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Geographie
für
Töchterschulen
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die Gebildeten des weiblichen Geschlechts.
Von
Friedrich Rössel t.
Zweiter Theil.
Königsberg,
im Verlage der Gebrüder Bornträger.
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Italien.
Kennst Du das Land, wo die Citronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht.
Die Myrthc still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst Du cs wohl? — Dahin, dahin
Laßt über Alpcnhöhen unS jetzt ziehnl
Zuvörderst orientlre man sich. Man suche die einzelnen Lan-
der und Inseln auf, nämlich: da6 lombardisch-venezianische
Königreich; das Königreich Sardinien (die Insel und das feste
Land); das Herzogthum Parma; das Herzogthum Modena;
das Herzogthum Lucca; das Großherzogthum Toscana; den
Kirchenstaat; das Ncpublikchcn San Marino; das König-
reich Neapel; die Ponza-Inseln; die Inseln Tremiti; die In-
sel Sicilien; darüber die liparischen Inseln; die Insel Malta
unter Sicilien; die Insel Corsica; die Insel Elba *).
Boden: Italien wird oben von Deutschland, Helvc-
lien und Frankreich durch eine hohe Gebirgsmauer getrennt,
die sich von der Nordspitze des adriatischen Meeres bis an
das mittelländische Meer zieht. Der allgemeine Name dieses
*) Die strengen Theoretiker werden uns tadeln, daß wir die politische
Einthcilung vor der Beschreibung des Bodens nehmen. Aber Lehrer der
Geographie werden uns vielleicht beistimmen, daß die Schüler sich bei
der Beschreibung der natürlichen Beschaffenheit besser zurecht finden, wenn
sie sich, durch die Aufsuchung der Landestheüe das Bild des Landes recht
eingeprägt, und dadurch oricntirt haben.
Nösselts Geographie II.
J
1
2
Italien.
Gebirges ist: die Alpen. Wir haben sie größtentheils schon
bei Deutschland und Helvcticn betrachtet. Sie haben ver-
schiedene Benennungen. Zuerst merken wir uns diejenigen
Berge, welche die Gränzsäulen der einzelnen Gebirgszüge aus-
machen. Sie sind von Osten nach Westen: der Terglou.
Er liegt von dem Punkte, in dem Italien, Körnchen und
Krain zusammenstoßen, etwas östlich, da, wo der Fluß Save
entspringt, also noch auf deutschem Boden. Der Pelle-
grino, da, wo der Fluß Piave seine O-uelle hat, also fast
gerade nördlich von Venedig. Die Ortles spitze, da, wo
Graubündten, Tyrol und Italien zusammenstoßen, und die
Adda entspringt. Der Gotthard in der Schweiz. Der
große Bernhard. Der Mont Cenis zwischen Frank-
reich und Italien, nordwestlich von Turin. Der Viso, süd-
westlich von Turin. Hiernach haben die Alpen, die Italien
von Deutschland, Helvcticn und Frankreich trennen, folgende
Benennungen:
1. Die karnischen Alpen, zwischen dem Terglou und
dem Pcllegrino.
2. Die tyroler Alpen, zwischen dem Pcllegrino und
der Ortlesspitze. '
3. Die rhätischen oder graubündter Alpen, zwi-
schen der Ortlcsspitze und dem St. Gotthard.
4. Die penn i nischen Alpen vom St. Gotthard bis
zum großen Bernhard. Hierzu gehören der Simplón und
der Monte Rosa. Der letztere hat davon seinen Namen,
weil er oben eine Menge in einem Kreise gelagerter Hör-
ner hat.
5. Die grajischcn oder grauen Alpen, vom Bern-
hard bis zum Mont Cenis, über den eine herrliche Kunftstraße
von Frankreich nach Italien führt. Dazu gehören der Berg-
riese Montblanc, der höchste Berg in Europa, und der
kleine Bernhard.
, 6. Die cottischen Alpen, zwischen dem Mont Cenis
und dem Berge Viso. Dazu gehört der hohe Mont Ge-
ne v r e.
7. Die Seealpen, zwischen dem Viso und dem mit-
telländischen Meere. Zuweilen nennt man auch die 'ganze
Z tsl(ien.
3
Bergkette, die vom großen Bernhard bis zum Meere streich't,
die Scealpen. Von hier geht ein Zweig östlich ab, längs
dem Meeresufer,
die Apenninen. Sie ziehen durch ganz Ita-
lien, und zwar gehen sie anfangs längs dem Meere hin;
dann streichen sie durch den nördlichen Theil von Toscana,
mitten durch den Kirchenstaat und durch Neapel. An der
Fußfohle von Italien theilen sie sich in zwei Zweige; der eine
geht südöstlich nach, dem Hacken des Fußes, der andere süd-
lich nach der Fußspitze. Dieser letztere Zweig setzt durch das
Meer nach Sicilien über.
Von diesen Gebirgsketten nrüffen wir die Vulcane un-
terscheiden, die zwar mit ihnen zusammenhangen, aber nur
zufällig. Der höchste ist der Aetna in Sicilien; niedriger
ist der Vesuv bei Neapel. Am kleinsten sind die Vulcane
auf den liparischen Inseln.
Der Boden von Italien ist daher fast überall bergig
oder hügelig; aber die Berge im Innern erreichen die Schnee-
linie nicht, außer dem hohen Aetna. Die größte Ebene ist
die, welche -zwischen den Alpen und den Apenninen liegt,
und vom Po in ihrer ganzen Lange durchflossen wird.
Gewässer: Die größten Land feen sind in Nord-
italien. Wir merken uns 4, die von Westen nach Osten in
folgender Ordnung liegen:
1. Der Lago inaggiore (sprich Lago madschore, das
dsch aber ganz weich), rings von köstlichen Hügeln umgeben,
deren Abhänge mit Weinbergen und Gärten bedeckt sind. Auf
ihren Spitzen wachsen Kastanienbäume, und längs dem Ufer
ziehen sich grüne, schattige Bogengänge hin, so daß der See
ein reizendes Naturgemälde darstellt. Im See liegen die bei-
den herrlichen borromäischen Inseln; so heißen sie,
weil sie einem Grafen Borromäo gehören. Die eine heißt
Isola bella, sonst ein nackter, unfruchtbarer Felsen, jetzt
ein wahres Paradies. Die ganze Insel ist ein Feengarten;
zehn hohe Terrassen, alle mit den herrlichsten Bäumen, Ge-
sträuchen und Blumen bedeckt, laufen bis zum Gipfel hinan,
von wo man den ganzen See in seiner Pracht übersieht. Ue-
bcrall sieht man blühende Granaten-, Pomeranzen- und Ci-
1*
4
Italien.
tronenbaume, welche die Luft mit balsamischen Gerüchen erfül-
len. Der schöne und geschmackvolle Pallast steht hart am
See, und wird von dessen Wellen bespült. Die untersten
Gemächer bilden Grotten, die in der Sommerhitze einen küh-
len Aufenthalt geben. Eine halbe Stunde davon ist Isola
Madre, auch ein schöner Garten, aber nicht so groß und
mit geringerer Blumcnpracht.
2. Der Lago di Como, wieder ein reizender See.
3. Der Lago d' Isco (-uu), der kleinste der vier
Seen.
4. Der breite Lago di Garda.
Die meisten Flüsse sind gleichfalls in Oberitalien, und
kommen meist von den hohen Alpen herab. Der Hauptstuß
von ganz Italien ist
1. der Po. . Er entspringt auf dem Berge Viso, fließt
von Westen nach Osten durch jene weite Ebene der Lombar-
dei , und fallt endlich durch mehrere Mündungen in das adria-
tische Meer. Er nimmt links und rechts Nebenflüsse auf;
links:
a. die Doria (-uu) Ba ltca. Sie kommt vom
kleinen Bernhard, durchläuft wildschäumcnd das enge, von
hohen, wilden Felsen eingeschlossene Thal von Aosta, und
stürzt sich in den Po.
b. Der Tessino, den wir schon von Helvcticn her
kennen. Nachdem er vom St. Gotthard, wo ec entspringt,
das wilde Livinerthal durchlaufen hat, ergießt er sich in den
Lago Maggiore, tritt wieder heraus, und geht unweit Pavia
in den Po.
c. Die Adda hat ihre O.uclle an der Ortlesspitze,
durchstürzt das rauhe Thal Vcltlin, geht durch den Lago
di Como, und tritt unweit Cremona in den Po.
d. Der Oglio (spr. Ollio) entspringt am Fuße der
Ortlesspitze, und geht durch den Lago d'Iseo.
e. Der Mincio (spr. Mintscho) kommt aus Tyrol,
und durchfließt den Lago di Garda. Die rechts in den Po
fließenden Flüsse kommen alle von den Apenninen, und sind
unbedeutend.
Italien.
5
2. Die Adige (spr. Adidsche, weich) kommt aus Tyrol,
stürzt wildbrausend durch ein enges Thal längs der Ostseite
des Gardasees nach Italien, als wollte-sie in den Po gehen,
wendet sich aber, ehe sie ihn erreicht, nach Osten, und mündet
sich nördlich vom Po in das adriatische Meer. In Deutsch-
land wird die Adige Etsch genannt.
Von der Adige östlich fließen mehrere Küstenflüsse, die
von den karnischen Alpen Herabkommen, in das adriatische
Meer; ihre Namen können wir aber erlassen.
3. Der Arno kommt von den Apenninen, hat seine
O-uelle im nordöstlichen Toscana, und fällt unweit Pisa ins
mittelländische Meer.
4. Die Tiber (Tevere) entspringt nicht weit von der
O.uelle des Arno, und wälzt ihr stets trübes Wasser durch
den Kirchenstaat bis zu ihrer Doppelmündung ins mittellän-
dische Meer.
Noch haben wir die Meere und Meerbusen, die Italiens
Küsten bespülen, zu nennen. Das adriatische Meer bil-
det im Norden den Meerbusen von Triest, den die Ita-
liener aber den Golfo di Venetia nennen. Durch die
Meerenge von Otranto kommen wir aus dem adriati-
schen in das ionische Meer. An der Fußsohle Italiens
finden wir den großen Meerbusen von Tarent. Umschif-
fen wir die Fußspitze der Halbinsel, so befinden wir uns in
der Meerenge zwischen Italien und Sicilien. Die Italiener
nennen sie Faro di Messina. Der Name kommt von dem
Lcuchthurme (Faro) bei dieser Stadt. Die Meerenge führt
uns ins tyrrhenische Meer. So heißt der Theil des
mittelländischen Meers, der sich zwischen dem festen Lande von
Italien, und den drei Inseln Sicilien, Sardinien und Cor-
sica befindet. Die Meerenge zwischen den beiden letztern In-
seln heißt die Straße von San Bonifacio (spr. Boni-
fadscho). Endlich ist noch nördlich von Corsica der Meer-
busen von Genua.
Klimax Sobald man über die Alpen kommt, wird
man von einer milden Luft angeweht, und ein blaliercr Him-
mel wölbt sich über uns. Vor uns liegt die herrliche lom-
bardische Ebene, die ihres Gleichen schwerlich in der Welt hat.
()
Italien.
So weit das Auge reicht, sind die üppigsten Gefilde mit Rei-
hen von Maulbeerbäumen durchwachsen. Kleine Haine von
Pappeln und zahllose Kirchthürme, die hier meist frei stehen,
ragen über den Maulbeerbäumen hervor. Man glaubt in ei-
nem Lustgarten zu seyn. So ist es durch ganz Italien, die
Gebirge ausgenommen, die eine rauhere Luft haben, und im
Winter mit Schnee bedeckt sind. Je weiter man nach Sü-
den kommt, desto milder wehen die Lüfte, desto stärker ist der
Pstanzcnwuchs, und desto dunkler erscheint der fast immer hei-
tre Himmel. Kein Land Europa's hat eine so entzückende
Natur, besonders in Neapel; daher hier auch das Sprichwort!
„Neapel sehen, und dann sterben!" Vorzüglich schön ist der
Frühling. Schon in Februar wehen laue Lüfte, die Wolken
schwinden, und ein üppiger Pflanzenteppich bedeckt das Land.
Die Baume prangen dann in herrlichster Blüthe; überall kom-
men Blumen hervor,'wahrend bei uns die Bäume noch kahl
sind, und Schnee und Eis die Felder bedeckt. Der Sommer
ist oft drückend heiß; darum haben auch die meisten italieni-
schen Städte ganz enge Gaffen, um mehr Schatten zu geben.
Am drückendsten ist die Hitze, wenn der Sirocco weht.
Dies ist der heiße Südwind, der über die glühenden Sand-
wüsten Afrika's geweht, und eine so erschlaffende und auflö-
sende Kraft hat, daß Menschen und Thiere sich wie gelähmt
fühlen. Sobald er weht, verkriecht sich Jeder, der irgend
kann, in seine Wohnung. Am Mittage ist es im Sommer
so heiß, am meisten im Neapolitanischen, daß die Straßen
so ausgcstorben sind, wie bei uns zur Nachtzeit. Man legt ,
sich nämlich in ganz Italien Nachmittags schlafen, und hält
die Sieste bis zur Abendkühle. Während der Zeit sieht
man nur hier und da einen Arbeitsmann auf der Straße, den
seine Geschäfte nöthigen auszugehen, aber den Kopf sorgfältig
verhüllt, aus Furcht vor dem Sonnenstich, der den Verstand
raubt oder augenblicklich tobtet. Der Winter ist so gemäßigt,
daß man in Italien keinen Ofen sieht, höchstens ein Kamin.
Wenn cs daher ja einmal friert und Schnee fällt, so sind
die Italiener außer sich über die Kälte, und wissen nicht, wie
sie sich erwärmen sollen, und selbst für uns Deutsche, die wir
doch an Kälte gewöhnt sind, ist der nachkalte italienische Win-
Italien.
7
ter höchst empfindlich. Die Lust ist dann so, wie bei uns im
November und Februar. Aber ec wahrt nur einige Wochen,
dann ist der herrliche Frühling wieder da. Während des Win-
ters sind die italienischen Damen nicht im Stande, wie die
unsrigcn, zu nahen, zu häkeln, zu sticken, sondern sie setzen
sich ein Wärmebecken zwischen die Füße, und schwatzen un-
aufhörlich. In einigen Gegenden ist die Luft höchst ungesund.
Zwei Gegenden sind deshalb besonders berüchtigt: die Ma-
remma di Siena in Toscana und die pontinischen
Sümpfe zwischen Nom und Neapel. In der heißen Jah-
reszeit erheben sich aus diesen Sümpfen giftige Dünste, und
selbst die Luft in und um Nom ist dann so schädlich, daß
sich die wohlhabenden Römer in die höheren Gegenden stüch-
ten, wo sie ihre Landhäuser haben.
Produkte: Italien wird mit Recht der Garten von
Europa ^genannt. Ohne die große Mühe, die man in nörd-
lichen Gegenden auf den Anbau des Bodens wenden muß,
giebt der Boden eine Menge herrlicher Erzeugnisse fast von
selbst. Ucberall sicht man üppige Korn - und Maisfel-
dcr. Aus dem Mehle des Mais backen die Italiener ihre
berühmten M a cca ro n i, ihr Lieblingsgericht. Dies sind Nu-
deln von verschiedener Form und Dicke, zum Theil dünn wie
Faden, zum Theil in Gestalt von Sonne, Mond und Sternen.
Ueberall wächst ein schöner Wein, nicht allein an Bergen
und in Gärten, sondern auch um die Bäume herum. Sel-
ten sieht man dort einen kahlen Baumstamm; alle sind mit
Weinreben umschlungen, und die stark wuchernden Neben win-
den sich nicht nur hinauf, sondern kriechen von Baum zu
Baum, und bilden Blättergewinde, unter denen die Wege
hinführen. Der Wein ist süß und herbe, und so wohlfeil,
daß man ihn so trinkt, wie bei uns das Bier. Zu den
größten Annehmlichkeiten Italiens gehören besonders die schö-
nen Südfrüchte: Feigen, Melonen, Mandeln, Kastanien,
Apfelsinen, Citronen, Pomeranzen, Ananas in ungeheurer
Menge und spottwohlfeil. In Neapel giebt es sogar ganze
Wälder von den herrlichduftendenOrangcn. Oel und Baum-
wolle wächst überall.
8
Italien.
Die Alpenwirthschaft, die wir in Helvetien fanden, fin-
det man hier zwar nicht, aber dagegen werden hier, beson-
ders auf den Apenninen, unzählige Ziegenhecrdcn gehal-
ten, deren Milch theils getrunken, theils zu Käse benutzt
wird. Auch Büffel, die zum Ziehen gebraucht werden, sind
hier sehr gewöhnlich; selbst Kameele find nicht selten. Fi-
sche sind überall, vorzüglich in den Seestädten, in großer
Menge. Seidenbau wird am meisten in Obcritalicn ge-
trieben, und der größte Theil der Seide, die wir gebrauchen,
kommt aus Italien. Dafür ist dies Land aber auch — an
Ungeziefer sehr reich. Im Sommer müssen die Leute nicht
selten des Nachts aufstehen, um die Betttücher auszuschütteln,
und häßliche Kröten, giftige Scorpionen und Taranteln schre-
cken oft da auf, wo die Menschen sich den Eindrücken der
herrlichen Natur hingeben.
Unter den Mineralien erwähnen wir besonders der La-
va, die in Menge in der Nähe des Vesuvs und Aetna ge-
funden , und von den Italienern benutzt wird, um allerlei
Kunstsachcn daraus zu bereiten. Da giebt cs Ringe, Tuch-
nadeln, HalS- und Armbänder und wer weiß was alles aus
grauer, schwarzer, brauner oder gelber Lava.
Einwohner: Fast ohne Ausnahme wird italienisch ge-
sprochen, eine Tochter der lateinischen Sprache, eine der weich--
stcn Sprachen, die es giebt. Die Religion ist überall die
römisch-katholische; doch werden auch andere Glaubensgenos-
sen geduldet. Die Italiener sind so fest von der Nichtigkeit ih-
rer religiösen Ansichten überzeugt, daß bei ihnen Katholik und
Christ gleichbedeutende Wörter sind, und sie also die Evange-
lischen für eine Art von Unchristen halten. Die Zahl der
Geistlichen und ihr Ansehn ist groß. Der Gottesdienst ist
prachtvoll und ganz auf die Ergreifung des Gefühls und der
Einbildungskraft berechnet; besonders entzückend die Kirchen-
musik. Daher besteht auch die Religiosität des Italieners
mehr in Beobachtung äußerer Gebräuche, Begehung der vie-
len Feste der Heiligen, im Fasten, Nosenkranzbeten u. dergl.
als in Befolgung der Grundsätze des Christenthums.
Der Italiener ist ungemein lebhaft und reizbar. Bei
uns geht man auf den Gassen still neben einander vorüber;
Stalien.
9
in Italien dagegen ist Alles Leben und Geräusch. Alles wird
mit lauten Worten und mit lebhaften Gebehrden abgemacht;
in den Straßen werden die zu verkaufenden Waaren ausge-
fchrien, und jeder schreit nach besten Kräften. Selbst die an
Tischen sitzenden Obsthändler rufen fortwährend ihre Waaren
aus, und preisen ihre Schönheit und ihren wohlfeilen Preis.
Sieht man zwei Italiener zusammen sprechen, so glaubt man
sie zankten sich, und sind sie im Streit, so sind ihre Gebehr-
den so wüthend, daß man jeden Augenblick denkt, sie wer-
den sich ermorden. Mordthaten sind auch wirklich nichts Sel-
tenes, meist aus Nachsucht. Wird aber die Leidenschaft nicht
gereizt, so ist der Italiener gutmüthig, gefällig und heiter.
So lebendig er auch ist, so ist ihm doch das größte Vergnü-
gen das dolce far niente, d. i. das süße Nichtsthun. Die
Vornehmen und Neichen machen gern Aufwand, haben kost-
bare Palläste, eine zahlreiche Dienerschaft und reiche Equipa-
gen. Dagegen giebt es eine zahllose Schaar von Bettlern,
die an den Eingängen der Kirchen besonders das Mitleiden der
Vorübergehen in Anspruch nehmen, und alle mögliche Arten
von Krankheit und Elend zur Schau auslegen. Am glänzend-
sten ist in Italien die Zeit des Karnevals. Dann sind
alle Stände einander fast gleich; es hat sich Aller eine Art
süßen Wahnsinns bemächtigt. Jeder belustigt sich nach Mög-
lichkeit. Den ganzen Tag treibt man sich, meist maskirt, in
den phantastischsten Aufzügen auf Straßen und Plätzen herum;
man neckt einander und wird wieder geneckt.
Noch einige Sittenzüge Italiens, die von unsrer Art zu
leben abweichen: Es wird für Mangel an guter Lebensart
gehalten, wenn der Ehemann mit seiner Frau öffentlich er-
scheint. Damen von Stande gehen daher nur am Arme ei-
nes Freundes aus, den man einen Cavaliere servente nennt.
Jeden Abend kommt er, um mit der Signora auszuführen,
gewöhnlich ins Theater, wo es der gute Ton durchaus ver-
bietet, daß Mann und Frau in Einer Loge sich befänden. Die
Mädchen werden sehr eingezogen gehalten, und oft in Klö-
stern erzogen. Erst wenn sie hcirathen, genießen sie ihre
Freiheit, und diese ist größer als bei uns. Es ist z. B.
nichts Seltenes, daß Damen von Stande die Caffeehäuscr
10
Italien.
besuchen. Das eigentliche Leben fängt erst gegen Abend an,
nach der Sieste. Dann geht oder fahrt alles aus; man
treibt sich auf den Straßen und Platzen herum, oder man
sitzt auf den Balconen oder den platten Dächern der Häuser;
denn besonders im südlichen Italien finden wir diese gewöhn-
lich. Die Gassen erschallen von den Tönen der Guitarren
und des Gesanges, und hier und da bilden sich Gruppen
von Tanzenden. Kommen die höheren Stände zu Gesellschaf-
ten zusammen, so findet man nicht den Luxus von Speisen
und kostbaren Getränken, sondern man setzt sich zur Unterhal-
tung nieder, man trinkt ein Glas Eiswasscr oder Limonade,
und geht, sobald cs beliebt, ohne Abschied wieder fort. Im
Theater ist ein unaufhörlicher Lärm. Man geht nämlich nicht
bloß.hinein, um zu sehen und zu hören, sondern sich sonst
auf jede Weise zu unterhalten. Die Logen sind groß, voll
Tische und Stühle. Hier setzt man sich zum Spiel nieder,
man giebt und empfängt Besuche, man spricht und lacht, als
wenn man ganz allein im Hause wäre, und hört nur dann
und wann hin, wenn eine vorzüglich schöne Arie gesungen
wird.
Es giebt auch in Italien ausgezeichnete Gelehrte und
Dichter; aber bei dem schlechten Zustande der Schulen ist die
Bildung picht so allgemein als bei uns. Dafür werden aber
die Künste mit vielem Eifer getrieben, und wenn die Italie-
ner uns auch darin nicht übertreffen, so werden doch Bild-
hauer-, Maler-, Kupfcrstechcrkunst und andere recht glücklich
betrieben. Die herrlichen Gemälde- und Bildsäutensammlun-
gen, und der Anblick der herrlichen römischen Alterthümer müs-
sen ja Nacheiferung erwecken und den Geschmack ausbilden. Ei-
nige der in Italien gemachten Waaren sind berühmt, und
werden auch zu uns gebracht. Dahin gehören die schönen
Strohhüte; denn im Sommer pflegen hier auch die Män-
ner gelbe Strohhüte zu tragen; eingemachte Früchte;
kü nstliche Blumen; herrliches Glas, aus dem auchGür-
tcl und Halsschnürc gemacht werden; Spiegel, Parme-
sankäse, Sardellen, Maccaroni; vorzüglich auch
schöne Mosaik-Arbeiten.
DaS lombardisch /venekianische Königreich. 11
Daß man das Land in Ober-, Mittel - und Un-
ter italien eintheile, ist bekannt.
1. DaS lombardisch - venetianische
Königreich
gehört dem Kaiser von Oestreich. Es reicht vom Flusse Tes-
stno im Westen bis zum adriatischen Meere im Osten. Seine
nördliche Gränze sind die Alpen, die südliche der Po.
Boden. Das Land nimmt den nördlichen Theil der
oben erwähnten Po-Ebene ein, die vorzugsweise der Garten
Italiens genannt wird. Von den hohen Alpen, die den Nor-
den wie eine Mauer umkränzen, senkt sich der Boden sanft
bis zum Po hinab, und ist überall so schön bebaut, daß man
in einem immerwährenden Garten zu reisen glaubt. Wein-
gehänge reichen von Baum zu Baum, Orangen und Cypres-
sen sieht man hin und wieder gedeihen, und blaugrüne Al-
penströme und unzählige Canäle bewässern das Land. Die
Städte und Dörfer, mit denen es wie besäet ist, haben ein
wohlhabendes Ansehen; die Dächer sind fast platt, und die
Kirchenthürme stehen einzeln neben den Kirchen da. Nur im
Innern sind die Städte finster und eng gebaut.
Die Seen, Flüsse und Produkte sind schon oben
angegeben, und können daher hier übergangen werden. Der
Kaiser läßt das Land durch einen Vicekönig regieren, der ge-
wöhnlich ein östreichischer Prinz ist, un!> in Mailand residirt.
Die beiden größten Städte sind Mailand und Venedig.
Wir wollen das Land von Osten nach Westen durchreisen.
Wenn wir aus dem deutschen Oestreich, aus Krain, nach
Italien kommen, so finden wir bei der Stadt
Udine das Dorf
Campo form io, auf dessen Scblosse im Jahre 1797 der
bekannte Frieden zwischen Oestreich und Frankreich geschlossen wur-
de *). Wir eilen von hier nach
Venedig, das dadurch eine einzige Lage hat, daß es nicht
*) S. meine Geschichte der Deutschen für Töchterschulen, Th. 2.,
©.523; auch meine Weltgeschichte für Töchterschulen, Th. 3., S. 37-9.
12
Italien.
auf dem festen Lande, sondern auf 60 größere und kleinere In-
seln gebaut ist, die durch meist schmale Meercsarme von einander
getrennt sind. Man nennt diesen Theil des Meeres, in dem die
Stadt liegt, die Lagunen. Bei dem Dorfe Meftre, der
Stadt gegenüber, schiffen wir uns ein, um über die Lagunen zu
fahren. „Hier ist ein acht italienisches Getümmel und ein Lärm,
gegen den das Meer nur bescheiden brauset. Gleich einem Fcen-
pallast schwimmt Venedig mit seinen zahllosen Thürmen (es hat
460 Kirchen) in den Wellen;" endlich sind wir jenseit des Ka-
nals, und unsere Barke legt an der Ponte Ni alto, der größ-
ten, höchsten und kostbarsten Brücke Venedigs, an. Sie ist aus
Marmor, und wölbt sich nur mit einem Bogen über daS Wasser.
,,Man möchte," sagt ein Reisender, „in Italien eintreten, wo
man wollte, nirgends würde Auge und Phantasie durch neue Ein-
drücke und alte Erinnerungen so mächtig ergriffen werden, als in
dieser außerordentlichen Stadt. Sie gleicht, im Profil gesehen,
einem unermeßlichen Linienschiff mit zahllosen Masten; durch die
Straßen ergießen sich die grünlichblauen Fluthen, und bis-
weilen schlägt die brandende Woge in die Thore der schönen Pal-
laste hinein. Ueberdies tritt uns hier der reine italienische Volks-
charakter mit seiner ganzen Eigenthümlichkeit entgegen; trotz dem
politischen Tode des unglücklichen Staates, unbesiegbares Leben in
seinen Einwohnern; die Matrosen, Mäkler, Fischer, Verkäufer,
Bettler toben ärger als die brausenden Wellen des Meers. Dazu
kommt die Erinnerung an die Kraft vergangener, glorwürdiger Jahr-
hunderte, deren keine Republik der Erde mehr gezählt hat, als
diese. Ucberzeugen uns hiervon noch nicht die marmornen Palläste
und andere Wunder der Baukunst, so werden es die ungeheuern
ins Meer gebauten Dämme, die bald meilenweit von der Stadt
die Wuth des Elementes abwehren, bald die einzelnen Inseln der
Stadt mit einem unverwüstlichen Saume einschließen." Diese
Dämme heißen Murazzi. Zur Zeit, als Venedigs Macht und
Handel in der höchsten Blüthe stand, ließ es sie bauen. Sie
sind zwei Meilen lang, ragen wie lange Arme weit in das Meer
hin, und sind aus ungeheuren Quadern gebaut, um die Wuth des
Meeres zu brechen. Welche Arbeit, die Felsenftückc bis auf den Grund
deS Meeres zu versenken, und durch eiserne Klammern und Mörtel
an einander zu befestigen! Jeder Kubikschuh kostete 80 Ducaten.
Ueber dem Meeresspiegel sind sie 22— 24 Schritte breit, und so
hoch, daß die Wellen selbst beim Sturm nicht leicht die Ober-
fläche erreichen. Welch ein Anblick muß es seyn, hier im Sturm
zu stehen, links und rechts den Aufruhr des gewaltigen Meeres
zu sehen, und doch sich sicher zu wissen auf einem Damm, den
menschliche Kunst mitten durch die Wogen führte. „Die mun-
tern Eidechsen," erzählt ein Reisender, „die auf diesem Stein-
damm jeder Fliege nachstellen, belustigten mich eben so, wie die
Das lombardisch - venetianische Königreich. 13
kleinen Seekrabben, die zu Dutzenden auf den von den Wellen
bespülten Steinen saßen, und bei der geringsten Störung mit
unglaublicher Schnelligkeit in der Queere, wie die Seorpioncn,
davonliefen. Außer diesen achtbeinigen Krabben fehlte cs auch
nicht an braungebrannten zweibeinigen; nämlich an einer Menge
Zungen, die alle Künste aufboten, einige Sold: zu erobern, und
daher alle Augenblicke im Nu alle Kleider von sich warfen, sich
in das Meer stürzten, um mir ihre Geschicklichkeit im Schwim-
men und Tauchen zu zeigen, dann nackt hinter mir herliefen, und
um ein Geldstück baten."
Die Znseln sind durch 450 Brücken und Stege mit einan-
der verbunden. Die Straßen sind eng und düster; die Häuser
alle auf einen Rost von Pfählen gebaut, zum Theil groß und
schön, unter ihnen viele marmorne Pallaste. Wagen und Pferde
sieht man hier fast gar nicht wie in Amsterdam, , dafür eine Un-
zahl von Gondeln. Alle sind schwarz angestrichen, und haben
ein kleines, bretrernes Häuschen mit einem kleinen Sopba von
weichem, schwarzen Maroquin, auf das sich der oder die Fahren-
den niederlassen. Ist die Gesellschaft größer, so miethet man eine
Gondel mit 2, 3/ 4 Pferden; so werden nämlich hier die Gonde-
liere genannt. Pfeilschnell stiegt man durch die Straßen dahin.
Zeder Hausbesitzer hat eine oder mehrere Gondeln und seine Gonde-
liere, die stets bereit stehen, die Herrschaft zu fahren. Man kann
also leicht abnehmen, welche Unzahl von Gondeln herauskommen
muß. „Das Herz von Venedig, wohin alles Leben aus den en-
genAdern, den engen Gäßchen und den Canälen, hinströmt, und von
wo sich alles wieder durch den ganzen volkreichen Körper vertheilt,
ist der Marcusplatz. Die engen Gassen dahin sind immer
voll gedrängt, und eine natürliche Folge davon ist, daß das un-
geheure Schreien und Ausrufen aller Waaren, welche vom frühesten
Morgen an bis nach Mitternacht aus den ausgeschriensten italieni-
schen Kehlen durch die engen Gassen gen Himmel ausgebrüllt werden,
zwischen den hohen Häusern doppelt schallend ertönt. Wirklich mit
einer Art von Bangigkeit geht man die erste Zeit in den Gas-
sen, ehe man sich ein wenig daran gewöhnt hat; das tolle
Schreien, besonders in der Nähe des Marcusplatzes und der Brü-
cke Nialto, betäubt völlig, und die mit hastiger Eile auf den
schönen Quadersteinen sich drängende Menschenmaste droht den
Fremden zu ersticken. Man denkt mit Schrecken daran, was dar-
aus werden sollte, wenn ein schneller Fiacre oder ein flüchtiger
Reiter erschiene; denn anfangs kann man sich an die gänzliche Ab-
wesenheit aller Pferde und Wagen gar nicht gewöhnen." Be-
täubt von dem gellenden Geschrei, aber erfreut durch den Anblick
der herrlich aufgeputzten Waarengewölbe in dem Erdgeschoß der
Häuser, gelangen wir endlich auf den Marcusplatz, der über und
über mit großen Steinquadern gepflastert und immer so rein wie
14
Italien.
ein Tanzsaal ist. Auf allen Seiten ist er von Prachtgebauden
eingeschlossen, die unten mit Säulengängcn versehen sind, und
unter Liesen befinden sich viele sehr glänzende Caffeehäuser, Ju-
meliere Gewölbe u. s. w. Den Namen hat der Platz von der
prachtvollen St. M a r c u s k i r ch e, in der die vermeintlichen Ger
beine des Evangelisten Marcus liegen. Nahe bei der Kirche er-
hebt sich der hohe Glockenthurm, von dem man eine unvergleich-
liche Aussicht über die ganze große Jnselstadt von 150,000 Ein-
wohnern hat, über die Lagunen, das adriatische Meer, das Fest-
land der Lombardei, bis nach den fernen Gebirgen von Friaul,
die an heiteren Tagen hinter dem Wasserspiegel blau hervorragen.
In der Mitte der Kirche steht die große Kuppel, die mit vielen
andern Kuppeln umgeben ist. Ueber dem großen Portale der
Eingangsthüre stehen die vier berühmten Pferde von Bronze, die
sowohl durch ihren schönen Bau, als durch ihr Alter und ihre
vielen Wanderungen berühmt sind. Ein berühmter griechischer
Künstler hatte sie schon mehrere Jahrhunderte vor Christus Ge-
burt gemacht. Späterhin zierten sie Constantinopel, nachdem
Constantin der Große diese Stadt zu seiner Nesidenz gemacht hatte.
Als die Venetianer die>e Stadt im IZten Iahundert eroberten,
führten sie die Pferde nach Venedig, und stellten sie da auf,
wo sie jetzt stehen. Da kam Napoleon und führte sie nach Pa-
ris, wo sie ein Thor seines Pallastes zieren mußten. Endlich wur-
den sie, als die Verbündeten Paris eingenoinmen hatten, von da
der Stadt Venedig wieder zurückgegeben. Das Innere der Kirche
ist zwar nicht überraschend durch ungewöhnliche Größe, aber die
weiten Gänge und die hohen Kuppeln erschüttern doch durch ihre
große Majestät. Ueberall erblickt man Marmor und Zierrathen
von Gold" und Edelgestcinen. Ueberhaupt find die Kirchen von
Venedig ungemein prächtig, und enthalten einen Schatz von kost-
baren Gemälden und Grabdenkmälern. In der einen derselben
liegt der berühmteste Bildhauer unsrer Zeit, Canova, begraben,
und hat seit 1827 ein herrliches Grabmal. „Ein vorzüglicher
Schmuck dieser Hallen sind die schönen Venetianerinnen, die, mit
dem weißen Shawl, ihrer Nationaltracht, bekleidet, bald vor den
starren Bildern der Heiligen liegen, bald in dem Dunkel der
Säulengänge verschwinden." Unter den Pallästen auf dem Mar-
cusplatz zieht vor allen der ehemalige Pallast des Dogen (der höch-
sten Magistratsperson, als Venedig eine Republik war) die Au-
gen auf sich. Er ist von Marmor, und wahrhaft großartig er-
scheinen die hohen Vorhallen mit den breiten weißen Marmortrep-
pen. Zm Hofe sehen wir eine Menge Tischchen stehen, an de-
nen Männer mit Feder, Tinte und Papier sitzen, um für Jeden,
der es wünscht, einen Brief, eine Klage, eine Vorstellung und
dergl. aufzusetzen. Und wie herrlich sind oben im Pallaste die
weiten Gemächer, wenn man die Niesentreppe hinaufgestiegen
Das lombardisch -vcnetianische Königreich.
15
ist! „Welche gediegene Pracht in den ungeheuern Decken, die
aus lauter erhabenen Verzierungen bestehen, welche so Lick vergol-
det sind, daß ihr Z— ckOOjähriges Alter fast unglaublich scheint;
und in diesen. Decken und an den Wänden, welcher unbezahlbare
Schatz von Gemälden der größten venctianischen Künstler!" Ein
merkwürdiges Gebäude ist noch das beinahe zwei Stunden im
Umfange haltende Arsenal (See/Zeughaus), wo nicht nur alle
möglichen Schiffsvorräthe aufbewahrt, sondern auch Kriegsschiffe
gebaut werden. „Welch ein kolossales Gewölbe erblickt man un-
ter sich, wenn man in einem noch unausgebauten Kriegsschiff her-
umsteigt! Welche ungeheure hölzerne Kolosse! Der Handel von
Venedig, der mit der neueren Zeit sehr gelitten hatte, wird nun,
da es seit 1829 ein Freihafen geworden ist, gewiß wieder recht
bedeutend werden.
Am gedrängtesten ist der Marcusplatz des Abends, und be-
sonders Sonntags, wo die ganz und halb elegante Welt hier sich
herumtreibt. Viele vergnügen sich in den zahlreichen Caffeehäu-
sern, die auch von Damen besucht werden, Andere gehen in die
Marionetten-Theater, die alle Abende unter freiem Himmel auf-
geschlagen sind, noch andere hören den Musieanten zu, die trupp-
weise herumziehen und sich hören lasten. Nahe am Platze ist die
Straße die Riva der Sclavouier. „An Lebendigkeit über-
trifft sie nur die Straße Toledo in Neapel. Zn Neapel wogt
das Meer gleichsam nur auf der Straße, hier aber neben und
auf derselben: schreiende, ächzende, wimmernde Bettler, brüllende
Weinhändler, Obstverkäufer, Matrosen, Fischer und Köche erhe-
ben einen Lärm, daß die Mauern Jerichos einstürzen könnten.
An einer Ecke Hand ein Kerl, einen Oluadratschuh elender Lein-
wand mit großem Geschrei zum Verkauf ausbietend, den ganzen
Tag im schneidendsten Nordwinde; ein anderer lief wie besessen
brüllend durch ganz Venedig mit einer Hand voll Kürbiskernen in
einem großen Korbe; das ganze Waarenlager hätte man um ei-
nige Kreuzer gekauft; er aber trug es unermüdlich in der ganzen
Stadt umher." Alle diese charakteristischen Handlungen der Ita-
liener treten um so greller hervor, da das milde Klima die Men-
schen mehr als bei uns auf die Straße lockt, und es fast keine
bürgerliche und menschliche Beschäftigung giebt, welche sie nicht
auf der Straße trieben. Eine etwas entferntere Insel ist Mu-
rano, wo die berühmte Glasfabrik ist. Außer herrlich ge-
schliffenen und krystallreinen Gläsern werden hier die unzähligen
'Strick per len gemacht, die unsere Damen bei ihren Arbeiten
gebrauchen. Fahren wir von Venedig auf das Festland zurück,
so gelangen wir bald nach
Padua, einer großen, aber sehr eng, krumm und finster
gebauten Stadt. Die größte Merkwürdigkeit ist hier die alte, und
einst sehr blühende Universität, die aber jetzt nur noch ein
16
Italien.
Schatten ihrer ehemaligen Große ist. Unter den auch hier sehr
reichen Kirchen, die durch das schauerliche Dunkel ihrer hohen
Dome besonders ehrwürdig und heilig erscheinen, ist die besuchteste
die Kirche des heil. Antonius, dessen Gebeine hier liegen sol-
len. Nicht weit von Padua liegt
Vicenza (spr. Vitschenza), auch eine ziemlich große, und
besonders sehr kirchen- und pallastreiche Stadt. Denn hier lebte
im l6tcn Jahrhundert der berühmte Baumeister Pal lad io,
Lurch den sich die reichen Familien Palläste bauen ließen. Auch
sind von ihm mehrere öffentliche Gebäude. Das berühmteste dar-
unter ist das olympische Theater, zwar nur aus Holz, aber
sehr groß, und ganz so eingerichtet, wie die Theater der Griechen
und Römer. ,, So wie ein Fremder sich in dieser Stadt sehen
läßt, kommt gleich ein halbes Dutzend dienstwilliger Geister auf
ihn losgestürzt, die sich als Herumführer anbieten, um das teu-
tro olimpico zu zeigen."
Man reist in Italien in der Regel mit einem Vettu-
rins, d. i. einem Lohnkutschcr. Besonders gewöhnlich sind
die leichten Sedien, zweirädrige Karren mit einem klingeln-
den Maulthiere bespannt. Jeder Fremde wird in Italien von
Vetturinen, Accisebcamtcn, Gastwirthen, kurz allen, die mit
ihm zu thun haben, möglichst überthcuert, und daher genießt
man im Gasthause keine Mahlzeit, kein Frühstück, ehe man
sich nicht mit dem Wirthe über den Preis geeinigt hat. Die
Sedia führt uns von Vicenza nach
Verona, wo einige Brücken über die Adige führen. Eine
große, schöne, lichte Stadt, so groß als Padua, aber weit leb-
hafter, von Bergen umgeben, über die sich in der Ferne, nach
Tyrol zu, noch höhere erheben. Mitten in der Stadt liegt das
berühmte alterthümliche Amphitheater, das noch aus der Zeit der
alten Römer herrührt» Es faßt 22,000 Menschen, und ist ei-
rund. Um den Schauplatz der in der Tiefe ist, läuft eine nie-
drige Mauer, und hinter dieser erheben sich 41 Sitzreihen hinter
und über einander. Die Eingänge sind von außen durch mehrere
Thüren. Der Bau ist so eisenfest, daß die alten Gewölbe noch
unzerstört dastehen, und die späterhin durch Muthwillen gewalt-
sam zerstörten Sitze sind neuerlich wiederhergestellt worden. Wenn
man die Großartigkeit des Werks anstaunt, so wird man um so
widriger von der Kleinlichkeit und Armseligkeit der jetzigen Italie-
ner ergriffen, die mitten in dem großen Bauwerke ein kleines,
winziges, hölzernes Theater aufgeschlagen haben, und in dem
Raum unter den Sitzen haben unten in den Bogenwölbungen der
äußern Mauer Sattler, Klempner, Wagner, Schmiede, Schuh-
flicker und Andere sich angesiedelt, und über ihnen wohnen Schnei-
Das lombardisch - venetianische Königreich.
17
der, Haarkräusler, Putzmacherinnen u. s. w. Was würden die
alten Römer sagen, wenn sie diesen Unfug sehen sollten! Unser
Weg führt uns weiter nach
Mantua. Ehe wir diese Stadt erreichen, müssen wir, wo-
her wir auch kommen, über eine lange hölzerne Brücke fahren.
Denn sie liegt mitten in einem See, und hangt durch zwei lange
Brücken mit der übrigen Menschenwelt zusammen. Der See und
die vielen umliegenden Sümpfe dünsten unaufhörlich aus, und
manchmal liegt die Stadt so in Dunstwolken eingehüllt, daß man
in den Nachen der Hölle einzufahren glaubt, und sie nicht eher
sieht, bis man darin ist. Ihre Lage ist ivohl Ursache, daß man
sie zu einer der stärksten Festungen gemacht hat, und sind auch die
Straßen ziemlich breit und licht, so ist dem Fremden doch bei
dem Anblicke der starken Festungswerke und in den menschenleeren
Straßen unheimlich zu Muthe. Hier war es auch, wo der ehr-
liche Tyroler-Anführer, Andreas Hofer, 1810 von den
Franzosen erschossen wurde *). Der berühmte römische Dichter
Virgil, der zu Christus Zeit lebte, war in einem Oertchen,
eine Stunde von Mantua geboren, und die Mantuaner thun sich
auf diese Landsmannschaft nicht wenig zu Gute. Sie haben ein
Thor und einen Platz nach ihm benannt, und der dümmste Stra-
ßenjunge behauptet, wenn die Rede auf ihn kommt, er sey ein
poeta stupendissimo gewesen." Weiter nordwestlich liegt
Brescia (spr. Breschia) am Fuße der Alpen, eine betrieb-
same, sehr lebhafte Mittelstadt. Von hier nordwestlich ist
Bergamo, amphitheatralisch um einen Berg herum ge-
baut. Die Einwohner gelten als besonders lustig und heiter; sie
können es auch seyn; denn sie sind zugleich sehr fleißig, und Thä-
tigkeit erzeugt ja Heiterkeit. Alle Jahre ist hier eine große, von
weit und breit besuchte Messe. Etwas südwestlich kommen wir
nach
Mailand, der Hauptstadt des ganzen Königreichs, einer
herrlichen Stadt von etwa 140,000 Einwohnern. Sie ist groß,
schön gebaut, mit breiten, hellen Straßen, schönen Spatziergän-
gen, vielen Springbrunnen, großen Palästen und ungemein be-
lebt. Doch sind einzelne Theile auch eng, finster und schmutzig.
Daß hier der Vicekönig residirt, ist schon gesagt worden. Die
schönste Zierde der Stadt ist die herrliche Domkirche mitten
in der Stadt. Sie wurde im 14tcn Jahrhundert angefangen;
aber der Plan war so groß, daß sie bis jetzt nicht ganz vollendet
ist. Nächst der Peterskirche in Nom und der Paulskirche in
London ist sie die größte, wenigstens in Europa. Sie ist aus
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te ?lusg,
Th. 3., S. 407; auch meine Gesetz. der Deutschen für Töchterschulen,
Th. 2., S. 593.
Nösselts Geographie II.
2
18
Ita llen.
weißem Marmor gebaut, und rings um sie herum führt in einer
Höhe von 468 Stufen ein Balcon, von wo man ganz bequem
ein entzückendes Panoroma genießt. ,,Wie ein gefrorner Wald
ragen die zahllosen kühnen, und Nadelspitzen gleichenden Thurm-
chen ans den schlanken gothischen Bogen und Len höchsten Zinnen
der Mauern empor. Aber wie wird uns erst zu Muthe, wenn
wir an einem völlig heitern Morgen die 512 Stufen des Thurms
gestiegen sind, und die große Hauptstadt, die herrlichsten Garten
und die lombardische Fruchtebene vor unsern Füßen sehen, und
dann die Blicke gegen die mit ewigem Schnee bedeckten Scheitel
der schweizer und savoyer Alpen richten. Rechts von Liesen sieht
man die Gebirge von Bergamo bis nach Tyrol hin, und rückwärts
erblickt man im duftigen Nebel des mittelländischen Meers den
Apennin. Es ist ein Anblick, von dem man sich nicht so leicht
trennen fmiiu"
Ein zweiter großer Schatz Mailands ist das berühmte Bild:
das Abendmahl des Leonardo da Vinci, eines der ausgezeich-
netsten Maler des l6ten Jahrhunderts. Es stellt den Erlöser
dar, wie er mit den 12 Aposteln am Tische sitzt, und eben das
'Abendmahl einsetzt. Da es vielfach in Kupfer gestochen ist, so
wird es gewiß allen Leserinnen bekannt seyn. Es ist al fresco
d. i. auf nassen Kalk gemalt, und nimmt im Eßzimmer eines ehe-
maligen Dominicancrklosters eine ganze Wand ein; nur ist es
leider durch Muthwillen roher Soldaten, die einst hier eingesperrt
waren, und durch die Feuchtigkeit zum Theil verdorben. Darum
hat der Kaiser von Oestreich, um die Figuren zu verewigen, es
copiren lassen, doch nicht durch den Pinsel, sondern in Mosaik,
und es ist bereits in Wien zu sehen. Von den öffentlichen Gebäu-
den besehen wir noch das Theater della Scala. Es ist
nächst dem in Neapel und dem in Parma das größte in Italien,
und faßt 7000 Menschen. Die 240 geräumigen Logen laufen in
5 oder 6 Reihen herum. „Beim Eintritt in die italienischen
Theater fühlt man sich von dem hohen Schwünge dieser mächtir
gen Gebäude, von dem Blitzen und Flimmern der Dccorazionen,
von dem Zauber des italienischen Gesanges, von der stummen Be-
rcdtsamkeit der glänzenden Ballette, und von der gewaltigen
Schönheit eines oft sechsfachen Kranzes schöner Frauen in den ge-
selligen Logen ganz und gar hingerissen; am Ende geht man aber
doch mit leerem Herzen davon, da weder die Worte des Dichters,
noch die Töne der Musik unser Herz mit Kraft ergreifen, und
die äußere Zauberei, die unsere Sinne einen Augenblick dichterisch
umdämmert hatte, löst sich gar bald in prosaische Alltäglichkeit
aus." — Auch in Mailand ist, wie in Venedig, der Lärm, den
die Verkäufer machen, ganz entsetzlich. „Unter andern hörten
wir," sagt ein Reisender, ,,am Dome einen Kerl jeden Tag,
vom Morgen bis zum Abend, fast ununterbrochen über seine
Das lombardisch -venetianische Königreich. 10
Glanzwichse und seine Kunst, Flecke aus Kleidern und Hüten zu
machen, mit einer hinreißenden und einer nie versiegenden Bered-
samkeit so lebhaft vortragen, daß Cicero und Demosthenes selber,
wenigstens über diesen Gegenstand, nicht so vieles beizubringen im
Stande gewesen wären. Dabei dramatisirte er seine Rede oft-
mals, wandte sich an die Zuschauer, die ihn nie verließen, und
spielte ihnen unaufhörlich etwas vor, indem er bald einen Schuh
ganz beschmutzte, und ihn in zwei Secunden wieder glänzender
als die Sonnenscheibe zu machen versprach, so daß er wirklich
Wasser darüber goß, bald einen befleckten Nock und Hut, den er
in Bereitschaft hielt, im Augenblick reinigte, so daß aller Augen
und Ohren gleich viel Ursache aufzumerken hatten. In reinem,
wohltönendem Italienisch forderte er seine Zuhörer auf: „ihr Her-
ren , wenn ihr, ich setze den Fall, in eine edle Conversa,zione oder
Academia gehen wolltet, und euer Nock wäre voll Flecken und
euer Hut voll Makel, so geht.ja nicht zu den nichtswürdigen
Schneidern und Hutmachern, die, mit Ausnahme der mailändi-
schen, alle Schelme sind, sondern kommt zu mir; ich will euch,
wie es einem Christen ziemt, bedienen." Die Umgebungen Mai-
lands sind mit den herrlichsten Gärten und prachtvollsten Landhäu-
sern bedeckt, und der Boden ist so fruchtbar, daß Ein Sommer
4 — 5 Erndten giebt. Auch werden in der Stadt schöne Waaren
gemacht, unter denen sich besonders die von Sammt und Seide,
und die Gold - und Silberstickercien auszeichnen. — Gleich süd-
lich von Mailand liegt
Pavia (y-u), einst die große Hauptstadt des lombardischen
Reichs, welches Karl der Große über den Haufen warf, auch
jetzt noch ziemlich groß, aber todt. Außer der berühmten Uni-
versität ist hier nichts besonders Sehenswerthes. Die Stadt liegt
am Tessino, der nicht weit davon in den Po fällt, — Von Mai-
land und Pavia östlich finden wir
Lodi. An sich ist diese Mittelstadt unbedeutend; aber hier
wird der berühmteParmesan- oder lodiserKäse vorzüglich gemacht.
Die Stadt ist nämlich von schönen Wiesen umgeben, auf denen
zahlreiche Rind - und Ziegenheerden weiden. Der Name Parme-
sankäse ist von Parma entstanden, wo aber dieser Käse nicht be-
reitet wird. — Reisen wir nun den Po abwärts, so kommen wir
nach
Cr emo na, einer sehr wohlgebauten Stadt am Po, nicht
weit vom Einflüsse der Adda. Wer sollte nicht die cremoneser
Geigen ünd Darmsaiten kennen,, die weit und breit ver-
führt werden? Auch andere musicalische Instrumente werden hier
verfertigt.
Nun reisen wir nach den nördlichen Gebirgen, und zwar
zuerst nach dem schönen Comersce, hinter dem sich die ho-
2 *
20
Italien.
hen Alpen in die Wolken erheben. An seinem südlichen Ende
liegt
Como in einer überaus reizenden Gegend, überall von Wein-
bergen und Olivenpflanjungen umgeben. Die Stadt ist nicht groß,
aber sehr lebhaft, weil hier eine Hauptstraße nach Helvetica und
Deutschland durchführt. Aus der deutschen Geschichte ist uns schon
Como bekannt. Hier war es, wo Kaiser Friedrich I. den Herzog
Heinrich den Löwen fußfällig bat, ihn nicht zu verlassen (S.
meine Gesch. der Deutschen, Th. 1-, S. 299 ). Wenn wir über
den See nach seiner ganzen Länge fahren, kommen wir jenseits in
ein enges, tiefes, aber hochgelegenes Thal, in dem der Ort
Chiavenna (spr, Kiawenna) oder Cläven sich lang hin,
zieht. In der Nähe werden aus Lavezstein viel Geschirr, Töpfe,
Stubenöfen u. dergl. gemacht, wie bei Brieg im Walliserlande.
Eine Stunde nördlich, wo das Thal immer wilder und schauer,
sicher wird, und Felstrümmer chaotisch durch einander liegen, lag
einst der Flecken Plürs mit 1500 fleißigen Einwohnern. Da
stürzte plötzlich 1618 ein überhangender Berg auf den Ort hernie-
der, und begrub in einem Augenblicke fast alle Einwohner.
Wenn wir uns vom Comersee nach Nordosten wenden,
so nimmt uns das Thal der Adda auf. Es zieht sich nach
der Ortlesspitze hinauf, und wird je höher desto enger. Man
nennt diese Gegend das Veltlin. Mehrere Oerter mit
fleißigen Einwohnern liegen längs des brausenden Flusses; die
bedeutendsten sind
Sondrio, in einer höchst romantischen Berggegend, und
noch höher hinauf
Bormio oder Worms, mit berühmten heißen Bädern.
2. Das Königreich Sardinien
besteht aus zwei Haupttheilen: der Insel Sardinien, von der
das ganze Königreich den Namen führt, und den in Ober-
italien gelegenen Landern.
I. Das feste Land. Es wird im Norden durch die
himmelhohe Felfenwand der penninifchcn Alpen vom Wallifer-
landc getrennt, und zieht sich bis zum mittelländischen Meere
südlich hin, wo es den Golf von Genua umfaßt. Westlich
trennen es die See-, cottifchen und grajischen Alpen von
Frankreich, östlich der Tessino vom lombardisch-venetianischen
Das Königreich Sardinien.
21
Königreiche. Die schon oben genannten Hauptbcrge: der
Simplón, Monte Rosa, grosse und kleine Bernhard, Mont-
blanc, Cenis und Viso gehören hierher. Der Bergriese
Montblanc bedarf einer umständlicheren Schilderung. Hier
stehe ste mit den Worten eines Reisenden: ,, Die Höhe des
Montblanc beträgt 14,700 Fuß. Saussürc hat berech-
net, daß, wenn zwischen dem Montblanc und dem Meere
nur Ebenen gelegen wären, so würde man von seiner Spitze
nicht allein die Küsten des Mittelmccrs erblicken, sondern auch
noch 12 Stunden weit darüber hinaus sehen können. Den
prachtvollsten Beweis von seiner erstaunlichen Höhe erhält
man nach dem Untergang der Sonne. Wenn längst die Nacht
sich nicht nur km Thal und auf den Verbergen, sondern auch
auf den Gipfeln der andern Nebenkolossen gelagert hat, dann
leuchtet noch sein Haupt, gleich der Spitze einer Flamme, im
Strahl der scheidenden Sonne, die bereits andern Welttheilen
aufging. Beim Anblick dieses gewaltigen Urbergs, der da
steht in der Kraft seiner ersten Jugend,-wie er aus der grauen
Zeit der Schöpfung hervortrat, bemächtigen sich eigne Gefühle
und Betrachtungen der Seele. Er war, sagt man sich, der
Zeuge aller der Revolutionen unsers Erdballs, und blieb allein
durch ste uncrschüttert. Er sah Meere Länder verschlingen,
und Länder aus dem Schooß der Fluthcn hervorgehn; sah
Wüsteneien zu blühenden Reichen werden, und blühende Rei-
che sich in Wüsteneien verwandeln; sah, wie bald Gestein,
bald Land, bald Eis, bald Vulcane die Oberfläche des Erd-
bodens einnahmen, wie Städte und Ruinen, wilde Thiere und
Menschen in dem Besitz der Staaten abwechselten; wie alle
4 Elemente um die Herrschaft der Erde stritten; wie die Winde
ihre Wuth aufboten, die Erde in ihren Grundfesten erbebte,
das Feuer alle Wesen verzehrte, und er selbst von den Ver-
heerungen der Wasserwegen bestürmt wurde. Vor ihm ent-
wickelte sich die Kette der Begebenheiten, welche seit Jahrtau-
senden ihr Spiel mit den schwachen Bewohnern des Erdballs,
und mit ihren fröhlichen und tragischen Rollen treiben. Wie
viele Reiche und Gewalten, wie viele grosse Thaten und Na-
men, wie viel Ruhm und Glanz sah er aufgehen, prunken,
schwinden, und nicht mehr gefunden werden! Von wie vieler *
*
22
Italien.
