung begrüßt. — In
Folge einer unterm November des vorigen Jahres erlassenen
Verfügung sollte mit dem Anfange des Jabres 1823 die proviso-
rische Regierung aufhören, und ein neuer Congreß zur Organisirung
einer Centralregierungam 10. April zu Astros im Pelopon-
n es eröffnet werden. Die Theilnahme des Volks an den VerHand-
lungen war diesmal größer, als sie vor einem Jahre bei der con-
stituirenden Versammlung in Epidauros gewesen war, und auch
die Zahl der Abgeordneten der einzelnen Provinzen und der In-
seln hatte sich bedeutend vermehrt. Eine größere Thätigkeit be-
gann sich zu entwickeln; die parlamentarischen Verhandlungen
hatten eine fast unglaubliche Ausbildung erfahren. Bei jener er-
sten Versammlung waren kaum sechs Mitglieder im Stande ge-
wesen, sich mit Leichtigkeit im mündlichen Vortrage auszudrücken;
der diesjährige Congreß zahlte wenigstens dreißig tüchtige und un-
terrichtete Redner. Die früheren Provinzial - Junten sammt der
Gerusia wurden von den Deputirten aufgehoben, und ganz Grie-
chenland stand nun unter einer demokratischen Central-Regierung,
welche zwei Abtheilungen hatte, nämlich die gesetzgebende und
die vollziehende. Georg Konturioti aus Hydra ward zum
Präsidenten des gesetzgebenden Senats, Petros Mauromicha-
les, ehemaliger Fürst von Maina, zum Präsidenten des
Vollziehungsrathes ernannt. Es war Maurokordato gelungen,
eine augenblickliche Übereinkunft zwischen den streitenden Parteien
zu bewirken und die Militairpartei mit ihren Forderungen, hin-
sichtlich eines bestimmten Antheils an der Regierung, zu befriedigen,
indem er selbst die ihm angetragene Präsidentschaft des Vollzie-
hungsrathes ablehnte, solche dem Petros Mauromichales, welcher
unstreitig den größten Einfluß auf das gemeine Volk hatte,
zuwendete und sich selbst mit der Stelle eines Generalsecre-
tairs der Regierung begnügte. Kolokotroni ward zum Generalissi-
mus der Halbinsel Morea ernannt, Odysseus als Generalcomman-
dant von Thessalien, und Markos Bozzaris als oberster Befehls-
haber von Epirus und Akarnanien proclamirt. Zu gleicher Zeit
wurden Tribunale errichtet, denen ein Auszug aus dem Codex
Napoleon als provisorisches Gesetzbuch übergeben ward, bis von
einer dazu ernannten Commission ein dem jetzigen Geiste des grie-
chischen Volks zusagendes Strafgesetzbuch entworfen sein würde.
Am 30. April schloß der Congreß seine Arbeiten und trennte sich
— 95 —
mit dem Beschlüsse, außer bei dringender Noch, nicht vor Ablauf
zweier Jahre wieder zusammenzutreten, und mit einer Proclamation
an die Hellenen, in welcher die Gerechtigkeit des Unabhangigkeitskrie-
ges vor Gott und der Welt auf's Neue dargethan ward. Hierauf
verfügte sich die neue Regierung nach Tripolizza.
So begannen die Angelegenheiten sich allmalig zu regeln, und
die griechische Revolution erhielt eine festere Gestaltung. Nur die
Finanzen wollten sich noch nicht aus der Verwirrung erheben las-
sen; dabei fehlte es an Hülfe von Außen, und im Innern an Ein-
tracht der Primaten und der Militairchefs. Seit dem Anfange
der Revolution waren die Kosten des Kriegs gegen die osmanische
Macht hinsichtlich der Seeoperationen von den großen und reichen
Schiffseigenthümern, namentlich von Hydra, Spezzia und Jpsara,
hergegeben worden; ebenso war, wie schon erwähnt, die Führung
des Landkrieges fast nur den Einzelnen überlassen worden; ein
bestimmter Einfluß von Oben war bei der allgemeinen finanziellen
Armuth noch immer nicht denkbar. Flossen wohl auch von Au-
ßen durch die Theilnahme der Nationen einige Geldunterstützungen
den Griechen zu, so waren diese doch durchaus nicht hinreichend,
die Kosten des Krieges zu bestreiten, und ein von der Regierung
allein abhangiges Heer, eine nur von ihr abhangige Flotte, war
nicht zu erlangen. So blieb die Regierung auch ferner noch wegen
unmittelbarer Kriegführung auf den guten Willen der Militair-
chefs, wie auf die Gaben einzelner Patrioten und auf Geld-
sendungen von Europa her beschrankt. Eine projectirte Anleihe
in Deutschland fand schlechten Fortgang. Etwas besseren Anklang
fand die Sache der Griechen in England, wo der Minister Can-
ning selbst, treu'der alten Vorliebe für das von ihm in seiner Ju-
gend besungene Hellas, ihren Untergang auf jede Weise zu ver-
hindern strebte, und Lord Erskine an der Spitze der Philhellenen«
gesellschaft stand, die eine z-u Gunsten der Griechen Anleihe von
einer Million Pfund Sterling zu Stande zu bringen suchte, deren
Zinßen in Landesproducten sollten abgetragen werden; auch der be-
rühmte Dichter, Lord Byron, strengte seine ganze Kraft und
all' seinen Einfluß an, den Griechen Geld, leichte Artillerie,
Pulver, Medizin und jegliche Art von Unterstützung zu verschaffen,
bis er spater selbst in Griechenland eintraf.
Bisher waren die Griechen von den Türken nur als verächtliche,
leicht zu bewältigende Feinde betrachtet worden; die Erfahrung zweier
Feldzüge hatte jedoch sie eines Besseren belehrt, und der Opera-
tionsplan für den dritten waren mit größerer Umsicht entwor-
fen. Eine betrachtliche Artillerie, von 1000 Kanoniren beglei-
tet, wurde von Constantinopel nach Salonichi, dem Versamm-
lungsorte der osmanischen Streitkräfte, abgesendet. Geschärfte
Befehle zwangen die türkischen Pascha's in Bulgarien, Thrazien
und Macedonien zu den größten Anstrengungen, um ihre Heer-
Haufen so stark, wie irgend möglich, zu machen. Dem entworfenen
Kriegsplane gemäß, nach welchem auch die Flotte mitwirken,
auf Negropont ein Landungsheer aussetzen und Missolunghi streng
blockiren sollte — wollte man die Griechen von drei Seiten an-
greifen. Wahrend nämlich der Seraskier Selim im Osten gegen
die Thermopylen vordränge und über die Landenge auf Korinth
anrückte, sollte Mustapha, Pascha von Scudari, mit einer
ebenso starken Armee im Westen heranziehen, das Hauptheer
aber unter Iussus, Pascha von Lepanto, die Nordküste des
Golfs von Lepanto angreifen, und so dem durch die Thermopylen
vordringenden Heere die Hand bieten. — Im Juni verließ die
türkische Flotte die Dardanellen, nahm auf der Seite von Klein-
eisten ein betrachtliches Truppencorps an Bord und setzte 3000
Mann davon auf Negropont an's Land. Die Griechen, der
Uebermacht weichend, zogen sich nach den Gebirgen zurück, wo sie,
durch geschickte Benutzung des ihnen bekannten Terrains, die sie
verfolgenden Feinde dergestalt in Verwirrung brachten, daß die
meisten derselben theils niedergehauen, theils in Abgründe gestürzt,
aufgerieben, und die auf diese Expedition gebauten Hoffnungen
des türkischen Befehlshabers ganzlich vereitelt wurden.
Mittlerweile rückte der Seraskier mit einer großen Macht —
8000 Mann europaischer Infanterie, 7009 Asiaten und 3000
Reiter — über Zeituny in die Thermopylen. Hier aber hielt
ihn Odysseus, der geschickteste Anführer der Hellenen für den Gue-
rillakrieg, mit seinem schon vielfach bewiesenen Heldenmuthe auf,
und nach einem hitzigen Gefechte, in welchem 700 Griechen sielen,
langten die erwarteten griechischen Hülfstruppen an; wodurch der
Sieg entschieden, und die Türken völlig in die Flucht geschlagen
wurden. Hierauf glückte es dem erfahrenen Odysseus und andern
Kriegshauptlingen, die Feinde in offenen Treffen, oder in nächtli-
chen Ueberfällen und steten Scharmützeln, mit solchem Erfolge zu
bekämpfen, daß die Trümmer ihres ganzlich zersprengten Heeres
— 97 —
endlich nur durch schnelle Flucht nach Thessalien der gänzlichen Ver-
nichtung entrannen. — Ungünstiger schienen sich die Verhältnisse
iin westlichen Griechenland gestalten zu wollen, wo Markos Boz-
zaris die Verteidigung Akarnaniens auf sich genommen hatte.
Nachdem der Kapudan-Pascha nämlich einen Theil seiner Truppen
auf Negropont ans Land gesetzt, hatte er die Richtung nach dem
Golf von Patras genommen, um eine regelmäßige Blokade von
Missolunghi zu unternehmen. Dieser Ort war jedoch, besonders
dnrch Maurokordato's Bemühungen, dergestalt befestigt worden, daß
er jedem Anfalle der Türken Trotz bieten konnte. Ein sehr breiter
und tiefer Graben durchschnitt die drei langen Dammwege, welche
mitten durch die umliegenden Moraste führten, und machte also
Missolunghi beinah zu einer Insel. Der vom Meerwasser ange-
füllte Graben selbst ward durch achtzehn Batterien vertheidigt,
und nach der Seite des Meeres hin war, wegen der langen La-
gunen, die niedrige Küste jedem Kriegsfahrzeuge unzugänglich»
Alle Versuche des türkischen Großadmirals blieben daher ohne
Erfolg, und er sah sich gezwungen, die Ankunft der verschiedenen
Armeecorps zu erwarten, um mit ihnen gemeinschaftlich den festen
Platz, ohne dessen Besitz die Einnahme des westlichen Griechenlands
fruchtlos bleiben mußte, zu Wasser und zu Lande mit gleicher
Kraft anzugreifen. Zu diesem Zwecke war ein Heer von 12,000
Mann durch die Pascha's Iussuf und Omer Vrioni auf den
Grenzen von Epirus versammelt, und der für unüberwindlich ge-
haltene Pascha von Scudari bewegte sich an der Spitze seines
Heeres durch Agrapha und durch Aetolien. Der Kapudan-Pascha
aber hatte den größten Theil seiner Truppen bereits unfern Misso-
lunghi ausgeschifft und hatte Alles vorbereitet, auch den Rest seiner
Völker zu Cancila, einem Hafen von Akarnanien, ans Land zu
setzen. Alle diese Streitkräfte sollten sich unter einander die Hand
bieten, indem sie, jede in der ihr vorgeschriebenen Richtung, anrück-
ten, und es schien um Westgriechenland geschehen, wenn die Ver-
einigung dieser Heeresmassen nicht verhindert würde; denn dieser
ganze Theil Griechenlands hatte dem Angriffe der Türken kaum
4000 Mann entgegen zu stellen.
Nur eine Heldenthat, die des erhabenen Vorbildes Leonidas
würdig genannt werden kann, vermochte die gefürchtete Verein!-
gung zu hindern. Markos Bozzaris war entschlossen, durch
seinen Tod das Vaterland zu retten, und, woran er aber wohl schwer-
N. G. IV. 7
— 98 —
lich dachte, sich sterbend die Unsterblichkeit zu erringen. Unver-
mögend, den so sehr überlegenen Feind, der an den Grenzen Akar-
namens lagerte, in offener Schlacht zu schlagen, und so von Misso-
lunghi abzuhalten, beschließt er, in einem nachtlichen lieberfalle das
feindliche Heer zu vernichten. In einer feurigen Rede begeistert
er seine tapfern Sulioten dergestalt, daß sie, gemäß dem alten
Brauche, die Scheiden ihrer Schwerter zerbrechen, um zu bewei-
sen, daß Sieg oder Tod ihr Entschluß sei. („Kaum die Wahl
zwischen Sieg und Tod bleibt euch — sprach er — der Tod ist
fast Allen gewiß, die mir folgen!") Vierhundert von ihnen
wurden zum Angriffe gewählt, die Uebrigen, in drei Corps vertheilt,
sollten das Lager in seinen Hauptausgangen besetzen und auf das
Zeichen, welches Markos selbst mit seinem Hifthorn geben würde,
den Angriff unterstützen, oder die Fliehenden auf das erstürmte
Lager zurückwerfen. In der Nacht vom 1!). August 1823 brachen,
nach stillem, inbrünstigen Gebete die Kampfer auf und näherten
sich dem feindlichen Lager im tiefsten Schweigen. Die Vorposten
wurden getauscht, Bozzaris redete sie albanesisch an und hieß sie
ihm das Zelt des Pascha zeigen, zu dem Omer Vrionis ihn sende.
— Die Mitte des Lagers wird erreicht: da giebt das furchtbare
Hifthorn des Bozzaris das verabredete Zeichen. Die Sulioten
stürzen nach allen Seiten über die Türken in ihren Zelten her;
bald fließt das Blut in Strömen. Zwei Stunden dauert der
Kampf und das Gemetzel; das ganze Heer wendet sich zur Flucht;
die Griechen außerhalb des Lagers treiben die Fliehenden auf die
Angreifenden zurück; Türken und Albaneser schreien gegen einan-
der Verrath und würgen sich im Dunkel der Nacht und in der
Verwirrung gegenseitig; das Blutbad erreicht seinen höchsten
Grad. Bozzaris wird durch eine Kugel verwundet; doch bleibt
er auf dem Kampfplatze, bis eine andere ihn tödlich trifft. Sein
Plan war mehr als gelungen: 3000 Osmanen deckten das Schlacht-
feld, die übrigen flohen die Berge hinauf, und erst am Morgen
fanden die Ueberbleibsel des so furchtbar gewesenen türkischen
Heeres sich wieder zusammen. —
Kaum hundert Griechen waren gefallen. Das ganze feind-
liche Lager, die Artillerie, die Kriegskasse, eine große Menge Kriegs-
bedarf, reiche Waffen, über tausend Pferde und über 7000 Stück
Schlachtvieh sielen in der Sieger Hände. — Der Leichnam des
ruhmbedeckten Bozzaris ward in einem feierlichen Zuge vom
I
— 99 —
Schlachtfelde, das sein Ehrenfeld geworden war, nach Missolunghi
gebracht; siebenunddreißig feindliche Fahnen trug man neben der
Leiche, siebzehn Köpfe von Aga's und Bei's, die seine tapfere
Faust getödtet, hinterher. —
Markos Bozzaris hatte, als er des Todes Nahe fühlte, sei-
nein Bruder Conftnntin den Oberbefehl übergeben, und dieser
eilte, die Ueberreste des geschlagenen feindlichen Heeres in ihrer
festen Stellung, unweit Carpenisa, zu umzingeln, wahrend der
Kapudan-Pascha, erschreckt durch die Niederlage des gewaltigen
Heeres des Pascha von Scudari, die gelandeten Truppen eiligst
und in solcher Verwirrung wieder einschiffen ließ, daß eine unge-
heure Menge Kriegs- und Mundvorrache der Besatzung von Misso-
lunghi in die Hände siel. — Einen Monat lang schlug Constan-
tin Bozzaris alle Rettungsversuche der eingeschlossenen Türken zu-
rück, bis Omer Vrionis mit einem bedeutenden Armeecorps heran-
rückte. Nun hielt er es für gerathen, sich nach Missolunghi zurück-
zuziehen, und auf's Neue sah sich diese Stadt von den Osmanen
belagert. Aber alle Versuche derselben gegen diesen festen Platz
wurden von dm Griechen vereitelt, und abermals mußten sie
die Belagerung ausheben, nachdem sie besonders vor der nahe ge-
legenen festen Stadt Anatolikon, die für Missolunghi von Wich-
tigkeit ist, ihre unverhaltnißmaßigen Kräfte zersplittert. Hier lagen
sie, 499 Griechen gegenüber, zwei Monate lang, warfen über
3999 Bomben in die kleine Beste (deren eine den von Wasser-
mangel bedrängten Einwohnern eine Quelle anweisen mußte) und
zogen endlich am 29. November, mit erschöpften Kräften und
Hinterlassung ihres ganzen Geschützes, ihrer Munition und Vor-
rathe, nach Aetolien zurück. — Im Peloponnes war inzwischen,
mitten unter inneren Parteikämpfen, die Citadelle von Korinth
zum zweiten Male durch Kapitulation an die Griechen übergegan-
gen; — österreichische Schiffe führten die Besatzung mit ihrem Ei-
genthume nach Kleinasien hinüber. — Die griechische Regierung
gab sogleich Befehl, die Festungswerke zu verstarken, zu welchem
Zwecke mehrere auswärtige Artillerieoffiziere und Ingenieurs aus
dem griechischen Hauptquartiere nach Korinth gesendet wurden. Den
Griechen ging Akrokorinth nicht wieder verloren. — Die Bela-
gerung von Patras war bisher mit steter Erfolglosigkeit fortgesetzt
worden; durch die Einnahme Korinths aber ward nunmehr den
Hellenen die strengere Einschließung dieser Festung sehr erleichtert.
— 100 —
Keinen besseren Erfolg, als der Landkrieg, hatte für die Tür--
ken der Seekrieg in diesem Jahre. Zweimal noch verließ der Ka-
pudan-Pascha die Dardanellen, ohne etwas mehr zu thun, als
beim Anblicke griechischer Segel dahin zurückzukehren. Wenn die
große türkische Flotte erschien, flohen gewöhnlich die griechischen
Einwohner aus den schwächeren Platzen und begaben sich in die
stärkeren, wo sie nicht leicht einen Angriff zu fürchten hatten. So
die Spezzioten, die nach Hydra flüchteten, und die Bewohner
von Negropont, die mehrere Male auf den benachbarten Inseln
Schutz suchten. Sehr überlegen im Seemanöver blieben fortdauernd
jene leichten griechischen Fahrzeuge, die gewöhnlich nicht mehr als
zwölf Kanonen führten, gegenüber den unbehülflichen und schlecht di-
rigirten türkischen Corvetten und Fregatten. Dabei ließen die griechi-
schen Brander hinsichtlich ihrer schrecklichen Vollkommenheit fast nichts
mehr zu wünschen übrig; nur die bestandige Flucht der türkischen
Schiffe vereitelte die Bemühungen der Griechen, ihnen vermittelst
des surchtbaren Zerstörungswerkzeuges wesentlichen Schaden zu
thun. *) Die Kühnheit und Gewandtheit der griechischen See-
lente bei der Leitung der Brander hatte überdies den Kapudan-
Pascha zu den strengsten Befehlen bewogen, jedes Schiff, unter
was für einer Flagge es auch segele, in den Grund zu bohren,
wenn es auf das Signal, beizulegen, sich dennoch der türkischen
Flotte nahern würde.
Schade nur, daß alle diese Vortheile wegen des Parteien-
kampses, der fortwahrend unter den Griechen herrschte und zuletzt
zu offener Fehde gedieh, nicht soviel Nutzen schafften, als es bei
mehr Einheit hatte geschehen können. Sobald die dringendste von
anßen drohende Gefahr des Augenblicks beseitigt war, brachen
stets die Streitigkeiten im Innern wieder aus. Kolokotroni, sowie
*) Die Brander waren so gebaut, daß sie an verschiedenen Punkten sich an
ein Schiff anhaken konnten. Ein Pistolenschuß entzündete das Feuer,
und durch einen sinnreichen Mechanismus öffneten sich dann alle Stück-
pforten zugleich und ließen die Flammen von allen Seiten hervorfprühen.
Am Steuerruder befand sich der geschickte, den Brander leitende Steuer-
mann. Dieser stand jedoch auswärts, so, daß er ohne Gefahr bis zum
Augenblicke der Entzündung das Fahrzeug lenken und dann erst in das
Boot zum Entfliehen hinabgleiten konnte. Segel und Tauwerk des
Branders waren mit Terpentinöl eingerieben, so daß sie sich schnell ent-
zündete», und Allem, was sich ihnen näherte, das Feuer mittheilten.
— 101 —
die übrigen Militairchefs und die Mitglieder des Vollziehungsse-
nats, bildeten die eine, Maurokordato, Odysseus, die Inselprimaten
und der gesetzgebende Rath die andere der Hauptparteien; der
Vollziehungsrath befand sich in Napoli di Nomania, der gesetzge-
bende Körper in Argos, und beide waren, eben wegen ihres ver-
derblichen Zwistes, ohne diejenige Autorität, welche allein ein glück-
liches Resultat der öffentlichen Angelegenheiten zu verbürgen ver-
mochte. Die Zwietracht zwischen den beiden Regierungsgewalten
war gegen Ende des Jahrs 1823 zu solcher Höhe herangewachsen,
daß die letztere alle Staatshandlungen der ersteren vernichtete, und
diese dafür keinen Befehl von jener beobachtete. Nun entstand ein
Bürgerkrieg, der bis in das Jahr 1824 dauerte.
Vor dem Ende des Jahres 1823 und mit dem Anfange des
Jahres .1824 waren mehrere ausgezeichnete Philhellenen in Grie-
chenland erschienen, die zugleich, außer der unmittelbaren Unter-
stützung, welche sie den Griechen selbst zuführten, auch für die In-
teressen der Cultur und Civilisation derselben wirkten. Vor allem
rief die Ankunft des englischen Obersten Stanhope und Lord
Byron in Missolunghi Griechenland zn größerer und regelma-
ßiger Thatigkeit auf. Die Absicht des Letzteren war, die Sulioten,
welche er in seinen Sold nahm, militärisch zu organisiren, dabei
ein ordentliches Artilleriecorps mit dem nöthigen Geschütz in Stand
zu setzen und mit ihnen den Golf von Lepanto von der
Gegenwart der Türken zu säubern. Seine unmittelbare Wirk-
famfett war besonders auf das westliche Griechenland gerichtet,
wo sich gerade damals durch Maurokordato's und Anderer Be-
mühen ein reges Leben in politischer und administrativer Bezie-
hung äußerte, da man dort gerade um jene Zeit von außen wenig
beunruhigt wurde. Vorzüglich war Byron bemüht, die offenen
und geheimen Zwistigkeiten zu schlichten und die Gemüther ebenso
auf die wahren Interessen des Landes und Volkes hinzulenken,
als die Revolution selbst nach außen weiter zu führen. —
Stanhope errichtete auf der Küste des Golfs von Lepanto ein
MilitairhoSpital, und Maurokordato hatte bereits mehrere Schu-
len nach Lancasterscher Methode zu Tripolizza, Misitra, Ka-
lamata ?c. gestiftet; nur war überall in Griechenland jetzt
noch ein großer Mangel an unterrichteten Mannern fühlbar. Die
Geistlichkeit hatte zwar einen bedeutenden Einfluß, allein sie theilte
selbst die Unwissenheit in wissenschaftlicher Bildung mit dem Volke
I
— 102 —
Durch Byrons Vermittlung wurden zwei griechische Druckereien
zu Missolunghi und Athen errichtet, und vier im Lande selbst redi-
girte Zeitungen, die Griechenchronik, der Telograph, die
Zeitung von Athen und ein unter dem Titel Freund der
Gesetze erscheinendes Amtsblatt der Regierung, trugen ungemein
viel zum Fortschreiten der griechischen Angelegenheiten bei, weil
durch sie das Volk von den Fortschritten seiner Unabhängigkeit
unterrichtet, und so der öffentliche Geist zum Heile des Vaterlandes
mehr und mehr ausgebildet ward.
Auch die finanziellen Verhältnisse begannen allmälig sich freund-
licher zu gestalten. Bisher hatte man in Ermangelung eines neuen
Steuersystems immer noch die türkische Kopfsteuer (ungefähr sechs
Groschen für den Kopf) fort erhoben und diesen geringen Ertrag
durch Anweisungen auf die große Menge der Domainen des Staats
vermehrt; allein die dabei obwaltenden Unterschleife und die Un-
ordnungen, womit die Gelder verwendet wurden, (was sich beide
Parteien, die aussende und die gesetzgebende Gewalt, einander
gegenseitig vorwarfen) hatten das Volk zur höchsten Unzufrieden-
heit und oft zur Widersetzlichkeit gestimmt. Jetzt hatte man eine
Anleihe in England, im Betrag von 800,000 Pfund Sterling ab-
geschlossen, wovon bereits ein Theil zu Zante angekommen war;
dadurch ward der Staatscredit gehoben, und der Regierung nach
innen und nach außen größere Kraft gegeben.
Unter diesen erfreulichen Aussichten, welche durch die Bestre-
bungen einsichtsvoller Manner sich für das griechische Volk eröff-
neten, traf dies der harte Schlag, daß der Thätigste der Griechen-
freunde, Lord Byron, nach einer kurzen Krankheit von zehn Ta-
gen, zu Missolunghi am 19. April 1824 verschied, wodurch die
von ihm zu Griechenlands ganzlicher Befreiung getroffenen Maß-
regeln, und besonders die zweckmäßige Verwendung der Gelder
vön oben besagter Anleihe, auf einmal ins Stocken geriethen. Dieses
traurige Ereigniß kündigte die griechische Regierung durch eine
Trauerproclamation an, worin sie zugleich befahl, es solle die all-
gemeine Trauer um den erhabenen, hochberühmten Freund einund-
zwanzig Tage getragen werden, und während dieser Zeit jeder
Sammelplatz der Freude geschlossen, jedes musikalische Instrument
verstummt sein. Byrons Leichnam ward, einbalsamirt, auf einem
englischen Schiffe nach London gebracht und nachher in seinem
Familienbegräbnisse zu Newstead beigesetzt, obgleich viele Stim-
— 103 —
men verlangten, er solle in der Westminsterkirche unter Englands
berühmtesten Dichtern begraben werden. Das Herz des verewig-
ten Griechenfreundes fand in Missolunghi neben dem Spartaner
Kiriakulis, der im Sommer 1822 bei dem Versuche, die Su-
lioten aus ihren Bergen zu befreien, den Tod gefunden hatte,
ferner neben dem deutschen General Normann und dem Sulio-
ten Markos Bozzaris die verdiente Statte.
Kolokotroni's Empörung. — Odysseus Tod. — Ibra-
him Pascha's Feldzug im Peloponnes.
Mit dem Beginne des Jahres 1826 waren die Griechen dem
Ziele, sich des türkischen Joches zu entledigen, schon sehr nahe ge-
kommen: als ihrem Feinde, wider Erwarten, .eine mächtige Hülfe zu
Theil ward, und ihnen dadurch die Früchte ihrer Anstrengungen
fast alle wieder entrissen wurden. M ehe med Ali, türkischer
Pascha von Egypten, hatte im Jahre 1811 die Herrschaft der
Mameluken durch treulose Ermordung ihrer Bei's gestürzt und in
dem Lande der Pharaonen eine Staatsverwaltung und Kriegsmacht
nach europaischem Fuße gebildet. Man glaubte allgemein, er strebe
nach Selbstständigkeit; allein die Roth zwang jetzt den Sultan, den
Beistand des freilich gefürchteten, doch unentbehrlichen Vasallen
aufzufordern und ihm den Oberbefehl gegen die Rebellen, mit dem
Titel eines Generalissimus zu Wasser und zu Lande, anzutragen.
Mehemed mochte seine Gründe haben, diefe ausgezeichnete Huld
nicht auszuschlagen, und bezeigte sich alfo seinem bisherigen Ober-
Herrn gehorsam. Er rüstete zum energischen Feldzug gegen die
Empörer eine bedeutende Macht aus, die unter dem Cömmando
seines Sohnes, Ibrahim Pascha, des Sultans Befehle vollzie-
hen sollte. Neun Fregatten, vierzehn dreimastige Corvetten, vier-
zig Briggs und Gneletten, nebst zweihundertundvierzig Trans-
portschiffen mit 18,000 Mann regulairen Landtruppen (meistens
von europaischen Ofsicieren commandirt) wurden zu der Expedition
in Bereitschaft gesetzt. *)
*) Der fromme Großherr schien auch auf feine Weise, durch strenge Be-
folgung des Islam, die Gunst des Propheten zur Ausführung seiner
I
— 104 —
Während auf solche Weise Türken und Egypter mit großen
Anstrengungen zn dein nächsten Feldzuge sich rüsteten, geschah von
Selten der Griechen, trotz des Eintreffens der zweiten Abtheilung
des englischen Anlehens, der inneren Spaltungen wegen nichts.
Sobald nämlich im Winter von 1824 bis 1825 die Waffen ruhe-
teil, erhoben die Militairchess abermals die Fackel des Aufruhrs
gegen die Regierung, welcher sie vorwarfen, daß sie die Gesetze mit
Füßen trete, die englischen Anleihesummen schlecht angewendet
und namentlich die Flotte auf Kosten der Landmacht begünstigt
habe. Kolokotroni und seine Sohne gingen den Emporern voran.
Da rief die Regierung die Patrioten von Ost- und Westgriechenland,
die Numelioten, zu ihrer Hülfe nach der Halbinsel; der Minister
Coletti, die Seele der damaligen Verwaltungsbehörde, stellte
sich an die Spitze derselben und rückte gegen die Rebellen aus.
Schon in dem ersten Kampfe siel Kolokotroni's ältester Sohn, den
selbst die berühmte Amazone Bobelina unterstützt hatte, welche
bald darauf zu Napoli durch Meuchelmord ihr Leben enden
mußte. Der Bürgerkrieg nahm nun einen noch furchtbareren Cha-
rakter an. Einen gefangen genommenen. Freund Kolokotroni's, den
Entwürfe gegen die Ungläubigen gleichsam erringen zu wollen. Es er-
schien ein Gesetz, vermöge dessen fortan kein Jude mehr ein öffentliches
Amt bekleiden sollte; und in einer großen Rathsversammlung erklärte
Mahmud II, sich mit vielem Nachdrucke über die nachlässige Beobachtung
der vorgeschriebenen Religionsgebräuche, worauf ein scharfes Mandat an
alle Muselmänner erging, ihr tägliches fünfmaliges Gebet regelmäßig zu
verrichten. Ja seine religiöse Sorgfalt erstreckte sich auch auf das andere
Geschlecht, indem eine alte Verordnung, nach welcher die Frauen keine
gestickten Kleider oder Zeuge von lebhaften Farben tragen sollten, von
neuem eingeschärft, ihnen auch streng untersagt ward, Schleier, durch
die ihre Gesichtszüge zu erkennen wären, anzulegen, weil dies dem heiligen
Gesetze zuwiderlauft. Merkwürdiger aber war noch der Firman, welcher
also lautete: Wisset, daß zu meiner Kenntniß gekommen ist, daß in
Europa Bücher, wie die Bibel, der Psalter, das Evangelium und die
Episteln der Apostel, zu 3000 Exemplaren von jeder Art, nebst einem
Tractate, in persischer Sprache gedruckt und in meine Hauptstadt wohl
Z00 Exemplare von jeglicher Art gesendet worden sind. Da es nun meine
Pflicht ist, die Verbreitung solcher Bücher in meinem Reiche gänzlich zu
verhindern, so habt Ihr dergleichen Bücher nach Europa zurückzusenden
und künftig beim Zolle auf's Strengste dahin zu sehen, daß sie sich nicht
ins Reich einschleichen. Sollte man aber Exemplare derselben auffinden,
so sollen, sie weggenommen und ins Feuer geworfen werden."
I
— 105 —
Dbrist Staikas, ließ die Negierung, als des Hochverraths über-
wiesen, hinrichten. Dies erbitterte Kolokotroni aufs Höchste; er
rückte mit 2000 Mann aus der Ebene von Argos gegen Ko rinth,
ward aber von den Negierungstruppen in verschiedenen Treffen
völlig geschlagen, und sein geschwächter Heerhaufen auseinander ge-
sprengt. Einige der Häuptlinge geriethen dabei in Gefangenschaft,
die übrigen zogen sich in die Berge zurück, wo sie die Generale
Gouras und Katassa unaufhörlich verfolgten und ihnen keine
Zeit zur Wiederverfammlung ihrer Streitkräfte ließen. Bald dar-
auf gelang es Gouras, den alten Häuptling selbst mit seinem
Sohne und seinem Freunde in seine Gewalt zu bekommen, die nun
iin Januar 1825 nach Hpdra in Gefangenschaft geführt wurden.
Der hochberühmte Odysseus sah sich unterdessen nach so vie-
Jen Siegen über die Osmanen seiner früheren Macht beraubt und
saß, des Hochverraths bezüchtigt, (mit oder ohne Schuld, ist zwei-
felhaft) in einer für jeden Feind unzugänglichen Höhle auf dem
östlichen Abhänge des Parnasses. Die Höhle war nur auf sechs
langen Bergstiegen, von denen sich eine über die andere erhob, zu
erreichen und hatte einen so großen Umfang, daß sie mehr als
tausend Menschen zu beherbergen vermochte. Vortreffliches Was-
ser ward dort in Cisternen aufbewahrt; auch befanden sich daselbst
verschiedene mit Lebensmitteln und Kriegsbedürfnissen angefüllte
Magazine, ja, sogar zwei Feldkanonen, mit denen die ganze Um-
gegend in der Nähe der Höhle konnte bestrichen werden. Hier
lebte nun der griechische Held, von allen seinen ehemaligen Waf-
fengefährten verlassen, mit seiner Frau, seiner Mutter und seinen
Kindern und einem alten Freunde Byrons, dem Irlander Trew-
l an i, der sich ihm angeschlossen und mit ihm in Sicherheit er-
warten wollte, wann das Vaterland seinen Helden wieder zum
Kampfe für die Freiheit aufrufen werde. Doch der Unglückliche
konnte seinem Schicksale nicht entrinnen. Er verließ seinen Ver-
steck und flüchtete zu seinen Landsleuten, die unter seines ehemali-
gen Waffengefahrten Gouras Befehle in der Nahe von Salona
campirten. Doch Gouras ließ ihn in Ketten schlagen; auch ward
ein Versuch gemacht, des Gefangenen Familie aus der Höhle, in
welcher sie noch haufete, zu locken. Der Versuch mißlang, und
Odysseus ward nun nach Megara gebracht, wo das Volk ihn
steinigen wollte. Ein wüthendes Weib schlug ihn schon mit einem
Steine ins Gesicht, und kaum vermochte die Wache den Bejam-
— 106 —
mernswürdigen gegen die wilde Wuth des Pöbels zu schützen.
Man brachte ihn hierauf nach Athen, wo sein Gefängniß auf
der Citadelle ein Thurm ward, den er selbst wahrend seiner
glanzenden Befehlshaberschaft hatte erbauen lassen. Hier fand er
im Juli 1825, ehe noch sein Urtheil gesprochen war, den Tod;
man weiß nicht, ob durch eigne Hand, oder auf welche andere
Weise. —
Der Seraskier Redschid Pascha — der bereits im Jahre
1814 zum Befehlshaber aller Truppen des Sultans erwählt war
— hatte in und um Larissa ein Truppencorps von 20,000
Mann versammelt, das in vier Divisionen getheilt, von drei Sei-
ten in Morea einfallen sollte, während Redschid noch gegen baare
und starke Belohnung 15,000 Albanesen (worunter 5000 Reiter)
unter die Waffen brachte, mit welcher Macht er im April 1825
gegen Misfolunghi zog. — Unterdessen hatte der Vicekönig von
Egypten seine Expedition schon sür den Monat Februar in Be-
reitschaft gehabt. Das Heer, 20,000 Mann stark, schiffte über
das Mittelmeer an den Flotten der christlichen Mächte vorüber;
spanische, sardinische und italienische Fahrzeuge dienten ihm mit
zum Transport. Es befand sich bei demselben ein Corps von
8000 Mann, das auf europaische Art organisirt und exercirt
war. Dieses Corps stellte unstreitig das buntscheckigste Militair
vor, was je gesehen worden. Der gemeine Soldatentroß bestand
aus Negern und Arabern, die größtenteils mit Gewalt zusam-
mengetrieben worden; das Ossizierpersonal dagegen war zusammen-
gesetzt, aus französischen, neapolitanischen, sardinischen und polni-
schen Flüchtlingen, welche von den Fahnen schwärmerischer Freiheit
zu denen des absolutesten Despotismus übergegangen waren und
den Generalstab Ibrahims bildeten. Gegen Ende Februars setzte
dieser bei der Festung Modon 10,000 Mann ans Land. Diese
Banden concentrirten sich zwischen Modon und Koron, um die
Ankunft der Türken abzuwarten, die verabredeter Maßen über Epi-
rus vordringen und ihm die Hand reichen sollten. —
Mit Mühe brachte der vollziehende Rath, zu spat die Nahe
der Gefahr erkennend, einige Tausend Rumelioten unter den Be-
fehlen des General Kondurioti zusammen; die Bevölkerung
Morea's unterstützte seine Bewegung nicht und verlangte laut ihre
gefangenen Häuptlinge zurück. Nichts war vermögend, die blinde
Hartnäckigkeit derselben zu besiegen, und so geschah es, daß keiner
— 107 —
der alten Waffengefahrten Kolokotrom's die gewohnten Waffen
ergriff, daß sie in unbegreiflicher Verblendung lieber den Feind vor
ihren Hausern erwarteten, um diese alsdann ruhig anzuzünden
und in die Gebirge zu entweichen. Indessen hatte Ibrahim am
11. März die Insel Sphagia (der Alten Spakterio), bald
darauf Alt-Navarin und endlich auch Neu-Navarin umzin-
gelt und drang nun mit 12,WO Mann in das Innere der Halb- -
insel vor. Den schwachen Widerstand der Griechen schlug er am
19. April mit leichter Mühe zurück. Am 9. Mai ward die Insel
Sphagia, der Schlüssel zu Navarino, nach verzweifelter Gegen-
wehr der Griechen von den Egyptern mit Sturm genommen; *)
worauf bald die Eroberung Alt-Navarins erfolgte, und endlich auch
der Fall Neu - Navarins durch Capitulation **), zu welcher der
Mangel an Lebensmitteln die Belagerten nöthigte. Die wichtige
Festung konnte nicht entsetzt werden, weil Kolokotrom's Anhänger
auf keine Weise zum Angriffe der Feinde zu bewegen waren.
Ibrahim zog nun von Navarino verwüstend nach Arkadien hin;
nichts vermochte seinem Verheerungszuge Schranken zu setzen, zu-
mal da nun auch die Sulioten und die Rumelioten auf die Nach-
richt, daß bedeutende Truppenmassen der Osmanen sowohl das
östliche, als auch das westliche Griechenland überschwemmten und
hier besonders Missolunghi bedrohten, den Peloponnes verließen,
um ihren eignenen Heerd zu vertheidigen. Das Volk der Halb-
insel beharrte darauf, nach Kolokotroni zu verlangen, und forderte
als Bedingung der Theilnahme an der Bekämpfung des Egypters
die Freilassung seines Anführers und dessen vorzüglichsten Anha'n-
gers. Die Negierung sah sich in solcher Noth des Vaterlandes
gezwungen, die Bedingung einzugehen, die Gefangenen frei zu
geben und an die Spitze des Volkes zu stellen. Die Befreiten
erhielten alle Rechte des Bürgers zurück, und in der Kirche zu
*) Hier sank der ehenialige piemontesische Kriegsminister Santa Rosa
und andere sardinische Philhellenen ins Grab, und Maurokordato konnte
sich nur durch Schwimmen retten.
**) Die Capitulation ward in Gegenwart des österreichischen Majors
Bandiera abgeschlossen. Die Besatzung, 1100 Mann erhielt freien
Abzug mit Hinterlassung ihrer Waffen und ward mit ihrer beweglichen
Habe auf österreichischen und englischen Schiffen nach Kalamata ge-
bracht. Das in der Festung vorgefundene Geschütz bestand aus sechsund-
vierzig Kanonen und sechs Mörsern.
- 108 —
Napoli ward cm großes Versöhnungsfest gefeiert, wo die begna-
digten Häuptlinge der Regierung von neuem den Eid der Treue
schwuren. Die Krieger Morea's eilten nun schaarenweise zu den
Fahnen des alten Klephthenchefs; dennoch schien es jetzt fast zu spat,
den siegreichen Fortschritten Ibrahims wirksam entgegenzutreten.
Kolokotroni sah sich auf! den Guerillakrieg und die Verthei-
digung der Gebirge beschrankt.
Indessen siel das flache Land der Halbinsel in die Gewalt
der Egypter. Feuer und Schwert wütheten fürchterlich in der
bejammernswürdigen Gegend, welche die wilden, mordgierigen
Banden durchzogen, und Greuel, vor deren Bezeichnung die Feder
zurückbebt, wurden an den unglücklichen Hellenen verübt, die in ihre
Hände sielen. Nissi, wo Alles die Flucht ergriffen, ging in
Flammen auf. Ibrahim besetzte den Ort mit 2000 Mann und
drang mit seiner Hauptmacht gegen Tripolizza vor, welches
Kolokotroni nicht gegen solche Uebermacht vertheidigen konnte, wes-
wegen er es in Brand steckte und den eindringenden Barbaren
nur Trümmer und Schutthaufen preisgab. Das Stadtchen Myli,
wo betrachtliche Vorräthe Lebensmittel und Munition aufgehäuft
waren, und das durch seine Lage Napoli, dem Sitze der Regierung
gegenüber, von besonderer Wichtigkeit war, ward indeß von den
Griechen mit Erfolg vertheidigt. — Bon Modort bis Myli hatte
der furchtbare Zerstörer bereits zweiundzwanzig Dörfer und das
offene Stadtchen Kalamata einäschern und an Greisen, Wei-
Hern und Kindern weit über 4000 ermorden lassen. Die Geistli-
chen, unter ihnen auch der Bischof von Modon, wurden in ihrem
Ornate aufgeknüpft; viele junge griechische Madchen ließ Ibrahim an
die europäischen Offiziere, die feine Horden disciplinirt hatten,
vertheilen, die andern wurden nach den Sclavenmärkten Egyptens
und Kleinasiens geführt.
Kolokotroni erließ nun an alle Kapitano's von Sparta einen
Aufruf, worin er sie bei Ehre und Vaterlandsliebe beschwor, zu
den Waffen zu eilen, um das Vaterland zu retten. „Erhebe dich
Sparta! — sprach er — Wo bleiben deine Waffen so lange?
Wo dein Muth und Heldeneifer? Willst Du uns verlassen in der
Roth und dir selbst auch mit gewissen Untergang bereiten? ?c."
Bevor jedoch die Spartaner dem Rufe folgten, erschien Demetrius
Ypsilanti, der fast zwei Jahre lang entfernt von den öffentlichen
Angelegenheiten gelebt hatte, wieder auf dem Kriegsschauplätze, um
— 109
durch Energie und Enthusiasmus das Vaterland, wo möglich, zu
retten. (Ende Juni.) Er sammelte die zerstreuten Griechen und
besetzte die umliegenden Berge, wo man gegen Reiterangriffe ge-
sichert war. So hielt er plötzlich den Siegeslauf der Egypter zu-
rück, indem er stets unerwartet über sie Hersiel, ihre ungeregelten
Haufen sprengte und sie überall in die Flucht trieb; so daß zu-
letzt Ibrahim selbst sich genöthigt sah, sich bis unter die verödeten
Mauern vvn Tripolizza zurückzuziehen, von Vpsilanti verfolgt und
von ihm daselbst mit Erfolg auf längere Zeit zurückgehalten (im
Juli). — Durch diese Vortheile, die klar bewiesen, daß auch Ibra-
him nicht unüberwindlich sei, ward der Muth der Griechen auf der
Halbinsel wieder geweckt; noch hatte keine einzige Gemeinde sich
dem Pascha unterworfen, und so ward in diesem furchtbaren Feld-
zuge doch wenigstens die Hoffnung künftigen Sieges gerettet.
Refchid Pascha hatte unterdessen schon seit dem April mit
einem Heere von mehr als 30,(XX) Mann vor Missolunghi gele-
gen und gleich in den ersten Tagen seiner Ankunft vor dem
Platze die Laufgraben eröffnen lassen; doch bestand bis zum Juli
der Angriff, sowie die Vertheidigung fast nur in unnützem Hin-
und Her-Kanoniren. Die Ausfalle, welche die Griechen, wenn auch
mit Glück, wider den Feind machten, blieben gleichwohl in der
Hauptfache ohne Erfolg. Die Belagerungsarbeiten leiteten euro-
paische Offiziere. Bis zum 10. Juli gelangten die Türken vermit-
telst eines Ganges, den sie in gerader Linie gegen die Festung
gerichtet, zu den Vorgraben derselben bis auf acht Klafter. Der
Kapudan-Pafcha kam jetzt mit seiner Flotte heran; die griechischen
Kreuzer, viel zu schwach, um Widerstand leisten zu können, such-
ten das hohe Meer, und die Türken unternahmen nun gleich nach-
einander zwei Stürme, die aber von den Belagerten muthig ab-
geschlagen wurden. Bei einem dritten Sturme, am 22. Juli, ge-
lang es den Türken, die Vorgraben der Festung zu überschreiten,
wo Reschid Pascha sogleich einen Theil des Belagerungsheeres
aufstellte. Allein da diese jetzt im besseren Bereiche des Belagerungs-
geschützes waren, unterhielten die Griechen ein so mörderisches
Feuer auf dieselben, daß sie bald den eingenommenen Platz wieder
verließen; wobei sie von den Belagerten mit wilder Wuth ver-
folgt, noch großen Verlust erlitten. Im Anfange August's rückte
ein Corps von Rumelioten und Sulioten in Missolunghi's Nahe.
Sie verstanden sich mit den Belagerten, und bald segelte nun auch
J
— 110 —
der kühne Miaulis mit der griechischen Flotte heran. Der Ka-
pudan-Pascha hielt nicht für gerathen, ihr Stand zu halten; seine
Nachhut von acht Schiffen griffen die Griechen am 4. August an,
und nach siebenstündigem Kampfe hatten sie eine algierische Brigg
von zwanzig Kanonen und ein türkisches Fahrzeug von zehn Ka-
nonen zerstört. Die übrigen Schiffe nahmen die Flucht, und so-
gleich ward Missolunghi, wo schon der Hunger zu herrschen be-
gann, mit neuen Lebensmitteln und Kriegsbedarf versehen; nun
war die Festung für die nächsten Wochen wieder gegen jede Ge-
fahr gesichert.
So war es denn nach einer Belagerung von sieben Monaten
dem Feinde nicht gelungen, weder mit Gewalt, noch durch Aus-
hungerung Missolunghi zu nehmen. Jetzt aber sollte von den
vereinten Heeren des Sultan und des Pascha von Egypten
ein Hauptschlag auf die Festung unternommen werden. Schon
im September schickte sich Ibrahim an, aus Tripolizza, wo er
seit dem Juli von den Griechen wenigstens aus der Ferne beob-
achtet worden war, über Patras nach dem westlichen Griechen-
land aufzubrechen; allein er fand einen nachdrücklichen Widerstand
und es gelang ihm erst spater (im November), nachdem er Be-
satzungen in Navarin, Koron, Modon, Patras und Tripolizza zu-
rückgelassen hatte, mit 18,000 Mann den Zug nach dem westli-
chen Griechenlande zu unternehmen und zu Neschid Pascha vor
Missolunghi zu stoßen. Die so vermehrte äußere Macht der Be-
lagerer beugte indeß den Muth der heldemnüthigen Bertheidiger
nicht, bestärkte sie vielmehr in dem Vorsatze, zu siegen oder zu
sterben. Sie wiesen daher auch die vereinten Vorschlage der bei-
den Befehlshaber, Neschid und Ibrahim, ebenso stolz zurück, als
die erneuerte Bestürmung auf die durch das monatlange Bom-
bardement immer schwacher werdenden Walle und Werke der
Stadt. Entsatz der Festung war nicht zu hoffen. Zwar stand, wie
schon erwähnt, ein griechisches Heer auf schützenden Höhen den
Belagerern im Rücken; allein seine Streitkräfte waren viel zu
schwach, einen entscheidenden Angriff zu wagen; ja, es war nicht
einmal fähig, die Ausfalle der Belagerten nachdrücklich zu unter-
stützen. Am 28. Januar 1826 erschien Miaulis mit einer Abthei-
lung der griechischen Flotte abermals vor Missolunghi, und es
glückte ihm, durch seine Brander die türkische Schiffslinie zu spren-
gen und dem bedrängten Platze wiederum für einige Zeit Proviant
I
— III -
und Munition zuzuführen. Dadurch wurden die beiden Anführer
auf die Nothwendigkeit hingewiesen, die Angriffe von der Seeseite zu
unternehmen, und überzeugt, daß die Festung, welche noch drei
neue Stürme (am 24. Februar und 1. und 2. März,) die den Tür-
ken 5000 Mann kosteten, glücklich überstanden, mit Sturm allein
nicht genommen werden könne; sie beschlossen daher die zunächst nach
dem Meere hin gelegenen, von den Griechen immer noch besetzten
Punkte, wie die befestigte Insel Wassiladi, Anatoliko und
Klissow a, vorerst zu nehmen, damit den Belagerten alle Hülfe
vom Meere her abzuschneiden und auf solche Weise die Uebergabe
zu erzwingen. Auch gelang es den Egyptern Anfangs Marz,
mittelst kleiner Fahrzeuge in die Lagunen vorzudringen und, nach
blutigem Kampfe und schwerem Verluste von beiden Seiten, am
Marz Wassiladi und Klissowa, endlich am 10. Marz auch Ana-
toliko , das letzte Bollwerk Missolunghi's, zu nehmen. Jetzt schien
der nahe Fall der Beste unabwendbar.
Sturm auf Sturm erfolgte nun, wobei die Schaaren Ibra-
hims meistens mit großem Verluste zurückgetrieben wurden. Aber
die Lebensmittel waren aufgezehrt. Miaulis, der im April auf's
Neue erschien, kam diesmal zu spat. Die Vorwerke Missolunghi's
nach der See zu, nämlich jene Inseln, waren bereits in den Händen
der Feinde, und die Flotte des Kapudan-Pascha lag in Schlacht-
ordnung vor der Festung. So mußte Miaulis von dem Versuche
abstehen. Mit ihm verschwand für die Belagerer die letzte Hoff-
nung auf Rettung. So auf das Aeußerste gebracht, faßten sie
einen letzten, verzweifelten Entschluß. Noch einmal mußten aus
der Festung kühne, aller Schleichwege kundige Boten sich durch
die türkischen Posten winden, um zu dem Lager der Griechen zu
gelangen, die zwei Stunden östlich von Missolunghi standen. Diesen
theilten sie den Plan mit, daß alle diejenigen in der Festung, welche
dies noch zu thun im Stande seien, in der Nacht des 22. April
einen Ausfall machen wollten, um sich durch die Feiude zu schlagen,
und daß man dabei mit Sicherheit auf die Mitwirkung des gan-
zen außen lagernden, 2000 Mann starken Corps rechne. Diese
rückten am bestimmten Tage gegen Abend aus und gaben den be-
drängten Brüdern durch eine Generalsalve ihre Nahe kund. Allein
durch den Verrath eines Ueberlaufers war Ibrahim bereits von
den außerordentlichen Bewegungen in der Festung benachrichtigt
und begriff jetzt leicht, was jene Salve bedeuten solle. Eilboten
— 112 —
jagten sogleich nach allen Punkten hin, mit dem Befehle, daß alle
Muselmänner sich augenblicklich im Lager sammeln sollten, und
ein starkes Corps Albauesen rückte gegen die Griechen, um ihr
weiteres Vorrücken zu verhindern.
Es war gegeu Mitternacht, als bei vollem Mondenscheine auf
das bestimmte Zeiche:? gegen 3W0 bewaffnete Griechen und
gegen (KHK) an Frauen, Kindern und Greisen, welche die Mühen
des Marsches ertragen zu können glaubten, aus der Beste heraus-
zogen. Ein Kartatschenhagel und das furchtbare Türkengeschrei:
„Allah! Allah!" bewillkommte sie. Doch brachen sie durch, mit
dem Säbel sich Raum machend, und schon war von den Helden
der dritte Theil gefallen, als sie das nahe Gebirge, wo ihre Freunde
sein mußten, erreichten. Statt ihrer aber empfing sie das Feuer
der dort postirten Albanesen. Ein furchtbares Gemetzel entstand. Die
Verzweiflung der Griechen durchbrach dennoch, nach stundenlangem
Kampfe, die Reihen der wilden Horden, und sie erreichten wirk-
lich Salona, wo ihnen Hülfe und Pflege ward. Ein anderer
Theil der Griechen, der die Nachhut gebildet, war von den Fein-
den in die Stadt zurückgedrängt, in welche die Egypter, Türken,
Neger und Albanesen zugleich mit eingedrungen. Furchtbar wüthet
hier das Schwert der Barbaren, ohne Unterschied des Geschlechts^
in den Reihen der theils gezwungen, theils freiwillig zurückgeblie-
denen Griechen, und alle Schrecken des Todes stürzen über sie
herein. Glücklich diejenigen, welche den rühmlichen Tod finden,
statt qualvoller Gefangenschast! Die Stadt selbst ist nur noch
ein Haufen von Trümmern. Noch aber steht jenes große Gebäude,
das die Kriegsmunition in sich faßt; die ermatteten Griechen ha-
ben sich dahin zurückgezogen. Die gierigen Feinde vermuthen
reiche Schatze in demselben und sind bemüht, sich defseu zu bemäch-
tigen: da ertönt ein donnerähnlicher Knall, und das Haus schleu-
dert seine Trümmer in die Lüfte. Ueber zweitausend Feinde fan-
den mit den dort versammelten Griechen, die den ehrenvollen Tod
vorzogen, in den Flammen und unter dem Schutte den schmach-
vollsten Untergang. — So sank Miffolunghi. Sein Fall erfüllte
Griechenland und fast ganz Europa mit stummer Bestürzung. —
Seit diesem Unglücke war die Hoffnung Hellas allein auf die wilde
Popularität Kolokotroni's und die taktische Geschicklichkeit einiger
philhellenischer Führer, besonders auf des französischen Obersten Fe-
vrier gerichtet, der im Juni 1825 nach Griechenland gekommen war.
— 113 —
Reschid Pascha, nachdem er 2M0 Mann in dem zerstörten
Missolunghi als Besatzung gelassen, brach im Mai nach Lepanto
auf, und da er nirgends kräftigen Widerstand fand, richtete er sei-
nen Zug gegen Athen; wahrend Ibrahim mit 19,000 Egyptern
und 4000 Albanesen aufs Neue Morea durchzog. Keiner der
griechischen Häuptlinge war vermögend, den Raubzügen des Egyp-
ters, der Alles niederbrannte und Menschen und Vieh in großen
Heerden vor sich hintrieb, Einhalt zu thun. Erst an den Gren-
zen der Mainotten, jener rüstigen Nachkommen der alten Spar",
taner, fand er Widerstand. Neunmal griff er mit 8000 Mann
ihre Verschanzungen an, und neunmal ward er zurückgetrieben
und endlich zum Abziehen genöthigt. Auch die Frauen der Mai-
notten führten in diesem Kampfe, wie vormals die alten Spar-
tanerinnen, die Waffen. — Nichten wir nun, bevor wir den
Kampf der Griechen weiter verfolgen, unfern Blick auf Canstanti-
nopel, wo um dieselbe Zeit jene erschütternden Schlage geschahen,
welche die ganze Militairverfassung umgestaltetem
Die mtfUfung ZmntfchOPeR in
Sultan Mahmud ll., der seit dem Jahre 1807 die Osma-
nen beherrschte, hatte sich gleich bei seiner Thronbesteigung als ein
Fürst von^Energie und Starke des Willens angekündigt Seinem
gebieterischen Sinne war der Trotz der Janitscharen, die bis dahin
immer für den Kern des türkischen Militairs gegolten, stets zuwi-
der gewesen, und schon vor seinem Regierungsantritte hatte er sich
als ein entschiedener Gegner derselben und als Begünstiger der unter
seinem Oheime*) gescheiterten Versuche bekannt, sein Heer einer
*) Seli m III,, der wegen der versuchten Neuerungen Thron und Leben
einbüßte.
N. G. IV. 8
— 114 —
europäischen Disciplin zu unterwerfen. Seit seiner Thronbestei-
gung aber reifte mehr und mehr der Borsatz in ihm, eine Solda-
tesca zu vernichten, deren die Pforte auf keine Weise mehr Herr
war. Der alte Geist dieser Miliz, welche Organ stiftete und
Amurat I. vervollkommnete (s. alt.Gesch. Band ; „Abriß derGe-
schichte des türkischen Reiches"), war freilich langst verschwunden;
auch stand seine Bewaffnung, Uebung und innere Organisation im
grellsten Widerspruche mit den Fortschritten der europäischen Kriegs-
kunst. *) — Mahmuds Streben ging vorerst dahin, in dem Corps der
Topschis (Kanonire) und der Bumbardgi's (Bombardiere) durch
allmalige Vermehrung derselben, auch ohne einedemNamen nach neue
Truppe zu gründen, eine Waffenmacht aufzustellen, die ihm für
den Augenblick des Hervortretens mit seinen Planen zur Stütze
dienen konnte. Doch eben die Ahnung solcher Plane und Ent-
würfe war die geheime Ursache zu mannigfachen Empörungen und Auf-
standen des Hasses dieser privilegirten Miliz, sowie der vielen Feuers-
brünste, welche die Hauptstadt seit Jahren verwüsteten. Noch im
September 1822 hatten die Janitscharen den Sultan gezwungen,
ihnen nebst mehreren Anderen seinen Günstling, Ha leb Effe nd i,
aufzuopfern und das Haupt seines Jugendfreundes über dem Thore
des Serails aufstecken zu lassen. **) Dabei ließen sie mehrmals
nicht undeutlich merken, daß sie mit ihm selbst, wie mit seinen bei-
den Vorgängern verfahren würden, (die beide auf ihr Anstiften
*) Die Janitscharen waren theils besoldet, theils nicht besoldet. Die Erste-
ren bildeten des Sultans Garde; die Letzteren waren nur in die Liften
der Janitscharen-Orta's (Compagnien) eingeschrieben, mir der Bedingung,
in Kriegszeiten Dienste zu leisten, und hatten große Vorrechte auch rück-
sichtlich ihrer bürgerlichen Gewerbe. Ein Janitschar konnte nur durch
einen Divan im Hause des Aga verurtheilt werden; die Hinrichtung ge-
schah jedesmal zur Nachtzeit, um Empörungen zu vermeiden. Die Ge-
sammtmasse der Janitscharen mochte im ganzen Reiche an 200,000 Mann
betragen. Oft sammelten sie sich um ihre Kochkessel zu einem allgemei-
nen Aufstande. Der Sultan mußte ihnen dann die ihnen verhaßten Per-
sonen, gewöhnlich seine Lieblinge, opfern, und nicht selten ward er selbst
das Opfer ihrer Wuth.
**) Auch der Besieger Ali Pascha's, der Seraskier Churschid, hatte bei
dieser Gelegenheit dem Hasse seiner Feinde unterliegen müssen. Er war
der Verheimlichung von Alfs Schätzen beschuldigt und gab sich selbst
durch Gift den Tod, als er mit Gewißheit die Ankunft zweier Boten des
Sultans erfahren halte, welche ihm die seidene Schnure brachten.
— 115 —
ermordet wurden). Mahmud jedoch besaß die Eigenschaften,
die erforderlich sind, sich auf solchem Throne zu behaupten.- End-
lich, nach mancher Demüthigung und langer Verheimlichung seiner
Gesinnungen, schien ihm der Moment gekommen, seinen Planen,
einer ganzlichen Umgestaltung des türkischen Kriegswesens, Aus-
sührung zu geben. Sobald durch die Nachricht von dem ersten bedeu-
tenden Siege der Pforte in Griechenland, der Einnahme Misso-
lunghi's, einige Popularität wiedergewonnen war, ging man rasch
und entschlossen an diese gefahrliche Staatsreform — die größte,
welche der Divan seit drei Jahrhunderten vorgenommen hatte, und
die freilich ein ganz neues System und ein völliges Abweichen
von allen bisherigen Staatsgrundsatzen anzukündigen schien. Die
Haupter des Divan, der Mufti, der Großvezier, der Aga der Ja-
nitscharen, Hussein Pascha, waren in der Stille dafür gewon-
nen. Das Wem«*) billigte ihn, und die Jmans (Priester) selbst
hatten seit längerer Zeit schon das Volk von der Verdorbenheit
der Janitscharen, die zur Hälfte aus heimlichen Christen bestehen
sollten, unterhalten und ihm begreiflich machen müssen, daß Ibra-
Hirns Siege nur der in seinem Heere eingeführten Disciplin zu
danken waren. Egyptische Offiziere waren in aller Stille nach
der Hauptstadt beschieden, die Topschi's durch Geschenke gewonnen
und bis auf 10,000 vermehrt, und fo der große Schlag, der die
ganze Gestalt des Reiches andern sollte, auf alle Weise vorbereitet.
Da erließ der Sultan am 29. Mai 1826 einen Hattische-
rif (kaiserlichen Beschluß), durch welchen eine neue Organisation
des Heeres, die Reform der Janitscharen und Einführung einer
andern Truppe, der Taalimli Asker (geübter Truppen), ange-
ordnet ward. Anfangs verhielten sich die Janitscharen ruhig; doch
war dies nur eine dumpfe Stille, wie vor dem Ausbruche eines
verwüstenden Orkans. Am 14. Juni legten sie in gewöhnlicher
Weise, durch Umkehrung der Kochkessel, ihren Unwillen und die Ab-
sicht, einen Aufruhr zu erregen, an den Tag, und noch in derselben
Nacht kam es zum gräßlichen Ausbruche. Die Janitscharen verlie-
ßen ihre Casernen; ein Hause stürzte nach dem Hause des Aga-
Kapußi, ihres Generalobersten, um ihn zu ermorden. Der Ge-
warnte hatte sich nach dem Palaste des Großveziers gerettet, seine
Wohnung aber ward geplündert, und seine Familie auf's Unmensch-
*) Die Körperschaft der Geistlichen und Rechtsgelehrten.
8*
— 116 —
lichfte mißhandelt. Auch der Großvezier hatte sich aus seinem
Palaste nach dem Serail geflüchtet. Wahrend die Aufruhrer die
Palaste ihrer Feinde zerstörten und das bestürzte Serail belager-
fen, ließ Mahmud die Corps der treuen Topschi's und Bumbard-
gi's aus derTophana (dem Zeughause) in Kähnen in das Innere
des Serails schaffen; auch die Ulema's versammelten sich dort,
und Mahmud ließ die Fahne des Propheten aufpflanzen, um wel-
che alle Rechtgläubigen sich zu sammeln verpflichtet sind. Als der
Tag anbrach, waren Taufende von Janitscharen auf dem Etmai-
dam, einem großen, zwischen den Casernen liegenden Platze, ver-
sammelt und ließen durch Ausrufer verkündigen, daß jeder Ianit-
schar sich auf dem gemeinschaftlichen Sammelplatze einfinden solle.
Eine ahnliche Aufforderung erging auch an die Waffenschmiede. —
Als Mahmud eine ansehnliche Heeresmasse um Muhameds Fahne
versammelt sah, und noch immer neue Haufen bewaffneter Musel-
mann er dem Platze zuströmten, wo das Panier prangte, gebot er,
die Meuterer aufzufordern, zur Fahne des Propheten zurückzukeh-
ren und sich seinen Befehlen gehorsam zu zeigen. Statt der Ant-
wort verlangten diese aber den Kopf des Großveziers und Hussein
Pascha's. Da sprach der Mufti durch seinen heiligen Fetwah Acht
und Bann über die Empörer aus, und nun öffneten sich die Thore
des Serails. Die Topschi's stürzten sich mit der neuen fürchterlichen
Waffe, dem Bajonette, auf die Belagerer; das ganze Ulema, die
Softa's (Studenten), die Derwische und Mönche folgten, und die
Bevölkerung der Hauptstadt schloß sich ihnen an. Ein sürchterli-
ches Blutbad begann. Die Janitscharen, von dem leichten Ge-
schütze des Topschi -Baschi reihenweis niedergestreckt, wichen von
Gösse zu Gasse; der Etmaidan ward erstürmt; bis den Weichen-
den endlich, in ihren Casernen eingeschlossen, kaum eine Hoffnung
des Entrinnens übrig blieb. Schon deckten 5000 der Ihrigen die
Wahlstatt: da ward von ihren grausamen Feinden Feuer in die
vermauerten Casernen geworfen. Achttausend Janitscharen kamen
in den Flammen um. Diejenigen, welche aus den brennenden
Flammen entrannen, hieb die Wuth der Topschi's in Stücken. Von
da an verschwand aller bewaffnete Widerstand; wenige Stunden
hatten das Schicksal dieses sonst so fürchterlichen Corps enrfchieden.
Unterdessen lagerte Sultan Mahmud unter den Zelten, mit
seinem ganzen Divan, im ersten Hofe des Serails, neben der hei-
ligen Fahne des Propheten, zu der sich 80,WO Bürger der Haupt-
117 —
stadt gesammelt hatten. Der Sieg war errungen; die Ausrottung
der Empörer ging nun ohne Schwierigkeit vor sich. Die Flüchti-
gen wurden einzeln aus ihren Verstecken hervorgeholt, um ihre
stolzen Haupter unter die Beile der Henker des Sultans zu legen.
Im September belief sich die Zahl der Hingerichteten aus 15,090.
So groß war die Menge der in den Bosporus geworfenen Lei-
chen, daß Schiffe, welche unter die stockenden Massen geriethen,
wie auf Sandbanken sitzen blieben! — Am 17. Juni erklärte
eine Großherrliche Kundmachung das Corps der Ianitscharen für
immer abgeschafft und belegte ihren Namen mit dem Fluche. Man
zerstörte ihre Casernen von Grund aus; man zerschlug ihre Kessel,
die so oft zum Zeichen des Aufruhrs gedient, riß überall die Re-
gimentszeichen ab und verbot bei Todesstrafe Jedem, fortan in der
Tracht der Ianitscharen zu erscheinen. — Am dritten Tage nach
dem Aufrühre, als alle' Kaufladen wieder geöffnet waren, verlegte
der Großvezier den Sitz der Regierung in den ersten Hof des Se-
rails; wobei die türkische Justiz sich in ihrer furchtbarsten Gestalt
zeigte, indem alle Odalisken, Weiber und Sclavinnen des Sul-
Ans, welche wahrend des Tumults von den ins Serail gedrun-
genen Anführern berührt worden, in Sacke genaht und ins Meer
geworfen wurden, um den Harem des Großherrn von solcher
Schmach zu reinigen! — Hussein Pascha, dessen Entschlossenheit
es Mahmud wohl am meisten zu danken hatte, daß nicht Selim's III.
Loos wahrend der großen Katastrophe das seinige geworden, ward
zum Generalissimus (Seraskier) der neuen Miliz Asikiri Man-
suri Muhamedije (siegreiche Truppen Muhameds) ernannt
und nahm nun sein Hauptquartier in dem mit hohen Mauern
umgebenen alten Serail, von wo aus er die ganze Gegend
der vormaligen Ianitscharenquartiere heherrschen und jeder Bewe-
gung im Innern Constantinopels Einhalt thun konnte. Unter sei-
nem Schulze gingen die Gewaltschritte des furchtbaren Herrschers
unaufhaltsam weiter. Die verdächtigen Innungen der Hamla's
(Lastträger) und andere, die sich den Ianitscharen angeschlossen,
wurden aufgelöst und, nachdem ihre Vorsteher hingerichtet, auf
Böte gepackt, nach Asien übergeschifft, die Rückkehr nach Eon-
stantinopel aber ihnen bei Todesstrafe verboten. Nun traf auch
die gefürchteten Jamaks (das Corps Ianitscharen, welches die
Besatzung der Dardanellenschlösser bildete) der zerschmetternde
Schlag. Topschi's und Albanesen, deren 3009 in der Hauptstadt
— 118 —
angelangt waren, wurden zu ihrer Vertilgung nach den Darda-
nellen gesendet. Nachdem man sie mit List aus den festen Schlös-
sern gelockt, wurden sie umzingölt und theils niedergehauen, theils
auf die Flotte des Kapudan-Pascha geschleppt, der mit dem Plane
einverstanden war. Hierauf fanden M Adrianopel, Brusa
und anderen Städten die neuen Maßregeln leicht Eingang. Das
Volk der Hauptstadt bewunderte den entschlossenen Fürsten; die
Schaaren der neuen Miliz, die europäisch gekleidet und geübt wur-
den, wuchsen taglich durch Freiwillige an; das Volk drängte sich
zu dem neuen Exercitium, dem der Sultan selbst in fränkischer
Tracht beiwohnte.
Bei alledem traute Mahmud der anscheinenden Ruhe Eon-
stantinopels nicht, und wahrend dreier Monate blieb der Sitz der
Regierung im ersten Hofe des Serails unter der schützenden Ae-
gide der heiligen Fahne. Der 31. August war zur Aufhebung
derselben bestimmt, und der Sultan wollte bei dieser Feierlichkeit
mit allen Truppen in der neuen Uniform erscheinen. Eben als der
Zug sich in Bewegung setzen sollte, entstand Feuerlärm: die Flam-
men schlugen aus einem Backerladen, nahe beim Gartenthore des
Serails, empor. Der Wind trieb die Flammen nach diesen Ge-
banden; allein das Feuer machte auch Sprünge, die weder der
Richtung, noch der Gewalt des Windes konnten zugeschrieben wer-
den—ein sicheres Zeichen, daß Rache und Bosheit dabei nicht un-
thatig waren. Die Wuth der Flammen vermehrte sich von Stunde
zu Stunde und hielt so über sechsunddreißig Stunden an. Da
lagen in Asche LOW Hauser, zwei ungeheure Magazine, die Woh-
nungen sammtlicher Minister und Würdenträger des Reichs, der
Palast des Großveziers und der des armenischen Patriarchen,
sammt der Patriarchalkirche und vielen öffentlichen Gebäuden. Der
Schaden ward auf wenigstens dreihundert Millionen Piaster ge-
schätzt. Große, weite Strecken der Stadt sah man nur mit Trüm-
mern und Brandschntt bedeckt. Der Sultan hatte alle Thors sei-
nes Palastes öffnen lassen, die unglücklichen, ihres Obdachs beraub-
ten Familien aufzunehmen; auch wurden mehrere Tausend Frauen
und Kinder in den Regierungspalasten untergebracht. Wiewohl
nun dieses Ereigniß das Fortbestehen eines verborgenen Wider-
standes genugsam beurkundete, so wagte der Ausruhr doch nicht
hervorzubrechen; denn auf den Höfen des Serails standen unter
dem Seraskier 8000 Mann und zwanzig ausgefahrene Batterien
— 119 —
in Schlachtordung; ja, Hussein mischte sich selbst unter die Spritzen-
leute und arbeitete mehrere Stunden mit zur Dampfung der
Feuersbrunst. Das Volk glaubte allgemein, das graßliche Unheil
der Rachelust der Janitscharen zuschreiben zu müssen; jedoch ward
kein Beweis für diese Meinung aufgefunden. — Inzwischen ward
am 2. September Muhameds Fahne, mit großem Gepränge, in dem
herkömmlichen Verwahrsam, einem in der Nahe Constantinopels
gelegenen Schlosse, niedergelegt, und auch das Lager im Serail
aufgehoben. — Somit war die größte Veränderung, die im Reiche
des Halbmondes vorgehen konnte, vollendet. Zwar deuteten noch
einzelne Verschwörungen und Complotte bis ins folgende Jahr das
Vorhandensein einer mißvergnügten Partei an; allein bei der Ei-
nigkeit des Volkes und der Regierung wurden alle Versuche zur
Herstellung der alten Ordnung schnell genug unterdrückt, und die
fortwahrenden Siegesnachrichten aus Morea hielten die Popula-
rität der Regierung aufrecht.
Der WZmssRZIpsbWViHs» (Kapo d'Jstnaö.)
Gleich nach dem Falle von Missolunghi ward die dritte Na-
tionalversammlung der Griechen nach Epidauros zusammenbcrufen,
die sich jedoch vor der Hand nur mit dem Militairwesen und den
Vorbereitungen zum Kriege beschäftigen konnte; die übrigen Be-
rathungen für die auswärtigen Angelegenheiten und das Finanz-
wesen wurden vor der Hand bis zum nächsten September verscho-
ben, wo die Repräsentanten der Nation zur Beendigung ihrer
Geschäfte wieder einberufen werden sollten. Zur festgestellten Zeit
ward der Congreß nach der Insel Aegina, dem Sitze der Regie-
rung, verlegt. Hier erschienen etwa siebenzig Abgeordnete des festen
Landes und der Inseln, doch nur ein einziger Moreote. Die Uebri-
gen, abgehalten von einer Militairfaction, welche sich zur Gebie-
lerin über die Angelegenheiten zu machen trachtete, vereinigten sich
zur H ermi one (Kastri) an der Ostküste des Peloponnes. Um diese
— 120 —
Trennung aufzuheben, forderte die Regierung die Letzteren auf, fich
an ihre Collegen anzuschließen; doch die Moreoten, welche einige
Abgeordnete mehr zahlten (nämlich vierundachtzig an der' Zahl,
worunter sich auch die Erzbischöfe von Korinth und Voresthene,
nebst den berühmtesten Kapitano's, Kolokotroni ?c. ?c., befanden),
gaben sich deshalb für die rechtmäßige Versammlung aus und dran-
gen folglich darauf, daß man zu ihnen kommen sollte. Beide
Parteien geriethen in einen leidenschaftlichen Schristenwechsel, worin
jede die andere der Unrechtmäßigst beschuldigte. Alles, was zur
Beilegung dieses Streites versucht ward, war vergeblich. Es
gab also zwei Nationalversammlungen, in denen die Angelegenhei-
ten Griechenlands verhandelt wurden, und welche, da jede sich für
die allein gesetzmäßige hielt, die verschiedenartigsten Beschlüsse faßten.
So war die Lage der Dinge, als der General Richard Church,
welcher früher in englischen Diensten gestanden hatte, zur Leitung
der Militairangelegenheiten der Griechen auf Hellas Boden an-
kam, auch der schon lange sehnlich erwartete Admiral Lord Coch-
rane, mit einer sechszehn schwere Kanonen führenden Brigg und
einer Goelette, unweit Poros landete. Beide Manner wurden mit
großem Jubel empfangen und auf eine ausgezeichnete Weise ge-
ehrt. Ihre Bemühungen gingen nun vor allem dahin, die beiden
Parteien zu versöhnen, jedoch anfanglich mit schlechtem Erfolge»
Endlich, nach ungefähr vierzehn Tagen, brachten sie durch die
Drohung, Griechenland sogleich wieder verlassen zu wollen, wenn
die Uneinigkeit der obersten Behörde fortdaure, eine Uebereinkunft
zwischen den zwiespaltigen Gesetzgebern zu Stande; und nun ward
der Beschluß gefaßt, die Versammlung solle weder zuHermione, noch
zu Aegina, sondern zu Da mala (dem alten der Insel Poros ge-
genüber liegende Tronzene) gehalten werden, im Marz 1827.—
Den 14. April wurde Lord Cochrane zum Großadmiral des grie--
chischen Seewesens, und Sir Richard Church zum Generalissimus
der Nationaltruppen ernannt, auch von der Nationalversammlung
beeidigt und in Pflicht genommen.
Eine gänzliche Reform des zerrütteten Griechenlands und
seiner Regierungsform war durchaus nothwendig; dies leuchtete
Allen, selbst unter dem Gewirre der Cabalen und Intriguen ein.
Die Verständigsten hatten die Ueberzeugung gewonnen, daß nur
ein welterfahrener, das Vertrauen der europäischen Höfe genießen-
der Vorstand ihnen Hülfe zu schaffen vermöge. Schon seit längerer
— nt
Zeit war unter Griechenlands Patrioten der russische Staatsmi-
nistcr Graf Kapodistrias als der Geeignetste genannt, um an
der Spitze ihrer Regierung zu stehen; und der Graf, von diesen
Gesinnungen in Kenntniß gesetzt, hatte sich nach Paris und London
begeben, um Frankreichs und Englands- auf diesen Gegenstand
Bezug habende Meinung zu erforschen. Auch war die Sache be-
reits zwischen dem Herzoge von Wellington, und dem russischen
Cabinette zur Sprache gekommen, wobei der Herzog geäußert: „daß
der politischen Stellung Griechenlands gegen die europaischen Machte
nur dann eine gewisse Haltung könne gegeben werden, wenn ein
ausgezeichneter Staatsmann an der Spitze der dortigen Regierung
stände." — Also ward von der Mehrheit der Nationalversamm-
lung in einer ihrer ersten Sitzungen zu Damala beschlossen, den
Grafen Johann Kapodistrias einzuladen, sich an die Spitze des
griechischen Gemeinwesens zu stellen, und zwar vorerst auf sieben
Jahre, mit eben der Gewalt und den Amtsverrichtungen, welche dem
Präsidenten der vereinigten Staaten von Nordamerika zustanden.
— Der Graf konnte für einen Griechen gelten, weil seine Familie
schon seit mehreren Jahrhunderten eine der angesehensten auf den
ionischen Inseln gewesen war und noch dort blühete. Er selbst
war auf Cor fu im Jahre 1776 geboren. Er studirte auf italieni-
schen Universitäten und erhielt schon im Jahre 1800, als die ionischen
Inseln, in republikanischer Form, unter die Herrschaft der Pforte
mit Englands und Rußlands Protection kamen, den Auftrag, die
Verwaltung der Inseln Kep ha lonia, Jthaka und St. Maura
zu organisiren. Im Jahre 1892 ward er zum Minister des Innern,
dann zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten und des Han-
dels der Republik ernannt. Als 1807 Ali Pascha Santa Maura
bedrohte, bekleidete die ionische Regierung den Grafen mit der Ge-
walt eines außerordentlichen Commissairs und stellte die Gesammt-
mtltz der sieben Inseln, Albaniens und des Peloponnescs unter
seinen Befehl. .Bei dieser Gelegenheit ward Kapodistrias mit den
griechischen Kapitano's Kolokotroni, Bozzaris, Karais-
kaki und anderen bekannt. Als die Franzosen Herren von Jo-
nien wurden, nahm der Graf, obgleich er im Lande blieb, kein
Amt an. Der Kaiser Alexander berief ihn 1899 nach Peters-
bürg, wo er beim Departement der auswärtigen Angelegenheiten
Anstellung erhielt, und im Jahre 1812 begleitete er die russische
Gesandtschaft nach Wien. Aon hier berief man ihn als Chef
— 122 - —
des diplomatischen Departements ins Hauptquartier der russischen
Armee an der Donau, spater ins Hauptquartier der großen Armee.
Im November 1813 reiste er mit großen Vollmachten der verbün-
deten Machte nach der Schweiz, deren jetzige Verfassung zum Theil
Kapodistrias Werk ist. Genf und Waadt verehrten ihm-ihr
Bürgerrecht. Spater spielte er bei den großen Staatsverhandlun-
gen noch eine bedeutende Rolle als Diplomat auf dem Wiener
(Kongresse, bei den Konferenzen zu Paris, wo er als russi-
scher Bevollmächtigter den zweiten Pariser Frieden unterzeichnete,
und auf dem Congresse zu Aachen, wo die ionischen Inseln unter
Großbritanniens ausschließlichen Schutz gestellt wurden. Bei der
Stiftung der Hetaria in Wien war er besonders thatig. Bon 1816
bis 1820 war er Minister der auswärtigen Angelegenheiten am
russischen Hofe. Als aber, nach dem Ausbruche des griechischen
Freiheitskrieges, im Gemüthe des Kaisers Alexander Abneigung ge>
gen revolutionaire Unternehmungen über alle andere Gefühle und
Rücksichten siegte und die russische Politik für gut fand, Griechen-
land seinem kläglichen Schicksale zu überlassen; da trat mit Anderen,
welche der griechischen Sache Theilnahme schenkten, auch Kopo-
distrias aus dem Cabinette des Kaisers und lebte als Privatmann in
Genf, wo er Vermögen und Einfluß zur Unterstützung der un-
glücklichen Griechen verwendete, auch wahrscheinlich einige Verbin-
dung mit mehreren ihrer Chefs unterhielt. Hier erhielt er den
Ruf der griechischen Nation. — Bis zu seiner Ueberkunft, um
deren Beschleunigung er dringend ersucht ward, vertraute die Na-
tionalversammlung die vollziehende Gewalt einer Regierungs-Com-
Mission; auch ward ein Ausschuß von zwölf Mitgliedern angewiesen,
eine den Bedürfnissen Griechenlands entsprechende Verfassung zu
entwerfen. Wenige Tage darauf erließ der Congreß ein Decret,
wodurch der neue Präsident ermächtigt ward, zur Bestreitung der
dringenden Bedürfnisse des Vaterlandes eine Anleihe im Auslande
zu eröffnen. Diese Anleihe sollte sich auf fünf Millionen schwere
Piaster belaufen und zur Sicherheit für die Darleiher eine Hypothek
auf Landereien erhalten. Im August kam den Griechen die ange-
nehme Nachricht zu, daß der Graf Kapodistrias die Präsidenten-
würde der griechischen Republik, unter Zustimmung des russischen
Kaisers, angenommen habe. Kaiser Nico laus, der dem bewahr-
ten Staatsmanns sein besonderes Wohlwollen geschenkt, hatte ihn,
für die beabsichtigte Restauration Griechenlands, auf's Ehrenvollste
— 123 —
aus seinem Dienste entlassen und bewies ihm in einem Ukas vom
13. Juli die ausgezeichnetste Erkenntlichkeit für den einsichtsvollen
Eifer, womit er seine Functionen erfüllt, für seine Ergebenheit
gegen die Interessen und den Ruhm Rußlands ?c. Am 18. De-
cember schiffte der Graf sich zu Anco na ein, um Besitz zu nehmen
von dem hohen Posten, zu welchem er berufen war, und am 18.
Januar 1828 langte er zu Nauplia an. Die Umstände, unter
welchen er den Ort seiner Bestimmung erreichte, waren indeß
nichts weniger als günstig; wie der Versolg der Geschichte des grie-
chischen Freiheitskampfes lehren wird, wo wir seine Laufbahn bis
zu der unglücklichen Katastrophe verfolgen werden, die seinen ge-
waltsamen Tod herbeiführte.
Einnahme von Athen. — Die Intervention der ver-
v ü n d e t e n M a ch t e.
Durch die Ankunft Cochrane's und Church's schien ein
neuer, glücklicher Wendepunkt für die griechischen Angelegenheiten
eintreten zu wollen. Beide Manner hatten den festen Willen,
etwas zum Besten der Griechen zu leisten. Nachdem sie, wie oben
erzählt, die verderbliche Zwietracht möglichst beseitigt, forderten sie
die Griechen des Festlandes und der Inseln in einer Proklamation
auf, die Waffen zu ergreifen und sich auf die Vertheidigung des
Vaterlandes vorzubereiten. Inzwischen zog Cochrane seine Admi-
ralitatsflagge am Bord der großen, in Amerika gebauten Fregatte
Hellas auf, versammelte unter seinem Paniere, außer seiner eig-
nen Brigg und seiner Goelette, zwei Dampfböte und fünf ipsario-
tische Fahrzeuge und drang auf strengere Disciplin beim griechischen
Seewesen.*) Der Admiral Miauiis war der Erste, der seinen
Stolz dem Vortheile des Vaterlandes aufopferte, und auch die
alten Häuptlinge, Kolokotroni nicht ausgenommen, schienen ihren
*) Die ganze griechische Marine bestand um diese Zeit, außer den o6en.
erwähnten, aus fünf Polakren mit drei Masten, aus ungefähr achtzig
Briggs von verschiedener Größe und etwa fünfzehn Brandern. An streit-
baren Männern befanden sich etwa 25,000 bis 30,000 unter den Fahneil
Griechenlands.
— 124
gegenseitigen Haß abzuschwören und sich den Befehlen des brittischen
Generals mit Entsagung unterzuordnen. — Vorerst mußte die
größte Anstrengung gemacht werden, um das von den Türken be-
lagerte Bollwerk Griechenlands, Athens Wropolis, zu behaupten.
Den 25. April waren alle Vorkehrungen zu einem Angriffe auf die
Belagerer, sowohl zu Lande als zu Wasser, getroffen. Karaiskaki
und einige Philhellenen-Generale hatten die Umgegend bis auf eine
halbe Stunde von der Stadt eingenommen. Reschid Pascha hielt
mit einem Corps von 7000 Mann einen Theil des Hafens, sammt-
liche Anhöhen um Athen und die Stadt selbst besetzt; in der Akro-
polis aber befanden sich noch etwa 1100 Streiter. Lord Cochrane
und General Church liefen an demselben Tage mit einem Theile
der Flotte in den Hasen Piraus ein. Ihr Plan war, zuerst
das befestigte Kloster St. Spiridion zu nehmen, welches in
geringer Entfernung von der Ostküste liegt und ungefähr 300
Mann türkischer Besatzung hatte. Um Mittag begann aus einer
Landbatterie und von der Flotte ein Feuer gegen die Schutzmauer
des Klosters, doch ohne großen Erfolg. Am folgenden Tage
nahm die Kononade von neuem ihren Anfang, und nachdem ein
Theil des Gebäudes zertrümmert war, ohne die Standhastigkeit
der Türken zu erschüttern, ließ Church — weil sich die Griechen nicht
zu einem Sturme bequemen wollten — der Besatzung eine ehrenvolle
Capitulation anbieten; die jedoch nicht angenommen ward, weil die
Umstände den Türken noch nicht dringend genug erschienen. Erst
nachdem noch etwa tausend Kanonenschüsse gegen das Kloster wa-
ren gerichtet worden, nahm die Besatzung die Capitulationsvor-
schlage — freien Abzug mit Waffen und Gepäck — an. Zur
Bürgschaft für die Vollziehung derselben hatte Church einige
Geißeln bewilligt, die aus Sühnen oder Verwandten griechischer
Hauptleute bestanden; die Reiterei aber hatte den Besehl erhalten,
die Türken bis zur Küste zu begleiten. Alle diese Maßregeln konn-
ten indeß die Türken nicht gegen die Begehrlichkeit der Griechen
schützen. Es hatte sich nämlich im griechischen Lager das Gerücht
verbreitet, daß im Kloster St. Spiridion unermeßliche Schatze ver-
borgen seien; weshalb sich'einige Soldaten, die dem Kloster zunächst
postirt waren, in dasselbe mit der Erwartung einer ansehnlichen Beute
begeben hatten. In dieser Hoffnung betrogen, eilten die Erbitterten den
abgeführten Türken nach; und indem einer von ihnen einen Türken sei-
nes Säbels berauben wollte, dieser aber mit einem Pistolenschusse ant-
I
— 125 —
wertete, entstand auf der Stelle zwischen den Griechen und Türken
ein Gewehrfeuer, das von den griechischen Offizieren um so wem-
ger konnte gehemmt werden, weil sie darüber selbst in Gefahr
geriethen. Durch die Dazwischenkamst der Sulioten wurden indeß
noch hundert und dreißig Türken gerettet. Church war von diesem
Auftritte so empört, daß er das Lager der Griechen würde verlas-
sen haben, wenn er die Uebergabe der Akropolis minder befürchtet
hatte. Er, wie Cochrane, drangen bei der Regierung auf eine exem-
plansche Bestrafung dieser groben Verletzung des Völkerrechts;
doch war die Regierungscommission viel zu ohnmachtig, um diesem
Begehren willfahren zu können.
Indeß verkündeten alle von der Festung gegebene Signale die
steigende Roth in derselben, und einige bei Nacht von dorther durch-
geschlichene Boten erklarten, die Besatzung leide den größten Mangel
an Holz, Fleisch und Salz; kaum vermöchten die Befehlshaber die
aufgeregte Mannschaft noch im Zaume zu halten, und man werde
sich — käme binnen zehn Tagen keine Hülfe — den Türken ergeben,
oder den verzweifelten Versuch wagen müssen, mit Gewalt durch
Neschid's Lager zu brechen. Cochrane, Church und Karaiskaki be-
schlössen also, die Festung um jeden Preis zu retten. Leider aber
ward schon in einem an sich unbedeutenden Worpostengesechte der
tapfere Karaiskaki tödlich verwundet, und noch in der nächsten
Nacht starb er am Bord der Goelette.^) Dieser Unfall entmu-
thigte die unter seinem Befehle stehenden Corps dergestalt, daß
sie am folgenden Tage, wo der Hauptschlag zum Entsätze der Fe-
stung geschehen sollte, die ihnen aufgetragene Diversion nicht, wie
sie sollten, ausführten. In der Nacht vom 5. zum 6. Mai stieg
Church mit 3500 Mann ans Land, die unter dem Schutze der
Dunkelheit einen Ueberfall auf die Türken machen sollten. Schon
*) Der Leichnam ward nach Koluri gebracht und dort mit großer Feier-
lichkeit zur Erde bestattet. Karaiskaki vermachte seinem Sohne die
Waffen, welche er gewöhnlich zu tragen pflegte, und einigen andern Per-
sonen, die ihm besonders zugethan gewesen, 15,000 Piaster. Roh und
wild, hatte dieser Häuptling von Jugend auf das gefährliche Gewerbe
der Klephthen getrieben, und obgleich er unfähig war, seinen Namen zu
schreiben, zeigte er sich doch bildsam nach hellenischer Art. Er war ein
furchtbarer Feind der Türken und starb als Kampfer für die neuerwachte
Freiheit im höchsten Glänze seines Ruhms.
— 126 —
war man in zwei Linien bis zu den Vorposten der Feinde vorge-
drungen, als der anbrechende Tag das Vorhaben verrieth. Ohne
Zeitverlust traf Reschid Pascha Empfangsanstalten. Wahrend ein
Corps von Mann regulairer Infanterie, das seit kurzem erst
zu seiner Verstärkung aus Constantinopel gekommen, die erste Linie
der Griechen durch ein gutgenährtes Gewehrfeuer aufhielt, umging
ein starkes Geschwader Reiterei ihre rechte Flanke und schloß sie
von beiden Seiten ein. Der Griechen Widerstand war schwach.
Vergeblich hielten einige besondere Corps mit großer Slandhaftig-
keit mehrere Anfalle der Reiterei aus; sie wurden davon erdrückt,
und nach zweistündigem Kampfe mußten auch die tapfern Haufen
der Sulioten (unter denen sich die übriggebliebene Besatzung von
Missolunghi befand), die Athenienser, die Kretenser, die Kandioten
und die geregelten Compagnieen, oder sogenannten Taktiker, ihr
Heil in schneller Flucht suchen. Church und Cochrane, überrascht
von der schnellen Verfolgung der Türken, eilten der vor Anker lie-
genden Flotte zu, und Letzterer warf sich sogar ins Meer, um
schneller durch Schwimmen eins der nahen Fahrzeuge zu erreichen.
Die Griechen hatten in diesem Kampfe fechs Generale verloren und
zählten 2000 schwer Verwundete oder Todte; worunter fast sammt-
liche Taktiker, die es den gewesenen Klephthen an Schnelligkeit nicht
gleich zu thun vermochten. Nur ein sehr kleiner Theil von denen,
die dieser Unternehmung beigewohnt hatten, rettete sich auf die
nahen Schiffe. Von zwei und zwanzig Philhellenen kamen nur
vier dahin zurück. Alle Griechen und Griechenfreunde, zweihundert-
undvierzig an der Zahl, die lebendig in der Türken Hände gefallen,
ließ Reschid fesseln, in eine Reihe setzen und vor seinen Augen
ihnen die Köpfe abschlagen, die zusammen mit den Köpfen der auf
dem Schlachtfelde Gefallenen als Siegeszeichen nach Constantinopel
geschickt und an den Mauern des Serails dem türkischen Pöbel
zur Schau ausgestellt wurden. Nur der Anführer der Hydrioten,
Dimitrius Kalergi, entging der barbarischen Hinrichtung, in-
dem ihn sein Bruder um 5VM9 türkische Piaster loskaufte. Der
griechische Kapitano Georgias Drako aber rief, ehe ihm der
Kopf abgehauen werden konnte, den Barbaren zu: „Ich habe mit
eigenen Händen mehr der Eurigen erwürgt, als ihr hier gefangen
habt! Nicht ihr sollt den Drako umbringen!" — und bei diesen
Worten entleibte er sich durch mehrere Stiche eines kleinen verbor-
gen gehaltenen Messers. Sechs gefangene griechische Priester
— 127 —
wurden gespießt. Eine schreckliche Rache für die Ünthat der Grie-
chen beim Kloster Spiridion.
Die Festung mußte nun ihrem Schicksale überlassen werden,
und Cochrane, dem dies kein Geheimniß war, schrieb am Morgen
seiner Abfahrt nach Poros an den Commandanten einer im Hafen
stationirten französischen Fregatte, Leblanc, und ersuchte ihn, bei
dem Seraskier die Vermittlung einer Eapitulation zu überneh-
men. Dies' geschah mit dem besten Erfolge. Reschid bewilligte
den Truppen der Besatzung freien Abzug mit Gepäck, jedoch ohne
Waffen. Zunächst ward dieser Antrag an den Obersten Fabrier gerich-
tet — der sich vor kurzem mit einigen hundert Mann in die Festung
geworfen — er wieß ihn jedoch zurück, weil nicht er in der Citadelle
den Oberbefehl hatte. Nicht minder aber verwarfen ihn die dort be-
fehligenden Capitano's. „Wir sind Hellenen — sprachen sie — ent-
schlossen , frei zu leben, oder zu sterben. Will der Pascha unsere
Waffen haben, so mag er kommen und sie holen." Diese Ent-
schlossenheit verwandelte sich jedoch in Nachgiebigkeit, als Church,
durch den Mangel an Lebensmitteln gezwungen, seine Verschanzungen
verlassen und sich wieder eingeschifft hatte. Unvermögend, sich lan-
ger zu halten, entschloß sich die Besatzung zur Eapitulation, die
ihnen, sowie den sämmtlichen griechischen Familien, welche sich dort-
hin geflüchtet, freien Abzug mit Gepäck gewährte.
Wahrend somit Athen, die letzte Hauptfestung der Griechen,
in der Gewalt der Türken war, fuhr Ibra bim mit seinen Egyp-
tern fort, im Peloponnese das Land zu verwüsten. Sein Heer
zahlte noch immer an WM9 Mann. Wie einst Hannibal
Italien, so durchzog er die unglückliche Halbinsel von einem Ende
zum andern. Bisher war noch der westliche Theil derselben ziem-
lich verschont geblieben. Die rohen, tapfern Nachkommen der al-
ten Spartaner, jene unbesiegbaren Bewohner des gebirgigen Mai-
n a - Districts, wo die Klephthen stets ihre sichersten Zufluchtsorte
fanden, hatten alle Anfalle der wilden Araber zurückgeschlagen.
Erbittert darüber, brach jetzt Ibrahim, nachdem er seine Reiterei
aus Rumelien neu remontirt hatte, gegen Ende Marz von Modon
auf und zog gegen die freundlichen Thaler des alten Elis. Ue-
krall flohen die Einwohner in die Gebirge, wo sie zwar bei den
Klephthen Schutz, aber auch Roth, Mangel und Elend aller Art
fanden. Andere, die dahin nicht gelangen konnten, warfen sich in
die Klöster und andere einigermaßen haltbare Oerter; wo sie je-
doch bald, da ihnen keine Hülfe werden konnte, durch gänzlichen
Mangel an Lebensmitteln in die Hände ihrer grausamen Feinde
geriethen. Ibrahim schickte W0 waffenfähige Gefangene und 1500
Frauen und Kinder in die Selaverei und setzte dann seinen Marsch
fort. Der Zug ging wie ein verheerender Waldstrom durch die men-
schenleeren Gefilde; die Dörfer standen verödet; Tausende von Fami-
lien ließen ihre Habe im Stich und warfen sich in ganzlicher Ent-
blößung auf die Ufer von Tante, wo sie ebenso wenig Erbarmen
fanden, als in Ibrahims Lager. Die allgemeinste Ursache der
völligen Verlassenheit der bedauernswerthen Moreoten lag indeß
in der Zwietracht der Griechen selbst; der Krieg wüthete nämlich
um diese Zeit zwischen den Rumelioten und den Häuptlingen der
Moreoten unter einander und gegen die Regierung. Selbst in den
Ringmauern Nauplia's, dem Sitze der Behörde, war ein förmli-
icher Bürgerkrieg ausgebrochen; und ohne den Beistand der gro-
ßen europaischen Mächte würde Griechenland unfehlbar das Opfer
seiner barbarischen Feinde, wie seiner eigenen Zwietracht gewesen sein.
Die Kunde von den entsetzlichen, durch Ibrahim verübten
Greuel hatte die Theilnahme, welche gleich Anfangs die Völker
Europa's zu Gunsten dieses Kampfes ergriffen hatte, machtig ge-
steigert. Allein die Haupter der Christenheit, wie schmerzlich ihnen
auch der Anblick des blutigen Trauerspiels im Osten sein mußte,
durften aus Rücksicht auf die Gebote der Staatskunst den Empö-
rern keine Hülfe bringen. Mit dem Tode deS Kaisers Alexander
aber zerfiel das politische System, in welchem dieser Fürst den
Vorsitz geführt hatte. Die Stimme der Völker, welche von dem
Beherrscher des größten der christlichen Reiche Beschützung des
Kreuzes und Hülfe für das untergehende Griechenland forderte,
fand bei Alexanders Nachfolger Gehör, und die Politik der übri-
gen europaischen Cabinette, die bisher gegen die Griechen und ihr
Unternehmen feindlich gesinnt gewesen, neigte sich jetzt zu Gunsten
derselben hin. Im Frühjahre 1826 erschien der Herzog von Wel-
lington als Englands Abgesandter in Petersburg, und am
4. April ward eine vorläufige Übereinkunft geschlossen, daß die
Pforte zum Nachgeben in der griechischen Sache solle bewogen
werden, jedoch ohne Waffengewalt; dahin wollten Nußland und
England gemeinschaftlich wirken mit den Mächten, die dem Ver-
trage beitreten würden. Der englische Gesandte in Constantinopel,
Stratfort Canning, und der russische Geschäftsträger, Min-
— 129 —
ciaky, versuchten im Laufe des Jahres 1826 das Mögliche, um
der Pforte die Vermittelung ihrer Höfe annehmlich zu machen;
allein sie vermochten nichts auszurichten. Im Februar 1827 er-
schien der Marquis von Ribeaupierre als russischer Gesandter
zu demselben Zwecke in Constantinopel; auch seine Bemühungen
hatten keinen besseren Erfolg. Der Reis-Effendi (Minister des
Auswärtigen) ließ sich nur auf mündliche Unterhandlung über die-
sen Gegenstand mit ihm ein, und die Antwort auf alle Antrage
des russischen Ministers blieb stets: „der Sultan sähe nicht ein,
woher Pflicht oder Recht der europäischen Mächte kämen, sich
mit der Pacisication seiner rebellischen Unterthanen zu befassen;
nur er sei der Herr und Gesetzgeber in seinem Lande und werde
niemals darüber ein Einschreiten fremder Machte annehmen."
Um diese Zeit war der englische Premierminister, Lord Liver-
p o o l, gestorben (17. Februar 1827), und der uns schon als war-
mer Griechenfreund bekannte Georg Canning, zeitheriger Mi--
nister des Auswärtigen, an die Spitze der Regierung getreten.
Dieser' bestimmte sich jetzt, Alles aufzubieten, um die Wiederherstel-
lung einer Nation zu bewirken, die zuerst in Europa Gesittung
und Bildung, Kunst und Wissenschast besessen hatte und nun,
durch ein sonderbares Verhangniß, allein in Europa unter dem
Joche asiatischer Barbarei seufzte. Dieses Ziel zu erreichen, zog
er auch Frankreich in das mit Rußland schon bestehende Bündniß.
Doch auch die bald darauf stattfindenden Antrage des französischen
Gesandten in Constantinopel, Grafen Guilleminot, vermochten
Mahmuds eisernen Sinn nicht zu beugen; ihm schienen vielmehr die
abweisenden Antworten seines Ministers noch viel zu gemäßigt und
schonend. Seida-Effendi — dies war der Name des Mini-
sters — ward seines Postens entsetzt, und ihm ein Nachfolger von
acht muselmannischen Gesinnungen gegeben. Da indessen auf die
wiederholten Eingaben der Minister immer noch keine schriftliche
Antwort von Seiten der Pforte, erfolgt war, so ward nun ernst-
lich auf eine kategorische Erklärung des Divan bei dem neuen
Reis-Effendi gedrungen. Dieser antwortete sehr nachdrücklich, mit
Vorwürfen über Cochrane's Erscheinen in Griechenland, und sogar
mit der Drohung von Abbrechung aller diplomatischen Verbindungen,
sofern diese auf Vermittelung abzweckten, da sein Herr, der Sul-
tan, nie eine Dazwischenkunft zwischen ihm und den Raya's ge-
starten würde. Hierauf sendete Ribeaupierre den Dragoman mit
N. G. IV. 9
— 130 —
de- kurzen, bündigen Erklärung zurück: ..^Intervention sc fem, ou
par c'iuj puissances, ou par trois, oh par deax, ou par «ncH
(Die Dazwischenkunft wird statthaben, sei es durch fünf Machte,
oder durch drei, oder durch zwei, oder durch eine einzige!) —
Da trat endlich am I!). Juni die Pforte mit einer schriftlichen
Auseinandersetzung ihrer Rechte, jede Vermittlung fremder Machte
abzuweisen, hervor. Sie gründete dieselbe erstlich darauf, weil
das System von dem leidenden Gehorsam der Unterthanen gegen
ihren rechtmäßigen Oberherrn durch dieselbe verletzt werde; zwei-
tens weil das Recht des Souverains, seine eigenen Angelegenheiten
zu regeln, unangetastet bleiben müsse, und weder der Regent, noch
das muselmannische Volk jemals ein Einschreiten in ihre Rechte
gestattet hatten; endlich, daß dieses auch der früheren Erklärung des
englischen Ministers widersprechen würde: „daß eine nur das Innere
der Pforte angehende Angelegenheit ihrer eigenen Entscheidung über-
lassen bleiben solle." Dieser Note fügte der Divan die Erklärung
hinzu, daß die Pforte kein neues Anerbieten der Machte annehmen,
oder darauf keine Antwort geben werde. — Wie fest übrigens der
Sultan entschlossen war, Vorschlagen, die ihm hinsichtlich der
Befreiung der Griechen gemacht werden könnten, sogar durch die
Gewalt zu widerstehen, kündigten die sofort getroffenen Maßregeln
genügend an. Ein großherrlicher Firman gebot allen Pascha's in
den Provinzen, die Organisation der Truppen auf das Schnellste und
Nachdrücklichste, o h n e a l l e R ü ck si ch t a u f d e n U n t e r fch i e d
des Glaubenbekenntnisses, zu betreiben; ein Befehl, der in
der Türkei bisher unerhört war. Die Festungen an der Donau
wurden in Verteidigungszustand gesetzt, und Geschütz dahin abge-
sendet. Eilboten betrieben das Auslaufen der Flotte, die Rüstun-
gen des Vicekönigs von Egypten und ermunterten den Untern eh-
mungsgeist Ibrahims und Reschids zur Unterdrückung der griechi-
scheu Insurreetion, „ehe und bevor Umstände eintraten, die ihr
neuen Vorschub leisteten."
Inzwischen war in London, vorzüglich durch Canning, der
berühmte Interventions- und Pacisicationsvertrag Zu Gunsten
Griechenlands zwischen Rußland, England und Frankreich zu Stande
gekommen und von den drei Bevollmächtigten dieser Cabinette, dem
Fürsten von Lieven, dem Viscount William Dudley und
dem Fürsten von Polignac, unterzeichnet. Demzufolge ver-
pflichteten sich die contrahirenden Machte, die Aussöhnung der
— 131 —
Worte mit den Griechen nicht aufzugeben und die erstere durch
gemeinschaftliche Maßregeln zu einer beschrankten Freilassung Grie-
chenlands zu bewegen;*) falls aber der Sultan die vorgeschlagene
Vermittelung binnen Monatsfrist nicht annehme, oder wofern die
Griechen sich weigerten, den vorhergehenden Waffenstillstand zu
vollziehen, wollten die drei Machte sich gegen denjenigen erklaren,
welcher die Feindseligkeiten fortzusetzen entschlossen sei, ja, wenn
es nöthig sein sollte, gegen beide Parteien. — Den 16. August
ließen die Minister der verbündeten Machte durch ihre Dragomans
dem Reis-Effendi eine Note überreichen, welche den wesentlichen
Inhalt des Tractates vom 6. Juli erhielt. Nur mit dem größten
Widerwillen nahm der Reis-Effendi die Botschaft der Minister -an.
Die Schrift mußte versiegelt auf das Sopha gelegt werden, wor-
auf die Ueberbringer sich entfernten. Vergeblich versuchten andere
auswärtige Minister, vorzüglich aber der preußische, die Pforte zur
Annahme des Ultimatum der drei Machte zu bewegen; nach Ab-
lauf der anberaumten Frist erklarte der Reis-Effendi: „die Pforte
beharre auf ihrer Erklärung vorn 9. Juni und habe derselben nichts
hinzuzufügen." Jetzt hielten es die Minister für gerathen, für die
Sicherheit ihrer Familien zu sorgen, und brachten sie an Bord
im Hasen liegender Schiffe, wahrend sie ihre Regierungen und
die Befehlshaber der im Archipel kreuzenden Fahrzeuge von dem
Ausgange ihrer vergeblichen Bemühung zur Herstellung des Frie-
dens benachrichtigten.
Nunmehr ward den Admiralen der Geschwader, welche die
drei Machte, in Gemaßheit des Vertrags, ins Mittelmeer gesendet
hatten, Befehl ertheilt, Maßregeln zu treffen, um den Egypter
Ibrahim zur Räumung des Peloponneses, wenigstens zur Einfiel--
lung der Verheerungen, zu bestimmen und überhaupt einen Was-
fenstillstand unter den kriegführenden Parteien zu Wege zu brin-
qen. Die Befehlshaber der Flotten waren: für England der
Vice-Admiral Codring ton, für Frankreich der Contre-Admiral
*) Nach dieser Übereinkunft sollte Griechenland unvereint mit dem türki-
schen Reiche bleiben, jedoch der Pforte einen jährlichen Tribut bezahlen;
ferner sollten die Griechen ausschließlich von Obrigkeiten regiert werden,
welche sie selbst gewählt, und völlige Handelsfreiheit genießen. Um etwai-
gen Streitigkeiten vorzubeugen, sollten die Griechen gehalten sein, das
den Türken zuständige Eigenthum, sowohl auf dem Festlande, wie auf
den Inseln, an sich zu kaufen.
0"
— 132 —
de Rigny, für Rußland der Vice-Adiniral von Heyden. Schon
früher war ein brittischer Offizier nach Egypten gesendet, um den
Vicekönig von dem gefaßten Entschlüsse der vereinigten Machte Zu
unterrichten und das Auslaufen der in dem Hafen Alexandriens
ausgerüsteten Flotte zu hemmen. Dabei wurden demfelben sehr
glanzende Versprechungen gegeben, Falls er sich unabhängig erkla-
ren wollte. Doch Mehemed-Ali hatte sich entschlossen erklart, den
Befehlen seines Souverains Folge zu leisten, und allen Gegenvor-
stellungen zum Trotze lief die türkisch-egyptische Flotte, zweiund-
neunzig Segel stark, am I. August aus dem Hafen von Alexan-
drien ans; sie hatte über 5000 Mann Erganzungstruppen für
Ibrahim und große Borrathe an Lebensmitteln und Kriegsbedarf
an Bord. Ungefährdet entkam sie den Kreuzern der verbündeten
Machte und lief den ö. September glücklich in den Hafen von
Navarin ein, wo sie ihre Truppen ans Land setzte. — Der brit-
tische Admiral, zuerst von dem Einlaufen derselben unterrichtet,
legte sich vor den Hafen, die Ankunft der verbündeten Geschwader
erwartend. Um die Mitte des Monats schloß sich die französische
Flotte an die brittische vor Navarin an, und bald nachher erschien
auch das russische Geschwader und legte sich unter dem Jubelrufe
des Griechenvolks bei Nauplia vor Anker.
Am 23. September Morgens begaben sich die beiden Admi-
rale, Codrington und Nigny, zu Ibrahim Pascha und erkarten ihn?,
wie sie von ihren Regierungen die gemessensten Befehle erhalten hat-
ten, dem Blutvergießen in Griechenland ein Ende zu machen und
denjenigen Theil der Kriegführenden, der sich nicht zu einem vorlau-
sigen Waffenstillstände verstehen wolle, durch die Gewalt dazu zu
zwingen. Die Griechen, fügten sie hinzu, hatten sich diesem Be-
schlusse bereits unterworfen, mithin würde Ibrahim nicht nur seine
Flotte in Gefahr setzen, sondern vielleicht die theuersten Interessen
seines Souverains aufopfern, wenn er allein die Feindseligkeiten
fortsetzen wolle. Ibrahim erwiederte mit großer Ruhe: „er werde
ohne bestimmten Befehl seines Herrn nicht auf die Schiffe der
Verbündeten feuern; komme ihm aber ein solcher zu, so werde er
ihn ohne alle Rücksicht auf die daraus erwachsende Gefahr vollziehen."
Dabei äußerte er sehr bitter, wie ungerecht es sei, daß man ihn zur
Unthatigkeit verurtheile, wahrend dem Lord Eochrane mit achtundzwan-
zig griechischen Fahrzeugen gestattet werde, eine Landung bei Pa-
tras zu unternehmen, um die Einnahme dieser Festung zu versuchen.
— 133 —
Die Admirale versprachen, Cochrane zur Einstellung der Feindselig-
feiten zu vermögen, und Ibrahim gab sein Wort, bis zur Rückkehr
des nach Constantinopel abgesendeten Eilboten keine feindliche Un-
ttrnehmung beginnen zu wollen. — Das Ergebniß dieser Unterrc-
dung kam einem Waffenstillstände gleich und um sich mit frischen
Lebensmitteln zu versehen, verließen die vereinigten Geschwader
die Gegend von Navarin und ließen nur eine englische und eine
französische Fregatte, die Bewegung der feindlichen Flotte zu beob-
achten, vor Navarin Zurück. Doch nicht lange: so erhielt Codring-
ton durch ein Signal seiner zurückgebliebenen Fregatte die Kunde,
daß die türkische Flotte, den Waffenstillstand brechend, von Nava-
rin ausgelaufen sei. Ungesäumt stach der Admiral in See und
stieß bald auf die feindlichen Fahrzeuge. Die Englander trafen
sogleich Anstalten zum Kampfe; ehe dieser jedoch eintrat, ließ sich
die türkische Flottenabtheilung zum Umkehren bewegen. Nicht lange
darauf erschien eine zweite Abtheilung: doch auch diese kehrte auf
die Vorstellungen des brittischen Generals nach Navarin zurück.
Die drei Adinmik. hatten ihre Geschwader am 18. October in der
Nahe von Zante vereinigt, wo sie den Beschluß faßten, mit ihren
Flotten in dem Hafen von Navarin Stellung zu nehmen, um
gegen Ibrahim die Borschlage zu wiederholen, welche eben sowohl
dem Geiste des Tractats vom 6. Juli, als dem Bortheile der Pforte
selbst entsprachen. Codrington traf zur Ausführung dieses Be-
schlusses sofort die nöthigen Anstalten, weil ihm, als dem ältesten
Admirale, den Instructionen gemäß, der Oberbefehl übertragen war.
Die Seeschlacht von Navarin.
Am 19. October, als alle Vorbereitungen zum Einlaufen in den
Hafen von Navarin getroffen waren, machte Codrington bekannt,
daß die Verbündeten nicht eher Feuer auf die Türken geben sollten,
als bis diese zuerst geschossen haben würden. Am 20. October um
Mittag war der Wind günstig, also wurden die Signale gegeben, und
die verbündeten Schiffe rückten keilförmig vor. Jeder nahm den
— 134 —
ihm angewiesenen Posten ein. An der Spitze segelte Codring-
ton mit dem Admiralschisse Asia; ihm folgte die Fregatte Dart-
mouth, und dieser die Orlogs Albion und Genua. Das fran-
zösische Geschwader schloß sich an, und an der Spitze desselben
befand sich die Fregatte Sirene mit der Flagge des Admiral
de Rigny; gleich hinter ihr folgten die französischen Linien-
schiffe S c i p i o, Trident und B r e s lci u. Die Russen bil-
Veten die Nachhut mit vier Linienschiffen und vier Fregatten.
Die Türken hatten ihre Schiffe in der Form eines Hufeisens
an einander gelegt und bildeten eine dreifache Linke im Umkreise
des Meerbusens. Sie hatten drei Linienschiffe, ein rasirtes gro-
ßes Schiff, fünf Fregatten zu zwei Batterien von achtundfunfzig
bis vierundsechzig Kanonen, fünfzehn von achtundvierzig bis zwei-
undfunfzig Kanonen, zwanzig Corvetten von achtundzwanzig Ka-
nonen, zwölf Briggs zu achtzehn Kanonen und fünf oder sechs
Brander, ungerechnet die Transportschisse, welche unter dem
Schutze der Küstenbatterien und der Forts lagen. Ihre Haupt-
macht, bestehend aus den vier größten Schiffen und zwölf der
größten Fregatten, lag rechts, nahe am Strande, vor Anker und
ward in zweiter Linie durch die Corvetten und Briggs verstärkt.
An den Spitzen des Halbmondes oder Hufeisens befanden sich die
Brander, die so lagen, daß der Wind ihnen günstig war, um sich
auf die verbündeten Geschwader werfen zu können, sobald es zum
Gefechte käme. Im Uebrigen war die Flotte durch das Schloß von
Navarin und durch die Batterien auf der Insel Sph akter ia ge-
deckt. Die eine Seite der türkischen See- und Landmacht stand
unter dem Befehle des Renegaten Selv es, die andere ward von
einem ehemaligen französischen Marineoffizier befehligt.
Es war zwei Uhr Nachmittags, als die fünf vordersten Schiffe
der Verbündeten in den Hafen liefen und an den türkischen Bat-
terien vorüber segelten, ohne daß diese einen Schuß thaten. Nach
einer halben Stunde warf die Asia dem türkischen Admiralschisse
gegenüber Anker, und die übrigen englischen Schisse befanden sich
in der Nahe. Um dieselbe Zeit erreichte auch die französische Ad-
miralsregatte den Hafen, ohne vom Feuer der Batterien beunruhigt
zu werden, und legte sich auf Pistolenschußweite von der ersten
Fregatte der türkischen Linie vor Anker. Bis dahin war noch
nichts Feindseliges zwischen beiden Flotten erfolgt. Den an den
türkischen Befehlshaber von den drei Admiralen abgesendeten Par-
— 135
lamentair hatte der Zuruf (zurück).' entfernt; und so schien
es, als werde der Tag ohne Blutvergießen verstreichen. Als aber
um drei Uhr die Fregatte Dartmouth sich von der Vorhut getrennt
hatte, um den türkischen Brandern anzukündigen, daß sie sich aus
dem Umkreise der verbündeten Fahrzeuge entfernen und sich in das
Innere des Hafens zurückziehen möchten, tootete, von einem dieser
Grander aus, ein Flintenschuß den Offizier, welchen der englische
Capitain befehligt hatte, die Aufforderung zu überbringen. Es er-
folgte hierauf ein lebhaftes Gewehrfeuer zwischen dem Dartmouth
und dem Brander. Wahrend dies am Eingange des Hafens vor-
ging, schoß man von dem türkischen Admiralschiffe auf ein Boot,
welches Codrington mit dein Parlamentair abgesendet hatte undtödtete
den darauf befindlichen Lotsen. Nun begannen auch die englischen
und französischen Schiffe ein furchtbares Feuer. Nach wenigen Au-
genblicken verbreitete sich der Kampf längs der ganzen Linie. Die
eben in den Hafen steuernden russischen Schiffe wurden vom Schlosse
und von den Batterien mit einem Kugelregen überschüttet. Bald
jedoch waren die Batterien zum Schweigen gebracht, und fünf
große türkische, nebst mehreren fremden Transportschiffen, die an
der Insel vor Anker lagen, standen in Flammen. Die englischen
Linienschiffe lagen der Kapudana, einem türkischen Linienschiffe,
und zwei großen Fregatten dicht gegenüber, so daß jedes seinen
eignen Gegner in der türkischen Vorderlinie hatte. Die vier gro-
ßen türkischen Schiffe nach der Lunseite bekämpfte das französische
Geschwader, itnb den leewärts in der Biegung des Hufeisens lie-
genden feindlichen Schiffen legte sich das russische Geschwader ge-
genüber. Die russischen Linienschiffe schlössen sich also dicht an
die englischen, und ihnen folgten die russischen Fregatten. An der
äußersten türkischen Fregatte, links am Eingange des Hafens, nahm
die französische Fregatte Armida Stellung; neben ihr fochten
drei englische, Cambrian, Glasgow und Talbot. Der Dart-
mouth nebst drei Briggs bewachten die türkischen Brander. Erde
und Meer erbebten unter dem furchtbaren Kanonendonner. Das
Linienschiff Scipio ward am Bogspriet von einem feuerspeienden
Brander geentert und löschte viermal den Brand an Bord, indem
es fortwährend zu beiden Seiten auf die feindlichen Schiffe und
Batterien feuerte. Die französische Fregatte Armida mußte nebst
der englischen Talbot am linken Ende des Hufeisens wohl eine
Stunde lang das Feuer von fünf türkischen Fregatten aushalten,
— 136 —
bis ihnen die russischen Fregatten zu Hülfe kamen. Die Asia lag
Seite an Seite zwischen den großen Schiffen des Kapudan-Bei
und des egyptischen Befehlshabers Moharran Bei; sie feuerte
also von beiden Seiten unaufhörlich und zerstörte binnen drei
Stunden beide Schiffe, die als bloße Wraks forttrieben. Sobald
dies aber geschehen war, kam die Asia ihrer Lange nach in das
Feuer der zweiten türkischen Linie, welches ihr den Besahnmast
wegnahm und viele Leute tödtete und verwundete. Die Türken
fochten bei aller Ungeschicklichkeit wie Verzweifelte; allein schon
um vier Uhr war die erste Linie der türkisch - egyptischen Flotte
zerstört, und nach gräßlichem, vier Stunden langen Kampfe um
sieben Uhr Abends war die türkische Armada vernichtet.
Mehr als fünfzig Fahrzeuge waren entweder in die Luft ge-
sprengt, oder auf irgend eine andere Weise zerstört. Die drei
türkischen Linienschiffe, wovon eins vierundachtzig Kanonen führte,
strichen zwar die Flagge nicht, liefen aber gegen die Felsen am
Strande und scheiterten. Auf jedem derselben befanden sich meh-
rere hundert Verwundete. Von den fünf großen egyptischen Fre-
gatten lief eine entmastet auf den Strand, drei flogen wahrend
des Kampfes in die Luft, und die fünfte sank unter, so daß nur
noch ein Theil des Unterdecks aus dem Wasser hervorragte. Von
den kleineren Fregatten flogen fünft, gegen Ende des Gefechts,
mit ihrer ganzen Mannschaft in die Luft; drei andere trieben ent-
mästet ohne Mannschaft auf den Strand. Von den Corvetten
flogen wahrend des Gefechts drei in die Luft, worunter auch die,
welche die tunesische Admiralsflagge führte; mehrere andere sanken
unter, und man sah von denselben nur noch einige Masten aus
dem Meere hervorragen. Auch die meisten Briggs wurden zer-
stört, und von den Brandern ward einer in den Grund gebohrt,
ehe er zur Explosion kommen konnte; vier andere flogen mitten
unter den kämpfenden Parteien mit ungeheuerm Krachen in
die Luft. Von der ganzen türkisch-egyptischen Armada war nur
noch eine Fregatte nebst fünfzehn Corvetten und Briggs mit auf-
gespannten Segeln flott. Doch war von den feindlichen Schiffen
keins in die Gewalt der Verbündeten gerathen, indem diejenigen,
die sich außerhalb der Schlacht befunden hatten, von ihrer eigenen
Mannschaft entweder versenkt, oder in die Luft gesprengt worden
waren. „Es war — so erzahlt ein Augenzeuge — das fürchter-
lichste und das prächtigste Schauspiel, zu sehen, wie die Anzündun-
— 137 -
gen Und Explosionen in dem engen Räume folgten, wo die Schlacht
geliefert ward." Die Verbündeten selbst hatten nicht wenig Qtliu
ren. Mehrere ihrer Schiffe waren so beschädigt, daß sie nach
Malta und Toulon zur Ausbesserung gesendet werden mußten.
Die Englander hatten fünfundsiebenzig Getödtere, von denen sich
fünfzig allein an Bord der Asia befanden — und hundertsieben-
undneunzig Verwundete; die Franzosen dreiundvierzig Getödtete
und Hundertundsiebenzehn schwer Verwundete; am wenigste^ hat-
ten die Russen gelitten, ohne deshalb den Kampf minder unter-
stützt zu haben. Der Menschenverlust der Türken belief sich auf
sieben bis acht tausend Mann.
Gleich nach der Schlacht segelten mehrere französische und
englische Schiffe nach Smyrna, um von da Eilboten nach Eon-
stantinopel an die Minister der verbündeten Machte abzufertigen
und überhaupt den Consuln und Residenten der Verbündeten den
Befehl zu überbringen, eiligst Vorkehrungen zu treffen, daß kein
Europäer ein Opfer der türkischen Volkswuth, bei der Nachricht
von der Zerstörung ihrer Seemacht, werden möchte. — Ibrahim
Pascha hatte sich am Tage der Schlacht weder zu Navarin, noch
in dessen Nahe befunden. Er durchstreifte mit einer betrachtlichen
Truppenzahl das Innere der Halbinsel, um Kriegsbedarf und Le-
bensmittel zusammenzubringen. Erst vier Tage nach der Zerstö-
rung der türkischen Flotte kam er nach Navarin zurück, mit Tau-
senden von Frauen und Kindern, die verkauft werden sollten. Er
war von dem Vorgange tief erschüttert; doch suchte er seine Ge-
fühle zu verbergen. Die verbündeten Admirale hatten inzwischen
die Blokade des Hafens aufgegeben, weil alle Feindseligkeiten von
dieser Seite unmöglich waren. Von Ibrahim fürchtete man zwar,
daß er Rache nehmen werde an den in seiner Gewalt befindlichen
Griechen; allein die Klugheit gab ihm hier die Verhaltungsmaß-
regeln. Wahrend er die bittersten Proclamationen gegen die ver-
bündeten Admirale erließ, bedrohte er Jeden, der einen Franken an-
rühren würde, mit dem Tode und sann überhaupt nur auf Mit-
tel, fein Heer so lange zu erhalten, bis neue Befehle von Eon-
stantinopel angelangt sein würden. —
Das große Ereigniß bei Navarin ward von dem Jubel Eu-
ropa's begrüßt; man hoffte, dasselbe werde den Eigensinn des
Sultans brechen, und die Griechenfreunde sahen darin das Mor-
genroth eines schöneren Tages für Griechenland aufdämmern. Je
— 138 —
größer das Interesse war, welches man an dieser Begebenheit nahm,
desto begieriger wünschte man zu erfahren, welchen Eindruck es
auf die türkische Regierung machen würde. Früher, als der Sul-
tan, waren die Gesandten der ^verbündeten Machte durch die Admi->
rale von dem Hergange unterrichtet (28. October); sie ließen je-
doch nichts davon verlautbaren. Am Abende des ersten Novembers
trafen die ersten Berichte von dem, was sich in Navarin ereignet
hatte, im Serail ein, und Mahmud gerieth darüber in die heftigste
Bewegung, so daß zwölf Stunden lang Niemand es wagte, sich
ihm mit Anfragen, was nun geschehen solle, zu nahern. Der
österreichische Internuntius von Ottenfels, dem die Kunde zu
gleicher Zeit zugekommen war, beschickte sogleich den Neis-Effendi,
um ihn «aif'ö Dringendste zu bitten, doch Alles, was in seinen Kraft
ten stände, zu thun, um eine übereilte Maßregel des Sultans zu
verhindern. Der preußische Gesandte that das Nämliche. Dies
blieb nun auch nicht ohne Wirkung; denn wäre Mahmud seinen
ersten furchtbaren Aufwallungen gefolgt, so hatten gewiß Ströme
von Christenblut in Constantinopel fließen müssen.
