10 Geschichte der alten Welt. Leben auf Erden für eine Straf- und Prüfungszeit, die man nur durch einen heiligen Wandel, durch Gebet und Opfer, durch Büßungen und Reinigungen verkürzen könne. Verabsäumt der Mensch dies und sinkt durch Entfernung von der Gottheit immer tiefer ins Böse, so geht seine Seele nach dem Tode wieder in einen andern oft niedrigem (Thier-) Körper und muß die Wan¬ derung von Neuem beginnen, indeß die Seele des Weisen, Helden oder Büßers ihren Gang nach Oben durch leuchtende Gestirne antritt und endlich mit dem geistigen Urwesen, von dem sie ausgegangen, wieder vereinigt wird. Diese Lehre wurde von den Brahmanen dahin gedeutet, daß der Mensch nnr durch ununterbrochene Betrachtung des Göttlichen und durch Absonderung vom Ir¬ dischen den Zweck des Daseins erreiche. Sie stellten daher ein ruhiges Be¬ schauen und stilles Nachsinnen höher als ein thätiges Leben, entzogen sich dem Verkehr mit den untern Volksklassen und glaubten durch Lesen und Forschen in den heiligen Schriften der Veda's, durch Büßungen und Selbstpeinigun¬ gen, durch Almosenspenden und äußere Werkheiligkeit, durch genaue Beobach¬ tung zahlloser Gebote und Reinigungsvorschriften der Gottheit näher zu kom¬ men. Da in Folge der Seelenwanderungslehre in den Thieren Menschenseelen wohnen können, so darf der strenge Brahmane kein Thier tödten oder verletzen und keine Fleischspeisen genießen, außer von Opfern. In den ältesten Zeiten, als die Inder noch am Indus, im Lande der „fünf Ströme" wohnten, verehr¬ ten sie die Mächte, die das Naturleben gestalten, den Indra, den Herrn des Himmels, der über Sonnenschein und Regen gebietet, mit der Morgenröthe und den wehenden Winden, Varuna, den Gott des Himmelsraumes, und viele andere Götter. Neben diesen Naturwesen wurde jedoch schon frühe eine geheimnißvolle Gotteskraft unter dem Namen Brahma verehrt, welche über die Naturgötter Gewalt habe. Dieser Brahmabegriff nahm dann in der Folge, als sich die Inder in dem üppigen Gangeslande einem ruhigen und beschauli¬ chen Leben Hingaben, durch die Thätigkeit der Brahmanen als Weltseele und Urquell alles Seins in der indischen Religion die erste Stelle ein, indeß Indra und die übrigen Naturgötter in den untergeordneten Rang von Welt¬ hütern eintraten. Neben der Religion des Brahma erlangte die Lehre des Kö¬ nigsohnes Buddha, des „Erweckten", der um die Mitte des sechsten Jahr¬ hunderts die Gleichheit aller Menschen ohne Kastenzwang und die ewige Ruhe im Tode ohne Wiedergeburt verkündete, und Liebe und Barmherzigkeit gegen alle Wesen als erste Tugend pries, die größte Verbreitung. — Die Inder be¬ saßen schöpferische Einbildungskraft und Empfindung. Dies geht besonders aus ihrer reichen Literatur hervor. Manche ihrer Werke und Dichtungen, die sämmtlich in der heiligen, nunmehr todten Sanscritsprache verfaßt sind und aufs Innigste mit der Religion und der Götterlehre Zusammenhängen, sind schon dreitausend Jahre alt. Das wichtigste Werk sind die vier Bücher der Vedas, die als Quelle der brahmanischen Religion in höch¬ ster Verehrung stehen. Sie enthalten theils religiöse Lieder und Gebete, theils Opfervorschriften, theils Lehren und Sprüche und werden von den Brahmanen studirt und ausgelegt. Nächst den Vedas ist das Gesetzbuch deö Manu, eine Sammlung uralterSatzungen, Rechtögewohnheiten und Ueberlieferungen, das angesehenste. Außerdem besitzen die Inder eine große Menge dichterischer Werke aller Art, ausgezeichnet durch bilderreiche Sprache wie durch tiefe Em¬ pfindung und religiöses Gefühl. Von den Engländern, die das Land erobert haben, wurden viele dieser Werke nach Europa gebracht und dann durch Gelehrte ins Deutsche und in andere europäische Sprachen übersetzt. Am berühmtesten sind zwei große Heldengedichte, deren älteste Bestandtheile in das zehnte