Auf - und Untergang wird er noch der stumme Zuschauer seyn,
bis auch sein Loos fällt, bis, wie Ossian von der Sonne
singt, auch er
Schläft in seinem Gewölk,
Nicht hörend die Stimme des Morgens! —
* Den Montblanc bilden 3 Gipfel. An diese 3 Gipfel schließt
sich eine Kette pyramidcnartiger Felsen an, von kühnern, ma-
jestätischen Gestalten, welche gen Himmel ihre Häupter hoch
empor strecken, und zu denen man den Kopf mit Verwunde-
rung aufhebt. Man nennt sie Aiguilles, Nadeln oder Hör-
ner. Die Zwischenräume und Zwischenklüfte füllen Eis- und
Schneefelder aus, welche Lauwinen herabdonncrn, oder die
Gletscher sich in die Thäler senken lassen."
„Den Montblanc zu erklimmen, war lange der kühne
und vergebliche Ehrgeiz der erfahrensten und unternehmendsten
Guiden gewesen; der Versuch im Jahre 1783 hatte sie aber
sonderlich muthlos gemacht, bis der August von 1786 ihren
Wunsch krönte. Jacques Balmat, der davon den Zuna-
men Montblanc erhielt, war bei einem neuen Versuch,
durch das Ungefähr einer glücklichen Verirrung, der Mont-
blancspitze ziemlich nahe gekommen, und ermunterte den Doc-
tor Paccard in Genf, auf diesem unentdcckten Wege die Er-
steigung zu unternehmen. Sie übernachteten den ersten Tag
auf der Höhe des la Cote-Bergs, und den Sten August,
Morgens um 4 Uhr, setzten sie den Fuß auf das Eis, wel-
ches vom Montblanc sich ununterbrochen herabsenkt. Sie schrit-
ten langsam aber anhaltend fort; die jähen Abschüsse, die
Spalten, die Ermüdung, die zu dünne Luft, erschöpften ihre
Kräfte mit jedem Augenblicke; allein das schönste Wetter be-
günstigte sie, und die Ueberzeugung, dieses Mal ihren Zweck
zu erreichen, stärkte und erhob ihren Muth und ihre Anstren-
gung. So wie sie höher kamen, wuchs die ungeheure Aus-
sicht ; die Gegenstände unter ihnen wurden niedriger und zu-
sammengedrängter, das Himmelsgewölbe über ihnen färbte sich
immer dunkelfarbiger; sie wähnten sich auf schönen Gewöllen,
und dünkten sich Wesen von einer crhabnern Natur. Aber
die unermeßlichen Strecken, die noch vor ihnen lagen, brach-
Das Königreich Sardinien. 26
V.
ton sie in Verzweiflung; denn sie fürchteten, sie möchten sie
nicht mehr betrage zurücklegen können. Um 3 Uhr Nachmit-
tags wußten sie noch nicht, wohin sie gelangen würden, und
was aus ihnen werden solle; Unruhe und Zweifel bemächtig-
ten sich ihrer Seelen. Paccard hatte keinen Athem mehr,
seine Kniee wurden steif, und die Kalte verhinderte ihn, wei-
ter zu kommen. Sein jüngerer, geübterer und kühnerer Ge-
fährte sprach ihm Muth ein; allein beide begannen an einem
glücklichen Ausgang ihres Unternehmens zu verzweifeln, und
es zu bereuen, sich darauf eingelassen zu haben. Eine neue
Anhöhe zeigte sich vor ihnen, und sie waren ungewiß, ob cs
die letzte sey. Balmat beschloß, sich davon zu überzeugen,
und eilte allein darauf zu. So wie er weiter kam, wurde
der Schnee fester, und er fühlte, daß cs nur noch einiger
Anstrengung bedürfe, um die ersehnte Spitze des Berges zu
erreichen. Endlich stand er oben, welch ein Jubel! Welch
ein Triumph! Wie fühlte er sich für alles Ausgestandene ent-
schädigt! Er rief es jauchzend feinem Gefährten zu; er that
noch mehr, er stieg wieder hinab, kam ihm entgegen, unter-
stützte ihn, feuerte ihn an, und um halb 7 Uhr befanden sich
beide auf dem höchsten Scheitel des berühmten Berges. Das,
tief unter ihren Füßen liegende Thal von Chamouny er-
blickten sie dort; die anwesenden Fremden betrachteten sie durch
ihre Ferngläser; unruhig und besorgt hatten sic ihren Marsch
mit den Augen verfolgt, und jetzt weideten sie sich an dem
Anblick dieser kleinen Geschöpfe, auf dem erhabensten Punkt
des alten Erdballs. Ein ungeheurer Gesichtskreis, Frankreich,
Helvetien, Italien, die schlangelnde Kette der Alpen, ihre
glänzenden Spitzen, ihre tiefen Schlünde und Klüfte, lagen
vor ihnen, unter ihnen; der Himmel dünkte ihnen ganz
schwarz, und die Scheibe der untergehenden Sonne, von einer
nie gesehenen Größe, und noch stammender! Es war als stürze
sie sich den Horizont hinab. Dieß Phänomen erfüllte sie mit
einem solchen Entsetzen, daß cs sie zum ruhigen Nachdenken
und zum Betrachten unfähig machte, und sie zur eiligen Rück-
kehr antrieb; dazu kam, daß die Kälte so stark war, daß die
Lebensmittel ihnen in der Tasche gefroren. Der Thermometer
stand 6 Grad unter Null. Sie eilten also zurück, indem sie
24
Italien.
nach der Art der Aelplcr und Gcmsenjägcr, auf ihre Stöcke
gelehnt, und mit steif vorgehaltenen Füßen, sich hcrabgleiten
ließen. So legten sie, noch vor Nacht, große Weiten und
die gefährlichsten Stellen zurück. Der aufgehende Mond half
ihnen ihren Marfch fortsetzen, und die Eisspalten vermeiden.
Balmat ging voraus, und nur seiner Vorsicht und seiner Er-
fahrung hatte er und sein Gefährte cs zu verdanken, daß ih-
nen kein Unglück begegnete. Um Mitternacht kamen sie nach
der Cote-Spitze zurück, wo sie 2 Stunden ausruhten. Den
andern Morgen um 8 Uhr trafen sie wieder in Ehamouny
ein."
„ Sie hatten bei 20 Stunden auf dem Schnee und Eis
zugebracht, sie waren fast erblindet, und ihre Lippen stark
geschwollen. Balmat hatte noch 8 Tage nachher ein ent-
stelltes Gesicht, und das Aussehen eines Menschen, deck man
aus dem Schlaf gestört hat."
Um das berühmte Chamounythal kennen zu lernen,
das am Fuße des Montblanc liegt, lassen wir wieder einen
Reisenden sprechen. Cr reiste von Martinach im Walliser-
lande. „Wir bestiegen hier drei Maulthiere aus Ehamouny,
die ihr Besitzer mit Fremden hierher gebracht hatte. Wir
kamen über die Dranse, ritten eine Bcrgschlucht hinan, und
dann über einen hohen Bergrücken in das rauhe Thal von
Trient. Hier frühstückten wir etwas im Angesichte des gro-
ßen, von der Kette des Montblancs sich herabziehenden Glet-
schers von Trient, der seit Jahresfrist 120 Fuß vorwärts ge-
rückt ist, und dabei die dicksten Bäume zerbrochen hat. Es
war kalt; deshalb setzten wir bald unsern Weg fort, und
stiegen am Fuß des beinahe wie eine Mauer in die Höhe ge-
henden Berges Horbagcra ab, weil es unmöglich war, hier
auf den Mauleseln sitzen zu bleiben. Uralte Lerchenbäume la-
gen hier oft quer über den wie eine steile Treppe im Zickzack
zum Gipfel führenden Weg, und cs war sehr unterhaltend
anzusehen, wie die Maulthiere, leicht wie Rehe, darüber
schritten, und den steilen Weg ziemlich schnell zurücklegten,
ohne daß es sie anzustrengen schien. Wir ritten dann längs
des oberen Abhanges des Horbagera hin, eine tiefe, schauer-
liche Schlucht zur Rechten, über welcher auf der andern Seite
A
Das Königreich Sardinien. 2)
der fast senkrechte Dent du Col de Balme 2500 Fuß in die
Höhe steigt. Von dem Gipfel dieses Dent stürzte vor meh-
reren Jahren ein junger Mann aus Zürich herab."
„So gelangten wir an den Col de Balme, der sich
vor uns in die Höhe hob. Beim Hinaufsteigen, wo das
Reiten und Gehen gleich unangenehm ist, indem man in schma-
len, meist einen Fuß tief ausgehöhlten und ausgewaschenen
Fußsteigen gehen muß, wurden wir ein Stündchen mit Schnee-
wetter regalirt, und wir waren froh, die Höhe zu erreichen,
wo sich eben die Luft auf einmal erheiterte. Die ganze Mont-
blanckette mit ihren großen Gletschern, die wie weiße Tücher
bis in die Mitte des Chamounythals reichten, und die unge-
heuern Berge mit ihren Tausenden von nadelfdrmigen Ric-
senspitzen stellten sich plötzlich vor uns hin. Dieser herrliche
Anblick ist um so überraschender, da die letzten zwei Stunden
Wegs, welche man den Col de Balme hinaufreitet, die Ge-
gend zu beiden Seiten höchst beschrankt, wüst, traurig und
wahrhaft melancholisch ist. Erreicht man nun bei ein paar
aufgestellten Kreuzen den Gipfel, und sieht auf einmal das
muntere Arvethal *) mit jenen ungeheuern Stein-, Eis- und
Schnccbergen vor sich ausgebreitet, so ist man wie bezaubert.
Um uns zu erwärmen, stiegen wir ab, liefen schnell die an-
dere Seite des Col herab, und wendeten uns links, um den
ersten großen Gletscher im Chamounythale, den Olacier de In
tom-, ganz in der Nähe zu besehen, welches für mich etwas
ganz Neues war. Wir stiegen bis auf seinen Abhang, und
das stete Knallen und Prasseln in diesen fürchterlichen, an
40 — 50 Fuß hohen Eismassen war für mich sehr unterhal-
tend." Die Reisenden kamen dann bei mehreren Gletschern
vorbei, unter andern bei dem Olaeier de bois, dessen höherer
Theil das Eismeer genannt wird, weil hier aste zwischen
den Felsenspitzen sich befindende Cinsenkungen mit Eis ausge-
füllt sind. „Dies Hier de glace ist ein sehr breiter Gletscher,
und man würde, wäre er nur eine Ebene, doch über eine
*) Die Arve ist ein Fluß, der an der Gränze des Walliserlandes und
des Königreichs Sardinien entspringt, ein theils höchst wildes, theils
liebliches Thal durchläuft, und bei Genf links in die Rhone sich ergießt.
26
Italien.
Viertelstunde Zeit brauchen, csucr über ihn wegzugehen. Ein
Strichregen nahm just diesen Weg, und die Sonne hatte eine
solche Richtung, daß der breiteste Regenbogen mit den glän-
zendsten Farben, wie ich je einen sah, sich gerade auf diese
Tausende von reinen Eiszackcn zu lagern schien. Dies gab
ein ganz himmlisches Gemälde. Wir langten gegen 4 Uhr
in le Priors an.- Dies ist in diesem Thäte das bedeutendste
Dorf, und wird von den Reisenden oft auch Chamouny ge-
nannt, wiewohl diese Benennung eigentlich dem ganzen Thäte
gehört. Man kann in der That sehr zufrieden seyn, in die-
sem Thale, wo außer Kartoffeln kaum ein anders Gemüse
wachst, eine sehr bequeme Wohnung mit sehr guten und höchst
reinlichen Betten, und alle Tage eine Mittagstafel von 12 —
14 recht ausgesuchten Gerichten und gutem Wein zu finden."
„Da cs noch ein paar Stunden hell war, so machten wir
einen Spatziergang eine kleine Stunde unterhalb Priors nach dem
Olucisr cls Boissons, der unmittelbar unter dem Gipfel des
Montblanc herunterkommt, und ein ungeheurer Koloß ist. Wir
stiegen ein großes Stück an seiner Seite hinauf, und das
Prasseln und Knallen war so arg, als ob nicht weit von uns
im Gebirge Kanonen abgefeuert würden. Diese unseren nörd-
lichen deutschen Gegenden so ganz fremden und Jedem, der
die Wirkungen der Naturkräfte beobachtet, so höchst interes-
santen Gegenstände nahmen uns so sehr ein, daß wir die sin-
kende Sonne nicht bemerkten, und nur die schnell eintretende
Dämmerung uns den Rückweg nehmen hieß. Wir trennten
uns also von diesen kalten drohenden Massen, die wie eine
Gesellschaft Gespenster mit ihren hier oft 80 —100 Fuß ho-
hen Schatten in abcnthcuerlichen Gestalten da standen. Die
Phantasie.konnte in ihnen leicht alte Schlösser, Burgen und
Thürme mit Fenstern und Thüren, ja hin und wieder sogar
Köpfe und Gesichter abgebleichter Riesen erkennen. Wir eil-
ten zurück, und es leuchteten uns die schimmernden Gipfel des
Montblanc und der ihn umgebenden Gletscher."
„Eine Reise durch das Chamounythal ist schon an sich
ganz allein sehr viel werth, und giebt ungemein viclartigcn
Stoff zu Beobachtungen. Auch gänzlich abgesehen von den
Schönheiten des Thals gewährt schon der Aufenthalt in dem
Das Königreich Sardinien.
21
netten Wirthshause ungemein viel Unterhaltung. Alle Tage
verändert sich die Gesellschaft, und alle Tage sicht man an
der Wirthstafel andere Physiognomien und hört andere Aeu-
ßerungen. Manchem sieht man es an, daß er sich gar nicht
in das Gesicht finden kann, welches ihm hier die Natur zeigt;
Mancher schaut rechts und links, und staunt in einem fort.
Ein Andrer hat die kalten und steilen Berge herzlich satt,
und ist froh, doch nun sagen zu können: „auch ich war in
Chamouny! auch ich sah das Eismeer!" Andere wieder kön-
nen nicht genug sehen, und wollen alle Berge und Hügel er-
klimmen. Dort sitzt ein dicker Herr, der nur das auszuse-
tzen hat, daß man, um auf die Berge zu kommen, steigen
müsse. Daneben funkelt eine kühne Lady in Stiefeln und
Mannsrock, oder eine magere Heroine aus Lyon, welche, ver-
sichern, es sey ein wahrer Spaß, die höchsten Berge hin-
auf zu laufen. Gewöhnlich dreht sich aber die Unterhaltung
um die Besteigung des M o n t -A n v e r s, welche für alle
diese starken und schwachen Geister und Leiber unerläßlich ist."
„Um dahin zu gelangen, schreitet man über die Arve,
und steigt dann auf ihrem linken Ufer etwas thalaufwärts.
In etwa 3 — 4 Stunden kömmt man dann rechts auf den
Gipfel jenes Berges, an dessen nördlichem Abhange vorbei
sich das Eismeer, das Hier de glace, von den oberen Regio-
nen des Montblancgebirges in das Thal zieht. Unten öffnet
sich der Gletscher an der einen Seite mit einem dunkelblauen,
weit gähnenden Schlunde, aus welchem der Arveyron hcrvor-
strdmt, der sich bald mit der Arve vereinigt. Diese Vergreise
ist die bequemste, und man kann sie bis zu drei Vierthcilcn
auf einem Maulthiere reitend machen. Ihr Hauptzweck ist
der schöne Blick auf das Eismeer und die herrliche Ansicht
der Aeguillen, die es umgeben. Obgleich es sehr kalt, und
der kleine gemauerte Pavillon, der hier zum Schutze gegen
das Wetter gebaut ist, gedrängt" voll Damen und ihren Be-
gleitern war, so zeichnete ich doch im Freien ein paar Ansich-
ten von Gebirgsgruppen. Wir stiegen dann den nördlichen
Abhang des Montanvers herab, und wanderten etwas auf
dem Eismeere herum, geführt von dem alten Balmat, mit
dem Beinamen Montblanc, demselben, der mit Doctor Pac-
28
Italien.
card der erste Mensch war, der den Gipfel jenes Bergs er-
stieg, und der die Reise bereits 11 Mal gemacht hatte. Den
Rückweg vom Montanvers nahmen wir seinen ungemein stei-
len westlichen Abhang herab, um an das Ende des Eismeers
zu kommen, und den Arveyron aus dem 50 Ellen hohen Eis-
gewölbe hervorströmen zu sehen. Die Sonne schien hier ziem-
lich warm, und sogleich fingen mehrere Bewegungen in dem
Gletscher an. Bald stürzte hier eine hoch in die Luft getrie-
bene Scholle um; bald kam auf der andern Thalseite des Eis-
meers eine Stcinlauwine heruntergerasselt; bald löste sich eine
Cismasse über einer hohen Felswand los, und stürzte mit ei-
ner Wolke von feinem Eisstaub in die Tiefe, und alles wurde
mit prasselndem und knallendem Getöse begleitet."
„Sprudelnd und schäumend," sagt ein andrer Reisender,
„entrauscht der Arveyron einer Grotte oder Höhle, welche
zuweilen 100 Fuß Höhe hat, deren Form und Größe aber
äußerst zufällig und wandelbar ist. Die großen Granitmassen,
welche der Gletscher vor und um sich her, wie einen unge-
heuren Steindamm gewälzt hat, und das Wilde der Umge-
bungen machen das Ganze äußerst malerisch. Ein großer Land-
schaftsmaler verzweifelte, den Arveyron je so malen zu können,
wie er in der Natur vorhanden sey. Unter der Leitung eines
guten Führers und mit Vorsicht kann man in aller Sicherheit
die Theile dieses prachtvollen Eisgewölbes in Augenschein neh-
men, und den Glanz des Eises, wenn sich die Strahlen der
Sonne darin spiegeln, so wie die Lebhaftigkeit und den Reich-
thum der Farben, an den seltsamgeformten oder von Sprün?
gen durchschnittenen Wänden bewundern. Aber man hüte sich
zu nahe zu treten, und erinnere sich immer des Unglücks,
das hier die Familie des Genfers Moritz traf. In Gesellschaft
seines Sohnes und eines Vetters überließ er sich, ohne Füh-
rer, am Fuße des Eisgewölbcs, dem Anblicke dieses schönen
Naturschauspiels, als plötzlich der Einsturz eines Theiles der
Grotte erfolgte. Unbekannt mit den Folgen verweilten alle
Drei auf ihrem Standpunkte. In einem Hui hatten die em-
porschwcllenden, mit Eis - und Felsentrümmern angefüllten Flu-
then sie da ergriffen und mit sich fortgerissen. Der Vater sah
seinen Sohn vor seinen Augen umkommen, und er selbst und
DaS Königreich Sardinien. 29
sein Vetter wurden nur mit Mühe, aber mit zerbrochenen
Beinen gerettet." Ueber den Berg Cenis führt eine herrliche
Kunststraße nach Frankreich, so daß der Karthager Hannibal,
der diese Alpen mit so großer Beschwerde und so vielen Ver-
lusten überstieg, den Uebergang jetzt recht bequem finden wür-
de. Daß sich die Seealpcn in der Nahe des mittelländischen
Meeres nach Osten umbiegen, und dadurch ins apenninische
Gebirge übergehen, ist schon oben gesagt. In den Apenninen,
so weit sie hierher gehören, ist nur ein Punkt zu merken, die
Bocchetta (spr. Bokkctta). Dies ist ein langer Gebirgs-
paß, der von Norden gerade nach Genua führt. Der größte
Theil des Landes ist also mit Gebirgen durchzogen; denn sind
die höchsten Berge auch auf den Gränzen, so ziehen sich doch
ansehnliche Zweige durch das Land. Am wildesten und höch-
sten ist das Gebirge in dem nordwestlichen Winkel, wo die
penninischen und grajischen Alpen zusammenstoßen. Dies hohe,
ganz aus engen Thälern und schroffen Felsen bestehende Land
heißt Savoyen. Dagegen wird der Boden nach Osten zu
immer flacher, und verläuft sich endlich in die große Po-
Ebene.
Das Klima ist in diesem Bcrglande natürlich rauher
als im übrigen Italien, und dec-Winter besonders streng und
anhaltend. Im Chamounythal friert cs oft noch im August
des Nachts. Nur in den flachen Gegenden merkt man die
italienische Luft.
Unter den Flüssen, von denen der Po der bedeutend-
ste ist, zeichnen sich die Doria Baltca und die Tosa aus.
Jene kennen wir schon, und wissen, daß sie das wilde und
enge Thal von Aosta durchfließt. Die Tosa kommt im nord-
östlichen Winkel des Königreichs von dem hohen Bergstock her-
unter, den der St. Gotthard, die Furka, der Grimsel und
andere Hauptberge bilden, durchtobt ein schauerliches, aber
höchst romantisches Felsenthal, und bildet, ehe sie in den La-
go Maggiore fließt, mehrere ansehnliche Wasserfälle.
Unter den hier lebenden Thieren merke man sich beson-
ders Gemsen, Steinböcke und Murmelthiere. Die
Steknböcke halten sich nur noch hier auf. Die Gemsenjäger
sind hier oben so kühn als in Helvetien. In den ebenen Ge-
30
Ita lien.
gendcn wird viel Wein gebaut und Seide gewonnen, ein Be-
weis des milden Klimas.
Zn den Thälern der cottischcn Alpen wohnt in einigen
Ortschaften ein stilles, fleißiges Völkchen, die Waldenser
oder Ballen ser. Ein frommer Kaufmann in Lyon, Peter
Waldus, im 12ten Jahrhundert erkannte, indem er die Bi-
bel las, die Falschheit vieler Lehren der katholischen Kirche,
und lehrte auch Andere seine Ueberzeugungen. Er fand bald
viele Anhänger; besonders schloffen sich an ihn die in den Thä-
lern der Seealpen wohnenden Leute, die sich daher Wallenser,
d. i. Thallcute, oder auch Waldenser nach Peter Waldus
nannten. Sie wurden zur Folge der Unduldsamkeit der frü-
heren Jahrhunderte eifrig als Ketzer verfolgt, ob sie gleich
still für sich lebten und der Obrigkeit gehorchten, und gingen
daher meist in die reformirte Kirche über. Nur in den ein-
samen Thälern der Seealpen blieben einige Gemeinden ihrem
Glauben treu, und haben ihn auch bis heute bewahrt. Fer-
ner sind auch die Savoyarden, die Einwohner von Sa-
voyen, ein merkwürdiges Volk. Sie sind meist häßlich, klein
und haben viele Cretins; aber ihre Gutmüthigkeit, ihre Ehr-
lichkeit, ihr Fleiß und ihre Genügsamkeit sind so bekannt, daß
man gern Savoyarden in Dienste nimmt. Sie haben näm-
lich die Gewohnheit, in ihrer Zugend, oft schon als Kinder,
ins Ausland, am meisten nach Frankreich, zu gehen, und sich
da als Schuhputzer, Schornsteinfeger oder Aufwärter zu vcr-
miethen, während Andere mit abgerichteten Murmelthieren,
oder mit einem Fäßchen Tinte auf dem Rücken, oder als Mau-
sefallen- und Hcchelnvcrkäufer durch die Länder ziehen. Wenn
sie sich damit ein kleines Vermögen gesammelt haben, so keh-
ren sie ins Vaterland zurück.
Das Königreich steht unter einem Könige, der es ganz
unumschränkt regiert. Die Städte nehmen wir nach den drei
Hauptländern: Savoyen, Piemont und Genua.
1. Savoyen. Hier liegt in einer reizenden Gegend die
Hauptstadt
Chambery, in einem weiten, höchst fruchtbaren Thale,
von schönen Spatziergängen umgeben. Sie ist eine Mittelstadt.
Das Innere entspricht der schönen Lage nicht; die Straßen sind
enge und finster. Man spricht hier schon durchaus französisch;
Das Königreich Sardinien.
31
denn die französische Gränze ist in der Nähe, und es gehen be-
ständig Wagen und Saumrosse zwischen Italien und Frankreich
hier durch. Nicht weit davon liegt ein berühmter Badeort
A ix (spr. Aehx). Alle Oerter dieses Namens haben warme
Bäder, so wie in Deutschland alle die, welche Baden heißen.
Die hiesigen Bäder sollen sehr heilsam seyn, und werden stark be-
sucht. Die eine dieser warmen Quellen hat die Eigenschaft, daß
verwelkte Blumen, die man hineintaucht, wieder frisch werden.
Ob ihre Kraft sich auch auf die verwelkte Schönheit des menschli-
chen Körpers erstreckt, haben wir nicht gehört; sonst würde auch
wohl des Herzuströmens kein Ende seyn.
Lans la Bourg, ein kleiner, schlechtgebauter Ort, in ei-
nem so engen Thäte, daß die Einwohner vom Anfange des De-
cembers bis Mitte des Januars die Sonne nicht zu sehen bekom-
men. Der Ort liegt am Fuße des Cenis, und von hier führt die
berühmte Straße über diesen Berg. Daher ist hier ein beständi-
ger, sehr lebhafter Verkehr. Die Straße windet sich so allmäh-
lig und in so leichten Biegungen hinan, daß man ohne alle Be-
schwerde steigt. Hier und da stehen hölzerne Kreuze am Wege,
die bei hohem Schnee die Richtung des Weges bezeichnen. Die
sonst hier stehenden Pfähle wurden oft gestohlen; da ersetzte man
sie durch Kreuze, und diese bleiben unangetastet stehen. Endlich
erreicht man den Scheitel des Berges, wo auf einer ziemlich
weiten Ebene eine Art von Dorf steht. Es ist eine Caserne für
die hier liegenden Gensd'armes, die den Reisenden im Falle der
Noth Hülfe leisten, Stallungen, ein Posthaus, ein Wirthshaus
und einige andere Gebäude,' welche die ehemalige Einsamkeit der
Gegend jetzt beleben. Vom Nov. bis im März ist hier oben al-
les verschneit, und dann giebt eS der Füchse in Menge, die durch
Hunger herbeigelockt werden.
2. Piemont nimmt den größten Theil des Lands ein. Au-
ßer dem Bergwinkel Savoyen und der Meeresküste Genua, ge-
hört alles übrige Land dazu. Hier liegt die Hauptstadt des gan-
zen Königreichs,
Turin, in^ einer weiten, schönen Ebene, am linkenUfer des
Po, groß unö* sehr gut gebaut, mit 120,000 Einwohnern. Die
Straßen sind meist sehr breit, nach der Schnur gebaut, und durch-
schneiden sich in rechten Winkeln. Das königliche Schloß ist ein
großes, aber altes Gebäude, und die Kirchen groß und pracht-
voll, aber ohne Geschmack. Die Universität ist berühmt. Zwei
Stunden davon liegt auf einem Berge das prachtvolle Kloster la
Superga, vor etwas länger als 100 Jahren für mehrere Mil-
lionen gebaut, der Begräbnißort der Könige von Sardinien. Ein
Reisender sagt von Turin folgendes:
„ Turin hat in jeder Hinsicht eine reizende Lage. Die Ebene,
die es unmittelbar umgiebr, ist mit anmuthigem Grün von den
32
Zt alien.
mannigfaltigsten Farben aufs lieblichste bekleidet, und wird von
der hochgelegenen, prächtigen Supcrga beherrscht. DaS schöne
Gewässer des Po bespült die Stadt, und von Fern umringt sie
der duftige Wall der Alpen. Die außerordentliche Regelmäßigkeit
der Stadt selbst ist nicht gerade ermüdend und allzu einförmig;
besonders unterhaltend und lebendig aber sind die ringsum an aU
len vier Seiten des Marktes arcadenmäßig unter den Hallen an-
gelegten Kramläden, deren einige wahrhaft prachtvoll, wie orien-
talische Basars (Kaufhallen), anzusehen sind. Dessenungeachtet
thut man Unrecht, wenn man, wie oft geschieht, Turin für
die erste Stadt Italiens erklärt; denn im Grunde hat es we-
nig mehr als eben seine Geradlinigkeit und höchstens den riesen-
mäßigen Pallast Carigli ano aufzuweisen; alles Uebrige ist in
einem so kleinlichen, bürgerlichen und Loch wieder überladenen
Style erbaut, daß man nicht recht weiß, ob man sich in einer
charakterlosen Residenz des Nordens oder in Italien befindet. Waä
aber Las allerunangenehmste scheint: der eigenthümliche Volks-
charaktcr der Italiener verschwindet in Turin beinahe völlig. Das
Volk ist ein Gemisch von Franzosen und Italienern. Das öffent-
liche Leben kriecht, nach nordischer Weise, in die Häuser zurück;
man kocht und siedet nicht mehr *) auf der Gasse, und die Pfan-
nenbrater kündigen ihre Gerichte nicht mehr durch dithyrambische
Sonette an; selbst die melodische Kehle der Italiener verstummt,
dieses herrliche Instrument, das die Natur in Italien gewöhnlich
auch den gemeinen Leuten verliehen hat." Nordöstlich von Turin
finden wir
Vercelli (spr. Wertschelli), eine vorzüglich schöngebaute
Mittelstadt. Aus der Geschichte ist uns bekannt, daß vermuthlich
hier die blutige Schlacht war, in welcher der Römer MariuS 10
vor Christus das deutsche Volk der Cimbrer vernichtete **).
Wenn man die brausende Doria Vallea aufwärts geht,
kommt man in das .wilde und enge Thal von
Aosta. Die Gegend ist hier schon ganz schweizerisch. An
der Stadt Aosta ist für uns nicht viel zu sehen; aber sie ist be-
lebt, weil hier beständig Reisende hindurch gehen. Man kann
nämlich von hier nach Frankreich und nach Helvetien. Im erste-
ren Falle läßt man den Montblanc rechts liegen, im zweiten
Falle links, indem man den großen Bernhard hinaufsteigt. Wir
thun jedoch weder das Eine noch das Andere, sondern wenden uns
nach dem südwestlichen Winkel des Königreichs, wo wir, hart an
der französischen Gränze, die Hafenstadt
*) Der Verf. kam aus Italien zurück.
**) S. mein Lehrb. der Weltgesch. für Töchtersch., 2teAusg., Th. 1-,
S. 228; auch mein Lehrb. der deutschen Geschichte für höhere Töchtersch.,
Th. 1., S. 27.
DaS Königreich Sardinien. 33
Nizza finden. Sie liegt am Abbange mehrerer Berge, die
sich bis ans Meer hinabziehen, und die Aussicht nach dem Innern
Les Landes verschließen. Kommt man daher zu Schiffe an, so
erblickt man die Häuser der Stadt wie an einem Amphitheater
hinangebaut. Die Altstadt ist zwar häßlich, eng und finster ge-
baut; desto netter, freundlicher und gerader ist dagegen die Neu-
stadt. Die umliegenden Berge sind mit freundlichen Landhäusern
und lieblichen Oliven-, Maulbeer-, Citronen-, Pomeranzen- und
andern Fruchtbäumen bedeckt, und die Luft ist so mild, rein und
gesund, daß sich Jahr aus Jahr ein hier Fremde aufhalten, um
die geschwächte Gesundheit wiederherzustellen, oder das schwindende
Leben zurückzuhalten. Herrlich ist die Aussicht aus den höher
liegenden Häusern. Vor sich hat man das blaugrune Meer, und
dahinter erheben sich in weiter Ferne die Gebirge Corsica's. Ge-
hen wir von Nizza nordöstlich in das Innere des Landes, so kom-
men wir nach
Alessandria, einer wohlgebauten Stadt, mit geraden und
breiten Straßen, und einem herrlichen, mit Linden bepflanzten
Marktplatze. Ihre Hauptmerkwürdigkcit sind ihre ansehnlichen
Festungswerke; denn sie und Mantua sind die stärksten Festungen
in Obcritalien. Ocftlich von Alessandria liegt in der Entfernung
einer Stunde das Dorf
Marengo, wo die Schlacht am l4ten Jun. 1800 vorfiel,
in welcher Bonaparte das östreichische Heer so besiegte, daß er
Herr von Italien wurde *).
Nun reisen wir in südlicher Richtung dem Meere zu,
um nach Genua zu gelangen. Wir fahren den Gebirgszug
der Apenninen hinauf, ein öder Weg. Es ist der Paff der
Bocchetta (spr. Bokketta), durch den wir kommen. Oben
weht stets eine scharfe Luft, aber eine köstliche Aussicht zeigt
sich da dem erstaunten Reifen. Man hat vor sich die üppige
Küstcngegend von Genua, und dahinter den ganzen Golf die-
ser Stadt. Die Luft ist, sobald man hinabfährt, völlig ver-
ändert; die scharfe Nordlunft ist verschwunden, und der laue
Südwind weht den entzückten Reisenden an. Endlich errei-
chen wir die prächtige Stadt
Z. Genua, die sich amphitheatralisch in einem halben Bo-
gen längs dem Meeresufer hinzieht. Mit Recht nennen die Ita-
liener sie 1a supevba, die Prächtige, weil sie sich durch die Pracht
*) S. meine Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg., LH. 3.,
S. 392; auch meine Geschichte der Deutschen, LH. 2., S. 536.
N ö sselt ö Geographie II. 3
34
Italien.
der marmornen Palläste vor allen auszeichnet. Sonst war ja die
Republik Genua, wie die von Venedig, die Beherrscherin dcS
Meeres, und schüttete die Reichthümer Asiens und Afrika's in
ihren Schooß. Von der Seescite ist ihr Anblick besonders präch-
tig. Ein Haus, ein Pallast, eine Straße erhebt sich da vor dem
Blick des Ankommenden über der andern, und über der Stadt
sind die Berge mit prächtigen Landhäusern wie besäet. Die Gaffen
wimmeln von Menschen zu jeder Stunde des Tags, und welches
Gedränge ist erst an der Börse von Menschen aus den verschieden-
sten Ländern, durch den Handel hierher geführt. Und doch ist
Genua jetzt nur ein Schatten des ehemaligen, und soll kaum
noch 80,000 Menschen zählen. Die Gaffen sind, bis auf einige
vorzüglich prachtvolle, so eng, daß ein schmaler Karren oder ein
beladener Esel die ganze Breite einnimmt. Daher sieht man hier
auch, außer in den Hauptstraßen, keine Wagen fahren; alles wird
hier getragen, oder auf Ochsenschlcifen fortgebracht, und der Gas-
sen und Gäßchen sind so viele, und sie laufen so krumm und ver-
wirrt durch einander, daß ein Fremder in einem Labyrinth zu
seyn glaubt. Die geringen Häuser pflegen vier, die ansehnliche-
ren 6 — 7 Stockwerke zu haben, so daß man kaum zu ihnen hin-
aufsehen kann. Die schönsten Straßen sind die Strada Balbi,
die Strada nuova und nuovissima, die wirklich jeden Fremden
in Verwunderung setzen, und wohl alles übertreffen, was man
von Pracht kennt. Der immer belebte Hafen ist durch zwei Mo-
lo's, d. i. Dämme, die weit ins Meer hineinreichen, wie von
zwei Armen, umfangen. Auf der Spitze jedes Molo steht ein
Leuchtthurm. In den Straßen ziehn die niedlich aufgeputzten
Kramladen die Aufmerksamkeit auf sich; da sind die reichsten
Stoffe, die kostbarsten Silber- und Goldarbeiten, so wie die
schmackhaftesten Früchte des Südens zierlich über einander geord-
net. Wir lassen, um die Stadt noch besser kennen zu lernen,
ferner einen Reisenden sprechen: ,,So wie in Rom der Fremde
gewöhnlich zuerst den wunderbaren Bau des St. Peter zu sehen
eilt, so besucht wohl jeder, der in Genua ankommt, alsbald die
Marmorstraße Balbi und ihre Fortsetzungen, Strada nuova
und nuovissima. Wahrlich die Pracht der Palläste Balbi,
Durazzo, Correga u. a., in welchen jene kraftvollen Republika-
ner wohnten, die, mit den Worten des Dichters zu reden, an
Genua's Wiege standen, ist fast unglaublich. Viele sind von der
Sohle bis zum hohen Scheitel von unschätzbarem Marmor aufge-
führt, und die breüe, königliche Gaffe prangt überall mit dem
köstlichsten Material; nur folgt sie leider der theatralischen Lage
Genuas, und zieht sich im Halbkreise an den Hügeln, auf denen
die Stadt liegt, umher. Man ist also nicht im Stande, ihre
unermeßliche Pracht mit einem Blicke aufzufassen, welches sonst
ein Schauspiel gewähren müßte, das die Erde nicht zum zweiten
DaS Königreich Sardinien.
35
Male böte. Die weiten Thore, die erhabenen Säulen, die ho-
ben Giebel und Zinnen, die fliegenden Treppen dieser unvergäng-
lichen Wohnsitze des Reichthums und der Freiheit sehen stolz her-
nieder, zögen selbst alle Kaiser und Könige Europa's durch ihre
Mitte."
„Die schöne Kirche dell' Annunziata liegt auch an
dieser unvergleichlichen Straße. Da sie gerade um eines Festes
willen weit geöffnet und prächtig ausgeschmückt, ihre hohen Säu-
len aber mit rothem Carmoisin überzogen waren, so konnte man
in der That diesen erhabenen Dom nicht ohne die größte Ver-
wunderung ansehen. Auch die übrigen Kirchen Genua's sind in
kraft- und würdevollem Style erbaut; alle Pracht des Mineral-
reichs ist vielleicht nur zu bunt an sie verschwendet; doch stehen
auch sie hierin noch dem gränzenlosen Reichthum der venetianischen
Gotteshäuser nach. Die übrige Bauart Genua'S ist eben so
fürchterlich eng und erstickend wie die venetianische. Mit Mühe
klimmt das Auge bis zu den Spitzen der hohen Gebäude empor,
und man befindet sich in der dumpfigen heißen Luft, die nach al-
len rohen und verarbeiteten Produkten der ganzen Welt riecht,
ziemlich unwohl, ja nur allein in Strada Balbi athmet man frei,
wie auf dem einzigen St. Marcus-Platz in Venedig."
„Herrlich ist die Aussicht von den Balconen der Wirthshäu-
ser am Hafen, dessen außerordentliche Regsamkeit uns jeden Au-
genblick mit neuen Scenen unterhielt, während freilich das im-
merwährende Pochen und Hämmern, Schreien und Klopfen uns
Tag und Nacht keine Ruhe gönnte; indeß der Anblick des endlo-
sen Meeres, des langgestreckten Küstensaumes nach Frankreich hin,
und der beiden vorragenden grünen Gebirgsspitzen, die mit den
Molo's den Hafen bilden, vom reinsten Glanze der Sonne er-
leuchtet, erfüllte unsre Seele mit steter Heiterkeit und Bewunde-
rung. Wir verließen aber nachher das so schön gelegene Wirths-
haus, und zogen in das HauS eines Bekannten auf die Höhe
hinter der Stadt, von wo aus der Anblick auf die Berge un-
aussprechlich schön, ja beinahe göttlich zu nennen war."
„Genua ist, wie wenige Städte Italiens, reich an Spa-
tziergängen. Auf der kühnen Brücke von Carignano, wel-
che über die Giebel und Schornsteine einer Straße hinweg zwei
Berge verbindet, und zugleich aufs Meer schaut, versammelt sich
Abends die Blüthe der genuesischen schönen Welt; noch weit schö-
ner aber sind die Lustparthien bei Acqua sola und besonders
auf dem hohen Walle. Hier sieht man Genua bis an den Saum
des Berges hinauf, und bis an den Rand des Meeres hinabstei-
gen, und weiterhin die blauen Wogen mit dem Blau des Him-
mels zusammenfließen. Sicherlich ist dies der schönste Spatzier-
gang in Europa mit Ausnahme der Villa reale bei Neapel. Wir
3»
36
Italien.
fanden hier gegen Abend immer eine zahllose Menge Lnstwand-
ler versammelt."
„Am Hafen liegt der Pallast des Andreas Doria*)
(-00) dem Meere so nahe, daß die Wogen desielben fast seine
Schwellen bespülen. Von hier aus stieg er mit dem Kaiser un-
mittelbar auf seine Galeere, und bewirthete den hohen Gast, nicht
mit republikanischer Einfachheit, sondern mit asiatischer Pracht
und Verschwendung, indem er, zu dem größten Erstaunen Karls,
alles nur einmal gebrauchte Silbergeschirr sogleich über Bord werr
fen ließ. Der Kaiser wußte aber nicht, daß der schlaue Doria
Netze unter der Galeere hatte ausspannen lasten, die alle Kleino-
dien auffingen."
In Genua werden noch heute, wie einst im Mittelalter, die
schönsten und dauerhaftesten Sammete gemacht. Sie prangen
in den herrlichsten Farben, besonders in Schwarz, Scharlachrot!)
und dunkelgrün, und übertreffen darin die, welche in Lyon in
Frankreich gemacht werden. Auch stehen die genueser schwarz-
seidenen Strümpfe und Bänder in Ansehen. Man macht
hier ferner schöne parfümirte Blumen und Handschuhe,
und mit allen diesen und andern Waaren wird ein ausgebreiteter
Handel getrieben.
II. Die Insel Sardinien. Daß sie von Corsica
durch die Meerenge von San Bo ni fac io (spr. Bonifatscho)
getrennt wird, ist schon oben gesagt worden. Sie ist sehr
bergig, und wird von Norden nach Süden von einem Ge-
birge durchzogen, das nur im Sommer von Schnee und Eis
frei wird. So mild auch die Luft, besonders an den Kü-
sten ist, so veränderlich ist sie doch. Oft ist cs drückend heiß,
und dann wieder, am meisten in der Nacht, so kalt, daß die
Leute sich in ihre Schafpelze hüllen und Kaminfeuer anzünden
müssen. Im Februar stehen die Bäume schon in der schön-
sten Blüthe, und den ganzen Sommer hindurch regnet es fast
gar nicht. Aber im August fangen die leichten Regenschauer
an, die schnell Stickluft entwickeln, und nun ist die Luft so
ungesund und giftig, daß die Einwohner sich nur mit großer
*) Andreas Doria war in der Mitte des 16ten Jahrhunderts
Doge von Genua, und zugleich der erste Seeheld seiner Zeit- Ec beglei-
tete den Kaiser Karl V., als dieser seine Fahrt gegen Algier unternahm,
und führte dabei die Flotte an. Er ist derselbe, der in Schillers Ver-
schwörung des Fiesko als Greis vorkommt.
Das Königreich Sardinien.
37
Vorsicht ihr auszusehen wagen. Zn der Nacht und in den
Abendstunden ist die Luft am giftigsten und textlichsten. Wah-
rend dieser Zeit geht man nicht eher auö dem Hause als eine
Stunde nach Sonnenaufgang/ und begicbt sich spätestens eine
Stunde vor Sonnenuntergang wieder nach Hause. Auch Mit-
tags geht man nicht ohne Noth aus, verschließt Thüren lind
Fenster sorgfältigst, und halt sich beim Ausgehen ein Tuch
vor den Mund. Fische und Feigen sind in dieser Zeit sehr
gefährlich. Erst im November verschwindet die Giftlust, wenn
starke Regengüsse die Luft gereinigt haben.
Die Insel ist sehr fruchtbar, und bringt Südfrüchte,
Oel, Wein in Menge hervor. Besonders sind die großen und
schönen Melonen berühmt. Aber die Menschen sind träge,
zum Theil durch Schuld der Negierung, die höchst kläglich ist.
Denn alle Ländereien gehören entweder dem Adel, oder der
Geistlichkeit, oder einer ganzen Gemeinde, so daß der einzelne
Landmann nie ein Stück Land besitzt. Der gemeine Mann
ist entsetzlich abergläubisch und unwissend. Alle Hülfe erwar-
ten sie von ihren Heiligen, zu denen sie, statt zu arbeiten,
fieißig beten, und hilft ihnen der Heilige nicht, wie sie wün-
schen, so sperren sie ihn wohl ein. Sie sind schön gewach-
sen, stark, voll Anlagen und liebreich gegen Fremde; aber zu-
gleich roh, rachsüchtig, unreinlich, und hängen an ihren alten
Gewohnheiten. Die Sclbstrache herrscht noch allgemein. Ist
Einer beleidigt worden, so ruht er nicht eher, bis er seinen
Gegner ermordet hat. Dann zieht er mit seinen Freunden
in die abgelegensten Gegenden des Gebirges; hier bauen sie
sich Burgen, und begehen Räubereien. So ist cs selbst unter
den ersten Familien. Kläglich sieht cs in der Hütte oder
Höhle des Landbewohners aus. In einem Raum leben da
zusammen die Familie, die Hühner, die Hunde und der Esel,
der in einem Winkel das Korn mahlen muß. Die Esel sind
hier nicht größer als ein großer Hund, und schlafen daher
unter der Bettstelle ihres Herrn. Um den Hccrd herum schla-
fen die Kinder auf Binsen und Strohmatten. Die Männer
sowohl als die Weiber reiten sehr gut. Sie kleiden sich in
Leder, gegerbtes sowohl als u»gegerbtes, oder in -Schaffelle,
und sehen daher Wilden nicht unähnlich. Ihre Sprache ist
38
3 ta lien.
ein Gemisch aus mehreren; daß alle katholisch sind, braucht
kaum erst gesagt zu werden. Von Unterricht ist hier nicht
viel die Ncdc. Lesen und schreiben können nur wenige; wer
cs vermag, wird für einen Gelehrten gehalten! Die Haupt-
stadt ist
Cagliari (spr. Kalliari). Sie liegt an der Südküste an
einem Hafen, und ist ziemlich groß. Merkwürdigkeiten findet man
hier nicht.
Sassari liegt im nördlichen Theile der Znsel, am Abhänge
eines Berges, in einer reizenden Gegend, von herrlichen Spatzier/
gangen umgeben. Sie mag ungefähr so groß als Cagliari seyn.
3. Das Herzogthum Parma.
Am Po ist der Boden flach; aber nach Süden hin er-
hebt sich das Land bis zu den Apenninen, die sich mit Ber-
gen und Hügeln über das Herzogthum hin lagern. Es ist ein
von der Natur sehr gesegnetes Land, das zwar im Winter
manchmal mir Schnee bedeckt wird, aber einen großen Reich-
thum an Obst, Oel und Seide hat. Alle Felder sind mit
Obstbäumen eingefaßt, und an diesen schlingen sich Weinreben
hinan, und bilden von Baum zu Baum schöne Gewinde.
Daß der berühmte Parmesankäse nicht aus Parma, sondern
aus der Umgegend von Lodi komme, ist schon oben gesagt
worden. Das Land gehört der ehemaligen Kaiserin von Frank-
reich, Wittwe Napoleons, Maria Luise, einer Tochter
des östreichischen Kaisers Franz. Die Haupt- und Residenz-
stadt ist
Parma. Sie ist groß, und hat schöne Straßen, Plätze
und Gebäude; sie liegt in einer weiten, sehr gut angebauten Ebene.
Das Residenzschloß, das in der ödesten Gegend der Stadt liegt,
hat nichts Merkwürdiges, als ein großes Theater, das 14,600
Menschen fassen kann, und also wohl das größte in Europa ist;
es kann wohl niemals voll werden, da die Stadt höchstens
40,000 Einwohner hat.
Piacenza liegt auch in einer großen, sehr fruchtbaren
Ebene nicht weit vom Ufer des Po, und hat ihren Namen von
ihrer angenehmen Lage (von xiacere gefallen). Sie ist eine
starke Festung. So schon auch die Stadt gebaut ist, so ist sie
doch sehr menschenleer. Die Straßen sind breit und gerade, und
DaS Herzogthum Modena.
39
der Kirchen und Klöster so viele, daß sie besonders von außen
ein herrliches Ansehen hat.
4. Das Herzogthum Modena (-uu)
liegt von Parma östlich, ein höchst angenehmes, wohlangc-
bautcs Land. Man glaubt, in einem Garten zu fahren. Nur
im Süden ist cs durch die Apenninen gebirgig. Reisende ver-
gleichen das Modencsische mit dem Deffauifchcn, dessen Freund-
lichkeit wir bei Deutschland gepriesen haben; nur daß ersteres
hügelig, dieses aber ganz stach ist. Das Land gehört einem
Herzoge, der aus dem östreichischen Hause ist. Die Haupt-
stadt und Residenz
Modena ist, etwa Turin abgerechnet, die freundlichste und
reinlichste Stadt Italiens. .Die Straßen sind breit und gerade,
die Platze ansehnlich, mit herrlichen Gebäuden besetzt, unter denen
sich geräumige Hallen besinden, auf den Plätzen Springbrunnen.
Besonders schön ist das, aus einem großen Platze liegende, ge-
schmachvoll gebaute Schloß, dessen weiter Hof mit einer prachtvol-
len Colonnade umgeben ist. Alles zeugt hier von Wohlstand, Be-
triebsamkeit und Feinheit der Sitten. Nur eins fällt dabei un-
angenehm auf; die Menge von schmutzigen Bettlern, so wie
denn überhaupt die Bettelei in Italien zu Hause ist. Die Bett-
ler halten hier alle Stellen, wo die Reisenden anhalten oder lang.'
sam fahren müssen, besetzt, und bestürmen sie mit einer gränzen/
losen Unverschämtheit. Den ersten Angriff machen die Kinder
von 3 —12 Jahren, braune, magere Gestalten, bloß mit eini-
gen Lumpen bekleidet, von denen zwei Dutzend erst ein zerrissenes
Hemde ausmachen würden. Dann stürzen die erwachsenen Bett-
ler in geschlossenen Haufen lärmend und schreiend herbei. Reisen
wir ins Gebirge, so kommen wir nach dem berüchtigten Schlosse
Canossa, in welchem der unglückliche Kaiser Heinrich IV.
1077 vor Papst Gregor VII. drei Tage lang die schmähliche Buße
thun mußte *). Ferner liegen in demselben Gebirge die Marmor-
brüche von
Carrara. ,,Bald zeigten sich uns," sagt ein Reisender,
„die wundervollen Marmorgebirge von Massa und Carrara. In
hohen, senkrechten Wänden steigt das köstliche Material empor,
und man sollte diese unschätzbaren, lichten Höhen beinahe für na-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 2., S.70; auch meine Gcsch. der Deutschen für Töchtersch., Th. 1
S. 466.
40
Italien.
türliche Dome und Palläste halten. Ganz Carrara ist voll Bild-
hauer und Steinmetzer, die sowohl große Bildwerke, als auch be-
sonders eine Unzahl kleiner Heiligenbilder aus diesem vortrefflichen
Material bereiten; auch findet man in Liesen Gegenden selten ein
Haus, das nicht aus dem edlen Stein erbaut und mit kleinen Ma-
donnen und Heiligen aus dem schönsten Marmor verziert wäre.
Das ganze Land ist voll Berg und Thal, voll Marmor und Ocl,
überhaupt das prachtvollste und anmurhigste Lustrevier, das man
sich nur denken kann."
5. Das Herzogthum iucca.
Dieses ist eins der schönsten Ländchcn Italiens und selbst
Europa's, ein wahrer Olivengartcn. Der Boden ist mit den
herrlichsten Wiesen bedeckt, auf denen man Reihen von Oli-
venbaumcn sieht, an denen sich Weinreben hinanschlingen, und
alle Berggclände sind mit Wcinstöcken bepflanzt. Hier wächst
das schönste Oel in ganz Italien; cs sicht aus wie heller
Wein, und ist ohne Geruch und Geschmack, blos; reine Fet-
tigkeit. Das Land gehört einem Sprößling des spanischen
Königshauses, der es aber nur so lange besitzt, bis die Her-
zogin von Parma stirbt; dann bekommt er dies Land, und
Lucca fallt an Toscana. So gehen oft die Länder und Völker
aus einer Hand in die andere. Die Hauptstadt und Resi-
denz ist
Lucca, schon gebaut, groß, in einer herrlichen, trefflich
angebauten Gegend, mit Landhäusern wie umsäet, und mit Wäl-
len umgeben, die mit einer vierfachen Baumreihe bepflanzt sind,
und einen anmuthigcn Spatzicrgang gewähren. Die Straßen sind
zwar zum Theil eng und krumm, aber die Gebäude schön, und
das Pflaster ist ungemein reinlich und besteht aus schönen Qua-
dern. Besonders fällt hier die Thätigkeit der Einwohner auf,
die hier vorzüglich gewerbfleißig sind; daher hat auch die Stadt
den Beinamen industriosa, d. i. die Fleißige. In allen Straßen
sieht man die Leute Körbe mit Seiden - Cocons auf den Köpfen
tragen, und überall hört man das Klappern der Oelmühlen oder
das Geräusch der Seidenwirker.
Das Großherzogthum Toscana. 41
6. Das Großherzogthum Toscana.
Das Apcnnl'ncngcbl'rge durchzieht das Land im Norden
und Osten, und breitet seine Zweige über das ganze Land
aus; daher ist der Boden durchaus wellenförmig, ein bestän-
diger Wechsel fruchtbarer, gut angebauter, lieblicher Berge,
Hügel und Thäler. Auf den Spitzen der höchsten Berge
übersieht man das weite, herrliche Land mit seinen blühenden
Städten und Fluren, und auf der einen Seite schweift der
Blick bis nach dem adriatischen, auf der andern bis zum mit-
telländischen Meere. Bis auf die weiten Moräste, die Mei-
remmen, ist das Land sehr fruchtbar; diese Maremmcn sind
aber sehr grasreich, und dienen Tausenden von Büffeln zur
Weide; selbst Kamcele werden hier in Menge gezogen. Daß
der Arno das Land durchstießt, ist schon gesagt worden.
Das Land gehört einem Prinzen aus dem Hause Oestreich.
Die Hauptstadt ist
Florenz (-u), mit dem Beinamen: die schöne; mit
Recht, weil ffe wirklich zu den schönsten und prachtvollsten
Städten gehört. Sie liegt in einem weiten und fruchtbaren
Thäte zwischen zwei hohen Ketten der Apenninen. Nahe um-
her sind lauter lachende Hügel, die mit Maulbeerbäumen, Pap-
peln, Eichen und Oelbäumen prangen. Ueberall blicken schöne
Landhäuser aus dem Schatten hoher Cypresien hervor. Sie wird
vom Arno durchflossen, von dessen 4 Brücken zwei mit Häusern
bebaut sind. Welchen prächtigen Anblick sie schon von außen ge-
währt, zeigen ihre 172 Kirchen, die sich mit ihren Thürmen über
die Häusermasse erheben, eine bedeutende Zahl für eine Stadt
von 80,000 Einwohnern. Die Straßen sind mit Quadern ge-
pflastert, zum Theil breit und lang, die eine, der Corso, sogar
eine Stunde lang; hier werden jährlich dreinial Pferderennen ge-
halten. Die Plätze sind groß, regelmäßig, sehr reinlich, mit
Bildsäulen und Springbrunnen verziert. Unter den vielen Pal-
lästcn zeichnet sich der Pall äst Pitti am meisten aus. Hier
wohnt der Großherzog. Er steht auf einem weiten Platze. Hin-
ter ihm ist der reizende Garten Boboli. Der Pallast hängt
vermittelst eines 600 Schritte langen bedeckten Ganges mit einem
andern Pallaste, dem Palazzo vecchio (spr. wekkio) zusam-
men, wo eine Menge merkwürdiger Gegenstände zu finden sind.
Dem Pallast Pitti gegenüber liegt die großherzogliche Galle-
ric. Sie ist in Form eines Galgens gebaut. In den weiten
Hallen im Erdgeschoß feiert der Adel das Carneval in Masken-
anzügen; in den oberen Sälen aber befinden sich die herrlichen
42
Italien.
Gemälde Antiken - und andere Sammlungen, wo sich auch die
berühmte mediceische Venus befindet. Unter den Kirchen besuchen
wir zuerst die prachtvolle Domkirche, ein ungeheures Gebäude,
ganz mit Marmor ausgelegt, voll der herrlichsten Gemälde und
Bildsäulen. Weit kleiner, aber viel geschmackvoller ist die eliie-
sa di San Giovanni oder il Battesterio, weil hier alle
Kinder der Stadt getauft werden, ein achteckiges Gebäude, desicn
Kuppel von 46 majestätischen Säulen getragen wird. Durch die
Kuppel fällt das Licht ein, und verbreitet einen feierlichen Glanz
über das ganze Gebäude. Nicht weniger merkwürdig ist die Kir-
che di San Lorenzo. Die eine Kapelle derselben, de’ depositi
genannt, enthält die Grabmäler mehrerer Großherzoge aus dem
Hause der Medicis. Ein unbeschreibliche Pracht ist auf diese
Marmordenkmäler gewendet, die mit Mosaik-Arbeit verziert sind.
Hören wir nun einen Reisenden, um eine noch anschaulichere
Vorstellung von dieser schönen Stadt zu erhalten:
„Man braucht nicht lange in Nom und Florenz zu verwei-
len, um den ungeheuren Unterschied des Charakters beider Städte
recht zu fasten. Florenz nähert sich schon sehr deutscher Städte-
art; seine Gasten sind lichtvoll und reinlich, seine Häuser freund-
lich und nett. Zierlichkeit und Ordnung sind in Florenz nirgends
zu verkennen. Hier lärmt und klappert keine Heerde blinder und
lahmer Bettler, wie an den Canälen Venedigs und in den Stra-
ßen Bologna's; hier belästigt uns kein Unflath, Schmutz und
wohl gar Räuberei, wie in Rom und dessen Umgebungen; alles
athmet den Geist der Anmuth, Fülle und überhaupt einer besseren
Verfassung, während in den übrigen italienischen Städten alles
aus einander zu fallen scheint, und jeder thut, was ihm beliebt,
bis einmal die plumpe Hand nichtswürdiger Sbirren durchgreift."