Durch Ottenfels fernere, unablässige Bemühungen ward die
Unterhandlung mit den Gesandten wieder angeknüpft; allein das
Ergebniß aller Besprechungen und Beschickungen war, daß die
Pforte am 9. November eine Note übergab, worin sie erklärte:
„daß vor jeder Friedensunterbandlung, und als erste unerläßliche
Bedingung derselben, die drei Machte den Vertrag vom 6. Juli
annulliren und jeder direeten Dazwischenkunft in den Angelegen-
heiten der Türkei mit Griechenland entsagen müßten; daß ferner
die drei Machte der Pforte eine öffentliche und feierliche Genug-
thuung wegen des Friedensbruches und der Schmach geben sollten,
die sie der türkischen Flagge bei Navarin zugefügt, und endlich, daß
die Mächte sich verbindlich machen müßten, die Pforte vollständig
für den Verlust bei Navarin zu entschädigen." Wiewohl die Ge-
sandten ans diese Note eine abweisende Antwort gaben, so dauerten
die Unterhandlungen dennoch bis gegen Ende Novembers fort. End-
lich jedoch überzeugt von der Vergeblichkeit aller ihrer Bemühungen,
um befriedigendere Zugeständnisse zu erhalten, forderten sie am 28.
November ihre Pässe, und ihre Abreise erfolgte wirklich am 8. De-
cember, nachdem sie dem Gesandten der Niederlande die Angelegen-
heiten der Unterthanen ihrer Nation empfohlen hatten.
— 139 —
Zu Constantinopel blieb nach der Abreise der Gesandten Alles
in völliger Ruhe. Die Türken hatten sich nie gleichgültiger be-
wiesen, als bei dieser Gelegenheit. Ein Hattischerif, welchen end-
lich der Sultan am 2V. December an alle Pafcha's der Provinzen
erließ, machte die Bevölkerung auf die bedenklichen Umstände,
worin sich das Reich befand, aufmerksam und forderte alle Mu-
selmanner auf, im Fall eines Angriffs die Aufrechthaltung der
Religion und des Throns bis auf den letzten Blutstropfen zu ver-
theidigen. Die Empörung der Griechen ward dem Hasse Rußlands
zugeschrieben, und die.Vorschlage Englands und Frankreichs als
beleidigend dargestellt. Dieser merkwürdige Cabinetsbefehl begann
mit den Worten: „Alle vernünftigen Menschen wissen, daß, wie
jeder Muselmann von Natur der Todfeind der Ungläubigen ist,
so die Ungläubigen von Natur die Feinde der Muselmanner sind,
und hauptsachlich der russische Hof der geschworene Feind des mu-
selmanischen Volkes und des osmanischen Reichs ist." Im Verfolg
ward erklart, daß die Pforte zeither nur deshalb einige Nachgie-
bigkeit gegen die drei Machte bezeigt und die Antrage derselben
angehört habe, um die Sache in die Lange zu ziehen und Zeit
für die zum Kriege erforderlichen Anstalten zu gewinnen. Zuletzt
ward dargethan, der Zweck der Ungläubigen sei, den Islam zu
vernichten und die muhamedanische Nation unter die Füße zu tre-
ten; der bevorstehende Krieg müsse demnach, mehr als irgendeiner,
als ein Nationalkrieg betrachtet werden. —-
In Griechenland selbst herrschte nach dem Schlage bei Nava-
rin in den öffentlichen Verhältnissen eine dumpfe Stille, indem
Niemand die nächsten Folgen desselben mit Sicherheit erkennen
konnte. Die Feindseligkeiten dauerten auf Morea und dem Fest-
lande fort, und erst die schlechte Jahreszeit bewirkte, was die Au-
toritat der verbündeten Machte nicht vermocht, den Stillstand der
Waffen. — So war für die Griechen durch das bei Navarin ver-
gossene Blut so vieler Tapferen bis jetzt noch nichts gewonnen,
Ihre Hoffnung, sich von der Anwesenheit Ibrahims befreit zu sehen,
ward nicht erfüllt, vielmehr ward ihm gestattet, auf den Ueberre-
sten seiner Flotte 6000 Gefangene als Sclaven nach Alexandrien
zu senden, ohne daß die Verbündeten etwas dagegen eingewendet
hatten.
An den Höfen Europa's ward die große Begebenheit sehr
verschieden aufgenommen. In England, wo Canning dritthalb
— 140 —
Monate vorher gestorben war (am 8. August 1827), und jetzt der
Herzog von Wellington an der Spitze des Ministeriums stand,
hatten sich die Ansichten dergestalt geändert, daß man sein Miß-
fallen darüber unverhohlen kundgab. In der Thronrede bei Eröff-
nung des Parlaments, am 28. Januar 1828, ward die Schlacht
von Navarin als ein widerwärtiges Ereigniß beklagt, und der Sul-
tan ein alter Bundesgenosse Englands genannt. In Frankreich
dagegen ward die Schlacht als eine für die französischen Waffen
glorreiche That bezeichnet, und nicht nur erhielten de Rigny und
andere Befehlshaber erhöhete Grade und Ehrenzeichen, sondern
selbst die englischen und russischen Seeoffiziere, welche ruhmvolle
Theilnehmer an jener Schlacht gewesen, sahen sich mit Großkreu-
zen und Ritterdecorationen geschmückt. Nußland aber erklarte am
26. April 1828, unabhängig von den Verpflichtungen, welche der
Tractat vom 6. Juli 1827 an ihm auflege, um der besonderen, von
dem Großherrn in Folge der Schlacht von Navarin ihm zugefügten
Beleidigungen willen, der Pforte den Krieg.
Abzug der Egypter aus Morea. — Friedensschluß.
Das Gebiet, über welches die griechische Negierung nach der
Schlacht von Navarin noch frei verfügen konnte, bestand in Napoli
di Nomania, Korinth und in den Inseln Der Peloponnes ward,
wie oben erzahlt, von Ibrahims Truppen durchzogen; der ganze
Hellas nebst Athen war von den Türken besetzt. Dabei war Zucht-
losigkeit im Heere, Zerrüttung in den Finanzen, Zwietracht zwischen
den bürgerlichen und militairischen Hauptern, kurz, Auflösung aller
öffentlichen Verhaltnisse des innern Staatslebens, der charakterisi-
rende Zustand des Landes. Unter solchen, eben nicht freundliche
Hoffnung gewahrenden, Verhaltnissen traf der Präsident Kapo-
distrias in Griechenland ein. Er ward, da man in ihm gleich-
sam den Repräsentanten der beschützenden Machte sah, mit außer-
ordentlichen Feierlichkeiten empfangen. Die Generale, Vpsilanti
an ihrer Spitze, die Primaten, die vornehmsten Einwohner, bewill-
kommten ihn, und die ganze Bevölkerung von Nauplia strömte
— 141 -
nach dem Ufer hin, ihn als ihren Befreier zu begrüßen. — Ka-
podistrias sorgte sogleich nach seiner Ankunft auf kräftige Weise für
die innern Angelegenheiten, damit die Verfassung und Verwal-
tung in dem bisher durch Anarchie zerrütteten Lande endlich einen
festeren Grund und einen geregelteren Gang erhielten. Nachdem
die stellvertretende Negierungscommifsion, welche bisher die Vollzie-
hungsgewalt dem Namen nach bekleidet hatte, am 13. Februar
1828 abgetreten war, setzte er einen aus siebenundzwanzig Mitglie-
dem bestehenden Rath, unter der Benennung P a n h e l l e n i o n, ein;
dieser sollte verantwortlich neben dem Präsidenten stehen, - zugleich
aber auch in seinen einzelnen Theilen die obersten Behörden für
die Hauptzweige der Verwaltung bilden. Am 19. Februar ward die
neue Negierung, die vorlausig nur bis Zur nächsten Nationalver-
sammlung gelten sollte, mit religiöser Feierlichkeit in der Kirche
zu Aegina installirt. Der Präsident und die Mitglieder des
Panhellenion leisteten den Eid auf die Verfassung. Zun: Schlüsse
wurden Gebete für das Wohl Griechenlands, für den Kaiser von
Rußland und die Könige von England und Frankreich gesprochen.
Die Finanzen und der Krieg waren die beiden wichtigen
Gegenstande, welche die erste Anstrengung der neuen Regierung
erforderten. Hinsichtlich der ersteren war Kapodistrias an die Unter-
stützung der drei Mächte gewiesen, die, von ihnen zugesagt,
auch nicht ausblieb, wenngleich sie nicht so regelmäßig einging,
als die Lage des jungen Staates erforderte. Schon im Februar
ward daher eine Nationalbank für patriotische Gaben errichtet,
und der Präsident wendete sich an alle begüterte Einwohner der
Inseln und des griechischen Festlandes, um sie zu veranlassen, ihre
Capitalien verzinsbar in dieselbe zu legen und dadurch theils für
Bestreitung der inneren Staatsbedürfnisse, theils für Beför-
derung des Nationalcredites mitzuwirken. Er selbst ging dabei mit
rühmlichem Beispiele voran. — Darauf ward ernstlich zur Orga-
nifation des griechischen Militairs geschritten. Zur Verstärkung
des Heeres ward eine Rekrutenaushebung von Einem Kopfe auf
Hundert angeordnet, in das Kriegswesen überhaupt möglichste
Ordnung und Einheit gebracht, und für bessere und regelmäßigere
Verpflegung der Truppen gesorgt. Gegen die Militairchefs und
unruhigen Klephthenhauptlinge verfuhr Kapodistrias, nicht ohne
Erfolg, mit Strenge und Energie. Soldaten und Matrosen zwang
er zu strenger Ordnung und Zucht und that überhaupt Alles, was
— 142 —
in seinen Kräften stand, die Griechen in die Bahn der Civilisa-
tion zu führen. Demnächst suchte er dem traurigen Zustande des
Landes und derDürftigkeit derBewohner durchCultur desselben, z.B.
durch Anbau von Kartoffeln, zu Hülfe zu kommen. Baumschulen wurden
angelegt, und Landstraßen zur innern Verbindung entstanden allmalig.
Durch solche Anstalten bekamen auch die Griechen, welche bis da-
hin, auf türkische Weise, heftige Abneigung gegen mühsamen Acker-
bau hegten und lieber Handel oder gar Rauberei trieben, Sinn
für das wohlthatige Gewerbe des Feldbaues. Für die Bedürft
nisse des ganz vernachlässigten Volksunterrichts stiftete Kapodistrias
Schulen, und auf Aegina ward eine große Anstalt zum bellanka-
sterschen Unterrichte für 2009 Kinder errichtet. Für die Waisen, de-
ren Unterstützung und Erziehung, beabsichtigte er durch ein Wai-
senhaus zu sorgen. —
Der Seeräuberei, deren sich die Griechen noch immer schuldig
machten, mußte mit energischer Gewalt ein Ziel gesetzt werden.
Wiewohl die Piraten aus ihren Hauptschlupfwinkeln vertrieben,
und viele ihrer Fahrzeuge zerstört waren, dauerten die Raubzüge
gleichwohl noch fort. Um sie vollends zu unterdrücken, ward der
Admiral Miaulis von der Regierung beauftragt, mit der Fre-
gatte Hellas und noch zwei Kriegsschiffen auszulaufen und alle
noch übrigen Seeräuberschiffe wegzunehmen und zu zerstören. Er
eroberte neunundsiebzig solcher Fahrzeuge, von denen einundvierzig
verbrannt, die übrigen aber zum Dienste der Regierung nach Poros
geführt wurden.
Die Hauptbemühungen des Präsidenten waren jedoch dahin
gerichtet, die Befreiung der Halbinsel von dem 20,000 Mann star-
ken Heere Ibrahims zu bewirken, das seit der Schlacht von Nava-
rin sein Raub- und Verhcerungssystem fortgesetzt hatte. Auch ge-
lang es ihm, trotz des anfanglichen Widerspruchs der englischen
Regierung, eine französische Erpedition zu diesem Zwecke auszuwirken,
welche im Hasen zu Toulon ausgerüstet ward und so viele
Truppen nach Morea versetzen sollte, als nöthig seien, die Egyp-
ter aus dieser Halbinsel zu vertreiben. Dagegen hatte das eng-
lische Ministerium den Admiral Codrington angewiesen, die Ab-
fahrt Ibrahims durch einen Vertrag mit demselben zu bewirken.
Die Unterhandlungen wurden von Seiten der verbündeten Admi-
rale zu Corfu mit dem egyptischen Heerführer angeknüpft. Ibra-
htm erklärte, daß er bereit sei, Morea auf türkischen Schiffen zu
— 143 —
verlassen, daß er auch keinen gefangenen Griechen mitnehmen werde,
daß er aber in die an ihn gestellte Forderung, die nach der Schlacht
bei Navarin nach Alexandrien gesendeten Gefangenen zurückzugeben,
nicht willigen könne; auch zu der Räumung der Festung wollte er
sich nicht verstehen. Nach vergeblichen Versuchen, ihn zur Nach-
giebigkeit zu bewegen, beschlossen die Unterhändler, daß der Admi-
rat Codrington nach Alexandrien segeln und mit Me'hemed Ali
selbst unterhandeln sollte. Demgemäß erschien der Admiral am
31. Juli 1828 mit einem Geschwader von zwei Linienschiffen,
einer Fregatte, zwei Corvetten und mehreren Briggs vor dem
Hafen von Alexandrien. Er ließ den in Kairo sich befindenden
Aicekönig sein Begehren wissen und ihm zugleich erklären, daß,
wenn er sich weigere, Morea zu räumen, alle Hafen Egyptens
würden blockirt werden. Mehemed Ali begab sich sofort selbst nach
Alexandrien, und es fand sogleich eine Conferenz Sratt, welche da-
mit endigte, daß der Vicekönig sich verbindlich machte, seinen Sohn
und sein Heer, mit Ausnahme hinreichender Besatzung in den Fe-
stungen Patras, Modon, Navarin, Koron und CastelTor-
nese, auf eigenen Schiffen zurückkommen zu lassen; auch erbot er
sich, von den nach der Seeschlacht von Navarin nach Egypten ge-
sendeten Gefangenen alle diejenigen in Freiheit zu setzen, welche
Eigenthum der Regierung seien, und sich für die Auslosung derer
zu verwenden, die an Privatpersonen in seinem Gebiete verkauft
waren. Codrington segelte nun zurück, mn mit den übrigen
Befehlshabern die Maßregeln Zur schnellen Ausführung der lieber-
einkunft zu verabreden. —
Während dieser Zeit war die in Toulon ausgerüstete Flotte
am 17. August unter Segel gegangen, und nach eilf Tagen befand
sie sich vor dem Hafen von Navarin. Die französischen Truppen
lagerten sich an der Küste des Peloponnefes, die Einschiffung der
egyptischen Truppen erwartend. Am 16. September segelte der
erste Transport ans siebenundzwanzig Fahrzeugen, begleitet von
zwei brittischen und einem französischen Kriegsschiffe, aus Navarin
nach Alexandrien ab, und am 4. October begab sich Ibrahim,
nachdem die Einschiffung aller egyptischen Truppen — zusammen
21,WO Individuen — unter seinen Augen erfolgt war, selbst an
Bord. — Indessen erkannte der französische Heerführer, Gene-
ral Maifon, die mit Mehemed Ali geschlossene Übereinkunft,
welche die fortwahrende Besetzung der Festungen auf Morea durch
egyptische Truppen aussprach, keineswegs an; sondern ertheilte am
Ü. October seinen Untergeneralen Befehl, sich der oben genannten
Plätze zu bemächtigen. Der Anfang ward mit der Citadelle von
Navarin gemacht; und da der türkische Commandant die Ueber-
gäbe versagte, schritt der General Higonet zum Sturme. Den
Andringenden wurde nur schwacher Widerstand entgegengesetzt, und
die Franzosen fanden in dem fast zerstörten Platze achtzig Kanonen,
800,000 Patronen und volle Magazine. Auf gleiche Weise wur-
den auch die andern Festungen genommen. Die türkischen Com-
Mandanten übergaben die ihnen anvertraueten Plätze nicht, sie lei-
steten aber auch keinen Widerstand zur Vertheidigung derselben,
so daß die Angreifenden nur das Geschäft hatten, die Wälle zu
übersteigen und die verschlossenen Thore zu sprengen. Nur von
der Besatzung im Castel Tornese geschah ernsthafter Widerstand;
aber eine vierstündige Beschießung brach denselben, und am 30.
October ward auch diese Festung übergeben. Die Besatzungen
wurden nicht als Gefangene betrachtet, sondern nach Egypten ge-
schickt, sowie die Ueberreste der türkischen Bevölkerung, etwa dritt-
Halbtausend Menschen, nach Smyrna übergeschifft wurden. Won
diesem Augenblicke an gab es auf der Halbinsel keinen einzigen
Türken, Araber und Egypter mehr.
Seit dem Ausbruche des russisch-türkischen Krieges hatten die
alliirten Machte gehofft, daß die Pforte ihren Wünschen Hinsicht-
lich der griechischen Frage sich geneigter zeigen werde. Nach einer
am 16. November 1828 von den Ministern Englands, Frankreichs
und Rußlands zu London an die Pforte gerichteten Erklärung
sollte Griechenland auf Morea und die Kykladen beschränkt bleiben
und unter dem Schutze der drei Mächte stehen; bis die Pforte der
Aufforderung derselben Genüge geleistet und selbst diese Schutz-
Herrschaft, mit Genehmigung einer selbstständigen Verfassung der
Griechen, werde übernommen haben. Dieser klagliche Ausgang des
großen Werkes erschien jedoch auf keiner Seite befriedigend; und
während Mahmud durchaus nicht geneigt war, sich diese Schmäle-
rung seiner Rechte gefallen zu lassen, weil damals das Kriegsglück
sich noch keineswegs entscheidend für die russischen Waffen erklärt
hatte, rückten griechische Truppen, die seit dem Abzüge Ibrahims
mit Glück auch gegen die Türken auf dem Festlande gefochten hat-
ten, schon nach Böotien vor, um Missolunghi's blutgetränkte
Mauern wieder zu erobern; was ihnen auch am 17. Mai 1329
— 145 —
gelang, wo diese Festung von den Griechen wiedergewonnen ward.
Wichtiger für dieselben aber war noch der glückliche Gang des
russischen Krieges. Die Siege des berühmten russischen Feldherrn
Paskewitsch brachten endlich den Sultan zur Nachgiebigkeit auch
rücksichtlich der Befreiung Griechenlands. In den: am 15. Sep-
tember zu Adrianopel geschlossenen Frieden zwischen Rußland
und der Pforte erklärte der Sultan, daß er demjenigen beiträte,
was in der griechischen Angelegenheit zwischen England, Frankreich
und Nußland am 22. Marz 1829 festgesetzt worden sei. Diese
Bestimmung, die in einem Protokolle zu London von den Bevoll-
machtigten der drei Machte unterzeichnet war, gewahrte den Grie-
chen eine etwas bessere Grenze, als die am 16. November 1825»
angenommene, indem außer dem Peloponnese das ganze Hellas
und ein Theil Thessaliens, nebst der Insel Euböa (Negropont)
und den Kykladen, den neuen Staat bilden sollten. Doch sollte
auch das also begrenzte Griechenland noch unter der Oberhoheit
der Pforte verbleiben und derselben einen jahrlichen Tribut von
anderthalb Millionen türkischer Piaster bezahlen. An die Spitze
der Regierung sollte ein Fürst aus einem der europaischen Regen-
tenhauser gestellt werden, über desseu Person die Wahl vorbehalten
blieb; jedoch sollte bei der Erwahlung dieses Oberhauptes die hohe
Pforte die Hauptstimme haben. Dieser Fortdauer der türkischen
Gewaltherrschaft über einen christlichen Staat, welche vorzüglich der
Einwirkung Englands zuzuschreiben war, stimmten indeß nicht alle
Machte bei, und so ward im Februar 1830 zwischen England,
Frankreich und Rußland ein neuer Vertrag geschlossen, in welchem
man von der Abhängigkeit und Tributspflichtigkeit Griechenlands
gegen die Pforte abging und bestimmte, daß die Regierung die-
ses Staates monarchisch, mit Erblichkeit nach dem Rechte der Erstge-
burt sein, und das Haupt derselben den Titel eines souverainen
Fürsten führen sollte. Zugleich aber schrankte man die Grenzen
Griechenlands noch mehr als bisher ein, da sie im Westen nur
von der Mündung des Flusses Aspropotamos ausgehen, längs
desselben bis zur Höhe des See's Angelokastron und über die-
sem bis an den Berg Artolina reichen, sowie über die Berge
Axos und Oeta bis an die Mündung des Sperchios im Meer-
bissen gehen und Euböa mit den Teufelsinseln, auch Sky-
ros und die Kykladen in sich fassen sollten.— Auf wen aber die
Wahl gefallen, wer das schwierige Amt übernehmen sollte, die Nach-
N. G. IV. ]Q
- 146 —
kommen der alten Hellenen, nach einem halben Jahrtausende tie-
ser Verwilderung, in den Kreis des europäischen Gefammtlebens
einzuführen, werden wir in einem späteren Zeitabschnitte erfahren.
Kewolme, ?WmgM England»
Karoline Amalie Elisabeth, jüngste Tochter des am
14. October 1806 bei Auerstadt tödtlich verwundeten Herzogs von
Braun schweig und Augusta's von England, der alteren
Schwester Georgs III., ward am 17. Mai 1769 geboren. Von
ihrer Mutter erhielt sie eine vortreffliche Erziehung, und ihr Jugend-
leben zeichneten Frohsinn und Heiterkeit aus. Doch blieb es am
väterlichen Hofe auch nicht ganz ohne Stürme, deren einige un-
leugbar durch das feurige Temperament der Prinzessin erregt wur-
den. Am 8. April 1793 ward sie mit ihrem Cousin, dem Prinzen
von Wales, dem Thronerben von England, vermahlt. Diese Ver-
bindung war das Werk der Eltern, ohne daß die Neigungen der
Kinder dabei zu Rathe gezogen wurden. Um den Prinzen von Wa-
les (geb. 12. Aug. 1762), der bisher ein ziemlich lockeres Leben
geführt hatte, für diese Ehe zu gewinnen, war nichts Geringeres ersor-
derlich, als das Versprechen, daß seine Schulden, die sehr ansehnlich
waren, bezahlt und sein Einkommen vermehrt werden sollte. DerPrin-
Hessin wurden vom Parlament jahrlich 50,000 Pfund Sterling bewil-
ligt. Aber nur kurz war die Dauer der Harmonie zwischen den beiden
fürstlichen Gatten, schon 1796, wenige Monate nach der Geburt einer
Tochter, erfolgte wegen gegenseitiger Abneigung eine gerauschlose
Trennung, welche der Prinz von Wales erzwang, nicht ohne das
Versprechen zu geben, Nachsicht mit Nachsicht erwiedern zu wol-
lcn. — Seit dieser Zeit lebte die Prinzessin von Wales, ganzlich
abgeschieden von dem königlichen Hause und dem Hofe, unfern
London zu Blackheath, und zehn Jahre waren verstrichen, ohne
daß von ihr öffentlich die Rede gewesen wäre. Im Jahre 1806
aber kamen ärgerliche Gerüchte in Umlauf, welche die Prinzessin
eines allzuvertrauten Umgangs mit mehreren Männern bezüchtig-
ten, (unter welchen man besonders den Marinecapitain Manby
und den Admiral Sir Sidney Smith nannte) und daß
sie Mutter eines Knaben geworden sei. Da sie selbst bei einer
solchen Anschuldigung nicht gleichgültig bleiben konnte, so trug sie
bei dem Könige, Georg jll., um eine Untersuchung an. Das Er-
gebniß derselben war, daß die Prinzessin völlig unschuldig, und
das unter dem Namen William Austin bekannte Kind der
Sohn einer armen Frau aus Deptsort sei, den die Prinzessin zu
sich genommen habe. Eine Entscheidung des Slaatsraths besta-
tigte nicht nur die Freisprechung der Beschuldigten, sondern erklarte
auch, daß alle jene Zeugen, die den guten Ruf der Prinzessin
hatten beflecken wollen, des Vertrauens unwürdig seien.
So blieb die Lage der Sachen noch sechs Jahre. Die bei-
den fürstlichen Gatten lebten fortwahrend getrennt, doch stand die
Prinzessin im freundschaftlichen Verhältnisse mit den übrigen Glie-
dem der königlichen Familie. Im Jahre 1813 wendete sie sich
mit Klagen an ihren Gemahl, sowohl über ihre Lage im Allgemei-
nen, als besonders über die Erziehung der Prinzessin Charlotte,
ihrer Tochter, und über die gewaltsame Absonderung, worin man
dieselbe von ihr hielt. Dies Schreiben ward zweimal nach Carl-
ton-House, dem Palaste des Prinz-Regenten *) geschickt und zwei-
mal unerbrochen zurückgesendet. Zum drittenmal angenommen,
ward es unmittelbar darauf, zum allgemeinen Erstaunen, öffent-
lich bekannt gemacht. Der geheime Rath, von dem Prinz-Re-
genten um seine Meinung in dieser Sache befragt, gab solche da-
hin ab, „daß die gegen die Prinzessin vorgebrachten Befchuldigun-
gen zwar, wie es sich ausgewiesen, bloße Verleumdungen wären,
daß aber die Mittheilungen zwischen Mutter und Tochter deshalb
nicht minder beschrankt werden müßten; wodurch also die Maßte-
geln des Prinzregenten hinsichtlich seiner Tochter vollkommen ge-
rechtfertigt wurden. Im folgenden Jahre hatte die Prinzessin eine
neue Krankung zu erleiden, nämlich die, daß keiner von den in
London anwesenden Souverainen ihr einen Besuch abstattete. Em-
pört über diese Zurücksetzung entschloß sie sich, England zu verlas-
sen und eine große Reise zu unternehmen, (wahrscheinlich, um durch
*) Der Prinz von Wales hatte am 10. Januar 1811 wegen Geinüths-
krcinkheit seines Vaters die Regentschaft übernommen.
10*
— 148 —
den Anblick neuer, außerordentlicher Gegenstande ihr aufgeregtes
Gefühl zu beschwichtigen, und gleich nach der Abreift der Monar-
chen zeigte sie ihrem Gemahl an, wie sie fest entschlossen sei, nach
Braunschweig zurückzugehen, worauf sie eine Reise nach Italien
und Griechenland zu machen gedachte. Die Antwort besagte, daß
der Prinz-Regent ihren Beschlüssen in Hinsicht des Aufenthaltes,
den sie für sich zu wählen für gut befände, nie das mindeste
Hinderniß in den Weg legen würde; und nachdem ihr die 36,000
Pfund Sterling, die sie gefordert hatte, bewilligt waren, trat die
Prinzessin ihre Reise nach Deutschland an.
Der Aufenthalt in ihrem Geburtslande war nur von kurzer
Dauer; bald reiste sie mit ihrem Gefolge, worunter sich die Hof-
damen Forbes und Lindsay, die Kammerherren Keppel Cra-
ven und Sir William Gell, der Doctor Holland und der
Capitain Hesse befanden, über Süddeutschland nach Italien ab.
Der junge Austin, den die Prinzessin förmlich an Kindesstatt an-
genommen hatte, war ebenfalls in ihrer Begleitung. Die Reife
ging zuvörderst nach Mailand, Neapel, Rom; dann nach
Griechenland, der Türkei, Palästina und den Küsten der Bar-
barei. So verstrichen fünfthalb Jahre unter anhaltendem
Wechsel. Bei ihrer Zurückkunft nach Italien ließ sie sich dort
nieder, wo sie abwechselnd zwei Landhauser bewohnte, von denen
das eine am Comoer See, das andere bei Pesaro gelegen war.
Schon bei ihrem ersten Aufenthalte in Mailand entließ die Prin-
zessin ihr Gefolge, das sie aus England mitgebracht hatte, und
vertauschte dasselbe gegen Italiener; unter diesen richtete sich ihre
Gunst vorzüglich auf einen gewissen Bartolomeo Margami,
der zuerst als Courier in ihre Dienste getreten war, ben sie aber
nach und nach zu dem Range eines Kammerherren, eines Barons
und eines Großmeisters des von ihr selbst auf der Reise nach Je-
rusalem gestifteten Ordens der heiligen Karolina erhob. In Eng-
land hatten sich die anstößigsten Nachrichten über den Umgang der
Prinzessin mit diesem Italiener verbreitet, und im Monate Sep-
tember 1815 wurden, in Folge eines geheimen Cabinetsbeschlusses
vier Rechtsgelehrte beauftragt, nach Italien zu reisen, das Betra-
gen der Prinzessin zu beobachten und, was sie erfahren würden,
mit Belegen zu documentiren. Sei es nun, daß die Prinzessin
durch ihr Betragen Gelegenheit gab, ihr Thun und Lassen ent-
weder falsch auszulegen, oder daß wirklicher Grund vorhanden
— 149 —
war, der sie in den Augen der Welt von einer gehässigen Seite
darstellte: genug, die Gesandtschaft (die unter dein Namen der
Mailander Commission berühmt geworden istj) hatte allma-
lig eine unermeßliche Menge Thatsachen gesammelt und kehrte nach
ungefähr einem Jahre nach England zurück. Die Documente wur-
in einen grünen Beutel geworfen und bis zur gelegenen Zeit
aufbewahrt. Das Ministerium hoffte durch diese Thatsachen die
Ansprüche der Prinzessin nach dem Ableben Georgs MI. zu mäßi-
gen, wenn sie, unterstützt von der Opposition, die Ehren einer Kö-
nigin von England verlangen sollte.
Inzwischen war die Prinzessin Charlotte, die nach der britti-
scheu Thronfolgeordnung die Thronerbin von England war, mit
dem Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg vermahlt. Weder
diese Verheirathung ihrer Tochter, noch der am 5. November 1817
nach der Geburt eines tobten Knaben erfolgte Tod derselben, ward
der Prinzessin ofsiciell mitgetheilt; auch ward ihr das am 29. Ja-
nuar 1820 erfolgte Ableben des Königs Georg !!!., (durch welchen
Todesfall sie Königin von England geworden war) von der Regie-
rung nicht angezeigt; alle diese Nachrichten erhielt sie durch die dritte
Hand. Sobald sie durch ihren ehemaligen Haushofmeister S icard
von dem Hintritte des Königs unterrichtet war, beschloß sie nach
England zurückzugehen und ihre Ansprüche als Gemahlin deö
Königs geltend zu machen. Nachdem sie noch einige Monate
theils in Rom, theils in dem westlichen Italien verweilt hatte, be-
gab sie sich in' der letzten Halste des Mai nach Frankreich, und
ohne Paris berührt zu haben, langte sie am 1. Juni in St. Omer
an, wo sie ihre italienischen Freunde entließ und nur den jungen
William Austin, von welchem sie sich wahrend der ganzen Reise
nie getrennt hatte, bei sich behielt. Am 3. Juni langte Lord
Hutchinson, von dem Könige selbst abgesendet, in St. Omer an,
der Königin Vorschlage zu machen, von welchen die Regierung
glaubte, daß sie ein großes Aergerniß abzuwenden im Stande
sein würden. Diese Vorschläge, schriftlich abgefaßt, besagten, daß
die Königin einen Jahrgehalt von 50,000 Pfund Sterling auf
Lebenszeit erhalten sollte, wenn sie sich verpflichte, im Auslande
zu leben und weder auf den Titel einer Königin von England,
noch auf irgend einen andern auf die königliche Familie Bezug
habenden, Anspruch zu machen; wobei man ihr noch zu erkennen
gab, daß jeder Bertrag mit ihr von dem Augenblicke an, wo sie
— 150 —
den brittischen Boden beträte, unmöglich sei, und man als dannge-
richtlich gegen sie verfahren würde. Schon früher waren bei der
Königin auch ihre englischen Freunde, namentlich Matthias
Wood, ein Rathsherr vom Collegium der Bürgeraltesten, oder
ein sogenannter Alderman, und Lady Anne Hamilton ein-
getroffen. Wood wußte durch seine kraftigen Vorstellungen derge-
statt auf die Königin einzuwirken, daß sie nicht nur alle Vergleichs-
vorschlage ablehnte, sondern auch den reiferen, überdachten Vor-
schlagen ihres Anwaldes, Henry Brougham, der ihr ebenfalls
entgegengekommen war, kein Gehör gab. Sie ließ Lord Hutchin-
son antworten, es sei ihr unmöglich, diese Bedingungen anzuneh-
men, vielmehr sei sie entschlossen, augenblicklich nach London ab-
zureisen und sich ihren Verfolgern persönlich entgegenzustellen; und
ohne noch mehr Zeit zu verlieren, begab sie sich nach Calais,
wo sie sich, weil keine königliche Jacht, wie sie verlangt hatte, für
sie bereit lag, auf dem Packetboote Prinz Leopold einschiffte. —
Die Sache der Königin hatte bereits die größte Aufmerksam-
keit im Publikum erregt. Die Oppositionspartei verfehlte nicht,
das Verfahren der Regierung, ihr auf Kosten der Nation Geld-
anerbietungen zu machen, als eine verfassungswidrige Maßregel zu
bezeichnen, und da das derzeitige Ministerium sich überhaupt keiner
großen Popularität zu erfreuen hatte, so konnte es nicht fehlen,
daß sie unter dem Volke unzahlige Anhänger fand. — Das
Packetboot ging am 4. Juni auf der Rhede von Dover vor An-
ker. Die Königin ward mit außerordentlichem Jubel empfangen;
das Volk drang bei ihrer Landung so sehr auf sie ein, daß sie
genöthigt war, einen Wagen zu besteigen, der von Menschen nach
5em Gasthofe gezogen ward. Bei ihrer Ankunft hielt der Platz-
commandant, in Ermangelung von entgegengesetzten Befehlen, es
für seine Pflicht, sie durch Abfeuerung der Kanonen ebenso zu be-
grüßen, wie es bei allen Gliedern des königlichen Hauses zu ge-
schehen pflegte, wenn sie im Dover anlangten, und ihr eine Ehren-
wache für die Dauer ihres Aufenthalts im Gasthofe zu geben.
Die Königin verbat die letztere, zeigte sich aber mehrere Male der
herbeiströmenden Menge, die sie hoch leben ließ. Nach einigen
Stunden Ruhe setzte sie ihre Reise nach London fort. Auf dem
Wege dahin erhielt sie nicht weniger Beweise von Anhänglichkeit
und Liebe; von allen Seiten strömte das Landvolk zusammen, sie
zu sehen, und in allen Dörfern wurden die Glocken gelautet.
— 151 —
Zu Canterbury und Noch est er mit Glückwünschen empfangen,
antwortete sie in den Ausdrücken einer regierenden Königin; „sie
sei gerührt — sagte sie — von diesen Beweisen ehrfurchtsvoller
Anhänglichkeit und hoffe, es werde ihr erlaubt sein, zum Glücke
ihrer getreuen Unterthanen mitzuwirken." ■— Unterrichtet von den
Beschlüssen, welche die Regierung hinsichtlich ihrer gefaßt hatte,
zweifelte sie zwar keineswegs an der raschen Vollziehung derselben,
aber sie war deshalb nicht weniger entschieden, ihren Anklagern
entgegenzutreten und den Widerstand auf's Aeußerste zu treiben.
Am 6. Juni um fünf Uhr Abends, eine Stunde vor ihrer
Ankunft in der Hauptstadt, erhielt das Parlament eine königliche
Botschaft, welche Lord Liverpool dem Oberhause überbrachte.
Sie war in folgenden Ausdrücken abgefaßt: „Da die Königin in
England angekommen ist, so halt es der König für seine Pflicht,
der Kammer des Lords gewisse Documente mitzutheilen, welche
sich auf das Betragen seiner Gemahlin seit ihrer Abreise aus die-
sem Lande beziehen, und welche der König der ernstlichen und
schleunigen Erwägung des Hauses empfiehlt. Se. Majestät hat
alle ihm zu Gebote stehenden Mittel versucht, um eine für sein
Volk und sein eignes Gefühl so schmerzhaste Notwendigkeit zu
vermeiden; allein der Schritt, den die Königin so eben gethan hat,
gestattet ihm keine andere Wahl. Bei diesen Mittheilungen hegt
der König das Vertrauen, das Oberhaus werde diejenige Art des
Verfahrens einleiten, welche die gerechte Sache des Königs, sowie
die Ehre und Würde der Krone erfordert." Zu gleicher Zeit ward
der schon früher erwähnte grüne Beutel auf den Tisch gelegt,
welcher die angekündigten Bruchstücke enthielt, die zu untersuchen
das Haus aufgefordert ward. Dem Unterhause übergab Lord
Castlereagh eine gleiche Botschaft und einen zweiten Beutel,
der die Duplicate der obigen Bruchstücke enthielt. — Der Auf-
trag des Königs brachte in beiden Häusern des Parlaments eine
sehr verschiedene Wirkung hervor. Im Oberhause empfing man
dieselbe mit rnhiger Würde, und selbst die Besprechung über die
übliche Adresse, wodurch dem Könige angezeigt werden mußte, daß
man seine Botschaft in Berathung ziehen werde, ward auf den
folgenden Tag verschoben. Im Unterhause jedoch war die Stim-
mung nicht so vortheilhaft für die Absichten des Königs und der
Minister. Einer der Mitglieder, Bennet, fragte den Lord unter
anderin, wie die Minister so eigenmächtig hätten verfahren können,
— 152 —
den Lord Hutchinson zu beauftragen, die Königin zum Verkaufe
ihres Titels zu bereden. In demselben Tone fragte ein anderer
Deputirter, Crevey: „warum es denn für die Königin ein Ver-
brechen sei, ihren Fuß auf brittischen Boden zu setzen; ob es sich
für den König schicke, Anklager und Richter seiner Gattin zu sein;
und ob es für das Parlament passend sei, sich in einen häuslichen
Zwist zu mischen, und in einer Sache, welche seit Heinrich's
VIII. Zeit ohne Beispiel wäre." Lord Hamilton führte an, „daß
der Name der Königin in dem Kirchengebete gestrichen sei, und
fand darin eine Bestrafung für nicht erwiesene Verbrechen, in
Widerspruch mit allen Grundsätzen des brittischen Reiches." Dies
Alles vernahm Lord Castlereagh mit großer Kaltblütigkeit; streng
beschrankte er sich darauf, auf eine Adresse des Königs anzutragen
und die von ihm niedergelegten Papiere der Sorgfalt des Secre-
tairs des Hauses anzuempfehlen.
Inzwischen war die Königin in der Hauptstadt angelangt.
Von zwei Damen begleitet, fuhr sie in einer offenen Kalesche, den
Alderman Wood zur Rechten durch die Straßen, auch folgten ihr
mehrere Kutschen, die ihr entgegen gefahren waren. Der Jubel,
womit sie empfangen ward, glich, den Oppositionsblattern nach,
demjenigen, mit welchem im Jahre 1814 die fremden Monarchen
bewillkommt waren. Nur die vornehmeren Klassen hielten sich zurück.
Um sechs Uhr Abends stieg die Königin vor dem Hause des Alder-
man Wood, am westlichen Ende der Stadt, ab und zeigte sich
bald darauf dem versammelten Volke auf dem Balkon, wo sie die
rröstlichen Worte vernahm: „Gott segne sie, die arme unschuldige
Frau!" — Am folgenden Tage boten die Sitzungen der beiden
Hauser ein höchst anziehendes Schauspiel dar. Im Oberhause trug
Lord Liverpool auf die Ernennung eines engeren Ausschusses an,
welcher aus fünfzehn Pairs bestehen und die in dem grünen Beutel
befindlichen Documente untersuchen sollte, um darnach zu bestim-
nten, ob ein gerichtliches Verfahren stattfinden könne, oder nicht.
Die Oppositionspartei, worunter sich besonders der Marquis von
Lansdown und Lord Holland auszeichneten, widersetzte sich
dieser Art des Verfahrens. Ihrer Meinung nach gab es, wem;
die Königin durchaus belangt werden sollte, kein anderes Mittel,
als eine Anklagebill bei dem Hause der Gemeinen einzureichen.
Allein ihrer Einwendungen ungeachtet, gelang es der Beredtsamkeit
des Lord Liverpool, die Ernennung der geheimen Commission zu
— 153 —
bewirken. Im Unterhause nahm die Sache noch eine andere Wen-
dung. Hier ließ die Königin eine Schrift überreichen, in welcher
sie sagte: „Sie habe sich durch die hinterlistigen Maßregeln, welche
im Auslande durch geheime Agenten gegen ihre Ehre und Ruhe
gerichtet worden, veranlaßt gesehen, nach England zurückzukehren.
Bei ihrer Ankunft habe sie mit nicht geringem Erstaunen erfahren,
daß eine Botschaft an das Parlament gesendet worden, um dessen
Aufmerksamkeit auf gewisse Documente über ihr Betragen im Aus-
lande aufzufordern; und ihr Erstaunen sei dadurch uoch vermehrt,
da sie gehört, daß diese Papiere einer geheimen Commission zur
Untersuchung sollen übergeben werden. Sie verlange nun selbst
eine öffentliche Untersuchung, um die gegen sie aufgestellten
Klagepunkte kennen zu lernen. Im Angesichte des Souverains, des
Parlaments und des Landes protestire sie gegen die Anordnung
eines geheimen Gerichtshofes. Auf das Unterhaus setzte sie ihr
Vertrauen; dieses allein werde die gegen ihre Person gerichteten
Machinationen der Minister zu vereiteln wissen." Als diese Bot-
schaft verlesen war, vertheidigte Lord Castlereagh die Minister
gegen die Beschuldigung, als ob sie die Anklager und Verfolger
der Königin waren; obgleich er aber seine ganze Beredtsamkeit anwen-
dete, das Unterhaus zu bewegen, den grünen Beutel zu öffnen, so
konnte er seine Absicht nicht erreichen; die ganze Kraft der Oppo-
sition, an deren Spitze Brougham stand, stellte sich ihm entgegen.
Nichtsdestoweniger ward die geheime Commission von dem Unter-
Hause genehmigt.
Die Sache der Königin ward von Tage zu Tage immer mehr
die Sache des Volks; man hörte von nichts Anderem, als von
diesem Prozesse reden. Es war vorauszusehen, daß es ganz un-
möglich sein werde, sich in Anklage und Vertheidigung auf einer
vorher festgestellten Linie zu halten. Wenn es vorteilhaft für den
König war, um das zur Sprache kommen zu lassen, was sich
wahrend der Reise der Königin begeben hatte, so war es ebenso
vortheihaft für diese, auf eine frühere Periode zurückzugehen, die
auf ihre ersteren Verhaltnisse mit ihrem Gemahle Bezug hatte.
Ihre Anwalde ließen die Drohung vernehmen, daß, wenn man die
Sache auf's Aeußerste triebe, die Königin gezwungen sein würde,
Sachen ans Licht zu bringen, die ihrem königlichen Gemahle weder
zur Ehre gereichten, noch dazu geeignet waren, ihm die Liebe und
Achtung seines Volkes zu erhalten. „Auch wir haben unsern
grünen Beutel, — sagte Brougham zu Lord Castlereagh — und
nehmt Euch wohl in Acht, daß er nicht geöffnet werde!" Die
große Mehrheit der Einwohner Londons war auf Seiten der
Königin, so daß seit ihrer Ankunft kein Tag verstrich, an welchem
nicht Ausschweifungen begangen wurden. Am 7ten und 8ten Juni
hatten sich neun bis zehn Tausend Menschen in die Nachbarschaft
des Aldermans Wood, wo die Königin wohnte, begeben; und hier
zwangen sie die Vorübergehenden, den Hut vor der „schuldlosen
Königin" abzunehmen, und durchliefen alsdann die Straßen, um
die Fenster derjenigen einzuwerfen, welche sie nicht zur Feier ihrer
Ankunft erleuchtet hatten. Sie beabsichtigten sogar einen Angriff
auf Carlton-House, den Palast des Königs, und mußten von dem
Militair zurückgetrieben werden. Dies Alles gab Veranlassung,
daß einige Gutgesinnte, um noch größeren Ausschweifungen vorzu-
beugen, eine Aussöhnung zu Stande zu bringen wünschten. Wirk-
lich ward ein Versuch dieser Art gemacht, bei welchem der König den
Herzog von Wellington und Lord Castlereagh, die Königin aber
ihre beiden Anwalde Brougham und Den man zu Schiedsrichtern
bestellte. Die Besprechungen dauerten vom 16. bis 19. Juni;
allein der Zweck ward verfehlt, weil die Königin nicht Verzicht
leisten wollte auf die Ehre, ihren Namen in den Kirchengebeten
wieder aufgenommen zu sehen, und weil sie noch außerdem For-
derungen in Hinsicht ihrer Behandlung im Auslande machte, welche
die Regierung, ohne sich Blößen zu geben, nicht erfüllen konnte. —
Es ward nun zwar noch ein Versuch gemacht, dem ärgerlichen
Prozesse vorzubeugen, indem eine Deputation des Unterhauses, an
die Königin geschickt, diese zur Nachgiebigkeit bewegen sollte;
allein die Königin, durch ihre Anwalde vorbereitet, erwiederte, „daß
sie in eine Ausgleichung nicht einwilligen könne, die sie eines we-
sentlichen Vorrechtes beraube; dies zu verweigern sei sie als an-
geklagte und beleidigte Königin sich selbst und allen ihren Mit-
unterthanen schuldig." Mit dieser Antwort kehrten die Deputaten
zurück, und da es bekannt geworden war, welchen Antrag sie der
Königin gemacht hatten, so wurden sie bei ihrem Austritte aus
dem Hause von dem Pöbel ausgezischt.
Jede Aussicht auf Versöhnung war nunmehr verschwunden,
und der geheime Ausschuß begann seine Untersuchungen. Am 4.
Juli ward der Bericht derselben dem Oberhause übergeben, dessen
wissentlicher Inhalt folgender war: „ der Ausschuß habe mit aller,
— 155 —
einem so wichtigen Gegenstande gebührenden, Aufmerksamkeit die
ihm vorgelegten Urkunden untersucht und gefunden, daß sie An-
schusdigungen enthielten, die sich aus übereinstimmende Aussagen
von Zeugen stützten; Anschuldigungen, welche die Ehre der Koni-
gin tief verletzten, indem sie dieselbe einer ehebrecherischen Verbin-
dung mit einem Fremden, der ursprünglich einer ihrer Diener aus
der untersten Klasse war, und eines fortgesetzten Betragens bezüch-
tigten, das des hohen Ranges und der Würde Ihrer Majestät
unwürdig und von der ausschweifendsten Art sei. Diese Anschul-
digungen schienen der Commission nicht allein die Ehre der Köni-
gin, sondern auch die Würde der Krone und das sittliche Gefühl,
sowie die Ehre der Nation, so tief zu verletzen, daß sie, nach ihrem
Dafürhalten, nothwendig der Gegenstand einer feierlichen Unter-
suchung werden müßten. Der Ausschuß glaube, daß dieses am
besten durch ein legales Verfahren vor sich gehen könne, dessen
Notwendigkeit er nicht aufhöre, tief zu beklagen." — Am folgen-
den Tage ward nun durch Lord Liverpool die sogenannte Büß-
und Strafacte cf pains and penaltics) dem Oberhause über-
geben. Sie war überschrieben: „Bill, um Ihre Majestät Karoline
Amalie Elisabeth des Titels, der Vorzüge, Rechte, Privilegien und An-
sprüche einer regierenden Königin dieses Reiches zu berauben und
um die Ehe zwischen Sr. Majestät dem Könige und besagter Kö-
nigin aufzuheben." Ihr Inhalt besagte gewissermaßen das Nam-
liehe, was der obige Bericht der Commission enthält, und schloß
mit den Worten: „Daraus folgt, daß besagte Majestät Karoline ic.
sobald diese Acte in Kraft tritt, auf immer der Rechte einer Kö-
nigin beraubt, und überdies die Ehe zwischen Sr. Majestät und
besagter Karoline aufgelöst, annullirt und nichtig gemacht sein
wird." — Es ward hierauf festgesetzt, daß die Anklage gegen die
Königin am 17. August beginnen solle, und zu gleicher Zeit be-
fohlen, daß alle Pairs unter siebenzig Iahren an diesem Tage im
Parlamente erscheinen, oder für jeden Tag ihrer Abwesenheit, wenn
sie nicht durch Krankheit abgehalten würden, hundert Pfund St.
erlegen sollten. Die Königin trug darauf an, daß man ihr eine
Liste der Zeugen, die gegen sie auftreten würden, zustellen möge,
was aber abgeschlagen ward.
Indeß verstärkte sich die Theilnahme des brittischen Volkes
für die Königin immer mehr; auch versäumte sie nicht, sich diese
Anhänglichkeit zu erhalten. Sie zeigte sich öfters im Publikum,
— 156 —
machte Ausfahrten nach den umliegenden Gegenden, besuchte
öffentliche Anstalten k, Der Zudrang war dabei immer sehr groß;
das Volk spannte gewöhnlich die Pferde vom Wagen und zog
denselben, unter bestandigem Jubelgeschrei, untermischt mit Ver-
wünschnngen gegen den König und die Minister, nach ihrer Woh-
nung, oder nach andern Orten hin. Anfangs August micthete sie
einen Palast, Brandenburg-Ho use genannt, drei Meilen von
London entfernt. Hier strömten nun unzählige Adressen auf sie
ein; von allen Corporationen und aus allen Städten des vereinig-
ten Königreiches erhielt sie Zuschriften, welche von zahlreichen De-
putationen überreicht wurden; die, welche die Handwerker von
London überreichen ließen, enthielt nicht weniger als 39,786 ttn-
terschriften, und eine andere, welche von verheiratheten Frauen
eines Kreises herrührte, war mit 15Ml) Unterschriften versehen. Die
Antworten der Königin waren immer ihrer Lage sehr angemessen;
sie sprach nur von ihrer Unschuld und von ihrem Verlangen, die
Rechte des Volkes in den ihrigen zu vertheidigen. Daß die Theil-
nähme desselben nicht wenig dadurch verstärkt ward, laßt sich den-
ken. Hierauf gestützt, ließen die Freunde der Königin sie einen
Brief an den König schreiben, in der Absicht, solchen öffentlich
bekannt zu machen. Sie sprach darin von ihrer ersten Trennung,
welche das Werk des Königs gewesen, ferner von der Untersuchung
im Jahre 1806, endlich von den Krankungen, die sie seitdem in
und außer England erlitten, und endigte — was auf die Menge
einen um so stärkeren Eindruck machen mußte —• mit der Bitte,
daß sie ganz nach dem gemeinen Rechte, von einem Gerichte,
dessen Geschworene aus dem Volke genommen waren, möchte ge-
richtet werden. Von diesem Briefe wurden Abdrücke an den
Straßenecken angeschlagen und auf den Straßen und an den
öffentlichen Orten zum Verkaufe ausgeboten. — Zu dem bevorstehen-
den Anfange des Prozesses wurden inzwischen von Seiten der Rc-
gierung große Anstalten getroffen: starke Barrieren wurden um
das Parlament errichtet, die Polizeiossizianten erhielten Befehl, sich
den 17. August am Eingange des Hauses in großer Anzahl ein-
zusinden, mehrere Regimenter Soldaten wurden nach der Stadt
beordert, und man sah dem Tage des 17. August mit einer so
gespannten Erwartung entgegen, als wenn derselbe das Schicksal
des ganzen Landes zu entscheiden hatte. Als die ersten italienischen
Zeugen, welche gegen die Königin aussagen sollten, in Dover
— 151 —
anlangten, wurden sie vom Pöbel grausam mißhandelt, und es fehlte
wenig, daß sie erschlagen wurden; ähnlichen Austritten vorzubeugen,
mußten die übrigen auf ungewöhnlichen Punkten landen. Nur
unter Begünstigung der Nacht erreichten sie London, woselbst sie
in einem für sie eingerichteten Hause anfgenommen wurden. Das
Oberhaus versammelte sich schon am 15. August, um die nöthigen
Maßregeln wegen des zu erwartenden großen Zusammenflusses von
Fremden zu treffen; mehrere Edicte wurden deshalb erlassen, und
unter andern: beschlossen, daß ein jeder Pair nur die Erlaubniß
haben sollte, eine Einlaßkarte für Fremde zu ertheilen.
Endlich war der vielbesprochene 17. August herangebrochen.
Bei Aufrufung der Namen der Pairs fand es sich, daß achtund-
vierzig von ihnen sich hatten entschuldigen lassen. Die Königin
erschien begleitet von Lord Archibald Hamilton und dessen
Schwester Anna Hamilton. Schwarz gekleidet und das Ge-
ficht mit einem weißen Schleier bedeckt, trat sie ein. Die Lords
erhoben sich von ihren Sitzen, verneigten sich ehrerbietig, und sie
selbst ließ sich nieder auf einen für sie bereiteten Lehnstuhl. Noch
immer war man über Recht und Form des Verfahrens nicht einig,
und unter Streitigkeiten und Auseinandersetzung der Gründe da-
für und dawider verstrich noch dieser und der ganze folgende Tag;
am 19. endlich trat der Generalprocurator der Krone förmlich als
Anklager der Königin auf. Die Anklage hier mitzutheilen, erlaubt
der anstößige Inhalt derselben nicht, der, um von der Gewißheit
des angeschuldigten Verbrechens die Beweise zu liefern, ein höchst
ekelhaftes Gemälde von der Aufführung der Königin in Bezug
auf ihren Umgang mit dem oben erwähnten Barg am i seit den
fünf Jahren ihrer Abwesenheit entwirft. Die Vorlesung derselben
füllte zwei Sitzungen aus. Bei der Recapitulation der Thatsa-
chen bemerkte der Generalprocurator noch, daß die Königin bis zu
der Bekanntschaft mit Bargami die Würde einer Prinzessin und
einer Protestantin behauptet habe; daß sie aber, von jener Zeit
an bis zu ihrer Abreise nach England, an Bargami's Seite in
katholischen Kirchen, auf den Knieen liegend, dem Gottesdienste bei-
gewohnt. Er bemerkte schlüßlich, daß Bargami, arm und abge-
rissen, als er in die Dienste der Königin trat, nach und nach zu
einem reichen Vermögen gelangt sei und, seine Frau allein ausge-
nommen, Mutter, Bruder, Schwester, Tochter und Muhmen in
dem Hause der Königin untergebracht habe, — ein schlagender Be-
— 158 —
weis von dem unerlaubten Umgange, worin die Königin mit ihm
gelebt habe.
Die Königin war bei Vorlesung der Anklage nicht gegen-
wartig; sie erschien erst, als am 21. das Zeugenverhör seinen An-
fang nehmen sollte. Die Lords empfingen sie wie am 17. Sobald
sie ihren gewöhnlichen Platz eingenommen hatte, ward der erste
der Zeugen aufgerufen. Sein Name war Theodor Majochi;
er hatte zu Mailand in Diensten der damaligen Prinzessin von Wa-
les gestanden. Als die Königin seinen Namen hörte, rief sie aus:
„Was, Theodor? O, nein, nein!" und verließ, von Lady Ha-
milton geführt, den Saal. Das Verhör dieses Zeugen füllte drei
Tage aus. Seine Aussagen waren sehr bestimmt, und zwar von
einer solchen Beschaffenheit, daß Alles, was Schamhastigkeit ge-
nannnt zu werden verdient, dadurch verletzt ward. Nur beim
Gegenverhöre widersprach er sich bei den Kreuz- und Querfragen,
welche die Anwalde der Königin an ihn richteten, einige Male,
und dadurch furchtsam geworden, war nun seine gewöhnliche Ant-
wort: „noit mi ricordo" (ich erinnere mich nicht); woraus man
einen Beinamen für ihn machte. Außer seiner Aussage war keine
so wichtig, als die einer gewissen Louise de Mont, einer Schwei-
zerin, welche -als Kammerfrau im Dienste der Prinzessin ge-
standen hatte; sie gab über mehrere Umstände die genügendste Aus-
kunft; im Gegenverhöre aber wurden ihr zwei Briefe entgegenge-
setzt, welche sie, den einen an die Prinzessin, den andern an ihre
Schwester, geschrieben hatte, und welche vom Lobe der Königin
überflössen, folglich die Zeugin zu einer Doppelzüngigen machten. Das
Verhör der gesammten Zeugen, deren fünfundzwanzig erschienen
waren, dauerte bis zum 3. September. Der Anwald der Koni-
gin, Brougham, wünschte die Verteidigung sogleich zu beginnen,
um den Eindruck, den die Anklage gemacht hatte, zu verwi-
schen; dann aber einen Aufschub für die noch abwesenden Zeu-
gen für die Königin zu erhalten. Das Oberhaus ward nach lan-
gen Debatten darüber einig, ihm eine Frist bis zum 3. Oetober
zu gestatten, wo er dann seine Vertheidigung anfangen und seine
Zeugen verhören sollte.
Die Zeit bis zu dem anberaumten Termine ward von den
Rechtsbeistanden und den übrigen Rathgebern der Königin benutzt,
um die nöthigen Anstalten zur Vertheidigung zu machen. Ein
Rechtsgelehrter ward nach Italien gesendet, um Zeugen herbeizu-
— 159 —
schaffen. Der Bruder Brougham's, sowie der Sohn des Alder-
man Wood befanden sich gleichfalls auf dem Festlande und such-
ten durch Geld oder Ueberredungskunst Zeugen für die Königin
aufzubringen, oder Zeugnisse einzusammeln, durch welche sie mög-
licher Weise die Aussagen für die Anklage zu widerlegen hofften.
Bei dem Volke verminderte sich die Theilnahme an den Schicksa-
len der Königin durch diesen Aufschub der Entscheidung ihrer Sache
keineswegs. Allenthalben, wo sie sich nur zeigte, ward sie mit
stürmischem Jubel empfangen, wahrend man ihre Gegner bei jeder
Gelegenheit verhöhnte und selbst mit dem Herzog von Welling-
ton keine Ausnahme machte. Die Adressen, oder vielmehr die
schriftlichen Versicherungen von der Ueberzeugung der völligen Un-
schuld Ihrer Majestät, vereinigt mit bitteren Anspielungen auf die
Regierung, nahmen kein Ende. Taglich sah man Deputationen
in vierspännigen Wagen durch die Stadt nach Brandenburg-House
fahren. Matrosen, alle Zünfte und Innungen, marschirten mit
fliegenden Fahnen und Musik in Prozession nach diesem Landsitze.
Manche dieser Züge bestanden aus mehr denn 5000 Menschen;
der ganze Weg von der Stadt dahin war mit Buden angefüllt,
so daß er einem bestandigen Jahrmarkte glich.
Unterdessen langten allmalig die Gegenzeugen an. Sie
hatten sich bei ihrem Erscheinen in Dover eines ganz anderen Em-
pfang.es zu erfreuen als die, welche für die Anklage zu zeugen ge-
kommen waren. Das Volk wartete nicht auf ihre Landung, son-
dern watete durch das Wasser und holte sie auf den Schultern
aus den Böten; ihre Ankunft in London war für den Pöbel ein
wahrer Triumph. — Der Prozeß ward also zur festgesetzten Zeit
wieder aufgenommen. Am 3. Oetober, nachdem sich die Pairs
versammelt hatten, erschienen die Advocaten der Krone und die
Anwalde der Königin, und nun war es Brougham, der zuerst als
Vertheidiger der Angeklagten austrat. Alles, was der Königin in
ihrem Betragen im Auslande zur Last gelegt ward, wußte er in
ein solches Licht zu stellen, daß es, wenn nicht zur Tugend, doch
zu einem verzeihlichen Mißgriffe ward, der seine Wurzel in dem
Gefühle einer nur allzulange erduldeten Mißhandlung hatte. „Ge-
mieden von dem englischen Adel, habe sie bald nach ihrer An-
kunft auf dem festen Lande ihre Umgebung aus dem italienischen
Adel genommen. Die größeren Freiheiten des Umganges müßten
als eine Folge der Landessitte entschuldigt werden, der sich die
— 160 —
Prinzessin in ihrer Vereinzelung nicht habe entziehen können. Was
die Anklage betreffe, so sei sie aus den Berichten der Mailander
Com Mission geflossen; dieser aber habe es unter einer Nation,
die sich besonders zu Complotten eigene, leicht werden müssen,
feile Zeugen zu finden. Wie wenig auf ihre Aussagen zu geben
fei, hatten die Widersprüche bewiesen, worein sie theils mit sich
selbst, theils untereinander gerathen waren; und es sei höchst
verdachtig, daß alle jene Menschen, die von so außerordentli-
chen Auftritten Zeuge gewesen sein wollten, nicht eher, als vor
der Commission, etwas davon verlautbart hatten zc." Seine Rede
füllte zwei Sitzungen aus, und kann für ein Meisterstück der Be-
redsamkeit gelten. Nach ihm trat ein anderer Vertheidiger der
Angeklagten, Williams, auf, doch ohne einen sonderlichen Eindruck
zu machen. Das Verhör der Zeugen, von denen achtundzwanzig
gegenwartig waren, dauerte vom 3. bis 12. October. Im Gan-
zen beschrankte sich ihre Aussage darauf, daß sie im Umgange der
Königin mit Bargami, sowie in ihrem ganzen Betragen nichts
Unanständiges wahrgenommen. Es entstanden lange Erörterungen
über die Verführungsmittel, welche man angewendet, um Ausfa-
gen zum Nachtheile der Königin zu erhalten, über das Verfahren
der Mailander Commission und über die Anwendung der 25,0(50
Pfund Sterling, die sie erhalte!?; über die Verderbtheit gewisser
Agenten und über das Verschwinden mehrerer Zeugen, von denen
man Aufschlüsse zum Vortheile der Angeklagten hatte erwarten
können. Alle diese Dinge machte der dritte Vertheidiger der Köni-
gin, D e n m a n, in einer Rede geltend und bemühte sich, dem Hause
die Ueberzeugung aufzudringen, daß dem Verfahren gegen die Kö-
nigin eine versteckte und seit langen Jahren gegen sie ange-
sponnene Verschwörung zum Grunde liege. Er ging dabei bis
auf die Zeit Heinrichs VIII. und der unschuldig verurtheilten
Anna Boleyn zurück. Doctor Bushing ton, der vierte Ver-
theidiger der Angeklagten, ließ die Sache aus einem ganz neuen
Gesichtspunkte erscheinen. Er machte vor Allem das vorgerückte
Alter der Königin geltend und führte demnächst den Umstand
an, daß der Gatte, der gegenwärtig auf Scheidung antrüge, sich
langer als vierundzwanzig Jahre aus freiem Willen von seiner
Gattin getrennt habe. „Was auch immer die Vorrechte des Kö-
nigs sein mögen, — so schloß er —■ dennoch darf seine Klage über
die Untreue seiner Gemahlin nicht angenommen werden, nachdem
— 161 —
er ihr £>0,000 Pfund Sterling geboten hat, damit sie im Aus-
laude nach Belieben leben möchte."
Der General-Procurator und der General-Anwald der Krone
beantworteten diese Reden und bemühten sich, darzuthun, daß die
Anklagebill unerschüttert geblieben sei, indem die den Zeugen zur
Last gelegten Widersprüche nur Nebensachen betrafen. Diese bei-
den Reden dauerten drei Tage. Da nun hiermit die Anklage und
Verteidigung von den Advocaten beider Theile geschlossen war,
so begannen die Debatten unter den Lords über die wichtige Frage:
ob die Bill zum zweiten Male verlesen werden solle, oder nicht.
Diese Berathungen füllten wiederum mehrere Sitzungen aus. Die
Meinungen waren sehr getheilt. Einige der Lords trugen kein
Bedenken, die Königin als das Opfer einer verruchten Verschwö-
rung darzustellen. Lord Liverpool hingegen beschwor die Pairs,
sich nicht durch die Furcht bestimmen zu lassen, als könne dieVer-
urtheilung der Königin Aufstand erregen; dazu könne jeder andere
Vorwand dienen. Dadurch ließ sich jedoch die Gegenpartei nicht
irre machen. Lord Erskine sprach mit solcher Heftigkeit gegen
die Bill, daß er mitten in der Rede dem Anscheine nach leblos
niederfiel und ohnmächtig aus dem Saale getragen ward. Glei-
chen Eifer zeigte Lord Ellenborough. „Das Oberhaus — sagte
er — müsse nicht blos gerecht, sondern auch staatsklug sein. An-
statt der Königin zu schaden, könne die Bill leicht den Erfolg
haben, die Begeisterung für die Angeklagte bis zur Alles verzeh-
renden Flamme zu steigern. Obgleich er sich nicht von der Un-
schuld der Königin überzeugen könne, so finde er dennoch die Strafe
der Bill, wenn sie in Kraft träte, zu hart, und diese Maßregel als
eine künstige Richtschnur nicht anwendbar, auch dem Interesse des
Hauses zuwider." Diese Abstimmung eines ministeriellen Pairs machte
auf beide Parteien großen Eindruck. Gleichwohl ging die zweite
Verlesung der Bill am 6. November, mit einer Mehrheit von
achtundzwanzig Stimmen, durch.
Gleich am folgenden Tage ließ die Königin eine Protestation
einreichen, worin sie vor Gott betheuerte, daß sie an dem ihr zur
Last gelegten Verbrechen unschuldig sei, und ein Verfahren ver-
warf, wobei ihre Anklager zugleich ihre Richter waren. Die Bill
ward nun Punkt für Punkt durchgenommen, und einige unwesent-
liche Abänderungen gemacht. Die Hauptfrage war: ob man die
Clausel der Ehescheidung auslassen sollte, indem Lord Liverpool
N. G. IV. 11
— 162 —
behauptete, der König wünsche nicht von seiner Gemahlin geschie-
den zu werden. Allein nun antwortete man ihm, der Monarch könne
eine so entehrte und beschuldigte Frau nicht als Gattin behalten. ES
war jetzt an den geistlichen Lords, ihre Stimmen zu erheben. Sie
bewiesen aus der heiligen Schrift, daß, „was Gott zusammenge-
fügt habe, der Mensch nicht scheiden könnewürde daher die Clause!
der Scheidung beibehalten, so könnten sie auch nicht für die dritte
Verlesung der Bill stimmen. Dies kam der Oppositionspartei er-
wünscht, und die ganze Masse, welche früher gegen die Bill gestimmt
hatte, stimmte nun für die Beibehaltung der Clausel, und die Mi-
nister verloren ihren Antrag, da derselbe nur von einer Majorität
von neun Stimmen (108 gegen 99) unterstützt war; weshalb denn
die Bill in statu quo am 10. November zur dritten und endlichen
Entscheidung vor das Haus kam. Als nun, dem Gebrauche ge-
maß, der Großcanzler die Frage aufwarf: „ob es der Wille Ihrer
Herrlichkeiten sei, daß die Bill das Haus passire," erhob sich Lord
Liverpool und sagte: „Mylords! Ware die Abstimmung über die
dritte Lesung mit derselben überwiegenden Mehrheit, wie die
zweite ausgefallen, so würde ich es für meine Pflicht gehalten
haben, die Bill ins Unterhaus zu senden; bei einer so schwachen
Mehrheit aber halte ich es für schicklich, den Antrag dahin zu stel-
len, daß die Frage, ob die Bill passiren solle, von heute über sechs
Monate dem Hause wieder vorgelegt werde." Da dies im engli-
scheu Parlamente die übliche Formel für die ganzliche Zurücknahme
einer Bill ist, so fehlte nur die Zustimmung; diese aber erfolgte
auf der Stelle und ward von allgemeinen Beifallsbezeigungen
begleitet; nur wenige Stimmen riefen: „nicht zufrieden!"
Die Königin befand sich in einem Nebenzimmer; Brougham
eilte, ihr den erfreulichen Beschluß bekannt zu machen. Das
Volk begleitete sie mit Iubelgeschrei nach ihrer Wohnung. Die
Freude der großen Menge über diesen Ausgang des Prozesses
ging bis zur Ausschweifung. Es wurden mehrere Tage hinter ein-
ander Illuminationen veranstaltet, und der Pöbel zwang die Mi-
nister, gleichfalls ihre Fenster zu erleuchten. — Höchst gefahrlich
war bei dieser Stimmung die Lage der Zengen, welche gegen die
Königin ausgesagt hatten. Um vor Mißhandlungeil gesichert zu
bleiben, mußten sie sich bis zu ihrer Einschiffung in Cotton-
Garden einsperren lassen. Majochi und Louise de Mont wurden
— 163 —
in effigie an den Galgen gehangt und verbrannt. — Der Pro-
zeß hatte 200,000 Pfund Sterling gekostet.
Die Freunde und AnHanger der Königin waren indeß mit dem
Ausgange der Sache noch keineswegs befriedigt. Sie fanden die
schreiendste Ungerechtigkeit darin, daß man dem Namen einer Frau, deren
Schuld nicht erwiesen sei, die Aufnahme in die Liturgie verweigere;
und als im Januar 1821 das Parlament wieder eröffnet ward,
fehlte es in beiden Hausern nicht an einer Partei, die sich der Zurück-
gesetzten annahm und auf ihre Wiedereinsetzung in genossene Rechte
drang. Noch heftiger ward der Streit, als es sich darüber handelte,
der Königin einen Jahrgehalt zu bewilligen. Die Minister hatten
darauf angetragen, daß die Kammer ihr 30,000 Pfund aussetzen
möchte. Brougham jedoch erklärte, die Königin werde solches nicht
annehmen, so lange ihr Name aus dem Kirchengebete ausgeschlossen
sei. Dieses Einspruches ungeachtet blieben die Minister in beiden
Sachen Sieger: der Name ward nicht wieder aufgenommen, und
auch die Will wegen der 50,000 Pfund ging durch. — Die Kö-
nigin lebte seitdem wieder mit ihren Vertrauten in Branden-
burg-House. Mehrere Personen des hohen Adels und auch ihr
Schwiegersohn, der Prinz Leopold von Sachsen-Coburg, be-
suchten sie dort. So blieb es, bis die Krönung Georgs IV. sie
wieder hervor auf den Schauplatz der öffentlichen Angelegenheiten
rief.
Schon im Jahre 1920 hatte der König seine Krönung auf
den 1. August angesetzt; sie war jedoch aus mancherlei Gründen,
unter denen der Prozeß der Königin und die damalige Volksstim-
mung wohl keine der unwichtigsten waren, aufgeschoben worden.
Jetzt aber sollte diese Feierlichkeit den 19. Juli 1821 stattfinden,
und es wurden Alle, die wegen ihrer Aemter oder Besitzungen
zur Zeit der Krönung Dienste zu leisten schuldig waren, aufgefor-
dert, sich bei dem Feste, so ausgestattet einzufinden, wie es ihren
Würden und Aemtern zukomme. Die Anstalten zu dem seltenen
Schauspiele wurden sogleich auf allen Seiten getroffen. Westmin-
ster-Hall und die Westminster-Abtei wurden ganz mit schar-
lachrothem Tuche ausgeschlagen. Für die Tafeln des Königs, der
Prinzen und der Hofbeamten ward mit besonderer Aufmerksamkeit
gesorgt, und eine neue Krone aus einer glänzenden Masse von
Diamanten verfertigt. Das königliche Scepter, zwei Fuß neun
Zoll lang, ward aus gediegenem Golde gearbeitet und mit kostba-
11*
— 164 —
ren Steinen besetzt; so auch der Reichsapfel, das Salbungsgefaß,
in Gestalt eines Adlers, der Löffel?c. zc. ^— Nun aber verlangte
auch die Königin, gleichzeitig mit ihrem Gemahle gekrönt zn wer-
den, und ihre Anwalte, Brougham und Denman, gründeten die-
sen Anspruch auf die ihrer Behauptung nach ununterbrochene Ge-
wohnheit, daß regierende Königinnen mit gekrönt wurden. Da^
gegen war jedoch geschichtlich klar, daß seit Heinrichs VII. Re-
gierung nur sechs Königinnen gekrönt und sieben nicht gekrönt
worden, und am 10. Juli entschied der geheime Rath, daß
die Königinnen Gemahlinnen von Großbritannien aus Rechtsgrün-
den keinen Anspruch auf die Krönung machen könnten,— woraus
folge, daß auch der Königin Karoline kein Recht darauf zustehe.
Diese Entscheidung ward der Fürstin übersendet, und sie erklarte hierauf,
daß sie entschlossen sei, der Krönung des Königs als Zuschauerin
beizuwohnen; mithin habe der Lord-Kanzler ihr einen anstandigen
Platz zu diesem Zweck anzuweisen. Allein dieser Schritt war ebenfalls
vergeblich Nicht genug, daß sie von der Krönung selbst ausge-
schlössen blieb, so verbot man ihr auch, bei derselben gegenwartig zu
sein. Also zurückgestoßen, ließ die Königin dem Könige eine feier-
liche Protestation übergeben, worin sie erklarte: „die Entscheidung
des geheimen Raths betrachte sie nur als eine Wirkung der grau-
sinnen Verfolgungen, die sie erlitten, und es streite gegen die
Pflicht einer Königin, sich Verletzungen der Rechte zu unterwerfen, die
mit ihrem Range verbunden waren. Sie müsse daher Protestiren, da-
mit ihre jetzige Unterdrückung nicht dermaleinst als Beispiel aufge-
stellt werde, um durch sogenanntes Herkommen der Sitte und der
gesetzlichen Formen die Ungerechtigkeit der Macht zu sanctioniren.
Der Tag der Krönung war unterdeß gekommen. Der König
hatte sich bereits am 18. Juli Abends in die Wohnung des Sprechers
des Unterhauses begeben und daselbst übernachtet, um am folgen-
den Morgen der Westminster-Kirche, wo die Feierlichkeit geschehen
sollte, nahe zu sein. Um Westminster-Hall waren 1300 Mann
Cavalerie und 2700 Mann Infanterie aufgestellt, überhaupt aber
mehrere Regimenter Truppen nach London gerufen, um einem et-
waigen Volkstumulte vorzubeugen. Mit dem Schlage Eins kün-
digte ein mit Kanonendonner begleitetes Gelaute den fammtlichen
Bewohnern der Hauptstadt die bevorstehende Festlichkeit an. Schon
um sechs Uhr waren die Straßen gedrangt voll Menschen. Um
diese Zeit kamen die Wagen mit den für die Westminster-Hall
— 165 —
und Westminster-Abtei eingeladenen Personen an, und da viele
von diesen, um hineinzukommen, sich genöthigt sahen, in den Stra-
ßen auszusteigen, so gewährte der Abstich altväterlicher Anzüge
von den prächtigen Stoffen und Diamanten der neueren Zeit das
unterhaltendste Schauspiel. Um halb sieben Uhr langte auch die
Königin in einem sechsspännigen Wagen an, begleitet von zwei
Edelfrauen, den Gemahlinnen der Lords Hamilton und Ho od;
in einem zweiten Wagen befanden sich der Alderman Wood,
Lord Ho od, Austin und eine Kammerfrau. Lord Hood bot der
Königin beim Aussteigen bei Westminster-Hall den Arm und ver-
suchte zuerst, sie in die Halle, und sodann bei einer anderen
Thüre, sie in die Abtei zu bringen. Vergeblich. Die Königin, ob
sie sich gleich als solche ankündigte, ward beharrlich zurück-
gewiesen. Nun bot Lord Hood ihr sein Billet an, um hinein
zu gehen. Nach kurzem Bedenken schlug sie es aus und beschloß,
nach ihrem Palaste zurückzukehren. Das umstehende Volk, durch
diesen demüthigenden Auftritt erbittert, rief: „Pfui! o Schande!"
und begleitete die unglückliche Fürstin unter stetem Vivatgeschrei.
Auf dem. Wege dahin, in dem Augenblicke, wo sie die Straße
Pikkadilly zu durchschneiden hatte, stieß sie auf die Prozession
des königlichen Champions, der zu Pferde Jeden herausforderte,
der sich erlaube, Einsprüche gegen die Rechte des Königs auf die
Krone zu machen. In Hyde-Park angelangt, zerstreute sich das
Volk und warf den Lords Withworth, Palmerston, Darley
und Mehreren die Fenster ein, doch trieb die Schaulust es bald wie-
der nach Westminster, wodurch stürmische Seenen verhindert wurden.
Hier hatte sich inzwischen das Gefolge des Königs geordnet.
Er selbst langte mit dem Schlage zehn in der Halle an, wo der
Lord Kammerherr und der Groß-Connetable (Lord Wellington)
ihm die verschiedenen, von dem Dechant von Westminster herbei-
gebrachten, Krönungs - Jnsignien vorwiesen: das Schwert der
Barmherzigkeit in der Scheide; zwei Schwerter der Gerechtigkeit
außer derselben; den Degen Rogers des Dänen; die Krone des
heiligen Eduard; den Reichsapfel; ein Scepter mit der Taube;
ein Scepter mit dem Kreuze; den Stab des heiligen Eduard;
einen Kelch und eine Bibel. Nachdem der König dies in Augen-
schein genommen, ertheilte er den Baronen und Bischöfen, die von
Alters her das Recht haben, diese Jnsignien bei der Krönung zu
tragen, den Befehl, sich dieselben für die Dauer des Festes anzu-
I
— 166 —
eignen. Um eilf Uhr gab ein Kanonenschuß das Zeichen zum Auf-
bruche nach der Abtei, die mit der Halle durch eine 1500 Uards
lange, mit scharlachenem und blauem Tuche bedeckte Gallerie ver-
bunden war. Den Zug eröffnete des Königs Krauterfrau, die Blumen
auf den Weg streute; ihr folgten die Standarten von England,
Schottland, Irland und Hannover, nebst der Unions-Fahne.
Dann kamen die Pairs, jeder mit seiner Herzogs- oder Grafen-
Krone in der Hand. Darauf die Prinzen von Geblüte, Endlich
der König unter einem Thronhimmel von Goldstoff, den sechszehn
Barone der fünf Hafen trugen. Zwei Bischöfe unterstützten des
Königs Arme, und acht Pairssöhne trugen die Schleppe des könig-'
lichen Mantels. — Die religiöse Ceremonie dauerte drei Stun-
den. Die fünf Hauptmomente derselben waren: die Opferung,
die Erkennung, der Eid,, die Salbung und die Beklei-
dung. Zwei Bischöfe lasen die Litanei, der König opferte, com-
municirte, und nachdem der Erzbischof von Canterbury, in Be-
gleitung des Lord-Canzler, den König nach allen Seiten gedreht,
sprach der Erzbischof die Anerkennungsformel, und der Bischof von
Flork hielt eine Predigt. Den Eid mußte der König knieend auf
den Stufen des Altars leisten, die eine Hand auf die Bibel ge-
legt; sodann unterzeichnete er ihn. Vor der Salbung ward das
„Komm, heiliger Geist" angestimmt. Die Salbung empfing der
König, auf dem Stuhle des heiligen Eduard sitzend, durch den
Erzbischof von Canterbury, unter einem Tuche, das vier Ritter
über seinem Haupte hielten. Der Dechant von Westminster legte
dem Könige die großen goldenm Sporen an; der Erzbischof gab
ihm das Schwert in die Hand, das ihm der Lord Kammerherr
um den Leib gürtete. Unter dem Zurufe: „Es lebe der König!"
ward ihm Eduards l. Krone aufs Haupt gesetzt. Der Erzbischof
sagte: „Sei stark und muthigDer Chor antwortete: „Der
König wird sich seiner Starke freuen!" Damit war die Krönung
geendigt, und die Feier schloß mit einem Tedeum. Die Pairs
und Wappenkönige setzten ihre Kronen auf; der Erzbischof ertheilte
den Segen, und die Bischöfe riefen Amen! Der König umarmte
hierauf Erzbischöse und Bischöfe, welche knieend die Huldigung
leisteten, nicht ohne ihm die linke Wange zu küssen; so auch die
Pairs, wobei der Herzog von Flork die Krone auf des Königs
Haupt berührte. Jetzt wurden die Krönungsmedaillen ausgewor-
fen. Der König legte darauf die Krönungsinsignien ab und zog
>
— 167 —
den Purpurmantel an. Der Zug begab sich sodann in den gro-
ßen Westminster-Saal, welcher, von 1600 Kerzen erleuchtet, den Kö-
mg, die Prinzen, die Pairs, mehrere Mitglieder des Unterhauses
und die Gesandten der auswärtigen Machte zu einem Mahle em-
psing.
Der erste Gang Speisen ward mit großer Feierlichkeit ausge-
tragen. Um den König her standen der Lord vom Schlosse Mark-
soy, der Herzog von Devonshire, der Herzog von Rutland
und der Lord-Kammerherr, mit den Reichsschwertcrn, dem Scepter,
dem Reichsapfel?c. ?c. Gegenüber saßen die Prinzen. Der Lord-
Marschall, der Groß-Haushofmeister und der Groß-Connetable
erschienen zu Pferde. Vor dem zweiten Gange ritt der Champion
in den Saal und machte seine Ausforderung gegen Jeden, der leug-
nen würde, daß Georg IV. rechtmäßiger Erbe der Krone der ver-
einigten Reiche sei. Die Ceremonie ward dreimal wiederholt»
Natürlich rührte sich Niemand. Der König trank aus einem gol-
denen Becher des Champion Gesundheit; der Champion tummelte
sein Pferd rückwärts zum Saale hinaus, und nun wurden die Titel
des Königs in lateinischer, französischer und englischer Sprache
ausgerufen. Nach geendigtem Mahle, welches bis acht Uhr dauerte,
erschien der Herzog von Arthol mit zwei Falken und der Lord-
Major mit zwölf Bürgern Londons. Ersterer reichte dem Könige
Wein in einem goldenen Becher; der König trank und schenkte
den Becher dem Lord-Major. Die Barone der fünf Hafen aber
erhielten den prächtigen Thronhimmel, welchen sie beim Einzüge
getragen. Unentgeltiches Schauspiel und Feuerwerk belustigten an
diesem Abende die große Menge. — Die sämmtlichen Kosten
der Krönung schätzte man auf 500,000 Pfund Sterling.
Am 30. August trat der König eine Reife nach Irland an;
kaum aber hatte er sich der Küste genähert, als die Königin er-
krankte. Sie beabsichtigte, wie es heißt, eine Reife nach Schott-
land. Ehe nun alle die Schwierigkeiten, welche sich derselben ent-
gegenstellten, überwunden werden konnten, besuchte sie am 3. Au-
gust das Theater von Drurylane, wo Shakespeare's grausen-
volles Schauspiel, Richard HI., gegeben ward. Von einem bren-
nenden Durste gequält, ließ sie sich ein Glas Limonade reichen.
Ein heftiger Frost war die Folge des Genusses desselben, der sie
nöthigte, das Schauspiel zu verlassen und nach ihrem Palaste zu-
rückzukehren. Herbeigerufene Aerzte sahen sogleich das Gefährliche
— 168 —
ihres Zustandes, indem sie in der Krankheit eine innerliche Ent-
zündung erkannten. Man ließ ihr zur Ader, um das Fieber zu min-
dem, und am 6, glaubten, oder äußerten wenigstens die Aerzte,
daß die Kranke wohl außer Lebensgefahr sei. Aber die bedauerns-
werthe Fürstin selbst war ganz anderer Meinung und behauptete
fest, die Aerzte irreten ganzlich, nach vierundzwanzig Stunden
werde sie nicht mehr sein. Mit Ruhe sprach sie von ihrer baldi-
gen Auflösung, dankte ihren Freunden für alle bewiesene Liebe und
Anhänglichkeit und dictirte ihren letzten Willen mit großer Fassung.
Wie sie vorhergesagt, so geschah es. Am folgenden Tage ward
sie sichtlich schwacher, und schon um acht Uhr Abends wurden die
Augen starr. Noch einmal drückte sie krampfhaft die Hand der
Lady Hamilton und sprach leise die Worte: „Gott segne Sie!"
Dann trat eine ganzliche Betäubung ein, und kurz nach zehn Uhr
war der Todeskampf beendigt. — Der Leichnam ging auch so
schnell in Faulniß über, daß die Aerzte erklarten, das Oeffnen desselben
werde den damit beauftragten Personen das Leben kosten. Mehrere
ihrer Freunde wollten den Leichnam der Verewigten sehen; es ward
aber Niemand zugelassen. Unter solchen Umstanden mußte wohl
die eigentliche Ursache ihres Todes unerforscht bleiben. — Für
die große Menge war die Art desselben viel zu auffallend, als
daß sie nicht auf ehrlose Mittel hatte schließen sollen; ein Verdacht,
den selbst die Oppositionsblatter zu unterhalten strebten. Durch
ihren letzten Willen vermachte sie, mit Ausnahme von betrachtlichen
Legaten für Lord und Lady Hood, für Lady Hamilton und für
ihre Dienerschaft, ihr ganzes Vermögen ihrem Pflegesohne, dem
jungen William Austin. In einem Codicill verordnete sie, daß
man ihre Leiche ohne allen Pomp nach Braunschweig in die Fa-
miliengruft senden und ihr folgende Grabschrift geben sollte: „Ka-
roline Amalie Elisabeth von Braunschweig, gemißhandelte Königin
von England."
Am 12. August ward die Ordnung des Leichenzuges, der am
14. des Morgens in aller Stille vor sich gehen sollte, bekannt ge-
macht. Die Leiche sollte in einem achtspannigen Wagen, von
einer bestimmten Anzahl Trauerwagen begleitet, unter Bedek-
kung der Leibwache zu Pferde von Brandenburg-Houfe, ohne
die Straßen von London zu berühren, nachHarwichge-
bracht werden, wo die Fregatte Glasgow segelfertig lag, um sie
nach dem Festlande überzuführen. Gegen diese Anordnung nun
— 109 —
protestirten die Testamentsvollzieher und die Freunde der Verstor-
denen; sie verlangten, daß der Zug auf der großen Landstraße
durch die Stadt und ohne die Bedeckung der Leibwache fortgehen
solle. Sie erhielten jedoch zur Antwort:.man habe nach dem Ver-
fügen des Testaments der Königin gehandelt, auch der König habe
dies genehmigt, und es müsse also dabei bewenden. Die Nach-
richt verbreitete sich bald durch die Stadt. Das Interesse
für die Verstorbene, der, wie es schien, die letzte Ehre sollte ge-
raubt werden, erwachte auf's Neue, und das Volk nahm seine
Maßregeln, um seinem Zwecke auf anderen Wegen naher zu kom-
men. — Am 14. Morgens um halb acht Uhr gab der mit der
Leichenführung beauftragte Regierungseommissair das Zeichen zum
Aufbruche. Kaum aber hatte der Zug begonnen, als sich gleich
beim ersten Ablenken von der großen Straße, beim Eintritte in die
Hauptstraße von Hammersmith Hindernisse entgegenthürmten.
Das Volk hatte nämlich das Straßenpflaster aufgerissen und mit
allen Wagen und Karren, deren es sich hatte bemächtigen können,
eine Wagenburg geschlagen, die es mit Wuth vertheidigte, und
ahnliche Verrammelungen fanden sich allenthalben, wo man nur
vermuthete, daß der Zug ablenken könnte. Die begleitenden Trup-
pen betrugen sich Anfangs sehr gemäßigt und ließen den Zug vom
Volke leiten, wohin es wollte. Erst als bei Kensington andere
Cavalerie entgegen kam, veränderte sich die Gestalt der Dinge.
Am Eingange des Parks wurde die Wagenburg durchbrochen, das
Thor gesprengt, und als das Volk am Ende der Straße den Zug
auf's Neue zwingen wollte, durch die Oxfordstraße sich nach der
City zu wenden, leistete das Militair Widerstand; es sielen Schüsse,
und auf beiden Seiten gab es Verwundete und sogar Todte. Im
Sturmschritte rückte in gedrängten Schlachthaufen ein Infanterie-
regiment an; der Pöbel schob ihm jedoch so viele Wagen und
Karren in den Weg, daß es nicht durchdringen konnte. Dabei
schwoll die Volksmenge immer mehr und mehr an, so daß dem Mi-
litair zuletzt nichts anderes übrig blieb, als dem allgemeinen Strome
zu folgen. Dieser führte den Zug bis zum Eingange in die City.
Der Lord-Major hatte in der Eile einige Mitglieder des Staats-
raths versammelt; mit diesen empfing er den Leichenzug bei
Templebar. Die Menge erhob ein wildes Geschrei und rief:
„Hier kommt die Königin, die gemordete Königin!" Nur denjeni-
gen der Truppen, welche durch ihre Mäßigung ihren Beifall
— 170 —
erhalten, ward gestattet, den Leichenzug durch die City Zu beglei-
ten. Stolz auf den davon getragenen Sieg, wollte das Volk den
Leichenwagen nach dem Wohnsitze des Königs (Karlton-House)
führen und der Abgeschiedenen daselbst ein Sühnopfer bringen.
Doch mit Hülfe friedlicher Constablers ließ es sich beruhigen und den
Leichenzug ungehindert feinen Weg fortsetzen. Die ganze Ord-
nung aber war zerrissen. Wagen und Karren fuhren zwischen den
Trauerkutschen, und wegen des starken Regens war Alles mit Koth
bedeckt. Als der Zug beiWhitechapel (dem Ausgange aus der City)
angelangt war, übernahm der Regicrungscommissair wieder dessen
Leitung und gab sogleich Befehl, die Pferde in stärksten Trott zu
setzen. Eine große Volksmenge lief zwar unter wüthigem Gefchrei
eine Weile mit, mußte aber endlich, da der Athem ausging, eS
aufgeben, der Leiche weiter zu folgen, die Abends acht Uhr zu
Numford anlangte. Schon um Mitternacht ward wieder auf-
gebrochen, und so kam die Leiche, umgeben von unzahligen Schaa-
ren herbeiströmender Landleute, in Colchester an, wo sie für die
Nacht in der Kirche untergebracht ward, wobei es abermals zu
heftigem Streite gedieh. Um Mitternacht nämlich versuchten die
Testamentsvollzieher, vereinigt mit mehreren Andern, auf den
Sarg eine Platte mit der von der Königin angeordneten In-
schrist zu befestigen, welches Wagstück ihnen auch gelang. Doch
gleich am folgenden Morgen befahl der Negierungscommissair, die
Platte wieder abzureißen. Die Testamentsvollstrecker widersetzten
sich diesem Befehle, und der Lärm ward so arg, daß der Major
der Stadt Truppen herbeirufen mußte, um die Räumung der Kirche
zu bewerkstelligen. Endlich gelang es, den Zug wieder in BeweZ
gung zu bringen und die Leiche nach Harwick) zu führen, dort
ward sie mit militärischen. Ehren empfangen und sogleich auf die
Fregatte Glasgow gebracht, welche, da der Wind günstig war,
ohne Verzug unter Segel ging.
Am 20. August ging die Fregatte bei Stade vor Anker,
wo die königliche Leiche ausgeschifft ward. In ihrem Gefolge be-
fanden sich die Lords Hood und Hamilton, nebst dem Doctor
Wushington, dem Alderman Wood, Brougham und Denmam
Engländer trugen den mit rothem Sammet überzogenen und mit
goldenen Verzierungen besetzten Sarg in die Kirche; zwei Jnsan-
terieregimenter eröffneten und schlössen den Zug. Am folgenden
Morgen ward die Leiche wieder abgeführt irnt> von Station zu
— 171 —
Station bis an die braunschweigische Grenze begleitet. Eine Meile
von Braunschwcig ward dieselbe in Empfang genommen; sie sollte,
nur begleitet von einem Detaschement braunschweigischer Husaren,
ganz in der Stille um Mitternacht in das Grabgewölbe des Doms
gebracht werden. Die Braunschweiger hatten darüber jedoch eine
andere Meinung. In großen Haufen waren sie der Leiche auf
eine halbe Stunde Weges entgegen gezogen; die Pferde vor dem
Wagen wurden schnell ausgespannt, und das Volk selbst zog den-
selben durch die Stadt nach dem Domplatze. Die Hauser vor-
dem Thore und die Straßen in der Stadt, durch welche der Zug
ging, waren ohne Aufforderung erleuchtet worden. Von allen
Thürmen ertönte das Trauergelaute, und die Domkirche war in
größter Eile mit schwarzem Tuche ausgeschlagen und prachtig
erleuchtet worden. Den Leichenwagen sah man mit einer Menge
Wachskerzen umgeben, und die angesehensten Bürger folgten dem-
selben mit Fackeln. Im Dome empfingen ftchszig junge Madchen
in weißen Kleidern mit schwarzen Bandern die Leiche, welche,
nachdem der Domprediger Wolf eine angemessene Trauerpre-
digt gehalten, in der Vater Gruft zur ewigen Ruhe beigesetzt
ward. -—
So außerordentliche Ereignisse und Schicksale zeigt uns das
Leben keiner einzigen in der neusten Zeit auf die höchste Stufe
irdischer Größe erhobenen Frau, als das dieser unglücklichen Für-
stin; und ohne sie im Uebrigen mit jenem furchtbar großen Manne
vergleichen zu wollen, der mit ihr in einem Jahre geboren und
in einem Jahre gestorben ist, so wird doch ihr Andenken wohl
ebenso wenig bei der Nachwelt erlöschen, wie das seinige.
— 172 —
Dsn Miguel, Infant von WsrtNgal.
Die königliche portugiesische Familie, die wir bei ihrer Auswan-
derung nach Brasilien verlassen haben (s. N. Gesch. Bd. III. S. 42V),
war nach dem Abzüge der Franzosen aus Portugal nicht sofort dahin
zurückgekehrt. Ein Englander, Beressord, stand seit jener Zeit
an der Spitze des Heeres und gewissermaßen des Staates. Eine
Verschwörung, durch welche der portugiesische General Gomez
Freyre im Jahre 1817 dieses System zu stürzen versuchte, miß-
glückte und ward durch ein furchtbares Blutgericht bestraft. —
Inzwischen war die Königin Maria I. am 20. Marz 3 816
gestorben, und der Prinzregent als Johann VI. ihr in der
Regierung gefolgt. Nach Unterdrückung der mißvergnügten Par-
tei dauerten, bei fortwahrender Abwesenheit des Königs, die beste-
henden Verhältnisse in Portugal fort, bis im August 1820 eine
Revolution, nach dem Vorgange Spaniens, zur Ausführung kam.
Eine Cortes-Constitution ward zuerst in Oporto, der zweiten
Stadt des Reichs, dann am 13. September zu Lissabon aus-
gerufen, und bald folgte Brasilien dem Beispiele des Mutter-
landes. König Johann VI. kehrte hierauf, nachdem er seinen alte-
sten Sohn, Don Pedro, zum Regenten von Brasilien ernannt,
im Jahre 1821 mit seiner Familie nach Europa zurück; hier war
indeß bei dieser Gestalt der Dinge sein Ansehn bedeutend gesunken,
und er lebte als ein halber Gefangener der Cortes, unter denen eine
überspannte republikanische Partei die Oberhand hatte. Am 23.
September 1822 genehmigten die Cortes, und am 1. October be-
schwor der König die neue Verfassung, die ihm nur einen Schat-
ten der Macht ließ. Eine Civilliste beschrankte die Ausgabe für
die Hofhaltung, welche früher dritthalb Millionen Gulden betragen,
auf 125,000 Gulden. Die Folge davon war, daß das aus meh-
reren Tausend Individuen bestehende Hofpersonal, das vorher schon
gering und unregelmäßig bezahlt ward, nun fast nichts mehr er-
hielt, daß Pferde und Maulthiere, deren Futter die Unterbedienten,
um leben zu können, verkauften, in den königlichen Marstallen
hungerten und nicht selten Maulthiere mußten gemiethet werden,
— 173 —
wenn der König einmal auszufahren wünschte. Die Günstlinge
des Königs wurden in die Provinzen verbannt; selbst seine Ge-
mahlin, Carlotta (eine spanische Prinzessin), ward, weil sie
den Constitutionseid verweigerte, aus dem Lande verwiesen, und
nur ein arztliches Gutachten bewirkte, daß die Verbannung nicht
vollzogen ward. Dem Adel, wie der Geistlichkeit, war aller Einfluß
genominen, und selbst die Armee ward vernachlässigt, welche frü-
her die Entfernung der englischen Offiziere gewonnen hatte, die
durch ihre Strenge den Soldaten verhaßt waren.
Bald verbanden sich Hof, Adel und Geistlichkeit unter Lei-
tung der Königin gegen eine Partei, die, wiewohl sie sich ernst-
lich bestrebte, das Beste des Landes zu fördern, durch ihre über-
spannten Ideen zu argen Mißgriffen sich verleiten ließ. Die Na-
tion blieb theilnahmlos, neigte sich jedoch zur Partei der Königin
hin. Der König aber widerstand allen Aufforderungen der Ver-
bündeten, um seinen der Berfasjung geleisteten Schwur nicht zu
brechen. Indeß gelang es den Verschworenen, einige der höheren
Offiziere in ihr Interesse zu ziehen; die Truppen selbst wurden
durch Geldspenden gewonnen, und an die Spitze der Unterneh-
mung trat der Infant Don Miguel auf Antrieb der Königin,
welche nicht blos die Cortes zu stürzen, sondern auch den schwa-
chen König zur Abtretung der Regierung an den Infanten zu
bewegen hoffte, um alsdann unter des Letzteren Namen selbst zu
regieren. Von dieser Periode an nimmt Don Miguel für die ersten
zehn bis zwölf Jahre die Hauptrolle in der Geschichte des Unglück-
lichen Portugals ein. — Blicken wir nun zuvörderst auf die Kind-
heit des Prinzen und die ihm zu Theil gewordene Erziehung,
durch welche der erste Grund zu seinen spateren Handlungen ge-
legt ward.
Don Miguel, der jüngste Sohn Johanns VI., ward am 2,
October 1802 geboren. Die zügellosen Ausschweifungen seiner
Mutter aber — einer Frau, deren Seele eben so häßlich und ab-
schreckend, wie ihr Aeußeres war— ließen die Nation sehr ander
Echtheit dieses Prinzen zweifeln, oder sie nannte vielmehr ganz
öffentlich einen Menschen aus der niedrigsten Klasse als den wah-
ren Vater desselben. Dem Regenten verursachte dies unglückliche
Verhältniß zu seiner Gemahlin vielfachen Kummer, und selbst
eine tiefe Melancholie war die Folge davon; weshalb er sich in
das Kloster Mafra zurückzog, wo religiöse Hebungen ihn allein
— 174 —
beschäftigten, bis die französische Invasion ihn zur Flucht nach
Brasilien zwang. In Rio Janeiro sank das Betragen der
Königin, die inzwischen noch Mutter zweier Töchter geworden
war, zu solcher Schamlosigkeit herab, daß Johann VI. sich
genöthigt sah, eine Erklärung abzugeben: kein Kind, welchem sie
in Zukunft das Dasein geben würde, als das seinige anerkennen
zu wollen; welche Maßregel jedoch nichts in dem Betragen der
Königin änderte. — Unter der Aussicht einer solchen Mutter lebte
Don Miguel bis in das neunte Jahr seines Alters, und die Ein-
drücke, die er in seiner frühsten Jugend erhielt, übten auf seinen
Charakter den verderblichsten Einfluß. In dem angedeuteten Alter
ließ ihm der König den Palast von St. Christovas zur Wohnung
anweisen, wo er ihn der Leitung des Vicomte von Santa rem
und seines sehr würdigen Beichtvaters übergab. Allein nur we-
nig konnten diese Manner wirken, da sie, der am portugiesischen
Hofe üblichen Etiquette zufolge, knieend dem Zöglinge die Hand
küßten und nur bittweise zu ihm reden dursten; auch achtete der
Schüler immer weniger auf sie und schloß sich dagegen einem Un-
terstallmeister an, der ihn im Reiten, wie im Abrichten junger
Ziegenböcke zum Fahren, unterrichtete und jede seiner Unarten gut
hieß. Dieser ebenso rohe, als aufgeblasene Mensch hatte sich in
der Gunst des schwachen Monarchen, den seine plumpen Spaße
unterhielten, festzusitzen gewußt; so anmaßend und beleidigend
auch sein Betragen war, so zuvorkommend und demüthig benahm
sich dennoch Jeder gegen ihn, der irgend eine Bitte dem Könige
vorzutragen hatte, und reiche Geschenke flössen ihm von allen Sei-
ten zu. Die stete Gesellschaft eines solchen Menschen konnte nur
die verderblichste Wirkung auf den Prinzen äußern.
Wir gehen nun zu dem Zeitpunkte über, wo der Prinz, wie
oben erzahlt ward, in Portugal an die Spitze der Verschwörung
gegen die Corles trat. Im Mai 1823 verschwand er plötzlich aus
Lissabon, versammelte einige Regimenter um sich und erließ von
Santa rem aus einen Aufruf an die Nation, den König aus der
Gewalt seiner Feinde — wie er die Cortes nannte — zu befreien.
Die Lage des Monarchen selbst war durch diesen Schritt des In-
fanten äußerst schwierig geworden. Obgleich er laut und öffentlich
gegen das Unternehmen seines Sohnes sich aussprach, glaubten
ihn die Cortes dennoch im Einverständnisse mit demselben; meh-
rere Stimmen forderten die Gefangensetzung, einige sogar den Tod
— 175 —
des Königs. Nach langem Kampfe mit sich selbst entschloß sich
endlich Johann zur Flucht nach V i ll a F r a n c a, unter dem Schutze
eines für ihn gewonnenen Infanterieregiments, und dieser Schritt
entschied die Sache. Kaum war der König aus der Hauptstadt
entfernt, als das Volk den Saal der Cortes stürmte, und diese
k-aum noch Zeit gewannen, auf englischen Schiffen sich zu retten.
. Die Flucht des Königs lag jedoch nicht im Plane der Königin und
des Infanten; durch diesen befreit, sollte er aus Erkenntlichkeit der
Krone zu entsagen genöthigt werden. Der Monarch, der die wahren
Absichten des Infanten nicht kannte, ernannte den Prinzen, ba-
den ersten Anlaß zu seiner Befreiung gegeben, zum Generalissimus
der portugiesischen Armee. Am 23. Juni kehrte der König in die
Hauptstadt zurück. Freudetrunken strömten ihm die Einwohner ent-
gegen, und dieselben Menschen, welche noch vor kurzen: bereit
waren, ihn zu verlassen, spannten die Maulthiere vor dem könig-
lichen Wagen aus und bestritten sich gegenseitig die Ehre, ihn
zur Stadt zu ziehen.^)
Johann VI. benahm sich mit Mäßigung und beabsichtigte,
statt der abgeschafften Cortesverfassung eine andere, dem Bedürft
nisse der Nation und den Rechten des Thrones gleich entsprechende
Constitution aus königlicher Machtvollkommenheit einzuführen.
Seine Gemahlin und Don Miguel setzten jedoch der Ausführung
dieses Entschlusses ihre geheimen Ranke entgegen, wobei sie selbst
kein Verbrechen scheuten. Zu Anfange des Jahres 1824 befand
sich der König mit seinem Hofe in dem Jagdschlosse zu Salva-
terra, wahrend die Königin in ihrem Palaste zu Ramalhao
neue Pläne zu seiner Entthronung entwarf. Der Infant, wel-
cher dem Könige nach Salvaterra gefolgt war, hatte im Einver-
*) Die Zeitungen des folgenden Tages schilderten umständlich die Feierlich-
fett des königlichen Einzugs, mit Namhaftmachung aller der edlen Nor-
tugiesen, denen das Glück zu Theil geworden, an dem Wagen Sr.
Majestät als Vorspann zu dienen. Aber auch andere Stimmen ließen
sich gegen diese entwürdigende Handlung vernehmen. In der Nacht
wurden an den Straßenecken Placate angeschlagen, folgendes Inhalts:
„Diejenigen, welche die ZUgthiere zu kaufen wünschen, welche vor dem
Wagen Sr. Majestät bei Ihrem Eintritte in Lissabon gespannt waren,
belieben sich zu melden in den Ställen der Herren — — —Nun
folgten die Namen aller Derjenigen, welche die Rolle eines Pferdes über-
nommen hatten.
— 176 —
ständnisse mit seiner Mutter in dem Marquis von Abrantes
einen thatigen Verbündeten erworben. In der Ueberzeugung, daß
man auf dem Wege der Gewalt nicht zum Ziele gelangen könne,
wollte man durch List den schwachen Monarchen zur Thronentsa-
gung zu bewegen suchen. Niemand aber war geeigneter, zur Nea-
lisirung dieses Planes beizutragen, als der Günstling und ver-
traute Rathgeber des Königs, Marquis von Loule; ihn beschloß
man daher in das Geheimniß zu ziehen. Dies war indeß vermuth-
lich mißlungen, und zwei Tage nachher (2. Marz) fand man
dessen ermordeten Leichnam im Garten des Palastes —. Die Nach-
Vicht von der Ermordung des Marquis von Loule verbreitete gro-
ßes Erstaunen in der Hauptstadt. Da der Marquis in dem Co-
stüme eines Kammerherrn mit allen Ausschmückungen gefunden
ward, mithin der Mord nicht aus Raubsucht konnte geschehen
seyn: so schloß man, daß die Absicht der Mörder nur gewesen sey,
einen treuen Diener des Königs aus dem Wege zu räumen. Io-
Hann selbst war von dem Borgange höchst schmerzlich ergriffen und
befahl eine strenge Untersuchung. Der Marquis von Abrantes
ward zwar in Folge des Verdachtes, den Mord eingeleitet zu ha-
ben, verhaftet; allein die Langsamkeit, womit man gegen ihn ver-
fuhr, bewies nur allzu sehr, daß man sich fürchtete, die Wahrheit
ihrem ganzen Umfange nach zu entdecken, und die Untersuchung
endigte mit der Verbannung des Marquis; dem Volke aber blieb
die Ueberzeugung, daß die eigentlichen Urheber der Schandthat dem
Throne zu nahe standen, um erreicht werden zu können. Der
Sohn des Ermordeten, der als Klager aufgetreten war, erhielt
die Würden und Aemter des Vaters.
Die Königin und ihre Partei beschlossen nunmehr, ernstlicher
zu Werke zu gehen und selbst den Weg der Gewalt zu versuchen.
In dieser Absicht befreundete der Infant sich immer mehr mit
dem Militair; äußerte oft, wie er, wenn er Regent wäre, dieLage der
Truppen verbessern würde; verhinderte, um Unzufriedenheit zu er-
regen, Beförderungen; verzögerte die Auszahlung des Soldes und
schrieb dies alles der Schwache des Königs zu. So verstrichen
zwei Monate, nicht ohne daß von dem, was im Werke war,
die eine oder die andere Anzeige hervorgetreten wäre. Der Kriegs-
minister, Graf von Subserra, wegen seines Liberalismus von
der Königin und ihrer Partei am meisten gehaßt, erhielt mehrere
anonyme Schreiben, worin ihm das Schicksal des Marquis von
— 177 —
Loulö angekündigt ward. Endlich am 30. April, als man Alles
weislich vorbereitet zu haben glaubte, mehrere Offiziere ins Ge-
heimniß gezogen waren, und nichts dem Gelingen dieses auf den
schwankenden Character der Nation und die Verkauflichkeit der
Armee berechneten Planes entgegenzustehen schien, unternahm Don
Miguel den entscheidenden Gewaltschritt. In aller Frühe begab
er sich in die verschiedenen Kasernen, wo er erklarte, eine Verschwö-
rung wider das Leben seines Vaters entdeckt und Meuchelmörder
in der Nahe des königlichen Palastes verhaftet zu haben; er be-
fahl darauf, Alarm zu schlagen, und ließ durch ein ihm ergebenes
Iagerbataillon den Palast, sowie alle inneren Gemacher desselben,
besetzen und Jedem, selbst der Dienerschaft, den Zutritt zum Könige
verweigern. Auf diese Weise ward die Ablicht, das Dazwischen-
treten des Königs zu verhindern, vollkommen erreicht. Hierauf
sollten in aller Stille die Minister des Kriegs und der auswart:'-
gen Angelegenheiten (Marquis von Palmella) festgenommen
werden; der Marquis ward auch auf dem Heimwege von einem
Balle, dem er im Hotel des englischen Gesandten beigewohnt, ver-
haftet; der Graf Subserra aber hatte sich, noch zeitig genug ge-
warnt, unbemerkt in der Equipage des französischen Gesandten nach
dessen Hotel begeben. Bei Anbruch des Tages versammelten sich
auf Befehl des Infanten sammtliche in der Hauptstadt anwesen-
den Regimenter auf dem Roscio - Platze, wo der Prinz in einer
Proclamation die Truppen aufrief, sich mit ihm zur Vernichtung
derjenigen, welche seinen Vater noch immer umlagert hielten, und die
er unter dem Namen Freimaurer als Feinde der Religion und
des Staats bezeichnete, zu vereinigen. Die Proclamation sckloß
mit den Worten: „Soldaten! seyd meiner würdig, und euer Ober-
befehlshaber wird eurer würdig seyn. Es lebe der König! Es lebe
die römisch-katholische Religion! Es lebe die allergetreueste Köni-
gin! Es lebe das großmüthige portugiesische Heer! Es lebe die
Nation! Es sterben die verruchten Freimaurer!"
Befehle zu Verhaftungen wurden nun nach allen Seiten hin
gegeben, und eine Stunde darauf waren mehrere Generale, eine
große Anzahl von Offizieren und eine noch größere von Bürgern
verhaftet. Ein Generalintendant der Polizei vereinigte in sich alle
Gewalten. In aller Eile langte die Königin von Quelus an;
hierauf ward noch eine zweite Proclamation Don Miguels
an das Volk bekannt gemacht, und man drängte den Infanten,
N. G. IV. 12
. — 178 —
sich den Truppen zu zeigen, weil man hoffte, daß sein Erscheinen
dieselben"bewegen werde, ihn zum Könige auszurufen. ■— Wäh-
rend dies aus dem Roscio-Platze vorging, hatte sich das diplo-
malische Corps auf Einladung des französischen Gesandten, Hyde
de Neuville, versammelt, und über den Roscio hinschreitend,
verlangte es, den König zu sprechen. Als die Gesandten vor dem
Palaste angelangt waren, weigerten sich die Wachen, sie ohne
eine besondere Erlaubniß des Infanten eintreten zu lassen. Unter
diesen Umstanden wendete die Geistesgegenwart des französischen
Gesandten die beabsichtigte Frevelthat ab, indem er nemlich sagte:
„Europa erkennt nur den König für denjenigen an, der in Por-
Lugal zu befehlen habe," und durch diese wenigen Worte den In-
fanten so sehr schreckte, daß dieser dem Adjutanten, den der com-
mandirende Offizier an ihn abschickte, den Befehl ertheilte, das
diplomatische Corps durchzulassen. Dies geschah, wie behauptet
wird, in demselben Augenblicke, wo Johann V!. (den man bis
dahin, Morgens zehn Uhr, noch nicht einmal das Frühstück ge-
reicht hatte) abdanken wollte. Aufgerichtet durch die fremden Ge-
sandten, versicherte der König, daß von dem, was vorgehe, nichts
auf seinen Befehl geschehen sey, und er seinen Sohn erwarte,
um Ausschluß darüber zu erhalten.
Der Infant sah sich durch das Dazwischentreten des diplo-
matischen Corps in eine peinliche Lage versetzt. Auf allen Gesich-
fern feiner Freunde stand die angstliche Frage, was nun zu thun
sei. Dieser Verlegenheit wurden sie durch den Lord Beressord
— der sich damals, angeblich in Privatangelegenheiten, zu Lissabon
befand —' entrissen, indem er dem Infanten den Befehl überbrachte,
sogleich vor dem Könige zu erscheinen. Diesem Befehle mußte
gehorcht werden. Die Truppen wurden demnach in ihre Käfer-
nen zurückgeschickt, und Don Miguel erschien beim Könige. Er
küßte, nachdem er ein Knie gebeugt hatte, die Hand seines Va-
ters und erklarte hierauf den Gesandten, daß eine Verschwörung
gegen das Leben des Monarchen entdeckt worden sei, und daß er
diese Maßregeln habe nehmen müssen, um die Plane der Uebel-
wollenden Zu vernichten. Der König jedoch überhauste ihn mit
Verweisen und Vorwürfen, in welche auch der englische und
französische Gesandte mit einstimmten. Das diplomatische Corps
verweilte bis gegen Mitternacht bei dem Könige; es bildete gleich-
sam die europäische Leibwache des Königthums. Im Allgemeinen
I
— 179 —
blieb jedoch die Sache, wie sie vorher war, und es gab in der
Stadt keine andere Autorität, als die des Infanten und seiner
Polizeiqgenten. Die Verhaftungen dauerten fort, und damit die
große Menge glauben möchte, daß sie im Namen des Königs
geschähe, erlaubte man Nachmittags Johann VI., sich begleitet
von seinen beiden Töchtern, Donna Jsabella und Donna Ma-
ria, in die Kirche der Mutter Gottes zu begeben. Auf dem Wege
dahin ward er mit einem Frohlocken begrüßt, das sehr verschie-
dene Beweggründe haben mochte. Am 3. Mai erschien ein könig-
liches Decret, worin gesagt ward, daß Se. Majestät den In-
fanten, auf dessen ehrerbietige Bitte, von dem Vorwurfe einer
willkürlich geübten Jurisdiction losspreche.
Unstreitig hatte der König geglaubt, durch ein solches Wer-
fahren die Fortschritte der Empörung aufzuhalten. Dies war je-
doch keineswegs der Fall, und die Milde gegen den Infanten, dem
selbst der Oberbefehl der Armee verblieben war, schien für diesen
nur eine Aufforderung zu neuem Frevel. Erneute Verfolgung der
AnHanger des Königs war die Folge« Angst und Schrecken herrsch-
ten allgemein in der Stadt. Die friedlichsten Menschen, Geistli-
che, Soldaten, Advocaten, Kaufleute, wurden ergriffen und in
die Gefangnisse abgeführt, die bald so angefüllt waren, daß man
sich entschließen mußte, die vornehmsten Gefangenen einzuschiffen,
um sie nach andern Orten zu versetzen. Einige derselben wur-
den sogar nach Quelus, dem Schlosse der Königin, gebracht,
wo man Harte aller Art an ihnen ausübte*). Der König selbst
war in dieser Zeit aller Gewalt beraubt, und die Dazwischenkunft
des diplomatischen Corps hatte nicht bewirkt, daß er aufgehört
hatte, ein Gefangener in seinem eigenen Palaste zu seyn. Zwei-
mal hatte der unglückliche Monarch vergeblich versucht, der Wach-
samkeit seiner Hüter zu entschlüpfen: als seine Freunde, um ihn
zu befreien, ihre Zuflucht zur List nahmen. Am 9. Mai ward
der Plan ausgeführt. Es war ein Sonntag. Unter dem Vor-
wände, daß der König die Messe auf seinem jenseit des Tajo ge-
*) Unter andern ward, auf des Infanten Befehl, der General -Polizeiinten-
dant, Baron von Renduf, dort in einen Hundestall gesperrt, und, wie
Einige behaupten, wurden oft Steine, Koth, ja, sogar tobte Thiere
durch das Dach auf ihn geworfen. Er hatte die Untersuchung über die
Ermordung des Marquis von Loulc geführt und sich geweigert, die
Acten dieses Prozesses dem Infanten auszuliefern.
22*
— 180 —
legenen Landhau.se hören wolle, schiffte er sich mit den Jnsantm-
nen und einigen .Hofleuten auf einer Barke ein, welche dein Her-
kommen gemäß von hundert und zwanzig Nuderknechten geführt
ward. Diese nun veränderten auf ein gegebenes Zeichen die Nich-
tung, gewannen baö Weite und steuerten sodann auf das engli-
sche Linienschiff Windsor-Castle zu, das nicht weit vom Ufer vor
Anker lag. Der englische und der französische Gesandte hat-
ten den König bei diesem Unternehmen mit ihrem Nathe unter-
stützt und Alles auf seine Ankunft vorbereitet. Sobald er die
Barke bestiegen hatte, hielten englische Schaluppen, deren Mann-
schaft bewaffnet war, sich bereit, jeden Angriff, welcher auf das
königliche Fahrzeug gemacht werden konnte, zurück zu fchla-
gen. Wohlbehalten langte dieses bei dem Windsor-Castle an;
schon um eilf Uhr Vormittags befand sich Johann VI. auf dem
Verdecke des Linienschiffes, und in demselben Augenblicke ward die
portugiesische Flagge an dem großen Mäste ausgesteckt, die Anwe-
senheit des Königs anzuzeigen. Bald fanden sich die Glieder des
diplomatischen Corps und die Minister ein. Nach kurzer Bera-
thung erließ der König vom Windsor- Castle ein Decret, durch
welches er den Infanten seines Oberbefehls über das Heer ent-
setzte, den Obrigkeiten und sammtlichen Unterthanen aber verbot,
noch langer den Befehlen des Infanten zu gehorchen, wofern
sie nicht als Nebellen betrachtet und behandelt werden wollten.
Der Infant seinerseits erhielt den Befehl, Angesichts des königli-
chen Deerets, ohne Zögerung und Entschuldigung, sich an Bord
des Schiffes, wo Sc. Majestät sich befände, zu begeben.
Am Hofe der Königin war Alles in Bestürzung. Zwar ver-
hielt das Volk sich ruhig, aber die Soldaten begannen den Ge-
horsam zu versagen. Die vornehmsten Anhänger des Infanten
ergriffen allmalig die Flucht. Was konnte dieser Besseres thun,
als sich an Bord des Windsor-Castle zu begeben? Er erschien da-
selbst, warf sich dem zürnenden Vater zu Füßen, bekannte sich
reuig und erhielt Verzeihung; doch mußte er sich auf Befehl des
Königs unmittelbar darauf in das Zimmer des ersten Lieutenants
begeben, wo ihm die Weisung zukam, daß er auf Reisen gehen
und seine Bildung vollenden sollte. — Gleich am folgenden
Tage erhielt der König am Bord des Schiffes von allen Obrig-
keiten und Regimentern der Hauptstadt Glückwünschungsschreiben
und Ergebenheitsversicherungen. Hunderte von Böten umgaben
— 181 —
vom frühen Morgen bis zum Abende das Fahrzeug; Menschen
aus allen Standen wollten theils den König, thcils Don Miguel
sehen. Die Rückkehr des Letzteren ward dabei auf das Dringendste
gefordert. Doch sey es nun, daß man der Stimmung des Mi-
litairs mißtraute, oder daß der König Zeuge von der Einschiffung
seines Sohnes seyn wollte: er blieb noch drei Tage auf dem
Windsor-Castle. Den 13. Mai schiffte sich der Infant, ohne sei-
nen Vater noch vorher zu sehen, am Bord der französischen Fre-
gatte la Perle ein und landete unter der Benennung eines Her-
zogs von Beja zunächst in Brest, von wo er nach Paris ging.
Beinah vier Jahre verlebte der Prinz im Auslande. Zuerst
verweilte er sechs Wochen in Paris, wo ihm zwar von Ludwig
XVIII. eine vaterliche Aufnahme ward, er sich aber doch nicht zu
gefallen schien. Da er indessen ohne Erlaubniß seinen Aufenthalt nicht
verandern durfte, so begab er sich, unter dem Vorwande einer klei-
nen Reise in die Provinzen, nach Straßburg und eilte von da
nach Wien, woselbst er bald unter die unmittelbare Obhut des
Kaisers gestellt ward. Hier machten kleine Reisen, wie auch eine
größere durch Ungarn, seine Unterhaltung aus; allenthalben, wo
er erschien, ward er zwar seinem Range gemäß empfangen, aber
entgehen konnte es ihm dabei nicht, wie wenig er in den höheren
Kreisen der gebildeten Welt, wo er sich verlegen und gedrückt
fühlte, an seinem Platze stand. Was früher Bitten und Borstel-
lungen nicht vermocht, das bewirkte nun die Scham: er kleidete
sich modern, nahm Unterricht in der Geschichte und in der fran-
zösischen Sprache, schickte seine ungebildeten portugiesischen Diener
in ihr Vaterland zurück und umgab sich mit Deutschen. •—
König Johann TL wollte nach jener Katastrophe die uralte
Verfassung des Reichs wieder herstellen und rief die alte Reichs-
Versammlung, Adel, Geistlichkeit und den dritten Stand, durch ein
Ausschreiben ein. Aber die Ausführung fand Schwierigkeiten in
den widersprechenden Ansichten derer, die den König umgaben.
Auch die Verhältnisse Brasiliens wirkten entgegen. Bald kamen
dort ahnliche Gahrungsstoffe, wie in Spanien und Portugal, zum
Ausbruche. Der Regent Don Pedro ward gezwungen, um die
Herrschaft zu behaupten, Brasilien für ein von Portugal unab-
hangiges Kaiserthum zu erklären, und die Krone desselben als con-
stitutioneller Kaiser und immerwahrender Beschützer des brasiliani-
schen Volkes zu übernehmen. Dies geschah am 19. December 1822.
— 182 —
Nad) langen Verhandlungen gab Johann V!. in einem unter
Englands Vermittlung am 29. August 1825 geschlossenen Ver-
trage diesem Schritte seine Zustimmung und behielt für seine Per-
svn von der Herrschaft über Brasilien nur den Titel.
Unter diesen Vorgangen nahete sich das Ende der wechselvol-
len Laufbahn König Johanns VI. Den 4. Marz 1826 stellten
sich Nervenanfalle ein, welche zugleich den Character des Schlag-
flusses und der fallenden Sucht hatten, und eben diese Anfalle
kehrten in den nächstfolgenden Tagen mit solcher Heftigkeit zurück,
daß die Aerzte an seinem Aufkommen verzweifelten. Er selbst ver-
langte die Sacramente zu empfangen und schloß vorlausig seine
Negierung mit einem Decrete, wodurch er die Zügel der Verwal-
tung in die Hände der Infantin Jsabella Maria, seiner jung-
sten Tochter, legte, ihr jedoch einen Staatsrath zur Seite bestellte.
Diese Einrichtung sollte im Falle seines Hinscheidens so lange fort-
dauern, bis der rechtmäßige Kronerbe seine Befehle in dieser
Hinsicht würde ausgesprochen haben. Dies Decret ward den 7.
Marz bekannt gemacht, damit die zahlreiche Partei der Königin
dadurch von dem Vorhaben möchte abgehalten werden, sich nach
dem Ableben des Königs der Gewalt zu bemächtigen. Mittler-
weile verschlimmerte sich der Zustand Johanns VI., und nachdem
am 9. Abends eine neue Krisis, weit heftiger noch, als die frühe-
ren, eingetreten war, starb der Monarch am folgenden Tage um vier
Uhr Nachmittags. — Das Gerücht beschuldigte die Königin, sie habe
den Monarchen durch seinen Leibchirurgus Aguiar vergiften las-
sen. *) Durch Specerei, 3000 Neichsthaler an Werth, suchte man
den Leichnam vor Faulniß zu bewahren, bis er am 12. Marz, unter
dem Kanonendonner des Forts und der Kriegsfahrzeuge, aus dem
Palaste nach dem Kloster St. Vizente de Fera, der gewöhnli-
chen Begräbnißstätte der Könige, versetzt ward. Nachdem er
*) Der Leibchirurgus starb nicht lange nachher, nach dem Genüsse eines
Glases Wasser, das er im Borzimmer der Königin getrunken, unter
heftigen Schmerzen innerhalb zwei Stunden. Der Verdacht, den dieser
plötzliche Tod erweckte, wurde dadurch noch vermehrt, daß der Körper
des Verstorbenen durchaus schwarz ward, daß den Verwandten die nachge-
suchte Erlaubnis zur Section, die in Portugal nicht ohne obrigkeitliche
Genehmigung geschehen darf, verweigert, und jedes Papier des Ver-
storkencn in Beschlag genommen wurde.
— 183 -
hier drei Tage hindurch, in der sogenannten Glühkammer, den
Blicken des Volks ausgestellt geblieben war, versenkte man ihn
in die Gruft, über welcher man, dem Herkommen gemäß, sein
Wappen zerbrach. Die Gerichtshöfe und Verwaltungsbehörden
wurden auf acht Tage geschlossen, und einem Befehle des Staats-
raths zufolge sollte das ganze Land ein Jahr hindurch trauern.
Sechs Tage nach dem Tode des Königs fertigte die Prinzeß-
Regentin eine Deputation nach Rio Janeiro ab, welche die
Nachricht von Johanns VI. Tode überbringen und die Befehle des
neuen Souverains in Empfang nehmen sollte; sie war mit der Auf-
forderung versehen, daß derselbe einen schnellen Entschluß fassen
und feine. Wahl zwischen Portugal und Brasilien treffen möchte,
da weder Don Pedro, nach den Gesetzen Brasiliens, König von
Portugal, noch nach den Gesetzen Portugals Kaiser von Brasilien
sein konnte. Die fortwahrenden Intriguen der königlichen Wittwe
aber, mit der Wendung, welche die Dinge durch das letzte De-
cret des Königs genommen hatten, höchst unzufrieden, veran-
laßten die Regentschaft, den Thronerben, ohne die Botschaft desselben
abzuwarten, zum König von Portugal und Algarbien ausrufen zu
lassen. — Inzwischen langte die Nachricht von Johanns VI.
