94 VI. Zur Bildungsgeschichte dieses Zeitraums. §. 1. Römische Literatur. Die römische Literatur dieser Periode konnte sich, da der lebendig machende Impuls, die emporstrebende Begeisterung eines jugendkräftigen Volkes fehlte, die allein eine gesunde Poesie erzeugt, nur in wissenschaft¬ lichen Fächern ausbreiten. Grammatik, Rhetorik, Geschichte und Rechtswissenschaften wurden um so gründlicher und schulgerechter bearbeitet, da für ein eigentlich schöpferisches Dichten der Boden fehlte. Unter den Sprachgelehrten zeichneten sich Aelius Donatus, Aurelius Macrobius, S. Maurus Honoratus und Musäus aus, welcher Letztere zugleich der Verfasser der anmuthigen poetischen Erzählung „Hero und Leander" ist. Marcianus Capella, welcher über die sieben freien Künste: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik mit Einschluß der Poesie schrieb, und der berühmte Priscianus aus Cäsarea gehören dem fünften Jahrhundert an. Was die Rhetorik betrifft, so gebührt der erste Rang dem Aure¬ lius Shmmachus, dem ersten Redner seiner Zeit, und dem Severus Boethius, welcher vorzüglich durch seine Uebersetzung des Aristoteles und seine „philosophischen Tröstungen", die er im Gefängniß schrieb, große Berühmtheit erlangt hat. Beide fielen als Opfer eines ungerechten Verdachts am Hofe Theoderich's des Großen. Als Geschichtschreiber sind Paul Orosius und Magnus Aurelius Cassiodorus vorzugsweise zu erwähnen. Auch die Historiker hatten eine blos kritische gelehrte Richtung angenommen. Die Zeit des kühnen Handelns war vorüber, mit ihr auch die des lebendig poetischen Erzählens. Die Menge der Rechts ge lehrten, die um so zahlreicher wurden, je weniger das Recht zu Hause war im römischen Reiche, hier aufzuzählen würde ein undankbares und unerquickliches Unternehmen sein. Wie denn Standhaftigkeit im Unglück die Tugend der in's Elend ver¬ sunkenen Menschen und Völker ist, so wenden wir uns zu Boethius, wel¬ cher in seinen philosophischen Tröstungen folgendermaßen spricht: „Was hat Dich, Du Mensch, in Trauer und Leidwesen versetzt? Hast Du etwas Unerhörtes, Außergewöhnliches gesehen? Wähnst Du, das Glück sei gegen Dich wandelbar geworden? Da irrst Du. So ist stets sein Thun, sein innerstes Wesen; es hat vielmehr seine, in seiner Wandelbarkeit bestehende Beständigkeit gegen Dich gewahrt. So war es, als es Dir schmeichelte, als es Dich mit den Lockungen trügerischen Glückes gängelte. Du hast jetzt jenes blinden Götzenbildes buhlerische Blicke kennen gelernt. Während es Andern noch verschleiert ist, hat es sich Dir ganz und gar enthüllt. Wenn Du es für gut findest, aus seinem