„Die Frauen scheinen in Florenz, mit Ausnahme der Rö-
merinnen, wohl die schönsten von ganz Italien zu seyn. In den
Hallen der Ufftzi (dies sind weite und lange Hallen in dem Erd-
geschoß der großherzoglichen Gallerie, wo Kaufmannsbuden stehen,
und immer ein großer Verkehr ist) sahen wir alle Tage eine zahl-
reiche Menge artiger Damen auf- und niederwallen. Der Dom
und der ihm zur Seite stehende Glockenthurm sind vielleicht zu
bunt, aber mit den köstlichsten Marmorarten von Grund aus bis
an die Zinnen auf eine eigenthümliche Weise bekleidet, so daß der
Eindruck dieser Gebäude wenigstens für den ersten Anblick außer-
ordentlich hinreißend und mächtig ist; daß er aber auch dauernd
wirken könne, scheint klar zu seyn, weil Dante *) auf einer stei-
*) Dante Alighieri, der berühmteste Dichter Italiens, lebte im
13ten Jahrhundert. Er wurde in Florenz geboren, gehörte zu den er-
sten Männern der damaligen Republik Florenz, und wurde, weil seine
Parthei der ihr feindlichen unterlag, aus seinem Vatcrlande vertrieben.
DaS Großherzogthum Toscana.
43
nernen Bank, dem Dome gegenüber, welche deshalb noch heute
il Sasso del Dante, d. i. der Sitz des Dante, genannt wird,
sitzend seinen Riesengeist an diesem erhabenen Prachtwerke fort-
während weidete. Aber alle architektonische Pracht in Florenz
verschwindet gegen die Marmorflachen, Verzierungen und Stein-
malereien der über 180 Fuß hohen Begräbnißeapelle der Mediceer
in San Lorenzo, deren dritten oder vierten noch unvollendeten
Theil in gleichem Style zu erbauen, jetzt kein gekröntes Haupt
mehr Geld und Muth genug hat. Lasur und alle antiken und
modernen Edelsteine sind hier so leichtsinnig verschwendet, als ob
sie gemeine Kiesel waren, und man tritt die blinkende Pracht des
ganzen Mineralreichs mit Füßen. Die Kapelle selbst steht gänzlich
leer, aber unterhalb derselben sieht man in einem dunkeln Gewölbe
nicht ohne Staunen die Särge mit den Leichen der hochgesinnten
Mediceer aufgehäuft."
„Die unermeßlichen Schatze der großherzoglichen Gallerie an
Bildsäulen und Gemälden sind bekannt genug. Zwei parallele
Corridore, jeder von 200 Schritte Länge, sind durch einen dritten,
60 Schritte langen verbunden, und ganz voll höchst seltener, vor-
trefflicher Gemälde der altflorentinischen Meister. An den beiden
großen, ganz offenen, und deshalb jedermann zugänglichen Cor-
ridoren entlang liegen die verschloffenen kleineren Säle, in welchen
das eigenthümliche Leben der florentinischen Kunst wohnt. Die
Büsten der alten römischen Kaiser und Kaiserinnen sind hier bei
weitem das Intereffanteste. Einer dieser verschloffenen Säle wird
von der herrlichen Gruppe der Niobe angefüllt, die vor unsern
Augen gleichsam ein lebhaftes Drama aufführt. Entsetzen, To-
desangst und Trotz umringt uns mit einem Male von allen Sei-
ten; alles ist in der heftigsten Bewegung, und reißt unsere Seele
mit sich fort. Die Niobe selbst, nach den Pfeilen des Gottes,
die ihre Kinder um sie her tödten, aufblickend, ist offenbar ein
wahres Musterbild; mit unglaublicher Lebendigkeit und rührendem
Vertrauen rettet sich das jüngste Kind in ihren Schooß; der kühne
Knabe, welcher, obwohl schon ins Knie gesunken, mit heldenmü-
thigem Trotz zu seinem Mörder emporschaut, ist voll Ausdruck.
Er hielt sich bis an seinen, nach einem sehr unruhigen Leben in Ravenna
erfolgten Tod bald hier bald dort auf, und liegt in Ravenna, das stolz
darauf ist, begraben. Das Gedicht, das ihm so großen Ruhm verschafft
hat, ist die divina commedia. Es besteht aus drei Haupttheilcn: der
Hölle, dem Fegefeuer und dem Himmel. Er nennt es darum eine Komö-
die, weil der Ton vom Schauerlichen zum Ernsten, und vom Ernsten
zum Heiteren übergeht. Es ist ein Heldengedicht wie kcins vor und nach
ihm, voll ungewöhnlicher Kraft des Ausdrucks, und von einer glühen-
den Phantasie erzeugt. Er erzählt, wie er an der Hand des römischen
Dichters Virgil in den Regionen jenseit des Grabes herumgeführt werde,
und den Zustand der Verstorbenen betrachte.
44
Italien.
Die Tochter der Niobe, voll zitternder Angst, sind Urbilder weib-
licher Schönheit *).u Auch die Schätze der Malerkunst in Flo-
renz sind unschätzbar. Nur ein Gemälde wollen wir nennen, die
berühmte Madonna della Sedia, die so oft abgemalt und
in Kupfer gestochen ist; sie befindet sich im Pallaste Pitti.
„Von der Terrasse des prächtigen Gartens Boboli gesehen,
liegt das schöne Florenz mitten in einem fruchtbaren Oelwalde auf
einer schwellenden Ebene, die mit unzähligen schönen Landhäusern,
gleich einem gestirnten Himmel, übersäet ist. Die Florentiner
haben den schönsten Spatziergang in ganz Italien, der nach den
sogenannten Cascini (spr. Kaschini) oder Meierhöfen führt.
Auf sammtnem Nasen zieht sich eine Allee hoher, dunkler Bäume
wohl eine Stunde lang, umgeben von blumenreichen Auen und
lustigen Wäldchen nach diesen Milchhöfen fort. Auf einer liebli-
chen, ringsum eingehegten Matte versammelt sich voll Fröhlichkeit
Jung und Alt, Vornehme und Geringe; Wohlgerüche Luftiger
Blumen wehen uns entgegen, und La die Florentinerinnen, ganz ,
gegen die Sitte ihrer übrigen Landsmänninnen, denen alle Par-
fums unausstehlich sind, Blumenduft und Wohlgeruch lieben, so
muß man hier alle Poren weit aufthun, um die Ströme des
Jasmin und andrer gewürzreicher Pflanzen einzuschlürfen. DaS
anmuthige Grün der Erde und die Rofenhelle des blauen Him-
mels sind hier ganz geeignet, die Seele mit süßer Wehmuth zu
erfüllen. Noch später, wenn der Purpur der Abendsonne die
stillen Fkuthen des Arno röthet, der gerade dem Niedergang ent-
gegen strömt, und der Mond seinen lieblichen Schimmer über die
schöne Stadt ausgießt, wandelt die junge florentinische Welt auf
der breiten Brücke Santa Trinita auf und nieder." Von
Florenz reisen wir gerade nördlich, und kommen nach dem Dorfe
Pietra mala **), wo wir eine seltene Naturerscheinung
beobachten. Eine halbe Stunde nämlich vom Dorfe ist in einem
von Bergwassern sehr zerrissenen Thale ein kleiner Fleck, etwa 8
Schritte lang und 4-— 1 Schritt breit, also von der Größe eines
langen Schultisches, wo beständig Flammen aus dem lehmigen,
sehr aufgelockerten Boden in die Höhe flackern, etwa 1 —14- El-
len hoch. Streicht man mit dem Fuße über die Oeffnungen hin,
aus denen die Flamme auffährt, so kommt sie aus andern klei-
nen Löchern in der Nähe hervor. Daß die Ursache dieser sonder-
baren Erscheinung kein unterirdisches, vulkanisches Feuer sey, son-
dern in der Menge des in der Erde, befindlichen Erdpechcs liege,
ist wohl gewiß; aber woher die Entzündung komme, — das ge-
*) S. meine Mythologie für höhere Töchterschulen, S. 191.
**) Da cs auf den gewöhnlichen Karten nicht stehen wird, so merke
man sich, daß es auf der Straße von Bologna nach Florenz, auf der
größten Höhe der Apenninen, gleich südlich von der Gränze liegt.
Das Großbcrzogthum Toscana.
45
Hort ;u den Dingen in der Natur, deren Ursache noch nicht zu
erklären ist. Selbst wenn es regnet oder schneiet, fahren die Flam/
men auf, und dann gerade am stärksten. Wenn wir nun nach
Florenz zurückreisen, und den Fluß Arno hinuntergehen, so kom-
men wir nach
Pisa, im Mittelalter, wie einst Venedig und Genua, eine
der reichsten und mächtigsten Beherrscherinnen der See, so lange
sic eine Republik war, jetzt gegen damals bedeutend zusammenge-
schmolzen, aber noch immer eine ansehnliche Stadt. Sie liegt,
wie Florenz, zu beiden Seiten deS Arno, die durch drei schöne
Brücken mit einander verbunden werden, von denen die mittlere
ganz aus weißem Marmor besteht. Nach Florenz zu erhebt sich
der Boden unmcrklich gegen die Apenninen, und nach dem Meere
zu senkt er sich immer sumpfiger hinab. Daher ist die Luft hier
im Sommer ungesund, aber im Winter so mild, daß sich viele
Fremde deshalb hier aufhalten. Pisa ist zwar nicht eine der größten,
aber gewiß der prachtvollsten italienischen Städte, reich an herrli-
chen Pallasten von weißem oder röthlichem Marmor. Der Arno
ist mit breiten Quai's eingefaßt, welche die schönsten in Europa
seyn sollen, und der Domplatz ist fast ohne Gleichen. Die Stra-
ßen sind gegen die italienische Gewohnheit meist breit, ansehnlich,
und unvergleichlich gepflastert. Vor allem zieht der herrliche alter-
thümliche Dom unsere Augen auf sich; er ist bald nach dem
Jahre 1000 zu bauen angefangen, und von weißröthlichem Mar-
mor aufgeführt; majestätisch steigen große Kuppeln aus ihm her/
vor, und inwendig prangt er von köstlichen Gemälden und Mar/
morverzierungen. In ihm war es, wo der berühmte Galilei
(1642 in hohem Alter gestorben), der die Ferngläser erfand, und
die wichtigsten Entdeckungen im Reiche der Physik und Astrono-
mie machte, schon als Jüngling auf die Entdeckung der Gesetze
deS Pendels kam, indem er bemerkte, wie eine von der Decke
an einem Seile herabhängende Lampe, die zufällig in Bewegung
gesetzt war, sich regelmäßig hin und her bewegte. Der große
Mann, der in Pisa geboren war, und nachher eine Zeitlang als
Professor der Mathematik da lebte, war eine vorzügliche Zierde
der hier noch blühenden Universität*). Neben dem Dom
steht ein Battisterio (Taufkirche), eben so, wie die in Florenz,
eine Notonde, in welche von oben durch die Kuppel das Licht ein-
fällt. Auf der andern Seite des Doms ist der berühmte schiefe
Thurm, ein merkwürdiges Gebäude. Er besteht aus zwei
Mauern, einer innern und einer äußern, zwischen denen die Mar/
mortreppe bequem hinaufführt, auch ein Werk des Mittelalters,
im 12ten Jahrhundert errichtet. Rings herum umgeben ihn Granit/
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Gymnasien und Bürger-
schulen, Th. 2., S. 304, wo mehr über ihn gesagt worden ist.
46
Italien.
und Marmorsäulen, sechs Reihen über einander. Das Sonder-
barste ist seine schiefe Lage; er hängt so sehr auf die eine Seite
herüber, daß ein Stein, den man von oben herabfallen läßt, 15
Fuß weit von seinem Fuße zu Boden fällt; so sehr hat sich der
Thurm nach und nach gesenkt, und doch steht er fest, und wird
wohl noch lange so stehen. Oben hat man eine entzückende Aus-
sicht. „Hier dehnen sich die Apenninen aus, dort erscheinen die
wcitläuftigcn Gebäude der berühmten warmen Bäder unter den
Bergen von Lucca; weiterhin die Marmorfelsen von Carrara,
und die hohen beschneiten Gipfel des genuesischen Gebiets. Den
Hintergrund machen die Thürme von Livorno und das weite Meer,
aus dem die bergigen Inseln Gorgona und Elba schroff emporstei-
gen. Bei heiterem Wetter soll man sogar die Berge von Sardi-
nien und Corsiea entdecken." In der Nähe dieses Thurmes ist
das Campo santo. So heißt ein großes längliches Viereck,
wo sonst die Todten beerdigt wurden. Es enthält noch viele
schöne Denkmäler; besonders merkwürdig sind aber die Frcscoge-
mälde, die sich unter den Hallen befinden, die den Play umge-
ben. Schade, daß die Stadt im Verhältniß zu ihrer Größe, so
schlecht bevölkert ist, daß in den meisten Straßen Gras wächst.
In einiger Entfernung von der Stadt sind die berühmten warmen
Bäder von Pisa, die aber nicht mehr so mineralisch sind als
sonst. Ein Reisender erzählt folgenden Vorfall, der ganz geeignet
ist, den Volkscharaktcr der Italiener zu bezeichnen, und den gro-
ßen Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Pö-
bel bemerkbar zu machen. „Eines Nachmittags strömte fastvdie
ganze pisanische Welt in hellen Haufen über die Arnobrücke zstm
westlichen Thore hinaus, um ein Wettrennen kleiner Barken, das
auf dem Flusse gehalten werden sollte, mit anzusehn. An der
Brücke stand der Gefängnißthurm; hinter dem Gitter desselben
erschien ein Soldat, den man wegen seiner Neigung für Napo-
leon eingesperrt hatte. Singend und im Recitativ improvisirend,
rief er die Vorübergehenden an, daß sie, die der Freiheit und
Fröhlichkeit des schönen Tages genössen, ihm, dem traurigen Ge-
fangenen, ein kleines Almosen nicht versagen möchten. Die Ver-
se, in welchen er seine Bitte absang, waren beredt, und wir
hörten ihm eine Weile mit Theilnahme zu. Als wir aber nach
einigen Stunden wieder zurückkehrten, war der Auftritt sehr un-
terhaltend geworden. Aus dem Geländer der Brücke saß ein ganz
gemeiner Kerl, mit ziemlich lumpiger Drappcrie angethan, mit
dem gefangenen Soldaten im lebhaftesten Wechsclgesang begriffen,
und umgeben von einem Haufen Volks, das vielem Dichterwctt-
streit mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte, und wahr-
scheinlich aus reinem Kunstintercsse — denn neu war für die Pi-
saner dies Schauspiel nicht — kein Wort fallen ließ. Mit sanf-
ter, gedämpfter Stimme beklagte der Gefangene in rührenden
Das Großherzogthum Toscana.
47
Worten sein Schicksal, daß ihm nicht vergönnt sey, wonach er
sich einzig sehne, als tapferer Soldat in der Schlacht zu sterben.
,,Ach!" rief er aus, „voll Trauer und Schmerz ist meine Brust!
Meine Hände sind von starken Banden gefesselt!// Dagegen trö-
stete ihn der Sänger auf dem Brückengeländer: „Sey getrost,
lieber Bruder! Bedenke, wie viele edle Helden schon Banden tru-
gen, und du besitzest noch überdies die göttliche Gabe der Dich/
tung, die dein Herz mit Freiheit und Wonne erfüllen muß; du
scheinst mir ein einsamer Petrarca und Torquato zu seyn." Lau/
ter Beifall tönte von allen Seiten; aber besonders auf uns, die
wir eine ähnliche Scene noch nicht erlebt hatten, fiel die ganze
Gewalt dieser aus dem Herzen quellenden Worte. Die beiden
Sänger geriethen, durch den Beifall aufgemuntert, ins größte
Feuer, und, ohne daß sie nur einen Augenblick gestockt hätten,
schufen sie ihre Verse, die fast nie ohne Rundung und hin und
wieder nicht ohne dichterisches Verdienst waren, mit bewunderns,
würdiger Kraft der Phantasie. Der Soldat besonders träumte
nur von Schlachten und Siegen, erhob die Tapferkeit des Aga-
memnon und Achill, dagegen der Dichter auf der Mauer die Weis-
heit des Lykurg, Minos und Homer erhob, und beide mischten
hernach den bunten Vorrath ihrer Ideen auf das sonderbarste und
crstaunenswürdigste durch einander. Da indeß der Soldat eine
nicht recht dichterische Strophe gesungen hatte, strafte ihn der
Andere, und sagte: „wenn dein Reim nicht beredter ist, so schwei-
ge; unmittelbar voll Kunst aus begeistertem Herzen zu singen, das
ist Kraft, das ist Tugend." Hierauf erscholl wieder über diese,
recht innig vom Volke gefühlte Wahrheit lauter Beifall. Wäh-
rend der Zeit nahm ein altes Weib dem Sänger den Hut vom
Kopfe, ohne daß sich dieser, da er eben voll Begeisterung sang,
nur umgesehen hätte, ging auf der Brücke herum, und bat:
„Gebt, ihr Herren, etwas für den armen Poeten; er hat keinen
Mund voll Brot!" Der Sänger, mit ausgestreckten Armen auf-
feurigste zum Gefangenen hinauf redend, bemerkte wirklich kaum
das Geschenkte, ein Beweis, wie sehr seine Seele hingerissen war,
da sonst ein Italiener nicht leicht einen Pfennig übersieht. An-
dere sammelten für den gefangenen Soldaten. Als das Avemaria-
geläute ertönte, verlangte der Gefangenwärter, beide sollten en-
digen; das Volk aber, dem dieser Kampf unendlich gefiel, gab
eS nicht zu. Die Dichter setzten ihn deshalb noch lange fort,
und, nachdem wir noch ein paar Stunden zugehört hatten, ver-
ließen wir sie im Dunkel der Nacht, von Zuschauern reichlich
umgeben, immer im Recitativ singend." Eine herrliche Kunst-
straße führt uns wie im Fluge in einigen Stunden nach
Livorno, südlich von Pisa. Eine große, sehr reinlich ge-
baute Stadt, mit meist Z — 7stockigen Häusern, und einem so
schönen Straßenpflaster, daß man auf getäfeltem Boden zu gehen
48
Italien.
glaubt. Welch ein Gewimmel ist hier von Menschen aus den ver,
schicdensten Nationen, die durch Len großen Handel herbeigeführt
werden! Denn Livorno hat einen Freihafen*), und cs werden
hierher sowohl die Erzeugnisse deS Ostens als WcstenS gebracht,
um hier gegen einander ausgetauscht zu werden. Bald hört man
hier französisch, bald deutsch, bald englisch, bald griechisch, am
meisten aber italienisch reden. Am ^schönsten nimmt sich die Stadt
aus, wenn man zu Schiffe ankommt. „Die Anker waren gefal-
len,^ erzählt ein Reisender; „ich stieg auf den Mastkorb, um
mich umzusehen. Meer und Land — alles lag nun im Sonncut
lichte da. Am fernen Horizonte die hohen Küsten von Corsica,
naher die waldbewachsenen Berge der Insel Elba. Vor uns der
große prächtige Fanal (Leuchthurm) von Livorno selbst, hoch
und kühn auf der Spitze des langen Molo erbaut, der durch un,
geheure Granitmassen den Hasen vor den anprallenden Wellen
schützt; dann der Hafen selbst mit seinem Mastenwalde, durch un,
zählige Boote belebt;.dann die Stadt mit lustigen, grünenden
Vorstädten und einer lachenden Ebene bekränzt; endlich rm Hin-
tergründe die Apenninen in blaulichtem Gebirgsdufte." Der herr-
liche Leuchtthurm, von dem man eine weite und köstliche Aus,
sicht hat, ist oben durch 30 große Lampen erleuchtet, die in einer
ungeheuren gläsernen Haube hängen. Ehe ein Schiff die Waa,
ren ausladen, und die Angekommenen frei an das Land gehen
dürfen, müssen sie Ä.u a r a n t a i n e halten. Da dieser Anstalt
hier zum ersten Male erwähnt wird, so müssen wir sie ein für
alle Mal erklären. Es ist leicht möglich, daß nach einem solchen
Hafen Schiffe aus einer Gegend kommen, wo die Pest ist, und
dann durch die Ballen sowohl als durch die Mannschaft die Krank-
heit verbreitet werde. Darum erscheinen, sobald ein Schiff die
Anker ausgeworfen hat, Gesundheitsbcamte auf demselben, und
erkundigen sich, woher das Schiff komme, und ob Kranke am
Bord seyen? Zst da6 letztere nicht der Fall, und kommt das
Schiff aus einem ungefährlichen Hafen; so wird den Angekomme,
uen die Pratiea bewilligt, d. i. sie dürfen frei ans Land gehen,
und die Ballen können ausgeladen werden. Ist aber eins von
beiden nicht, wie cs seyn sollte, so muß das Schiff gewöbnlich
40 Tage Quarantaine halten (daher auch der Name). Dann
erhält das Schiff auch eine Wache, die streng darauf sieht, daß
keiner das Schiff verläßt, oder vom Lande aus cs besuche. Doch
steht cs der Mannschaft auch frei, während der Zeit in den gro-
ßen, an: Ufer stehenden, zur Beobachtung derselben bestimmten
*) Wenn ein Schiff in einem Hafen anlegen will, so macht das eine
Menge Unkosten, in manchen Häsen über 100 Rthlr. Zn den sogenann-
ten Freihafen aber wird nichts entrichtet; daher ist auch in ihnen ein
größerer Zufluß von Schiffen.
x
Das Großhcrzogthum Toscana.
49
HoSpitälern zu wohnen. Wird in dieser Zeit einer der Mann»
schaft pestkrank, so werden alle Waaren verbrannt, und die Qua-
rantaine wird nicht eher aufgehoben, bis alle Gefahr der Anste-
ckung verschwunden ist. So lästig nun auch der Aufenthalt für
jedes Schiff ist, so ist doch die größte Vorsicht durchaus nöthig,
da jede Ansteckung die traurigsten Folgen für die ganze Stadt ha-
ben kann. Gewöhnlich sind dergleichen Anstalten, die man auch
Co nr um az-Anstalten nennt, nur in den Seehäfen; doch sin/
det man sie auch in solchen Gränzstädten, nach welchen Reisende
aus dem Morgenlande anzukommen pflegen, z. B. in den östrsi-
chischen, an der türkischen Gränze gelegenen Städten."
„Livorno ist recht auf und in einander gebaut, ohne jedoch
winklig und häßlich zu seyn. Die frischen, fensterreichen Häuser
nehmen sich trotz ihrer Höhe sehr freundlich aus. " Fast alles,
was Ober- und Mittelitalien von fremden Erzeugniffen gebraucht,
bezieht es über Livorno. Dagegen werden die Weine, das Oel,
die Seide, der Marmor, den Ztalien erzeugt, fast ausschließend
von Livorno aus verführt. Recht merkwürdig ist das hiesige große
Oelmagazin anzusehen. Es ist ein großes Gebäude, in dem
sich eine Menge von ungeheuern Trögen aus Schiefer befinden.
Zeder Trog kann verschlossen werden, und hat eine Nummer und
Aufschrift. Die großen Oelhändler miethen davon so viel, als
sie nöthig haben. Da weder Luft noch Sonne auf das Oel wir-
ken kaun, so hält cs sich Zahre lang rein und frisch. Man fin-
det hier alle Sorten, vom gröbsten bis zum feinsten. Auch wird
in Livorno viel Rosenöl verfertigt. Das ächte kommt bekanntlich
aus dem Morgenlande und ist so theuer, daß man ein Fläsch-
chen mit 3 Tropfen mit einem Ducaten bezahlt; denn zu 2 Loth
Rosenöl gebraucht man 1000 Pfund Rosenblätter. Aber in Livorno
macht man dergleichen auch; nur ist es nicht so concentrirt, und
also auch nicht ganz so theuer.
Den dritten oder vierten Theil der Einwohner machen die
Juden aus, die zum Theil großen Reichthum besitzen, und de-
ren Frauen und Töchter an Festtagen mit Diamanten wie über-
säet erscheinen. Sehr bedeutend sind hier die jüdischen Buchdru-
ckcreien. Eine ungeheure Menge von jüdischen Gebetbü-
chern und Bibeln wird hier gedruckt, sowohl für europäische als
für morgenländische Juden, und damit ein großer Handel getrie-
ben. Ferner ist hier eine große Korallenfabrik. Die Koral-
len werden aus Sicilien dahingebracht, aus der Stadt Trapani,
wo sie gefischt werden. Zn Livorno werden sie polirt, geschnit-
ten und zu allerhand verarbeitet. — Wenn wir von Florenz nach
Rom reisen wollen, so führt uns die Straße über
Siena, eine ziemlich große Stadt. Sie liegt auf einer
ansehnlichen Höhe, und überschaut daher das umliegende Land.
So viele schöne und hohe Häuser sie auch hat, so sind doch die
Nösselts Geographie II. 4
50
Italien.
Straßen eng und finster, und das Pflaster besteht nur aus Back-
steinen. Sonderbar ist hier, daß man dem Markte ganz die Ge-
stalt einer Muschel gegeben hat, und zwar ist nicht nur seine
Einfassung so gestaltet, sondern selbst in der Mitte ist er wie eine
Muschel vertieft. Das schönste Gebäude ist der herrliche Dom,
ein großes, altes, gothisches Gebäude, von Marmor aufgeführt.
Auswendig ist er mit weißem und schwarzem Marmor abwechselnd
übcrkleidet, was einen sonderbaren Anblick gewährt. Der ganze
Fußboden besteht aus Mosaik. — Ehe wir nach Rom reisen,
besuchen wir die bei Toscana liegenden Inseln. Wir begeben unS
demnach zunächst nach der kleinen Stadt und Festung
Pi o m bino, auf einem hohen Felsen, dessen Fuß von den
Meereswellcu bespült wird. Es gehört einem Fürsten; der unter
toscanischer Oberhoheit steht. Von hier fahren wir nach der
Znsel
Elba hinüber, die 1814 —15 bekanntlich der Aufenthaltsort
Napoleons war. Es ist eine, etwa 10 Stunden lange Felsenin-
sel. Wir landen bei dem Städtchen Porro Ferrajo, und be-
suchen vor allem das Haus, in welchem Napoleon wohnte. Es
liegt auf einer hohen felsigen Landzunge, und besteht nur aus ei-
nem Erdgeschoß. Vorn ist ein Hof, hinten ein Gärtchen. „Es
ist in der That ein herrlicher Genuß, in diesem kleinen, mit Blu-
men und Orangerie fast überladenen Gärtchen einige Abendstunden
zuzubringen, und die herrliche Sonne in das Meer tauchen zu se-
hen." Die Insel ist sehr arm, und hat fast nichts als Wein,
Eisen und Fische. Alles übrige müssen die genügsamen Einwoh-
ner entbehren, oder vom festen Lande herüberholen. Rindvieh
giebt cs hier auch nicht ein Stück; nur Ziegen, Esel und über-
aus kleine Pferdchen. Auf der ganzen Insel ist nur ein einziger
Wagen, der des Gouverneurs. Interessant ist es, dem Fange
der Thunfische zuzusehen, die hier in großer Menge sich einfinden.
Es wird ein großer Platz im Meere an der Küste mit Netzen
umstellt; dann werden die darin eingesperrten Thunfische immer
enger eingesperrt, bis sie nicht mehr entrinnen können. — Süd-
westlich von Elba liegt das Jnselchen
Piano sa. Hier war cs, wo der unglückliche Enkel des
römischen Kaisers Augustus, Agrippa Posthumus, als Verbannter
leben mußte, und zuletzt auf Befehl seines Stiefvaters Tiberius
ermordet wurde *).
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg-,
Th. 1., S. 285 u. 287.
Der Kirchenstaat.
51
7. Der Kirchenstaat.
Der dem Papste gehörende Kirchenstaat durchzieht Mit-
telitalicn wie ein Gürtel vom tyrrhenischen bis zum adriati-
schen Meere, und reicht nördlich bis zum Po, wo er an das
lombardisch - venetianischc Königreich angranzt. Die Apenni-
nen durchziehen ihn von Nordwesten nach Südosten, und sen-
den ihre Nebcnzweige auch über den übrigen Theil des Lan-
des. Daher ist es ein bergiges und hügeliges Land. Das
Gebirge ist aber nicht schön, sondern hat ein ödes und wü-
stes Ansehen. „Der Apennin," sagt ein Reisender, „ist eins
der langweiligsten und heillosesten Gebirge. Weder durch kühne
Formen, noch durch erschütternde Wildheit, noch durch kolos-
sale Höhe imponirt diese öde, leere Bergkette. Sie hat ein
elendes, räuberisches Ansehen; hin und wieder trifft man ein
aus zusammengeworfenen Steinen bestehendes Dorf, das einer
Zigeunerhöhle eher als christlichen Wohnungen ähnlich sieht,
darin ein gelbes, verhungertes Völkchen. Oft sind die Hö-
hen ganz ohne Bäume, oft wachsen diese nur spärlich," und
im Winter ist dies Gebirge ganz mit tiefem Schnee bedeckt.
Desto schöner sind die Thäler in den Zweigen des Gebirges,
die sich nach dem Meere hinziehen. „Sie sind meist ange-
füllt mit Oliven, Orangen, Weinreben, Blumen und allem
Köstlichen, das des Südens Füllhorn über seine Lieblingsflu-
ren ausgießt. " Das Land ist daher meist recht fruchtbar,
aber wegen der Faulheit des Volks schlecht angebaut; am
ödesten und magersten ist der Boden um Rom herum. Im
südlichsten Winkel sind die pontinischen Sümpfe, die,
besonders im Sommer, eine giftige Luft aushauchen. Die
Tiber ist der Hauptftuß. Sie nimmt links zwei kleine Flüsse
auf, die aber durch ihre herrlichen Wasserfälle berühmt sind:
den Velino (er stießt bei Terni vorbei) und den Tevero-
n e, der sich gleich oberhalb Rom mündet. Die Luft ist nicht
überall gesund; namentlich ist sie in und bei Rom während
der heißen Jahreszeit sehr schädlich, und darum pflegen die
reichen Römer sich dann in die bergigen Gegenden, wo sie
ihre Landhäuser haben, zu begeben. Die Einwohner sind zur
Trägheit geneigt, haben auch wegen der vielen Kirchenfeste
4 *
52
Italien.
keine Zeit zur Arbeit; daher giebt cs wohl nirgends so viele
Bettler als in Nom, und Unwissenheit und Aberglauben sind
überall verbreitet. Nirgends wird das Italienische so schön
als hier gesprochen, nirgends findet man so schöne Menschen;
besonders ist die Schönheit der Frauen berühmt; aber Erzie-
hung und Unterricht fehlt hier dem weiblichen Geschlechte ganz.
Die Städte wollen wir in der Ordnung besuchen, daß wir
erst die nehmen, welche im Nordosten der Apenninen liegen,
und dann die, welche im Südwesten sich befinden. Die nörd-
lichste Stadt ist
Ferrara, an einem Arme des Po, groß und schon gebaut,
aber menschenleer und ungesund, weil die Gegend sehr sumpfig
ist. Im l6ten Jahrhundert war sie die Residenz der Herzoge
von Modena aus dem Hause Este, die einen schönen Kreis von
Künstlern, Dichtern und Gelebrten an ihren Hof zogen. Hier
lebte auch der berühmte Dichter Ar io st, dessen größtes und schön/
ftes Werk das Heldengedicht; der wüthende Roland ist. Er starb
hier 1.533, und sein Wohnhaus und marmornes Grabmal ist noch
in Ferrara zu sehen.
Bologna, nicht weit von Modena, liegt in einer reizen/
den Ebene am Fuße der Apenninen. Sie ist sehr groß (mit et,
wa 70,000 Einw.), lebhaft, gut gebaut; nur sind die Straßen
nach italienischem Gebrauche sehr eng. Ein Reisender vergleicht
sie mit Cöln: ,, lauter krumme und enge Gassen durch einander,
eine ungeheure Zahl von Kirchen und Klöstern, und weit mehr
Priester als Layen." Eine große Zierde der Stadt sind die ho,
hen und geräumigen Bogengänge, die fast durch die ganze Stadt
unter den Häusern fortlaufen. Hier und da sind sie oft große Stre-
cken lang mit rothseidenen, goldbesetzten Zeugen behängt, wo-
durch die Kaufleute auf ihre dahinter befindlichen Gewölbe auf-
merksam machen wollen. Bei Festen, die in Italien wöchentlich
vorkommen, pflegen die Bologneser aus ihren Fenstern und von
ihren Balconen grüne Teppiche mit orange Borten herauszuhän-
gen, was den Straßen ein sehr geputztes Ansehen giebt. In Bo-
logna findet man vielleicht mehr als in jeder andern großen Stadt
Italiens gänzlichen Mangel an Liebe für die Natur und ihre
Schönheiten. ,,Wer einmal aus den langen Hallen einen Spa-
tzicrgang vor das Thor wagt, wird nicht,leicht einem Menschen
von Erziehung begegnen. Der Corso, ein langer Steinweg ohne
Bäume, mit einer Halle für die Fußgänger, ist der Tummel-
platz, wo die Bologneser sich an Sonn- und Feiertagen zeigen,
und sich daran ergötzen, beständig auf- und abzufahren und ein-
ander zu begegnen. Die Frauen und Mädchen sehen äußerst zart
und gedrechselt aus; diese guten Geschöpfe mögen wohl wenig
davon wissen, wozu sie in der Welt sind. Vor der freien Lust
Der Kirchenstaat.
53
hüten sie sich so, daß sie auch von dem Wetter wenig erfahren.
So haben es also diese Menschen so weit gebracht, die Natur
mit Stumpf und Stil auszurotten." Desto thätiger ist das ge-
meine Volk; es lärmt und schreit auf den Gassen auf eine fürch-
terliche Weise. Die Universität war im Mittelalter die berühm-
teste von ganz Italien, und wurde auch von Ausländern weit
und breit besucht. Jetzt aber ist sie nur unbedeutend. Noch be-
trachten wir auch hier einen schiefen Thurm. Er ist viereckig,
ganz von Mauerziegeln, und gleicht einem ungeheuren Schorn-
steine. Er hängt etwa 6 Fuß auf die eine Seite, und neigt sich
also weniger als der Thurm in Pisa. Auch er ist nicht mit Ab-
sicht schief gebaut, sondern erst mit der Zeit schief geworden. —
Von Bologna östlich, nicht weit vom Meere, liegt
Ravenna, eine alte und einst berühmte Stadt, mit einem
majestätischen Dome, sonst ohne Merkwürdigkeiten, als daß der
Dichter Dante in einer der Kirchen sein Grabmal hat. Süd-
westlich liegt
Faenza, ein unbedeutender Ort. Hier gab es sonst bedeu-
tende Steingutfabriken, und weil die Franzosen glaubten, daß es
hier erfunden sey, so nannten sie cs Fayence. Die Italiener
nennen es Majolika. Südöstlich finden wir
Urbino auf der Spitze eines Berges. Wir würden die an
sich unwichtige Stadt nicht nennen, erinnerte sie nicht an den gro-
ßen Maler Raphael, der hier 1487 — in demselben Jahre,
in dem Luther ins Leben trat — geboren wurde. Gehen wir öst-
lich nach dem Ufer des adriatischen Meeres, so kommen wir nach
Ancona. Die Lage der Stadt ist herrlich, auf einem Vor-
gebirge, das sich nach Norden krümmt, und ein weitgcössnetes
Becken einschließt, um das sich die Stadt ringsher amphitheatra-
lisch emporhebt. Sie steigt in jäher Richtung vom Ufer des
Meers bis zum Doppelgipfel des Berges steil empor. „ Auf ei-
nem dieser Gipfel liegt ein Capuzinerklofter; den andern krönt die
Domkirehe, von deren Eingang man rechts die Schnecgebirgc Dal-
matiens, links Italiens wechselvolle lachende Küste entdeckt, wäh-
rend die Sonne in die Fluthen hinabzutauchen und aus ihnen
wieder emporzusteigen scheint." Den Hafen, den besten, den die
Küste in der ganzen Gegend darbietet, verschließt zum Theil ein
uralter Steindamm, ein Werk der Römer. Von hier bis zu den
Apenninen ist die Gegend paradiesisch schon. Reiche Getreidefel-
der, mit Obstbäumcn eingefaßt, und Hügel mitWeinstöckcn wech-
seln mit einander ab. — Wenn wir längs dem Meere südöstlich
reisen, so finden wir
Loretto, den berühmtesten Wallfahrtsort der Katholiken.
Der Ort an sich ist elend, und besteht fast nur aus einer einzi-
gen langen Gasse. Er liegt auf einem Berge. Hier ist die Ca-
sa santa (das heilige Haus). Dies Haus ist — sagen die Aber-
gläubischen — dasselbe, welches Maria in Nazareth bewohnte.
54
Italien.
Hier stand es, bis zum Jahr 129 t. Da hoben es die Engel auf,
damit es nicht langer eine Beute der Ungläubigen sey, und tru-
gen es durch die Lüfte bis nach Dalmatien. Hier setzten sie es
nieder. Aber nach einer dreijährigen Nube boben sie es abermals
auf, und führten es über das adriatische Meer nach Loretto. In
diesem Häuschen steht das hölzerne Bild der Maria, das nach
dem Glauben der Wallfahrer Wunder verrichten soll. Es ist ein
häßlich schwarzes Bild, hat aber eine äußerst kostbare Garderobe.
Es war nämlich nach und nach so reichlich beschenkt worden, daß
große Schätze aufgehäuft waren. Als aber 1798 die Franzosen
hinkamen, raubten sie die Kostbarkeiten. Seitdem mögen wohl
schon wieder manche Schätze zusammengeflossen seyn. Das Haus
ist mit einer Kirche umgeben, die nie von andächtigen Fremden
leer wird. „Während der Mond an dem dunkelblauen Himmel
strahlte," sagt ein Reisender, „gingen wir zu Fuß den Berg
nach Loretto hinauf. Von fern sahen wir am Horizont das Meer
schimmern, und still ruhten um uns her die Oelwälder. Kaum
hatten wir unsern Gasthof betreten, als sogleich ein altes Weib
eine ganze Tafel mit Rosenkränzen, Halsbändern, Cbristusbildern
und dergleichen ausbreitete und uns aufforderte, ein Andenken an
die heilige Jungfrau von Loretto zu kaufen, und dies dann in
der Kirche des heiligen Hauses einweihen und segnen zu lassen.^
Wir gehen nun zu den Städten jenseit der Apenninen
über. Nicht weit von der Tiber finden wir das am Abhange
eines Berges gelegene Städtchen
Assisi (u-u). Hier wurde ZU Ende des 12ten Jahrhun-
derts der Stifter der Franziseanermönche, der heilige Fran-
zis eus, geboren. In der Nähe von Assisi steht auf einem Fel-
sen eine prächtige Kirche, die aus drei Kirchen über einander be-
steht. In der untersten liegen die Gebeine des Heiligen; die
oberste aber ist die größte und prachtvollste, und gewährt einen
überraschenden Anblick. Hier ist al>o die Wiege der Bettelmönche.
Wenn wir das Gebirge hinabsteigen, kommen wir nach
dem Städtchen
Terni. Drei Stunden davon ist der herrliche Fall des
Velin o. Das Thal, in dem er sich befindet, ist eins der ent-
zückendsten Italiens. „Seltsam geformte Bergspitzen umgeben
es, auf denen bald alte Schlösser, bald einsame Dörfchen schwe,
ben; dazu der größte Sturz des Velino, der, in schauerliche
Tiefe mit ungeheurem Donner herabstürzend, einen Theil des
nächsten Thals mit Dampf und Rauch anfüllt, und endlich der
milde, blaue und goldene Himmel." Wir wenden uns von hier
südwestlich nach dem Ufer des tyrrhenischen Meeres, wo wir
Civita vecchia (spr. Tschivita weckia) finden. Sie hat
den wichtigsten Hafen auf dieser Seite des Kirchenstaats, in wel-
Der Kirchenstaat. 55
chcm sich die päpstlichen Kriegsschiffe zu befinden pflegen. End-
lich kommen wir nach
Rom, der Hauptstadt des Landes und der Residenz des
Papstes, einst die Hauptstadt der ganzen bekannten Erde, die
älteste Stadt; denn sie wurde ja schon 754 vor Christus gebaut,
aber seit dem Alterthum so verändert, daß die alten Römer sich
wohl nicht mehr zurecht finden würden. Sie hat so viele Ver-
wüstungen erlitten, daß der Boden der Stadt durch den Schutt
bedeutend höher geworden ist, die einst weit aufragenden Hügel
sind jetzt niedriger; zu vielen alten Tempeln, zu denen man sonst
auf Stufen hinauf stieg, muß man jetzt auf Stufen hinab steigen,
und überall ragen Stücke von Bildsäulen und alte Pfeiler aus
der Erde hervor. Alles erinnert hier an die altrömische Größe,
und an die elende Gegenwart der jetzigen Römer. Die schönsten
Basreliefs sieht man wie gemeine Backsteine eingemauert; auf
antiken Steinen mit Inschriften geht man über Pfützen; alte
marmorne Sarkophage werden zu Fischtrögen benutzt, und kost-
bare Säulen und Tempelruinen befinden sich im Innern schmutzi-
ger Handwerkerwohnungcn. Bei dem allen ist Rom auch jetzt
noch eine höchst merkwürdige, große, großartige und zum Theil
prachtvolle Stadt. Sie ist auf 12 Hügeln und den dazwischen
liegenden Thälern gebaut, liegt auf beiden Seiten der gelben Ti-
ber, über welche 4 Drücken führen, hat ungefähr l40,0t>0 Ein-
wohner, und einzelne herrliche Straßen, Plätze und Palläste.
Daß es hier, wo das Haupt der katholischen Christenheit thront,
von Kirchen und Klöstern wimmelt, versteht sich von selbst. Auf
allen Straßen begegnen uns Mönche und Geistliche. Zuerst wol-
len wir die Stadt durchwandern, und die vornehmsten Gebäude
aufsuchen; dann aber das Leben und die Sitten der Römer be-
trachten.
In der Mitte Roms liegt das Capitol, der Punkt des
alten Roms, von dem alles Leben ausging, jetzt zwar nicht mehr so
hoch, als im Alterthum, aber doch noch so erhaben, daß man von
ihm aus ganz Rom überschaut. Wir steigen die Haupttreppe, die
sich an der nördlichen Seite befindet, hinauf. An ihrem Fuße stehen
zwei Löwen, die Waffer aus ihren Mäulern speien, oben aber die
Bildsäulen zweier Männer, welche Roffe bändigen. Von dieser
Treppe geht links eine andere hinauf, die nach der herrlich gelege-
nen Kirche Santa Maria in Ara Celi führt, und rechts
eine dritte, auf welcher man hinauf fahren kann. Wenn wir die
Mitteltreppe erstiegen haben, stehen wir auf einem schönen weiten
Platze, der von drei Pallästen cingeschloffen ist. Gerade aus ist
der Pallast des Senators (Commandanten), links das auserlesene
Museum des Capitols voll der herrlichsten Alterthümer, und rechts
die Wohnung der Aufseher des Museums. Zn der Mitte aber
steht die herrlichste Ritterbildsäule, die es vielleicht giebt, die des
56
Italien.
Kaisers Mark-Aurel*). Gehen wir auf den westlichen Abhang
des Berges, so stehen wir an der Stelle, den die Römer den tarr
pejischen Felsen nannten, von dem sie Verbrecher herabzustürzen
pflegten **). Steigen wir an der südlichen Seite hinab, so ste-
hen wir auf dem altrömischen Forum (Marktplatz), wo einst
Cicero seine Reden hielt, und unzähliges Großes im alten Rom
sich ereignete. Man denke nur an Appius Claudius und die un-
glückliche Virginia ***). Wohl zeigen noch jetzt große Ruinen,
Tempelhallen, einzelne Säulen, Roßbildsäulen und Triumphbo-
gen, daß hier der Mittelpunkt Roms war; aber der Platz selbst
ist jetzt öde, ein Weideplatz der Rinder, und wird daher jetzt
Campo vaccino (das Kuhfcld) genannt.
Sind wir über dies Campo in südlicher Richtung gewandert,
so sehen wir zu unsrer Rechten den palatinischen Hügel.
Keiner gewährt so malerische Aussichten über ganz Rom. Auf
dieser Höhe hatten die Kaiser ihre Palläste, hier thronte Augu-
stus, hier baute Nero sein goldenes Haus -fl). Alle diese Herr-
lichkeit liegt jetzt in Schutt und Graus so wild durch einander,
daß man den Plan des Ganzen nicht mehr erkennen kann. Epheu
umrankt die Ruinen, in denen einst die größte Pracht herrschte,
die je die Welt sah, und tausend duftende wilde Lack - und Lev-
kojensträucher und andere Blumen, die niemand hierher gepflanzt
hat, durchwachsen sie; in der Tiefe stehen Pinienhaine und Oran-
gengärten in der üppigsten Fülle südlichen Wuchses; von fern er-
heben sich die blauröthlichen Berge des Apennin; und jenseit der
Tiber zeigt sich die erhabene Kuppel der St Peterskirche, und
alle diese Herrlichkeit unter dem blauen und goldenen Dache des
italienischen Himmels.
Steigen wir wieder zum Campo vaccino hinab, und setzen
wir unsere Wanderung in südöstlicher Richtung fort, so stehen
wir plötzlich vor einem ungeheuren Gebäude, ohne Dach. Es
ist das riesenmäßige Colosseum, das einst Vespasian errich-
tete chch), jetzt Coliseo genannt. Es ist für 60 — 80,000 Zuschauer
eingerichtet, und hat die Gestalt wie alle alte Amphitheater (s.
oben bei Verona). Ein Reisender versichert, beim ersten Anblick
des großen Bauwerks habe es sich aller seiner Sinne bemächtigt,
und cS sey ihm nicht anders gewesen, als wenn der Donner vor
ihm in den Boden geschlagen habe. Obgleich etwa nur noch der
dritte Theil des Werks unversehrt erhalten ist, so ist doch der Ein-
druck, den es auf Jeden das erste Mal macht, sehr groß, vor-
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 1., S. 322.
**) Ebend. S. 165.
***) Ebend. S. 157.
f) Ebend. ©. 304.
ff) Ebend. S. 310.
Der Kirchenstaat.
57
züglich wenn man es im Mondenlicht oder beim Scheine von Fa-
ckeln sieht, wo die dunkeln Schatten, mit den erleuchteten Stel-
len schauerlich contrastiren, und die Einbildungskraft die alten
Römer auf den verödeten Sitzen noch zu sehen glaubt. Wir gehen
in südlicher Richtung weiter fort, und erreichen nach Durchwan-
derung einer langen Straße eins der Stadtthore. Kurz vorher
ist ein großer Platz auf dem der große Pallast des Lateran
steht. Der Pallast selbst ist jetzt ein weibliches Waisenhaus; in
ihm aber ist die vornehmste Kirche der Katholiken, Sanct Zo/
Hann im Lateran. Schon Constantin der Große hat sie er-
baut. Sie ist die Pfarrkirche des Papstes; nur er liest vor dem
Hauptaltare die Messe. Unter demselben liegen der Sage nach
die Köpfe der Apostel Paulus und Petrus. Vor der Kirche steht
ein ägyptischer Obelisk von 140 Fuß Höhe. Welche Mühe mußte
es machen, ihn so weit herzuschaffen, und an dem Orte aufzu-
stellen !
Um uns nicht zu verirren, kehren wir nach dem Capitol zur
rück, und wenden uns nördlich, um die Straße Corso zu errei/
chen. Vorher finden wir etwas rechts, also nordöstlich, einen
Platz, in Lessen Mitte die herrliche Trajanssäule steht*).
Sie ist von Marmor, inwendig hohl, 192 Stufen führen hinauf.
Oben steht jetzt statt der Bildsäule des Trajan die des Apostels
Petrus. Auswendig laufen trefflich gearbeitete Basreliefs spiral-
förmig hinauf, welche die Thaten des Kaisers darstellen. Jetzt
betreten wir die Hauptstraße Roms, den Corso. So heißt eine
Straße, die nicht weit vom Capitol anfängt, und von Süden
nach Norden bis zu dem Thore del Popolo schnurgerade fort/
läuft. Ob sie gleich nicht breit ist, so ist sie doch der Haupttum/
melplatz der Römer. Die vornehme Welt fährt hier des Abends
gravitätisch, ein Wagen hinter dem andern, auf und ab, wäh-
rend die, welche keine Equipage haben, auf den Bürgersteigen sich
hin und her drängen. Sind wir auf dem Platze del Popolo, am
Thore, angelangt, und wenden wir uns hier um, so haben wir
einen schönen Anblick. Wir sehen hier nämlich in drei lange aus
einander laufende Straßen hinab, den Corso und zwei andere,
die alle drei auf dem Platze zusammenlaufen. Hier war es, wo
unter Kaiser Friedrich Rothbart der geistreiche Arnold von Brescia
verbrannt wurde **). Zm Corso wird vorzüglich das römische
Carneval gefeiert, und das Pferderennen gehalten, wovon weiter
unten.
Wir gehen aufs neue nach dem Capitol zurück, und wenden
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 1., S. 321.
**) S. meine Geschichte der Deutschen für Töchterschulen, Th. 1.,
S. 268.
58
Italien.
uns nach Osten. Hier treffen wir fast am Ende der Stadt die
Prachtkirche Santa Maria Maggiore. Das Dach wird
von 40 herrlichen ionischen Säulen aus griechischem Marmor ge,
tragen. Unstreitig ist sie, zwar nicht die größte, aber die pracht-
vollste.
Jetzt begeben wir uns wieder in die Straße des Corso. Wenn
wir das erste Drittheil derselben zurückgelegt haben, wenden wir
uns rechts, östlich, und stehen bald vor dem Pallafte des Qui,
rin al oder des Monte Cavallo. Er liegt auf einem Hügel,
und ist der eigentliche Nesidenzpallast des Papstes. In ihm ist
die päpstliche Capelle, wo der Papst gewöhnlich die Messe liest. —
In gleicher Breite, aber links, westlich vom Corso, ist die merk-
würdige Kirche, die man die Rotonda zu nennen pflegt. Sie
ist schon von den alten Römern gebaut, war allen Göttern ge-
weiht, und hieß daher das Pantheon. Jetzt ist sie allen Mär-
tyrern geweiht, und heißt daher eigentlich Santa Maria ad
Martyres. Ihr Vau ist sehr merkwürdig; denn aus der Vor-
halle tritt man in die ganz runde Kirche, die kein Fenster hat,
sondern ihr Licht allein durch die Kuppel empfängt. Sie ist übri-
gens nicht größer als die Niesenkuppel der Peterskirchc.
Nun gehen wir in den westlichen Theil der Stadt, der jen,
seit der Tiber liegt. Sobald wir die nördlichste Brücke betreten,
liegt die Engelsburg vor uns. Es ist dies eine kleine Festung,
deren Mitte ein ungeheuer dicker, nicht sehr hoher Thurm ein-
nimmt, den einst Kaiser Adrian sich zum Grabmal baute*). Er
ist oben ganz platt, und in seiner Mitte steht ein kolossaler
Engel.
In westlicher Richtung gehen wir eine Straße hinunter, und
sehen plötzlich die größte und merkwürdigste aller Kirchen, den
Sanct Peter, vor uns. Wir stehen auf dem Petersplatze,
einem weiten, runden Raum, umgeben von kreisförmigen Säu-
lenhallen aus Marmor; 400 Säulen tragen das Dach, auf dem
200 Bildsäulen stehen. In der Mitte steht ein Obelisk, auch
aus Aegypten geholt, und zu beiden Seiten ein Springbrunnen.
Am Ende des Platzes verengert sich der Raum ein wenig, die
Säulenhallen aber laufen fort bis zur Kirche. Sie steht aus ei,
ner Erhöhung. Mehrere Stufen, breiter selbst als die Kirche,
führen hinauf. Zu jeder Stunde des Tages liegen hier Andäch-
tige betend auf den Knien; Andere rutschen kniend hinauf. Tre,
ten wir in das Innere ein, so empfängt uns eine heilige Däm,
merung. Das ungeheure Gebäude erhebt sich in der Mitte zu
einer gewaltigen Kuppel, zu deren Seiten noch zwei andere klei-
nere sich befinden. Kunstwerke finden wir hier weniger als in an-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg-,
Th. 1., S. 321.
Der Kirchenstaat.
59
Lern Kirchen; denn erst vor ungefähr ZZO Jahren wurde der Bau
angefangen, aber über 100 Zahr darüber gebaut. Die Größe
und einfache Erhabenheit ist es, die das Gemüth des Eintretenden
ergreift. Die hohe Kuppel überschaut ganz Rom, und wird von
dem, der sich der Stadt nähert, zuerst erblickt. Sie ruht auf
vier ungeheuren Säulen, und das auf der höchsten Spitze befer
stigte Kreuz ist 424 Fuß über dem Boden der Kirche erhaben.
Stehen wir dicht vor der Kirche, so sehen wir rechts, nördlich,
einen Niesenpallast. Es ist der Vatikan, der dann und wann
vom Papste bewohnt wird, und durch eine Marmortrcppe mit
dem Sanet Peter in Verbindung steht. Er ist so ungeheuer groß,
daß er 11,000 Zimmer und Säle enthalten soll. Und welchen
Schatz von Kunftsachen und Büchern enthält er nicht! „Das
vaticanische Museum oder Museo Pio-Clementino ist un-
glaublich riesenhaft, welche hohe Erwartung man auch immer
niitbringen mag. Durch 26 Säle geht man an l6OO Schritte
beständig unter Antiken und den ausgesuchtesten Gemälden, und
am Eingänge in die Logen *) des großen Malers Rafael hat der
vorige Papst die Büste desselben, von Canova gearbeitet, aufstel-
len lassen, so wie die Logen selbst jetzt durch Glasfenster gegen
die Beleidigungen des Wetters sicher gestellt worden sind. Wir
gingen eines Abends mit einer großen Menge deutscher Künstler
in den Vatikan, um die Bildsäulen beim Scheine der Fackeln zu
sehen, und in der That, wenn man auch vielleicht mittelst dieser
unsichern Beleuchtung kein klares Bild der Antike gewinnt, so
übertrifft doch die zauber-mäßige Wirkung, die sie hervorbringt,
alle Vorstellung. Die hohen, hallenden Säle, die grauen, vollen
Schatten! Und Marmorbilder stehen und sehen dich an! Nein,
keine Marmorbilder! Sie stehen nicht! Sie schweigen nicht!
Schnelle, kraftvolle Götter umgeben dich; sie steigen herab von
ihrem Gestelle; sie reden, klagen, zürnen!" Zu dem Vatikan ge-
hört auch das sogenannte Belvedere, auch voll Antiken, un-
ter denen der Apollo von Belvedere der berühmteste ist. Ferner
die sixtinische Capelle, in der man in der Charwoche die
himmlischeste Musik hören kann.
Nachdem wir nun, den Blick bloß auf die Gebäude, alte
und neue, gerichtet, durch Nom gewandert, und von den tausend
Merkwürdigkeiten nur einige der vorzüglichsten betrachtet haben,
wollen wir einen geistvollen Reisenden hören, der uns in Nom
noch bekannter machen wird. „Die ersten Tage nach unsrer An-
kunft waren die letzten und gerade die glänzendsten des Carne-
vals. Wie erfreulich ist für einen Nordländer der Anblick so
vieler schöner Damen, die zu einer Zeit, wo bei uns bittere Kälte
*) So nennt man weite Hallen im Vatikan, welche Rafael von Ur-
bino (s. oben) auf Befehl des Papstes unübertrefflich schön malte.
/
alles in Wolle und Pelz hüllt, unter der blauen Decke des Him-
mels, in milder Luft, mit dünnen Ballkleidern geschmückt, voll
Heiterkeit, wie im Tanzsaal, umhergaukeln." Bei Beschreibung
des berühmten römischen Carnevals verweisen wir auf die umständ-
lichere Beschreibung Göthe's, und führen daraus nur folgendes an:
Es ist ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird, son-
dern das sich das Volk selbst giebt. Der Unterschied zwischen Ho-
hen und Niedern scheint einen Augenblick aufgehoben; alles nähert
sich einander; jeder nimmt, was ihm begegnet, und die wechselsei-
tige Frechheit und Freiheit wird durch eine allgenieine gute Laune
im Gleichgewicht erhalten. Das Carncval versammelt sich im
Corso, eine Straße von ungefähr ZZOO Schritt und von hohen,
meist prächtigen Gebäuden eingefaßt. In der Mitte ist nur so
viel Raum, daß höchstens Z Wagen sich neben einander bewegen
können. Die Straße wird durch ausgehängte Teppiche, gestreute
Blumen, übergespaimte Tücher, wie in Italien bei jedem Feste,
wie zu einem großen Saale umgewandelt. Auf beiden Seiten
werden längs den Häusern große Gerüste gebaut, die Zuschauer
aufzunehmen, mit Tapeten behängt, und mit Stühlen besetzt.