Tode in Rio Janeiro an. Don Pedro bestätigte die von seinem
Vater eingesetzte Regentschaft und übersendete derselben eine schon
vorher entworfene constitutionelle Charte, welche sie von den drei
Standen des Reichs sollte beschwören lassen. Dann stellte er am
2. Mai eine Acte aus, durch welche er der Krone von Portugal
zu Gunsten seiner ältesten Tochter, Maria da Gloria (geboren
am 4. April 1816), entsagte, mit der Bestimmung, daß diese Kö-
nigin bei erlangter Volljährigkeit mit ihrem Oheime, Don Mi-
guel, sich vermählen solle. Die Charte ward Ende Juli im
ganzen Umfange des Reichs ohne alle Störung beschworen; in der
Hauptstadt ward ein Tedeum angestimmt, und man überließ sich
drei Tage hindurch öffentlichen Ergötzlichkeiten, bei welchen es er-
laubt war, die Trauer über den Hintritt Johanns VI. auszusetzen.
Jetzt, ehe noch die neue Verfassung tiefere Wurzel fas-
sen möchte, glaubte die Königin Mutter und ihre Anhänger
zum Umstürze derselben handeln zu müssen. Sie machten einen
Entwurf, nach welchem die Gensdarmerie von Lissabon sich in der
Nacht vom 20. auf den 21. August mit einer gewissen Anzahl
gewonnener Soldaten vereinigen sollte, mit unmittelbar darauf
— 184 —
nach dem Palaste Ajuda zu marschiren, die Prinzeß - Regentin
und ihre Minister zu verhaften und sodann den Infanten Don
Miguel zum unumschränkten Beherrscher von Portugal auszurufen.
Dieser Plan ward indeß noch zu rechter Zeit verrathen und da-
durch vereitelt, daß man in derselben Nacht die Polizeisoldaten in
ihren Kasernen entwaffnete und die Offiziere gefangen setzte. Doch
in eben diesem Augenblicke verbreitete sich die Nachricht, daß an
den beiden Enden des Königreichs Empörungen zum Ausbruche
gekommen waren. Feile Anführer hatten einige im Norden und
Süden stationirte Regimenter zum Aufstande gegen die Regierung
verleitet. Der Marquis von Chaves, der schon gegen die Cor-
tes vom Jahre 1823 aufgestanden war, stand im Norden an der
Spitze der Insurrection, und der Brigadegeneral Magessi im
Süden. Sie riefen den Infanten Don Miguel zum absoluten
König unter der Regentschaft seiner Mutter aus und errichteten
eine vorläufige Regierung im Namen desselben. Der König von
Spanien, der nur mit Widerwillen der Charte gedachte, unter-
stützte die Sache. Doch ward die Empörung durch die treuge-
bliebenen Truppen bald unterdrückt, und die Aufrührer entwichen
sammt den verführten Regimentern nach Spanien, wo sie Schutz
und Beistand fanden. Von der apostolischen Junta Spaniens
mit Lebensmitteln, Waffen, Schießbedarf, ja, sogar mit schwerem
Geschütze versehen, standen die entwichenen Rebellen nicht an, nach
Portugal zurückzugehen, wo sie sich Lissabons bemächtigen und
dort Don Miguel zum König ausrufen wollten. Unter diesen
Umstanden, indem auch Spanien selbst immer mehr Portugal be-
drohte, die Insurgenten aber schon zu Lameg o und anderen Orten
eine Regentschaft im Namen des Königs Don Miguel errichtet
hatten und im Begriff standen, sich von mehreren Seiten zugleich
der Hauptstadt zu nahern, erhielt die Regierung die erfreuliche
Nachricht, daß England auf Antrieb des freisinnigen Canning,
der die Aufrechthaltung der Charte wünschte, entschlossen sei, die
Jnfantin-Regentin mit einer Armee von 10,000 Mann zu unter-
stützen, welche bereits eingeschifft werde. Durch die bald darauf
erfolgte Ankunft der englischen Truppen ward Spanien zwar die
Offensive gegen Portugal zu ergreifen verhindert; allein es fuhr
dennoch fort, den portugiesischen Insurgenten Sold, Munition und
Lebensmittel zu reichen und ihre Unternehmungen auf alle Weise
zu unterstützen. Die Regentschaft aber benahm sich schwach und
— 185 —
schwankend; in den Kammern herrschten Uneinigkeiten und Jntri-
guen, wobei es der Regentin sowohl an Einsicht, wie an Kraft
fehlte, die widerstrebenden Elemente auszugleichen, oder zu über-
wältigen. — Canning war unterdessen gestorben, und mit ihm
das liberale Ministerium, welches Spanien noch auf diplomatischen
Wegen veranlaßt hatte, seine Truppen von den Grenzen Portugals
zurückzuziehen, verschwunden. Der Chef der in Portugal stehen-
den englischen Truppen hatte von Canning, der das Land damals
nur von Außen bedroht sah, den Befehl erhalten, in die inneren
Angelegenheiten sich nicht einzumischen, und da das Wellington-
sche Ministerium die Instruction des verstorbenen den Worten,
und nicht dem Sinne nach, beibehielt, so verlor dadurch die Ver-
fassung ihre Stütze. •—
So standen die Angelegenheiten Portugals, als Don Pedro
am 3. Juli 1827, die streitenden Parteien zu versöhnen, seinen
Bruder Don Miguel zum Regenten des Reichs ernannte, mit den
in der Verfassung für dieses Amt festgesetzten Rechten und mit
der Anweisung, das Königreich bis zu der Volljährigkeit der Kö-
nigin Maria I!. nach der von ihm gegebenen Charte zu regieren.
Don Miguel hatte zu Wien die Charte beschworen und darauf
bei dem Papste die Dispensation zu der Heirath mit seiner Nichte
nachgesucht und erhalten; woraus sich schließen läßt, daß der Prinz
mit den Verfügungen seines Bruders einverstanden war. Am 6.
December 1827 verließ er Wien, um sich über England nach
Portugal zu begeben. Wahrscheinlich ward er in London, durch
die Einflüsterungen des Lord Beresford — dieses geheimen Agenten
der Königin-Mutter, der auch den Herzog von Wellington für
die Plane derselben zu gewinnen wußte, —zuerst in seinen Ent-
fchlüssen schwankend gemacht. Indes; sahen die Portugiesen seiner
Ankunft in allgemeiner Spannung entgegen. War dieselbe ein Ge-
genstand der Unruhe und Befürchtung für die Constitutionellen,
so war sie ein Gegenstand des Wunsches und der Hoffnung für
die Gegner derselben. Da die Masse des Volks sehr gleichgültig
gegen die neue Verfassung gestimmt war, so konnten Jene aller-
dings fürchten, daß der Infant, trotz dem der Constitution gelei-
steten Eide, sich für die Gegenpartei erklaren werde.
Am 6. Februar 1828 hatte sich der Prinz, nach einem sechs-
wöchentlichen Aufenthalte in England, zu Plymouth nach Lissa-
bon eingeschifft. Durch widrige Winde aufgehalten, landete er erst
— 186 —
den 22. Februar auf der Rhede von Lissabon. Sobald das Ge-
schütz des Forts seine Ankunft kund gethan hatte, versammelten
sich die Einwohner, und der Prinz ward jubelnd von allen Par-
teien empfangen. Am folgenden Tage begab er sich nebst zwei
Infantinnen in die Kathedrale, wo wegen seiner glücklichen Ankunft
ein Tedeum gesungen ward, nach dessen Beendigung das Volk
den Prinzen auf's Neue bewillkommte; wobei auch einige Stimmen
den Ruf ertönen ließen: „Es lebe der König, Don Miguel der
Erste!" Der Infant schien es zu überhören und eilte, in den
Wagen zu steigen, wollte aber der Prinzeß-Regentin den ersten
Platz einräumen, was diese jedoch verbat. So ging der Zug zurück
nach dem Palaste Ajuda, den die Königin-Mutter noch vor der
Ankunft ihres Sohnes bezogen hatte, um ihn stets unter ihren
Augen zu haben und diejenigen aus feiner Nahe zu entfernen,
welche sie ihren Absichten entgegen glaubte. — Der 26. Februar
war dazu bestimmt, daß Don Miguel öffentlich, in Gegenwart der
Mitglieder beider Kammern, die Regentschaft von der bisherigen
Negentin übernehmen und die Charte Don Pedro's beschwören
sollte. Zu dieser Feierlichkeit war einer der größten Säle des Palastes
Ajuda ausgeschmückt worden. Der Infant und die Regentin saßen
unter einem prachtvollen Thronhimmel; der Connetable und die
Pairs des Reichs nahmen die Plätze der rechten, die Mitglie-
der der zweiten Kammer die der linken Seite ein; hinter den
Pairs standen die Damen des hohen Adels; hinter den Mitglie-
dern der zweiten Kammer die Gesandten und viele englische Offi-
ziere; unten im Saale, dem Throne gegenüber, Fremde und Ein-
heimische von hohem Range. Einen nermeßlicheVolksmenge belagerte
den Palast, und der constitutionelle Hymnus ward angestimmt von
den zahlreichen Liberalen, die ihre Hoffnungen an diese Ceremonie
knüpften. Die Sitzung war von kurzer Dauer. Die Regentin
eröffnete sie mit einer Rede, worauf der Infant sich erhob und,
ohne irgend eine Erklärung von sich gegeben zu haben, seinen Eid,
in der durch die Charte vorgeschriebenen Formel, auf eine von dem
Cardinal-Patriarchen von Lissabon ihm dargereichte Bibel ablegte;
sobald diese feierliche Handlung dem Volke durch drei Artilleriefal-
ven angekündigt war, ward die Sitzung ohne Weiteres geschlossen.
Doch die Handlung selbst war geschehen, und die Freude
darüber allgemein. Man erwartete mit Zuversicht, daß der gelei-
stete Eid die Constitution aufrecht erhalten werde. Jeden Abend
— 187 —
strömte das Volk zum Palaste hin, dem Infanten seine Huldi-
gungen darzubringen; aber unter diesen hörte man auch schon wie-
der Manche ihn als König begrüßen. Ismner mehr schwand bald
die Tauschung; bis am Abende des ersten Marz sich deutlich die
Vorboten einer nahen Umwälzung zeigten. Zwischen sieben
und acht Uhr bildeten sich in den Hallen des Palastes beträchtliche
Schaaren von allerlei losem Gesindel, und ihr „Hoch Übt Don
Miguel der Erste, unser absoluter König! Tod der Charte und
Don Pedro!" erschallte bis in die inneren Gemacher, ohne daß die-
sem Unsuge auf irgend eine Weift gesteuert ward. Die Grafen
Willaflor und Cunha, welche herbeieilten, den tollen Lärm
zu stillen, sahen sich genöthigt, in das Geschrei einzustimmen, woll-
ten sie anders einem tragischen Ende entgehen. Der General
Caula, welcher Ruhe stiften wollte, ward beschimpft, gestoßen,
verwundet und zuletzt mit Mühe durch eine Patrouille gerettet.
Nicht viel besser erging es dem Fürsten Schwarzenberg, Oester-
reichs Minister. Selbst der Cardinal-Patriarch sden die Königin
haßte, weil er sich geweigert, die Infantin Donna Anna mit dem
Marquis von 2oute zu trauenward aus seinem Wagen ge-
rissen, sein rother Hut in den Schlamm getreten, und aufgefordert,
*) Der Marquis von Loulc, der Sohn des ermordeten Kammerherrn,
hatte die Gunst dieser Prinzessin zu gewinnen gewußt. Die Königin-
Mutter hatte, auf das ihr gemachte Geständniß, der Tochter ihren Fehl-
tritt verziehen und ihre Einwilligung zu einer ehelichen Verbindung
mit dem Marquis gegeben. Bei der bevorstehenden Zurückkunst Don
Miguels aber gaben umsichtige Freunde dem Neuvermählten zu bedenken,
daß die Gesetze des Königreichs auf einen Fall, wie der scinigc, die
Strafe des Galgens setzten, und riethen ihm, sich nicht auf die Groß-
muth des Infanten zu verlassen. Zwar hatte die Königin den beiden
Ehegatten ihren Schutz versprochen, auch ihr Kind zu sich nach Quelus holen
lassen; als aber- deshalb ein mißbilligendes Schreiben Don Miguels ein-
lief, schickte sie den Unglücklichen ihr Kind zurück, mit der «Erklärung,
sie wolle sich ferner nicht in die Sache mischen, und es sei nicht ihre
Schuld, wenn Loule am Galgen ende. Nun trafen die Bedrängten ei-
ligst Anstalten zur Flucht, und da sie die bedeutende Summe von 600
Pfund Sterling für Ueberfahrt auf einem großen Kauffahrer nicht zu
bestreiten vermochten, ward ein kleines Fahrzeug für 180 Pfund gemiethet,
auf welchem die Prinzessin mit ihrem Gemahle, ihrem Kinde, dessen
Amme und zehn Domestiken die gefährliche Fahrt nach Gibraltar unter-
nahm, von wo sie nach England, in verhältnißmäßig dürftigen Umstän-
den , entflohen.
ff
I
— 188 —
in das Geschrei des Pöbels einzustimmen, rettete er seine Würde
!nur dadurch, daß er rechts und links seinen Segen spendete. Ver-
gcblich bat der iin Palaste commandirende Offizier den Prinzen
um den Befehl, die Ruhestörer zu zerstreuen; er erhielt eine aus-
weichende Antwort. Am folgenden Tage brachten mehrere Mit-
glieder der Kammer die ihnen widerfahrene Beleidigung zur
Sprache, und es ward Aufklarung und Genugthuung vom Mini-
sterium verlangt; doch ein die Kammern auflösendes Decret er-
folgte statt der Antwort. Der Tumult dauerte indessen fort. Be-
zahltes Gesindel trieb sich auf den Straßen umher und beleidigte
die angesehensten Personen. Die Kinder in den Waisenhausern
lehrte man Lieder, deren Inhalt die Ankunft des unumschränkten
Königs Don Miguel war, und schickte sie mit Trommeln, Pfei-
fen , Fahnen und hölzernen Flinten aus die Straßen, wo sie diese
Lieder absangen und die Vorübergehenden um Geld ansprachen;
wer nichts gab, ward mißhandelt, und wer sich dem widersetzte,
von den Polizeisoldaten auf die Wache geführt. Am übelsten er-
ging es hierbei den Liberalen, welche dieses Sängerchor, dem ihre
Häuser besonders bezeichnet wurden, Heuer bezahlen mußten, wenn
sie nicht am hellen Tage ihre Fenster wollten einschlagen lassen.
Den Frauenzimmern wurden Bander und Tücher von hellblauer
(constitutioneller) Farbe auf den Straßen abgerissen. Auch die
Klöster der Hauptstadt unterließen nicht, ihre Wünsche für den
Infanten kund zu geben. Vor allen zeichnete sich ein Benedict!-
ner-Kloster aus. Dieses errichtete einen Triumphbogen zur Feier
der Auflösung der Kammern, welcher drei Nachte hindurch erleuch-
tet ward. Ein zahlreiches Chor Musiker gab hier Conzerte, wel-
chen der Pöbel beiwohnte, der dabei ununterbrochen den Ruf ertö-
nen ließ: „Es lebe der absolute König! Nieder mit der Constitu-
tion! Es sterben die Freimaurer!" Am Abende des 17. Marz
endlich wurden die vornehmsten Personen der constitutionellen Par-
tei im Ailde verbrannt, und hierauf ein Glicdermann, der die
Constitution vorstellte, feierlich bei Santa Anna beerdigt.
Don Miguel hatte bei Vorfällen dieser Art seine Gesinnung
ziemlich unumwunden an den Tag gelegt; am meisten aber offen-
barte sie sich bei folgender Gelegenheit. Die Universität von Co im-
bra hatte eine Deputation von vier Professoren nach Lissabon ab-
gesendet, den Infanten zu bewillkommnen und ihn zur Annahme
der Krone aufzufordern. Dies nun war wider den Willen der liberal
I
— 189 —
gesinnten Studenten geschehen, Um die Ankunft der Deputation in
Lissabon zu verhindern, hatten dreizehn von ihnen, gut verkleidet
und verlarvt, sich auf den Weg gemacht, fest entschlossen, selbst
das Aeußerste zu thun, um zu ihrem Zwecke zu gelangen. Die
Deputirten hatten mit Tagesanbruch in zwei Wagen die Stadt
verlassen, und nur erst wenige Stunden waren sie von der Hei-
math entfernt, als sie plötzlich an einem einsamen Orte von den
Meuchelmördern sich überfallen sahen. Die Kutscher wurden so-
fort von den Pferden gerissen und gebunden, die Professoren selbst
aber von der Straße ab in ein Gebüsch geführt, wo der Angriff
ohne Zeitverlust geschah. Zwei von ihnen wären bereits unter den
Dolchen der Mörder gefallen, als der dritte, der Professor des
botanischen Gartens zu Coimbra, einige Zögerung veranlaßt;
er hatte in einem der Verkleideten trotz der Maske einen seinem
Hause befreundeten Studenten erkannt, sich an ihn mit der
Bitte um sein Leben gewendet und ihn dabei an seine zahlreiche
Familie erinnert. Die Bitte würde wahrscheinlich fruchtlos ge-
blieben sein; doch in diesem Augenblicke vernahm man von der
Straße her Geräusch und laute Stimmen, und die Mörder entflohen.
Der Zufall hatte gerade im entscheidenden Augenblicke den Gou-
verneur von Oporto mit seinem zahlreichen Gefolge in diese Ge-
gend geführt; die gebundenen Kutscher riefen um Hülfe, ihre
Wächter entflohen, und die beiden noch lebenden Professoren wur-
den gerettet. Man setzte den Mördern nach, und schon in einigen
Stunden waren mehrere derselben erhascht, welche mit den spater
ergriffenen (nur vier von ihnen entkamen) nach Lissabon geführt
und dort zum Strange verurtheilt wurden. In Portugal waren
sonst Todesstrafen höchst selten; selbst überwiesene Mörder wurden
oft begnadigt und höchstens nach Afrika verwiesen, ja, auch wohl durch
Fürsprache oder Geldopfer von jeder weiteren Strafe dispensirt;
doch jetzt follte die äußerste Strenge walten. Mehrere der Stu-
denten waren Söhne reicher und angesehener Eltern, welche Alles
aufboten, die Unglücklichen zu retten. Mit großen Summen hatten
sie die Verzeihung der nächsten Verwandten der Ermordeten er-
kauft, und in solchen: Falle war bisher nie die Strafe des Todes
erkannt oder vollzogen worden; jetzt aber war Alles fruchtlos; die
Missethater mußten sterben. War zwar die That, für welche sie
büßen sollten, schauderhaft, so waren doch nicht alle gleich schuldig;
Keiner gestand das Verbrechen ein, und Keiner ward überwiesen;
— 190
vielmehr behaupteten sie einstimmig, die Entkommenen wären die
allein Schuldigen. Einer der Verurtheilten, ein Jüngling von
achtzehn Jahren, erklarte kurz vor seinem Tode, noch ungetaust zu
sein; die Angabe ward nicht weiter untersucht, jedoch befohlen, die
versäumte Taufe nachzuholen. Zu derselben Zeit, als die Studen-
ten auf dem NichtPlatze starben, ward ein Mensch, welcher den als
treuen Anhänger Don Pedro's bekannten Grafen Ficalho in
Lissabon auf offener Straße angefallen und ermordet hatte, von
Don Miguel begnadigt.
Zu Anfange Aprils schifften sich die brittifchen Truppen nach
England ein, so daß von dieser Seite für den Infanten und seine
Partei nichts mehr zu fürchten war, und bald schien Alles zu dem gro-
sien Schlage, der geschehen sollte, vorbereitet. Als Don Miguel
am 24. April vor den Kasernen vorüberfnhr, ward er als Don
Miguel L und als unumschränkter König begrüßt. Dies
war das Vorspiel von den Auftritten des folgenden Tages, an
welchem das Geburtsfest der Königin - Mutter gefeiert ward.
Kanonenschüsse hatten am frühen Morgen das Fest angekündigt,
als zwischen acht und neun Uhr Vormittags der Commandant der
Polizeiwache, begleitet von einem Truppe Reiter, vor dem Rath-
Hause erschien, sein Haupt entblößte, seine Bedeckung den Säbel
ziehen ließ und hierauf ausrief: „Es lebe Don Miguel der Erste,
unumschränkter König von Portugal! Es lebe die Kaiserin, seine
Mutter!" In demselben Augenblicke ließ der Senat die Ratio-
nalfahne aus einem Fenster des Rathhauses aufstecken und procla-
mirte vom Baleon aus „den König Don Miguel I." Die ver-
sammelte Menge stimmte um so. freudiger ein, weil Militairmusik
sie in eine frohe Stimmung versetzte. Im Rathhause selbst
ward von dem Senate ein Gesuch an Don Miguel um Annahme
der königlichen Würde entworfen. Zur Unterzeichnung eingeladen,
strömten Personen aus allen Standen herbei, vorzüglich jedoch die
niederen Volksklassen. Die Liste ward dem Infanten noch an
demselben Tage übergeben. Jedoch die Scheu vor den Ministern
der auswärtigen Höfe, welche sämmtlich erkart hatten, daß sie ihre
Sendung als beendigt betrachten würden, sobald der Infant den
Königstitel annähme, verhinderte, daß dieser sofort eine bestimmte
Antwort auf die Bittschrift gab.
Am 3. Mai befahl Don Miguel, anstatt die neuen Cortes
zu berufen, durch ein Deeret den drei alten Ständen^ der Na-
— 191 —
tion, sich den alten Grundgesetzen der Monarchie gemäß zu ver-
sammeln. Diese Abgeordneten, aus einer Anzahl ihm ergebener
Manner bestehend, wurden nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt,
am 23. Juni, in dem großen Saale des Palastes Ajuda verei-
nigt, und ihnen hier die Beweggründe ihrer Zusammenbcrufung
auseinandergesetzt. Der Darstellung des Redners zufolge, hatte
der Prinz-Regent nur den Gesetzen die Autorität verdanken wollen,
welche der Wunsch des Volks ihm gleich nach seiner Zurückkunst habe
aufdringen wollen. Die Rechtmäßigkeit der Ansprüche des Prin-
zen zu beweisen, ward der Versammlung erklart, wie Don Pedro
als Kaiser Brasiliens für Portugal ein fremder Fürst geworden
und nach dem Reichsgrundgefetze, welches Fremde von der Regie-
rung ausschließt, sein Recht auf die Krone verloren habe; und daß
er in Folge dessen auch nicht die Befugniß gehabt, seine Thron-
rechte auf seine Tochter zu übertragen. Aus diesen Gründen sei
es also klar, daß Don Mignel, als zweiter Sohn König Johanns
VI. der rechtmäßige Thronerbe und Nachfolger seines Vaters sei.
Eine allgemeine Beistimmung erfolgte darauf, und von allen drei
Standen ward dem Regenten Don Miguel die Krone ohne Be-
dingung und Rückhalt zugesprochen. Der Saal erschallte hierauf
von Beifallsgeschrei, und eine rauschende Musik von Blasinstru-
menten gab dem draußen versammelten Volke das Signal zum wil-
testen Freudengejcmchze.
Am 30. Juni unterzeichnete der neue souveraine Monarch das
Decret, worin er die Erklärung und die Bitte der Stande wegen
Annahme der Krone genehmigte. Darauf nannte er sich König
von Portugal und Algarbien, und alle von Don Pedro herrüh-
rende Urkunden wurden annullirt. Drei Tage lang tönten zur
Feier dieses Ereignisses Kanonensalven von den Forts, und die
Hauptstadt ward drei Abende erleuchtet. Was allein die Festlich-
keiten störte, war, daß die Gesandten der auswärtigen Höft gegen
das Geschehene protestirten, die Wappen ihrer Monarchen abneh-
men ließen, Passe verlangten und abreisten; mit Ausnahme des papst-
lichen und des spanischen Gesandten—der erstcre unter dem Vor-
wände des Wortheils der Religion, der zweite, weil in der Ver-
nichtung der Charte gerade das geschehen war, was seine Regie-
rung gewünscht hatte.
Der erste Act des unumschränkten Herrschers war ein Amne-
stiedecret für alle seit seiner Ankunft auf. portugiesischem Boden
— 192 —
begangenen politischen Verbrechen; allein es schloß dasselbe so viele
Ausnahmen in sich, daß dieser Act der Gnade alle Bedeutung und
Kraft verlor. Waren die meisten Verhaftungen bisher nach dem
Gutdünken des Pöbels erfolgt, so hörte dies zwar auf; doch in
die Sache selbst war dadurch kein Stillstand gebracht, und die Ge-
fangnisse füllten sich je mehr und mehr mit Personen, die man
für heimliche AnHanger der Charte hielt. Noch vor Ablauf des
Juli befanden sich über 15,000 Individuen theils auf der Flucht,
theils im Kerker. Unter den Letzteren waren auch der vormalige
Minister der Negentin, Barrados, ein siebenzigjahriger Greis,
sowie der Graf Subserra nebst seiner Gemahlin, ja, sogar
des verewigten Königs Johann VI. Tante, die vierundachtzigjah-
rige Prinzessin Maria Benedicta. — Inzwischen suchten die
AnHanger der Verfassung eine Gegenrevolution in Oporto zu bil-
den. England aber, auf dessen Hülfe sie rechneten, ließ sie fallen,
indem es die Handlungen Don Miguels, als des factischen Ge-
walthabers von Portugal, für rechtmäßig erklärte, obwohl es ihn
selbst nicht als König anerkannte. So ward der Aufstand, der
Hauptsache nach, bald unterdrückt, und das Nacheschwert, Kerker
und Blutgericht mußten ein Uebriges thun, die wankende Herr-
schaff zu befestigen. Nur auf der azonschen Insel Terceira
war Besatzung' und Einwohnerschaft der Sache Don Pedro's
und seiner Tochter, unter Leitung des Generals Cabraira, treu
geblieben und hatte die Anerkennung des neuen Königs standhaft
verweigert.
Auf die erste Kunde von den Vorgangen in Portugal glaubte
Don Pedro die ehrgeizigen Entwürfe seines Bruders dadurch nie-
derzuschlagen, daß er seine zur Königin erklarte Tochter Maria da
Gloria nach Europa sendete. Die junge Fürstin trat ihre Reise
am 9. Juli 1828 an. Sie stand unter dem Schutze des Marquis
von Barbacena, der vorzüglich Don Pedro's Vertrauen besaß,
und des Grafen da Ponto; ihr Gefolge war so zahlreich, daß
zwei Fregatten zur Fortschaffung erforderlich waren. Das kleine
Geschwader befand sich in offener See, als Don Pedro die Nach-
rieht von der Auflösung der Deputirtenkammer, von der Einberu-
sung der alten Stande und den offenen Absichten seines Bru-
ders erhielt. Da er diesem nun keinen wirksamen Widerstand lei-
sten konnte, so begnügte er sich damit, eine Proclamation an die
Portugiesen zu richten, worin er nicht sowohl die Sprache eines
— 193 —
Königs, als die eines Vaters und Vormundes der rechtmäßigen Koni-
gin redete und die Portugiesen an die Eide erinnerte, die sie der eonsti-
tutionellen Charte geleistet hatten. Gleich bei der Ankunft der Donna
Maria da Gloria auf europäischem Boden ward diese vom 26.
Juli 1828 datirte Proelamation bekannt gemacht. Die kleine
Flotte war nach einer neunundfunfzigtagigen Fahrt auf der Rhede
von Gibraltar angelangt. Der ursprünglichen Bestimmung zu-
,folge, sollte die junge Konigin von Genua oder Livorno aus nach
Wien gehen, um ihre Erziehung am Hofe ihres Großvaters ■—
ihre Mutter, Leopoldine, war eine österreichische Erzherzogin —
zu vollenden; die Geleiter aber faßten nach langen Berathungen
den Entschluß, die junge Fürstin nach London zu führen und sich
dort um Hülfe gegen den Rauber ihrer Krone zu bewerben. Wah-
rend also die eine Fregatte nach Brasilien zurückgesendet ward,
ging die, auf welcher sich die Prinzesssin befand, den 5. Septem-
ber nach England unter Segel. Hier langte sie den 25. desselben
Monats bei Falmouth an und ward bei ihrem Einlaufen in den
Hafen von dem Geschütze des Platzes und der Kriegsfahrzeuge
begrüßt. Da sie eine, wenn auch nur neunjährige, Königin an
Bord führte, so fehlte es nicht an Bewillkommnungen aller Art.
Außer vielen vornehmen geflüchteten Portugiesen, begab sich die
Obrigkeit des Ortes zur Begrüßung der jungen Königin an Bord
der Fregatte, und schon am folgenden £age erschienen zwei Abge-
ordnete Georgs IV., den hohen Gast nach London zu führen.
Hier angekommen, ward sie von Lord Wellington, der die por-
tugiesifche Marschallsuniform trug, bewillkommt, und die kleine
Königin wußte in wohl auswendiggelernten Phrasen recht artig
auf seinen Bewillkommnungsgruß zu antworten, auch, als
ein feierlicher Hoftag für die Portugiesen gehalten ward, sich ganz
anstandig in der Königsrolle zu benehmen. Die in London an-
sassigen Kaufleute überreichten ihr ein goldenes Scepter nebst einem
mit goldenen Buchstaben auf Pergament gedruckten Exemplare der
portugiesischen Constitution. Der Hof bewies ihr jede Aufmerk-
famkeit; von Georg IV. selbst ward sie am 22. December zu
Windsor feierlich als Königin empfangen. Gleichwohl nahm das
Ministerium ihren Botschafter, den Marquis von Palmella, ob-
gleich er sich als solcher durch ein Creditiv Don Pedro's legiti-
mirte, nicht an; und wiewohl das brittische Volk es nicht an
Huldigungen fehlen ließ, so war doch von einer Vertheidigung ihrer
N. G. iv. 13
— 194 -
Rechte nicht die Rede. Ja, als bald darauf der ihr ergebene Gene-
ral Saldanha eine Anzahl gleichgesinnter Portugiesen nach Ter-
ceira überschiffen wollte, wurden (am 16. Januar 1829) diese
Auswanderer von einem englischen Kriegsschiffe durch Kanonen-
schlisse am Landen gehindert und genöthigt, sich nach Frankreich
zu wenden.
In Portugal verursachte inzwischen bei Don Miguel und
seinen Anhängern die Aufnahme der jungen Kronprätendentin in
England große Bestürzung und ward zugleich die Quelle neuer Lei-
den; denn indem des Königs Argwohn dadurch neue Nahrung er-
hielt, fehlte es weder an Verhaftungen und Güterconsiscationen,
noch an Hinrichtungen. Die blutdürstigen Nachschlage seiner
Mutter erstickten alle Regungen eines milderen Gefühls in dem
Herzen des Usurpators. „Um Deinen Thron zu befestigen -—
sprach sie — bedarf es nichts, als die Köpfe der Unzufriedenen ab-
schlagen zu lassen. Die Cabinette Europa's werden freilich viel
unnützes Papier verschreiben, aber sich wohl hüten, Truppen nach
Portugal zu schicken. Verlaß Dich darauf; ich kenne sie!" Die
Folge bewies auch, daß man von dieser Seite nichts zu fürchten
hatte. *) — Mitten unter diesen verhängnisvollen Auftritten kam
es nahe daran, daß durch Don Miguels eigene Unbedachtsamkeit
sich die Lage der Dinge plötzlich verändert hatte. Dieser fuhr
nämlich am 9. November mit seinen beiden Schwestern in einem
leichten, mit vier weißen Maulthieren bespannten Wagen, auf des-
sen Bock er sich festgeschnallt hatte, nach dem Lustschlosse Capias.
Zu rasender Eile von dem königlichen Kutscher angetrieben, wa-
ren die Maulthiere bereits zum Flüchtigwerden geneigt, als ein
Trupp Landleute durch Freudengeschrei und Schwenken der Tü-
cher sie vollends scheu machte. Nun gingen sie durch. Vergeblich
versuchte der königliche Kutscher, sie zu bändigen; je mehr er sich
dabei anstrengte, desto schneller brachte er es dahin, daß der Wa-
gen, an einen Posten geschleudert, umschlug, und das leichte Fuhr-
werk zerbrach. Die Infantinnen stürzten hinaus, und der ange-
schnallte Wagenlenker ward noch eine Weile fortgeschleift, bis das
*) In öffentlichen Blattern ward sogar behauptet, Donna Carlotta habe
durch Aufopferung eines beträchtlichen Theiles ihrer herrlichen Juwelen
die Gewißheit erkaust, daß kein Gewaltschritt gegen ihres Sohnes Thron-
ursurpation geschehen solle.
— 195 —
ganze Machwerk auseinander gerissen war. Die beiden Damen,
obwohl bedeutend verletzt, konnten sich wieder von dem Bo-
den erheben; Don Miguel aber vermochte es nicht; denn er hatte
den rechten Oberschenkel gebrochen, und zwei Nippen auf derselben
Seite waren eingedrückt. Da er in diesem Zustande nicht nach
der Hauptstadt konnte zurückgeführt werden, so brachte man ihn
nach dem Schlosse Quelus. Ob nun gleich der Beinbruch nicht
gefahrlich war, so stellte sich doch gleich nach dem ersten Verbände
ein so heftiges Fieber ein, daß man mehrere Tage hindurch an
der Genesung des Kranken zweifelte. Nun kamen alle Parteien
in Bewegung. Es fehlte dabei nicht an Personen, die, weil sie
es wünschten, ihn gestorben glaubten. Diese Nachricht verbreitete
sich bald ins Ausland. Man hielt ihn allgemein für tobt, als die
Nachricht anlangte, daß seine Genesung am 28. December in allen
Kirchen Lissabon's gefeiert werde; und wirklich erhob sich Don
Miguel am folgenden Tage von seinem Krankenlager.
Donna Maria da Gloria verweilte in London bis im Som-
mer des nächsten Jahres, wo sie England verließ, um nach Rio
Janeiro zu ihrem Vater zurückzukehren. In eine Unternehmung
gegen Portugal von Seiten der Geflüchteten wollte der Herzog
von Wellington nicht einwilligen. Doch gelang es im Juni
1829 einem Anhänger DonPedro's, dem Grafen von Villaflor,
mit einigen zwanzig ' Offizieren in Terceira zu landen und sich
dort als Generalcapitain die oberste Regierungsgewalt übertragen
zu lassen. Don Miguel sendete zwar eine Flotte zur Eroberung
der widerspenstigen Insel aus; der Angriff ward aber mit großem
Verluste abgeschlagen, und Terceira blieb die Zufluchtstatte und
der Sammelplatz der Gegner Don Miguels. Im folgenden Jahre
erließ daselbst die von Don Pedro für seine Tochter anerkannte
Regentschaft einen Aufruf an alle Portugiesen, für ihre rechtmäßige
Königin die Waffen zu ergreifen. Den Erfolg desselben werden
wir in einer späteren Zeit sehen, wenn wir zuvor die darauf ein-
wirkenden Verhältnisse werden kennen gelernt haben.
13*
— 196
Uebersicht
der Geschichte Frankreichs seit i)er Ncstauration vis
zum Jahre 1830,
Frankreich ward nach der sogenannten Wiederherstellung (Ne-
stauration) alsbald wieder der Schauplatz von Parteienkampfen;
Aristokratie und Demokratie standen wie im Jahre 1789
gegen einander. Die AnHanger der einen wollten das Hofregiment
Ludwigs XIV. nebst der Jesuitenherrschaft, welcher dasselbe unter-
than gewesen war, als die für Frankreich tauglichste Staatsform
wiederherstellen; die der andern machten Plane, bald zum Umstürze
des Throns, bald zur Erneuerung einer Volks- oder Militairegie-
rung, wobei von Einigen auf Napolons Sohn, von Andern auf
das Haus Orleans gerechnet war. Mit nur geringen Veränderungen
traten die Meinungskampfe der Nevolutionsjahre wieder ins
Leben. Selbst die Bezeichnung der Parteien der Deputirtenkam-
mer, nach ihren Platzen zur rechten und zur linken Seite des Pra-
sidentenstuhls, ward wieder gebraucht, und nur der Name Jacobi-
ner erlangte keine rechte Geltung mehr, sondern ward nur spott-
weise den Ultra's oder ungemäßigten Royalisten mit dem Zusätze,
die weißen, beigelegt, von diesen aber den constitutionell gesinn-
ten Freunden des Königs zurückgegeben. Die Freunde der neue-
ren Ansichten und Lebensformen nannten sich die Libera-
len; jedoch umfaßte diefe Bezeichnung die einstigen drei Na-
men Demokrat, Republicaner und Jacobiner, ganz ver-
schiedene Parteien, die sich unter einander bitter haßten und nur
in dem einen Grundsatze der Volkstümlichkeit übereinstimmten.
Ludwig XVIII. selbst, der als König dieses unruhige Staatsge-
triebe beherrschen sollte, verleugnete die Neigung für constitutio-
nelle Formen, die er schon in seiner Jugend, in den stürmischen
Tagen der ausbrechenden Revolution, an den Tag gelegt hatte,
auch auf seinem jetzigen Platze nicht, und sein Wunsch war es ge-
wiß, die von ihm der Nation gegebene Charte aufrecht zu erhal-
ten. Allein die gegen einander kampfenden feindlichen Gewalten
— 197 —
im Zügel zu halten, verinochte er nicht; weshalb die ultra-royali-
stische Partei meistens das Uebergewicht erhielt.
Mitten unter diesen Kämpfen traf ein furchtbarer Schlag das
königliche Haus. Ein Mensch, Namens Louvel, von dem Gedan-
kenbilde des französischen Ruhms unter Napoleons Herrschaft er-
füllt und durch das Geschrei der revolutionairen Partei gegen die
Bourbons bis zum Wahnsinn erhitzt, faßte den Gedanken, Frank-
reich von dieser Familie durch Ermordung desjenigen ihrer Prin-
zen, von dem sich Erben erwarten ließen, zu befreien. In dieser
Absicht erdolchte er am 13. Februar 1820, am Eingange des
Opernhauses, den Herzog von B erry, den jüngeren der Bruders-
söhne des Königs und denjenigen, auf welchem bei der Kinderlo-
sigkeit seines alteren Bruders, des Herzogs von Angouleme,
die Hoffnung der regierenden Linie beruhte. Der Zweck, den der
Mörder vor Augen gehabt hatte, ward jedoch verfehlt; denn die Ge-
mahlin des Prinzen fand sich guter Hoffnung und gebar einige
Zeit nachher einen Sohn, der unter dem Namen Herzog von
Bordeaux als muthmaßlicher dereinstiger Thronerbe betrachtet
ward. Die That hatte indeß eine den Ansichten des Thaters ganz
entgegengesetzte Folge, nämlich die Ernennung eines neuen Mini-
fteriums, — das fünfte seit der Restauration— dessen Character ein
strengerer Monarchismus, als der der früheren war. Das Haupt die-
fer Verwaltung ward 1822 der Graf von Villele. Die Unter-
nchmung des Kriegszugs gegen die Revolution in Spanien krönte be-
kanntlich ein glücklicher Ausgang. Die wichtigste Folge dieses
Krieges aber war, daß durch den Gehorsam, welchen die Armee
ihrem Oberfeldherrn, dem Herzog von Angouleme bewies, der
von den Anhängern der Revolution im In- und Auslande noch
vielfach bezweifelte Sieg des Königthums dargethan ward.
Endlich fand Ludwig XVIII., der so lange als Flüchtling
Europa durchzogen, nachdem er am Abende seines Lebens nicht
nur den eignen Thron wieder eingenommen, sondern auch einen
fremden wieder aufgerichtet hatte, das Ziel seiner Leiden, die er in
seiner letzten Lebensperiode mit großer Ruhe und Seelenstarke ge-
tragen hatte. Seit mehreren Jahren schon war er des Gehver-
mögens beraubt. Es mußten ihm drei Zehen abgenommen wer-
den, und die Beine oberhalb und unterhalb der Knie waren voll
Wunden, in deren einige taglich beim Verbinden mehrere Unzen
China gelegt wurden. Dabei litt er an der schmerzhaften Stein-
— 198 —
krankheit, an Verknöcherungen im Magen und im Gehirn, wie die
Leichenöffnung ergab; und dieser jammervolle Zustand hatte seine
Lebenskraste im Anfange Septembers so völlig zerstört, daß schon am
12. dieses Monates keine Hoffnung, den Leidenden zu retten, mehr
vorhanden war. — Mit brennenden Kerzen in der Hand beglei-
teten alle Prinzen und Prinzessinnen den Großalmosenier, aus des-
sen Händen der König die Sacramente empfangen sollte, in das
Krankenzimmer. Nach der Ceremonie hörten sie in der Capelle
die Messe, und als sie von dort zurückkehrten, empfingen sie knieend
vor des Sterbenden Bett seinen Segen. Das Leben kämpfte
gegen den Tod bis gegen vier Uhr des folgenden Morgens. Da
starb Ludwig XVIII. eines ruhigen Todes. Keine Schmerzen und
Convulsionen kündigten sein Hinscheiden an. Als seine Auflösung
erfolgt war, erscholl das alte Geschrei: „Der König ist todt!" —
„Es lebe der König!"
Dies war der Bruder des Verstorbenen, der Graf von Ar-
tois, der ihm als Karl X. in der Regierung folgte, und schon
am 17, Vormittags die Huldigung der Behörden empfing. Die-
ser Monarch, der bei seiner Thronbesteigung siebenundsechzig Jahre
zahlte, berechtigte durch den Anfang seiner Regierung die Nation
zu den schönsten Hoffnungen, und schien dadurch die Besorgnisse,
welche die Gegner des Throns durch Erinnerung an die Sin-
nesart und Lebensweise seiner Jugend erregten, widerlegen zu
wollen. Er ernannte den Herzog von Angouleme, den nun-
mehrigen Dauphin, der für das Haupt der liberalen Partei galt,
zum Mitgliede des Ministerraths, erließ eine Strafmilderung für
viele Verurtheilte, die gegen Frankreich gefochten hatten, und hob
die in der letzten Zeit Ludwigs XVIII. eingeführte Censur wieder
auf. Bei der Krönung und Salbung, die König Karl am 29.
Mai des folgenden Jahres zu Rheims empfing, leistete er den
Schwur, nach der Charte regieren zu wollen; er schien aber durch
diese von Ludwig XVIU. unterlassene Ceremonie anzudeuten, daß
er auch im Sinne der alten, von der Kirche unterstützten Monar-
chie zu herrschen gedenke. Das Gemüths des Königs hatte sich,
nach den Erfahrungen eines wechselvollen Lebens, der Andacht zu-
gewendet; indeß äußerte sich seine Frömmigkeit vorzüglich in dem
Streben, der Geistlichkeit ihre vormalige einflußreiche Stellung
wiederzugeben. Der Graf Villele erhielt sich an der Spitze
der Verwaltung, vornämlich durch die Theilnahme, die er der
— 199 —
kirchlichen Wiedergeburt Frankreichs zu widmen versprach. Die Jesui-
ten, deren Orden der Papst Pius VIk. am 7. August 1814 durch eine
Bulle wiederhergestellt hatte, wurden in das Königreich zurückgerufen;
da aber eine öffentliche und gesetzliche Wiederaufnahme derselben in
Frankreich allzugroßen Widerspruch erwarten ließ, so wurden zu die-
sein BeHufe gewisse Bereine für fromme Verrichtungen erneuert,
Congregationen genannt, welche schon im sechszehnten Jahr-
hunderte bestanden hatten, und deren Leitung Jesuiten überlassen.
Necker schätzte vor der Revolution die Einkünfte der fran-
zösischen Geistlichkeit auf !30 Millionen Franken; auch zahlre man
um jene Zeit in Frankreich 368 regulirte Abteien, 115 Mönchs-
und 253 Nonnenklöster; doch hatte sich damals schon, binnen fünf-
zig Jahren, die Zahl der Mönche von 89,(MX? bis auf 20,000 ver-
mindert — Die Güter der Geistlichkeit waren bekanntlich in der
Revolution Eigenthum der Nation geworden, und diese großen
Verluste möglichst wieder zu gewinnen, war seit der Restauration
das bestandige Streben der Geistlichkeit; auch hatte sie nach die-
sem Ziele hin bereits bedeutende Fortschritte gemacht. Die geistli-
chen Stiftungen beliefen sich 1824 schon wieder auf 400, welche
innerhalb eines Jahres an zwei Millionen Schenkungen erhalten
hatten; dreizehn königliche Verordnungen waren zur Errichtung
von Diöcesangebauden erschienen; in der einzigen Diöcese Bor-
deaux gab es schon wieder neiüiundvierzig Klöster, nebst vielen
Congregationen; die Zahl der unter verschiedenen Ordensregeln
lebenden Nonnen belief sich im ganzen Königreiche bereits auf
18,000, von denen sich allein in Paris 12,000 befanden. — Noch
seltsamer aber, als all' dieses zu neuem Glänze und neuer Wirk-
samkeit emporsteigende Pfaffenthum, war die Erscheinung, daß der
strengste aller Orden, *) den jemals religiöse Schwärmerei gestiftet, —^
*) Der von dem Schwärmer Bruno im Jahre 1086 gestiftete Karthä'u?
ser-Orden, dessen Satzungen in der Abtei la Trappe von jeher am
strengsten befolgt wurden. Dieses Kloster liegt zwei Stunden von M o n-
ta gn e im Arne - Departement, Die Kost eines Trappisten wird auf
zehn Thaler des Jahres, die Kleidung auf dritthalb Thaler berechnet.
Die erste« besteht aus Wasser, Brod, Kartoffeln, Aepseln und Nüssen.
Der Abt ist nicht nur der allgemeine Beichtvater des Ordens, sondern
unumschränkter Herr der Mitglieder. Der Arzt, der Haushofmeister
und der Kellermeister haben allein Erlaubniß, mit den Fremden zu spre-
chen. Die weibliche Trappistenanstalr ist im Schlosse Zorges unweit
la Trappe.
I
— 200 —
ein Orden, dessen Mitglieder zu Entsagung alles menschlichen Um-
gangs, zu ewigem Stillschweigen, blutigem Geißeln, der härtesten
Lebensweise in Arbeit, Kost, Kleidung und Schlaf, ja, zu einer be-
standigen Beschäftigung mit dem Tode sich geloben mußten, — in
der Abtei la Trappe wieder so frisches und kräftiges Leben fand,
daß der Abt August in de l'Estrange im Jahre 1824 bereits
sechszehn Vereine von Trappisten und Trappistinnen unter sich
zahlte, das Local der Abtei wieder angekauft hatte und, obgleich
die Anstalt schon für 160,MO Franken Grundeigenthum besaß,
ihre Güter durch ferneren Ankauf noch immer vermehrte. Gleiche
Schritte machte in Frankreich das Missionswesen. Im April 1825
geschah zu Orleans, in Gegenwart des Prafecten und aller Be-
Hörden, die feierliche Errichtung des Missionskreuzes bei einem
ungeheuren Wolkszulause; wahrend der Aufstellung wurden fünf-
zig Kanonenschüsse abgefeuert. Zu Nhodez ward das neun und
vierzig Fuß hohe Kreuz von sechs Divisionen abwechselnd getra-
gen. Woraus gingen die Büßenden, die Congregationen der
Handwerker und eine Abtheilung der Nationalgarden. Alle Be-
Hörden folgten in ihren Anitsröben auf den Bischof, und Jeder-
mann trug ein kleines Kreuz. Darauf wurden im Hofe des bi-
schöflichen Palastes Gesänge zu Ehren der Missionairs angestimmt,
wobei im Gedränge fünfzehn Personen tödtlich verwundet wurden.
Aehnliche Auftritte gab es in allen Städten Frankreichs.
Diese Begünstigung der Geistlichkeit von Seiten der Regie-
rung, sowie die Beförderung und wenigstens heimliche Beschützung
der Ansiedelungen des Jesuitismus, waren mehr und mehr Gegen-
stände der lauten Klage des Volks gegen das Ministerium. Die
Erbitterung ward unter dem Einflüsse des Parteigeistes im Jahre
1827 so groß, daß sie einen für Frankreichs Hauptstadt und bei-
nahe für die ganze Nation wegen seiner Folgen höchst merkwürdi-
gen Auftritt herbeiführte. Dieser ereignete sich am 28. April des
gedachten Jahres bei einer großen, vom Könige auf dem Mars-
felde gehaltene Heerschau. Die Minister mochten vielleicht befürch-
tet haben, daß bei dieser Gelegenheit unter der ungeheuren Volks-
»nasse etwas für sie Unangenehmes sich ereignen könne; deswegen
war den Nationalgardisten eingeschärft worden, nichts als den
Ruf: „Es lebe der König! Es lebe die Charte!" erschallen zu
lassen. Dennoch kam die Sache anders, da 25,000 bewaffnete
Bürger sich nicht alle durch ministerielle Winke leiten ließen.
i
— 201 —
Der König ward zwar mit dem gewöhnlichen Rufe bewillkommt,
aber gleich darauf ertonte aus den Reihen der Nationalgarde daS
Geschrei: „Nieder mit den Ministern! Nieder mit den Jesuiten!"
was tausende von Stimmen aus der Volksmasse wiederholten.
Der König äußerte: „Er sei gekommen, um Huldigungen, nicht
um Belehrungen zu empfangen," und der Marschall Oudinott gebot
mit drohender Stimme Ruhe. Aber nun vergrößerte sich das
Geschrei, und als auf des Marschalls Befehl Gensd'armen herbei
eilten, um einen der wüthendsten Schreier zu verhaften, drang-
ten sich dessen Gefährten mit so entschlossener Bewegung um ihn,
daß die Gensd'armen den erhaltenen Befehl nicht auszuführen
wagten. Der König ritt mit seinem Gefolge ab, und nun war
vollends kein Einschüchterungsmittel anwendbar. Auf dem Rück-
wege ertönte daher vor Villele's Hotel der Ruf: „Nieder mit den
Ministern!" aus allen Reihen der vorbei desilirenden Legionen, und
um den Wagen der Dauphine und der Herzogin von Bern)
drängten sich dichte Volkshaufen, die unaufhörlich schrieen: „Nie-
der, nieder mit den Jesuiten!" Der König fühlte seine Majestät
gekränkt. In der Nacht ward Ministerrath gehalten, und am
Morgen erschien ein königlicher Befehl, welcher die Auflösung der
Pariser Nationalgarde aussprach. Nicht nur den Parisern, son-
dem auch den Bewohnern der entferntesten Provinzen Frankreichs
erschien diese Ordonnanz als eine Gewalthandlung, durch welche der
Monarch sich gleichsam von seinem Wolke absonderte und ganz in
die Gewalt seines Ministeriums gab; wodurch die allgemeine Er-
bitterung gegen dasselbe noch erhöht ward. Nun wußten die Mi-
nister den König zu bewegen, daß er die der Nation früher durch
Aufhebung der Censur erzeugte Wohlthat wieder zurücknahm und
durch eine Ordonnanz vom 2-i. Juni die Censurgesetze neuerdings
in Kraft treten ließ. Am Ende aber war Villele doch außer Stau-
de, dem immer drohender werdenden Sturme die Spitze zu bie-
ten ; kurz vor Versammlung der Kammer (am 4. Januar 1828)
ward er entlassen. Ein neues, ein constitutionelles Ministerium
trat an die Stelle des abgetretenen. Die Preßfreiheit ward wie-
der hergestellt, und die Jrsuitenschulen der öffentlichen Meinung
zum Opfer gebracht. Allein dieses Ministerium konnte der Lage
der Sache nach von keinem langen Bestände sein. Von jeher war
der König den constitutionellen Grundsätzen noch weniger zugethan,
als sein ältester unglücklicher Bruder, und wiewohl diese Partei
— 202 —
jetzt die herrschende war, so konnte sie doch nicht geeignet sein, den
dreiundsiebzigjahrigen Fürsten den Ueberzeugungen, denen er von
Jugend auf gefolgt war, ganzlich untreu zu machen. Die alte
Neigung für diejenigen, die sich seiner Person und seinem Hause
mehr, als der Wolksmeinung, zügethan zeigten, kam daher bald
mit verdoppelter Starke zum Vorschein. Das liberale Ministe-
rium geriet!) in's Schwanken und ward am 8. August 18^9 ent-
lassen. In dem neuen, welches nun hervorgerufen ward, nahm
der zeitherige Botschafter in London, Fürst Polignac, ein ver-
trauter Freund des Königs aus dessen früherer Periode, den ersten
Platz ein. Gleich einem Donnerschlage aus heiterm Himmel er-
schreckte die Ordonnanz, welche diesen Mann, der wahrend sei-
ner ganzen Laufbahn ein wüthender Verfolger aller freisinnigen
Grundsatze gewesen war und bei.seiner Erhebung zur Pairswürde
der Charte zu schwören sich geweigert hatte, an die Spitze des
Ministeriums berief. *) Die Stimme des Volks sprach sich darüber
*) Der Fürst A r in and Julius, M a r i a H e r a c l i u s von Pol i g -
nac, Pair von Frankreich, war ein Sohn jener berühmten Herzogin
von Polignac, der Freundin der Marie Antoinette, welche der Haß
des Volks gleich bei dem ersten Ausbruche der Revolution aus Frankreich
zu fliehen zwang (f. N. Gesch. 33. Iii. S. 141). Er hatte an der Spitze
eines Regiments, das seinen Namen trug, die Feldzüge der Conde'schen
Armee mitgemacht und nach der Auflösung derselben in England an dem
kleinen Hofe des Grafen Art oi s gelebt, bis er Im Jahre 1L04 Ge or-
ges Cadoudal und die übrigen Haupter der Royalvstenpartei, die sich wi-
der den ersten Consul verschworen hatten, nach Paris begleitete, wo er entdeckt
und zum Tode verurtheilt ward. Wie seine Gemahlin die Begnadigung
des Verbrechers von Napoleon erwirkte, ist in den Anekdoten aus dem
Leben dieses Kaisers erzählt. Der Graf sollte jedoch bis zum allgemeinen
Frieden in Gewahrsam gehalten werden; demzufolge ward er nach dem
Schlosse Hain bei Bordeaux abgeführt, in welchem er vier Jahre zu-
brachte. Stach Verlauf dieser Zeit ward er nach dem Tempel und aus die-
sein nach Vincennes versetzt, wo er endlich die Erlaubniß erhielt, nebst
seinem Bruder, der gleichfalls unter den Verschworenen gewesen war, ein
Haus in der Vorstadt von Paris zu bewohnen. Hier ließen sich die
beiden Brüder in eine neue Verschwörung gegen den Kaiser ein; es ge-
lang ihnen aber, als diese entdeckt ward, aus Frankreich zu entkommen.
Sie eilten zu ihrem hohen Gönner, dem Grafen Artois, der ihnen bei
dem Sturze des Kaiserthums die Vollmacht ertheilte, die Rechte der
Bourbons wahrzunehmen. Sie gingen den verbündeten Monarchen
voraus nach Paris unb waren hier die ersten, die am 39. April 1814
das weiße Banner entfalteten. Im Jahre 1-^17, nach dem Tode seines
— 203 —
in öffentlichen Blättern wie in der Kammer der Abgeordneten
aus. Der Unwille der Constitutionellen ward noch dadurch gestei-
gert, daß der General Bourmont, der am Abende vor der
Schlacht von Waterloo das Heer Napoleons verlassen hatte
und zum Feinde übergetreten war, unter den neuen Ministern sich
befand; und Alle beschuldigte man, daß die Grundsatze, zu welchen
sie sich früher bekannt, mit der durch die Charte eingeführten
Verfassung im Widerspruche standen. Manner, denen die Neigung
beiwohne, die Verfassung umzustürzen, dürften nicht Minister sein.
Einer derselben, de la Bourdonnaye, mit den Amtsgenossen
entzweit, trat am 17. November aus dem Ministerium aus. Durch
diese Zwietracht gewann die Gegenpartei noch mehr Muth. Der
General Lafayette, dieser Veteran der Freiheitskampfer, feierte
mittelst einer im Sommer 1829 unternommenen Reise durch die
östlichen und südlichen Departements einen wahren Triumphzug;
und die vergebliche Mühe, welche die Regierung sich gab, den
Aeußerungen der öffentlichen Begeisterung für den Helden der
Opposition Hindernisse in den Weg zu legen, beurkundete nur ihre
Schwache. Aus Lyon zogen 80,000 Menschen dem Gefeierten
entgegen, die ihm mit dem allgemeinen Rufe: „Es lebe der alte
Held der Freiheit!" empfingen. Darauf hielt er unter dieser zahl-
reichen Bedeckung seinen Einzug in die Stadt. Musik wollte die
Obrigkeit nicht gestatten, dafür aber gestattete sie Versammlungen
unter dem Walcon des Gasthofes, wo der General abgestiegen
war, und sogar eine Serenade, welche das Orchester des großen
Theaters ihm brachte. Die folgenden Tage verstrichen unter Festen
zu Ehren des Generals, wobei es nicht an Trinksprüchen, noch an
Reden fehlte, die sich auf die gegenwartige Lage des Reichs bczo-
gen. Kaum war der General am Ziele seiner Reise angelangt,
als der Regierung zuin Hohne eine Beschreibung seiner Reise er-
schien, von welcher nicht weniger als 100,000 Exemplare abge-
druckt wurden, die man einzeln das Stück zu 50 Centimes verkaufte.
Vaters, ward der jetzt ernannte Minister Pair von Frankreich; den
Herzogstitel, der gleichfalls auf ihn überging, schien er zu verschmähen,
da er denselben mit so manchem Emporkömmlinge der Revolution thei-
len mußte, und ließ sich im Jahre 1822 von dem römischen Stuhle zum
Fürsten ernennen.
— 204 —
Die ExsberLmg von Wlgier.
Zu derselben Zeit, wo die Zwistigkeiten zwischen der Regie-
rung unb der Nation immer mehr Bedeutung gewannen, beschloß
Karl X., durch ein großes kriegerisches Unternehmen die Ausmerk-
samkeit der Franzosen zu beschäftigen, ein Unternehme:?, das,
indem es dem französischen Nationalgeiste die edelste Beschäftigung
gewährte, ihm zugleich die Theilnahme aller Wohlgesinnten in
ganz Europa gewinnen zu müssen schien. *) Der Dey des Raub-
staates Algier, Hussein, hatte im Jahre 1827 schon wieder-
holt sein Mißvergnügen zu erkennen gegeben, daß ihm eine
Geldfordernng von mehreren Millionen, die ihm von Frankreich
im Jahre 1820 war zugesagt worden, noch immer nicht ausgezahlt
sei, ferner darüber, daß die Franzosen ohne seine Erlanbniß Fe-
stungswerke an dem zwischen Tunis und Algier liegenden Hafen
Cale wegen der Korallenfischern aufgeführt hatten. Er hatte
über diese Punkte eine heftige Unterredung mit dem Consul Frank-
reichs, Deval, und drohte, sich an die Tractate mit Frankreich
nicht ferner binden zu wollen, falls man jenen Beschwerden nicht
baldigst abhelfe. Devnl nahm gegen den Dey einen ziemlich ho-
*) Alle europäischen Staaten waren mehr oder minder dem Dey tribut-
pflichtig. Neapel mußte jährlich 44,000 schwere Piaster an Tribut und
Geschenken zahlen. Toseana war zu einem Consulargeschenke von
25,000 schweren Piastern verpflichtet. Auch Sardinien sah sich genö-
thigt, bei jedem Wechsel seines Consuls beträchtliche Geschenke zu ent-
richten. Selbst England mußte noch bei jedem Wechsel seines Consuls
in Algier dem Dey ein Geschenk mit 600 Pfund Sterling machen.
P o r t u g a l zahlte eben soviel als Neapel. Spanien hatte sich zwar
vom Tribute, doch keineswegs von der Entrichtung sehr bedeutender Ge-
schenke frei gemacht. Schweden und Dänemark entrichteten ihren
jährlichen Tribut in Seemunition uud Kriegsmaterial, doch mußten sie
von zehn zu zehn Jahren die Erneuerung des Tractats mit 10,000 schwe-
ren Piastern erkaufen. F r a n k r e i ch war uue England zu den Consularge-
schenken gezwungen. Nur die vereinigten Staaten von Nordamerika
hatten die algierische Regentschaft dergestalt eingeschüchtert, daß sie es
nicht mehr wagte, Consulargeschenke, oder gar Tribut als ein Recht zu
verlangen.
— '205 -
hen Ton an, welcher diesen so in Wuth setzte, daß er dem kecken
Franzosen mit seinem Fliegenwedel ins Gesicht schlug und ihn
init der -Drohung strenger Gefangenschaft, wenn binnen einer be-
stimmten Frist nicht alle Forderungen Algiers an Frankreich und
den von ihm beschützten Staaten würden berichtigt sein, aus dem
Palaste wies. Dieses war im obengenannten Jahre 1827. Auf
Devals Bericht nach Frankreich ward ein Geschwader, bestehend
aus einem Linienschiffe, zwei Fregatten und einer Goelette gegen
Algier abgesendet, die Goelette aber vorausgeschickt, um Deval die
nöthigen Verhaltungsbefehle zu überbringen. Dieser begab sich,
ohne daran verhindert zu werden, an Bord des Schiffes, und auf
seinen Befehl verließen die Mitglieder des Consulats, nebst allen
übrigen französischen Unterthanen, Algier, indem sie sich auf eine
gleichfalls im Hafen erschienene Brigg begaben. Nachdem an den
folgenden Tagen die übrigen Schiffe eingelaufen waren, und Deval
sich mit dem Befehlshaber des Geschwaders, Collot, über die
zu nehmenden Maßregeln besprochen hatte, fertigte man dem Dey
eine Note zu, worin verlangt ward, daß der algierische Minister
der auswärtigen Angelegenheiten, Nekil-Hardge, unverzüglich
an Bord kommen und, in Gegenwart des französischen und der
andern europaischen Consuln, im Namen des Dey's eine bestimmte
Entschuldigung der fraglichen Beleidigung vorbringen sollte, wie
denn auch zu gleicher Zeit die französische Flagge auf den Forts
von Algier aufgezogen und mit hundert Kanonenschüssen begrüßt
werden müsse. Der Dey wies diese Forderung mit Unwillen zu-
rück und erklärte sie für eine Unverschämtheit, welche die dem
Consul zugefügte Beleidigung vollgültig aufwiege. Indeß ließ er-
den französischen Befehlshaber zu sich einladen, die streitigen Punkte
naher mit ihm zu besprechen. Dies ward französischer Seits ab-
gelehnt, und dem Dey ein Termin von achtundvierzig Stunden
zur Abgabe seiner letzten Erklärung gesetzt. Der Termin verfloß
ohne irgend eine Antwort, worauf am 16. Juni die Feindfeligkei-
ten damit begannen, daß die französische Schiffsdivision den Ha-
fen von Algier zu blockiren suchte. Allein die Blockade blieb un-
wirksam, da, um solche streng durchzuführen, die Franzosen nicht
Schiffe genug vor Algier hatten. Dem Dey gelang es leicht, den
rohen Enthusiasmus seiner Untergebenen aufzuregen. Zahlreiche
Stamme der in der Nachbarschaft umherschweifenden Araber und
Kabylen gelobten, Alles zur Vertheidigung des Landes und der
— 206 —
Religion zu wagen; und schnell wurden drei Kriegsschiffe ausge-
rüstet, um tu der Meerenge von Gibraltar gegen die französischen
Kauffahrteischiffe zu kreuzen.
In der Absicht, die französische Escadre anzugreifen, lief am
Vorabende des großen Festes der Geburt Mubameds die algierische
Escadre aus dem Hafen, bestehend aus einer Fregatte von 50
Kanonen, einer Corvette von 36, zwei anderen Corvetten von 34
und 20, zwei Schebecken, jede von 22, und einer Brigg von 18
Kanonen, mit einer Besatzung von 3260 Mann. Die französi-
schert Schiffe kreuzten noch am 4. Ottober Morgens früh auf
offener See. Beide Escadres segelten gegen einander. Die eine
suchte den Wind zu gewinnen, die andere ihn zu bewahren.
Allein das Uebergewicht der französischen Manövers hielt die Bar-
barcsken ab, ihre Hauptabsicht, weshalb die Schiffe so stark be-
mannt waren, das Entern auszuführen. Das Gefecht dauerte drei
Stunden mit großer Hartnäckigkeit fort, doch konnte sich keine
der kampfenden Parteien besonderer Wortheile rühmen, und die
Algierer segelten gegen 4 Uhr Nachmittags in den Hafen zurück.
— Die Blockade dauerte indessen fort, konnte aber wegen ihrer
Unzulänglichkeit weder das Auslaufen der algierischen Raubschiffe,
noch das Einlaufen der englischen Schiffe in den Hafen von Al-
gier verhindern.
Im Anfange des Jahres 1830 ward eine große Expedition
nach Algier zur Eroberung der Rauberstatte im Ministerium be-
schlössen. Die Vorkehrungen zu diesem Feldzuge wurden mit einem
Eifer betrieben, welcher dem besonderen Interesse entsprach, das die
Regierung dmnit verband. Sie ließ mehr als 100 Kriegsfahr-
zeuge bewaffnen und miethete 3 bis 400 Transportschiffe. In
der Nahe von Toulon wurden nahe an 40,000 Manu von allen
Waffenarten nebst 4000 Pferden und Maulthieren, eine prächtige
Artillerie und ein unermeßliches Material zusammengebracht. Der
Oberbefehl ward dem General Bourmont übergeben, demselben,
auf dessen Character bei seiner Ernennung zum Kriegsminister die
liberale Partei alle ihre Geschütze gerichtet hatte. *) Ihm zur
*) Vier Söhne des Generals nahmen in vier verschiedenen Regimentern
an der Expedition Theil. Doch vermochte dieser Patriotismus nicht, die
Erinnerung seines Betragens bei Waterloo in dem Gedächtnisse der alten
Soldaten aus Napoleons Schule zu verlöschen. General Bourmont ward
bei den Revuen zu-Lyon und Marseille ausgepfiffen»
— 207 —
Seite stand als Chef des Generalstabes der Generallieutenant
Deprez, und der Marachal de Camp Tholoze bekleidete die
Stelle des Unterchefs. Den 16. Mai war die Einschiffung been-
digt. Das Heer bestand aus drei Abtheilungen. Nicht weniger,
als 180 Feuerschlünde, theils Belagerungs-, theils Feldgeschütz,
unter den Befehlen des Bicomte l'Hille, begleiteten das Heer,
außerdem eine Abtheilung des Geniecorps und siebenzig Gesund-
heitsbeamte. —- Zehn Tage wartete die Flotte auf günstigen Wind,
und als dieser endlich eingetreten war, ging sie am Abende des 23.
Mai unter Segel.
Der merkwürdige Kriegsschauplatz, auf den dieser Angriff aus-
geführt werden sollte, der algierische Staat, bestand aus den drei
Provinzen oder Beyliks Constantine, Tittery und Oran.
Diese Provinzen zahlten etwa 800,000 Einwohner. Die Bevölke-
rung selbst bestand aus Türken, Mauren, Juden und Barbaren
(ursprünglichen Bewohnern des Altas). Der Dey Hussein — kei-
nesfalls ein unbedeutender Gegner — war zu Adrianopel ge-
boren und hatte, als Sohn eines Artillerie-Offiziers, sich mehr-
fache Kenntnisse erworben, die ihm, nachdem er sich einer ihm
angedrohten Strafe durch die Flucht entzogen hatte, in Algier
Aufnahme und Beförderung verschafften. Durch ihn vorzüglich
war sein Vorgänger Ali So cos zur Würde eines Dey erhoben
worden. Hussein war sein erster Minister; sobald jedoch Ali nach
einer viermonatlichen Negierung gestorben war, nahm er auf eine
in Algier bisher unerhörte Weife, ohne Wahl, ohne Widerstand
und Blutvergießen, dessen Stelle ein. Dies war im Jahre 1817
geschehen. Seit dieser Zeit wohnte er in der Kasauba, einer
Citadelle, worin der Staatsschatz aufbewahrt ward. Als Mitglied
der Kaste der Ulema's (Lehrer des Gesetzes) zeigte er sich unter-
richteter, als die meisten seiner Vorganger. Sein Charakter war
fest, hartnackig und in drohender Gefahr unverzagt. Seine wohl-
berechnete Freigebigkeit bei der Vertheilung der europaischen Tri-
bute hatte ihm nicht nur die Ergebenheit des Corps der Coloris °
(der türkischen Miliz), sondern auch die vieler Scheiks der Araber
und Kabylen (kriegerischer Stamme des Atlas) erworben. Man
schätzte also die ihm zu Gebote stehende Streitmacht auf 40,000
Algierer, an welche sich etwa 12,000 Kabylen angeschlossen hat-
ten, Die letzteren waren vortreffliche Reiter, und diese wilden Schaa-
ren wurden seit mehreren Monaten taglich in den Waffen geübt.
— 203 —
Husseins Schwiegersohn, Ibrahim, Aga der türkischen Miliz
im Dienste des Dey, ward unter den vorhandenen Umstanden zum
GeneralissimG ernannt*). Die Deys von Tunis und Tripo-
lis aber, zur Verteidigung des Jslamismus, oder vielmehr der
Seerauberei aufgefordert, hatten ihren Beistand versagt.
Anlangend den Kriegsschauplatz nach seiner Localitatsbeschaf-
fenheit, so erscheint auf dem vom Mittelmeere bespülten gebirgi-
gen Ufer, amphitheatralifch sich erhebend, die alte Hauptstadt
Algier. Zehntausend weiße Hauser mit ihren Garten, Terrassen,
Dachern, steigen dort so eng gedrangt die steile Höhe hinan, daß
man sie mit einem Blicke übersieht, von den furchtbaren Watte-
rien am Gestade des Meeres bis zu der Spitze des Dreiecks, wo
der Dey mit seinen Schätzen die alle Gassen der Stadt beHerr-
schende Citadelle bewohnte. Er schaute von hier aus hinab auf
die felsige Küste der halbzirkelförmigen Rhede mit den Feuer-
schlünden, die er in einer langen ununterbrochenen Reihe von
Batterien hatte aufpflanzen lassen. Hinterwärts sieht man dage-
gen die blühenden Hügel, bedeckt mit unzähligen Capellen und
Grabmalern, mit vielen tausend Garten und Waldern von weißen
Rosen, mit Mandelbaumen, Cypressen, Orangen, Palmen, Ee-
dern, Oliven und Granaten; alle in weiter Ferne umschlossen von
der Kette des Atlasgebirges. Das Innere der Stadt bietet dage-
gen eine ganz entgegengesetzte Gestalt dar. -Da giebt es nur enge,
holprige und schmuzige Straßen, auf welchen sich ein buntes Ge^
misch von Mauren, Türken, Arabern, Ungarn, Juden und Scla-
ven durch einander treibt.
Die französische Armada hatte auf der Fahrt nach Algier mit
schwerem Unwetter zu kämpfen. Sie war am Morgen des 30.
Mai etwa fünf bis sechs Seemeilen vom Borgebirge Capine
entfernt, als sich ein so heftiger Ostwind erhob, daß der Admi-
ral Duperre, weil er eine Landung unter den vorwaltenden Um-
standen für unmöglich hielt, sich auf der Rhede von Palma
vor Anker legte. Besonders hatten die kleineren Transportschiffe
von den hochgehenden Wellen viel zu leiden, von denen zwei un-
tergingen. Endlich ward das Meer ruhig. Die Flotte ging von
*) Dieser Ibrahim, ein sehr schöner Mann, war vom Dienste eines Pfei-
ftnstopfers und Kaffceträgcrs zum Schwiegersöhne deö Dey erhoben wor-
den und war sein vertrautester Freund und Nathgcber.
— 209 —
neuem unter Segel und hatte am 13. Juni bei Tagesanbruch die
afrikanische Küste im Gesicht. Da Duperre es bedenklich fand,
in der Nahe von Algier zu landen, so segelte er vor den Batte-
ricen dieser Hauptstadt vorüber und wählte zum Landungsplätze
das Vorgebirge Sidi-Ferruch, eine Halbinsel, welche fünf
Seemeilen westlich von Algier gelegen ist und im Osten, wie im
Westen, tiefe und offene Baien darbietet. Gefaßt auf Widerstand,
rüsteten sich die französischen Befehlshaber zu einem ersten Angriffe
und rückten am 14. Juni mit Tagesanbruch gegen die Halbinsel
vor. Allein sie sahen sich in ihren Erwartungen betrogen; denn
der Beobachtungsthurm hatte keine Besatzung, und die Landung
der Truppen ging ohne Störung vor sich und zwar mit solcher
Schnelligkeit, daß um neun Uhr schon die ganze Infanterie ans
Land gesetzt war. Nach geschehener Landung ward das Depot für
die Armeevorrathe durch eine auf der Halbinsel angelegte Ver-
schanzung schnell in Sicherheit gebracht.
Von Sidi-Ferruch erhebt sich das Erdreich allmalig bis zur
Bergebene von Staoneli, einer Art von Dorf. In dieser für
den Vertheidigungskrieg äußerst günstigen Stellung hatte Ibrahim,
nachdem er sie zum Sammelplatze der arabischen Stamme ernannt,
sein Lager aufgeschlagen und dasselbe durch zwei mit vierzehn
Feuerschlünden versehenen Schanzen befestigt. — Die erste Ab-
theilung des französischen Heeres, unter den Befehlen des General-
Lieutenants Berthezene, lehnte sich auf der einen Seite an ein
Gehölz, auf der andern an das Meeresufer, etwa eine halbe
Meile von den algierischen Verschanzungen entfernt. Nachts bi-
vouakirten alle Bataillone in einem Vierecke, auf dem Vorposten
beschützt durch Erdwalle und spanische Reiter. Hinter sich hatte
diese erste Abtheilung in einer geringen Entfernung die zweite,
unter dem General Loverdo. Die dritte Abtheilung unter dem
Herzoge von Escars war, die Nachhut bildend, zur Vertheidi-
gung der Halbinsel zurückgeblieben.
Wahrend die französische Armee noch einige Tage unbeweg-
(ich in ihren Stellungen verweilte, weil sie, um etwas Entscheiden-
des zu unternehmen, die Ausschiffung ihrer Reiterei, ihrer Artil-
lerie und ihrer Munition abwarten mußte, hatten sich im Lager bei
Staoneli die (Kontingente vor Constantine, Oran und Titeri
mit der türkischen Miliz vereinigt und bildeten nun eine Masse
von 40,000 Streitern. Ibrahim, welcher die Ursache der Zöge-
N. G, IV. 14
— 210 —
der Franzosen errieth, glaubte zuvorkommen zu müssen und ertheilte
am 19. Juni in der Frühe den Befehl zum Angriffe. Er ließ
seine Massen in einer, die französische Stellung weit überflügelnden
Linie vorrücken, und mit wildem Geschrei stürzten sich die Türken
von der Vergebene auf die Brigaden Clou et und Achard, wäh-
rend eine zweite Colonne, bestehend aus den Contingenten von
Constantine und Dran, die Division Loverdo und Berthezene an-
griff. Was zum Schutze der Franzosen diente, ward leicht besei-
rigt, und wie groß auch der Verlust der fanatisirten Moslems sein
mochte, so gelangten sie doch dahin, ihre Fahnen mitten in den
französischen Bivouaks aufzupflanzen. Man schlug sich nur auf
Säbel und Bajonet; das Schlachtfeld ward mit Todten und
Sterbenden bedeckt, und der Sieg blieb unentschieden, bis der
Oberfeldherr Bourmont auf der Schlachtlinke erschien und den
Befehl ertheilte, in geschlossener Colonne vorzurücken. Jetzt wir-
bellen die französischen Trommeln zum Angriffe. Im Sturmschritt
drangen die Divisionen Loverdo und Berthezene vor, während
auch die Division Escars aus dem Lager trat, die beiden andern
zu unterstützen. Die türkischen Milizen zogen sich Anfangs fechtend
zurück; doch als sie ihre vorgeschobene Batterie von den Feinden
genommen und sich in ihren Verschanzungen verfolgt sahen, als
jede Schutzwehr verloren ging, welche ihr Lager vertheidigte, da
bemächtigte sich ihrer die Muthlosigkeit; sie verließen ihre Stellun-
gen, eine nach der andern, flohen in wilder Verwirrung und gaben
ihr Geschütz, ihre Zelte, ihre Vorrathe und mehr als hundert Ka-
mele den Siegern Preis. Ihre Niederlage war so vollständig,
daß die Franzosen sich auf der Bergebene in den Gezeiten nieder-
ließen, welche fortzuschaffen oder zu zerstören der Feind keine Zeit
gewonnen hatte. Die Zelte waren zum Theil ungemein prächtig,
wie die des Ibrahim-Aga und der beiden Bei's von Konstantine
und Oran. Der Sieg kostete den Franzosen kaum 500 Mann
an Tobten und Verwundeten.
Bevor Bourmont zu weiteren Unternehmungen schreiten wollte,
fand er für gut, die Ankunft des Belagerungsgeschützes und der
Reiterei abzuwarten. Darüber kamen die Algierer zur Besinnung.
Am Tage nach dem Tressen waren in Algier aufrührerische Bewe-
gungen ausgebrochen. Die Feinde Husseins beriefen sich auf
Aussprüche des Korans, in Folge welcher die türkische Miliz nur
hinter den Mauern fechten soll, und doch hatten sie, mit Blos-
— 211 —
ftellung der Sicherheit Algiers an dein Treffeii bei Staoneli Theil
nehmen müssen. Der Dey ließ einige der lautesten Schreier hin-
richten, behielt aber doch seinen Schwiegersohn mit der Miliz in
der Stadt und gab den Bei's von Konstantine und Dran (der Bei
von Titeri war zu den Feinden übergegangen) gemessene Befehle,
das Lager von Staoneli um jeden Preis wiederzunehmen. Die
Franzosen hatten dieses Lager nur mit 100 Mann besetzt. Die
Araber übersielen dasselbe in der Nacht vom 24. Juni und erober-
ten es in der Hitze des ersten Angriffs, wobei an 600 Franzosen
getodtet wurden; sobald aber das französische Heer sich sammelte,
wurden die Bei's, nach fünfstündigem mörderischen Kampfe, mit
großem Verluste zurückgeschlagen. Amadeus Bourmont, sei-
nes Vaters Adjutant, ward in diesem Treffen tödlich verwundet
und starb wenige Stunden darauf. — Am Morgen des 28. Juni
gelangten endlich, nach vielen überstandenen Beschwerden, die Fran-
zosen dahin, den Höhepunkt vor der Hauptstadt zu besetzen. Hier
nun ward erkannt, daß man Algier nicht angreifen könne, ohne
zuvor das langst verfallene, doch jetzt schnell verstärkte sogenannte
Kaiserschloß bezwungen zu haben, *) welches auf der Südseite
die Citadelle, die Stadt und alle äußeren Festungswerke beherrscht,
selbst aber von dem Gipfel des Berges, den die Franzosen so eben
besetzt hatten, bestrichen werden konnte. Mit unermüdlichem Eifer
ward an Eröffnung der Laufgraben und Errichtung der Bresch-
batterien vor dem Schlosse gearbeitet, wobei die feindlichen Scharf-
schützen sehr viele Franzosen tödteten. Am 4. Juli waren alle
Vorarbeiten beendigt, und um 4 Ubr Morgens gab eine Rakete
das Zeichen zun: Angriffe. Nicht gering war der Widerstand, wel-
cher vom Fort aus geleistet wurde; die türkischen Kanoniere blieben
immer noch, als schon alle Brustwehren niedergeschmettert waren,
auf ihrem Posten, und unbestimmbar war noch die Dauer dieses
Widerstandes: als gegen Mittag, wahrend die Franzosen nicht auf-
hörten, Brefche zu schießen, eine furchtbare Explosion erfolgte und
in einem Augenblicke die ganze Umgegend der Forts mit Trüm-
mern aller Art bedeckt ward. Eine dicke Wolke von Rauch und
*) Das Schloß ward im sechzehnten Jahrhunderte, nach der verfehlten
Expedition Karls V. (1541) und, wie man sagt, auf demselben Punkte
erbaut, wo das Zelt dieses Kaisers gestanden hatte. Es liegt isolirt,
eine Viertelstunde von Algier auf einem Hügel.
14*
— 212 —
Staub verhinderte, das, was geschehen war, auf der Stelle zu er-
kennen; sobald sie sich aber verzogen hatte, bemerkte man, daß
der obere Theil des Thurmes verschwunden, und die eine Seite
der Mauern theils ganzlich gestürzt, theils auf mehreren Punkten
stark beschädigt war. Die Franzosen verloren nun keinen Augen-
blick, im Sturmlaufe den Raum, der sie noch vom Schlosse trennte,
zu überschreiten, und bald darauf wehte auf einem der stehen geblie-
denen Thürme die weiße Fahne.
Wahrend diese furchtbare Verwüstungsstene auf der Landseite
in unmittelbarer Nahe der Residenz des Dey's vorging, legte
sich eine französische Eseadre in der Bucht vor Algier vor Anker
und richtete ihr zerstörendes Feuer auf das Fort der Vorstadt
Babazun. Dann segelte sie in halber Schußweite vor der
Stadt selbst hin und unterhielt ein ununterbrochenes Feuer
gegen die aus Backsteinen aufgeführten Mauern und Thürme.
— Inzwischen traf der Oberfeldherr Anstalten zum Angriffe
auf die Hauptstadt und die (Zitadelle. Der Dey — welcher gehofft
hatte, daß das Kaiserschloß die Feinde bis zum Eintritte der Ne-
genzeit aufhalten könnte, wo denn ihre Vernichtung leicht unzwei-
felhaft erfolgen würde, da jetzt schon ruhrartige Krankheiten
fürchterlich unter ihnen wütheten — sah sich nicht sobald in seiner
Erwartung getauscht, als sein Vertrauen zur Niedergeschlagenheit
überging. An einem und demselben Tage sah er seine Macht ver-
nichtet und sich der Gefahr ausgesetzt, in die Hände derselben
Christen zu gerathen, die er noch Tags vorher verachtet und ge-
schmähet hatte. Seine Hauptstadt befand sich in einer schrecklichen
Verwirrung. Jeder Gedanke an Widerstand war aufgegeben, die
Empörung war im Anzüge; denn der Angriff von der Flotte rich-
tete in der Stadt bereits großen Schaden an, und die französischen
Batterien von der Landseite näherten sich mit jeder Stunde. So
dringende Umstände nöthigten den Dey endlich zur Nachgiebigkeit,
und er ließ zunächst auf Einstellung der Feindseligkeiten zu Was-
ser und zu Lande antragen, um Friedensunterhandlungen einzu-
leiten. Am 5. Juli Nachmittags um zwei Uhr erschien hierauf
sein Geheimschreiber in Begleitung des englischen Consuls und
Vieeconsuls bei den Vorposten. Der Oberbefehlshaber, umgeben
von seinem Generalsstabe, empfing ihn auf den Trümmern des
Kaiserschlosses. Der Dey erbot sich, seine Forderungen an Frank-
reich fahren zu lassen; sodann wollte ez-Alles vergüten, was man
— 213 —
vor dem Bruche von ihm verlangt hatte, ferner dem französischen
Handel alle Vorrechte ertheilen und endlich alle Kriegskoften
bezahlen, unter der Bedingung, daß die Franzosen sogleich das
Land räumten. Diese Anerbietungen wurden jedoch verworfen.
Bourmont verlangte Uebergabe der Truppen und der Stadt auf
Gnade oder Ungnade, und als der brittische Consul seine Vermit-
telung anbot, ward diese abgelehnt. So blieb Alles ungewiß, und
die Belagerungsarbeiten gegen die Citadelle hatten ihren Fortgang.
Nach wenigen Stunden erschienen zwei neue Parlamentäre. Der
eine, ein Türke, der des Französischen vollkommen machtig war, stellte
dem Grafen Bourmont vor, daß Uebergabe auf Gnade und Un-
gnade von den Türken nicht anders verstanden würde, als daß sie
sich mit ihren Familien und ihrem Vermögen überliefern sollten,
daß sie aber einer solchen Unterwerfung den Tod vorziehen würden,
und daß die Zerstörung Algiers und der daselbst befindlichen Reich-
thümer leicht die einzige Folge davon sein könnte. Unter diesen
Umstanden achtete es der Feldherr nicht für gerathen, den Feind
zur Verzweiflung zu treiben, sondern genehmigte einen Vertrag,
welcher dem Dey und der türkischen Miliz, sowie den Einwohnern
aller Klassen, Sicherheit der Personen und des Privateigenthums,
nebst freier Ausübung ihrer Religion gewahrte. Der Austausch
der Ratificationen erfolgte noch an demselben Abende. Am 6. Juli
ward die Stadt übergeben und die Fahne Frankreichs wehte auf
allen Schlössern Algiers. Der Dey hatte schon vor dem Einzüge
der Franzosen mit seinen Frauen, seiner Familie und seinem Pri-
vatschatze die Citadelle verlassen und ein Haus in der Stadt bezo-
gen. Die erste Sorge des Oberbefehlshabers nach seinem Eintritte
in die Citadelle war, den für ungeheuer ausgefchrieenen algierifchen
Schatz in Augenschein zu nehmen. Er befand sich in fünf bis sechs
gut verwahrten und gewölbten Zimmern, wo Gold und Silber, bis
zur Höhe von mehreren Fuß angehäuft, Münzen aller Nationen
darbot — ein Ertrag der seit drei Jahrhunderten zum Vortheile des
Staats geübten Seerauberei. Der größte Theil des aufgenomme-
nen Schatzes ward unverzüglich nach Frankreich gesendet und ge-
langte fast gleichzeitig mit der Nachricht von der glücklichen Er-
oberung Algiers an. Die frohe Botschaft, deren Ueberbringer
einer der Söhne Bourmonts war, traf in Paris am 8. Juli ein.
Mit welchem Verluste von Menschen die Eroberung zu Stande
— 214 —
gebracht war, darüber stimmen die Nachrichten nicht zusammen;
doch kommen sie dahin überein, daß er verhaltnißmaßig gering war.
Nach der Einnahme von Algier ward die Gegenwart Hus-
seins lind der türkischen Miliz für die Sieger lastig. Nicht ein-
mal das Leben des gewesenen Dey war gesichert, so lange er sich
mitten unter einer Soldateske befand, die ihr Unglück bald seinem
Hochmuthe, bald seiner Schwache zuschrieb. Man mußte al^o
auf seine Abreise dringen. Die Wahl seines Aufenthalts blieb ihm
überlassen; er entschied sich für Neapel, das er auf seiner Reise
von Constantinopel nach Algier kennen gelernt hatte. Am 10.
Juli ward er mit seinem auf neun Millionen abgeschätzten Privat-
schätze, seinem aus drei Frauen bestehenden Harem, seinem Schwie-
gersohne Ibrahim, seinen Kindern und einem Gefolge von etwa
hundert Personen beiderlei Geschlechts auf der Fregatte Jeanne
d'Arc eingeschifft, welche den 11. Juli unter Segel ging und den
3. August bei Neapel anlangte. Nach der Einschiffung des Dey
wurden auch alle unverheirateten Soldaten der türkischen Miliz,
etwa 1300 an der Zahl, nachdem jeder von ihnen zweimonatlichen
Sold empfangen, nach Smyrna versetzt, und was von ihnen
zurückblieb, ward entwaffnet. Die Araber kehrten schnell wieder
zu ihren friedlichen Beschäftigungen zurück und überfüllten, des
ungewöhnlich hohen Preises wegen, Algiers Markte mit Lebens-
Mitteln und Schlachtvieh; doch verlor sich leider nur zu bald diese
zwischen den Einwohnern und den Franzosen stattfindende Har-
monie. •
Die Freude, welche die Franzosen über die Eroberung des
stolzen Algier empfanden, ward sehr verbittert durch die Ueberzeu-
gung, daß der Krieg gegen die Seeräuber im Grunde den Natio-
nalfreiheiten gegolten, und daß das Ministerium die dem französi-
schen Eonsul zugefügten Beleidigungen erst dann zu strafen sich
entschlossen, als es, rnn die Armee gegen das Volk zu gewinnen,
den Krieg für noch ig erachtete. Man fürchtete, daß die große Sie-
gesnachricht den Muth Polignacs und seiner Gefährten zu gewalt-
samen Staatsstreichen dergestalt starken werde, daß Frankreichs
Ruhe bald tief erschüttert werden müsse. Dagegen durchbrach der
ungetrübte Jubel der Royalisten über das glückliche Gelingen ihrer
Unternehmung alle Schranken. Noch an demselben Abende, als
die Siegesbotschaft anlangte, eilte der Marineminister d'Haussez
nach Saint Cloud, wo sich der Hof aufhielt. Beim Aussteigen
— 215 —
aus dem Wagen rief er den Umstehenden zu: „Algier ist genom-
men!" Jedem, der ihm auf der Treppe begegnete, schrie er das-
selbe zu und stürzte im freudigem Eifer in des Königs Cabinet.
Dieser streckte ihm die Arme entgegen, und da ihm der
Minister, wie es die Hofetiquette erforderte, die Hand küssen
wollte, riß ihn der Monarch an seine Brust, indem er aus-
rief: „An Tagen, wie der heutige, umarmt man sich!" Am an-
dern Morgen ward in der Kirche Notre-Dame ein feierliches Te-
deum gehalten, dem der Konig mit seinem ganzen Hofstaate bei-
wohnte. Seit der Krönung zu Rheims hatte sich der Hof
nicht mit solcher Pracht gezeigt. Eilf reich vergoldete, mit acht
auserlesenen Pferden bespannte Equipagen fuhren vor dem kostba-
ren Galawagen des Königs her, unter zahlreicher Begleitung von
Dienern zu Pferde und zu Fuß. Abtheilungen von Gensd'armen
und Garde du Corps eröffneten und schlössen den Zug, der sich
unter dem Donner des Geschützes, dem Lauten der Glocken und
dem Zurufe des Volks: „Es lebe der König!" bei heiterem Him-
mel längs der Quais fortbewegte. Unter dem Portale der Kirche
trat der Erzbifchof der königlichen Familie entgegen und hielt
nach altem Brauche eine Anrede an Se. Majestät, die zunächst
gegen die Liberalen gerichtet war. — Eine ungeheure Volksmenge
begleitete des Königs frommen Zug. Auch waren Abends die
öffentlichen Gebäude, aber nur wenig Privathaufer erleuchtet. —
Die AnHanger des Hofes und des Ministeriums rühmten, der aller-
christlichste König habe die Schande der Christenheit getilgt, Frank-
reich habe das Mittelmeer von seinen schimpflichen Fesseln befreit.
— 216 —
Revolution in Frankreich im Jahre MIO.
(Iulirevolution.)
Die politischen Leidenschaften und Zwieträchten hatten um
diese Zeit, unter den oben erwähnten Umstanden, einen höheren
Grad von Starke und Heftigkeit erreicht, als es jemals seit der
Restauration der Fall gewesen. Karl X. begriff weder das Schmie-
rige seiner Lage, noch den eigentlichen Zustand Frankreichs, sondern
näherte sich, im blindesten Vertrauen zu der Liebe der Franzosen
für das alte Herrschergeschlecht, der Einberufung der Kammern,
schwerlich ahnend, daß er dadurch einen Kampf auf Leben und Tod
zwischen der Monarchie und der öffentlichen Meinung auf den
Abgründen einer Revolution herbeiführte. Die Kammern wurden
auf den 2. Marz zusammenberufen, und unter höchst bedenk-
lichen Vorbedeutungen kam der Tag, wo die Sitzung anheben sollte,
heran. Der König eröffnete sie, von seinem der Nation verhaßten
Ministerium umgeben, in Gegenwart des königlichen Hauses und
des diplomatischen Corps, mit größerem Pomp, als gewöhnlich,
gleichsam um den Worten, die er zu sprechen gedachte, stärkeren
Nachdruck zu geben» Seine Rede schloß folgendermaßen: „Die
Charte hat die Volksfreiheiten unter die Obhut der Krone gestellt;
diese Rechte sind heilig, und die Pflicht gegen mein Volk erheischt,
dieselben unverkümmert an meine Nachfolger zu vererben. Pairs
von Frankreich, Abgeordnete der Departements! ich zweifle nicht
an Ihre Mitwirkung zu dem Guten, das ich leisten möchte. Sie
werden die treulosen Einflüsterungen der Böswilligkeit gegen mein
Recht mit Verachtung zurückweisen. Sollten jedoch meiner Regie-
rung, durch strafbare Umtriebe, Hindernisse, die ich nicht vorher
sehen mag, in den Weg gelegt werden, so würde ich in meinem festen
Willen, wie in dem gerechten Vertrauen auf die Liebe, welche die
Franzosen zu allen Zeiten für ihre Könige bewiesen haben, sicher-
lich Kraft genug finden, jene Umtriebe zu beseitigen!" Bei diesen
mit fester Stimme gesprochenen Drohworten war der Monarch so
— 217 —
heftig bewegt, daß ihm der Hut vom Kopfe siel. Der Herzog
von Orleans bückte sich und hob ihn auf, was für eine böse Vor-
bedeutung hatte gelten können! — Der Schluß der Thronrede
erregte indeß bei dein größten Theile der Versammlung Gefühle des
Erstaunens und der Mißbilligung. Auf der linken Seite machte
sich ein nicht zu unterdrückendes Murren bemerkbar, von der rech-
ten Seite aber und von einigen Pairs ward die Rede mit großen
Beifallsbezeigungen aufgenommen. Die Berathungen der Kam-
mer über die hierauf abzufassende Adresse an den König gingen
daher unter großer Aufregung vor sich, und das Ergebniß derselben
war, daß in dieser von 221 Stimmen gut geheißenen Adresse (die
Zahl der Stimmengeber betrug 402) dem Könige gesagt ward:
„Die Übereinstimmung zwischen den politischen Absichten seiner
Regierung und den Wünschen des französischen Volkes habe auf-
gehört; ein ungerechtes Mißtrauen in die Gesinnungen und in
die Gefühle Frankreichs sei der herrschende Gedanke der Verwal-
tung; das Volk sei betrübt, weil jenes Mißtrauen beleidigend für
dasselbe sei; es fühle sich beunruhigt, weil derselbe Gedanke seine
Freiheiten bedrohe. Am 17. Marz ward diese Adresse dem Könige
überbracht. Die Deputation war zahlreicher als gewöhnlich. An
ihrer Spitze stand Royer Collard als Präsident der Kammer.
Dieser las, vor dem Throne stehend, die Schrift mit Festig-
keit und imponirendem Ausdrucke. Der König vernahm sie mit
Ruhe und erklarte darauf kalt und mit finsteren Blicken: „er habe
in seiner Eröffnungsrede seine Entschließungen angekündigt, diese
seien unerschütterlich; das Interesse seines Volks verbiete ihm, sich
davon zu entfernen; er werde durch seine Minister der Kammer
seine Willensmeinung bekannt machen." Gleich am folgenden Tage,
als die Sitzung kaum ihren Anfang genommen hatte, überbrachte
der Minister des Innern dem Präsidenten eine Proclamation des
Königs, welche die Sitzungen der Kammer bis auf den 1. Septbr.
vertagte. Bei Bekanntmachung derselben herrschte tiefes Schwei-
gen. Als hierauf von dem Präsidenten die Sitzung aufgehoben
ward, erschallte auf der rechten Seite der laute Ruf: „Es lebe der
König!" Die linke Seite schwieg, bis der Tumult sich gelegt
hatte; dann stand sie in Masse auf und rief dreimal: „Es lebe die
Charte!" So ging man auseinander. — So war denn, nach
einem Kreislaufe der seltsamsten Begebenheiten, der dreiundsiebzig-
jahrige Karl X. auf denselben Punkt zurückgeführt, auf welchem
— 218 —
einundvierzig Jahre früher sein unglücklicher Bruder Ludwig XVI.
gestanden hatte.
Diese Austritte beurkunden den Geist, der Frankreich beseelte,
als von Seiten der Regierung der erste Hauptschlag zur Zertrüm-
merung jedes constitutionellen Widerstandes gegen das absolute
Königthum erfolgte. Eine am 16. Mai erlassene Ordonnanz des
Königs löste die Deputirtenkammer förmlich auf und berief die
Wahlcollegien zur Erwahlung einer neuen zusammen. Die Eröff-
nung der Sitzung ward auf den 3. August festgestellt. Der König
forderte durch eine besondere Proclamation die Wahlcollegien auf,
Männer von anderer Gesinnung, als der von den 221 Stimmen-
den der Adresse an den Tag gelegten, zu erwählen. Die Procla-
mation endigte mit den Worten: „Wähler, erfüllt Eure Pflich-
ten; ich werde die meinigen erfüllen. Euer König ist es, der dies
von Euch verlangt, ein Vater ist es, der Euch ruft!" *) Allein
welche Vorkehrungen das Ministerium auch angewendet hatte, die
Wahlen nach seinem Vortheile ausschlagen zu lassen, so fand sich
doch schon zu Anfange des Juli das Ergebniß außer Zweifel ge-
stellt, daß die neue Kammer noch eine weit größere Anzahl von
Gegnern, eine noch weit geringere von An Hangern des Mini-
steriums, als die aufgelöste, enthalten werde. Dieser Erfolg der
Wahlen beängstigte sogar die Dauphine, die Tochter Ludwigs
XVI., welche, der furchtbaren Epoche in ihrer Jugend gedenkend,
große Besorgnisse äußerte, daß die Dinge zu sehr auf die Spitze
getrieben würden. ■— Da traf die glückliche Nachricht von Algiers
Eroberung ein, welche die königliche Partei auf's Neue ermuthigte.
Aber selbst diese der französischen Ruhmbegierde so wohlgefällige
Kunde stimmte die erbitterten Gemüther keineswegs zu Gunsten
des absoluten Königthums; vielmehr fielen die nach dem Sieges-
bulletin erfolgten Wahlen für die Liberalen noch viel glänzender,
als die früheren, aus. Mit einer solchen Kammer ließ sich keine
Einigung hoffen. Eins von beiden mußte erfolgen: entweder das
Ministerium mußte der Kammer, oder die Kammer dem Ministe-
*) Auch noch manche andere Mittel wurden angewendet, um die Departements
auf solche der herrschenden Partei genehmen Wahlen zu lenken. Einige
Priester predigten sogar von der Kanzel: „Ihr müßt echt royalistische
Deputirte wählen; thut Jhr's nicht, so wird der König fremde Truppen
ins Reich rufen ?e."
— 219 —
riitm welchen. Die Minister hatten demnach zwischen Abdankung
und Gewaltstreichen die Wahl. Sie griffen zu den letzteren, indem
sie auf die Macht des königlichen Namens, auf den Gehorsam des
Volks und auf die Starke des Heeres zahlten.
Als alle Vorsichtsmaßregeln getroffen waren, um die Vollzie-
hung des enormen Staatsstreiches zu sichern, legten die Minister
dem Könige in St. Cloud drei von ihnen ausgearbeitete Ordonnan-
zen vor, die mit einem Berichte begleitet waren, der ein abschrecken-
des Bild von dem revolutionären, nur durch die kräftigsten, schnell
zu ergreifenden Mittel heilbaren Zustande Frankreichs aufstellte.
Als Quelle dieses unglücklichen Zustandes gab der Bericht die
Frechheit der Presse und das zu gefahrlichen Umtrieben Veranlas-
sung gebende Wahlgesetz an. Die erste der Ordonnanzen hob
demnach die Preßfreiheit der Journale und Zeitungen auf und un-
terwarf sammtliche Tageblätter der Bedingung, nicht anders, als
mit Genehmigung der Regierung erscheinen zu können, welche Ge-
nehmigung alle drei Monate mußte erneuert werden. Durch die
zweite Ordonnanz ward die neugewahlte Deputirtenkammer aufge-
löst, noch ehe diese vereinigt war. Durch die dritte Ordonnanz
ward die bestehende Wahlordnung dahin verändert, daß nur von
den Departements, nicht von den Bezirken, Deputirte erscheinen
sollten. Hiernach wäre nicht nur die Zahl derselben von bis
258 vermindert, sondern auch die Bildung der Wahllisten der
Mitwirkung der Justizbeamten entzogen, mithin ganzlich der Will-
kür des absetzbaren Verwaltungspersonals preisgegeben worden,
welches dem Witten der höchsten Gewalt zu folgen sich genöthigt
sah.— Wiewohl nun diese Ordonnanzen von dem Staatsgrund-
gesetze fast nichts mehr in Wirksamkeit ließen, so gelang es doch den
Vorspiegelungen der Minister, daß der König zur Bekanntmachung
derselben seine Einwilligung gab. Vor allen Dingen wurde da-
für gesorgt, daß von den Verordnungen nichts vor der Zeit ver-
lautbarte, damit diese wie ein beraubender Wetterstrahl wirken und
die Kraft des Widerstandes lahmen möchten. Zu diesem Endzwecke
war keine Civil- oder Militärbehörde von dem, was im Werke
war, unterrichtet worden, nicht einmal der Polizeiprafect Man-
gin, wiewohl sich dieser noch am Abende des 25. Juli bei dem
Minister des Innern befand. Dem Herzog von Nagusa (Mar-
schall Marmont), welcher unter allen Marschallen Frankreichs,
wegen des unvergessenen Abfalls von Napoleon, vorzugsweise des
— 220 —
Hofes Vertrauen besaß, war an diesem Tage der Oberbefehl über
die erste Militairdivision des Reichs übertragen, und von ihm den
verschiedenen Corpschefs eine geheime Ordre zugesendet, wodurch
die Platze bezeichnet wurden, wohin sich im Falle eines Alarms
die Truppen mit Waffen, Gepäck und nöthiger Munition begeben
sollten. Das Geheimniß war so gut aufbewahrt worden, daß
selbst viele Höflinge nur davon Ahnung hatten. Erst in der Nacht
auf den 26. Juli empfing der verantwortliche Herausgeber des
Moniteur die verhangnißvollen Ordonnanzen aus den Händen des
Siegelbewahrers.
Wahrend alles dieses geschah, lebte man in Paris schon der
Hoffnung, daß die Minister auf jede außergesetzliche Handlung
Verzicht geleistet hatten und den Kampf gegen die Deputaten-
kammer innerhalb der verfassungsmäßigen Schranken versuchen
würden: als die Pariser den 26. Juli (an einem Montage) von
der Erscheinung der Ordonnanzen im Moniteur sich wie von einem
Donnerschlage getroffen fühlten. Zuerst Betäubung, dann wildes
Aufbrausen. Sogleich schlössen die meisten Buchdruckereibesitzer,
Buchhändler und Papierhändler ihre Läden und entließen ihre
Arbeiter; diese durchzogen in zahlreichen Haufen die Straßen.
Das öffentliche Vertrauen hörte plötzlich auf; die Bank weigerte
sich ferner zu discontiren, und der Cours der Staatspapiere sank
bedeutend. Mehrere große Manufacturisten kündigten an, daß sie
ihre Fabriken schließen und ihre Arbeiter entlassen würden. Da-
durch verbreitete sich die Gahrung aus den obersten Volksklassen
in die untersten. Dessenungeachtet ward die öffentliche Ruhe an
diesem Tage nicht wesentlich gestört. Zwar sah man allenthalben
Gruppen, welche die Lage der Dinge mit Lebhaftigkeit erörterten;
sie schritten indeß zu keinen Tätlichkeiten. Gegen Abend vergrö-
ßerten sich die Volkshaufen auf den Boulevards und öffentlichen
Platzen; sie strömten mit dem Geschrei: „Es lebe die Charte!
Tod den Mimstern!" nach dem Palais-Royal, wo bereits Volks-
redner die tobende Menge haranguirten. Man zog vor die Hotels
der Minister, brach gegen sie in Verwünschungen aus und zer-
trümmerte die Fensterscheiben. Die Truppen, welche vor den Pa-
lasten aufgestellt waren, zerstreuten das Volk, und dieses stimmte,
indem es sich langsam zurückzog, jene alten Revolutionslieder an,
welche die Franzosen vordem so sehr begeistert hatten lind auch jetzt
wieder dieselbe Wirkung hervorbrachten. So verfloß der 26. Juli
— 221 —
unter stürmischer Aufregung, doch ward noch kein Bürgerblut ver-
gössen. Die Nacht verging ohne Störung, am folgenden Morgen
aber wuchs der Tumult zum völligen Aufstande.
Schon am frühen Morgen wogte eine ungeheure Menschen-
masse in den Straßen von Paris auf und nieder; jede Minute
brachte neue Schaaren aus den entlegenen Stadttheilen. Alle
Werkstatten, alle Laden waren geschlossen. Noch ein Umstand trat
an diesem Tage hinzu, der den Ausschlag gab. Dies war, daß
die meisten Oppositionsjournale (der National, Temps, Fi-
garo und mehrere andere) mit einer Protestation gegen die Or-
donnanzen erschienen und ganz unumwunden erklärten, daß man
sich denselben widersetzen würde. Zugleich wurden darin die ge-
wählten Abgeordneten aufgefordert, sich zu der für ihre Zusammen-
kunft festgesetzten Zeit in Paris einzufinden. Bereits am vergan-
genen Tage hatten sich nämlich, bald nach Erscheinen der Ordon-
nanzen, die Herausgeber der Oppositionsblatter zu dem berühmten
Rechtsgelehrten Dupin dem alteren begeben und seinen Rath
begehrt. Die Entscheidung siel dahin aus, daß die Ordonnanzen
ungesetzlich seien, folglich zum Gehorsam nicht verpflichteten. Hier-
auf ward die obengenannte Protestation in der Nacht gedruckt und
am andern Morgen tausendfältig in Paris verbreitet. Die Haupt-
stelle in dieser thatkräftigen Protestation: „da die Regierung die
Gesetzlichkeit verletzt hat, sind wir des Gehorsams entbunden, und
Frankreich möge darüber entscheiden, wie weit der Widerstand sich
erstrecken muß," wirkte wie ein elekrischer Funken, der die unge-
heure Masse aufgehäuften Zündstoffes in lichte Flammen setzte.
Vergebich versuchte die Polizei Vertheilung und Lesen der Blätter
zu verhindern; sie drangen deshalb nicht minder in die bevölkertsten
Stadtviertel ein und gingen selbst auf die Departements über.
Nun gab der Polizeipräfect den Befehl zu einer Beschlagnahme
der Pressen. Die Unternehmer des National und des Temps lei-
steten dem Polizeiagenten muthigen Widerstand, und da in den
Straßen kein Arbeitsmann aufzutreiben war, welcher den Polizei-
dienern hätte Beistand leisten mögen, so sahen sich diese genöthigt,
Leute kommen zu lassen, die zum Dienste der Gefängnisse gebraucht
wurden. Nun wurden die Thüren eingestoßen, die Materialien
der Herausgeber in Beschlag genommen, die Pressen zerstört oder
außer Stand gesetzt; allein je arger der Lärm war, den die Un-
ternehmer, die Redactoren, die Setzer und die Drucker machten,
✓
— 222 —
desto mehr füllten sich die Straßen, und einige Blätter fuhren den-
noch fort zu erscheinen, wenn auch in Bruchstücken; aber diese
Bruchstücke riß sich das Volk aus 'den Händen, diese Fragmente
enthielten Flammenworte, Aufrufe zum Widerstand.
Die entscheidende Katastrophe war durch dies alles naher ge-
rückt. Immer zahlreicher strömten die Schaaren entlassener Arbei-
ler heran, immer tobender wurde das Geschrei, immer lauter die
Verwünschungen. Die Volksredner im Palais-Royal ermahnten
die Menge, dem Beispiele ihrer Vater zu folgen und nicht demü-
thige Sclaven kläglicher Minister zu sein. Tobender Beifall be-
gleitete jedes ihrer Worte, und bereits vernahm man den schrecklichen
Ruf: „Zu den Waffen!" — Der Hof befand sich zu St. Cloud,
und so sehr lebte Karl X. im Gefühle seines königlichen Vorrech-
tes und seiner Macht, daß er mit unbegreiflicher Sorglosigkeit an
dem Tage, wo die Ordonnanzen kund gemacht wurden, in der
Umgegend von Fontainebleau gejagt hatte. Das Geheimniß der
Ordonnanzen war, wie schon erwähnt, so gut bewahrt worden,
daß selbst die nächsten Umgebungen des Königs sie erst aus dem
Moniteur erfuhren. Sie verbreiteten bald Bestürzung durch das
ganze Schloß. Ein vormaliger Minister machte dem Fürsten Polignae
die lebhaftesten Vorwürfe; er antwortete aber in stolzer Sicherheit:
„Es ist eine abgemachte Sache, das Ucbrige geht der Gensd'armerie
anl" Der Präsident der Pairskammer, Semonv ille, eilte nach
St. Cloud, den König auf die Gefahr, worin er schwebte, auf-
merksam zu machen. Er traf den Fürsten im Schlosse und rief
ihm zu: „Was machen Sie! Sie stürzen den König und die
Monarchie zugleich in den Abgrund!" — „Das ist die Sprache
eines Aufruhrers — erwiederte Polignae •—; statt den König und
die Monarchie zu stürzen, rette ich vielmehr beide. In wenigen
Stunden werden Sie die Beweise dessen, was ich behaupte, sehen."
Der brittische Botschafter, Lord Stuart, sendete am Morgen des
27. Juli mehrere Couriere nach St. Cloud, den König zu vermö-
gen, die unheilvollen Ordonnanzen zurückzunehmen und ihn darauf
aufmerksam zu machen, daß er ans Englands Beistand beim Um-
stürze der Constitution nicht rechnen könne. Jeder Rath, jede
Warnung war fruchtlos.
Die bewaffnete Macht, die dem Hofe zu Gebote stand, und
deren Befehl der Marschall Marmont übernommen hatte, bestand
ungefähr aus II bis 12,000 Mann. Gegen Mittag des 27. Inli
— 223 —
nahm der Herzog sein Hauptquartier in der neuen Galerie der
Tuilerien auf dem Carousselplatze, und wahrend er seine ersten An-
Ordnungen traf und sich mit der Verwaltung und der Polizei in
Verbindung setzte, nahm die Volksgahrung mit jedem Augenblicke
zu. Von allen Enden strömten Arbeiter, die ihre Werkstatten,
Schüler, die ihre Schulen verlassen hatten, herbei; überall hörte
man den Ruf ertönen: „Es lebe die Charte! Nieder mit den Or-
donnanzen! Nieder mit den Ministern!" Die größten Volksmas-
sen sammelten sich auf der Straße Richelieu, in den Zugängen
zu dem Palais-Royal und den Umgebungen des Ministeriums der
auswärtigen Angelegenheiten. Ein von dem Polizeipräfecten erlas-
sener Befehl gebot die Verschließung der Gitter des Palais-Royal.
Zurückgedrängt in die Straßen bewies die tobende Menge sich noch
erbitterter. Ueberall wurden die Laden der Waffenhandler und
Materialisten erbrochen, um Waffen, Pulver und Flintensteine zu
erhalten. Gegen vier Uhr befahl der Marschall den zu seiner
Verfügung gestellten Truppen, die Waffen aufzunehmen und das
Caroussel, den Platz Ludwigs XV. und die Boulevards zu
besetzen. Der Anblick der Truppen rief das Volk zur Vertheidi-
gung auf. Es begann das Pflaster der Straße St. Honore
und der umliegenden Gassen aufzureißen und durch umgestürzte
Karren, Lastwagen und Fiakers Verschanzungen zu bilden. Nun
schritt die bewaffnete Macht ein. Zuerst die berittenen Gensd'ar-
men, die vorlausig nur den Säbel gebrauchten. Docü bald war
der Andrang so stark, und der Angriff mit Steinen so heftig, daß
die Gensd'armen ihn nicht aushalten konnten; auch siel ein Flin-
tenschuß aus einem benachbarten Fenster, und kaum war dieser
gefallen, als der Kampf anhob. Die Garde-Infanterie gab Feuer;
es sielen Mehrere; unter diesen ein alter Mann, dessen Leichnam
durch die Straßen geschleppt ward, um das Volk zu einem all-
gemeinen Angriffe zu bewegen. Dabei fuhr man fort, an den
Ausgängen der Straßen Verschanzungen durch ausgespannte Fia-
kers und umgestürzte Wagen zu bilden. Die dreifarbige Kokarde
kam zum Vorschein, dreifarbige Fahnen flatterten auf den Bou-
levards. Hin und wieder erschienen Nationalgarden, doch in
geringer Anzahl. Das Gewehrfeuer dauerte fort, die Landers der
Garde hatten das Volk zwar in die Flucht geschlagen, allein es
kehrte bald, durch neu herbei eilende Schaaren verstärkt, zurück.
Es erzwang die Schließung der Schauspielhauser; die Wachlhau-
I
— 224 —
fer der Gensd'armerie wurden belagert und angezündet. So
endete der Tag unter Schrecken.
Noch immer nahmen die Minister keine richtige Vorstellung
von der Lage, worin sie sich befanden; sie wollten die Gefahren
nicht sehen, von welchen sie umgeben waren. Sie sahen den
Volksaufstand; sie erhielten die Berichte der Polizeibehörde; der
Widerstand gegen die Ordonnanzen hatte sich bereits in allen
Klassen gezeigt. Hatten sie jetzt dem Könige den wahren Stand
der Dinge entdeckt, noch wäre es Zeit gewesen, dem Aufrühre
Einhalt zu thun, die Ordnung wieder herzustellen; statt dessen
beschlossen sie, Paris in Belagerungsstand zu erklaren — eine
Maßregel, von der Polignac glaubte, daß sie jede andere über-
flüssig machen werde — d. h. die Stadt den Kriegsgesetzen preis-
zugeben, wo keine andere Autorität galt, als die des Truppen-
chefs, des Marschalls Marmont. Nachdem Polignac die Er-
laubniß dazu von St. Cloud eingeholt hatte, ward dem Mar-
schall diese Ordre zugefertigt, und zugleich Eilboten nach den La-
gern von St. Omer und Lüneville gesendet, die Truppen in
Eilmarschen nach Paris zu entbieten. Augenscheinlich mußte der
Kampf allgemein und blutig werden. — Als der Morgen des
28. Juli heranbrach, bildeten sich Rotten von Arbeitern, zahlreicher
als Tags zuvor, bewaffnet mit Heugabeln, Piken, Eisenstangen
und gewichtigen Prügeln, zum Theil auch mit Flinten, Pistolen
und Säbeln. Schon vor Tagesanbruch hatte man Barricaden
aus Bauholz, aus Tonnen, die mit Steinen angefüllt waren,
errichtet, und unter der Leitung alter erfahrener Soldaten vervoll-
kommten sich diese mit jeder Stunde. Die Straßen wurden zu
diesem BeHufe entpflastert, die Steine zum Theil in die Hauser
getragen, damit es nicht an Angriffs- und Vertheidigungsmitteln
fehlen möchte. Die Nationalgarden zeigten sich in Haufen von
vierzig bis fünfzig Mann, und zwar in Uniform und mit Gewehr.
Wie in einem Augenblicke verschwanden die königlichen Wappen;
sie wurden sogar vor den Augen der Militairposten durch den
Straßenkoth gezogen. Mit derselben Schnelligkeit erfolgte die Be-
setzung des Zeughaufes, der Pulvermühle, des Waffendepots, die
Oeffnung des Militairgefangnisses der Abtei und die Besetzung
des Stadthauses. — Gegen neun Uhr langten fünf Bataillone
der Leibwache auf dem Carouffelplatze und zwei Schweizerba-
taillone auf dem Platze Ludwigs XV. an. Neben dem ersten
225 —
stellten sich drei Schwadrone:; Lanzenreiter mit zwei Batterien
Artillerie in Schlachtordnung, Von den LiDnregimentern hatten
drei den Bendüme-Platz und die Boulevards bis zur Bastille
besetzt, wo sie sich an die Kürassiere anschließen sollten. Den Sol-
daten waren, zwanzig bis dreißig Patronen gegeben; dabei aber
hatte man vergessen, für Lebensmittel zu sorgen, — wahrscheinlich,
weil man den Kampf für zu unbedeutend hielt — und die hungri-
gen Soldaten konnten für Geld weder Brod noch geistige Getränke
erhalten; denn alle Laden waren geschlossen, und kein Pariser
Bürger ließ sich bewegen, den Trabanten des Despotismus Nah-
rungsmittel zu verabreichen.
Durch die von allen Seiten her anlangenden Berichte über
die wahre Lage der Dinge aufgeklart, ermangelte der Marschall
nicht, einen Offizier mit einem Schreiben nach St. Cloud zu fen-
den, in welchem er dem Könige anzeigte, „daß dies nicht mehr
ein Aufstand, sondern eine Umwälzung sey, daß Maßregeln
der Besänftigung dringend nothwendig waren; daß die Ehre der
Krone noch gerettet werden könne, was morgen zu spat seyn
würde." Dies Schreiben aber gelangte nicht zu dem Könige.
Inzwischen setzte Marmont, um nichts zu versäumen, mehre Co-
lonnen in Bewegung; es erfolgten lebhafte Angriffe in allen Thei?
len der Stadt. Die Hauptgefechte sielen auf den Boulevards, in
der Straße von Montmartre und beim Stadthause vor, was
die Garden wieder zu nehmen versuchten; sie wurden aber mit
dem Rufe: „ES lebe die Charte! Nieder mit den Ministern!"
empfangen und mit großem Verluste bis nach den Tuilerien zurück-
getrieben. Hier hatte sich Polignac nebst den übrigen Ministern
dem Generalstabe angeschlossen, um den Marschall mit ihrem Ra-
the zu unterstützen, wenn irgend ein bedeutender Unfall ihn zu
einer Uebereilung geneigt machen sollte. Von nun an gewannen
die Begebenheiten mit jedem Augenblicke ein ernsteres Ansehen;
man schlug sich in allen Theilen der Stadt mit der größten Erbit-
terung. — Um, wenn noch möglich, dem Blutvergießen Ein-
halt zu thun, begab sich ein Verein von Deputaten, die sich schon
am frühen Morgen zur Berathung versammelt hatten, zu dem
Marschall Marmont. Die Deputation bestand aus dem General
Gerard, dem Grafen Lob au, Jakob Lafitte, Casimir Per-
vier und Ma uguin. Lafitte führte das Wort. Er schilderte
mit Warme in den kräftigsten Ausdrücken die furchtbaren Scenen,
R. G. IV. " 13
— 226 —
welche bereits stattgefunden hatten, nnd machte den Marschall mit
feiner Ehre für das weitere Blutvergießen und die schrecklichen
Folgen im Namen Frankreichs verantwortlich. Der Herzog ent-
schuldigte sich mit den positiven Befehlen, die er erhalten, in
deren Vollziehung „die Ehre eines Soldaten bestände." Das ein-
zige Mittel, dem Blutvergießen ein Ziel zu setzen, fey, so meinte
er, daß die Pariser zum Gehorsam zurückkehrten. Lasitte antwor-
tete: „„daß, wenn alle Rechte des Landes verletzt waren, man
einen solchen Gehorsam nicht erwarten könne." " — „Welches sind
denn die Bedingungen, die Sie vorschlügen?" fragte der Mar-
schall. „„Wir glauben auf die Massen nur dann einen Einfluß
üben zu können, wenn wir ihnen Zurücknahme der gesetzwidrigen
.Ordonnanzen, Entlassung der verhaßten Minister und Berufung
der Kammern auf den 3. August ankündigen könnten."" Der Mar-
schal! erwiederte, „daß er es als ein unglückliches Verhangniß sei-
nes Lebens betrachte, die Gesinnungen der Deputirten zu theilen,
und durch seine Pflicht gebunden zu sein." Lasitte ersuchte ihn
hieraus, den König mit ihrem Verlangen bekannt zu machen; was
der Marschall in der kürzesten Frist zu lhun versprach, jedoch nicht,
ohne seine Zweifel an einem glücklichen Erfolge auszusprechen.
„Wollen Sie indeß — fuhr der Herzog fort — eine Conferenz mit
dem Fürsten Polignac halten, so will ich ihn mit Ihrem Wun-
sche bekannt machen." Auf die bejahende Antwort begab sich der
Marschall hinweg, kam aber bald mit bewegter Miene zurück und
verkündete den Abgeordneten, daß der Minister erklart habe, die
vorgeschlagenen Bedingungen machten jede Unterredung überflüssig.
„„So haben wir den Bürgerkrieg!"" rief Lasitte. Schweigend ver-
beugte sich der Marschall, und die Deputirten entfernten sich.
Der Kampf begann immer unheilvoller zu werden; die drei-
farbige Fahne wehte überall; in breiten Massen bewegte sich das
Volk gegen den Kornmarkt und das Stadthaus. Der Marschall
erhielt eine königliche Ordre, seine Truppen auf dem Caroussel-
platze und dem Platze Ludwigs XV. zu vereinigen und mit Mas-
sen zu agiren." Um eilf Uhr ertönte der erste Kanonenschuß.
Die Kanonade dauerte mit Unterbrechungen bis ein Uhr; alle
Theile der Stadt wurden durch grobes Geschütz in Schrecken ge-
setzt. In der Gegend des Grvveplatzes unterhielt das Militair,
von sechs Kanonen unterstützt, ein ununterbrochenes Gewehrfeuer.
Das Volk schoß aus den Fenstern des Stadthauses, dessen Fronte
— 227 —
einen Theil des Greveplatzes bildet, und zwang, als den Trup-
pen bereits der Schießbedarf ausging, dieselben zum Weichen.
Marmont, der mit frischen Truppen herbeieilte, säuberte die
Straße Montmartre ohne viele Mühe. Aber in den angren-
zenden Straßen behielten die Bürger die Oberhand. Man feuerte
aus den Häusern; Blumentöpfe, Dachziegel, ja, ganze Schorn-
steine wurden auf die Truppen geworfen, Töpfe voll siedenden
Wassers, Vitriolsaure und Scheidewasser aus den Fenstern gegos-
sen. Dabei wurden die Truppen von Hunger und Durst gequält;
aus den Hausern ward ihnen, wie schon gesagt, kein Bissen
Brod, kein Trunk Wasser verabreicht. Zu gleicher Zeit hieb man
auf den Boulevards die Baume um, und legte sie quer über die
Straßen; man streute Glasscherben und spannte in den Gassen
Seile, das Vordringen der Cavallerie zu erschweren; das Gitter
vor dem Justizpalaste ward niedergerissen; Gerüste, Karren aller
Art wurden in Requisition gesetzt, um Verrammelungen zu bilden.
Dies Alles geschah, wahrend ringsum die Kugeln pfiffen und
die Kanonen donnerten; in jeder Pause hörte man wildes Geschrei
und den Ruf: zu den Waffen! — So brach die Dämmerung
herein und noch immer dauerte der Kampf fort. Erst gegen Mit-
ternacht hörte derselbe auf, und das ermattete Volk gab den Wi*
verstand auf. Der Marschall zog seine Truppen zusammen, und
ein starkes Detaschement Garden ward vor dem Vouvre aufgestellt.
Diese zogen jedoch um drei Uhr ab, und die Vertheidigung des
Palastes ward den Schwcizertruppen anvertraut, welche man zwi-
schen den Doppelsaulen und an den Fenstern aufstellte, wo sie
ungefährdet feuern konnten. — Noch eifriger aber bereitete sich
das Volk auf den entscheidenden Kampf des folgenden Tages.
Bei der Warricadenarbeit halfen die Zöglinge der polytechnischen
Schule, damit sie nach den Regeln der Kunst zu Stande kommen
möchte; zugleich versah man sich mit Schießbedarf; überall waren
Tags zuvor Waffen, selbst von dem vertriebenen Herzog Karl
von Braun schweig, der sich seit einiger Zeit in Paris auf-
hielt, erpreßt worden.
Als der Morgen des 29. Juli anbrach, erscholl in allen Thei-
len der Stadt das grausenerregende Getön der Glocke; das Volk
hatte sich der Kirchtürme bemächtigt und lautete unermüdet Sturm.
Die Bewohner der Vorstadt St. Germain, welche am verwi-
chenen Tage unthäug geblieben waren, rüsteten sich nun auch zum
13*
— 228 —
Kampfe. Um 4 Uhr begann das Volk auf der linken Seite des
Louvre eine Barriere zu bilden; sogleich ward auf diesen Punkt
von den Schweizern ein mörderisches Feuer eröffnet und dauerte,
ohne einen Augenblick Unterbrechung, die ganze Zeit dieser Dpera-
tivn fort. Viele vom Volke sielen. Ein Sterbender rief: „Es
lebe die Nation!" und mit einem lauten Rachegeschrei, das die
königlichen Truppen bestürzte, antworteten die Bürger. Jnzwi-
schen war eine unermeßliche Menge junger Leute dem Vendome-
platze zugeströmt, wo zwei Linienregimenter aufgestellt waren,
nebst den Ueberresten der Gensd'armerie. Diese Truppen, ermü-
det von dem Widerstände des vorigen Tages, sahen sich kaum
auf allen Seiten von der Menge umdrängt, als sie die Bajonette
abnahmen, das Gewehr umkehrten und sammt ihren Ossizieren
zur Volkspartei übergingen. Die Bürger ließen dafür ein jubeln-
des Dankgeschrei erschallen. Dieser Abfall nöthigte den Marschall
Marmant, eins von den Schweizerbataillonen, welche den Louvre
verteidigten, abzusenden, um den Zugang zu den Tuilerien zu
bewahren. Um eilf Uhr war die Barriere vor dem Louvre vollen-
det, und es ward sogleich von derselben ein hitziges Feuer unter-
halten. Von diesem Walle gelangten zwei der Angreifenden zuerst
durch einen Sprung auf das Gitter, das die Fronte des Louvre
einschließt, wo sich eine niedrige, nur dritthalb Fuß hohe Mauer
befindet, unter welcher sie sich niederließen und auf die Truppen
zu feuern fortfuhren. Ihrem Beispiele folgten sogleich zwei Na-
tionalgardisten, von denen der eine in der Hand eine dreifarbige
Fahne trug, die er dicht am Gitter aufpflanzte. Diese That ward
mit dem tausendstimmigen Rufe: „Es lebe die Nation!" begrüßt.
Bald darauf stürzten einige Hundert der Angreifenden, trotz des
lebhaften Feuers, gegen die Thore und drangen in den Palast.
Bald folgten Tausende diesem Beispiele und gaben Feuer auf die
Truppen, die den innern Hos besetzt hielten. Dieser unerwartete
Angriff und die Nachricht von dem Abfalle mehrerer Regimenter,
vielleicht auch die Rückerinnerung an den 10. August des Jah-
res 1732 brachten Bestürzung unter die Schweizer, und als ihre
Offiziere sich vergeblich um Einstellung der Feindseligkeiten bewor-
ben hatten, waren sie genöthigt, den Louvre zu verlassen und sich
nach den Tuilerien zurückzuziehen.
Unterdessen hatten die bewaffneten Bürger aus den Vorstäd-
ten, fünf bis sechs Tausend an der Zahl, den Angriff auf zwei
— 229 —
Garderegimentcr unternommen, die in dem sogenannten Garten
der Infantin lagen, ferner auf drei starke Detaschements Uhla-
nen, Kürassiere und Grenadiere, die den Earousselplatz besetzt hielten,
und die von einer in dem Garten der Tuilerien aufgepflanzten
Artillerie unterstützt waren. Die Garde ließ die ersten Angrei-
senden heran kommen und metzelte die vorderste Reihe nieder; aber
frische Schaaren trieben sie zurück. Mitten unter dem heftigsten
Feuern wurden die eisernen Gitter zertrümmert. Dies Unterneh-
men, welches die Bürger in den Besitz der Tuilerien setzte, ward
mit außerordentlicher Schnelligkeit ausgeführt. Die Tuilerien, wo
seit sieben Uhr Morgens ununterbrochen gekämpft ward, wurden
zweimal genommen und zweimal verloren, bis endlich die Bürger
Sieger blieben; sogleich ward auf dem Mittelpavillon die drei«
farbige Fahne aufgepflanzt. — Aehnliche furchtbare Kampfe fan-
den an demselben Vormittage in den übrigen Theilen der Stadt,
vorzüglich in der Straße St. Honore, nahe am Ende der Straße
Richelieu und auf dein Platze vor dem Palais-Royal statt,
wo sich die Schweizer und die Garde in den Häusern verschanzt
hatten; diese wurden nach einem großen Blutbade endlich erstürmt,
und die königlichen Truppen mußten auch dort weichen.
Die Minister hatten schon am Morgen die Tuilerien verlas-
sen und sich nach St. Cloud begeben, und seit ihrer Entfernung
hatte Marmont sich nur auf Verteidigung beschrankt. Nachdem
aber die wichtigsten Punkte, nämlich das Stadthaus, der Louvre,
die Tuilerien und das Palais-Royal in die Hände der Bürger
gefallen waren, blieb dem Marschall keine andere Wahl, als die
Hauptstadt zu räumen; er zog sich über die Elyseischen Felder
zurück und führte die geretteten Truppen in zwei Colonnen durch
das Gehölz von Boulogne nach St. Cloud. Nach dem Abzüge
des Marschalls blieben in Paris nur das Bataillon der Militair--
schule und das Depot der Schweizer in der Kaserne der Baby-
lonsstraße zurück. Der Commandant des Depots, Major Du-
fry, ein alter Soldat, der dreißig Jahre gedient und ruhmwür-
dige Schlachten bestanden hatte, verwarf jeden Vorschlag. Erst
als das Volk Feuer an den großen Eingang der Kaserne gelegt
hatte, und der Major bei einem Ausfalle war erschossen worden,
ward die Kaserne nach einem wüthenden Kampfe genommen. Der
Nest der tapfern Schweizer ward durch die Schüler der polytech*
irischen Schule vor der Wuth des Volks gerettet und schloß sich
— 230 —
zu (St Cloud den übrigen an. Dies war der letzte Auftritt des
blutigen Schauspiels, dessen Bühne Paris drei Tage hindurch ge-
wesen war. Gegen Abend sahen sich die Bürger in unbestritte-
nem Besitze von ganz Paris, und Niemand war mehr in dieser
großen Stadt, der die Gewalt des Königs vertheidigt hatte. —
Ueber die Anzahl der Opfer, welche an jenen drei furchtbaren
Tagen gefallen sind, herrscht großer Widerspruch in den Angaben.
Nach den späterhin angefertigten Listen betrug auf Seiten d'es
Volks die Zahl der Tobten 788, die der Verwundeten 4500,
Andere Berichte geben mehr, denn das Sechsfache an. Indessen
blieben mehr Königliche, als Bürger; denn die Letzteren kämpften
hinter den Barrieaden, schössen aus den Fenstern und von den
Dachern auf die freistehenden Truppen, von denen mehrere absicht-
lich in die Luft schössen. — Am folgenden Morgen ward eine
große rührende Todtenfeier veranstaltet. Dem Louvre gegenüber,
in der Nahe der Kirche St. Germain l'Auxerrois, wurden auf
einem freien Platze die Leichname der gefallenen Freiheitshelden
in zwei große, mit ungelöschtem Kalk halb angefüllte, Gruben
gelegt. Ein Priester weihte die Erde der Tobten, und die Natio-
nalgarde feuerte über dem weiten Grabe ihre Gewehre ab. Auch
ward sogleich in den zwölf Bezirken von Paris eine freiwillige
Subscription für die Frauen und Kinder der Gemordeten eröffnet,
welche reichliche Ausbeute gewahrte. Der Herzog von Orleans
unterzeichnete 209,000 Franken.
Inzwischen hatten sich schon am 27. Juli Nachmittags meh-
rere Deputirte der liberalen Partei: Dupin, Lafitte, Guizot,
Mauguin, Sebastian!, Lobau und Andere bei Casimir
Perrier versammelt und sich, in Uebereinstimmung mit den übrigen
in der Stadt anwesenden Deputirten von Frankreich, zu einer pro-
visorischen Regierung constituirt. Der General Lafayette, der
auf die Nachricht von dem, was in der Hauptstadt vorging, aus
bedeutender Entfernung herbeigeeilt war, ward zum Oberbefehls-
Haber der Nationalgarde ernannt. Er zog sogleich in der Uni-
form derselben, von begeisterten Jünglingen und Nationalgarden
umgeben, nach dem Stadthause, wo man Karls X.Büste bereits
zertrümmert, Ludwigs XVIII. Brustbild beseitigt und die mit
Lilien verzierten Behänge zerrissen hatte. Am 29. Nachmittags
begab sich auch die provisorische Regierung dahin, ihren Sitz da-
selbst aufzuschlagen; sie ward von dem versammelten Volke mit
— 231 —
dem Rufe: „Es lebe die Freiheit! Nieder mit den Bourbons!"
empfangen. Dies war der erste Anfang der wiederkehrenden Ord-
nung. Am nächsten Tage versammelten sich die zu Paris anwe-
senden Pairs und die Deputaten der zweiten Kammer zu gehei-
mer Berathung in ihren gewöhnlichen Sitzungssälen, überzeugt,
daß man einen Entschluß fassen müsse, der Anarchie vorzubeugen.
Man sprach von Wiederherstellung der Republik; diese hatte ihre
Anhänger besonders in den Schulen und geringeren Classen der
Bürger. Dagegen brachte Laft'tte, Chef eines großen Handlungs-
Hauses, die Erhebung des Herzogs von Orleans auf den Thron
von Frankreich in Vorschlag; er nannte dies das einzige Mittel,
eine abermalige, dem Volke verhaßte Restauration und zugleich
die Republik, wie die Anarchie zu vermeiden. Dupin mit mehre--
ren reichen Leuten stimmten bei. Dies geschah am 30. Juli.
Zwar sprachen mehrere Deputirte noch dagegen; allein nachdem
Laft'tte auch den General Lafayette für seinen Vorschlag gewonnen
hatte, ward von den versammelten Deputirten der Beschluß ge-
faßt, daß der Herzog von Orleans solle eingeladen werden, die
Stelle eines Generalstatthalters des Königreichs zu übernehmen
und als solcher die Nationalfarben beizubehalten. Die Pairs tonn-
ren nicht anders, als diesem Beschlüsse beistimmen, und so bega-
ben sich mehrere Abgeordnete nach Neuilly, dem Landsitze des
Herzogs, um ihn zur Übernahme der ihm anvertrauten Würde
zu bewegen. Sie fanden den Prinzen in großer Unruhe über die
Begebenheiten der letzten Tage. Er weigerte sich lange, bis die
Vorstellung, daß es seine Pflicht sei, dem allgemeinen Umstürze
zu wehren, und daß es kein besseres Mittel gäbe, sich selbst und
seine zahlreiche Familie vor tausend Widerwärtigkeiten und Unfäl-
len zu bewahren, ihn bestimmte, der Einladung Folge zu leisten.
Noch an demselben Tage traf er in der Hauptstadt ein. Das
Gerücht davon verbreitete sich schnell durch die ganze Stadt. Die
Deputirtenkammer versammelte sich, und man war eben zur Bera-
thung zusammengetreten, als der Graf Su ssy als Abgeordneter
Karls X. erschien. Er überbrachte drei Ordonnanzen, von wel-
chen die erste die Zurücknahme der Verordnungen vom 93. Juli,
die zweite die Einberufung der Kammern anf den 3. August, die
dritte endlich die Ernennung eines neuen Ministeriums enthielt.
Zwölf Stunden früher würde diese Botschaft höchst willkommen
gewesen sein; am 30. Juli Nachmittags war sie es nicht mehr.
— 232 —
„Es ist zu spat! — hieß es jetzt — Karl X. ist nicht mehr König
von Frankreich!" — Am folgenden Morgen ward im Namen des
neuen Generalstatthalters eine Proclamation an die Bewohner der
Hauptstadt gerichtet, worin ihnen angezeigt ward, daß der Her-
zog, von den Deputaten gerufen, die ihm anvertrauete Würde
übernommen, und mit Stolz die glorreichen Farben trage, welche
die heldenmüthige Nation wieder angenommen, und die er einst
selbst getragen habe. „Die Kammern würden sich vereinigen, um
die Mittel aufzufinden, die Herrschaft der Gesetze und die Auf-
rechthaltung der Nationalrechte zu sichern. Die Charte werde in
Zukunft eine Wahrheit sein." — Die Deputaten begaben sich
nach dem Palais-Royal, der Wohnung des Herzogs von Orleans,
um ihn nach dem Stadthanse zu begleiten. Der Prinz, mit den
Nationalsarbcn geziert, stieg zu Pferde, ganz allein, ohne Be-
deckung. Einige Zöglinge der polytechnischen Schule eröffneten den
Zng. Ein Freudengeschrei erhob sich allenthalben, Aber mit
dem Rufe: „Es lebe der Herzog von Orleans!" mischten sich auch
andere. Viele Stimmen riefen: „Es lebe die Freiheit!" andere:
„Es lebe die Republik! — Keine Bourbons mehr! — Es lebe
Lafayette!" — Als der Prinz mit seinem Gefolge naher kam,
ging ihm Lasayette, umgeben von seinem Generalstabe, bis an die
äußere Treppe des Stadthauses entgegen. Der Herzog sagte:
„Ein alter Nationalgardist kömmt, um seinen General zu begrü-
ßen/' Beide umarmten sich mit einer Herzlichkeit, die das Volk
entzückte. Gestützt auf den Arm Lafayette's und Lasitte's ging
der Prinz die Stufen hinan. In dem großen Saale, wo einst
Ludwig XVI. am 17. Juli 1789, unter dem Generalcommando
Lafayette's, die Nationalcocarde aufgesteckt hatte, ward der Her-
zog zum Generalstatthalter ausgerufen. Er ließ hierauf eine Be-
kanntmachung über die Bürgschaften der Freiheit vorlefen, trat
sodann an der Hand des General Lafayette an das Fenster des
Stadthauses und grüßte wiederholt jene unermeßliche Bevölkerung,
welche den Grcveplatz bedeckte, indem er zugleich die National-
fahne schwenkte; beim Abschiede umarmte er nochmals Lafayette.
Das Volk bezeigte seinen Beifall durch Jauchzen, und der Prinz
kehrte mit demselben Gefolge, das ihn nach dem Stadthause beglei-
tet hatte, nach seinem Palaste zurück. Zugleich ward eine Pro--
clamation der Munizipalcommission angeschlagen, daß Karl X.
zu regieren aufgehört habe.
— 233 -
Der König befand sich wahrend dieser Vorgange mit seinen
Getreuen noch zu St. Cloud, wo die Lage der Dinge von Srunde
zu Stunde bedenklicher geworden war. Tausend widerspruchsvolle
Gerüchte hatten den Hof in fortwährender Spannung erhalten«
Als nun am 30. die Schreckensnachricht von dem Siege der Volks«
Partei ankam, hielten die Geangstigten sich, in solcher Nahe der
Hauptstadt, nicht mehr gesichert gegen die Volkswuth und brachen
noch vor Tagesanbruch, am 31. Juli, von St. Clond auf. Be-
gleitet von der Herzogin Berry, ihrer Tochter, Mademoiselle von
Frankreich, und ihrem Sohne, dem Herzog von Bordeaux, sowie
von den gewesenen Ministern und einigen Dienern, wendete der
König sich zunächst nach Versailles; dann, als man ihn dort
nicht einließ, weil der Ort schon im Besitze der Nationalgarde
war, nach Rambouillet. Der Dauphin blieb noch bis drei
Uhr Nachmittags und eilte dann nach Sevres, wo sich ein CorpZ
treu gebliebener Truppen aufgestellt hatte*). Von Rambouillet
aus machte der König der provisorischen Negierung seinen Ent-
schluß, Frankreich zu verlassen, bekannt und verlangte, daß An-
stalten getroffen würden, ihn mit seiner Familie sicher nach Eher-
bourg zu begleiten, wo er sich einschiffen wolle. Als aber die
zu diesem BeHufe ernannten Commissarien in Rambouillet eintra-
fen, erklarte Karl, daß er diesen Ort erst nach Gewährung feiner
Forderung verlassen, die er in Betreff seines Enkels gemacht,
im entgegengesetzten Falle aber sich auf das Aeußerste vertheidigen
werde. Er hatte nämlich am Tage zuvor ein Schreiben an den
Herzog von Orleans gesendet, Inhalts dessen er ihm die Statt-
halterschaft des Königreichs übertrug; er selbst habe, nebst dem
Dauphin, der Krone zu Gunsten des Herzogs von Bordeaux ent-
sagt. „Sie haben daher, — so hieß es ferner — in Ihrer Eigen-
schuft als Reichsverweftr, die Thronbesteigung Heinrichs V.
proclamiren zu lassen. Im Uebrigen werden Sie alle von Ihnen
abhängige Maßregeln ergreifen, um die Form der Regierung wah-
rend der Minderjährigkeit des neuen Königs festzustellen. Sie
*) Er hatte am Tage zuvor in der Erbitterung über den unglücklichen
Ausgang den Marschall Marmont einen Vcrräther genannt, ihm den
Degen entrissen und ihn verhaften lassen. Der König aber suchte den Mar-
schall zu beruhigen , hob seine Verhaftung auf und ließ ihm den Degen
wieder zustellen.
— 234 —
werden meine Absichten dem diplomatischen Corps mittheilen und
mir, sobald wie möglich, die Proklamation znsenden, durch welche
mein Enkel als König, unter dem Namen Heinrich V., aner-
kannt wird. Wir werden hierauf die sonstigen Maßregeln ordnen,
welche eine Folge des Regierungswechsels sind." Dieses Acten stück
setzte ganz Paris in Bewegung, welche noch höher stieg, als die
Commissarien unverrichteter Sache zurückkehrten, und sich in der
Hauptstadt das Gerücht verbreitete, Karl X. wolle nicht abreisen,
sondern beabsichtige, Widerstand zu leisten. Der König hatte noch
immer eine betrachtliche Truppenanzahl um sich, die wohl an
4000 Mann von allen Waffenarten betragen mochte. Eine solche
Stellung des vertriebenen Monarchen durfte auch von Seiten der
neuen provisorischen Regierung nicht geduldet werden. Man be-
schloß daher, einen entscheidenden Schritt zur Abstellung eines für
die Ruhe der Hauptstadt so gefährlichen Verhältnisses zu thun;
der General Lafayette ward beauftragt, 6099 Mann Ratio-
nalgarden nach Rambouillet aufbrechen zu lassen. Sobald aber
das Gerücht von diesem Marsche sich in Paris und der Umgegend
verbreitete, vergrößerte sich die Zahl der zu solchem Zuge frei-
willig Herbeieilenden bis ans 40,WO Mann. Zu gleicher Zeit
sendete der Herzog den Marschall Maison und die Deputirten
von S ch o o n en und D d i l lo n -B a rr o t nach Rambouillet, um
Karl X. durch Mittel der Ueberredung zu einem für die Ruhe
Frankreichs nothwendig gewordenen Exile zu bewegen und für
seine Sicherheit, sowie für die Bedürfnisse feiner Reise bis zur
Grenze zu sorgen.
Um diese Zeit kam die Dauphine zu Rambouillet an. Sie
war seit dem Anfange des Juli in den Badern zu Viesy gewe-
scn und war auf die Schreckenskunde zurückgeeilt. Ihre Ahnung
ließ sie, bei dem traurigen Rückblicke auf ihre Jugend, den schreck-
lichen Ausgang vorher sehen. In Dijon sah sie im Theater die
Volksstimmung mit Entsetzen. Sie reiste von dort in der Nacht
ab, verkleidete sich in Tonnerre und fand schon in Fontaine-
bleau die dreifarbige Fahne; sie reiste incognito durch Ver-
sailles und traf in Rambouillet Oheim und Gatten auf der
Bahn der Landesverweisung, die sie kurz zuvor im höchsten Glänze
verlassen hatte. Schon war der König von seinen Ministern ver-
lassen, welche verschiedene Wege eingeschlagen hatten, um der
Bolkswuth zu entgehen. Nur Polignac war bei ihm zurückge-
— 235 —
blieben, doch ohne sich zu zeigen. Die Ueberzeugung, daß Nichts
mehr zu gewinnen, wobl aber Alles zu verlieren sei, lag vor
Augen und drängte sich selbst der Leibwache auf. Drei Regimen«
ter schwerer Cavalerie verließen ihre Stellung, und selbst die
Garden, die in Rambouillet geblieben waren, gingen in Masse
ab. Bald verbreitete sich auch das Gerücht von der Annäherung
der gegen Rambouillet aufgebrochenen Pariser Erpedition. Am
dritten August Abends acht Uhr trafen die Abgeordneten des Her-
zogs von Orleans beim Könige ein. Sie fanden hier Alles in
der größten Verwirrung. Fleisch, Wein, Pferdefutter war fast
nicht mehr zu haben; die königliche Familie hatte bereits ihr
Silbergeschirr versetzt, um Lebensmittel für die Soldaten herbei-
zuschassen; denn die Minister, den Ausgang der Julitage durch-
aus nicht ahnend, hatten vernachlässigt, Geld nach St. Cloud zu
senden. Die Bauern waren im Aufstande und hatten am Morgen
desselben Tags einen Obersten von der Garde getödtet, weil könig-
liche Soldaten einen Adjutanten Lafayette's erschossen. Diese
Vorgänge verschafften den Abgeordneten leichtes Gehör. Alle
Schwierigkeiten waren plötzlich gehoben; die sofortige Abreise noch
vor Ankunft der Pariser Armee ward genehmigt, sowie die Ent-
lassung der Leibwache, das Geleit der Commissarien und die Zu-
rückgabe der Krondiamanten. Diese wurden von dem General
Pajol in den Kronschatz zurückgebracht. — Die Abreise geschah
noch in der Nacht. Die Fußgarden begleiteten den König bis
Maintenon, wo er in einem von dem Marschall Marmont
unterzeichneten Tagesbefehle von ihnen Abschied nahm; worauf
diese, nachdem sie dem Könige die letzte Ehre erwiesen und ihre
Fahnen zurückgegeben hatten, ihn verließen. Die Bedeckung
bestand von nun an nur aus 800 Reitern mit zwei Kanonen,
den Herzog von Ragusa an der Spitze. In dumpfem Schmerze
zog die königliche Familie mit ihrer Begleitung am 7. August
durch Verneuil; mit dem Könige im Wagen befand sich der
General Maison, dem der König bekanntlich erst vor Kurzem
den Marschallstab verliehen hatte. In Argenteau ward Rast
gehalten, weil der König die Messe hören wollte. Die Natio-
nalgarde machte dem königlichen Zuge durchaus keine Ehrenbezei-
gung. Hier empfing Karl X. die erschütternde Nachricht von der
Erhebung Ludwig Philipps !. auf Frankreichs Thron, (f. d.
f. Art.).
— 236
Die den König begleitenden Commissarien fürchteten, daß
derselbe die Absicht haben möchte, sich mit der Bretagne in Wer-
bindung zu setzen, auf Hülfe der Engländer rechnend, einen
royalistischen Verein zu bilden und von dort aus die Contre-Revo-
lution Zu beginnen. Sie suchten daher den Zug von der Grenze
der Bretagne zu entfernen; doch bald überzeugt, daß es Karl X.
sowohl, der sich mit Vogelschießen unterwegs die Zeit vertrieb,
wie seiner Umgebung, zur Ausführung eines solchen Plans an
Muth und Entschlossenheit gebreche, ließen sie ihn auf der von
ihm gewählten Straße über Conde fortziehen. Was der ent-
thronte Monarch in Conde sah, mußte vollends seine letzten Hoff-
nungen ersticken. Nicht nur war dort von militairischen Ehren-
bczeigungen keine Spur, sondern das erbitterte Volk rief auch den
Namen Polignac mit den furchtbarsten Verwünschungen aus, und
Marmont wäre sicher ein Opfer der Volkswuth geworden, hätte
nicht Maifon durch sein Ansehen die Zufaminenrottirung zerstreut.
Der Marschall legte nun seine Ordensdecorationen ab und fand
Schutz in unmittelbarer Nahe des Königs, der selbst kein sichere-
res Nachtquartier, als im Hause eines Protestanten, finden konnte.
Zu Valognes fand der gebeugte königliche Greis Aufnahme
im Haufe eines normannischen Edelmannes, Namens Dume-
nildot, dessen Urgroßvater auch den verjagten Jacob Stuart
aufgenommen hatte. Dies waren für Karl und seine Getreuen
schreckende Nückerinnerungen. Jetzt ward also der Entschluß gefaßt,
ohne längeren Verzug nach Cherbourg aufzubrechen und sich ein-
zuschiffen. Dennoch Wurden die letzten Trümmer der Leibwache,
welche treulich bei den Unglücklichen ausgehalten hatte, aufgefor-
dert, ihre Fahnen nunmehr an den König abzugeben. Die Offl-
ziere und die vier und zwanzig Attesten der Gemeinen erschienen,
wie im Trauerzuge, mit ihren Fahnen vor dem Konige. Dieser
schien tief bewegt; die Dauphine zerfloß fast in Thranen, und ihr
Gemahl, der Herzog von Angouleme, stand dabei in dumpfer
Betäubung. Die Herzogin von Bern) aber und ihre Kinder
sahen ruhig dem ezßchütternden Schauspiele zu. „Ich nehme —
sagte Karl — Eure Fahnen zurück; sie sind ohne Makel! mein
Enkel wird sie Euch wiedergeben!" Darauf nahm er die Fah-
nen und umarmte die Offiziere; die Damen reichten den treuen
Trabanten die Hand zum Kusse. Nun entfernten sich auch die-
jenigen Offiziere, welche ohne Truppen dem Könige gefolgt waren.
— 237 —
Am Iß. August langte man endlich in der Nahe von Cherbourg
an; ein schmerzlicher Tag für die königliche Familie, die sich
auf's 9teue von Frankreich trennen sollte. Karl X., dem man
trotz seiner Abdankung den Königstitel nicht versagt halte, legte
jetzt das Kleid ab, was er sonst zu tragen gewohnt war, von
halb bürgerlichem ,halb militärischem Schnitte, mit starken golde-
nen Epaulettes, auf welchen eine KöWgskrone gestickt war; auch
jedes andere Abzeichen, außer dem Kreuze der Ehrenlegion, dem St.
Ludwigsorden und der Platte des Heiligen Geistordens, legte er
ab. Ein langer bürgerlicher Oberrock trat dafür ein. Seinem
Beispiele folgten der Dauphin und die Prinzessinnen.
Man zog schnell durch die Hafenstadt, weil das schreckende
Geschrei: „ES lebe die Freiheit! Es lebe die Charte!" sich von
allen Seiten vernehmen ließ. Von dem hier befindlichen Mili-
tair wurden den Verbannten die üblichen Ehren bewiesen — die
letzten öffentlichen Huldigungen. Wahrend der Einschiffung ver-
hielt das in unzahlbarer Menge herbeigelaufene Volk sich ruhig,
ohne Zeichen der Theilnahme. So- verließen am 16. August
Nachmittags die verbannten Bourbons zum zweiten Male die Küste
Frankreichs.
Am 18. landete die königliche Familie in Portsmouth;
sie ward aber daselbst von der Einwohnerschaft unfreundlich cm-
pfangen. Wahrend die Fahrzeuge in der Nahe der Stadt vor
Anker gegangen waren, um die Erlaubniß zur Landung von der
englischen Regierung zu erwarten, steckten die Bürger die drei-
farbige Cocarde an, die Damen zierten sich mit dreifarbigen Ban-
dern, und man pflanzte auf vielen Hausern die dreifarbige Fahne
auf. Auch die Behörde zeigte Kälte und Verdruß, und nur mit
Widerwillen wurden die Verbannten in England geduldet. Karl
wünschte daher das alte Schloß Holgro od bei Edinburgh, wel-
ches er schon einmal in seinen früheren Verbannungsjahren bewohnt
hatte, wieder zu beziehen, was ihm von der englischen Regie-
rung auch gestattet ward. Der beliebte Romandichter W. Scott
suchte dem entthronten Monarchen in Schottlands Hauptstadt eine
freundliche, wenigstens nicht beleidigende oder krankende, Aufnahme
zu verschaffen. In einem durch die öffentlichen Blatter verbrei-
teten Schreiben sagt er: „Karl bringt uns sein graues, kronenlo-
ses Haupt, und so wird wohl unter einer Nation von ehrenhaft
toi Mannern Niemand gefunden werden, der niedrig genug wäre,
— '238 —
solch' kronenloses Haupt zu schmähen!" Als nach dieser Vorbe-
reitung der heimathlose Konig am 20. October mit dem Dampft
boote auf der Rhede von Leith ankam, ward er von den weni-
gen am Hafen versammelten Zuschauern achtungsvoll aufgenom-
men und nach dem Schlosse begleitet, wo man ihm zwar keine
militairischen Ehren erzeigte, jedoch freundlich und ehrerbietig ihn
bewillkommte. Die tiefe Rührung, welche aus seinen Mienen
sprach, hatte sich fast allen Anwesenden mitgetheilt.
Im Herbste 1832 begab sich Karl mit seiner Familie nach
Prag und von da 1836 nach Görz, wo er bald nach seiner
Ankunft, am 6. November, im achtzigsten Jahre seines wechselvol-
len Lebens, seine irdische Laufbahn beschloß.
Kndwig Philipp I., »König der Franzosen.
Ludwig Philipp, Herzog von Orleans, ward den 6. Oetober
1773 geboren. Seine Eltern waren jener uns bekannte Herzog
Ludwig Joseph Philipp, genannt Egalite, der im Novem-
ber 1783 sein Leben auf dem Blutgerüst endete, und Louise
Marie Adelaide von Panthlevres, eine der tugendhaftesten
Frauen ihrer Zeit. Die Bildungsperiode des jungen Prinzen siel
in einen Zeitraum, wo in Frankreich, wie in Deutschland, Begriffe
von zweckmäßigerer Erziehung vorherrschend geworden waren, als
die bisherige, welche vorzugsweise in Frankreich roh genannt
werden konnte. Nousseau's Werke galten da für Orakel. Je
weniger nun die Erziehung eines jungen Prinzen, der dem Throne
sehr nahe stand, vernachlässigt werden durste, desto eifriger war
man darauf bedacht, dem Herzog von Chartres — diesen Titel
führte Ludwig Philipp seit seinem zwölften Jahre; früher hieß er
Herzog von Valois — die wirksamsten Erzieher zu geben. Die
erste Stelle in dieser Eigenschaft erhielt der Ritter Bonnard,
- 239 —
ein durch Kenntnisse und sittliche Grundsatze ausgezeichneter Ossi-
zier, dem bald darauf eine geistreiche Frau als Gouvernante bei-
gesellt ward; dies war die als (Schriftstellerin berühmte Frau von
Genlis, In Verbindung mit der Herzogin-Mutter leitete
diese Frau die Erziehung der Orleans'schen Kinder, wie eS den
herrschenden, philanthropischen Grundsätzen entsprach, nach welchen
nicht blos die geistigen, sondern auch die physischen Fähigkeiten
des Zöglings nach ihrem ganzen Umfange sollten ausgebildet wer-
den. Der Herzog von Chartres mußte demgemäß neben seinen
wissenschaftlichen Studien, unter welchen die mathematischen die
erste Stelle einnahmen, sich z. B. mit der Wundarzneikunst be-
schäftigen und 'keineswegs gymnastische Hebungen vernachlässigen.
— Den ersten Beweis seiner philanthropischen Gesinnungen legte
der junge Herzog, wie erzahlt wird, dadurch an den Tag, daß er
auf dem Berge St. Michael den berühmten eisernen Käsich zer-
schlug, in welchem Ludwig XV. den Schriftsteller, der ein
Spottgedicht auf ihn und die Pompadour gemacht (s. N. Gesch.
B. II. S. 200), siebenzehn Jahre lang gefangen gehalten hatte.
Dies geschah im Jahre 1788. Als darauf im nächsten Jahre die
Revolution zum Ausbruche tarn, und die constituirende Bersamm-
lung decretirte, daß alle sogenannten Inhaber von Regimentern
diese entweder persönlich befehligen, oder den Dienst verlassen
sollten, da ergriff der Herzog von Chartres diese Gelegenheit, sich
dem Dienste des Vaterlandes zu weihen; er begab sich nach
Vendöme zu dem vierzehnten Dragonerregimente, das seinen
Namen führte, und erwarb sich die Bürgerkrone der Stadt, in-
dem er, mit Gefahr seines eigenen Lebens, zwei Männer vom
nahen Untergange rettete. Nach dem Ausbruche des Revolutions-
krieges diente er als Generallieutenant zuerst unter dem Marschall
Luckner, sodann focht er unter Kellermann in der Schlacht
bei Valmy (s N. Gesch. B. Iii. S. 213) und im folgenden
Jahr unter Dumouriez; bis er diesem Generale auf seiner
Flucht zu den Oesterreichern folgte (s. w. oben S. 234), wo der
Prinz von Coburg ihm die Stelle eines Generallieutenants an-
trug, die er jedoch nicht annahm, sondern sich in die damals neu-
träte Schweiz zurückzog. Zu Schaffhausen traf er mit seiner
Schwester und der Frau von Genlis zusammen; er theilte mit
Erstem seine geringe Baarschast und brachte sie mit Hülfe eines
väterlichen Freundes, des gleichfalls geflüchteten Generals Mo n-
— 240 —
tesqui en, in dem Kloster Bremgarten unter. Da in Paris die
Acht über ihn ausgesprochen, und ein Preis auf seinen Kopf
gesetzt war, so streifte er, in steter Sorge, erkannt zu werden,
lange in dein Gebirge der Schweiz umher und lebte in den
Hütten armer Hirten, Montesquieu verschaffte ihm endlich, als
seine Kasse ganzlich erschöpft war, durch Empfehlungen an den
Oberstlieutenant Jost, der früher in der Schweizergarde gedient
hatte, eine Lehrerstelle am Gymnasium zu Reichenau. Er
nannte sich nun, da sein Leben wahrend der Schreckensperiode
den größten Gefahren ausgesetzt war, von Sillery, und bald
nachher Chabos, um unerkannt zu bleiben. Der Volksaufstand
in Graubündten trieb ihn wieder aus seinem Asyle nach Bremgar--
ten; denn er mußte fürchten, in Reichenau erkannt zu werden,
da viele Volksabgeordnete daselbst erschienen. Nach Robespierre's
Tode verließ er die Schweiz, in der Absicht, sich nach Amerika zu
begeben; da er jedoch in Hamburg, wohin er sich gewendet
hatte, nicht die erwartete Unterstützung fand, so begab er sich
nach Kopenhagen, wo er durch einen Banquier Geld und
Passe zu einer Wanderung nach Norden erhielt. Er durchreiste
nunmehr Norwegen, Schweden und Finnland und ging dann
nach Stockholm zurück, wo er, weil sein Jncognito verrathen
war, von dem König Gustav IV. wohlwollend ausgenommen
ward. Der Gedanke, den Sturm der Revolution in Amerika
abzuwarten, war indeß noch immer nicht aufgegeben; besonders
drang seine Mutter auf die Ausführung desselben. Dahin sollten
sich auch die beiden jüngeren Brüder des Herzogs begeben. Er
selbst reiste über Hamburg voran und erreichte Philadelphia
im October 1796. Seine Brüder folgten ihm von Versailles
aus. Mit ihnen durchstreifte er die Vereinigten Staaten, fand
freundliche Aufnahme bei Washington und mußte, wahrend
das gelbe Fieber in Philadelphia wüthete, aus Geldmangel in
dieser Stadt bleiben. Der Ausenthalt der drei Brüder in Ame-
rika dauerte, unter mancherlei Widerwärtigkeiten, bis zum Jahre
1800, wo sie sich alsdann nach England einschifften. Still und
zurückgezogen lebte der Herzog mit seinen Brüdern hier in einem
menschenleeren Hause zu Twickenham, vorzüglich mit den Stu-
dien der brittischen Institutionen beschäftigt.
Im Jahre 1897 starb der jüngere Bruder des Herzogs, und
der ältere litt an einer auszehrenden Krankheit. Die Aerzte er-
— 241 —
klärten, daß der Leidende nur durch Veränderung des Klima
könne gerettet werden, und so begleitete Ludwig Philipp seinen
Bruder nach Malta. Dieser starb daselbst im Mai 1808. Von
hier begab sich der Herzog über Messina nach Palermo, dem
damaligen Aufenthalte der vertriebenen königlichen Familie von
Neapel. Ferdinand IV. nahm seinen nahen- Verwandten
freundlich auf und hielt ihn an seinem Hofe zurück. So entstand
die Verbindung mit der zweiten Tochter jenes Königs, Maria
Amalia, welche im Jahre 1809 gefeiert ward. — Wiewohl der
Herzog sich bisher standhaft geweigert hatte, die Waffen gegen
Frankreich zu ergreifen, so folgte er doch der Einladung der Re-
gentfchaft in Cadix, entschlossen, dem spanischen Volke seinen
Beistand gegen Napoleon zu widmen. In Katalonien ange-
langt, nöthigten ihn die Bedenklichkeiten des brittischen Cabinets
zur Rückkehr nach Palermo, wo er getrennt vom Hofe lebte.
So hatte er das Leben in allen seinen Gestalten kennen
gelernt, als der Sturz Napoleons ihn nach einer zwanzigjährigen
Abwesenheit nach Frankreich zurückführte, wo er den 14. Mai
1814 wieder in der Hauptstadt anlangte. Sein Aufenthalt war
jedoch nicht von langer Dauer. Bei Napoleons Rückkehr verließ
er Paris, ging wieder nach England und ließ sich mit seiner Fa-
milie abermals in Twickenhain nieder. Nach der zweiten Nestau-
ration kehrte er im Juli 1815 nach Paris zurück und erhielt mit
dem Palais-Royal das große Vermögen seiner Familie, theils
wie es noch lag, theils durch Anweisung auf Staatswälder und
Renten, wieder. Durch seine freisinnigen Ideen erwarb er sich
den Haß der Regierung und hielt sich daher vom Hofe zurückge-
zogen, ohne jedoch eine Partei gegen denselben zu bilden. Seine
Grundsatze und die Art, wie er seine Kinder (fünf Söhne und
drei Töchter) bürgerlich erziehen und gründlich unterrichten ließ,
standen im entschiedenen Gegensatze zu den Ansichten und Sitten
des Hofes. Erst nach der Ermordung des Herzogs von Bern)
erhielt er den Titel Königliche Hoheit. Nach dem Tode
Ludwig XVIII. hielt er sich noch mehr vom Hofe entfernt; lebte
nur den Künsten und Wissenschaften, die er auf alle Weift zu
fördern strebte, im Kreise seiner Familie zu Neuilly, selten zu
Paris im Palais-Royal. Nach der großen Katastrophe warfen
einige der Manner, denen die Revolution die Gewalt zugeführt
hatte, die Augen auf den Herzog, als es darauf ankam, die
N. G. IV. 16
— 242 —
Monarchie und die öffentliche Ordnung gegen den Andrang Der-
jenigen aufrecht zu erhalten, welche mit der Republik die Anarchie
wollten. —
Jedoch fand die Ernennung des Herzogs zum Generalstatt-
Halter keineswegs bei allen Parteien, die jetzt in Paris ihr We-
sen ungestörter, denn jemals, trieben, Beifall. Ein Theil des
Volks erklarte vielmehr bei Vorlesung der Proclamation, wodurch
jene Ernennung verkündigt ward, laut seinen Widerwillen durch
das Geschrei: „Nieder mit Orleans!" Alte Napoleonisten schrieben
an die Vendümefäule: „Es lebe Napoleon tt.\" und junge Re-
publikaner zogen bewaffnet durch die Straßen, mit dreifarbigen,
durch Trauerflore verhüllten Fahnen; ja, Einige trugen sogar Adler,
die alten Siegeszeiten früherer Zeiten. Eine große Anzahl Unzu-
friedener hatte sich auf dem Stadthause versammelt. Da eilte der
alte Lafayette herbei, den man zunächst zum Präsidenten der Ne-
publik ausrufen wollte, und es gelang ihm, die Menge dadurch
zu beruhigen, daß er ihnen Bedingungen vorschlug, zu deren
Annahme der Generalstatthalter solle verpflichtet werden. Nach
denselben sollte die Volkssouverainetat als Grundlage der Regie-
rung ausgesprochen, die Pairsschast aufgehoben, die Besetzung
aller niederen Magistraturen der Wahl des Volks überlassen, und
das Recht der Nation, alle getroffenen Einrichtungen abzuändern
und neue an deren Stelle zu setzen, feierlich erklärt werden. La-
fayette übernahm es, dieselben dem Generalstatthalter zu über-
bringen. Die Antwort, welche er zurückbrachte, bestand in den
Versicherungen: „der Herzog theile ganz die Meinung der Bür^
ger; ihre Vorschläge enthielten nur seine eigenen Gedanken; er-
bitte, ihm unbedingt zu vertrauen." Diesen Versicherungen fügte
Lafayette die seinigen hinzu, indem er besonders den Umstand her-
vorhob, daß der zum Generalstatthalter berufene Herzog einer
der jungen Patrioten von 1789, ja, einer der ersten Generale
gewesen sei, welche der dreifarbigen Fahne den Sieg verschaff-
ten. So ward die Versammlung auf dem Stadthause einstwei-
len beruhigt.
Am 3. August eröffnete der Herzog von Orleans als Gene-
ralstatthalter die Sitzung der gesetzgebenden Behörden im Saale
der DsputirtM. Hierher waren auch die Pairs beschieden. Um
zehn Uhr begann der Saal sich zu füllen. Die Zahl der Abgeord-
neten belief sich auf 240, von denen nur die geringe Anzahl von
— 243 —
zwanzig der rechten Seite angehörten. Alle in bürgerlichen Klei-
dern. Auch von den Pairs, deren sich etwa sechszig einfanden,
trug keiner das blaue Band, noch das liliengeMte Costüm; nur
Wenige hatten das große Band der Ehrenlegion umgehängt, und
Mehrere erschienen sogar mit dreifarbigen Bandern geziert. Von
dem diplomatischen Corps war nur der Gesandte der Vereinigten
Staaten von Nordamerika anwesend; von den europaischen Mach-
ten waren nur einige Legationssecretaire zugegen, da es den Bot-
schaftern noch an Instructionen ihres Verhaltens fehlte. Außer-
halb des Saales standen Nationalgarden unter den Waffen, um-
geben von einer zahllosen Volksmenge. Im Uebrigen war das
seit der Restauration hergebrachte Aeußere beibehalten. Die Er-
höhung, auf welcher der Thron ruhte, war mit carmoisinsarbe-
nein Sammet belegt, der noch mit goldenen Lilien verziert war;
nur über der Krone schwebte eine dreifarbige Fahne. Die Tri-
bünen hatten sich mit geputzten Damen gefüllt. In demselben
Augenblicke, wo die Herzogin von Orleans mit ihren Töchtern
von einer ihr vorbehaltenen Loge Besitz nahm, verkündigte der
Kanonendonner des Invalidenhauses die Ankunft des General-
statthalters. Eine starke Deputation von Pairs und Abgeordne-
ten ging ihm entgegen. Der Herzog erschien in Gencralsunisorm,
begleitet von einem Detachement Nationalgarde zu Pferde und
einem nicht sehr zahlreichen Generalstabe. Nationalgarden und
Bürger ohne Uniform bildeten Spaliere. Angelangt in dem Saale,
nahm der Herzog nicht auf dem königlichen Thronstuhle Platz, son-
dern auf einem Sessel zur Rechten des Throns, wahrend der
Herzog von Nemours, sein ältester Sohn, einen Sessel zu seiner
Linken einnahm. Der Prinz grüßte die Versammlung und sagte
dann, ohne den bisherigen Unterschied zwischen den Pairs und
Deputirten zu machen, zu allen Anwesenden: „Setzen Sie sich,
meine Herren." In seiner Rede, die er sitzend und mit bedeck-
tem Haupte sprach, zeigte er an, daß ihm die Entsagungsacte
Karls X., in welcher auch Ludwig Anton, Frankreichs Dau-
phin, auf seine Rechte verzichtete, behandigt worden sei, und
sprach zugleich von einigen nothwendigen Verbesserungen, deren
die Verfassungsurkunde bedürfe; auch forderte er die Kammern
auf, ihn bei dem wichtigen Geschäfte der Aufrechthaltung der
Freiheit, die zum zweiten Male in Frankreich triumphirt habe, zu
leiten. Die Rede hatte großen Eindruck gemacht. Beifallsrufe
16*
— 244 —
erschollen von allen Bänken und aus allen Logen. Tief gerührt
von diesem Austritte, verließ der Generalstatthalter unter dem Zu-
rufe: „Es lebe der Herzog von Orleans! es lebe das Haus Or-
leans!" den Saal. Außen vernahm man im Volke denselben Ruf;
doch auch: „Es lebe die Charte! es lebe die Freiheit!"
Der Dcputirte Berard machte hierauf einen Entwurf zu
den Verbesserungen der Charte, welcher am 6. der Deputirten-
kammer übergeben ward, die hierauf eine eigene Commission zur
Prüfung desselben ernannte. Diese legte noch an demselben Tage
der Kammer die von ihr für nöthig erachteten Abänderungen vor,
und auf den Grund derselben ward auch die verbesserte Charte
Ludwigs XVIII. berathen und am folgenden Tage in einer De-
claration der Deputirtenkammer zusammengestellt, welcher auch
die Pairskammer sogleich beitrat. Darnach verschwand der Ein-
gang der vorigen Charte, welcher dieselbe alseine Gabe der könig-
lichen Bewilligung bezeichnete. Im sechsten Artikel, wo die
katholische Religion für die des Staats erklart ward, hieß es jetzt
nur noch, daß die Mehrheit der Franzosen dieser Religion zuge-
than sei. Die Freiheit der Presse ward im siebenten Artikel durch
den ausdrücklichen Zusatz gesichert, daß die Censur nie wieder ein-
geführt werden solle. Auch sollten niemals fremde Truppen ohne
ein besonderes Gesetz in Dienst genommen werden. Das Recht,
Gesetze vorzuschlagen, welches vorher nur dem Könige gehörte,
obwohl der Kammer erlaubt war, den König um den Vorschlag
eines Gesetzes zu bitten, ward nun dem Regenten, den Pairs und
den Deputirten gleichmaßig beigelegt. Die Sitzungen der Pairs-
kammer, vorher geheim, sollten nun auch öffentlich sein; die ur-
sprünglich fünfjährige Dauer der Deputirtenkammer, die unter
Nillele's Ministerium auf sieben Jahre war verlängert worden,
wurde wieder hergestellt. Das Alter der Deputirten war auf
fünf und zwanzig Jahre festgesetzt; auch das Alter der Pairs
von dreißig zu fünf und zwanzig heruntergesetzt; die Errichtung
außerordentlicher Gerichtshöfe für widergesetzlich erklärt; die Ver-
antwortlichkeit der Minister durch erweiterte Befugmß der Depu-
tirtenkammer, sie vor den Pairskammern anzuklagen, verstärkt.
Am Schlüsse dieser Verfassungsveranderungen hieß es: „werde
nun der Herzog von Orleans, bis jetzt Generalstatthalter des
Königreiches, alle obigen Clauseln und Verpflichtungen annehmen
und vor den versammelten Kammern feierlich beschwören, so solle
— 245 —
ihm und seinen Nachkommen mannlicher Linie in der Ordnung
der Erstgeburt, mit bestandiger Ausschließung der Frauen und
deren Nachkommen, die Krone zugesprochen, und der Prinz unter
dem Titel eines Königs der Franzosen zum Throne berufen
werden." Als nun an demselben Tage neun Uhr Abends dieser
Beschluß der Pairstammer mitgetheilt wurde, versuchte zwar der
beredte Chateaubriand mit allem Feuer seines Talents die
Rechte des Herzogs von Bordeaux zu vertheidigen, und Meh-
rere stimmten seinen Ansichten bei; nichtsdestoweniger stimmten
auch in dieser Kammer neun und achtzig Pairs gegen zwanzig
für Ludwig Philipp, worauf Chateaubriand und einige Andere
sogleich ihren Austritt erklarten. Die Kammer beschloß hierauf,
daß die Beistimmung der Pairs dem Herzoge von einer Depu-
tation sollte überbracht werden, welche sofort durch das Loos er-
nannt ward.
Wahrend dieser Berathungen hatte sich bereits die Depu-
tirtenkammer, wenige Mitglieder der rechten Seite abgerechnet,
in corpore nach dem Palais-Royal begeben, dem Reichsverweser
die Declaration, welche ihn zum Throne berief, zu überbringen.
In feierlichem Zuge gingen sie durch die Straßen. Woran die
Huissiers, diesen folgten der Präsident, die Viceprasidenten und
die Secretaire, dann die Deputirten. Die sie begleitende Natio-
nalgarde bildete zwei Reihen. Von allen Seiten ertönte der
Ruf: „Es leben die Deputirten!" Die Kammer antwortete:
„Es lebe die Nationalgarde!" Angelangt im Palais-Royal, em-
psing sie der Herzog, umgeben von seiner Familie. Lafitte
las ihm die veränderte Constitutionsacte und den Beschluß der
Kammer vor. Der Herzog war tief bewegt; kaum vermochte er
ohne Thranen zu antworten. Die Schlußworte seiner Rede:
„Ein Gefühl meines Herzens beherrscht alle andere; es ist die
Liebe zu meinem Baterlande. Ich fühle tief, was es mir vor-
schreibt, und ich werde es thun," erregten die tiefste Rührung in
der Versammlung. Aller Augen waren mit Thranen gefüllt.
„Es lebe der König! Es lebe die Königin! Es lebe die könig-
liche Familie!" ertönte es in dem Palaste, in den Hofraumen
und selbst auf dem Platze vor dem Palais-Royal, wo sich eine
unermeßliche Menge eingefunden hatte, das Ergebniß dieses denk-
würdigen Tages abzuwarten. Die Declaration in der Deputir-
tenkammer in der Hand, erschien der Herzog in Begleitung des
— 246 —
General Lafayette und Lafitte's auf dem Balcon; er ward mit
dem Rufe: „Es lebe der König!" begrüßt. Der Fürst ergriff
Lafitte's Hand und hielt sie lange in der seinigen, unter fortwah-
rendem Freudengeschrei der versammelten Menge. Das Volk ver-
langte die Königin und die königliche Familie. Die Herzöge von
Chartres und Nemours traten auf den Balcon und verneigten
sich vor der Menge. Darauf erschien auch die Herzogin, eins
ihrer Kinder auf dem Arme, und hinter ihr ein Adjutant des
Fürsten, der ein anderes trug. Man begrüßte sie mit dem Rufe:
„Es lebe die Königin und die königliche Familie!" Lafayette,
überwältigt von dem Gefühle, das dieser Auftritt in ihm hervor-
brachte, sprach, indem er auf den Herzog hinwies, sich nach der
Menge wendend: „Meine Freunde, ich war stets ein Republika-
ner; dies hier ist die wahre, die gute Republik;" worauf der alte
Held vor dcs Volkes Augen den neuen König umarmte. — Bei
weitem weniger herzlich war die Seene, welche sich einige Stun-
den später ereignete, als die Deputation der Pairs erschien und
dem Könige die Zustimmung der Pairskammer kund that. Auch
die Antwort war gemessener. „Ich wünsche -— sagte der König
— nichts so sehr, als das gute Einverstandniß zwischen beiden
Kammern. Ich danke Ihnen, daß Sie mir das Recht geben,
darauf zu zahlen." Die feierliche Sitzung, in welcher der König
die Krone empfangen und seinen Eid leisten sollte, ward auf den
7. August anberaumt.
An diesem Tage waren die Zugange zu dem Palaste Bour-
bon von sieben Uhr Morgens an mit Menschen aus allen Klassen
besetzt. Für die Erhaltung der Ordnung sorgte die Nationalgarde.
Iin Thronsaale war jede Spur von feudalistischem Prunke und
kirchlicher Obergewalt verschwunden. Man sah weder Wappenhe-
rolde, noch lange Züge von Garden; keine Kanzler auf den Knieen,
kein Deputi'rter in liliengestickten Kleidern, keine Pairs mit Her-
melinverbramung; die Deputaten sowie die Pairs waren in bür-
gerlicher Kleidung, jene zur Linken, diese zur Rechten des Thro-
nes, aus dessen Verzierungen man die Lilien weggeschafft und ihn
zu beiden Seiten mit dreifarbigen Fahnen geschmückt hatte. Vor
dem Throne standen drei Stühle, und zur Rechten desselben ruhte
auf einem Kissen Krone, Scepter, Schwert und die Hand der
Gerechtigkeit. Um zwölf Uhr wurden die Pforten der Deputaten-
kammer geöffnet, und alsbald füllten sich die Tribünen mit einer
— 247 —
glanzenden Versammlung, in welcher man jedoch keine Minister
der großen Machte wahrnahm. Um zwei und ein viertel Uhr er-
schien die Herzogin von Orleans, umgeben von ihrer Schwagerin,
Mademoiselle von Orleans, ihren drei Töchtern und ihren beiden
jüngsten Söhnen. Bald nach zwei Uhr verkündigte kriegerische
Musik und der Donner des Geschützes den Heranzug des Fürsten.
Die Deputationen beider Kammern traten zuerst in den Saal.
Bier Marschalle von Frankreich, Oudinot, Mortier, Mac-
donald und Molitor traten dem Reichsverweser voran; er
selbst erschien, begleitet von seinen beiden ältesten Söhnen, in der
Uniform ihrer Regimenter. Begrüßt durch den Ausruf: „Es lebe
der Herzog von Orleans!" dankte dieser freundlich. Alle drei stie-
gen die Stufen des Thrones hinan und nahmen auf den drei
Stühlen vor dem Thronsessel Platz, Nachdem der Fürst die Pairs
und Deputaten eingeladen hatte, sich niederzulassen, bedeckte er
sich und forderte den Präsidenten der Deputirtenkammer, Casi-
mir Perrier, auf, die Declaration vom 7. August zu lesen.
Nachdem dies geschehen, verlangte der Herzog, daß ihm die Ur-
künde, nebst der Beistimmung der Pairs, eingehändigt werde,
und erklärte hierauf, daß er die in dieser Declaration enthaltenen
Verpflichtungen ohne Rückhalt, sowie den Titel König der
Franzosen, annehme und bereit sei, die Erfüllung dieser Wer-
pflichtungen zu beschworen. Nach dieser Erklärung erhob sich
der Fürst, und mit ihm die ganze Versammlung, unter dem drei-
mal wiederholten Rufe: „Es lebe der König!" Der Siegelbewahrer
Dupout de l'Eure legte nunmehr die Eidesformel in die Hände
des Prinzen. Dieser entblößte das Haupt, zog den Handschuh
ab, streckte die Hand gen Himmel und sprach mit fester Stimme
folgenden Eid: „In Gegenwart Gottes schwör' ich, die constitu-
tionelle Charte, sammt den in der Declaration ausgedrückten Ver-
änderungen, treu zu beobachten, nur durch die Gesetze und nach
dem Gesetze zu regieren, Jedem nach seinem Rechte unparteiische
und genaue Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen und in allen Dingen
nur mit Berücksichtigung des Vortheils, des Glücks und des Ruh-
mes des französischen Volkes zu handeln." Die Versammlung
brach in ein Freudengeschrei aus. Noch wußte man jedoch nicht,
welchen Namen der neue König führen würde. Man rief alfo
durcheinander: „Es lebe der König! Es lebe Philipp Vll.! Es
lebe Philipp !.!" Dies verworrene Geschrei löfete sich jedoch bald
— 248 —
auf in dem Ausrufe: „Es lebe der König der Frauzofen!" Die
vier Marschälle, welche neben dem Tische standen, worauf die
Jnsignien des Königthums lagen, überreichten diese dem Könige:
der Herzog von Tarent (Macdonald) die Krone; der Herzog
von Reggio (Oudinot) das Scepter; der Herzog von Treviso
(Mortier) das Schwert; der Graf Molitor die Hand der Gerech-
tigkeit. Dupont gab ihm die Feder zur Unterschrift, und der Kö-
mg unterzeichnete die Eidesformel und die Declaration, nahm
dann auf dem Throne selbst Platz und hielt, mit bedecktem Haupte,
die Schlußrede. Diese endigte mit den Worten: „Die weisen Ab-
anderungen, welche die Charte erfahren, verbürgen die Sicherheit
der Zukunft, und Frankreich, das hoff' ich fest, wird glücklich in
seinem Innern und geachtet im Auslande sein, und die Ruhe Eu-
ropa's je mehr und mehr befestigt werden." — Neuer Jubel
beantwortete diese Rede; der Name der Königin ward neben dem
des Königs genannt. Sie dankte sichtlich bewegt, entfernte sich
mit ihren Kindern und empfing im Conferenzzimmer die Glück-
wünsche der Anwesenden. Man bemerkte, daß sie Lasitte's Hand
ergriff und mit Wohlwollen drückte; der Deputirte aber neigte
sich und küßte die Hand, die ihn so ehrenvoll auszeichnete. —
Der König hatte sich inzwischen zu Pferde gesetzt und kehrte mit
den Seinigen langsam, von zwei Bataillons Nationalgarden be-
gleitet, nach dem Palais-Royal zurück. Die Musik spielte die
Marseiller Hymne.
Mit dieser Feierlichkeit war der letzte Act des großen Dra-
ma vollendet. Innerhalb des Zeitraums von wenigen Tagen
war die eine Linie der Bourbons gestürzt und die andere auf den
französischen Thron erhoben worden. Doch war das Haupt der-
selben nicht König von Frankreich und Navarra, sondern König
der Franzosen. — Am 13. August verordnete der König, daß sein
ältester Sohn, der Thronfolger, den Titel Herzog von Orleans
annehmen, seine jüngeren Söhne aber ihre bisherigen Titel fort-
behalten, und seine Schwester und Töchter keine andern Titel süh-
ren sollten, als Prinzessinnen von Orleans. Da es keinen König
von Frankreich mehr gab, konnte es auch keine Prinzen und Prin-
zessinnen von Frankreich mehr gebe».*) Für die Minister ward
*) Das Staats siege! stellt jetzt das Wappen von Orleans, oben mit der
geschlossenen Krone, mit dem ins Kreuz gestellten Scepter und der Hand
— 249 —
der Titel Monseigneur abgeschafft, sie sollten nur Herr Minister
genannt werden.
Kwb des Herzog Kubwig Heinrich von
Bourbon-GsttHS.
Bald nach ihrer Erhebung auf den Thron ward die Familie
Orleans durch einen Unfall erschüttert, der wegen der darüber
verbreiteten Gerüchte bedenklich in seinen Folgen ward. Am
Morgen des 27. August ward der Herzog Ludwig von Bour-
bon, der Vater des unglücklichen Herzogs von Enghien und
der Letzte des Hauses Conde, todt in seinem Schlafzimmer auf
dem Schlosse St. Leu gesunden. Er hatte sich Tages zuvor zur
gewöhnlichen Stunde schlafen gelegt und seine Thür nach innen
zu verschlossen« Als am nächsten Morgen sein Kammerdiener an-
klopfte, erhielt er keine Antwort. Dieser rief jetzt Leute herbei,
weil er Verdacht schöpfte. Man stieß die Thür ein und das
Schauspiel, welches sich den erstaunten Blicken darbot, war der
Leichnam des unglücklichen Greises,, hangend an zwei seidenen
Halsbinden, welche an den Kopf eines Fensterkreuzes seines Schlaf-
zimmers befestigt waren. Die traurige Botschaft von dem Able-
ben des Prinzen ward ohne Zeitverlust nach dem Palais-Royal
gebracht, und von dem Könige eine Commifsion nach St. Leu
der Gerechtigkeit, wie auch mit den dreifarbigen Fahnen hinter dem
Schilde dar. Inschrift: Louis Philipp I., König der Franzosen. Die
Decoration der Ehrenlegion behielt das Bild Heinrichs I V. mit der Devise:
Ehre und Vaterland, aber die Lilien wurden daraus verbannt. Bei
den Münzen behielt man das Bildniß des regierenden Königs bei, jedoch
mit Weglassung seines Wappens, und die Umschrift ward, wie wahrend
der Regierung Napoleons, durch Dicu protege la France (Gott be-
schütze Frankreich) ersetzt.
— 250 —
geschickt, um über den Hintritt des Prinzen ein Protocoll aufzu-
nehmen. Angelangt im Schlosse, ward ihnen die Leiche von dem
Baron von Flassan (Neffen der Frau von F euch eres, einer
guten Freundin des Herzogs von Bourbon) in derselben Stellung
gezeigt, worin man ihn gefunden hatte. Herbeigerufene Aerzte
und Wundarzte trugen kein Bedenken, den durch eine Erwürgung
verursachten Tod des sünfundsiebenzigjährigen altersschwachen Prin-
zen für die Wirkung eines Selbstmordes auszugeben; alle An-
zeigen bestätigten auch diesen Ausspruch: das dunkelblaue Gesicht,
die zwischen den Zahnen liegende Zunge, der Mangel an allen
äußeren Verletzungen, mit Ausnahme einer leichten von der Hals-
binde verursachten Hautverletzung am Halse. Bei der Leichen-
section, zu der man schritt, fand man an den Schenkeln des Er-
henkten Blutunterlausungen, welche von dem Drucke der eisernen
Stabe am Fenster und von dem Sessel, worauf der Unglückliche
gestiegen, um die Halsbinde zu befestigen, und der umgefallen
war, herrühren sollte. Allein man verschwieg, daß der rechte
Arm des Prinzen durch einen Bruch des Schlüsselbeins gelähmt,
und er daher durchaus unfähig gemacht war, die zum Selbster-
henken nothwendigen beiden Knoten selbst zu schürzen. Diese aller-
dings nicht auf Selbstmord, sondern auf Meuchelmord hindeuten-
den Umstände wurden noch auffallender, als man in dem Schrei-
beschrank des Prinzen ein Testament vorfand, welches den Her-
zog von Aumale, dritten Sohn des König Ludwig Philipp,
zum Universalerben einsetzte, wiewohl mit der Bedingung, der
Baronin von Feucheres, welche seit vielen Jahren des Prinzen
vertraute Freundin gewesen war, ein wahrhaft fürstliches Legat
von mehreren Millionen auszuzahlen. In dem Kamine fand
man, unter der Asche verbrannter Papiere, eine Schrift von der
Hand des unglücklichen Prinzen, aus welcher sich die Ursache eines
Selbstmordes herleiten ließe; dies war eine Art von Proclama-
tion an die Einwohner von St. Leu, worin diesen gesagt ward:
„St. Leu und Zubehör gehörten dem König Ludwig Philipp; sie
möchten das Schloß weder plündern, noch in Brand stecken, auch
den Freunden und den Leuteu des Prinzen kein Leid zufügen."
In einer Nachschrift verlangte der Prinz, seinen Tod als nahe
ankündigend, zu Vincennes neben seinen unglücklichen Sohn beer-
digt zu werden :c. Dies alles ward zu Protocoll genommen.
— 251 —
Die Seltenheit eines Ereignisses, wie der Selbstmord eines
Prinzen ist, brachte bald allerlei Gerüchte in Umlauf. Die Er-
sindungskraft der ohnehin ausgeregten Gemüther erschöpfte sich,
Ursachen, die demselben zu Grunde liegen sollten, zu verbreiten.
Folgende Umstände aus dem Leben des Hingeschiedenen sind in
Beziehung auf das unglückliche Ende desselben auf's Vollständigste
beglaubigt. Der Prinz von Bourbon, obgleich vom Hofe ent-
fernt lebend, hatte die Denkweise der Ausgewanderten in aller
Starke beibehalten. Stets verfolgt von der Erinnerung an den
Verlust eines Sohnes, welcher dem berühmten Namen Conde
neuen Glanz verleiben sollte, suchte er seinen Schmerz in den Zer-
streuungen der Jagd zu betauben, oder in Privatzuneigungen, die
ihm indeß anderweitigen Kummer verursachten. Während seines
Aufenthaltes in England hatte er die Bekanntschaft einer jungen
Dame, Sophie Dawes, gemacht, diese nach Frankreich mit-
genommen und an einen seiner Adjutanten, den Baron von Feu-
chms, vermahlt, welcher sich jedoch bald von ihr trennte. Diese
sehr intriguante Frau übte über sein Herz und seinen geschwächten
Verstand einen Einfluß aus, der sie zur Gebieterin des Schlosses
machte. Nichts geschah ohne ihren Befehl und Rath. Nur von
ihren Creaturen, oder ihren Brüdern und Neffen, war der Prinz
umgeben, so daß er keinen Schritt thun konnte, von welchem sie
nicht auf der Stelle unterrichtet war. Durch ihre Liebkosungen
oder Ranke hatte sie ihn zur Abfassung des oben gedachten Testa-
ments bewogen; wodurch er, zum Nachtheile des fürstlichen Hau-
ses Nohan, seiner Erben mütterlicher Seite, zwar den Prinzen
von Aumale zum Universalerben, jedoch mit dem großen Ver-
machtnisse für die Baronin einsetzte.*) Dies Testament war vom
29. August 18*29 und von dem Generalintendanten der Domainen
des Herzogs von Bourbon ausgesetzt. Der Inhalt desselben ver-
rieth eine auffallende Geistesschwache. Diese konnte allerdings durch
die Begebenheiten der ersten sieben Monate des Jahres 183V ver-
*) Der Prinz Heinrich Eugen Ludwig Philipp sollte dafür den Namen
Conde annehmen, die Baronin aber zwei Millionen Franken an baa-
rem Gelde, das schöne Schloß und den Park von St. Leu nebst mehre-
ren Besitzungen von großem Wcrthe erhalten. — Die Familie Rohan
beruhigte sich keineswegs, sondern erhob Klage gegen die Gültigkeit des
Testaments ; was zu seandalösen Scenen durch carlistische Umtriebe Ver-
anlassung gab.
— 252 —
mehrt werden. Vor allem hatte die Julirevolution den schwachen
GreiA erschüttert. Mit Thranen in den Augen sah er die königli-
che Familie abreisen, ohne sich jedoch entschließen zu können, sei-
nen Ausenthalt zu verlassen. Dennoch säumte er nicht, den neuen
Monarchen anzuerkennen und die drei Farben anzunehmen. Er
ging sogar so weit, daß er 10,000 Franken für die Verwundeten
der Julitage einsendete. Wenn er in unaufhörlicher Angst über
die neue Revolution schwebte, so hatte seine Umgebung unstreitig
daran einen sehr wesentlichen Antheil. Die Königin, die ihn den
20. August besuchte, hatte ihn wegen des von ihm so sehr ge-
fürchteten Aufstandes der Landbewohner zu beruhigen gewußt;
dennoch aber machte er sich Vorwürfe, abgefallen zu sein von
einer Sache, für welche er gekämpft und seinen Sohn verloren
hatte. Seine Vertrauten, welche nach England zurückzukehren
wünschten, unterhielten den Widerspruch, worin er mit sich selbst
gerathen war. Endlich hatte er den Vorsatz, Frankreich zu verlas-
sen, gefaßt, und sein Intendant bereits über eine Summe von
1,000,000 Franken in Gold verfügt. Durch die Feier seines Ge-
burtstages am 25. August ward das Vorhaben verzögert. Am
nächstfolgenden Abende hatte er mit voller Gemüthsruhe Whist ge-
spielt und sich um die gewöhnliche Stunde schlafen gelegt, ohne
daß seine Dienerschaft auch nur die geringste Veränderung an ihm
wahrgenommen hatte, die auf einen beabsichtigten Selbstmord
schließen ließ.
Durch die Regierung ward bekannt gemacht, daß kein Grund
vorhanden sei, den Tod des Prinzen für die Wirkung eines Meu-
chelmords zu halten. Doch wurden die kirchlichen Gesetze gegen
den Selbstmörder hier nicht in Anwendung gebracht. Das Lei-
chenbegangniß des Prinzen fand in derselben Ordnung statt, als
wäre er eines natürlichen Todes gestorben. Sein Herz ward der
Kapelle zu Chantilly übergeben, und der einbalsamirte Leichnam
aus der Kirche zu St. Leu, unter einer zahlreichen Bedeckung von
Husaren und Linientruppen, sowie unter einer Begleitung von
vierzehn Trauerwagen, nach St. Denis gebracht. Am Eingange
der Abtei ward der Sarg von der Geistlichkeit in Empfang ge-
nommen. Die Kirche war schwarz ausgeschlagen, wie in allen
Trauerfallen, welche die königliche Familie treffen. Nachdem das
Todtenamt mit dem hergebrachten Ceremoniell beendigt war,
ward die Leiche ohne Trauerrede in das königliche Gewölbe hinab-
— 253 —
gelassen, wo sie neben den Sarg des letzten Prinzen von Conde
zu stehen kam. Mithin ward auf den Wunsch des Verstorbenen,
neben seinen Sohn in dem Grabe zu Vincennes beerdigt zu wer-
den. keine Rücksicht genommen.
Prozeß -der Minister »Karls X.
Wenige Tage nach der Thronbesteigung wurden die mit Karl
X. entflohenen Minister in der Deputirtenkammer als Hochverra-
ther angeklagt, indem sie nicht nur die berüchtigten Ordonnanzen
unterzeichnet, sondern auch alle Verantwortung der schrecklichen
Maßregeln, wodurch die große Juli-Katastrophe herbeigeführt wor-
den, auf sich genommen hatten. Von den angeklagten Ministern
waren übrigens nur vier in der Gewalt der Kammer; nämlich
Polignac, Peyrönnet, Chantelauze und Guernon-
Ranville. Das Loos dieser Manner war schon auf der Flucht
ein höchst trauriges gewesen. Sie waren den Mißhandlungen
der alten, in allen ihren Erwartungen betrogenen Höflinge preis-
gegeben und wurden mit Vorwürfen überhäuft. Die Domesti-
ken weigerten sich sogar, ihnen Dienste zu leisten, und Polignac
befand sich mehrere Male in Gefahr, von den wüthenden Gardes
du Corps erschossen zu werden. Inzwischen war derselbe, unter
einer Verkleidung als Bedienter in der Masse des Gefolges Karls X.,
in allen Ortschaften, welche auf der Flucht berührt wurden,
unerkannt geblieben und hatte sich wahrscheinlich mit der königlichen
Familie nach England retten können; allein in der Nahe von
Cherbourg wurden die Drohungen und Verwünschungen so be-
denklich, daß er es für gerathen hielt, sich von dem königlichen
Zuge abzusondern und auf seine eigne Gefahr eine andere Straße
einzuschlagen. Am 9. August bestieg er, blos von einer guten
Freundin begleitet und noch immer seine Bedientenkleidung bei-
— 254 —
behaltend, ein Cabriolet und gelangte unerkannt nach Granville,
wo er in demselben Augenblicke, als er sich einschiffen wollte, von
der Nationalgarde erkannt und festgenommen ward. Von St.
Lo aus, wohin man ihn in's Gefangniß gebracht hatte, schrieb
er nach Paris an die Pairskammer, um entweder die Freiheit zu
erhalten, in's Ausland zu gehen, oder, wenn man seine Gesan-
genschast beschlossen habe, das Schloß Ham, das er bekanntlich
in früheren Jahren schon einmal bewohnt hatte, zu seinem Aus-
enthalte bestimmt zu sehen. Beides ward abgeschlagen, und der
Exminister unter starker Bedeckung nach Paris transportirt. In
ahnlicher Verkleidung, wie Polignac, hatte Peyronnet der Volks-
wuth zu entrinnen gesucht. Sein Haupt war mit einer großen
Perrücke bedeckt; er trug, als der ärmeren Volksklasse angehörend,
eine schlechte Kleidung, grobe wollene Strümpfe und plumpe
Bauernschuhe. Dennoch ward er zu Tours angehalten und, ob-
gleich er sich für einen unverdächtigen Nocheller Kaufmann aus-
gab , von Mannern, die ihn oft gesehen, als der Minister Pey-
rönnet erkannt. Die Behörden hatten Mühe, den Verhaßten,
selbst mit eigner Gefahr, vor der Wuth des Pöbels zu schützen.
Deswegen sahen sie sich auch genöthigt, ihn in einer offenen Post-
chaise transportiren zu lassen, damit das Volk überzeugt würde,
der Verbrecher solle der strafenden Gerechtigkeit keineswegs entzo-
gen werden. Dasselbe Schicksal traf in der Nahe von Tours den
ehemaligen Großsiegelbewahrer Chantelauze, nebst seinem unglückli-
chen Gefährten, Guernon-Ranville. Beide suchten, auf Nebenwe-
gen umherirrend, über die Loire zu entkommen, wurden aber als
verdachtige Landstreicher von den Bauern aufgegriffen und der
Gensd'armene überliefert, die sie geknebelt in's Gefangniß zu
Tours brachte. Hier gab Chantelauze sich zu erkennen und wurde
nebst seinem Freunde, gleich den beiden Andern, nach dem Schlosse
Vincennes transportirt. Die drei übrigen Minister, Houssez,
Capelle und M o n b e l, waren auf ihrer Flucht glücklich entkommen.
Die unglücklichen Verhafteten zu richten, war jedoch für die
Pairskammer, welche in solchen Fallen den Gerichtshof bildete,
ein höchst schwieriges und wegen der Volksaufregung sogar gefähr-
liches Geschäft. Es ist kaum nöthig, zu sagen, daß der große
Haufe nach Rache dürstete, und daß dies Gefühl allen Bewegun-
gen, die noch vielfach in der Hauptstadt wiederkehrten, zum Grunde
lag. Noch während der vielfältig verwickelten Vorbereitung zu
— 255 —
dem merkwürdigen Criminalprozesse war, offenbar zu Gunsten der
peinlich Angeklagten, die Mehrheit der Deputaten dahin gestimmt
worden, ein Gesetz über die Abschaffung der Todesstrafe bei politi-
scheu Verbrechen zu erlassen; auch ward es dem Könige zur Bestati-
gung vorgelegt. Kaum war dies bekannt geworden, als sogleich in
mehreren Stadttheilen tumultuarische Versammlungen stattfanden.
An den Straßenecken wurden Zettel angeheftet, auf welchen im
Namen des Volkes Rache gefordert ward, Rache wegen verletzter
Volksfouverainetat, und das kategorische Verlangen der Todesstrafe
für Polignae und seine Collegen keck ausgesprochen ward; ja, es
wurden sogar die Richter bedroht, welche die großen Verbrecher
zu retten suchen würden. Hierbei blieb es nicht. Als der König
am 17. October von einer Musterung zurückkehrte, welche er zu
Versailles gehalten hatte, fand er seinen Palast von einem
Schwarme belagert, der mit wildem Geschrei die Kopse der Mi-
nister forderte. Am folgenden Tage nahmen diese Demonstratio-
nen einen noch drohenderen Charakter an; am Mittag zog ein
starker Haufen, dem eine dreifarbige Fahne voranging, mit
der Inschrift: „Das Volk verlangt den Tod der Minister,"
nach dem Palais-Royal. Zwar griff die im Dienste befind-
liche Nationalgarde zu den Waffen, und ohne große Mühe
gelang es ihr, den Fahnenträger, sowie mehrere seiner Begleiter,
zu verhaften; doch noch am Abende desselben Tages stürzten zahl-
reiche Gruppen in die Höfe des Palastes und riefen unter den
Fenstern des Königs: „Nieder mit den Exmimstern! Polignacs
Kopf!" ja, sogar: „Es lebe die Republik!" Auch diesmal griff
die Nationalgarde mit Erfolg ein; es wurden Viele verhaftet;
doch die Aufgeregten fühlten sich dadurch nicht abgeschreckt; sie
drohten ihren Marsch nach Vincennes zu richten, um dort an den
Verhafteten die hohe Volksjustiz selbst zu üben, und begaben sich
nach der Vorstadt St. Antonie, wo Müßigganger in großer
Anzahl sich ihnen anschlössen. So verstärkt, zogen sie, nachdem
sie sich in einer Niederlage von Leichengerathschaften Fackeln ver-
schafft hatten, wirklich nach dem Schlosse, wo die Exminister un-
ter der Obhut des General Daumesnil gefangen saßen.
Abends gegen zehn Uhr stellte sich ein acht bis neunhundert
Mann starker Haufen, der mit Flinten, Säbeln und Piken be-
waffnet war, wie in Schlachtordnung, vor dem ersten Eingange
der Festuug auf. An der Spitze hielt ein Mann zu Pferde mit
— 356 —
der dreifarbigen Fahne. Die Besatzung des Schlosses trat in die
Waffen, und der General ging ohne Begleitung über die Zugbrücke
den Ruhestörern entgegen und fragte, was sie begehrten. „Wir
wollen — riefen mehrere Hundert Stimmen — die Verrather,
die verfluchten Minister!" — „„Das darf ich — antwortete Dau-
mesnil — nicht bewilligen. Und würde man mit Gewalt in die
Festung dringen, so sprengte ich das Schloß sammt den Mini-
stem in die Luft. Aber ich gebe euch mein Ehrenwort, die Ver-
brecher sollen nicht entkommen."" — „Hurrah! — schrie der ganze
Haufe — es lebe das hölzerne Bein! (der General hatte einen
Stelzfuß) Es lebe der brave General Daumesnil!" Dieser gab
ihnen nun auf ihre Bitte einen Tambour mit, und so marschir-
ten sie wieder ab. Doch war ihr Unternehmen noch nicht been-
digt. Won dem unterwegs genossenen Weine erhitzt, zogen sie Mor-
gens um drei Uhr noch einmal vor das Palais-Royal, dessen
Gitter geschlossen war, mit der Absicht, ihre am gestrigen Abende
verhafteten Kameraden zurückzufordern. Groß war der Larm,
den sie verursachten, und diesmal würde es gewiß zu traurigen
Excessen gekommen sein, wenn es einigen Compagnien der Na-
tionalgarde nicht gelungen wäre, die Empörer von den beiden
Seiten der Straße St. Honore einzuschließen, worauf sie mit
Sturmschritt heranrückten und jene zur Ergebung nöthigten. Fünf-
undsicbzig dieser Ruhestörer wurden verhaftet; die übrigen entflo-
hen nach den Vorstädten. Schon um neun Uhr erschien in Natio-
nalgardenuniform Ludwig Philipp, begleitet von seinem ältesten
Sohne und dem General Lafayette im Hofe des Palastes, wo die
Nationalgarde eben abgelöst ward, und dankte derselben für die
Entschlossenheit, mit welcher sie die unsinnigen Versuche der Em-
pörer vereitelt hatten.
Je naher indeß der Zeitpunkt kam, wo der Prozeß seinen
Anfang nehmen sollte, desto mehr wuchs die Unruhe in der Haupt-
stadt. Aufrührerische Anschlagezettel verbreiteten im Volke bald
Mißtrauen gegen die Regierung, bald Furcht vor einer Invasion.
Es ward ausgesprengt, daß Anhänger Karls X., besonders Ossi-
ziere der ehemaligen Garde, von unsichtbarer Hand mit Geld un-
terstützt, Waffen sammelten und bereit waren, die Unternehmun-
gen der republikanischen Partei kraftigst zu unterstützen. Von der
Regierung wurden andrerseits alle Vorsichtsmaßregeln ergriffen,
um der Unruhestifter schädliche Plane zu vereiteln. Alle Pariser
— 257 —
Nationalgardcn wurden aufgefordert, sich nicht anders, als in
Uniform zu zeigen, Offiziere und Unteroffiziere erhielten Befehl,
ihre Untergebenen auf den ersten Wink zusammenzurufen, und
der Kriegsminister hatte Sorge getragen, daß im Falle der Roth
80,000 Mann zu Bekämpfung der Empörer bereit waren. Am
10. December vor Tagesanbruch begab sich auf plötzlichen Befehl
der Negierung ein Huissier der Pairskammer nach Vineennes, und
brachte den Befehl dahin, die Verhafteten unverzüglich nach dem
kleinen Luxemburg zu transportiren.*) Chantelauze war krank
und blieb zurück. Die übrigen drei fuhren, jeder in einem befon-
deren Wagen, um sechs Uhr ab. Man fuhr über die äußern
Bollwerke und durch die noch menschenleeren Straßen der Vor-
stadt unter einer zahlreichen Bedeckung, an deren Spitze der Mi-
nister des Innern zu Pferde war; und nachdem die Gefangenen
an ihrem Bestimmungsorte angekommen waren, ward die tagli-
che Bewachung durch '2000 Mann Nationalgarde, Linientruppen
und Polizeifoldaten bestritten. Chantolauze ward zwei Tage fpa-
ter nachgeholt, und am 15. December wurden die Gefangenen
zum ersten Hauptverhöre gezogen, welches im gewöhnlichen Siz-
zungsfale der Pairskammer statt hatte, wobei anch Commissarien
der Deputirtenkammer gegenwartig waren. Das Verhör lief auf
die schon bekannten Thatsachen, welche den Angeschuldigten zur
Last gelegt wurden, hinaus. Die Angeklagten betheuerten, daß
es ihnen nicht an gutem Willen gefehlt habe, in den Bahnen der
Charte zu bleiben, oder in dieselbe zurückzutreten, sobald die Roth-
wendigkeit sie zu verlassen würde aufgehört haben. Die meister-
haften Verteidigungsreden ihrer Anwalte entkräfteten manche
Punkte der Anklage und machten den Thatbestand sogar zweifel-
Haft. Auch Karl X. that alles, was in seinen Kräften stand,
um seine Getreuen zu retten, indem er in einem Schreiben an
den Präsidenten feierlich erklärte, daß er persönlich die Ordonnan-
zen befohlen, und gebieterisch von den Ministern deren Unterzeich-
nung verlangt habe. Je wahrscheinlicher es daher ward, daß der
Ausspruch des Gerichtshofs gegen die Angeklagten nicht auf To-
*) Das kleine Luxemburg ist ein Gebäude, welches zu dem Palaste Luxem-
bürg, dem Sitz der Pairskammer, gehört, und im Jahre 1821 durch
den Minister Peyronnet, damals Generalprocurator, in ein Gesängniß
war verwandelt worden.
N. G. IV. 17
- 258 —
desstrase lauten würde, um so drohender ward die Volksaufre-
gung. Die Bewegungen nahmen von Stunde zu Stunde über-
Hand, in der ungeduldigen Erwartung des Ausganges dieses gro-
ßen Prozesses. Die Pairs wurden beim Auseinandergehen aus
dem letzten Verhöre von den Gruppen, durch welche sie gehen
mußten, insultirt, und einer der Vertheidiger der Angeklagten
ward sogar schwer verwundet.
So erschien der 21. Dscember, wo das Verhör geschlossen
und das Urtheil gesprochen werden sollte. Schon um sechs Uhr
Morgens durchzogen zahlreiche Patrouillen von der Nationalgarde
die Straßen in der Nahe des Gerichtslocals, wo 15,000 Mann
unter den Waffen standen und Reiterposten alle Fuhrwerke aus
den auf das Luxemburg zulaufenden Straßen zurückwiesen, und
ganze Bataillons auf den Kreuzwegen Posto gefaßt hatten, um
die Ausübung der Rechtspflege gegen wilde Pöbelwuth zu sichern.
Inzwischen waren in dieser letzten Sitzung die Tribünen, aus
Furcht vor der Volkswuth, ziemlich leer. KurS nach zehn Uhr
Morgens erklarte der zum öffentlichen Anklager mitbestellte De-
putirte Berang er, im Namen seiner College«, daß sie ihren
Auftrag für erfüllt hielten. „Der Ihrige — sagte er, sich an die
Nichter wendend — nimmt jetzt seinen Ansang. Der Beschluß
der Deputirtenkammer liegt Ihnen vor; nicht minder das Gesetz-
buch, dieses erinnert Sie an Ihre Pflichten. Das Land ist vol-
ler Erwartung und hofft gute und strenge Gerechtigkeit zu erhal-
ten." Nachdem nun der Präsident laut den Schluß der Debatten
angekündigt hatte, ließ man die Angeklagten abtreten, und der
Gerichtshof begab sich zur Abstimmung über das Urtheil in den
großen Rubenssaal. Die Beratschlagung dauerte lange. Die
Straffalligkeit der Angeklagten ward mit einer großen Mehrheit
ausgesprochen. Größer war die Meinungsverschiedenheit, als es
sich um die Anwendung der Strafe handelte. Hinsichtlich Polig-
nacs hatte sich die Mehrzahl für die Deportation erklart, nur vier
Stimmen waren für die Anwendung der Todesstrafe, die übrigen
für lebenswierige Gefangenschaft. F.H in gleichem Verhaltnisse
waren die Stimmen für die Uebrigen, nur daß hier keine einzige
sich für die Anwendung der Todesstrafe erklärte. Nachdem das
Urtheil von sammtlichen Pairs unterzeichnet war, trat der Ge-
richtshos um zehn Uhr Abends in den VerHörsaal zurück. Die
Zuhörer erwarteten das Resultat dieser Berathungen mit einer
— 259 —
Ungeduld, die den höchsten Punkt erreicht hatte. Das Urtheil
lautete dahin, daß, da die vier Angeklagten des Verbrechens des
Hochverraths schuldig befunden seyen, so verurtheile der Gerichts-
Hof den Fürsten von Polignac zu lebenswieriger Gefangenschaft,
mit Verlust seiner Titel und Würden, sowie auch zu der Strafe
des bürgerlichen Todes, und die drei übrigen Angeklagten zu
lebenslänglichem Gesangniß mit Verlust ihrer Titel und Orden,
alle drei aber solidarisch zu Bezahlung der Prozeßkosten. Uebri-
gens solle dieser'Gerichtsspruch sowohl in Paris wie in allen an-
dern Gegenden des Reiches angeheftet und dem Siegelbewahrer
zur Vollziehung übersendet werden.
Es mußte dahin getrachtet werden, den Einwirkungen, welche
das Erkenntniß der Richter auf die große Menge machen werde,
entgegenzuwirken. Vor Allem mußten die Verurtheilten vor der
Wuth des Volks gesichert werden. Zwei Stunden nach Beendi-
gung der Debatten, wahrend der Gerichtshof noch über das Schick-
sal der Gefangenen berathfchlagte, ward der Befehl zur Zurück-
führung derselben nach Vincennes gegeben; Lafayette ließ der Na-
tionalgarde im Dienste des kleinen Luxemburg diesen Befehl vor-
lesen. Bald darauf — denn es kam darauf an, diese Versetzung
am hellen Tage zu bewirken — wurden die Angeklagten durch die
Pforte eines niedrigen und schmalen Thorwegs, wo die Ratio-
nalgarde dichtes Spalier bildete, und durch die Reihen der erstaun-
ten Schaar geführt, um zu einer Kalesche des Ministers des In-
nern zu gelangen, welche in der Nahe hielt. Da es nun der Po-
lizei durch Kunstgriffe gelungen war, die Menge, welche sich aller
Zugange zum Luxemburg bemächtigt hatte, zu entfernen, so hielt
es eben nicht schwer', den Wagen unter einer Bedeckung von 200
Reitern, die der Minister des Innern begleitete, über die Boll-
werke nach Vincennes zu bringen, wo sie um 6 Uhr Abends der
Obhut des General Daumesnil wieder anvertraut wurden. Erst
am folgenden Morgen ward ihnen ihr Urtheil bekannt gemacht.
Nur Polignac schien davon erschüttert zu werden.*) Acht Tage
später (30. Dec.) wurden alle vier nach dem Fort Ham gebracht;
*) Polignac war Wittwer einer schr reichen Engländerin gewesen, hatte
sich zum zweiten Male vermählt und war jetzt Vater von vier Kindern,
von welchen das jüngste wahrend des Prozesses geboren wurde.
17*
— 260 —
und auch auf dieser Fahrt hielt man es für nöthig, sie durch eine
starke Bedeckung gegen die allgemeine Erbitterung, die sich auch
über die Provinzen verbreitet hatte, zu beschützen. (In Ham wur-
den sie in anstandigem Gewahrsam gehalten, bis Ludwig Philipp
sie, nach sieben Jahren, im Oetober 1637, der Haft entließ.)
Trotz aller angewendeten Vorsicht brach doch bei Bekannt-
werdung des, in der Volksmeinung allzumilden Urtheils, der
Straßentumult aufs Neue aus. Das Volk stürmte nach dem
Louvre, die Kanonen dort zu nehmen. Aber die Gitter waren ge-
schloffen, und die Mündungen der Geschütze, neben welchen die
Artilleristen mit brennenden Lunten standen, gähnten dem wilden
Haufen entgegen. Da wichen sie zurück. Auf allen Platzen bi-
vouakirten, wie auf dem Hofe und im Garten des Palastes, starke
Abtheilungen Nationalgarden. Viele Straßen waren, wie in den
Julitagen, erleuchtet, die Buden und Laden aber geschlossen, und
zahlreiche Reitertrupps sprengten durch die Gassen. So konnte in
der Nacht die wilde Wuth sich nur durch einige Excesse, Zerschla-
gen der Laternen k. äußern, und es floß kein Bürgerblut. Am
folgenden Morgen, als der Urteilsspruch allgemein bekannt ward,
strömten abermals drohende Haufen auf den Pont-Neuf, den Bou-
levards und in der Nahe des Louvres zusammen. In diesem tri-
tischen Augenblicke faßten einige taufend Zöglinge der Rechtsschule
den Entschluß, nach dem Palais Royal zu eilen. Sie zogen unter
dem Rufe: „Es lebe die öffentliche Ordnung! Achtung dem
Gesetze!" durch die Straße St. Honore, obgleich dort starke Hau-
fen Unruhstifter das Geschrei: „Tod den Ministern!" erschallen
ließen, nach dem Palaste, wo Ludwig Philipp auf dem Balkon
erschien und ihren Eifer belobte. Starke Colonnen Garden drang-
ten nun die Aufrührer von dem Platze hinweg und die Gardeca-
vallerie sprengte die dichten Masseil auseinander. Die letzten Hau-
fen, die mit Steinen warfen, wurden von einer Compagnie Gre-
nadiere in die Flucht gejagt. Um eilf Uhr Abends war der Tu-
mult gestillt und die Ruhe der Hauptstadt gesichert. —
Die Regierung war in diesen stürmischen Tagen unleugbar
einer höchst gefährlichen Crifis entgangen; es lag am Tage, daß
es von den Empörern keineswegs nur auf den Tod der Exmini-
ster, sondern auf den Umsturz der Regierung abgesehen war, wo-
von sich die deutlichsten Beweise auf mancherlei Art kund gegeben
— 261 —
hatten. — Von den auswärtigen Kabinetten war inzwischen Lud-
wig Philipp als König der Franzosen anerkannt. Zuerst im
August von England, dann von Oesterreich, Preußen und (am
18. September) auch von Nußland.
Revolution in Belglem im Zahee RAIS. —
HerMheK.
Bei der Anwesenheit der Monarchen in London im Jahre
1814 war es, wie schon früher ist erzählt worden, vorzüglich auf
Antrieb Englands, festgesetzt, Belgien (welches bekanntlich vor-
der Eroberung durch Frankreich die österreichischen Niederlande ge-
nannt ward und den burgundischen Kreis des deutschen Reichs
ausmachte) mit Holland zu verbinden, und so von dieser Seite
einen haltbaren Damm gegen Frankreich aufzuführen. Aus beiden
Sraaten ward demnach zum Wortheile des Hauses Oranien ein
Ganzes gebildet und durch einen Tractat des Wiener Kongresses
vom 31. Mai 1816 erklärt: „daß die Bereinigung Belgiens und
Hollands innig und vollständig in der Art seyn sollte, daß die bei-
den Lander nur Ein, durch dieselbe Constitution regiertes, dem
Hause Oranien-Nassau erbliches Königreich bilden sollten." —
Diese Vereinigung war keineswegs eine ganz neue und ungewöhn-
liche Maßregel. Bis in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts
hatten, wie wir aus der altern Geschichte d. G. wissen, sammt-
liche Provinzen, der Norden und der Süden, zusammen gehört,
bis der erstere (Holland) — bereits durch Verschiedenheit in reli-
giösen Ansichten von letzterm getrennt — sich von der tyrannischen
Herrschaft Spaniens losriß (1699), wahrend der Süden (Bel-
gien) in den Fesseln des Katholizismus und unter der Despotie
Spaniens verblieb, bis nach dem spanischen Erbfolgekriege in
dem Nastadter Frieden 1713 die spanischen Niederlande an Oester-
reich sielen. Die mehr denn zweihundertjahrige Trennung hatte
— 262 —
beiden Theilen ein verschiedenes, sich gegenseitig entgegengesetztes
Gepräge aufgedrückt, und aus der ursprünglich Einen Nation zwei
verschiedene Körper geschaffen, die sich durch Bildung, Religion,
Sprache, Sitten und eigenthümliche Interessen schroff gegenüber
standen.
Hieraus erfolgte nun, daß sich im Innern des neugeschaffne«
nen Königreichs auch bald ein unvereinbarer Zwiespalt der Be-
standtheile, aus welchem es zusammengesetzt war, entwickelte. Die
Holländer, obwohl nur zwei Millionen gegen vier Millionen Bel-
gier, betrachteten sich als das herrschende Volk, dessen Sprache
und Gesetze das unterworfene annehmen müsse, wahrend die Bel-
gier, deren Stolz sich durch die Vereinigung mit Holland schwer
beleidigt fühlte, entschiedene Abneigung zeigten, sich der minder
zahlreichen Nation unterzuordnen, zumal derselben nicht das Recht
einer durch Sieg vollführten Eroberung zur Seite stand, vielmehr
die Vereinigung nur das Werk der Politik einiger Großmachte
Europa's war, die solche für ihre Zwecke als nothwendig erachtet
hatten. Diese natürliche Abneigung der Belgier gegen Holland
ward durch die Verhaltnisse ihres Handels und Fabrikwesens,
welche durch die Trenmng von Frankreich Störungen erlitten hat-
ten, durch die aufgedrungene Theilnahme an der sehr großen hol-
landischen Nationalschuld, vornehmlich aber durch den Umstand
verstärkt, daß die protestantische Regierung die Rechte der Staats-
gewalt auch auf die Einrichtung der katholischen Kirche zur An-
Wendung bringen wollte und hierdurch dem Fanatismus der Bel-
gier, welcher einst die Reformationsplane Kaiser Joseph II. ver-
eitelt hatte, neues Leben gab. So zeigte sich gleich nach der
Gründung des vereinigten Königreichs die Opposition in dreifacher
Gestalt; in dem Adel, dem die neue Verfassung seine Vorrechte
geschmälert; in der Geistlichkeit, der die Vereinigung des erzka-
tholishen Belgiens mit dem protestantischen Holland unter einer
protestantischen Herrfcherfamilie ein Greuel war, und in einer
dritten, von den beiden ersten sehr abweichenden, von neufranzö-
fischen Ansichten beseelten liberalen Partei. Die Hauptorgane der
Opposition waren die Lehranstalten und die freie Presse. Durch
erftere wußten die Priester dem Volke die Aufklärungsbemühungen
der Regierung verdächtig zu machen und den Hebel des Fanatis-
rnus anzuwenden, das Volk gegen dieselben aufzureizen. Das
Unternehmen der Regierung, die Freiheit der Presse, wie des zeit-
— 263 —
her von der Geistlichkeit geleiteten Unterrichts einzuschränken, ward
als freventliche, verfassungswidrige Willkühr ausgeschrien. Die
Regierung ihrerseits hielt fest an die Verfassung und dem Grund-
gesetzt, wiewohl nicht zu verkennen war, daß auf manche Provin-
zen die Verfassung und die Gesetze sich nicht passend anwenden
ließen. Doch ist nicht zu laugnen, daß König Wilhelm I. sich
das Wohl des Landes sehr angelegen seyn ließ. Kanäle, Stra-
ßcn, schöne Bauten, Fabriken, Freihafen wurden angelegt, und
durch Schulen und Seminarien suchte er Licht und Unterricht,
Kunst und Wissenschaft zu verbreiten; dabei suchte er die verwik-
kelten Verhältnisse zu lösen, sich populair zu machen und durch
ein praktisch-liberales System die beiden Elemente des Staates,
Holland und Belgien, zu verschmelzen; allein er fand überall
Hemmungen und Schwierigkeiten, bösen Willen und planmäßigen
Widerstand. —
Ganz verschieden war daher der Ursprung der belgischen Ne-
volution von der französischen. Frankreich war durch die berüch-
tigten Ordonnanzen herausgefordert worden, seine Freiheiten zu
wahren. In Belgien fand kein solcher Akt statt, der auf eine
grobe und unmittelbare Art die Rechte und Freiheiten der Nation
vernichtet hatte. Auch ging der Aufstand hier nicht vom Volke
aus, sondern von den erwähnten drei Factionen, die sich, sonder-
bar genug, Aristokraten, Liberale und Jesuiten, zu einem Bund-
nisse vereinigt hatten und das Volk mit sich fortrissen.
Ein Gewaltstreich der Regierung zu Anfange des JahreZ
1830 regte die liberale Partei machtig auf. Es wurden nämlich
am 8. Januar mehrere königlichen Beamten, die als Deputirte in
den Generalstaaten im vorigen Jahre gegen die Regierung sich
ausgesprochen, ihrer Aemter und Pensionen beraubt. Dieses ver-
fassungswidrige Verfahren veranlaßte die liberalen Häupter, de
Pott er und Franz Tielemans, eine allgemeine Nationalfub-
scription in Vorschlag zu bringen, aus deren Ertrag alle Depu-
tirten der Opposition für die Verluste entschädigt werden sollten,
welche sie in Folge ihres Widerstandes gegen die ungesetzliche
Handlungsweise der Regierung erleiden könnten. Die Statuten
der Association, sowie die Artikel der Subscription wurden öffent-
lich bekannt gemacht. De Potter hatte dieselben von seinem Ge-
fangnisse aus, worin er sich noch in Folge einer frühern Verur-
theilung wegen Preßvergehcn befand, in die Journale „Bclge"
— 264 —
und „Courier des Pays-bas" einrücken lassen. Der Vorschlag
wurde für Hochverrath erklärt und als ein Komplott gegen die
Negierung gedeutet. So geschah es denn, daß nicht nur die Ur-
Heber desselben, de Potter und Tielemans, sondern auch die Ne-
dacteurs der genannten Blatter, Coche-Momens, van der
Straaten und Barthels-, desgleichen de Neve, Buchdrucker
in Gent, als Mitschuldige gleich Criminalverbrechern der Anklage»
kammer überwiesen wurden. Der aus seinem Gefangniß vor
seine Richter geführte de Potter vertheidigte sich zwar mit großer
Beredsamkeit, indem er zu beweisen suchte, daß ein in den öffent-
lichen Blattern mitgetheilter Vorschlag, worin die Erhaltung oder
Erlangung verfassungsmäßiger Rechte als einziger Zweck ausge-
sprechen war, durchaus als kein Anschlag gegen die Regierung,
oder als ein Versuch, sie zu stürzen, könne angesehen werden.
Allein die Instruktionen des antiliberalen Justizministers, van
Maanen, der sich von diesen berühmten Oppositionshauptern
gern befreit sehen wollte, lauteten zu bestimmt und drohend, da-
her wurden de Potter zu acht-, Tielemans und Barthels zu
sieben- und de Neve zu fünfjähriger Verbannung, wie auch zum
solidarischen Ersatz der Prozeßkosten verurtheilt (30. April). Coche-
Momens und van der Straaten wurden freigesprochen. Zwar
protestirten die Verurtheilten, allein das Kassationsgericht zu
Brüssel verwarf die Protestation; der Bischof von Lüttich verwen-
dete sich beim König für de Potter, jedoch vergebens. Das Ur-
theil mußte vollzogen werden.
Noch waren die Verwiesenen auf der Reife nach der Schweiz,
wohin sie sich zurückziehen wollten, als die Revolution in Frank-
reich ausbrach. De Potter schrieb nun in Bezug auf diese Er-
eignisse einen Warnungsbrief an den König der Niederlande (2.
Aug.), worin er unter andern sagte: „Belgien wird zuerst die
Erschütterung fühlen, welche jetzt eben eine benachbarte Macht
erfahrt, deren Glück und Ruhm es lange Zeit theilte. In dem
Kampfe, der sich schon vorbereitet, wird sicherlich die Sache des
guten Rechts, der Vernunft, der Humanität, mit Einem Worte,
die Sache des Volkes siegen. Ja, das Königthum selbst wird,
wenn es, übel berathen, verwegen genug ist, sich in den Kampf
gegen das Volk einzulassen, in den Abgrund stürzen, welchen
langst schon des Despotismus und der Habgier Schwindel unter
seinem Throne grabt."
— 265 —
Doch ehe noch dieser merkwürdige Brief, dessen Prophezei-
hung nur zu bald in Erfüllung gehen sollte, geschrieben ward,
hatte in Belgien die öffentliche Meinung sich laut und entschieden
gegen die Regierung ausgesprochen. Schon herrschte in allen
Gemüthern die größte Aufregung, und die Lust, dem Beispiel
der Franzosen nachzufolgen. — Die Regierung sah den Sturm
herannahen, allein sie that keinen Schritt, ihn aufzuhalten. An-
statt die Beschwerden auf eine würdige Weise zu beschwichtigen/)
schrieb das ministerielle Journal „der National", dessen Redacteur,
Libry Bagnano, eine Creatur des in Belgien allgemein ver-
haßten Justizministers van Maanen war: „man müsse den Miß-
vergnügten einen Maulkorb anlegen, und ihnen Peitschenhiebe
geben," was natürlich die Aufreizung vermehren mußte. —
Gegen Ende des August waren in Brüssel Anstalten getrof-
fen, den Geburtstag des Königs und die Vermahlung seiner
Tochter, der Prinzessin Marianne, mit dem Prinzen Albrecht
von Preußen zu feiern, als man Sonntags, den 22. August, an
allen Straßenecken folgende Placate angeschlagen fand: „Montag
Feuerwerk, Dienstag Illumination, Mittwoch Revolu-
tion." Dies beunruhigte die Stadtregentschaft. Die Feste wur-
den aufgeschoben und der Geburtstag des Königs ohne Feierlich-
keit, nur durch einen einfachen Gottesdienst und durch eine Pa-
rade der Garnison, die etwas über 2900 Mann stark war, began-
gen. So gingen Montag und Dienstag ohne Fest und auch
ohne. Unruhe vorüber; selbst der Morgen und Mittag des ver-
hangnißvollen Mittwochs, der als der Tag der Revolution bezeich-
net war, blieben ohne Bewegungen. Am Abend dieses Tages,
♦) Hauptsächlich beklagten sich die Belgier, daß die bei ihnen herrschende
Religion sich nicht der Rechte erfreue, wie in Holland, daß die Volks-
Vertretung so berechnet sei, daß die Holländer ein beständiges Urberge-
wicht haben im'tßten,*) und daß endlich Lasten und Vorrechte ungleich
vertheilt waren.
*) Nach dem neunundstebzigsren Artikel der Verfassung halten die beinahe
4 Mittionen zählenden Belgier nicht mehr Repräsentanten in den (Sc--
neralsiaaten/ alö die 2' Millionen Holländer, und die beiden Provinzen
Hollands hatten für eine Bevölkerung von 8-lÖ,4oo Seelen zweiund-
zwanzig Deputine erhallen, wogegen die beiden Flandern mit einer
Bevölkerung von 1 Million 234,500 Einwohnern deren nur achtzehn
erhielten.
— 266 —
als am 23. August, wurde die Oper: „die Stumme von Por-
tici," aufgeführt. Da der Gegenstand dieser Oper der Aufstand
des Mafaniello in Neapel (f. alt. G. Band III.) ist und eine
echte Pöbelrevolte dramatisch darstellt, so glaubte der Magistrat
ihre Aufführung untersagen zu müssen. Auf den Rath des Mi-
nisters Gobbel Froy aber, der durch Mäßigung die Aufregung
zu unterdrücken wünschte, ward die Vorstellung dennoch erlaubt.
Der Zudrang des Volks war so ungeheuer, daß der Saal die
Masse der Zuschauer nicht fassen konnte. Hunderte blieben also
auf dem Platze vor dem Schauspielhause versammelt, und als das
Stück, unter stürmischem Beifall aufgeführt, beendigt war, hat-
ten sich jene Hunderte schon zu Tausenden vermehrt. Es bedurfte
nur eines Rufes und sofort stürmten die wilden Pöbelhaufen
auf das Büreau des verhaßten ministeriellen Journals des Ratio-
nal. Im Nu waren alle Fenster zertrümmert, und eben wollte
man die Thür sprengen, als eine andere Stimme erscholl: „Nach
Libry Bagnano, dem schandlichen Verrather." Fort stürzte
die Menge nach dessen Wohnung, Rache an ihm zu nehmen.
Der Bedrohte hatte sich jedoch schon geflüchtet und dadurch sein
Leben gerettet. Alles im Hause wurde zerstört, Bücher und Pa-
piere aus den Fenstern geworfen, doch nichts geraubt. Nur der
Wein, den man im Keller fand, 8 Fasser und 1500 Bouteillcn,
wurde auf der Straße preisgegeben und jeder Vorübergehende
gezwungen, mitzutrinken; übrigens ging es ganz ordentlich dabei
zu, so daß ein Engländer, der seinen Korkzieher den Zechern
geliehen, solchen nach dem Trinkgelage zurückerhielt. — Nach
einer Stunde des Larmens zeigte sich erst ein Polizeicommissair,
dem ein Tambour voranging und eine Abtheilung Grenadiere
folgte. Er wollte eben einen Aufruf an die Menge thun, um
dadurch mehrerem Unglück vorzubeugen, als ihn ein Stein traf:
er siel, und da der Grenadier-Offizier keinen Befehl hatte, fo
zog er sich klüglich mit seiner Mannschaft zurück. Jetzt kamen
auch Jager und berittene Gensd'armen, allein sie zeigten sich
bloß; man rief ihnen zu: „bleibt ruhig und man wird euch nichts
zu Leide thun!" worauf sie sogleich zurückkehrten. So vermehrte
sich denn das Geschrei: „Freiheit, Gerechtigkeit!" mit jeder
Minute.
Gegen Mitternacht theilte sich die Menge. Einige Haufen
zogen sich nach dem Königsplatze, eine Fahne voran, die aus
— 267 —
einem Fenstervorhange Libry Bagnano's gemacht war. Hier hat-
ten sich die Jäger der Garde, von Piquets der Gensd'armerie in
ihren Flanken gedeckt, aufgestellt, und die leichten Dragoner nebst
den Linieutruppen die Umgebungen des Parks und die Zugange
des Schlosses besetzt. Der Platzcommandant erschien und fragte
die Tumultuanten, was man wolle. „Freiheit! Gerechtigkeit!"
wurde verworren geschrien. Ein Soldat trat aus den Reihen
und bat die Andringenden mit thranenden Augen, sich zurückzu-
ziehen; „um Gott — sagte er - geht auseinander; erspart uns
die Schmach, belgisches Blut vergießen zu müssen." Diese einfa-
chen Worte brachten größere Wirkung hervor, als der stärkste
Widerstand vermocht hatte; man zog sich wirklich zurück. Ein
anderer Haufe stürmte nach dem Justizpalast und zertrümmerte
in wenigen Augenblicken die Fenster des Sitzungssaales der Assi-
sengerichte unter bestandigem Geschrei: „Nieder mit van Maa-
nen! Es lebe de Potter!" Kurz darauf begab sich der Platz-
commandant auf das Nathhaus, die Lärmtrommel wirbelte und
die Gensd'armerie begann die Stadt in kleinen Abtheilungen zu
durchreiten. —
Zu gleicher Zeit zog ein noch stärkerer Haufe durch die Bar-
laimontstraße nachdem Hause des Polizeidirectors van Knyff,
Es wurde mit Gewalt geöffnet und Alles, wie bei Libry Wag-
nano, zerstört, jedoch nichts entwendet. Ein Mensch, der den
Mantel des Directors mit fortnehmen wollte, ward zu Boden
geworfen und der Mantel in tausend Stücken zerrissen. — Jetzt
nahmen die Zusammenrottungen schon einen ernsteren Charakter
an; der Schrecken verbreitete sich durch die Stadt; die Einwoh-
ner verließen ihre Häuser; die ganze Besatzung griff zu den Waf-
fen. Gegen 1 Uhr hörte man die ersten Schüsse fallen. Der
Tumult vermehrte sich nur noch mehr. Die Masse walzte sich
mit großem Geschrei zum Hotel des Ministers van Maanen und
hier erreichte die Wuth den höchsten Grad. Die Pforten des
Palastes wurden gesprengt und die Menge drang mit dem Rufe:
„Nieder mit van Maanen!" ein. Die Möbel und was man
fand wurden mit wilder Hast zertrümmert. Vor Allen machte
sich eine Frau durch die an Wuth granzende Freude bemerkbar,
womit man sie Vorhänge und Drapperien herabreißen sah. Die
jetzt einschreitende bewaffnete Macht ward von der ungeheueren
Pöbelübermacht theils entwaffnet, theils in die Flucht getrieben,
— 268 —
und die Sieger versuchten nun, den eroberten Palast in Brand
zu stecken. Bald zeigte sich Rauch; die Massen zogen sich her-
aus, lagerten sich rings um das Hotel her, und erklärten, nicht
eher vom Platze weichen zu wollen, bis das Gebäude vom Giebel
bis zum Grunde von den Flammen verzehrt sei. Gegen vier Uhr
kamen die Spritzenmeister mit den Feuerspritzen herbei; man er-
laubte ihnen nicht zu löschen, sie mußten wieder nach dem Rath-
häuft zurückkehren. Das brennende große Gebäude diente nun-
mehr zum Vereinigungspunkt. Hierauf wurden die Waffen-
schmiede und Büchsenmacher gezwungen, ihre Waffenvorrathe her-
auszugeben , welche das Volk unter sich vertheilte; andere Ge-
wehre wurden den Soldaten entrissen, oder von ihnen freiwillig
hergegeben, um nicht zum Feuern genöthigt zu sein. In der
Nahe des Justizpalastes umringten Handwerker einen Offizier,
setzten ihm das Pistol auf die Brust, und forderten ihm sein Eh-
renwort ab, auf das Volk nicht feuern zu lassen.
Gegen fünf Uhr Morgens (2G. Äug.) entwickelte sich die
bewaffnete Macht etwas mehr. Ein Grenadier- und ein Jager-
Bataillon vertheilten sich kompagnieweise in den unruhigsten Stra-
ßen. Auf dem Sablonplatze, wo der gedrängte Offizier sich
gezwungen sah, zum Pelotonftuer zu commandiren, floß das
erste Blut, und bald ward in den Nebengassen der Kampf allge-
mein; man sah Verwundete forttragen und Todte lagen anf den
Straßen. •— Das Militair, das über die Platze eilte, die Schüsse,
welche man von allen Seiten fallen horte, die verschlossenen
Schüren, die mit Frauen und Neugierigen besetzten Hauser, die
Straßen, welche bald eingenommen wurden, bald mit Menschen
bedeckt, bald öde und verlassen waren, die mit Flinten, Säbeln,
Eisenstöcken bewehrten, an den Ecken aufgestellten Einwohner
gaben der Stadt ein unheilvolles, einer mit Sturm eroberten Fe-
stung ähnliches Ansehen. — Auch das Haus des königlichen
Proamitors Scheuerma n n wurde noch wahrend der Nacht
angegriffen und die Fenster zerstört und Morgens zwischen acht
und neun Uhr das Regierungsgebaude eingenommen.
Wahrend des Kampfes hatten sich mehrere achtbare Bürger
auf das Rathhaus begeben und beim Magistrat um Waffen und
inn Entfernung der Truppen gebeten, zugleich aber sich anheischig
gemacht, das Volk zu beruhigen. Ihre Forderung wurde, wie
cs sich gebührte, aufgenommen, die Herren vom Rache führten
— 269 —
die Bürger zum Waffendepot der Communalgarde, in dessen In-
nern sich Linien-Infanterie und Dragoner befanden, welche be-
reits einen Angriff des Volks zurückgewiesen hatten. Sie ließen
jedoch die wohlgekleideten Bürger einzeln herein, welche sich sodann
mit Waffen versahen und nun, Patrouillen bildend, die Stadt
durchzogen; sie wurden aber bald selbst angegriffen, und von den
wüthenden Haufen, welche sich ihrer Waffen bemächtigen wollten,
um gegen die Soldaten zu kämpfen, wieder zur Kaserne zurück-
gedrängt. Die Masse vor derselben wuchs mir jedem Augenblick,
und die Truppen erklärten, daß sie das ihnen anvertraute Depot
auf das Nachdrücklichste vertheidigen würden. Die hier verfam-
melten Bürger legten darauf die Waffen nieder und wollten durch
eine Seitenthür das Haus verlassen, sich unter das Volk mischen
und so dasselbe zur Ruhe zu bringen suchen; aber sie hatten sich
kaum entfernt, als ein Fenster eingeworfen wurde, das Thor auf-
fuhr, Schüsse sielen und Blut vergossen ward. Das Volk stürzte
wüthend vor; das Haus wurde erstürmt, Waffen und Munition
erobert. Glücklicher Weise drangen eine große Anzabl Bürger
zugleich mit dem Pöbel hinein, so daß dieser nicht allein sich der
Gewehre bemächtigen konnte.
Gegen eils Uhr des Morgens erschien eine Proclamation des
Magistrats, welche die Aufhebung der dem Volke sehr verhaßten
Mahlsteuer ankündigte, und alle Bürger einlud, für die Erhal-
tung der 'öffentlichen Sicherheit zu wachen; es war das Verspre-
chen hinzugefügt, die Wünsche des Volkes sollten Gegenstand einer
ernstlichen Prüfung sein, und die billig befundenen ohne Verzo-
gern erfüllt werden. Um Mittag durcheilten immer starker wer-
dende Bürgerpatrouillen die Straßen der Stadt, stellten sich fec-
tionsweise auf und bemächtigten sich der Posten für die kommende
Nacht. Die Truppen zogen sich nach dem königlichen Palast,
wo sich die Garde concentrirte, zurück, oder gingen, auf jeden
Widerstand verzichtend, in ihre Kasernen. Es sielen nur noch
wenige Schüsse. — Gegen drei Uhr Nachmittags wehte die alte
brabantische Fahne, roth, orangengelb und schwarz, von
dem Rathhause. Die königlichen Wappenschilder mit der Orange-
kokarde waren von dem Volke überall weggenommen worden.
Der Pöbel beschäftigte sich jetzt mit Zerstörung sammtlicher Ge-
rüste, die zu einer großen Illumination für das Geburtsfest des
Königs bestimmt waren, und zündete auf den Grasplatzen zwi-
— 270 —
scheu den Alleen das zusammengehäufte Holzwerk an. Schlechtes
Gesindel begann sich zu zeigen, um die Unordnung zu benutzen
und zu plündern; die Thatigkeit der Bürger kam jedoch diesem
Unglück zuvor. Die Hauser und Laden blieben zwar geschlossen,
aber die Einwohner zeigten sich doch auf den Straßen. Man sah
Damen umhergehen, welche die Neugierde herbeizog, um das ganz-
lich zerstörte Haus Libry Bagnano's und das Hotel van Maa-
nens zu sehen, von dem die Feuersbrunst nur noch einige einsame
Mauern hatte stehen lassen.
Abends wurden alle Hauser erleuchtet. Die Bürgergarde
versah überall den Dienst. Ihre Fahnen führten die Inschrift:
„Freiheit! Sicherheit!" — „Es lebe die Freiheit!" war der
jeden Augenblick sich wiederholende Gruji der einander begegnen-
den Bürger. Die Nacht ging ohne auffallende Störung vorüber;
der Ingrimm des Volkes schien gestillt. Allein am andern Mor-
gen erfuhr man, daß viele Vagabunden die Stadt verlassen hat-
ten, um die Fabrikgebäude außerhalb derselben anzuzünden. Ein
aus ungefähr hundertundzwanzig Personen von dem Pöbel in
Brüssel bestehender Haufen war gegen 8 Uhr Abends vor der Fa-
brik der Herren Th. Wilson und Heele erschienen und hatte
dem Vorsteher angekündigt, daß er gekommen sey, die Maschi-
nen zu zerstören. Alle Vorstellungen, das unglückliche Vorhaben
zu verhindern, blieben ohne Erfolg. Man bot hierauf den Mord-
brennern, da Widerstand unmöglich war, ein Geschenk von 300
Gulden an, wenn sie sich friedlich zurückziehen wollten. Der
Vorschlag wurde angenommen, der Pöbel entfernte sich mit dem
Gelde. Aber einige Augenblicke hernach erschien schon wieder ein
zweiter Trupp, nebst mehrern Fabrikarbeitern, brach in das Land-
haus Wilsons ein, zerschlug Fenster und Möbeln und verwüstete
es von Grund aus. Von hier zog der Haufe nach der Fabrik
und legte an verschiedenen Orten Feuer ein. Nur wenige Ge-
baude konnten gerettet werden. Die Trockenböden, die mit Wol-
lenwaaren angefüllten Magazine, die kostbarsten Maschinen wur-
den ein Raub der Flammen. — Ein noch empörenderer Auftritt
fand in Foret statt, wohin gleichfalls Gesindel aus Brüssel gezo-
gen war, die Fabrik der Herren Bosdever und Bal zu ver-
wüsten. Der Pöbel drohte, die Eigenthümer sammt ihren Maschi-
nen lebendig zu verbrennen. Glücklicherweise aber gelang es die-
sen, sich mit dem, was sie in der Eile schnell zu sich stecken konn-
— 271 —
ten, über einen Bach zu retten. Madame Wal, welche Krank-
heit an ihr Bett fesselte, wurde in demselben zu dem Pfarrer der
Gemeinde getragen. Gleich darauf schlug schon die Flamme aus
dem geplünderten Gebäude heraus. Der Schade, den die Besitzer
erlitten, ward auf 150,000 Gulden geschätzt.
In Brüssel selbst wurde unterdessen durch das kräftige Ein-
schreiten der bewaffneten Bürgermacht die Ordnung hergestellt.
Freitags, am 27., waren diese ganzlich Herr der Stadt, alle
Laden waren geöffnet, Marktleute wurden beschützt, Wagen gin-
gen ein und aus. — Der Baron Emanuel von Hoogvorst
ward zum Kommandant der Bürgergarde erwählt; ein energischer
Mann, der das allgemeine Vertrauen genoß. Das Volk, ausge-
zeichnet durch die bekannten blauen Fuhrmannshemden, die seit-
dem das Abzeichen der belgischen Insurgenten wurden, schrie nach
Brod, welches die Bürger unter sie vertheilten. Jedoch sahen
diese sich genöthigt, auf einige Zusammenrottungen des Pöbels
Feuer zu geben und mehrere Verhaftungen vorzunehmen, weil
anders die Ruhe nicht erzwungen werden konnte, was aber große
Erbitterung des Pöbels gegen die Bürger erzeugte.
Nachdem auf solche Weise die Ruhe völlig hergestellt war,
traten Sonntags, am 28. August, die angesehensten Einwohner
zusammen und beschlossen, eine Deputation an den König zu
schicken, ihm die Wünsche der Belgier ans Herz zu legen. Es
wurde zu dem Ende eine Adresse aufgesetzt, welche alle Anwesen-
den, ungefähr vierzig an der Zahl, unterzeichneten, und worin
auf Aenderung des bisherigen Verwaltungssystems, Entlassung
der Voltsfeinde aus dem Ministerium und unverzügliche Einbe»
rufung der Generalstaaten — damit sie sich mit Beseitigung der
Beschwerden beschäftigen mögen — angetragen ward. Die Be-
schwerden selbst konnten nicht ausführlich darin erörtert werden,
da dies zu viel Zeit erfordert hatte, man mußte die Auseinander-
setzung der Einsicht und Vaterlandsliebe der Deputirten überlas-
sen. Zu dieser Sendung wurden erwählt: Der Graf Felix von
Merode-Westerloo, die Barone Joseph von Hoogvorst
und Friedrich von Secus, der Advokat Gendebien und der
Kaufmann Palmaert. Noch in der Nacht vom 28. reiste die
Deputation nach dem Haag ab.
Indessen war die aufrührerische Bewegung keineswegs auf
Belgiens Hauptstadt beschrankt geblieben. Zu Löwen versam-
— 272 —
melteu sich auf die erste Nachricht von den Borgangen in Brüs-
sel drei bis viertausend Bürger auf dem Markte vor dem Rath-
baust. Das Volk ließ die Orangekokarden abnehmen, patriotische
Proelamationen wurden in der Stadt verbreitet, und die Solda-
ten eingeladen, sich ruhig zu verhalten: „sie seien Belgier und
würden kein belgisches Blut vergießen." Auch eine Bürgergarde
ward unverzüglich organisirt. — In Lütt ich sah sich der Gou-
verneur, Sondley von Esenberg gezwungen, um den Aus«
bruch der Volkswuth zu verhindern, die alte Landesfahne aufzu-
pflanzen und eine Bürgergarde zu errichten. Alle vom Militair
besetzten Posten wurden den Bürgern eingeräumt, und nach Brüs-
sels Vorbilde eine Deputation an den König gesendet, welche ihm
ernstlich diejenigen Beschwerden, deren schnelle Abstellung das
Volk verlange, vortragen sollte. — Dasselbe that auch Namur.
— Zu Antwerpen wurden zur Aufrechthaltung der Ruhe schon
am 28. August an alle Bürger Waffen ausgetheilt. — Auch zu
Brügge brach ein Volksaufstand aus, und ein noch gefährliche-
rer zu Verviers, an der preußischen Grenze. Hier pflanzten *
am 28. August die Fabrikarbeiter die dreifarbige Fahne auf und
zerstörten die Hauser mehrerer verhaßten Beamten, sowie die
Maschinen in den Fabrikgebäuden. Ueberall indeß wurde die
Ruhe durch die Bürgergarden wieder hergestellt, und die Revolu-
tion wäre im Keime erstickt worden, wenn nicht die zweckwidri-
gen Maßregeln der Negierung die Gahrung erneut und verdoppelt
hatten. —
Denn die Depntirten fanden den König keineswegs geneigt,
ihren Beschwerden sofort Abhülfe zu gewahren. Gegen die For-
derung, van Maanen und einige andere Minister, die ganz in
dessen Sinne feindselig gegen das Volk gehandelt, zu entlassen,
äußerte er: „das Grundgesetz verleihe ihm die freie Wahl seiner
Minister, auch könne er überhaupt zu Gunsten der Belgier so
lange keinen Beschluß fassen, als es scheine, er werde dazu gezwun-
gen; ja es läge ihm zu viel daran, die Ehre der Königswürde
aufrecht zu erhalten, als da^er den Schein dulden könne, er
gäbe nach wie Einer, dem man etwas abverlangt, in-
dem man ihm die Pistole auf die Brust setzt, daß er
jedoch die Anträge in Erwägung ziehen wolle." Natürlich, daß
der Bericht der Deputation von dem Erfolg ihrer Sendung nicht
sehr geeignet war, die .Gahrung in den aufgereizten Gemüthern
— 273 —
zu beschwichtigen, und die üble Stimmung wurde noch durch die
Nachricht von dem Anmarsch zahlreicher Truppen gegen Antwer-
pen, Möns, Brügge und besonders gegen Brüssel zur sana-
tischen Wuth gesteigert. —
Gleich nach der in der Nacht vom 27. auf den 28. August
nach dem Haag gelangten Kunde von den Aufruhrscenen in den
südlichen Provinzen hatte der König ein Ministerconseil versam-
melt, worin er selbst prasidirte und nach dessen Beendigung er
seine beiden Söhne, den Prinzen Wilhelm von Oranien und
den Prinzen Friedrich, sogleich gegen Brüssel sendete. In der-
selben Nacht brachen auch die Grenadierbataillone, welche die
Besatzung im Haag bildeten, nach Belgien auf. Ihnen folgten,
zum Theil auf Dampfböten, zum Theil auf Wagen schnell fort-
geschafft, fast alle in Nordbrabant und Holland ftationirten Linien-
truppen. Das neunte Kürassierregiment und die Landers setzten
sich fast zu gleicher Zeit von Harlem, Utrecht und Bommel
nach dem Süden in Bewegung. Antwerpen wurde in Belage-
rungsstand erklart. *)
Am 30. August erließen von Antwerpen aus die Prinzen
eine Proclamation, die zwar die Einsetzung einer außerordentli-
chen Commission unter Vorsitz des Generallieutenants Chasse
ankündigte, aber durchaus kein Wort von den so dringenden Ver-
besserungen der Verwaltung besagte. Es war vielmehr in dersel-
ben nur von militärischen Maßregeln die Rede, welche keinen
andern Zweck zu haben schienen, als die Bürger sammtlicher bel-
gischen Städte zu entwaffnen und solche dann durch holländische
Truppen besetzen zu lassen. Dazu kam, daß die ministeriellen
Blatter noch immer von der Notwendigkeit sprachen, Belgien
Die leidenschaftliche Entstellung der Ereignisse in Brüssel von Seiten
der holländischen Umgebung des Königs mußten nothwendig den gegen-
seitigen Nationalhaß zum erbittertsten Kampfe aufreizen. So unter
andern erzählten holländische Blätter nicht nur, daß die Grafen No-
biaux de Boorsbeek und Villain XIV., um den Aufruhr in
Gang zu bringen, Geld unter den Pöbel vertheilt hätten, sondern es wären
auch Freudenmädchen zu Wagen in dem Theile Brüssels, der meistens
vom Pöbel bewohnt werde, umhergefahren und hätten Geld und Wein
gespendet. Ja, um Holland zu verhöhnen, sei während des Tumults
ein schäbigter Hund umhergezogen worden, an dessen Schweif man einen
holländischen Käse gebunden habe, und dergleichen mehr.