Sobald die Glocke das Zeichen zum Anfange des Festes gegeben
hat, legt jeder seinen Ernst auf einmal ab. Nun erscheinen Mas/
ken in Menge: junge Männer als Weiber gekleidet, Weiber nnd
Mädchen als Männer. Wir erinnern uns unter andern eines
jungen Menschen, der die Rolle eines leidenschaftlichen, zanksüch,
ligcn und auf keine Weise zu beruhigenden Weibes vortrefflich
spielte, und so sich den ganzen Corso hinab zankte, jedem etwas
anhängte, indeß seine Begleiter sich alle Mühe zu geben schienen,
ihn zu besänftigen. Mit schnellen Schritten, declamirend, wie
vor Gericht, drängt sich ein Advocar durch die Menge; er schreit
an die Fenster hinauf, packt maskirte und unmaskirte Spatzier-
gänger an, droht einem jeden mit einem Prozeß, macht bald je/
nem eine lange Geschichtserzählung von lächerlichen Verbrechen,
die er begangen haben soll, bald diesem eine genaue Specification
seiner Schulden, und das alles mit einer durchdringenden Stim-
me und geläufigen Zunge. Wenn man denkt, er höre auf, so
fängt er erst recht an; denkt man, er gehe weg, so kehrt er um;
auf den einen geht er gerade los, und spricht ihn nicht an; er
packt einen andern, der schon vorbei ist; kommt nun gar ein Mit-
bruder ihm entgegen, so erreicht die Tollheit ihren höchsten Grad.
Besonders machen die Guacqueri zwar nicht viel Lärm, aber
eben so viel Aufsehen. Ihre Kleidung ist altfränkisch, aber von
Sammt und Seide; sie tragen brokatene oder gestickte Westen,
haben einen dicken Bauch, eine Larve mit Pausbacken und kleinen
Augen, eine Perrücke mit wunderlichen Zöpfchen und einen klei-
nen, mit Treffen besetzten Hut. Sie hüpfen mit großer Leichtig-
keit auf den Zehen hin und her, führen große, schwarze Ringe
Der Kirchenstaat.
61
ohne Glas statt der Lorgenetten, mit denen sie in alle Wagen
kucken, nach allen Fenstern hinaufblicken. Sie machen gewöhnlich
einen steifen, tiefen Bückling, und ihre Freude, besonders wenn
sie einander begegnen, geben sie dadurch zu erkennen, daß sie mit
gleichen Füßen mehrmals gerade in die Höhe hüpfen und einen
hellen, durchdringenden Laut von sich geben. Am häufigsten ist die
Maske der Pulcinelli. Ein Hemde wird übergeworfen und
ein weißes Tuch um Hals und Kopf gebunden; sie führen kleine
Bcschen, mit denen sie andern im Corso auf- und nicderwallen,
den Masken und Zuschauern, oder, ohne Umstände auf die Wa-
gcntritte steigend, den vornehmsten Frauen die Flecken mit komisch,
ernsthafter Gebehrde abkehren, und alles Naserümpfen und Vor,
halten der Schirme hilft nichts. Die niedlichen Gärtnermasken
haben ein Instrument in der Hand, das mit den sogenannten
Scheeren zu vergleichen ist, auf die man bei uns die hölzernen
Soldatenpuppen der Kinder steckt. Man kann es nach Belieben
zusammenziehen und ausstrecken. Nichts ist überraschender und
niedlicher anzusehen, als wenn sie mit diesem Instrument plötzlich
schönen Frauen, selbst bis in den dritten Stock hinauf, einen
Blumenstrauß überreichen; wie eine Schlange schießt die Scheere
empor, und bringt gewöhnlich ein artiges Gegengeschenk zurück.
Auch sind die Masken der Bettler und Bettlerinnen nicht selten;
vorzüglich werden schöne Haare dazu erfordert, eine ganz weiße
Gesichtsmaske, ein irdenes Töpfchen an einem farbigen Bande, ein
Stab und ein Hut in der Hand. Sie treten mit demüthiger Ge,
behrde unter die Fenster und vor Jeden hin, und empfangen statt
Almosen Zuckerwerk, Nüsse oder was man ihnen sonst Artiges ge,
ben mag. Besonders suchen sich Frauen und Mädchen in dieser
Zeit lustig zu machen, und treiben tausenderlei Muthwillen. Wenn
Einer, auf den sie es gemünzt haben, zwischen 4 — 5 solcher mit
Beschen versehener Mädchen hineinkommt, weiß er sich nicht zu
retten. Das Gedränge hindert ihn zu fliehen; wohin er sich auch
wendet, fühlt er die Beschen unter der Nase. Ernstlich darf man sich
gegen die Angriffe der Masken nicht vertheidigen; denn sie sind un,
verletzlich, und jede Wache würde ihnen beistehn. Stallknechte mit
ihren großen Bürsten kommen, einem Jeden, wenn es ihnen be,
liebt, den Rücken auszukehren; Vetturine bieten ihre Dienste
mit ihrer gewöhnlichen Zudringlichkeit an. Zierlicher sind die
Masken der Landmädchen, Fischer, Schiffer, Sbirren und Grie,
chen. Einige machen es sich sehr bequem, indem sie sich in Tep,
piche oder Leinentücher hüllen, die sie über dem Kopfe zusammen,
binden. Die weiße Gestalt pflegt gewöhnlich andern in den Weg
zu treten und vor ihnen zu Hüpfen, und glaubt auf diese Weise
ein Gespenst vorzustellen. Mit zwei Gesichtern steckt einer im
Gedränge; man weiß nicht, welches sein Vorder-, welches sein
Hintertheil ist, ob er kommt oder geht. Indessen fahren dieKut,
62
Italien.
scheu in der Mitte eine hinter der andern, auf der einen Seite
hinauf, auf der andern herunter. Oft sind selbst Kutscher und
Bedienten maskirt, sogar in Weibcrtracht. Die Fahrenden wer-
den vielfach geneckt; die häßlichen Damen nehmen natürlich eine
Larve vor, die schönen zeigen sich gern ohne dieselbe; alle Augen
richten sich nach ihnen, und von manchen Seiten hört man den
Nus: o quanto e belia! (o wie schön ist die!) Pulcinelli und
andere Masken steigen wohl auf die Tritte, oder auf den Kut-
schcrbock, und machen die Fahrt mit. Ein Meer ausgelassener
Zuschauer, zügelloser Masken und vollgepfropfter Kutschen wogt
unaufhaltsam den Corso auf und nieder, unbesorgt um Polizei
und Soldaten, und doch geschieht kein Unglück, obgleich die Fuß-
gänger sich wild durch und -zwischen die Wagen drängen. Dra-
goner reiten zwar mit gezückter Harpune auf und nieder, stören
aber durch nichts die harmlose Freude des Volks, sondern wenn
sie vielleicht einmal auf den Strand gerathen, rufen sie bloß aufs
höflichste: „Platz, ihr Herren! Seht euch vor!" und macht
man ihnen auch nicht Platz, so warten sie geduldig, bis etwa eine
Menge Pulcinelli ihre Nöllen mit dürren Magistern, Abbaten
oder flinken Gärtnermädchen ausgespielt hat. Recht sonderbar ist
der kleine Krieg, den die Masken unter einander führen. Man
nimmt nämlich großen Vorrath von Confect mit, um sich damit
zu werfen. Da aber nun der wirkliche Confect dazu zu theuer
ist, so hat man Stückchen Gips in allerlei niedlichen Gestalten.
Niemand ist vor einem solchen Angriff sicher, und wer nicht selbst
zu den Angreifern gehört, muß wenigstens auf Vertheidigung ge-
faßt seyn. Die Damen haben vergoldete und versilberte Körbchen
voll dieser Stücke, und wenn man ihnen den Confecttrcgen erwie-
dert, so werden sie von ihren Begleitern möglichst vertheidigt.
Am schlimmsten ergeht es den Abbaten im schwarzen Nocke und
andern schwarz gekleideten Personen; denn weil der Gips abfärbt,
so wirft man so lange von allen Seiten auf sie los, bis sie mit
weißen Flecken bedeckt sind. Die schönsten Damen müssen sich
gefallen lassen, daß ihnen die Stücke gerade ins Gesicht geworfen
werden, und oft weichen die sich Werfenden nicht eher, bis sich
beide Theile verschossen haben. So kommt z. B. ein offener Wa-
gen voll Pulcinellen gefahren, die sich vorgenommen haben, in
der Gegend des Pallastes Nuspoli, wo dieser Krieg am ärgsten ist,
die Zuschauer auf Balcons und in Fenstern mit einem Hagel zu
begrüßen. Allein unglücklicherweise ist das Gedränge zu groß,
und er bleibt in der Mitte stecken. Die ganze Gesellschaft verein
uigt sich, ein Kreuzfeuer gegen den Wagen zu eröffnen. Bald
haben die Pulcinelli ihre Munition verschossen, so daß sie das
Feuer nicht mehr erwiedern können. Der Wagen, wie mit Schnee
und Schlossen bedeckt, entfernt sich endlich unter einem allgemei-
nen Gelächter. Ein neuer Aufzug zieht die Blicke auf sich. Ein
*
Der Kirchenstaat.
63.
Dutzend Pulcinelli thun sich zusammen, erwählen einen König,
krönen ihn, geben ihm ein Zepter in die Hand, begleiten ihn mit
Musik, und führen ihn unter lautem Geschrei auf einem verzier-
ten Wägelchen den Corso hinauf. Alle Pulcinelli springen herbei,
vermehren das Gefolge, und machen sich mit Geschrei und Schwen-
ken der Hüte Platz. — Wenn sich der Abend nähert, krachen
die an beiden Enden und in der Mitte der Straße aufgestellten
Mörser, das Zeichen, daß daS Pferderennen beginnen, und der
Platz in der Mitte geräumt werden soll. Nun entsteht ein fürch-
terliches Gedränge; die Kutschen verfahren sich oft so, daß sie
nicht wissen, wo aus und wo ein, und doch fluchen und drohen
die Wachen, und verlangen augenblickliche Entfernung. Denn
sobald das Zeichen zum zweiten Male gegeben wird, müssen alle
fort seyn. Herrlich und malerisch ist der Moment, wenn die mit
Flittergold ausgeputzten Rosse schnaubend, sich bäumend, und nur
mit Mühe von der Faust ihrer Führer gehalten, unter dem Jauch-
zen des Volks in die Bahn treten. Sie werden hinter ein Seil
gestellt; an sich schon unbändig, und durch die Gegenwart so vie-
ler Menschen scheu gemacht, werden sie noch wilder durch die gro-
ßen Blätter Rauschgold und Schnüre mit eisernen Stachelkugeln,
die man ihnen anhängt. Endlich fällt das Seil, und sie stürzen
fort, ohne Sattel und Reiter. Im Hui sind sie vorüber, und
Las, welches zuerst das Ende des Corso, wo man sie wieder ein-
fängt, erreicht, wird als Sieger ausgerufen. Oft geschieht Un-
glück. Ein Reisender sah, wie ein edles Roß den Augenblick des
gegebenen Zeichens nicht erwartend, davon rannte, über das Seil
stürzte, und beinahe den Hals brach. Ein andres rannte an das
Rad eines zur Seite stehenden Wagens an, und stürzte nieder.
Drei andere, die ihm folgten, stürzten über das erste hin, und
überschlugen sich, und die darauf folgenden sprangen über die vier
gefallenen hinweg, und flogen dem Ziele zu. Indessen ist die
Nacht eingebrochen, die Mörser krachen zum dritten Male, die
Wachen treten zurück, und nun läuft oder fährt jeder nach Hause.
Alle Ordnung ist plötzlich aufgelöst, und glücklich sind die, welche
ohne Schaden aus diesem heillosen Wirrwarr nach Hause kommen.
So geht cs mit unendlicher Mannigfaltigkeit alle Tage während
des Carnevals, am tollsten aber am Fastnachtsdienstage; doch ha-
ben wir nur einige Züge des ausgelassensten Volksfestes, das ir-
gendwo statt findet, geschildert. Zwar feiern die andern Städte
Italiens das Carneval auch auf ähnliche Art; aber Rom über-
trifft sic alle an Lebendigkeit und Ausgelassenheit des Festes.
„Die vier letzten Freitage vor der Osterwoche," sagt ein Rei-
fender, „strömt Alles, vornehm und gering, gegen vier Uhr Nach-
mittags hinaus nach dem Vatiean, um an St. Peters vermeint-
lichem Grabe zu beten. Der ungeheure Pctersplatz ist dann, so
viel cs feine Größe erlaubt, ziemlich lebendig; denn da es der
7
64 Italien.
Brauch erfordert, daß jeder einer ihm befreundeten Dame Back-
werk kauft, so ertönt das Geschrei der Verkaufenden von einem
Ende des Platzes bis zum andern, vermengt mit dem Klagge-
winsel und Geklappere unzähliger Bettler. Unaufhörlich strömen
Menschen in den St. Peter, ohne daß dieser jemals voll, noch
der Platz leer wird. Die schönsten Damen am Arm ihrer Cavar
lieri scrventi eilen, am Grabe des Apostels zu knien, und nichts
gleicht dem Eindrücke, den das in der Dämmerung gehüllte Rie-
sengewölbe der Kuppel, der fern her aus der Capelle tönende
Chorgesang und die Betenden auf die Phantasie machen. Es ist
zu verwundern, mit welchem Eifer selbst die vornehmsten Frauen
ihre unmündigen Kinder empor heben, und den Fuß einer Bild-
säule küffen lassen, die den Apostel Petrus vorstellen soll. Auch
der Papst erschien selbst, umgeben von Cardinälen und Prälaten,
um in St. Peter zu beten. Die Schweizerwache mit ihrer alt-
deutschen Tracht und ungeheuren Schwertern und Hellebarden,
sammt allem Volk, wirft sich demüthig zu Boden, während der
Papst den Segen austheilt. Man verlangt nicht mehr von Pro-
testanten sich niederzuwerfen; im Gegentheil grüßte uns Se. Hei/
ligkeit sehr freundlich, als wir ihr ein anderes Mal begegneten,
obgleich wir nur eine ehrerbietige Verbeugung machten, während
alles um uns her in Staub und Schmutz am Boden lag."
„Es giebt in Rom Klubs, aus Damen und Herren beste-
hend, unter welchen sich immer einige Dichter befinden, die mit
ihren Geisteserzeugnissen in gebundener und ungebundener Rede
die übrigen unterhalten; ja die Poesie macht überhaupt, wie das
Thcewasscr in Norddeutschland, Las vorzüglichste Bindemittel der
gesellschaftlichen Unterhaltungen aus. Die gebildetsten römischen
Großen pflegen nämlich öfters sogenannte Akademien zu veran-
stalten, die in so fern rein geistige Genüsse gewähren, als dem
Magen nicht das Geringste gereicht wird. Der Hausherr ladet
ein, oder dingt auch wohl Dichter, die vorlesen, und besonders
einen oder zwei Improvisatoren. Oft ist eine solche Akademie
sehr langweilig, da man nur selten Sachen von wahrhaft dichte-
rischem Werthe vernimmt; nichts desto weniger scheint es die Rö-
mer unendlich zu interessiren, fade Sonette und noch fadere Im-
provisationen anzuhören."
Unser Reisender rühmt sehr Lie Freundlichkeit und Gefällig-
keit der Römer. ,,2in jedem andern Orte würde es z. B. viel
schwieriger seyn, alle die unzähligen in Wein- und Obstgärten
zerstreut liegenden Alterthümer, und alle, selbst in den Schlafzim-
mern der Vornehmen verborgenen Kunstschätze so nach Lust und
Belieben zu sehen, wie in Rom; allein die Gefälligkeit der Rö-
mer bricht Schloß und Riegel. Zst vielleicht der Weingarten ver-
schlossen, so pocht man den Winzer oft ein paar hundert Schritte
von seiner Arbeit herbei, und doch öffnet er für ein paar Kren-
Der Kirchenstaat.
65
zer mit der größten Bereitwilligkeit, und zwischen Blumen und
Kräutern, Apfelsinen und Citronenbäumen und Weinreben steigt
man einsam und ungestört umher, ohne daß auch nur die Bitte
um Schonung der Früchte an dich erginge. Ja im Gegentheil,
sie freuen sich, wenn man alle Wunderwerke ihrer Gärten genau
untersucht."
Die Italiener sind zwar der Leidenschaft des Trunkes nicht,
aber desto mehr der Spiclsucht unterworfen. ,, Eins der gewöhn,
lichsten Spiele ist die bekannte Mora. Zwei muffen, einander
gegenüber stehend, in demselben Augenblicke jeder eine Zahl aus-
sprechen, und eine gewisse Anzahl Finger aus der vorhin geschlos-
sen gehaltenen Faust ausstrecken. Die Zahl der von beiden Spies
lern zusammen empor gehobenen Finger wird im Augenblick ad-
dirt, und ist die Summe der einen ausgesprochenen Zahl gleich,
so hat der gewonnen, welcher die Zahl aussprach. Dieses ein,
fache Spiel beschäftigt nicht allein die Spielenden, welche mit stra-
ßenweit hallendem Gebrüll die Zahlen auSschreien, sondern auch
einen um sie herum stehenden Haufen Zuschauer."
„Obgleich die Römer mehr als alle andere Italiener sich be-
herrschen können, so können sie doch bei dem kleinsten Anlaß ihre
südliche Lebhaftigkeit nicht verleugnen Die Obsthändler z. B.
pflegen ihre Waaren nicht bloß beim Namen auszuschrcien, son-
dern halten ihnen jedes Mal eine kleine Lobrede, wenigstens da-
bei: „Aber welche Feigen! O was für Apfelsinen!" Nicht we-
niger lebhaft sind die Bettler in Nom. Sie gehören nächst
denen in Venedig und Bologna zu den interessantesten und natio-
nalesten Charakteren von ganz Italien, und sind der Aufmerksam-
keit des Reisenden unendlich werth. Von der höchsten Leidenschaft-
lichkeit bis zu sprachloser Dumpfheit giebt eS kein Mittel, durch
das sie nicht versuchten, Mitleid zu erwecken. Oft sieht man auf
den Straßen, besonders in Bologna, dem Ansehen nach, sehr
anständige Frauen knien; sie sind schwarz gekleidet; ein undurch-
sichtiger Schleier verbirgt ihr Antlitz; mit gefaltenen Händen
knien sie ohne einen Laut von sich zu geben, und warten, bis ih-
nen eine mitleidige Seele Erbarmung angedeihen läßt. Blinde las-
sen höchstens ihre Büchse klappern, und es ist fast unmöglich der
Gewalt djeser stummen Bittwcise zu widerstehen. Andere suchen
durch bloßes Wimmern dein Herz zu rühren. Fast nackt und kaum
ihre Blöße deckend, liegen sie in einem schmutzigen, nassen Winkel
der Straße, und ohne eigentlich zu betteln, ja ohne nur die Au-
gen aufzuschlagen, wimmern sie aufs jämmerlichste, während Frost,
Hunger und Krankheit ihre Glieder zusammenschütteln; und doch
gehen ruhig Alle vorüber ihren Geschäften nach, theils des scheuß-
lichen Anblicks gewohnt, theils Kniffe und Betrügerei argwöhnend.
Dort kniet eine Mutier über hülflose Kinder, die blaß vor Hun-
ger und Krankheit zu ihren Füßen schlummern, ihre Arme aus,
NösseltS Geographien. 5
66
Italien.
streckend; mit herzzerschneidender Miene und Gebehrde und mit
nie versiegender Beredtsamkeit schreit sie rastlos die Vorüberge-
henden an: „Selige Christen, um der Liebe Gottes willen ein
kleines Almosen. Bei der heiligen Jungfrau, vergeßt der Armen
nicht; denn heute ist der Tag des heiligen Gregors! D gebene-
deiete Creaturen! Sehet diese kleinen Kinderchen, die vor Hunger
und Kälte sterben! Gebt, o ihr Seelen Gottes, einem armen
Mütterchen eine Kleinigkeit! Euch möge dafür die heilige Zung-
frau von Loretto belohnen, und der heilige Antonius von Padua
von allem Uebel erlösen! Ach! so viele selige Christen, und keiner
erbarmt sich meiner!" Einmal hörten wir Einen in wüthender
Verzweiflung schreien: „Wenn ich nun bei der heiligen Jungfrau
flehe?" Ist in irgend einer Kirche das Allerheiligste ausgestellt,
so versammeln sie sich schaarenweise; blind, lahm und verkrüppelt
klappern und schreien sie verworren durch einander, wie eine Heerde
Schafe. Selbst in den Kaffeehäusern, aus denen die Aufwär-
ter sie, vermöge eines päpstlichen Befehls, nicht heraustreiben
dürfen, kann sich besonders der Fremde kaum vor ihnen retten,
und als wir eines Abends auf dem Corso umher gingen, warf
sich ein sehr anständiger, grauköpfiger Mann zu unsern Füßen,
ehe wir es verhindern konnten, und ohne sich aufrichten zu lasten,
flehte er mit zwar leiser, aber unendlich dringender Stimme um
5 Paol auf eine so wehmüthige Art, daß er selbst den Härte-
sten gerührt haben würde. Wenn man auch freilich weiß, daß
unter diesen Bettlern eine Menge faules, nichtswürdigcs Gesindel
das Mitleiden der Vorübergehenden mißbraucht, daß die Kinder
oft gemiethet, die Augen der Blinden bloß verpicht, und die
Verstümmelungen künstlich nachgemacht sind, so ist doch andrer-
seits bei dem gänzlichen Mangel an Armenanstalten das Elend
im Kirchenstaate wahrlich viel schrecklicher und allgemeiner, wie
wohl bei uns. Man sieht dies deutlich an den elenden, blaßgelr
ben Gesichtern der niedern Klasse, besonders der Kinder. Wäh-
rend in und um Nom das Blut der höheren Stände wunderschön
ist, verdirbt die saftlose Nahrung fegliche Blüthe der Schönheit
im niederen Volke, und man sollte schwören, daß die erdfarbigen
Zigeunergesichter der armen Stände nicht unter demselben Brei-
rengrade jung geworden wären."
,,Unter den öffentlichen Lustbarkeiten der Römer ist das kleine
Feuerwerk, welches in den Sommermonaten sonntäglich auf
dem Mausoleum des Augusts *) abgebrannt wird. Flammende
Pechpfannen zeigen vom Corso den Weg nach dem Mausoleum,
und nachdem man mehrere Treppen hinaufgestiegen ist, tritt man
*) Dies runde, in Gestalt eines Amphitheaters gebaute Grabmal des
Kaisers liegt nahe am Corso, zwischen dieser und der links auch nach
dem Platze del Popolo laufenden Straße.
Der Kirchenstaat.
67
heraus auf den ringsum mit Sitzreihen eingeschlossenen freien
Raum. Oben wölbt sich der schwarzblaue Plafond des Nacht-
himmels, an dem 1000 wirkliche goldene Sterne funkeln; fast noch
schönere aber glänzen auf den im Feuer unzähliger Lampen schim,
mernden Sitzreihen, oder wandeln auf der Arena (dem unten, in
der Mitte liegenden Schauplatze) umher beim Schalle einer reich-
besetzten Musik; denn es war jedes Mal angekündigt, daß die
„allerberühmtesten Musikprofessoren," d. i. Geldfiedler spielen
würden. Endlich verstummt die Musik, die Lampen verlöschen,
jeder sucht sich einen Platz auf der höchsten Gallerie, um von da
hinab sowohl in den gleich einer dantischen Hölle Rauch und Feuer
speienden Kessel des Mausoleums, als auch auf das tief in däm-
mernder Nacht mit seinen ungeheuren Massen schweigend dalie-
gende Nom zu schauen. Der Vollmond stand gerade hinter der
Kuppel einer benachbarten Kirche, und verbreitete um ihr schwar-
zes Haupt einen sanften Lichtschimmer, so daß dieser hohe Dom
ganz geistcrmäßig und erhaben aussah."
„Nach dein Avemaria versammeln sich die Römer in den
Kaffeehäusern, um im Sommer kühlende Getränke oder
Eis zu genießen. In den schönen Sälen des Caffe nuovo (spr.
nowo) sieht man auch Frauen, und es verlohnt sich schon der
Mühe, mit ihnen Pfirsich - und Orangeneis zu essen. Dieser
merkwürdige Caffee im Pallast Ruspoli (auf dem Corso) besteht
aus 9 Sälen, die in den schönsten Verhältnissen gebaut sind, und
mit einem Garten voll Orangen, Citronen und den herrlichsten
Oleanderbäumen zusammenhängen. Die Lichtmasse, in der alles
schwimmt, die ab- und zuwogende Menge der Römerinnen, die
schöne Architektur, die Wohlgerüche der Orangeblüthen: alles ver-
einigt sich, diesen Caffee zum ersten der Erde zu machen."
So schön auch die Römerinnen sind, so wird doch für
ihre Erziehung und Bildung fast gar nichts gethan. „Nicht ein-
mal ein Bischen Guitarreklimpern und Clavierschlagen lernen sie,
wiewohl doch ihre so rein gestimmte Kehle sie dazu einladen sollte.
Ariost und Tasso kennen sie wenig, und der Höllendichter Dante
ist ihnen eben so unbekannt, als vielen unsrer feinen Damen Klop-
stock, und dennoch findet man selten ein Frauenzimmer, das al-
bern spräche oder sich ungeschickt ausdrückte."
Einen großen Genuß hat in Rom der Fremde, dem es ge-
lingt, die Charwoche dort zuzubringen, besonders „weil durch
die Feier der sixtinischen Capelle unser Herz den gewaltigsten Ein-
druck erhält, den die Musik, ja überhaupt eine Kunst zu geben
im Stande ist. Den Palmsonntag steigen wir bei guter Zeit auf
den Quirinal oder Monte Cavallo, um in der Capelle des
Papstes die Palmenaustheilung zu sehen. Hier war schon alles
in der größten Bewegung. Die Wagen voll Cardinäle und Prä-
laten, durch rothe und violette Lenkscile regiert und mit 5 — 6
Bedienten beseht, raffelten in den Pallast hinein, und jedes Mal
mußten die päpstlichen Soldaten das Gewehr präsentiren, wenn
ein Cardinal vorbeirollte. Wir traten hierauf in die päpstliche
Capelle ein, die Lurch eine Barriere, an welcher die Schweizer
Wache hielten, in zwei Theile getheilt war, so daß in das innere
Heiligthum, wo der Papst saß, nur einem Frack ohne Hut, Hand-
schuhe und Stock zu dringen vergönnt wurde. Die Schweizer
sind bekanntlich fast bärenmäßig grob, haben mit Niemandem
Mitleid und Nachsicht. Sie schoben zu unserm Erstaunen die ger
leckten und knappen Abbati und Weltgeistlichen wie Federbälle hin
und her, wiesen die Frauen ziemlich rauh auf besondere Bänke,
und litten beinahe nicht, daß man denselben auf Pistolenschuß zu
nahe kam. Zwei junge Engländerinnen, die in die Capelle eins
traten, wurden den Augenblick von ihren Begleitern getrennt,
und sobald sich diese ihnen zu nähern suchten, packten die tölpi,
scheu Schweizer sie ziemlich handfest an, und warfen sie bei Seite.
2m Innern war ein Thron aufgerichtet; auf demselben saß der
Papst mit einer silbernen Mühe; rechts und links von ihm in
einer langen Reihe die Cardinäle, Ordensgenerale und Patriar-
chen; den Thron umringten dienende Prälaten, und die päpstliche
Capelle tonte schon heute nicht mit Menschen-, sondern mit En-
gelzungen. Hierauf kamen alle Geistliche der Reihe nach, sogar
endlich die Sänger, knieten vor Sr. Heiligkeit nieder, und em-
psingen aus der Hand des Diakonus die auf hohe Stäbe gcbunde/
uen Palmen. So ausgerüstet reihetcn sie sich in einen Prozes-
sionsaufzug; der Papst wurde auf einem runden Lehnstuhl, hoch-
sihend, von einem Thronhimmel bedeckt, mit herumgetragen, wel-
ches ziemlich gefährlich aussah."
„Am Mittwoch vor dem grünen Donnerstage waren wir
eben wieder ein wenig in die Logen des Rafael eingetreten, als
der Papst, um die Functionen der drei heiligen Tage zu verriet)/
ten, in den Vatikan feierlich eingezogen kam. Während Alles,
Offiziere und Bedienten, um ihn her auf den Knien lag, stieg er
aus, und nahm für diese kurze Zeit Besitz von dieser ungeheuren
Residenz. Die Römer haben wirklich Recht, wenn sie behaupten,
daß man in der Charwoche kaum Zeit habe, an Esten und Trin-
ken zu denken; auch waren der St. Pctersplatz, die Kirche selbst
und der Vatikan nie leer in diesen Tagen. Gegen 4 klhr Nach-
mittags begaben wir uns in die sixtinische Capelle, eine sehr
einfache Hauseapelle des Papstes im Vatikan, und saßen in ge-
spannter Erwartung des durch ganz Europa berühmten Gesanges,
der oft die Sirenenkraft gehabt haben soll, Ketzer in den Schooß
der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen. Der für die Frauen
bestimmte Platz füllte sich mit schwarzgekleideten Damen. Endlich
kamen die Cardinäle in ihren violetten Kleibern mit ungeheuren
Schleppen einhergezogen, und während sie schnell vorwärts eilten.
Der Kirchenstaat.
69
liatte der Schleppenträger alle Hände voll zu thun, um den zu«
sammengerollten Schweif hinterher zu entwickeln. Alle Sitze siisi/
ten sich endlich mit vornehmen Geistlichen wie am Palmsonntage;
die Kerzen wurden angezündet, alles schien in feierlicher Stille den
Papst zu erwarten; allein der prächtige, für seine Heiligkeit be-
stimmte Thron blieb leer. Endlich wurde das Signal zum Anfang
gegeben. Die Psalmen begannen. Etwa 13 wurden gesungen,
und bei jedem eins der 13 pyramidalste!) aufgestellten Lichter aus-
gelöscht. Aber, o höre! nun beginnen die Klagelieder des Pro-
pheten. Einige Engel — denn man sieht nicht, woher die Stim-
men hallen — klagen über den Tod des göttlichen Sohnes in so
wehmuthsvollen Tönen, daß selbst ein eisernes Gemüth in Ban-
gigkeit und Ahnung zerfließen würde. Oft tönt eine Stimme er-
schütternd in Nachtigalmelodien, und man hört die Mutter Got-
tes unter dem Kreuze um ihr Kind jammern. Siche! die Lich-
ter verlöschen; nur eins, die wachsame Mutterliebe der Madonna,
brennt noch; man intonirt zum Miserere; die himmlischen Sän-
ger einigen ihre Stimmen; endlich erlischt auch die letzte Kerze,
und alles liegt in Dämmerung versenkt; nur die Gestalten der
Kardinäle und weißen Prälaten, unbeweglich wie Bildsäulen
sitzend, leuchten durch das Dunkel; alle Sinne vergehen; nur Töne
kann unsre Seele auffaffen. In diesem Augenblicke erhebt, rein
wie Metallglocken, das Chor der unsichtbaren Sänger kraftvoll
und durchdringend seine Stimme: ,,Hcrr, erbarme dich unser! "
Ach! welch banges Sehnen bestürmt unser Herz! Wir wollen zu
den Füßen des Heilands fallen und sie mit tausend Thränen hei-
ßer Liebe benetzen! Wie wahr hat der geredet, welcher nichts
sehnlicher wünschte, als daß in der Stunde des Todes diese sü-
ßen Töne ihn umklingen möchten; denn wahrlich! unsere Seele
quillt in ihnen zum Himmel. Aber schon haben sic verhallt an
den Wänden, die Michel Angelo's *) Niesengeist übertünchte. Wir
ziehen durch die Hellebarden und langen Schwerter der alterthüm-
lichen Schweizer in den schimmernden Saal vor der Sst'tina.
Verschleierte Römerinnen wallen über die von Fackeln beleuchtete
Königstreppe hinab, die in unendlicher Ferne sich in den Säulen-
gängen des St. Peter verliert. Welch ein Nachtgcmälde! Kräf-
tige Schatten, hohe Gewölbe, stolze Säulen, weite Fernen und
magische Schönheit überall!"
Daß sich in Nom stets eine Menge von fremden Künst-
lern, meist Maler und Bildhauer, aufhält, ist bekannt, und
wo könnten sie auch bester die Regeln des Schönen studiren.
*) Michcl Angelo B u o n aro t i war ein berühmter Maler, Bild-
hauer und Baurneister Italiens im I6ten Jahrhundert.
✓
70 Italien.
als an den herrlichen Gemälden und Bildsäulen, die man hier
aus allen Jahrhunderten beisammen findet?
Unter den Umgebungen Noms ist kein Ort berühmter,
als
Tivoli, das schönste, über alle Begriffe reizende und liebliche
Fleckchen Italiens. „ Nie hat kaum die Phantasie des Poussin
ober Claude Lorrain *) ein so in sich abgeschlossenes, sanftes, man*
nigfaltiges und wunderschönes Landschaftsbild geträumt, als die
Natur in Tivoli wirklich vor unseren Augen malt. Wo sind die
Oelbäume so frisch und grün, die Pinien und Cypressen so schlank
und erhaben, die Berge so freundlich gerundet, so wild zerrissen?
Wo stürzen so die klaren Wasser in milchweißen Bogen von Fel-
sen herunter, an deren Stirne zweitausendjährige Trümmer hän-
gen? Wo ist der Himmel so blau und golden, die Lebenslust so
balsamisch, und das Abendroth so glühend? Keine theokritischc
Idylle gleicht der zauberreichen Dichtung dieses kleinen, heimischen
Paradieses. Durch Hitze und Staub wandernd, erblickten wir
endlich die leuchtenden Punkte Tivoli's hoch auf dem Gebirge vor
uns. Bald darauf zogen wir in die elende Stadt ein, und tra-
ten bei einem Gastwirlhe ab, auf dessen Hofe ein berühmter al-
ter Tempel der Sybille steht. Wir verlebten den Rest des Tages
sehr glücklich unter den stillen Cypressen der Villa d' Este, und
den Abend am Abhange des Oclwaldes," der durch sein Alter,
seine zwei Meilen lange Ausdehnung und sein dichtes Laub be-
rühmt ist. „Rechts her, an Z deutsche Meilen, droht der riesen-
hafte Dom von St. Peter durch die Lüfte; der kunstreichste Pin-
sel entwirft nicht einen Schattenriß dieses Gemäldes. Sehr schon
sind die beiden Tempel der Vesta und der Sybilla; sie
hängen beide über dem Abgrund, in den der Teverone den furcht-
baren Sturz macht. Die Ruinen der Villa Hadrians ge-
hören zu den gewaltigsten aller, die überhaupt auf uns gekommen
sind." Der Kaiser Hadrian nämlich erbaute sich hier einen Rie-
senpallast, der 2 deutsche Meilen im Umfange hatte, und alles
Köstliche und Prächtige enthalten sollte, was der Mensch nur zu-
sammenbringen kann. Da gab es Wohnpalläste, Gärten, Mu-
seen, Tempel, Spielplätze, Bäder, Teiche u. s. w. „Jetzt liegt
das alles dermaßen in Trümmern und Graus durch einander
daß man nur ein verworrenes Bild bekommt." Zu den Merk-
würdigkeiten von Tivoli gehört auch der Wasserfall des
Teverone. Der Fluß stürzt brausend in einen tiefen Schlund,
an dessen Abhang die Felsenstadt gebaut ist. Der Schlund hat
einen Ausweg durch eine Grotte, die man die Grotte des
Neptuns nennt. Man kaun auf einem schmalen Fußsteige zu
*) Zwei berühmte französische Landschaftsmaler.
Die Republik San Marino.
71
ihr hinuntersteigen; und wird für diese Mühe reichlich belohnt.
Aus einer Oeffnung in der Decke stürzt der Fluß in die innere
- Höhlung wenigstens 20 Fuß tief hinab, und bringt dadurch ein
Schauspiel hervor, das einzig in seinerArt ist. Die ganze Grotte
ist mit wüthend schäumenden Mastern angefüllt, die in einem un-
endlichen Kampfe begriffen sind. „Die heruntergestürzte und auf
dem Fclsgrunde zerschellte Fluth steigt, in weißen Schaum auf-
gelöst, wieder empor, wüthet dem stürzenden Fluß entgegen, wird
auf die Seite gedrängt, stürzt von neuem herunter, und wird
von den kommenden Fluthen aufs neue cmporgeristen. Die ganze
Grotte ist das Bild des schrecklichsten Kampfes eines schrecklichen
Elements. Malen läßt sich die Seene nicht; denn wer kann To-
ben, Wüthen, Zerstäuben, Brüllen und eine ewige Veränderung
Lurch den Pinsel darstellen? Hier ist jeder Augenblick durch den
folgenden wüthend verschlungen, ehe man ihn wahrzunehmen ver-
mochte." Der oben am Rande des Schlundes stehende Sybillcn-
lempel ist von einer so schönen Form, daß er das Auge bezau/
bert; seine Säulen sind von hohem Alterthum, von braungefieck-
tem Serpentin, von korinthischer Ordnung *). Außer jenem Falle
des Teverone giebt cs hier noch mehrere Wasserfälle. Eine liefe
und breite Erdspalte, in welcher die herabgestürzten Gewässer flie-
ßen, heißt die Grotte der Sirenen, die an Wildheit der For-
men der des Neptuns nichts nachgiebt. Auch besuchen wir die
Cas ca kellen; so heißt die Stelle, wo mehrere Bäche in den
mannigfaltigsten Gestalten sich in die Tiefe mehr oder weniger
steil ergießen.
Der Papst besitzt im Umfange des Königreichs. Neapel
zwei kleine Landschaften, die Fürftenthümer Pontccorvo
und Benevento.
Ponte corvo, eine kleine Stadt, liegt nicht weit von der
Gränze des Kirchenstaats und dem tyrrhenischen Meere.
Benevento, etwas größer, finden wir mehr im Innern
des Neapolitanischen, von der Stadt Neapel östlich.
Che wir die Reise von Nom nach Neapel antreten, wol-
len wir
8. Die Republik San Marino,
das kleinste Ländchen in Italien, besuchen. Sie liegt im Um-
fange des Kirchenstaats, zwischen den Städten Ravenna und
*) Die verschiedenen Saulcnordnungcn sind erklärt in meinem Lehrbuche
der Mythologie für höhere Töchterschulen, S. 48.
12
Italie n.
Ancona. Sie besteht nur aus einem einzigen Berge und ei-
nigen umliegenden Hügeln. Ein Einsiedler des 6ten Jahr-
hunderts, der heilige Marinus, soll auf dem Berge seine Ein-
siedelei gehabt haben. Seine Heiligkeit machte, daß Viele
herbeiströmten, und sich in seiner Nahe ansiedelten. So ent-
stand der auf dem Berge liegende Ort, ein kleines Städtchen,
mit krummen und steilen Gassen, die so eng sind, daß kaum
drei Menschen neben einander gehen können. Das Merkwür-
digste ist, daß der kleine Staat sich bei allen Stürmen so
vieler Jahrhunderte erhalten hat, wahrend rings herum die
größeren Staaten große Veränderungen erlitten. Aber eben
wegen seiner Kleinheit ist er Keinem gefährlich, und reizt auch
die Habsucht der Eroberer nicht. Die Negierung wird von
zwei Consuln geführt, die alle 6 Monate durch andere ersetzt
werden. Nach ihnen hat die höchste Würde der Richter; dann
folgt der Arzt, und auf diesen der Geistliche.
Jetzt kehren wir nach Nom zurück und treten unsere
Reise nach Neapel an. Es ist die unsicherste Reise in ganz
Italien, wegen der Räubereien, die auf diefer Straße an den
Reifenden oft verübt werden. Denn theils kann sich das
Raubgesindel in dem Schilfe der pontinischen Sümpfe, durch
welche die Straße führt, leicht verbergen, und den Reisenden
auflauern, theils bietet ihnen die Gränze der beiden Länder
einen leichten Zufluchtsort dar. Man denke sich die ponti-
nisehen Sümpfe nicht als einen öden, mit Wasser und
Schilf bedeckten Landstrich; im Gegentheil erscheinen sie als
freundliche, lustige Wiesen, die hier mit Bäumen, dort mit
Schilf bewachsen sind. Aber man traue ihnen nicht; denn
unter der grünen Decke sind hier und da wirklich Sümpfe,
welche die giftigste Luft aushauchen; doch sind auch schon ein-
zelne Striche ausgetrocknet, und hier weiden große Heerden von
Büffeln und Pferden. Die herrliche Straße ist mit Bäumen
eingefaßt; die Luft und der Sumpf wimmelt von Tausenden
von Wasscrvögeln aller Art, und diese geben der sonst todten
Gegend allein einiges Leben. Die Luft weht den Reisenden
73
Der Kirchenstaat.
so lieblich an, daß man kaum glauben möchte, sich in der
giftigen Gegend zu befinden. Und doch ist cs so. Besonders
schädlich ist die Luft in der heißen Jahreszeit, und wenn man
sich dem Schlafe überläßt. Daher pfiegt auch der Vetturin
oder Postillon, mit dem man fährt, den Reisenden vor dem
Schlafe zu warnen. Die hier wohnenden Menschen haben ein
klägliches Ansehen; blaß, gedunsen, mit hohl liegenden Augen
und dicken Bäuchen. Endlich hat man die berüchtigten Süm-
pfe durchflogen, und man erreicht den letzten Ort des Kirchen-
staats, die auf einer Anböhe liegende Stadt
Terraeina. „Hätte die Natur auf einen Abstich geson-
nen, so würde sie ihn nicht auffallender haben liefern können,
als sich zwischen der eben beschriebenen Wüstenei und der herr-
lichen Gegend von Terracina findet. Sobald man die 5 Meilen
lange Straße durch die Sümpfe zurückgelegt hat, lenkt man um,
und die ganze große Ebene ist mit einem Male verschwunden.
Die Stabt liegt auf einem Berge, dessen Abhang sich bis an den
Strand hinabsenkt, und aus lauter Gärten besteht. Diese sind
ganz voll großer Orangen - und Citronenbäume, deren Zweige
schwer beladen mit der goldenen Frucht zur Erde herabhängen.
Hier und da erhebt eine schöne Dattelpalme ihr Haupt über die
niedern Obstbäume, und indianische Feigen bekleiden in großer
Menge die Felswände. Das Meer sieht man wie lebendig von
großen und kleinen Fahrzeugen. Zur Rechten steht das Vorge-
birge der Eiree, gegen über drei schöne bergige Inseln, weiterhin
Santa Maria, der Verbannungsort der unglücklichen Tochter
Augusts, Julia *), und zur Linken steigen in grauer Ferne die In-
sel Jschia (spr. Jskia) und die zwei Spitzen des Vesuvs, wie
kleine Wolken, aus der flachen See empor. Das Ganze ist so
hehr und doch so lieblich, daß es sich nicht beschreiben läßt. Der
herrliche Kranz von Früchten und Blüthen um die Stadt, die
Menge der südlichen Gewächse, dann das weite Meer, die In-
seln , die malerischen Felsen, und noch hoch auf einem Berge eine
aus einer Menge von Bogen bestehende Ruine, alles ist ganz dazu
gemacht, die Phantasie des Reisenden in Bewegung zu setzen."
Hier an der Gränze des Kirchenstaats und des Königreichs Nea-
pel bleiben wir fürs erste stehen, und wollen unsere Reise erst
fortsetzen, wenn wir einen allgemeinen Blick über dies ganze Kö-
nigreich, das wir nun betreten wollen, geworfen haben.
*) S. mein Lehrbuch der
Th. 1., S. 284.
Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
c
74
Italien.
9. Das Königreich Neapel.
Man nennt es auch das Königreich beider Sicilien, ver-
steht aber dann zugleich auch die Insel Sicilien darunter, weil
beide Einem Könige gehören. Die aus dem Kirchenstaate kom-
menden Apenninen lagern sich über das ganze Land, und zie-
hen sich mit ihren Seitenzweigen bis an die Seeküstcn hin.
Ein Zweig tritt ein weites Stück in das adriatische Meer
hinein, und bildet gewissermaßen den Sporn des Stiefels.
Man nennt diesen Vorsprung den Berg Gargano. Im
Südosten bildet das Meer den großen Meerbusen von Tarent.
Wo gäbe cs ein schöneres Land als Neapel! Alles, was
oben Schönes von Italiens Milde und Lieblichkeit gesagt wor-
den ist, findet im vorzüglichsten Maßstabe auf Neapel Anwen-
dung, und selbst der hohe Aschen - und Lavakcgel Vesuv
dient mit seinem ewig rauchenden Crater nur dazu, das Bild
des ewigen Frühlings und der lachendsten Natur noch mehr
zu heben. Nur in den Gebirgen ist der Winter von Dauer,
und mit Schnee und Eis begleitet. Im tiefen Lande ist cs im
Winter dann und wann wohl feucht und rauh, aber selten
bis zum Frieren des Wassers; daher haben auch die Einwoh-
ner gar keine Anstalten zum Erwärmen ihrer Zimmer. Desto
heißer ist die Mittagsgluth im Sommer, am meisten, wenn
der glühende Sirocco weht.'
Waren schon die Nord- und Mittelitaliener lebhaft, so
sind es die Neapolitaner noch mehr. Ein dunkles Feuer glüht
aus ihren schwarzen Augen, und ihre Lebhaftigkeit ist so stür-
misch, daß sie alles schreiend und lärmend verrichten. Mehr
werden wir über sie bei der Stadt Neapel sagen. Das Land
wird von einem König regiert. Für Beförderung des Fleißes,
der Wissenschaften, der Künste, der Fabriken und des Han-
dels wird wenig gethan, und das Volk ist daher in tiefer
Unwissenheit und in crassem Aberglauben.
Wir setzen nun unsere Reise von Rom nach Neapel fort.
Sobald wir den Kirchenstaat verlassen haben, und ins Nea-
politanische getreten sind, finden wir eine ganz neue Na-
tur. Der bis dahin schlecht angebaute Boden ist verschwun-
den; die ganze Natur athmet ein Leben, welches man weit
Das Königreich Neapel. 75
um Nom herum nicht kennt. Ueberall zahlreiche Bevölkerung
von Menschen, die den Boden thätig anbauen; wohlgenährte
Thiere in Menge; hohe Berge sind mit dem frischesten Laub-
grün bedeckt; steinige, aber mühsam bearbeitete Hügel tragen
die ergiebigsten Oliven- und Feigenanpflanzungcn. So herr-
lich hier die Natur Ist, so widrig erscheinen dem Reisenden
die Menschen, die ihm in der ersten neapolitanischen Stadt,
die er betritt, Fondi, aufstoßen. Diese Stadt ist ein wah-
res Näubernest. Es ist, als hätte das Volk nur auf die
Ankunft der Reisenden gelauert, um sie bettelnd zu bestürmen.
Die Einwohner haben ein verwildertes, abschreckendes Anse-
hen. Aus allen Häusern stürzt Bettelgesindcl, mit ächten
Dicbsphysiognomien, die Hände ausstreckend und schreiend,
auf den Wagen los, und die Reisenden sind nicht im Stan-
de, den Heißhunger dieses Volks zu sättigen. Die Lumpen,
welche sie bedecken, sind auffallend bunt von den brennendsten
Farben. Die Männer haben über die schwarzen Haare schmu-
tzige seidene Netze gezogen, und die Weiber haben ihr häßli-
ches, nicht selten zweifarbiges Haar auf dem Kopfe zufam-
mengewunden und mit großen eisernen Nadeln befestigt, deren
sie sich zugleich als Waffen bedienen.
Der Weg bis nach Neapel ist ein ununterbrochener Frucht-
garten. Wcinrankenfestons schweben an Oliven- und Maul-
beerbäumen ; unter ihnen reiche Felder voll der mannigfaltig-
sten Getreidearten, die zweimal geerndtet werden. Links er-
blickt man kräftige Waldungen und malerische Ruinen zwischen
romantischen Felsenpartien, darunter die Trümmer einer altrö-
mischen Villa, die einst dem großen Cicero gehörte. Nur be-
gleitet den Reisenden bis Neapel das beständige Geschrei der
Bettler. Wir treffen auf keine Stadt von Bedeutung, als
auf
Gaäta, eine starke Festung, auf der Spitze eines Felsens,
der sich weit ins Meer erstreckt, und nur durch eine schmale Zunge
mit dem Lande zusammenhängt. Der davor liegende Meerbusen
führt von dieser Stadt den Namen. Endlich erreichen wir die
große Hauptstadt
Neapel, die Residenz des Königs. Sie ist die größte und
volkreichste Stadt Ztaliens; denn sie zählt an 350,000 Einwohr
ner. Sie hat den Beinamen üäsHsLium, die getreuste. Ihre
76
2í alien.
Lage ist unvergleichlich schön, an dem Golf von Neapel, den im
Nordwcsten das Vorgebirge Miseno, und im Südosten das
Vorgebirge der Minerva einschließen. Um diesen Meer/
busen zieht sie sich in einem halben Bogen hin, und ist an die
Berge, die in ihrem Nucken liegen, amphitheatralisch hinangebaut,
so daß man, zu Schiffe ankommend, die ganze Stadt übersehen
kann, und die Häuser um so höher liegen, je weiter sie vom
Meere entfernt sind. Merkwürdige Alterthümer, die uns in Nom
fast in jeder Straße aufstießen, finden wiß hier zwar nicht; aber
prächtige Pallaste in Menge. Die Straßen sind meist eng, aber
die Plätze groß und schön, und unbeschreiblich ist das Getümmel
und Geschrei in den Straßen. „Beim Eintritt in Neapel,"
sagt eine Reisende, „war es uns, als ob wir uns in eine Men-
schenfluth stürzten. Gewöhnt an die Stille von Rom, erfüllte
nns das Menschengewühl mit einem Gefühle, dem die Idee von
Aufruhr zum Grunde lag." Am ärgsten ist der Tumult in der
längsten, breitesten und prächtigsten Straße Toledo, welche fast
die ganze Stadt durchschneidet, und das Herz Neapels genannt
werden kann. Die Häuser haben zum Theil platte Dächer, auf
denen man die entzückend milden Spätabende und halben Nächte
zuzubringen pstegt. Fast alle Häuser sind mit Balconen versehen,
und da die Straßen meist bergauf und bergab gehen, so ist es
nichts Seltenes, daß man, nachdem man vorn 1—2 Treppen
hinaufgestiegen ist, hinten sich auf gleicher Erde befindet. Der
Hafen, um den sich die Scadt wie ein Ainphitheatcr ausbreitet,
hat in der Milte einen Molo, der sich ins Meer wie ein Arm
erstreckt, und wird im Westen durch eine zweite Landzunge be-
gränzt, auf dem eine kleine Festung, Cast ello Ovo, liegt.
Nahe am Hafen, gleich an der Wurzel des Molo, liegt das
große königliche Schloß, mit einer köstlichen Aussicht über
den von Schiffen belebten Golf. Hoch über der Stadt, auf
einem Felsen, ist das C a stello San Elmo, und am nördlich-
sten Ende der Stadt, auch auf einer, die ganze Stadt und den
Golf beherrschenden Höhe, thront der königliche Pallast Capo di
Monte. Daß die Stadt an Kirchen und Klöstern überreich sey,
versteht sich von selbst. Unter ihnen ist am ausgezeichnetsten die
Ka t h e dr a lkir ch e, ein altes, ehrwürdiges Gebäude, dessen Dach
von 110 Granit/ und Marmorsäulen getragen wird. Zu ihr ge-
hört die Capelle des heiligen Januarius. Dieser Heilige
ist nämlich der Schutzpatron von Neapel, und wirb vor allen
sehr verehrt. Seine Gebeine liegen in dieser kostbaren Kapelle,
und sein vermeintliches Blut befindet sich in einem gläsernen Ge-
fäße. Alle Jahre wird dasselbe am l9len September in feierli-
cher Prozession in Neapel von den Priestern herumgetragen, wäh-
rend sie und das Volk inbrünstige Gebete zum Heiligen schicken,
daß er doch sein Blut flüssig werden lasse. Geschieht dies, so ist
Das Königreich Neapel.
77
ganz Neapel voll Jubel; denn dann hat man Glück und Segen
zu erwarten; bleibt es aber trocken, so ist das ein sehr übles Zei-
chen. Wie es die Priester anfangen, um die rothe Masse im
Glase flüssig zu machen, ist uns nicht bekannt. Unter den öf-
fentlichen Gebäuden zeichnet sich noch das Theater San Carlo
aus, das nahe am Schlosse steht. Es ist wohl das größte, das
man hat, und noch größer als das in Parma, dabei ungemein
prachtvoll, und blendend erleuchtet. Sechs Reihen Logen sind
über einander. Es ist rosa gemalt, und mit Gold und Silber
verziert. Manchen Abend brennen 8000 Wachskerzen, ohne die
Kronleuchter zu rechnen. Eine eigene Klasse von Einwohnern sind
die Lazzaroni, deren Zahl auf 40 — 60,000 angegeben wird.
Dies ist die arbeitende Klasse, die dabei so arm ist, daß viele
nicht einmal eine Wohnung haben, sondern unter den Vorhallen
der Kirchen oder auf den Ecksteinen der Straßen schlafen. Ein
Reisender sagt folgendes über sie: „Ob man gleich glauben sollte,
daß es keiner großen Stadt an Lazzaroni fehlen könnte, so hat
dennoch die außerordentliche Leichtigkeit der Subsistenz, verbun-
den mit der großen Beweglichkeit des süditalienischen Volkschar
rakters dem neapolitanischen Lazzaronicorps einen ganz besondern
Geist und ein eigenthümliches Gepräge mitgetheilt. Das Leben
scheint überhaupt in keinem Orte der Welt so öffentlich zu seyn
wie hier. Alle Gewerbe, ehrliche und unehrliche, treibt man auf
der Straße; die Kuchenbäcker fahren ihren ganzen Kram auf zwei-
rädrigen Karren umher, die Kaffeebuden sind ganz frei und offen.
Man brät, kocht, ißt, trinkt und verrichtet fast alle Geschäfte
unter freiem Himmel. Der Lazzaroni hat weder Holz noch Woh-
nung nöthig; seine ganze Bekleidung besteht gewöhnlich in einem
Paar leinenen Beinkleidern und einem Hemde; seine Brust ist
offen, sein Kopf unbedeckt. Er lauert den ganzen Tag unbeküm-
mert, bis ihn der Zufall ein paar Kreuzer in die Hände führt;
damit steigt er an den Strand hinab, kauft vielleicht einige elende
Fische für dieses kleine Capital, und läuft damit schreiend durch
ganz Neapel, Jedem versichernd, es seyen die besten Thiere, welche
seit Wochen gefangen wären. Endlich setzt er seine Waare doch
mit einigem Gewinn ab, und davon lebt er fröhlich den Tag
über. Einerseits sind sie die treusten, gutmüthigsten und genüg-
samsten Leute von der Welt; mehrere Fainilien bedienen sich ih-
rer zu den schweren häuslichen Verrichtungen; ja manche ver-
trauen ihnen sogar Sachen von Werth, z. B. silberne Löffel und
dergl. zum Putzen an, ohne daß sie jemals Ursache über sie zu
klagen hätten, und man findet Lazzaroni, die oft 20 Jahre lang
in solchen Häusern zur Zufriedenheit aller dienen. Sie lassen sich
als Lastträger gebrauchen, und sind mit einer angemessenen Be-
lohnung gern zufrieden, während man in andern italienisches
Städten der ungeheuren Unverschämtheit dieser Kerle nie genügen
78
Italien.
kann. Giebt man diesen auch nur ein kleines Felleisen zu tragen,
\o keuchen sie oftmals fürchterlich, als ob sie schwindsüchtig und
jeden Augenblick bereit wären, Len Geist unter dieser lächerlichen
Bürde aufzugeben. Jeder Angstausruf: „Heiliger Gott! welche
ftupende Last! welche grausame Anstrengung!" soll den Lohn um
einige Procente erhöhen. Alle solche Teufeleien sind den rohen
Lazzaroni unbekannt, und man ist nirgends bester bedient, als
eben in Neapel durch ihre Hände, wenn man sic auch freilich
immer ein wenig im Auge behalten muß. So treu sie also auch
im Ganzen genommen gegen einzelne Bekannte, und wer sonst
mit ihnen gut umgeht, erfunden werden, so sind sie doch andrer-
seits jeden Augenblick bereit, „alle ehrliche Leute," wie sie sich
ausdrücken, „um des heiligen Glaubens willen umzubringen,"
Feuer anzustecken, wo man es verlangt, und zu buskiren, daS
heißt zu rauben und zu stehlen, wo sie nur können. Dazu aber
bietet sich ihnen die vortrefflichste Gelegenheit dar, wenn der Ve-
suv oder der Thron eine Erschütterung erleidet; bei solchen und
ähnlichen Umwälzungen ist diese Masse Volks von jeher für Nea-
pel fürchterlich gewesen, und ist es jetzt noch," wie die Bürger
dieser Stadt in den letzten Kriegen einige Mal erfahren mußten.
Besonders war dies der Fall 181Z, als Mürats Negierung ge-
stürzt wurde. Zn der Zeit zwischen seinem Sturz und dem Ein-
rücken der Oestreicher, ergriffen sie, unter dem Vorwände, die
Bourbons auf den Thron einsetzen zu helfen, die Gelegenheit,
Neapel in Brand zu stecken, und so viel, als ihre Arme ver-
möchten, zusammen zu rauben. Sie versammelten sich deshalb
unter ihren Häuptern, mietheten im Voraus Magazine für den
Raub, und vertheilten die Regionen der Stadt planmäßig zur
Plünderung unter sich. Unterdeß vereinigten sich die Bürger so-
gleich zu einer Garde, und unternahmen einen Feldzug gegen die
Lazzaroni; wo man einige derselben zusammen fand, schoß man
sie ohne Umstände nieder. Endlich nach einer angstvollen Woche
rückten die Ocstreicher ein, und machten den Unruhen ein Ende."