N. G. IV. 18
— 274 —
mit Gewalt der Waffen zu zahmen, von diesem Siege, hieß es,
hange das Heil Hollands ab. Man wollte nicht einsehen, daß
militärische Maßregeln blos Oel in die Flammen gießen muß-
ten. —
In Brüssel herrschte fortwährend Ruhe. Sobald die Prin-
zen am 31, vor der Stadt im Schlosse Laeken angekommen
waren, ließen sie den Kommandanten der Bürgergarde zu sich
bescheiden, um mit ihm über die zweckmäßigsten Maßregeln zur
Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung sich zu besprechen.
Hoogvorst erschien im Palast, begleitet von einer Deputation, die
den Prinzen erklärte: sie könnten sich mit Sicherheit nur unter
ihrem Geleite in die Stadt begeben, und würden sich dort
leicht überzeugen, daß die gesammte Bürgerschaft eben so ent-
schlössen sei, die Ordnung aufrecht zu erhalten, 'als die Freiheit
zu vertheidigen, Anwendung von Militärgewalt aber werde den
Riß für immer unheilbar machen und Veranlassung zu grausen-
vollen Ereignissen geben. — Die Antwort der Prinzen war:
„sie waren geneigt, in die Stadt zu kommen, von der Bürger-
schast umgeben und dem Militär gefolgt, das bestimmt sei, den
Bürgern den peinlichen Dienst der Bewachung abzunehmen, sobald
die ungesetzlichen Farben und Fahnen abgenommen und die Zei-
chen , welche durch eine irre geleitete Menge weggenommen wor-
den', wieder an Ort und Stelle seien."
Als man in Brüssel die Nachricht vernahm, die Prinzen
wollten von Truppen begleitet einziehen, brach sogleich die
wilde Volkswuth wieder aus. Ein allgemeiner Allarm erfüllte
die Stadt. Taufende stürzten auf das Thor von Laeken zu, hie-
ben auf den Boulevards die Bäume nieder und rissen das Stra-
ßenpflaster auf, um, nach dem Beispiel der Pariser, Barricaden
zu errichten, welche denn auch binnen wenigen Stunden nicht nur
von dem Laekener Thore an bis zu dem von Namur führenden
Thore, sondern auch an den Ausgängen der Hauptstraßen im
Innern der Stadt sich erhoben, und wahrend der Nacht durch
ununterbrochene Arbeit eine Art von Vollkommenheit erhielten.
Eine zweite Deputation, den Baron Seats an der Spitze,
ging zu den Prinzen ab, um ihnen die furchtbar gefahrliche Stim-
mung des Volks zu schildern und sie von ihrem gewagten Ent-
schluß abzubringen. Die Prinzen zeigten anfangs wenig Neigung,
ihren Entschluß zu andern. Das Gespräch wurde sehr lebhaft.
— 275 —
Alle Deputirten nahmen nach einander das Wort, den Prinzen
die in Brüssel herrschende Gahrung zu schildern, und sie zu be-
schwören, eine entschlossene und muthige Bevölkerung nicht aufs
äußerste zu treiben. Der Fürst von Lig ne rief mit lebhafter Be-
wegung aus: „wenn man darauf bestände, mit Gewalt in die
Stadl einzudringen, so müsse man zuerst über seinen Leichnam
wegschreiten." Ein Anderer sagte zum Prinzen vonOranien: „er
mache ihn persönlich für das Blut verantwortlich, das vergossen
würde." Endlich nach langem Weigern und nach einer geheimen Un-
terredung mit dem Prinzen Friedrich und dem Minister Gobelschroy
entschloß sich der Prinz von Oranien, allein in die Stadt zu
kommen. Um Mitternacht brachte die zurückkehrende Deputation,
welche genötlu'gt war, mit Leitern über die zahlreiche-: Barrikaden
zu steigen, jene Erklärung nach Brüssel, und nun erging sogleich
Ordre an die Chefs aller Sectionen der Bürgergarde, mit ihrer
gesammtcn bewaffneten Mannschaft gegen Zl) Uhr Morgens (1.
Septbr.) vor dem Rathhause zu erscheinen, um den Prinzen ein-
zuholen. Fünftausend Nationalgarden zogen zur festgesetzten
Stunde aus; voran die Metzger mit Beilen auf den Schultern.
Mit Piken bewaffnete Bauern folgten, was man nicht hindern
konnte, um das gemeine Volk nicht zu reizen. Tausende aus dem
Wolke waren der Bürgergarde vorgeeilt, beinahe alle mit blauen
Hemden bekleidet.
Um zwei Uhr kam der Prinz in Begleitung des Ministers
Gobelschroy und eines Adjutanten, gefolgt von der Bürgergarde,
in die Stadt. Das Gitter des Thores von Laeken war gefchlof-
sen; man mußte durch die kleine Thür und die engen Oeffnungen
der Barrikaden gehen. Der Prinz, obgleich blaß und aufgeregt,
verrieth keine Unruhe und unterwarf sich Allem. Er ritt jetzt an
der Fronte der Garde hinunter, diese prasentirte überall das Ge-
wehr, aber nicht ein Bewillkommnungsruf erscholl in den Reihen,
obgleich man das Vertrauen und die Freundlichkeit, welche er den
Brüsselern bewies, anerkannte. In den ersten Straßen, die er
durchritt, schien er erstaunt, als er die großen Anstalten zu einer
energischen Vertheidigung sah. Auf dem Münzplatze rief man:
„Es lebe der Prinz! Es lebe die Freiheit! Nieder mit van
Mannen!" Der Prinz antwortete: „Ja, meine Freunde, es lebe
die Freiheit! Ihr sollt sie erhalten." Auf dem großen Platz
vor dem Rathhauft versicherte er dem Volk: „er sei gekommen,
18*
— 276 —
um Frieden zu stiften, nie werde der König seine getreuen Unter-
thanen durch seine Truppen angreifen lassen." — Nach einer
kurzen Conferenz auf dem Stadthause entfernte sich der Prinz,
um sich nach dem königlichen Palast zu begeben; eine Escorte
berittener Bürgergarde begleitete ihn, was bald unheilbringend
für ihn geworden wäre; denn als der Kommandant derselben
beim Uebersetzen über eine Barricade eine Schildwache heftig mit
dem Fuße anstieß, geriethen sie in Streit und der Reiter gab ihr
flache Hiebe. Sogleich eilren andere Posten herbei. Der Ruf:
„Haltet ihn! Haltet ihn!" ertönte in der ganzen Straße, und
die Entfernteren, welche den Prinzen beinahe ganz allein im kur-
zen Gallopp ankommen sahen, glaubten diesen aufhalten zu müs-
sen. Man warf mit Steinen nach ihm, eine Schildwache fällte
das Bajonnett; allein es fand kein ernster Unfall dabei statt.
Noch am selbigen Abend erließ der Prinz eine Proclamation,
nach dessen Inhalt eine Commission unter Vorsitz des Herzogs
von Ursel gebildet ward, mit welcher der Prinz die ferneren
Maßregeln zur Erfüllung der Wünsche des guten belgischen Vol-
kes berathen werde, wobei er nochmals versprach, daß keine Trup-
Pen zur Ausführung gewaltsamer Schritte in die Stadt rücken
sollten. Allein schon sah man die Straße von Utrecht bis Vil-
vorde mit Truppenzügen bedeckt, die in raschem Marsche nach
Brüssel begriffen waren, weshalb man in der Stadt nichts wem-
ger als zufrieden und beruhigt war.
In der Versammlung der Volkscommission beim Prinzen
(3. Septbr.), wozu auch die in Brüssel anwesenden Mitglieder
der Generalstaaten, die Deputirten aller Sectionen, so wie der
Generalstab der Bürgergarde, ja selbst die Deputation der Stadt
Lüttich waren eingeladen worden, brachte man die Trennung
Belgiens und Hollands zur Sprache, und die Anwesenden
stimmten sammtlich dafür. Der Prinz fragte erschüttert: „aber
versprechen Sie dann, der Dynastie treu zu bleiben." — „Wir
schwören es!" war die einstimmige Antwort. „Würden Sie —
fuhr der Prinz fort — sich mit den Franzosen verbinden, falls
sie in Belgien einrückten?" — „Nein, nein!" —- „Würden Sie
dann mit mir zu unserer Vertheidigung ausrücken?" — „Ja,
das würden wir." — „So rufen Sie denn mit mir: es lebe der
König!" — „Nicht eher, als bis unsere Wünsche Gehör gefun-
den haben! war die Antwort — Aber wir rufen gern und von
— 277 —
Herzen: „Es lebe der Prinz! Es lebe die Freiheit! Es lebe Bel-
cjten!" — Der Prinz war bis zu Thronen gerührt, man umarmte
sich in der allgemeinen Begeisterung, und selbst die alten Krieger,
welche sich in dem frohen Gedränge befanden, konnten ihre Ruh--
rung nicht verbergen. — Endlich erklarte der Prinz, er wolle zu
seinem Vater eilen und demselben den allgemein geäußerten Wunsch
vortragen, auch solchen mit seinem ganzen Einfluß unterstützen.
Bis dahin sollte die Bürgergarde dafür stehen, daß keine Ver-
änderung in der Regierung vorgenommen würde, was sie auch in
einer Proclamation feierlichst versprach.
Noch an demselben Nachmittag reiste der Prinz nach dem
Haag ab. Gleich darauf verließen auch alle hollandischen Trup-
Pen Brüssel, und die Bürger waren nun die alleinigen Herren
der Stadt.
Unterdessen hatte der König, unmittelbar nachdem er erfah-
ren hatte, daß sich der Prinz nach Brüssel begeben, am 3. Sept.
den Hauptwunsch der Belgier erfüllt, den Minister van Maa-
nen entlassen und zugleich die Generalstaaten zu einer außerordent-
lichen Sitzung zusammenberufen. Diesen entgegenkommenden
Maßregeln entsprachen nun auch ihrerseits die Belgier und sammt-
liche Deputirte der südlichen Provinzen beschlossen, sich nach dem
Haag in die Generalstaaten zu begeben, in die Hollander dasselbe
Vertrauen setzend, was der Prinz von Oranien in die Belgier
gesetzt hatte, indem er sich unbewaffnet in ihre Mitte begab.
Inzwischen hatte der Antw erpner Handelsstand, welcher
durch freie Schifffahrt auf der Scheide und durch den Verkehr
mit den Kolonien bisher bedeutende Vortheile geerntet hatte, die
durch eine Trennung Belgiens von Holland größtentheils verloren
gehen mußten, eine Adresse an den König gerichtet, worin der
Widerwille dieser Stadt gegen die beabsichtigte Trennung des
Südens von dem Norden ausgesprochen wurde. Derselben An-
ficht war Gent, das in seiner Adresse an den König sagte: „die
Trennung führe zur Anarchie und zerstöre Ackerbau, Handel und
Industrie. Ganz Hennegau, Südbrabant, Lütt ich und
Namur dagegen waren entschieden für die Trennung von Hol-
land gestimmt. Ost- und Westflandern verhielten sich ruhig,
so wie Nordbrabant, welches letztere mit hollandischen Trup-
pen überschwemmt war. Ostende jedoch erklarte sich für die
Trennung. Ja in Holland selbst war die Mehrzahl der Bevölke-
— 278 —
rung dazu geneigt, und die Stadt Amsterdam unterstützte die
Forderung der Belgier mit einer Adresse.
Die starken Truppenbewegungen hielten indeß noch immer
den Argwohn der Belgier wach und sie trafen ihre Maßregeln.
In Brüssel wurden zwei Millionen Patronen für die Bürger-
garde verfertigt. Zahlreiche und gut bewaffnete Haufen aus Lüt-
tich und Mo»s zogen nach Brüssel zur Unterstützung der Pa-
trioten, wenn ja der Kamps auf Tod und Leben für die Freiheit
beginnen sollte. Auch von andern Seiten her strömten Menfchen
zur Verstärkung der Hauptstadt herbei. Viele belgische Soldaten
gingen mit Sack und Pack aus den Reihen der Hollander zu den
Belgiern über, und kriegslustige Franzosen kamen über die nahe
Grenze. —
Am 13. September wurden die Generalstaaten eröffnet. An
diesem Tage war in dem sonst so ruhigen Haag ein geschäftiges
Treiben. An allen Zugangen zum Außen- und Innernhofe hatte
man Reiterpikets aufgestellt; zahlreiche Volkstruppen drängten
sich dort schon am Morgen zusammen, und wenn ein Holland!-
scher Deputirter angefahren kam, rief der Haufe jedesmal: „Dat
is een Hollander." Die südlichen Deputirten wurden dagegen
vst mit Gezisch empfangen. Als der König erschien, erhob sich
ein mehr als tausendstimmiges „Oranje boven! Leva de Ke-
ntng!" Dabei rief man Hussa! warf die Hüte in die Höhe
und sang das Nationallied. Auf gleiche Weife wurden der Prinz
von Oranien und des Königs neuer Schwiegersohn, Prinz A l-
bert von Preußen, empfangen.
In der Thronrede, welche wegen des Ungeheuern Getümmels
vor dem Sitzungssaale nur zum kleinsten Theil von der Versamm-
lung konnte vernommen werden, sagte der König: „Ich war mit
der Sorge beschäftigt, die Lasten des Volkes zu erleichtern, als
zu Brüssel und bald, nach dessen Beispiel, auch an einigen an-
dem Orten des Reiches ein Aufruhr ausbrach, der durch Greuel-
scenen von Brand und Plünderung bezeichnet ward. — Ich habe
alle von mir abHangenden Maßregeln genommen, um dem Fort-
gang des Bösen Einhalt zu thun und die Geißel des Bürger-
kriegs von Niederland abzuwenden. — Von vielen Seiten meint
man, daß das Wohl des Staates durch eine neue Prüfung des
Grundgesetzes und selbst durch eine Trennung von Provinzen,
welche durch Vertrage und das Grundgesetz vereinigt sind, erzielt
— 279 —
werden würde.--Allein obgleich ich völlig geneigt bin, ver-
nünftige Wünsche zu befriedigen, werde ich dem Factionsgeiste
nichts zugestehen und niemals Maßregeln genehmigen, welche die
Interessen und die Wohlfahrt Der Nation den Leidenschaften oder
der Gewalt zum Opfer brachten. — Wenn es möglich ist, alle
Interessen zu versöhnen, das ist der einzige Wunsch meines
Herzens/'
Diese unklare, zweideutige Thronrede, worin nichts gesagt
war, was die Furcht der Belgier vor militärischer Execution hätte
beschwichtigen können, verbunden mit den fortwährenden Rüstun-
gen, vermehrte den Argwohn und erneuerte die Gährungen. Die
Belgier erließen zwei dringende Adressen an ihre Deputaten im
Haag, welche kategorisch das Verlangen aussprachen, die ge-
wünschte Trennung der südlichen von den nördlichen Provinzen
sobald als möglich zu Stande zu bringen. Allein diese dringenden
Ermahnungen blieben fruchtlos. Es herrschte im Haag eine sol-
che Gehässigkeit und Erbitterung gegen die Belgier, daß die Ab-
gesandten, welche jene Adresse den Deputaten überbrachten, von
diesen ermahnt wurden, sich schleunigst wieder zu entfernen, wenn
sie ihres Lebens sicher sein wollten.
Wahrend nun in den Generalstaaten, wo der gehässigste Par-
teigeist sich zeigte, die Debatten ganz fruchtlos blieben, ward der
holländische Pöbel im Haag nicht gehindert, sich Kränkungen gegen
die belgischen Deputaten zu erlauben. Kaum konnten diese ein
Obdach finden, nirgends sich Zeigen, ohne verhöhnt zu werden,
und einer unter ihnen, von Gerlache, wurde sogar thatlich in-
sultirt. Das ministerielle Blatt „Nederlandsche Gedachten," drohte
den Brüsseler und andern Abgeordneten mit dem Schaffot. Einer
der Abgeordneten schrieb daher aus dem Haag nach Brüssel:
„Der Himmel verdunkelt sich, schwarze Wolken nahen, der Sturm
dröhnt, die holländische Partei herrscht in den Generalstaaten.
Belgier, haltet euch bereit, zum Kampf oder zur Sclaverei!"
Baron Staffart, Abgeordneter und einer der Haupter der
Opposition, hatte, aus Furcht, sammtliche Deputirte möchten von
den Holländern als Geißeln zurückbehalten werden, schon am 15,
September den Haag verlassen, und durch eine öffentliche Be-
kanntmachung seinen Mitbürgern auseinandergesetzt, wie sehr die
Erwartungen der Belgier getauscht würden, und wie wenig sie
— 280 —
von der Regierung in Betreff ihrer Wünsche zu erwarten hätten.
-— Hatte nun die königliche Thronrede den Unwillen der Belgier
schon sehr gesteigert, so trieb ihn diese Bekanntmachung bis auf's
Höchste. In Lüttich brach die Volkswuth zuerst los. Hier über-
warf sich am 15. Sept. der erbitterte Pöbel mit der Bürgergarde,
stürmte am 29. die dortige, von königlichen Truppen besetzte,
Cartause, eroberte dieselbe und rüstete sich zu einem Auszuge gegen
die Hollander, um durch diese Diversion den Brüsselern beizuste-
Herr. Auch aus Vervlers zogen über tausend von den Fabrik-
Herrn entlassene Arbeiter nach Brüssel, den dort bedrängten Brü-
dem Hülse zu bringen. In der Hauptstadt selbst wurden die
Barrikaden an allen Thoren erneuert, und Haufen junger Frei-
williger zogen am 19. aus, plänkelten mit den Hollandern vor-
der Stadt, erbeuteten einige Pferde und kehrten dann siegestrun-
ken nach Brüssel zurück. Die Behörden schickten diese Pferde mit
einer Entschuldigung an den Prinzen Friedrich zurück, aber dadurch
erbitterten sie das Volk, was ohnehin der, nur aus wohlhaben-
den Bürgern bestehenden, Bürgergarde mißtraute. Noch an dem-
selben Tage bildeten sich zahlreiche Haufen, an deren Spitze Lüt-
ticher Offiziere, entschlossene Wallonen (s. altere Gesch. Band I!.
Seite 139 Anm.) standen. Sie stürmten auf das Stadthaus
und verlangten Waffen. Man gab ihnen einige Gewehre, und
versprach, auf morgen deren noch mehrere zu vertheilen. Dennoch
wuchs um Mitternacht der Tumult. Die Bürger sahen sich genö-
thigt, auf die Ruhestörer Feuer zu geben, und die Wuth stieg nun
auf's Höchste. Am brach ein allgemeiner Sturm des gemei-
nen Volkes gegen die Bürger aus. Der Pöbel entwaffnete alle
Posten der Bürgergarde, bemächtigte sich des Rathhauses und aller
dort vorhandenen Waffenvorrathe, und proclamirte vom Söller
herab die Freiheit. Da lös'te sich der Generalstab der Bürgergarde
und die bisher bestandene Sicherheitscommission. Die Garde
selbst zerstreute sich, und ein Theil derselben trat zu dem bewaff-
neten Volke über. Brüssel war jetzt in voller Revolution. Es
bestand keine Regierung mehr. In einer seit einigen Tagen errich-
teten Central-(Kommission, die sich selbst eingesetzt hatte, wurde
unterdessen über die Schöpfung einer provisorischen Regierung be-
rathen, und am 22. ward diese in Brüssel proclamirt. Als deren
Mitglieder wurden genannt: de Pott er, den man aus Paris
erwartete, die Grafen von Merode und Emil d'Oultremont,
— 281 —
Baron von Stassart und die Advokaten Gendebien, Rai-
kem, van M eenen und van de Weyer.
Die Bekanntmachung der provisorischen Regierung wurde mit
großem Beifall aufgenommen; ganz anders aber die drohende
Proclamation des Prinzen Friedrich, die er an demselben Tage
von Antwerpen aus an die Brüsseler erließ, worin er verfügte:
„Die Nationaltruppen werden in Brüssel einrücken, jedes ihnen
in den Weg gelegte Hinderniß wird mit Gewalt gebrochen wer-
den. Die von den Bürgern besetzten Posten werden den Truppen
übergeben. — Die von einem Theile der Bürgergarden angenom-
menen Farben werden abgelegt. — Alle Mitglieder der Civilbe-
Hörden und die Chefs der Bürgergarde werden persönlich verant-
wortlich gemacht für jede Widersetzlichkeit gegen die Truppen, und
alle Individuen, welche sich widersetzen, werden der peinlichen
Gerichtsbarkeit überliefert." — Diese Bekanntmachung verbreitete
Schrecken in der Stadt bei Allen, die etwas zu verlieren hatten,
wahrend sie den Zorn und den Muth derer steigerte, die Gewalt
mit Gewalt zu vertreiben fest entschlossen waren. Es ward sogleich
in allen Straßen Larm geschlagen, man lautete die Sturmglocken
und hing schwarze Fahnen aus. Das Volk stürzte zu den Waf-
fen. Die Wallonen und andere Freiwillige, immer als die Kühn-
sten voran, und so ging es im Sturmschritt hinaus zu den Tho-
ren von Lacken, Löwen und Namur, während Greise, Wei-
ber und Kinder zahlreiche Verrammelungen im Innern der Stadt
aufführten. — Den in organisirten Compagnien Ausrückenden
folgte ein ungeregelter starker Hänfen als Reserve. Die königli-
chen Truppen standen auf der Anhöhe von Ever bereits in
Schlachtordnung. Es waren zwei Jnfanteriecorps, das eine in
Quarre, das andere in Colonnen aufgestellt. Drei Cavallerie-
corps, aus Lanciers und Dragoner gebildet, deckten die Flanken;
das Geschütz aber war in Batterien aufgefahren. Die Lütticher
und Brüsseler begannen das Tirailleurgefecht, welches nichts ent-
schied. Das Einbrechen der Dunkelheit nöthigte die Angreifer
zum Rückzüge nach Brüssel, wo um Mitternacht von neuem die
Sturmglocken ertönten, auch in der Richtung der Thore von
Flandern und Namur Kanonendonner und heftiges Kleinge-
wehrfeuer gehört ward.
Um noch einmal durch Unterhandlungen dem Bürgerkriege zu
begegnen, begaben sich in derselben Nacht zwei Abgeordnete der
— 232 —
provisorischen Negierung, Dücpetiaux und Everard in das
Hauptquartier des Prinzen, dicht vor der Stadt. Man hörte sie
nicht, sondern bemächtigte sich ihrer als Nebellen, und schickte
sie unter starker Bedeckung nach Antwerpen in's Gesängniß. Die
Brüsseler sahen hieraus, welches Schicksal sie erwarte, wenn sie
unterlagen; es blieb ihnen also nichts übrig, als sich auf's Ver-
zweifeltste zu vertheidigen.
Am folgenden Morgen (23. Sept.) rückte Prinz Friedrich
mit sechs bis sieben Tausend Mann gegen die Stadt. Schon um
sieben Uhr singen sie an, das Scharbecker Thor zu berennen, das,
nur von zwei Kanonen und etwa Wi) Lüttichern vertheidigt, durch
Flankenangriffe bald genommen ward. In den Straßen der Stadt
aber wurde aus allen Fenstern auf sie geschossen und mit Steinen,
Feuerbranden, siedendem Oel und Wasser auf sie geworfen; um
fünf Uhr Nachmittags waren sie Herren des Königsplatzes, des
Schlosses und des Parkes. Bon da wendeten sie sich nach der
innern Stadt und drangen allmalig, der Barrikaden sich bemach-
tigend, bis zum Stadthause vor. In der untern Stadt aber,
die sie leicht zu gewinnen glaubten, fanden sie den heftigsten Wi-
derstand, der von alten gedienten Offizieren und Soldaten aus
der Napoleonischen Schule geleitet ward. Hier waren die Barri-
kaden so zweckmäßig angelegt, und wurden so lebhaft vertheidigt,
und das Kleingewehrfeuer von der Straße und den Hausern her-
ab war so mörderisch, daß die Holländer dreimal mit großem
Verluste zurückgeschlagen wurden. Zu gleicher Zeit rückte ein Re-
giment Reiter, dem man das Anderlechter Thor, auf die Wer-
sicherung, das Regiment komme zum Beistande der braven Bcl-
gier heran, geöffnet hatte, in die Stadt, da zog es die Säbel
und versuchte einen kecken Angriff auf das Volk. Nun regnete
es Steine von allen Dachern und rasches Flintenfeuer aus den
Fenstern, wie hinter jeder Barrikade und Straßenecke her, schnitt-
terte tn kaum einer Stunde hundert und fünfzig Reiter nieder.
(Lin großer Theil des zersprengten Regiments ward gefangen, und
der Rest suchte sein Heil in der Flucht.
Dieser Sieg ermuthigte die Volksmassen dergestalt, daß sie
sich, in wüthenden Gefechten, noch ehe es dunkelte, des Königs-
Platzes, mehrerer von den Truppen besetzten Gebäude, ja selbst
deö Schlosses wieder bemächtigten. Nun kannte aber auch die
Wuth der Soldaten in den Theilen der Stadl, wo sie noch Mei-
— 283 —
fter waren, keine Grenzen mehr. Nicht weniger als 300 Häuser
wurden unter gräßlichen Mißhandlungen ihrer Bewohner zerstört
und ausgeplündert; allein in den Boulevards des botanischen
Gartens hatte man, ohne allen militairischen Zweck, sechzehn
Hauser den Flammen geopfert. Unter solchem Greuel verfloß die
Nacht.
Prinz Friedrich, das Mißliche seiner Lage einsehend, hatte
am Abend einen Parlamentair in die Stadt geschickt, der aber
als Geißel für Duepetiaux zurückbehalten wurde. Doch suchten
zwei Bürger, die sich zum Prinzen begaben, Unterhandlungen
anzuknüpfen, und schon war der Abzug der Truppen in Bera-
thung, als der Prinz erfuhr, es fehle den Bürgern an Munition,
und sie würden auf die Dauer die Stadt nicht halten können.
Dies bewog ihn, auf seinem Posten zu bleiben. Wahrend der
Nacht aber verfertigten die Bürger aus dem Pulver in der Lütti-
cher Kaserne neue Patronen, und von allen Seiten zogen aus der
Umgegend große, seltsam genug bewaffnete Hausen, durch die
von den Holländern nicht besetzten Thore in die Stadt, wodurch
Zahl und Muth der Brüsseler ansehnlich verstärkt wurden.
Als der Morgen des 24. Septembers anbrach, begann der
Kampf von Neuem. Die schon entmuthigten, hungernden und
bis zum Umsinken ermatteten Soldaten wurden aus allen erober-
ten Stellungen bis auf das Innere des Parks verdrängt, wo sie
sich aber mit zwölf Kanonen wie Verzweifelte vertheidigten. Bon
dort aus schleuderten sie Bomben, glühende Kugeln, Congrevsche
Raketen und in die Kanonen geladene Eisenstücke auf die Stadt.
Bald brach an mehreren Orten Feuer aus, und damit der Brand
nicht gelöscht werde, machten die Truppen gegen die zur Rettung
Herbeieilenden ein mörderisches Kartätschenfeuer. Man ließ ihnen
sagen: werde solches Feuern nicht eingestellt, so sollten alle Ge-
fangenen, worunter sich ein Adjutant des Prinzen und sechs Of-
siziere befanden, über die Klinge springen. Nun hörte das Feuern
auf. Die Truppen befanden sich in einer verzweifelten Lage;
rings in dem Parke, wo sie, etwa noch 25GÖ Mann stark, aufge-
stellt standen, eingeschlossen, und von dem wüthenden Volke auf
allen Seiten angegriffen, schienen sie verloren. Ueberdieß fehlte
es ihnen an Mund- und Kriegsvorrathen. Zwei Weiber, die
ihnen Brod gebracht hatten, wurden von den Bürgern erschossen.
Da verlangten sie in der Verzweiflung zu capituliren, und die
— 284 —
Uebergabe wäre erfolgt, wenn die Bürger, voll Ingrimm gegen
die Brandstifter, nicht verlangt hatten, daß sie sich auf Gnade
und Ungnade ergeben sollten.
Die Brüsseler Bürger wurden unterdessen fortwahrend durch
Freiwillige vom Lande verstärkt und, um in ihre Verteidigung
die nothige Einheit zu bringen, wählten sie denselben Abend noch
den berühmten Abenteurer, Don Juan van Halen, einen spa-
nischen Offizier und ehemaligen Adjutanten Mina's, aber von
belgischer Abkunft, zum Oberbefehlshaber, als den ausgezeichnet-
sten Militär, der sich damals in der Stadt befand. Er machte
seine Annahme durch folgenden Tagesbefehl bekannt: „Die Frei-
heitsliebe, die Pflicht der Vertheidigung, die Bestürzung so vie-
ler Familien, die Aufregung meiner Seele beim Anblick der Er-
mordung der Einwohner und der Niederbrennung ihrer Häuser
ließen mich aus der Dunkelheit hervortreten, in die ich mich
gestellt hatte. Ein Bewunderer des Siegs gegen Mordbrenner
und Verwüster nehme ich, stolz auf den belgischen Namen, dem
eines freien Spaniers beigesellt, ein Kommando an, dessen mich
würdig zu halten ich weit entfernt war," —
Auch Prinz Friedrich erwartete Verstärkungen, erhielt'sie aber
nicht, weil ihnen unterwegs der Weg versperrt wurde. Am 24.
erneuerten die Truppen nothgedrungen ihren Angriff, indem sie
abermals von der obern Stadt und dem Park Bomben und Eon-
grevsche Raketen warfen, sie wurden aber auf allen Seiten zurück-
gedrangt. — Endlich am 26. Septbr. wurde der letzte entfchei-
dende Kampf ausgeführt. Die Holländer rückten in geschlossenen
Colonnen aus dem Park in die Königsstraße, wo die Bürger
ebenfalls in Masse aufgestellt waren. General Melinet, ein
verdienter Offizier der alten Napoleon'schen Armee, hatte es über-
nommen, das Geschütz der Bürger zu leiten; er verbarg es an-
sangs hinter der Colonne, ließ es dann, als die Holländer vor-
rückten, plötzlich demaskiren, und brachte durch ein wohlgerichtetes
und nahes Kartätschenfeuer denselben eine große Niederlage bei.
Sie flohen zurück, aber Melinet ließ nun eine Kanone in dem
Palast Bellevue so geschickt aufstellen, daß er von hier aus die
Truppen im Parke sicher beschießen und ihnen immer neue Wer-
luste beibringen konnte. Dadurch kühn gemacht, versuchten die
Bürger einen Sturm auf den Park, doch wurde solcher von der
holländischen Garde abgeschlagen. Man stürmte jedoch immer von
— 285 —
Neuem, da das Volk, und besonders die Wallonen, in grenzen-
loser Wuth waren. Jndeß hielten sich die Truppen durch die
Überlegenheit ihrer Artillerie, indem sie nach allen Seiten schos-
sen und die im Bereich ihres Feuers liegenden Häuser in Brand
steckten. Auch die Bürger sahen sich genöthigt, um die Soldaten
aus dem Palast der Generalstaaten zu vertreiben, den benachbar-
ten Palast des Finanzministeriums anzuzünden. Als Prinz Fried-
rich das Feuer so nahe an dem Palaste seines königlichen Baters
und seine Truppen überall eingeschlossen und erschöpft sah, soll er
vor Zorn geweint haben. Der Kampf dauerte bis in die Nacht,
sehr viele Menschen kamen von beiden Seiten um, und die bren-
müden Palaste beleuchteten das Schlachtfeld. Erst um zwei Uhr
nach Mitternacht wurde das Feuern eingestellt, und um vier Uhr
Morgens, am 27. Septbr., flüchtete sich der Prinz mit dem Reste
seiner Truppen aus der Stadt, so übereilt, daß viele Schildwa-
chen zurückgelassen wurden, welche den Bürgern in die Hände sie-
len, aber keine Mißhandlung erfuhren. Eine Division Hollander
stieß ein Freudengeschrei aus, als sie das Thor von Brüssel im
Rücken hatte. Von 6000 Mann, die vor die Stadt gerückt
waren, entkamen etwa 1500. Auf dem Rückzüge wurden sie
noch von dem Landvolks, das sich in Massen erhob, mit außer-
ordentlicher Erbitterung verfolgt, und Prinz Friedrich selbst ver-
dankte seine Rettung der Schnelligkeit eines guten Rosses.
Zu bemerken ist, daß wahrend der Gefahr die sonst so lau-
ten Parteihanpter sich zurückgezogen hatten. Als die Truppen in
die Stadt rückten und die ersten Barrikaden überstiegen waren,
verließen sogar viele Chess ihre Posten; sie glaubten, Alles sei
verloren. Nur Hoogvorst wollte nicht weichen und erklärte, sich
unter den Trümmern des Rathhauses begraben zu wollen. Das
Volk allein hielt die Truppen im Vordringen auf, wobei ein tüch-
tiger Artillerist, das hölzerne Bein genannt,^) das Lütticher
Geschütz im furchtbarsten Kugelregen kaltblütig bediente.
Nach dem Abmarsch der Hollander, die ihren Rückzug auf
der Antwerpner Straße fortsetzten, strömte eine unzahlige Men-
schenmenge nach den von den Truppen verlassenen Platzen. Diese
*) Der Mann hieß Charlier und forderte für seine Tapferkeit zum
Lohne nichts, als einen Bons für ein neues hölzernes Bein, weil das
alte im Gefecht etwas beschädigt worden war.
— 286 —
Platze boten einen schrecklichen Anblick dar. Die Alleen des Parks
waren mit Blut gefärbt; Haufen von Leichen, von denen einige
nur mit einem dünnen Aufwurfe von Erde bedeckt waren, lagen
umher zwischen Trümmern von Baumen, Eisengittern und Sta-
tuen, die durch Kartätschen zerschmettert wurden. Der gewöhn-
lich vom Prinzen Friedrich bewohnte Theil des königlichen Pa-
lastes, der Palast Bellevue, sowie viele andere Gebäude des
Parks und die ganze Königsstraße waren zerstört. Auf dem St.
Michaelisplatze wurde eine Grube gemacht, um die irdischen Heber*
reste der in den denkwürdigen Tagen gefallenen Bürger aufzu-
nehmen. Ein Monument ward bestimmt, die Namen der Helden
und den Dank des Vaterlandes der Nachwelt zu überliefern.
Auch beschloß man, wie in Paris, für die Kinder und Wittwen
der Gefallenen zu sorgen.
Am nämlichen Tage, da die Holländer Brüssel verlassen
hatten, traf de Potter daselbst ein. Mehr als Menschen
gingen ihm entgegen; man spannte seine Pferde aus und unter
dem Rufe: „Es lebe de Potter! Tod den Holländern!" zog
man ihn bis zum Rathhause. Mit Mühe konnte er in das In-
nere des Gebäudes gelangen, so dicht war die Menschenmenge.
Er zeigte sich sogleich, dem allgemeinen Wunsche gemäß, auf
dem Balkon, wo er das Volk anredete und ihm zu helfen schwur,
das Joch der Holländer abzuschütteln. — Dann trat er sofort
an die Spitze der provisorischen Regierung. Seine Proclmnatio-
nen lauteten ganz republikanisch. —
Auf allen Straßen sah man starke Züge von Land- und
Stadtbewohnern, welche Wagen mit Lebensmitteln, Geld und
Munition nach Brüssel führten. — Nicht lange, so verbreitete
sich die Nachricht, die Stadt solle von dem holländischen General
Cort Heiligers mit Belagerungsgeschütz angegriffen werden.
Don Juan von Haalen erließ daher einen Tagsbefehl des In-
Halts, daß der Generalmarsch und die Sturmglocke der Haupt-
kirche das Signal, sich zu versammeln, für alle Bewaffnete sein
sollte. Indessen dauerte der Zustrom von Freiwilligen aus Paris
und ganz Frankreich fort. Die provisorische Regierung beschloß
nun, die Offensive zu ergreifen; nach mehreren Städten wurde
Mannschaft abgesendet, um die Einwohner derselben in der In-
surrection zu unterstützen. Außerdem ward in Brüssel, sür die
öffentliche Ordnung zu wachen, während die mobilen Colonnen
— 287 —
gegen den Feind ziehen würden, die Bildung einer Stadtgarde
verfügt, wozu alte waffenfähigen Einwohner von achtzehn bis
fünfzig Jahren berufen wurden.
Bald folgten auch die andern belgischen Städte dem Bei-
spiele Brüssels. Wahrend hier noch gefochten ward, entstand in
Lüttich ein falscher Lärm. Der Generalmarsch wurde geschlagen,
die Brandglocke gelautet, Frauen und Kinder rissen das Straßen-
Pflaster auf, junge Madchen füllten große Krüge mit Wasser und
trugen solche ins oberste Stockwerk, Weiber stürmten, mit alten
Gewehren bewaffnet, durch die Straßen, die Steinkohlenarbeiter
stellten sich in Kompagnien auf, und aus Verviers rückten
Verstarkungs-Detachements mit wehenden Fahnen und Ringendem
Spiel an. So standen binnen wenigen Stunden über 10,000
Wallonen unter den Waffen; 113 Fasser Pulver wurden aus den
Magazinen weggenommen und auf die Cartaufe gebracht, um von
dort die (Zitadelle zu beschießen. Dies war nur ein Vorspiel
künftiger Uebergabe der mit furchtbarer Artillerie und 1700 Mann
Besatzung versehenen Festung. Am 30. wurde ein von Mastricht
abgeschicktes Corps Hollander, welches den Truppen in der Cita-
delle Lebensmittel zuführen sollte, von den Einwohnern zurück-
geschlagen, worauf sich endlich am ö, Ottober die Besatzung aus
Mangel an den notwendigsten Bedürfnissen ergeben mußte. —
Am 26. Septbr. empörte sich Ostende und zwang in den fol-
genden Tagen die Holländer zum Abzüge. — Am 27. ging
Brügge über und ward das Fort Ath von den Belgiern ein-
genommen. — Arn 28. wurde in Tour n a y die Bevölkerung
Meister der Stadt, wahrend die Holländer die die Stadt beHerr-
schende Citadelle besetzt hielten. — Ein wichtigerer Schritt erfolgte
zwei Tage spater in Möns. Diese Stadt stand seit vierzehn
Tagen unter dem Kommando des Generals Howen, eines Hol-
landers. Am 29. Morgens wurden an allen Thoren Kanonen
aufgestellt, und gegen die Straßen gerichtet und auch der Rath-
hausplatz! mit zwei Kanonen besetzt. Die Garnison bestand aus
3600 Mann ohne die Artillerie. Ein Theil dieser Truppen stand
Morgens um 6 Uhr unter den Waffen, als plötzlich ein Soldat
ausrief: „Es lebe die Freiheit! Es leben die Belgier!" und dann
zu seinem Offizier sagte: „Ich gehe nach Hause." Der Offizier
wollte ihn in die Reihe zurückstoßen, der Soldat aber ergriff ihn
und schleppte ihn in die Mitte des Platzes. In diesem Augen-
— 288 —
blicke erscholl aus allen Reihen: „Es lebe die Freiheit!" und die
Soldaten liefen mit Waffen und Gepäck aus einander, um nach
Haus zurückzukehren. In weniger als einer Stunde befand sich
die Stadt ohne Garnison, und die Bürger von Möns waren
Meister einer der Festungen ersten Ranges, mit ungeheurem Ma-
terial (500 Kanonen und einer Menge Waffen und Munition).
Dreihundert Hollander mit ihren Offizieren, worunter die Gene-
rale Duvivier und Howen, wurden zu Gefangenen erklärt.
Sie mußten zu ihrer persönlichen Sicherheit in Möns bleiben,
weil sie von dem erbitterten Landvolke waren vernichtet worden.
■—• Am 30. steckte die wichtige Festung Gent die brabantische
Fahne auf; Ost ende ward um dieselbe Zeit besetzt. Auch in der
starken Festung Namur kam es am 1. October zu einem hefti-
gen Kampfe zwischen den Bürgern und der hollandischen Besa-
tzung, und die letztem zogen unter dem General van Geen,
nachdem sie kapitulirt hatten, aus der Stadt. An demselben Tage
gingen auch F)pern und Philippeville zu den Belgiern über,
und in Mecheln erklarten die belgischen Offiziere, sie würden
nicht gegen ihre Landsleute fechten, wahrend zu Lierre der größte,
aus Belgiern bestehende Theil der dortigen Infanterie, nebst den
daselbst befindlichen Husaren in die Reihen der belgischen Freiwil-
ligen traten.
Wahrend so nach einander die Festungen, wie die offenen
Städte in die Gewalt der Insurgenten geriethen, zogen die Hol-
lander eine immer größere Streitkraft nach Antwerpen. Daß
sich auch die Reste der Truppen aus Brüssel dahin gezogen, ist
schon gesagt: Außerdem ward alles disponible hollandische Militär,
sogar einige Strasbataillone, die sonst nur zur Ergänzung der
Truppen in Ostindien gebraucht wurden, auf Wagen dorthin
gebracht. — Bevor es hier jedoch zu einem ernsteren Kampfe
kommen sollte, erließ der Prinz von Oranien, von dem Könige
mit der Verwaltung der treugebliebenen Provinzen beauftragt,
von Antwerpen aus eine Proclamation (6. Octbr.), worin er alle
Forderungen der Belgier — die Trennung der beiden Theile des
Königreichs nicht ausgenommen -— zugestand, Vergessenheit alles
Geschehenen und alle möglichen Verbesserungen versprach. „Bel-
gier! — so schloß er — durch diese Mittel hoffen Wir mit Euch
jenes schöne Land zu retten, das Uns so theuer ist." — Unter
demselben Datum aber erließ, sonderbar genug, der König im
— 289 —
Haag eine Proclamation, worin er seine getreuen Holländer zu
den Waffen gegen die Rebellen rief. Diese auffallende Zusam-
menstellung mußte nothwendig den Belgiern die Gesinnungen des
Prinzen verdächtigen; der Eindruck seiner Proclamation konnte
daher nicht der gewünschte sein. Er sprach sich auch sofort offen
im Courier des Pays-bas auf folgende bittere Weise aus:
„Der Prinz will Belgien retten; Belgien wird sich selbst retten.
Er verspricht, die Fehler zu vergessen; wir haben uns keine Feh-
ler vorzuwerfen; die Fehler und Verbrechen sind auf Seiten Hol-
lands und auf Seiten seiner Dynastie, die uns seit fünfzehn
Jahren unterdrückte, obgleich sie uns Freiheit versprochen hatte.
Versöhnende Aeußerungen werden keine Tauschung mehr hervor-
bringen!"--
Vergebens sendete der Prinz einen Abgeordneten an die pro-
visorische Negierung, um mit ihr in Verhandlungen zu treten;
sie erklarte (9. Ott.): das Haus Nassau habe durch seinen letz-
ten Angriff alle Rechtsansprüche auf Belgien verloren und der
Prinz von Oranien könne nicht als Regent von Belgien anerkannt
werden, es sei denn, daß er spater von dem belgischen National-
Congresse zum Staatsoberhaupte gewählt würde." Auch die Zu-
sammenberufung einer aus lauter populären Belgiern bestehenden
Berarhungskommission, welche die Wersöhnungsmaßrcgeln vor-
schlagen sollte, die der Zustand von Belgien erheische, hatte kei-
nen bessern Erfolg.
Der Grimm der Holländer gegen das aufgestandene siegreiche
Belgien sprach sich jetzt vielfach in Spott- und Schmahreden
aus. In einem öffentlichen Blatte erschien ein satyrischer Komö-
dienzettel: „Theater zu AbVera," — „Die Truppe unter Direc-
tion der Herren von Hoog Vorst und van de Weyer wird
vor ihrer Abreise nach dem Toll- oder Zuchthause, zum Benefiz
ihres Soufleurs, des Courier des Pays-bas, aufführen: „Brüf-
sel in Aufruhr, oder der brabantische Affe," Melodrama von Tie-
lemans und de Neue, Musik von Bartels, mit der dazu gehörig
gen Decoration von Brand und Plünderung. Herr de Potter
giebt den Affen." —
Indessen wurden die Aussichten immer drohender. Der Na-
tionalhaß hatte den Ausruf des Königs zur allgemeinen Bewaff-
nung verstärkt. Zuerst folgten demselben die Studenten von Lei-
den, so wie die Bevölkerung fast aller der Residenz nahegelege-
N. G. iv. 19
I
— 290 —
rtcn Ortschaften, von woher zahlreiche Haufen Freiwilliger in dem
Haag sich sammelten, um gegen den Süden zu Felde zu ziehen.
— Allein auch in Brüssel befanden sich jetzt über 20,000 belgische
und französische Freiwillige, besonders aber Ueberlaufer von der
holländischen Armee und Wallonen. Dazu Trümmer der alten
französischen Garde, und saft eben so viele Offiziere wie Sol-
daten. —
Der Prinz von Oranien erließ am 10. October eine Procla-
mation, worin er die Belgier als eine unabhängige Nation
anerkannte und sich dem von der provisorischen Regierung aus-
gesprochenen Grundsatz der Wahl durch das Volk unterwarf.
In dieser Erklärung hatte der Prinz, wie es scheint, die Instruk-
tionen seines Vaters überschritten, der in einer Proclamation vom
20. seine Mißbilligung darüber aussprach. Jndeß erklärte der
Prinz der provisorischen Regierung: daß, da die Belgier und er
den nämlichen Zweck beabsichtigten und denselben durch die näm-
lichen Mittel erreichen wollten, so schlage er, damit kein belgisches
Blut mehr vergossen werde, einen Waffenstillstand vor. Zugleich
zagte er an, daß er die auf den Pontons befindlichen Gefangenen
freigegeben habe. Die Antwort darauf war: „daß, ehe noch
über den Vorschlag ein Beschluß könne gefaßt werden, der Prinz
zuvor nachweisen müsse, daß die feindlichen Truppen fämmtlich
unter seinem alleinigen Oberbefehl standen, daß er ihnen bereits
Befehl ertheilt habe, Antwerpen, Mastncht und Termonde zu
räumen. Der Prinz erließ wirklich an die Truppen den Befehl
zum Rückzug ergehen. Allein der Commandant zu Antwerpen,
General Chasse, verweigerte den Gehorsam und zog mit seinen
Soldaten nach dem Kastel, um diese Feste auf das Aeußerste zu
vertheidigen; ja er soll auf dcni Punkt gestanden haben, den Krön-
Prinzen zu verhasten. Was blieb jetzt dem Bedrängten, den seine
Staatsräte schon verlassen hatten, der mit seinem kriegerischen
Bruder in Zwiespalt gerathen war, und der von den Hollandern,
die ihm sein Proklam vom 16. October nicht verzeihen konnten,
angefeindet ward, als der Revolutionssturm vor seinen Augen in
Antwerpen losbrach? Er sah, daß seine Sache in Belgien verloren
war, die von der überspannten Partei gereizte Stimme des un-
tern Volks war gegen ihn. Er schiffte sich ain 2. November in
Rotterdam nach England ein. „Ich gehe — sagte er — um
mit besseren Zeiten wiederzukehren." Die Katastrophe der reich-
— 291 —
sten Handelsstadt Belgiens raubte ihm und der oranischen Par-
tei vollends die letzte Hoffnung.
Der Generallieutenant Chasse *) hatte schon am 23. October
Befehl gegeben, die Nord- und Südseite Antwerpens, wie auch
die Umgebungen der die Schelde beherrschenden Forts Lillo und
Liskenshoek unter Wasser zu setzen, wobei zugleich viele Gar-
ten und Gebäude in der Nahe der Stadt niedergerissen und zer-
stört wurden, worüber die Erbitterung des armern Theils der
Bewohner Antwerpens sehr gesteigert ward. Am 24. rückten die
belgischen Freiwilligen bis in die Nabe der Stadt vor und griffen
der Hollander dortige Stellung an, welche nach tapferer Gegen-
wehr endlich der fanatischen Uebermacht weichen mußten. Früh
Morgens am 26. zogen sie sich in die Stadt zurück und gaben
alle ihre Posten vor derselben auf. Bald darauf begann der
Kampf zwischen ihnen und den Einwohnern. Das Volk errich-
tete Barrikaden in den Straßen und siel die hollandischen Posten
der Hauptwache und in der Nahe des Palastes auf dem Meer-
platze an. Das Feuer aus den Fenstern und hinter den schnell
*) David Heinrich Ehasse (von Napoleon „das Bajonnet" und „mein
Degen" genannt) war 1765 geboren, der Sohn eines Majors in mün-
sterschcn Diensten. Er trat sehr jung als Kadet in niederländische
Dienste. Im Jahre 1793 war er schon Obristlieutenant, kehrte mit
Pichegrü's Heere nach Holland zurück und leistete drei Jahre später
gegen die Engländer in Nordholland wesentliche Dienste. Seinen groß-
tcn Ruhm erwarb er jedoch im spanischen Kriege durch seinen uner-
schrockenen Muth im Bajonnetgefechte. Louis, damaliger König von
Holland, ernannte ihn, wegen der Hollander Tapferkeit unter seinem
Kommando, bei Oeana zum Baron und schenkte ihm eine Domaine von
3000 Gulden Einkünfte; auch erhielt er das Kommandeurkreuz des Or-
dens der Union. Für eine tapfere That im Bergpasse der Pyrenäen,
wodurch Erlons Armeekorps gerettet ward, erhob ihn Napoleon zum
Gencrallieutenant und Offizier der Ehrenlegion. Auch ward er 1« 11
französischer Reichsbaron. Vor Paris ward er 1814 in einem Gefechte
mit den Preußen verwundet. Nach dem Frieden trat er in königl nie-
derländische Dienste. In der Schlacht bei Waterloo zeichnete er sich
durch eine kühne Diversion, welche die wichtigsten Folgen für die Ent-
scheidung der Schlacht hatte, wieder rühmlich aus, und König Wilhelm
ernannte ihn zum Generalfeldmarschalllieutenant, gab ihm auch mannig»
faltige Beweise des entschiedensten Vertrauens. Nach fünfzehnjähriger
Ruhe rief ihn die belgische Revolution wieder zur kriegerischen Thätig»
keir auf.
19*
— 292 —
aufgeworfenen Verschanzungen war so mörderisch, daß die hol-
landischen Truppen mit Zurücklassung vieler Getödteten und schwer
Verwundeten sich genöthigt sahen, nach der Citadelle zu flüchten.
Bis in die Nacht hatte der Kampf gedauert. Am andern Mor-
gen drangen die belgischen Freiwilligen durch das sogenannte rothe
Thor in die Stadt, und diese Schaaren halfen den Einwohnern,
sich der letzten hollandischen Posten zu bemeiftern. Sie fanden
auf den Wallen achtzehn Belagerungsstücke, zogen diese in die
Stadt und richteten das Geschütz gegen die Citadelle. In dieser
waren nun 4000 meistens Holländer eingeschlossen. In der Schelde
unweit der Citadelle aber lagen, unter General Geens Befehlen,
mehrere Kriegsschiffe, worunter vier Bombardierschaluppen, kamps-
gerüstet vor Anker. Chasse, uin weiteres Blutvergießen zu ver--
hüten, steckte auf einer der Bastionen die weiße Fahne aus und
erbot sich zu einem Waffenstillstände, der weitere friedliche Unter-
handtzmgen herbeiführen sollte. Es erschienen Unterhändler; allein
diese verlangten, Chasse solle sofort die hollandischen Truppen,
welche noch ihre Posten am Zeughause inne hatten, abrufen und
die Citadelle räumen, alles Kriegsmaterial ausliefern, die auf der
Rhede vor der Stadt befindlichen Kriegsschiffe, weil sie belgisches
Nationaleigenthum wären, den rechtmäßigen Besitzern übergeben
und um vier Uhr Nachmittags erklären, ob er diese Bedingung
eingehen wolle oder nicht. Chasse wies die entehrenden Vor-
schlage mit Verachtung zurück. Inzwischen ward der Waffenstill-
standsvertrag von den Belgiern verletzt. Gegen zwei Uhr Nach-
mittags griffen die wilden Banden der Freiwilligen die beim
Zeughause aufgestellten Holländer an und begrünen mit Felsstü-
cken die Zeughausthore einzuschieben. Die Belgier behaupteten
zwar später, die That sei ohne Willen der Offiziere geschehen,
allein Chasse sah sie als eine Verletzung des Vertrags an und
alsbald wehte von der Citadelle die schwarze Fahne und zugleich
begann ein fürchterliches Feuer aus dreihundert schweren Kanonen
auf die Stadt, während die Fregatte in der Schelde einen glü-
henden Regen von Bomben, Granaten und Brandraketen aus-
schüttete. Die Zerstörung ward furchtbar. Rettung war unter
dem beständigen Kugelregen unmöglich. Die Häuser an der
Schelde hin, die großen Entrepotsgebaude (Waarenlager) sanken
fast alle in Schutt zusammen; furchtbar loderten die großen Oel-
vorräthe auf; das Zeughaus und ein Theil des Stadthauses ward
— 293 —
zerstört. Am Abend lagen über zweihundert Gebäude in Asche.
Auch waren viele Menschen, die beim Beginn des Bombarde-
ments unter den Gewölben des Entrepots Schutz gesucht hatten,
des Todes Beute geworden.
Am folgenden Morgen ließen die Belgier dem General an-
tragen, er solle mit seinen Truppen, ihren Waffen und Gepäck
die Festung binnen drei Tagen räumen, wozu ihm die nöthigen
Transportmittel würden überliefert werden. Chasse antwortete,
daß er die Festung nicht ohne des Königs Befehl übergebe; den
Waffenstillstand jedoch unter der Bedingung annehmen wolle, daß
alle Vertheidigungsanstalten in der Stadt eingestellt, und die wah-
rend des vorigen Waffenstillstandes aus dem Magazin geraubten
Lebensmittel sofort herausgegeben würden. Man ließ sich diese Bedin-
gungen unter dennoch immer auf die Stadt gerichteten Kanonen der
Festung gefallen und bestimmte gegenseitig, daß die Feindseligkeiten
nicht vor zwölsstündiger Vorauskündigung wieder beginnen sollten.
Nach dem Bombardement von Antwerpen war an keine Ver-
söhnung, an keine friedliche Wiederherstellung des Hauses Oranien
auf .Belgiens Thron zu denken. Die durch den großen Brand
vernichteten Waarenvorräthe am Werthe von Millionen wurden ein
neuer Anlaß zur Erbitterung gegen Holland, nicht Mos in Bel-
gien, sondern überall, wo man an diesem Verluste betheiligt war»
Ein Nationalcongreß, der an? 10. November in Brüssel zusammen
trat, proclamirte daher bereits am 18. die Unabhängigkeit Bel-
giens und am 24. die Ausschließung des Hauses Oranien von
dem neu zu errichtenden belgischen? Throne, mit einer repräsenta-
tiven Negierungsform, nachdem die Bemühungen der französi-
scheu Partei, Vereinigung mit Frankreich durchzusetzen, an dem
Widerwillen Louis Philipps, sich deshalb mit ganz Europa
in Krieg zu verwickeln, die Republikaner aber mit ihrem Projeet
an der Abneigung der großen Gutsbesitzer und Kaufleule gegen
die Volksherrschaft gescheitert waren. De Potter, das Haupt der
Letztern, der am 9. November im Namen der provisorischen Re-
gierung den Nationalcongreß eröffnet hatte, erklärte daher schon
am 15., daß er von allen Regierungsgeschäften sich zurückziehe;
Johann van Halen war schon vorher mit der provisorischen Re-
gierung zerfallen und seines Dienstes entlassen, weil man ihn in
Verdacht hatte, daß er gegen jene die Rolle Bonaparte's gegen
das Direktorium zu spielen beabsichtige; später ward er zu Möns
— 294 —
als Verrather verhaftet, jedoch in der über ihn verhängten Unter-
stichung frei gesprochen.
Inzwischen hatten sich bereits zu Anfange des Novembers
die Gesandten der vier Congreßmachte Oesterreich, Frankreich,
Rußland und Preußen mit dem brittischen Ministerium, an dessen
Spitze der Herzog von Wellington stand, in London zu einer
Konferenz vereinigt, deren Zweck friedliche Entscheidung der hol-
ländisch-belgischen Frage war und an deren Verhandlungen auch
der Prinz von Oranien Theil nahm. Der Beschluß siel dahin
aus, daß man darein willigen wolle, daß Belgien von Holland
getrennt werde und einen unabhängigen Staat bilde; daß man
zwar wünsche, die Belgier möchten ihren künftigen Souverain
aus dem Haufe Oranien wählen, jedoch solches nicht mit Gewalt
erzwingen wolle; daß aber auf keinen Fall eine republikanische
Regierung, noch weniger eine Vereinigung dieses Landes mit
Frankreich könne zugegeben werden. Es wurden nun Abgeordnete
nach dem Haag und nach Brüssel gesendet, den beiden feindfeli-
gen Parteien das in London von den Bevollmächtigten der fünf
Großmachte über die belgischen Angelegenheiten unterzeichnete Pro-
tokoll mitzutheilen und beide Parteien zu einem Waffenstillstand
aufzufordern, welcher dann auch zuerst von Holland, dann von
Belgien angenommen ward.
Bald darauf ward in Brüssel zur Wahl eines Königs ge-
schritten. Die Mehrheit der Stimmen siel zuerst auf den Herzog
von Nemours, dem zweiten Sohn des Königs der Franzosen.
Aber das englische Ministerium mochte keinen französischen Prin-
zen im Besitz Belgiens sehen und Ludwig Philipp lehnte den
Antrag für seinen Sohn ab. Zunächst ward nun einer der reich-
sten Grundbesitzer, Surbet de Chokier, zum Regenten gewählt.
Der Herrscher war aber damals, im Verhaltniß zu der Macht
und dem Glück eines reichen Privatstandes, so tief im Preise ge-
funken, daß der Regent selbst die Wiederaufnahme der Königs-
wähl betrieb. England empfahl den Prinzen Leopold von
Sachsen-Koburg, und am 4. Juni 1831 ward die Annahme
desselben zum erblichen König der Belgier durch 152 Stimmen
des Nationalcongresses unter 196 entschieden. Abgeordnete bega-
ben sich nach London, dem Prinzen diesen Beschluß zu überbrin-
gen. Nachdem noch einige Differenzen zwischen dem Congreß
und den Belgiern ausgeglichen waren, nahm Leopold die Krone
— 295 —
an, und am 21. Juli beschwor 'er als König der Belgier die
Constitution unter freiem Himmel zu Brüssel. Der Regent legte
sein Amt nieder; der constituirende NUionalcongreß schloß seine
Sitzungen und der König berief die zu erwählende Repräsentan-
ten-Kammer und den Senat auf den 8. September. Jndeß
sollte der Beherrscher des neuen Königreichs die Krone nicht un-
angefochten tragen. König Wilhelm, dessen früher wohl noch
gehegte Hoffnung, seinen Sohn zum Beherrscher Belgiens be-
stimmt zu sehen, nun durch die Wahl eines Fremden vereitelt
war, versagte den von den Conferenzmachten festgesetzten Ver-
fügungen seine Bestimmung. Mit dem gekrankten Herzen des
Königs und des Waters vereinigte sich die Stimmung der nieder-
landischen Nation, welche Anfangs die Trennung, des unbeliebten
Belgiens mit Gleichgültigkeit, zum Theil auch wohl als ein für
den Wohlstand Hollands vortheilhaftes Ereigniß betrachtet hatte,
nun aber in der Anordnung des Congresses der unbedingten Frei-
heit der Scheldeschifffahrt den Todesstoß für den hollandischen
Handel erblickte. Dabei ward das Nationalgefühl durch feind-
selige Reden und Schriften unaufhörlich gereizt. Die Erbitterung
stieg bis zu dem Grade, daß ein junger holländischer Seeoffizier,
van Spijk, dessen Kanonenboot durch stürmisches Wetter an den
Strand getrieben und von den Belgiern genommen ward, in dem
Augenblicke, wo dieselben die holländische Flagge herunterrissen,
mit brennender Lunte in die Pulverkammer lief und das Fahr-
zeug mit Allem, was sich darauf befand, in die Luft sprengte.
So wurden bei dieser Begeisterung der Holländer mit der groß?
ten Bereitwilligkeit der Regierung die Mittel gewählt, Armee
und Flotte in den furchtbarsten Stand zu setzen, und in der Miere
des Juli waren 100,000 Mann zum Einbruch in Belgien schlag-
fertig. Der Prinz von Oranien übernahm den Oberbefehl, ui:o
auf die Kunde von der Ankunft und Eidesleistung des neuen .SU?
nigs in Brüssel führte er den 2. August das Heer über die Grenze.
Die Belgier, so unvorbereitet überfallen, wurden auf mehreren
Punkten in die Flucht getrieben. König Leopold fand in dieser
Verwirrung mehrfach Gelegenheit, seinen Muth zu erproben uns
sich seinen neuen Unterthanen als einen tapfern, des Kriegs nicht
unkundigen Fürsten zu zeigen. Bald jedoch ward ex der Be-
drängniß enthoben. Der englische und der französische Gesandte
forderten von dem Dränier Stillstand und Heimkehr, und das
— 296 —
Erscheinen einer englischen Flotte in den Dünen, sowie das An-
rücken eines französischen Heeres von 38,0M Mann, gaben der
Forderung Nachdruck. Mit diesen Gehülfen ihrer Gegner sich in
einen förmlichen Krieg einzulassen, fanden die Holländer nicht
rathsam, und am zwölften Tage des Feldzugs traten sie den
Rückweg in ihre Heimath an, nicht ohne den. Trost, den lieber;
muth der Belgier beschämt und den Fleck, welchen die vorjahri-
gen Begebenheiten den hollandischen Waffen angehängt hatten,
getilgt zu haben.
Die Friedensverhandlungen des Congresses zu London began-
ncn nun von Neuem. Ein abermaliges Protokoll vom 15. No-
vember 1831 bestimmte unter andern, daß Belgien jährlich acht
Millionen und 400,000 Gulden als Zinsen seines Antheils an der
hollandischen Staatsschuld bezahlen sollte. Die Gelgier nahmen
diese Bestimmungen an, der König von Holland aber verwarf
dieselben. Ein Jahr dauerte die Unterhandlung, die zuletzt auf
die Forderung an Holland hinausging, die noch besetzte Citadelle
von Antwerpen, mit den dazu gehörigen, den Ausfluß der Schelde
beherrschenden Forts Lillo und Lieskenhoek, den Belgiern zu über-
geben. Im October 1832 verbanden sich die Machte, die Er-
füllung dieser Forderung nötigenfalls durch Zwangsmaßregeln zu
bewirken, und als König Wilhelm auch hierdurch sich nicht um-
stimmen ließ, übernahm England und Frankreich die Vollziehung.
Ein englisches Geschwader vereinigte sich am 4. November mit
einem französischen zur Blokade des Texels; die holländischen
Schiffe in den Seehafen beider Reiche wurden mit Embargo be-
legt, und am 15. rückte eine französische Armee unter dem Mar-
schall Gerard in Belgien ein, mit dem Auftrag, die Citadelle
von Antwerpen zu erobern, aber auch nicht einen Schritt weiter
zu gehen, es sollte Eent Krieg, sondern ein Executionsverfahren
zu Aufrechthaltung des Friedens sein. Der König von Holland
selbst fügte sich dieser Ansicht, denn seine Armee blieb ebenso theil-
nahmlos an dein Belagerungskampfe, wie die belgische und eine
preußische, die an der Maas zur Beobachtung war aufgestellt wor-
den. Der Kampf begann am 30. November und endigte, trotz
aller Tapferkeit des holländischen Commandanten Chaffe, am 23.
December mit Uebergabe der Citadelle. Im folgenden Jahre am
33. Mai 1833 kam eine Uebereinknnft Frankreichs und Englands
mit Holland zu Stande, daß bis zum Dchmtivvcrtrag zwischen
— 297 —
Niederland und Belgien alle Feindseligkeiten dieser beiden Staaten
gegen einander aufhören und die Schelde wie die Maas der freien
Schifffahrt geöffnet sein sollten. — König Leopold, bekanntlich
einst Gemahl der Tochter und Erbin des Königs von Großbritan-
nien, hatte inzwischen die älteste Tochter des Königs der Franzo-
ftn geheirathet und Anerkennung von allen Mächten, mit Aus-
nahine des Königs von Holland, erhalten.
^nfntteiü^n fjM^s wiHeZ?
Schon lange vor dem Ausbruche der Insurrektion im Jahre
1830 war in Polen der Boden fremder Herrschaft von allen Sei-
ten untergraben, durch eine geheime Verbindung, deren Ursprung
bis zum Wiener Vertrag im Jahre 1815 hinaufreicht. — Die
vom Kaiser Alexander dem Königreich Polen bewilligte consti-
tutionelle Verfassung mit Neichstagsversammlungen und einem
nationalen Heere gnügte dem polnischen Adel nicht, der wahrend
der Herrschaft Napoleons sich mit der Hoffnung der Herstellung
des Glanzes der vergangenen Zeiten, wo die Vater als Herrscher
gewaltet, gewiegt hatte. Daß der Kaiser seinen Bruder, den
Cesarowitsch Konstantin zum Hüter und Pfleger der den Po-
len verliehenen Constitution bestellte, konnte das Mißbehagen nur
vermehren, da der Großfürst von Allen wohl am wenigsten geeig-
net war, ein verletztes, in seiner Nationalehre tief gekränktes
Volk durch Milde zu gewinnen und die alten Wunden zu heilen.
Konstantin war von Alexander zum Generalissimus der
russisch-polnischen Kriegsmacht ernannt, und Kaiser Nikolaus
hatte ihn auf seinen Wunsch in dieser Stellung gelassen. Seine
besondere Vorliebe für den Militarstand, wobei er, wie vormals
sein Vater, auf den kleinen Dienst mit pedantischer Strenge hielt,
und die Mittel, die er zur Ausrottung des heimlich fortbrütcnden
Mißvergnügens anwendete, waren keineswegs geeignet, den all-
— 298 —
gemeinen Haß gegen die russische Herrschast zu verringern. Bc-
sonders war der Großfürst aller Gedankenfreiheit, jedem patrioti-
schen Gefühl und jedem nicht unmittelbar auf Militärzucht sich
beziehenden Ideenaustausch abgeneigt. Das Spionirsystem war
furchtbar ausgebildet. Kundschafter aller Art wurden besoldet
und schlichen sich sogar in die vertrautesten Familienkreise. Jedes
verdachtige Wort ward dem Großfürsten, oft mit hämischer Aus-
legung, zugetragen. Keine Familie war daber gegen plötzliche
Gefangennehmung ihrer Mitglieder, die nicht selten jahrelang im
sinstern Kerker schmachten mußten, gesichert.")
Kurz vor dem öffentlichen Ausbruche der Insurrection offen-
harten sich in allen Theilen des Königreichs für die russische Re-
gierung beunruhigende Symptome. Jeden Morgen fand man die
Denkmaler Warschaus mit Anheftungen bedeckt, die das Volk zur
Empörung aufforderten, und trotz der großen Thatigkeit der ge-
Heimen Polizei, welche um jene Zeit täglich 6000 Gulden kostete,
vermochte man niemals die Urheber dieser Aufforderungen zu ent-
decken. Inzwischen hatten die im Verborgenen wirkenden Wer-
schwornen durch den glücklichen Ausgang der Revolutionen in
Frankreich und in Belgien kräftigere Lebensthätigkeit erhalten und
durch unablässiges Streben der Polizei war etwas von den Um-
trieben zur Kunde des Großfürsten gelangt, der sich, für sein
Leben besorgt, kaum mehr nach Warschau zu kommen getraute.
Am 22. November wurden plötzlich mehrere junge Manner, wor-
unter Polen vom höchsten Range, verhaftet. Jetzt mußten die
Werschwornen vollkommene Entdeckung ihrer Pläne und ihre aller-
seitige GefanZcnnehmung fürchten, und so galt kein Zaudern mehr,
sollte nicht Alles verloren gehen. £hne selbst die Erfolge der von
den Verschwornen in die Provinzen geschickten Agenten zu erwar-
ten, wurde der Aufstand auf den *29. November festgesetzt.
Gegen sechs Uhr am Abend dieses denkwürdigen Tages zeigte
*) Stanislaus Soltyk, ein sechs und siebenzigjähriger Greis, ward
im Jahre 1826 wegen des Verdachts, das Haupt einer Verschwörung
zu sein, die in jener Epoche entdeckt ward, verhaftet und drei Jahre in
einem Kerker zu Warschau festgehalten Sein Sohn, Roman Soltyk,
stand seit j«ntr Zeit unter der besonderen Aufsicht der Polizei des Groß-
fürsten, was ihn jedoch nicht hinderte, insgeheim als einer der Thätig-
sten für die beabsichtigte Befreiung Polens zu wirken..
— 299 —
sich ein von den Verfchwornen abgesendeter Offizier vor der Kriegs-
schule mit dem Zuruf, dcijj die Stunde der Freiheit geschlagen
habe. Einen Augenblick darauf sah man die Jünglinge nach dem
Palaste Belvedere, der Wohnung des Großfürsten, hinstürzen.
A!les was sich ihnen widersetzte, ward niedergemacht, die Waffen
genommen, die Reiter herabgeworftn und ihre Pferde weggeführt.
So brachen sie sich Bahn bis zu dem genannten Palaste. Zwan-
zig derselben, welche die innern Gange des Belvedere kannten,
drangen, nachdem sie die Schildwache niedergeworfen hatten,
daselbst ein. Der Prinz befand sich zur selben Stunde in einem
Zimmer, dessen Thür auf einen langen Verbindungsgang führte,
auf einem Ruhebett eingeschlummert. Durch den Lärm aufge-
schreckt, gewahrte er seinen treuen Kammerdiener, der voll Ent-
setzen ihm ein Kleidungsstück überwerfen half und ihn mit sich in
ein Kabinet auf dem Gange zog. Die Empörer verfolgten mit
Rachegeschrei den Vieeprasidenten Lubowidzki, Chef der Stadt-
Polizei, und den Adjutanten des Fürsten, Legendre, in das In-
nere des Palastes. Der erste, beinahe umringt und durch den
oben bezeichneten Verbindungsgang fliehend, hatte die Geistesge-
genwart, die offen stehende Thür des Kabinets, wo sich der Prinz
befand, zu verschließen, ein Umstand, der diesen vor der Wuth
der Eindringenden sicherte, bis er sich nach der Lazienkikaserne ret-
ten konnte. Lubowidzki siel einige Schritte davon mit dreizehn
Bajonnetstichen durchbohrt. Der General Legendre, welchem es
gelungen war, sich aus dem Palast zu flüchten, war bald erreicht
und niedergemacht. Herren des Palastes eilten die Jünglinge
der Stadt zu und vertheilten sich nach allen Seiten mit dem Ruf:
„Zu den Waffen', zu den Waffen!" Bei dieser Aufforderung
begannen die Bürger an der Bewegung Theil zu nehmen.
Bald gewann in der Stadt der Aufstand einen furchtbaren
Anblick. Der Prinz hatte zwei Regimenter der russischen Garde-
kavallerie, nebst mehreren polnischen Regimentern, in die Stadt zur
Stillung des Aufruhrs beordert; allein die polnischen Truppen
machten sogleich Gemeinschaft mit ihren Landsleuten. Ein Theil
derselben zog gegen das Zeughaus, die übrigen gegen die Käser-
nen der russischen Garden, um ihre Anstrengungen nöthigensalls
zu vereiteln. Die Bank ward zu gleicher Zeit von den Patrioten
gestürmt und die Stadtgefängnisse geöffnet. Ein kraftvoller An-
griff machte die Verfchwornen zu Herren des Zeughauses und sei-
— 300 —
ner 30/000 Gewehre, mit denen das Volk in Masse bewaffnet
ward. Das Gefecht war mörderisch; die russische Kavallerie ward
zur Flucht genöthigt und der Kampf dauerte hin und wieder die
ganze Nacht hindurch. Als der Tag (30. Nov.) anbrach , standen,
außer dem Militär, L0M0 Menschen unter den Waffen. Das
Volk zerstörte das Schloß Belvedere und die Kavalleriekasernen.
In Warfchau's Hauptstraßen waren Kanonen aufgefahren. Nur
das polnische Gardejagerregimeut hielt noch aus bei den Russen
und hatte sich auf einem öffentlichen Platz gesammelt; da ward
es aber von dem Volk unter Anführung eines jungen Fähndrichs
angegriffen. Den Vaterlandskampfcrn trugen Weiber und Kinder
Waffen und Munition unter tausend zischenden Kugeln zu. End-
lich zog sich das Regiment in Gemeinschaft mit den russischen
Truppen, mehrere seiner Anführer getödtetZoder verwundet zurück-
lassend, aus der Stadt und ward nun nicht weiter verfolg:. —
Die in Warschau mit ihren Familien zurückgebliebenen Russen
wurden der Obhut der Nationalehre empfohlen, vom Ruder der
Regierung aber sogleich entfernt. Ein nationaler Administrations-
rath übernahm die Zügel der Verwaltung und erließ zuerst, noch
in des Kaisers Namen, einen Aufruf an die Polen zur Mäßi-
gung, wie eine dringliche Ermahnung zur Wiederherstellung der
Ruhe und Ordnung. Allein den Gemäßigten ward das Ruder
von der exaltirten Partei bald aus den Händen gewunden. Die
Revolution zerspaltete- sich nämlich gleich Anfangs in zwei Par-
teien; eine aristokratische und eine republikanische» Vertreter der
Letztern war der Proffessor Lelewel, der einige Zeit vorher sein
Lehramt in Wilna hatte niederlegen müssen und nun in einem
von ihm errichteten Clubb den Vorsitz führte. — Die zu gleicher
Zeit in Kalisch, ja fast in allen polnischen Provinzen ausbrechen-
den Unruhen bewiesen deutlich, daß überall der für entschlum-
mert gehaltene Nationalgeist sich rege. Sammtliche polnische
Truppen zogen sich auf die erste Kunde von dem, was in der
Hauptstadt vorgefallen, ohne weitere Ordres zu erwarten, in deren
Nahe und die ganze waffenfähige Jugend Polens strömte in sie-
gestrunkner Begeisterung nach Warschau.
Der Großfürst lagerte mit seinen Truppen eine Meile von
der Hauptstadt. Der Verwaltungsrath trat mtt ihm in eine
Unterhandlung, in deren Folge der Prinz gegen Auslieferung der
von den Polen gefangenen Russen die bei ihm gebliebenen polni?
— 301 —
scheu Truppen entließ und ungefährdet, mit Fuhrwerk und Lebens-
mitWn unterstützt, seine Russen über Pulawy nach den Grenzen
des Königreichs führte. — Ehe noch der Großfürst seinen Rück-
zug angetreten, hatte Chlopicki, ein Offizier aus der Napoleon-
schen Schule, den Oberbefehl des polnischen Heeres übernommen^);
die schnell orgauisirte Nationalgarde stand unter des Grafen Lu-
bienski Commando. Der Administrationsrath, der vom Volke
mit großem Mißtrauen betrachtet ward, legte am 4. December
seine Geroalt in die Hände einer provisorischen Regierung, in der
die patriotische Partei die Oberhand hatte. Ein Mitglied dessel-
kn, der oben erwähnte Roman Soltyk, rieth, die preußischen
und österreichischen Polen zum Aufstande aufzurufen, und in G a-
lizien, in Posen und in Schlesien einzubrechen. Aber
Chlopicki war so verwegenen Nachschlagen entgegen. Als
sachkundiger Militär berechnete er das Verhältnis; der Kräfte Po-
lens zu denen der drei verbündeten Machte, und hielt nach Maß-
gäbe derselben kein günstiges Ergebniß für möglich, als im Wege
der gütlichen Verhandlung mit Rußland, Abstellung der Haupt-
besch-werden und Zusicherung einiger neuen Vortheile für Polen
zu erlangen. Sein Widerspruch gegen die Vorschlage der Patrio-
ten ward durch die Furcht, welche die gemäßigtere Partei gegen
revolutionäre Maßregeln empfand, und durch die Anhänglichkeit
der Soldaten an feine Person, unterstützt. So konnte er es wa-
gen, am 5. December, nach einem heftigen Zanke mit den zur
*) Joseph Chlopicki war damals ohngefähr sechsundfunfzig Jahr alt. ÄuS
einer edlcn, jedoch nicht berühmten Familie entsprossen, Soldat von Iu-
gend auf, machte er die denkwürdigen Feldzüge von 1792 und 1794 mit.
Hierauf in die polnischen Legionen, welche sich in Italien unter den Be-
fehlen Dcmbrowski's bildeten, eingetreten, entwickelte er in allen Ge-
fechten eine Kaltblütigkeit und Unerschrockenst, wodurch er das Auge
seiner Befehlshaber auf sich zog. Im Jahre 1807 stand er in dem preu*
sii schen Feldzuge als Obrist an der Spitze des ersten Infanterieregiments
von der Weichsel. Äachdfm er sich hierauf auch in den Kriegen in
Spanien ausgezeichnet, ward. er 1812 zum Brigadegeneral ernannt und
bei dem russischen Feldzuge in der Schlacht bei Smolensk verwundet.
Endlich fand ihn das Jahr 1814 als Divisionsgeneral, zu der Zeit, wo
Polen wieder unter die Herrschaft der Russen fiel. Bald darauf verließ
er den Dienst und lebte zurückgezogen nur den Studien, bis er beim
Ausbruch der Insurrektion nicht ohne Widerstreben den Oberbefehl des
Heeres übernahm.
- 302 —
Patriotenpartei gehörigen Mitgliedern der provisorischen Regierung
sich zum Dictator zu erklären, bis der auf den 18. einberufene
Reichstag würde zusammengetreten seyn. Sogleich nach Ueberneh-
mung dieser Würde beeilte er sich, Heerschau über die Armee zu
halten, der er erklarte, daß keineswegs Ehrgeiz oder Herrschgier
ihn auf diesen wichtigen Posten gehoben habe, daß Liebe zum
Vaterland sein einziger Beweggrund gewesen fty, und die Trup-
Pen zur Ergebenheit aufforderte. Auf seinen Befehl blieb die pro-
visorische Regierung für die Angelegenheit des Innern in Tätig-
keit; auch ward bei Todesstrafe verboten, die Grenzen benachbar-
ter Staaten mit bewaffneter Hand zu überschreiten. An alle fremde
Consuln ward die Zusicherung erlassen, daß ihre Personen, wie
ihr Eigenthum, stets unangetastet bleiben würde, und daß es der
Regierung höchste Sorge seyn werde, die im Königreiche Polen
vorgegangene Veränderung, als in keiner Beziehung auf die ge-
wesenen polnischen Provinzen stehend, nur auf das jetzige Konig-
reich Polen zu beschranken. Der neue Dictator befahl die revolu-
tionairen Clubbs zu schließen und diese Maßregel ward ausgeführt,
ohne daß einiger Widerstand wäre geleistet worden; auch ward
das Anschlagen revolutionärer Aufrufe an die Straßenecken bei
schwerer Strafe verboten.
Chlopicki's Hauptsorge war, den Kaiser zu versöhnen und das
Petersburger Kabinet zu nachgiebigen Entschließungen, rücksichtlich
der polnischen Forderungen, zu stimmen. In dieser Absicht sendete
er den Finanzminister, Fürsten Lubecki, und den Landboten
Grafen Jezierski nach Petersburg. Beide Manner hatten Ver-
bindungen mit Personen aus Nicolaus nächster Umgebung und der
erstere stand persönlich in der Gunst des Kaisers selbst. Alle diese
Maßregeln bezeugten unverkennbar den Wunsch des Dictators und
der ihm ergebenen Partei, eine friedliche Vcrglcichnng mit Ruß-
lands Selbstherrscher zu Stande zu bringen und wo möglich den
Krieg mit der Uebermacht zu vermeiden. Doch mußte man dem-
ungeachtet zum Kriege sich rüsten. Für 30,000 Mann waren
Waffen vorhanden und in der Festung Modlin fand man über
acht Millionen fertige Patronen. Zufuhren zur Versorgung des
Heeres mit Lebensmitteln besorgte eifrigst der Generalintendant
Wolizki. In Warschau standen bereits 23,000 Mann National-
garden unter den Waffen. Ein scharfer Tagesbefehl des Dictators
empfahl sämmtlichen Regimentscommandanten die strengste Manns-
— 303 —
zucht. An patriotischen Opfern auf dem Altar des Vaterlandes
fehlte es auch nicht. Frauen und Manner, Reiche und Arme
wetteiferten darin mit einander. Das erste Opfer brachte eine
Dame, welche die ihr zugesicherte ansehnliche Pension der Regie-
rung abtrat. Graf Konstantin Zamoyski legte 100,000 Gulden
in die Bank nieder und errichtete auf eigne Kosten ein Kavallerie-
regiment, bei dem er als Gemeiner diente. Der Präsident Kobi-
linski sendete der Regierung 23,000 Gulden; der Staatsrath
Brocki stellte 86,000 Gulden zu ihrer Verfügung. Ein Lotterie-
kollecteur schenkte dem Staate seinen 5000 Gulden betragenden
Gewinn. Die Professoren der Warschauer medizinischen Facultat
erboten sich zur freien Kur der Verwundeten und Kranken und die
Apotheker versprachen die Vaterlandsstreiter unentgeltich mit Arz-
neinutteln zu versorgen. Viele Bürger stellten Pferde, lieferten
brauchbare Effecten zu den Hospitalern und sendeten Silberservice
zur Münze; und die Listen freiwilliger Gaben, wozu Taufende
nach Vermögen beitrugen, vergrößerten sich mit jedem Tage.
Unterdeß hatten sich die Landboten des Reichstags versam-
melt und dieser ward am 21. December im königlichen Schlosse
zu Warschau eröffnet. Zum Reichsmarschall ward der Landbote
Wladislaus Ostrowski erwählt, der sogleich nach seiner Er-
nennung 30,000 Gulden für die Bedürfnisse des Vaterlandes in
den öffentlichen Schatz legte. Alle Deputirten folgten seinem Bei-
spiele nach Maßgabe ihres Vermögens. Auch erschienen am fol-
genden Tage alle Landboten und Senatoren in Bürgeruniform in
der Vorstadt Praga, und arbeiteten dort selbst beim Aufwerfen
der zu Warschaus Vertheidigung zu errichtenden Schanzen und
Außenwerke. Eine zahlreiche Versammlung Warschauer Bürger
hatte sich gleichfalls zu solchen Arbeiten eingefunden. Man sah
darunter Beamte von allen Graden, die ganze jüdische Rabiner-
schule, mehrere Geistliche, und sogar zartgebaute Damen aus dem
reichsten und vornehmsten Adel, das Grabscheit in der Hand, bei
der strengen Jahreszeit an der mühsamsten Arbeit Theil nehmen.*)
*) Es war dies nicht das einzige Beispiel der Aufopferung, welches die
Polinnen für die Sache der Unabhängigkeit gaben. Gleich beim Beginn
der Revolution bildeten die Warschauer Damen einen Wohlthatigkeits-
verein; sie sammelten die nöthigen Fonds, um die Verwundeten zu unter-
— 304 —
Bei diesem eifrigst fortgesetzten Werk ward eine von zweihundert
Bürgern des Minchower Kreises unterzeichnete Adresse vorgelesen,
worin jene Patrioten der Regierung zusicherten, daß 60,000 mit
Sensen bewaffnete Cosynier und 2000 als leichte Reiterei organi-
sirte Krakusen auf den ersten Wink bereit sein würden, gegen
den Vaterlandsfeind in's Feld zu rücken.
Unterdeß waren die Abgeordneten von Petersburg zurück-
gekommen. Der Bescheid, welchen Chlopicki durch sie empfing,
lautete dahin: „Wenn die Polen zur alten Ordnung zurückkehren
und den früheren Behörden Folge leisten würden, solle ihnen Ver-
gebung des Vorgefallenen zu Theil werden." Chlopicki rieth, die
angebotene Amnestie anzunehmen, und noch einmal den Weg der
Unterhandlung zu versuchen, da jetzt noch ein vortheilhafter Ver-
gleich zu hoffen sei. Die Mehrzahl aber drang auf augenblickli-
ches Abbrechen aller Unterhandlungen und dieser Schritt war
einer Kriegserklärung gleich zu achten. Der Widerstand gegen
seine Vorschlage bestimmte Chlopicki am 18. Januar 3831, seinen
Posten niederzulegen. Den Oberbefehl des Heeres lehnte er ab,
und trat nachher in der Uniform eines gemeinen Kriegers in des-
sen Reihen. Die zeither durch sein Ansehn zurückgehaltene küh-
nere Partei konnte nun zu entscheidenden Maßregeln schreiten.
Die beiden Kammern des Reichstags, unter dem Vorsitz des Für-
ften Czartoryski und des Grafen Ostrowski nahmen den An-
trag, den Roman Soltyk auf Absetzung des russischen Kaiserhau-
ses von Polens Thron machte, durch allgemeinen Zuruf an, und
bestellte eine aus fünf Mitgliedern bestehende Regierungsbehörde.
Zum Präsidenten derselben ward der Fürst Czartoryski erwählt.
(Sme Proclamation des Reichstags vom 3. Februar verkündete
„daß Polens Thron erledigt sey, daß sich die polnische Nation
für ein unabhängiges Volk erkläre, bekleidet mit dem Rechte, die
Krone demjenigen zu übertragen, den sie derselben Werth erachte."
Diese Proclamation ward unter dem Jubelrufe des Volkes: „Zu
den Waffen! zu den Waffen!" in allen Straßen Warschaus ab-
gelesen. —> Der Riß zwischen den Polen und ihrem zeitherigen
Beherrscher war nun unheilbar geworden; ein Rückweg nicht mehr
stützen, bereiteten Arzencien und besorgten den Verband; und sie setzten
diele Sorgfalt mit bewunderungswürdiger Ausharrung bis zum Ende der
Revolution fort.
305 —
möglich; er hatte nur zu dem geführt, was im allerschlimmsten
Falle erfolgen konnte: unbedingte UiOerwerfung.
In Petersburg hatte man ebenfalls die Hoffnung aufgegeben,
anders als mit Waffengewalt die Sache zur Entscheidung zu
bringen. Bis dahin hatte beim Kaiser noch die Meinung obge-
waltet, daß man die Aufwiegler zügeln und bestrafen, die Ver-
blendeten und Irregeleiteten aber retten könne. Die Erklärung
des Reichstags aber, daß Polens Thron erledigt fei, hatte ihn
eines andern belehrt.
Man rüstete sich nun mit aller Macht, um — wie es in
einem Manifest des Kaisers Nikolaus hieß — „ mit einem
Schlage" die ausgestandenen Polen zur Ruhe zu bringen. Der
russische Feldmarschall Diebitsch war auf die erste Kunde von
der Empörung aus Berlin nach Petersburg geeilt und bereitete
Alles zum Kampfe vor. Um ihren Patriotismus zu bethätigen,
traten viele Söhne der ersten russischen Familien als Gemeine in
das zur Züchtigung der „Rebellen" bestimmte Heer. — Je mehr
dieser Eifer zu ihrer Unterwerfung den Polen bekannt war, desto
nothwendiger war es, aufs Schleunigste alle Kräfte in Bewe-
gung zu setzen, womit man dem furchtbar machtigen Feind die
Spitze bieten konnte. Der Enthusiasmus in Warschau unterstützte
die Regierung dabei wesentlich; im übrigen Lande war er nicht
geringer. Freiwillige Gaben, deren schon gedacht ist, gingen un-
ausgesetzt ein. Man war von der Regierung aufgefordert, Ku-
pfer und Glocken zu Kanonen herbei zu liefern; alsbald lief eine
Masse ein, hundert Stück zu gießen, bis zum 3. Februar nämlich
hatte man über neunhundert Centner Metall. Im ganzen Lande
bildeten sich aus Freiwilligen Regimenter. Wierzehntausend alte
Krieger hatten die Waffen wieder ergriffen. Bereits am 1. Fe-
bruar wurde das Heer zu 60,000 Mann regelmäßiger Infanterie,
zu sechszehn Regimentern, die erst ausgehoben waren, und
40,®80 Reitern berechnet, wozu noch viele Taufende mit Piken
und Sensen bewaffnete Landleute kamen. Zum Oberbefehlshaber
der Armee ward der Fürst Michael Radziwil, ein Nachkomme
des berühmten Kronfeldherrn Radziwil, ernannt. Die Streit-
krafte der Polen eilten in Schaaren nach der Weichsel, oder ord-
neten sich hinter derselben in Regimentern. Die Festungen anf
den beiden Flügeln des Landes Zamosk und Modlin waren
bald in hinreichendem Vertheidigungsstande, namentlich Zamosk,
N. G. IV. 20
— 306 —
aus dessen Wallen 160 Stück Geschütze trotzten. Die größte
Schwierigkeit fand sich in Erlangung der Gewehre. Zwar waren
einige Tage nach dem Ausbruch des Aufstandes Maßregeln ergris-
fen worden, Behufs der Zurückbringung aller, in den Händen
solcher Individuen befindlichen Waffen, die nicht zur National-
garde gehörten, folglich nicht ermächtigt waren, sie zutragen; doch
reichten diese bei weitem nicht hin zur Bewehrung der immer
mehr anwachsenden Zahl der Streiter. In Warschau fehlte es
an Eisen wie an Arbeitern; und der Ankauf in den benachbarten
Ländern war schwierig und wäre unmöglich gewesen, wenn die
Verbote der Regierungen in solchen Dingen nicht auf alle Art
umgangen würden.
Inzwischen war von dem russischen Feldmarschall Diebitsch
Alles zu dem bevorstehenden Kampf in Bereitschaft gesetzt worden.
Sein Heer zahlte 160,000 Krieger mit 400 Kanonen. Es stand
in fünf Korps vertheilt, von Kauen auf der großen Landstraße
bis Bialy stock hinab; nach und nach bildete sich eine große,
längs dem Bug hinziehende Linie in einer Ausdehnung von sechs-
zig bis siebenzig Meilen, deren äußerster linker Flügel unter den
Befehlen der Generale Geismar und Kreuz stand, indessen
das Centrum, unter den unmittelbaren Befehlen des Marschall
Diebitsch, die Straße nach Warschau festhielt, und der rechte Flü-
gel unter den Generalen Schachowski und Mandersten über
Augustowo zwischen der Narew und dem Bug nach Ostrolenka
hin vorrückten. Am 5. Februar überschritt das Heer auf fünf
Punkten die Grenze des Königreichs Polen. Der Feldmarschall
drang an der Spitze des Centrums, 80,090 Mann stark, vor,
ohne die Ankunft seines linken und rechten Flügels abzuwarten,
in der Absicht, der polnischen Armee eine Schlacht zu liefern,
wobei er sowohl auf die überlegene Zahl seiner Macht, als auch
auf die Leichtigkeit seiner Verbindungen rechnete, da alle Flüsse
von Eis bedeckt und durch den Frost gefestet waren.
Schon am 7. Februar 1831 hatte die polnische Regierung
Kunde von dem Einmärsche des Feindes. Es wurden sogleich
alle von ihm bedrohten Gegenden für in Kriegszustand befindlich
erklart, und gegen Entschädigung aus der Staatskasse die Zerstö-
rung aller Wege, Brücken, Ueberfahrten, Magazine ?c. anbefoh-
len , wodurch demselben das Vorrücken und Zurückgehen erleichtert
werden könnte. Alle Vorrathe daselbst sollten wo möglich fort-
— 307 —
geschafft, alle Bewohner zurückgezogen werden. Für Landesver-
rather erklarte man Jeden, der dem Feinde auf irgend eine Art
beistehe. Tags zuvor hatte Radzivil als Generalissimus einen
Befehl an das Heer erlassen, der kurz aber trefflich zum Kampf
aufforderte. „Soldaten! — so schloß er — der Feind begnügt
sich nicht damit, daß er das Volk, dessen Schild ihr seid, so viele
Jahre erniedrigt, daß er dessen Rechte mit Füßen getreten, dessen
Klagen von sich gestoßen hat, sondern er überfallt noch unser
Land mit dem Urteilsspruch der Schande und den Waffen der
Vertilgung. Der Feind des Vaterlandes brüstet sich mit seiner
überwiegenden Streitkraft. Sie kann euch nicht erschrecken, die
ihr stets gegen viermal größere Macht gekämpft. Zahlt nicht die
Menge der Gegner, sondern die Menge der Gewalttaten, die
Polen erleiden mußte." Am 8. nahm er sein Hauptquartier zu
Ockunien, jenseits der Weichsel. Gleichzeitig ging Clopicki zum
Heere, und die Regimenter und das Geschütz zogen über die
schwankende Eisbrücke der Weichsel. Es war nicht leicht, den
Feind vom Uebergange über den Fluß abzuhalten und den Weg
nach Warschau auf diese Seite hin zu verlegen, weil das Eis auf
allen Punkten Brücken baute. Czartoryski forderte die Einwoh-
ner der Hauptstadt auf, deshalb nicht unruhig zu werden: „Der
tapfere Arm unserer Freiheitskampfer — sprach er — ist eine
treffliche Bürgschaft für die alte Residniz der polnischen Könige;
doch gebietet die Vorsicht, auf einen tapfern Widerstand gegen
einzelne Abtheilungen, die sich der Stadt nahern könnten, gefaßt
zu sein." In vielen Straßen, ja selbst in vielen Hausern, die
mit Schießscharten versehen wurden, arbeitete man Tag und Nacht
und an den dazu geeigneten Orten ward Geschütz aufgefahren.
Inzwischen hatten bereits heftige Kämpfe der polnischen
Haufen gegen das russische Heer begonnen. Die polnischen Uh-
lanen, welche die Vorposten besetzt hielten, warfen sich mit einem
seltenen Muth auf den Feind, einige stürzten sich auf ganze feind-
liche Schwadronen. Der Anführer einer Patrouille kämpfte, vom
Pferde gestürzt, zu Fuß, bis ihn seine Leute befreiten; indeß
war die Masse d^r Feinde zu groß. Mit ganzer Kraft drängte
Diebitfch auf der Straße von Wengro hinunter nach Süden.
Langsam Schritt für Schritt räumten die Polen ihre Positionen.
Am 17. kam es in dem kleinen Flecken Dobra zu einem hart-
näckigen Gefecht zwischen der russischen Avantgarde und dem pol-
20*
— 308 —
nischen General Skrzynecki, wodurch es diesem General gelang,
mit ungefähr 8000 Mann und zwölf Kanonen die zahlreichen
Feinde mehrere Stunden aufzuhalten. Um sieben Uhr früh be-
gannen die Russen den Angriff, aber erst Nachmittags gegen fünf
Uhr wurden die letzten Stellungen.von den Polen geräumt. Der
Verlust der Nüssen war sehr betrachtlich. Die polnische Infanterie
stürzte sich in Ungestüm mit dem Bajonnet auf den wohl sechs-
mal starkern Feind. Vierhundert von ihnen bedeckten das Schlacht-
feld. Immer naher gegen die Weichsel zurück gedrangt, stellte
sich die polnische Armee am 19. Morgens am Rande eines Ge-
Hölzes vor dem Dorfe Grochow auf. Im Angesicht der Haupt-
stadt ward hier den ganzen Tag mit der größten Erbitterung
gekämpft. Von zehn Uhr an bis spat in die Nacht sahen War-
schau's Bürger die Blitze der Kanonen, wahrend die Erde unter
ihren Füßen bebte. So groß indeß das Mißverhaltniß der Streit-
kraste auch war, die polnische Armee hatte, bei Anbruch der
Nacht, nur eine Viertelmeile Boden verloren. Tags darauf, am
29., entbrannte der Kampf wieder auf der ganzen Linie. Jeder
Fußbreit Landes ward mit Menschenblut gedüngt, Kanonen wur-
den unter dem heftigsten Feuer von den Soldaten aufgerichtet,
wenn sie gestürzt waren, oder aus dem Moraste hervorgezogen;
mit dein Bajonnete vernagelte ein Gemeiner, Jakob Palzemski,
ein Geschütz, das nicht zurückgebracht werden konnte. Bei
manchem Regimente blieb kein Offizier ohne Wunden. Der Fürst
Czartoryski befand sich an der Seite Ra'dzivil's als Bevollmach-
tigter der Regierung. Warschau war bereits im Welagerungszu-
stände. Am folgenden Tag ward ein kurzer Waffenstillstand zwi-
schen den Generalen Witt russischer, und Krukow!ecki polni-
scher Seite geschlossen, um die Todten zu begraben und die Ver-
wundeten fortzuschaffen. Der Verlust der Russen ward in dem
Bericht des Feldmarschalls selbst auf 2000 angegeben; den pol-
nischen Blattern nach sollte er 7000 betragen haben; nicht viel
geringer aber dürfte der Verlust der Polen gewesen sein, da diese
vorzüglich mit der Überlegenheit des feindlichen Geschützes zu
kämpfen hatten. Viele Gefangene wurden in Warschau einge-
bracht, auf dessen Rathhaufe auch zwei eroberte Standarten weh-
ten. Die Angst und Sorge hier waren groß gewesen. Das
Volk strömte in Menge zur Kirche. Besonders blutig war der
Kampf in dem Walde bei Grochow. Diebitsch bot Alles auf, sich
— 309 —
darin zu behaupten, und Chlopicki, der mehr als Radzivil die
Seele des ganzen Heeres war, ließ ihn unaufhörlich durch eine
Masse Tirailleurs beWrmen, welche die Geschütze der Russen in
Menge demontirten.
Schon waren vier Tage seit den Schlachten am 16. und 29.
Februar verstrichen und die polnische Armee, deren Reihen durch
einige Truppen der neuen Aushebungen waren verstärkt Wörden,
stand gesperrt vor dem Feldmarschall DieHtsch, wahrend dessen
rechter Flügel unter dem General Schachowski gegen Warschau
vorrückte. Es ward damit eine der blutigsten Schlachten am 24.
Februar begonnen, die ihren Namen von einem kleinen Dorfe
Bialolenka hat. Infanterie- und Reiterregimenter wurden
von beiden Seiten zersprengt und aufgerieben, ihre Führer ver-
wundet und getödtet» Vom rechten russischen Flügel am Bug
bis nach Grochow hin donnerte eine Linie von ISO Kanonen.
Der Kampf, welcher früh am Morgen jenseits des Bugs bei
Kegry begonnen hatte, tobte am Nachmittag diesseits des Bugs.
Am furchtbarsten war das Gemetzel am 23., wo sich Bajonnete
mit Bajonneten kreuzten. An diesem Tage ward auch Chlopicki
dreimal verwundet. Als am Nachmittag das Morden am fürch-
tcrlichsten war und er mit übermenschlichem Muth und Kühnheit
und mehr mit der Verzweiflung eines gemeinen Kriegers, als der
Ruhe eines Anführers kämpfte; rief er den Adjutanten, die seine
Befehle einholen wollten, zu: „geht, verlangt sie von Radzivil;
was mich betrifft, ich suche nur den Tod!" Schwer verwundet
ward er gegen zwei Uhr Nachmittags vom Schlachtfelde wegge-
tragen. Von diesem Augenblick an war die polnische Armee ohne
Oberbefehl, da Radzivil sich nicht entschließen konnte, irgendeinen
bestimmten Befehl zu geben. Jeder mußte nach eignen Ansichten
handeln und nur den Boden zu behaupten oder aufs Theuerste
zu verkaufen suchen. Warschau schien verloren. Der Tag neigte
sich zu Ende; beide Theile waren von Anstrengungen ermattet;
das Feuer endigte und die polnische Armee stellte sich bald dar-
auf am linken Weichselufer auf. Die Bewohner Warschaus
waren durch die Flucht der Truppen, welche durch den Angriff
der russischen Kürassiere zersprengt worden waren, in Schrecken
gesetzt und sahen bald darauf mit Schmerz die Vorstadt Praga in
Flammen aufgehen. Schon glaubte man in der Stadt, die
Feinde feien dort eingedrungen, allein die Polen selbst hatten den
— 310 —
Brand entzündet; der General Malachowski hatte den Befehl
dazu gegeben, um die Batterien des Brückenkopfes zu demaskiren.
— Groß war die Zahl der Verwundeten und Todren. Auf russi-
scher Seite wurden, ihren eigenen Berichten zu Folge, acht bis
zehntausend Mann kampfunfähig gemacht, und sicher sind eben
so viel Polen geblieben, die dem mörderischen Kononenfeucr der
Feinde ununterbrochen ausgesetzt waren.
Große, denkwürdige Thaten geschahen an diesen zwei Ta-
gen; nur einiger derselben soll hier gedacht werden. So sank
auf Grochows Gefilde Ludwig Myzielsky, aus dem Groß-
Herzogthum Posen, wo er Haus und Eigenthum verlassen, um
in die Reihe der Stveiter zu treten, die das alte Stammland
befreien wollten. Schon am 19. hatte er mit beispiellosem Muth
gekämpft und am 23. war er wieder in den ersten Reihen, als
eine Kartatfchenkugel ihm drei Finger wegnahm. Er verbindet
sich, um aufs Neue vorzudringen. Eine Karabinerkugel verwun-
dete ihn am Fuß. Mit dem Halstuch das fließende Blut hem-
mend, geht er auf eine feindliche Kanone zu. Die Kanoniere
tödtend, will er das Geschütz schon vernageln, als eine dritte
Kugel ihm das Kinn zerschmettert und er besinnungslos sortgetra-
gen wird. —• Der Bürger Radonski, ebenfalls aus dem Groß-
Herzogtum Posen, bediente als gemeiner Kanonier eine Kanone,
dessen Mannschaft vom feindlichen Feuer meist schon vernichtet
war, fast allein, bis auch ihn eine Granate zu Boden warf.
Dennoch ließ er sich nicht von den wenigen Kameraden hinweg
bringen, sondern wies sie nur an ihr Geschütz. — Der General
Sze m b e ck stürzte bei einem ungestümen feindlichen Angriff fammt
dem Pferde, aber ohne den mindesten Schaden zu nehmen; er
springt sogleich auf, greift nach dem Karabiner, tobtet einige
Russen und stellt sich zu Fuß wieder au die Spitze der Seinigen.
— Der Befehlshaber einer Batterie, Oberst Pintka, hatte seine
Munition verschossen. Es dauerte eine Weile, ehe frischer Schieß-
bedarf konnte herbeigeschafft werden. Statt die Batterie absah-
ren zu lassen, setzt sich der unerschrockene Befehlshaber auf eine
Kanone und ruft unter dem aus den feindlichen Feuerschlünden
strömenden Kugelregen kaltblütig aus: „auch nicht einen Schritt
weiche ich.; lieber will ich zerschmettert werden, als einen Fußbreit
mich von hier entfernen/'
Unmittelbar nach der Schlacht legte der Fürst Radzivil den
Oberbefehl über das Heer nieder und die Wahl des neuen Feld-
Herrn siel auf den General Johann Skrzynecki. Dieser, ein
gemäßigter Mann, suchte mit Diebitsch Unterhandlungen anzuhnü-
pfen; als aber seine Antrage zurückgewiesen wurden, schritt er zu
erneuerten Angriffen. Wahrend der Verhandlungen hatte man
keineswegs die Rüstungen eingestellt, der Enthusiasmus steigerte
sich fort und fort. Aus allen Provinzen kamen Taufende von
kampflustigen Jünglingen an; neue Regimenter zogen immerfort,
gehörig ausgerüstet und bekleioet, aus Warschau. Gesang beglei-
tete ihre Schritte auf dem Marsch, wie in der Schlacht; oft
waren die Bajonnete mit Kränzen und Blumen geschmückt. Die
jungen Landleute erlangten eine Fertigkeit im Gebrauch ihrer Waf-
fen, daß ihre Sensen, wie Augenzeugen versichern, den Russen
so furchtbar waren, daß sie lieber den Donner der Kanonen, als
das Wetzen diefes feindlichen Werkzeugs hören wollten. Das
Heer war bis auf 90,000 Mann mit 150 Kanonen verstärkt.
Warschau war barrikadirt, mit Kanonen hinter den Barrikaden
versehen, hier und da unterminirt und in allen Häusern waren
Verrammlungen angebracht, so daß es eher einem Saragossa
gleich werden, als den Feinden im ersten Anlauf in die Hände
fallen konnte. Der feindliche Feldherr aber sah sich genöthigt,
vor der Hand alle Angriffsplane gegen die Hauptstadt aufzuge-
ben. Bei dem schnellen Vorrücken hatte das schwere Belagerungs-
geschütz zurückbleiben müssen; ohne dasselbe konnte aber gegen den
Brückenkopf von Praga nichts unternommen werden, und che
dieses noch ankam, setzte sich das Wetter um; die Temperatur
der Luft ging in einer Nacht von 20° Kalte auf 5° Warme über;
der nächste Morgen setzte bereits alle kleinen Bache in Lauf, und
die tief gefurchten Wege jener morastigen Gegend machten jede
schnelle Bewegung unmöglich. Die Hauptmasse des russischen
Heeres, die Weichsel hinaufziehend, ließ nur zwei Korps unter
den Befehlen der Generale Rosen und Geismar zur Beob-
achtung Praga's zurück. Das Hauptquartier des Feldmarschalls,
der sich von nun an auf die Defensive beschränken wollte, kam
am 8. März nach Siennika und näherte sich damit seinem lin-
ken Flügel, der jenfeits der Wieprz stand. Es waren nämlich
auf der linken Flanke des großen russischen Heeres, seitdem es
den Bug passirte, ebenfalls eine Menge Gefechte diesseits und
— 312 —
jenseits der Weichsel geliefert worden, deren Hauptresultat jedoch
war, daß die auf dieser Seite operirenden Korps ihren Zweck
nicht durchsetzen könnten, im Gegentheil Verluste erlitten, ja
selbst öfters in eine bedenkliche Lage kamen. Am 16. März fand
der Eisbruch der Weichsel statt, und der Fluß trat überall in den
Niederungen aus, so daß er bei Praga namentlich einen formli-
chen See bildete. Das russische Korps, das hier Wache hielt,
mußte auss Schleunigste nur noch mehr rückwärts, und ward
hierbei von den Kanonenschüssen verfolgt, mit denen die Polen
den von den Muthen geängstigten Russen das Geleit gaben.
Nachdem die Waffenruhe einen ganzen Monat gewährt, eröff-
nete der neue polnische Feldherr den Feldzug mit einer glänzenden
Unternehmung. Das russische Hauptquartier war nach Rycki
gegangen und hatte sich am 27. Marz in Bewegung gesetzt, um
auf dem anscheinend passendsten Punkte den Uebergang über die
Weichsel zu bewirken. Um in keiner Art in der rechten Flanke,
oder gar im Rücken beunruhigt zu werden, mußte das Korps
unter dem General Sacken die Stellung von Ostrolenka be-
haupten und die Generale Geismar und Rosen hatten aus glei-
cher Ursache die Straße von Praga zu bewachen. Skrzynecki,
vollkommen von dieser Lage der Sache und der Stellung, sowie
der Absicht des Feindes unterrichtet, nahm seine Maßregeln.
Spat Abends am 30. Marz erhielten die Generale des polnischen
Heeres die Disposition zum vereinten Angriff auf die kaum zwei
Stunden entfernten Russen. Kein Mensch hatte etwas von diesem
Plane des Feldherrn geahnet. Die Brücke nach Praga war mit
Stroh belegt und um Mitternacht zogen alle Truppen still, aber
eilig, durch den Brückenkopf, denn nur die grüßte Schnelligkeit
konnte den Erfolg sichern. Das russ. Korps unter Geismar, das
10MV Mann stark, auf beiden Seiten Moräste zur Sicherung
seiner Flanke hatte, konnte nur auf dein langen Straßendamm
von Grochow angegriffen werden und diesen deckte eine zahlreiche
Geschützmasse. Doch indem eine Division unter dem General Kickt
auf diesem Wege vorrückte, eilte der General Rybinski mit seinem
Heerhaufen durch ein anderes Thor links vorwärts, die Russen
in ihrem Moraste auf der rechten Seite zu umgehen. Mit Ta-
gesanbruch traf er auf die ersten russischen Posten und hob sie auf.
Ein dicker Nebel begünstigte den Ueberfa!! und ließ die Polen nicht
eher bemerken, bis sie schon zum Handgemenge kamen. In
einem Zeiträume von zwei Senden war hier alles entschieden.
Das ganze Korps von Geismar im Rücken und von vorn zugleich
angegriffen, von der großen Straße zurückgeworfen und beinahe
vernichtet, zerstreute sich in dem Gehölze, und nur mit Mühe ge-
lang es ihm, teilweise sich dem Rosenschen zu Dembe-
Wielke, vier Meilen von Warschau, anzuschließen. Mit diesem
gab es, da es nicht konnte so überrascht werden, einen härteren
Kampf. Die Hauptstraße führte stets durch Wald und gestattete
also nur einen sehr beschrankten Raum zur Aufstellung von Kraft
ten, aber, immer fortmarschirend und kämpfend, kamen endlich
die Polen an den Anhohen von Dembe an. Jetzt entspann sich
der Kampf mörderisch auf der ganzen Linie, Es wurden Bor-
theile errungen und wieder verloren. Jndeß, als eben die Nacht
einbrach, drang eine polnische Brigade über das vor dem Feinde
liegende Dorf Dembe vor, und entschied durch einen kräftigen
Angriff den Sieg. Um 19 Uhr Abends am 3!. Marz konnte der
Oberfeldherr den ersten Siegesbericht nach Warschau senden. Zwan-
zig Stunden lang war er nicht vom Pferde gekommen. Groß
waren die Trophäen, welche man nach der Hauptstadt einbrachte.
Man sah unter den Gefangenen Jünglinge aus den ersten Fami-
Ilten Rußlands. Mehrere feindliche Bataillone wurden ganz auf-
gerieben. Vier Fahnen, dreißig Kanonen, 9000 Gewehre, ebenso
viel und mehrere Gefangene, vier Feldapotheken, und eine Feld-
kapelle sogar, bezeugten, wie unvermuthet der Feind überfallen
worden war. Die Nachricht von diesem Kampfe und Sieg erfüllte
Warschaus Bewohner mit dem größten Jubel. Die Geistlichkeit
zog auf den Straßen an der Spitze der Bevölkerung umher und
sang fromme Hymnen; die Frauen sammelten für die Wittwen
und Waisen der Gefallenen. — An den folgenden Tagen, als
die ermüdeten Truppen sich erholt hatten, drang Skrzynecki den
fliehenden Generalen nach. Das russische Hauptheer konnte nun
den beabsichtigten Uebergang über die Weichsel nicht vollführen;
es mußte eilen, die geschlagenen Korps an sich zu ziehen; das
rechte Weichselufer verlassen und nur suchen, die Straße über Bi a-
listock und Grodno offen zu erhalten, um nicht von den Zu-
fuhren und Reserven abgeschnitten zu werden. Skrzynecki ver-
folgte die Feinde und nachdem er sie vom rechten Ufer der Weich-
fei ganzlich vertrieben, setzte er über den Bug und die Narew.
Es fanden dabei nur kleine, wenig bedeutende Gefechte statt, bis
— 314 —
am 26. Mai eine blutige Schlacht mit den wieder vorrückenden
Nüssen erfolgte.
Die polnische Armee war bei dem Vordringen der russischen Armee
im Nückzug über die Narew begriffen, als Diebitsch in der Nacht
vom 25. auf den 26. alle seine Streitkräfte vereinigte. Seine
ganze Masse traf zunächst auf den General Lubienski, dessen Korps
als Arriergarde diesseits zurückgeblieben war, um die Russen so
lange wie möglich anzuhalten. Lubienski zog sich auf das kleine
Stadtchen Ostrolenka zurück, aber bald brannte, von den feindli-
chen Haubitzen entzündet, der Ort hinter ihnen und durch die in
Flammen stehenden Gassen des von etwa 18 bis 1900 Men-
schen bewohnten Stadtchens mußte er, den Feind auf der Ferfe,
den Rückzug antreten. Gelang es den Russen mit ihren Massen
über die Narew zu kommen, so war das polnische Heer für ver-
loren zu achten. Zwei Brücken deckten den Fluß. Die eine, ziem-
lich betrachtlich, war auf Schiffen erbaut, die andere geringere
auf Strebebalken. Die Russen setzten alles daran, hinüber zu
kommen und die Polen strengten jede Sehne an, sie wieder hin-
über zu drangen. Auf den Brücken, auf dem Damme längs dem
Sumpfufer der Narew kämpfte man mehrere Stunden lang.
Mann focht gegen Mann. Die russischen Batterieen kreuzten ihr
Feuer über dem trüben Gewässer des Flusses; Diebitsch suchte
dadurch vom linken Ufer aus die Polen von dem Damme zu ver-
treiben. Die Polen welche nur wenig Stücke der furchtbaren Ka-
nonade entgegenfetzen konnten, begnügten sich, mit Kartatschen
auf die Masse der Grenadiere, die vor der Brücke aufgestellt wa-
ren, zu feuern. Der russische Feldherr ließ Fußvolk und Reiterei
durch den Fluß setzen, die vergeblich am andern Ufer festen Fuß
zu gewinnen suchten. Viele fanden den Tod, indem sie von dem
schmalen Damme in die Fluthen stürzten. Gemeine und Generale
im polnischen Heere waren von der Wichtigkeit dieses Punktes
Aberzeugt, und opferten um die Wette das Leben. Der Genera-
lifsimus Skrzynecki ließ aus den Geschützstücken, die noch Muni-
tion hatten, Batterien bilden, und indem er von einer Kolonne
zur andern sprengte, rief er unaufhörlich: Vorwärts! vorwärts!"
Er stellte sich selbst an die Spitze der Kolonnen. Seine Kleider
waren von Kugeln durchlöchert und fast alle seine Adjutanten wur-
den verwundet. Die Generale Kicki und Kamenski fanden ihren
Tod unter den Tausenden; zwei andere wurden schwer verwundet.
— 315 —
Selbst eine Frau, die Gattin eines Artilleristen, hielt, die Ladun-
gen herbeitragend, im ärgsten Feuer aus, sich mit dem Nocke
ihres Mannes bekleidend, als dieser den Tod fürs Vaterland ge-
sunden hatte*). Endlich machte der Abend dein furchbar mörderi-
schen und glühend heißen Tage ein Ende, und beide Parteien be-
gnügten sich, ihre gegenseitigen Stellungen beizubehalten. Kein
Theil konnte sich eigentlich des Sieges rühmen. Die Russen hat-
ten die Brücke behauptet, aber auch kaum über dieselbe nur einige
Schritte vordringen können. Mehrere ihrer Regimenter, welche
zuerst darüber drangen, wurden fast ganzlich vernichtet. Bei der
Nacht zogen die Russen felbst alle ihre Streitkräfte auf das linke
Ufer der Narew zurück, indem sie nur am Uebergange der Brücke
einige Vorposten zurückließen. Das Schlachtfeld war von der
einen, wie von der andern Seite mit Todten besäet.
Skrzynecki führte sein Heer nach Praga zurück, ohne von
Diebitsch verfolgt zu werden. Dieser mußte ein starkes Korps
nach Litthauen entsenden, um einen polnischen Heerhaufen, der
zur Unterstützung eines daselbst ausgebrochenen Aufstandes dort-
hin gezogen war, abzuschneiden. Nachdem er mehrere Tage auf
dem rauchenden Schutthaufen Ostrolenka's stehen geblieben war,
rückte er langsam bis Pultufk vor, wo er zugleich den kaiserli-
chen Bescheid auf seine Bitte um Zurückberufung erwartete. Seine
Stellung als Deutscher an der Spitze des russischen Hauptheeres
war nach den Unfällen gegen die vorher gering geachteten Polen
unerfreulich geworden. Der General Graf Orlow, Adjutant
des Kaisers, kam, von diesem gesendet, in dem Hauptquartier an
und hielt am 9. Juni Musterung über das Heer. Noch in der-
selben Nacht erkrankte der Feldmarschall und starb am folgenden
Tage. Ein ärztlicher Bericht aus dem Hauptquartier Pultusk
giebt an, daß die Witterung seit der letzten Schlacht fortwahrend
regnerigt und voller Dünste gewesen sei. Abends hatte er sich erhitzt,
im Thau viel bewegt und in der Nacht empfand er die heftigsten
Cholerazufalle, welche gegen Mittag am folgenden Tage unter
*) In Atthauen stand eine Gräfin Plater an der Spitze der Jnsurrek-
tion und genoß die größte Achtung. Am 2t. Mai zog ein neues Kra-
kusenregiment durch Radom und in seiner Mitte eine edle Dame V a-
lcria Dembicka. Auch eine Gräfin Ronnicker fand sich hier und
ward in den russischen Berichten als sehr barbarisch geschildert.
— 316 —
den schmerzlichsten Zuckungen seinem Leben fem Ende machten.
An Gerüchten, daß er an Gift gestorben sei, fehlte es um so roe-
Niger, da im Hauptquartier bis dahin noch Niemand an der
fürchterlichen Krankheit gestorben war, sein Tod aber gerade mit
der Ankunft des den Stand der Dinge beim Heer untersuchen-
den Grafen Orlow zusammen treffen sollte. *) — Graf Orlow
*) Hans Karl Friedrich Anton voll Diebitfch und Narden war geboren am
13. Mai 1735 zu Großleippe in Schlesien, und bereits seit 1801 im
russischen Dienste, nachdem er in Berlin vom eilften Jahre an sich im
Kadettenhause zum Soldatendienst aufs fleißigste vorbereitet und als
Sekondelieutenant den Abschied erhalten hatte. Sein Vater war als
Generalmajor in die Suite des Kaisers P a u l getreten und wünschte den
Sohn in seiner Nahe zu haben. Sein erster Feldzug war der bei
Austerlitz 1805, wo er verwundet ward und den ersten Beweis kaiser-
licher Huld erhielt, einen goldenen Ehrendegen mit der Aufschrift: Für
• Tapferkeit. In den Machten von Eilau und Friedland zeichnete er
sich wieder aus und stieg zun? Kapitain, indem er zugleich den Georgen-
orden dritter Klasse , sowie den preußischen Verdienstorden erhielt. Seine
eigentliche glänzende Periode aber begann mit dem Jahre 1812, wo er
als Oberster in den Generalstab trat, und an allen Tressen unter dem
General Wittgenstein Theil nahm. Als Generalmajor schloß er die be-
rannte, so wichtig gewordene Kapitulation mit dem General Bork,
wofür er mit dem St. Annenorden beschenkt ward. Bei Abfchliefiung
dieser Kapitulation hatte er seine Gewandtheit zu unterhandeln bewiesen,
weshalb er auch zu der Reichenbacher Konvention im Juni 1313 gezogen
ward. Als die Lage des verbündeten Heeres im Frühjahr 1814 in Frank-
reich äußerst bedenklich schien, drang er vornehmlich aus den Marsch
nach Paris. Alexander umarmte ihn deshalb auf der Höhe des Mont-
martre und hing ihm eigenhändig den Alexander - Newskyorden um, den
er spater mit Brillanten besetzt erhielt. Im Jahre 1820 ward er Ge-
neraladjutant des Kaisers und Chef des großen kaiserlichen Generalstä-
bes. Er war Zeuge von dem Tode seines Herrschers, den er noch die
kalte Hand drückte und eilte dann nach Petershurg zum neuen Fürsten,
dessen Regierung bekanntlich mit dem Kampf gegen eine Empörung be-
gann. Hier empfahl sich Diebitsch durch die Thatigkeit, mit welcher er
den Aufstand unterdrückte, wofür ihn Nikolaus I. in einen! besondern
Tagesbefehl dankte. Der Krieg mit den Türken 1828 und >829 schaffte
ihm aber den größten Ruhm. Zum Feldmarschall erhoben, bewirkte er
hier, was so viele russische Feldherrn früher umsonst versucht hatten,
was selbst im ersten Feldzug 1828 unter den unmittelbaren Befehlen des
Kaisers mißlungen war, den Uebergang über den Balkan, wodurch er
sich, wie einst Potemkin, derTaurier, einen neuen Namen (Diebitsch-
Sabalkanöki) erwarb, Im Jahr 18o0 befand er sich als Bcvoll-
— 317 —
Begab sich von Pultusk zu dem Großfürsten Konstantin, der sich
im M in ff befand; und wie, wenn seine Gegenwart denjenigen,
die er zu besuchen beaustragt war, unheilbringend werden müßte.
Konstantin starb einige Tage nach seiner Ankunft. Dieser Fürst
war damals in Ungnade, die Russen selbst warfen ihm vor, durch
seine gehässige Mrannei einen Krieg entzündet zu haben, der so
viel Opfer kostete und in dem er selbst nicht wagte, seine Person
blos zu stellen.
Nach dem Tode des Feldmarschalls Diebitsch übernahm der
Chef seines Generalstabs, Graf Toll, den einstweiligen Oberbefehl
der Armee. Die Unsicherheit, welche unter seinem Kommando in
den Kriegsbewegungen der Nüssen eintrat, erfüllte die zahlreichen
Freunde der Polen mit neuem Muth und nährte die Hoffnung,
daß der Kampf gegen die Uebermacht endlich noch zu glücklichem
Ausgang führen werde. Toll beschrankte sich darauf, das Heer
mehr der preußischen Grenze zu nahern, es zwischen dieser und
der Narew zu koncentriren, um die Zufuhr der Lebensmittel aus
dem neutralen Lande zu sichern, in welchem schon von Diebitsch
große Ankäufe waren gemacht worden; auch schien er mehrere Male
geneigt zu sein, den Kampf auf das linke Weichselufer herüber zu
spielen. Dabei suchte er auf das Volk und Heer der Polen durch
Proklamationen zu wirken. Doch che er die etwaigen Früchte von
ihnen arnten konnte, traf der Feldmarschall Paskewitsch, welchem
der Kaiser den Oberbefehl übertragen hatte, bei der Armee ein.
Der neue Oberfeldherr war durch preußisches Gebiet gereist und die
Kriegs- und Mundvorräthe, die eben zu Wasser in Dan zig an-
gekommen waren, ließ man die Weichsel hinaufgehen; auch ward
die russische Armee von Preußen mit Pontons zum Uebergang
über die Weichsel unterstützt. So diente dies Land von jetzt an
der russischen Armee zugleich als Magazin für Lebensmittel und
als Stützpunkt, während es den preußischen Unterchanen nicht ge-
stattet war, eine Sense nach Polen zu führen.*)
machtigter in Berlin, als der Aufstand der Polen ihn wieder auf dm
Kriegsfchanplatz rief.
*) Während jedoch die Politik der Staaten den Polen Hülfe versagte,
erhielten sie von allen Seiten von den Völkern Unterstützung. Man
sah unter den eingegangenen Gaben goldene und silberne Löffel, Teller,
Ringe, Brusinadeln, Tressen, alle Arten Kleidungsstücke ?c.
— 318 —
Bald nach der Ankunft des Feldherrn setzte sich das russische
.Heer in Bewegung. Es zog langsam nach der preußischen Grenze
hin, um in der Nahe derselben über die Weichsel zu gehen und
Warschau auf dem rechten Stromufer anzugreifen. Daskewitsch
gab sich die Miene, bei Plock über die Weichsel zu gehen <8. Juli).
Die Lage dieser Stadt, welche das ganze andere Weichselufer be-
herrscht, ließ die Sache wahrscheinlich finden, besonders da der
Marschall eine Insel im Flusse mit Sturm wegnehmen und bese-
tzen ließ. Doch in der Zwischenzeit arbeitete schon der Ingenieur-
oberst Wietinghof an den Brücken tiefer unten, zu welchem
ihm die Preußen die Materialien geliefert hatten. Unaufhörliche
Regengüsse erschwerten den Marsch in den morastigen Waldge-
genden. Indessen gingen die Truppen vom 11. Juli an immer tie-
fer an der Weichsel hinab, bis dicht an die preußische Grenze und
setzten vom 14. bis 19. Juli bei Osteck, 60,Wv Mann stark, mit
siebenzig Kanonen, unter den heftigsten Regengüssen, über. Das
Korps von Pahlen machte den Anfang und schickte seine Streit-
partheien gleich nach Nieszawa vor. Ihnen folgten die Spi-
taler und das Fuhrwesen so zahlreich, daß es sechs und dreißig
Stunden brauchte, und dann das Hauptheer, ohne daß der pol-
nische Oberbefehlshaber Hindernisse in den Weg legte. Eine
Proklamation des russischen Feldherrn eilte dem Heere vor-
aus und ermahnte Alle, ruhig in der Heimath zu bleiben und
die ergriffenen Waffen niederzulegen; sie versprach, alle Bedürft
nisse, Futter ausgenommen, baar zu bezahlen, und drohte den
Landleuten, die mit den Waffen ergriffen würden, mit Entfernung
von ihren Angehörigen.
Unterdeß ward das Ziel der Expedition nach Litthauen ganz-
lich verfehlt; der unter den Generalen Gielgud und Chla-
powski entsendete polnische Heerhaufe ward um diese Zeit von
den Russen so gedrangt, daß die Führer den Entschluß faßten,
in Preußen Schutz zu suchen und ihre Truppen daselbst entwaff-
nen zu lassen. Am 12. Juli gingen sie über die Grenze und er-
klarten, daß sie sich den zu treffenden Anordnungen unterwerfen
wollten. Bereits trugen die Truppen ihre Waffen auf den von
den preußischen Behörden angewiesenen Platzen zusammen, als
das Korps des polnischen Generals Roland erschien, welches
einen Versuch machen wollte, sich nach dem Vaterlande durch-
zuschlagen. Beim Anblick dieser Kolonnen wollten die Soldaten
— 319
Gielguds ihre Waffen wieder ergreifen, sie wurden aber durch
die Vorstellungen ihrer Anführer davon abgehalten. Die Ossi-
ziere waren aufs Aeußerste erbittert, sie hielten sich für verrathen.
Eine Abtheilung mit sechs Kanonen schloß sich an Roland an.
Eben ritt Gielgud über die verhangnißvolle Grenze, von einer
Menge Offizieren umringt. In diesem Augenblick verläßt ein
Lieutenant Skulski seine Kolonne und eilt der Gruppe von Of-
sizieren zu, wo sich Gielgud befand; er reitet auf einem wilden
Pferd, halt ein Pistol in der Hand, durchschneidet die Menge,
stürzt sich auf diesen General und tobtet ihn mit den Worten:
„Spitzbube, Verrather, marsch mit Dir!" Der unglückliche Giel-
gud betheuerte noch sinkend seine Unschuld. Die Offiziere blieben
unbeweglich. Der Mörder sprengte ungehindert dem Roland-
schen Korps nach. — Dieses setzte nun seinen Marsch längs der
Grenze fort; aber von allen Seiten von den Russen umgeben
und gedrangt, mußte es ebenfalls feinen Versuch zu entkommen
aufgeben, über die preußische Grenze flüchten und die Waffen
niederlegen. Ein anderes Korps, unter dem General Dem-
binski, Mann stark, schlug sich glücklich nach Warschau
durch. Sein Einzug in die Hauptstadt war ein Triumph. Die
unerwartete Ankunft dieser Truppen, welche man schon für ver-
loren glaubte, ward als ein öffentliches Glück betrachtet; 60,000
Menschen drängten sich auf Dembinski's Wege, drückten seine
Hände, umfingen feine Füße und bedeckten seinen Namen mit
Segenswünschen. Einige derselben baten ihn sogar, als um eine
hohe Gunst, um seine Mütze und seine Epauletten, wovon sie
hernach die Stücken wie heilige Nationalreliquien vertheilten. —■
Skrzynecki's unthätiges Zuschauen beim Uebergang der Nus-
sen über die Weichsel entsprang aus seiner politischen Meinung,
daß Polen nur durch die Diplomatie könne gerettet werden. Der
französische Minister Sebastian! hatte durch ein Interventionsver-
sprechen seine Thatkraft gelahmt und ihm anempfohlen, mit Ver-
meidung entscheidender Schlage die Sache noch einige Monate
hinzuhalten, um dem Einflüsse Frankreichs und Englands Zeit
zur Entwicklung zu lassen. Inzwischen wurden, bei der wach-
senden Gefahr, von der polnischen Regierung die kräftigsten
Maßregeln ergriffen. Schon am 1. Juli hatte sie ein Aufgebot
zum allgemeinen Landsturm erlassen, von welchem nur Krankheit
und Staatsgeschafte ausschließen sollten. Die Sense und Sichel
— 320 .........
und jede denkbare Waffe ward demselben zum Gebrauch empsoy-
len, selbst der Dreschflegel und die Heugabel, die Axt und Pike
nicht ausgeschlossen. In der Absicht, dieser Nationalmaßrcgel
eine große Ausdehnung zu geben, ward sie durch eine kräftige
Proklamation bekannt gemacht. „Im Namen der am Rande des
Lebens und des Todes stehenden Nationalfreiheit, im Namen aller
Konige und aller Helden, die ehemals für das Wohl des Glau-
bens und der Menschheit gefallen find; im Namen der Gerechtig-
keit und der Befreiung von Europa haben wir verordnet k," Alle
sollten „die Reihen des Heeres, ihre Brüder und Söhne unter-
stützen, die Gefallenen rächen; auf jeder Anhöhe, jedem Baum,
in jedem Brunnen, in jedem Hause, auf jedem Wege und Stege
sollten rächende Arme die ins Land gefallenen Feinde mit Schrecken
erfüllen."
Die Wendung der Dinge, welche durch diesen Weichselüber-
gang auf den Kriegsschauplatz herbeigeführt ward, verbunden mit
dem unheilvollen Ausgang des litthauischen Feldzuges, konnte
nicht ohne nachtheiligen Einfluß auch in Hinsicht der Gemüther
der Polen bleiben. Man überließ sich bitterem Tadel über die
Art, mit der die militärischen Angelegenheiten betrieben wurden;
man begann von Berratherei zu sprechen. Es wurden selbst
Komplotte angezeigt, die mit den russischen Gefangenen und durch
ihre Vermittlung mit der feindlichen Armee angezettelt waren.
Eine dieser Anzeigen war so ausführlich, so bestimmt, daß die
Regierung die Personen, welche darin verwickelt sein sollten, fest-
nehmen ließ. Dies waren die polnischen Generale Hnrtyck,
Jankowski, Szalewski und Buckowski, ein vormaliger
Kammerherr des Kaisers, Fentsch, ein Angestellter bei der Wer-
waltungsbehörde, Bendlowski und Madame Bazanow, die
Gemahlin eines russischen Offiziers. Der Konditor Leffel,
Schwager des früheren Kriegsministers Hauke und ein Oberst
Slupicki wurden ebenfalls festgenommen, aber bald nachher als
völlig unschuldig wieder in Freiheit gesetzt. Diese Verhaftungen
konnten mitten unter der allgemeinen Erbitterung nicht ruhig vor
sich gehen. Es war an einem Sonntag, die BevölkeWng befand
sich auf den Straßen. Man schritt zuerst zur Einziehung des
Generals Hurtyck, der außer der Anklage, in die vermeintliche
Verschwörung verwickelt zu sein, auch noch beschuldigt ward, frü-
her als Gouverneur von ZamosZ die ihm von Konstantin gesen-
— 321 —
beten Gefangenen mit ausgesuchter Harte behandelt zu haben.
Zu Fuß von seiner Wohnung nach dem königlichen Schlosse abge-
führt, wo man einige Zimmer zur Aufnahme der Gefangenen
eingerichtet hatte, ward er von einer aufgebrachten Menge beglei-
tet und mit Verwünschungen überhäuft. Das allgemeine Geschrei:
„Hangt ihn! hangt ihn!" verfolgte den Unglücklichen auf dein gan-
zen Wege. Mehrere Bataillone und Schwadronen, die ihn eseor-
tirten, reichten nur hin, ihm das Leben zu erhalten, konnten ihn
aber nicht vor den ärgsten Mißhandlungen schützen. Man riß ihm
den Mantel, die Epaulettes, die Uniform ab. Dem Fürsten Czar-
toryski, der dazu kam, gelang es nur mit Mühe, die tobende
Menge zu beschwichtigen, indem er schleunige und nachdrückliche
Gerechtigkeit versprach. Inzwischen wurden die übrigen Angeschul-
digten, von der Nationalgarde begleitet, in's Schloß gebracht,
und ein Kriegsgericht ward zusammen berufen, bestehend aus Of-
sizieren aller Grade. Neun Stunden lang arbeitete dasselbe tag?
lich und war dennoch nach vier Wochen nicht zu einem Resultate
gekommen, den Hochverrath darzuthun.
Mittlerweile rückten die Russen Warschau immer naher, und
die Gefahr für die Hauptstadt wuchs mit jedem Tage, indeß die
Unthatigkeit des Hauptheeres dieselbe blieb, was bei der heftigen
Partei große Unzufriedenheit gegen den Oberfeldherrn erregte. Die
Regierungsbehörde ließ hierauf sein Betragen durch eine Deputa-
tion, die sie in das Hauptquartier abschickte, untersuchen, und das
Urtheil des hierüber versammelten Kriegsrathes fiel dahin aus,
daß bei größerer Kühnheit auch ein minder tüchtiger Feldherr dem
Vaterlande bessere Dienste würde geleistet haben. In Folge dessen
nahmSkrzynecki feine Entlassung, und D embinski ward zu feinem
Nachfolger ernannt. Dieser weigerte sich jedoch aus Anhänglichkeit
an Skrzynecki, die ihm übertragene Stelle anzunehmen, und der
nach ihm ernannte Prondzynski that ein Gleiches. Da inzwi-
schen Skrzynecki das Commando noch fortführte, so fetzte die Par-
tet der Clubbisten alle Mittel in Bewegung, die Gemäßigten ganz-
lich zu stürzen und den General Krukowiecki, den sie für einen
ihr zugethanen Mann hielt, an die Spitze zu bringen. Somit
war daö Bild der öffentlichen Angelegenheiten jetzt düsterer, als je;
die Armee war ohne Oberhaupt, die Regierung schwach und un-
entschlossen; die Ungeduld, das Mißtrauen im Volke wuchs mit
jedem Tage, weil es die des Hochverraths verdachtigen Menschen
N. G. IV. 21
— 322 —
zzjcht bestraft, und doch auch die Unschuld derselben nicht klar dar-
gethan sah. Am 15). August ward der vor dem Regierungshause
versammelte Pöbel durch Bolksredner, namentlich durch einen
excentrischen. Priester Pulawski, in Gahrung gebracht. Abends
gegen zehn Uhr stürmte man nach dem Schlosse, wo die Staats-
gefangenen aufbewahrt waren. Das Thor war sechzig Mann von
der Nationalgarde anvertraut; sie thaten ihre Schuldigkeit und lei-
steten Widerstand; einige Flintenschüsse wurden abgefeuert. „Die
Nationalgarde metzelt das Volk nieder!" schreit man, und die
flüstern Gerüchte, reißend schnell verbreitet, gelangen bald zu
den äußersten Enden der Stadt. Jetzt lauft das Volk herbei, und
eine beträchtliche Menge ist vor dem Schlosse versammelt. Eine
der Thüren ward erbrochen; die schwache Abtheilung von Natio»
nalgardisten konnte einer Menge, die sich jeden Augenblick ver-
größte, nicht langer widerstehen; sie ergoß sich über den Hof, erbrach
die Gefangnisse und bemächtigte sich der oben genannten Staats-
gefangenen. Alle wurden, theils in ihren Betten, theils auf dem
Hofe ermordet, und ihre Leichname an den Laternen aufgehängt.
Auch jene russische Dame Bazanow hatte dies Geschick. Ihre
Tochter, welche sich vor sie als Schild stellte, ward ersto-
chen. Von hier ging es nach den Wohnungen mehrer bereits
Freigesprochenen und nach einem Stadtgefängnisse, wo noch Agna-
ten der ehemaligen russischen Polizei ihrem nun schnell entschiede-
nen Schicksale entgegenharrten. Alle fanden, einige dreißig ander
Zahl, einen grausamen Tod an Laternenpfählen. Auch ein gefan-
gen eingebrachter russischer Offizier ward von den Blutmenschen
vom Wagen gerissen und niedergemacht. Czartoryski, der Chef
der Nationalregierung, von dem mordlustigen Haufen verfolgt,
entfloh in das Lager. Noch in der Nacht ward von der patrioti-
schen Partei, die am meisten hierbei thätig gewesen, die bisherige
Regierung gestürzt, und Krukowiecki zum Gouverneur von War-
schau ausgerufen, und am 17. ward derselbe vom Reichstage zum
Präsidenten der Regierung mit fast dictatorischer Gewalt ernannt.
Er ließ einige Theilnehmer der verübten Schandthaten ergreifen,
doch nur etwa vier büßten mit ihrem Leben. Sie wurden erfchof--
sen. Der Präsident Czartoryski trat ab, und wiewohl er schon
über sechzig Jahre alt war, als Gemeiner ins Heer.
Mmmen wir zu den Kriegsoperationen zurück. Das russische
Heer'war, während diese Dinge sich in und außerhalb Warschau
*>f)Q
Ö &X.J -
zugetragen hatten, immer, wenn auch langsam, auf dem linken
Ufer der Weichsel weiter vorgerückt, indessen ihm von fern her noch
zahlreiche Corps folgten. Unter den Generalen Knorring, Sacken,
Gerstenzweig und Schiulkoff erwartete es noch an 30,090 Mann,
welche Kreuz als Oberbefehlshaber anführte; wahrend an der
Oberweichsel der General Rüdiger nur den schicklichsten Augenblick
erwartete, sie ebenfalls zu überschreiten und sich mit der Gesammt-
masse zu vereinigen. Die Ersteren gingen über die Weichsel, 28.
Juli und 18. August; der Letztere ging schon am 7. August über
den Fluß und rückte in drei Colonnen vor. Nach etwa fünf-
undzwanzig Tagen war das Hauptheer an dem Ufer der Bzura
angekommen. Die Polen zogen sich ans die Hauptstadt zurück*
Indessen versuchten sie noch am 3. und 4. August in einigen nicht
unrühmlichen Kämpfen den ferneren Marsch der Russen aufzuhal-
ten und die Kräfte derselben kennen zu lernen. Eine Schlacht
zu wagen lag nicht im Plane des Oberfeldherrn. Am 14. und 1Z»
setzte die Armee ihre Rückzugsbewegung auf Warschau fort; sie
nahm Stellung an dem Bache Utrata und in dem Dorfe O ltra-
zow, zwei Meilen von Warschau. Paskewitsch säumte ebenfalls
nicht, der rückgängigen Bewegung der Polen zu folgen. Am 16.
ging er mit der Hauptarmee über die Bzura selbst und rückte am
folgenden Tage weiter vor, um sich mit Rüdigers Truppen zu
vereinen. Die Polen legten wieder wenig Hinderniß in den Weg;
sie zogen sich in der Nacht vom 16. zum 17. in die Verschanzung
von Warschau zurück und näherten sich der Hauptstadt auf eine
Meile. Schon am 17. reeognoscirte Graf Witt mit fünfzig
Schwadronen und fünf reitenden Batterien in der Richtung nach
Warschau hin, wobei es zu einem lebhaften Gefechte in und bei
dem Dorfe Bronicze kam, wo in demselben Augenblicke der
polnische Obrist Gallois mit zwei Bataillonen, zwei Schwadro-
ncn und zwei Kanonen ebenfalls zum Recognosciren eingerückt war.
Dieses unglückliche Zusammentreffen kostete den Polen zwei Kano-
ncn, den genannten Obersten Gallois, vierunddreißig Offiziere und
über tausend Gefangene und erhob den Much der russischen Sol-
daten.
Unterdessen war Rüdiger herangezogen und suchte bereits über
Radom die Hand zu reichen und die langst ersehnte Verbindung
herzustellen, nachdem er vom 9. August an seine bedeutende
Streitmasse zur Zerstreuung des Landsturms verwendet hatte und
21 *
— 324 —
dann nach der Pilica gegangen war, was der General Rozycki
vergebens zu verhindern gesucht hatte. Auf der Nordseite War-
schaus drohte nicht minder das Unwetter. Baron Rosen zog mit
ansehnlicher Macht gegen Praga, dessen Brücke er in der Nacht
abzubrennen bemüht war. (30. August.)
Nachdem Krukowiecki zur Macht gelangt war und die Ruhe
und öffentliche Ordnung in der Hauptstadt wieder hergestellt hatte,
verkündigte er in einem Tagsbesehle, daß Jeder, der von Erge-
bung sprechen werde, als Feind des Waterlandes solle behandelt
werden, und erklarte in einem großen Kriegsrathe, das Schicksal
des Staates durch eine Schlacht vor der Hauptstadt entscheiden zu
wollen. Er war zuerst auf Entfernung des Oberfeldherrn bedacht,
mit welchem er nicht übereinstimmen konnte, und da er darnach
strebte, diese Stelle selbst zu bekleiden, jedoch, der Verordnung des
Reichstags gemäß, als Chef der Regierung nicht zugleich Ober-
feldherr sein konnte, so ernannte er dazu einen fast achtzigjährigen
Greis, leitete aber selbst alle Bewegungen und änderte die Ver-
fügunZen seines Stellvertreters nach Gutdünken ab. Das allge-
meine Vertrauen war im Innern Warschau's schon sehr gesunken,
da die Bevölkerung, in mehrere Parteien getheilt, sich gegenseitig
mißtrauisch beobachtete, wiewohl Alle von Haß gegen die Russen
beseelt waren. Kurz vor dem Herannahen der Russen hatte Kru-
kowiecki zwei Corps unter Lubienski und Romarino in die Woi-
wodschaften Plock und Podlachien gegen die 11,000 starken
Heerhaufen der russischen Generale Rosen und Golowin abge-
schickt, um von dieser Seite Lebensmittel herbeizuschaffen. Die
Hauptmasse der Polen war zwischen Blaue und Warschau
concentrirt, hinter ihr Warschau's Festungswerke und 109,000 Be-
wohner. Dies war der Zustand der Dinge, als rings herum die
Wolken sich zusammen thürmten. „Links lagert mit furchtbarer
Geschützesmacht — schrieb ein Pole schon im Anfange des August
— die große russische Armee, die wir nicht zahlen dürfen, wenn
wir sie schlagen wollen; rechts zieht Rüdiger mit 35,000 Mann
heran; vor uns nahen die russischen Corps, die bis jetzt in Lit-
thauen beschäftigt waren, durch die der tapfere Dembinski sich
siegreich durchschlug, und die nun ihre Kräfte mit denen vereini-
gen, die uns überdies schon drei- bis vierfach überlegen sind.
Zum mindesten drei Siege also sind nöthig, ehe wir Eines Sie-
ges froh werden können, und um sie zu erkämpfen, haben wir
_ 325 .
Feine Stützpunkte mehr, als unsere Hauptstadt, ein kleines Heer
zum Tode bereit und unsere gerechte Sache. Mag nun der All-
machtige die Loose werfen; wie sie auch fallen mögen, so sind es
nicht wir, die den Ausspruch der Nachwelt und den mahnenden
Ruf des eigenen Gewissens fürchten dürfen. Nuhig sehen die Staa-
ten Zu, wie ein fremdes Drangervolk eine Nation, die einft En-
ropa's Stolz und Wiens Racher war, niedertritt und mit ihrem
letzten Herzblute die Ebenen von Malchau düngt. Um die Ernd-
ten, die aus diesen blutigen Saaten aufgehen werden, wird En-
ropa nicht zu beneiden sein."
Schon am 17. August waren alle Verbindungen der Haupt-
stadt und der Armee mit der Umgegend abgeschnitten, und aus
dem Auslande bereits seit dem Ii). August keine Nachrichten einge-
gangen. Immer naher rückte auf allen Seiten der Feind; er
war an 100,000 Mann stark und hatte 386 Kanonen. — Indes-
sen wollte Paskewitsch, ehe er sich entschied, den Angriff zu begin-
nen , den Weg der Unterhandlungen versuchen. Krukowiecki erhielt
den 3. September eine Einladung, sich selbst an die Vorposten zu
begeben, um mit Paskewitsch oder dessen Stellvertreter eine Un-
terredung zu halten. Krukowiecki sendete den General Prond-
zynski, der den General Dannenberg von Seiten des Feld-
Marschalls antraf. Dieser erklarte: „daß sein Herr, der Kaiser,
geneigt sei, von der ursprünglichen Bedingung einer blinden Un-
terwerfung abzustehen und den Beschwerden der Polen Gerechtig-
keit wiederfahren zu lassen; eine unbeschrankte Amnestie, etwa zu
wünschende Abänderungen in der Verfassung, völlige Unabhängig-
knt der inneren Verwaltung und selbst die Belassung von Stel-
len und Würden an die dermalen damit Bekleideten zu gewähren,
wofern das Königreich jetzt, ehe die Waffengewalt entschieden ha-
ben würde, zur Pflicht gegen seinen Souverain zurückkehren wolle.
Was die Einverleibung der russisch-polnischen Provinzen betreffe,
sowie die Amnestie für ihre Bewohner, die in der polnischen Armee
dienten, so könne der Kaiser aus Rücksicht für die Russen nicht
geradezu darein willigen; man dürfe aber auf seine Großmuth
zahlen." — In dem Ministerrathe, wo Krukowiecki die Vor-
schlage bekannt machte, waren die Ansichten sehr getheilt; die
Mehrzahl stimmte gegen die Annahme, derselben und der Antrag
ward zurückgewiesen.
Alle Hoffnung zur Ausgleichung war nun verschwunden, und
— ZW —
Paskewitsch rüstete sich, mit Gewalt zu erringen, was die Unter-
Handlung nicht herbeiführte. — Sowie die Nacht vom 3. zum
6. eingebrochen war, näherte er sich mit seiner Armee den Mauern
der Hauptstadt. Er nahm seine Stellung zwischen den beiden
Straßen von Krakau und Kalisch und breitete seine Linie dem
befestigten Flecken Mola gegenüber ans. Mit Anbruch des Tages
ließ er zum Sturme anrücken. Unter dem heftigsten Widerstande
wurden nach und nach vier Schanzen genommen, die in der An-
griffslinie der Russen lagen, und eine ganze Reihe der äußeren
Berfchanzungen. Zweihundert Kanonen spieen ihr Feuer gegen
dieselben aus. Besonders viel Blut kostete das Fort Wola, das
von fünf polnischen Batterien und einem Graben vertheidigt ward.
Nur drei Bataillone standen auf diesem Punkte und verursachten
den Colonnen des ersten Corpv, die mit Faschinen und Leitern auf
einen Graben losstürzten, aber von einem heftigen Gewehr- und
Kanonenfeuer empfangen wurden, einen bedeutenden Verlust.^)
Es ward diese wichtige Stellung erst nach einem außerordentlich
hartnackigen und blutigen Kampfe genommen und mußte dann
wieder Nachmittags gegen einen heftigen Angriff vertheidigt wer-
den, den die Polen, um sie wieder zu erobern, mit vierzig Kano-
nen unternahmen und die von dem Obergeneral Malachowski selbst
geleitet ward, wahrend der tapfere General Ben: sich in Person
an die Spitze der Batterie stellte und ihr Feuer leitete.^) Ver-
gebens. Mola blieb für sie verloren.
*) Im Augenblicke, wo sich die Russen der ersten Batterie bemächtigten,
warf der Artillerielieutenant Gordon, der schon verwundet war, Feuer
in die Pulvermagazine und sprengte, sich mit den Feinden in die Luft.
**) Am Anfange des Tages beugten die Soldaten der Infanterie, mei-
stcns Rekruten, beim Pfeifen der Kugeln hinter den Brustwehren unwill-
kürlich den Kopf, und die Artilleristen folgten diesem Beispiele, was einen
Zeitverlust herbei führte. Roman Soltyk, der Commandant der Ar-
tillerie, wollte sie ermuthigen. „Wie — sagte er zu ihnen — ihr habt
eine so große Verehrung für die Russen, ihr grüßet sogar ihre Kugeln!''
Dieser Scherz, der stoische Gleichmuth des Chefs und der Offiziere, be-
wirkten eine bewunderungswürdige Ruhe und Hingebung der gemeinen
Krieger. *)
Minen im Feuer bemerkte man einen Soldaten, der gewöhnlich an die
Brustwehr gelehnt blieb und/ sich keineswegs um die Haubitzen und
Äugeln kümmernd seine Kameraden ermmhigle, gefiiculim und mit
Lebhaftigkeit sprach. Der junge Krieger war, wie sich später ergab, ein
schönes Mädchen von achtzehn Jahren', es gab überhaupt weder ein
Bataillon noch eine Schwadron der Armee, worin sich nicht etve oder
mehrere Visier Heldinnen befanden.
— 327 —
Die zweite Linie der äußeren Verschanzungen von breiten
Graben mit Bastionen blieb noch zu erobern übrig, als die Nacht
dem Kampfe ein Ende machte. Krukowiecki ritt gegen zehn Uhr
zur Stadt zurück und kündigte an, daß es um die Nationalsache
geschehen sei, daß die Einnahme von Mola den Kampf entschie-
den Hatte, und daß.er keine Rettung mehr, als in den Unter-
Handlungen sähe. Er ließ noch tri der nämlichen Nacht eine Zu-
sammenkunft mit Paskewitsch verlangen und hatte von sechs Uhr
Morgens mit ihm eine lange Conserenz. Ein Stillstand ward
bis Mittag bewilligt, in der Erwartung, daß bis dahin
Krukowiecki die verheißene Einwilligung des Reichstages, die
Stadt zu übergeben, erlangt haben würde. Die Zeit verstrich
unter den Debatten, und um ein Uhr ließ Paskewitsch melden,
daß er den Angriff beginnen würde. Noch eine halbe Stunde erbat
man. Als auch diese verstrichen war, ohne daß der Reichstag einen
Entschluß gefaßt hatte, so begannen die Russen den Sturm gegen
die zweite Linie der Schanzen. Die zahlreiche Artillerie donnerte
bereits auf's Fürchterlichste, wahrend Parlamentaire noch immer-
hin und her gingen. Der zum Unterhandeln bevollmächtigte Groß-
fürst Michael erklärte, daß der Kampf nicht eingestellt würde,
bis der Vertrag unterzeichnet sei. Mit dem Bajonnet wurden die
Schanzen, die Garten, die Graben vertheidigt und von den Rus-
sei: genommen. Gegen neun Uhr befahl Krukowiecki, der nun
überzeugt war, daß man sich nicht mehr halten könne, den Rück-
Zug auf Praga, und die Russen standen unter den Mauern War-
schau's. Nun erst erhielt Krukowiecki die Ermächtigung des Reichs-
tags „in Wertrage einzugehen, um den Krieg zu enden." Kruko-
wieckl beeilte sich, den General Prondzinski mit einem Unterwer-
fungsschreiben an den russischen Feldmaxschall zu schicken; aber
höchst unerwünscht kam ihm nach dem Abgange dieses Boten die
Ankunft Malachowski's, welcher äußerte, daß der letzte Festungs-
kreis der Stadt noch nicht erbrochen, mithin die Verteidigung
nicht ohne alle Hoffnung sei; da aber Krukowiecki den Rückzug
auf Praga befohlen habe, so könne man für nichts mehr fte-
hen. Die Landboten befahlen nun Malachowski ausdrücklich, den
Oberbefehl der Armee zu übernehmen, und beeilten sich, der Herr-
schast Krukowiecki's ein Ende zu machen. Man sendete ihm seine
Entlassung, welche er selbst schon Mittags nachgesucht hatte, und
Bonaventura Niemoyowski ward an seiner Statt zum
— 328 —
Präsidenten erwählt. Allein um Mitternacht war man genothigt,
Krukowiecki wieder herbeiholen zu lassen, weil der russische Gene-
ral Berg, der mit Prozenski nach Warschau kam, erklärte, daß
er die mit Krukowiecki angefangenen Unterhandlungen nur mit ihm
allein fortsetzen könne. Dieser gab nur mit Mühe seine Einwilli-
gung dazu. Nach langem Streite kam endlich am Mittage des 8.
Septembers eine Militairconvention zu Stande, die in Praga un-
terzeichnet ward. Sie gestattete der polnischen Armee Abzug mit
Gejchütz, Gepäck und Waffen am folgenden Tage durch Praga
nach Modlin,-so daß selbst die etwa vergessenen Detaschements
ungehindert folgen durften. Am 9, September früh nach acht Uhr
zog das siegreiche russische Heer, den Großfürsten Michael an der
Spitze, in größter Pracht durch die noch brennenden Vorstädte in
Warschau ein, nachdem den Einwohnern Sicherheit der Personen
und des Eigenthums war versprochen worden, die sie auch, was
das Eigenthum betraf, beobachtet sahen. Praga ward noch am
nämlichen Tage besetzt. Die polnische Armee marschirte am 9.
nach Iablonna; der Reichstag folgte ihr, sowie die Negierung,
und Alle, welche sich nicht in die neue Ordnung fügen wollten,
vereinigten sich mit dem Heere. Eine große Anzahl von Patrio-
ten, welche so viel Mißgeschick noch nicht entmuthigt hatte, gm*
gen zu Fuß; der Reichsfeldmarschall selbst hatte kein Pferd zu seiner
Verfügung.
In der Stadt herrschte eine Todtenstille. Am Abende nahm
Paskewitsch sein Hauptquartier im Schlosse Belvedere. — Gene-
ral Witt ward Gouverneur General Kor ff Commandant von
Warschau. Die Nationalgarde mußte ihre Waffen bei Todes-
strafe abliefern. Die Barricaden und Verschanzungen wurden zer-
frört. Ungeachtet die Stadt selbst ohne Kampf überging, waren
doch in den zwei Tagen auf beiden Seiten viele Menschen geopfert;
der Verlust der Russen betrug, nach eigner Angabe des Feldmar-
fchalls, an Todten und Verwundeten bei 11,900 Mann, sicher
war er also viel höher. Er selbst ward, sowie viele andere Gene-
rale, verwundet. Der Bericht eines deutschen Spitalarztes gibt
12,000 verwundete Russen an. Die Zahl der Todten war
noch weit größer. Die Garde, welche nur 1000 Freiwillige gege-
ben und die Reserve gebildet hatte, füllte, wie zurückgekommene
Aerzte versicherten, allein ein großes Spital mit ihren Verwunde-
ten. Der Verlust der Polen ist noch weniger genau bezeichnet,
— 329 —
als der des russischen Heeres, Biel geringer war er ohne Zwei-
fel, da ihre Feinde erst Graben ausfüllen und Schanzen ersteigen
mußten,, ehe sich die Bajonette kreuzten.
Indeß war mit der Einnahme der Hauptstadt das Schicksal
der Polen noch keineswegs entschieden. Zwar wurden dadurch der
Nationalsache ungeheure Hülfsquellen und ein Stützpunkt entris-
sen, der schwer zurückzuerlangen war; doch blieben ihr noch, der
Regierung, dreizehn bis vierzehn Millionen Gulden, eine Armee
von 50,000 Mann unter den Waffen und zwei Festungen, Mod-
lin und Zamosc, als Stützpunkte übrig. Von einem tüchtigen
Heerführer geleitet, konnte diese Streitkraft, bei der Aufregung,
welche das ganze Volk gegen die Russen ergriffen hatte, und bei
der Erschöpfung, in welcher sich diese befanden, den Krieg immer
noch mit Erfolg fortsetzen; allein die in Polen stets einheimische
Zwietracht und die Unentschlossenheit der Führer ließ ein gemein-
sames, kraftvolles Zusammenwirken nicht mehr aufkommen. Das
Warschauer Heer rastete einige Tage in Jablonna und stellte sich
dann in und um Modlin auf, wahrend die Senatoren und Land-
boten ihren Aufenthalt in Zakrokzin nahmen. Hier erließen
sie eine Proklamation an's Heer, des Inhalts: „Die Capitulation
der Hauptstadt, die der Senat nicht bestätigt, hat durchaus keinen
Zusammenhang mit der Existenz eines bis jetzt freien und unab-
hangigen Volks. Wenn wir die Hauptstadt verließen, so verlie-
ßen wir deshalb doch nicht die Sache des Vaterlandes. War-
schau war nicht Polen!" — Selbst eine neue Zeitschrift, die
„Nationalzeitung" begann in Zakrokzin mit dem Motto: „Noch
ist Polen nicht verloren!" und überhäufte den General Krukowiecki
mit Vorwürfen. Indeß war doch das Vertrauen zur Sache
des Vaterlandes ziemlich erloschen.
Paskewitsch säumte nicht, das durch Warschaus Fall in der
Hauptsache entschiedene Wer? auch durch die Unterwerfung des
Heeres zu vollenden, und schon am 9. September erschien der
General Berg im Hauptquartier desselben, von ihm dieUebergale
von Zamosc und Modlin zu verlangen, „um sich durch dieses
Mittel der Begnadigung des Kaisers würdig zu machen." Die
Sendung hatte feinen Erfolg, und der Antrag eines Waffenstill-
standeö, wobei als Unterpfand für die Aufrechthaltung desselben
die Räumung der beiden Festungen verlangt ward, wurde eben-
falls nicht angenommen. Das polnische Heer rechnete noch auf
_ 33 o
eine Vereinigung mit den von Kruckowiecki am 22. August eut-
sendeten, 16,OW bis 18Mi) Mann starken Heerhaufen des Gene-
ral Romarino. Dieser hatte von Jablonna aus von Malachowski
den Befehl erhalten, über Kamienzy k zu der Armee in Modlin
zu stoßen; bevor ihm aber dieser Befehl des Obergenerals zu-
kam, wendete sich Romarino der Oberweichfel zu, wohin er
seinen Marschj genommen! hatte, um sich den Weg über den
Fluß zu bahnen und mit den Polen zu vereinen, die dort unter
dem General Rozyki standen. Wahrend er jedoch noch zögerte,
um seine Streifcorps an sich zu ziehen, hatte eine russische Heeres-
abtheilung sich in Marsch gesetzt, ihm den Uebergang über die
Weichsel zu verlegen. Romarino zog sich seitwärts durch Sümpfe
und Moraste längs der Weichsel hinauf und, immer von den
Russen gefolgt, bis nach Borow. Von allen Seiten gedrangt,
nicht im Stande, über die Weichsel zu kommen, drehte er sich
plötzlich links, marschirte dann, mit dem Rücken an die österreichische
Grenze gelehnt, die hinter ihnen nur 29 bis 30 Schritte entfernt
war, auf und stand bereit, eine Schlacht zu liefern. Die Russen
forderten ihn auf, sich zu ergeben; er wies den Antrag zurück.
Ein ziemlich lebhafter Kampf entspann sich, wobei die Russen
durch das Feuer der Artillerie aufgehalten wurden. Als die Nacht
kam, (vom 16. zum 17.) entschied sich Romarino, über die Grenze
nach Galizien zu gehen, und sein Corps, das an Verwundeten,
Versprengten und Getödteten schon 2000 Mann verloren hatte,
streckte am folgenden Tage vor dem österreichischen Befehlshaber,
15,000 Mann stark, die Waffen. Vierzig Kanonen und sechs der
besten Generale befanden sich dabei; auch der Fürst Czartoriski,
dem nun nichts übrig blieb, als hier auf feinen Gütern in Gali-
zum Sicherheit zu suchen.
Das Rozyckische Corps, das vergebens eine Vereinigung mit
Romarino gehofft hatte, ward am 24. September von den russi-
scheu Colonnen ereilt und nach großem Verluste auseinander ge-
sprengt. Es rettete sich meist in das nahe Gebiet des kleinen
Freistaats Krakau. Die Flüchtlinge setzten die ganze Stadt in
Bewegung. Alles eilte, sie zu erquicken. Krakusen, Mazuren,
Freischützen, polnische Kosacken, volhynische Legionairs, Jager zu
Pferde, kreuzten sich unter einander, verwünschten ihre Anführer
und fluchten der angeblichen Treulosigkeit und Verratherei dersel-
den. Am nämlichen Tage ging die Litthauisch - Volhynische Legion,
— 331 —
ganz aus der Blüthe der Jugend der dortigen Gutsbesitzer zusam-
mengesetzt, nach Galizien über. Mehrere von ihnen, durch Ver-
eitelung aller ihrer Opfer und Hoffnungen zur Verzweiflung ge-
bracht, warfen sich mit ihren Pferden in die Weichsel und fanden
in deren Fluthen den gesuchten Tod. Die Zahl der Flüchtlinge
mehrte sich fortwährend in dem Krakauer Gebiete. Am 27. Sep-
tember erschien ein russischer Offizier, welcher von dem Senate
verlaugte, entweder das geflüchtete polnische Militair auszuliefern,
oder gewartig zu sein, dies von den russischen Truppen bewerk-
stelligt zu sehen. Der Senat forderte die Polen auf, sich nach
Oesterreich zu begeben, oder in Rußlands Gefangenschaft zu gehen.
Was blieb den Unglücklichen übrig, als das minder gefürchtete
Loos im ersteren zu wählen? Bis spät in die Nacht zog Alles,
4000 Mann ungefähr, über die Weichsel.
Das Warschauer Heer, unter Anführung des General Ry-
binski, der an Malachowski Statt das Commando übernom-
men hatte, zog sich, da die Vereinigung mit Romarino's Trup-
pen nicht erfolgt war, tiefer die Weichsel hinab auf Plock, und
der Reichstag folgte ihm dahin, um nicht in Modlin eingeschlos-
sen zu werden. Die Mitglieder des Letzteren und der zuletzt
ernannte Regierungspräsident Niemojewski suchten den tüchtigeren
Uminski an die Spitze der Armee zu stellen; allein die Trup-
pen erklärten sich für Rybinski, worauf jene Plock verließen und
auf das preußische Gebiet flüchteten. Rybinski wollte nun bei
Wrozlawek den Uebergang versuchen, zu welchem Behuf der beste
Ingenieur der Polen, Böhm, in der Nacht vom 28. zum 29. Sep-
tember eine Brücke schlug. Allein die Russen eilten unter dem
General Pahlen auf dem linken Ufer schnell mit Uebermacht
hinunter und zwangen die 2000 Mann, welche sich Wrozlawek
bemächtigt hatten, auf's andere Ufer überzugehen (30. Sept.),
wobei ein Theil der Kähne in die Hände der Russen siel. Die
Letzteren gingen nun ihrer Seits selbst über die Brücke, welche
die Polen nicht zerstört hatten, während Paskewitsch mit der
Hauptmasse auf dem rechten Ufer entgegenrückte. Rybinski hatte,
als er die bestimmte Nachricht von dem Uebergange Romarino's
nach Galizien und dem Rückzüge Rozycki's auf Krakau erhielt,
Unterhandlungen mit den Russen angeknüpft; die Endforderung der-
selben aber, daß die Armee sich ohne Rückhalt und Bedingung
der Gnade des Kaisers unterwerfen sollte, konnte und wollte er
— 332 —
nicht annehmen. Jetzt nun, wo längerer Widerstand unmöglich
geworden war, ließ er für das polnische Heer um Aufnahme in's
preußische Gebiet nachsuchen. Am 4. October langten drei pol-
nische Generale, Schutz suchend, daselbst an. Ihnen folgte Mit-
tags ein vierter, von Rybinski gesendet, mit einer Appellation,
„an die Tugend Sr. Majestät des Königs, die ihm Bürge sei,
daß man sie nicht zurückweisen werde." Am October rückten
die Unglücklichen, noch 24,0W Mann stark, mit fünfundneunzig
Kanonen über die Grenze und streckten das Gewehr vor dem
preußischen Generallieutenant von Zepelin bei Iastozembin, nach--
dem die Nachhut unter den Befehlen Dembinski's noch einen
verzweifelten Kampf mit den Russen gehabt hatte, welchen der
preußische General schlichtete. Die Anführer konnten nur mit
Mühe den Soldaten von den Gefahren eines nunmehr unnützen
Gefechtes losreißen. *) — Rybinski machte beim Eintritt in das
preußische Gebiet ein Manifest bekannt, worin er seine Hoffnun-
gen ausspricht ^ „Die Griechen, die Belgier und so viele andere
Völker sind immer der Gegenstand der Theilnahme von Seiten
der Souveraine gewesen, und können nicht aufhören, es zu sein;
werden die Polen die einzigen sein, denen ihre Obhut versagt wer-
den sollte? Nein, das Interesse der Nationen, das Bewußtsein
und die Würde der Fürsten erlauben es nicht, dies anzunehmen.
An Euch also, an die Stimmen Eurer Wölker wendet sich mit
Zuversicht die edle und unglückliche polnische Nation; sie beschwört
Euch im Namen Gottes, im Namen der Rechte der Völker, im
Namen der Menschheit, ihr Euren Schutz für die Erhaltung der
Nationalfreiheiten und für die Anordnungen, welche dem allge-
meinen Wohle, sowie dem der Polen angemessen sind, zu ge-
wahren!" —
Es blieben nun den Russen noch zwei Punkte zu nehmen
übrig, die, von aller Hoffnung verlassen, ebenfalls die Thore
öffnen und sich dem Sieger unterwerfen mußten: Modlin und
Zamosc. Modlin, wo Mangel an Munition und Lebensmittel
eingetreten war, ward genöthigt, zu capituliren; am v. October
ergab sich der tapfere Befehlshaber Ledochowski mit der 60i>!)
*) Von einem Infanterieregimente waren, als es die Waffen niederlegte,
nur noch zehn Mann übrig. Alle hatten den Schwur Mistet, sich
nicht gefangen zu gebe», und hatten ihn gehalten.
— 333 —
Mann starken Besatzung. „Sie verlange — hieß es in der Capitu-
lation — das Loos zu theileu, das ihren Waffenbrüdern, welche
der Würfel des Kriegs in die Gewalt der russischen Armee gege-
den, vorbehalten sei." Bald darauf, am I.November, ergab sich
die Garnison von Zamosc, auf Gnade und Ungnade.
Gleich nach Eroberung Warschaus war der zur Reorganisa-
Hon des ganzen Reichs beauftragte russische geheime Staatsrat!)
Engel daselbst angelangt. Zunächst war Wiederherstellung der
Ruhe und Ordnung das Ziel. Paskewitsch, den der Titel Fürst
von Warschau belohnte, ward Generalgouverneur des Reichs.
Eine gleiche Anzahl russischer und polnischer Beamten bildeten die
proviforifche Regierungsbehörde; natürlich, daß die Letzteren aus
der Mitte der Eddleute genommen waren, „welche sich durch
zuverlässiges Betragen und Treue der Gesinnung bekannt gemacht
hatten." Kraft der von dem Kaiser ausgesprochenen Ammestie
ward über die Anstifter und Theilnehmer der Rebellion kein To-
desurtheil gesprochen, sondern nur Gefangniß, sowie über die Aus-
gewanderten Güterverlust verhängt. Die Militairchess, wie Kru-
kowiecki, Ledochowski, Razivil, der Neffe Chlopicki's und Andere
wurden in's Innere Rußlands gesendet. Um jedem möglichen
Wiederkehr des Aufstandes vorzubeugen, mußten nothwendig die
Stoffe, aus denen er erwachsen war, entfernt werden. Demnach
ward nicht nur die vom Kaifer Alexander gestiftete Universität zu
Warschau, sMdern auch die altere zu Wilna ausgehoben, und die
seit dem Jahre 1816 bestandene polnische Verfassung erhielt durch
ein vom '26, Februar 1832 datirtes Statut eine veränderte Ge-
stalt. Es ward dem Königreiche Polen eine abgesonderte Verwal-
tung, unter der Oberaufsicht eines vom Kaiser ernannten Statt-
Halters, und der Nation Fortbestand aller den Unterthanen gefttz-
lich verwalteter Monarchien zukommenden Rechte der bürgerlichen
Freiheit, des Eigenthums und der Religionsübung zugesichert; der
Reichstag aber und die nationale Selbstständigkeit des Heeres
sollte nicht weiter bestehen, und Polen ward eine russische
Provinz mit einigen Eigentümlichkeiten der Verwaltung.
Die unglücklichen Freiheitskämpfer anlangend, so wurden die
sammtlichen Generale und Offiziere der auf preußisches und öster-
reichisches Gebiet übergegangenen Corps durch eine kaiserliche Ukase
für immer verbannt; den Unteroffizieren und Gemeinen ward straf-
lose Rückkehr in ihre Heimath gestattet. Die Meisten machten
— 334 —
von dieser Erlaubniß Gebrauch; einige Taufende aber widersetzten
sich den Anordnungen und mußten mit Gewalt zum Gehorsam
gebracht werden. Preußen, das ihnen bisher Gastfreundschaft
bewiesen, gewährte jetzt sowohl den Gemeinen, welche nicht in
ihre Heimath zurückkehren wollten, als den Offizieren, welche es
nicht durften, Unterstützung, um nach Frankreich, England und
Amerika zu gelangen. Bei ihrem Durchzuge durch Deutschland
wurden die Freiheitskampfer mit so begeisterter Theilnahme begrüßt,
daß bei Vielen ihr Martyrerthum Siegerstolz und Uebermuth
erzeugte. Auch in Frankreich und England ward ihnen günstiger,
ja, glänzender Empfang zu Theil; nichtsdestoweniger aber mach-
ten sie, als ihr Aufenthalt und die ihnen bewilligte Unterstützung
Dauer behielt, die alte Erfahrung, daß Unglückliche nicht lange
gern gesehen sind»
Revoktttwn in Bemmschweig.
Wahrend die wilden Revolutiongreuel über die Nachbarlander
sich ergossen, brachen unter dem Einflüsse dieser Vorgänge fast
auch in allen Staaten Deutschlands Bewegungen aus. Von die-
sen, auf deutschem Boden entstandenen Unruhen war die Revo-
lution in Braun schweig hinsichtlich ihrer Entstehung gewiß die
wohlbegründetste, in Rücksicht ihrer Ausführung aber nicht nur
die gräßlichste, fondern auch die folgenreichste. Der Herrscher
dieses Landes, Herzog Karl, ältester Sohn des bei Wavre
gefallenen, ritterlichen Herzogs Friedrich Wilhelm von Braun-
schweig-Oels, hatte sich durch Mißhelligkeiten mit seinem Groß-
oheim und gewesenen Vormund die Ungunst der großen Cabinette
zugezogen, noch mehr aber seine eigenen Unterthanen durch eine
willkürliche und gewaltsame Regierungsweise gegen sich aufge-
bracht. Karl fand beim Antritte seiner Regierung seine väterlichen
Erblande in einem blühenden Zustande, die Einwohner, Adel und
Bürgerschaft, in einem ruhigen Verkehre unter einander; allein
von Natur zum Argwohn und Mißtrauen geneigt, sah er überall
Spuren von demagogischen Umtrieben und glaubte diese vorzüglich
in seinen nächsten Umgebungen zu finden. Er traute Niemanden:
und achtete Niemand; in den ersten Dienern des Staats sah er
nur Knechte, die keinen andern Willen haben dürften, als den
ihres durch kein Gesetz gebundenen Herrschers. Daher gahrte
unter den höheren Standen, dem Adel und den vornehmsten Beam-
ten bald der bitterste Unmuth. Nicht minder unzufrieden waren
die Bürger Braunfchweigs gegen einen Herrn, der daheim ein
knickeriges Leben sührte und, was er verbrauchte, bei seinen viel-
faltigen Reisen nur das Ausland gewinnen ließ. Dabei wurden
alle Besoldungszulagen, selbst manche Wittwenpensionen gestri-
chen, notwendige Bauten eingestellt und für Forstcultur uichts
bewilligt, was zur Folge hatte, daß durch nothwendig gewordene
Beschränkung des Haushalts vieler Staatsdiener Tausenden der
gewohnte Erwerb entzogen war. Dadurch hatte sich der Unwille
bei allen Klassen der Residenzbewohner mit jedem Tage gesteigert,
als im Mai 1830 der Herzog eine Reise nach Paris antrat. —-
Wahrend seiner Abwesenheit wurden mehrere die Gerechtsame der
Unterthanen aufhebende Verfügungen getroffen, als die Nachricht
von der großen Julikatastrophe in Paris, einen neuen Hoff-
nungsstrahl über die Braunschweiger ergoß. Da der Herzog Au-
genzeuge der furchtbaren Volksjustiz gewesen war, so glaubte man,
daß dies eine heilsame Lehre für ihn könne geworden sein.
Herzog Karl aber, nachdem er zuerst aus Paris, dann aus
Brüssel vor den dasigen Revolutionen unter persönlicher Gefahr
geflohen war, kehrte nach Braunschweig zurück, ohne veränderten
Sinn mitzubringen. Er bedauerte seinen Namensvetter von Frank-
reich keineswegs, er maß ihm vielmehr selbst die Schuld seines Un-
glücks bei, da er mit sichernden Gewaltsmaßregeln gegen das
meuterische Volk auf halbem Wege sei stehen geblieben. Jedem
Ausbruche von dergleichen Anschlagen vorzubauen, war jetzt die
Hauptaufgabe. Darum ritt der Herzog nie aus, als mit scharf
geladenen Pistolen versehen, und befahl, sammtliche Beurlaubte
einzuberufen, alle Wachen zu verstarken, ihnen scharfe Patronen
zu geben und sechszehn Kanonen, jede mit dreißig Patronen vor
der Caserne aufzufahren. Durch solche Maßregeln, die den Grimm
des gemeinen Volks noch mehr aufreizten, beschleunigte der Her-
zog selbst den Ausbruch des Aufstandes. —
— 336 —
Am 16. September Abends versammelten sich in der Nahe
der Caserne dichte Volksgruppen, und man vernahm wiederholt
die Drohworte: „Willst Du Kanonen brauchen, das soll Dir
schlecht bekommen!" Die Haufen stürmten gegen Ende des
Schauspiels nach dem Schauspielhause und belagerten gleichsam
die Nebenthür, aus welcher der Herzog sich zu entfernen pflegte.
Unter den Eingeweihten, die ungeduldig die. Beendigung des
Schauspiels erwarteten und sich dicht um des Herzogs Wagen,
der hart an die Thür gefahren war, drängten, war Mord die
Losung. Karl aber, vielleicht von bösen Ahnungen ergriffen, oder
durch einen Wink seiner Getreuen gewarnt, verließ noch vor völ-
liger Beendigung das Schauspiel; die Wagenthür wird unerwar-
tet aufgerissen, und dein Herzoge gelingt es, schnell in den Wa-
gen zu springen und die Thür zuzuwerfen, wahrend sein Beglei-
ter, der Günstling Alloard, zurückgerissen wird. Wie rasend
hieb nun der Kutscher auf die Pferde; diese bäumten sich, wodurch
das Abschneiden der Strange verhindert ward, und rissen dann in
gestrecktem Galopp den Wagen fort. Die Massen stürzten hinter-
her und begleiteten den Wagen mit einem Steinhagel, der des-
sen Fenster zerschmetterte und den Herzog nöthigte, sich kniend
im Wagen niederzubücken, wahrend furchtbares Geschrei, unter-
mischt mit gellendem Pfeifen und dem Rufe: „Nieder mit dem
Herzog! Es sterbe der Tyrann!" den Verfolgten Todesangst
empfinden ließen. Glücklicher Weise rettete der besonnene Kutscher
seinen Herrn und jagte mit geschickter Wendung durch das offene
Schloßthor, welches augenblicklich nach der Durchfahrt zugewor-
fen ward. ■— Der Pobel kühlte nun seinen Grimm durch Zer-
trümmerung der Laternen und durch Fenstereinwerfen bei mehreren
öffentlichen Gebäuden. Nicht lange, so rückte die Infanterie aus
ihren Casernen auf den Schloßplatz; sechs Kanonen wurden dort
aufgefahren, und die Gardehusaren standen in Reserve; der Her-
zog aber hielt mit gezogenem Degen zu Pferde vor den Truppen»
Das Volk tobte in dichten Haufen vor dem geschlossenen Gitter,
dessen eines noch offenes Thor von einem starken Jnsanteriedeta-
fchement gedeckt war. Der Herzog sendete den General Herz-
berg ab, die Menge zur Ruhe zu ermahnen. „Hoch lebe Her-
zog Wilhelm (der jüngere Bruder des Regenten)! Arbeit! Land-
stände! Weg mit der Personalsteuer!" ward ihm, mit Flüchen
und Verwünschungen gegen den Herzog untermischt, zur Antwort.
— 337 -
gegeben. Der Erbitterte wollte hierauf mit Kartatschen unter die
Meuterer feuern lassen, was Herzberg jedoch abwendete, indem er
bemerklich machte, das; nur die Hufaren vorzufprengen brauchten,
um die Bolksmassen zu zerstreuen. Das geschah. Die Haufen
wichen zurück, und um Mitternacht war der Platz gereinigt.
Mittlerweile hatte sich der Magistratsdirector zum Herzoge
verfügt und auf schleunige Errichtung einer Bürgergarde, die man
aus dem Zeughause bewaffnen müsse, angetragen, damit die allen
Schutzes beraubten öffentlichen Gebäude gegen einen Angriff des
Pöbels konnten gesichert werden. Der Herzog bewilligte nach
einigem Bedenken die Bewaffnung der Bürger, jedoch nur mit
Piken und Säbeln und unter der Bedingung, daß keine Abthei-
lung derselben in der Nahe des Schlosses erscheinen solle. —
Noch vor Tagesanbruch wurden auf Befehl des Herzogs 3390
Pfund Pulver aus dem vor dem T-Hore gelegenen Pulvermagazin
nach der Aegidientirche geschafft, und in der Frühe ward den
Bewohnern der dein Schlosse gegenüberliegenden Hauser ange-
deutet, schleunigst aus den Woiderhauftrn ihre Mobilien und Ef-
fecten fortzuschaffen, da der Herzog entschlossen sei, jeden neuen
Auflauf mit Kartatschensalven zu empfangen; den dadurch an
den Hausern bewirkten Schaden wolle er vergüten, nicht aber
übrige Verluste berücksichtigen. Ein Branntweinbrenner, Namens
x Götte, drang in des Herzogs Zimmer und erwirkte durch ein-
leuchtende Gründe den Befehl zur Wegschaffung des Pulvers aus
der Kirche, und eine Deputation der Bürger, welche, zweimal
abgewiesen, endlich vorgelassen ward, erhielt den Bescheid, daß
die Kanonen in's Zeughaus zurückgebracht, den arbeitslosen Men-
schen Arbeit verschafft und eine Summe von 5000 Thalern zur
Bertheilung unter die armen unbeschäftigten Menschen angewiesen
werden sollte. Auf Zusammenberufung der Landstände aber und
Abstellung der Beschwerden wollte der Herzog durchaus nicht
eingehen; auch wiederholte er den Befehl, es folle kein bewaffne-
tes Bürgercorps in die Nahe des Schlosses kommen, er selbst wolle
den Sitz seiner Water schon vertheidigen, und nicht gleich Karl X.
von Frankreich halbe Maßregeln ergreifen. Diese Resolution des
Fürsten ward den Einwohnern durch eine Proclamation von Sei-
ten des Magistrats bekannt gemacht, und der Entschluß rascher
Selbsthülfe reifte dadurch schnell zur Ausführung. Man kannte
die dem Herzoge ungünstige Stimmung des größeren Theils des
N. G. IV. 22
— 338 —
Offiziercorps, sowie die Gesinnungen der unterm Gewehr stehen-
den Bürger; bei raschem Anlaufe war also kein bedeutender WidM-
stand zu fürchten. Alle Truppen waren auf dem Schloßplatze
zusammengedrängt, die Flügel des Schlosses durch nichts gedeckt,
und der Hintertheil desselben nur durch Ausstellung leichter Infan-
leite im Schloßgarten in etwas gesichert.
Am Abend des 7. Septembers, wo das Militair auf dem
Schloßplätze stand, wurden die Gitterthore fammtlich geschlossen.
Tauftnde von Menschen stürmten nach dem Schlosse, wo der Pö-
bel den in dem Eisengitter vor dem Schlosse hausig angebrachten
Namenszug des Herzogs zertrümmerte. Die Hauptmasse stürmte
nach dem am rechten Flügel mit dem Schlosse in Verbindung
stehenden Canzleigebaude, schlug dort die Fenster ein, erkletterte,
ohne Widerstand zu finden, die inneren Zimmer, sowie das Canz-
leiarchiv und steckte die daselbst aufgehäuften Actenstöße in Brands
während ein anderer Haufe einen Thorweg des Schloßgarrens
aussprengte. Jetzt floh der Herzog, ohne jedoch seinen Truppen
den Befehl züm Feuern gegeben zu haben. Der General Herzberg
aber hielt sich nicht für bevollmächtigt, das entscheidende Wort
auszusprechen, und befahl, mit Zustimmung der Offiziere, den
Truppen, sich zurückzuziehen, sobald sie, ohne zu schießen, den
andringenden Volksmassen nicht mehr würden Widerstand leisten
können. Wirklich war auch die Rettung des Schlosses unmöglich
geworden, nachdem der Herzog das leichte Bataillon zur Deckung
seiner Flucht mitgenommen und so dem Volke die nächsten Punkte
des Angriffs von der Gartenseite her Prus gegeben hatte. Das
Corps kam erst nach einer Stunde zurück, als schon Alles verlo-
reu war.
Der Herzog sah auf feiner Flucht sein Schloß in Flammen
stehen, die unausgehalten den ganzen rechten Flügel desselben
ergriffen hatten. Das Krachen der einstürzenden Wände, verbun-
den mit dem Geschrei der Lobenden Menge, durchtönte die Lust.
Ein Theil stürzte in die Weinkeller und berauschte sich; Mehrere
fanden dort unter den einschlagenden Trümmern ihren Tod. Mitt-
lerweile drangen verlarvte Personen in des Herzogs Zimmer, wo
sie sich wichtiger Briefschaften bemächtigten. Herzberg's Vorsicht,
durch starke, in's Innere des Schlosses gesendete Patrouillen das
Werthvollste den Plünderern zu entreißen, .hatte in so weit glückt:-
chen Erfolg, daß die Silberkammer und das Schatzgewölbe mit
— 339 —
sehr beträchtlichen Summen gerettet wurden. Die Wuth der
Flammen ergriff bald auch deö Schlosses herrliches Mittelgebaude.
Dem Feuer Einhalt zu thun mar unmöglich, da das Volk drohte,
die mit Hülfe der Bürgergarden herbeigebrachten Spritzen zu zer-
trümmern, und tausend Stimmen schrieen: „Das Schloß soll
brennen! Kein Stein darf auf dem andern bleiben! Rein wol-
len wir fegen das Höllmnest! Rettet die Bürgerhauser immer-
hin; wer aber den Wasserstrahl gegen das Schloß richtet, ist des
Todes!" — Unterdessen zogen Schaaren von Plünderern, mei-
stens Weiber und Kinder, beladen mit werthvollen Effecten, vom
Schlosse herab, und Niemand wagte es, sie aufzuhalten, noch
weniger, ihnen den Raub zu entreißen; was nicht fortgebracht
werden konnte, ward zerschlagen, zertrümmert. Auch wahrend
des folgenden Tags dauerte das Plündern fort; doch war die
wilde Wuth in so weir besänftigt, daß Feuerspritzen in den Schloß-
Hof durften gebracht werden, um einen Theil des linken Flügels
zu retten, wofür dem Pöbel erlaubt ward, das hinter jenem
Flügel gelegene Holzmagazin auszuräumen. Am nämlichen Tage
noch ward eine 1500 Mann starke Bürgergarde organisirt und
bewaffnet, die nun gemeinschaftlich mit dem Militair die Wachen
besetzte und in starken Patrouillen die Stadt durchzog. — Am
folgenden Tage ward eine Adresse an den Herzog Wilhelm ent-
worfen, die mit Hunderten von Unterschriften versehen, den Prin-
zen dringend nach Braunschweig, einlud. Ehe dieselbe uoch abge-
sendet werden konnte, war Herzog Wilhelm schon in dem Schlosse
Richmond eingetroffen (10. Sept. Morgens.) Durch seine An-
fünft ward der Sturm besänftigt. — ,
Gleich nach den vorgefallenen Greuelsceuen war ein Botschaf-
ter nach London geeilt, um dem englischen Hofe ausführlichen
Bericht von dem Hergange der Dinge in Braunschweig zu erstat-
ten. Auch der Herzog Karl hatte sich nach London begeben, wo
er am 16. October eine lange Audienz beim Könige hatte, und
worin ihm auf's Eindringlichste zugeredet ward, den obwaltenden
Umstanden nachzugeben. Er aber verlangte gegen Abtretung sei-
ner Souverainetätsrechte eine jährliche Abfindungssumme von bei-
nahe 400,000 Thaler. Als diese Forderung nicht bewilligt ward-,
verließ er am 9. November London und begab sich nach Frank-
surt. Von hier aus versuchte er durch Proclamationen mit
großen Verheißungen die Volksgunst wieder zu gewinnen Unter
I
— 340 —
anderm versprach er darin, alle nur mögliche Wünsche seiner Un-
terthanen erfüllen und diese Wünsche von frei aus der Braun-
schweizer Mitte erwählten Vertretern entgegen nehmen zu wollen.
Er verhieß ferner die Ablösung fämmtlicher Zehnten und Herren-
dunste, ja, sogar die Befreiung aller zur ärmeren Volksklasse ge-
hörenden Familien von Abgaben und Steuern. Die Confcription
sollte aufgehoben, und eine Vertretung der Unterthanen durch frei
nach der Kopfzahl gewählte Männer zugestanden, sein k. k.
Allein der Herzog hatte durch sein früheres Betragen das Ver-
trauen seiner Unterthanen so ganzlich von sich abgewendet, daß
man nicht geneigt war, an die Wahrheit und Aufrichtigkeit dieser
Verheißungen zu glauben.
In der Hoffnung aber, daß ein Theil der Einwohner sich
für ihn erklaren werde, sobald er sich persönlich zeige, ließ er zu-
erst durch Emissciire das arme und unwissende Volk in den Harz-
und Weferdistricten zu einer Contrerevolution vorbereiten und traf
dann selbst, nur von zwei Dienern begleitet, auf der Grenze des
Herzogthums in Nord hausen ein. Von hier fuhr er nach dem
preußischen Städtchen Ellrich, wo sich bald um ihn ein Hausen
benachbarter Hüttenarbeiter des Harzes versammelten, denen sich
viele Neugierige aus der Nachbarschaft beigesellten. Erstere wur-
den mit Branntwein bewirthet. Von ihnen begleitet, rückte der
Herzog am folgenden Tage weiter vor, bis er auf ein Braun-
schweizer Iagerdetaschement stieß, welches man gegen ihn ausgesendet.
Sobald dieses Miene machte, sich seinem weiteren Vordringen ernst-
lich zu widersetzen, kehrte er wieder um, und das Volk lief aus-
einander. Abends um neun Uhr am 30. November traf er wie-
der in Nordhausen ein, von wo er sogleich mit frischen Pferden
weiter nach Osterrode fuhr. Hier entstand, sobald seine An-
kunft bekannt ward, eine Zusammenrottung des Volkes, die
den für sein Leben besorgten Fürsten dermaßen in Schrecken setzte,
daß er sich durch einen Sprung aus dem Fenster des zweiten
Stockes auf die Straße rettete und, seinen Wagen im Stiche las-
send, seine Flucht durch den Harzwald zu Fuße bis Nord heim
fortsetzte, von wo er in einem Miethwagen nach Mainz eilte.
Herzog Wilhelm hatte inzwischen vorläufig die Regierung
übernommen, hatte Erleichterung einiger der drückendsten Volksla-
stou zugesagt und die verhaßteste der Steuern, die Personalsteuer,
sofort um ein Bedeutendes gemildert. — Am 2. December 1830
— 341 —
erklarte ein Beschluß der deutschen Bundesversammlung zu Frank-
furt den Herzog Karl für unbefugt zu weiterer Ausübung der
Regierungsrechte und forderte die Agnaten auf, zur Sicherstellung
der Nuhe und Ordnung im Herzogthum Braunschweig diese Rechte
dem Herzog Wilhelm zu übertragen; am 20. April des folgen-
den Jahres ward den Unterthanen des Herzogthums bekannt
gemacht, daß bei der Regierungsunfahigkeit des Herzogs Karl
die Regierung mit allen verfassungsmäßigen Rechten und Pflich-
ten dem Herzog Wilhelm übertragen sei. In einer Proclamat'ion
des neuen Landesherrn an sein Volk hieß es unter anderm: „Mein
Wunsch, euch für die Zukunft zu beruhigen, ist erreicht, und das
Band geknüpft, das mich mit euch, geliebte Unterthanen, unauf-
löslich verbindet. Möge die Vorsehung die Stunde segnen, die
mich zu der Regierung meiner Vater beruft; möge eure Wohlfahrt,
meines Herzens lebendigste Hoffnung, stets wachsend empor blü-
heu." Am 23. April 1831 geschah die Erbhuldigung der Bür-
ger Braunschweigs, von feierlichem Gesänge, Kanonendonner und
Glockengelaute begleitet. In allen Landstädten und Pfarrdörfern
ward diese Ceremonie sehr zweckdienlich mit religiösen Anreden
von Seiten der Prediger begangen, wobei sich nicht selten sehr
cigenthümliche Rednertalente vernehmen ließen.*)
Sonach war die Revolution in Braunschweig, die nicht nur
einen Wechsel des Oberhauptes der Regierung, sondern auch eine
wesentliche Verbesserung in der Form desselben hervorgebracht, ohne
alle Gewaltmaßregeln wieder beschwichtigt worden. Gleichwohl
wurden noch Verschwörungspläne entdeckt, die aus eine Nestaura-
tion der Willkürherrschaft abzweckten. Die Fäden eines jener sin-
stern Komplotte vermuthete man in den Händen einer Grasin
Weisberg, welche schon einmal wegen ihrer gefahrlichen Um-
triebe eingezogen, dann aus dem Lande verwiesen war. Sie hatte
seit kurzem ihren Wohnsitz zu Wahrenholz im hannoverschen
Amte Gifhorn genommen, wo sie, wie man glaubte, in ver-
dächtigem Briefwechsel mit dem vertriebenen Herzog Karl stand.
Einer ihrer Agenten gab endlich die gewünschte Auskunft, indem
*) Ein alter, bereits geistesstumpfer Landprediger begann unter andere»
seine Rede mit der glänzenden Phrase: „Ihr sehet nun, geliebte Freunde,
daß der liebe Gott keine Stull mehr sein will. Er hat ja den bösen Her-
zog Karl weggejagt ic
I
— 342 —
er Briefe der Gräfin vorzeigte, welche nicht nur die Regierung
über ihre verbrecherischen Absichten aufklärte, sondern auch die
Haupttheilnehmer an denselben bezeichneten. Jetzt war Grund
genug vorhanden, sie mit Zustimmung der hannoverschen Regie-
rung festzunehmen und sich ihrer Papiere zu versichern. Ein Po-
lizciagent begab sich nach Gifhorn, requirirte die Hülse des dorti-
gen königlichen Amtes, und so ward um Mitternacht die Grasin,
noch ehe sie Zeit gewann, ihre Papiere zu vernichten, zur gesang-
lichen Hast gebracht. In den vorgefundenen Briefschaften fand
man den Zusammenhang der Verschwörung, sowie auch deren
Zweck und die Mittel zur Erreichung desselben nachgewiesen. Die
darin namhaft gemachten Mitwisser des Planes wurden sofort
eingezogen. Unterdessen hatte die schöne Grasin in stiller Nacht
mittelst zerschnittener und zusammengeknüpfter Betttücher sich aus
dem Fenster ihres Gefängnisses herabgelassen und schien spurlos
verschwunden zu sein. Auf die Habhaftwerdung derselben ward
ein Preis von tausend Thaler gesetzt. Einen Müller zu Weis-
senb erg, bei dem die Flüchtige auf ihrer nächtlichen Wanderung,
erschöpft bis zum Tode, Unterkommen gesucht und gegen große
Versprechungen gefunden hatte, lockte der hohe Preis des Ver-
raths (nach Andern ward der Versteck durch ein junges Madchen
entdeckt). Die Gräfin ward auf jener Mühle festgenommen und
den 5. Mai 1832 am hellen Mittage unter großem Getümmel und
Volkszulaufe, in einem zurückgeschlagenen Wagen, unter schrecklicher
Todesangst, wegen des den Wagen umtobenden Pöbels, auf
dem längsten Wege durch die Stadt in's Gefangniß gebracht.
Desto geräuschloser aber ward es spater wieder von ihr ver-
lassen.
343 —
Freiheitskampf tttt& Staatenbiwnng im
spanischen Amerika uuh in
Westindien.
Als eine der wichtigsten Begebenheiten der neueren Zeit
erscheint der Abfall Amerika's von der spanischen Herrschast, das
sich, gleich Brasilien, zu neuen, unabhängigen Staaten bildete,
— Dieses spanische Amerika bestand um jene Zeit aus vier SStca*
Königreichen: Neuspanien oder Mexico, Neugranada,
Peru und Buenos-Ayres oder Rio de la Plata, und fünf
General-Hauptmannschasten: Guatemala, Venezuela, Chili,
Havanna, oder Euba, und Porto-Riko. Auf einer Quadrat-
flache, welche Europa an Ausdehnung weit übertrifft, wohn-ten
ungefähr siebenzehn Millionen Menschen. Ein Fünftheil derselben
waren Spanier und Creolen (dort von spanischen Eltern Gebore-
ne),.zwei Fünftheile Mestizen und Mulatten (von spanischen Vä-
tern mit Amerikanerinnen oder Negerinnen Erzeugte), drei Zehn-
theile Ureinwohner oder Indianer, ein Zehntheil bestand aus Ne-
gern. Nach den Gesetzen der Zwangherrschast, welche die spani-
sche Regierung namentlich in Handelssachen und Srellenbefetzung
übte, wurden nur von den im Mutterlande Geborenen und nach
Amerika gekommenen Spaniern Staatsamter bekleidet; alle übri-
gen Einwohner hielt das Mißtrauen der Regierung von demselben
entfernt. Die ganze Verfassung, welche Spanien diesen weit aus-
gedehnten Colonial-Neichen gegeben hatte, war auf ein stilles,
dem Zusammenhange mit den übrigen Nationen möglichst entzöge-
nes Dasein angelegt. Eifrig wachte das Mutterland über den
Schranken, durch welche Amerika den Einflüssen des europaischen
Treibens entrückt war. Der unmittelbare Handel der Provinzen
mit fremden Völkern war ganzlich verboten, selbst ihr Handel
unter einander auf wenige Gegenstande oder Schiffe beschrankt,
beides zu Gunsten des Handels mit Spanien und der Einfuhr
spanischer Erzeugnisse und Waaren. Indeß genoß in dieser Be-
schranktheit der Welttheil einer mehr denn dreihundertjährigen
Ruhe, bis endlich das durch immer stärkeren Druck aufgeregte
Selbstgefühl der Amerikaner, besonders der Kreolen, Plane neuer
— 344 —
Staatsschöpfung faßte und Alles daran setzte, sie zu verwirk-
lichen.
Schon seit dem nordamerikanischen Kriege und dem Entstehen
der französischen Revolution waren Freiheitsideen in die spanischen
Kolonien eingedrungen, weshalb auch die spanische Negierung
mißtrauischer und härter wurde; doch blieben diese Colonien bis
zum Jahre 1808 im Ganzen ruhig. Anders aber ward es nach
dem Bayonner Vertrage, der die Bourbons vom spanischen Throne
verwies. Nun, sich selbst überlassen, singen sie an, unter dem
Scheine treuer Ergebenheit gegen ihren zeitherigen Herrscherstamm
selbstständig zu handeln. Nach dem Beispiele der spanischen Cor-
tes vertrieben sie die vom König Joseph bestellten Statthalter und
errichteten Junta's, welche im Namen Ferdinands VII. regieren
sollten. Begreiflicher Weise forderten nun, als die Cortes in
Cadix eine neue Verfassung für die ganze spanische Monarchie
ausarbeitete, die Amerikaner Gleichstellung ihrer Rechte mit dem
Mutterlande. Doch eben die spanischen Cortes, die für National-
freiheit kämpften, verdammten das Aufstreben der Amerikaner
als Aufruhr. Nach ihren selbstsüchtigen Ansichten verfiel, wenn
Amerika selbständig ward, der vorteilhafte Handel, welchen
das Mutterland bis dahin für dasselbe getrieben hatte, und sie
suchten den sogenannten Aufruhr durch Truppensendungen zu un-
terdrücken. Die Folge' war, daß sich der längst genährte Gab-
rungsstoff zu einem Freiheitskriege entzündete (1810). — König
Ferdinand war nach seiner Wiedereinsetzung nicht geneigt, die Co-
lernten durch Gewährung ihrer billigen Wünsche für sich zu gc-
Winnen. Er befahl Niederlegung der Waffen und unbedingte Un-
terwerfung unter seine königliche Gnade. Für Alles, was wäh-
rend seiner Abwesenheit geschehen sei, sollte um diesen Preis Ver-
zeihung gewahrt werden. Allein das Schicksal, welches den Mit-
gliedern der spanischen Cortes widerfuhr, wäre für die Urheber und
Theilnehmer des amerikanischen Aufstaudcs nicht einladend gewe-
sen, Ferdinands Anerbieten anzunehmen, selbst wenn sie nichts wei-
ter als Gnade begehrt hätten; sie aber verlangten von dem
Könige dasselbe, was sie von den Cortes gefordert hatten. Dies
ward zurückgewiesen; ganzliche Unabhängigkeit vom Mutter-
lande ward nun das Losungswort der vormals von Spanien bc-
herrschten Amerikaner, und ein Krieg auf Tod und Leben begann.
345 —
Die Provinzen in Südamerika am la Plata- Strome waren die
ersten, welche zum Ziele gelangten. Zu Buenos-Ayres, der
Hauptstadt, hatte sich schon im Jahre 1866, als die Englander,
damals im Kriege mit Spanien, diese Stadt eingenommen, aber
auch wieder verloren hatten, eine Gesellschaft von Freiheitssreun-
den gebildet. Dieser gelang es im Jahre 1810, den spanischen
Vicekönig Cisneros abzusetzen, (an dessen Stelle eine Negierungs-
junta errichtet ward), auch Montevideo aufzuregen und den
Aufstand über die ganze Provinz zu verbreiten, vergebens kämpf-
ten gegen sie die spanischen Truppen, welche zu Buenos-Ayres
und Montevideo lagen; auch die, welche von Ober-Peru herbei-
rückten, wurden zurückgeschlagen, und schon am 9. Juli 1816
ward in der Hauptstadt die Vereinigung und Selbstständigkeit
der Lander am Rio de la Plata feierlich ausgesprochen. Erde und
Menschen wurden zu Zeugen angerufen, daß alle Bande, welche die-
ses Land vormals mit Spaniens Königen vereinigt hatten, für
immer zerrissen seien. Derjenige, der sich um Stiftung dieses
Freistaates das meiste Verdienst erworben hatte, Martin de
Pugredon, ward zum ersten Oberdirector desselben ernannt.
Drei Jahre nachher, im Juni 1819, legte derselbe diesen Posten
nieder und überließ den jungen Staat furchtbaren Stürmen inne-
rer Parteienzwiste, die jedoch so wenig, als die auswärtigen
langen Kämpfe mit dem benachbarten Brasilien die Kraft dessel-
ben zu brechen vermochten.
Gern hatte der neue Freistaat auch das angrenzende, sonst
zur Provinz la Plata gehörige Paraguay an sich gezogen;
aber dies gelang nicht. Denn hier hatte sich in dem Kopfe eines
ausgezeichneten Mannes der Entwurf einer neuen, von den An-
sichten des Jahrhunderts weit abweichenden, eigentümlichen
Staatsschöpfung gebildet, dessen Verwirklichung ihm auch gelun-
gen war. Doctor Gasparo .Francia, (geb. 1763), erst
Theolog, dann Advocat und Secretair der Provinzialregierung,
ein durch Gelehrsamkeit und Tugend in der Achtung seiner Mit-
bürger hochgestellter Mann, verstand es, Paraguay sich zu
unterwerfen, gegen Angriffe zu vertheidigen und von allem Wer-
kehre mit andern Landern abzusondern. Als nach der Losreißung
von Spanien ider Kampf zweier Parteien Zerrüttung drohete,
ward Francia von einer notabeln Versammlung zuerst gemein-
schaftlich mit seinem Nebenbuhler, dann allein an die Spitze der
— 346 —
Verwaltung gestellt; ohne Aufwand und Geprange vermehrte er,
durch rastlose Wirksamkeit und überall thatiges Eingreifen, sein An-
sehen bis zu der Verehrung, deren die alten Gesetzgeber genossen
hatten, seine Anusbefugnisse bis zur Gewalt eiues Dictators.
Eine neue Gesetzgebung ward auf alte Gewohnheiten und Rechte
gegründet, und die Rechtspflege streng beaufsichtigt. Sowie er
den Aufforderungen der Republik des Rio de la Plata, sich an
sie anzuschließen, kein Gehör gab, so verwarf er auch die Antrage
des Kaisers von Brasilien, Paraguay unter seinen Schutz zu
stellen. Die Grenzen seines Staates schloß er allen Fremden.
Artigas, ein Kriegshauptling aus dem benachbarten Freistaate,
der in Folge dort erregter Unruhen nach Paraguay geflohen war,
ward, trotz seiner früheren Freundschaft mit dem Dictator, sestge-
nommen und bis an seinen Tod in einem Kloster verpflegt. Der
Reisende Bonpland mußte, nachdem er 1821 Paraguay betre-
ten hatte, daselbst viele Jahre als Gefangener zubringen.
Schwieriger war der Kampf an der Nordküste Südamerikas
in dem ehemaligen Königreich Neugranada und der General-
Hauptmannschaft Venezuela; denn diese Lander waren von
einer großen Zahl spanischer Truppen besetzt, standen in lebhaftem
Verkehre mit Spanien und konnten daher leichter von denselben
in Gehorsam gehalten werden. Der erste Aufstand daselbst ward
nach einem furchtbaren Erdbeben, welches am grünen Donnerstag
1812 die Hauptstadt Karakas fast ganz zerstörte und in Va-
lencia an 20,000 Menschen das Leben kostete, unterdrückt.
Bei der Mutlosigkeit, welche durch dieses schreckliche Naturereig-
niß, das Vielen als ein Gottesgericht galt, herbeigeführt ward,
gelang es den Spaniern, unter dem General Monteverde diese
Lander wieder zu erobern. Allein die Grausamkeit, mit welcher
die Spanier den Aufstand rächten, um den andern Provinzen ein
schreckendes Beispiel zu geben, brachte das erstickte Feuer von
neuem zum Ausbruche. In der Provinz Cumana erhob ein
kühner Jüngling, Marino, mit wenigen Genossen die Fahne des
Aufstandes, und in dem benachbarten Neugranada trat an die
Spitze der Freiheitsfreunde ein talentvoller, entschlossener und
rastlos thatiger Mann, der glücklich durchführte, was unglücklich
begonnen hatte.
Simon Bolivar, ein Kreole (geb. zu Karakas 1783),
Sprößling eines reichen und angesehenen Hauses, der sich auf
347 —
Reisen in Europa und Nordamerika Kenntnisse der Künste und
Verhältnisse dieser Erdtheile erworben, und durch Napoleons Tha-
ten und Ausschwung zu großen Unternehmungen befeuert war,
hatte der Republik in den ersten Jahren gedient, und jetzt eine
Schaar von liW Mann versammelt, Rache für die Hingerichteten
Patrioten zu nehmen. Durch Tausende von Unzufriedenen begrüßt
und verstärkt, schlug er den spanischen Feldherrn, eroberte Kara-
kas und Puerto -Cabello und ward Präsident der Republik Nene-
zuela (1813.) Er konnte sich jedoch nicht behaupten. Im Som-
mer des Jahres 1814 ward er zu eben der Zeit, als die Nach-
richt von Ferdinands Rückkehr auf den spanischen Thron in Ame-
rika erscholl, bei La Puerta geschlagen. Diejenigen seiner Mit-
streiter, die in die Hände der Spanier fielen, unter ihnen einer
der tapfersten, Rivas, wurden erschossen, er selbst entfloh mit
einigen Gefährten nach Cartagena; doch gegen Ende dieses
Jahres erstürmte er die Hauptstadt Neugranada's, Santa Fe
de Bogota, worauf ihn Neugranada zum Generalcapitain
ernannte. Neues Unglück traf ihn im Jahre 1813, als der spa-
tusche General Morillo im April mit Ii),WO Mann Kerntrup-
Pen aus dem Mutterlande in Venezuela erschien. Dieser, ein
General von niederer Herkunft, der sich im Kriege gegen Frank-
reich empor gebracht hatte, schien sich den Herzog von Alba, wie
er uns aus der Geschichte des niederländischen Krieges bekannt
ist, zum Muster gewählt zu haben. Er war der Meinung, daß
das Henkerschwert das beste Heilmittel gegen Revolutionen sei.
Allein auch ihn sollte der Erfolg von der Falschheit dieses Grund-
satzes überzeugen.
Von Venezuela, was nach Bolivars Flucht sich leicht zum
Ziele legte, wendete sich Morillo gegen Neugranada. Vor ihm
mußte Bolivar nach Jamaica, dann weiter nach Domingo
entweichen. Im December besetzte Morillo Cartagena, und im
Juni des folgenden Jahres bemächtigte er sich der Hauptstadt
Bogota. Aber während hier das Blut der Patrioten floß, sam-
melten sich in den waldigen Ebenen am Orinoko die Trümmer
des Heeres aus Venezuela und alle diejenigen, welche den Hen-
kern Morillo's entkamen. Zahlreiche Haufen Guerilla's unter
tapferen Anführern, führten denselben Krieg gegen die Spanier-
in Amerika, den diese einst in Spanien gegen die Franzosen ge-
führt hatten. Inzwischen zog Bolivar zu Domingo Truppen an
— 348 —
sich und kam plötzlich mit einem kleinen Geschwader zurück, wel-
ches er mit Hülfe einiger reichen Venezuelaner ausgerüstet und
unterwegs durch Wegnahme einiger spanischen Schiffe verstärkt
hatte. Er bemächtigte sich der Insel M a g a r i t h a (im Mai 1816)
und eröffnete sich dadurch den Weg zur Befreiung Venezuelas
und Neugranada's. Unterstützt von den Englandern und von der
Klugheit und Tapferkeit seiner Generale, unter denen sich Paez,
ein ehemaliger Hirte, und Santender auszeichneten, entschied
er nach schwerem Kampfe das Uebergewicht der Republikaner über
die Spanier. Angostura, die größte Stadt an den Ufern des
Orinoko, öffnete ihnen die Thore und gab den Besitz dieses gewal-
tigen Flusses und des Landes, welches er, fast dreihundert Meilen
weit schiffbar, durchströmt, in ihre Hände, wodurch dem Feinde
seine Zufuhren abgeschnitten wurden. Der Friede in Europa
rekrutirte mit Veteranen die Heere der Freiheitskampfer, und ent-
lassene Matrosen traten zahlreich in ihre Dienste. — Aber auch
Morillo sammelte neue Kräfte. Um Magaritha, den Schlüssel
der Verbindung des Feindes mit dem Auslande, wiederzugewin-
nen , landete er im Juli 1817 auf dieser Insel. Der Widerstand
der Belagerten war verzweifelt; sie wußten, daß Ergebung der
sichere Weg zu schimpflichem Tode sei, und nach zweimonatlicher
Belagerung mußte Morillo dem Unternehmen entsagen. Seitdem
wechselte noch einigemal das Kriegsglück. Auch die Venezuelaner
erhoben sich gleichzeitig wieder, und keiner der Vortheile, welche
die Spanier noch hin und wieder erfochten, konnte den Verfall
ihrer Angelegenheiten aufhalten. Am 15. Februar 1819 ward zu
Angostura ein General-Congreß von Venezuela eröffnet, und Bo-
livar als Oberdirector des Staates bestätigt. Ein Sieg, den er
am 7. August desselben Jahres bei Bojara über die Spanier
erfocht, hatte die Folge, daß der.Vieekönig Samano mit allen
spanischen Beamten die Hauptstadt Santa Fe de Bogota verließ,
und Bolivar am 1t). August in dieselbe einzog. Am 17. Decem-
der 1819 verkündigte der Congreß zn Angostura, daß die beiden
Republiken Venezuela und Neugranada sich zu einem Freistaate
unter dem Namen Columbia vereinigen würden; daß derselbe aus
drei Theilen: Venezuela, Quito und Cundinamarea, mit drei
Hauptstädten: Karakas, Quito und Bogota, bestehen, außer
denselben aber noch ctnc gemeinsame, erst zu erbauende Haupt-
ftadt bekommen, und daß diese den Namen Bolivar führen solle.
— 349 —
Um diese Zeit war es, daß in Kadix die Abscndung der
neuen großen Expeditionsarmee zur Verstärkung Morillo's betrie-
den ward, welche aber, durch die von ihr bewirkte Revolution des
Mutterlandes, die Kräfte Spaniens ganzlich von Amerika abzog.
Morillo handelte nun um Stillstand und Frieden, indem er ver-
hieß, daß nächstens Commissarien aus Spanien 'ankommen und
die Verhaltnisse Amerika's mit dem Mutterlande auf das Freund-
schaftlichste in Ordnung bringen würden. Am 25. November 1820
ward der Waffenstillstand zu Truxillo geschlossen. Zu Santa-
Marta umarmten sich Bolivar und Morillo im Angesichte ihrer
versammelten Heere, schliefen wahrend der Nacht in einem Zhn-
mer und gelobten einander, im Fall der Friede nicht zu Stande
käme, menschliche Führung des Kriegs und Schonung des Lebens
der Gefangenen. Bald darauf, im December 1820, kehrte Mo-
rillo , von den Cortes abgerufen, nach Europa zurück. Zwei
columbische Abgeordnete begleiteten ihn, tun die Unterhandlungen
mit Spanien anzuknüpfen. Allein die damals herrschenden Cor-
tes von Madrid waren eben so wenig, als vormals die Cortes
von Kadix, geneigt, die Selbstständigkeit Amerika's anzuerkennen.
Morillo ward durch einen französischen Ueberlaufer, La Torre,
ersetzt, der mit weniger Gewandtheit das System seines Vorgan-
gcrs fortsetzte, bis dieses zur ganzlichen Vernichtung der spani-
schen Herrschaft auf dem Continente führte. Der Krieg zwischen
den Spaniern, unter La Torre, und den Republikanern, unter Bo-
livar und Paez, begann daher zu Anfange des Mai 1821 von
neuem, und die Spanier mußten nach ihrer Niederlage bei Cara-
bobo (den 24. Juni 1821) ganz Venezuela und Neugranada
räumen.
Nachdem auf solche Weise die Revolution am La Plata und
in Columbia gelungen war, wurden den Spaniern auch die übri-
gen Bestandteile in Südamerika entrissen. Im April 1822 zog
Bolivar gegen Quito und befreite es (24. Mai), wodurch er
sich den Zugang nach Peru eröffnete. Hier hatten schon der Ge-
neral der La-Plata-Republik, San Martin, der einige Jahre
früher Chili befreit, und ein englischer Seeoffizier, Lord Coch-
rane, (der wegen Ausbreitung falscher Gerüchte, zum Vortheile
seines Handels mit Staatspapieren, in England zu einer beschim-
pfenden Strafe war verurtheilt worden und jetzt als Admiral im
Dienste der Republik Chili stand) ihm vorgearbeitet. Cochrane
— 350
hatte im August 1S20 eine Expeditionsarmee, welche San Mar-
tin tlmls aus europäischen Abenteuerern, theils aus Bewohnern
von Chili und der La-Platza-Staaten versammelt hatte, im Ha-
fen von Pisco an's Land gesetzt; während San Martin das
Innere des Landes unterwarf, hielt Cochrane mit seinen Schiffen
die Seemacht der Spanier von den Küsten Peru's und Chili's
entfernt, also, daß von der Seeseite her nichts zu befürchten sei.
Im Juli 382! sah sich der spanische Vicekömg Laserna genö-
thigt, mit seinen Truppen Lima, die Hauptstadt Peru's, zu ver-
lassen, und am 15. hielt San Martin daselbst seinen triumphiren-
den Einzug. Bald darauf ward er zum Protcctor der neuen Re-
publik Peru ernannt. Er hielt die Hartesten Maßregeln für die
zweckdienstlichsten Mittel zur Begründung des jugendlichen Frei-
staats. So wurden zuerst alle unverheirateten, dann auch alle
verheiratheteu Spanier aus Lima vertrieben. Jedoch war die
spanische Macht in Peru keineswegs vernichtet, und im Einver-
standnisp mit San Martin rückte Bolivar daselbst ein (Juli
1822.) Eine Zusammenkunft, welche beide Feldherren zusammen
hatten, verbreitete' das Gerücht, Pern solle mit Columbien verei-
nigt werden. Dies setzte das auf seine Unabhängigkeit eiferfüch-
tige Volk von Lima so in Wuth, daß es den Palast des abwe-
senden Protectors zerstörte. Eine Niederlage, welche bald darauf
seine Truppen von den Spaniern erlitten, stürzte sein Ansehen
ganzlich. In der Ueberzeugung, daß er sich nicht behaupten könne,
legte er im September 1822 sein Protectorat nieder und kehrte
nach Chili zurück. Inzwischen erreichte Bolivar nach mehreren
Siegen am 1. September 1823 Lima, wo er vom Kongresse und
vom Volke als Befreier empfangen und am 19. Februar
1824 zum Dictator Peru's ernannt ward. Zwar nöthigte ihn ein
Ausstand der spanischen Partei, am 27. Februar aus Lima zu
entweichen, doch verlor er den Muth nicht. Unter dem Titel:
„Der Befreier" erließ er aus seinem Hauptquartiere, Truxillo,
organisirende Verfügungen, welche von seiner Zuversicht, die Ne-
publik zu erhalten, unverkennbar zeugten. Nach mancherlei Hin-
und Herzügen eröffnete er sich die Straße nach Lima, wahrend
sein Feldherr, Sucre, den Entscheidungssieg bei Ayacucho erfocht.
Die Spanier wurden völlig geschlagen, Laserna selbst ward gesan-
gen, und seine Unterfeldherren genöthigt, mit dem Neste ihrer Trup-
pen das Land zu räumen. — Hierauf ward auch Oberperu,
— 351 —
mit der Hauptstadt Potasi, den Spaniern entrissen (April 1825.)
Doch wollte dieses Land weder mit Peru, noch mit La Plata sich
vereinigen; vielmehr behauptete es seine Selbstständigkeit und
erklärte sich am 6. August zu einem souverainen Freistaat, der
zu Ehren seines Befreiers den Namen Bolivia annahm, dessen
Hauptstadt aber ihren bisherigen Namen mit dem des General
Sucre, des Siegers von Ayacucho, vertauschen mußte.
Nachdem Bolivar die Verfassung des neuen Freistaates ent-
werfen und den General Sucre zum Präsidenten desselben bestellt
hatte, begab er sich nach Lima, bei den Sitzungen des dortigen
Congresses den Vorsitz zu führen. Die Strenge, mit welcher er
hier an zwei vornehmen Staatsverrathern ein gegen sie gefälltes
Todesurtheil vollziehen ließ, verbreitete den Haß, welchen die An-
Hanger einer ihm feindlichen Partei gegen ihn trugen, über einen
weiteren Kreis. Schon begann man von der Unertraglichkeit des
columbischen Joches, wie vormals von der des spanischen zu reden.
Inzwischen veranstaltete Bolivar einen Congreß zu Panama, auf
der Landenge Darien, um die neuen Republiken Südamerika'^,
La Plata, Chili, Bolivia, Peru, Columbia, Guatemala und
Mexico, zu einem Staatenbunde, gleich dem nordamerikanischen,
zu vereinigen und sich (wie seine Gegner sagen) zum Dictator von
ganz Südamerika ernennen zu lassen. Wirklich brachte er auch
diesen Congreß zu Stande (im Juni 1826), aber nicht die
Plane, die ihm bei dessen Veranstaltung mochten vorgeschwebt
haben. Die peruanische Partei, die in ihm nicht mehr den Be-
freier, sondern den Unterdrücker erblickte, hatte im Stillen
seinen Sturz beschlossen. Arn 25. Juli, am Tage der Unabhan-
gigkeitsfcier, sollte er im Schauspielhause verhaftet und im Noth-
falle ermordet werden. Aber der Plan ward rechtzeitig angezeigt,
und an dem Tage, der zur Ausführung angesetzt war, befanden
sich die Urheber und Theilnehmer im Gefangnisse. Einige von ihnen
entzogen sich der Strafe durch Selbstmord, andere erlitten die-
selbe durch die Kugel. Der Befreier aber ward, wie einst Bona-
parte, in Folge der Georgischen Verschwörung zum lebenslang!!-
chen Präsidenten von Peru ernannt.
Wahrend der langen Anwesenheit Bolivars in Peru war in
Venezuela ein Aufstand ausgebrochen, der die Losreißung dieses
Staates von Columbien bezweckte. Es war daher hohe Zeit, daß
der Befreier in sein Vaterland zurückkehrte. Im November 1826
— 352 —
erschien er in Bogota. Er stellte bald die Ordnung wieder her
und zog am 10. Januar TS27 als Präsident von Venezuela in
die Thore von Karakas in einem festlichen Aufzuge ein. Tausende
von Stimmen begrüßten ihn als den Gott des Vaterlandes, als
Schutzengel, als Vater. Allein ganz unerwartet ward wenige
Wochen darauf in Lima die von ihm zurückgelassene Regierung
durch eine dort ausgebrochene Verschwörung gestürzt, die Unab-
hangigkeit Peru's proelamirt und ein selbststandiger Präsident an
die Spitze des Staates gestellt. Die benachbarte Republik Boli-
via folgte diesem Beispiele, und sagte sich von Bolivar los, und die-
ser mußte im September 1827 die Unabhängigkeit beider Freistaa-
ten anerkennen. In Columbien schwächte dieser Vorgang das An-
sehen deS Befreiers und schien zur Nachahmung zu reizen.
Gereizt durch die gegen ihn in Wirksamkeit gesetzten- Umtriebe,
sendete Bolivar von Karakas aus dem Congreffe die Erklärung
zu, daß er seinem Posten entsage. „Eifrige Republikaner — so
hieß es darin — blicken mit geheimer Furcht auf mich hin, da
die Weltgeschichte ihnen sagt, daß Alle, welche sich in meiner
Lage befunden, ehrgeizig gewesen. Vergebens suche ich mich durch
Washingtons Beispiel zu rechtfertigen; einige wenige Ausnahmen
vermögen nichts gegen die Erfahrung einer ganzen Welt, welche
immer von dem Machtigen unterdrückt worden ist. Die Besorg-
nisse meiner Mitbürger und das Urtheil, welches ich von der Nach-
welt erwarte, stehen in einem Widerspruche, der mich krankt.
Meine Mitbürger von der Sorge zu befreien und mir nach mei-
nein Tode ein meiner würdiges Andenken zu sichern, entsage ich
der Präsidentschaft für immer." — Der Congreß jedoch erklarte,
daß er die Entsagung Bolivars nicht annehme, und forderte ihn
auf, nach Bogota auf seinen Posten zurückzukehren. Der Befreier
ließ sich erbitten und kam. Eine neue Constitution vom 27. Au-
gust 1828 gab dem „Libertador-Präsident" eine Gewalt, derje-
»igen gleich, welche Bonaparte als erster Conful erhielt. Bald
darauf, in der Nacht vom 25. zum 2t>. September, wäre er
beinahe das Opfer einer Verschworung geworden. Schon war der
Regierungspalast zu Bogota überrumpelt, und die Wache desselben
nebst ihrem Obersten niedergemacht. Bolivar entfloh durch ein
Hinterfenster, und verbarg sich unter einer Brücke, unter welcher
er bis an den halben Leib im Wasser stehen mußte. Mit dem
Geschrei: „Es sterbe der Tyrann!" zogen seine Verfolger über
— 353 —
dieselbe. Aber bald erscholl von einer andern Seite der Nuf:
„Es lebe der Befreierl" Er eilte nach dem Platze, von welchem
derselbe herkam, und fand ihn von einer befreundeten Schaar
besetzt. An ihrer Spitze überwältigte er seine Gegner. Bald
darauf erfolgte, nach dem Spruche eines Kriegsgerichts, die schleu-
nige Hinrichtung der Theilnehmer der Verschwörung.
Dennoch wurden immer neue Auflehnungen gegen den Be-
freier unternommen; Verschwörungen auf Verschwörungen gegen
ihn entstanden. Auch Venezuela sagte sich im September 1829
von ihm los, und er sab sich endlich genöthigt, seinen Würden
zu entsagen (zu Bogota, 27. April 1830.) Eine am 25. April
angenommene Constitution für Columbien war ein getreues Nach-
bild der nordamerikanischen Verfassung. Gegen Ende des Iah-
res drangen Bolivars Anhänger auf seine Zurückberufung, allein
der Tod überraschte ihn; er starb auf feinem Landsitze, in der
Nahe von Santa Marta (17. Dee. 1830) mit den Worten:
„Eintracht! Eintracht!" und gab damit zu erkennen, was vor-
züglich feinem Vaterlande fehle, und was es zunächst erstreben
müsse,, wenn es von der Freiheit, die er ihm hinterließ, einen
heilbringenden Gebrauch machen wolle.
Auch die Freiwerduug der Landerstrecke, die das ehemalige
große mexikanische Reich oder Neuspanien ausmachte, gelang erst
nach gewaltigen Kämpfen. — Im Jahre 1810 erregte dort ein
eingeborener Priester, Hidalgo, voll glühenden Eifers für die
Unabhängigkeit seines Vaterlandes, unter seinen Landsleulen einen
Aufstand, der großen Zulauf fand, aber durch die Kriegsmacht
der Spanier unterdrückt ward. Hidalgo ward gefangen und hin-,
gerichtet. Auch die kühnen Männer, welche bald nach ihm Auf-
stände versuchten, Morelos, Mina und Andere, wurden der
Reihe nach gefangen und büßten ihre Unternehmungen durch
schimpflichen und schmerzlichen Tod. Doch damit ward nicht die
Sehnsucht nach Freiheit unterdrückt; vielmehr ward diese durch
die Harte, welche nun die Spanier übten, immer mehr angefacht.
Als nach dem Beginn der spanischen Revolution im Jahre 1820
die Cortes-Constitution, welche Ferdinand beschworen hatte, auch
in Mexiko bekannt gemacht ward, doch mit dem geheimen Befehle
an denVicekönig Apodaea, sie daselbst nicht zur Ausführung zu
bringen, so erzeugte die einerseits erregte und anderseits getauschte
Hoffnung unter den eingeborenen Mexikanern, sowohl Kreolen
N. G. IV. 23
— 354 —
als Indianern, die größte Erbitterung. Aus Vorsicht entfernte
der Wicekönig den General Armigo, Oberbefehlshaber der Trup-
pen, welcher den republikanischen Grundsätzen zugethan war, von
seinem Posten und ernannte statt seiner den Sprößling einer an-
gesehenen spanischen Familie August in Jturbide (geb. 1784,
im Mexikanischen) zum Oberbefehlshaber der Truppen. Bei Ueber-
gäbe des Commando's eröffnete ihm der Vicekönig den geheimen
Plan, welchen er hinsichtlich der Constitution zu befolgen habe, und
trug ihm besonders die Beschützung einer großen für Spanien
bestimmten Geldsumme auf. Jturbide glaubte sich durch die ihm
anvertraute Doppelzüngigkeit der Regierung zum Bruche der ihr
gelobten Treue berechtigt. Er bemächtigte sich des Goldschatzes,
welchen er für Spanien sichern sollte, und bewirkte mit Hülse
desselben den Ausbruch einer neuen Jnsurrection (im Februar 1821).
Binnen der kurzen Frist von zwei Monaten sah sich Jturbide im
Besitze der meisten Provinzen; nur In der Hauptstadt Mexiko be-
hielt die altspanische Parte! die Oberhand. Er verkündigte in-
deß die Unabhängigkeit Neuspaniens und setzte eine Regierungs-
junta ein, an deren Spitze er trat. Späterhin bewirkte er, daß
er von dem mexikanischen Wolke als Augustin Z. zum constitu«
tionellen Kaiser ausgerufen ward. Dies geschah am 21. Mai 1822,
Und am 22. Juni fügte der Congreß der neuen Kaiserkrone Erb-
lichkeit hinzu.
Doch diese Erhebung erregte Neid und Haß gegen Jturbide
und war seinem Ansehen mehr nachtheilig, als förderlich. Durch
harte Gewaltstreiche suchte der Gereizte sich zu behaupten; er ließ
Mitglieder des Congresses verhaften und endlich am 30, October
den ganzen Congreß durch Truppen auseinander jagen. Jedoch
fehlte es ihm an dem Glücke oder dem Geschicke anderer großen
Manner, welche in ahnlicher Lage, nach Niederwerfung republi-
kanischer Staatsparteien, Sieger geworden und Herren geblieben
sind. Mehrere Provinzen standen gegen den Unterdrücker der
Nationalreprasentation auf, und Kaiser Augustin ward genöthigt, die
Krone niederzulegen (20. Marz 1823). Er that es unter der
Angabe, seinem geliebten Vaterlande die Greuel des Bürgerkriegs
ersparen zu wollen. Dafür bewilligten ihm seine Gegner für sich
persönliche Freiheit, fortwahrenden Genuß seiner Besitzungen und
auf Lebenszeit einen Jahrgehalt von 30,000 Dollars, jedoch nur
unter der Bedingung, daß er Amerika sogleich verlasse und seinen
— 355 —
Wohnort zu Livorno in Italien nehme. Einen Monat darauf
schiffte der Exkaiser mit seiner Familie und seinen Schätzen nach
Europa über und ließ sich im Juni zu Livorno nieder.
Jetzt arbeiteten die Mexikaner an einer Constitution, welche,
gleich der nordamerikanischen, die mexikanischen Staaten zu einem
Staatenbunde vereinigen und einen Präsidenten an dessen Spitze
stellen sollte. Aber im Innern dauerten Parteiungen und Un-
.ruhen fort, und im Jahre 1824 erhielt die Regierung Kunde,
daß Jturbide Livorno verlassen habe, und daß seine Anhänger in der
Erwartung standen, ihn nächstens in ihrer Mitte wiederzusehen.
Alsbald ernannte ein Beschluß des Congresses den General Bravo
zum Dictator und schleuderte ein Achtsdecret gegen Jturbide, wenn
derselbe es wagen sollte, den Boden Mexiko's $u betreten. In der
Tbat war dieser mit seiner Gattin, seinen Kindern und einem
Freunde von Livorno nach England gereist und hatte sich dort
nach Amerika eingeschifft, vor sich her eine Proclamation sendend,
daß die Kunde von den Unruhen und dem Elende seines Vater-
landes ihn in der Ferne mit Trauer erfüllt und ihn bewogen
habe, seine glückliche Zurückgezogenheit zu verlassen und nicht
als Kaiser, sondern als Soldat und Vaterlandsretter in die Mitte
des mexikanischen Volks zurückzukehren. Bei seiner Ankunft
waren alle Häsen des Meerbusens von Bravo's Truppen besetzt. '
Kaum gelandet, siel er daher sogleich in die Hände seiner Feinde,
die ihn nach Padilla brachten, wo er nach kurzem Verhöre über die
Jtenditat der Person, gemäß dem Decrete des Congresses, erschossen
ward (18. Juli 1824). Er starb mit religiöser Ergebung unter
guten Wünschen für das Glück dieses Volkes. Seine Familie
ward vom Congresse mit einer Pension nach Columbien gewiesen.
— Nach seinem Tode trat die schon erwähnte Verfassung in's
Leben und ward sogleich von Nordamerika und England, dann
auch von andern europäischen Staaten anerkannt. Doch waren
damit die inneren Unruhen nicht beseitigt; die südlichen .Pro-
vinzen, zwischen dem westindischen und dem stillen Oeeane, die schon
in den Jahren 1821 und 1823 sich von Mexiko losgesagt hatten,
blieben von dem mexikanischen Staatenbunde getrennt und bildeten
den Freistaat Guatemala, der wegen seiner Lage zwischen Süd-
und Nordamerika auch Mittelainerika genannt wird.
Zu Ende des Jahres 1836 erkannte Spanien die Unab-
hangigkeit der amerikanischen Freistaaten, die ehemals spanische
i
- 356 —
Provinzen gewesen waren, an, und Dekrete der Königin-Regentin
Maria Christina (f. unten) vom IC. und 29. December stellten
die freundschaftlichen Verhältnisse zwischen dem Mutterlands und
den selbstständig gewordenen Tochterstaaten her.
In St. Domingo hatte der Neger Dessalines die erkämpfte
Freiheit und Unabhängigkeit der Insel behauptet (s.N. Gesch. B. III.
S. 378). Als Bonaparte im Jahre 1804 als Napoleon h zum
Kaiser gekrönt ward, folgte Dessalines dem Beispiele und ließ sich
unter dem Namen Jakob I. zum Kaiser von Haiti ausrufen.
Zwei Jahre nachher, am 17. October 1803, ward derselbe in einem
Aufstande ermordet, und der General Christoph, ebenfalls ein
Neger, aber von größerer Bildung, als sein Vorgänger (der weder
lesen noch schreiben schreiben konnte), als Präsident an die Spitze
des Staates gestellt. Zwistigkeiten, welche zwischen den Mulatten
und Negern entstanden, wurden Ursache, daß die Ersteren, unter
Anführung des General Petion, eines Franzosen, im De-
cember 1806 von den Letzteren sich trennten und eine eigene Re-
publik Haiti bildeten, wo Petion als erster Präsident herrschte.
Der Negerstaat verwandelte sich im Jahre 1811 in eine erbliche
Monarchie, und Christoph ließ sich als König Heinrich I. nebst
seiner Gemahlin Maria Louise salben und krönen. Alles in
diesem schwarzen Reiche war ein getreues Nachbild des Napo-
leon'schen Kaiserreichs; die Titel der Prinzen, Herzöge und Grafen
wurden aber nicht von Landern und Städten, sondern von Eß-
und Trinkwaaren entlehnt, und es gab Herzöge und Grafen von
Choeolade, Limonade, Marmelade k. k. Manche Ver-
ehrer Napoleons waren der Meinung, das Ganze sei ein von den
Englandern zur Krankung des französischen Herrschers erfundenes
Spottwerk. Nach dem Falle seines Vorbildes wurde König Hein-
rieh mißtrauischer und strenger; er ahnte, daß ihm ein ahnlicher
Glückswechsel bevorstehe, und beschleunigte durch die Maaßregeln,
die ihm vorbeugen sollten, sein böses Verhängnis Aus Besorgniß,
Opfer der Tyrannenlaune zu werden, verschworen sich mehrere
seiner Herzöge, Marquis und Grafen zum Sturze ihres Gebieters.
General Richard, Herzog von Marmelade, war das Haupt der
Verschwörung. Am 1. October 1820 kam dieselbe in St. Mare
zum Ausbruche und ward am 6. zu Cap Henri (dem ehemaligen
Cap Francis) vom Jubel des Volks begrüßt. Christoph, welcher auf
seinem Schlosse Sans - Souei krank lag, schickte den General Noöl mir
— 357 —
der schwarzen Leibwache wider die Empörer; aber die Leibwächter
vereinigten sich mit denselben, und Noöl kam allein mit der
Schreckenspost wieder. Da ergriff Christoph eine Pistole und jagte
sich eine Kugel durch den Kopf (8. Oct.). Zehn Tage darauf er-
gab sich das Fort Henri, wo sich der Sohn Christophs mit mehreren
Generalen und Ministern eingeschlossen hatte; aber treubrüchig
wurden diese Gefangenen, der Kronprinz vor den Augen seiner Mutter,
niedergemetzelt. Das Plündern und Blutvergießen dauerte fort,
bis Boy er (ein Mulatte, und seit PetionsTode 1818 Präsident des
republikanischen Staates Haiti) mit Truppen herbei kam und die
Ruhe wieder herstellte; worauf er im November 1820 die Vereinigung
beider Staaten proclamirte und die von Christoph geschaffenen
Titel aufhob. Die meisten der Urheber der Verschwörung gegen
Christoph waren jedoch mit diesem Ausgange nicht zufrieden. Die
Folge davon war eine Verschwörung gegen Boyer, Dieser aber
kam derselben auf die Spur, ließ die Urheber gefangen nehmen
und vier derselben, unter ihnen den vormaligen Herzog von Mar-
melade, öffentlich hinrichten. Im Jahre 2822 zog Boyer auch
den spanischen Theil Domingo's an sich, so daß nun die ganze
Insel (1385 Quadratmeilen groß und eine Million Einwohner
enthaltend) unter Eine Herrschaft vereinigt ward, deren Präsident
er war. Von Seiten Frankreichs ward am 17. April die Unab-
hängigkeit Domingo's, gegen eine Summe von 150 Millionen
Franken, zur Entschädigung der vormaligen Pflanzer, anerkannt ;
welche Summe jedoch im Jahre 1838 auf 60 Millionen, binnen
dreißig Jahren zahlbar, ermaßigt ward»
— 358 —
Erbfolgekrieg in Portugal. — Nhron-
Hesteignmg der »Königin Maria
da Gloria.
Brasilien hatte sich, wie uns aus dem Früheren bekannt ist,
schon früher die Unabhängigkeit errungen, und Portugal sie aner-
kennen müssen (f. S. 181.). Doch bald gerieth der constitutione^
Kaiser Pedro I. in harte Bedrangniß, als eine demokratische
Partei sich gegen ihn erhob, die, von Tage zu Tage kühner, ihm
eine Stütze nach der andern entriß. Im Vertrauen auf die Er-
gebenheit der Soldaten, entließ er am 5. April 1S31 die ihm auf-
gedrungenen Minister und ernannte andere an deren Spelle.
Darüber brach ein Volksaufstand zu Rio «Janeiro aus. Die
Truppen versagten dem Kaiser die geforderten Dienste; sich zu
retten, flüchtete er mit seiner Familie auf ein englisches Schiff,
und um nicht nachgeben zu dürfen, entsagte er am folgenden
Tage dem brasilianischen Throne zu Gunsten seines unmündigen
Sohnes Pedro ll. (geb. 2. Decbr. 1825). Diesen zurücklassend,
segelte er noch an demselben Tage mit seiner Gemahlin, (einer
Prinzessin von Leuchtenberg, die er ku^z zuvor geheirathet
hatte) und mit seinen Schätzen nach Europa ab. Die Deputirten
zu Rio - Janeiro erkannten den Knaben als Kaiser an und
ernannten eine Commission, die in seinem Namen regieren
sollte.
Der Exkaiser begab sich zuerst nach London, wo er bei
König Wilhelm IV. freundliche Aufnahme fand; darauf nach
Paris zu Ludwig Philipp; hier nahm er an der Feier der
Inlitage Theil. Don Miguel, den er aufgefordert hatte, die
Krone der rechtmäßigen Königin zurückzustellen, ertheilte die Ant-
wort: „diese Krone gehöre ihm durch das Recht der Geburt, wie
durch die Anerkennung der Nation, da Don Pedro als Kaiser
Brasiliens für Portugal ein Fremder geworden sei. Jetzt sei er
als Herzog von Braganza sein Unterthan, und wenn er als
Rebellenhaupt und Friedensstörer in feinen Staaten austrete, solle
er als solcher behandelt werden." — Inzwischen betrieb Don
Pedro mit gutem Fortgange die Ausrüstung einer Expedition zur
— 359 —
Wiedereroberung Portugals. Der Sammelplatz derselben war die
französische Insel Belle-Jsle; die Schaaren aber, welche dort-
hin zusammen strömten, bestanden meist aus Franzosen und Eng-
landern, zum kleineren Theile nur aus Portugiesen, Am 3. Fe-
bruar 1832 kam Don Pedro, der seine Familie in Paris zurück-
gelassen hatte, in Belle-Jsle an; am 3. Marz landete er auf
Tereeira, von wo aus Villaflor, seit dem Mai 1831, die sammt-
lichen Azoren für seine Sache gewonnen hatte, vereinigte die über-
geschifften Truppen mit denen, welche er dort vorfand, und ging
am 26. Juni mit einem Heere von 12,000 Mann nach Portugal
unter Segel. Wahrend sein Bruder ihn bei Lissabon erwartete, er-
schien er am 8. Juli vor O porto, welche Stadt schon für ihn
gestimmt war, und befand sich bald im Besitze derselben. Die
Hoffnung indessen, daß bei seinem Erscheinen ganz Portugal ihm bei-
fallen werde, zögerte sich zu erfüllen. Die Bevölkerung zeigte
keinen Eifer für ihren Befreier, und anstatt vorzurücken, ward der-
selbe von einem Heere, welches Don Miguel abgeschickt, in Nporto
belagert. In beiden Armeen herrschten übrigens die größten Zer-
würfnisse; denn beide Brüder waren mit ihren Generalen und
Ministern in stetem Zwiste. Der General Solignac, einFranzose,
der Pedro's Landheer, und der Englander Sartorius, der seine
Flotte befehligte, nahmen Beide im entscheidenden Augenblicke
ihren Abschied. Doch hatte Don Pedro entschlossenen Muth und
persönliche Tapferkeit vor Don Miguel voraus. Nachdem die
Belagerung bis in den Juni 1833 gedauert hatte, entschloß sich
Erstem-, einen Theil seiner Truppen, etwa vierthalb tausend Mann,
zur See nach Algarbien zu senden, dessen Bewohner' ihm und
seiner Tochter geneigter waren. Villaflor, der zum Herzog von
Terceira ernannt war, und Palmella führten dies Unternehmen
mit Glück und Geschick aus, so daß in Kurzem sich die ganze
Südküste für Don Pedro erklärt hatte. Bald darauf am 5. Juli
schlug der Englander Napier, als Befehlshaber der kleinen Flotte,
die weit zahlreichere, aber schlecht gerüstete Flotte Don Miguels am
CapSan Vincent und nahm die sammtlichen Schiffe. Don Miguel'
hatte den französischen Marschall Bourmont, den Eroberer von
Algier, der nach der Julirevolution nicht nach Frankreich zurückgekehrt
war, zum Oberbefehlshaber seines Heeres ernannt; dieser war
unterwegs einem englischen Dampfschiffe mit der Siegesbotschaft bc-
gegnet und brachte ihm die Nachricht von dem Verluste der Flotte»
360 —
Desto eifriger ließ er nun die Anstalten zum Angriffe auf Oporto
betreiben. Aber wahrend er seine besten Streitkräfte auf diesem
Punkte versammelte, erschienen Villaflor und Palmella, jener zu
Lande, dieser am Bord eines eroberten Linienschiffes, vor Lissabon,
und am 24. Juli riefen die Einwohner Donna Maria als Königin
aus. Don Miguels Statthalter, der Herzog von Cadaval,
räumte mit den treugebliebenen Truppen die Stadt, und Villaflor
hielt seinen Einzug. Am 28. Juli betrat auch Don Pedro, nach
einer Abwesenheit von sechs und zwanzig Jahren, seine Vaterstadt
wieder; er besuchte das Grab seines Vaters und seiner Mutter —
Letztere war im Januar 1830 gestorben — und schrieb für das
Erstere unter Thranen die Inschrift auf: „Der eine Sohn mordete
Dich, der andere wird Dich rächen." Darauf übernahm er selbst
die Regentschaft, nicht zur Freude derjenigen, welche seiner Sache
zugethan waren und seine Neigung zu heftigen, übereilten Maß-
regeln kannten. Er ließ nun seine Gemahlin und Tochter nach
Lissabon holen. Der Kampf mit seinem Bruder, der noch den
größeren Theil des Königsreichs inne .hatte, war noch nicht zu
Ende. Bourmont zog gegen Lissabon, und am 5. September kam
es in der Nahe der Hauptstadt zum Tressen. Die Miguelisten
rühmten sich des Sieges, gingen aber zurück nach Santarem,
und bald darauf verließ Bourmont, nach Niederlegung des Com-
mando's, mit mehreren seiner legitimistisch gesinnten Landsleuten, den
übelgelaunten Gebieter. Sein Nachfolger, Macdonald, be-
hauptete sich zwar in der festen Stellung bei Santarem bis zum
Frühjahre 1834, jedoch ging mittlerweile eine Stadt nach der
andern verloren; zuletzt kam Don Pedro noch ein spanisches Ar-
meecorps unter dem General Rodil zu Hülse (s. den folgenden
Art.), und nachdem am 15. Mai der letzte Schlag bei Asseiceira
geschehen war, ward am folgenden Tage auch Santarem besetzt.
Don Miguel, der mit den Ueberresten seiner Truppen sich
nach Evoram ente gewendet hatte, nahm die von dem englischen
Gesandten bei Don Pedro angebotene Vermittlung an und entsagte
gegen ein Jahrgeld und Hinterlassung seines persönlichen Eigen-
thums der portugiesischen Krone (26. Mai 1834). Fünf Tage
darauf ging er mit wenigen Begleitern auf einem eng-
tischen Schiffe nach Italien, protestirte aber nach seiner Ankunft
in Genua gegen seine Entsetzung und wiederholte dieses
spater in Rom, wohin cc sich zurückzog. Der Papst ge-
— 361 —
stattete ihm, den Titel König von Portugal noch ferner zu
fuhren.
Am 13. August 1834 eröffnete Don Pedro die Versammlung
der Cortes im Kloster SanBento, und am 39. ward er von
beiden Kammern derselben zum Regenten Portugals ernannt.
Eines seiner ersten Decrete verfügte die Aufhebung aller Mönchs-
orden, geistlicher Ritterorden, Hospitien und Klöster mit Einziehung
ihres Eigenthums für die Krone. Er beabsichtigte überhaupt noch
große Reformen in dem wieder eroberten Königreiche, als der Tod
ihn überraschte. Er starb sechs Wochen nach seiner Ernennung,
am 24. September 3834 im siebenunddreißigsten Jahre seines
Lebens. — Die sechzehnjährige Königin war für volljährig erklärt
und alsbald mit Vermahlungsplanen bestürmt. Sie folgte der
Neigung, die sie zu dem Bruder ihrer Stiefmutter, dem Prinzen
August von Leuchtenberg gefaßt hatte, und heirathete den-
selben am 26. Januar 1835; aber schon am 28. Marz sank der
junge lebenslustige Prinz in Folge einer todtlich gewordenen Er-
kältung ins Grab. Am 27. April des nächsten Jahres 1836 ver-
mählte sich die Königin wieder mit dem Prinzen Ferdinand
von Coburg, einem neunzehnjährigen Jünglinge, dessen Loos
aber die der portugiesischen Verhaltnisse Kundigen nicht be-
neideten. Die junge Königin war durch Eigensinn und herrsch-
süchtige Launen unbeliebt geworden; unvermögend, wie sie war,
ihre rankevolle Umgebung im Zaume zu halten, war sie noch weniger
der Aufgabe gewachsen, ein zerrüttetes Reich und ein vom Partei-
geist beherrschtes Volk zu regieren. Denn waren auch die An-
Hänger Don Miguels nicht sehr bedeutend, so waren Diejenigen
desto gefährlicher, die unter dem Namen der Constitution von 1822
ein ganz machtloses Königreich wollten. Einer derselben, Manuel
Passos, erklärte in der Cortesversammlung: „daß die Republik
der trefflichste Gedanke des menschlichen Geistes sei und die Re-
gierung des ganzen Europa, ja, des ganzen Menschengeschlechtes
werden müsse, wenn die Aufklärung nebst Veredelung der Sitten
weiter fortgeschritten sein werde." Am 7. September 1836 ward
die Königin in ihrem Palaste von Nationalgarden und Linien-
truppen um Annahme der oben benannten Constitution bedrängt.
Der Haß einer portugiesischen Nationalpartei gegen England, zu
welchem Portugal früher ganz in dem Verhältnisse einer Provinz
gestanden hatte, und welchem auch Donna Maria ergeben war,
362 —
wirkte zu diesen Ereignissen mit. Der englische Gesandte Lord
Howard de Wal den bot der Königin an, sie nebst ihrem Ge-
mahle nach den brittischen Schiffen im Tajo zu geleiten. Als er
aber auf die Frage: ob er ihr dann den Besitz des Thrones ver-
bürge? erwiederte, daß er nur Zuflucht und Schutz für ihre Personen
sichern könne, zog Donna Maria es vor, anstatt auszuwandern, dem
Verlangen ihrer Unterthanen Folge zu leisten. Die Charte Don
Pedro's mit der Pairskammer ward abgeschafft, und an die
Stelle Palmclla's und anderer Beförderer derselben traten republi-
kanisch gesinnte Minister, unter ihnen auch Manuel Passos. Zwei
Monate darauf, am 3. November, machten die Königin und ihr
Gemahl einen Versuch, sich wieder in Freiheit zu setzen. Auf
Antrieb derjenigen von ihrer Umgebung, welche behaupteten, die
Mehrzahl der Nation sei für die Charte Don Pedro's gestimmt
und nur durch eine kleine Faetion unterjocht worden, begaben sie
sich nach Bel em, wo einige Hundert getreuer Mannschaften waren
versammelt worden. Dorthin beschied die Königin die Minister und
ertheilte ihnen ihre Entlassung, mit der Erklärung, daß die Charte
von 1826 wieder in Kraft trete. Als aber am folgenden Tage
auf diese Kunde ganz Lissabon in Bewegung gerieth, die National-
garde zu Tausenden die Waffen ergriff, und der frühere Minister
des Innern, August in Freire, auf dem Wege nach Belem er-
schössen ward: da verlor die Königin mit ihren einheimischen und
fremden Nathgebern den Muth; ungeachtet dreihundert brittifche
Marinesoldaten zu ihrem Schutze ausgeschifft wurden, ließ sie den
Befehlshabern der Nationalgarde sagen, sie verlange nur einige
Abänderungen in der Verfassung von 1822, namentlich die Beibe-
Haltung der Pairskammer. Die Volkshaupter lehnten dies nicht
unbedingt ab, forderten aber zunächst Entfernung der fremden
Soldaten, Entlassung der inzwischen von der Königin ernannten
Minister und die Erklärung, daß die im September angenommene
Verfassung von 1822 ihre Gültigkeit behalte; über etwa nöthige
Veränderungen derselben sollten die einzuberufenden Cortcs ent-
scheiden. Die Königin mit dieser Erklärung zufrieden, ernannte
ein anderes, volkstümliches Ministerium und kehrte am 5. No-
vember in ihren Palast zurück. Die AnHanger der Charte Don
Pedro's, unter ihnen Palmella und der Herzog von Terceira,
flüchteten an den Bord der englischen Linienschiffe im Tajo.
Am 18. Januar 1837 ward die Versammlung der Cortes er-
363 —
öffnet. Diese zeigten gemäßigte Gesinnungen und beschlossen
Herstellung der Pairskammer und des königlichen Veto. Allein
bald darauf traten die Kriegsbefehlshaber, Baron von Leina,
Pimente! und Schwalbach, als Hersteller der Charte auf.
Andere schlössen sich ihnen an, und am 23. August rückten sie auf
Schußweite vor Lissabon. Allein die erwartete Bewegung des
Volks und der Truppen zu Gunsten der Charte Don Pedro's er-
folgte nicht. Ein aus Spanien zurückgerufenes Corps unter dem
General das Antas (f. im Folg.) schlug die Chartisten — so
wurden diese Wertheidiger der Charte Don Pedro's genannt —
am 18. September in der Nahe von Braga, und zwei Tage
daraus capitulirten die Anführer derselben mit dem Sieger und
stellten ihre Truppen zur Verfügung der Regierung. Die Offiziere
wurden von der Armeeliste gestrichen und auf halben Sold gesetzt,
die Anführer aber für immer aus Portugal verbannt. Palmella,
Terceira und Andere waren nun in ihrem Vaterlande, dem sie
die Freiheit gegeben hatten, geachtet, im Namen derselben Königin,
die für das Gelingen ihrer Unternehmung heiße Wünsche gehegt hatte.
Noch im Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung (am 16. September)
ward Donna Maria von einem Prinzen entbunden, der den Namen
seines Großvaters Don Pedro de Alcantara erhielt. Durch dies
Ereigniß erhielt der Vater des Thronerben nach dem Landesgebrauche
den Königstitel, und die aufgeregte Volksstimme ward gemäßigter.