Die hiesige Universität will nicht viel bedeuten; bester ist für
die Künste gesorgt. Zn dem großen Museum, die Studien
genannt, im nördlichen Theile der Stadt, unterhalb des Schlos-
ses Capo di Monte, finden wir köstliche Sammlungen. Da sichest
du unvergleichliche Bildsäulen, die zum Theil in den aufgegrabe-
nen alten Städten Herculanum und Pompeji gefunden worden
sind, nebst einer ungeheuren Menge von andern Dingen, die man
in diesen Städten fand: Hausgeräth, Vasen, Glassachen, alte
Gemälde, Gefäße aller Art, Dutzende von metallenen Spiegeln,
Kämmen, Schlüsseln, Farbenbüchsen, zum Theil noch mit fri-
schen Farben gefüllt, auch verkohlte Speisen, z. 33. Waizenkör-
ner, Brodte, Torten und Pasteten; sehr kunstvolle Halsketten für
Damen, Siegelringe, und vieles andere mehr; ferner eine Ge-
Das Königreich Neapel.
79
mäldegallerie; eine Bibliothek, und eine Anstalt, die alten, in
Pompeji gefundenen Schriftrollen vorsichtig aufzurollen. Hier
befindet sich auch der berühmte farnesische Hercules *).
Unter den Plätzen suchen wir den größten auf, die Piazza
del Mercato, nahe am Sceufer, im östlichen Stadttheile.
„Jedes Geschäft wird hier mit Lärmen betrieben; fragst du mich,
so verstehe ich dich nicht; sage ich dir etwas, so hörst du mich
nicht. Rings umher stehen die Tische der Lebensmittelverkäufer.
Limonen und Apfelsinen sind hier zu Bergen aufgeschichtet; das
Meer scheint seine Bewohner ausgespien zu haben; an allen Ecken
wird gesotten und gebraten. Hier wohnt die niedrigste Klasse der
Neapolitaner, welche keinen Fleck eigen besitzen, wo sie NachtS
ihr Haupt niederlegen können. Zn diesen thurmhohen Häusern
leben sie gedrängt zusammen. Weil es ihnen immer zu enge
wird, so schlagen sie den großen Platz zu ihrem Hause, und so
lange es Tag ist, treiben sie sich hier unter freiem Himmel um-
her, schreiend arbeitend, oder müssig schreiend." Auf diesem Platze
stand das Blutgerüst, auf dem die Köpfe Conradino's und Fried-
richs von Oestreich 1268 fielen **). In einer Kirche am Markte
liegt Conradino begraben. Seine Mutter hatte sich auf die Nach-
richt von seiner Gefangenschaft aufgemacht, ihn mit schwerem
Gelde auszulösen. Als sie nach Neapel kam, war nichts mehr
zu lösen als die todte Hülle, die man zu den andern Hingerich-
teten eingescharrt hatte. Sie zahlte große Summen für die Er-
laubniß, ihn ausgraben zu lassen, und ließ ihn in tiefem Grame
in jener Kirche beisetzen.
Eine Reisende beschreibt den Eindruck, den Neapel bei ihrer
Ankunft auf sie gemacht habe: „Mit welchem freudigen Erwachen
begrüßte ich den heutigen schönen Frühlingstag! Zch richtete mich
von meinem Lager auf, und erblickte durch mein Fenster das vom
Sonnenglanz widerscheinende Meer. Als ich auf den Balcon
hinaustrat, bemerkte ich erst, daß es noch früh am Tage sey;
das volle Gewühl des Lebens war noch nicht erwackst. Zn der
Straße liegen an den Häusern und an der Mauer des Kai auf
den harten Steinen noch im tiefen Schlafe Lazzaroni - Familien.
Zn ihren angebundenen Kähnen schlummern noch ruhig die Fischer.
Zn der kühlen milden Morgenluft flattern die Wimpel der in der
Bucht ankernden Schiffe. Ueber diesen Blick hinaus, hinter Por-
tici, erhebt sich mit seiner Rauchsäule der Vesuv. Fern in der
Mitte des Meerbusens ragt die durch den Aufenthalt des finstern
schrecklichen Tiber berüchtigte Znsel Capri empor. Rechts erstreckt
*) S. meine Mythologie für Töchterschulen, S. 290.
**) S. meine Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg., Th. 2.,
S. 136; auch meine Geschichte der Deutschen für Töchterschulen, Th. 1.,
S. 365.
80
Italien.
sich die westliche Küste des Golfs ampbitheatralisch in einem gro-
ßen Bogen von der Stadt bis zum Posilippo (s. unten), mit
Pallästen, Kirchen, Häusern und Gärten überdeckt. Capo Mi-
seno, tief ins Meer hineintretend, ist der leiste Punkt. Einen
noch größeren Bogen bildet der den Golf umfassende linke Arm.
Portiei, Torre Lek Greco, Torre teil’ Annunziata, Castell' al
Mare, Sorrento, Salerno, bis gegen Pästum hin, reihen sich
Liese Hügel an einander, auf deren letzter Spitze das Vorgebirge
der Minerva liegt, durch einen MeereSarm von Capri getrennt."
„So gut wie Nom und Sicilien," sagt ein andrer Reisen-
der, ,, ist auch Neapel eine wunderbare, nie gesehene Welt für
sich allein; aber wie eigenthümlich, wie verschieden von jenen er-
greift es unsere Seele." Hier wandelt unser Fuß nicht auf
alten Trümmern zusammengesunkener Nömerpracht, keine Säu-
len schauen aus dem Boden, kein Colosseum droht in die Lüf-
te, verschollen ist das Alterthum; kein venetianischcs Gold hat
kühn unvergängliche Dämme ins Meer geworfen; verschwunden
ist alle Vergangenheit. Dagegen aber, wie mächtig waltet der
Zauber der lebendigsten Gegenwart über dieser wundervollen
Stadt. Die längst gepriesenen Schönheiten der jungfräulichen
Natur sind so blendend und unendlich, daß sic das Herz, wel-
ches sie kaum zu fassen vermag, gewaltsam erschüttern. Ach!
welche Purpurgluth hat den lichten Sapphir des neapolitanischen
Himmels angehaucht! Gegen den klaren Guß des dunkelblauen
Meers ist aller Lasur trübe, und gegen den glänzenden Sammet
der grünen, erquickenden Matten aller Smaragd düster. Statt
prachtvoller Kuppeln steigen überall sanfrgerunbete Höhen, statt
marmorner Säulen gothische Felsennadeln in die Lüfte; die schwel-
lend üppige Natur duldet nirgends die Hand des Künstlers. So
auch die Neapolitaner selbst, die in dieses Meer von Schönheit
und Fülle dergestalt versenkt sind, daß sie eigentlich nie zu inne-
rer Besinnung gelangen können. Kraftvoll, aber ungezähmt, wogt
und lebt die zahllose Menge auf dem Toledo, der Chiaja *)
(so heißt der lange Kai am Meere, der sich am westlichen Ende
der Stadt weit hin längs dem Ufer hinzieht) und an dem Strande
der heiligen Lucia. Pulcinelle und Taschenspieler schlagen überall
ihre Bühnen auf, und unterhalten das Volk mit unversiegbarer
Geschwätzigkeit. Beredte Priester sprechen mit unglaublicher Le-
bendigkeit zur Menge, und es ist ein Leichtes, sich 50,000 Zu-
hörer zu verschaffen. Alles lebt; Neapel kennt nur Eine Zeit:
die Gegenwart. Die Aussicht von dem königlichen Schlosse Ca-
*) Auf dieser Chiaja steht auch jetzt die herrliche und berühmte Grup-
pe, die unter dem Namen des sarnesischen Stiers bekannt ist.
Sie stellt dar, wie die Königin Dirke mit den Haaren an einen wilden
Stier gebunden wird, um zu Tode geschleift zu werden- S. mein Lehr-
buch der Mythologie für Töchterschulen, S.270.
Das Königreich Neapel.
81
p o d i Monte ist schon bezaubernd; aber wer oben vom Castell
San Elmo herab das erste Mal seine Augen über Italien öff-
nete, wurde von der düsteren Erde in einen glänzenden Himmel
entrückt zu seyn glauben; die kühnsten Flügel der Phantasie sin/
ken Jedem, der es wagen wollte, Himmel, Erde und Meer, ge-
badet in allen brennenden Farben des Regenbogens, zu beschrei-
ben, und kaum sollte man glauben, einen noch erhabenern Stand-
punkt zu wählen. Dennoch gewährt diesen das Kloster der
C a m a l L u l e n scr, zu dem man auf einem Wege von etwa zwei
Stunden hinaufsteigt. Die Aussicht von dem Garten der from-
men Väter herab übertrifft an schillerndem Glanz der Farben und
an Mannigfaltigkeit der Gegenstände vielleicht die meisten unseres
Erdbodens. Man erblickt alle Berge der südlichen Erdzunge; der
Vesuv und der Monte Somma, der Posilippo, liegt wie ein
breites, grünes Bette mit allen seinen Ulmenwäldern und Rc-
bengewinden gerade unter uns, sammt der ungeheuern Stadt,
die sich schlangenförmig am Meere hinlegt, bis über Torre del
Greeo (am Fuße des Vesuvs) hinaus, eine Menge Berge und
Thäler in tausendfachen Farben von Grün, alle Inseln, Jschia
mit dem hohen Epomeo, Spitzen, Landzungen, Meerengen und
Vorgebirge, das wilde Capri mit seinen kühnen Felszacken, ja
weiter hin selbst Gaeta und Terraeina; alle diese seligen Schön-
heiten im sanften, prachtvollen Glanze des italienischen Himmels
erfüllen hier die Seele des Fremdlings, der nicht hoffen kann, sie
jemals wiederzusehen, mit unaussprechlicher Wehmuth."
,,Ueberall sieht man in Neapel lustige Leute. Alte und Jun-
ge, alles lacht so viel als möglich, und spielt, wenn es kann,
oft schon am frühen Morgen; die Jugend gewöhnlich mit kleinen
Steinchen; die Alten, oft mit schon schneeweißem Barte, sehen
stundenlang mit größtem Interesse zu; oder zwei bis drei haben
ein jahrelang schon gebrauchtes Kartenspiel, und 20 — 30 dicht
um sie gedrängte Zuschauer legen das hohe Interesse, das sie an
diesem Spiele nehmen, durch die frappantesten Züge des Gesichts
an den Tag. Und dies alles geschieht vom frühen Morgen bis
zum späten Abend auf offener Straße."
Sonderbar ist es, daß unter dem schönen Himmel die Frauen
größtentheils häßlich sinh. Sie haben bräunliche Hautfarbe, sind
klein und hager, und nur ihre feurigen Augen sind zuweilen schön.
Meist sind die Vornehmeren in schwarze Seide gekleidet, und ha-
ben im Nacken eine häßliche Kapuze, die sie bei schlechtem Wet-
ter über den Kopf ziehen.
Mit Vergnügen erwähnen wir einer sehr lobenswerthen Ein-
richtung in Neapel: der Brüderschaften. Dies sind Gesell-
schaften, um irgend einen wohlthätigen Zweck zu erreichen. Eine
verdient besonders gerühmt zu werden: die Brüderschaft dc-r
Weißen. Sie besteht meist aus Leuten der ersten Stände. Sic
N ö ss e l t S Geographie H. 6
82
Italie n.
sind die Freunde, der Trost, die letzte Hülfe jedes Unglücklichen,
der zum Tode verurtheilt worden ist. Die letzten drei Tage sei/
nes Lebens sind sie beinahe seine einzige Gesellschaft. Sie be,
reiten ihn zu der Neise in das dunkle Land, stillen alle seine
Wünsche, begleiten ihn auf den Nichtplatz, und führen ihn durch
hoffnungsreiche Gebete und Vorstellungen im entscheidenden Au-
genblicke der andern Welt zu. Aus des Nachrichters Händen em-
pfangen sie den Leichnam, und senken ihn unter frommen Ge/
sängen ins Grab. Aber damit ist ihr Amt noch nicht aus. Sie
sind auch die Väter derer, welche der Unglückliche hülflos hinter-
lassen hat, erziehen seine Söhne, verheirathen seine Töchter, und
unterstützen seine Witwe mit Rach und That.
Merkwürdig ist das .Campo santo (heiliges Feld), der
Begräbnißplatz. Man begräbt in Neapel die meisten Todten in
die Kirchen. Die aber nicht dorthin kommen, werden nach dem
Campo santo vor der Stadt gebracht. Mehrere Cypreffenallecn füh-
ren dorthin. Es ist ein großer viereckiger Platz, mit einer Mauer
umgeben. Hier befinden sich 366 ausgemauerte Gruben, deren
jede mit einem genau paffenden Steine verschlossen ist. Jeden
Tag steht eine andere offen, um die Opfer des Todes aufzuneh-
men. „Es war an einem schönen Abend, als ich einst auf der
Mauer dieses Gottesackers saß. Die Sonne warf eben ihre letz-
ten Blicke auf die schöne Erde. Ein Rosenflor lag auf den Fer-
nen ; ein mildes Purpurfeuer glänzte im Westen über das misenir
schc Vorgebirge. Die Cypreffen hoben sich in dieser Färbung;
die weißen Mauern des Gottesackers schimmerten in hoher Be-
leuchtung. Es war mir, als ob der Vorabend eines großen Mor-
gens wäre für die, welche hier ruhten." Alle, die an einem
Tage sterben, werden in dieselbe Grube geworfen, und am Abend
wird diese geschloffen, und für den folgenden Tag eine neue ge-
öffnet. Erst nach einem Jahre wird jede wieder aufgedeckt, dann
sind die vorjährigen Leichen durch den darauf geworfenen Kalk
bereits vollends verwest.
Jetzt wollen wir einige Ausflüge in die Umgebungen
von Neapel machen. Man findet hier interessante Punkte,
sowohl wenn wir in der Richtung nach dem Vorgebirge Mi-
seno , als nach d«m der Minerva reifen. Wir wählen die
erstere Richtung zuerst. *
Wir fahren auf einem der vielen in Neapel auf den öffent-
lichen Plätzen stehenden zweirädrigen und einspännigen Fuhrwerke
pfeilschnell über das unvergleichliche Lavapflaster die Chiaja ent-
lang. Da, wo diese herrliche Straße aufhört, also immer noch
von Häusern umgeben, stellt sich unS ein Felsen in den Weg.
Durch ihn ist eine Straße hindurch gearbeitet, ein Riesenwerk und
uralt; denn schon die alten Römer sprachen von ihr. Dieser
Das Königreich Neapel.
83
dunkle Fclsenwcg heißt die trotte des Posilippo. In der
Mitte brennen Tag und Nacht einige Lampen; sie ist fast eine
halbe Viertelnieile lang. Das unS umgebende Dunkel, das flim-
mernde Licht der Lampen, und der grelle Wiederschein der fernher
leuchtenden Sonne, nebst dem dumpfen Rollen der Wagen, macht
einen ganz eigenen Eindruck. Sind wir hindurch, so empfängt
uns eine hohe Ulmenallee, in deren Hintergrund die blauen Wo-
gen deS Meeres sich zeigen. An ihren schlanken Baumstämmen
rankt sich die Weinrebe mit unendlicher Ueppigkeit, oft 20 — 40
Fuß hoch, und zieht sich bisweilen in dreifachen Traubenguirlan-
den von einem Baume zum andern, „als sollte hier der jugend-
liche Gott deS Weins seinen Einzug halten." Zu den Zeiten der
Römer war diese Gegend ganz mit Villen und Lustgärten um-
kränzt; hier hatten Marius, Pompejus, Lucull, August, Mäce-
nas, Virgil und andere Römer ihre prächtigen Landsitze. Hier
lag daS reizende Bajä, wo Caligula die lange Brücke schlagen
ließ, und Nero seiner Mutter Agrippina das verratherische Fest
gab *). Ueber dem Posilippo beflndet sich das Grab des römi-
schen Dichters Virgil**). Es ist eine kleine Felsengrotte mit ei-
nigen Nischen, die von hohen Eichenbäumen beschattet wird. Die
ganze Gegend ist vulcanisch. Wenn wir uns vom Posilippo rechts
wenden, und in die Höhe steigen, so finden wir einen von tau-
send Wasserhühnern belegten See, den See von A guano.
Er befindet sich in dem Cratcr eines ausgebrannten Vuleans.
Dann und wann brudelt das Wasser hoch auf, als wenn es
kochte, und doch ist es ganz kalt. Nahe dabei sind die Schwitz/
bäder von San Germano. Es steigen hier nämlich heiße
Dämpfe aus der Erde auf; über dieser Stelle hat man Zimmer-
angelegt, in denen die Kranken die heißen Bäder gebrauchen.
Nicht weit davon ist die Hunds grotte. Es ist eine kleine
und niedrige Höhle, auf deren Boden in einer Höhe von etwa
einem Fuße eine Schicht von so starkem kohlensauren Gas sich
befindet, daß die hellsten Fackeln, die man hincinhält, augenblick-
lich verlöschen. Hier befinden sich immer einige Leute, welche sich
Hunde halten, um an ihnen den Reisenden die Wirkung der Stick-
luft zu beweisen. Sie ergreifen die armen Thiere bei den Bei-
nen , und legen sie auf den Boden. Sogleich fangen sie an sehr-
schwer und heftig zu athmen, und sind sichtlich im Begriff zu
ersticken. Nach zwei Minuten wirft man sie ganz leblos auf den
Rasen, wo sie sich nach und nach wieder erholen, husten, stark
geifern, die Augen verdrehen und endlich taumelnd wieder auf-
stehen. Steht man in der Grotte aufrecht, so merkt man nichts;
*) S. mein Lehrbuch
Th. 1., S. 292 u. 301.
**) Ebend. S. 274.
der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Auèg.,
6 *
-
84
Italien.
aber wenn man sich bis zu jener Luftschicht hinabbückt, spurt man
ihre Wirkung, und muß sich schnell wieder aufrichten. Ferner
kommen wir nach der Sols atara. So heißt ein ziemlich drei/
tes, von zwei niedrigen Bergen eingeschlossenes Thal, das sonst
der Cráter eines Vuleans war. Der Boden ist voll weißer Thon/
erde. Stampft man stark mit dem Fuße auf, so klingt es ganz
hohl. An vielen Stellen ist der Boden so warm, daß man kaum
darauf stehen kann, und stoßt man mit dem Stock in die Erde, so
steigt sogleich ein Schwefeldampf empor. Dergleichen Dampfe erhe-
den sich an mehreren Orten von selbst, und es werden daher hier tag/
tich mehrere Centncr Schwefel gewonnen, der sich an die Erde anseht.
Man wandelt hier also auf einem verrätherischen Boden, und ist
keinen Augenblick sicher, ob sich nicht der Cráter des unten gäh/
renden Vuleans wieder offnen werde. Endlich zeigt man uns eü
nen Berg, den Monte nuovo (spr- nowo), der im Jahr 1538
binnen 48 Stunden entstand. Es öffnete sich nämlich unter furcht/
barem Krachen der Boden; Asche und Lava strömten mit solcher
Gewalt und in solcher Menge hervor, daß nach 48 Stunden
schon dieser 500 Fuß hohe Berg da war. Jetzt ist er ausge/
bräunt. Wenden wir uns nun wieder rechts nach dem Meere zu,
so finden wir hier an der Küste einen Felsen, in dem sich die so/
genannten Bäder des 3?ero befinden. Dies sind Felsgewölbe,
die theils von Natur entstanden, theils von Menschenhänden ge-
macht seyn mögen. Hier quillt aus den hier und da in der Decke
und den Wänden befindlichen Oeffnungen ein heißer Dampf her-
vor, der desto stärker wird, je tiefer man hineinkommt. Mit je-
dem Schritte wird die Hitze größer; es ist aber kein erstickender
Schwefeldampf, sondern eine dem Körper wohlthuende Wärme.
Sobald man einen Schritt in diese Felsengemächer thut, bricht
dcr Schweiß am ganzen Körper aus. Hinten ist eine siedende
Quelle, in der man in einem Augenblick ein paar Eier hart sie-
den kann. Endlich besuchen wir in der Nähe noch die Höhle
der Sibylle von Cumä*). Hier glaubten die Alten, wäre
cin Eingang in die Unterwelt; hier läßt Virgil den Aeneas, von
der Sibylle geführt, in die Unterwelt steigen. Wirklich war in
der Stadt Cumä im Alterthum ein Apollotempel, in dem eine
Frau, die Sibylle, Orakel ertheilte, und diese Höhle soll dabei
benutzt worden seyn. „Wir mochten ungefähr 50 — 60 Schritt
weit in dem unterirdischen Gange vorwärts gedrungen seyn," er-
zählt ein Reisender, „und schon waren wir von tiefer Dämme-
rung umgeben, als wir 5 oder 6 Kerle mit starken Schritten
hinter uns herkommen sahen. Dieser Anblick hatte in unsrer Lage
etwas, das uns in Schrecken setzen konnte; denn wenn es Räuber
*) S- mein Lehrb. der Mythologie für höhere Töchterschulen, S. 76.
>
DaS Königreich Neapel.
85
waren, so befanden wir uns hier unentfliehbar in ihrer Gewalt.
Aber so schlimm war cS nicht gemeint. Sie waren zu etwas an,
derem bestimmt, sie sollten unsere Reitpferde werden» — Reit,
pfcrde? — Za wohl! Man höre nur weiter. Wir gingen noch
eine gute Strecke in der Höhle fort, als unser Führer Halt machte
und Feuer anschlug. Es wurden einige Fackeln angezündet, und
eine Thüre, die rechts in den Felsen hineinging, geöffnet. Hier
führte ein schmaler Gang steil bergunter, und zwar in einer voll,
kommnen Dunkelheit. Endlich kamen wir an ein unterirdisches
Wasser, das in einer geräumigen Höhle den ganzen Boden be-
deckte, und unsern Weg hemmte. Unser Führer erklärte, daß
hier die Bader der Sibylle wären, und daß wir uns müßten
durchtragen lassen, um sie zu sehen. Unsere Begleiter entkleideten
ihre Füße, wir setzten uns auf ihre Rücken, und so trugen sie
uns in das Wasser hinein. Aber ich muß gestehen, daß mir bei
diesem Ritt gar nicht lächerlich zu Muthe war; Liese Leute stöhn,
ten unter ihrer Last, als wenn sie erliegen wollten, wankten, und
thaten, um ihren Dienst recht wichtig zu machen, so übel, daß
man jeden Augenblick fürchten mußte, sie würden ihre Last inS
Wasser fallen lassen. Wir fanden endlich am jenseitigen Ufer ei,
nige große Tröge in Stein ausgehauen, die wahrscheinlich zum
Baden gebraucht waren." Der hinterste Theil der Höhle ist ver-
schüttet, so daß man nicht weiß, wie weit sie sonst gegangen
sey. — Daß die Alten in diese Gegend den Eingang in die Un-
terwelt setzten, ist nicht zu verwundern, da der überall vuleani,
sche Boden dazu Veranlassung gab. Hier finden wir eine Menge
von Gegenständen, deren die altr'ömischcn Dichter bei Beschrei-
bung der Unterwelt erwähnen. Hier ist der Averner-See,
dessen Ausdünstungen sonst so giftig waren, daß kein Vogel hin-
überfliegen konnte. Schwarze Finsterniß umgab — so sagen die
Dichter — einst die Ufer, die mit dichtem Walde bedeckt waren.
Zn der Tiefe des Haines ertheilte Proserpina ihre Orakel *).
Unter den Fluthen des Sees raste der Groll der von den Göttern
herabgestürzten Giganten, die den Himmel hatten stürmen wol-
len **). Zn diesem Walde opferte Odysseus, um den Schatten
des Tircsias aus der Unterwelt heraufzuzaubern, und ihn wegen
seiner Heimkehr zu befragen ***). Durch eben diesen Wald ließ
die cumäische Sibylle den Aeneas wandern; hier mußte er den
goldenen Zweig abbrechen, den er der Proserpina zeigen sollte,
um ins Elysium zum Schatten seines Vaters zu gelangen, den
er wegen seiner Zukunft befragen sollte ff). Von da erstreckte
*) S. mein Lehrbuch der Mythologie für Töchterschulen, S. 84.
**) Ebcnd. S. 28.
***) Ebend. S. 470.
ff) Ebend. S. 76 u. s. w.
86
Italien.
fiel) die Hohle der Sibylle bis nach der Stadt Cumä, bis zum
Tempel des Apollo, wo sie 100 Ausgänge gehabt haben soll.
Auch stoffen hier die Fiüffe Styx, Kokytos und Pyriphlegetbon,
die von den Dichtern nach der Unterwelt versetzt wurden. Der
Styx wurde jenes Wasser in der Hohle der Sibylle genannt,
durch welches die Reisenden sich jetzt tragen lassen.
Ehe wir die südöstliche Umgegend von Neapel besuchen, müs-
sen wir erst die Lage der Oerter beschreiben. Ungefähr in der
Mitte des Ufers, welches sich von Neapel bis zum Vorgebirge
della Minerva hinzieht, liegt der Vesuv. Seine Entfernung
von Neapel beträgt etwa 2t Stunden. Man fährt nur bis an
seinen, fast bis ans Meer sich hinziehenden Fuß. Hier kaum an-
gekommen, stürzen sich viele schon auf die Reisenden wartende
halbzerlumpte Kerle herbei, und bieten ihre Esel und Maulthicre
mit entsetzlichem Geschrei an. Man reitet also auf Liesen Thie-
ren bis etwa auf die Hälfte des Berges, wo man ein recht nettes
Haus stndet, das ein sogenannter Einsiedler bewohnt, der die
Fremden bewirthet. Hier pflegt inan besonders Len bekannten,
am Vesuv wachsenden Wein, Lagrima Christi, zu trinken. Von
da an reitet man noch einige 1000 Schritt; aber die Gegend
wird immer wüster; man ist von nichts als alten Lavaströmen
umgeben, und da die meiste Lava schwarz und grau aussieht, so
giebt sie der Gegend ein höchst ödes Ansehen. Alles Thier- und
Pflanzenleben ist,hier erstorben. Sobald man an den eigentlichen
Aschenkegel gekommen ist, muß man absteigen; denn nun wird der
Weg so steil, daß man gar nicht Fuß fassen könnte, wenn nicht
die weiche Asche und die hervorstehenden spitzigen Lavafelsen dem
Fuße einen Halt gäben. Zum Hinaufsteigen wählt man also ei-
nen kalten Lavastrom, und zum Hinabspringen die tiefe Asche,
durch die es in großen Sätzen geht. Ist man auf dem obersten
Rande angelangt, so geht es eben so steil nach dem Crater hinab.
Dieser kann nur besucht werden, wenn der Vulcan sich im ruhi-
gen Zustand befindet; ist dies aber nicht, so ist schon der Besuch
des Aschenkegels gefährlich. Der Crater ist etwa so groß, wie
ein großer Marktplatz, und mit kleineren und größeren Hügeln
bedeckt, aus denen Dämpfe ausströmen. Einige haben große Oeff-
nungen, durch die man in das Innere des Berges hinabsehen
kann. Aus denselben quellen beständig gelbe Ballen des dicksten
Schwefelrauches, manchmal auch Feuer und heiße Steine wie
Leuchtkugeln in die Lüfte. Man hört es inwendig dann und wann
wie Kanonendonner krachen, oder seufzen, als sollten alle Berg-
wände ringsum einstürzen. Unten im Schlunde sieht man ganze
Schwcfelberge ragen; aber es ist darin so düster und mit Rauch
erfüllt, daß man nicht viel unterscheiden kann. Hören wir die
Erzählung eines Reisenden, der den Vesuv bestieg.
DaS Königreich Neapel.
¿V
Erster Brief, den 9tcn Oetober 1805. „Das erhabenste
Schauspiel, womit die Natur das Gemüth ergreift und erschüt,
tert, habe ich in seiner ganzen Fülle genosten. Angethan mit al-
len seinen Schrecken, mit seiner ganzen Herrlichkeit, feierte der
Vesuv das furchtbare erhabene Fest seiner Flammenergießung.
Lange vorher webte auf seinem Gipfel eine weiße Rauchsäule, wie
ein in hoher Luft flatterndes Panier, welches einer großen Er-
scheinung vorgetragen wird. Im Innern des gewaltigen Vulcans
donnerte die Vorbereitung zu der großen Entwickelring; das tiefere
Zucken der verborgenen Kraft hatte Neapel, die umliegenden In-
seln geschreckt, mehrere Städte nicdergeschllttct, und einen großen
Theil der Einwohner unter den Trümmern begraben. Man sah
die weiße Rauchsäule von der unter ihr kochenden Gluth angcrö-
thet, oft ward ihr innerster Kern zur lodernden Flamme, welche
glühende Steine empor und umher schleuderte. Im Schlunde
krachte und raste ein schrecklicher Tumult!"
,, Am 12ten Augrist endlich eröffnete sich das hinreißendste
Schauspiel, das die Natur hervorzubringen vermag. Gegen 9
Uhr Abends stieg die Rauchsäule hoher; sie ward röther und
röther, und endlich ganz zur leuchtenden Flamme, die wechselnd
stieg und sank, und von Zeit zu Zeit Blitze nach allen Seiten
warf. Nicht selten erreichte sie eine außerordentliche Höhe; dann
stand der majestätische Feuer-Obelisk einige Minuten fast unbe-
weglich, wie ein flammender Seraph, der weit über das paradie-
sische Campanicn hinschaute; leichte rothe Wölkchen schwebten um-
her, und spiegelten sich im dunklen Meere. Das Meer war ru-
hig, als ob es furchtsam den zürnenden Nachbar behorchte. Plötz-
lich sank die hochleuchcende Erscheinung in den Fcuerschlund hinab,
und ließ eine Krone von malerischen Wolken zurück. Jetzt erhob
sich abermals eine mächtige Gluthsäule; eine kleinere blitzte neben
ihr auf; und hohes Getümmel umher, wie das Gefolge einer
Göttererscheinung; sie sank zurück, und verwandelte ihre Stelle
in einen Flammensee. Die Wogen sprudelten, schlugen über,
und rötheren mit ihren Flammen den Horizont, der einen sanfte-
ren Widerschein auf die Stadt, auf das Are er, und an die dun-
keln Felsen warf. Immer lebendiger, immer ungeduldiger ward
das Flammengetümmel, und jetzt durchbrach cs, wie eine vollen-
dete Empörung, die umfaffende Kerkerwand, und stürzte von der
Aschenspitze des Craters herab. Nicht Worte vermögen zu schil-
dern, welch ein Aufruhr von Gefühlen den überraschten Zuschauer
'ergriff. Es war ein Zustand, wo das Entzücken zum Entsetzen,
und wiederum das Entsetzen zum Entzücken wird. Ueber dem Crá-
ter hatte sich von aufsteigendem Rauch eine Wolkenversammlung
gebildet: es schienen die purpurnen Horen zu seyn, die im tiefen
Dunkel der Nacht hier die Morgenröthe erwarteten. Ununter-
brochenes Leben und Getümmel, immer wechselnde Pracht, ein
Italien.
stetes Werden und Schwinden, glänzte und blitzte durch einander.
Jetzt stiegen zwei rothglühende Rauchsäulen auf, die in einem
Blutmeere starrten. Was aber dieser großen Scene die höchste
Verherrlichung gab, war der aufgehende Vollmond; hinter den
sich thürmendcn und wälzenden Rauchwolken stieg er herauf, und
schien wirklich Aurora zu seyn, die den Triumphzug der vorgeeilr
tcn Horen über der Spitze des Berges empfing. Mit glühendem
Gesicht, wie ein Nektar trunkener Gott, trat er auf die verherr-
lichte Bühne der Nacht."
„Aber vom Gipfel deS Berges stürzte der Gluthstrom;
und bald hatte er Len Fuß des Aschenkegels erreicht. Jetzt brach
er in die Weingärten ein, die schon der Erndte entgegen gereift
waren. Weiße Flammen loderten auf, wo der Verderber die
herrliche grüne Vegetation ergriff. Oft schien er eine Allee zu
faffen, deren helle Flamme sich weithin erstreckte, und über dem
rothen Strom als eine leichte Lichtmasse schivebte. Hier theilte sich
der Lavastrom in 5 Arme; Z zogen östlich, 2 aber westlich; und
diese nur konnten von uns gesehen werden. Reißend stürzte der
Erguß weiter und verderbender fort: er umfloß Häuser, deren
Einwohner sich kaum noch zu retten vermochten; er füllte die un-
tern Geschosse aus; und zerstörte unzählige Landhäuser, Hütten
und Weingärten. Der prächtige Verwüster ging seinen Weg, den
er, wo er sich in Vertiefungen verbarg, durch Lichtsäulen entzün-
deter Bäume bezeichnete. Die beiden Arme des Lavastromes, von
denen der eine dem andern bald nachblieb, bald vorcilte, hatten
in kurzer Zeit die Straße erreicht, die durch Portici nach Torre
del Greco und Pompeji führt. Beide Ströme durchschnitten die
Straße, und wälzten sich in die diesseitigen Villen und Gärten,
die das Ufer des Meeres begränzcn; hier verlor der eine sich un-
ter den Wcinhügeln, der andere Strom hingegen stürzte mit verr
doppelter Wuth dem Meere zu. Bis dahin hatte er einen Weg
von anderthalb deutschen Meilen zu machen, und schon war er
dem Rande des Ufers nahe; eine Menge von Zuschauern in Gon-
deln schwammen in der Gegend des Ufers umher, wo die Feuer/
eaöcade vom Ufer hinabbrausen mußte. Endlich erfolgte, was er-
wartet wurde: die Gluthmasse stürzte mit lautem Geprassel und
Donncrgetöse ins Meer; die Wellen empörten sich gegen den frem-
den Gast, Flammengewühl und Wellengetümmel im fürchterlich-
sten. Aufruhr rasten, schäumend vor Wuth, durcheinander. Ko-
chende Wassersäulen und zürnende Flammenspitzen brachen aus der
Fluth empor, kämpften einander nieder, und wiederholten den
Sturm des wildesten Aufruhrs, bis endlich der Tumult mit lei-
serem und leiserem Zischen endete, und gleichsam zum Denkmal
des geschlossenen Friedens, von der erstarrten Gluthmasse sich ein
Vorgebirge bildete, das tief ins Meer hineintritt."
i
Das Königreich Neapel.
89
Zweiter Brief den 43ten October 4805. „Unsre Wohnung
am Ufer der Sec wird durch die Aussicht nach dem Vesuv hin,
der noch immer sein großes Feuerwerk fortsetzt, höchst anziehend.
Jedes Zimmer hat seinen Balcón. Ich trete aus den meinigen
hinaus, sobald die Sonne ihren ersten Strahl über den Vesuv
in meine Zelle wirft; und mich umfangt von allen Seiten in ih-
rer ganzen Festlichkeit die Fülle einer hesperischen Natur. Dort-
hin rechts nach Westen das Vorgebirge Pausilip, mit seinen
Pinienkronen, Cypressen und Landhäusern; links das Vorgebirge
der Minerva — welche sinnvolle Namen, jenes die Ruhe, dieses
die Weisheit! — beide strecken sich tief ins Meer hinein, als
wollten sie den auf den Wellen ruhenden hesperischen Himmel
umfangen. Letzteres ist mit den Städten Portici, Resina, Torre
del Greco, Torre dell'Annunziata und mit unzähligen Villen be-
deckt. Alle diese Landschaften schmiegen sich freundlich um den
Fuß des tobenden Vulcans, der unversöhnt seine Flammenströme
aussendet, und in seinen innersten Schlünden donnert es, als
hätten tausend Cyklopen darin Waffen des zürnenden Jupiters zu
schmieden, indeß die glühende Lava ruhig in ihren Ufern fortstießt.
So gefahrvoll dies große Schauspiel in der Ferne erscheint, so
ziehen doch täglich zahlreiche Gesellschaften zu dem furchtbaren
Berge hinauf; auch wir schickten uns an zu einem solchen Zuge.
Den 48tcn August machten wir unsre Wallfahrt bis zu seinem Gi-
pfel. Dis Resina fuhren wir, dort wurden Esel genommen, und
so beritten zogen wir Nachmittags um 4 Uhr den Berg hinan.
Zwischen lauter Weingärten und einsam gelegenen Landhäusern
windet der romantische Weg sich zum Gipfel empor. Der be-
rühmte Wein, Lagrima Christi genannt, hing noch in seinen Trau-
ben und röthete wie dunkle Purpurguirlanden die grünenden Ran-
ken, welche wie zarte Sympathieen die hohen Ulmen umarmten,
und Arcaden bildeten, die der Phantasie Stoff gaben, die lieb-
lichen grünen Labyrinthe weit über den Anblick hinaus, mit ent-
zückenden Ueberraschungen zu bereichern. Ueberall herrschte in die-
sem grünen Leben eine süße, bis zur Schwärmerei begeisternde
Einsamkeit. Die milden Sommerlüfte kamen von den Hügeln
und aus den heimlichen Lauben der Thäler zu uns herüber, und
statterten zu andern Lauben hinüber, zum ewigen Spiel mit Blät-
tern und Trauben. Links und rechts an der Hauptstraße kleine
Eingänge, wie bekränzte Pforten zu geheimnißvollcn bacchischen
Thälern. Oft wandelte die Lust mich an, mich in dieses Laby-
rinth zu stürzen, und unterzutauchen, wie die Luft in das grüne
Dlättergewühl; aber ich folgte dem Zuge unsrer Pilgerschaft, und
bald erreichten wir eine Anhöhe voll Grauen und Entzücken; die
Natur wird hier dürftiger; die arme Gcnista nährt sich kümmer-
lich zwischen unfruchtbaren Felscnzacken einer alten Lava; von al-
len Seiten erblickten wir tiefe, schwarze Thaler, in welchen viel-
90
Italien.
jährige Lava starrte. Alles wild durcheinander, ein Bild des wun-
derbarsten Eigensinns, den tsier die Natur trotzig durchgesetzt zu
haben scheint. Die grause Wildniß gleicht einem todten Meere,
welches hier mit seinen finstern Wellen erstarrte und verstummte,
indem es seine hundert Arme verwüstend in die liebliche grüne
Natur ausstreckte. Furchtsam hat sich hier und da das Hürrchen
eines Winzers an das Ufer gerettet, wo ein einsames Leben wal-
tet. Wie der Athem des Entsetzens, weht die Luft den Wandrer
an; aber er wendet den Blick, und vor ihm in der Tiefe grünen
an der Küste hin paradiesische Fluren. Er überschaut Neapel und
den weiten Golf, das jenseitige Pausilip und die ganze große
Landschaft, rein und kräftig hervorgehoben durch die schönste Ta-
gesbeleuchtung; in der Tiefe spiegelt das Meer, und gleicht ei-
nem klaren Horizont, an welchem die Inseln Capri, Ischia und
Procida wie schattige Wolken zu schweben scheinen. Doch wir
durften uns nicht zu lauge von diesen Reizen festhalten lasten,
wie sehr auch die abendliche Lichtfäkbung daS große Naturpano-
rama verherrlichte."
„Wir zogen weiter, und erreichten bald die freundliche, mit
hohen Bäumen umgebene Stelle, wo der Einsiedler ein nicht
sehr einsiedlerisches Leben führt. Der Mann ist darauf eingerich-
tet, die Fremden mir Lagrima Christi zu bewirthen. Diesem Weine
geht es wie mancher Berühmtheit, der man nicht zu nahe tre-
ten darf; selbst die Trauben dieses gepriesenen Gewächses sind
herbe. Aber die Stelle seiner Einsiedelei ist lieblich und heilig,
nicht durch die Märtyrer-gestalten, die da umher gepflanzt sind,
sondern durch den süßen Frieden, der diese Stelle fern vom Ge-
räusch der Menschen, und näher dem Himmel der Götter, tief in
den Schooß der grünen Natur eigenhändig hineingezaubert zu haben
scheint; sie ruht so steil auf dem Abhange und fast in der Mitte
der Höhe des Vesuvs. Hohe Ulmen stehen am Rande dieser
feierlichen Terrasse in einem Kreise umher, gleich flüsternden Tcm-
pelwänden, über welcher sich ein freundlicher Himmel wölbt. Die
östliche Abstufung ist mit hohen Kastanienwäldern he.rrlich über-
schattet; halb versteckte Eingänge zu diesen Wäldern winden sich
von der Einsiedelei in die lieblichen Schatten geheimnißvoll hinab.
Sie sind, gleich dem Leben, dessen Ausgang verhüllt ist, myste-
riös und dunkel. Ach! hier möchte ich wohnen, wenn unter den
Menschen kein Herz mehr für mich schlüge! Erquickt und gestärkt
zu neuer Anstrengung brachen wir auf, und der fröhliche Zug
setzte sich in Bewegung. Eine lange Strecke ging cs zu Esel
auf einem Hügellücken fort, und dies war der anmuthigste Weg,
den ich je gemacht habe. Nach Osten hin starrte freilich das fin-
stre todte Lavafeld, aber links von Westen her säuselten lebendig
und kräftig kühle Abcndlüfte in der Lustigen Waldung. Hohe
Kastanienwipfel grünten vom tiefen Thale bis zu unserm Weg
Das Königreich Neapel.
91
hinauf; in diese grüne Wildniß hinein zog sich ein Strom alter
Lava; aber die holde Nalur hatte die Spuren der Verwüstung halb
schon überschleiert. Der Somma, dieser Zwillingsbruder des Ve-
suvs, ist bis zu seiner Spitze hinauf mit schönem Grün bekleidet;
nur die Seite, die er seinem unähnlichen Nachbar zukehrt, ist ver-
brannt und dürr. Schon beim Eremiten wurden Fackeln ange/
zündet, welche der weiten Gegend umher eine magische Beleuch-
tung verliehen. Der ganze Zug, 30 Personen stark, würde das
Ansehen eines schauerlichen Geistcraufzuges gehabt haben, wenn
nicht Scherz und Gelachter diese Täuschung zerstört hätten; aber
vor dem unterirdischen Donner verstummte der jauchzende Muth-
wille, und der schweigende Geisterzug war auf einige Minuten
wieder hergestellt. Es war ein süßes Grausen, welches tief in
die Empfindung eingriff, und die phanlasievollen Erwartungen
behorchten den vom unterirdischen Donner erschütterten Boden;
immer lauter tobte unter unsern Füßen die verborgene Wuth, im-
mer fühlbarer bebte der Berg! Wir hatten noch ein weites
grauenvolles Lavafcld zu durchwandern. Seltsame Gruppen von
in einander geschobenen Lavagestalten starrten, wie finstere Ge-
spenster der Mitternacht, von allen Seiten uns an; und so ge/
langten wir zum Fuße des Aschenkegels."
„Hier verließen wir unsere Esel, und die Gesellschaft, theils
zu Fuß, theils auf Tragscffeln, klimmte und kroch den Aschenberg
hinauf. Trotz der unendlichen Beschwerlichkeit des Steigens ver-
stummten Scherz und Fröhlichkeit nie ganz; sie wurden auch hier
nur durch das dumpfe Donnern und das schreiende Sausen des
Berges in lauschende Stille verwandelt. Drei Viertelstunden
brauchten wir, um uns durch den Aschensand, wo jeder Schritt
tief einsank, und oft wieder zurückgleitete, zum Gipfel hinaufzuar-
beiten. Endlich erreichten wir mühselig den Rand des Cratcrs.
Welch ein Anblick! Welches Erstaunen voll Grauen und Entzü-
cken bestürmte die Phantasie! Niemand fühlte den ermüdeten Kör-
per; aber ein widriger Wind wehte uns ungeheure Wolken von
Schwefeldampf entgegen, durch welche die rothe Gluth ohne be-
stimmte Form hervorschimmerte. Der erstickende Dampf trieb
uns auf die entgegengesetzte Seite des Berges hin; hier bestiegen
»vir den Craterrand, und sahen in den Feuerschlund hinab, an
dessen östlicher Seite die Gluth hervordrang. Ueber diesen Schlund
hat sich eine rauhe Lavadecke gelegt, an welcher Hügel an Hügel
emporstarrt; und kleine bläuliche Flammen zuckten dazwischen aus
dem Boden hervor. Mitten unter diesen schwarzen Gruppen er-
hebt sich hoch hervorragend ein Doppelhügel von Lava und Asche;
aus diesem schossen mit Donnergeprassel und heulendem Gesäuse
wechselnd 2 Feuersäulen auf. Die eine war von der andern sehr
verschieden; diese warf glühende Steine und Blitze umher; jene
stieg mit schneidendem Geschrei, wie eine gelblich klare Flamme
92
Italien.
empor, und diese gewährte den herrlichsten Anblick. Von ihrer
Höhe herab warf sie tausend und tausend kleine Sternchen Hernie/
der, die in der Asche noch fortglimmten. Oben neigten sich
die Strahlen nach allen Seiten, die ganze Form schien eine ge/
wältige Feuerpalme zu seyn, und fortwährend krachte, rasete,
donnerte die Tiefe. Unsre Sitze bebten, und wie Kinder bei ei/
nem schauerlichen Abendmährchcn horchten alle furchtsam auf die
gewaltigen Worte, welche hier die Natur aussprach."
„Jetzt hatte sich der Wind zu unserm Vortheil gewendet; wir
durften uns nun der Stelle nähern, wo, zwar in beträchtlicher
Ferne, der Fcuerstrom vorüberzog. Wie ein neues Wunder über/
raschte uns dieses Schauspiel; hier hatte sich die Holle einen Aus-
gang geöffnet; von hier aus sandte sie ihre flammenden Heerschaa-
ren in die Tiefe hinab. Es ist die westliche Seite des Berges,
wo der Feuerstrom hervorgebrochen ist; ein hohes Portal von er/
kaltcter Lava hatte sich am Ausbrucbe gebildet; da stürzte die
Gluthmasse aus der Fcuergrotte gewaltsam hervor. Die weite
Gegend umher war magisch beleuchtet. Wie flammende Höllen-
gcister standen einige der Verwegensten von der Gesellschaft auf
einzelnen Felsenspitzen, in rothem, wunderbarem Schein. Licht
und Dunkel, Flammen und Nacht, kämpften mit einander; aber
tiefer unten, hinter dem finstern Lavafelde, zog der rothe Gluth/
ström seinen Weg, und drehte sich in Schlangenwindungen um
die fernen Höhen, wo er sich vor unsern trunkenen Blicken ver-
barg. Gräßlich beleuchteten seine Flammen die wilden Masten
des diesteitigen, schon erstarrten, aber an einigen Punkten noch
fortglühenden Lavafeldes an, welches einer untergegangenen Welt
gleicht, deren Ucberreste aus dem schwarzen Grabe hervorragen.
Wer vermöchte sich loszureißen von der Gewalt des Eindrucks,
womit solche Gegensätze von Herrlichkeit und Wüste, von Schre-
cken und Entzücken das Gemüth überwältigen! Ein Vergessen
seiner selbst ergreift den Zuschauer vor den Auftritten, wo die
Natur gleichsam in ihrer höchsten, thätigsten Begeisterung er-
scheint. Doch erinnerte uns der finstere Nachthimmel an die Rück-
kehr. Wir traten unsern Rückweg an. Die wehenden Fackeln
schimmerten furchtsam durch die schwarze Finsterniß der Nacht;
am hohen Somma zog der Mond vorüber, und versilberte das
rothe Gewölk, diese feurigen Athemzüge des empörten Vulcans."
Dritter Brief, den I8ten October 1805. „Sechs Wochen
hatte bereits der Vesuv sein großes Schauspiel ununterbrochen fort-
gesetzt; endlich verstummte sein Donner, und seine Flammen er-
loschen. Nach einer Stille von 17 Tagen kündeten, mehr und
minder fühlbare Erdstöße einen neuen Ausbruch an. Einer
war selbst in unsrer Wohnung merkbar; es rasselten um die Mit-
ternachtsstunde Thüren und Fenster, doch that dieser Stoß, au-
ßer einigen niedergestürzten Mühlen um Neapel, keinen bedeuten-
DaS Königreich Neapel.
93
den Schaden. Den 15- Oetober, Abends gegen 9 Uhr, vernah-
men die Einwohner von Portici ein erschütterndes Krachen und
Brüllen im Innern LeS Berges; und bald nachher fuhren Flam-
men aus dem Crater, welche zuweilen außerordentlich hohe Feuer-
säulen bildeten, von Leren Spitze Funken wie ein Srcrnregen um-
hersprühten. Endlich schienen die Ufer des Craters zu glühen,
und von Zeit zu Zeit vernahmen wir, obgleich die Entfernung eine
deutsche Meile beträgt, das dumpfe Donncrgeroll, welches die
Einwohner von Portier und Resina heftiger schreckte. Das obere
Gluthgewühl dauerte eine halbe Stunde fort; endlich kochte der
Flammenrand über, und ergoß sich Anfangs auf der östlichen Seite,
bald aber durchbrach er auch das westliche Ufer; und nun riesel-
ten kleine und große Feuerbäche von der schwarzen Aschenhöhe
herab, gleich flatternden Goldbändern, welche wie ein Schmuck
der Nachtgöttin in das tiefe Dunkel niederhingen. Die Nacht
war stürmisch und heulte durch die Höhlen des Meergestades; daS
Meer brauste und tobte gegen das Ufer; der Wind fuhr in daS
Gluthgewölk des Craters, und Verwandlungen der Wolkengebilde
folgten schnell auf einander. Bald war der ganze Berg in schwarz-
rothem Schleier verhüllt, bald stand er triumphirend in seiner
ganzen Glorie da. Ein ewiger Wechsel! Die mchresten Ströme
zogen in den Ufern fort, welche die vorige Lava ihnen bereitet
hatte. Einer aber nahm seine Richtung ganz westlich nach Por-
tici zu, so daß die Einwohner daselbst sich schon zur Flucht an-
schickten; allein er hatte noch nicht den Fuß der Aschenhöhe er-
reicht, als er stille stand, die Nacht hindurch leise fortglühte, und
dann erlosch."
„Den Tag nach dem Ausbruche fuhren wir nach Tor re dcl
Greco. dem schon oft von den Feuerströmen des Vesuvs heim-
gesuchten Städtchen, welches dicht am Fuße des Berges liegt.
Welch eine fürchterlich erhabene Scene fanden wir hier! Alle die
großen Gestaltungen, mir welchen der erste Ausbruch geschreckt
und bezaubert hatte, wichen zurück. Ich müßte Flammenwortc
haben, wenn ich Ihnen schildern wollte, was sich begab. Nicht
einen schwachen Schattenriß vermag ich zu geben. — Zn der
Stadt Torre del Greco, und näher am Fuße des Berges, ein
Gewühl von Zuschauern, welche die große Erscheinung anstaunten.
Auf einer etwas hohen Terrasse des Berges hinter Weingärten
und Landhäusern, unter denen sich das königliche Schloß Favorite
findet, harte sich ein Lavastrom gelagert, und bildete einen feuri-
gen See, von welchem ein röthlicher Dampf aufstieg, der die
Gegend umher mit Schwefelgeruch anfüllte. Der Berg schien
der schwarze Kern einer einzigen ungeheuren Flamme zu seyn.
Dunkelroth angeglühte Dampfmasscn hatten sich auf dem Gipfel
gelagert, in verwirrtem Gemisch, als ob ein ganzer, von gräßli-
chem Blitzen zerrissener, Wolkenhimmel auf ihn herabgestürzt wäre;
94
Italic n.
und tief in dem finstern Dampfe war alles Bewegung: es wir-
belte unv wühlte, wie Kampfgctümmel und wild durcheinander
tobende Wuth. Das Reich der Hölle schien durchbrochen, und
der Berg eine ungeheure aufsteigende Brücke zu seyn, von Gigan-
ten erbaut, den Himmel zu stürmen. Tiefe, dunkle Mitternacht
umher, wie ein schwarzes Meer, worin der Berg gleich einer
Feuerinsel cmporstand. Immer undurchsichtiger und finstrer ward
das Dampfgewölk, welches Himmel und Erde vermischte, und
hoch herab aus der Nacht hingen Feuerbäche und Feuerströme.
Der vollständigste dieser Ströme endigte in dem Feuersee auf der
untern Terrasse, und schien ein glühendes unermeßliches Unge-
heuer zu seyn, welches aus dem Gluthsee sich empor richtete, und
seinen flammenhauchenden Kopf in den schwarzen Wolken des Nacht;
Himmels verbarg. Die im rothen Widerschein auf- und abgehen-
den Zuschauer glichen seltsamen, in Flammenduft gekleideten Schar-
tengestalten. Das Ganze war mehr als erhaben romantisch; es
war eine Zauberwelt voll Wunder, die das Gemüth überwältig-
ten und fortrissen in das Gebiet der Phantasiern und Träume." —
Kommt man von Neapel, so fahrt man immer längs
dem Meerbusen hin. Der erste Ort, den man trifft, ist
P o rtici, ein großes Dorf mit einem prächtigen königlichen
Schlosse. Mit dem Dorfe hängt das Städtchen
Ne si na zusammen Hier pflegt man, wenn man den Ve-
suv besteigen will, den Wagen zu verlassen, und Esel zu miethen.
Unter beiden Oertern liegt die alte Stadt
Hereulanum, die 79 nach Christus durch die Asche und
Lava des Vesuvs gänzlich begraben wurde, und daher nicht ganz
wieder aufgegraben werden kann, weil sonst die darüber stehenden
Häuser einstürzen würden. Bald hinter Résina kommt man nach
der Stadt
Tor re del Greco, die durch die ausfließenden Lavaströme
öfters verwüstet worden ist, und zuletzt nach
Torre dell' Annunziata. Alle diese Z Oerter liegen
längs der Seeküste und am Fuße des Vesuvs. Gleich hinter dem
letzten Städtchen ist die wiederaufgcgrabene Stadt
Pompeji. Von hier an biegt sich die Küste nach Westen
um, und bildet eine Landzunge, die sich in das Vorgebirge dclla
Minerva endigt. An der Nordseite dieser Landzunge liegen rei-
zend
Castell a Marc und Sorrento, und an der Südseite
Amalfi und Salerno. Nun werden wir das Folgende
besser verstehen, wenn wir einen Reisenden sprechen lassen: >
„Portici, Résina, Torre del Greco und Torre bell' Annun-
ziata hängen an einander, und da sie keine Mauern haben, so
ist das Ende des einen und der Anfang des andern nicht zu un-
terscheiden. Portici ist etwa eine deutsche Meile von Neapel
Das Königreich Neapel.
95
entfernt. Man fährt aber auf dem schönen Lavapflaster pfeilschnell
dabin, in einem steten Gewirre von Wagen und beladenen Maul-
thieren, Eseln und Pferdchen, die Lebensmittel zur Stadt brin-
gen oder heimkebren. Dies schnelle Fahren hat auch das Gute,
daß man den Bettlern in Portiei entgeht; denn sie durch Gaben
zu vertreiben, wäre ein Tropfen auf einen heißen Stein gegossen,
und giebt man ihnen einige kleine Münzen, so ist cs, als ob die
Todten auferständen; denn wie auf ein Signal vervielfacht sich
die Zahl der nach Geld schreienden Bande. Unmittelbar an Por-
tiei," wo über den Hof des wahrhaft prächtigen Schlosses, iu dem
sich herrliche Gemälde und Alterthümer befinden, die Straße führt,
„stoßt Nesina an, und hier war es, wo man beim Graben
eines Brunnens auf das alte Herculanum stieß." Hier hat
man zwar inehrere Straßen nach und nach aufgegraben, sie aber
immer wieder zugeschüttet, damit die darüber stehenden Häuser
von Nesina nicht einstürzen. Nur das Theater ist frei stehen ge-
blieben. Man steigt mit Fackeln wie in einen Keller hinab, und
sieht hier nicht viel mehr als schwarze Wände; denn aller gefun-
dene Hausrath ist nach den Studien in Neapel gebracht worden.
,,Torre del Greco liegt gleichfalls zwischen dem Meeresufer
und dem Vesuv. Sehr interessant ist der Ort wegen des großen
Stromes dichter Lava, die im Jahre 1794 ziemlich am Fuße des
Vesuvs hervorbrach, und ihre glühende Maste an 80 Schritt
durch Torre del Greco hindurch schob und in daS Meer stürzte,
welches dann im Augenblicke Tausende von gekochten Fischen auf
einem großen Umfang zur Oberfläche des Wassers sendete. Der
Lavastrom war so flüssig und in solcher Menge, daß er in kaum
4 Minuten einen Weg zurücklegte, zu welchem ein guter Fußgän-
ger 4 Stunden Zeit nöthig gehabt hätte, und noch dazu mußte
er viele steinerne Gartenmauern und dergleichen überwältigen. An
vielen Orten hat sich die Lava, wo sich große Häuser ihrem Laufe
entgegenstemmten, in die Höhe gedämmt; z. B. bei einem fünf-
stöckigen schönen Sommerschlosse eines reichen Neapolitaners. Jetzt
ist nur das oberste Stockwerk bewohnt, und zwar befindet sich
dies nun auf gleicher Erbe. Die zwei darunter gelegenen könnten
zu Kellern dienen; die ganz untersten sind ganz in Lava stehend.
Die Kirche war gerade vom stärksten Strom getroffen worden,
und ganz mit Lava um, und überzogen worden, so daß die jetzige
völlig über der alten steht. Vor etwa 60 Jahren traf Torre
dell' Annunziata ein gleiches Schicksal, jedoch war der Lava-
strom nicht so breit. Ein reicher Neapolitaner hatte sicbenJahre
lang an einer herrlichen Villa gebaut, und schlief eben die erste Nacht
darin, als er, auf einmal geweckt, sich eilends retten mußte;
denn nach kurzer Zeit durchströmte die feurige Lava sein Haus,
und zerstörte alles, was diese heftige Hitze nicht ertragen konnte.
Es gewährt einen eigenen, Grausen erregenden Anblick, wenn
96
Italien.
man diese Lavastrome, wie erstarrte Flüsse, mit ihren spitzigen,
scharfen Lavawellcn mitten durch die herrlichsten Gärten und Häu-
ser gedrängt betrachtet."
Pompeji, die zweite im Jahre 79 durch den Vesuv begra-
bene Stadt, „liegt etwa 2 deutsche Meilen von Neapel, nicht
weit vom Meere, aus welchem sich der Vesuv langsam erhebt.
Er hatte sich in den alten Zeiten so ruhig verhalten, daß ein al-
ter Geograph zu Jesus Zeit sagt, sein Gipfel sei ganz eben, und
seine Hohe unbedeutend. Trotz dieser viel hundertjährigen Nuhe
schloß er 79 nach Christus mit einem Male sein fürchterliches
Innere auf, und verbreitete meilenweit Tod und Verderben."
Eine unermeßliche Menge feiner Asche, die in der Luft umher-
flog, vermischte sich mit einem dichten Platzregen, und der daraus
in der Luft gebildete Sumpf stürzte so plötzlich herab, daß, wer
sich nicht früher geflüchtet hatte, dadurch plötzlich erstickt, und
Lie ganze Stadt damit bedeckt wurde. Da die herabstürzende
Masse flüssig und weich war, so drang sie auch durch die Thü-
ren und Fenster in die Zimmer und Keller ein, und füllte alles
aus. Die Häuser der Alten waren niedriger als die unsrigen,
und hatten meist nur ein Erdgeschoß, und so kam es, daß die
ganze Stadt spurlos bedeckt wurde. Hätte sie nur einen Thurm
gehabt, so hätte dieser ihre Lage verrathen müssen; so aber war
sie gänzlich verschwunden, bis vor etwa 100 Jahren Winzer, die
in die Erde gruben, zufällig auf alte Gebäude stießen, und man
uun, dadurch aufmerksam gemacht, weitergrub. Die Stadt hat eine
Stunde im Umfange; doch ist nur erst höchstens der vierte Theil auf-
gegraben." Es macht einen höchst überraschenden Eindruck, wenn
man um die Ecke eines der hohen, durch die Ausgrabungen ent-
standenen Wälle herumkommt, und plötzlich die alte, wieder auf-
erstandene Römerstadt vor sich sieht. Denn da über ihr nur Fel,
der, Weingärten und einzelne Winzerhäuser liegen, so hat man
die alten Gebäude ganz aufdecken können, und man fährt nur et>-
was bergab zu ihr hinunter. Zuerst kommt man in eine Vor-
stadt, und hier findet man gleich vorn eins der schönsten Häuser,
Las einem sehr reichen Freigelassenen gehörte. „Der geräumige
Hof ist mit einem Säulengange umgeben, unter dem sich ein Kel-
ler befindet, in welchem man an der Wand mehrere große Wein-
gefäße fand, die aber mit dem hartgewordenen Aschenbrei ausgefüllt
waren. Dies Haus stößt an eine lange Straße, die man heute
Lie Gräberstraße nennt, weil hier zu beiden Seiten eine Menge
zum Theil sehr schöne Grabmäler ziemlich dicht bei einander ste-
hen. Dicht dabei, auch noch vor dem Thore, war eine Villa,
Die dem Cicero gehört haben soll. Neben dem Thore ist ein Haus,
Las eine Soldatenwache gewesen seyn soll, wie man aus der Lage
und aus den darin gefundenen Waffen geschlossen hat." An dem
Thore klebte noch ein Comödienzettel, der außer dem aufzuführen-
Das Königreich Neapel.
97
den Stücke auch anzeigte, daß an demselben Abende eine Seiltan-
zergruppe sich würde sehen lassen. Die Straßen sind so schmal,
daß zwei Wagen einander nicht ausweichen konnten, und doch muß
viel gefahren worden seyn; denn man sieht noch sehr deutlich in
allen Straßen die ausgehöhlten Wagenspuren auf den eisenfesten
schwarzen Lavaquadern. Zu beiden Seiten der Straße waren
Hauser und Tempel; denn die letzteren standen nicht bloß auf
freien Plätzen, sondern oft auch zwischen den Häusern. So stand
der Tempel des Aeskulap neben der Werkstatt eines Bildhauers, in
welcher man eine Menge fertiger, halbfertiger und kaum ange-
fangener Bildwerke von weißem Marmor fand. Die schönen,
an den Wänden vieler Häuser befindlichen Frescomalereien hat
man behutsam herausgesägt, und in das Museum nach Portici
gebracht. Ein großer Hof hat vielleicht einem Fuhrmann gehört;
denn man fand in den Ställen noch viel Pferdegerippe. Eine
große Menge Kaufmannshäuser hatte in den Läden ganz wie bei
den jetzigen Materialisten einen langen Tisch; die Platte war
von Marmor, und gewaltig große Kruken von gebranntem Thon
standen darunter, wahrscheinlich um Oel oder Wein zu verkaufen.
Bei einigen Bäckern waren die Backöfen fast ganz wie die unsri-
gen eingerichtet, und oft standen in dem engen Raum vor ihnen
noch einige Handmühlen, aus Lava verfertigt. Im Hause eines
Wundarztes fand man eine große Menge sehr sauberer chirurgi-
scher Werkzeuge. Die beiden Theater, das tragische und das ko-
mische, sind recht schön erhalten; das letztere war im Alterthum
mit Tüchern überspannt. Ganz am andern Ende der Stadt ist
das Amphitheater, das 26— 30,000 Menschen fasten kann. Die
innere runde Wand ist ul fresco mit Kämpfen wilder Thiere und
der Gladiatoren bemalt. In den unteren Gallerien waren die Kä-
fige der zu den Kämpfen bestimmten wilden Thiere; in einigen
fand man vollständige Gerippe von Löwen *).
Castell a Mare liegt nahe am Golf von Neapel und am
Anfange der Landzunge, die in das Vorgebirge der Minerva aus-
geht, ein Städtchen mit einer herrlichen Aussicht über den ganzen
Meerbusen. Nicht weit davon, näher nach jeyem Vorgebirge
hin, ist
Sorrento; „sie liegt auf dem Abhange eines Berges sehr
hoch, schaut über den ganzen göttlichen Golf von Neapel, sammt
allen Inseln und Landspitzen, die ins Meer hineinlaufen, und den
rauchenden Vesuv." Hier wurde 1544 der Dichter Torquato
Tasso, der Verfasser des befreiten Jerusalems, geboren. ,,Nichts
gleicht der Aussicht von dem Baleon des Hauses, das einst die-
sem grwßen Mann, jetzt alten Weibern als Spital, ein Obdach
*) S. mehr darüber in meinem Lehrbuch der Weltgeschichte für Töch-
terschulen, 2tc Ausg-, Th. 1., S. 310 u. s. w.
Nösselts Geographien. 7
98
Italien.
gewährte. Zm duftigen Blau liegt das herrliche Bad des Oceans
zu deinen Füßen, und sanfte Kühlung weht vom Vorgebirge Mi-
seno und von Ischia herüber " Wenn wir im Rücken beider
Städte über den Gebirgsrücken gehen, kommen wir nach den
Städten Amalfi und Salerno,
Amalfi ist jetzt nur unbedeutend, war aber im Mittelalter
eine der wichtigsten Handelsstädte. Auch soll hier ums Jahr 1300
der Compaß entdeckt worden seyn *).
Sa lerno, eine alte, enge, häßliche Stadt. In dem Dome
besuchen wir das Grab des Papstes Gregor VII., das ihm der
Normannenfürst Robert Gniscard aus Marmor errichten ließ ** ***)).
— Nach Neapel zurückgekehrt, besuchen wir von hier aus das
wahrhaft prachtvolle Schloß
Caserta. Ucberall ist hier der Marmor verschwendet. Es
ist so groß, daß man müde wird, che man von dem einen Ende
bis zum andern kommt.
Vor dem Golf von Neapel erheben sich aus dem Meere
mehrere Inseln. Eine der größten ist
Capri. Ucberall erheben sich schroff schwarze Felsen-
mauern aus den Fluthen. Eine einzige Stelle erlaubt die
Landung. Auf dieser Insel hatte der grausame Tiber seine
Palläste. Hier ließ er von den Felsen Unglückliche zu seinem
Vergnügen ins Meer hinabstürzen Eine andere ist
Ischia (spr. Jskia), eine überaus liebliche Insel. Ein
kegelförmiger Berg, der Epomeo, erhebt sich aus seiner Mit-
te; er zeigt noch an seiner Gestalt, daß er einst ein Vulcan war.
Wenn wir von der Stadt Neapel nordöstlich quer durch
das Land reisen, so finden wir im adriatischen Meere die
Tremiti-Juseln. Eine derselben ist die, auf welcher
Augusts Enkelin, die jüngere Julia, ihr Leben als Verbannte
vertrauern mußte ch). Reisen wir an der Küste des adriati-
schen Meeres herab, so kommen wir nach
Otranto, an der Meerenge von Okranto, welche das adria-
tische und ionische Meer verbindet. Von hier pflegt man nach
der Türkei überzusetzen. Eine köstliche Aussicht hat man von hier
über das Meer nach den fernen Gebirgen von Albanien und nach
der Insel Corfu. Fährt man um den Haken von Italien herum,
in den Meerbusen von Tarent, so findet man die Stadt
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 2., S. 191.
**) Ebend. Th. 2., S. 73.
***) Ebend. Th. 1., S. 288.
f) Ebend. Th. 1., S. 265.
V
DaS Königreich Neapel.
99
Tarent, im Alterthum eine der reichsten Handelsstädte mit
300,060 Einwohnern, deren jetzt kaum 13,000 gefunden werden.
Der sonst so berühmte Hafen ist jetzt zum Tbeil versandet. Ein
Reisender schildert einen in Tarent verlebten Abend: „Der Erz/
bischof führte uns an eine Bucht, an welcher er einen kleinen
Garten und ein Lusthaus angelegt hat. Der Platz ist gewiß tu
ner der reizendsten der Gegend. Ringsum erheben sich sanfte Ho-
hen, die rnit Oelwäldern bedeckt sind. Dort auf dem Felsen lag
Tarent mit seinen Thürmen, und, höher als die Thürme, zwei
herrliche Dattelpalmen. Gärten voll Pomeranzen und Citronen,
Feigen, Mandeln und Granatbaumen senken sich herab von der
Stadt, und tausendfache Blüthe erfüllt die Luft mit Wohlgeruch.
Von der Spitze deS Hügels erblickte man den großen Meerbusen,
und jenseits die lange Kette der beschneiten Gipfel von Calabrien.
Eine süße Harmonie erweitert eure Brust. Von diesem lieblichen
Platz fuhren wir gegen Abend in einem Kahne nach einer Bank,
die ganz aus weißen Corallen besteht, deren wir nebst Muscheln
eine Menge fanden. Unsere Heimfahrt war schön. Eben hatte
sich die Sonne hinter den Oelwäldcrn verborgen. Zn der heitern
Luft stand nur eine düstere, hellvergoldete Wolke, und warf ro-
then Schimmer auf die glatte See. Mit dem Plätschern der
Ruder vermischte sich das schöne Geläute der Glocken von Tarent.
Alles übrige, was uns umgab, war so stille, so ruhig alles. Und
dergleichen Abende giebt eS unter diesem Himmel so viele, als sie
bei uns selten sind. Wahrlich, es erfordert einen hohen Grad von
Verleugnung, um bei dem Vergleiche dieser Gegenden mit unserm
Schnee- und Ncbellande nicht zuweilen übellaunig zu werden."
Hier stehe noch die Beschreibung des Festes des heiligen Catual-
dus, des Schutzpatrons von Tarent, welches einen Beitrag zur
Charakteristik der Einwohner liefert. „Die lebensgroße silberne
Bildsäule des Heiligen steht das ganze Jahr in einer Nische ver/
schlossen, bis an den Vorabend des Festes, wo sie ausrückt, und
unter einem prächtigen, mit vielen hundert Wachslichtern rings
umgebenen Thronhimmel auf ein Gerüste gesetzt wird. Kaum
steht sie da, so drängt sich Jung und Alt, Weib und Kind, hin-
zu. Alle wetteifern mit einander, um auf das Gerüste zu ftei,
gen, die Füße des Heiligen zu küssen, an seinem Gewände die
Hände zu reiben, den Kopf zu streichen, oder auch nur das Fuß-
gestelle zu berühren. Die auswärtigen Theilnehmer an dem Feste,
deren mehr als 10,000 in der Stadt seyn sollen, vermehren noch
das Gedränge. Mir ward wehe und wohl dabei; so rührend ist
die herzliche Inbrunst, mit welcher diese Menschen jenem Bilde,
welches sie für ein Wesen höherer Art halten, nahen, zu ihm
hinaussehen, ganz in ihm leben und weben. Manche, die eine
Gnade von ihm zu erbitten haben, rufen seinen Namen unzählige
Male so laut aus, daß die ganze Kirche davon erschallt. Einige
7 #
100
Italien.
\
richten sich auf die Zehen, um ihn zu berühren; andere recken
kleine Kinder hinauf, damit auch sie ihn küssen und an seiner
Gnade Theil nehmen. Ich sah eine alte Frau, die sich lange be-
mühte durchzudringen. Zuletzt verzweifelte sie, kniete an den Fuß
des Gerüstes, und, indem sie zu dem Heiligen hinaufsah, rief
sie zweimal halblaut seinen Namen an, als wollte sie ihn auf-
merksam machen. Hierauf verrichtete sie ihr Gebet. Als eine
ganz gewöhnliche, fast gleichgültige Sache erzählte mir Morgens
vor dem Gottesdienste ein Carmclitert der Heilige habe schon ge-
stern einem Blinden das Gesicht, und einem Lahmen den Ge/
brauch seiner Füße wiedergegeben. Ich fragte heute Mittag ei-
nen aufgeklärten Geistlichen im Vertrauen um die eigentliche Be-
wandtniß, und dieser versicherte mir, daß diejenigen, an denen die
Wunder bewiesen würden, immer arme Leute zu seyn pflegten,
die hernach in der Stadt herumgingen, ihre wunderbare Heilung
erzählten, und dafür Speise, Trank und Almosen erhielten. Um
diese Wohlthaten zu erhalten, erdichteten sie die Krankheit. Nach
der Messe war Prozession, und da wanderte der Heilige auf den
Schultern von 12 rüstigen Männern durch die ganze Stadt. Ich
kam den Abend noch gerade zu rechter Zeit in die Kirche, um
der Rückkehr des Bildes in seine Nische, und vorher noch einem
Besuche beizuwohnen, den es einigen andächtigen Nachbarinnen
abstattete. Der Kathedralkirche gegenüber ist ein Nonnenkloster,
dessen Bewohnerinnen die strengste Eingezogenheit beobachten. Da
sie also nicht zu dem Heiligen kommen konnten, so waren sie auf
den Gedanken gerathen, ihn durch ein Feuerwerk an die Kirch-
thüre zu locken, und auf diese Weise seines Anblicks theilhaftig
zu werden. Sanct Catualdus kam an die Thüre, und ward, als
müßte er das Feuerwerk auch sehen, davor gestellt; er verweilte,
bis es zu Ende war, und wandte sich gleich darauf um, seine
Nische wieder aufzusuchen. Da entstand mit einem Male ein
klägliches Heulen und Wimmern von fast lauter Weiberstimmen:
„Heiliger Catualdus! Ihr wollt gehen? Ihr wollt uns verlassen?
Warum wollt Ihr schon gehen? Ach bleibt doch!" So riefen
viele, und unter allen war es ein Jammer, als ob ihr ganzer
Trost, ihr einziges Gut ihnen jetzt auf immer entzogen werden
sollte. Wegen des Gedränges konnte ich nicht mit in die Capelle
kommen; aber bald kam der ganze Haufen zurück, die meisten der
Weiber mit weinenden oder verweinten Augen, und keine einzige,
auf deren Gesicht man nicht trostlosen Kummer gelesen hätte."
Der Theil des Königreichs Neapel, der sich bis gen Si-
eklien erstreckt (die Fußspitze Italiens), heißt Calabrien,
ein Land voll Berge und enger Thaler, und bewohnt von ei-
nem tapferen, räuberischen, rohen, sehr lebendigen Volke.
Das große Erdbeben 1783 hat einen großen Theil der Ort-
Das Königreich Neapel.
101
schäften zerstört, und noch jcht sieht man viele Spuren der
angerichteten Verwüstungen. „Ein sehr begüterter Mann, der
uns begleitete, und zwei Geschwister durch das Erdbeben ver-
loren hatte, zeigte uns mit Thränen die Trümmer seines Hau-
ses, unter denen auch er mit seiner Mutter 5 Tage lang gele-
gen hatte." Ein Mann, der gerade auf einem Citronenbaume
die Früchte abpflückte, wurde mit sammt dem Baume auf
eine andere Stelle versetzt, weil ganze Stücke Landes fortge-
schleudert wurden. Ganze Haufen Oelbäumc, die sonst in
Reihen standen, stehen jetzt in Kreisen bei einander. Eine
Frau wurde mit ihrem Kinde unter einem Schutthaufen ver-
graben. Nach einigen Tagen starb das Kind vor Angst und
Hunger, sie aber wurde nach 11 Tagen herausgegraben,
und hat noch lange gelebt. Der Hauptort des Landes ist
Cosenza, eine große, auf Hügeln gelegene Stadt. — An
der Spitze von Italien, Sicilien gegenüber, liegt
Reggio (spr. Nedscho), dasselbe, wo Julia, Augusts Toch-
ter, die letzten Jahre lebte, und auf Tibers Befehl ermordet wur-
de *). Wie herrlich ist hier die Alissicht über die Meerenge von
Messina, nach Sicilien hin, auf den ungeheuren rauchenden Ke-
gel des Aetna und auf die zum Theil dampfenden liparischen In-
seln! Durch das Erdbeben wurde die Stadt in einem Augenblick
gänzlich zerstört, und noch jetzt liegen einzelne Gebäude in Trüm-
mern. In den Gärten rund umher gedeihen die köstlichsten Po-
meranzen- und Cirronenfrüchte jeder Art. Feigen und Granat-
bäume scheinen nur zur Abwechselung dazustehen, und Dattclbäume
ragen hoch über alle andere hervor. ,, Unter dem Schatten eines
Citronenbaumes, dessen duftende Blüthenzwcige uns umwehten,
warteten wir des Unterganges der Sonne. Die Meerenge dehnte
sich hier in des ungemessenen Oceans finstres Blau. Da erschien
an dem jenseitigen Strande Messina herrlich gelagert um seinen
Hafen. Ueber Messina thürmten sich in wilder Gestalt die sicili-
schen Gebirge, aber gleichsam nur wie als niedere Hügel zu ver-
schwinden unter dem gewaltigen Aetna, der, ein flacher Kegel,
aus dem Meer in den Himmel emporstrebte, und düstern Dampf
aus seinen erhabenen Schneegefilden hauchte. Langsam versank
die Sonne hinter den Gebirgen, und Dämmerung umzog die Ge-
stade. Dann schwand auch der späte Rosenglanz von dein be-
schneiten Haupte des Aetna, und finster lagerte sich die hängende
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg,,
Th. 1., S. 284 u. 287. ' ' '
102
Italien.
Dampfwolke auf das Meer. Da trat über dem Gebirge der halb,
erleuchtete Mond aus leichten Wolken hervor. Ein sanfter Abends
wind erhob sich von Sicilien her über zitternde Silberwcllen, und
hauchte mir Erwartung und Sehnsucht entgegen. Dann rauschte
er über mir in dem Citronenbaum, und bedeckte mich mit fallen-
den Blüthen. Za! schön bist du, Calabrien, der allbelebendcn
Sonne tausendmal gesegnete Tochter!" Nicht weit ist das
Städtchen
Sciglio (spr. Schillro), daß alte Skylla, der bei den al-
ten Seefahrern berüchtigte Felsen, wo das Meerungeheuer Skylla
lauerte und die Schiffer raubte *). Schroff fällt hier die Fels,
wand bis in das Meer hinab, das sich an dem Fuße bricht. Die
Stadt ist auf beiden Seiten des Felsens so sah hinangebaut, daß
8 — 9 Häuserreihen stufenweise über einander stehen bis an daS
Schloß, das auf dem Gipfel droht. Bei jenem Erdbeben hatten
sich die meisten Einwohner hinab an den Strand geflüchtet. Da
löste sich plötzlich oben ein ungeheures Granitstück los, und stürzte
über sie hin in das Meer. Die Fluthen brausten hoch auf, wälz«
ten sich ungestüm gegen das Ufer, und rissen 1400 Menschen mit
sich fort. An der jähen Felswand ist noch die Höhle zu sehen,
in welcher, wie Homer erzählt, jenes Ungeheuer hauste. Da-
vor, befand sich im Alterthum der gefürchtete Strudel Charyb,
dis, der daS Meer einschlürfte und es dann brüllend wiedergab.
Wer denkt hier nicht an Schillers Taucher:
„Die Wasser, die sie hinunterschlang.
Die Charybde bald brüllend wiedergab,
Und, wie mit des fernen Donners Getose,
Entstürzen sie schaumend dem finstern Schooßc.
Und es wallet und siedet und brauset und zischt.
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt.
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,
Und Fluth auf Fluth sich ohn' Ende drängt.
Und will sich nimmer erschöpfen und leeren.
Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.
Jetzt ist von diesem einst so gefährlichen Strudel nichtb
mehr zu sehen.
10. Sicilien.
Die große, dreieckige Insel hat eine herrliche Natur.
Die Lust ist noch milder, der Winter noch gelinder als im
+) S. mein Lchrb. der Mythol. für Töchterschulen, S. 20.
j
Sicilien.
H
103
übrigen Italien, so daß man hier schon eine Ahnung von der
Natur der tropischen Lander erhält. Palmen, sonst ein den
Tropen eigenthümlicher Baum, sieht man hier schon gen Him-
mel ragen. Desto mehr ist hier die Menschheit in Verfall;
die Einwohner sind höchst unwissend, abergläubisch, träge und
daher arm. Die Männer der niedrigen Stände tragen braune
Eapotte, welche sich oben in eine pyramidalische Mütze endi-
gen, die sie über den Kopf ziehen, so daß nur das grelle Ge-
sicht hervorsteht. Die Weiber hüllen sich in monströse, schwarze
Gewänder, die zugleich den Nacken und Kopf bedecken. Beide
haben ein wildes Ansehen, besonders da ihre Augen feurig und
wild sind. Bei dem allen ist es ein gutmüthiges, dienstferti-
ges Volk. Zu Wagen kann man bei der Schlechtigkeit der
Wege und dem bergigen Boden hier nicht reisen, sondern auf
Pferden oder Mauleseln. Wenn wir über die Meerenge von
Messina gefahren sind, so kommen wir zuerst nach
Messina, einer schonen und großen Stadt von wenigstens
60,000 Menschen, in einer der reizendsten Lagen von der Welt.
Bekanntlich litt sie durch das Erdbeben von 1783 ungeheuer;
ganze Straßen- stürzten ein, z. B. die unvergleichliche Pallast/
straße am Hafen, die noch größtentheils in Trümmern liegt, und
4000 Menschen fanden dabei ihren Tod. Der Hafen — die
Marina —- wimmelt stets von Schiffen, und ertönt ohne Auf-
hören vom Geschrei der Krämer, Mäkler, Schiffer und dem Lärm
der Ab- und Zufahrenden. Besonders thätig sind hier die Schwert-
sischverkäufer. Die Schwertfische werden in dieser Meerenge häu-
fig gefangen. Man erlegt sie mit Harpunen, und ißt ihr Fleisch,
das sehr wohlschmeckend ist. Um die Stadt herum wachsen Citro-
nen in großer Menge. Was davon hier nicht gleich verbraucht
wird, versendet man nach den nördlichen Ländern, oder preßt den
Saft aus, und verkauft diesen Fäßchenweise.
Von Messina reisen wir in südlicher Richtung längs der
Ostküfte von Sicilien hin. Eine herrliche Reise auf lauter
Bergpfaden über schroffe Felshöhen, deren Fuß vom Meere
bespült wird, zwischen blühenden Oleandergebüschen, mit einer
beständigen Aussicht auf das dunkelblaue Meer und das ge-
gcgenüber liegende Calabrien. Die nächste Stadt ist
Taormina (uu-o), ein öder, düsterer Ort in einer wun-
derschönen Gegend, an dem Abhange eines Felsens gebaut. Auf
der Spitze des Felsens liegt das Kloster mit einer wahrhaft ent-
zückenden Aussicht. Dabei liegen die Ruinen eines altromischeu
104
Z tallen.
Theaters, und zwar wohl schöner als je ein anderes Theater liegt.
Es liegt auf einer felsigen Erdzunge, die überall schroff sich zum
Meere hinabsenkt. Auf der einen Seite sieht man die Meerenge
von Messina hinauf und hernieder, ans der andern thürmen sich
Berge auf Berge bis zu dem Niesenkegel des Aetna, und alle
diese Herrlichkeiten sind umstrahlt von der Purpurdecke des sicilia-
nischen Himmels. Von der Gluth dieser Farben, in welcher
Himmel, Meer und Erde schwimmen, har man in unsern nörd-
lichen Gegenden keinen Begriff.
Taormina liegt schon am nordöstlichen Fuße des Aetna,
der bis zum Meere reicht. Wir reisen, immer noch in süd-
licher Richtung zwischen dem Meere und dem Berge hin, bis
nach
Catanea, hart am südlichen Fuße des Aetna, in einer
äußerst fruchtbaren, trefflich angebauten Gegend. -Die Stadt ist,
eine Seltenheit in Sieilien, hell und freundlich, die Stra-
ßen breit, aber die Häuser, wegen der häufigen Erdbeben,
nur einstöckig. Alles erinnert hier an den gefährlichen Nach-
bar, den Aetna. Das Pflaster ist von Lava; eben daraus
sind die Häuser erbaut. Fast zu allen Seiten schaut entweder
das Meer oder der rauchende Aetna zu den schnurgeraden Stra-
ßen hinein. Deß Abends hat man einen schönen Anblick,
wenn man durch die Straßen geht. Die Vornehmen rollen dann
nach italienischer Sitte in prächtigen, mit Maulthicren bespann/
ten Caroffen den Corso auf und nieder, halten auf dem am Ende
befindlichen Platze eine Weile still, und unterhalten sich hier mit
den zahlreich versammelten Bekannten, indem sie das von der
Hitze des Tages entflammte Blut mit gewürzreichem Eise kühlen.
Die Damen, welche keine Wagen haben, erscheinen auf den Bal-
concn der Häuser, deren fast jedes Zimmer einen hat. Manche
Häuser prangen dann durch 2— 3 Stockwerke hindurch mit schö-
nen, schlanken, gewöhnlich weißgekleideten Cataneserinnen. Von
allen Seiten lassen sich auf den Straßen die Tamburine und die
Dudelsäcke hören, nach denen das Volk die Tarantella und andere
Nationaltänze aufführt. Dabei reißen die Festtage gar nicht ab;
fast jeden Morgen verkündigt das Glockengeläute, das Knallen
der Schießgewehre das Fest irgend eines Heiligen. Von Catanea
haben die Castanien ihren Namen. Nirgends mag cs auch wohl
so große, ja ungeheure Castanienbäume geben, als in der Nähe
dieser Stadt. Unter andern sieht man hier einen solchen Baum,
aus dessen Wurzel 15 Stämme, jeder von mehr als Mannsdicke,
ausgeschossen sind, und die oben mit ihren Gipfeln eine herrliche
Laube bilden. Noch berühmter ist der ,, Castanienbaum der hun-
dert Pferde." Es ist dies eigentlich eine Gruppe von 5 Däunien,
Ucberrefte eines abgestorbenen Stammes, in dessen ehemaliger
Sicilie li.
105 ,
Höhlung 100 Pferde Raum gehabt haben sollen. Jetzt ist an
der Stelle des weggefaulten hohlen Stammes ein schöner Ra«
senplatz.
Aetna. Dieser Berg wird auch der Monte Gibello
genannt. Wir werden ihn am besten kennen lernen, wenn wir
einen Reisenden sprechen lasten. Man pflegt ihn von Catane«
aus zu besteigen. Der Berg enthalt drei verschiedene Regionen
über einander. Unten ist die Region der Dörfer und Gärten;
darüber ist die Waldrcgion; dann die Schneeregion, Ueber dieser
erst ist der eigentliche Aschcnkegel. „Wir ritten auf Maulthieren
den Aetna hinauf. Der Tag war heiter, aber die Sonne brannte
sehr heiß, und unsere Maulthiere schraubten uns nur langsam auf
den unwegsamen, klippen « und sandreichen Straßen am Berge
empor. Endlich sahen wir das freundliche Catanien und die un-
absehlichen Wogen des Meers unter uns liegen; doch schien der
Saum desselben sich langsam am Horizonte hinanzuhebcn. Diese
Lavafelder sind ungeheuer fruchtbar, und aus ihrem schwarzen
Schooße quillt ohne Ruhe und Unterbrechung der reichste Segen
des südlichen Pflanzenwuchses. Daher sind auch auf dieser ge«
fährlichen Lavarinde die blühendsten Dörfer der Znsel anzutreffen,
und die 2t Meile von Cutanea bis zum letzten Dorfe, Nieolosi,
legt man zwischen lauter schwellenden Gärten und wohlhabenden
Ortschaften zurück. Etwa ^Meilen unterhalb Nieolosi fängt der
schwarzgraue Lavasand an, das Erdreich in Trauer zu hüllen,
bis an den Scheitel hinauf, an 4 Meilen. (Der Aetna ist etwa
11,600 Fuß hoch.) Ein unendlich düsterer und fast abschreckender
Anblick! Gegen Abend erreichten wir Nieolosi, und fanden im
Hause des Arztes die liebreichste Aufnahme. Nach kurzer Ruhe
brachen wir gegen halb zehn Uhr Nachts, in Begleitung eines
reitenden Wegweisers, auf. Wir stolperten über den höchst ber
schwerlichen Weg durch die Waldregion in dunkler Nacht mit unsern
Mauithieren glücklich durch. Endlich trat der Mond aus den
Wolken, und sein blasses Licht zeigte uns in unabsehbarer Tiefe
unter uns den blanken Spiegel des Meeres."
„So gelangten wir in die Schneeregion, als der Himmel
sich plötzlich in schwarze Sturmwollen hüllte, und die schneidende
Luft uns ziemlich erstarren machte. Den Sonnenaufgang konnten
wir nun nicht hoffen zu schauen; deshalb, und weil wir sehr von
der Rauhigkeit des Wetters litten, beschlossen wir, in der Lavahöhle,
Grotta del Castelluccio (spr. Castellutscho) genannt, einige Zeic
auszuruhen. Nachdem wir hier ein muntres Frühstück mit Zähn«
klappern eingenommen hatten, zogen wir, in der unermeßlichen
Lavaasche watend, weiter; denn diese Höhle liegt noch zwei Stun-
den unterhalb des Craters. Endlich tauchte im Sturm die Sonne
aus dem Meere auf, beleuchtete die entsetzliche Oedc, die wir
bisher noch gar nicht recht gesehen hatten, und ließ uns in unge«
106
Italien.
heurer Tiefe daS Meer erblicken. Alle Vegetation, grüne Moos-
büschel ausgenommen, hatte hier schon längst aufgehört; in Wol-
ken und Dampf gehüllt zogen wir bald über weiße Schneefelder,
bald durch schwarze Aschenmeere, dem Gipfel zu, ohne daß wir
weiter als 50 Schritte um uns sehen konnten, und so waren wir
etwa bis 1000 Schritte von Gemmellaro's Haus *) gekommen,
als unser englischer Reisegefährte fürchterlich zu stöhnen anfing,
und ohnmächtig vom Maulthiere in die Arme des Wegweisers
herabsauk. Dies Ereigniß auf der schwarzen Einöde und im Fluge
der dampfenden Wolken setzte uns in nicht geringe Verlegenheit,
und machte natürlich unserer Aetnareise fürs erste ein Ende. Die
Hauptursache seines Uebelbefindens war die dünne Luft und die
Abwechselung der Hitze unten mit der Eiskälte oben. Wir tru-
gen ihn hinab, und langten Nachmittags um 3 Uhr mit ihm in
Nicolosi an, wo er sich bald erholte. "
,, Als wir von einem erquickenden Schlafe Abends 9 Uhr er-
wachten, stand das Himmelsgewölbe in prachtvoller Klarheit über
uns. Alsbald war unser Entschluß gefaßt; die Maulthiere wur-
den gesattelt; wir übergaben unsern kranken Gefährten der Pflege
des Arztes, und ritten fröhlich zum zweiten Male gegen den rau-
chenden Kegel los. Die Nacht war wunderschön; wir sahen den
Rauch ganz senkrecht aus dem Crater in die Schwarzbläuc des
Nachthimmels emporsteigen, und hofften deshalb sicher auf das
Gelingen unseres Unternehmens. Die wahrhaft goldene Sichel
des Mondes schwamm im reinen Acther, und leuchtete weit über
das Meer hin; das Herz hüpfte vor Freuden; wir jauchzten und
sangen; die Maulthiere kletterten wie Gemsen mit Sicherheit
über die Lavaklippen, und wir kamen bald in das Innere der
Waldregion. Die ungeheure Lavaschicht von 1769 lag furchtbar
wie ein erstarrtes Meer noch ganz mit aufgerichteten Wellen zu
unserer Seite. Noch waren wir nicht ans Ende des Eichenwalds
gekommen, als sich ein schneidender Wind erhob, der bald in ei-
nen wilden Sturm ausartete, und uns so erstarrte, daß wir ohne
unsere Mäntel erfroren wären. Wir waren deshalb sehr froh als
wir am Ende der Waldregion die Ziegenhöhle oder die Grotte
der Engländer erreichten. Bald loderte in diesem düstern Lava-
gewölbe ein Helles Feuer, für unsere erstarrten Glieder eine große
Wohlthat. Trotz diesem Ungemach war diese Nacht die unver-
geßlichste unserer Reise. Bisweilen blickte der Mond aus den
schwarzen Wolken, und ließ uns das Meer tief unter uns schauen.
*) So heißt ein bequemes Haus, welches jener Arzt in Nicolosi etwa
a Stunden unterhalb des Craters hat bauen lassen, damit Reisende vor
Hagel, Schnee und Sturm darin Sicherheit finden können. Man nennt
es auch das Haus der Engländer, weil man in England dazu Beiträge
gesammelt hat.
Sicilien.
107
Wir sahen voll Erstaunen in dunkeln Umrissen die furchtbaren
Züge der Wolken, mit denen der Wind ein unbarmherziges Spiel
trieb, ins Meer Hinabrollen; über uns in ferner Hohe bisweilen
die Dampfsaule des Craters. Unsere Höhle lag voll schwarzer
Schatten, und vor uns standen, mit gesenkten Häuptern die Maul-
thiere. Um Mitternacht brachen wir zwar auf, allein die un-
durchdringlichste Schwarze des Himmels und der wüthende Sturm
nahm uns alle Hoffnung eines glücklichen Erfolgs. Nach drei
mühseligen Stunden, während welcher wir in der Finsterniß, von
schneidendem Froste zusammengeschüttelt, an den Lavalagern hin-
aufgeklettert waren, langten wir endlich abermals bei der Grotte
del Castellueeio an, und verkrochen uns sogleich in den Hinter/
gründ der Höhle. Ein Frühstück führte die Lebensgeister zurück,
und da wir hofften, die Sonne würde die Nebel zertheilen, so
legten wir uns an den Boden und schliefen ein paar Stunden
recht sanft ohne alles Feuer. Obgleich es nun schon 10 Uhr Mor-
gens war, und der dickste Nebel noch immer nicht weichen wollte,
so konnten wir uns doch unmöglich entschließen, zum zweiten
Male unverrichteter Sache zurückzukehren. Wir ließen also die
Saumroffe bei der Höhle, und steuerten durch daö unendliche
Sandmeer, den strömenden Nebel und die ftiegenden Wolken zu
Fuß rüstig vorwärts. Wir wateten bis über die Knöchel in der
Asche, und die Wolken durchnäßten unsere Mäntel; die Kälte
machte sie wieder gefrieren, und von den Spitzen unserer Mützen
hingen lange Eiszapfen hernieder. So erschien uns, nach zwei
Stunden sauren Weges, das Haus des Gemmellaro so stärkend,
wie den türkischen Pilgrimmen die Kaaba in Mekka. Hier war
aber die Thürs durch schlechtdenkende Reisende eingeschlagen; da-
her lag alles so voll Eis und Schnee, daß wir, bis auf die Haut
durchnäßt, in diesem Eiskeller ohne Feuer zu erfrieren fürchteten.
Dennoch entschlossen wir uns, nach einiger Ruhe weiter zu stei-
gen. Wir stiegen nunmehr auf Schneefeldern eine Strecke fort,
auä denen hin und wieder schwarze Lavablöcke hervorschauten, so
daß die ganze Gegend ein sargähnliches Ansehen gewann. Kaum
aber hatten wir eine Viertelstunde zurückgelegt, als Wind und
Wolkenzug in eben dem Maaße zunahmen, in welchem sich unsere
Kräfte verringerten, und wir mußten uns zum zweiten Male ent-
schließen, dem Cráter so nahe, von unserem Vorhaben abzuste-
hen. Wir wandten uns nun, und schoben mit den schnellsten
Schritten über die Lavafelder herab, zur Grotte dell Castelluccio,
wo wir unsere Maulthiere hatten. So wüst das Wetter auch
war, jo konnten wir doch nicht umhin, den großen, ja wohl
schauderhaften Anblick zu bewundern, den die schnellen Wolken,
welche gleich flüchtigen Heercsmafsen über die schwarzen Berglehnen
hinunterstürzten, uns darboten. Da wir indeß so sehr durchnäßt
waren, machte uns die Kälte das Reiten unmöglich, und in schnel-
108
Italien.
lern Marsch eilten wir durch die Waldregion zu Fuß nach Nicor
losi hinab."
„Den folgenden Tag des Morgens um 7 Uhr weckten unS
die Strahlen der hellen Sonne; der Himmel war rein und blau;
der Aetna sandte eine senkrechte Rauchsäule in die Lüfte. Eilends
rüsteten wir unö, und in einer Stunde saßen wir zum dritten
Male auf, um unser Glück gegen den feindlichen Vulcan aufs
neue zu versuchen. Wir ritten ohne Aufenthalt an den Lavala-
gern vorüber bis ans Ende der Waldregion zur Ziegenhohle. Hier
unter den anmuthigen Eichen frühstückten wir ein wenig; das lieb-
liche Grün des Waldes schwamm im heitersten Blau des Him-
mels, und ein Hirt blies romantische Melodien auf der Schal-
mei, wahrend seine munteren Ziegen auf einer blühenden Trift,
mitten in dem sonst stießenden Feuermecre, weideten. Die See
stoß fernhin mit dem Himmel zusammen. D welche Seligkeit er-
füllte uns damals! Die treuen Maulthierc trugen uns auch jetzt
wieder behutsam über die verworrenen Lavapfade der wüsten Re-
gion empor. Dies Mal aber ritten wir bei der verhängnißvollen
Grotte del Eastelluccio ohne Aufenthalt vorbei, bis an das Haus des
Gemmellaro, oftmals voll Angst und Sorge; denn die Wolken fingen
schon wieder an, ziemlich wild durch einander zu stiegen; jedoch
gab es Augenblicke, wo der Himmel rein und hell war. Hier
bei Gemmellaco's Hause genossen wir schon einen Theil der gött-
lichsten Aussicht, die unser wartete, hernieder aufs Meer und die
ganze Insel. Die Wolken zogen in eiligen Heeresmassen, als ob
es zu einer Schlacht ginge. Bald hatten wir die Schnee- und
Lavafelder am Fuß des ungeheuren Aschenkegels hinter uns, und
stiegen nun wirklich, was uns schon zweiinal mißglückt war, ihn
selbst hinan, sonst ein saurer Weg, da man bei jedem Tritt in
dem losen Vuleansand fast eben so viel zurücksinkt, als nistn vor-
wärts strebt; uns aber gab die Freude starke Flügel. Schon zo-
gen wir über die gelben Schwcfellager hin, schon fing der Boden
an hin und wieder zu glühen und aus vielen hundert ganz kleinen
Cratern zu rauchen; um das Bicorn selbst (so heißt der Gipfel
des Berges, weil jener aus zwei Spitzen besteht) aber rollten
sich die Wolken zuweilen dicht zusammen, zuweilen ließen sie uns
das erhabene Ziel klar sehen. Endlich rief der Wegweiser, der
einige Schritte vor uns war: „Sehet hier den höchsten Cráter!"
welche Worte uns aufs neue bestügelten. In wenigen Minuten
standen wir am Rande des gräßlichen Dampfkessels, dessen Na-
chen Berge ausgcspien hat, deren einige größer sind als der Ve-
suv bei Neapel oder der Brocken in Deutschland." „Wir woll-
ten sogleich in den Cráter hinabsteigen, obgleich uns der Führer
im Voraus die Unmöglichkeit versicherte, da der Nauch nicht senk-
recht aufstieg, sondern den Cráter erfüllte. Dennoch versuchten
wir cs; allein der dicke, fast handgreifliche Schwefeldampf hüllte
Sicilie n.-
109
uns bald in schwarze Nacht ein. Wir stiegen daher alsbald auf
das südliche Horn, und lagen hier unter Rauch, Dampf und
Donner auf heißem Schwefel. Die glühende Asche verbrannte
uns, der Schwefeldampf erstickte uns, der Sturm wollte uns in
die Tiefe schleudern; die Seele war kaum der unwiderstehlichen
Macht der erhabensten Eindrücke gewachsen. In den tiefen Thä-
lern voll schwarzer Lava und weißen Schnees, und über den star-
ren Stahlguß des Meeres, das sich schief an den Himmel bin auf
lehnte, zogen unermeßliche Wolkenheere langsam herbei; wenn sic sich
aber dem Vulean näheren, packte sie der wilde Orcan, vor dem wir
uns kaum auf den Füßen erhalten konnten, und warf sie mit
Niesenmacht 10,600 Fuß herab in die Ebene und Meere Sieiliens
und Italiens. Wir begaben unS hierauf am Rande des Eraters
herum, zu dem nördlichen Horn, und genossen hier ein Schau-
spiel, das ohne Zweifel an Erhabenheit und fast zermalmender
Große alles übertrifft, was sonst die Sinne des Menschen zu er-
fassen im Stande sind. Mit brausendem Kochen flogen die Rauch-
ballen aus dem Crater herauf, wo sie dann alsbald der tobende
Sturmwind, der wie Kanonenfcuer oder zahllose Glocken jeden
andern Laut verschlang, unbarmherzig zerriß, und mit Blitzes-
schnelligkeit der Tiefe zusandte. Der spitzige Kegel, auf dem wir
standen, war mit gelbem Schwefel, weißem Salze und schwarzer
Asche überzogen; die Sonne schien höchst seltsam durch den gelben
Dampf, und gab diesem sonderbaren Gemälde einen so gräßlichen
und wilden Ton, daß, wenn man bloß die nächsten Umgebungen
anblickte, man nicht anders als in der Residenz des höllischen An-
führers der unterirdischen Schaaren zu seyn vermeinte. Toben,
Wuth, Verwüstung und Brand überall; nirgends ein lebendiges
Geschöpf oder nur ein Grashalm, dem das empörte Element
Gnade angedeihcn ließe. Wie nun aber, wenn der Vulean
die Rauch - und Feuersäule, die sich vielleicht aus dem tiefen
Schlunde des Meeres herauswälzt, 20,000 Fuß in die Lüfte cm-
portrcibt! Nichten wir indessen unsere Blicke in die Ferne, so
scheint es wirklich, daß wir hier alle Herrlichkeiten der Erde zu
unsern Füßen sehn. Wir überschauen den ungeheuren Berg, der
selbst aus der Erde auferstanden ist, und viele 100 Söhne und
Enkel neben sich erzeugt hat; die klarste Lichtbläue des Himmels
ruht über Meer und Land; das Dreieck Sieiliens streckt seine Spi-
tzen nach Italien und Afrika aus, und die See sahn wir um das
südliche Vorgebirge herumfließcn. Zu unsern Füßen lagen die
kühnen Felsen der äolischen (liparischen) Inseln, und Stromboli
(eine derselben) dampfte heftig aus den Fluthen empor. Die Ge-
birge, bedeckt mit den dichtesten Wäldern, breiteten sich in allen
ihren Aesten vor unsern Augen über ganz Sieilien aus. Oestlich
sahen wir, wie auf einer großen Landcharte, den ganzen Halb-
stiefel Calabriens, den tarentinischen Meerbusen, das ionische
110
Italien.
Meer und die Meerenge von Messina. Wie ist es aber möglich,
nur eine dunkle Ahnung von den zahllosen Farben des Himmels,
Der Erde und des Meeres, die hier das Auge beinahe blenden,
in der Seele des Entfernten zu erwecken!"
„Nachdem wir etwa 2 Stunden dieses ungeheure Schauspiel
betrachtet batten, trabten wir sehr schnell den Aschenkegel zu Gemi
mellaro's Hause herab, wo wir das fröhlichste Siegesmahl hiel-
ten, das gewiß damals, wenigstens in solcher Höhe, gefeiert
wurde. Dann schritten wir gegen Westen bis zum Rande des
Val del Bue. Dieser gräßliche Schlund ist dadurch entstan-
den, daß ein unterirdischer Lavastrom die über ihm stehenden Berge
einriß; daher die höllischen, braunrothen Farben dieses langen Ab-
grundes, und obgleich man keine Spur einer Vegetation erblicken
konnte, so war dennoch die Mannigfaltigkeit der Farben unendlich.
Wir wälzten große Lavastücke hinab; sie zerstoben aber, ehe sie
noch die Hälfte ihres furchtbaren Weges zurückgelegt hatten, und
man hörte sie nicht aufschlagen. Gegen diese entsetzliche Lava-
furche ist selbst der Schlund des Rheins bei der Via mala in
Graubündten (s. Th. I. S. 360) freundlich und angenehm. Hier
aber schaut man der wildesten Verheerung gleichsam ins Herz hin-
ein. Die Maulthiere trugen uns endlich im tiefen Dunkel um
Mitternacht nach Nieolosi hinab."
Ehe wir vom Aetna scheiden, müssen wir noch die Erzäh-
lung eines Reisenden geben, der Zeuge des Ansbruchs 1792 war.
Damals brach der Gluthstrom aus der Seite des Berges aus.
„Eine Stunde nach Mitternacht brachen wir von Nicolosi auf,
um noch vor Anbruch des Tages an die strömende Lava zu kom-
men. Heftiges Toben in den Klüften des Berges verkündigte
schon vor zwei Monaten den Ausbruch. Da öffnete sich im Mai
der neue Schlund, und die Lava ergoß sich 17 Tage lang aus
feiner Seite. Den ersten Juri. brach der neue Lavastrom, den
wir jetzt zu sehen gingen, an der Südostseite des Berges hervor.
Wir waren noch nicht weit von Nicolosi, als wir schon den gan-'
zen Strour, eine lange Feuerstraße, in der Ferne erblickten; aber
bald verbargen ihn nahe Höhen wieder, und nur die über der
ganzen Ostseite des Berges erhabene, gluthrorhe Dampfwvlke
schien unS immer entgegen. Der Wind ruhte, der Himmel war
heiter; der Mond hinter uns kleidete die weite Ebene von Cata-
uea in sein friedliches Licht. Der weiße Duft zog wogend über
dem Meere. Vor uns breitete die gewaltige Erleuchtung sich im-
mer mehr aus. Wir ritten durch den Wald, schweigend, und
in gespannter Erwartung großer Dinge. AuS dem Walde kamen
wir wieder in weite Lavawüsten. Jetzt sahen wir den Gluthstrom
nahe. Ein Meer von Flammen schien uns entgegen zu fluthen,
die ganze Seite des Berges zu glühen, und unten flammend, blu-
tig oben, stieg der krause Dampf auf, und erfüllte den halben
Sieilien.
111
Lufthimmek. Um halb 4 Uhr Morgens standen wir an dem Stro-
me der Lara."
„Wer in dem blühenden Haslithale den donnernden Sturz des
Reichenbachs (s. Th.I. S. 395) von der hohen Alpe in das finstere
Fclsenbecken gesehen hat, mag cs versuchen, sich von dem Schau-,
spiel, welches wir vor uns sahen, ein Bild zu entwerfen. Hoch
an dem Berge brach die nie versiegende Fülle der Gluth auS
der nächtlichen Hülle hervor, stürzte eine gewaltige Feuersäule,
sprühend hinab, strömte dann in einem tiefen Lavabette ungestüm
an uns vorbei, und ergoß sich zuletzt in ein weites Beelen, wo
sie wogend einen Flammensee bildete. Aufgethürmte schwarze
Schlackenhausen schienen Inseln in diesem See. Der rothe Dampf
stürmte wirbelnd auö der Gluth auf, und stand vor unS, eine
feurige Mauer, von unabsehlicher Länge. Lebhaft erinnerte
mich der Anblick des nach seiner Große und Schönheit unbeschreib-
lichen Schauspiels an das treffende Gemälde, welches der erhabene
griechische Dichter Pindar davon entworfen hat.
„Tief aus seinen Schlünden brechen
Grausenerregendcn FeuerS
Seine Quellen tosend hervor.
Dicken Dampfes glühende Wogen rollt TagS der Strom
Zu den Wolken. Aber nächtlich wälzt
Sich im Dunkel, donnernde Felsen schleudernd
In des Meeres Tiefe, die lodernde Gluth."
„Der Gluthstrom hatte sich in der älteren Lava ein tiefes
Bette gewühlt, und lange Dämme aufgethürmter Schlacken faß-
ten seine beiden Ufer ein. Wir stiegen unserm Führer nach auf
einen dieser Dämme, und sahen von ihm hinab gerade in die strö-
mende Lava. Wir waren ihr so nahe, daß wir sie mit Stäben
erreichen konnten, welche darauf sogleich in Flammen aufloderten.
Die Breite dcS Stroms schien mir hier nicht viel über 12 Fuß
zu betragen: Seine Oberstäche war fast durchaus mit glühenden
Schlacken bedeckt, die, wie auf einem Fluffe das Treibeis, sich
einander fortschoben, nnd mit Ungestüm vorbeirauschten. Hier
und da sah man zwischen den Schlacken in die reine Flukh
der Lava. Die Schnelligkeit des Stroms war außerordentlich.
Steine, die wir hineinwarfen, blieben auf den Schlacken liegen,
und wurden mit ihnen fortgetragen. Hitze uno Schwefeldunst nö,
tbigten uns bald, diesen Ort zu verlaffen. Wir gingen an der
Seite des Stroms hinabwärts, dem glühenden See entgegen, und
staunten dem großen Anblick, als plötzlich nicht weit von uns, ei-
ner der Schlackendämme mit lautem Getöse zusammenstürzte, und
sich mit dem Strome vermischte. Schauder ergriff uns, als wir
die Größe der Gefahr sahen, der wir uns ausgesetzt hatten.
Bald hierauf ward es Tag. Nach und nach schwand von dem
112
Italien.
steigenden Rauche der Purpurglanz, und der allmahlig verblichene
Feuerstrom hüllte sich vor der aufgegangenen Sonne in die ver-
stnsterte Wolke des Dampfes. Wir mußten den Strom bis ans
Ende verfolgen, und sahen ihn dort, wie einen hohen und drei/
ten Damm rauchender Schlacken sich langsam fortschieben. Scine
Länge betrug nicht weniger als 3 — 4 Meilen."
Wenn wir nun vom Aetna oder Eatanea unsere Reise
nach Süden längs der Ostküste der Insel fortsetzen, so kom-
men wir nach der südlichsten bemerkenswcrthen Stadt dieser
Küste,
Siragossa; im Alterthum hieß sie Syrakus, und war
eine der größten, prächtigsten und reichsten Städte mit einer Mil/
lion Einwohner. Diese alte Stadt ist jetzt bis zu einer Mittel-
stadt von kaum 16,000 Menschen zusammengeschrumpft, und
nimmt nur eine Halbinsel ein, die einen kleinen Theil der alten
Stadt ausmachte. Ein Reisender sagt von seiner Annäherung
an die Stadt: „Das Meer schlug, von fern her donnernd, ziem-
lich wild an die Ufer, und wir ritten durch den thauigen Morgen
unter blühenden Oleander- und Granatenbäumen. Diese köstli-
chen .Blüthen des Südens hatten wir bisher nur selten gesehen;
daher sie hier, in ganzer Fülle prangend, alle unsere Sinne be-
rauschten. Seligen Herzens zogen wir auf unsern Maulthiercn
durch die duftigen Wiesen weiter, und bald erblickten wir die Stadt.
Seit dem Einzuge in Rom hatte uns kein so gewaltiges Gefühl
durchdrungen, als jetzt, da wir die traurige Oede durchritten, die
todten Klippen der Theile der alten Stadt, die jetzt unbebaut da-
liegen, wo sonst das Brausen der größten Statt der Erde ertönte,
und den blauen Guß des Hafens, in welchem die Flotten der
Athener und Karthager versenkt wurden, vor uns liegen sahen.
Ein wehmüthiges Gefühl ergreift den, welcher unter die weinen-
den Trümmer Sieiliens tritt. Von kahlen Einöden liegen diese,
wie erschlagene Riesen, vor uns, und die spätere Zeit hat nichts
Großes an ihre Stelle gesetzt. Vielleicht giebt es aber auf der
ganzen Erde keinen so tragischen Ort als Syrakus, da man nir-
gends so wie hier den schrecklichsten Wechsel des Schicksals so
unmittelbar vor Augen hat, und Volk und Stadt in unermeßli-
chen Trümmern uns umringen. Der Weg unter den Ruinen be-
trägt beinahe eine ganze Tagereise; so weit das Auge reicht,
sind wir von Oede, Trümmern und Vernichtung umgeben." „Der
ehemalige köstliche Minerventempel ist in eine Domkirche verwan-
delt, und die erhabenen dorischen Säulen hat man mit in die
Mauern verflochten. Die Reste des Dianentempels befinden sich
jetzt in den Butter- und Speiseschränken eines Advocaten."
Wir haben oben die Beschreibung eines Festes in Tarent
gegeben; hier wollen wir einen Reisenden ein ähnliches in Sira-
Sicili en.
113
gösse, schildern lassen: das Fest der heiligen Lucia, der Schutzpa,
kronin der Stadt. „Schon am Vorabend des wichtigen Tages sah
man im Hintergründe einer ziemlich langen und breiten Gasse eine
Art von Bühne, wie ein Marionettentheater, errichtet, und mit
einer großen Menge Lichter und farbiger Laternen erleuchtet. Auf
derselben wurde die heilige Lucia von einem türkischen Pascha vor
den Nichterftuhl des Sultans geführt; eine Menge Christen, Hei-
den und Türken umgaben sie im seltsamsten Gemisch, und ein
Haufen Straßenbuben vor der Bühne diente ihr zur Scharwache.
Die ganze Straße war gleichfalls mit Lampen und buntgefärbten
Laternen erleuchtet; ein Feuerwerk wurde abgebrannt; dichtge-
drängte Schaarcn fröhlicher Christen lustwandelten auf und nie-
der, und schrien ohne Unterlaß: eh viva Santa Lucia! während
ringsum Büchsen, Kanonen und Pistolen knallten. Wir halten
hier Gelegenheit, die seltene Schönheit der Syrakufanerinncu zu be-
wundern. Sonst ist die Farbe des Sicilianers ziemlich dunkel,
sein Haar sehr schwarz, seilffAnsehcn südlich und heiß, besonders
aber sein Auge tief, feucht und brennend. Hier in Syrakus aber
und in Catania haben die Gesichter, besonders der Frauen, nicht
selten auserlesene griechische Profile, und ihre Farbe war Milch
und Nosen. Aber ihre hohe und schlanke Gestalt wird durch eine
geschmacklos gestaltete Volkstracht äußerst entstellt. Ein schwarzer
Mantel, der unter der rechten Schulter mit einem Knoten zusam,
mengeschürzt, und über den Kopf geschlagen wird, dient den mei-
sten zur Hülle, und macht, das; man sie für bucklig oder doch we-
nigstens für schief gewachsen halten sollte. Tags darauf begaben
wir uns in die Kirche der heiligen Lucia, die ein ziemlich seltsa-
mes Schauspiel darbot. Durch die weitgeöffneten Thore strömte
die Menge schreiend und lärmend aus und ein, ohne dem Hause
Gottes auch nur die geringste Ehrerbietung zu bezeigen. Zur
Hintergründe desselben wurde unter Schlagen, Hämmern, Fluchen
und Schelten die Heilige auf ein mit Tragbalken versehenes Ge-
rüste gesetzt, um sie flott zu machen. Straßenbuben sagten sich
dabei umher, oder lagen auf den Altarstufcn auf dem Bauche,
reckten die Beine gen Himmel, und pfiffen sich lustige Weisen.
Die Kirchendiener machten die Toilette der Heiligen, und umhäng-
ten sie aufs zierlichste mit Schmuck und Kostbarkeiten; denn sie
sollte einen Besuch bei ihrer Schwester im Dom machen, daselbst
einige Wochen verweilen, und dann mit demselben Pomp ihre
Rückkehr antreten. Bei dem allen ging man sehr plump mit ihr
um. Endlich hatte man sie flott gemacht, und unter dem Läuten
der Glocken, dem Donnern der Böller und den zahllosen Eh vi-
vas der Menge trat sie ihre Reise nach dem Dom an. Glück-
selig, wer die Schulter mit unter die Tragbalken des Bildes stel-
len konnte! Unter gleichem Lärm und unerhörtem Scandal wurde
die junge Heilige in der Domkirche abgesetzt. Hierauf stellte sich
Nösselts Geographie II. 8
I
114
Italien.