Bei den Cortes aber war der vorwaltende Geist so durchaus demokra-
tisch, daß bei der ferneren Berathung über die Pairskammer der Beschluß
dieselbe zwat zuließ, doch sollte sie zu jeder Sitzung vom Volke er-
wählt werden. Der Krone sollte nebst dem Veto das Recht gestattet sein,
die Cortes zu vertagen oder aufzulösen, diese aber sollten, im Fall sie
nicht zu einer bestimmten Zeit einberufen würden, die Besugm'ß, ja,
die Pflicht haben, ungerufen zusammenzutreten. Die demokratische
Partei machte im Marz 1838 noch einmal den Versuch, sich durch eine
Revolution der unabhängigenHerrschaft zu bemeistern; allein das Un-
ternehmen scheiterte, und die gemäßigte Partei behielt die Oberhand.
— 364 —
tteb erficht Her Wefchichte Spstuiens feit Her
MeKaueatwR bis Zttm FeeHi-
nands TU.
Ferdinand VII. hatte, nachdem er im Jahre 1823 durch die
Gewalt der franz. Waffen in seine unumschränkte Macht wie-
der eingesetzt worden, die Anhänger der Constitution zwar unter-
drückt und verfolgt; dennoch glaubte die apostolische Partei, welche
unter seinem Namen im hierarchischen Sinne (Priestergewalt) Herr-
schen wollte, ihren Einfluß nicht umfassend genug, da der Kö-
nig sich mehr zu der absoluten, monarchischen Regierungsweise sei-
ner bourbonischen Vorfahren hinneigte und auch zu seinen Mi-
nistern Manner von solcher Gesinnung wählte. Jene verschrieen
daher den König als einen Liberalen und Freimaurer und beab-
sichtigten sogar, ihm vom Throne zu stürzen, um seinen Bruder,
Don Carlos, von dem sie größere Hingebung erwarten konn-
ten, auf denselben zu erheben. Im Sommer 1827 brach der zu
diesem Zwecke veranlaßte Aufstand in Catalonien aus. Bewaffnete
Schaaren, welche sich Ag-gravrados (Sei Key (die vom Koni g'e
Beleidigten) nannten, von Andern aber als Carlisten bezeichnet
wurden, erhoben sich und schlugen im September die gegen sie
ausgeschickten königlichen Truppen. Schon ward der neue Konig
Karl V. ausgerufen. Ferdinand reiste nunmehr selbst nach Cata-
lonien und brachte durch seine Gegenwart die Aggraviados im
Wege gütlichen Vergleichs zur Unterwerfung; nichtsdestoweniger ließ
er nachher die Anführer, die sich solches durchaus nicht versahen,
festnehmen und hinrichten, die Andern in großer Zahl nach Wer-
bannungsortern bringen. Die Apostolischen trösteten sich indeß mit
der Aussicht auf eine baldige Aenderung der Dinge, weil sie in
dem finster bigotten, ganz von ihnen umstrickten Infanten Don
Carlos, bei der schwachen Gesundheit des Königs und der Kinder-
losigkeit der Königin Josephe, den nahen und unzweifelhaften
Thronfolger erblickten^) Allein im Juni 1829 starb die Königin,
*) Philipp f". hatte nach beut spanischen Erbfolgeknege lam 12. Mai
1713), die Unabhängigkeit Spaniens zu sichern und die Vereinigung
— 365 —
und Am 11. September des nämlichen Jahres vermählte sich Fer-
dinand mit seiner Nichte Maria Christi na von Neapel. So-
bald dieselbe sich guter Hoffnung befand, ward im Hinblicke auf
den Fall, daß eine Infantin geboren werde, das Gesetz Vernich-
tet, was diese von der Thronfolge ausschloß. Durch ein Decret
vom 20. Marz 1830 hob Ferdinand VII. die Verordnung Phi-
lipp's V. förmlich und feierlich auf und gab den directen weiblichen
Nachkommen des Herrschers in der Thronfolge den Vorzug vor
dessen männlichen Seitenverwandten. Als Hauptbeweggrund für
diese Handlung ward angeführt, daß zufolge im Staatsarchive
aufgefundener Papiere schon Karl IV. im Jahre 1789 einen ahn-
lichen Gesetzentwurf den Cortes vorgelegt habe, mithin Ferdinand
durch die Erneuerung desselben nur die Absicht seines Vaters in
Ausführung bringe. Als nun am 10. October 1830 die Königin
wirklich eine Tochter gebar, ward demzufolge dieselbe für recht-
maßige Thronerbin erklart.
Der Kampf der apostolischen und liberalen Partei dauerte im
Stillen fort, wobei diese auf die bevorstehende Regentschaft der
ihren Ansichten huldigenden Königin nicht minder, als jene auf
die Regierung des Don Carlos ihre Hoffnungen stellte*). —
tiefer Monarchie mit andern Machten soviel wie möglich zu erschweren,
ein Grundgesetz errichtet, welches die Thronfolge bestimmte und die
Stipulationen des Vertrags von Utrecht (s. N. Gesch. Bd. I. S. 503),
vervollkommte. Durch dieses Gesetz ward die kastilische Erbfolgeordnung,
nach welcher die Töchter und Enkelinnen eines Königs dessen Brüdern
und andern Seitenverwandten vorgingen, ausgehoben und die weiblichen
Glieder der spanischen Bourbons ausgeschlossen, so lange irgend ein
männlicher Nachkomme Philipps existire. Ein streng salisches Gesetz,
welches bekanntlich die Frauen ganz ausschließt, sollte alsdann in Kraft
treten, falls nach gänzlichem Aussterben der spanischen Bourbons das
Haus Savoyen zum Throne gelangen würde. Diese Thronfolgeordnung
ward durch die versammelten Cortes und Agnaten des Reichs angenom-
men und 1713 als Staats - Grundgesetz bekannt gemacht.
*) Die machtigste dieser Parteien war die apostolische. Sie beherrschte
' die Mehrzahl des Volkes, besonders in den nördlichen Provinzen. Zu
ihr gehörte die sämmtliche Ordensgeistlichkeit, der größte Theil der
königlichen Freiwilligen stand in ihrem Solde, und die Regierungs-
beamten wagten nicht, ihnen offen entgegenzutreten. Die Ueberbleibsel
der heiligen Hermandad versahen bei ihnen den Spion- und Hascher-
dienst, und die Furcht, welche sie einflößte, war daher fast dem Schrek-
ken gleich, der sonst jeden Schritt der Beisitzer des gräßlichen Inquisi-
— 366 —
Nach der Julirevolution in Frankreich versammelten sich viele ver-
bannte Haupter der constitutionellen Partei, unter ihnen beson-
ders der tapfere Mi na, auf der französischen Seite der Pyrenäen,
um mittelst eines Einbruches in Spanien die Fahne der Revolu-
tion auch in diesem Königreiche aufzupflanzen. Sie überschritten
im Ottober die Grenze, fanden aber überlegene Streitkräfte vor
sich und wurden nach kurzem Kampfe zur Rückkehr nach Frank-
reich genöthigt. Die gefangenen Spanier büßten mit dem Tode.
— Im Marz des folgenden Jahres hatten sich unter Mina's Be-
sehten die spanischen Verbannten im südlichen Frankreich wieder
gesammelt. Von den kühnsten Anführern, Torrijos und Man-
zanares geführt und auf Verstärkungen im südlichen Spanien
hoffend, suchten sie von Gibraltar her die Linie von St. Noch
zu durchbrechen, um in's innere, gebirgige Land, wo es der
Schlupfwinkel fo viele gab, zu gelangen. Der Anschlag ward
jedoch frühzeitig genug entdeckt, um Gegenvorkehrungen zu tref-
fen. Also erwarteten weit überlegene Streitkräfte den kleinen Hau-
fen der Gelandeten, die sich zwar mit der Wuth der Verzweif-
lung wehrten, jedoch bald übermannt und zur Flucht gezwungen
wurden. Die in die Gewalt der königlichen Truppen Gefalle-
nen •—■ ihrer vierzig nebst dem Anführer Manzanarcs — wurden
in Folge der strengen von Madrid erlassenen Befehle auf der
Stelle erschossen. Im Zusammenhange mit diesem Unternehmen
stand eine höchst gefährliche, auf der Insel Leon und in Cadix
selbst angesponnene Verschwörung, welche jedoch durch die Ent-
schlossenheit des Gouverneurs Quesa da vereitelt ward. Er hatte
die Empörer dergestalt umstellt, daß sie sich endlich gezwungen
sahen, vermittelst einer Capitulation, welche ihnen Erhaltung des
Lebens und milde Bestrafung verhieß, die Waffen niederzulegen.
Dies war aber nicht in dem Sinne der erbitterten Rathgeber Fer-
tionstribunals begleitete; deshalb ward es ihr nicht schwer, Beisteuern
zur Erreichung ihrer Zwecke zu erhalten. Die numerische Stärke der
Liberalen kam jener fast gleich, aber die ihr für ihre Zwecke zu Gebote
stehenden Mittel bei weitem nicht. Die Häupter derselben waren fast
alle theils aus Spanien verbannt, theils entflohen, um nicht 'ihr Leben
auf dem Blutgerüste zu verlieren. Zu den Gemäßigten dieser Partei
gehörten, außer mehreren Granden erster Klasse, alle großen Gnrndbe-
sitz er, der größte Lheil der Hidalgos (des Niedern Adels), ein kleiner
Theil der aufgeklärteren Weltgeistlichkeit und die Mehrzahl der Gewerbe
vtnb Handel treibenden Klassen.
— 367 —
dinands gehandelt. Torrijos und seine Gefährten waren durch
Verrath ebenfalls in Gefangenschaft gerathen; Alle sollten sterben,
wie energisch auch der ehrliebende O.uesada darauf beharrte, die
Kapitulation müsse gehalten werden. Vergebens verwendete sich
der französische Hof und der brittische Minister in Madrid für
Torrijos und seine Begleiter; selbst.die Königin von Frankreich
schrieb an ihre Nichte, Ferdinands Gemahlin, sie möge Alles an-
wenden, den König zum milderen Urtheile zu bewegen. Umsonst.
Die apostolische Rachsucht lechzte nach Blut, und Torrijos ward
mit vierundfuufzig seiner Unglücksgefahrten, unter denen sich, außer
einigen berühmten spanischen Cortes-Mitgliedern, zwei angesehe-
ne Engländer befanden, am I. December zu Malaga hingerichtet.
Nur hundert und siebenzig jener Unglücklichen, die man daselbst
auf ein Fahrzeug gebracht und gleich Negersclaven zusammenge-
packt hatte, um sie nach der afrikanischen Küste in die spanischen
Galeerenbehaltnisse zu bringen, entrannen durch ein kühnes Wag-
st ück dem graßlichen Schicksale. Auf offener See überfielen sie
ihre Wächter, entwaffneten dieselben und zwangen den Capitain,
das Schiff nach Oron, einem französischen Hafen zu lenken, wo
sie bei ihrer Ankunft, fast verhungert, einen schauderhaften An-
blick des höchsten menschlichen Elends gewahrten.
König Ferdinand ward unterdeß durch eine langsam ihn auf-
zehrende Krankheit an den Rand deS Grabes gebracht, und in
den letzten Tagen des Septembers schien er im Kampfe mit der-
selben unterliegen zu müssen» Schon verbreitete sich das Gerücht,
der Monarch habe das Zeitliche gesegnet. Wirklich befand sich
Ferdinand in einem todesähnlichen, fast besinnungslosen Zustande.
Dieses Zustandes bedienten sich der Beichtvater des Königs und
die für Don Carlos gestimmten Minister Calomarde und Al-
cudia, den Sterbenden zur Unterschrift einer Acte zu bewegen,
durchweiche er das neue, zu Gunsten seiner Tochter erlassene, Thron-
folgegesetz widerrief. Der sterbend Gewahnte kam jedoch gegen
Vermuthen der Aerzte wieder zur Besinnung. Die Königin be-
nutzte den günstigen Augenblick bei dein geistig und körperlich nur
noch vegetirenden Gemahl, das aufgehobene Gefetz wieder in Kraft
treten zu lassen. Die Urheber des früheren Anschlags, welche sich
zu laut für Don Carlos ausgesprochen, verloren nun ihren ganzen
Einfluß. Calomarde ward in ein arragonisches Dorf verbannt,
späterhin sogar nach Minorka in's Gefängniß geschickt, die andern
I
— 368 —
Minister wurden entlassen. Am 6. October erfolgte darauf ein
Decret, durch welches Ferdinand für die Dauer seiner Krankheit
der Königin die Regierung mit unumschränkter Vollmacht über-
trug. Christina, für den Fall, daß ihr Gemahl stürbe, über die
Erbfolge ihrer Tochter besorgt, trat nun ganz auf die Seite der
Liberalen. Sie erließ ein Amnestiedecret für alle verbannten oder
flüchtig gewordenen AnHanger dieser Partei, mit Ausnahme der-
jenigen Cortes-Deputaten, die im Jahre 1823 in Sevilla für
die Absetzung Ferdinands gestimmt hatten; die seit mehreren Jah-
ren geschlossenen Universitäten wurden wieder geöffnet, und die an
deren Stellen- von Geistlichen errichteten und geleiteten Lehranstal-
ten beschrankt. Die Absolutisten wurden auf's Aeußerste erbittert.
Fanatische Mönche hetzten das Volk auf und nannten die Königin
eine ungläubige Jüdin, weil sie zu Gunsten der Atheisten, Frei-
maurer :c. ihr Amnestiedecret erlassen. An den Straßenecken wurden
aufrührerische Proclamationen angeheftet, unter andern mit fol-
gender Phrase: „Ein Weib soll uns beherrschen, das darf nicht
sein; fort mit der Fremden!" Dies waren die Vorboten des graß-
lichen Bürgerkrieges, den bald darauf der Tod des Monarchen
in's Leben rufen sollte.
Am 29. September 1833 starb Ferdinand VII. nach einer
zwölfmonatlichen Agonie, im neunundvierzigsten Lebensjahre und
im neunzehnten seiner Regierung, nach der Gefangenschaft zu
Valencay. Seine Leiche ward mit dem gewöhnlichen Pracht-
aufwände nach dem Kloster des heiligen Laurentius im Escu-
rial gebracht und in dem Begrabnißgewölbe neben seinen drei
Gemahlinnen beigesetzt. Als echt römisch-katholischer Christ, der
den Lehren des Papstes wahrend seines ganzen Lebens gehuldigt, hatte er
in seinem Testamente befohlen, daß für seine und seiner Gemahlin-
nen Seelenerlösung aus dem Fegseuer 20,000 Seelenmessen soll-
ten gelesen werden. Den Armen von Madrid vermachte er 23,000
Franken und denen der fünf anderen königlichen Residenten ein
Wiertheil der genannten Summe. — Seine dreijährige Tochter
ward unter dem Namen Jsabelle ZI. in Madrid als Königin
ausgerufen; wahrend ihrer Minderjährigkeit sollte die königliche
Wittwe Maria Christina die Regentschaft führen, und ein durch
das Testament des Königs bestimmter Regentschaftsrath ihr zur
Seite stehen. Der Minister Zea Bermndez, der früher Ge-
sandter in London gewesen, stand an der Spitze des Ministeriums
— 369 —
und war die Seele der neuen Regierung. Ein Manifest, welches
er im Namen der Regentin gleich nach dem Tode des Königs er-
ließ, versprach dem spanischen Wolke die Aufrechthaltung der Reli-
gion in ihrer ganzen Kraft und Reinheit, sowie Abhülfe der Uebel,
an welchen das Land leide, erklarte sich aber auf das Bestimm-
teste gegen constitutionelle Anmaßung und gegen jede Beschran-
kung der Monarchengewalt. Zugleich ward die schon früher beab-
sichtigte Reform der Verwaltung nach centralisirenden Grundsätzen
eingeleitet, durch ein vom 30. November datirtes Decret, welches
die alteProvinzialabtheilungSpaniens aufhob und eine neueEinthei-
lung des Königreichs in dreiundvierzig gleichmäßige Kreise bestimmte,
welchen ebenso viele Prafecten sollten vorgesetzt werden. Die
baskischen Provinzen und Navarra sollten jedoch von
dieser Maßregel noch ausgenommen sein. Dies geschah in der
Absicht, diese ohnehin für den Infanten Don Carlos gestimmten
Landschaften, welche besondere, dem Eigenthume des Landvolks
sehr günstige Verfassungen (Fueros) besaßen, der Regierung nicht
noch abgeneigter zu machen*). Dieser Zweck ward jedoch nicht
erreicht. Unmittelbar nach Verbreitung der Nachricht von Ferdi-
nands Tode brach der Aufstand in diesen Gegenden aus, indem
die Mehrheit der Bevölkerung einer Regierung mit modernen Ver-
waltungsgrundsatzen mißtraute und deshalb den Aufforderungen
*) Die baskischcn Provinzen bestanden aus den drei Herrschaften Bis-
caya, Alava und Guipuzeoa und liegen zwischen dem spanischen
Navarra, dem Meerbusen von Biscaya und Altcastilien. Die wichtig-
ften Waffenfabriken Spaniens befinden sich in diesen Provinzen, und das
ganze mit Wald bedeckte Land ist bis zu den Spitzen der Berge von
einem betriebsamen Volke bewohnt, dessen Gesammtzahl auf 360,000
Individuen geschätzt wird. Sie sind mäßig und abgehärtet; nirgends
findet man geübtere Fußgänger und Kletterer, die geschickter wären zum
Ucberfalle, oder fertiger, sich der Verfolgung zu entziehen. Die Basken
haben ihre eigene, bilderreiche, schwer auszusprechende Sprache, verste-
hen das echt Spanische kaum und werden auch kaum von den Spa-
niern verstanden. Alle sind Soldaten oder Landbauer, Hirten und
Bergleute, je nachdem es nöthig ist, das Gewehr zu ergreifen, oder es
niederzulegen, um die Feld- und Bergarbeit wieder zu betreiben. Wie-
wohl das übrige Spanien feit Karl V. eine absolute Monarchie war,
hatten doch die baskischcn Provinzen ihre alten republikanischen Einrichr
tungen behalten. — Die Privilegien Navarra's waren freilich minde-
bedeutend, doch hatte dieses sogenannte Königreich auch seine besonderen
lue,äs. über welchen die Navarresen eifersüchtig hielten.
N. G. W. 24
— 370 -
des Prätendenten Don Carlos und der für ihn wirkenden Priester-
Gehör gab. - Der Prinz selbst hatte es schon bei Lebzeiten seines
Bruders den Umstanden angemessen gefunden, sich eine Zeitlang
aus Spanien zu entfernen, und sich im April 1833 zu seinem
Schwager Don Miguel nach Portugal begeben, von wo aus
er in einer an den Präsidenten des Nathes von Castilien gerichte-
ten Schrift auf's Bündigste gegen jede Acte protestirte, welche
dahin gehe, ihn nebst seinen Nachkommen des Thronfolgerechts zu
berauben; sodann erklärte er in einem Schreiben an den König aus
Ramalhao vom '29. April feierlich, daß sein Gewissen, wieseine
Ehre, ihm nicht erlaubten, sein Anrecht auf den spanischen Thron
schmälern zu lassen, falls er den König überlebe , und derselbe ohne
männliche Erben aus der Welt scheide.
Der spanische Bürgerkrieg nach dem ToSc
Ferdinands VII.
Während der Prätendent nach Ferdinands Tode noch in Por-
tugal weilte, brach schon der Bürgerkrieg, zuerst in Bilbao, dann
auch in den übrigen baskischen Landschaften und in Aragonien
aus. In der letzteren Provinz, wo die zusammengelaufenen, schlecht
bewaffneten und wenig disciplinirten Haufen gleich beim ersten
Zusammentreffen mit einem Corps regulairer Truppen auseinan-
der gesprengt wurden, ward der Aufstand durch die Gesangenneh-
mung des Anführers, Santos Ladron, der nebst allen mit
den Waffen in der Hand Ergriffenen sofort hingerichtet ward,
zwar gestillt; allein eine so furchtbare Strenge entflammte die
fanatische Wuth der Empörer in Biscaya und Navarra nur noch
mehr, statt sie zu brechen oder einzuschüchtern, und so nahm der
Krieg bald bei beiden gegen einander kämpfenden Parteien den
blutgierigen Character einer, alles mildere Menschengefühl er-
— 371 —
stickenden Nachsucht an. Die carlistischen Kampfer beschrankten
sich vorerst auf den ihren Streitkräften mehr zusagenden Guerillas-
krieg, wodurch die Regierungstruppen unaufhörlich alarmirt und
angegriffen wurden. Der in dieser Art Kriegführung berühmte
Pfarrer Merino hielt mit seinen Haufen den Marsch des von
der portugiesischen Grenze herbeigerufenen Armeecorps unter dem
General Sarsfield nach den baskischen Provinzen auf, so daß
es völlig unthatig in und bei Burgos stehen bleiben mußte.
Des fanatischen Priesters taglich sich mehrende Schaaren durch-
zogen die Gegend nach der Hauptstadt hin, und seine aus lauter
ausgestoßenen Gardeoffizieren bestehende Avantgarde streifte be-
reits zwischen Aranjuez und Ocanna, neun Stunden von
Madrid, und setzten die ganze umliegende Landschaft für Karl V.
in Gwntribution, Dabei verbreitete Merino ein Manifest, welches
besagte: „daß jeder ihm nicht folgende königliche Freiwillige eben-
so sicher der Todesstrafe verfallen sei, als Jeder, welcher der
Königin Gehorsam schwöre, oder sich weigere, Don Carlos
als , Spaniens rechtmäßigen Souverain anzuerkennen." Zugleich
ward in Madrid falfchlich die Nachricht verbreitet, Don Gar-
los sei mit Heeresmacht in Estremadura erschienen, der
Königin die ursurpirte Gewalt zu entreißen; worauf ein Aufstand
in Madrid ausbrach, der jedoch durch die Treue der Linientruppen,
wiewohl nicht ohne Blutvergießen, gestillt ward.
Endlich in der zweiten Woche des Novembers brach Sars-
sield mit 1t),900 Mann von Burgos auf, schlug am 14. Merino's
Schaaren bei Belorado und hielt am 21. in Vittoria seinen
Einzug. Bald darauf wurden die Insurgenten bei Pennacarada
völlig geschlagen, und in Folge dieser Niederlage rückten die könig-
lichen Truppen am 25. November, ohne Widerstand zu finden, in
Bilbao ein. Die Empörung schien also völlig gedampft zu sein;
die Elemente des Carlismus konnten jedoch nicht zerstört werden,
indem die Verhältnisse und Gesinnungen des Landvolks und der
Priesterschaft zu dem Streben der Negierung und zu dem in den
Städten herrschenden Geiste in unvertilgbarem Gegensatze standen.
Ein Decret der Regentin vom 3. December 1833, welches die
baskischen Provinzen ihrer sammtlichen bisher genossenen Pri-
vilegien beraubte, und kraft dessen zur Bestrafung des Auf.
standes Militärgerichte eingesetzt wurden, regte die Einwohner
machtig an, und das Feuer, welches man für erstickt hielt, loderte
24*
— 372 —
bald mit größerer Heftigkeit wieder auf. — Eine nicht geringere
Gefahr drohte der Negentin von einer andern Seite her. Cata-
lonien, lange Zeit durch den Grafen d'E spann a, einender
strengsten Diener der Herrschaft Ferdinands, schwer gemißhandelt,
war jetzt der Hauptsitz der liberalen Partei geworden, die nun
mit ihren alten constitutionellen Forderungen wieder hervortrat.
In allen Städten bildeten sich gut bewaffnete Bürgergarden, und
bald standen daselbst bis an 12,000 liberale Volontairs unter
dem Gewehr. Im December ward von dem dortigen General-
capitain Llau der eine Art Kriegserklärung nach Madrid gesendet,
in welcher eine repräsentative Verfassung für ganz Spanien, oder
wenigstens für Catalonien, verlangt und gewissermaßen für die
Dauer der weiblichen Thronfolge bezeichnet ward; „zu diesem
Zwecke — hieß es — haben sich die Constitutionellen in Catalonien
bewaffnet." Die Negentin, in ihrer Schwache, hielt es für gerathen,
den Sturm durch das Versprechen baldigerEinberusung derCortes zu
beschwören, und ZeaBermudez, der hiermit nicht einverstanden war,
mußte seinen bisher mit großer Energie behaupteten Posten ver-
lassen (im Januar 1834). An seine Stelle trat, doch nur als
Minister des Auswärtigen, der berühmte Martinez de la Rosa,
ein gemäßigter Constitutionsfreund, als Dichter, Cortesmitglied und
Minister aus der Constitulionszeit von 1820 bekannt. Burlos,
ein Zögling aus Zea's Schule, ward ihm als Finanzminister zur
Seite gefetzt. Diese aus Furcht und Jntriguen bewirkte Ver-
bindung, zu der fast in gleichem Maße die Gesandten Englands und
Frankreichs das Ihrige beigetragen, benahm dem Ministerium zu der*
selben Zeit Einheit und Kraft, wo die leichtfertige Lebensweise der
Regentin Veranlassung zu scandalösen Gerüchten gab und dadurch den
Thron in der Achtung des Volkes herabsetzte. Im Cabinet be-
schaftigte man sich mit erbärmlichen Decreten und Verordnungen
über das Recht der Jagd und des Fischfangs, ja, sogar mit Ge-
setzentwürfen über die zweckmäßigste Einrichtung des Theater--
Wesens.
Ein Gesetz vom 15. Februar 1834 über die Bildung einer
Nationalmiliz, welches aber die Furcht der Regierung, allen
Würgern Waffen in die Hand zu geben, unverkennbar darthat, er-
regte den öffentlichen Unwillen, weil dasselbe das Waffenrecht an
ein gewisses Vermögen knüpfen und die Thatigkeit der bewaffneten
Würger nur bei Feuersbrünsten und gegen Rauberhorden in An-
— 373 —
spruch nehmen wollte. Die Unzufriedenheit äußerte sich so unverhohlen,
daß die Negierung eilte, durch ein nachträgliches Decret diese
Beschränkung aufzuheben, und so hatte sie selbst am Ende Carlisten
und Republikanern Waffen in die Hände gegeben, ohne bei den
Letzteren Dank zu verdienen. — Unter diesen Zerwürfnissen erfolgte
am 10. April 1834 die Bekanntmachung einer von der königlichen
Gnade der Nation bewilligten Charte, unter dem Namen: König-
liches Statut, nach welchem die Cortes aus zwei Kammern:
den Proceres (oder Pairs) und den Procuratoren (oder
Deputirten) des Reichs bestehen sollte. Die Procereskammer sollte
gebildet sein aus den Erzbischöfen und Bischöfen, den Granden
von Spanien, den wegen ausgezeichneter Dienste zu hohen Würden
erhobenen Mannern, wie auch aus berühmten Gelehrten und
Schriftstellern. Für die Granden sollte die Würde erblich, für die
Uebrigen nur auf Lebenszeit dauernd sein. Ucber die Art der Er-
wählung der Procuratoren waren nur Andeutungen gegeben, die
jedoch die Absicht an den Tag legten, daß die Wahl nur auf
Hochbesteuerte fallen sollte. Dabei ward festgesetzt, daß die Cortes
nur über Gegenstande, welche die Krone ihnen vorlegen lassen
würde, berathen oder debattiren sollten. Ihre ganze Vollmacht be-
stand daher in dem Siechte der Bittgesuche und der Bestimmung des
zweijährigen Budgets. Dieses der liberalen Partei gemachte Zugestand-
niß gewahrte daher derselben keine Befriedigung, und das Mißver-
gnügen darüber sprach sich theils mit Hohn, theils mit drohender
Erbitterung aus. Ein strenges Censuredict, welches die immer
lauter werdende Unzufriedenheit im Zaume halten sollte, gab
derselben noch stärkere Nahrung. Die Liberalen zu besänftigen,
entließ die Königin-Negentin den Minister Burgos, der für den
Urheber der mißfälligen Maßregeln galt, wodurch sie nur noch
mehr ihre Ohnmacht beurkundete.
Ein schreckliches Uebel, was um diese Zeit Spanien heimsuchte,
ward Veranlassung, die Königin noch tiefer in der Aolksgunst
herabzusetzen. Die furchtbare Krankheit, Cholera genannt, welche
bereits in Rußland, Polen, Frankreich und Deutschland viele
tausend Menschen weggerafft hatte, war auch in Spanien ausge-
krochen. Sie näherte sich von Süden her der Hauptstadt und
hatte schon zu Manzanares, ungefähr zwanzig Stunden von
Madrid entfernt, einige Opfer gefallt. Auf diese Nachricht floh
Marie Christine, vielleicht aus Furcht, oder unter diesem Vorwande
— 374 —
einer ihr damals lästigen Beobachtung zn entgehen, ohne Geleit,
ja, ohne irgend eine Berücksichtigung der spanischen Etikette, (am
1t). Juni 1834) in dunkler Nacht von Aranjuez nach dem
kleinen Schlosse Wista-Albengre. Aon hier ging die Flucht
weiter nach la Granja, wohin auch Martinez de la Rosa und
der Iustizminister Gareli eilten, auch um den Ort einen doppelten
Gesundheitscordon ziehen ließen, den selbst die Mitglieder des
diplomatischen Corps nicht überschreiten durften.*) Von Madrid,
wo sich die Seuche zuerst in den Spitalern zeigte, floh nun Jeder,
dem es möglich war. Allein der Graf von Torena, der für
Burgos zum Finanzminister war ernannt worden, blieb fest auf
seinem Posten; gleicherweise verweilte der Infant Don Fra nzisco
de Paula nebst seiner Gemahlin Carlotta, welche dadurch in
der öffentlichen Meinung ebenso viel gewannen, als die Königin
wegen ihrer Fluchtreise verlor. Die Furcht des Hofes vor An-
steckung war zu solcher Höhe gestiegen, daß noch eine dritte, Madrid
unmittelbar umschließende Sperrlinie gezogen ward, die selbst der
französische Gesandte Rayneval nur unter der Bedingung einer
neuntagigen Quarantäne im Escurial überschreiten durfte.
Inzwischen hatte die Jnsurrection in den baskischen Provinzen
und in Navarra schon eine bedeutende Starke gewonnen. Die
über 10,(K)0 Mann zahlenden carlistischen Guerilla's, deren Re-
fcrve die ganze mannliche Bevölkerung dieser Gegenden war,
standen noch unter der Leitung einzelner Anführer, Zabala, Se-
gastibelza, Eraso und El-Manchuelo (der Einarmige).
Ihr Kriegssnstem, unterstützt von dem abenteuerlichen Sinne
des spanischen Landvolkes, war genau auf die Beschaffenheit der
vorherrschenden Stimmung und der Localitat berechnet. Rückten
regulaire Truppen in ein Dorf, so fanden sie dessen ganze Be-
völkerung eifrig mit ihren Arbeiten beschäftigt; zogen jene dann
weiter, so warf jeder Bauer sein Ackergerath weg, nahm seine
Flinte zur Hand, und die wohlversteckten Anführer kamen alsbald
aus ihren Schlupfwinkeln zum Vorscheine, zur eiligen Verfolgung
der Truppen, die auf einmal im Rücken auf den gefährlichsten
*) Bald nach diesem verbreitete sich das Gerücht, die Regcntin habe in der
Abgeschiedenheit heimlich auf dem Schlosse ein Kind geboren, was
wohl durch ihr rücksichtsloses, allen Anstand verletzendes Betragen gegen
ihren Günstling Munoz veranlaßt worden war.
— 373 —
Platzen, wo sie sich nicht formiren konnten, mit einem
mörderischen Flintenfeuer angegriffen wurden. Wendete sich aber
der Kampf zum Nachtheile der Angreifer, so daß sie nicht mehr in
Masse retiriren konnten, so zerstreuten sie sich mit Blitzesschnelle
in die nur ihnen bekannten Schluchten; allein die Truppen, welche
auf solchem Boden keine Verfolgung der Fliehenden wagen durften
konnten sicher sein, daß sie nach wenigen Stunden den verjagten
Haufen, vielleicht um's Doppelte vergrößert, auf einem ihm günstigen
Terrain wiederfinden und neuen Kampf mit den Verwegenen be-
stehen mußten. ■— So waren schon mehrere Generale der Königin
nach einander geschlagen worden, als Rodil nach vollendeter Ex-
pedition in Portugal (s. oben) zum Obergeneral der königlichen,
gegen die Insurgenten operirenden Truppen ernannt ward. —
Der Infant Don Carlos, der sich bei der unglücklichen Ka-
tastrophe seines Verbündeten, Don Miguel, in Portugal be-
fand, entging der Gefangenschaft nur durch schleunige Flucht zu
den .englischen Vermittlern in Evora. Hier erhielt er einen
Boten von den spanischen Insurgenten, die ihn aufforderten, sich
an die Spitze seiner Getreuen zu stellen. Der Prinz gab ihnen
eine zusagende Antwort, und jener Bote, der mit Lebensgefahr Spanien
durchzogen hatte, eilte auf dem Maulthiere der Gemahlin Don
Carlos zurück nach Navarra. Die Flüchtlinge kamen, nach großen
Beschwerden — da sie auf der Fluchtreise oft zu Fuß und ohne
Nahrung durch die Gebirge dringen mußten — und unter
mancherlei Beleidigungen von Seiten des portugiesischen Pöbels,
nach Aldea Galega (Flecken in Estremadura), wo ein englisches
Schiff zu ihrer Ueberfahrt nach England bereit lag. Des PrinzenVer-
langen, sich mit allen seinen Begleitern einschiffen zu dürfen, ward
abgeschlagen, und er sah sich genöthigt, nur im Gefolge von einigen
Generalen und mehreren Geistlichen an Bord des Schiffes zu
gehen, welches ihn nebst feiner Familie nach England bringen
sollte. Seine zurückbleibenden Anhänger, sechshundert Soldaten
und dreihundert Offiziere, wurden entwaffnet und zur Ver-
fügung der spanischen Regierung gestellt. Kurz zuvor war zwischen
England, Frankreich, Spanien und Portugal eine Allianz geschlossen,
deren nächster Zweck die Vertreibung der Prätendenten Don Carlos
und Don Miguels aus der Halbinsel war. Da es den beiden
erstgenannten constitutionellen Negierungen nicht gleichgültig sein
konnte, ob das constitutionelle Prineip in den beiden letzteren
1
— 376 —
Staaten unterliege, ober die Herrschaft gegen den Absolutismus
behaupte, so hatten sich jene beiden Machte zur Mitwirkung für
die Aufrechthaltung der weiblichen Erbfolge verpflichtet. England
sollte Spanien mit seiner Seemacht und mit Kriegsbedarf unter-
stützen, Frankreich die Einfuhr der Kriegsmittel nach Spanien nicht
hindern und auch sonst zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes
Hülfe leisten, wenn solche erforderlich sei. —
Als Rodil in Navarra ankam, stand an der Spitze der In-
surgenten der tapfere Zumalacarregui, ein Mann, den die
Revolution aus der Fluth der Unbedeutenheit emporhob, um auf
ihrer blutigen Bahn eine glanzende Rolle zu spielen. In Navarra
geboren, bezeigte er im Jahre 1829 eine glühende Anhänglichkeit
an die liberale Sache. Im Jahre 1823 siel er in die Hände eines
Corps der „Glaubensarmee", und da er, um sein Leben zu retten, zu
dieser Partei überging, erhielt er den Rang eines Obersten. Fer-
dinand VII., in dessen besonderer Gunst er stand, ertheilte ihm
das Amt eines Secretairs bei dem Vicekönig von Navarra. Nach
des Königs Tode meldete er sich beim Kriegsminister zum activen
Militärdienste, ward aber in Madrid so krankend behandelt, daß er
mit racheglühenden Herzen in sein Vaterland eilte und sich ganz
dem Dienste gegen dessen Unterdrücker widmete. Won jetzt an
kam mehr Ordnung und Zusammenhang in die carlistischen Opera-
tionen. Durch fremde Geld- und Kriegsmittel, welche die Car-
listen, besonders auf Betrieb der Tory's, von England erhielten,
von woher ihnen Kanonen, Haubitzen und selbst eongreve'sche Ra-
keten zukamen, erstarkte die Insurrection immer mehr, nahm aber
auch zugleich einen immer wilderen, barbarischen Charakter an.
Aon jeder der kampfenden Parteien wurden die Gefangenen als
Rebellen erschossen. Rodil, von gleichem Geiste beseelt, war unter
VerÜbung der furchtbarsten Grausamkeiten in Navarra eingerückt,
konnte, aber ungeachtet seiner überlegenen Macht, in dem verheerten
Berglande, wo die Insurgenten alle Schluchten und Engpasse be-
setzt hielten, keine bedeutenden Fortschritte machen.
Inzwischen war Don Carlos zu Portsmouth angekommen
(17. Juni) und daselbst mit königlichen Ehrenbezeigungen empfangen
worden. Da er Portugal verlassen, ohne auf irgend eine Art auf
die spanische Krone Verzicht zu leisten, so beharrte er nicht nur da-
bei, sich König von Spanien zu nennen, sondern ließ sich auch
auf keine Unterhandlung über diesen Punkt ein, wiewohl man ihm
— 377 —
gegen Entsagung der Krone einen Jahrgehalt von 30,000 Pfund
Sterling zusichern wollte. Plötzlich um die Mitte des Juli ver-
breitete sich das Gerücht, Don Carlos sei aus England verschwunden
und glücklich nach dem Kriegsschauplatze im nördlichen Spanien
entkommen. Er hatte durch eine verstellte Krankheit, um welcher
Willen kein Fremder zu ihm gelassen wurde, die ihn beobachtenden
Augen getauscht und am 1. Juli Abends in entstellender Kleidung
die Küste erreicht. So war er auch unter falschem Namen,
von einem einzigen Getreuen begleitet, mit Counerpferden durch
Frankreich geeilt und hatte glücklich den spanischen Boden betreten.
Nach seiner Ankunft in Elisond o, dem Hauptquartiere seiner An-
Hanger, erließ er als König Carl V. einen Aufruf an alle Spanier,
worin er feierlich versprach, die Nationalcortes" zusammen zu be-
rufen, überall die Fueros herzustellen und die alten wahren Jnsti-
tutionen wieder geltend zu machen; keinesweges jedoch werde er
jenes Schattenbild einer Nationalreprasentation, welches nichts
als eine Parteilüge sei, anerkennen oder begünstigen. — Durch
solche Verheißungen war in den baskischen Provinzen und in Na-
varra viel für Don Carlos gewonnen. Mehr noch wurden die
Schaaren Zumalacarregui's durch Rodils empörende Grausam-
keiten verstärkt. *) Durch die Anwesenheit ihres Gebieters er-
muthigt, behielten die Insurgenten in drei verschiedenen Treffen
(I. und 24. August und 1. September) die Oberhand, und nach
einem fruchtlosen, verlustvollen Feldzuge kam ein Befehl von Madrid,
der Rodil seines Commando's entsetzte. Er hatte in den drei
Monaten, die sein Oberbefehl gedauert, es weder an Thatigkeit
noch Energie fehlen lassen, hatte die insurgirten Provinzen nach
allen Richtungen durchkreuzt und dem Feinde so wenig wie sich
selbst Ruhe gegönnt. Gleichwohl standen die Sachen noch auf
demselben Punkte, wo er sie bei Uebernahme des Commando ge-
funden, und er vermochte kein günstigeres Resultat seiner An-
*) So z. B. ward auf seinen Befehl der ganze Flecken Estella als Schlupf-
winkel der Insurgenten geschleift und dem Erdboden gleich gemacht, und
ein Alcalde, Vater einer zahlreichen Familie, weil er den Carlisten
Lebensmittel geliefert, erschossen. Ein junges fünfzehnjähriges Mädchen,
das den Carlisten Briefe zugetragen, erlitt denselben Tod. Ja, der Eigen-
thümer eines Hauses zu Lesa, worin Don Carlos eine Nacht zugebracht,
mußte nicht nur 1000 Piaster Strafe erlegen, sondern auch sehen, wie
nach erlegter Strafe sein Haus den Flammen geopfert ward.
- 378 —
strengungen nachzuweisen, als seine Vorgänger; ja, man be-
schuldigte ihn sogar, daß er ohne bestimmten Zweck und Plan agirt,
seine Truppen unnütz ermüdet und nichts zur Unterdrückung des
Aufstandes bewirkt, vielmehr denselben durch barbarische Maßre-
geln noch erbitterter gemacht habe. An seiner Stelle erhielt der
bekannte General Mina den Oberbefehl. Dieser alte Krieger war
in Navarra geboren und hatte sich durch seine Thaten vom Pfluge
zu den höchsten Ehrenstellen emporgeschwungen. Er kannte alle
Geheimnisse des Guerillaskrieges auf einem Boden, den er so
lange gegen die französische Uebermacht vertheidigt hatte. Er war
von Ferdinand mehrfach als Rebell geachtet und erst nach der letz-
ten Amnestieerklarung der Königin nach Spanien zurückgekehrt.
Rodil, dessen Stolz sich durch seine Absetzung schwer beleidigt
fühlte, legte am 2. October das Commando nieder, ehe sein Nach-'
folger, der sich krank in den Badern von Eoniba befand, eintraf.
In der Zwischenzeit erließ der interimistische Anführer der königli-
chen Truppen, General Lorenzo, am 14, October förmlich durch
eine Proclamation den schauderhaften Befehl, alle gefangenen In-
surgenten zu erschießen, und Zumalacarregui verordnete zur Wie-
dervergeltung bei allen Corps unter seinen Befehlen die Losung
„Sieg oder Tod!" und befahl, daß alle ihnen in die Hände fallende
Gefangenen, von welchem Range sie immer sein möchten, als
Verrather gegen ihren rechtmäßigen Souverain, den Tod erleiden
sollten. Zu Ende des Octobers stellte sich der alte Held Mina,
wiewohl von schwerer Krankheit noch nicht völlig genesen, an die
Spitze, konnte aber mit aller Anstrengung die carlistischen Schaa-
ren aus den Gegenden, die ihnen zu Stützpunkten dienten, nicht
vertreiben. Schon waren dieselben, zu einem regelmäßigen Heere
gebildet, an Zahl den Streitkräften der Königin überlegen.
Unterdeß war Madrid durch die Verheerungen, welche die
Cholera anrichtete, in einen fieberhaften Schreckenszustand versetzt.
Hier, wie anderwärts (in Petersburg, Wien und Paris), fand
das Gerücht bei dem Pöbel Glauben, daß die Krankheit durch
Brunnenvergiftung entstanden sei. Der Verdacht ward von den
Feinden der Geistlichkeit auf die Mönche geleitet, die es mit Don
Carlos hielten, und hatte die Folge, daß am 17. und 18. Juli
wüthende Volkshaufen über mehrere Klöster herfielen, sie ausplün-
derten und die Bewohner ermordeten. Noch mehr Blut ward
vergossen, als die bewaffnete Macht in beträchtlicher Starke an-
— 379 —
rückte, um das berühmte Kloster „unserer lieben Frau von Ato-
cha" gegen ein gleiches Schicksal zu beschützen. Bemerkenswerth
ist es, daß gerade wahrend dieser Greuelscenen ein Dccret vom
15. Juli bekannt gemacht ward, durch welches das Inquisitions-
gericht aufgehoben und alle Güter und Einkünfte desselben — ohne
irgend eine Entschädigung der bei jenem Gerichte angestellten
Beamten — zur Tilgung der Staatsschuld bestimmt wurden.
Gleichzeitig wurden die noch in Spanien vorhandenen Jesuiten
ihrer bisher bekleideten Lehrämter entsetzt Und aus dem Reiche
verbannt. — Unmittelbar nach diesen Vorgangen traten am 23.
Juli die Cortes zusammen. In beiden Kammern derselben, bei
den Proceres wie bei den Procuratoren, erhob alsbald eine über-
spannte Partei (die exaltatlos) für die gewaltsamsten Maßregeln
ihre Stimme. Es erfolgten mehrere Verhaftungen ausgezeichneter
Männer ■— unter ihnen der uns aus der belgischen Revolution
bekannte Genera! Juan van Halen. — Am 3. September
ward der Infant Don Carlos mit seiner ganzen Linie vom Thro-
ne ausgeschlossen und aller seiner Güter verlustig erklart; am 18.
October der ehemalige Minister Burg auf die bloße Anklage, daß
er sich Bestechungen erlaubt habe, schimpflich aus der Proceres-
kammer vertrieben, und der noch vor kurzem so volksbeliebte Mar-
tinez de la Rosa mehrere Male von den Banken der Opposition
ausgezischt und verhöhnt. Dasselbe Schicksal traf wegen der un-
glücklichen Kriegsoperationen gegen die Carlisten den bisherigen
Kriegsminister Zarko del Valle. Beide legten ihre Stellen
nieder. Für denLetzteren trat der General Don Manuel Llau-
der ein, und für Ersteren ward der zeitherige Finanzminister Graf
Toreno zum Präsidenten des Ministeriums mit dem Portefeuille
des Auswärtigen ernannt. An Toreno's Stelle übernahm die Fi-
nanzen Don Mendizabal. — Der exaltirte Geist ergriff bald
auch die Linientruppen. Am 17. Januar 1835 rebellirte ein In-
fanterieregiment aragonischer Freiwilliger, ans Unzufriedenheit
über den Kriegsminister Llauder, bemächtigte sich des Hotels der
Posten und begrüßte die anrückenden Garden mit einem morden-
fchen Gewehrfeuer; wobei der neu ernannte Generalcapitain Ca n-
teron, der es wagte, den empörten Soldaten mit harten Worten
entgegen zu treten, todt zu Boden gestreckt ward. Llauder selbst,
der mit den Garden anrückte, ward durch heftiges Musketenfeuer
zum Rückzüge gezwungen, und da die Nationalmiliz sich nicht
— 380 —
nur theilnahmlos verhielt, sondern sogar Miene machte, dem
empörten Regimente Beistand zu leisten, so sah sich die Regentin
genöthigt, mit den Truppen zu capituliren und den General
Llauder aus dem Ministerium zu entlassen. An die Stelle dessel-
den ward der General Valdez zum Kriegsminister ernannt.
Die neuen Minister hatten den Vorsatz, mehr Energie als
ihre Vorganger zu entwickeln und besonders die geheimen Gesell-
schasten, den Herd der Unruhen, zu unterdrücken. Kaum aber
hatten sie diese Absicht kund werden lassen, als die Exaltados,
durch ungünstige Nachrichten vom Kriegsschauplatze aufgereizt, in
Saragossa, Barcelona, Neus und Valencia ihr Haupt
erhoben und revolutionaire Junten errichteten. In letzterem Orte
ward am 5. August der ehemalige Beichtvater Ferdinands VII.
und Wiederhersteller der Inquisition, der berühmte Eanonicus
Blas Ostalaza erschossen, und alle dort verhafteten Carlisten
wurden auf die grausamste Weise ermordet. An demselben Tage
fiel in Barcelona der General Bassa, den die Regierung dorthin
beordert hatte, in einem Gefechte gegen die Aufrührer. Sein
Leichnam ward von dem Pöbel durch die Straßen geschleift und
auf einem vor dem Polizeigebaude errichteten Scheiterhaufen ver-
brannt. Was in den aufrührerischen Provinzen geschah, fand
bald in der Hauptstadt Nachahmung. Am 15. August erklarten
sich in Madrid, bei Gelegenheit der Vorbereitungen zu dem alten
Nationalschauspiele, einem Stiergefechte, mehrere Bataillone der
Bürgermiliz (Urbanos) für die Sache der Freiheit. Sie rückten
unter Trommelschlag und Absingen der Hymne Riego's auf den
großen Platz und stellten sich dort in Schlachtordnung, unter dem
Rufe: „Es lebe die Freiheit! Es lebe die Constitution! Zu den
Waffen!" Dies Geschrei und anhaltende Musketensalven lockten
die übrigen Bataillone herbei. Sie lagerten sich auf dem Platze
und errichteten, vom Pöbel unterstützt, überall in den Gassen
Barricaden. Die Linientruppen standen im Prado, wagten aber
keinen Angriff. Am 16. Morgens schickten die Aufrührer eine De-
putation nach Aranjuez ab, um der Regentin Preßfreiheit, ein
verändertes Wahlgesetz, Einberufung der constitutionellen Cortes,
Aufhebung aller Klöster und ein Aufgebot von 200,000 Mann
für den Krieg gegen Don Carlos abzunöthigen. Es gelang jedoch
Toreno, den drohenden Schlag für diesmal noch abzuwenden, in-
dem er treue Linienregimentcr gegen den großen Platz vorrücken
— 381 —
ließ Und die Urbanos, die kein kluges entschlossenes Haupt an
ihrer Spitze sahen, Mangel an Munition hatten und schon durch
schlaue Emissarien uneinig unter sich selbst gemacht waren,
durch Vorstellungen und Drohungen zur Niederlegung der Waffen
vermochte. Won diesem Erfolge ermuthigt, schritt der Minister
zu strengen Maßregeln. Er ließ Madrid, mit Suspension der
Gesetze, in Belagerungsstand erklaren und die Anführer der
Urbanos nebst mehreren Zeitungsredactoren verhaften. Schrecklich
wüthete in dieser Periode die Privatrache, indem die königlichen
Freiwilligen und die Urbanos sich ungestraft auf den öffentlichen
Platzen unter einander mordeten (an einem Tage wurden zwei und
zwanzig Personen getödtet). — Mendizabal war wahrend dieser
graßlichen Katastrophe von Madrid abwesend, und Toreno eilte,
an der Stelle derjenigen Minister und Generalcapitaine, die er
der Revolutionspartei geneigt glaubte, Manner von anderer Ge-
sinnung zu ernennen. Ein am 2. September 1836 erlassenes Ma-
nisest der Negentin verkündigte darauf, daß das königliche Sta-
tut aufrecht erhalten, und jeder Widerstand als Aufruhr bestraft
werden solle. Die Provinzial-Junten wurden aufgelöst, und ihre
Beschlüsse für nichtig erklart. Allein diese Verordnung fand nir-
gends Gehorsam; vielmehr erfolgte daraus, daß nun auch in
Estremadura, in Galizien, in Alt- und Neucastilien, nach dem
Beispiele der andern Provinzen, Junten zusammen traten, die
sofort Anstalt trafen, mit gcwaffneter Hand den Trotz des Mini-
sters zu bestrafen. Der Graf las Navas, einer der Anführer
der Madrider Urbanos, der nach Andalusien entkommen war, trat
an die Spitze eines revolutionären Haufens von 3000 Mann
und näherte sich drohend der Hauptstadt. Die Regimenter Gar-
dova und Königin, welche gegen die anrückenden Massen aus-
geschickt wurden, gingen zu ihnen über. Eine andere Abtheilung
aus Estremadura hatte ihre Vorposten schon über den Tajo vor-
rücken lassen. Maria Christina traf bereits Anstalten zur Flucht,
als Mendizabal, ein entschiedener Liberaler und ein Freund des
gemordeten Riego, der in Lissabon einen Tractat wegen eines
nach Spanien zu sendenden portugiesischen Hülfscorps von 6000
Mann geschlossen hatte, in Madrid erschien. Dieser mißbilligte
Toreno's unzeitige Maßregel und rieth der zagenden Regentin,
' das Ungewitter durch Nachgiebigkeit abzuwenden, da kräftiger
Widerstand unmöglich sei. Am 15. September 1833 ward Toreno
J,
— 382 —
entlassen, und ein neues Ministerium unter dem Einflüsse und bald
unter dem Vorsitze Mendizabals ernannt, der in einem Programm
allen Völkswünschen Gewährung verhieß.
Schwer war es, Las Navas zum Rückzüge zu bewegen, da
er statt Versicherungen Thaten verlangte. Jndeß schritt Mendiza-
bat auch dazu. Die Verordnungen gegen die Junten wurden
aufgehoben, und durch ein Decret der Regentin die Cortes auf den
16. November einberufen, um das königliche Statut zu untersu-
chen und ein neues Wahlgesetz für die künftigen Cort'es auf einer
zur Vertretung der allgemeinen Interessen geeigneten Grundlage
zu entwerfen. Durch nachfolgende Decrete wurden die Urbanos
in ganz Spanien zu Nationalgarden erklärt und unter ein
Oberhaupt gestellt, die meisten Mönchsklöster aufgehoben, alle un-
verheirateten Männer vom achtzehnten bis zum vierzigsten Jahre
zu den Waffen gerufen — aus welchen zunächst 1WM0 Mann
ausgerüstet werden sollten —; auch ward die Familie des hinge-
richteten Riego in ihren Ehren und Rechten wieder eingesetzt,
durch welchen letzteren Act Mendizabal unleugbar viele tausend
Herzen gewann. ■— Unterdessen war die zum Zusammentritt der
Cortes anberaumte Frist herangerückt. Christine eröffnete in Per-
son die Sitzung am 16. November, und am 21. December legte
Mendizabal den Entwurf zu einem Finanzgesetze unter dem Na-
men Vertrauungsvotum (veto de confienza) vor, durch wel-
ches die Regierung ermächtigt ward, sich alle Hilfsquellen und
Mittel zu verschaffen, die zur schleunigen Beendigung des Bür-
gerkrieges erforderlich sein könnten. Den von Martinez de la Rofa
und Toreno erhobenen Widerspruch, daß durch dieses Gesetz in
ganz revolutionärer Weise das Eigenthum der Bürger einer Min-
den Willkürgewalt Preis gegeben werde, entgegneten die Anhan-
ger Mendizabals: „Wir sind mitten in der Revolution; so laßt
uns denn revolutionär handeln!" Darauf ward das Vertrauungs-
votum auf die Versicherung des Ministers, daß das Privateigen-
thum nicht angegriffen werden solle, mit hundertfünfunddreißig
gegen fünf Stimmen angenommen.
Zu Anfange des Jahres 1836 machte Mendizabal ein Finanz-
project zum Verkaufe der Nationalgüter (Kircheib - und Klostergüter)
und zur Confolidirung der gefammten Staatsschuld bekannt, wel-
ches großes Zutrauen, jedoch mehr außerhalb, als in Spanien,
fand und viele Geldbesitzer zum Kaufe spanischer Staatspapiere
— 383 —
bestimmte. Spaniens finanziellen Bedrängnisse waren zu einer sol-
chen Höhe gestiegen, daß, ohne einen rücksichtlosen Gewaltstreich,
der Staatsbanquerot unvermeidlich war. Aus dem Etat des Fi-
nanzministers hatte sich die ungeheure Schuldenlast von vier Mil-
liardcn 646 Millionen 499,809 Realen ergeben. Schon lange
war von der liberalen Partei darauf gedrungen worden, durch El'nzie-
hung aller Kirchen- und Klostergüterden furchtbaren Andrang der Fi-
nanznoth zu hemmen*); allein bisher hatte es der Regierung
nicht rathsam geschienen, indem die Käufer noch durch die Furcht
konnten zurückgehalten werden, ihre Ankaufe für nichtig erklart
zu sehen; wie solches mit den in den Jahren 1822 und 1823
verkauften Nationalgütern geschehen war, die durch ein Macht-,
wort Ferdinands VII. den Kaufern wieder entrissen wurden. —■
Schon waren durch ein Decret vom 25. September 1835 alle Klo-
fter aufgehoben, welche weniger als zwölf ordinirte Mitglieder
hatten; doch gab es im Reiche noch 1940 Klöster, in welchen
30,906 Priester, Novizen und Laienbrüder gemachlich lebten.
Das Volk war bereits durch das Porbild der höheren Stande an
Mißachtung der sonst abgöttisch verehrten Priester gewöhnt. Ein
Beweis davon war, daß, als der bigotte Bischof von Saragossa
einen bei der Kathedrale angestellten Sanger absetzte, weil derselbe
im Theater ein patriotisches Lied gesungen, der Pöbel nach
dem erzbischöflichen Palaste stürmte und, als er hier durch die
bewaffnete Macht zurückgetrieben ward, zwei in der Nähe besind-
liche Klöster erstürmte; wobei zwölf Mönche ermordet wurden,
*) In Spanien gab es um jene Zeit 182,544 Geistliche, darunter zwei-
undsechzig Bischöfe — von denen Einige Iahreseinnahmen von zwei Mit-
lionen Franken bezogen — 1(3,481 Pfarrer, 4929 Pfarrvicarien, 17,411
Benesizianten,- 27,757 Priester ohne Benefiz, 15,015 Sacriftane, 61,727
Mönche, 24,007 Nonnen, 20,346 Laicnbrüder. Die Mönche hatten sich
nämlich unter Ferdinands Regierung binnen acht Jahren von 16.340 wie-
der auf die oben benannte Zahl vermehrt, und die jährlichen Pensionen
der Säcularisirten erheischten die Summe von fünf Millionen 177,900
Realen. Die Zahl der zu religiösen Zwecken bestimmten Gebäude belief
sich auf 28,249, die der Häuser des Clcrus betrug 159,322, die der
Mönche und Nonnen 96,878. Viele Kirchen, besonders die zu Toledo
und Sevilla, in Murcia und Escurial, waren ungeheuer reich bedacht.
Der Gesammtbetrag der kirchlich - geistlichen Einkünfte ward auf 120 Mil-
lionen Gulden jährlich geschätzt und überstieg die gesammte jährliche
Staatseinnahme um zwanzig Millionen Gulden.
— 384 —
während der Erzbischof sein Leben nur durch schnelle Flucht rettete.
Diese ungestraft bleibenden Greuel gaben gleichsam das Signal
zu ahnlichen Grausamkeiten auch in andern Städten, wo das
Volk ebenfalls die Klöster in Brand steckte, und die Mönche, welche
noch einige Verteidigung gegen die Brandstifter wagten, unbarmher-
zig niedergemetzelt wurden. Die Volkswuth war an manchen Orten
so ungeheuer, daß, wenn die Klöster in Flammen standen, surien-
artige Weiber mit graßlichem Geschrei das Feuer anschürten. Wie
eine ansteckende Seuche verbreitete sich die Mönchsverfolgung, mehr
oder weniger mit unmenschlicher Grausamkeit verbunden, durch
alle westlichen und südlichen Provinzen, und fand bald auch in
den nordlichen Nachahmung.
Im Mai 1836 erhielt Mendizabal, in Folge einer Zwistig-
keit mit der Regierung, seine Entlassung, und Jsturiz, ebenfalls
ein Liberaler, aber nicht zu der exalrirten Partei gehörig, trat an
seine Stelle. Die Demokraten wurden nun bei den nächsten Wah-
len besiegt und rächten sich durch Volksaufstände, die zuerst am
25. Juli in Malaga mit blutigen Greueln ausbrachen, (wobei
der Militair- und Civilgouverneur von der Nationalgarde ermor-
det wurde,) und die sich mit reißender Schnelligkeit über Cadix,
Sevilla, Xerez, Cordova und Saragossa verbreiteten.
In allen diesen Städten ward die Constitution von 1812 ausge-
rufen. Solchem Beifpiele folgte am 3. August ein Theil der Na-
tionalgarde von Madrid; die Regentin aber erließ zu Ildefonfo
zwei Decrete, durch welche die Nationalgarde von Madrid aufge-
löst, und die Hauptstadt selbst in Belagerungsstand erklart ward.
Die Regierung rechnete aus die Festigkeit des treugesinnten Gene-
rals Quesada, der die Besatzung von Madrid commandirte, und
ließ in den öffentlichen Blattern versichern, die Königin sei fest
entschlossen, niemals die Constitution von 1812 anzunehmen.
Allein am Abende des 12. August erhob, nach Aufführung eines
revolutionären Schauspiels, eines der in Jldesonso liegenden Provin-
zialmiliz-Regimenter die Fahne der Empörung, zog nach dem
Palaste und erzwang, trotz aller Gegenreden des Commandanten
San Roman, den Eingang. Zwölf Unteroffiziere drangen in
das Schlafzimmer der Regentin, und der Wortführer, Garfias,
legte ihr im gebieterischen Tone die Frage vor, ob sie die Consti-
tution annehmen wolle. Nach vielen vergeblichen Einwendungen
und fünfstündigem Streite gab Christine den Bitten der sie Umge-
— 385 —
benden nach und unterzeichnete eine Schrift, welche den General
Roman befehligte, die Soldaten die verlangte Constitution bis
zum Zusammentritte der Cortes beschwören zu lassen. Es geschah
dies noch in derselben Nacht, früh um zwei Uhr. Am nämlichen
Tage wurden alle strengen Maßregeln, zu denen Jsturiz gerathen
hatte, aufgehoben, und Calatrava, einer der entschiedensten Re-
volutionsfreunde, ward an seine Stelle zum Präsidenten des Mi-
nisteriums ernannt. Quesado und Jsturiz ergriffen die Flucht,
jener aber gerieth bei Horteleza unter den Madrider Pöbel und
fand unter dessen Händen den Tod; sein Leichnam ward in Stücke
zerrissen, und das Fleisch, echt cannibalisch, ausgeboten.
Die nunmehr bewilligte Constitution ließ dem Monarchen
nicht viel mehr als einen Schatten von Macht; nach Eröff-
nung der constitutionellen Cortes, welche am 24. October erfolgte,
gewannen jedoch gemäßigtere Grundsatze Eingang. Nachdem im
November ein zur Bekämpfung derselben von der exaltirten Par-
tei veranstalteter Soldatenaufstand in Madrid unterdrückt war,
ward am 17. December das Zweikammersystem angenommen, vier
Tage darauf der Krone das absolute Veto zugestanden, und im
April 1837 bestimmt, daß alle Spanier sich zur katholischen Reli-
gion bekennen sollten, wiewohl die Inquisition aufgehoben blieb.
Auf die Annahme dieser verbesserten Constitution folgte am 18.
Juni die Eidesleistung der Königin. Dem Präsidenten der Cor-
tes, Augustin Arguelles, ward der Triumph zu Theil, der
Wittwe des Monarchen, der ihn als Hochverrather zu einem
schimpflichen Tode verdammt hatte, den Eid auf die von jenem
auf's Höchste verabscheute Verfassung abzunehmen. Die beiden
künftigen Kammern der Cortes sollten Senat und Congreß
heißen, die Zahl der Senatoren sollte so groß als drei fünftel der
Zahl der Congreßdeputirten sein und vom Könige nach den Vor-
schlägen der Wähler ernannt werden.
Wahrend dieser Vorgange hatte der Bürgerkrieg in den bas-
kischen Provinzen und Navarra mit der furchtbarsten Strenge
fortgewüthet. Wiewohl Mina sein Genie und seine ganze Thatig-
fett aufbot, das in ihn gefetzte Vertrauen zu rechtfertigen, so wollte
es ihm doch nicht gelingen, ein Volk zu bezwingen, das auf Tod
und Leben für seine Rechte und Freiheiten kämpfte. Denn da das
spanische Ministerium unter Christinens Regentschaft noch eifriger,
als Ferdinands Rathgeber, darauf drang, die Privilegien der Bas-
R. G. IV* 26
- 386 —
ken aufzuheben, der Kronprätendent, Don Carlos, dagegen heilig ver-
sprach, sämmtliche Fueros nicht nur unangetastet zulassen, sondern
auch die Treue und Anhänglichkeit der Bewohner dieser Provinzen
und ihre große Aufopferung für sein göttliches Recht auf Spaniens
Thron durch freien Handel über die ganze Monarchie und andere
herrliche Auszeichnungen zu belohnen, so hielten diese in dem Kriege
gegen die gesürchtete Zwingherrschast standhaft aus, nicht für denAbso-
lutismus oder Don Carlos Herrschaft, sondern für ihr eigenes Jnter-
esse, für die Bewahrung ihrer alten heiligen Freiheit und den
von der bestehenden Negierung nur allzusehr angefochtenen Glau-
ben. Ueberdies ward der Prätendent von den Monarchen, die im
Pnnzipe des Absolutismus mit ihm übereinstimmten, mit Geld,
Munitionen und anderen Kriegsbedürfnissen, auf directen und indi-
recien Wegen, reichlich unterstützt. Holland und die italienischen
Staaten nahmen sich der Sache mit befonderm Eifer an, wahrend
Belgien auf ähnliche Weise für die Regentin Christine thätig
war. — So ward der Kampf mit der größten Hartnackigkeit,
unter barbarischen Metzeleien und Zerstörungen, fortgesetzt. Den
Grausamkeiten dieses Bürgerkriegs ein Ziel zu setzen, beschlossen
die Großmächte Europa's, eine Versöhnung zwischen den streitenden
Parteien zu versuchen und den Lord Elliot, vormaligen Secretair
der brittischen Gesandtschaft zu Madrid, in diesem Geschäfte nach
dem Kriegsschauplätze zu senden. Elliot ward zu Segura, wo
der Prätendent Hof hielt, zuvorkommend empfangen; auch Zuma-
tacarregui nahm ihn freundschaftlich auf und verhieß, den bisher!-
gen Barbareien ein Ende zu machen und keine Gefangenen mehr
erschießen zu lassen, wie es eben erst an vierzig Unglücklichen ge-
schehen war. Don Karlos selbst verstand sich zu dem Versprechen,
zu Gunsten seines Sohnes, Karl VI., abzudanken und Spanien
zu verlassen, sobald Christine dasselbe würde gethan haben. Er
willigte ferner in die unmittelbare Verlobung seines Sohnes mit
der Prinzessin Jfabella und versprach völlige Amnestie für alle
politische Vergehen, sowie Zusammenberusung der alten Cortes,
damit sie die seit Ferdinands Tode erfolgten Regierungsacten
prüfen und sanctioniren könnten. Mit diesem Bescheide verfügte
sich Elliot zu dem commandirenden General der königlichen Trup-
Pen, der ebenfalls die von den Carlisten bewilligte Übereinkunft,
den gegenseitigen Gefangenen das Leben zu lassen, auch aller zwei
vder drei Monate eine Auswechslung derselben zu bewerkstelligen,
— 387 —
unterzeichnete. So hatte Elliot, wenn auch nichts weiter, doch
eine etwas menschlichere Kriegführung der gegen einander erbit-
terten Parteien bewirkt. In Madrid wollte man sich zu keiner
Unterhandlung verstehen und selbst das von dem Feldherrn Bewil-
ligte nicht einmal anerkennen. Die Exaltados schienen sogar ge-
neigt, die Minister wegen Mitwissenschaft jener Unterhandlungen
des Hochverraths zu bezüchtigen. *
Kurz zuvor hatte Mina, wohl einsehend, daß er so wenig
wie seine Borganger ein entscheidendes Resultat herbei führen
werde, seine Entlassung vom Eommando des ihm anvertrauten
Heeres gefordert, und an seiner Statt ward dem Kriegsminister
Valdes der Oberbefehl mit sehr ausgedehnten Vollmachten über-
tragen.*) Waldes betrat den Kriegsschauplatz mit großen Ver-
heißungen und furchtbaren Drohungen. Wahrend er erstere in
einer Proelamation an seine Truppen aussprach, ward den Ein-
wohnern der insurgirten Provinzen angedeutet, daß, wenn sie sich
nicht binnen vierzehn Tagen der Königin unterwürfen, ihre Woh-
nungen ohne Schonung den Flammen sollten Preis gegeben wer-
den. „Der Brand von Moskau — sagte er — hat Rußland
gerettet! Ich bringe euch Verzeihung und Frieden, oder Verfol-
gung und Vertilgung. Die Wahl hangt von euch ab; wenn das
Wohl des Vaterlandes spricht, müssen alle menschliche Gefühle
schweigen." Dennoch vermochte auch er es nicht, die tapsern
Insurgenten in ihrem Berglande zu überwältigen, vielmehr waren
Flucht und Niederlage fast stets das Resultat seiner Anstrengungen.
Im Juni 1833 erschien eine in England geworbene Fremdenlegion
unter dem General Evans bei dem christinischen Heere. Glei-
cherweise ward eine bis jetzt in Afrika befindliche franzosische
Fremdenlegion zu Christinens Hülfe nach Spanien gesendet, und
auch aus Portugal und Belgien wurden Hülfstruppen erwartet.
— Um dieselbe Zeit traf den Prätendenten das Mißgeschick, seinen
tüchtigsten Anführer, Zumalacarregui, bei der Belagerung von
Bilbao zu verlieren. Bei der Berennung traf seinen rechten
Schenkel ein Schuß aus der Festung, der die Knochen zersplitterte,
*) Mina reiste, nachdem er das Commando abgegeben, am 16. ?tpril 1835
von Pampeluna zum Gesundbrunnen von Cambo und starb am 24. De-
cember des folgenden Jahres in Barcelona.
— 388 —
so daß er besinnungslos vom Kampfplatze getragen ward und zehn
Tage darauf (am 25. Juni) seinen Geist ausgab.*)
Bei allen Wortheilen, welche Don Carlos Anhänger über
ihre Gegner behaupteten, gelang es jenem dennoch nicht, sich in
Besitz des angesprochenen Thrones zu setzen, da er den Wider-
willen der Städte gegen das von ihm verkündigte alte Regiment
weder durch Ueberredung, noch Gewalt besiegen konnte. Die Kriegs-
züge, welche seine Anführer, Cabrera und Gomez, in das
Innere des Königreichs unternahmen, endigten im Jahre 1836, nach
Durchziehung und Ausplünderung des Landes, mit ihrer Rückkehr
nach Navarra. —- Das Jahr 1837 schien jedoch dem langwierig
gen Kampfe Entscheidung zu bringen, als Don Carlos und der
von ihm zum Oberbefehlshaber ernannte Don Sebastian, nach
mehrfachen Siegen, welche sie über Valdez Nachfolger, Sars-
field und Efpartero, erfochten hatten, im Mai Navarra ver-
ließen, nach Aragonien zogen, in einem siegreichen Treffen bei
Hueska, am 24. Mai, die Generale Irren, Barren und Leon
schlugen, im Juni den Uebergang über den Ebro bewirkten, im
Juli gegen Valencia sich wendeten und dann die Richtung auf
Madrid einschlugen. Die immer größer werdende Verwirrung
unter den Christines schien ihnen zu Hülfe zu kommen. Der
General Escalera ward zu Miranda, und der General Sars-
field mit dem Obersten Mendivil zu Pampeluna, von ihren
eigenen Soldaten ermordet, weil sie den Uebergang der Carlisten
über den Ebro nicht verhindert hatten, und in Madrid ward die
Negentin am 18. August bei einer Heerschau der Armee Espartero's,
der sich nach der Hauptstadt gezogen hatte, um dieselbe gegen die
Carlisten zu decken, durch das Geschrei der Truppen und das An-
*) Zumalacarregui hatte sich in diesem Kriege allen Generalen, die gegen
ihn fochten, überlegen gezeigt, Bei dem kevnhasten, unermüdeten und
entschlossenen Bergvolke war er ein ausgezeichneter, tresslicher Partei-
ganger. Er machte mit seinen Truppen, deren Fähigkeit, Beschwerden
zu ertragen, an das Unglaubliche grenzte, oft fünfzig englische Meilen
an einem Tage. Er mußte sich sein Heer und seine Offiziere in allen
Waffcnarten erst bilden, mußte sich Waffen, besonders Kanonen, durch
den Krieg selbst erst verschaffen. Sechsmal wechselten gegen ihndiekönigs
lichen Oberbefehlshaber, die eine woblgeübte Armee, Geschütz, Festungen
und Arsenale zu ihrer Verfügung hatten, und doch wurden alle, in Folge
seines klugen Kriegssystems, geschlagen.
— 389 —
dringen einer Anzahl von Offizieren genöthigt, ihr Ministerium zu
entlassen und Espartero zum Kriegsminister und Chef des Conseil
zu ernennen. Zwischen dem neuen Ministerium nun und den Cor-
tes, welche sich durch die Einmischung des Militairs beleidigt
fanden, herrschte heftiger Zwiespalt. Dennoch wagte der Praten-
dent selbst unter diesen Umstanden keinen ernsthaften Angriff auf
Madrid, sondern zog in den Ebenen Kastiliens hin und her-
Nachdem er im September gegen Espartero und den General
Oraa auf einzelnen Punkten Verluste erlitten hatte, ward er am
5. October vom General Lorenzo, und auf dem weiteren Rück-
zuge von dem herbeieilenden Espartero, geschlagen, und war zu
Ende des Monats wieder zurück über den Ebro, im Baskenlande.
— Die Ordnung war indessen soweit hergestellt, daß Espartero
am 30. October zu Miranda am Ebro, wo im August der General
Escalera war ermordet worden, es wagen durfte, (nachdem er
durch angedrohete Decimirung des Regiments die Auslieferung der
Thater, dreißig an der Zahl, erzwungen hatte,) zehn derselben
auf der Statte des Frevels erschießen, die andern nach den Galee-
ren abführen zu lassen und das Regiment selbst aufzulösen. Am
14. November ließ derselbe General zu Pampeluna über die Mör-
der Sarsft'eld's und Mendivil's Gericht halten, worauf am 16,
der Brigadier Jriarte, der Bataillonschef Barreias und vier
Sergeanten erschossen wurden. So blieb die Frage noch immer
unentschieden, ob Don Carlos, ob Isabelle die Krone Spaniens
tragen, und wer von Beiden dem Andern weichen solle!
Die Herzogin von Berrh, Hie Kegitimisten
und die Republikaner in Frankreich.
Die Herzogin von Berry/ die wir in dem Schlosse Holy-
rood verlassen haben, entfernte sich bald von der übrigen könig-
lichen Familie. Im Vertrauen auf die vermeintlich große Zahl
ihrer Freunde und Anhänger in Italien und Frankreich, verließ
sie das gemeinschaftliche Asyl und begab sich zuerst an die verschie-
— 390 —
denen Hofe Italiens, wo sie sich mit Contrerevolutionsplänen be-
schaftigte. In Rom hoffte sie den Pabst, Gregor XVI., für
ihre Sache zu gewinnen; allein der heilige Vater schien absichtlich
alles öffentliche Zusammentreffen mit ihr zu vermeiden, da er nicht,
wie sonst, am Namenstage Karls X. (4. Nov.) in der Karls-
kirche am Corsa erschien, weil er dort die Herzogin mit Gewißheit
erwarten konnte. Endlich wagte sie auf eigene Gefahr, den aben-
teuerlichen Versuch, in Frankreich selbst , durch Aufruhr und Bür-
gerkrieg , den Thron des Bürgerkönigs umzustürzen, auf welchem
sie als Regentin und Vormünderin ihres unmündigen, nach jesuiti-
schen Grundsätzen erzogenen Sohnes (Heinrich V.) mit absoluter
Machtvollkommenheit, wie einst Catharina von Medicis, zu
herrschen hoffte.
Im Anfange des Jahres 1832 erhielt die französische Regie-
rung Kunde, daß in Marseille und der dortigen Küstengegend
legitimistische Umtriebe statt fanden, daß verdächtige Fremde das
Land durchzögen, welche in den benachbarten Departements die
Bevölkerung zur Erhebung Heinrichs V. in die Waffen zu bringen
suchten und sie auf die nahe Ankunft der Herzogin von Berry
vorbereiteten. Man ward sogar unterrichtet, daß besonders in
Marseille auf den 28. April Alles zu einem Hauptschlage vor-
bereitet worden sei. Die dortigen Truppenchefs erhielten demnach
gemessene Befehle, sich zum kraftvollsten Widerstande bereit zu hal-
ten. Am 30. April Morgens wehete in der That vom Kirchthurm
St. Laurent eine weiße Fahne, und man sah viele Einwohner
nach der Esplanade la Tourette eilen, indem sie nach einem
Dampfschiffe, das sich -weit auf der See zeigte, sehnsuchtsvolle
Blicke richteten. Andere Massen drängten nach dem Iustizpalaste
hin, wo sie jedoch ein starkes Piket Linientruppen unter Commando
des entschlossenen Lieutenants Chazal vorfanden, der die Menge
nicht nur auseinander trieb, sondern auch einige der Anführer fest
nahm. Somit war der beabsichtigte Aufstand in Marseille unter-
drückt. Die weiße Fahne ward herunter gerissen, und auf dieses
Unglückszeichen kehrte das dem Hafen zusteuernde Dampffchiff
schnell wieder zurück. Der erste Versuch war also gescheitert, und
nicht minder mißglückten auch die in Toulon, Montpellier
und Nismes veranstalteten Aufstande, wobei es zwar zu bluti-
gen Auftritten gekommen war, die aber kein günstiges Resultat
für die Carlisten lieferten.
— 391 —
Die Herzogin von Bern), welche sich auf jenem Dampfboote
befand, erreichte unter mancherlei Fahrlichkeiten im offnen Boote, be-
gleitet von sechs ihrer Getreuen, worunter auch Marschall Bour-
mont sich befand, die Küste zwischen Marseille und Perpignan,
wo sie an's Land stieg; sie durchreiste, versehen mit einem falschen
Passe, den ganzen Süden Frankreichs und begab sich von Bor-
deaux in die Wendee. Das Fahrzeug, auf dem sie übergeschifft
war, wurde, ob es gleich unter sardinischer Flagge segelte, von einer
französischen Kriegsbrigg nach Marseille geführt, wo bei genauer
Durchsuchung, in verborgenen Fachern der Zwischenwände des Schis-
ses, das Testament der Herzogin und eine nicht unwichtige Cor-
respondenz derselben mit dem Turiner Hofe gefunden wurden.
In der Vendee fand die kühne Frau allerdings einen ihren
Planen zusagenden Boden; denn hier herrschte bei der unwis-
senden und abergläubischen Bevölkerung, die noch keinen Schritt
über das Mittelalter hinaus gethan, neben der Perehrung der Re-
liquien und Wallfahrtsorte, die größte Anhänglichkeit an die legi-
time Königsfamilie. Daher ward es der Herzogin nicht schwer,
eine Wiederholung der alten Greuel zu bewirken, deren Schau-
platz diese Geqend vierzig Jahre früher gewesen war. Zu gleicher '
Zeit erhob sich das Banner der Empörung in den beiden Tevres-
Departements, in der Maine, der .Ober- und Nieder-Loire, Am
wüthendsten zeigten sich die wiedererwachten Ehouans. Sie ver-
stärkten nach der Herzogin Ankunft taglich ihre Hausen und tra-
ten den königlichen Truppen überall kampflustig im offenen Felde
entgegen. Erfahrene Offiziere der aufgelösten königlichen Garden
führten sie an, und regelmäßigen Sold erhielten sie aus den Fonds
eines legitunistifchen Comite zu Paris. Mörderische Gefechte
fanden vorzüglich in der Umgegend vonBlerne statt, in der Nähe
des Schlosses Kontier und an vielen andern Orten. Die Chouans
fochten mit großer Erbitterung, allein sie' waren mit schlechten
Waffen versehen und daher fast immer im Nachtheil gegen das
regelmäßige Militair. Die ganze Zahl der aufgestandenen Vendeer
ward auf 20,000 Mann angegeben, unter denen etwa 1500 gut
exercirte Leute, zum Theil Schweizer, sich befanden, General
Bonrmont sollte den Oberbefehl über diese Massen führen, wie
man aus aufgefangenen Depeschen ersehen; aber es fehlte doch
den zum Bürgerkriege aufgereizten Hausen ganz an Einheit des
Kriegsplanes, sowie an Zusammenstimmung der verschiedenen
— 392 —
Corpsbewegungen. Die empörten Bezirke, in welchen die Kriegs-
flamme am heftigsten loderte, wurden von der Regierung in Be-
lagerungsstand erklärt, durch welche Maßregel die Bauern, da
nun nach-dem Kriegsgesetze schnelles Standrecht geübt ward, bald
eingeschüchtert wurden. Also legten, nach den graßlichsten Mord-
und Brandscenen, gegen Ende Mai mehrere Districte die Waffen
nieder. Andere folgten ihrem Beispiele. Die Anführer irrten,
von ihren Getreuen verlassen, in der Gegend umher, schützende
Verstecke suchend. In dem Departement der Niedern Loire wüthete
der Kampf indeß noch fort, bis die Anführer in Gefangenschast
geriethen; worauf auch die Gemeinden dieses Bezirks sich zur
Unterwerfung erboten. Dennoch sielen dort die empörendsten
Greuelscenen vor. In Latour-Landoy, einem Flecken unweit
Angers, metzelten die Chouans zwanzig Militairpersonen nieder
und stachen dem Maire die Augen aus. Bei Vieilvigne kämpf-
ten die empörten Bauern, aufgehetzt von fanatischen Priestern,
mit der wildesten Verzweiflung gegen ein Bataillon Linientruppen.
Bis auf Wenige geschmolzen, zogen sie sich endlich auf den Psarr-
Hof zurück, wo sie zu capituliren verlangten. Als man aber Er-
gebung auf Gnade und Ungnade von ihnen forderte, tödteten sie
sich untereinander selbst, und die Sieger erbeuteten nur Leichen.
Bei Mortagne in der Vendee fand ein ähnliches Gemetzel statt,
an welchem auch die Nationalgarde mehrerer umliegenden Orte
Lheil nahm. Das graßlichste Ereigniß hatte jedoch am 7. Juni
statt, in einem alten Schlosse, la Penissiere, wo 200 Chouans
nebst den ausgezeichnetsten Häuptlingen von mehreren Compag-
nien königlicher Truppen angegriffen wurden. An Ergebung war
hier nicht zu denken, und der Verlust, den die Angreifer durch der
Chouans unbesiegbaren Widerstand erlitten, bewog jene, in wilder
Rachewuth Feuer in das Schloß zu werfen. Das alte Gebäude
verbrannte mit Allen, die darin waren, und die Wenigen, die zu
entrinnen suchten, wurden von den erbitterten Soldaten niederge-
stoßen. Das Gerücht verbreitete sich, die Herzogin von Berry
sei mit in dem Schlosse gewesen und wie die Andern in den Flam-
men umgekommen. Eine ihrer treuesten Anhängerinnen, die Frau
von Laroche-Jaqu elin, hatte nämlich unter Thränen ihre Hau-
fen mit den Worten entlassen: „Ich muß mich jetzt von euch
trennen, denn ein großes unersetzliches Unglück ist geschehen;"
woraus nun geschlossen ward, daß die Herzogin mit verbrannt
— 393 —
sei. Auch bestätigten mehrere zur Unterwerfung gezwungene Chouans-
Häuptlinge diese Meinung. Jndeß wies sich bald aus, daß
solches nur geschah, der Herzogin Flucht aus dem Lande zu erleich-
tern. Sie selbst irrte in mannigfacher Verkleidung umher., Oft-
mals ward sie erkannt; immer rettete sie ihr Muth und die Treue
ihrer Anhänger, vornehmlich auch wohl das nationale Ehrgefühl
ihrer Gegner, welches die Schmach des Angebens scheute.
Die Carlisten gaben jedoch die auf diese unternehmende Frau
gebauten Hoffnungen noch nicht auf, sondern liehen sogar ihre Hülfs-
mittel den Republikanern zu ihren Planen, in der Meinung, daß
Heinrich V. leichten Eingang finden werde, wenn nur erst Lud-
wig Philipp aus dem Wege geschafft sei. In Paris, wie in
allen großen Städten des Reiches, hatten die Legitimisten noch
immer zahlreiche Anhänger, und mit ungeheurem Hasse ward Lud-
wig Philipp von ihnen verfolgt. Ihre Mordplane drangen sogar
mit den Schlüsseln des Louvre bis in die Tuilerien, ja, selbst
bis an des Königs Schlafzimmer, bevor sie entdeckt wurden.
Nicht minder waren die Republikaner von Haß gegen den Bür-
gerkönig entflammt. Den Letzteren bot der Tod des General La-
marque, eines als großer Patriot und Volksredner gepriesenen
Mannes, die erwünschte Gelegenheit zu einem Sturme auf den
Thron ihres Feindes. Lamarque war in der Nacht vom 1. auf
den 2. Juni verschieden, und zu seinem Begräbnisse wurden außer-
ordentliche Vorkehrungen getroffen. Manner von hochberühmtem
Namen, unter ihnen Lafayette, hatten sich erboten, das Bahrtuch
zu tragen; durch große Deputationen wollten die Flüchtlinge aller
in Paris anwesenden Nationen — Spanier, Italiener, Polen,
Deutsche — sich dem Trauerzuge anschließen, und im Namen
einer jeden sollte eine Rede am Grabe des Entschlafenen gehalten
werden ?c. In den Zusammenkünften der Republikaner ward be-
schlössen, die Leiche mit Gewalt in das Pantheon zu führen, und
zu diesem Zwecke dringende Einladungen an die Schulen, die
Comptoirs und die Werkstätten der Arbeiter erlassen, sich zahlreich
bei dem Leichenzuge einzufinden. Die Carlisten ihrerseits beor-
derten ihre Söldlinge, den Bewegungen der Republikaner zu fol«
gen und sie zu unterstützen. Die besorgte Regierung traf nun
ebenfalls Vorkehrung, den Ausbruch eines Volkstumultes zu ver-
hindern. Am Begrabnißtage (5. Juni) versammelten sich in der
Frühe die verschiedenen Parteien auf den öffentlichen Platzen, und
schon hörte man bin und wieder den Ruf: „Es lebe die Republik!"
Indeß blieb der Trauerzug unangefochten bis zum Bastillenplatze.
Hier aber sielen bewaffnete Haufen denselben an und zwangen
ihn, nach dem Pantheon zu lenken. Ein Dragonerregiment, am
Ende der Boulevards Bourbon aufgestellt, leistete Widerstand;
aber neue Schaaren Bewaffneter, besonders aus Zöglingen der
polytechnischen und der Weterinairschule bestehend, strömten herbei
mit dem wüthenden Geschrei: „Es lebe die Republik! Nieder mit
Ludwig Philipp!" Die Dragoner hieben ein, wurden aber bald
mit Pistolensalven und einem Steinhagel zur Flucht genöthigt.
Eine rothe Mütze auf einer hohen Stange und eine roth, schwarz
und goldene Fahne wurden als Wahrzeichen des Aufstandes em-
porgehoben. Lafayette, der Veteran der Republikaner, ward be-
kränzt, dann, fast ohnmächtig, in einen Wagen gehoben und
nach seiner Wohnung gebracht, wo er Thranen des bittersten
Schmerzes soll vergossen haben. — Indeß nahm der Aufruhr
einen immer wilderen Charakter an. Der Laden eines Waffen-
schmiedes ward erstürmt, und mit den darin erbeuteten Flinten und
Säbeln die Menge bewaffnet; in mehreren Straßen wurden Bar-
ricaden errichtet, und bis zum Einbrüche der Nacht U'e Empörer
von den Linientruppen und der Nationalgarde bekämpft, ohne
überwältigt zu werden.
Am andern Morgen erneuerte sich der Kampf. Der König,
der noch vor Einbruch der Nacht von St. Cloud nach Paris
gekommen war, hielt auf dem Carousselplatze über die Truppen
und Nationalgarden Heerschau und beorderte sie zum Angriffe nach
den von den Aufrührern besetzten Stadttheilen. Zu gleicher Zeit
rückten die Legionen des Stadtbannes ein und füllten die Lücken
auf denjenigen Punkten, wo die Nationalgarde die Fortsetzung des
Gefechtes gegen ihre Mitbürger verweigerte. So ward durch eine
Macht von 6V,WO Mann am Ende der Widerstand der Aufrüh-
rer gebrochen. Nur von dem Thurme St. Mercy tönten noch
die Sturmglocken. In dieser Kirche hatten die wildesten Rotten,
fast lauter junge Leute, angeführt von einigen Alten, die schon
beim Sturme der Bastille thatig gewesen, sich verschanzt und
machten aus der Kirche, wie aus den nahe liegenden Hau-
sern, ein mörderisches Feuer auf die Angreifer. Der General
Tiburtius Sebastian! ließ endlich die Schüren durch Kano-
nenschüsse sprengen. Die Stürmenden drangen ein und unter
— 395 —
gräßlichem Gemetzel wurden die letzten verzweifelten Kampfer
überwältigt.
Nach diesem Siege hielt der König seine Sache für gewon-
nen und erließ auf Anrathen der Minister am Abende desselben
Tages — der Charte entgegen — eine Ordonnanz, durch welche
Paris in Belagerungsstand erklart, und die Bestrafung der Auf-
rührer an Kriegsgerichte überwiesen ward. Die königliche Verord-
nung ward gleich am folgenden Tage durch Entlassung der poly-
technischen und der Veterinairfchule, durch Auflosung der Artillerie
der Nationalgarde :c. in Kraft gesetzt. An 1600 Personen wur-
den verhaftet, unter denselben auch die legitimistischen Haupter
Fitz James, Hyde de Neuville, Pastoret und Chateau-
briand. Als aber die Volksstimme gegen diese Gewaltmaßregel
sich erhob, und der alte Lasayette öffentlich dagegen einkam, da
faßte der Cassationshof den Muth, die Appellation der von dem
Kriegsgerichte zum Tode Berurtheilten anzunehmen, und verwarf,
nachdem Odilon Barrot den ersten derselben — einen Maler,
der beschuldigt war, die Auftuhrfahne getragen zu haben —
vertheidigt hatte, die sainmtlichen Urtheile als widergesetzlich.
An demselben Tage hob die Regierung, der Meinungsgewalt
nachgebend, sörmlich den Belagerungsstand auf (29. Juni). Der
Minister des Innern, der zu der harten Maßregel gerathen und
die Ordonnanz unterzeichnet hatte, ward entlassen. An seine
Stelle trat am II. October Thiers, ein junger Mann, der sich
schon als Schriftsteller Beifall erworben hatte. Zugleich traten
mehrere neue Mitglieder in's Ministerium ein.
Die Bestrebungen des neuen Cabinets gingen vor allem da-
hin, das durch Aufhebung des Belagerungsstandes gesunkene An-
sehen der Regierung durch strengere Maßregeln gegen die ihr seind-
lichen Parteien wieder zu heben. Der Kriegsminister, Marschall
Soult, erließ ein Umlausschreiben an die Generalcommandanten,
in welchem es hieß: „Die Banden der Uebelthater müssen verschwin-
den, und ihre Haupter, wie auch immer ihre Namen und ihr Rang
sein mögen, müssen den Händen der öffentlichen Macht überliefert
werden." Gleiche Jnstructionsfchreiben ertheilte der Minister des
Innern an die Prafecten der Departements des Süden und Westen,
wo die Legitimisten noch immer in voller Thatigkeit waren. *)
*) Ihre Verbindungen waren sehr weit verzweigt. Zur Beförderung ihres
— 396 -
Endlich gelang es dem Eifer dieses Ministers, die Herzogin
von Berry in gefängliche Hast zu bringen. Einer der Eingeweih-
len, Deutz, auf den die bethörte F^u ihr größtes Vertrauen
gesetzt, der aber durch große Verheißungen gewonnen war, ver-
rieth ihren Aufenthalt. Am 7. November 1832 ward sie zu Nan-
tes im Hause 'einer ihrer Anhängerinnen, der Demoiselle Du-
g uigny, aus einem auf dem Boden künstlich angebrachten Kamine
gezogen und mit drei ihrer Getreuen, zwei Männern und einer
Dame, gefangen genommen. Zu dieser Verhaftung waren, außer
den Polizeiagenten, SOG Mann Truppen und alle in der Gegend
befindliche Gensd'armen aufgeboten worden, da die Regierung
einen neuen Wolksaufruhr zu Gunsten der Gefangenen fürchtete.
Diefe ward bald darauf nach dem festen Schlosse la Blaye bei
Bordeaux geführt. — Das Cabinet sah sich durch diese Gesan-
genschaft in mißliche Verhaltnisse gebracht. Die Opposition ver-
langte nämlich, die königliche Gefangene, welche fortwährend von
den Legitimisten als die Heldin Frankreichs gepriesen ward, solle,
gleich andern Unruhstiftern, vor Gericht gestellt werden. Der
König und die Königin aber wollten durchaus nicht, daß eine so
nahe Verwandte dem zu erwartenden Todesurtheile ausgesetzt
werde. Madame Adelaide, des Königs Schwester, nannte den
Minister, der die Verhaftung eingeleitet (Thiers), einen Schelm
(polisson), der es gewagt, Hand an eine Prinzessin von könig-
lichem Geblüte zu legen. Es ließ sich voraussehen, was erfolgen
würde, wenn man der drohenden öffentlichen Meinung nachgab
und die königliche Gefangene vor die Assisen stellte, indem die
Gerichte zu Blois und Laval mit furchtbarer Strenge gegen
ihre Anhänger verfuhren und rücksichtslos die angesehensten Per-
Briefwechsels hielten viele adelige Familien vertraute Diener mit stets
gesattelten Pferden bereit, die anlangenden Depeschen schnell zu beför?
dern. Die Hauptsitze der carlistischen Gesellschaften waren die bifchöfli?
chen Residenzen, die Hauptpfarrorte und die Semincirien. Alle von dort
ausgehende Circulaire trugen das Wappen Heinrichs V., und sobald die
vertrauten Boten jenes Siegel erblickten, galten die Depeschen ihnen als
Heiligthümer, die selbst mit Gefahr des Lebens augenblicklich mußten
befördert werden. Dabei fehlte es auch nicht an Telegraphen von höchst
sinnreicher Erfindung. Hierzu gehörte die Art des Geläutes der Glo-
cken, das Klappern der Mühlen, der Schall des Jagdhorns und das
Pfeifen der Bauern; ja, sogar das doppelte Bellen abgerichteter Hunde
benachrichtigte die Eingeweihten von drohender Gefahr.
— 397 —
fönen als Anstifter des Aufruhrs zum Tode verurtheilte. Cha-
teaubriand, Hyde de Neuville und einundzwanzig Advocaten von
Aix boten sich zu Vertheidigem der Mutter Heinrichs V. an,
der unerschrockenen Heldin, deren Muth die höchste Bewunderung
verdiene." Die Gefangene erhielt Adressen, die ihren nahen
Triumph verkündeten, und mehrere Städte des Süden und We-
ften wagten sogar, ihre Wünsche für sie durch den Druck zu ver-
öffentlichen» In der That hatte das Neue des Schauspiels, das
durch diese kecke Frau veranlaßt ward, eine Art Enthusiasmus
in dem stets neuenmgsfüchtigen franzosischen Volke erregt.
Nach langem Streiten in der Deputirtenkammer für und ge«
gen die Gefangene ward endlich der Beschluß gefaßt, die Herzogin
von Berry solle nicht vor Gericht gestellt, jedoch in einer Festung
so lange gefangen gehalten werden, als die Sicherheit des Staa-
tes solches erheische. Eben waren in Folge dieser Verfügung, Unter-
Handlungen über den künftigen Aufenthalt der Herzogin mit
Oesterreich und Neapel angeknüpft, als sich ein bedenkliches Ge->
rücht von dem Gesundheitszustände der Gefangenen verbreitere.
Ihre Anhänger unterließen nicht, die Schuld dieser Krankheit der
schmählichen Behandlung beizumessen, welche die erhabene Frau
in der über sie verhängten Gefangenschaft erdulden müsse. Die
von der Regierung nach Blaye gesendeten Aerzte aber brachten die
Nachricht zurück, daß die hohe Kranke sich guter Hoffnung be-
fände. Lange sträubten sich die Legitimisten auf das Aeußcrste,
dieser bei dem Wittwenstande der Prinzessin höchst mißlichen
Meldung Glauben zu schenken. Allein am 10. Mai 1833 traf
eine telegraphische Depesche von Blaye ein, welche die glückliche
Entbindung der Herzogin von einer Tochter meldete. Dies Ereig-
niß entwaffnete die Parteien. Zwar ward zur Ehrenrettung der
Dame jetzt ausgesagt, daß sie heimlich vermahlt sei, und der
Marchese Hector von Luchefi-Palli, zweiter Sohn des Vi-
cekönigs von Sicilien, der die Stelle eines neapolitanischen Ge-
sandten am Hofe des Königs der Niederlande bekleidete, als ihr
Gemahl genannt. Dies Vorgeben ward jedoch von ihren
Gegnern nur mit dem bittersten Hohne und Spotte beantwor-
tet, und der Ausgang des heroischen Unternehmens, das nun-
mehr zum Gelachter geworden, hatte den Zweck desselben für im-
mer vereitelt; die Legitimisten hörten auf, von dieser Seite Erfolge
zu hoffen, die Liberalen, sie zu fürchten.
— 398 —
Somit waren alle Schwierigkeiten gehoben, und der Hof
fand keine Ursache mehr, sich der Person der hohen Wöchnerin zu
versichern. Sobald es daher ihr Gesundheitszustand erlaubte, ward
sie, nebst der Amme mit dem Kinde und einiger Dienerschaft, nach
Sidlien eingeschifft. Das zuschauende Volk verhielt sich ruhig und
bezeigte keine Theilnahme an dem Geschicke der Mutter Hein-
richs V. Den 3. Juli stieg die gewesene Herzogin, jetzige Mar-
chese Luchesi-Palli, zu Palermo an's Land. Ihr Gemahl hatte
sie schon Tags zuvor auf dem Schiffe besucht. Ein königli-
cher Wagen führte sie nach dem Palaste, wo sie von dem Vicekö-
nige, ihrem nunmehrigen Schwiegervater, ehrfurchtsvoll empsan- -
gen ward. Doch nahm sie die ihr angebotene Wohnung im Palaste
nicht an, sondern bezog ein in der Nahe der Stadt gelegenes
Landhaus, von wo sie sich spater nach Oesterreich begab.
Die St. SimoniOen.
Die Secte der St. Simonisten in Frankreich bildete einen
Verein von Schwärmern, die eine ganz neue Ordnung der gesell--
schaftlichen Verhaltnisse aufrichten wollten, einen die ganze Mensch-
heit umfassenden Verband, in welchem das Privateigenthum, als
Ursache der menschlichen Ungleichheit, ausgeschlossen sein, alles Ver-
mögen der Einzelnen den leitenden Oberhauptern übergeben, und
von diesen jedem Mitgliede die nach Maßgabe seiner Fähigkeiten
ihm zukommende Arbeit zugetheilt werden sollte. Schon unter
dem Directorium hatte ein Jacobiner, Namens Babeauf, zur
Verwirklichung der Gleichheit, welche die Republik verheißen hatte,
Gütergemeinschaft gefordert, war aber von den Machthabern auf
die Guillotine geschickt worden. Der Graf Saint-Simon, der
unter der Restauration die nach ihm genannte Gesellschaft stiftete,
war ein tiefer Denker und bewahrter Menschenfreund. Er faßte
seine Lehre in ein philosophisch-religiöses Gewand und fügte kirch-
— 399 —
liche Formen hinzu, mit der Verkündigung, daß durch dieselbe
die mangelhafte Seite des Christenthums ergänzt, und die groß-
artige Aufgabe gelost sei, den Geist mit der Materie, oder die
geistige Welt des Christenthums mit der materiellen Welt des
irdischen Strebens zu umfassen und beide mit einander zu ver-
söhnen und zu vereinen. Gleich Muhamed berief er sich auf die
von Jesu selbst ausgesprochene Vorhersagung einer zu erwartenden
Vervollständigung des Evangeliums (Joh. 16, v. 12. 13.) und
behauptete, derjenige zu sein, auf welchen in dieser Stelle hingewie-
sen worden. Er starb mit der Zuversicht eines Propheten am 19.
Mai 1825. Nach seinem Tode führten seine Schüler das begon-
nene Unternehmen weiter fort, und mancherlei Umstände, besonders
der derzeitige Sieg des Unglaubens und der Freidenkere! über das-
jenige, was bisher in Frankreich Christenthum geheißen, begün-
stigten die Ausbreitung der Lehren und Grundsatze des St. Simo-
nismus, obwohl dieselben im hohen Grade als phantastisch und zer-
störend für die bisherigen Formen der bürgerlichen Gesellschaft
jedem Unbefangenen erscheinen mußten. Durch Schriften genialer
Mitglieder, besonders durch die mit Geist verfaßten und mittelst
des Journals le Globe weitverbreiteten Zeitschrift-Homilien,
fanden sie selbst in den höheren Standen viele AnHanger, wah-
rend sie durch Begünstigung der materiellen Interessen eine Masse
Proselyten von Handwerkern, Fabrikarbeitern und Tagelöhnern
gewannen. Sonach griffen ihre Doctrinen unter dem Mantel
philosophischer Exaltation nach oben, und durch die Vorspiegelung
ansehnlichen Gewinnes, nach unten immer weiter um sich. Unter
dem Namen von Schenkungen vermehrten sie von Zeit zu Zeit
ihre Kasse; ja, es fanden sich schwärmerische Thoren, welche der
heiligen Gesellschaft ihr ganzes Vermögen überließen und nur
von einer Leibrente lebten, welche der Simonisten-Papst nach Gut-
dünken bestimmte. Endlich erregte jedoch das Treiben der gefahr-
lichen Secte die Aufmerksamkeit der Negierung, besonders durch
den auf die Simonisten gefallenen Verdacht, an Unruhen, die um
jene Zeit in Lyon stattgefunden, thatigen Antheil genommen zu
haben. Sie entdeckte nun auch, daß die Oberen Mifsionaire nach
Deutschland gesendet und höchst verdächtige Geldvertheilungen unter
der Klasse der Arbeiter zu Paris und Lyon gemacht haben.
Fast zu gleicher Zeit (gegen Ende des Jahres 1831) verun-
einigten sich die obersten Vater der Gesellschaft, Bazard, Ro-
— 400 —
drigues und En fantin, über eine von Letzterem ausgesprochene
neue Theorie der Ehe und der bisher unterdrückten Rechte des
weiblichen Geschlechts. Nach Ensantins Meinung sollte die ge-
schliche, durch die Religion geheiligte Verbindung der Geschlechter
mit der Willkür vertauscht, und den Priestern und Priesterinnen
Geschlechtsvereinigung mit den Untergebenen, als Veredelung des
alten feudalistischen Herrenrechtes, zugestanden werden. Rodrigues
behauptete, Enfantin kenne das Weib gar nicht, und weil er nicht
geheirathet habe, beruhe seine Theorie von dem „vollkommenen
Weibe" nur auf leeren Phantasien. In diesem Streite kamen
höchst anstößige Geschichten zur Sprache, wozu der abgesetzte Papst
(oder oberster Vater) sein Scherflein emsig beitrug. Enfantin
erklarte sich nun zum Papste und ließ einen leeren Sessel für die
noch nicht gefundene Papstin, „das freie Weib," neben sich stellen;
die beiden Andern aber sagten sich von der Gesellschaft los. Der
scandalöse Zank ward im Globe zur öffentlichen Kunde gebracht,
wobei denn auch manche staatsgefahrliche Lehren und Maximen
des St. Simonismus so stark in's Licht traten, daß die Regierung
zum Einschreiten sich bewogen fühlte. Von dem Kriegsminister
ward an alle commandirenden Generale der Armee ein Umlauf-
schreiben erlassen, in welchem sie zur Wachsamkeit gegen die Ver-
suche der Simonisten, unter den Truppen Proselyten zu machen^
aufgefordert wurden. Bald darauf drangen Polizeicommissaire,
von Nationalgarden begleitet, in den Versammlungssaal, wo
unter dem Vorsitze der obersten Vater eine große Anzahl Jünger
und Jüngerinnen vereint waren. Die phantastische Gesellschaft
ward aus dem Saale gewiesen, und dieser im Namen des Gesetzes
geschlossen und versiegelt. Enfantin's und Nodrigue's Briefwechsel,
die Rechnungsbücher der Gesellschaft und die Papiere des Globe
wurden in Beschlag genommen, und die Oberen der Secte vor Ge-
richt gefordert, um sich gegen schwere Beschuldigungen zu ver-
Lheidigen, Das gerichtliche Verhör gab jedoch kein anderes Re-
sultat, als daß die gesetzliche Bestimmung, keine öffentliche, von
mehr als zwanzig Personen besuchte Versammlung halten zu dür-
fen, übertreten sei, wofür die angeklagten Schwärmer in Strafe
genommen wurden.
Den Fortschritten des St. Simonismus that indeß dies Ver-
fahren keineswegs Eintrag; vielmehr ward dadurch der phanta-
ftische Aufschwung des Bekehrungswerkes außerordentlich befördert,
— 401 —
intern sich immer mehr Enthusiasten fanden, die dem Simon isten-
Papst zur Unterstützung der neuen Lehre einen großen Theil ihres
Vermögens (in Summen von 35,000 bis 100,000 Franken) dar-
boten. Nun ließ Vater Enfantin in den Straßen La Tour d'
auvergne, in der Contrescarpe und St. Antoine, im Odeon und
auf dem Place de la Sorbonne, kurz, in allen Bezirken der Haupt-
stadt, Vorlesungen halten, die aber nur von zwanzig Personen
durften besucht werden. Er gab dabei Soirees, wo Banz, Musik
und emphatische Declamation über das neue Messiasreich mit
einander abwechselten, und wozu Leute von jeglicher politischer
Meinung eingeladen wurden, um sie durch beredte Apostel zu
bekehren. Er bezahlte für seine Jünger und Jüngerinnen Logen
im Theater, ließ auch die Auserwahlten nach den Boulevards und
den verschiedenen Salons fahren, um den Glanz der neuen 9Wi-
gton zu erhöhen und die Massen anzulocken, unter welchen man
bereits 8000 Arbeiter zahlte, die regelmäßigen Sold aus dem.
simonistischen Fonds erhielten. Es wurden wöchentlich 12,000
Exemplare Volksschriften gedruckt und größtentheils unentgeltich
ausgegeben, in welchen die Gemüther in jederlei Ton (karlistisch,
republikanisch ;c.) für den nahen Umsturz des Bestehenden empfang-
lich gemacht wurden. Der heilige Vater sendete Missionaire in
die südlichen Provinzen und nach Italiens, spater auch nach Eng-
land, ja, sogar in den Orient, um unter dem Vorwande, das
vollkommne Weib zu suchen, der widersinnigen Lehre Prosely-
ten zu verschaffen. Seine Geldmittel waren um die Mitte des
Jahres 1832 so ungeheuer gestiegen, daß er sich nicht scheute,
der Regierung jährlich 100,000 Franken Miethe anzubieten, wenn
sie ihm das Elysee Bourbon, einen der prächtigsten Palaste in
Paris, für simonistische Zwecke einräumen wollte.
Bald jedoch kam die neue „allgemeine Kirche" durch ihre Lehre
von der Ehe, besonders bei den Frauen, nicht nur in Mißcredit,
sondern ward obendrein lächerlich. Viele öffentliche Blatter kämpft
ten mit scharfen Waffen gegen sie. Doch schadeten die ernsten
Angriffe derselben bei weitem nicht soviel, als die Macht der Sa-
tyre, in welcher bekanntlich die Franzosen eine wahre Virtuosität
besitzen. Auch ward den Angreifern ihr Spiel schon dadurch sehr
*) Die Sendlinge reisten in apostolischer Tracht mit dem Eiüvagen und
waren meistens Zöglinge der polytechnischen Schule und Ädvocaten.
N. G. IV. 20
\
— 402 —
erleichtert, daß die Simonisten phantastisch genug waren, Nichts
von dem zu vermeiden, was selbst in den Augen des Ernsthafte-
ften lacherlich erscheinen mußte; wie z. B. der widersinnige Dün-
kel, mit dem sie den Stifter ihrer Schule für einen Gesandten
Gottes, und seine Lehren für Offenbarungen ausgaben, ja, sich
selbst zu Kirchenvätern Und Priestern erhoben. Und als der Simo-
nismus einmal in das Reich des Lacherlichen gerathen war, ver-
mochte ihn in Frankreich nichts mehr von seinem Falle zu retten.
Da nun für die Vater der heiligen Gesellschaft in ihrem Vater-
lande nichts mehr zu gewinnen war, so machten sie sich auf, ihr
Heil in fernen Landern zu suchen. Vater Enfantin ging mit meh-
reren seiner treugebliebenen Schüler nach Egypten, dort seine
Traume in Umlauf zu bringen; Andere gingen nach London zu
demselben Zwecke*). Die übrigen Jünger kehrten— manche nach dem
Verluste eines bedeutenden Vermögens — in die bürgerliche Ge-
sellschaft zurück. Wiewohl sich in Paris noch spater zuweilen
ein Simonist mit langem Barte, sammetnem Barrett, hinten zu-
geschnürter Weste, kurzem Oberrocke und langen, rothen Beinklei-
dem auf den Straßen zur Ergötzlichkeit der Gaffer sehen ließ,
gerieth doch das ganze Possenspiel bald in Vergessenheit. -
*) Hier ließ man ihre Lehre jedoch nicht aufkommen, da die öffentliche '
Meinung gleich gegen sie eingenommen ward. „Wir hoffen, — hieß es
unter anderm in einem vielgelesenen Blatte — das; dieses Gelichter von
Betrügern, Wollüstlingen, revolutionairen Fanatikern und Verrückten
von du- Polizei aufgegriffen werden wird; wenigstens sollte man
ihnen nicht erlauben, ihre gotteslästerlichen Narrheiten von Gemein-
samkeit der Güter und der Weiber von den Dächern zu predigen."
\
— 403
Mordanschlag auf Hen König GuHwig
Uhilipp.
Paris war wegen des großen Criminalprozesses, der im Mai
1836 gegen die Urheber und Theilnehmer der in Lyon und Pa-
vis stattgehabten Aufstande seinen Anfang nehmen sollte, in allge-
meiner Aufregung. Die Gesammtzahl der Angeklagten belief sich
auf nicht weniger als 164, und die Vorbereitungen zur Eröff-
nung des Verfahrens hatten vom 14. November 1634 bis zu die-
sem Zeitpunkte gedauert. Es mußte nicht nur ein neuer Saal
im Palaste Luxemburg für die Hegung eines Gerichtes über so
zahlreiche Angeklagte erbauet werden, sondern es waren auch eine
Menge durch den Codex vorgeschriebene Förmlichkeiten erst vorher
zu erfüllen gewesen. Die Wortführer der .Opposition in der De-
putirtenkaMner, welche diesen Prozeß mit dem Namen Prozeß-
Ungeheuer (proccs monstre) bezeichneten, hatten sich kraftig
gegen die ganze Procedur ausgesprochen. Sie sanden es folgewidrig,
daß, nachdem die Regierung mit größter Milde das Vergehen der
Herzogin von Bern) ganzlich ungestraft gelassen, diejenigen, wel-
che diese Dame zur Empörung verleitet, Opfer für sie werden
sollten. Das Ministerium aber blieb der Meinung, daß das Recht
geübt, und ein schreckendes Strafexempel gegeben werden müsse.
Paris glich wahrend der Verhandlungen einer belagerten Stadt;
über 65,000 Mann Truppen und Nationalgarden waren ausge-
stellt, die erhitzte Menge im Zaume zu halten; bei Tag und bei
Nacht zogen zahlreiche Cavalerie- und Jnsanteriepatrouilten durch
die Straßen, über die Platze und Brücken. Hatten Karls X.
Minister solche Vorsicht in den Iulitagen 1830 angewendet, Lud-
wig Philipp hatte wohl nimmer den französischen Thron bestiegen;
denn die Aufregung der Menge war-jetzt nicht geringer. Allein der
Bürgerkönig hatte bessere Einsicht in das Triebwerk des Revolu-
tionswesens und geschicktere Diener. Die Pairskammer war zum
Gerichtshofe über die Angeklagten bestellt, und um die gerichtliche
Verteidigung einigermaßen zu regeln, bestimmte dies Tribunal,
daß nur von ihm dazn ernannte Advocaten als Vertheidiger auf-
treten dürften, gab jedoch auf das Geschrei der Opposition theil-
— 404 —
weise nach und gestattete den Angeklagten, sich selbst aus der Zahl
der ordinirten Advocaten Vertheidiger zu wählen. Aber jene
wollten gar keine Einschränkung gelten lassen, verwarfen alle
Advocaten von Amtswegen und erklarten: „wolle man ihnen die
geforderten Vertheidiger nicht gewähren, so müsse man sie mit
Waffengewalt vor die Schranken schleppen!"
Das Schauspiel des großen Prozesses begann am 3. Mai.
Die Gallerten des neu erbauten Saales waren mit Zuschauern
angefüllt, unter denen man jedoch keine Damen bemerkte. Die
Angeklagten wurden immer einer hinter dem andern, von Solda-
ten bewacht, eingeführt. Als sie aufgerufen wurden, brach der
Tumult aus. Nachdem ihnen der Präsident ihr Verlangen, freie
Wahl ihrer Vertheidiger, nochmals verweigert hatte, riefen Alle
in Masse: „Wir protestirenI das ist eine Infamie!" Der Larm
konnte nur durch Abführung der Gefangenen gestillt werden. Dies
selben Scenen erneuerten sich in der Sitzung des folgenden Tages.
Die Angeklagten weigerten sich, ihren Richtern Rede zu stehen,
antworteten nur mit Schimpfreden und tobten unter detfl Beistande
der Zuschauer so lange, bis jene verhöhnt und geschmäht sich zurück--
zogen. Eine durch die Journale veröffentlichte Protestation gegen
das ganze Verfahren, mit einundneunzig Unterschriften von gewich--
tigen Mannern, führte eine neue Verwickelung herbei; denn es
entstand daraus eine neue Anklage, und zwar selbst gegen zwei
mit unterzeichnete Deputaten der Kammer. Die Verteidigung
dieser Manner gab dem großen Prozesse neuen Glanz und
verstärktes Interesse. Wahrend desselben verminderte sich die Am
zahl der Richter wie die der Angeklagten. Von jenen blieben aus
Furcht vor der wachsenden Volksungunst immer mehrere von den
Sitzungen weg; denn die scharfe Behandlung mehrerer Angeklagt
ten, welche mit Kolbenstößen in den Gerichtssaal getrieben, oder
mit roher Gewalt dahin geschleppt worden waren, hatte die Jndig--
nation der Menge schon bis zur Wuth gesteigert, und von den
Pariser Angeklagten setzten sich am 12. Juli Abends neuunndzwan-
zig, durch Flucht aus dem Kerker nach England und Belgien, in
Freiheit. Die Entflohenen hatten im Gefangnisse eine Schrift zu-
rückgelassen, worin sie erklärten, daß sie Kunde erhalten, des Pro-
zesses Entscheidung solle aufgeschoben werden; die Zeit wollten sie
nun im Gefängnisse nicht abwarten, sie würden sich aber stellen,
sobald ihr Wiedererscheinen vor Gericht der guten Sache förder-
— 405 —
lich fein könne. Die Aufregung war auf's Höchste gestiegen, als
ein furchtbares Zwischenspiel eintrat, welches zwar den monströsen
Prozeß fast in Vergessenheit brachte, aber ohne die durch jenen
Prozeß von Tage zu Tage starker aufgereizte Volkswuth vielleicht
niemals zur Reife gediehen wäre.
Die fünfte Jahresfeier der Julirevolution follte am 28. Jrüi
statt haben. Herrliches Wetter begünstigte die große Heerschau
von 30,000 Mann Truppen und 20,000 Nationalgarden. Der
König war, umgeben von seinen Söhnen und einem glanzenden
Gefolge, bis zum Boulevard des Tempels gelangt, wo eine
Legion der Pariser Nationalgarden aufmarfchirt stand: als plötzlich
ein furchtbares Krachen und ein gräßliches Jammergeschrei ertönte,
wobei ein Hagel von Kugeln auf die Vorüberziehenden sich ergoß.
Als der Dampf sich verzog, fah man den Boden mit Verwun-
deten und Sterbenden bedeckt. Marschall Mortier, welcher dicht
hinter dem Könige geritten war, lag todt dahin gestreckt durch eine
Kugel, die gerade das Herz getroffen. Lieben ihm walzten sich
tödtlich Getroffene in ihrem Blute, der General Lachasse de
Werigny, General Girard, ein Oberstlieutenant, zwei Capi-
taine nebst vier Grenadieren, einer Frau und einem jungen Mad-
chen. Schwer verwundet waren ferner die Generale Heymes,
Pelet, Colbert und Blin und der Obrist Naffe. Die Ge-
sammtzahl der Getödteten und Verwundeten belief sich auf vier-
undfechszig. Der König selbst war unverletzt, obwohl sein Pferd
von einem empfangenen Schusse fürchterlich bäumte; sein ältester
Sohn, der Herzog von Orleans, war von einer rückprallenden
Kugel leicht verwundet. Ludwig Philipp setzte, obwohl tief erschüt-
tert von dem graßlichen Anblicke, unter wildem Rachegcschrei der
Nationalgarden die Nevue fort und kehrte erst gegen fünf Uhr in
die Tuilerien zurück.
Das Haus, von welchem aus die schauderhafte That war verübt
worden, ward sogleich von Gensd'armen und Polizeiagenten besetzt.
Diese sahen, wie ein Mensch sich aus einem Hinterfenster am Seile
hinabließ; als er aber feine Verfolger gewahr ward, ließ er das
Seil los und sprang in den Hof, wo er schwer verwundet ergrif-
fen ward. Bei der Explosion waren nämlich fünf überladene
Flintenlaufe gesprungen und hatten den Unglücklichen graßlich an
der Lippe, an der Stirn und am Halse verletzt. Die Mordma-
schine selbst entdeckte man in einem kleinen, nur mit Einem Fen-
— 406 —
ster versehenen Zimmer des dritten Stockes. Sie war geschickt
aus Holz gebaut und mit starken Eisenreifen versehen. Die
Querbalken, auf welchen die Flintenlaufe befestigt lagen, waren
nur einen Fuß von dem mit Jalousien verdeckten Fenster ent-
fernt; der Vorderbalken zeigte sich etwas niedriger als der hin-
tere, welches darauf berechnet zu sein schien, daß der Schuß in
der Höhe eines Reitenden treffen sollte. Wie gut gezielt war,
bewies die fürchterliche Wirkung; hatte der König nur um zwei
Secunden sich langsamer vorbeibewegt, so mußte er nothwendig
tödtlich getroffen werden. — Der Mörder ward auf einer
Tragbahre nach der Conciergerie gebracht, woselbst sogleich, nach-
dem seine gefährlichsten Wunden verbunden waren, ein scharfes
Verhör mit ihm angestellt ward. Er nannte sich Jacques
Gerard, was aber, wie sich bald ergab, ein falscher Name
war. Auch behauptete er, durchaus keine Mitschuldigen seines
Attentats nennen zu können.
Am folgenden Tage erschien eine königliche Proclamation,
worin es hieß: „Franzosen! Die Nationalgarde und die Armee
sind in Trauer, französische Familien in Verzweiflung, ein grast-
liches Schauspiel hat mein Herz zerrissen. Meine Regierung aber
kennt ihre Pflichten und wird sie erfüllen. Doch mögen die Feste,
welche den letzten dieser Tage stattfinden sollten, Feierlichkeiten Platz
machen, die den uns beseelenden Gefühlen mehr entsprechen; mögen
gerechte Ehrenbezeigungen dem Andenken derer erwiesen werden,
welche das Vaterland verloren hat zc." — Wirklich hielt der
pomphafte Leichenzug am 5. August die Pariser theilweise schadlos
für den Verlust der unterbrochenen Julifeste. Die Masse des
Pöbels und das Volk aus allen Standen, Alt und Jung, Man-
ner, Frauen und Kinder, strömten unter Schreien, Zanken und
Lachen' auf dem Wege zusammen, wo der Zug vorbeikam. Vom ersten
bis zum siebenten Stockwerke war jedes Fenster drei-und vierfach befetzt.
Alle Cafe's, alle Buden und Gerüste, sogar die Dachrinnen und die
Schornsteine sah man von Menschen, selbst von Frauenzimmern einge-
nommen. Das Schauspiel zeigte sich auch wirklich imposant.
Die Elite des Heeres, die Masse der Nationalgarden und glanzende
Deputationen der Kammern zogen voran und folgten dem Leichen-
wagen. Zuerst erschienen die rüstigen Manner des Stadtbannes
und der Municipalgarden mit hohen Barenmützen; dann folgten
die glänzenden Husaren, die berittene Nationalgarde von Paris
- 407 —
und die Nationalgarde zu Fuß, zusammen an 20,VW Mann. Auf
beiden Seiten der Straßen, durch welche sich der Zug bewegte,
bildeten Truppen und Nationalgarden Spaliere in fest geschlosse-
nen Reihen. Das Geschrei der tobenden Menge verwandelte sich
in tiefes Schweigen, sobald der erste weißdrapirte Leichenwagen
erschien, auf welchem der Sarg des getödteten dreizehnjährigen
Mädchens stand; mehrere Wagen, welche folgten, sah man umge-
den von trauernden Verwandten der Gemordeten. Hierauf folgten
andere mit dreifarbigen Fahnen und den Jnsignien eines Generals
oder Obristen geschmückte Wagen. Zuletzt der prachtvolle Katafalk
des Marschall Mortier, gefolgt von vier Marschallen, welche die
Zipfel des BalMuches hielten, von dem Sohne des Marschallsund
von seinem Schlachtroß, welches ein Veteran aus der Kaiserzeit
führte. Hinter dem hohen Trauerwagen sah man in langem
Zuge Minister in Amtstracht, Magistratspersonen in Scharlach-
roth, Repräsentanten der obrigkeitlichen Behörden des Militair-
und Civiletats, wie auch Mitglieder der polytechnischen Schule
und der Universität. — Die Feier endete im Dome der Jnvali-
den mit einer Todtenmesse, die der Erzbischof von Paris selbst
verwaltete.
Hierauf begann die dem Pairsgerichtshose übertragene Unter»
suchung des Mordversuchs. Es ergab sich daraus, daß der Meu-
chelmörder nicht Gerard, sondern Fieschi hieß; er war von seinem
vierzehnten Jahre an in neapolitanischen Diensten gewesen und
hatte von Murat das Ehrenkreuz erhalten, auch an der letzten Expedi-
tion in Calabrien, die dem Exkönige im Jahre 1815 das Leben kostete,
Theil genommen. Im folgenden Jahre kam er nach Frankreich,
woselbst er wegen eines Diebstahls zu zehnjährigem Gefängnisse
in den Kerkern von Embrun verurtheilt ward. Nach verlebter
Strafzeit nahm Fieschi den Namen Gcrard an, v arbeitete eine
Zeitlang in Lodeve und kam 1630 nach Paris, wo er der Com-
Mission für Nationalbelohnungen Certificate vorlegte, die beweisen
sollten, daß er unter der Nestauration wegen politischer Vergehen
wäre verurtheilt worden. Es gelang ihm, mehrere angesehene Man-
ner dergestalt für sich einzunehmen, daß er durch ihre Empfch-
lungen zum Unteroffizier bei einer Nationalgardeucompagnie ernannt
ward. Allein im Jahre 1833 entdeckte die Pariser Polizei die Un-
richtigkeit jener Certificate, und Fieschi entrann nur mit großer
Mühe der Verhaftung. Von diesem Zeitpunkte an brütete er ver-
muthlich über dem Mordentwurfe. Zwei berüchtigte Frauenzimmer,
mit denen er in Verbindung stand, dienten ihm dabei als Unter-
Händlerinnen und mußten ihm die nöthigen Mittel zu seinem ver-
ruchten Unternehmen, unter anderm drei verschiedene Wohnungen
in Paris unter drei verschiedenen Namen verschaffen, auch die
Miethe des Zimmers auf dem Boulevard des Tempels, wo die
Mordmaschine aufgestellt ward, mit^W Franken im vorausbezahlen.
Jndeß hatte Fieschi seit seiner Verhaftung seine schwarze That
nicht eingestanden, vielmehr seine ganze Kaltblütigkeit wiederge-
Wonnen. Als aber durch die Confrontation mit mehreren Personen,
mit denen er früher in Verbindung gestanden, die Identität feiner
Persönlichkeit außer Zweifel gestellt ward, und ferneres Leugnen
ihm unmöglich war, geriet!) er in rasende Wuth, riß den Verband
seiner Wunden ab und verletzte sich auf's Neue so gräßlich daß
dadurch seine Heilung sehr zweifelhaft werden konnte. Er ward
also für die Folgezeit äußerst behutsam bewacht, gepflegt und selbst
höflich behandelt. ■— In den folgenden Verhören ward durch
Fieschi's Eingestandniß seine Verbindung mit den Republikanern
erwiesen. Unter den Personen, welche als seine Mitschuldigen ver-
hastet und mit ihm vor Gericht gestellt wurden, leugneten zwei
derselben jedes Mitwissen und jede Theilnahme; sie wurden aber
nichtsdestoweniger als überwiesen verurtbeilt und mit Fieschi
am 19. Februar 1836 hingerichtet, während der Dritte, welcher
sein Mitwissen eingestanden, nur mit Deportation betraft ward.
'— Früher schon, am 13. und 17. August 1835, war der
Spruch über die Angeklagten des großen Prozesses gefallt, und
ein Theil derselben zur Deportation, ein anderer zu mehr oder
minder langer Gefängnisstrafe verurtheilt worden.
— 409 —
Mehemed Bieekönig von Egypten,
nnd Sultan Mahmud II.
Mehemed ?lli, der uns schon durch seinen Beistand, den er
dem Sultan zur Bezwingung der Griechen geleistet, bekannt ist*),
war im Jahre 1800, als Befehlshaber des Contingents seiner
Waterstadt Cavala, mit dem türkischen Heere zum Kampfe gegen
die Franzosen nach Egypten gekommen, wo er bald den Ruf
eines tüchtigen Kriegers und Staatsbeamten nach türkischem Maß-
stabe erwarb. Im Jahre 1806 ward er zum Pascha von drei
Noßschweifen und Statthalter dieses Landes ernannt. Als solcher
stellte er das Ansehn der Pforte daselbst wieder her, indem er die
Mamelucken-Bey's (Befehlshaber der Provinzen), die nach dem
Abzüge der Franzofen und Englander ihre soldatische Herrschaft
erneuert hatten, erst zur Unterwerfung zwang, dann (im Marz 1811)
dieselben sammt ihrem Gefolge bei einer Feierlichkeit, zu welcher
er sie eingeladen hatte, — 470 an der Zahl — treulos ermorden
ließ. Darauf bekriegte er die Wechabiten, eine Glaubenspartei,
die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu D erajeh, in der
arabischen Provinz Nadsched, (zwölf Tagereisen von Bagdad)
zur Reformation des Islam aufgestanden war. Sie durchzogen ver?
Heerend die weiten Landstrecken zwischen Mesopotamien, Persien
und Arabien und hatten endlich sogar die heiligen Städte Mekka und
*) Mehemed Ali war im Jahre 1769 in Macedonien von türkischen Eltern
geboren» Von seiner ersten Gattin lebten zwei Söhne, der bekannte
Ibrahim Pascha und Nazly Hanum; von drei anderen Frauen
und mehreren georgischen, cirkassischen und russischen Sclavinnen waren
ihm viele Kinder geboren worden. Sein Harem war prachtvoll einge-
richtet; es befanden sich darin an hundert der schönsten Sclavinnen
des Orients, wie auch zwölf Tänzerinnen und zwölf Tonkünstlerinnen,
alles Mädchen unter fünfzehn Jahren; in einem an den Palast
stoßenden Gebäude wohnten noch dreihundert Frauenzimmer. Sein Zluft
wand war mehr als fürstlich, die Regelmäßigkeit feines Hausregiments
' aber so streng, daß das geringste Versehen mit Peitschenhieben, wohl
gar mit Ertranken oder Erdrosseln bestraft ward. Neugieriges aus dem
Fenster Schauen gehörte beim weiblichen Personal zu den größten Vcr?
brechen.
— 410 —
Med:na sich unterworfen. Ihm gelang es jedoch, ihre Fort-
schritte zu hemmen und die heiligen Städte wieder zu erobern.
Sein Sohn oder Stiefsohn, Ibrahim, drang im Jahre ISIS in
den Mittelpunkt ihrer Wohnsitze, besiegte sie in der Nahe ihrer Haupt-
stadt Derajeh (3. Sept. 1818) und lieferte ihr Oberhaupt Ab-
dallah gefangen nach Conftantinopel, wo ihm der Sultan
zuerst die Zahne ausbrechen, dann den Kopf abschlagen ließ.
Dieser Ibrahim war es, dem sein Water den Krieg gegen die
Griechen übertrug, als ihn der Sultan zum Oberanführer ernannt
hatte, und nur durch das Einschreiten der europaischen Machte
wurde die Ausrottung des griechischen Volkes und die von Mehe-
med beabsichtigte Errichtung einer Negercolonie an dessen Stelle
verhindert. Zum Ersätze für die auf diesen Krieg verwendeten
Schatze erhielt Mehemed A!i die Insel Kandia oder Kreta.
Die neuen Grenzen Griechenlands verurtheilten nämlich die Kan-
bieten, sich wieder unter das türkische Joch zu beugen, und die
Unglücklichen kämpften vergebens, sich demselben zu entziehen.
Mehemed Ali, dessen Willkür sie Preis gegeben wurden, versprach
ihnen in einer Proclamation Sicherheit und Vergessenheit alles
Vergangenen, unter Bürgschaft des Allmächtigen. Die in Elend
und Ungemach versunkenen Einwohner Kreta's ergaben sich endlich
in ihr Schicksal, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, daß
sie in Sicherheit bei ihrem Besitzthume bleiben, oder sich mit ihrer
Habe und ihren Waffen ungehindert von der Insel entfernen
könnten. Dennoch wurden sie ohne Schonung entwaffnet und ge-
zwungen, im Lande zu bleiben. Greuel, der alten Tyrannen Afrika's
und Asiens würdig, wurden an den Kandioten, ihren Weibern
und Kindern verübt. Das egyptische Feudalsystem, nach welchem
der Vicekönig nicht blos Herr des Volkes, sondern auch Besitzer-
alles Grundeigenthums war, ward mit schonungsloser Strenge
eingeführt. Nach diesem Systeme mußte für alles angebaute Land,
insofern dasselbe nicht unmittelbar auf Rechnung des Pascha durch
Frohnarbeiten bestellt ward, nicht nur von jedem Acker und jeder
Wiese, sondern auch von jedem Fruchtbaume und jedem Stücke
Vieh, eine schwere Abgabe entrichtet, und die Erzeugnisse selbst in
öffentliche Vorrathshäuser abgeliefert werden. Die zum auswar-
tigen Handel geeigneten wurden dann vom Pascha an die euro-
paischen Handlungshauser in Alexandrien im Ganzen verkauft,
und die Artikel des innern Verbrauchs mußten die Unterthanen aus
— 411 —
des Vicekönigs Magazinen zu willkürlichen Preisen wieder kaufen.
Dieser Despotismus, für welchen, sonderbar genug, die älteste Ge-
schichte Egyptens in dem Verfahren Josephs ein dem Nach-
ahmer wahrscheinlich unbekanntes Borbild enthielt, hatte die
ackerbautreibende Bevölkerung ihrer Aecker, ihrer Hauser, ihrer
Heerden, ja, des nöthigften Gcräthes und der Kleidung beraubt
und sie' in eine Masse nackter, elender Sclaven verwandelt, derge-
stalt, daß sie, in Graben und Höhlen wohnend, eine Beute scheuß-
licher Krankheiten, des Schmutzes und Ungeziefers geworden, daß
sie wie vernunftloses Wich zur Arbeit mußten getrieben werden
und kaum noch Menschen ähnlich sahen. •— Dieses System nun
ward nach dem Friedensschlüsse auch auf Kreta, der Wiege der
Gesetze und Cultur, mit Wissen, ja, sogar unter dein Schutze
jener drei christlichen Machte, die man Befreier Griechenlands
nannte, eingeführt.
Inzwischen hatte Sultan Mahmud die Umgestaltung des
veralteten türkischen Staatswesens, nachdem er sich durch Aus-
rottung der Janitscharen der gefahrlichen Wächter des alten Her-
kommens entledigt, mit raschem Eifer weiter getrieben. Die Er-
richtung und Einübungen des Heeres nach europaischer Weise,
die allgemeine Aushebung, ohne Unterschied des Glaubensbekennt-
nisses, die Erhöhung der Auflagen zur Beschaffung des Soldes
ward ohne Murren von Seiten des Volkes bewirkt, und der ver-
ständige Moslem gewöhnte sich bald daran, da Mahmud mit
großer Klugheit den Schein abgewendet, daß er auch auf Aenderung
der Religion ausgehe. Dagegen öffnete er europaischer Sitte und
Kleidertracht Zugang durch Beispiel und Befehl; er untersagte
den Gebrauch des Turbans und setzte den Fes (rothe Mützen mit
herabhängender Spitze) an dessen Stelle, und die weiten Röcke
mußten den kurzen Jacken und Kosakenhosen weichen. Er ließ
eine von einem Franzosen redigirte türkische Staatszeitung lc
Moniteur Ofctoman in türkischer und französischer Sprache er-
scheinen;, er nahm Theil an den Festen, welche die fremden Ge-
sandten und die Großen seines Reichs ihm gaben, und erwiederte
dieselben; er näherte sich überhaupt mehr und mehr den gesell-
schaftlichen Formen des Abendlandes; er besuchte die Familien der
Gesandten in ihren Wohnungen, gestattete seinen Frauen größere
Freiheit und verließ sogar die alte Wohnstatte seiner Vorfahren,
das Serail, um ungestört voll schauervollen Erinnerungen und frei
— 412 —
von der strengen Hofordnung Suleimans des Prächtigen in den
Schlössern am Bosporus einen zwanglosen Hofhalt zu führen, der
ihm zugleich den Vortheil gewahrte, durch steten Wechsel des
Aufenthalts seiner Person etwaigen Ausbrüchen der Volksunzu-
friedenden sich entziehen zu können. Die letztere war hauptsächlich
noch vermehrt worden, als auch im Serail bis dahin unerhörte
Neuerungen geschahen. Eine Sultanin hatte am 2. Februar
1830 dem Beherrscher der Gläubigen einen Sohn geboren und
ihm dadurch die Versicherung gegeben, daß seine Dynastie sich
auch über künftige Geschlechter erstrecken werde. Mahmud hatte
bei dieser Gelegenheit, den stärksten Vorurtheilen seines Volkes
trotzend, einen griechischen Arzt und einen frankischen Aceoucheur
ins Serail zum Beistande der Wöchnerin berufen; ja, er redete,
was sonst nicht einmal ein muhamedanischer Großer gethan, den
Doctor Stephano und dessen Collegen mit ihren eigenen Namen,
ohne das Beiwort Giaur (Ungläubiger), an, belobte ihre Kunst
und beschenkte sie wahrhaft kaiserlich. Diese Zulassung von Aerzten
in den Harem war allerdings eine der kühnsten Maßregeln zur
Bewirtung einer Radicalreform in den Sitten der Moslemim.
Mehemed Ali schürte die bald unter allen Volksklassen cnt-
standene Unzufriedenheit und unterhielt Verständnisse mit ehemaligen
Janitfcharenoffizieren, die bei der allgemeinen Verfügung ihrer Kaste
in die Provinzen entkommen waren und an dem Plane arbei-
teten, den Sultan zu entthronen und dann eine vollkommene
Restauration der alten Einrichtungen vorzunehmen. Im Marz
1831 wurden diese Umtriebe >durch aufgefangene Briefe entdeckt,
und in Folge dessen eine Menge Personen im Stillen hin?
gerichtet. Sie wurden erdrosselt, enthauptet, und das Meer von
Marmara nahm die Leichname in seinen Schoost auf, so daß die
Einwohner Constantinopels kaum etwas von dem furchtbaren Straf-
gerichte erfuhren. Die unzufriedene Volksstimmung sprach sich in-
deß fortwahrend durch Brandstiftungen aus, deren eine am 2. Au-
gust 1831 die von den Franken bewohnte Vorstadt Pera mit
4000 Hausern fast ganz in Asche legte. Nur das Hotel des
kaiserlich österreichischen Internuntius, ein Kloster und die russische
Canzlei, nebst einigen wenigen Hausern, wurden gerettet. Die
Schadenfreude der Türken bei dem entsetzlichen Schauspiele zeugte
von der tiefen Erbitterung der Muselmanner gegen ihre Regierung,
wie gegen alle fränkischen Neuerungen. In geschlossenen Reihen
— 413 —
hielt das türkische Volk die zum Löschen herbeieilenden Spritzen zu-
rück und verjagte die Franken von den Brunnen, wo sie Wasser
schöpfen wollten.
Unterdessen waren schon unangenehme Nachrichten aus Egypten
eingelaufen. Mehemed Ali hatte von allen Beamten, sowie von
der ganzen Armee und Marine, einen Eid der persönlichen Treue
gefordert, hatte, ohne irgend einen Befehl dazu von der Pforte
erhalten zu haben, eine zahlreiche Armee Unter die Waffen gebracht,
angeblich zur Unterdrückung des Aufstandes in Damaskus, der
aber, wie man erfuhr, durch egyptifche Emissarien erst war ange-
stiftet worden, hatte seine Flotte ganz auf den Kriegsfuß gesetzt, ja,
selbst mit aus England erhaltenen Congrev'fchen Raketen versehen.
Alles dieses machte die Absicht Mehemeds klar, sich der Souverai-
netat des Sultans zu entziehen und sein Paschalik zu einem un-
abhangigen Fürstenthum zu erheben. Mahmud sendete Boten nach
Alexandrien, dem Vicekönige die Einstellung der beabsichtigten
Expedition mit scharfer Drohung zu befehlen; allein Mehemed Ali
hatte seinen Plan zu schlau überlegt, um sich dadurch einschüchtern
zu lassen. Nur durch Krieg konnte er zu dem gewünschten
Ziele gelangen» Anlaß zu demselben war bald gefunden. Vom
höchsten Uebermaße des Elends getrieben, wanderten die egyp«
tischen Fell ah's (Bauern) hausig nach Syrien, wo sie bei dem
Pascha von Akre, Abdallah, freundliche Aufnahme fanden. Mehe*
med Ali führte Beschwerde darüber beim Sultan und verlangte
von diesem den Befehl an Abdallah, die Flüchtlinge auszuliefern.
Dies ward von Mahmud verweigert» Seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts war die Herrfchaft der Pforte in diesen Gegenden
nur ein leerer Name gewesen, und Abdallah hatte nicht einmal
regelmäßig den Tribut entrichtet, wie doch Mehemed Ali bis jetzt
gethan. Deshalb konnte der Egypter unter dem Vvrwande, sich
selbst Recht zu verschaffen und zugleich einen Nebellen zu züchtigen,
in Syrienden Krieg beginnen, wo ihm dann auch das reiche Land die
Mittel darbot, denselben energisch fortzusetzen. Im October 1831
sendete er feinen Sohn Ibrahim mit einem Heere dahin ab. Der
auf dem Gebirge Libanon herrschende Emir Beschir, dem
außer den heidnischen Drusen auch die christlichen Maroniten
— ein kräftiger Volksstamm von patriarchalischer Sitte — ge-
horchten, ward von Ibrahim gewonnen, daß er zu dem Unternehmen
die Hand bot und ihm Geld, Mannschaft und Maulthiere dazu
— 414 —
lieferte. Auch der Schelk von Napulusa im Gebiete des Pascha
von Akre schloß sich mit seinen Horden dem Egypter an, weil
er ihn für den Starkeren hielt. Ibrahim besetzte Gaza, Jerusalem
und Jaffa fast ohne Widerstand. Den ihm entgegen gesendeten
türkischen Commissarien, die den Vordringenden Einhalt geboten,
wurden leere Worte entgegen gesetzt, und allen Abmahnungen von
Constantinopel zum Trotze ward im December 1S31 die Festung
Akre belagert. Da befahl der Sultan dem Mufti und den
Ulema's, über den ungehorsamen Vasallen und dessen Sohn den
Bannfluch zu sprechen, und entsetzte Beide ihrer Statthalterschaften.
Auch ward auf den Kopf des Rebellen Mehemed Ali ein hoher
Preis gesetzt. Die Pascha's und Gouverneure erhielten gemessene
Ordre, sofort Reiterei und Fußvolk zu sammeln und sich selbst an
die Spitze ihrer Haufen zu stellen. Die Anführung des Heeres,
welches zur Vollstreckung der Acht gegen Ibrahim nach Syrien
aufbrechen sollte, ward einem ganz unfähigen Manne, Hussein
Pascha, übertragen.
Nachdem am 7, Marz ein Sturm Ibrahims auf Akre war
abgeschlagen worden, ward die Stadt am 27. Mai durch einen
neuen Anlauf genommen, und Abdallah Pascha gefangen nach
Alexandrien gebracht, wo er von dem Vicekönige mit Milde und
Freundlichkeit ausgenommen ward. Die Armee des Siegers,
welche nach Akre's Fall durch die Häuptlinge der Gebirgsvölker
vermehrt ward, wuchs bald zu der Starke von 60,000 Mann an.
Darauf besetzte Ibrahim auch Damaskus. Hussein Pascha war
inzwischen langsam bis nach Aleppo vorgedrungen, wo er den
10, Juli anlangte. Als aber Ibrahim gegen ihn anrückte, wich
er nach Antiochien zurück, und Aleppo mußte sich dem Egypter
ergeben. Am 12. trafen beide Heere an einander. Nach kurzer
Kanonade und einigen Musketensalven entschied der egyptischen
Garde stürmischer Bajonnetangriff die Schlacht. Die großherrlichen
Truppen waren gesprengt und suchten bald ihr Heil in der Flucht
nach dem nahen befestigten Lager bei Hama. Den folgenden
Tag rückte Ibrahim an den Orontes, wo er noch sechs vom
Feinde zurückgelassene Kanonen fand. Am 16. Juli besetzte die
egyptische Reiterei das Lager von Hama, welches Hussein Pascha
nicht mehr zu vertheidigen wagte. Ueberhaupt waren die Folgen
seiner Niederlage schrecklich. Das türkische Heer loste sich größten-
theils auf, und ganze Compägnieen gingen zu dem Sieger über,
— 415 —
dem auch die von der türkischen Flotte nach Alexandrette ge-
brachten Mund-und Kriegsvorrathe in die Hände sielen. Halep
(Aleppo), Antiochien, Alexandrette wurden von ihm be-
setzt. Hussein Pascha sah sich zum Rückzüge nach Konjah (dem
alten Jkonium) genöthigt.
Als Mahmud diese Unglücksbotschaften in Constantinopel
erhielt, eilte er, in der Person des Großvezier Neschid Pascha
einen glücklicheren oder erfahreneren Feldherrn zu ernennen; zugleich
wendete er sich um Beistand an England und schickte Gesandte
nach London. Allein während das englische Ministerium auf das
Gesuch einzugehen zögerte, gewann der russische Gesandte in Eon-
stantinopel Butenieff das Vertrauen des Neis-Effendi, und
ein außerordentlicher Abgeordneter des Kaisers Nico laus, General
Murarif, überbrachte das Anerbieten seines Herrn, dem Sultan
ein Heer und eine Flotte gegen den aufrührerischen Aasallen zu
Hilfe zu senden, welches Anerbieten Mahmud jedoch ablehnte. —
Ibrahim hatte unterdessen seinen Siegeszug unaufhaltsam fortge-
setzt, und im August befand sich ganz Syrien in seiner Gewalt.
Aleppo, die wohlgebaute, reiche Stadt, welche vor dem großen
Erddeben, von dem sie im Jahre 1822 heimgesucht ward, 300,000.
Einwohner zahlte, und in deren Mitte auf steilem Hügel eine
starke Citadelle lag, ließ er noch imposanter befestigen. Die ver-
folgten Janitscharen, die sich hierher geflüchtet, erschienen bei dem
Sieger, ihm, rachedürstig, iha'e Hilfe zur Fortsetzung seines Zuges
anbietend. Als Ibrahim sich Jerusalems bemächtigt hatte, ward
allen nach der heiligen ^Stadt wallfahrtenden Pilgrimmen die bis-
her an die türkischen Behörden entrichtete Steuer, auf den vom
Mittelmeere dahin führenden Straßen, erlassen; nicht minder
sollten die christlichen Priester, welche in den Kirchen die heiligen
Ceremonien verrichteten, von allen Abgaben befreit sein.
Neschid war unterdessen mit einem fast 60,000 Mann starkem,
aber größtenteils aus Albanesen gebildeten Heere bei Aksher in
der Nahe von Konjah erschienen, bis wohin Ibrahim vorgedrungen
war. Beider Vorposten standen kaum noch drei Stunden Wegs
aus einander. Da trug Neschid seinem Gegner einen Waffenstill-
stand an, der zu friedlichen Unterhandlungen führen sollte. Ibrahim
willigte ein, traf jedoch seine Vorkehrungen, da er seines Feindes un-
redliche Absichten zu durchschauen glaubte. Deswegen hatte er seine
Hauptmacht bei Konjah concentn'rt, wo ihre Stellung in den Ebenen,
— 416 —
vor welchen die Stadt als ein starkes Bollmerk lag, das herrlichste
Terrain zu ausgedehnten taktischen Bewegungen darbot. So er-
wartete er den rachedürstigen Feind, der, nicht achtend des Waffen-
stillstandes, am 21. December. früh Morgens in dichten Colonnen
den Hauptangriff auf der Egypter an einen Bergrücken gelehntes
Centrum unternahm, während seine Cavalerie in zwei Abtheilungen,
jede von 6000 Reitern, der Egypter Flügel umschwärmte. Jndeß
nun Rcschid auf das Centrum einstürmte und solches selbst schon
zum Wanken brachte, war Ibrahim unter Begünstigung der Berg-
schluchten, mit starken Haufen gegen Neschid's Flanken vorge-
drungen. Kaum auf der Höhe der äußersten türkischen Flügel an-
gelangt, siel er mit Ungestüm über die feindliche Reiterei her, zer-
streute sie schnell und griff dann die türkischen Sturmcolonnen
unter mörderischem Artilleriefeuer von zwei Seiten an. Reschid
sammelte zwar sogleich einige seiner besten Truppen, um dem furcht-
baren Angriffe zu begegnen; allein 7000 Bosnier und 8000 Alba-
nesen, die Rachewuth gegen ihren Unterdrücker im Herzen trugen,
zerstreuten sich unaufhaltsam in wilder Flucht. Da entstand eine
unbeschreibliche Verwirrung, und die türkische Artillerie konnte
nicht mehr deployiren. Rcschid, nur umgeben von dem kleinen
Hauflein seiner Getreuen, ward an einen Graben gedrangt, wo
er im heftigsten Kartatschenfeuer sich gegen die mit gefällten Ba*
jonetten auf ihn eindringenden Feinde vertheidigte, bis er selbst
verwundet ward und so in Gefangenschaft gerieth. Sieben Stunden
dauerte der mörderische Kampf. Eine große Menge Gefangener,
und beinahe sammtliches Gepäck siel in Ibrahims Gewalt. Sein
Verlust, der auch ziemlich bedeutend war, ward bald durch zahl-
lose Ueberlaufer .wieder ersetzt. Was dem Schwerte entronnen
war und nicht zu dem Sieger überging, eilte in regellosen Haufen
der Heimath zu. Von einer türkischen Armee konnte mithin nicht
mehr die Rede sein, sondern Constantinopel war nach der Nieders
läge bei Konjah den Siegern bloßgestellt.
Sultan Mahmud hatte, wie schon gesagt, Anfangs die Hilfe
des russischen Kaisers verschmäht; allein die Nachricht von der
schrecklichen Niederlage bel Konjah und das Heranziehen des
Siegers von Brussa her überwältigte seinen Widerwillen, den Erb-
feind des osmanischen Reiches selbst nach Constantinopel zu rufen.
Er verlangte nun den vorher abgelehnten Beistand, und der Selbst-
Herrscher aller Neuffen zögerte nicht, denselben zu leisten. Am
I
— 417 —
20. Februar 1833 erschien eine russische Flotte von vier Linien-
schiffen, vier Fregatten und vier Corvetten im Bosporus und ging
auf der Rhede von Buguddern vor Anker, wahrend ein russisches
Landheer bei Odessa zur Einschiffung bereit lag. Jndeß gingen
auch türkische Friedensunterhandler, sowohl nach Alexandrien, als
in Ibrahims Lager, um durch das Anerbieten der Zurücknahme
des Bannfluches und der Uebertragung der Statthalterschaft von
Syrien an den Vicekönig die Einstellung der Feindseligkeiten und
die wenigstens scheinbare Unterwerfung des Uebermachtigen zu be-
wirken. Murawieff war ebenfalls nach Alexandrien gegangen,
die Unterhandlung zu unterstützen; dasselbe that der französische
Bevollmächtigte, Admiral Roussin, im Austrageseines Cabinets,
welches nun dieser Sache sich annahm, um nicht den Russen all-
zu freie Hand in den türkischen Angelegenheiten zu lassen. Roussin
hatte daher Alles aufgeboten, die Ueberfchiffung des russischen
Hülfsheers nach Constantinopel zu hintertreiben, und dem Reis-
Effendi erklart: „Frankreich werde nicht dulden, daß Rußland in
dem Streite der Pforte mit ihrem Vasallen intervenire, und wenn
daher die russische Flotte nicht sofort den Bosporus wieder ver-
lasse, so werde er mit dem französischen Gesandtschasspersonal un-
verzüglich sich aus Constantinopel entfernen." Von türkischer Seite
erfolgte die Antwort: „Wenn Roussin den Rückzug des egyptifchen
Heeres und die Abfchließung des Friedens auf die angebotenen
Bedingungen garantiren wolle, so werde man der russischen Ge-
fandtschast erklären, daß ihre Hilfe nicht mehr nöthig fei." Roussin
übernahm die geforderte Garantie und eilte nun, die Abfchließung
des Friedens zu bewirken. — Ibrahim verwies alle Friedensver-
Handlungen an seinen Vater, ließ sich jedoch zum Abschlüsse eines
vierzigtagigen Waffenstillstandes bewegen. Nichtsdestoweniger ließ
er seine Avantgarde weiter gegen Brusa hin vorrücken, durch
welches Manöver Constantinopel in große Aufregung gerieth»
Mehemed Ali jedoch gab friedliche Zusicherungen, und Ibrahim
erhielt Befehl, nicht weiter zu gehen. Kaum aber hatte er er-
fahren, daß der Abgang der russischen Expedition von Odessa noch
verschoben werde, als die egyptische Armee ihre Bewegungen in
Kleinasien erneuerte und über mehre Städte und Gebiete sich aus-
breitete. Auf diefe Nachricht ließ Kaiser Nicolaus das in Odessa
' ausgerüstete Heer am 29. Marz 1833 unter Segel gehen. Am
ö. April landeten die Russen bei Constantinopel, wo Alles zu
N. G. i?. 27
— 418 —
ihrem Empfange bereit war, und bezogen auf der asiatischen Küste
ein Lager. Nach der Erklärung des Kaisers sollten dieselben, wie
das dem Sultan zu Hilfe gesendete Geschwader, so lange in der
eingenommenen Stellung verbleiben, bis Ibrahim Kleinasien ge-
räumt haben und über den Taurus zurückgekehrt sein würde,
und der Pascha die vorgeschlagenen Bedingungen eingegangen sei.
Zunächst sollte sich also die Theilnahme der Russen an dem Kriege
nur auf die Deckung Constantinopels beschranken.
Mehemed Ali beharrte indessen, trotz aller Rüstungen der
Russen und der Drohungen Frankreichs, auf seinen an die Unter-
Händler in Alexandrien gestellten Forderungen, ihm die Statthalter-
schasten von Egypten, Candia und Abyssinien zu bestätigen, auch
noch die von Damaskus, Said, Tripolis, Haleb, St. Jean d'Acre,
Jerusalem und Maplus mit dem Geleite der Pilgrimme hinzuzu-
fügen, ferner ihm die Befugniß zu ertheilen, feine Land-und See-
macht so stark zu machen, wie er es für erforderlich hielt, und
Garantien zu stellen, daß Ibrahim Pascha sein Nachfolger werde.
Mahmud, bei dem wohl die Furcht vor Ibrahims Macht und der
drohenden Aufregung der Bevölkerung Constantinopels das in
Rußlands Hilfe gesetzte Vertrauen überwiegen mochte, gab seine
Zustimmung; worauf im egyptischen Lager die Friedensbedingungen
von Ibrahim, dem Bevollmächtigten des Sultans und dem
französischen Gesandschaftsfecretair unterzeichnet wurden, mit der
Bemerkung, daß gleich nach dem Eingange der Ratification von
Seiten Mehemed Alfs das egyptifche Heer seinen Rückmarsch
nach Syrien antreten werde. Gemäß dieser Uebereinkunst ver-
kündigte am 6. Mai 1833 ein Ferman des Sultans: daß er dem
Pascha von Egypten seine Gnade wiedergeschenkt und ihm alles
Obengenannte zugetheilt habe, und gebot Vergessenheit alles Ge-
schehenen.
Ibrahim beeilte sich indeß nicht, seinen Rückzug anzutreten;
daher erklarte der russische Bevollmächtigte, Graf Orloff, auch
die Russen würden ihre Stellung nicht eher verlassen, als bis das
letzte egyptische Corps die bezeichnete Grenze überschritten habe.
Bald nachher kam jedoch der von ihm nach Konjah gesendete Bote
mit der Nachricht zurück, daß Ibrahims Heer auf dem Rücfmcufchc
begriffen und schon über den Taurus gegangen sei; worauf Orloff
der Pforte anzeigte, daß nunmehr die russischen Truppen und
Kriegsschiffe unverzüglich abgehen würden. Dies geschah am
— 419 —
10. Juli, nachdem ihnen der Sultan prachtvolle Feste gegeben,
der russischen Generalität zehn große Ehrendecorationen mit Bril-
lauten geschenkt und unter sammtliche bei Consiantinopel ver-
sammelte russische Land - und Seetruppen 24,000 silberne Medaillen
hatte vertheilen lassen. Vor ihrer Einschiffung hatten Orloff und
Butenieff ein Schutz - und Trutzbündniß zwischen Rußland und
der Pforte unterzeichnet. In demselben versprachen beide Machte
einander Beistand gegen innere Empörung und Angriffe von
außen, gewährleisteten sich einander die Unverletzbarkeit ihres Gebietes,
und die Pforte verpflichtete sich, auf Verlangen Rußlands, jeder
demselben feindlichen Macht die Dardanellen zu verschließen. Der
letztere Punkt regte die Politik Englands und Frankreichs machtig
an. Die türkische Regierung wies aber die Protestation jener
Machte mit dem Bedeuten zurück: „Der fragliche Vertrag fei bloß
im Interesse der Pforte geschlossen und keineswegs angreifender
Art; überhaupt stehe der unabhängigen Pforte das Recht zu, die
Einfahrt in die Dardanellen sowohl zu versagen, als zu be-
willigen. Gegen die besondere Uebereinkunft, welche sie mit Ruß-
land über die Anwendung dieses Rechtes getroffen habe, seien
Andere zu keiner Einsprache befugt, da sie selbst in dieser Abkunft
keine Beeinträchtigung ihrer Rechte erblicke, und eine Macht,
welche dies nicht dürfe, nicht mehr unabhängig sein würde:c."
Durch einen späteren Vertrag zwischen Rußland und der. Pforte
(im Januar 1834) ward jedoch den Handelsschiffen unter eng-
lischer Flagge die Einfahrt in das schwarze Meer zugesichert.
Nach wiedererlangtem Frieden fuhr Mahmud fort, neue An-
Ordnungen in seinen Staaten zu treffen. Mehre derselben gingen
darauf hinaus, die Vorrechte der Volksstamme zu unterdrücken.
Die Juden, welche bisher im ottomanischen Reiche das Recht ge-
habt, ihren Oberrabbiner zu wählen und abzusetzen, ohne der
Pforte irgend ein Motiv solcher Veränderung mitzutheilen, wurden
jetzt angewiesen, daß sie sich solcher Eigenmächtigkeiten fortan zu
enthalten hätten; und als der bisher fungireude Oberrabbiner ab-
gesetzt werden sollte, ward die Pforte davon benachrichtiget, und der
Neuerwählte mußte sich zu der Regierung verfügen, wo er dann,
nach dargebrachtem Opfer, mit dem Kaftan, als Zeichen seiner
Würde, bekleidet, zur Audienz beim Sultan geführt und mit der
Ehrendecoration ausgestattet ward. Auf ähnliche Weise mußten
auch die griechischen, armenischen und armenisch-katholischen
27'
— 420 -
Patriarchen eingesetzt werden. — Manche Einordnungen schienen
nur aus kleinlichem Eigensinn und seltsamen Launen des Sultans
zu entspringen. Dahin gehörte der im Jahre 1833 erlassene Fir-
man, welcher besagte, daß kein Gläubiger anders, als in der vom
Sultan angeordneten Kleidung erscheine solle (zu den vorge-
schriebenen Artikeln gehörten auch, was die Rechtgläubigen auf's
Aeußerste erbitterte, Regenschirme); daß Niemand sich mehr das
Haupthaar scheercn. sondern daß jeder dasselbe gerade so geschnitten,
wie der Sultan, tragen solle; daß die Hausherren dem Besuchenden
nichts weiter, als eine Tasse Kaffee vorsetzen, aber ja keine Pfeife
reichen sollten, indem der, welcher rauchen wolle, sich die Pfeife
selbst mitbringen müsse. Der Schluß dieses wichtigen Befehls
lautete: „Jeder hüte sich wohl, dem Willen Sr. Hoheit entgegen,
aus vertrauter Freundschaft oder aus andern Gründen dem B^
suchenden eine Pfeife anzubieten. Denn dieses Gebot soll beobachtet
werden an der hohen Pforte selbst 2C." Manches jedoch, was in
der Ferne seltsam und lacherlich erscheinen mochte, hatte in der
Nahe einen vernünftigen Sinn, wie der letzteren Verordnung
wohl die Absicht zum Grunde lag, die Anlasse zur Verbreitung
der Pest zu vermindern. Auch ward der Befehl gegeben, alle Land-
ftraßen in der ganzen Ausdehnung des osmanischen Gebiets zu
vergrößern und in guten Stand zu setzen. Quarantaineanstalten,
Hospitaler für Kranke und Arme und Schulen zum Unterrichte
der Jugend wurden errichtet, und ein allgemeines Polizeisystem zur
Sicherheit der Reichsbewohner eingeführt. Im April 1837 unter--
nahm Mahmud, was seit Jahrhunderten kein Sultan gethan hatte,
eine Reise und ging bis Varna, wobei er überall auf seinem
Wege, nach Art europaischer Fürsten, die Behörden sich vorstellen
ließ, Gesuche und Beschwerden in Empfang nahm und sein Vater-
liches Wohlwollen und die Versicherung des gleichen Schutzes und
Rechtes an seine Unterthanen von allen Standen und Religionen
aussprach. — So gelang es dem energischen und eonsequenten
Monarchen, die ganzliche Umformung des Reichs der Osmanen zu
bewirken; ein Unternehmen, dessen bloßer Versuch bekanntlich mehren
seiner Vorganger Thron und Leben gekostet hatte.
— 421 —
Ayronerrichtnng in Griechenland.
Nachdem die Angelegenheiten der Griechen von den drei
Schutzmächten derselben geregelt, und die Grenze des neuen
Königreichs auf die oben erzählte Weise festgesetzt worden war,
ward den Griechen ein Oberhaupt in der Person des Prinzen
Leopold von Sachsen-Coburg, demWittwer der früh verstorbenen
englischen Thronerbin, gegeben. Der Prinz nahm die ihm be-
stimmte Krone an, verlangte jedoch eine gewisse europaische Hilfs-
macht für den zu besteigenden Thron, ferner die Erhaltung der
Inseln Kandia und Samos für den Griechenstaat, (welche
Inseln bisher als Bollwerke gegen die egyptischen und türkischen
Seezüge gedient, durch die neue Grenzbestimmung aber von dem-
selben waren abgerissen worden), und Bewilligung eines großen An-
lehns zur Bestreitung der nöthigen Ausgaben. Als diese Anträge
theils gar nicht, theils nicht in dem Maaße, wie der Prinz erwartet, ge-
währt wurden, gab er die schon angenommene Herrschcrwürde
wieder zurück (am 21. Mai 1830). Die Großmächte ersuchten
hierauf den Präsidenten Kapodistrias, an der Spitze der griechischen
Regierung zu bleiben, und es kamen neue Kroncandidaten für den
erledigten Thron in Vorschlag. Nach der Julirevolution jedoch
ward die große Theilnahme, welche Europa der Wiedergeburt
dieses alten, berühmten Volkes geschenkt hatte, theils auf naher
liegende Gegenstände gelenkt, theils durch die widrigen Eindrücke
verdrängt, welche die unerfreuliche, den gehegten Erwartungen
nicht entsprechende Gestaltung der innern Verhältnisse Griechenlands
hervorbrachte. Der alten, dem Aufkommen einer eigenen National-
gewalt immer hinderlich gewesenen, Neigung des hellenischen Volkes
zur Vereinzelung nach herrschenden Städten und zur republi-
nischen Parteiung im Schooße der Gemeinden war, wie wir
mehrfach gesehen, eine Hingebung an die Interessen einzelner
Familienhäupter gefolgt, und neben der freiwilligen Anhänglichkeit
an diese Führer dauerte ein kräftiges Freiheitsgefühl fort, was
die verwickelten Förmlichkeiten der modernen Staatsverwaltung
unerträglich fand. Der Präsident Kapodistrias zeigte überall
festen Willen und griff scharf die alten Mißbrauche an. So hob
— 422 —
er die Munizipalinstitutionen als schädliche Ueberreste der Türken-
zeit auf und wollte das Stadtewesen auf zeitgemäßere Basen
gründen; die außerordentlichen Commissionen wurden, der Will-
kürherrschaft zu steuern, ihrer Functionen enthoben, und die Wer-
waltung der Departements Civilgouverneuren übertragen. Kapo-
distrias bildete ferner eine Nationalreprasentation, berief die Mit-
glieder zu berathschlagenden Versammlungen und suchte denselben
praktische Anstelligkeit für's öffentliche Leben zu verschassen :c. Allein
bei allen seinen wohlthätigen Einrichtungen begegneten ihm nur
Mißtrauen, Mißvergnügen und Haß. Alle Verfügungen für Ge-
setzgebung, Verwaltung und Unterricht, alle Versuche, einen politisch
geregelten Zustand aus dem Chaos physischer und geistiger Zer-
rüttung hervorzubringen, scheiterten an dem Starrsinn und dem
bis zur wildesten Erbitterung gesteigerten Nationalgefühle, dem vor-
zugsweise die nothwendig strengen Anstalten zur Begründung und
Ausrechthaltung der Polizei und des Justizwesens ein Greuel war,
durch welche das Volk um so mehr erbittert ward, je mehr es an
die Sorglosigkeit seiner vorigen Obrigkeit gewöhnt war.
Kapodistrias war fest überzeugt, daß den Griechen, als noth-
wendige Bedingung eines geregelten Staatsthums, die ihnen ab-
gehende Fähigkeit zum Gehorchen durch ein strenges Regiment
müsse beigebracht werden, und dehnte dieses auch auf die Militair-
chefs und Familienhaupter aus, wodurch er diese zur bittersten
Feindschaft gegen sich reizte und den Widerwillen gegen seine
Einrichtungen zum glühendsten Hasse gegen seine Person steigerte.
Die gefahrlichsten von seinen Feinden war die machtige Familie
der Mauromichalis, die sonst Herren der im alten Lakomen
wohnenden Mainotten gewesen und sich nie ganz unter daS
türkische Joch gebeugt, sondern aus den unzugänglichen Gebirgs-
schlachten stets den Krieg, mit Ausnahme kurzer Waffenstillstände,
fortgesetzt hatten. Auch Kapodistrias Versuche, die Mainotten zur
unbedingten Unterwürfigkeit gegen sein Regiment zu bewegen,
waren bis jetzt mißglückt. Im Januar 1831 wurden mehre Mit-
glieder der Familie, thcils wegen Schulden, theils wegen auf-
rührerischer Umtriebe verhaftet. Der alte Petro Mauro-
michalis, vormaliger Bey, der sich als Mitglied der Gerusia
(Senator) in Nauplia, dem Sitze der Negierung, befand, ver-
ließ plötzlich die Stadt mit einer an den Präsidenten zurückge-
lassenen Erklärung, daß er durch die Pflicht, für Erhaltung seiner
I
— 423 —
und der Seinigen Ehre und Sicherheit zu sorgen, zur Rückkehr
in seine Heimath genöthigt werde. Er befreite seinen dnrch pri-
matische Einverstandnisse in Hast befindlichen Bruder Kazakos
und entfloh mit ihm auf einer im Hafen liegenden Brigg, mit
dem Vorsatze, sobald er die Heimath erreicht, alle Mainottenstämme
zum Umstürze der verhaßten Fremdenherrschaft in Kampf zu führen.
Ein Sturm aber, der sein Fahrzeug zwang, in einem kleinen
Hafen auf der Westküste von Morea zu landen, brachte ihn in die Ge-
walt seines Gegners. Petro ward gefangengenommen und auf einem
Dampfboote nach Nauplia gebracht, woselbst er in der Citadelle einge-
kerkert, und zu seiner Werurtheilung eine Militaircommission niederge-
setzt ward. AusdieseKunde wählten die Mainotten sogleich einen Sohn
Petro Beys zum obersten Anführer der bewaffneten Palikaren, be-
stellten eine aus zwölf Mitgliedern bestehende provisorische Re-
gierung und erklärten auf diese Weise dem Präsidenten förmlich
den Krieg. Die Lage Kapodistrias ward noch durch den gleich-
zeitigen Abfall der Inseln Hydra und Jpsara verschlimmert,
deren tapfere Bewohner im Kriege gegen die Türken die Haupt-
starke der griechischen Seemacht gebildet hatten, nun aber Ent-
schadigung für ihre der gemeinsamen Sache gebrachten Opfer
forderten. Wahrend hierüber mit Schriftwechsel gestritten ward,
versammelten sich immer größere Rebellenhaufen um Kazako
Maurömichalis, der sein Banner an der Grenze von Maina auf-
gepflanzt hatte und von den Inseln hinlänglichen Kriegsbedarf er-
hielt. Dadurch gewann die provisorische Regierung, welche den
Tittl Constitutionelle Commission von Sparta ange-
nominen, festeren Bestand, und die ermuthigten Mainotten wagten
nun auch Streiszüge außer ihren Grenzen und schlugen einige
gegen sie ausgesendete Neitercorps in die Flucht. Gefahrlicher
noch ward der Stand der Dinge, als der Aufruhr auch über Utika
sich verbreitete, und die Empörer sogar den Truppen unter Au-
gustin Kapodistrias die Spitze boten; während die Jnselbe-
wohner sich wieder ihrem alten Gewerbe, der Seeräuberei, ergaben
und ohne Unterschied der Flagge französische und österreichische
Schiffe ausplünderten. — Plötzlich erschien am 30. Juli der
hydriotische Admiral Andreas Miaulis mit 300 seiner Lands-
leute vor dem Hasen von Poros, um sich der darin liegenden, größten-
theils abgetakelten griechischen Flotte zu bemächtigen. Kapodistrias
forderte sofort die Befehlshaber der in griechischen Hafen liegenden
— 424 —
Schiffe der verbündeten Machte zur Hilfe auf und trieb den
ruffischen Admiral Rikord, das Aeußerste zu thun, den Raubern
die Beute zu entreißen, wahrend er selbst mit 1200 Mann in
ruffischen Böten übersetzte und sich der Wasserplatze auf der Insel
bemächtigte. Rikord erschien vor dem Hafen und forderte die
Auslieferung der Schisse, deren er sich bemächtigt; was Miaulis
aber verweigerte. Allein eingeschlossen durch die russische Flotte
und gedrangt zu Lande durch Kapodistrias Truppen, faßte und
vollführte der alte Seeheld am 13. August den verzweifelten
Entschluß, die sammtlichen griechischen Schiffe in Brand zu stecken.
Als die russischen Schiffe sich anschickten zum Angriffe, flogen mit
entsetzlichem Krachen achtundzwanzig Fahrzeuge in die Luft, unter
ihnen die Fregatte Hellas, deren Werth auf fünfzig Millionen
Franken angeschlagen ward; nur zwei Dampfschiffe wurden ge-
rettet. Eine furchtbare Explosion verwandelte das Fort Heidegger
in einen Steinhaufen. Dasselbe sollte durch gefüllte Minen auch
dem Zeughause und den Schiffswerften geschehen, ward aber noch
im rechten Augenblicke durch Aufheben der brennenden Lunten ver-
hindert. Im Golf von K o r o n aber erneuerten sich die Zerstörungs-
scenen. Als dort der russische Admiral sich eines aus sechs kleinen
hydriotischen Schiffen bestehenden Geschwaders bemächtigen wollte,
steckten die Hydrioten die Schiffe selbst in Brand.
Inzwischen schmachtete das Haupt der machtigen Mainotten«
familie der Mauromichalis, Petro, noch im Kerker; auch sein Bruder
Ianaki lag gefangen; ein anderer Bruder desselben, Constantin,
und ein Solm des Weys, Namens Georgias, standen zu Nauplia
unter Aufsicht, so daß sie ohne Militairwache nicht ausgehen
dursten. Die neunzigjährige Mutter der drei Brüder wendete sich
an den Admiral Rikord und bat ihn, eine Zusammenkunft Petro's
mit dem Präsidenten zu vermitteln, da jener bereit sei, fortan mit
seinen Kindern und Enkeln in Zurückgezogenheit zu leben. Der
Greis ward in den Palast gebracht, wo er unter dem Thorwege
bei der Wache verweilen mußte. Nach langem Hin-und Her--
schicken kam Kapodistrias Erklärung: er wolle den Verrather nicht
sehen, man solle ihn in's Gefangniß zurückbringen. Da ent-
blößte der Greis sein Haupt, rief Gott zum Zeugen an, daß er
unschuldig Schmach und Verfolgung leide, und forderte mit furcht-
baren Verwünschungen Rache gegen den Tyrannen des Vater-
landes. So ward er in'S Gefangniß zurückgeführt. Vier Tage
— 425 —
später (am 9. Ott. 1831) traf die Blutrache Kapodistrias Leben.
Der Bruder und der Sohn Petras verschworen sich sogleich, den
Schimps ihres Verwandten blutig zu rächen. An dem genannten
Tage, einem Sonntage, standen sie, ihre Mordwaffen in albanesische
Mäntel gehüllt, auf beiden Seiten des Thors der Kirche, in welcher
Kapodistrias den Gottesdienst zu halten gewohnt war. Als er
eben über die Schwelle schreiten will, verstellt ihm Georgias mit
vorgeschobenem Fuße den Weg, und in demselben Augenblicke feuert
Constantinaufihn ein Pistol ab. DerSchußtraf nicht. Kapodistrias
wendet schnell den Kopf ab. Nun aber schießt Georgias ihm
zwei Kugeln in den Hals und stößt ihm den Dolch bis an das
Heft in den Leib. Bewußtlos siel der tödtlich Getroffene zur Erde;
er ward in die Kirche gebracht und verschied dort in den Armen
eines deutschen Offiziers. Constantin ward sogleich ein Opfer der
Volkswuth. Beim Entfliehen von einem Schusse zu Boden ge-
streckt, ward er von wüthenden Soldaten und vom Pöbel graßlich
mißhandelt, und nachdem er unter furchtbaren Qualen den Geist
ausgehaucht, schleifte man den nackten Leichnam in's Meer. Geor-
gias war es gelungen, in das Haus des französischen Residenten
zu flüchten, der ihn gegen des Pöbels Wuth schützte und erst am
Abende unter der Bedingung auslieferte, daß ein geordnetes ge-
richtliches Verfahren gegen ihn beobachtet werden solle. Ein
Kriegsgericht ward zur Verurtheilung des Mörders angesetzt. Die
Sitzung fand am 19. Ottober öffentlich statt. Obwohl keiner der
Zeugen mit Bestimmtheit behaupten konnte, daß der Angeklagte
das Pistol abgefeuert und den Todesstoß geführt habe, war den-
noch der Ausspruch des Gerichts: Tod durch die Kugel. Der
22. Ottober ward zur Hinrichtung bestimmt; die Gunst, von dem
gefangenen Vater Abschied zu nehmen, ward dem Verurtheilten
versagt. Der Platz zur Hinrichtung lag im Angesicht des Kerkers,
wo Petro.gefangen saß. Als Georgias auf dem Wege zum Blut-
gerüste dort den greifen Vater erblickte, winkte er ihm sein Lebe-
wohl zu, und dieser ertheilte dem Sohne seinen Segen. Sein
Schritt war fest und sicher; er ließ sich die Augen nicht verbinden,
knieete nieder, streckte die Arme aus und rief: „Der Tyrann ist
nicht mehr; ich sterbe für mein Vaterland! Gebt Feuer!" Sieben
Kugeln trafen ihn; er siel auf die Seite ohne die geringste Zuckung.
Die ihm nahe Stehenden hörten nur einen einzigen leisen Seufzer.
Nach des Präsidenten Tode war der Zustand Griechenlands
— 426 —
noch verwirrter. Zwar ergriff der Bruder des Ermordeten, Graf
August in Kapodistrias, zuerst als Mitglied einer von der Ge-
rusi'a ernannten Regierungs-Commission, dann als provisorischer
Präsident die Zügel der Regierung; da jedoch außer den Mainotten
und Hydrioten auch die Rumelioten sich wider ihn erklärten, so kam
es bald zu heftigen Kämpfen. Schon im August hatte Kapodistrias
eine Nationalversammlung nach Argos berufen; sie war aber
nicht zu Stande gekommen, weil die Abgeordneten in zu geringer
Zahl erschienen. Im December aber hatten sich von den 210
Deputaten, aus welchen die Volksreprasentation bestehen sollte, 170
eingefunden, wovon jedoch beinahe die Hälfte der Gegenpartei an-
gehörte. Zwischen den beiderseitigen Anhängern kam es zu einem
heftigen Kampfe, der sich nach Brand und Plünderung der Stadt '
damit endigte, daß die rumeliotischen Abgeordneten ihre Ver-
sammlung in einem Dorfe jenseits des Isthmus hielten; und die
Regierungspartei, die sich nun, umgeben von den bewaffneten Banden
der Rumelioten, in dem offenen Argos nicht mehr sicher glaubte,
verlegte den Sitz des Congresses nach Nauplia. — Im Marz 1S32
drangen die Heerhaufen der Insurgenten in den Peloponnes ein,
warfen die Regierungstrupven zurück, besetzten Argos und drangen
unaufhaltsam gegen Nauplia vor. Der Admiral Nikord wollte
Widerstand leisten, aber die Stimmung der Einwohner war zu
drohend. Nun löste die Negierung in Nauplia sich aus; Augustin
Kapodistrias begab sich auf ein russisches Kriegsschiff und entfloh,
begleitet von dem Leichname seines Bruders, nach Corsu. Aus
beiden Parteien trat nun (am 15. April) eine provisorische Ne-
gierung unter dem Vorsitze des Hydrioten Kon doriotis zusammen.
Aber diese Regierung hatte mit der Widersetzlichkeit mehrer Kriegs-
Häuptlinge, namentlich des alten Klephthenchefs Theodor Kolo-
kotroni, welche sich jetzt für Kapodistrias erklärten, zu'kämpfen.
Die Verwirrung nahm mit jedem Tage zu. Eine ^abermalige
Nationalversammlung ward eröffnet, die endlich, nach vielfachen
Streitigkeiten, am 21. August 1832 von Parteigängern überfallen
und zersprengt ward. Die Mitglieder wurden zum Theil miß-
handelt im* als Geiseln in die Gebirge geschleppt. Eine völlige
Anarchie trat ein, und unter stetem Wechsel der Regierungsmit-
glieder, unter denen auch der alte Petro Mauromichalis noch ein-
mal eine Stelle einnahm, ward nur in Nauplia noch durch die
dorthin gelegte französische Besatzung ein Schatten von Ordnung
— m —
aufrecht erhalten, bis mit dem neuen Oberhaupte zugleich eine
andere Ordnung der Dinge eintrat.
Als die drei Schutzmachte zum zweiten Male sich dem Ge-
schäfte unterzogen, den Griechen einen Beherrscher zu erwählen,
schlössen sie, um jedem Anlasse zur Eifersucht vorzubeugen, die
Prinzen ihrer eigenen Familien aus. Zuerst kamen die preußischen
Prinzen (Wilhelm, der Sohn, und Friedrich, der Neffe des
Königs) in Vorschlag; der Antrag ward aber preußischer Seits
abgelehnt. Prinz Paul von Würtemberg ward genannt. Frank-
reich schlug den minderjährigen Prinzen Otto von Baiern vor
und gründete diesen Borschlag auf den Umstand, daß König
Ludwig von Baiern verhaltnißmaßig am meisten für Griechen-
land gewirkt, da er zu einer Zeit die Partei der Griechen genommen,
wo alle Machte denselben noch entgegen gewesen, weswegen auch
er und seine Familie bei den Griechen einer großen Popularität
genösse. In der That hatte König Ludwig das Aufstreben der
Griechen in Gedichten besungen und dadurch nicht wenig zu der
allgemeinen Begeisterung Europa's für die Hellenen beigetragen.
Er hatte ihnen mehrmals bedeutende Geldmittel gesendet, Fonds
in der griechischen Nationalbank angelegt, kriegserfahrenen bairischen
Offizieren den Eintritt in den griechischen Dienst zugestanden und
eine große Anzahl hellenischer Jünglinge zur Ausbildung nach
München kommen lassen. Auch die Minderjährigkeit des Prinzen
erschien vortheühaft, weil er durch den Aufenthalt in Griechenland
sich leichter den Sitten und der Nationalität der Hellenen an-
fügen, und fein königlicher Vater ihn mit erfahrenen Rathgebern,
mit Geld und Soldaten unterstützen könnte. Nachdem die drei
Machte hierin übereingekommen (am 13. Febr. 1832), ward dem
Könige von Baiern die Krone für seinen zweiten Sohn, den schon
genannten Otto (geb. den 1. Juni 1815), angetragen, der dieselbe
unter der Bedingung, daß die griechische Nation einwillige, für
den Erwählten annahm. Ludwig versprach, den Prinzen im Ge-
misse seiner Apanage zu lassen, und die drei Machte verpflichteten
sich, auf eine Anleihe von sechzig Millionen Franken, in drei Ab-
theilungen zahlbar, für Griechenland die Garantie zu übernehmen;
zur Zahlung der Zinsen und der allmaligen Abführung der Anleihe
sollten die wirklichen Einkünfte des griechischen Schatzes verwendet
werden. König Ludwig verpflichtete sich, für seinen Sohn ein
Truppencorps von 3500 Mann in Baiern anzuwerben, das in
— 428 —
Griechenland die dort befindlichen Truppen der drei Machte ab--
lösen sollte. Die Volljährigkeit des neuen Souverains ward mit
seinem vollendeten zwanzigsten Jahre anberaumt, und für die
Dauer der Minderjährigkeit sollte eine Regentschaft von drei, von
dem Könige von Baiern zu ernennenden, Rathen angeordnet werden.
Die von diesen Monarchen ausbedungcne Einwilligung der grie-
chischen Nation ward in einer Adresse der Nationalversammlung
zu Argos (vom 3. August 1832) an die Griechenland beschützenden
Monarchen ausgesprochen, in welcher die Griechen die getroffene Wahl
anerkannten und bestätigten. Auch von der Pforte ward die
Unabhängigkeit Griechenlands in einer am 31. Juli 1832 zu Eon-
stantinopel unterzeichneten Uebereinkunft wiederholt, in welcher
sie auch in Erweiterung der Grenzen Griechenlands, in der Art,
wie die Londoner Konferenz verlangt hatte, nämlich von Arta bis
Aola, gegen eine Entschädigung von vierzig Millionen türkischer
Piaster willigte, deren Zahlung die drei Protectoren Griechenlands
garantirten. Die neue Grenze bildete eine Gebirgskette, welche
das griechische Gebiet von den wesentlich türkischen Provinzen
trennte.
Am 5. Januar 1833 ging das bairische, für Griechenland
bestimmte Truppencorps, unter dem General Hertling, auf fünft
unddreißig Transportschiffen, begleitet von einer französischen, einer
russischen und einer englischen Fregatte, zu Tri est unter Segel.
Der junge König Otto machte die Reife von Neapel auf einem
Dampfboote, und die Truppen trafen noch vor ihm am 31. Jan.
zu Nauplia ein. Am 6. Februar trat der König daselbst an's
Land und hielt unter großem Volksjubel seinen feierlichen Einzug
in die Stadt. Gleich darauf erließ die für ihn ernannte Regent-
schaft (Graf Armansperg, Staatsrat!) von Maurer und Ge?
neral von Heideck) in seinem Namen eine Proclamation an die
Griechen, welche zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, die früher
verheißene Constitution jedoch durchaus nicht erwähnte, ohne Zweifel,
weil man bei dennoch obwaltendenUnruhen die Erregung neuer Ver-
sammlungsstürme scheute. Ueberhaupt war der Geist der Zwie-
tracht und Widerspenstigkeit sehr geschäftig, die Einführung eines
gesetzlichen Zustandes in dem neuen Staate zu hindern. Won vielen
Griechen ward der verlangte Eid — „Ich schwöre bei der aller-
heiligsten Dreieinigkeit, meinem König Otto treu und den Gesetzen
gehorsam zu fem" — verweigert; nicht, wie sie sagten, auS Wider-
— 429 —
schlichkeit, sondern weil sie die Gesetze erst kennen lernen wollten,
denen sie Gehorsam schwören sollten. Auch der dem Königstitel
vorgesetzte Ausdruck: Von Gottes Gnaden, mißsiel den Meisten,
weil sie durch denselben die Grundsatze des constitutionellen Staats«
thums verletzt glaubten« Zu den Eidweigerern gehörten selbst, in
Folge eines Beschlusses ihrer Primaten, die Hydrioten. Bei
den tapferen Mainotten gab cs ähnliche Schwierigkeiten; doch
schienen solche freundschaftlich sich ausgleichen zu wollen, da auf
wiederholte Einladung von Seiten der Regierung der alte Petro
Mauromichalis sich entschloß, in Begleitung zweier seiner
Söhne nach Nauplia zu kommen, wo er vom Könige den freund-
schaftlichsten Empfang erhielt, hernach aber doch unter Polizeiauft
sicht gestellt ward.
Die Regentschaft hatte ihre Thatigkett mit einem Amnestie-
decrete (am 21. Febr. 1833) für alle vor dem 6. Februar verübten
politischen Verbrechen und Vergehungen begonnen; aber schon am
16. September desselben Jahres ward eine weit verzweigte Ver^
schwörung vormaliger Häuptlinge und Anführer entdeckt, welche
unter Leitung des alten Kriegers Theodor Kolokotroni, dessen
Sohnes und Koliopulos Plaputas sich zum Zwecke gesetzt
hatte, die Verfassung zu andern, die Regentschaft zu stürzen und
zu dem Ende die alten Kriegsfchaaren zusammen zu berufen. An
vierzig Verschwörer wurden ergriffen und auf die Forts zu Nau-
plia in Gewahrsam gebracht. Die beiden Anstifter wurden zum
Tode verurtheilt, aber aus Rücksicht auf ihre früheren Verdienste,
wohl auch, um eine drohende Explosion des Volksunwillens zu
verhindern, in so fern begnadigt, daß sie als Staatsgefangene
zwanzig Jahre in Gewahrsam bleiben sollten. Die übrigen
Angeklagten wurden in Freiheit gesetzt. Bei einem abermaligen
Aufstande, der im folgenden Jahre in Arkadien und Messina
ausbrach, wurden die Hauptanführer Krisalis, Nikitas, der
Türkenfresser genannt, Kalergis, Kapodistrias ehemaliger Adju-
tant, und Constantin Kolokotroni in Navarin erschossen.
Noch bedenklicher erwiesen sich bald die Verhältnisse in der Maina,
deren kriegerische Bewohner noch immer unter Waffen geblieben
waren, ihr altes Klephthenwesen beibehalten hatten und wenig Lust
bezeigten, ihre befestigten, zum Theil mit Kanonen bewaffneten
Thürme, in denen die Capitaine mit ihren Familien hausten, nach
dem Befehle der Regierung zu demoliren. Diefe beschloß nun,
— 430 —
die Widerspenstigen mit Gewalt zur Unterwürfigkeit und Ordnung
zu zwingen, befahl die befestigten Wohnungen zu schleifen und die
Entwaffnung des Landes durchzusetzen. Solches aber war ein
schwer auszuführendes Werf.*) Der Widerstand, den die Mainotten
leisteten, konnte mit den Waffen nur in sehr zweifelhafter Weise
bezwungen werden und machte zuletzt Nachgiebigkeit nothrvendig.
In andern Gegenden, wo die Nationalgesinnung auch nicht
gerade zum Aufruhr und zur Empörung sich gestaltete, erschien sie
doch als unverhohlene Abneigung gegen die Fremden, welche nach
der Meinung der Griechen gekommen waren, sich auf ihre Kosten
zu bereichern. Die Mitglieder der Regentschaft selbst waren in
Ansichten, Planen, Maßregeln schon bei ihrem ersten Zusammen-
treten sehr verschiedener Meinung. Bald kamen Jntriguen von
mehreren Seiten hinzu, und Heideck und Maurer traten in offene
Opposition gegen Armansperg; am 31. Juli 1834 schied Maurer
plötzlich aus und kehrte nach München zurück, und der Staats-
rath von Kobel trat an seine Stelle in der Regierung.
Einer der wichtigsten Schritte der Regentschaft war, daß sie,
nach Zusammenberufung sammtlicher Erzbifchöfe und Bischöfenach
Nauplia, durch eine Verordnung vom 4. August 1833, die grie-
chische Kirche im Königreiche von dem Patriarchen zu Constanti-
nopel und dessen Synode für unabhängig erklarte, ihr den Namen
orthodoxe, orientalische, apostolisch-katholische Kirche
im Königreiche Griechenland beilegte und die Ausübung
der obersten geistlichen Gewalt, unter Oberherrlichkeit des Königs, einer
immerwährenden heiligen Synode übertrug, deren Mitglieder jahrlich
vom Könige ernannt werden sollten. König Otto selbst bekannte
sich für seine Person zur abendlandischen katholischen Kirche. Auf
ähnliche Weife, wie für die Kirche, sollte in der Folge auch für
die Volksschulen, für die Gymnasien und die Universität gesorgt
werden, zu welchem Zwecke eine Commijsion ernannt ward.
*) Die Maina mit der Hauptfcstung Marathonisi ist ein rauhes, ödcS
Gebirgsland, worin kein Ackerbau, ja, nicht einmal Bichzucht getrieben
werden kann. Die Lebensmittel müssen zum Theil von den Inseln, zum
Lheil aus einem meilenweit entlegenen Thale jenseits der Berge von
Maina herbei geschafft werden. Durch die rauhe Natur selbst gezwungen,
waren daher die Mainotten seit Jahrhunderten schon Land-und See-
rauber, und die Seefahrer überfiel ein Schauder beim Anblicke der
Küste von Maina.
— 431 —
Gegen Ende des Jahres 1834 ward der Sitz der Negierung von
Nauplia nach Athen verlegt, das fortan den Namen Königliche
Haupt - und Residenzstadt führen sollte. Der Einzug des
Königs geschah am 13. December. Die Regentschaft und die
übrigen Minister empfingen den im Piraus an's Land steigenden
Fürsten, und die heilige Synode begleitete ihn in die Kirche, wo
ein feierliches Hochamt gehalten ward, dem der Donner von
hundert und ein Kanonenschüssen folgte. Am 1. Juni 1835 trat
König Otto, mit vollendetem zwanzigsten Jahre in das Alter der
Volljährigkeit und übernahm nun' selbst die Führung des Staats-
ruders. Der von den Griechen ersehnte Tag, mit welchem eine
neue heilbringende Herrschaft beginnen sollte, ward als ein jubel-
volles Volksfest gefeiert. Altgriechische Spiele, Tanze, Schmausereien
im Freien, Freudenschießen und Beleuchtung der Residenz, ver-
herrlichten die Thronbesteigung des jungen Monarchen, der in
einer Proclamation den Antritt seiner Selbstrcgierung verkündigt
und verheißen hatte, daß er sich Abhülfe jeder gegründeten Be-
schwerde vor Allem wolle angelegen sein lassen. Kolokotroni
und Plaputas wurden in Freiheit gesetzt, und an mehrere Große
Würden und Aemter verliehen. Graf Armanfperg blieb, trotz
zahlreicher Stimmen, die sich wider seine Verwaltung erhoben
hatten, als Staatscanzler an der Spitze der Geschäfte. — Im
December 1833 ward der junge Monarch durch die Ankunft seines
königlichen Vaters in Athen erfreut, und im Sommer des nächsten
Jahres kam er selbst nach Deutschland, wo er sich am 22. No-
vember 1836 mit der Prinzessin Amalie von Oldenburg
vermahlte, worauf er zu Anfang des folgenden Jahres nach
Griechenland zurück kehrte.
— 432 —
Ztebersicht Her Geschichte der Stadt
bürg, seit ihrem Entstehen bis zum Zabre
— Der große Vrand In Hamburg.
Die ältesten Spuren der Entstehung der Stadt Hamburg
führen hinauf bis in die dunkeln Zeiren des Mittelalters. Nur
armliche Fischerhütten standen damals auf dem Platze, wo, bald
nach der ersten Begründung einer gesetzlichen Ordnung durch Kaiser
Karl den Großen (s. alt. Gesch. B. I.), begünstigt von seiner
Lage, durch die Betriebsamkeit seiner Ansiedler eine der machtigsten
und angesehensten Städte empor blühen sollte. — Im Jahre 808
ließ Karl der Große, zum Schutze für die den heidnischen Sachsen
von ihm aufgezwungene Christusreligion, an der Elbe zwei feste
Schlösser (oder Burgen) anlegen und mit frankischer Besatzung
decken, deren eines man Hammaburg oder Hamburg nannte
(von der Waldung, in altdeutscher Sprache Hamme, in deren
Nahe sie erbaut ward). Der Kaiser bestimmte die neu angelegte
Waldburg zugleich zum Sitze eines Erzbisthums, und schon im
Jahre 811 war der Bau der ersten Kirche daselbst vollendet»
Als Missionsanstalt und zum Handel überaus Vortheilhaft gelegen,
erhob sich der Ort rasch zu einigem Flor; allein er sollte noch ost
durch äußere Stürme erschüttert werden. Rings umgeben von
raubsüchtigen heidnischen Völkern, — Wenden, Obotriten,
Friesen, Danen — war er das Ziel ihrer fanatischen Wuth
gegen das von hier aus sich verbreitende Christenthum, und die Beute
ihrer Eifersucht gegen die Macht der Schirmherrn der neubegründeten
Stadt. Doch ging sie jedesmal nach solchen Ueberfallen, wobei
die geistlichen und weltlichen Wohnungen verbrannt, die Altare zer-
trümmert, ihre Diener gemordet, die um die Burg undKirche angesie-'
delten Bewohner vertrieben, oder in Sclavenfesseln gelegt wurden,
aus ihren Trümmern mit verjüngter Kraft und immer größer
wieder hervor.
Bis um die Mitte des zehnten Jahrhunderts stand Hamburg
unter der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Kaisers und ward,
gleich den übrigen Provinzen und Städten des großen frankischen
Reichs, durch Statthalter oder sogenannte Grafen regiert, dievondem
— 433 —
Kaiser selbst eingesetzt wurden, regiert. Nachdem jedoch Kaiser
Otto der Erste daS Herzogthum Sachsen dem Herzog Herrmann
Willing als Lehn übertragen, gehörte Hamburg, als sachsischer
Ort, zum Gebiete dieses Herzogs, der nunmehr Richter und
Schoppen über die Stadt bestellte. Spater übertrug ein Her-
zog von Sachsen den nördlichen Theil seines Herzogthums
einem Herrn von Schaum bürg, den er zum Grafen von
Holstein und Stormarn ernannte. Unter der Regierung
dieses Grafen, der Hamburg zu seinem Sitze und zur Hauptstadt
der ganzen Provinz erkor, stieg Hamburg wunderbar schnell zu
Macht und Ansehn empor. Unter dem dritten Grafen aus diesem
Geschlechte ward die Stadt nach tapferer Gegenwehr der Ham-
burger, von König Waldemar !!. von Danemark erobert, der sie
mit allen Gerechtsamen und weiteren Ansprüchen, die ihm durch
die Eroberung zu Theil geworden, um siebenhundert Mark
löthigen Silbers (nach heutigem Gelde etwa 8000 Thaler)
an den Grafen von Orlamünde verkaufte. So bedeutend war
der Wohlstand Hamburgs nunmehr schon herangediehen, daß die
Bürger mit dem Grafen um ihre Freiheit unterhandelten, und
die Stadt sich selbst von ihm erkaufte. Für die Summe von ein-
tausend und fünfhundert Mark löthigen Silbers sprach er sie los
von aller Unterwürfigkeit und trat ihr alle seine erkauften Rechte
feierlich ab (1224). Dies war der erste Anfang der nachmaligen
freien Gemeinheit in Hamburg. Denn nun dachten alsbald die
Verständigsten seiner Bewohner darauf, eine feste Gesetzeinrichtung
zu entwerfen, um der Befugniß, sich nach eignen Rechten richten
zu dürfen, durch die That zu entsprechen. Der vierte Graf von
Schaumburg ward hierauf zum Schirmvoigt für die Stadt ge-
wonnen, der sich besonders hochverdient um dieselbe gemacht hat^
auch zwei reich begabte Klöster dort erbauen ließ. (Sein Andenken
ward in neuster Zeit durch ein Monument auf dem nach ihm
genannten Adolphsplatze erneuert). — In der Folge erkaufte
die immer reicher werdende Stadt noch manche Gerechtsame und
vorzüglich die Erweiterung ihres Weichbildrechtes von den stets
geldbedürftigen Grafen von Holstein und errichtete zum Zeichen
ihrer eigenen Gerichtsbarkeit und der Markfreiheit in ihren Mauern
die sogenannte Rolandssäule (1264).
Wahrend nun durch Fleiß und Gewerbthatigkeit der Wohl-
stand im Innern der Stadt sich sichtlich vermehrte, so daß selbst
Ni G< IV. 28
— 434 —
die Spuren eines furchtbaren Brandes, der 1281 die Stadt zu
zwei Dritttheilen einäscherte, in wenig Jahren vernichtet waren,
wurde nach Außen von den Bürgern der Handel der Stadt, wel-
cher ringsum von räuberischen Anfallen des holsteinischen Landadels
gefährdet war, durch Zerstörung der Rauberburgen gesichert.
Auch Räuber auf der See mußten der Stadt Gewalt empfinden;
sie rüstete Flotten aus, die unter Anführung ihrer tapfern Bürger-
meister die Seeräuber bekämpften und nach ihrer Besiegung die
Gefangenen heimführte, die dann vor den Thoren der Stadt ent-
hauptet wurden (f. alt. Gesch. B. I. die Victualienbrüder). Es ist
erstaunlich, welche große Zahl solcher Frevler die Jahrbücher jener
Zeit aufführen, die ihren wohlverdienten Lohn in Hamburg durch
das Schwert empfingen. — Die Verbindung der Stadt mit der
machtigen Hansa ist schon in der Geschichte des Hansabundes er-
zählt. Als unmittelbare Reichsstadt mußte sie die Reichstage be-
schicken, alle übrigen Verbindlichkeiten aber gegen Kaiser und
Reich wußte sie stets mit baarem Gelde abzukaufen. Als eine der
ersten Städte Deutschlands und, nach Lübeck, dessen vornehmste
Handelsstadt, ward Hamburg nach Einführung der Reformation
(1528), mit welcher zugleich seine vortreffliche Verfassung begründet
ward, eine Hauptstütze der neuen Lehre in Niedersachsen.
Trotz mancher inneren Unruhen und Streitigkeiten zwischen
Rath und Bürgerschaft ward die Stadt immer blühender, reicher
an Handel und Fabriken. — Die Fackel des dreißigjährigen
Krieges, die ganz Deutschland entzündete, ging spurlos an Ham-
bürg vorüber, ja, es benutzte sogar diese Zeit, um sich vom Kaiser
Ferdinand neue Privilegien auszuwirken. — Das Unglück,
welches zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die schwedischen
Kriege über Norddeutfchland brachten, blieb ebenfalls von Ham-
bürg fast unbemerkt; denn das Opfer von 300,090 Reichsthalern,
welches der General M enziko f von den Bürgern forderte, konnte
von der reichen Stadt ohne große Schwierigkeit gebracht werden. Als
endlich im Mai 1768 ein Vertrag zu Gottorp zwischen dem
Gesammthause Holstein und der kaiserlichen freien Reichs-
stadt Hamburg geschlossen ward, in welchem Danemark seinen
von Zeit zu Zeit erhobenen Ansprüchen an Hamburg, als auf hol-
steinischem Gebiete gelegen, für alle Zeit entfagte, und damit zahl-
lose Plackereien endeten, die mindestens dem Staatsschatze bedeutende
— 435 —
Summen kosteten, begann für die Stadt jene Zeit, welche sie zur
reichsten von ganz Deutschland machte.
Die Leiden der französischen Kriege, welche in der erstm Zeit
an Hamburg vorüber zogen, wahrend das nachbarliche Lübeck schon
als ein trauriges Opfer gefallen war, kamen mit dem Jahre 1806
auch über diese Stadt. Am 16. November ward sie von französischen
Truppen besetzt und im Jahre 1810, gleich den übrigen Hanse-
stadten, dem großen Kaiserreiche einverleibt. So blieb der Stand
der Dinge, bis im Marz 1813 durch die Gestandnisse des neun-
undzwanzigsten Bulletins ein Aufstand erregt ward, und die Franzosen
unter dem General Cara St. Cyr vertrieben wurden; worauf
am 10. Mai die Russen in die Siadt einrückten. Allein dies
hatte zur Folge, daß die Stadt beim Wiedererscheinen der Franzosen
außer dem Gesetze erklart und mit einer Buße von vierundzwanzig
Millionen Thaler belegt ward. Nachdem sie hierauf noch alle
Schrecken einer Belagerung, Hungersnot!) und alle Kriegsübel er-
duldet, zogen im Mai 1814 die fremden Machthaber wieder ab;
die alte Stadtobrigkeit trat in ihr Amt und ihre Würde wieder
ein und rief die Bürger zu ihrer vaterstadtischen freien Verfassung
zurück. Der Gesammtverlust, welchen Hamburg vom 19. Novbr.
3806 bis zum 30. Mai 1814 an niedergebrannten Gebäuden,
Kriegslasten, den Erpressungen der Franzosen und endlich dem ge-
raubten Bankschatze erlitten, ward nach ziemlich genauen Berech-
nungen auf 140 Millionen Mark Banco, oder 63 Millionen
Thaler angeschlagen.
Durch Thatigkeit, sorgsame Haushaltung und Sparsamkeit
wurden die Spuren des Unglücks bald verwischt, und durch die
Kraft, Ausdauer und Hinsicht seines Handels - und Gewerbstandes
blühte Hamburg mehr, denn je zuvor. Ein regesjTreiben>var mehr
Und mehr im Steigen, die Stadt sowie die Borstädte dehnten sich
aus, in allen Theilen derselben wurden neue Straßen angelegt,
und die Einwohnerzahl mehrte sich mit jedem Jahre. Die abge-
tragenen Walle und Festungswerke der Stadt und deren Umgebung
waren in die herrlichsten Garten und botanischen Anlagen umge-
wandelt. So war die Lage Hamburgs, als im Mai 1842 ein
furchtbares Unglück über die Stadt hereinbrach.
Es war am 5. des genaimten Monats, am Himmelfahrts-
feste Morgens um ein Uhr, als den Einwohnern durch die ge-
wohnlichen Feuersignale, als Lauten der Sturmglocken, Alarmschüsse
28*
— 436 —
der Wachtposten, Feuerrufen der Nachtwächter ?c. der Ausbruch
einer Feuersbrunst kund gethan ward. Ein solches Ereigniß war,
weil es so oft eintrat, bis dahin in Hamburg zu wenig beun-
ruhigend, als daß die Nothzeichen einen besondern Eindruck hatten
machen sollen. Nur die bei den Löschanstalten beschäftigten Personen
wurden dadurch an die Feuerstätte gerufen, im Uebrigen blieb
Alles ruhig, um so mehr, als der Andrang Unberufener und lästiger
Neugieriger gewöhnlich von der die Aufsicht dabei führenden
Bürgergarde verhindert wird; wen also nicht die Pflicht dahin
rief, der horchte höchstens auf das Steigen oder Fallen der Glocken-
schläge, um dadurch das Zunehmen oder Abnehmen des Feuers zu
erforschen. Die nähere Kunde und Ansicht verschafften sich die
nicht in der nächsten Umgebung des Feuers Wohnenden wie ge-
wohnlich, erst am nächsten Morgen. So auch an diesem unheil-
vollen Tage. Die Straße, in der das Feuer ausgebrochen (die
Deichstraße), war bebaut mit meist sehr hohen, großen und
massiven Hausern; in den großen hinter denselben befindlichen
Speichern lagen Maaren in Ungeheuern Quantitäten. Im An-
fange hatte es nicht den Anschein, daß das Unglück zu einer so un-
ermeßlichen Höhe steigen werde; aber ein wenig Stunden nach dem
Ausbruche sich erhebender Südwestwind trieb die Flammen zwei
nahen Speichern zu, die, gefüllt mit Oel, Spiritus, Schellack,
einen Gluthstrom verbreiteten, gegen welchen das Wasser eine nutz-
lose Waffe ward; ja, die Spritzen selbst nährten die Flammen,
indem der hinter jenen Speichern fließende Canal, zur Ebbezeit
nur sehr seichte (in Hamburg nur Fleet genannt*) sich mit Oel
und Spiritus angefüllt hatte. Die bis dahin sorglosen Bewohner
der nächstliegenden Häuser wurden nunmehr aus ihrer Sicherheit
aufgeschreckt. In der Ueberzeugung, die auf langjährige Erfahrung
sich stützte, daß man schon bei den ersten Gebäuden Herr des ver-
wüstenden Elements sein würde, war jede Vorsichtsmaßregel, wie An-
feuchten der durch einen vierwöchentlichen regenlosen Ostwind aus-
gedörrten Dächer und dergleichen, versäumt worden, uyd mit Anbruch
des Tages stand schon ein großer Theil der Deichstraße auf beiden
*) Im Ganzen durchschneiden zwanzig solcher Kanäle oder Fleeten die
Stadt — mit Ausnahme der Neustadt — nach allen Richtungen,
und vierundachtzig Brücken führen von einem in den andern Stadt-
theil.
— 437 —
Seiten in Flammen, die dann rasch sich auch den dahinter liegenden
großen Speichern des Rödingsmarktes*) und dessen massiven
Hausern, welche nur ein schmaler Canal von dem Feu«r trennte,
mittheilten» Durch dies Ueberspringen des Feuers wurden die
Kräfte der Löschenden getheilt und aus zwei Seiten in Anspruch
genommen, und durch die Einäscherung eines die beiden Straßen
mit einander verbindenden Gaßchens, der Steintwite, war die
Communicationund das Zusammenwirken der Spritzen abgeschnitten»
Bestürzung verbreitete sich nun schon durch die Stadt. Aus den
in der Nähe befindlichen Häusern und Speichern wurden Mobilien
und Waaren in Sicherheit gebracht, aber noch dachte Niemand in
den entfernteren Straßen an die Möglichkeit einer Gefahr.
Gegen Mittag verbreitete sich die Flamme nach den der
Deichstraße ^nächstliegenden Häusern des Hopfenmarktes; die
schlimmste Richtung, welche das Feuer nehmen konnte. Die
Schrangen (Fleischerstände) boten eine Menge trockenen Holzwerks
und beengten den Marktplatz bis zur Breite einer nur maßig
großen Straße**). Die Häuser rings umher stiegen hoch empor,
waren im Innern eng und verbaut und meist mit leicht entzünd-
lichen Stoffen, wie Manusacturwaaren, angefüllt; drei bedeutende
Bäckereien lagen hier fast Haus an Haus. Die bangsten Be?
sorgnisse aber erregte die Nähe der St. Nicolai-Kirche, an
der Ostseite dieses Platzes gelegen, zu der ein Aufgang vom
Hopfenmarkte führte, deren Thurm an eben demselben lag. Ent-
zündete dieser sich, so waren die Folgen davon unabsehbar. Es
wurden alle mögliche Vorsichtsmaßregeln zur Rettung desselben
getroffen. Wenn gleich mit Kupfer gedeckt, so war doch für das
ausgedörrte Holzwerk darunter Alles bei einer Gluth zu fürchten, der
man auf mehrere Hundert Schritte schon jetzt nicht mehr nahen konnte»
Außer dem auf jedem Hamburgischen Thurms befindlichen großen
Wasserbehälter ward eine beträchtliche Quantität Wasser mit
Eimern auf den Thurm befördert, um dort zur Abwehrung der
*) Der Rödingsmarkt ist kein Marktplatz, sondern eine Straße, die mit
der Deichstraße parallel lauft, und in deren Mitte ein Canal fließt.
**) Seit dem Jahre 1609 hatten die Schlächter der später erbauten Stadt-
theile der Neustadt hier ihre Staude oder ihre Schrangen Die jetzt
niedergebrannten Fleischerstände wurden 1822 neu erbaut und bestanden
aus einer geräumigen Säulenhalle, die jedoch den Platz sehr beengten«
auf welchem Federvieh, Fische, Früchte und Gemüse feilgeboten wurden.
- 438
Flammen benutzt zu werden; doch Alles vergebens. Denn konnten
diese Maßregeln auch verhindern, daß kein Theil des äußeren
Thurmes vom Feuer ergriffen ward, so vermochten sie doch dem
vom Winde über denselben hingetriebenen Feuerdunste und Feuer-
regen nicht zu verwehren, die Kupferbedeckung im höchsten Grade zu
erhitzen. Schon glich eine weite Strecke rund um denselben herum
einem tobenden Feuermeere; der Hopfenmarkt brannte an zwei
Seiten. Zwar hatte man die Schranzen durch Hunderte von Zimmer-
leuten so schleunig wie möglich niederreißen lassen, um die Hitze
in der Nahe des Thurmes zu vermindern; doch ward die Kupfer-
dachung bald so glühend heiß, daß das darunter befindliche Holz-
werk Anfangs sich verkohlte und endlich sich entzündete. Gegen
ein Uhr Mittags gewahrte das von Angst geschärfte Auge an seiner
Kuppel den ersten Rauch, dem bald die helle Flamme folgte;
das Feuer breitete sich immer mehr dem Umfange und der Höhe
nach aus, und schon um drei Uhr Nachmittags hatte es den ganzen
Thurm ergriffen. Bon der Hitze in Bewegung gesetzt, lautete ein
auf dem Thurme befindliches kunstvolles Glockenspiel in schaurigen
Tönen; die Kupferdeckung floß glühend an den Mauern herab.
Von der Ferne aus gewahrte der von oben bis unten in Flammen
stehende Thurm einen unbeschreiblichen Anblick, indem er den
höchsten Begriff des Graßlichen, verbunden mit erhabener Schön-
heit, dem Auge darbot. Gegen fünf Uhr wankte die Spitze, und
wenige Minuten darauf stürzte sie, bis zum Uhrwerke unter betau-
bendem Geprassel nach der Seite des Kirchhofs, an welchem die
Wohnungen der Geistlichen lagen, während der übrige Theil sich
in das Innere der Kirche senkte. Einige Minuten war das Feuer
von der Stelle verschwunden; eine dicke Wolke lagerte sich darüber,
bis plötzlich die Flammen hervorschlugen. Im Innern der Kirche
ward Alles bis auf den Grund verzehrt, so daß nur die Grund-
mauern des Thurmes und der Kirche übrig blieben.
Inzwischen ward das Feuer in die umliegenden Straßen ver-
breitet. Von der Höhe des brennenden Thurmes aus hatte sich
die Flamme dem seitwärts gelegenen Burstah und der Bohnen-
straße mitgetheilt, und von den brennenden Trümmern ergriffen
die Flammen die Predigerhauser auf dem Kirchhofe und die hinter
denselben liegende Straße, Neue bürg genannt.^) Gegen Abend
*) Die Neueburg war die älteste in Hamburg nachzuweisende Straße.
Sie stand auf der Stelle, wo Adolph III. von Schaumburg
— 439 —
schien das Feucr die Richtung nach dem mehr östlich gelegenen
Catharin enkirchspiel hin nehmen zu wollen, da auch eine an
der Westseite des Hopfenmarktes liegende, nach der Catharinen-
straße führende Brücke von den Flammen ergriffen ward; allein
bald darauf drehte sich der Wind, wodurch der bedrohte östliche
Stadttheil gerettet, der nördlicher gelegene aber der Gewalt des
verheerenden Feuerstroms desto mehr ausgesetzt ward. Die Wuth
des um sich greifenden Feuers war so groß, daß selbst die in den
benachbarten Canalen eingerammelten Pfähle mitten im Wasser wie
Fackeln brannten. Gewaltige Flammensaulen wirbelten im Norden
der Brandstätte nach dem Innern der Stadt auf, welche über den
eingeäscherten Theil hinweg den ganzen südlichen Horizont rötheten
und eine Tageshelle meilenweit über die Elbgegenden verbreiteten.
Die Feuergluth spiegelte sich in den Fenstern der Hauser des be-
nachbarten Altona's, von wo aus es schien, als stände ganz
Hamburg in Flammen. — Man hatte bereits am Morgen mit
Einreißung der Hauser den Anfang gemacht, ohne wesentliche
Hilfe zu schaffen; von Sachkundigen ward das Sprengen der
Gebäude mittelst Pulvers in Vorschlag gebracht, wozu ein spezieller
Senatsbefehl erforderlich war, was Anfangs Bedenklichkeiten er-
regte. Aber wahrend der Nacht vom 5. zum 6. Mai, als alle
andere Hilfe unstatthaft befunden ward, hatte der Rath, unter
Zuziehung eines Bürgerausfchusses, den Befehl zum Versuche
dieses furchtbaren Nettungsmittels erlassen. Auch das ehrwür-
dige Rathhaus, dessen Fa^ade mit den Statuen der römisch-
deutschen Kaiser geschmückt war, traf dieses Geschick. Rings um
dasselbe her loderte schon Alles; die eiserne Notwendigkeit er-
heischte, daß man es sammt dem Archive, der alten Börse, der
Bank und dem Commerzgebaude preisgebe. Die wichtigsten
Papiere waren bereits entfernt; die Geldkeller der Bank hatte
man unter Wasser gesetzt. In der westlichen, östlichen und süd-
lichen Richtung war das Sprengen von Erfolg begleitet; nicht
aber so im nördlichen Theile, Dort walzte sich wahrend der Nacht
(s. oben) eine Burg zum Schutze der Stadt angelegt hatte, und ward
schon 1150 angebaut. Die Straße war bedeutend lang, aber krumm
und enge; auf beiden Seiten lagen sehr große Häuser, und auf der
einen Seite hinter denselben stand eine Reihe der'größten unb reichsten
Speicher der Stadt. Der große und kleine Burstah gehörten gleichfalls
zu Hamburgs ältesten Straßen.
— 440
der Feuerstrom unaufhaltsam weiter, und am Morgen des 6. Mai
lag bereits die Neueburg, Bohnensiraße, Korbmachertwite, die
Straß.' an der Mühlenhrücke, die große Bäckerstraße, der Platz
bei der alten Börse, die Straßen bximNeß und bei den Brodschrangen,
der Graskeller, der Adolphsplatz, die Schaui^burgerstraße und
mehrere kleinere Straßen hinter der neuen Börse in Asche. Die
Altewallstraße, der Voglerswall, der Scherbengang, der Mönke-
dämm standen in Flammen, Das Feuer übersprang freie Platze
und Canale von mehreren Hundert Fuß Breite, zündete bald hier bald
dort, und Niemand konnte sich mehr auch in betrachtlicher Entfernung
sicher wähnen; es nahm jetzt schon über eine Viertelstunde im Geviert
ein und war Mittags um das Doppelte groß. Man versuchte ein
Vordringen des Feuers nach dem Neuen wall (der längsten und
einer der schönsten Straßen in der Stadt), über dessen östliche
Häuserreihe die Flammen hervor leckten, durch Sprengen der Eck-
Häuser am südlichen Ende desselben Einbalt zu thun, wodurch es
gelang, etwa ein Achtel der Straße mit zwei wichtigen öffentlichen
Gebäuden, dem Stadthause und dem Stadtpostamte, zu retten;
beim Sprengen fanden indeß leider durch den Sturz eines Ge-
baudes viele Menschen ihren Tod, von denen man sofort vierzehn
entsetzlich verstümmelt aus - dem Schutte hervorzog. Nur an
diesem Punkte allein waren die Anstrengungen von Erfolg. Um
zehn Uhr schon schien jede weitere Rettung der bedrohten Straße
unmöglich, und die Bewohner flüchteten in unbeschreiblicher Eile
und Verwirrung» Wagen zur Fortschaffung der Waaren und
Mobilien waren um keinen Preis zu haben; und wenn es auch
gelang, für zehn ThaKr und noch mehr ein Fuhrwerk zu erlangen,
so war doch durch Mobilien, Spritzen, durch das Löschpersonal,
durch Zimmerleute mit Aexten :c. jede Passage, jeder Durchgang
versperrt, Von der einen Seite drängten die immer sich näher
walzenden Feuer-und Rauchwolken, von der-andern Seite rückte
Artillerie zur Sprengung der Häuser an, indem sich jetzt auch das
Feuer dem alten Jung fernstieg näherte, und der Neuewall, sowie
der bereits in Flammen stehende Voglerswall, auf diesem ausliefen.
Die ganze in der Nahe der Brandstatte meist schlecht gebaute Neu-
stadt mit ihrem wirren Knäuel von Gängen und Höfen war
bedroht, wenn das Feuer über den Iungfernstieg fortdrang; die
Erhaltung des noch stehenden Theiles von Hamburg hing davon
ab, auf dieser Seile dem Brande um jeden Preis eine Grenze zu
— 441 —
setzen. Schon am Morgen war aus Harburg und Stade
Artillerie mit schwerem Belagerungsgeschütz und Munition zur
Sprengung der Gebäude geholt; mehr denn hundert' Spritzen
aus der Umgegend»und auch aus weiterer Ferne — aus Lübeck, Lüne-
burg, Lauenburg, Glückstadt, sogar aus Kiel (unter
Mithilfe der dortigen Studirenden) — waren ebenfalls einge-
troffen. Das zunächst gelegene Altona und die ganze umliegende
Landschaft, die Schiffe im Hafen hatten jeden entbehrlichen Arm
entsendet, um die erschöpften Kräfte des Spritzenpersonals zu
unterstützen. Allein der Gedanke, der Feuersbrunst auf dem bisher
eingeschlagenen Wege Einhalt zu thun, ward allgemein aufgegeben,
und der Befehl zur systematischen Zerstörung ganzer Straßen er-
lassen, in denen man am Morgen nur einzelne Hauser hin und
wieder eingerissen hatte. Die Sprengung einer Häuserreihe am
nordöstlichen Ende des Iungfernstieg sollte den Anfang machen.*)
Mit Hast ging man an das Werk der Vernichtung; die Feuer-
werker legten Minen, und schweres Geschütz, bedient von der
hannoverschen Artillerie, fuhr in der Promenade in dreißig Schritt
Entfernung von der gegenüber liegenden Häuserreihe auf. So
wurden mehrere palastähnliche Gebäude in Trümmer gelegt, bis die
notwendige große Lücke gebildet war, welche den Flammen um
zehn Uhr Abends ein Ziel setzte, das sie auch nicht überschritten.
Indeß hatte sich am Nachmittage am andern Ende desÄungfern-
stiegs der Feuerstrom unaufhaltsam fortgewalzt, und sich einerseits durch
die Straße Breitengiebel, andrerseits durch die Zohannisstraße und vom
Neß her — über die Feuerlinie ostwärts hinaus — dem Berge und der
Bergstraße zugewendet und drang in die Zuchthausstraße und gegen die
Mauernder Kirche von St. Pe tri vor. GegenAbendwurde auch hier
Geschütz aufgefahren, um durch Sprengen und Niederschmettern
langer Hauserreihen die Petrikirche und den ganzen dahinter
liegenden Stadttheil bis an die Walle zu retten. Zuerst traf dieses
Schicksal die Straße bei der Alster, und in der Nacht auf den
7, Mai wurden mehrere die Kirche umgebende große Gebäude,
unter andern auch das Reichspostamt, gesprengt; vergebens aber
*) Die Sprengungsoperationen wurden von englischen Ingenieurs geleitet;
die sehr gefahrvolle Ausführung besorgten mit rühmlichem Muthe Ham-
burger Feuerwerker, bürgerliche Artilleristen und Jäger. Manche nicht
gehörig signalisirte Sprengungen drohten den Umstehenden Werderben;
andere geschahen nach gegebenem Trommelsignal.
— 442 —
machte die hannoversche Brigade den Versuch, die Südseite der
Bergstraße einzuschießen. Der noch nicht völlig demolirte
Theil derselben und die umliegenden brennenden Straßen umgaben
am Morgen des 7. die Petrikirche mit einem Keuermeere. In
weitester Entfernung von der Brandstatte räumte man nun die
Hauser, und im wirren Gedränge walzte sich die Menschenmasse
durch brennende und bedrohte Straßen mit dem Wenigen, was
sie gerettet, den Wallen, den Vorstädten und Landstraßen zu.
Nastpunkte innerhalb der Stadt zu wählen, war verderblich; das
Element ereilte den Flüchtigen, und Mancher, der zwei und drei-
mal das Seinige geflüchtet, mußte es endlich doch im Stiche
lassen und nur sich selbst und die Seinen retten. —
Der Petrithurm hatte trotz aller innerhalb und außerhalb
getroffenen Vorsichtsmaßregeln wahrend der Nacht mehrere Male
Feuer gefangen, welches aber immer im Keime erstickt und gelöscht
worden war. Kurz nachdem es Morgens neun Uhr von demselben
geschlagen, sah man unterhalb der Pyramide des Thurms die
Flamme hervorbrechen, die sich rasch, mehr im Umfange, als
in der Hohe, ausdehnten und den Thurm in kurzer Zeit verzehrten;
nach kaum einer Stunde senkte sich die schöne Pyramide, deren
Vernichtung auch den Kunstverständigen einen Seufzer auspreßte/)
Durch den Fall derselben geschah kein weiterer Schaden, indem sie'
nach der Seite des Berges auf bloße Ruinen siel. Die Kirche
ward durch den Brand und Fall des Thurmes ganzlich zerstört,**)
*) Der Petrithurm mit seiner majestätischen Pyramide war ein Meister-
werk der Architektur und nahm in der Reihe der menschlichen Bauwerke
der Höhe nach die siebente Stelle ein. Auf dem Thurme befanden sich
eine Menge gewaltiger Glocken, deren eine 12,000 Pfund wog, eine
künstliche Uhr und zwei Glockenspiele, deren eines Mittags und i>n
Sommer auch Morgens gespielt ward, das andere, durch ein Uhrwerk
regiert, halbstündlich einen Choral spielte. Wahrend des Brandes ließ
das Glockenspiel die Melodien ertönen: „Gott in der Höh' allein sei
Ei^r \"
55) Als der Petrithurm zu brennen begann, da ertönte unerwartet (denn
seit Freitag ward die Sturmglocke nicht mehr angezogen), und zum
Schrecken aller Bewohner der Neustadt, die Sturmglocke vom Michae-
Usthurme. Die Behörde ließ befremdet nach der Ursache fragen.
„Es ist die letzte Ehre, welche ich dem Petrithurme erweise, sollte es mir
auch den Dienst kosten," war die Antwort des Thürmers von St.
Michaelis.
— 443 —
Was in der nächsten Umgebung dcr Kirche lag, stand nun-
mehr alsbald in Flammen, und die benachbarte Jakobikirche er-
regte große Besorgnisse, da sie kaum taufend Schritt von der
Petrikirche entfernt liegt; doch stand sie außer dem Gluthstrome der
Feuerlinie und hatte, so lange der Wind sich nicht drehte, keine
ernstliche Gefahr. Das Feuer breitete sich während des Morgens'
in unveränderter Richtung immer weiter aus und verzehrte den nach
den Wallen zu gelegenen Stadttheil. Auch die Gefängnisse, das
Zucht- und Spinnhaus wurden bald von den Flammen erreicht.
Die in dem Zuchthause, sowie in dem daran stoßenden Cur-und
Werk-und Armenhause aufgenommenen Personen waren schon am
Morgen nach der Vorstadt St. Georg in Sicherheit gebracht.
Die in dem Spinnhause büßenden schweren Verbrecher wurden
gegen eilf Uhr in ihren grau leinenen Kitteln, kurzen grauen Bein-
kleidern, weiß wollenen Strümpfen und hölzernen Pantoffeln, mir
ihren eisernen Blöcken an den Beinen, unter einer starken Escorte
Cavalerie und Infanterie der Garnison, nach einem auf der Elbe
befindlichen Fahrzeuge gebracht, welches von einem Dampfschiffe
ins Schlepptau genommen und so nach Stade geführt ward,
wo die Gefangenen in den dortigen geräumigen Strafanstalten vor-
läufig Aufnahme fanden. Noch während des Tages theilte sich
das Feuer der mit zum Theil ganz neuen Prachtgebauden gezierten
Straße Holzdamm und den mehr östlich gelegenen Straßen mit.
Eine auf dem Holzdamm befindliche großartige Wasserkunst, mit
einem Ungeheuern Bassin, welche bei der Feuersbrunst in allen
Theilen der Stadt die wesentlichsten Dienste geleistet hatte, hielt
sich zwar, während bereits die ganze Häuserreihe der Straße
brannte; allein auf die Länge vermochte auch sie mit ihren ge-
waltigen Wasservorräthen dem rings sie umgebenden Feuermeere
nicht Widerstand zu leisten: sie ward bis auf den Grund von dem
Elemente verzehrt. Mit dem am äußersten Ende des Walles ge-
legenen Gefängnisse, Detentionshaus, war nordwärts auf
dieser Seite das letzte Gebäude der Jnstadt zerstört. Aber ostwärts
vom Holzdamm war noch Nahrung. Bis jetzt war der reichere
Theil der Stadt die Beute des Alles vernichtenden Elements ge-
wesen; hier aber überfiel nun das Unglück denjenigen Stadttheil,
in welchen: eine Menge der betriebsamsten, aber ärmeren Bürger
wohnte, und leider erlaubte das Terrain hier nicht die Anwendung
von Geschütz. Während der Nacht vom 7. auf den 8. Mai ward
— 444 —
das ganze eng und schlecht gebaute, von Höfen und Twiten durch-
schnittene Viertel, voller aufeinander gethürmter Säle, in denen
kleine Handwerker und Handarbeiter in großer Zahl wohnten,
nebst der inmitten dieses Quartiers gelegenen Gertrudenkirche
ein Opfer der Flammen. Am Morgen des 8. endlich gelang es,
dem weiteren Umsichgreifen des Feuers, durch die besondere rastlose
Thatigkeit der in dieser Gegend arbeitenden Spritzen, Einhalt zu
thun; um Mittag gegen eilf Uhr war die Feuersbrunst besiegt.
Man hatte wahrend der Nacht ernstliche Besorgnisse für die
Erhaltung der Vorstadt St. Georg und das darin gelegene
große Krankenhaus gehegt; denn der Sturm trieb die Flamme
unaufhaltsam nach jener Richtung, Auch waren bereits Anstalten
getroffen, um bei höchster Gefahr die Kranken, 1700 bis 1800 an
der Zahl, ans demselben zu entfernen. Zwar war die Vorstadt
durch den Wall und den Stadtgraben von der Jnstadt getrennt;
aber selbst diese weite Entfernung war nur von Nutzen, weil die
Spritzen die der Stadt zunächst gelegenen Häuser, die alle schon langst
geräumt waren, mit einer Fluth von Wasser überschwemmten. Bis
auf geringe Ausnahmen wurden fammtliche in dem fortschreitenden
Feuerdreieck befindliche Gebäude ein Raub der Flammen. Zu
diesen Ausnahmen gehören die neue, erst im December 1841 ein-
geweihete Börse und das neue Schulgebaude. Bewundernswerth
ist die Rettung der ersteren, die, rings von Flammen umgeben, im
Gluthcentrum des ganzen Brandes, durch fast übermenschliche An-
strengung ganz unbeschädigt geblieben ist. Schweres Geschütz ver-
nichtete in einem weiten Umkreise alle umliegenden Hauser; dann
überhing man das ganze Gebäude mit wollenen Decken, und vierzig
Spritzen erhielten diese fast drei Tage ununterbrochen naß. Zur
Erhallung des Schulgebaudes bedurfte es weniger Anstrengung;
man hatte Zeit, Vertheidigungsmaßregeln zu treffen, und benutzte
sie, um die Fenster zu vermauern; auch war nur die eine Seite
dieses massiven Gebäudes der äußersten, schwächeren Seite des
Feuerstroms zugewendet.
Während der Zeit, wo die Angst vor dem unaufhaltsamen Fort-
schreiten der Feuersbrunst sich mit jeder Minute steigerte, wardieallge-
meine Grundstimmung der unteren Classen die des Entsetzens und
der Betäubung. Bei der großen Hast und der grenzenlosen Ver-
wirrung, mit welcher ununterbrochene Schaaren der fliehenden
Bevölkerung sich durch die engen Straßen drängten, wo Last - und
- 445 —
Ziehwagen, Bahren und Schiebkarren, bepackte und unbepackte
Menschen einen dichten und verworrenen Knäuel bis an die
Wälle und bis zu den Thoren hinaus bildeten, wo Alles sich
drückte, stieß und schob, ward kaum der gewöhnliche laute Menschen-
lärm vernehmbar. Das bei ähnlichen Anlassen gewöhnliche tumul-
tu arische Schreien und Toben ward von dem Gefühle allgemeiner
Roth gedampft; es herrschte nur das Streben, sich gegenseitig auf
die beste Weise aus dem Strome herauözuwinden. Und wie sehr
bei Vielen der geringeren Elasse der umsonst und reichlich sich
darbietende Genuß spirituöser Getränke die aufgeregte Stimmung
vermehren mußte, so war doch von meuterischen, widersetzlichen
und verbrecherischen Bewegungen, wie man es in einer brennenden
Stadt wohl erwarten dürste, nicht die geringste Spur vorhanden.
Das ungeheure Ereigniß hatte indeß den Verstand Vieler über-
wältigt; die entsetzte Phantasie führte ihnen Bilder des Schreckens
vor; das Gerücht einer Weissagung von der ganzlichen Zerstörung
der Stadt bis auf sechs Hauser verbreitete sich; was Wunder
daß es mehrerseitö Glauben fand? Vielen allzu Aengstlichen aus allen
Elasten drängte sich dieser Schreckensgedanke gewaltsam auf, und
sie trafen ihre Maßregeln nach der uubezweifelten Gewißheit
desselben; im Volke tauchte sogar der Glaube an den Anbruch
des jüngsten Gerichtes auf. Mehrere ließen sich das Abendmahl
reichen; auch ist ein Fall bekannt geworden, daß Eltern in Seelen-
angst die Taufe ihres vierjährigen Kindes veranstalteten. Einige
sollen irrsinnig geworden sein. Zu diesen eingebildeten Schrecken
gesellte sich noch ein anderer, welcher die verschont gebliebenen, im
Rücken der Feuersbrunst liegenden Stadttheile in den höchsten
Grad der Aufregung versetzte. Es ward nämlich schon am Frei-
tage neben dem oben erwähnten Gerüchte ausgesprengt, daß eine
organisirte Bande Mordbrenner den noch unversehrten Theil der
Stadt einzuäschern beabsichtige. Dieser Wahn, den zuerst wohl
der unaufhaltsame, stürmisch rasche und weit übergreifende Lauf
der Feuersbrunst erregte, hatte bei einer großen Anzahl Menschen,
und selbst der Verständigsten, dergestalt Wurzel gefaßt, daß man
in jedem, durch den geringfügigsten Umstand Verdachtigen, nament-
lich in jedem Nichtdeutschen, einen Mordbrenner witterte. Die
aufgeregte Volkswuth glaubte sich zu einem furchtbaren Strafge-
richte aufgerufen, und mehrere Unschuldige geriethen durch den Ver-
dacht, den man gegen sie hatte, in Lebensgefahr. Man schlug die
N. G. 'IV. ' ' 29
— 446 —
Unglücklichen, bis sie ohnmächtig oder betäubt niedersanken, warf
einige ins Wasser und zog sie halb leblos wieder heraus. Alle
Wachen waren an diesem Tage voll von Gefangenen, die in Ver-
dacht der Mordbrennerei standen, und Mehrere mußten in Folge der
erlittenen Mißhandlungen nach dem Krankenhause geschafft werden.
Dem Wachsen dieser Selbsthilfe gegen vermeintliche Verbrecher,
was wohl zu einem förmlichen Aufstande hatte führen können,
ward gesteuert durch eine schnell aus freiwilligen Bürgern errichtete
Polizei, deren Mitglieder, durch Abzeichen am Arm und Hute kenntlich,
berechtigt waren, die Hilfe der Bürgergarde und der Militärmacht
bei vorkommenden Fällen zu verwenden.
Außer den grausen Acten der Pöbeljustiz, bewirkten die Brand-
stiftergerüchte eine vermehrte Auswanderung aus den Thoren und
angstliche Hausbewachung von Seiten der Zurückgebliebenen. Man
stöberte, vigilirte, roch umher, lud Gewehre vor den Thüren; so-
gar Frauen aus dem geringen Volke hielten, mit Knütteln und
dergleichen bewaffnet, Wacht vor den Wohnungen. Man sah in
jeder brennenden Cigarre eine Brandfackel und in jedem bartigen,
an der Seite 'der Häuser schleichenden Manne einen Brandstifter.
Der Abscheu vor Feuer ging so weit, daß in den Tagen der Angst
in vielen Hausern kein Feuer auf dem Heerde brannte. Dieselbe
leere Beängstigung steckte die Vorstädte an und erstreckte sich sogar
über das benachbarte Altona; wodurch auch die dortige Bürgerbe-
waffnung in Wirksamkeit trat und vom Nathhause aus die Stadt
einige Nächte mit Patrouillen beschickte.
Nach officiellen Berichten sind im Ganzen verbrannt 1749
Häuser, 1508 Sale (Saal wird jede der oberen Etagen von
Hausern genannt, sobald ein besonderer Aufgang von der Straße
hinauf führt), 488 Buden (einstöckige Häuschen, oder auch wohl
das Parterrelocal der geringeren Säle), 474 Wohnkeller; also
4219 Feuerstellen; außerdem 102 Speicher und 9 Ställe mit
Wohnungen. Obdachlos wurden über 19,600 Personen, Fremde
nicht mitgerechnet; flüchtig wohl das Doppelte dieser Zahl. Unter
den zerstörten großen öffentlichen Gebäuden befinden sich sieben
Gotteshäuser (fünf christliche Kirchen und zwei Synagogen). —.
Der Werth der abgebrannten Gebäude (mit Ausschluß der Kirchen
und Staatsgebäude) betragt acht und dreißig Millionen Mark
Banko; der ganze Verlust an Gebäuden, Waarcn, Mobilien, wird
auf 100 Millionen Mark Banko geschätzt. (DaS Gesammtver-
— 447 —
mögen wird zu 3l)0 Mill. MarkBanko angeschlagen). Trauriger und
schmerzerregender, als die Berichte der obigen Verluste, sind die
folgenden Details der durch die Feuersbrunst und spater durch
Einstürzen der Brandruinen Verunglückten und Verwundeten.
Vom Ausbruche des Feuers bis zum 14. Juni wurden nämlich
im Ganzen verletzt 118 Personen; darunter befanden sich nach den
bei der Polizeibehörde eingereichten wundarztlichen Berichten
43 leichte Verletzungen, 66 bedeutende und 8 gefahrliche. Ge-
todtet wurden 39 Personen, worunter 25 verbrannten und 14 durch
Einstürzen von Ruinen ihren Tod fanden.
Was über die weite Entfernung, in welcher das Feuer ge-
sehen und bemerkt ward, bekannt geworden ist, wird nur durch die
hohen himmelanstürmenden Feuerwolken, die sich, von dem Haupt-
zuge des Gluthstroms in die Höhe gewirbelt, über der Brand-
statte ausbildeten, und durch den starken Wind erklärbar. Stücke
verbrannten Papiers, seidener nnd anderer Stoffe mit noch er-
kennbarcm Drucke flogen 5 Meilen, und glühende leuchtende Funken
sogar sieben Meilen. Die Bewohner der umliegenden Gegenden
strömten auf die Kunde, Hamburg stehe in Flammen, in
großer Anzahl mit Fernröhren nach solchen Anhöhen, wo sie das
Feuer sehen konnten, und schon mit unbewaffneten Augen erblickten
sie riesige Rauchsäulen. Der Brand der beiden Thurms ward,
ungeachtet des hellen Tages, in einer erstaunlichen Entfernung
wahrgenommen. Selbst auf der Nordfee, auf den dort fahrenden
Schiffen, ist der Wiederfchein des Feuers gesehen worden. Sogar
von Potsdam aus ward berichtet, es sei am (i. und 7. Mai in der
dortigen Gegend ein durchdringender sonderbarer Geruch wahrge-
nommen worden. —
Mit Windeseile hatte sich die Kunde des traurigen Ereignisses
nach allen Gegenden Deutschlands hin verbreitet, wobei das eigent-
liche Factum auf die seltsamste und ungereimteste Art entstellt und
vergrößert ward. Man sprach von Mordbrennerei und sonstigen
Conspirationen der gefahrlichsten Art. Während des Brandes
und einige Zeit noch darnach waren die Postbureaux in den
Städten Deutschlands von Menschenmassen umlagert, welche sich
dort schon mehre Stunden vor der erwarteten Ankunft der Ham-
burgischen Posten versammelten, so daß es bei Ausgabe der
Briefe und Zeitungen mitunter zu tumultuarischen Auftritten kam.
Und als vollends die am Abende deS 7. Mai aus Hamburg ab-
29*
— 448 —
gegangenen Posten keine einzige Hamburgische Zeitung überbrachten
(weil keine an diesem Tage erschienen war), da glaubte man allen
Ernstes, daß ganz Hamburg abgebrannt sei.
Schon während der Feuersbrunst wurden die Bewohner Altona's
von ihrem Oberpräsidenten, dem Grafen Blücher-Altona auf-
gefordert, die Hamburger Flüchtlinge gastlich aufzunehmen, welche
heilige Pflicht diese auch bereitwillig ausübten. Auch Hamburgs
Bewohner innerhalb und außerhalb der Stadt gewährten ihren un-
glücklichen Mitbürgern nach Kräften Obdach und Nahrung. Vor
den Thoren wurden schleunigst die Zelte der Garnison und ein
großes dem Waisenhause gehörendes Zelt aufgeschlagen; die beiden
in Hamburg befindlichen englischen Kirchen, die katholische und
die Kircbe der Vorstadt St. Georg, der jüdische Tempel, das
Logenhaus der Provinzialloge von Niedersachsen ?c. wurden den Ob-
dachlosen eingeräumt; von allen Seiten kamen Lebensmittel, Betten
und Kleidungsstücke in Fülle, und so sah man schon in den ersten
Tagen nach dem Brande kein nacktes Elend, keinen Obdachlosen, keinen
Hungernden. — Von der schnellen Hilfe, welche die Stadt durch
die herbeieilenden Löschapparate aus der Umgegend erhielt, ist schon
oben gesprochen; bald darauf trafen auch Militairdetafchements von
den Staaten Hannover, Preußen, Dänemark, von Lübeck
und Bremen ein, theils zur Aufrechthaltung der Ordnung, theils zur
Ablösung des ermüdeten Hamburger Garnison- und Bürgermili-
tairs*); von Hannover ward Cavalerie und Artillerie gesendet,
welche letztere auch beim Sprengen mitwirkte. Spater kam auch
eine Abteilung preußischer Garde-Pionniere an, welche bei Her-
stellung der verschütteten Wassercanale und der Interimsbrücken,
sowie bei Sprengung der gefahrdrohenden Ruinen thätig waren,
tteberall, wohin die Kunde von dem Mißgeschicke, welches
*) Zu Herbeiberufung der Hilfe leistete der Hamburg-Altonaer Telegraph
treffliche Dienste. Schon am Morgen des 5. Mai, sobald die Feuers-
brunst einen bedenklichen Charakter annahm, ward den im Bereiche der
Linie liegenden Städten und Ortschaften der Nothstand der Stadt kund
gethan, die ungesäumt stark bemannte Spritzen hersendeten. Auch das
beim Sprengen so notwendige in der Stadt mangelnde Sprengpulver,
nebst zahlreichen Artilleristen, ward auf diesem Wege in größtmöglicher
Schnelle herbefördert; desgleichen Mannschaft mit Wagen und Pferden.
In dem Grade, wie die Roth wuchs, ward stets neue' Hilfe durch diese
zweckmäßige Anstalt aufgerufen.
— 449 —
Hamburg betroffen, gelangte,, selbst in weiter Ferne über die Grenzen
des deutschen Vaterlandes hinaus, sprach sich das innigste Mitge-
fühl und thatige Theilnahme aus; Fürsten, Stande, Städte, Dürfer,
Corporationen und einzelne Personen wetteiferten in den Gaben-
sendungen und Aeußerungen des wärmsten Antheils. ^Der König
von Preußen übersendete gleich nach erhaltener Nachricht von dem
Unglücke 20,000 Brode, 2000 wollene Decken, nebst 5000 Stück
Louisd'or, und musterte selbst die oben erwähnten Pionniere, die
sich eiligst in Potsdam einschiffen mußten. Der König von Dane?
mark schrieb schon am 9. Mai in den teilnehmendsten Ausdrücken
an den Senat von Hamburg und begleitete dies Schreiben mir
100,000 Mark Banko*). Teilnehmende Schreiben, von groß-
artigen Geschenken begleitet, gingen von allen Fürsten Deutschlands
und auch von fremden Monarchen ein. Eine Aufzählung aller
Gaben und Beitrage würde jedoch zu weitläufig sein; nur eine
Uebersicht der besonders erwähnenswerthen möge hier ihren Platz
finden, um ein ungefähres Verhältnis der Gaben zu den Gebern
darzuthun. Es wurden nämlich außer dem schon Erwähnten ein-
gesendet: von dem Kaiser von Oestreich 40.000 Gulden, vom
Kaiser von Nußland 30,000 Silberrubel, vom Könige der Franzosen
20,000 Franken, von der Königin von Großbritannien und deren
Gemahl 300 Pfund Sterling, von der verwittweten Königin 150
Pfund Sterling, vom Herzog von Cambridge 100 Pfund Sterling,
vom Könige von Hannover 10,000 Mark Banko, vom Könige von
Sachsen 1600 Louisd'or, vom Könige von Schweden und Nor-
wegen 10,000 Mark Banko, vom Könige von Baiern 13,000
Gulden, vom König von Würtemberg 11,000 Gulden, vom re-
gierenden Herzog von Braunschweig 3000 Thaler, vom Herzog
Karl von Braunschweig 100 Guineen, vom Großherzog von Ol-
denburg 2000 Louisd'or, vom Prinzen Peter von Oldenburg 500
Louisd'or, vom Großherzog von Mecklenburg-Schwerin 10,000
Thaler, vom Großherzog von Mecklenburg-Strelitz 300 Louisd'or;
von dem Senate der freien Stadt Frankfurt, aus öffentlichen
Mitteln 100,000 Gulden, von den Bewohnern der Stadt und des
Gebietes 102,573 Mark Banko und 90,450 Gulden, von den
Standen von Hannover aus öffentlichen Mitteln 100,000 Thaler,
*) Zwei Mark Banko ist ein Thaler preußisch oder zwei und eine halbe
Mark Hamburger Courant.
— 450 —
von der Stadt Hannover 28,840 Mark Banko und 19,735 Mark
Courant. Ferner gingen ein aus Amsterdam 64,000 Mark Banko,
Altona 16,324 Mark Bko, Berlin 107,462 Mark Bko, Bremen
64,808 Mark Bko, Leipzig 63,876 Mark Bko, London 383,436
Mark Bko, Liverpool 20,000 Mark Bko, Lüneburg 9,610 Thaler, -
Lübeck 33,627 Mark Bko, Magdeburg 00,307 Mark Courant,
Manchester 86,394 Mark Bko, New-York 22,773 Mark Bko,
Petersburg 130,422 Mark Bko. In gleichem Maße gingen auch
aus den kleineren Städten innerhalb und außerhalb Deutschlands
reiche Gaben ein. Die namhaftesten Virtuosen arrangirten Concerte
in den verschiedensten Theilen Europa's zum Besten der Ham-
burger Abgebrannten. Zwei Hamburger Schauspielerdirectoren
und mehrere auswärtige gaben Vorstellungen. Viele Handlnngs-
beflissene in der Fremde steuerten bei; die Dienstmädchen in Leipzig
veranstalteten eine Sammlung, ja, sogar die Sträflinge in Celle,
sowie die Hamburgischen, wollten nicht zurückbleiben. — Im
Ganzen waren an Geldbeiträgen bis zum 30. Juli bei der vom
Senate eingesetzten öffentlichen Unterstützungsbehörde und dem
Hilfsvereine eingegangen die ansehnliche Summe von circa 3,730,000
Mark Banko.
Einer besonders lebhaften Fürsorge hatten sich die bei den:
Brande betheiligten Hamburger Buchhändler und deren Gehülfen
von Seiten ihrer auswärtigen Collegen zu erfreuen. Schon am
9. Mai erließ einer derselben, Friedrich Fleischer in Leipzig, ein
Circulair an die dortigen Buchhändler, worauf sofort eine Summe
von 2034^ Thaler zusammenkam, welche nach Hamburg über-
sendet und von einem dortigen Comitö zweckmäßig verwendet
ward. Ferner erging von Herrn Ionghaus in Darmstadt am
20. Mai ein Aufruf an Deutschlands Buchhändler des Inhalts:
daß jeder Verleger durch 'Einsendung eines Theils seiner Verlags-
werke den Hamburger Abgebrannten zur Errichtung eines neuen
Lagers möge behilflich sein, und daß außerdem auf den Betrag
aller seit Januar gemachten Sendungen verzichtet werden möge.
Dieser Aufruf fand den beifälligsten Anklang. Die Stuttgarter-
Buchhändler errichteten noch besonders aus ihren Verlagswerken,
im Werthe von 10,000 Gulden, eine Lotterie, welcher jedes
L0 Kreuzer kostende Loos einen Gewinn bis zum Werthe von
33 Gulden erhielt. Die Leipziger Buchdruckereien steuerten für
ihre Hamb. Collegen 364 Thlr. 4 Ngr. 2 Pf.
— 451 —
Daß Hamburgs großes Mißgeschick sympathetisch von ganz
Deutschland mitgefühlt ward, bethatigte sich nicht nur durch die
vielen Gaben, welche zur Unterstützung der hilfsbedürftigen Ab-
gebrannten eingesendet wurden, sondern von allen Seilen her
sprach sich auch in den öffentlichen Organen das regste Mit-
gefühl und die wärmsten Wünsche für die baldige Wiedererhebung
der gebeugten Stadt in Versen Und Prosa aus*). —•
Ende Juli ward bereits eine Anleihe zum Behuf des Wieder-
aufbaues der abgebrannten Stadttheile, im Gefammtbetrage von
34,400,000 Mark Bko, unter sehr günstigen Bedingungen übge-
schlössen, und ein allgemeinen Beifall findender Plan zum Neu-
bau genehmigte
*) Selbst von jenseits der Alpen tönte ein Echo dieses deutschen National-
gefühls in dem folgenden kleinen Gedichte herüber, welches eine Geld-
sendung aus Burgdorf im Canton Bern begleitete:
Drei Kirchen mußten sinken
Im wilden Flammenmeer.
Drei Thürme aber blinken
Zu ew'ger hoher Ehr:
Das sind die Wappenthürme
Der alten, edlen Stadt,
Die Gott durch tausend Stürme
So treu beschirmet hat—-
Er darf ja nicht vergehen,
Der Deutschen E d e l st e i rt,
Muß herrlicher erstehen
In wen'ger Jahre Reih'n.
Drum länger nicht das Trauern
Im niegefühlten Weh; —
Wir alle helfen mauern
An unsrer Burg der See!
-
In gleichem Verlage ist erschienen:
Neues elegantestes
Gonversatipus -Lexicon
Gebildete ans allen Akänben.
Herausgegeben
i m
Verein mit einer Gesellschaft von Gelehrten
von
Prof. Dr. SS. IIS. Wolff.
Zweite wohlfeile itnb mit einem fünften Bande vermehrte Ausgabe
Gr. Quart. 5 Bande mit 88 S t a h l st i ch e n.
Wreis: 8Thlr.; S.TFl.°Münze; Z-KFl. §4£v.Rhein.
Dieses vielverbreitete Werk, im Supplementbande bis zum Schluß des
Jahres 1841 fortgeführt, enthalt auf mehr als dreihundert Druckbogen
einen fvlchen Reichthum von Gegenständen, daß man sich nie vergeblich darin
Raths erholt» In weiterem Maße als andere Conversations - Lexiea berück-
sichtigt es die alte und neue Geographie, alte und neue Geschichte, die Bio-
graphien merkwürdiger Personen alterer und ganz vorzüglich neuerer und
neuester Zeit, Mythologie, Kunstgeschichte und Politik, die Fremdwörter u. f. w.
weshalb die Zahl seiner Artikel weit größer ist als bei fast allen übrigen
Werken dieser Art. — Im Besitz dieses Conversations - Lcxicons werdenWörtcr-
büchcr aus den gedachten Fächern beinahe ganz entbehrlich, um so mehr, als
in gedrängtem Vortrage alles über einen fraglichen Gegenstand Notwendige
und Wisscnswerthe zusammengestellt ist.
Der früher doppelt so hohe Preis für diesen, jedem Gebildeten fast un-
entbehrlichen Hausschatz ist jetzt so niedrig bestimmt, daß nach Erschöpfung
des gegenwärtigen Vorraths es nicht wieder zu gleichem Preise herzustellen ist.
Als Zierde dienen außer dem schönen Druck und Papier, 83 Stahlstiche, näm-
lich 26 Portrait» und 62 landschaftliche oder Städte - Ansichten.
Druck von Sieg hart und Voigt in Pen ig.
L
Berichtigungen.
Seite 17 Zeile 7 von oben fehlt vor dem Worte milder das Wörtchen ein
— 24 — 14 von unten muß es anstatt das — die heißet»
— 30 — 7 v. o. fehlt das Wort Fuß
— 31 — 13 v. u. statt Glaubensheer — Glaubensheeres
— 56 — 15 v. o. fehlt hinter indeß das Komma
— 71 — 15 v. u. statt ein — kein
— 73 — 12 v. u. muß die Parenthese wegfallen
— 78 — 18 v. o. muß es heißen Jsmael erhielt die Oberherrschaft von
Ianina
— 92 — 16 o. u. statt ganze — ganz
— 95 — 9 v. it. muß es heißen die eine Anleihe zu Gunsten
der Griechen
— 96 — 2 v. o. statt waren — war
■— 109 — 4 v. u. fehlt hinter sie das Komma
— 111 — 8 v. o. statt befestigte Insel — befestigten Inseln
— 112 — 2 v. u. statt auf des — auf die des
— 131 — 11 v. o. statt erhielt — enthielt
— 140 — 15 v. o. muß das Wort an wegfallen
— 143 — 4 v. o. statt Festung — Festungen
— 151 — 15 v. o. statt des — der
— 153 — 15 v. o. statt setzte — setze
— 178 — 12 v. o. statt habe — hat
— 187 — 20 v. o. fehlt vor aufgefordert das Wörtchen er
— 209 — 3 v. u. statt vor — von
— 217 — 19 v. o. fehlen hinter bedrohe die Anführungszeichen
— 266 — 6 v. o. statt Gobbel Froy — Gobbelschroy
— 271 — 11 v. u. statt mögen — möchten
■— 304 — 13 v. u. statt bestellte — bestellten
— 312 — 8 v. o. statt n u r — nun
— 317 — 3 v. o. muß zu Ende derselben statt des Punktes ei« Komma
stehen
- — 341 — 10 v. it. statt Weisberg — Wrisberg
Seite342 Zeile 13 v. o. statt schöne — schlaue
— 3.V1 — 6 v. u. muß das Komma hinter Verschwörung stehen
— 369 — 5 v. u. statt Karl V. — Kaiser Karl V.
— 379 — 19 v. o. statt Burg — Burgos
— 399 — 3 v. u. statt haben — hatten
•— 415 — 14 v. o. statt Murarif — Murawif
— 426 — 5 v. u. statt Geiseln — Geißeln
— 427 — 16 v. o.. statt genösse — genössen
— 436 — 13 v. ii. muß es heißen fließende, zur Ebbezeit nur
seichte Canal (in Hamburg Fleet genannt)
— 440 — 7 v. o. statt Scherbengang — Scheelengang
— 444 — 2 v. u. statt ununterbrochene — ununterbrochen.
, ..
I
II
1
I
iv ■-;':■■ &■ i
;
I - ■'' '!■ • S
. .. ■