Einer auf den Giebel der Kirche, und ließ eine Menge Tauben
fliegen, womit sich der erste Act des Festes endigte. Ein angese-
hener Syrakusaner, mit dem wir bekannt worden waren, und der
uns, nachdem wir 14 Tage beständig mit ihm Verkehr gehabt
hatten, ganz treuherzig fragte: „sind die Herren nur eigentlich
Preußen oder Perser?" kam auch am Tage der heiligen Lucia
zu uns, angethan mit rosinfarbenen Strümpfen, schwarzseidenen
Unterkleidern, und einem zebraartig gestreiften, grünseidenen
Rocke, damit wir ihn in den Hafen begleiten mochten, wo ein
Wettlauf, den Z Barken anstellen sollten, halb Syrakus versam-
melt hatte. Wirklich gewährte die wogende Menge am Ufer, die
spiegelglatte Ebene des dunkelblauen Meeres, das der reinste Him-
mel wiederstrahlend von Sapphir und Gold mit den lebhaftesten
Farben begoß, die fernen Oelhaine zwischen den vielen Trümmern
der zerstörten Stadt, im Glanz der Abendsonne, einen unaus-
sprechlich reizenden und wehmüthigen Anblick. Ueberall lagen
Schiffe und Nachen still, und feierten in ihrem Elemente gleich-
falls das Fest der großen syrakusanischen Schutzheiligen. Nur eine
schönverzierte Brigantine, die der heiligen Lueia zu Ehren alle
Flaggen gehißt hatte, fuhr mit der Familie ihres Patrons spatzie-
ren , und auf dem Verdeck derselben tanzte die ganze Gesellschaft
unter dem Schalle lustiger Instrumente. Endlich begannen die 3
Barken, während in Syrakus alle Glocken ertönten, den Wett-
lauf nach dem Marmorhafen. Ihre Ruderer schlugen das Meer
so unverdroffen, daß sie in der That beinahe zu fliegen schienen,
und als sie vorübereilten, begrüßte die Brigantine sie mit mehre-
ren Kanonenschüffen. Nun 'hätte man das Schreien und Toben,
das Drängen und die höchst ausdrucksvollen Gebehrden der auf-
geregten Menge sehen und hören sollen! Zwei Barken eilten so-
gleich voraus, und blieben immer neben einander, worüber der
Patron der dritten, welcher am Ufer stand, vor Verdruß fast von
Sinnen kommen wollte. Er winkte, schwenkte das Schnupftuch,
bat, ermahnte, schrie, stampfte, sprang wie toll umher; wir glaub-
ten wirklich, er würde sich von der hohen Bastei in das Meer hin-
abstürzen. Doch siehe! die zwei vorauseilenden Nachen verwickel-
ten sich mit ihren Rudern, und die dritte Barke, geschickt herum-
lenkend, errang die Palme, und segelte mit der Siegesflagge ge-
schmückt nach Hause. Hierauf zog sich alles in eine Kirche, in
welcher vier Prämien für zwei arme Burschen und zwei arme
Mädchen verloost wurden. Ein Knabe, vom Scheitel bis zur
Fußsohle mit Reliquien behängt, und immerfort das Zeichen des
heiligen Kreuzes schlagend, wurde auf den Tisch gehoben; er zog
die Loose, und ein Geistlicher las sie mit lauter Stimme ab. Die
Kirche glich einer tobenden Schenke; kaum konnte man sich in
dem unsäglichen Getümmel besinnen, während andere ganz laut,
wie im Schauspielhause, um Stille und Ruhe schrien. Mit die-
ser letzten Feierlichkeit wurde das Fest der heil. Lucia beschlossen."
Sizilien.
115
Zn den jetzt wüsten Gegenden vor der Stadt, wo einst das
alte Syrakus stand, liegen die so sehr merkwürdigen Steinbrüche,
aus denen die Alten die Steine zu ihren Pallästen holten. Theils
bilden sie ein entsetzlich ödes Felsenlagcr, theils sind sie mit den
frucht»cichsten Oelhaiuen und reizendsten Granat-, Mandel- und
andern Obstbäumen bepflanzt. „Sie gleichen tiefen Felsenthälern,
und man möchte es einen Augenblick vergessen, daß es Menschen-
hände waren, welche sie bereiteten. Drohend lehnen sich die
Wände über unser Haupt; ihre Ränder sind mit grünenden Bäu-
men umsäumt, und aus allen Spalten und Absätzen bricht üppi-
ger Pflanzen- und Baumwuchs hervor." Von ihnen gehen lange
unterirdische Gänge weithin, welche von den Alten zu Gefängnis-
sen und Gräbern gebraucht wurden, so daß der Boden wie ganz
unterhöhlt ist. Unter den Latomien — so nennt man jene
großen Steinbrüche, ist die berühmteste das sogenannte Ohr des
Dionys. Es ist eigentlich nur ein einzelnes Gewölbe einer gro-
ßen Latomia, das oben spitz zuläuft, und sich in Gestalt eines 8
krümmt. Es ist eine Schallhöhle, in der jeder Laut furchtbar
wiederhallt. Noch sieht man die Spuren der eisernen Ringe, in
welchen weit über dem Boden die unglücklichen Gefangenen auf-
gehängt wurden. Man setzt sich hier auf ein Stück Holz, und
läßt sich so, reitend, 70 Fuß hoch bis an die Zinne dieser Grotte
zu der sogenannten Kammer des Dionys, als dem Mittelpunkte
aller Schallgänge, hinauf winden. Spricht man hier ganz sacht,
so vernehmen es doch die Andern, die weit entfernt stehen, ver-
nehmlich.
Zn der Nähe von Syrakus wächst ein berühmter Wein,
der feurige Syrakuser. „ Wahrlich in diesem köstlichen Wein ist
aller Orangenduft und alle äthersiche Milde des südlichen Himmels
vereinigt."
Von Siragoffa reisen wir nun vollends bis an die Süd-
spitze der Insel, und dann längs der Südküfte hin, von Osten
nach Westen. Nicht weit von der Südspitze finden wir, et-
was landeinwärts, das merkwürdige Thal vo'n
Zspica. „Ein höchst beschwerlicher Weg voll Klippen und
Steine führt uns durch eine völlige Einöde zu der wunderbaren
Höhlenftadt. Das Thal dehnt sich eine deutsche Meile weit hin
zwischen Kalkfelsen. An beiden Wänden des Thales und auf der
nördlichen Seite laufen zahllose größere und kleinere Höhlen stock-
werkmäßig über einander in die Felsen gehauen, Die obe-
ren waren nur durch Leitern zugänglich. Fast alle haben eine
viereckige Gestalt; die Eingänge sind breit, aber niedrig. Einige
haben mehrere Abtheilungen. Jetzt sind sie von Menschen ganz
unbewohnt; ohne Zweifel wohnten hier vor einer unbekannten Reihe
von Jahrhunderten die uralten Einwohner von Sicilien. Zahllose
8 *
116
Italien.
Naben und Schreivogel haben hier ihre Wohnungen aufgeschla-
gen und flattern daraus hervor. Es herrscht überall die ödeste
Melancholie, und man ist froh, das Thal wieder hinter sich zu
haben.
Zunächst finden wir an der Südküste die Stadt
Girgenti, eine Mittelstadt, die im Alterthum Agrigent
hieß, und 800,000 Einwohner gehabt haben soll. Einst eine
reiche, blühende, prachtvolle Stadt, die darin nur von SyrakuS
übertroffen wurde — und jetzt? ,,Man kann sich unmöglich ei-
nen deutlichen Begriff von dem Unflath und Gestank, der Ar-
muth und dem Elend machen, die vereinigt aus allen Winkeln
solcher sieilianischen ödester, wie das unglückliche Girgenti, unsere
Sinne anfallen. Viele der elenden Hütten liegen gänzlich in
Trümmern. Vcrgelbte, dickbäuchigeKinder wälzen sich mit Schwei/
nen zugleich in den schmutzigen Winkeln, während ihre braunen
Mütter mit saurem Schweiß kaum die geringe Nahrung, die der
milde Himmel verlangt, gewinnen können/' Reisende konnten in
dieser Stadt, wo sonst alle Schätze des Morgenlandes feil lagen,
nicht einmal ein Paar Handschuhe bekommen. So elend also auch
die Stadt ist, so schön sind doch die auf den ringsum liegenden
Höhen stehenden Säulentrümmer der alten Stadt. Wie verstan-
den es Loch die alten Griechen, ihre Tempel auf die herrlichsten
Punkte hinzubauen, wo man zugleich durch den Anblick einer be-
zaubernden Natur zur Ehrfurcht gegen die Gottheit geweckt wur-
de! Unvergleichlich schön ist die Aussicht auf der Höhe, auf wel-
cher die Ruinen eines Minerventempels liegen. „Wenige Gegen-
den in Europa können den Vergleich mit dieser aushalten, wenn
man den Hügel ausnimmt, auf welchem das Theater von Taor-
mina liegt (s. oben S. 104.). Welches Paradies eröffnet sich
unsern Augen, wenn wir uns nach dem Meere hinwenden! Vor
uns liegt das schönste Thal, aus dessen üppigem Schooße aller
Segen deS Südens in schwellender Fülle hervorquillt. Es scheint
nur ein großer Garten voll wallender Kornfelder, Olivenhaine,
Orangen- und Citronenwäldchen zu seyn; der Feigenbaum, der
schöne Iohannisbrotbaum breiten überall ihre schattigen Aeste aus;
zarte MandclbäuMe, mit Früchten beladen, unzählige Blumen,
die wir gern in unsern Gärten erziehen, als Rosmarin, einige
wunderschön gezeichnete Gattungen von rothem Löwenmaul, blü-
hende Myrthen schmücken freiwillig dieses hügelreiche Thal, in
welchem einst der schönste Theil des mächtigen Agrigent lag. Wenn
die Ueppigkeit des Thals alle Sinne berauscht, so ergreift der
Anblick der auf den umliegenden Bergen sich zeigenden zweitau-
sendjährigen Säulen mit der unwiderstehlichen Gewalt der Erin-
nerung, und das in der Ferne mit dem Himmel zusammenfließende
Meer versenkt unsere Phantasie in ahnungsvolle Unendlichkeit.
Den höchsten Zauber aber verbreitet über diese seligen Gefilde und
Sicilieri.
117
die blauen Regionen des Meers der kraftvoll strahlende Purpur
der siciiianischen Abendsonne. So zermalmend auch der Anblick
der hohen Alpen, so frisch auch die Thäler der Schweiz sind, so
wenig können sie doch mit der Allgewalt eines solchen sieiliani-
schen Farbengusscs wetteifern."
Noch nicht 2 Meilen von Girgenti ist der kleine, aber merk-
würdige Schlammvulean Maccaluba ist einer äußerst öden Ge-
gend. Er ist nur etwa 2—30Ö Fuß hoch, also wie ein mäßi-
ger Stadtthurm, und nicht kegelförmig spitzig, wie die übrigen
Vulcane, sondern rund abgeplattet, nicht mit Lava, sondern über
und über mit dürrem Schlamme bedeckt, ohne allen Pflanzen/
wuchs. Daher ist sein Ansehen sehr düster. Er hat keinen großen
Crater, sondern unzählig viele sehr kleine. Ec ist nämlich oben
über und über mit kegelförmigen, aus Schlamm bestehenden Hau/
fen bedeckt. Auf ihren Spitzen sind kleine Eratcr, und diejc sind
mit schlammigem Wasser angefüllt, das, als ob es kochte, be-
ständig Blasen wirft, ob es gleich ganz kalt ist. Der beträcht-
lichste dieser kleinen Vuleanc, deren mancher nicht größer als ein
Maulwurfshaufcn ist, hat etwa 15 Schritte im Umfange. Als
1811 der letzte Ausbruch erfolgte, spieen diese kleinen Vuleanc
alle, und die Schlammsäulen stiegen etwa 10 Fuß hoch.
Von hier durchschneiden wir quer die Insel, um nach
Palermo, der Hauptstadt von ganz Sicilien, am nördli-
chen Ufer, zu kommen. Sie hat 150 —180,000 Einw., möchte
also in der Größe mit Berlin zu vergleichen seyn. Die meisten
Fremden kommen zu Schiffe hierher. Von der Sec her ist ihr
Anblick unendlich reizend, und wirklich soll der Hafen noch herrli-
chere Gegenden als der von Neapel darbieten. Ein Nciscnder,
der zu Schiffe kam, und 7 Tage im Hafen -O.uarantaine halten
mußte, kann nicht Worte sinden, die Schönheit der Lage zu be/
schreiben. ,,Wahrlich! Palermo ist ein Paradies! Zwei giganti-
sche Felsenwälle in seltsam ausgezackten Formen umarmen, weit
hinein gegen Norden ins Meer dringend, daS schönste Wasserbe/
cken der Welt, auf dem bald stolze Dreimaster in ernster Ru-
he unbeweglich liegen, bald zahllose Böte in geschäftiger Eile
umherhüpfen. Südwärts umbordet die mächtige Stadt den Ha,
fen, und breitet sich in der üppigen Ebene gegen die schön ge-
formten Hügel aus, welche die Stadt im Rücken theatralisch um-
geben, und deren grünende Matten, mit Orangenhainen, Cypres-
senwäldchen und glänzenden Schlössern besäet, hoch über die plat,
ten Dächer der palermitanischen Palläste schauen. Zur Seite er/ '
hebt der ungeheure Granitfelsen, Monte Pellegrino, sein graues
Haupt. Fast kein Grashalm bekleidet ihn; alles aber bedeckt der
mildeste Himmel mit Gold, Azur, Violen und Rosen. Der Ha-
fen wimmelt beinahe gleich dem belebtesten Markte einer großen
Stadt. Hier nahen sich Bettler in kleinen Böten den großen
118
Irakien.
Kauffahrteischiffen, springen, fiedelnd auf Geigen und klimpernd
auf Guitarren, in ihrem Kahn umher, als ob sie eine Tarantel
gestochen hätte, bis man ihnen ein paar Pfennige giebt; dort
schwanken ganze Nachen voll schöner Mädchen auf und nieder
durch die blauen Fluthen, um neugierig die Schiffe zu besehen;
von verjchiedenen Seiten tönen Trommeln, Pfeifen und kriegeri-
sche Janilscharenmusik von den Verdecken. Die Capitaine unter-
halten sich in weiter Ferne durch Flaggensignale, und laden sich
wechselseitig Lurch diese stumme Sprache ein. Dort kündigt ein
Kriegsschiff durch Kanonenschuß und Abfahrtsflagge an, daß es
segelfertig liege; auf den zweiten Pfiff des Hauptmanns hängen
50 — 70 Matrosen in luftiger Höhe an Len Tauen, und binnen
wenigen Minuten spannt das Seeungeheuer seineRiesenflügel aus,
und schwebt davon. Einige exerciren, Andere trocknen die Segel,
noch Andere treiben auf den Verdecken allerhand Posten. So ist
in diesem ewig wechselnden Gewirre keine Stunde der andern
ähnlich."
„Schwerlich dürfte Jemandem, der Mailand, Verona, Bo-
logna, Florenz, Rom und die übrigen Brillanten der köstlichen
Halbinsel gesehen hat, Palermo als Stadt gefallen. Die unge-
heuer lange Gaste, Cassaro genannt, die indessen an Breite
und Länge dem römischen Corso doch nachsteht, und die Gasten
Toledo und M aeque da, welche jene rechtwinklig durchkreuz
zen, bestehen zwar freilich aus sehr schönen Häusern; allein kei-
neswegs prangen sie mit den Meisterwerken eines Palladio (s. S.
16. bei Vieenza) oder den Marmorpalästen einer Strada Balbi
in Genua, und am allerwenigsten halten sie für die zahllose Menge
der schlechtesten Gasten und Winkel schadlos, durch deren pestilen-
zialische Ausdünstungen wir uns in Palermo durchschlagen müssen.
Indessen möchte man schwerlich mitten in irgend einer andern
Stadt einen so interessanten Punkt wieder finden, als der in
Palermo ist, wo sich Strada Macqueda und Toledo mit dem
Castaro durchschneiden. Nach drei Seiten sieht man die schönsten
grünen Hügel sich erheben, und nach der vierten zu dem blauen
Berge des Meers." Auf diesem Schneidepunkte ist ein weiter,
herrlicher Platz, mit Springbrunnen und Bildsäulen geziert. „Au-
ßerdem aber haben die Straßen den Reiz der unendlichsten Leben-
digkeit; das milde Klima treibt alles ins Freie, und die Fenster
sind eigentlich Glasthüren mit Baleonen, auf denen eine Stunde
vor Sonnenuntergang das ganze schöne Palermo, wenn es nicht
in Wagen an der Marina (längs dem Hafen) fährt, versammelt
ist. Der Anblick überrascht unendlich, ein großes Haus von oben
bis unten mit schönen Frauen geschmückt zu sehen. Das Gewühl
der Straßen ist so ungeheuer, daß man, besonders auf dem Cast
faro, sich kaum durchretten kann, vorzüglich um der eilenden zahl-
losen Wagen willen, deren Gerassel fast betäubt. Eine liebliche
Erscheinung sind die Wasservcrkäufer. Bekanntlich kann man im
südlichen Italien ohne Eis oder Schnee nie einen frischen Trunk
Wassers genießen, weshalb auch bei den Tafeln gewöhnlich Eis
dargereicht wird, oder die Wasserflaschen werden in Eis gestellt.
Da nun also das frische Wasser ein Kunsterzeugniß ist, so wird
es als solches öffentlich verkauft. Zu beiden Seiten sind in der
kleinen Bude terrassenförmig Citronen, Apfelsinen, und alle herr-
liche Südfrüchte in zierlicher Ordnung aufgehäuft und dazwischen
große Glaser voll Wasser gestellt, in denen allerliebste Goldfisch-
chen lustig umherhüpfen; eine Menge Springbrunnen jspringen
zwischen duftenden Blumen empor, und alles athmet mitten in
der brennend heißen Straße die angenehmste Kühle einer kleinen
Oase."
„Die Bauart der Stadt ist die süditalienische. Die Dächer
sind beinahe ganz platt, und statt der Fenster sieht man meisten-
theils Balcone mit Glasthüren. Die öffentlichen Gebäude, be-
sonders die Kirchen, sind in einem höchst sonderbaren, phantasti-
schen und geschmacklosen Styl angelegt, und man glaubt in dieser
Hinsicht in Palermo eine ganz neue Welt zu sehen. Die Verzie-
rungen sind bunt, und die Farben schreiend, alles seltsam, über-
trieben und abenteuerlich. Die höchst interessante Hauptkirche
der Stadt ist ein Gemisch von saracenischer, normannischer und
italienischer Bauart. In dieser Kirche stehen die Särge der ho-
henftaufischen Kaiser, Heinrichs VI. und Friedrichs II.; cS sind
ungeheure Porphyrmassen ohne besondere Verzierungen. Der
Pallast des Vicekönigs enthält nichts sehenswerthes."
,,Der schönste Spatziergang, um seiner Umgebungen willen, ist
ani Seeufer oder an der Marina. Man wird jedoch hier eben
so wenig als in den meisten italienischen Städten etwa einen schö-
nen Baumgang oder einen künstlichen Lusthain antreffen. Man
hat das Ufer viele hundert Schritte weit mit einem unverwüstli-
chen Omaderndamme eingesäumt, auf welchen in den Sommer-
abenden unter dem Schalle lustiger Musik die ganze junge paler-
mitanische Welt theils zu Fuß lustwandelt, theils in Wagen hin
und wieder fährt, reitet, dann wohl still hält, und sich unterre-
det. Freilich wenn man hier am glatten Spiegel des Meeres,
um den das Land seine zackigen Felsarme schlingt, oder unter dem
Brausen der unermüdlichen Wogen, erfrischt durch die stärkende
Kühlung des milden Seehauches umherwandclt, und der Mond
die wunderbaren Fernen beleuchtet, so scheint dieses Nachtgemälde
fast ohne Gleichen auf dem Erdboden zu seyn."
„Dieser Spatziergang führt zur Flora, dem Lieblingsgartcu
der Palermitaner, und obgleich er steif und elend angelegt ist, so
berauschen wir Nordländer uns doch mit durstigen Zügen in sei-
nem Orangenduft« Ueberbies erfüllt ihn die lustigste Menge. Von
allen Seiten her tönen Guitarren oder der klirrende Laut des Tam-
buvino zur Tarantella, und zahlreiche Haufen spielen das in ganz
Italien beliebte Kugclspiel. Hier aber wird die Sache so enthu-
siastisch betrieben, daß man in den engen Straßen der Stadt,
wo sich die Jugend durch die wandelnde Menge nicht im gering-
sten stören läßt, häufig die schlimmsten Würfe zu erhalten Gefahr
läuft, indem sie die Kugeln und Steine wohl mannshoch schleu-
dern, ohne auch nur vorgesehn! zu rufen."
Ein anderer Reisender, der sich längere Zeit in Palermo
aufhielt, erzählt von dieser Stadt folgendes: „Die Straßen an
sich selbst sind zum 'Theil schön und die Häuser prächtig; doch auf
die Reinlichkeit derselben wird wenig oder nichts verwandt. Be-
sonders im Winter möchte man trotz des Pflasters auä Quader-
steinen im Koth ersticken. Nur Kaufleute wohnen in den Erdge-
schossen, wo auch ihre Laden angebracht sind; doch Vornehmere
würden es sich.zur Schande anrechnen da zu wohnen. Gewöhn-
lich sind die unteren Räume der Palläste der Großen von Hand-
werkern und der ärmsten Elaste des Volks bewohnt, und die Ein-
gänge ihrer Gemächer stehen nicht im geringsten mit den obern
Stockwerken in Verbindung. Da sieht man in einem und dem-
selben Hause den größten Luxus und die allerschauderbafteste
Dürftigkeit beisammen. Halbnackte Kinder, in Lumpen gehüllt,
kriechen um die prächtige Staatscaroste des mit ihnen unter ei-
nem Dache wohnenden Prinzen oder Marchese, der eben im Be-
griff steht, von seinen reich galonirten Dienern umgeben, in den
Wagen zu steigen, und sich um diese Armen gar nicht kümmert.
Auf das Wort: ,, Guarda (vorgesehen!) fährt der Kutscher vor-
wärts, und fragt nicht danach, ob die Last seines Gebieters eins
dieser armseligen Geschöpfe in den Staub drückt."
„Klöster giebt es wohl an hundert. Die oberen Stockwerke
der ganzen Straße Toledo sind mit vergitterten Fenstern versehen,
hinter welchen die Opfer des älterlichen Aberglaubens schmachten;
denn nicht selten weiht die Mutter ihr Kind gleich bei der Ge-
burt dem Kloster. Man sieht Kinder von 6 und noch weniger
Jahren in der Ordenstracht des Klosters, dem sie bestinimt sind,
an der Hand eines Paters einherschreiten, ebenso Mädchen an
der Hand der Mutter in gleicher Tracht. Durch alle Straßen
ziehen bettelnde Brüder der Franziskaner, Kapuziner u. s. w,
Kästchen mir Religuien in den Händen tragend, die sie den Gläu-
bigen zum Küsten anbieten. Oft sehen die Reliquienkästen so ekel-
haft von den unzähligen Küssen aus, daß einem nicht Allzufrom-
mcn der Appetit vergehen möchte. Da aber diese Menschen alle
auf gleiche — Frömmigkeit, wie sie es nennen, Anspruch machen,
so küßt auch ohne Unterschied Jeder mit großer Begierde das Bild,
wofür einige Bajocco's in die neben dem Heiligen angebrachte
Büchse fallen. Nicht minder treiben auch diese Bettelbrüdcr Han-
del mit Reliquien. Hier sind Stück: der Kleider von Märtyrern
Sicilien.
121
und Märtyrerinnen, diese heilen Zahnweh, andere Kopfschmerzen
und alle übrige Leibesgebrechen. Solcher Reliquien von Kleidern
giebt cs so viele, daß man glauben sollte, alle diese Heiligen müß-
ten eine sehr starke Garderobe gehabt haben. In dem Innern
der meisten Mönchswohnungen herrscht eine ungeheure Unordnung
und Unreinlichkeit."
„Bei heißen Sommertagen, wo in des Abends Kühle viele
Tausende der Bewohner dieser Stadt in den Straßen lust-
wandeln, erstaunt man, wenn man eine Dame oder einen
Herrn an einer rohen Gurke, an Kohlrabi, an einem Sallat-
kopf nagen, oder ein Bündel Radischcn oder eine gekochte Ar-
tischocke verzehren sieht. Unsern Damen mit ihrer verwöhnten
Zunge möchten diese Leckerbissen wohl sehr ungenießbar vorkom-
men; aber dort ist das gar nichts Neties. Der Südländer liebt
diese Speisen außerordentlich, und gewiß weiß niemand in ganz
Sicilien, wie man einen deutschen Gurkensalat zurichtet. Als
wir einst in einem Speisehause Gurkensalat bestellten, trug der
Wirth ungeschälte Gurken, in vier Stücke zerschnitten, mit Essig
und Oel begossen auf. Unwillig darüber beschrieben wir ihin, wie
er die Gurken zurichten sollte; er aber sagte gerade heraus, daß
er solche porceriu (Sauerei) in seinem Leben nicht gemacht habe
und auch nicht machen werde. Die Lieblingskost sind Macaro-
n i; diese zieht der Italiener allen andern Speisen vor. Vorneh-
me, Tagelöhner, Lazzaroni, kurz alle sinden gleichen Geschmack
daran. Man findet sie in hunderterlei Formen, bald in kleinen
und größeren Sternchen, schneckenförmig, in Faden so dünn als
ein Haar bis zur Stärke eines Daumens. Die langen fadcnarti-
gen sind die beliebtesten. In jedem Wirthshause dampft von früh
bis in die Nacht der Wasserkessel. Man kauft sich nach Belieben
Maearoni, geht in die erste Schenke, steckt sie, ohne weiter zu
fragen, in den Kessel, wenn derselbe nicht besetzt ist, verlangt
eine Schüssel, und geht einstweilen nach Parmesankäse. Unterdest
sind die Maearoni weich gekocht; man legt eine Schicht in die
Schüssel, reibt mit einem nie fehlenden Reibeisen Käse darauf,
dann wieder eine Schicht Maearoni, wieder Käse, und so fort
bis ans Ende. Hierauf wird mit den Fingern zugelangt, und je-
des Mal das, was man zwischen den Fingern hält, so hoch ge-
halten, daß die Maearoni, die sehr lang sind, den Mund errei-
chen. Ein anderes Lieblingsgericht der Sieilianer ist die india-
nische Feige, die hier in großer Menge wächst. Man bedient
sich dieses Gewächses zu Verzäunungen; manche Blätter desselben
erhalten eine Größe von Z — 4 Fuß itn Durchmesser. Auf diesen
Blättern sitzt eine ungeheure Anzahl der Stachelfeigc; sie haben die
Größe und Farbe einer Kastanie. Ihre Schale hat unzählige
kleine Stacheln, die so scharf und spitzig sind, daß sic bei der
geringsten Berührung in die Oberfläche der Haut eindringen und
festsitzen /bleiben. Oeffnct man, aber behutsam die Schale, so zeigt
122
Italien.
sich ein gelbliches, viele harte Kerne enthaltendes Mark, und dies
ist so lüß und erquickend, daß man bei mäßigem Appetit 30 bis
40 essen kann. Nicht Jeder aber kann dieselben geschickt öffnen,
und wenn man sich nicht recht in Acht nimmt, so schlüpfen ge-
wöhnlich etliche von den kleinen Stacheln mit hindurch, und man
wird dadurch mehr oder weniger geplagt. Daher verkaufen die
Fcigenhändler dieselben nie anders als geöffnet, auf kleinen Tel-
lern liegend, die Portion, d. i. 4 — 6 Stück, für einen Bajoeco
( 3 Pfennig). Selbst die Reichsten und Vornehmsten scheuen sich
nicht, in diese Buden zu gehen."
„In allen bedeutenden Straßen sieht man Buden von Limo-
nadenhändlern. Auf ihren Tischen strotzen die köstlichsten messinacr
Limonen, Orangen und Pomeranzen, die das Auge ergötzen. In
schöngeformten Gläsern spielen Gold - und Silberfischchen, was
besonders des Abends, wo die Buden schön erleuchtet find, einen
herrlichen Anblick gewährt. Gewöhnlich sind ncttgekleidete Mäd-
chen die Verkäuferinnen."
„Im Spätjahre lernte ich ein mir noch unbekanntes Volks-
fest der Siciliancr kennen. Als ich nämlich eines Tages am
Meerufer spatzieren ging, war sowohl auf dem Ufer selbst als in
dessen Nähe auf dem Meere in Booten eine unzählige Men-
schenmenge aus allen Ständen versammelt, welche, mit Feuer-
gewehren versehen, unaufhörlich in die Luft schossen. Als ich
näher kam, sah ich, daß es den truppweise von dem festen
Lande des nördlichen Europa herüberkommenden Vögeln galt. Es
waren Schwalben, Staare und andere Zugvögel. Die Wonne,
welche diese Menschen bei dem Morde dieser Thierchen beseelte,
war unbeschreiblich, und ein ewiges Gebrüllt und Jauchzen er-
füllte die Luft. „O!" dachte ich bei mir selbst, „ihr armen
Kleinen! In meinem deutschen Vaterlande seyd ihr vielleicht man-
chem Fallstricke entronnen, und hier müßt ihr noch, so nahe an
dem Ziele eurer gefahrvollen Reise, ohne allen Zweck bluten."
Denn ich sah nicht, daß man sie aufhob; nur Hunde zerfleisch-
ten hier und da eins der gefallenen unglücklichen Vögelchen."
„Fische giebt es hier genug, doch noch mehr Seekrebse, Krab-
ben und Polypen, und es ist interessant anzusehen, wenn nach
Mitternacht 200 — 300 Fischerboote außerhalb und innerhalb der
Bai fischen. Auf jedem Boote befinden sich zwei oder mehrere
Lichter, wodurch eine große Strecke der Bai erleuchtet wird. Die
Fische kommen dem Lichte entgegen, und dadurch werden sie viel
leichter gefangen."
„Die Umgebungen der Stadt sind reizend. Villen und Gär-
ten wechseln fast ununterbrochen ab. Oft sah ich den König, der
damals in Palermo residirte, nur von einem Reitknecht begleitet,
spatzieren reiten. Prunklos zog er durch die Straßen, und man
schien ihn kaum zu bemerken. Kalt sagten die an ihm Vorüber-
Sicilien.
123
gehenden: „il re!" (der König), und würdigten ihn kaum des
Abnehmens des Huts. Ganz anders war es, wenn eine Prozess
sion vorüberzog. Da stürzte Alles auf die Knie, mochte es auch
noch so kothig seyn, und ich glaube, hätte sich Einer unterstan-
den, dies nicht zu thun, man würde ihn mit Gewalt zu Boden
gerissen haben."
„In diesem in jeder Hinsicht so schönen Lande hat der Fremde
wie der Einheimische mit mancher Gefahr und Unannehmlichkeit
zu kämpfen. Der Fremde besonders muß sich sehr in Acht neh-
men, die Rachsucht der Sicilianer zu reizen; denn diese können,
und wenn sie sonst noch so brav sind, ihren tückischen Charakter
nie ganz verleugnen. Vorzüglich hat man sich vor ihren Betrü-
gereien und Diebereien zu hüten. Ein dort in Garnison stehen-
der deutscher Soldat ging einst am Meeresufer spatzieren, und
trug seine Pantalons, die er gewaschen hatte, auf dem Rücken,
um sie zu trocknen. Ehe er es ahnt, stürzt ein vorübergehender
Sicilianer auf ihn zu, entreißt ihm die Beinkleider, und rennt
fort, wird aber bald von dem Soldaten und seinen herbeieilenden
Cameraden eingeholt, und tüchtig ausgeprügelt. Der Mensch
dachte auf Rache, und beobachtete seinen Feind so lange, bis er
ihn einst an einem abgelegenen Orte auf der Wache findet. Hier
überfällt er ihn des Nachts, und ermordet ihn mit mehreren
Dolchstichen. Als die Wache kommt, den Soldaten abzulösen,
findet sie ihn, seiner Waffen beraubt, und einen Zettel neben ihm
mit den Worten: questo e por gli pautaloni (das ist für die
Beinkleider!), entseelt auf dem Platze."
„Aber auch in anderer Hinsicht ist dieses schöne Land geplagt.
Giftige Reptilien giebt es in großer Menge, gegen welche der
Mensch sehr auf seiner Hut seyn muß. Schlangen von 6 — 8
Fuß, Scorpione, Taranteln und anderes Gewürm finden sich
häufig." Die Scorpione kommen oft in die Zimmer, und ste-
chen, sobald man sie reizt; sie kriechen selbst in die Betten, weil
sie die Wärme lieben.
Die nahe an der Westspitze Siciliens liegenden
Aegatischen Inseln bieten keine Merkwürdigkeit dar.
Desto interessanter sind die in weiterer Ferne nördlich von
Sicilien liegenden
Liparischen Inseln. Mehrere von ihnen haben un-
aufhörlich dampfende und Lava speiende Vulcane. Die bedeu-
tendsten Inseln heißen Lipari, Volcano und Strom-
boli. Wie schwarze, schroffe Felsen erheben sie sich aus dem
Meere, und ihre ewig dampfenden Vulcane gewähren, beson-
ders zur Nachtzeit, wenn Feuerströme in die Luft steigen,
oder Lavaftröme an ihnen hinabfließen, einen merkwürdigen
124
Italien.
Anblick. Ein Reisender, der Stromboli besuchte, bestieg den
Vulcan. „Die ganze Insel ist ein einziger kegelförmiger Berg,
und von allen Seilen steil aus dem Meere erhoben. Ihr
Gipfel, 4000 — 5000 Fuß hoch, dampft seit undenklichen Zei-
ten unaufhörlich, und Nachts wird die nie verlöschende Flam-
me weit aus dem Meere gesehen. Am untern Abhange lie-
gen zerstreute Häuser, Weingärten und Fruchtbäume. Das
Gewächs ihrer Neben ist vortrefflich und voll Feuer. Die
Einwohner, abgesondert von der übrigen Welt, sind sehr un-
gebildet, aber gutmüthig und ohne Falsch. Der Pfad zum
Berggipfel läuft anfangs zwischen Weingärten und den Hüt-
ten der Landlcute unter schattenden Bäumen sehr unmuthig
an dem Berge hinauf. Ueber den Weingärten wird die Ge-
gend öde und der Pfad sehr steil. Ich brauchte 2 Stunden,
um den Gipfel zu erreichen. Dort erblickte ich gleich den
Cratcr, wiewohl rief unter mir, am nördlichen Abhänge des
Berges. Die Tiefe des Schlundes schien mir unermeßlich;
düstere Dampfwolken stiegen wirbelnd daraus empor. Die
Aussicht von diesem erhabenen Gipfel ist überaus groß und
reizend. Gegen Mittag erblickte ich unter mir die übrigen li-
parischcn Inseln wie Hügel in das Meer gesäet; dann die
schöne Nordküste Siciliens und den erhabenen Gipfel des Aetna,
auf die lange Reihe der andern Berge, wie auf Schultern,
gestützt. Sicklien schien mit Calabrien zusammenzuhängen;
über die Küste dieses Landes zogen sich in mannigfachen Ge-
stalten die waldigen Apenninen. Gegen Abend erhob sich das
Meer zu unermeßlicher Höhe. Ich verweilte in dem Genusse
dieser weiten Aussicht, bis die Sonne unterging. Sie ver-
sank in ferne Fluthen, die sie mit ihren letzten Strahlen ver-
goldete. Noch war ich auf dem Berge, als in seinen Klüf-
ten ein lautes Getöse erscholl, und mich schnell von dannen
scheuchte. Es war schon finstre Nacht, als ich den Strand
wieder erreichte."
11. Malta.
Fünfzehn Meilen südlich von Sicilien erhebt sich aus
dem Meere eine hohe Fclscninscl, Malta, mit einigen um-
Malta.
125
liegenden kleineren Eilanden. Die Insel besteht aus dürrem
Kalksteine, in dem sich eine Menge Höhlen von der mannig-
fachsten Gestalt befinden. Sehr merkwürdig ist, daß auf die-
sem unfruchtbaren Felsen, der keine 3 Meilen lang und breit
ist, eine zahlreiche Bevölkerung von mehr als 100,000 Men-
schen wohnt. Gewöhnlich erzählt man, die Einwohner hol-
ten die ihnen so nöthige Erde aus Sicilicn, dem ist aber in
neuester Zeit aufs Bestimmteste widersprochen worden. Da-
gegen pflegen sie den Boden umzuwenden. Sic hauen näm-
lich die obrere Stcinrindc weg, und holen die darunter sich be-
findende Erde hervor. Die Insel ist eine natürliche Festung.
Die Südseite ist ganz unerstciglich; nur an der Nordseite ist
ein Zugang, den Festungswerke vertheidigen. Die Luft ist
hier sehr mild; die Gluth der südlichen Sonne wird durch
Seewinde gemildert, und nur beim Wehen des Sirocco ist
die Luft drückend und gefährlich. Daß auf einer solchen In-
sel nicht viel wächst, ist natürlich, und viele Bedürfnisse müs-
sen hierher gebracht werden; doch fehlt cs nicht an schönen
Südfrüchten, und nirgends soll man so schöne Orangen fin-
den als hier. Sonst war die Insel der Sitz des Malteser-
ordens *)*; jetzt aber gehört sie den Engländern. Der Haupt-
ort ist ( , f
La Valetta, auf der Ostküste, amphitheatralisch um den
kleinen Meerbusen, an dem sie 1 tegt^ ausgebreitet, eine freund-
liche Stadt mit breiten und geraden Straßen, die aber sehr bergab
und bergauf gehen. Stets wimmelt es in dem Hafen von Schif-
fen; namentlich haben die Engländer hier ihre Niederlage von
Vorräthen für ihre Schiffe im mittelländischen Meere.
Die Republik der ionischen Inseln.
Oestlich von der Südspitze Italiens, längs der Westküste
der Türkei und Griechenlands liegen 6 größere und kleinere In-
seln, die mit einer siebenten, die südlich von Morea liegt, ci-
*) S. mein Lehrbuch der
Th. 2., S. 103.
Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
126 Die Republik der ionischen Inseln.
nen Freistaat ausmachen, und die ionischen Inseln genannt
werden. Sie heißen (von Norden nach Süden): Korfu,'
Paxo, Santa Maura, Ccfalonia, Theaki, Zante,
und — die am Südende von Morea liegende — Cerigo
(spr. Tscherigo). Nur drei sind groß: Korfu, Ccfalonia und
Zante. Aste sind sehr bergig mit herrlichen Thalern, haben
eine schöne, milde Luft, und bringen die köstlichsten Südfrüchte
in solcher Menge hervor, daß die Einwohner sie nicht alle
selbst verzehren können, sondern viel davon noch ausführen.
Ueberall sieht man die süßesten Trauben herabhängen, aus de-
nen nicht nur ein feuriger Wein, sondern besonders unzählige
Rosinen und Korinthen bereitet werden, und was wir davon
bei uns sehen, ist fast alles von diesen Inseln gekommen.
Bei der schönen Natur ist es nicht zu verwundern, daß sie
sehr stark bevölkert sind; denn fast freiwillig giebt die Natur
ihnen ihre reichsten Gaben. Die Einwohner sind größtentheils
entweder Griechen oder Italiener; daher hört man hier meist
griechisch oder italienisch reden. Dazu kommen jetzt auch noch
viele Engländer, denn England hat das Schutzrecht über diese
Inseln, was beinahe so viel als Oberherrschaft sagen will.
Zwar wird das Land von einem Senate regiert; aber der
englische Statthalter, der den Titel eines Lord-Obercom-
missairs führt, thut und verordnet, was er will, da er
englische Soldaten zu seiner Hülfe hat. Auf der Insel
Korfu — derselben Insel, die Homer Scheria nennt,
wo das Volk der Phäaken wohnte, das den von Troja heim-
kehrenden Odysseus so freundlich aufnahm *) — liegt die
Hauptstadt der ganzen Republik, Korfu, wo der Lord-Ober-
commissair residirt. Sie ist eine Mittelstadt, liegt an der
Ostküstc, also an der Meerenge, welche zwischen der Insel
und der Türkei ist, und hat einen schönen Hafen, der von
Schiffen nie leer wird. Auf der Insel
Santa Maura ist das im Alterthum berühmte Vor-
gebirge Leukate, von dem man glaubte, daß ein Sprung
von da hinab ins Meer jeden, der von der Liebe gequält
*) S. mein Lehrb. der Mythologie für höhere Töchterschulen, <2.446.
Die Republik der ionischen Inseln.
127
würde, heile. Die Griechen hatten wohl Recht; denn wer
den Sprung wagte, kam wohl nicht lebendig davon *).
Cephalonia ist die größte und, nächst Zante, geseg-
netste Insel, ganz mit ziemlich hohen Bergen überdeckt, aber
die Thaler sind so schön und mild, daß die Fruchtbaume zwei
Mal des Jahres blühen, Garten und Felder eine zweimalige
Erndte geben, und selbst mitten im Winter Rosen und Nel-
ken blühen. Nahe dabei ist das kleine, aber im Alterthume
so berühmte
Theaki, sonst Ithaka, das Königreich des vielgewan-
derten Odysseus, eine Felseninsel, voll hoher Fruchtbarkeit und
mit einem herrlichen Klima **).
Zante liegt der Westküste von Morea gegenüber, und
ist so lieblich, mild und fruchtbar, daß man sie die Krone
und Blume der Levante nennt (man pflegte sonst diese Inseln
die venetianische Levante zu nennen). Das Ganze scheint ein
einziger köstlicher Garten zu seyn, und setzten nicht manchmal
Erdbeben die Einwohner in Schrecken, so möchte man sie ein
wahres Paradies nennen. Die Stadt Zante, die größte
aller ionischen Städte und Städtchen, liegt wie ein Amphithea-
ter am Abhange eines Berges auf der Ostküstc. Die Sitten
sind hier halb europäisch, halb morgcnländisch; z. B. pflegen
sich hier die Frauen von Stande nie anders auf der Straße
sehen zu lassen als mit schwarzen Larven, damit man ja nicht
ihr Gesicht zu sehen bekomme. Südlich von der Insel liegen
die stro p h a d i sch e n Inseln, die aus der Mythologie be-
kannt sind, wo der Trojaner Aeneas und seine Gefährten von
den gefräßigen Harpyien angefallen wurden ***). Endlich
Cerigo, südlich von Morea. Im Innern der Insel
liegen noch viele Säutentrümmer, vielleicht Ueberreste des im
Alterthum berühmten Tempels der Aphrodite (Venus). Denn
damals hieß diese Insel Kythera, und war dieser Göttin
geheiligt 1').
*) S. nietn Lehrb. der Mythologie für höhere Töchterschulen, S. 150.
**) Ebend. S. 349 u. 477 u. folg. Auch mein Lehrbuch der Weltge-
schichte für Töchterschulen, 2te Ausg., Th. 1., S. 58.
***) S. meine Mythologie S- 432.
ch) Ebend. S. 140 u. S. 151.
128
Das Königreich Frankreich.
Das Königreich Frankreich.
Wir suchen, wie bei Italien, zuerst die einzelnen Theile
des Landes auf der Karte auf, um uns zurecht finden zu ler-
nen. Es wird, seit der Revolution in 86 Departements ge-
theilt, die meist von den Flüssen oder Gebirgen ihren Namen
haben. Wir halten cs für unnöthig sie zu nennen, unb wol-
len den weiblichen Köpfen nicht zumuthcn, sic zu behalten.
Vorher theilte man cs in 17 Provinzen ein. Diese Einthci-
lung ist zwar veraltet, aber dennoch werden die Theile Frank-
reichs im gemeinen Leben noch immer nach ihnen benannt *).
Cs sind folgende, die auf der Karte genau aufgesucht werden
müssen:
a. an dem Canal von Osten nach Westen:
1. die französischen Niederlande, längs der
Gränze des Königreichs der Niederlande, um die «ptadt Lille
herum.
2. Picardie, südwestlich von der vorigen, um Amiens
herum.
3. Normandie, südwestlich von der vorigen, um
Rouen herum.
4. Bretagne, die nordwestlichste Provinz, um Rennes
herum.
b. an dem atlantischen Meere von Norden nach Süden:
5. Orleanois (ois wird hier wie ä ausgesprochen),
südlich und östlich von der vorigen, zieht sich weit nach Osten
ins Land hinein, bis hinter die Stadt Orleans.
*) Ein vernünftiger Lehrer wird uns wohl nicht deshalb tadeln, wenn
wir mit den Schülerinnen statt nach den 86 Departements das Land nach
den 17 Provinzen durchgehen. Einem Mädchen kann es ganz gleichgültig
seyn, zu wissen, wo das Departement der Charente, des Avcyron u.s. w.
liegt; oft aber ist die Rede von der «Provence, Languedoc, Bretagne,
Elfaß u. s. w., und sic muß wissen, wo sie diese zu finden habe. Wüßte
sic auch wirklich alle Departements, so würde sie immer noch nicht wis-
sen, woher das Provcnceröl, der Champagner, der Burgunder u. dergl.
kämen,, wo Lothringen, Dauphine und die andern Provinzen, die so
oft in'der Geschichte und im gemeinen Leben genannt werden, lägen.
Also — Ilonny soit, qui mal y pense! Hat der Lehrer eine Karte von
Alt-Frankreich, desto besser. Ucbrigcns rechte man nicht mit uns, daß
wir hier manche Flüsse und Städte schon im Voraus nennen. Es ge-
schieht für den Lehrer, und nicht für die Schülerinnen.
Das Königreich Frankreich.
129
6. Guienne, die südwestlichste Provinz von Frankreich,
bis an die spanische Gränze.
c. am mittelländischen Meere von Westen nach Osten:
7. Languedoc, von den östlichen Pyrenäen und der
Stadt Toulouse bis an den Fluß Rhone.
8. Provence, von der Rhone bis an die Sccalpen.
d. längs der Gränze von Italien von Süden nach Nor-
den:
9. Dauphine, um die Stadt Grenoble herum, west-
lich und nördlich bis an die Rhone.
10. Bourgogne (Burgund), um die Stadt Chalons
an der Saone (spr. Sone) herum, bis an die Rhone süd-
lich und östlich.
e. längs der Gränze von Hclvetien:
11. Franche Comte, um die Stadt Besancon her-
um.
5. längs der Gränze von Deutschland, von Süden nach
Norden:
12. Elsaß, ein schmales Land, längs dem linken llfer
des Obercheins.
13. Lothringen, westlich vom vorigen, um Nancy
herum.
g. in der Mitte des Landes:
14. Jsle de France, um Paris herum, südlich von
Picardie und östlich von Normandie.
15. Champagne, östlich von der vorigen, zwischen
ihr und Lothringen, um Nheims herum.
16. Lyonnois (oté wie ä), an der Westseite der
Rhone, nördlich von Languedoc, von der Stadt Lyon westlich.
h. im mittelländischen Meere:
17. d i e Insel Corsica.
Boden: Im Allgemeinen ist Frankreichs Boden fruchtbar
und gut angebaut. Hohe, wilde Gebirgsgegenden finden wir
hier nur an den Gränzen von Italien und Spanien; das In-
nere des Landes ist zwar von manchen Gebirgen durchzogen,
aber sie find nicht sehr hoch. Große Strecken sind nur hü-
gelig oder ganz eben. Von den Gebirgen merke man sich
folgende:
Nösselts Geographie!!. 9
130
Das Königreich Frankreich.
1. Die Pyrenäen, bekanntlich auf der Gränze zwischen
Frankreich und Spanien, ein sehr hohes, höchst romantisches,
von wilden Schluchten zerrissenes, und großartiges Gebirge.
Die höchsten Spitzen sind mit ewigem Schnee bedeckt. Die
höchste Kuppe ist der Montperdu, über 10,500 Fuß hoch.
Fast überall bilden sie eine hohe Mauer, und nur an den
Küsten gehen bequeme Straßen von einem Lande zum andern ;
in der Mitte aber finden sich bloße Fußsteige, die zum Theil
höchst beschwerlich und gefährlich sind.
2. Das Gebirge von Auvergne. Cs liegt in der
Mitte des südlichen Theiles des Landes (man suche auf der
Karte gerade westlich von Lyon die Stadt Clermont auf, und
von dieser südwestlich die Stadt Aurillac. Zwischen diesen
beiden Städten zieht es sich von Süden nach Norden hin).
Ein ödes, kahles Gebirge, dessen spitzigen Bergen man cs
ansieht, daß sie einst Vulcanc waren. Die höchsten Spitzen
heißen der Mont d' or, der Puy de Dome und der
Cantal.
3. Die Sevennen. Sic ziehen sich von Süden nach
Norden westlich von Lyon und der Rhone, zwischen diesem
Flusse und der O.uclle der Loire, bis in die Gegend von Di-
jon hin, wo sich das Gebirge unter dem Namen der Gold-
hügel (Cotes d’or) endigt.
4. Die Alpen. Schon bei Italien ist gesagt, daß sich
eine himmelhohe Mauer wilder Berge zwischen beiden Ländern
hinzieht, die durch die Berge Cenis und Viso in die drei
Ketten der grajischen, cottischen und See alpen zer-
fallen. 9iuc die beiden letzten Bergketten gehören hierher; die
ersteren gehören ganz zu Italien. Jene aber breiten ihre ho-
hen Aeste über Dauphine und Provence aus.
5. Der Iura ist uns auch schon von Hclvetien her be-
kannt. Cr läuft von Südwestcn nach Nordostcn meist auf
der Gränze zwischen Frankreich und Helveticn hin. Von sei-
ner höchsten Spitze, der Dole, genießt man einer entzücken-
den Aussicht nach den Gebirgen der Schweiz. Man sieht den
ganzen Genfersec, und Matthisson zieht diese Aussicht sogar
der vom Aetna noch vor, indem er singt:
Das Königreich Frankreich.
131
,,Doch schöner, wenn der Sommerkag sich neigt,
Den Zaubcrsee, hoch von der Dole Rücken,
Wie Luna's Silberhörner sanft gebeugt,
Umragt von Felscngipfeln zu erblicken."
Die ganze Kette der Atpen liegt hier vor dem erstaunten Rei-
senden, und über ihnen ragen die Hörner der Berneralpen,
vor allen aber der ewig weiße Montblanc.
6. Die Vogesen oder der Wasgau, eine Fortsetzung
des Iura. Sie streichen auch von Süden nach Norden, und
zwar zwischen dem Elsaß und Lothringen, und verlieren sich
an der Gränze von Rheinbaiern in den Donnersbcrg.
7. Die Ardennen sind an der niederländischen Gränze,
zwischen Lothringen und Luxemburg.
Gewässer: Daß der Theil des Meeres, der Franko
reich von Großbritannien im Norden trennt, der Canal
heiße, setzen wir als bekannt voraus. Der östliche Eingang,
sein schmälster Theil, heißt der Pas de Calais. Die Fran-
zosen nennen den Canal auch la Manche, von seiner Aehn-
lichkeit mit einem Acrmel. Dieser Canal ist einen großen
Theil des Jahres mit dichtem Nebel bedeckt, während drau-
ßen vielleicht klares Wetter ist. Der Nebel ist oft so stark,
daß die sich begegnenden Schiffe an einander stoßen. Daher
pflegen sie von Zeit zu Zeit mit einer Glocke zu läuten, um
zu warnen.
Der Theil des atlantischen Meeres, der zwi-
schen Frankreich und Spanien einen Busen bildet, heißt das
a q u i t a n i sch e Meer oder der Meerbusen von Bis-
c a j a.
Der Theil des mittelländischen Meeres, der östlich von
den Pyrenäen einen Busen bildet, heißt der Meerbusen
von Lyon, obgleich die Stadt Lyon weit davon liegt.
Die Flüsse strömen zum Theil in die Nordsee, theils
in den Canal, theils in das atlantische, theils in das mittel-
ländische Meer.
a. In die Nordsee gehen:
1. der Rhein. Seinen Ursprung, ja seinen ganzen
Lauf, haben wir schon bei Helveticn, Deutschland und den
Niederlanden kennen gelernt. Er ist für Frankreich bloß Gränz-
9 *
132
Das Königreich Frankreich.
fluß, indem er den Elsaß von Baden trennt. Er nimmt auf
der linken Seite die Mosel auf, die auf den Vogesen ent-
springt und durch Lothringen strömt.
2. Die Maas durchfließt Lothringen und geht in die
Niederlande über.
3. Die Schelde tritt bald nach ihrem Ursprünge in
die Niederlande.
b. In den Canal:
4. die Seine. Sie entspringt in Bourgogne auf den
Cotes d'or, nimmt rechts, nicht weit von Paris, die Marne
auf, und geht bei Havre ins Meer.
c. In das atlantische Meer:
5. die Loire kommt von den Scvcnnen, fließt an-
fangs in nördlicher, hernach in westlicher Richtung.
6. Die Garonne entspringt in der Mitte der Pyrenäen,
bildet einen Halbkreis, und wird bei der Stadt Bordeaux sehr
breit. Von hier bis zu ihrer Mündung wird sie die Gi-
ronde genannt.
à. In das mittelländische Meer:
7. di e Rhone. Ihren Ursprung aus dem Rhoneglet-
scher im Walliscrlande kennen wir schon. Sie tritt hinter
Genf auf französischen Boden, nimmt bei Lyon rechts die
Sa one (spr. Sone) auf, wendet sich nach Süden, und geht
durch zwei Hauptmündungcn ins Meer.
Unter mehreren Canälen, durch welche diese Flüsse ver-
bunden sind, ist der ansehnlichste
der Südcanal, welcher die Garonne mit dem Meer-
busen von Lyon, also das atlantische mit dem mittelländischen
Meere, verbindet. Bei Toulouse fängt er an, und bei Cette
endigt er.
Klima: Das Klima im nördlichen Frankreich ist von
dem des mittlern Deutschlands nicht sehr unterschieden. Der
Sommer ist wie bei uns; der Winter mehr feucht als streng.
Es friert wohl und es fällt Schnee, aber er halt nicht lange
an. Im südlichen Frankreich dagegen ist die Luft viel milder,
fast so mild als in Oberitalien. Oelbäume und feine Frucht-
sorten kommen recht gut fort, ohne daß die Hitze sehr drü-
ckend wäre, weil theils die Berge und Hügel, theils die nahe
Das Königreich Frankreich.
133
See sie mildern. Selten weht in der Gegend des mittellän-
dischen Meeres der Sirocco. Einige Gegenden sind hier so
gesund, daß kränkliche Personen sie zu ihrer Genesung besu-
chen, namentlich die Küste in der Nahe der Sccalpen.
Producte: Außer den gewöhnlichen Produkten unseres
Klima ist Frankreich sehr reich an Wein, und zwar in den
mittleren und südlichen Provinzen. In den Kreidcbergcn der
Champagne, sonst ein armes Land, wachst der feurige Cham-
pagner, den man am meisten bei Cpernay findet. In Bour-
gogne ist der starke Burgunder, und in Guienne wächst der
Wein, den man bei uns unter dem Namen der bordeauxer
und Franzweine trinkt. Dieser Wein ist in Frankreich so wohl-
feil, daß man die Flasche für einige Groschen trinken kann,
so wie bei uns das Bier, das daher dort schlecht ist, und
wenig getrunken wird. An Obst aller Art ist Uebcrfluß vor-
handen; im Süden besonders die edleren Sorten, und das
Provenceröl ist ja bei uns bekannt genug. An Gesund-
brunnen fehlt cs auch nicht; am berühmtesten sind die am
Fuße der Pyrenäen, besonders BagncrcS.
Einwohner: Der Franzose ist lebendig, geistreich,
gelehrig, gewandt, gesprächig und höflich; aber auch stüchtig,
nicht so zuverlässig wie der Deutsche, und sehr von sich und
seinem Lande eingenommen. Er glaubt, seine Nation sey die
erste der ganzen Erde, und verachtet alles, was nicht aus
Frankreich kommt. An schönen Redensarten ist er sehr reich,
aber er verlangt nicht, daß man sic für Ernst nehme. Ein
Witz, ein pikantes Wortspiel kann ihm große Freude machen.
Kurz er hat schöne Anlagen, viel zu leisten; aber seine Flüch-
tigkeit, sein Leichtsinn und seine Veränderlichkeit hindern ihn
oft daran. Glanz, Zerstreuung gehen ihm über alles; er wird
schnell gerührt, vergißt aber seine Empfindungen bald wieder.
Am edelsten ist — wie überall — die Mittelklasse, in der
man oft hohe Sittenreinheit, Einfachheit, Genügsamkeit, Hei-
terkeit und die innigste Anhänglichkeit der Familienglieder un-
ter einander findet. Die französische Sprache wird in den
meisten Gegenden gesprochen. Der gemeine Mann auf dem Lande
spricht hier und da einen verdorbenen Dialekt, das Patois.
In Bretagne, wo noch die Nachkommen der alten Britten
134
Das Königreich Frankreich.
wohnen, spricht man eine ganz besondere Sprache, die mit
dem Französischen nichts gemein hat, die ky in rische Spra-
che. In und an den Pyrenäen wird die baskische Spra-
che geredet, und im Elsaß spricht man meist deutsch.
In ganz Frankreich herrscht allgemeine Duldung; doch ist
die katholische Kirche die, zu welcher sich die meisten bekennen.
DasSchulwesen kann sich mit den: in Deutschland durch-
aus nicht messen. An Schulen für die niedern Stande fehlt
es zum Theil ganz, zum Theil sind sie schlecht, und auch für
den Unterricht der höheren Stande ist lange nicht so gut wie
bei uns gesorgt. Desto mehr zeichnen sich alle die Anstalten
aus, in denen Künste gelehrt werden, wofür die Franzosen
sehr viele Talente haben. In den meisten Wissenschaften be-
sitzt Frankreich ausgezeichnete Gelehrte, besonders für Mathe-
matik und Naturwissenschaften.
Die Franzosen verfertigen eine Menge schöner Waaren.
Die Sammt- und Seidcnzeuche, die seidenen Bänder, die
künstlichen Blumen, die Pomaden und wohlriechenden Wasser,
die Uhren, die vielen Modesachen, die Porzellanwaaren sind
ja bekannt genug, und mit diesen und vielen andern Artikeln
treiben die Franzosen einen ausgebreiteten Handel, der durch
gute Hafen und treffliche Kunststraßen befördert wird.
Frankreich wird von einem Könige regiert. Er ist ein-
geschränkt durch die sogenannte Charte, d. i. eine Verfassung,
welche Ludwig XVIII. nach seiner Thronbesteigung gab. Hier-
nach stehen ihm die Kammern zur Seite, die Theil an der
Gesetzgebung haben. Ohne ihre Bewilligung darf an der
Charte nichts geändert werden. Die Kammer der Pairs
besteht aus solchen Männern, die der König auf Lebenszeit er-
nennt; die Mitglieder der Kammer der D eputirten wer-
den von den Wohlhabendsten jedes Departements gewählt. Der
älteste Sohn des Königs hat immer den Titel Dauphin;
der älteste Bruder des Königs heißt Monsieur.
Wir gehen die Städte nach den Provinzen durch. Also
1. Die französischen Niederlande.
Lille, auch wohl Ryssel genannt, ist schön und weitläuft
tig gebaut, und von großem Umfang; sie hat an 60,000 Einw.
und ist eine starke Festung.
135
Das Königreich Frankreich.
Dünkirchen, am Meere, hat einen Hafen, durch den sie
vielen Handel treibt. Von hier führen Kanäle nach mehreren be-
nachbarten Städten, was den Verkehr ungemein erleichtert.
Valenciennes ist wieder eine sehr starke Festung. ÄH»n
macht hier überaus feine Spitzen und Batiste. Alle Z Städte
liegen hart an der niederländischen Gränze. Etwas entferntes da-
von ist
Cambrai, von der das bekannte Zeuch den Namen hat.
Wir besuchen in der Domkirchc das Grab des edlen Fenelon,
der vor 100 Jahren Bischof dieser Stadt war, und bekanntlich
den Telemach geschrieben hat.
2. Picardie.
Amiens erinnert uns an den 1802 hier geschloffenen Frie-
den zwischen England und Frankreich. Die Stadt ist groß und
wohlgebaut. Nördlich von AmienS liegt St. Omer, wo der
bekannte Schnupftaback gemacht wird. Am Meere liegen die best
den Städte
Calais und Boulogne. Beide sindUeberfahrtsörter nach
England, und zwar nach Dover. Von Calais ist die englische
Küste nur 7 Stunden entfernt; man kann sie daher bei heiterem
Wetter ganz genau sehen. Alle Tage gehen Dampf- und andere
Schiffe hin und her, und beständig kommen Fremde an und ge-
hen ab. Die Stadt, die sonst nur klein ist, hat dadurch ein uiu
gemeines Leben. Boulogne ist etwas größer, aber der Verkehr
ist hier lange so stark nicht.
3. Normandie.
Rouen, eine alte, recht große Stadt an der Seine, ist
eng gebaut, und hat etwas sehr Dusteres. Sie hat zwei Merk-
würdigkeiten: die große, alte Domkirche, eins der schönsten Ge-
bäude in Frankreich, und den Platz, auf dem 1430 die Jungfrau
von Orleans verbrannt worden ist. Nicht weit vorn Meere liegt
die Stadt
Caen (sprich Can), und an der Mündung der Seine die
Handelsstadt
Havre oder Havre de Grace.
4. Bretagne.
Man nennt diese Provinz auch wohl das französische Po-
len, weil sie, wie Polen, höchst elende Dörfer, oder viel-
mehr fast gar keine hat. Denn die Hauser der Landlcute,
die höchst arm, schmutzig und ungebildet sind, stehen fast alle
einzeln über die ganze Provinz zerstreut, und das ganze Land
I
136 DaS Königreich Frankreich,
hat in Hinsicht feiner Natur, seines Anbaues und des An-
sehens seiner Einwohner viele Aehnlichkeit mit Polen. Daß
die Einwohner nicht französisch, sondern eine eigene Sprache
keden, ist schon gesagt worden.
Rennes ist eine sehr alte Stadt. Der eine Theil liegt
auf einer Anhöhe, und dieser ist gut gebaut, mit breiten und ge-
raden Straßen. Desto enger und stnstrer ist der Theil, welcher
in der Tiefe liegt.
Nantes gehört zu den größten und schönsten Städten Frank-
reichs. Sie liegt in einer recht unmuthigen Ebene an der hier
schon sehr breiten Loire, über die eine steinerne Brücke führt.
Seeschiffe können bis in die Stadt fahren. Daß hier Heinrich
IV. das berühmte Edict gab, durch welches die Neformirten
gleiche Rechte mit den Katholiken erhielten, ist bekannt *); ebenso
daß die unglückliche Stadt in der französischen Revolution durch
den abscheulichen Carrier ganz besonders gelitten hat **).
Bretagne hat drei ausgezeichnete Seestädte: St. Malo,
das am Canal, und Brest und L'Orient, die am atlantischen
Meere liegen.
St. Malo liegt auf einer Insel, die durch einen schmalen
Damm mit dem festen Lande verbunden ist. Außer dem Sechan-
del ist auch die Stadt wegen ihrer guten Austern, die in der
Nähe gefangen werden, berühmt.
Brest liegt an der Nordscite eines kleinen Meerbusens des
atlantischen Meeres, au der nordwestlichen Spitze von Frankreich.
Sie ist an Anhöhen hingebaut, und deshalb zum Theil so ab-
schüssig, daß man auf steinernen Stufen die Straßen hinauf und
hinab steigen muß. Aber der Hafen ist sehr wichtig, und zwar
ist er der erste Kriegshafen des Königreichs. Der Meerbusen bil-
det eine vortreffliche Rhede, auf welcher 500 Kriegsschiffe sicher
liegen können ***). Oestlich davon finden wir den Seehafen,
L' Orient, eine neue, schön und regelmäßig gebaute Stadt.
Sie hat ihren Namen davon erhalten, daß sonst der ganze fran-
zösische Handel mit dem Oriente, besonders mit Ostindien, von
hier aus getrieben wurde.
Nicht weil liegt die kleine Halbinsel
Quiberon, die im Zahre 179.5 mit vielem Blute gedüngt
wurde. Einige englische Schiffe nämlich setzten hier mehrere Tau-
*) S. mein vehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 115.
**) Ebcnd. S. 368.
***) Die Ausdrücke Kriegshafcn und Rhede sind im ersten Theile erklärt
worden.
Das Königreich Frankreich.
137
sende von französischen Ausgewanderten ans Land. Gleich war
aber ein republikanisches Heer bei der Hand, griff die Gelandeten
mit Ucbermacht an, trieb sie bis an die äußerste Felsenspitzef und
brachte alle, da die englischen Schiffe die Unglücklichen ihrem
Schicksale preisgegeben hatten, theils mit Säbelhieben, theils mit
Bajonettstichen, und theils mit Kartätschenkugeln ums Lebku,
5. Orleanois.
An der Loire, welche die Provinz durchfließt, liegen die
Städte Orleans und Tours.
Orleans ist eine große, aber meist enge und winklig ge-
baute Stadt; denn sie ist sehr alt. Ueber die Loire führt eine
schöne und lange steinerne Brücke, aus der eine Bildsäule der
Jungfrau von Orleans stand, die aber in der Revolution zerstört
worden ist. Eine andere Bildsäule von derselben steht noch auf
dem Markte in kniender Stellung. Jährlich am 8ten Mai wird
das Andenken an die ritterliche Jungfrau und an die durch sie be-
wirkte Befreiung der Stadt durch ein Volksfest gefeiert *). Un-
terhalb Orleans ist
Tours, auch eine sehr alte Stadt, wovon noch der schö-
ne ehrwürdige Dom, eins der besten Gebäude des Landes, ein
Zeugniß giebt. Auch hier geht eine lange'herrliche steinerne Brü-
cke über die Loire. Die Gegend umher ist so fruchtbar und gut
angebaut, daß man sie den Garten Frankreichs nennt. Es wer-
den in der Stadt viele Seidenzeuche gewebt, die aber sonst noch
berühmter waren. Das bekannte schwere Seidenzeuch, Gros de
Tours, hat von der Stadt den Namen. Südlich von derselben,
nach Poitiers hin, in einer weiten Ebene, war 732 die große
Schlacht, in welcher Karl Martell die über die Pyrenäen herüber-
gekommenen Araber schlug **). Die Schlacht wird daher auch
von
Poitiers benannt, die südlich von der Loire liegt, und eine
der ältesten Städte Frankreichs ist. Sie ist weitläuftig gebaut
und todt, und die Einwohner stehen in dem Rufe, sehr arbeits-
scheu, sonst heitere und sanfte Menschen zu seyn.
Am Ufer des atlantischen Meeres sind zwei wichtige See-
städte : Nochcfort und la Nochclle.
Rochefort, die südlichere, ist zwar zwei Stunden noch
vom Meere entfernt; aber der treffliche Kriegshafen liegt an dem-
selben. Hier wollte sich Napoleon 1815 nach seiner zweiten Ab-
meine Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg., Th. 2.,
**) Ebend. S. 12.
138
Das Königreich Frankreich.
setzung einschiffen, um nach Amerika zu entkommen, ergab sich
aber einem vor dem Hafen kreuzenden englischen Seeschiffe, weil
er an dem Entkommen verzweifelte. Die Insel Oleron liegt
dem Hafen gegenüber, und das dadurch gebildete Mcerbecken bil-
det eine bequeme Rhede. Nördlicher liegt
La Rochelle, eine schön und freundlich gebaute Seestadt.
Sie wurde vormals meist von Hugenotten (Neformirten) bewohnt.
Als diese unter Ludwig XIII. im Anfang des l?tcn Jahrhunderts
verfolgt wurden, stüchteten sie sich hinter die Mauern dieser fe-
sten Stadt, und leisteten lange dem Heere des Königs, das sie
*628 belagerte. Widerstand. Erst nach der hartnäckigsten Ge-
genwehr, bei der die Armen die gräßlichste Hringersnoth ausster
hen mußten, ergaben sie sich. Die Geschichte dieser denkwürdigen
Belagerung hat Frau von Genlis in Paris zum Gegenstände ei-
nes anziehenden Romans gemacht. Der Stadt gegenüber ist die
Insel Re, die mit der Insel Oleron einen Meerbusen vor beiden
Städten bildet.
Die Gegend nördlich von La Rochelle bis an die Loire
wird die Vendee genannt. Sie ist mit Graben durchzogen;
jedes Stück Feld ist mit Hecken eingefasst, und daher steht
das Ganze wie ein lichter Wald oder Garten aus. Die hier
wohnenden Menschen, ein treuherziges Volk, hingen in der
Revolution mit ganzer Seele an dem Könige, und wollten
die Befehle döc Revolutionsmänner nicht annehmen. Daraus
entstand ein Krieg zwischen beiden auf Leben und Tod. Meh-
rere Jahre wehrten sich die treuen Menschen mit der grössten
Kühnheit gegen ihre Dränger, bis diese endlich siegten, und
das Land zur Wüste machten *).
6. (tuteline
ist eine der grössten Provinzen des Königreichs, südlich von
den Pyrenäen bekränzt, in der Mitte von der Garonne durch-
fioffen, und im Westen vom Meerbusen von Biscaja be-
spült, ein schönes Land, mit herrlichen Wcinhügcln und mil-
der Luft. Aber von dem Ausflusse der Garonne bis an die
Pyrenäen zieht sich längs dem Meere ein entsetzlich sandiger
Strich hin, in dem nur hier und da ein Dörfchen oder ein-
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc AuSg.,
Th. 3., S. 367 u. 36s.
»
Das Königreich Frankreich. 139
zclncs Haus steht. Mau nennt diese Sandwüste die Hai-
den (168 Landes). Das Waden durch den tiefen Sand
würde den hier wohnenden Menschen sehr sauer werden, hät-
ten sie nicht sich gewöhnt auf Stelzen zu gehen. Sie schnal-
len sich diese an die Beine, und nun geht cs mit großen
Schritten munter durch den Sand. Es ist ein sonderbarer
Anblick, wenn man in dieser menschenleeren, öden Wüste am
Horizonte hohe Gestalten, mit spitzen Mützen auf den Köpfen,
gehüllt in einen Schafpelz oder weiten Mantel, sich bewegen
sieht.
Bordeaux oder Bourdeaux liegt am linken Ufer der
bier schon meilenbreiten Garonne, in einer weiten Ebene, die von
Hügeln umkränzt ist, und ist in einem großen halben Bogen
längs dem Ufer bingebaut. Hier sehen wir Schiff an Schiff lie-
gen, die unaufbörlich ab - und zufahren, und besonders den in
der Umgegend wachsenden Wein und den hier verfertigten Brannt-
wein (Cognac) abbolcn. Vom Flusse auS gesehen bietet die Stadt
einen prächtigen Anblick dar. Längs dem Ufer stehen prächtige
Häuser, und die Erleuchtung ist Abends so glänzend, alS ob die
Stadt ganz in Flammen stände. Von einem Ende der Stadlt ^is
zum andern bat man eine volle Stunde. So schön aber auch
die meisten Häuser sind, so sind die Straßen doch iin Innern der
Stadt krumm, eng und finster. Die Zahl der Einwohner be-
läuft sich auf etwa 100,000, also ist sie eine der größten Städte
des Königreichs. Die Seeschiffe können zur Zeit der Fluth bis
vor die Stadt kommen.
Wenn wir den öden Weg durch die Haiden, südlich von
Bordeaux, einschlagen, so treten die Pyrenäen in immer schär-
feren Umrissen vor unser Auge. Die höchsten Spitzen dieses
Gebirges: der Mo nt-Perdu, der Vigncmale, der Mar-
bore, der Eanigou, der Pie du Midi, erheben sich mit
ihren schneebedeckten Nicsenhauptern bis über die Wolken, und
gewahren ein überaus großartiges Schauspiel. Endlich kom-
men wir nach
Dayonne, der letzten Stadt vor der spanischen Gränze,
einer recht netten, nur zu eng gebauten Stadt. Durch sie geht
die Hauptstraße nach Spanien; daher kommen Fremde unaufhör-
lich durch. Hier sind im 17ten Jahrhundert die Bajonette er-
ftindcn worden, die von der Stadt ihren Namen führen. Auch
sind die Bayonncr Schinken berühmt. Die Schweine dazu kom-
men aus den Pyrenäen, wo sie mit edeln Kastanien gefüttert
werden.
140
Das Königreich Frankreich.
P au, am Fuße der Pyrenäen, in einer herrlichen, romanr
tischen Gegend. In dem alten Schlosse wurde Frankreichs bester
König, Heinrich IV., geboren. Noch zeigt man hier seine Wiege.
Es ist eine große Schildkrötenschale. Südöstlich von Pau liegen,
in zwei engen Bergthälern, die berühmten Badeörter
Bag n eres und
Da reges. Das Erstere liegt in dem reizenden Campanerr
thal, das durch Jean Pauls (Richters) Werk: „LaS Campar
ncrthal" bekannt genug ist.
7. Languedoc.
Der Name entstand im 13tcn Jahrhundert. Damals
herrschten in Frankreich zwei Sprachartcn, die nord- und die
südfranzösische. In jener nannte man das deutsche Ja oui,
in dieser qc, und daher theilte man Frankreich in die Pro-
vinzen, wo die langue d’oiii, und in die, wo die langno d’oq
herrschte. Languedoc ist ein schönes Land, wo eine milde Luft
weht. Im Winter fasst selten Schnee, und die Sommerhitze
wird durch die nahe See gemildert. Daß die Sevenncn hier-
her gehören, ist schon gesagt worden. Wir wollen das Land
von den Pyrenäen an durchreisen. Die östlichen Pyrenäen,
die hierzu gehören, enthalten die höchsten Spitzen des ganzen
Gebirges, nämlich die schon genannten Berge: Mont-Pcr-
du, Eanigou, Maladetta, Vignemale, Marbore.
Am Fuße des Gebirgö, nicht weit vom Meere (dem Meer-
busen von Lyon) liegt
Perpignan. Hierdurch führt die zweite Hauptstraße nach
Spanien, längs dcmMeere hin. Daher ist hier, fast wie in Bayonne,
ein lebhafter Verkehr. Nach Norden hin kommen wir nach
Toulouse, am rechten Ufer der Garonne, in welche sich
hier der Südcanal mündet, in einer weiten, schönen Ebene, eine
alte, ansehnliche, reiche Stadt von ungefähr 60,000 Einwohnern.
Die Straßen sind meist breit und gut gepflastert, die Häuser har
3 — 4 Stock werke, und sind zum Theil von rothgefärbten,
weißgestreiften Ziegeln erbaut. Besonders schön ist der Kai längs
dem Ufer der Garonne. Ueber diesen Fluß führt eine der schön-
sten Brücken Europa's. Am Ende des Südcanals liegt
Celte, auf einer schmalen Landzunge oder Nehrung, die
sich zwischen dem Meere und einem Hass, dem See Thau, be-
findet ; sic ist eine See t und Handelsstadt.
Das Königreich Frankreich.
141
Nicht weit von der Südküste, einige Meilen landein-
wärts liegen die ansehnlichen Städte Montpellier und
N!m es.
Montpellier liegt am Abhange und auf der Anhöhe ei-
nes langgedehnten Hügels, und ist von Anhöhen umgeben, die
mit Gärten und Landhäusern bedeckt sind. Dennoch gewährt sie
einen schlechten Anblick; sie erscheint wie eine dunkelgraue, todte
Steinmaffe. Auch das Innere ist meist schlecht: wenige öffentliche
Plätze, die Häuser schwarz und düster, die Straßen eng und
krumm. Aber die Stadt hat zwei herrliche Spatzicrgänge, die
Esplanade und den Peyrou, die näher geschildert werden müssen.
Die Esplanade liegt im südöstlichen, niedrigsten Theile der
Stadt, und besteht aus einem Lustwäldchen. Sechs bis acht sehr
lange Reihen ungemein großer, schattiger Bäume ziehen sick ne-
ben einander hin; zwischen ihnen sind angenehme, reinliche Gän-
ge, und überall zwischen den Bäumen steinerne Bänke. Zwei
große Springbrunnen kühlen die Hitze ab. Auf der einen Seite
läuft eine Häuserreihe mit Gärten und Terrassen hin; auf der
andern hat man eine reizende Aussicht über Anhöhen, die mit
zahllosen Oelbäumen bedeckt sind, über Gärten und Landhäuser,
die sich bis zum Meere hinabziehn, über das der' unbegrenzte
Blick hinschweift. Unter diesen kühlen Bäumen, die mehr als
100 Jahre zählen, findet man zu jeder Jahreszeit und Tages-
stunde Menschen spatzieren gehen.
Von hier steigen wir die Straßen aufwärts. Das westlichste
Thor auf der höchsten Höhe des Hügels, ein schöner Triumphbo-
gen, zu Ehren Ludwigs XIV. errichtet, führt hinaus nach dem
herrlichen Lustplatze Peyrou. Drei Gitterthore und drei schöne,
breite, steinerne Treppen führen zu den drei großen Gängen des
Platzes hinauf. Das Ganze ist ein länglich viereckiger, ebener,
von prächtigen eisernen Geländern eingefaßter Platz. Der An-
blick des außerordentlich großen, ganz ebenen, reinlichen, mit fei-
nem Sande bestreuten Platzes, dessen schmale (östliche) Seite mit
den Z Gitterthoren nach der Stadt, und dessen westliche nach der
gränzlosen Ebene gekehrt ist, so wie der des in der Mitte dieser
Seite, hinter einem schönen Wasserbecken hoch emporsteigenden,
achtseitigen Tempels, der auf 24 hohen korinthischen Säulen ruht,
ist wirklich höchst majestätisch. Um den Hügel herum laufen Ter-
rassen hin, die mit den größten Bäumen in Menge überschattet
sind; zwei prächtige Treppen führen von jenem Tempel hinab,
und unten findet man selbst bei der größten Sonnenhitze den er-
quickendsten Schatten. Ueberall sind hier steinerne Bänke, so wie
auf dem oberen Platze. „Freundliche Schattenplätzchen laden zu
behaglichen einsamen Träumereien und zur Lectüre ein, da nur
dann und wann ein Spatziergängcr vorübcrschleicht. Das Rieseln
142
Das Königreich Frankreich.
und Plätschern des Wassers in den beiden auf der untern Ter-
rasse befindlichen Springbrunnen wiegt das Gemüth in die sanf-
teste Ruhe. Von diesen Terrassen aus zieht sich eine prächtige
römische Wasserleitung eine Viertelstunde weit in die westliche
Landschaft hinaus. Das Erstaunen, das den Reisenden ergreift,
wenn er zum ersten Male zum großen Gitterthore des Gartens
eintritt, und dem prächtigen Wassertempel gegenüber steht, wenn
er dann zum platten Dache desselben hinaufsteigt, und nun in
das Paradies hinausblickt, das vor ihm unerwartet nach allen
Seiten hin ausgebreitet liegt, verwandelt sich in namenloses Ent-
zücken. Gegen Osten hat man dicht vor sich den prächtigen Platz
Peyrou mit seinem majestätischen Tempel, weiterhin das Triumph-
thor, dann über dem Häusergewühl der Stabt hinweg die benach-
barten Hügel mit ihren Olivenwäldern und Landhäusern. Auf
der Nordostseite ragen über unzähligen, zwischen Daumgruppen
malerisch zerstreuten Gebäuden und schönen Landhäusern die gothi-
schen Thürme der Kathedralkirche empor. Jenseit derselben erscheinen
in dämmernder Ferne die Gebirgsketten jenseit der Rhone. Ganz
gegen Norden zieht sich die lange Kette der düsteren Sevennen
hin. Dann zieht sich vom Norden nach Süden eine unermeßliche,
meist ebene Landschaft herab, die gegen Westen und Südwesten
von näheren und fern über einander emporsteigenden Gebirgsrei-
hen begränzt wird, über die einige Spitzen der Pyrenäen Her-
überblicken. Bei heiterem Wetter sieht man nach Osten hin so-
gar die schimmernden Spitzen der Seealpen. Dieses ungeheure,
von Norden herab sich ziehende, fruchtbare Thal ist aufs reichste
mit allem geschmückt, was eine reizende Landschaft zieren kann.
Tausende der schönsten Baumgruppcn sind über die lachenden Ge-
filde zerstreut; nahe und fern blicken Dörfer, ländliche Wohnun-
gen, prächtige Landhäuser zwischen der schönsten Belaubung her-
vor; besonders reich ist dies Paradies an Linden-, Pappeln-,
Cypressen-, Platanen-, Ulmen-, Kastanien-, Oliven-, Akazien-
und Maulbeerbäumen. Man kann sich nicht satt sehen an der
unendlichen Mannigfaltigkeit ländlicher Schönheiten. Auch gegen
Süden ist die Landschaft noch immer schön, doch leerer und weni-
ger mit Bäumen geschmückt; alles hier Mangelnde wird aber
reichlich ersetzt durch die beständig mit Schiffen bestreute, in un-
geheurer Linie sich von Osten nach Westen ausdehnende Fläche des
Meers. So prachtvoll dieser Spatziergang ist, so anziehend seine
Aussichten sind, so wird er doch nur von wenigen Spatziergängern
besucht; er liegt den Einwohnern etwas zu weit auf der Seite;
die schattige Esplanade liegt näher und bequemer, und der Peyrou
ist den häufigen Winden zu sehr ausgesetzt.^
Montpellier hat eine berühmte medicinische Schule,
wo junge Aerzte gebildet werden, und zu diesem Zwecke auch,
gleich nördlich neben.dem Peyrou, einen ausgezeichneten bota-
Das Königreich Frankreich.
143
nischen Garten. , An einem etwas abgelegenen Theile des
Gartens findet man eine kleine Grotte, wohin der berühmte eng-
lische Dichter, Doctor Poung (spr. Jung), seine in Montpel,
lier ihm gestorbene geliebte Pflegetochter Narciffa während der
Nacht auf seinen Schultern getragen und begraben hat, weil ihm
die katholischen Geistlichen ein Grab auf ihrem Kirchhofe verwei-
gerten *). Noch merke man sich, daß in Montpellier vorzüglich
viele Liqueure und wohlriechende Waffcr gemacht werden. Der
Weg nach dem nordöstlich liegenden
Nlmes führt durch ein wahrhaft gelobtes Land. „Ueppig
grünt und blüht die ganze Natur; nirgends ist ein verkrüppelter
Baum, eine ärmlich vcgetirende Pflanze zu erblicken." Auf die-
sem Wege kommt man durch das Städtchen Lunel, rings von
Weinbergen umgeben, die den bekannten süßen Wein liefern. Die
eigentliche Stadt Nim es ist traurig, eng und düster; aber die
mit schönen Bäumen bepflanzten Vorstädte sind freundlich, und
voll hübscher, neuer Häuser. Die Stadt hat vorzüglich viel rö-
mische Alterthümer, unter denen sich das große Amphitheater
auszeichnet (wo haben wir in Italien alt-römische Theater ge-
habt?). Es ist wie die in Italien aus großen Steinquadern er-
baut, die ohne Mörtel und Kitt bloß durch ihre Schwere fest
aufeinander ruhen. Siebzehntausend Zuschauer fanden hier Platz.
In dem länglichrunden Platz, der von dem Riesengebäude einge-
schlossen wird, haben 50 arme Familien ihre elenden, schmutzigen
Hütten gebaut, neben und unter den Trümmern einer gewaltigen
Vorwelt. ,, Kinder, die hier geboren wurden, spielen unter den
hohen Säulen, jagen einander in den verödeten, von ihren Trit-
ten schauerlich wiederhallenden Gängen, und pflücken für ihre Zie-
gen Gras und Blumen zwischen zerfallenen Capitälern, die einst
der Stolz des Baukünstlers waren." Zwei und dreißig Sitzreihen
liefen über und hinter einander hin. „Man schwindelt bei dem
Gedanken an das, was dieses kolossale Gebäude gewesen seyn
muß, als es noch in ursprünglicher Pracht dastand; wenn alle
die vielen Tausende, in der schönen malerischen Tracht ihrer Zeit,
Liesen weiten Raum mit einem Kreis umschlossen, gebildet aus
32 Reihen über einander sich erhebender Köpfe; wenn alle diese
verschiedenen ausdrucksvollen Gesichter mit angestrengter Aufmerk-
samkeit auf das blutige Schauspiel in der Mitte hinstarrten!
Wie donnernd ertönte hier ehemals der Beifall der Menge, ver-
miicht mit dem Brüllen der Löwen, der Tiger, und dem Angst-
und Wuthgeschrei der von den Bestien zerfleischten Sclaven und
*) Young ist der Verfasser der herrlichen und gedankenreichen Betrach-
tungen über Tod, Grab und Ewigkeit, die unter dem Namen „Nacht-
gedanken" vom Professor Ebert in Braunschweig ins Deutsche übersetzt
sind.
144
Das Königreich Frankreich.
Kriegsgefangenen oder der von wilder Kampflust entmenschten
Fechter, hier, wo durch die öde Stille jetzt nur noch zuweilen
ein Ton des ärmsten Lebens verhallt." Ganz Nimes ist voll alt#
römischer Ruinen. Adler, halbverloschene Inschriften, Basreliefs,
Säulcnüberreste sieht man in allen Straßen eingemauert. In
Nimes wird ungeheuer viel Seide zu allerhand Zeuchcn, zu
Strümpfen und zu Bändern verarbeitet; es gab hier vor weni-
gen Jahren allein 2300 Strumpfstrickerinnen, und wer weiß, ob
ihrer nicht jetzt noch mehr sind. Die Lage der armen Scidenar-
beiter ist höchst kläglich, so schön auch die Arbeit aussieht, die
sie machen. Sie haben feuchte, dunkle Wohnungen, oft mehrere
Fuß tief unter der Erde, grobe, ärmliche Nahrungsmittel, und
elende Kleidung, und doch ist ihre Arbeit sehr sauer und die Ge-
sundheit angreifend.
Nicht weit nördlich von Nimes fließt der Fluß Gard,
wo sich der berühmte
Pont du Gard befindet, eins der schönsten Ueberreste aus
dem Alterthum: „Zn der tiefsten Einsamkeit einer wildromanti-
schen Berggegend," sagt eine deutsche Reisende, „stand, ehe
wir cs vermutheten, dies Wunder der alten Zeit vor uns. Kaum
trauten wir unsern Augen, da wir es erst aus der Ferne erblick-
ten: so ganz fremd unsern Tagen erhebt sich majestätisch hoch die
alte Wasierleitung zwischen Felsen und Bäumen, fern von mensch-
lichen Wohnungen, ein Riesenwerk der Vergangenheit. Wir sa-
hen drei Reihen über einander gebauter, schön gewölbter Bogen,
gelehnt an beiden Enden auf das gleich hohe Felsenufer des unter
ihnen hinströmenden Flusses. Das Ganze ist aus Quaderstücken,
ohne Mörtel und Kitt, gebaut. Sechs große Bogen bilden die
untere Reihe zwischen den beiden Felsen; auf Liesen ist eine zweite
längere Reihe von 11 eben so großen Bogen erbaut. Ueber diese
zweite thürmt sich eine noch längere Reihe von 36 kleinen Bogen,
Die mit den beiden Felsenufern von völlig gleicher Höhe sind. Auf
dieser letzten Bogenreihe ruht der Kanal, durch welchen das Was-
ser einer nahe entspringenden Quelle bis Nimes geleitet wurde.
Das Ganze ist etwa 144 Fuß hoch, also wie ein mäßiger Thurm.
Unendlich erhöht wird noch der Eindruck, den das Niesengebäude
auf den Beschauer macht, durch die romantisch wilden, höchst ma-
lerischen Umgebungen, durch die starren Felsen und üppig wach-
senden Bäume, und Len wild über Felsenstücke sich durch die un-
tern Bogen hinstürzenden Fluß. Himmlisch schön ist der Blick
durch die untern Bogen hindurch in das jenseit der Wasserleitung
liegende stille Thal. Hohe waldige Berge umschließen ringsum
diese liebliche Einsamkeit, als wollten sie dieselbe vor jedem Ein-
dringen des gewühlvollen Lebens beschützen. Silberhell rauscht der
Fluß hindurch; nur sein Brausen und das Wehen in den Bäu-
Das Königreich Frankreich.
145
men unterbricht die tiefe heilige Stille." Nicht weit davon, an
dem rechten oder westlichen Ufer der Rhone, finden wir
Beaucaire, eine aus den engsten, dunkelsten Straßen und
himmelhohen Häusern bestehende Stadt, dabei so todt, als wären
die Einwohner an der Pest gestorben. Und doch wimmelt sie im
Julius so von Menschen, daß nicht alle unterkommen können.
Denn um Liese Zeit ist hier die berühmte große Messe, welche
die Leute weit und breit herbeizieht. Dann vermiethen die Ein-
wohner jeden Winkel ihrer Häuser, ihrer Höfe und ihrer Ställe,
sogar die steinernen Bänke vor ihren Häusern zu ungeheuer ho-
hen Preisen, und leben das ganze übrige Jahr von dem leichten
Verdienst in trägem Müßiggänge. Nicht nur aus allen Gegen-
den von Frankreich, auch aus der Schweiz, Italien, Deutschland
und Spanien strömen die Fremden herbei, und vor den Thoren
wird dann §uf einer Wiese eine zweite Stadt mit Geschwindigkeit
aus Brettern aufgebaut, die auch ordentlich Straßen und Plätze
hat. Jeder Artikel hat in der Messe seinen bestimmten Ort.
Hier stehen in langen Reihen die Marsciller mit ihrer Seife und
ihren Korallen; dort die Kaufleute von Montpellier mit Ligueuren
und wohlriechenden Wassern; in einer andern Straße werden nur
getrocknete Früchte, als Feigen, Datteln, Rosinen, verkauft; in
einer noch andern sieht man nichts als Knoblauch und Zwiebeln,
die künstlich aufgethürmt sind; und auf der Wiese suchen Seil-
tänzer, Kunstreiter, Marionettenspieler, Hunde-Komödianten u.
s. w. das Publicum zu unterhalten. Sogar bis auf den Strom
breitet sich die Messe aus. Große Flosse bilden dann schwim-
mende Inseln, die mit Holzwaaren bedeckt sind. „An allen Ecken
wird gekocht, gebraten, geschrieen, gesungen, geprügelt; alle
Sprachen tönen durch einander, alle Arten von Volkstrachten bil-
den das bunteste Schauspiel. Erst Abends wird einige Ruhe;
die Menge verliert sich zu den Sehenswürdigkeiten, zu den Eis-
buden, den Kaffeehäusern, bis zur Nacht. Dann versammelt sich
wieder alles auf den Tanzplätzen; jede Landsmannschaft hat ihren
eigenen Ort, wo sie beim Schalle der Musik die Tänze ihres Lan-
des aufführt." So dauert cs 8 Tage fort; dann kehrt alles wie-
der in die Heimath zurück.
8. Provence
bildet den südöstlichsten Winkel von Frankreich, im Osten von
den Alpen, im Westen von der Rhone, im Süden vom
Meere begränzt, ein herrliches, warmes, gesegnetes Land.
An Obst und besonders den schönsten Südfrüchten, Wein, Ocl
u. a. ist es ungemein reich. Das Provcnceröl und die Prü-
Nössclts Geographie II. 10
/
146
Das Königreich Frankreich.
ncllcn sind weltbekannt. Die Provcnzalcn sind ein lebhafter,
sehr reizbarer Menschenschlag. Einst war die Provence das
Vaterland der Troubadours, jener fröhlichen Sänger, die
an den Höfen der Fürsten und in den Schlössern der Reichen
umherzogen, und durch Dichtkunst, Musik und Gesang die
Herzen erfreuten. Zuvörderst besuchen wir die Städte an
der See.
Marseille, die berühmteste Seestadt Frankreichs, besteht
auS der alten und aus der neuen Stadt. Die neue liegt hart
an der Secküste, und ist freundlich, zum Theil prächtig gebaut.
Die schönste Straße, der Cours (so nennt man im südlichen
Frankreich in fast allen Städten die Hauptstraße), ist eine gute
Viertelnikile lang, geht von einem Thore zum andern, und ist
aus beiden Seiten mit pallastähnlichen Häusern besetzt. In der
Mitte ist ein breiter Gang von Linden, so daß man in Berlin
unter den Linden zu seyn glaubt. Der untere Stock der Häuser
enthält fast durchaus, wie in London und Paris, zierlich aufgc-
putzte Waarenmagazine. Das Strnßcnpflaster ist unvergleichlich,
die Bürgersteige mit breiten O.uadcrn belegt, und alles so reinlich,
wie man es in keiner andern Stadt in Südfrankreich findet, wo-
zu auch wohl das frische Wasser beiträgt, das in schmalen steiner-
nen Kanälen durch alle Straßen rinnt. Desto enger, finsterer,
winkliger ist die alte, auf der Höhe liegende Stadt. Hier ist von
allem das Gegentheil. Die Häuser alt, hoch und düster, daS
Pflaster abscheulich, und die furchtbarste klnrcinlichkeit verpestet
die Luft. Vorzüglich schlecht ist der Theil der Altstadt, der sich
bis an den Hafen hinzieht. Die hier wohnenden Menschen, arme
Fischer, unterscheiden sich durch Sitten, Sprache und Kleidung
von allen übrigen Franzosen, haben ein wildes Ansehen, düstere
Gesichtszüge, und Mordthaten sind unter ihnen nichts Seltenes.
Der Hafen von Marseille ist einer der schönsten, die es geben
kann. Schützende Felsen umgeben ein weites Wasserbecken, in
welchem 900 Schiffe liegen können. Längs dem Hafen laufen
schön gebaute Kais hin, und die Aussicht ins weite Meer und
das fröhliche Gewühl zu Wasser und zu Lande ist höchst ergötz/
lich. ,, Bunte Flaggen und Wimpel der verschiedensten Nationen
flattern hier lustig gegen den dunkelblauen Aether hinauf; kleine,
sonderbar gestaltete Schiffe von der Küste des mittelländischen Mee-
res, beladen mit Orangen, Kastanien, sogar mit Blumen, ankern
neben den gewaltigen Kauffahrteischiffen des fernen Nordens und
den ganz fremdartig aussehenden Fahrzeugen der ionischen Znscln.
Viele hundert Böte, Schaluppen und Fischernachen kreuzen lustig
dazwischen herum, auch recht zierliche Gondeln, deren immer eine
große Anzahl zur Lustfahrt auf den fmaragdnen, oft kaum sich
Das Königreich Frankreich.
147
kräuselnden Wogen am Ufer bereit liegt. Auf den Kais herrscht
das mannigfaltigste Leben, wie auf dem Wasser daneben. Alle
europäische Nationen versammeln sich hier neben den Bewoh-
nern von Asien und Afrika; alle Sprachen ertönen, und die man-
nigfaltigsten Trachten uut> Nationalphysiognomien aller gebildeten
Völker sieht man vielleicht nirgends so auf einem Punkte vereinigt.
Oft glaubten wir uns auf einer großen Maskerade, wenn wir die
vielen Türken, die Armenier und Griechen, die Afrikaner mit gel»
bcn maskenarrigen Gesichtern, jeden in der Tracht seines Vater-
landes, unter den schönen geputzten Marseillerinnen umherwan-
deln sahen, dazwischen die schwarzen Gesichter der Neger und Ne-
gerinnen, und die Griechinnen, denen man überall begegnet, die
aber unsern Begriff von den berühmten Schönheiten ihres Landes
sehr hcrabstimmten. Aspasia und die berühmten Frauen Griechen-
lands müssen denn doch ganz anders ausgesehen haben, als diese
orangegelbcn, langnasigen Damen, deren geschmacklos bunte, mit
Schmuck und Verzierungen überladene Kleidung ihre wirkliche Häß-
lichkeit ins grellste Licht stellt."
„Der Kai an der Seite der alten Stadt sieht zum Theil
wie ein orientalischer Bazar aus. Er ist noch lebhafter als der
an der andern Seite des Hafens liegende der neuen Stadt. Das
Erdgeschoß der ihn umgebenden Hauser ist mit den seltensten und
theuersten Waaren, aber auch nur den unbedeutendsten zum Ver-
kauf angefüllt. Türken und Griechen halten hier die kostbarsten
Erzeugnisse des Orients feil, reiche Teppiche, prächtige orientali-
sche Stoffe, wunderherrliche Shawls in den glänzendsten Farben.
Nosenduft strömt schon von weitem aus andern, mit den köstlich-
sten Essenzen angefüllten Magazinen. Aus einem Magazin
daneben schauen Papageien, Caeadus und andere Vögel südlicherer
Zonen in ihrer Federn bunter Pracht gar fremd in die Welt hin-
ein, während possierliche Affen neben ihnen den Vorübergehenden
Gesichter schneiden. Alles ist hier zu haben: Juwelen und Per-
len, Uhren und Heiligenbilder, Landkarten und Kupferstiche; die
herrlichsten Früchte des Südens: Orangen, Granatäpfel, Kokos-
nüsse, Pistazien, Datteln, und die köstlichsten Blumen in Sträu-
ßen und Blumentöpfen." Diesem Kai gegenüber liegen alle die
Schiffe, welche aus dem Oriente kommen, und also der Gesund-
heit wegen verdächtig sind, und darum Quarantaine halten müssen.
Untersteht sich Einer von diesen Schiffen vor der Zeit heimlich ans
Land zu kommen, so wird er augenblicklich erschossen. Doch dür-
fen sich die Angekommenen auch in die Quarantaine-Anstalt be-
geben, die in einiger Entfernung von der Stadt liegt, und eine
kleine Stadt für sich ausmacht.
Fährt man auf einer der vielen Gondeln hinaus nach der
Rhede, so hat man einen großen Genuß. „Die Aussicht von
der oft spiegelglatten smaragdnen Fläche der Rhede auf die an ihr
. 10 *
148
Das Königreich Frankreich.
rem Eingänge liegenden Inseln, und über diele hinaus auf da-
ewig bewegte Meer, ist eine der erhabensten. Nicht minder herr-
lich ist es, wenn man sich rückwärts wendet. Da liegt der le-
bensreiche, große Hafen vor uns, die ihn umgebenden malerischen
Felsen mit ihren Citadellen, die schone Stadt, welche um ihn
her einen großen Halbkreis bildet, umschirmt von den weiter hin-
aus sich erhebenden zackigen Felsen, die vielen Bastiden (Land-
häuser ), und überall der reichste Ueberfluß aller Gaben des gün-
stigen Himmels Dem Hafen am nächsten liegt die malerische
Felseninsel, auf deren Gipfel das traurige Chateau d'Zf er-
baut ist, dieses fast unzugängliche, fürchterliche Staatsgefängniß,
in welchem stets Unglückliche, von aller Welt verborgen und un-
bekannt, vielleicht von ihren Freunden als Todte beweint, in dun/
kein Kerkern schmachten."
Nahe bei der Stadt liegt ein .500 Fuß hoher Felsen, auf
dem eine Citadelle und eine kleine Capelle stehen. Die Aussicht
von hier ist über alle Beschreibung herrlich und erhaben. Die
ganze Stadt liegt zu den Füßen des Beschauers; ,, die breiten,
regelmäßigen Straßen und großen Plätze der neuen Stadt sehen
wie das mit bunten Steinen und Muscheln ausgelegte Parterre
eines holländischen Gartens aus; in dem höher liegenden Häuser-
klumpen der Altstadt erkennt man jedes einzelne größere Gebäude.
Weit liegen alle die tausend, auf Höhen und in Thälern zerstreu-
ten Bastidcn mitten in ihren Gärten vor uns, die maleri-
schen Felscnufer mit ihren Citadellen, die Äuarautaine - Ge-
bäude, der Hafen, die Rhede mit ihren Znseln, und das weite
Meer, dessen blaue Ferne einem Blicke in die Ewigkeit gleicht.
Ganz klein erscheint die Znsel des Chateau d'Zf, noch kleiner die
vielen Eilande, welche um sie her zu schwimmen scheinen. Un-
zählige Fischerböte kreuzen auf dem glatten Meere umher, und
erscheinen von dieser Höhe wie glänzende Punkte. Großen maje-
stätischen Schwänen ähnlich, schwimmen mächtige, dem ersehnten
Hafen sich nähernde Schiffe mit vollen Segeln zwischen ihnen
hindurch." In den Gewölben der Citadelle sind schauerliche Ge-
fängnisse. Hier saß unter Andern der Bösewicht Orleans r Ega-
lite, der an den Greueln der französischen Revolution einen gro/
ßen Antheil hatte, und 1794 in Paris enthauptet wurde *).
Die Marseiller sind große Freunde von Landhäusern, in de-
nen sie den Sommer über zubringen. Man giebt ihre Anzahl
auf 10,000 an (die Stadt hat etwa 100,000 Einw.). Die mei-
sten dieser Bastiden sind aber sehr klein, alle mit einem Garten
umgeben, der von blendend weißen Mauern eingefaßt ist. Die auf
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 370.
Das Königreich Frankreich.
149
den Anhöhen und Felsen erbauten Bastiden haben eine weite, herrliche
Aussicht, sind aber nur von Lavendel und andern starkduftenden Kräu-
tern umgeben, die aus deu Felsspalten freiwillig hervorwachsen,
während die tiefer stehenden im Schatten der Felsen sich befinden,
und von großen Oiivcnbäumcn umgeben sind. ,,Die provenzalé-
sche Sonne ist ganz anders als die unsrige, hoch steht sie am
dunkelblauen Himmel, und kein Nebel, kein Wölkchen hält ihren
fast senkrecht herabblitzenden, alles versengenden Strahl zurück.
Im Sommer regnet es fast nie, und alle Vegetation erliegt dann
der glühenden Hitze, bis der Abendthau sie wieder erfrischt. In
der Mitte des Sommers ist kein Grashalm mehr zu erblicken, und
das Laub an den Bäumen verdorrt. Im April ist es schon so
heiß, als bei uns in den wärmsten Sommertagen; im Mai wer-
den schon die Fußwege um den Hafen, den Cours und in den be-
suchtesten Straßen mit Dächern von Leincwand bedeckt. Die Strah-
len der Mittagssonne sind hier im Sommer sehr gefährlich. Das
Kind einer Dame aus Neapel, die zum Besuch nach Marseille
gekommen war, lief in der Mittagsstunde in einen Garten hin-
aus, sank augenblicklich vom Sonnenstich getroffen hin, und starb
wenige Stunden darauf. Dagegen ist die Herrlichkeit der Som-
mernächte unbeschreiblich, besonders wenn der Vollmond vom rei-
nen, beinahe schwarzblauen Himmel hernieder strahlt, mit einer
Pracht, von der nur unsre kältesten Winternächte einen Begriff
geben können. Dann eilt Alles hinaus, und selbst angesehene
Familien sicht man in den Straßen vor den Hausthüren sitzen,
um der köstlichen Kühlung der wunderschönen Nacht zu genießen.
Die schönste Jahreszeit ist der Herbst. Mild und segensreich
herrscht er vom Oktober an bis spät im December; oft braucht
man erst im Februar Kaminfeuer anzuzünden. Die kalte Regen-
zeit, die hier zu Lande Winter heißt, dauert etwa drei Wochen.
Auch während derselben bleibt die Lust mild, und selten bemerkt
man des Morgens ein wenig Reif oder dünnes Eis; ein paar
Stunden Schnee sind die größte Seltenheit."
„Das Land um Marseille ist reich an Allem, was man zum
Leben bedarf. Gemüse, besonders mehrere Arten von Artischocken
und Blumenkohl, sind im Ueberfluß zu haben. Die köstlichsten
Früchte stehen überall zum Verkauf. Die marseillcr Feigen sind
berühmt, aber auch alle andere Gattungen des ausgesuchtesten Ob-
stes, Melonen, Trauben, Pfirsichen, Aprikosen, Granatäpfel und
Mandeln im Ueberfiuß. Die spanischen und italienischen Küsten
schicken Orangen, Citronen und Arbusen; die Levante Datteln,
Pistazicnnüffe und andere Früchte. Alle werden zu unglaublich
wohlfeilen Preisen verkauft, und es ist eine wahre Freude, sie
überall in großen Körben, malerisch gruppirt, in der höchsten
Vollkommenheit zu erblicken. Auch an vortrefflichen Fischen aller
Art fehlt es nicht; so auch an Austern, Muscheln und allen Gat-
150
Das Königreich Frankreich.
tungen eßbarer Schalthiere. Die wunderbare Form, die glänz
zcnden Schalen vieler dieser uns bis jetzt unbekannt gebliebenen
Thiere machen, wenn sie aufgetragen werden, die ganze Tafel
einem Konchyliencabinec ähnlich. Auch einige Molluskenarten wer-
den gegessen; aber sie sehen gar zu widerwärtig aus; desto besser
behagen uns Deutlchen die Krabben, die Taschenkrcbse und die
riesengroßen Hummer." Sehr selten sind Kühe, also auch Kuhr
milch und Butter; man muß sich mit Ziegen und Schafen behel-
fen, und die Speisen werden mit Oel zugerichtet. Die Damen
kleiden sich nicht prächtig. Ein leichtes, seidenes Kleid — die
Seide ist hier sehr wohlfeil — ohne Verzierung, oder ein Kleid
von Musselin, ein schöner morgenländischcr Shawl und ein ita/
lienischer Strohhut machen den ganzen Putz aus. „Auch die
Männer tragen im Sommer seidene Kleider und Strohhütc. Der
Kühlung wegen sind die Tischplatten gewöhnlich von Marmor;
der Fußboden ist mit zierlich glasirten Backsteinen, seltener mit
Marmor oder Steinen belegt." Die Fenster gehen bis auf den
Fußboden, und haben inwendig Jalousien, auswendig aber Mar-
quisen. Equipagen giebt es in Marseille fast gar nicht, denn es
geht sich ja in den Straßen sehr bequem und trocken; nach den
Bastiden geht man zu Fuß; weite Partien werden nicht gemacht,
und das im übrigen Frankreich übliche Visitcngeben findet nur bei
sehr seltenen Anlässen statt. Die Familien leben sehr einzeln,
und beschränken ihren Umgang auf eine kleine Zahl Bekannte.
Also leben die Marseiller wohl recht häuslich und sittlich? —
Im Gegentheil! Die Männer haben ihre Zerstreuungen und Ge-
sellschaften für sich, wo sie hoch spielen und ihren Leidenschaften
ohne Scheu nachgeben, und den armen Frauen bleibt daher nichts
übrig, als sich im Kreise ihrer Kinder zu vergnügen. Glücklich
die, welche sich darin glücklich fühlt! — Sehr ergötzlich ist daS
lebhafte Treiben in den Straßen zu sehen, vorzüglich des Abends;
viele Leute sitzen dann vor den Häusern, die Läden sind erleuchtet,
und alles Leben wird öffentlicher getrieben als im Norden. Man
ißt und trinkt im Freien, man geht in den Straßen spatzieren.
Die meisten Menschen sind hier schön, mit ausdruckvollen, regel-
mäßigen Gesichtern, schwarzen, blitzenden Augen, und nicht so
braun als sonst im Süden.
Unter den Fabriken in Marseille sind die Seifenfabri ken
besonders berühmt, zu denen man aber nicht, wie bei uns, Kno-
chen und Talg gebraucht, wodurch der unangenehme Geruch ver-
mieden wirb. In großen eingemauerten Kesseln werden Od, Kalk
und Wedasche *) acht Tage und acht Nächte lang unaufhödich
gekocht; dann wird die Masse in große, gemauerte, viereckige Forz
*) Die Wedasche wird in Spanien aus einer dort häufig wachsenden
Pflanze gebrannt.
Das Königreich Frankreich.
151
nien gegossen, in denen sie zehn Tage lang abkühlt und hart
wird, und zuletzt mit einem ungeheuren Messer in Stücke geschickt-
ten und nun verkauft. Ferner sind die K o r a l l e n sch l e i f e s
veten wichtig. Die ant Meeresufer gefischten Korallen, zum
Theil Stücke von ungeheurer Große und wunderschöner Farbe,
werden zuerst mit einer Feile gereinigt und von der Rinde befreit;
dann werden sie in kleine Stücke zertheilt, nach der Farbe sortirt,
gebohrt, auf einem Schleifstein abgerundet, und zuletzt in Facet-
ten geschliffen.
Von Marseille nach dem nicht weit davon, östlich, lie-
genden
Toulon durchreist man eine äußerst felsige, zum Theil schau-
rig wilde Gegend, bis man sich in der Nahe der Stadt plötzlich
in eine paradiesische Gegend versetzt sieht. Vor den Bauerhäu-
sern sehen wir Orangenbäume, sich beugend unter der Last der
goldenen Früchte, die herrlichsten Wohlgerüche duftend. Der äl-
tere Theil von Toulon, das etwa 25,000 Einwohner hat, ist
eng, winklig und schmutzig. Im neueren Theile dagegen führt
eine lange, breite, durchaus mit schönen, großen Häusern besetzte
Straße nach dem Handelshafen der Stadt, der kleiner als der
von Marseille, aber auch mit breiten Kais umgeben ist, auf de-
nen und auf den Schiffen ein fröhliches Leben herrscht. Auf der
Nordseite ist die Stadt von hohen, kahlen Felsen eingeschlossen,
und dadurch vor kühlen Nordwinden geschützt» Daher ist hier
das Klima noch milder als in Marseille, und der Pflanzenwuchs
noch üppiger und reicher. Die herrlichsten Pflanzen des Südens
gedeihen hier in Fülle, und die ganze Umgegend ist mir Bastiden
bedeckt.
Die größte Merkwürdigkeit von Toulon ist aber das Arse-
nal (Zeughaus) mit dem Kriegshafen, wo sich die Galeereng-e-
fangenen befinden. Wir lassen hier eine Reisende sprechen: „Ein
reich verziertes Portal öffnete uns den Eingang in diese Wohnung
intmer reger Arbeitsamkeit, tiefen Jammers und entsetzlicher Ver-
brechen. Wir gedachten dabei an Dante's Beschreibung der Pfor-
ten der Hölle; denn auch hier mußten Tausende, welche durch sie
hinschritten, jeder Hoffnung auf ewig entsagen Das erste, was
wir erblickten, waren die S ch i s f s w e r f t e. Zwei große Linien-
schiffe lagen eben auf dem Stapel. Eine große Anzahl Galeeren-
selaven mußte hier den Schiffszimmcrleuten und Baumeistern die
Balken, das Eisenwerk, und alleö, was sie bedurften, herbeitra-
gen. Tief gebückt keuchten sie unter der schweren Bürde, während
der Stock der Aufseher immer über ihnen schwebte, uno das Klirr
ren ihrer Ketten tönte gräßlich durch das Hämmern und Rufen
der Arbeiter. Dann gelangten wir zu den verschiedenen Werk-
stätten, in welchen alles verfertigt wird, was die Flotte braucht,
vom großen Mast und ccntnerschweren Anker an, bis zum bler
152
DaS Königreich Frankreich,
chernen Leuchter jedes Matrosen. Wir sahen im Vorübergehen die
vielen großen Magazine, theils mit Hanf, mit Schiff- und
Brennholz, mit Eisen, Kupfer, Getreide angefüllt, theils mit
schon fertigen Arbeiten; dann die ungeheure Bäckerei, in der das
tägliche Brot für mehrere Tausend Menschen bereitet wird. In
einem großen Gebäude waren Bildhauer mit Verfertigung der
Figuren und Verzierungen beschäftigt, die das Vorderthcil der
Schiffe schmücken lind ihnen den Namen geben. Beim Tischer
sahen wir mit Schaudern eine große Anzahl auf Vorrath verfer-
tigter hölzerner Beine und Krücken. Seine Werkstatt enthielt noch
außerdem eine Menge großen und kleinen Hausgcräths für die
Kajüten und Schiffsräume, eine fast unglaubliche Menge und
Verschiedenheit von Gegenständen. In der sehr großen Nagcl-
^sch miede werden in ungeheurer Menge und mit bewunderungs-
würdiger Schnelligkeit alle die vielen verschiedenen Nägel gemacht,
deren ein Schiff bedarf; riesengroße, die das Steuerruder befesti-
gen, und ganz kleine, an die der Schiffer seine Seekarten und
seinen Kalender hängt. Neben der Nagelschmiede arbeitet der
Mefferschmidt, der jedem Matrosen seine Messer schaffen muß.
Nicht weit von diesem sahen wir die ungeheure Schmiede, in
welcher die Anker und alles größere Eisenwerk zum Schiffsbau ge-
schmiedet werden. Vier und zwanzig große Oefcn sprühen darin
Feuer; lange Reihen von Amboßen stöhnen unter den gewaltigen
Hammerschlägen rüstiger Cyklopen. In einer andern Werkstatt
werden die Kupfer platten gehäminert, mit denen man den
Kiel der Linienschiffe belegt, um sie dauerhafter zu machen, und
gegen die Beschädigungen der Seewürmer zu sichern, die das
Holz zernagen. Auch den Blechschläger besuchten wir und
bewunderten seine Geschicklichkeit, mit der er unendlich viele Dinge,
die wir von Porzellan oder Steingut besitzen, aus Blech verfer-
tigt. Ein besonderes Gebäude ist zur Richtung der Mastbäu-
me bestimmt, die aus mehreren großen Bäumen, welche man
künstlich zusammenfügt, verfertigt werden. Die Seilerbahn
ist eins der merkwürdigsten Gebäude der ganzen Anstalt. Man
denke sich einen unabsehbaren, gewölbten Saal, durch Pfeiler in
drei gleiche breite Gänge getheilt, welche die Dogen der Decke
tragen. Gemeßnen Schrittes wandelt eine ganze Armee Seiler
darin auf und ab, und dreht den Hanf zum feinsten Bindfaden
und zum stärksten Ankertau, welches selbst nichts anders ist als
eine große Anzahl Bindfäden, die, zu einem Ganzen vereinigt,
Kraft haben, den mächtigsten Elementen zu widerstehen. Nahe
an der Seilerbahn werden in einem großen Gebäude Segel ge-
woben, zusammengenäht und auSgebeffert. Weiterhin treiben eine
Menge Faßbinder ihre lärmende Handthierung; überall reicht
hier Einer dem Andern die Hand. Dies sind nur die hauptsäch-
lichsten Anstalten, welche sich in diesem Arsenal befinden. In
allen den verschiedenen Werkstätten muffen die Galeercnscla-
Das Königreich Frankreich.
153
ven Handreichung thun und die beschwerlichsten Arbeiten verrich-
ten, oft sogar an die Stelle der Lastthicre treten. Der Anblick
dieser mit Ketten belasteten Unglücklichen, die wir überall antra-
fen, verleidete uns den Aufenthalt, besonders da man uns sagte,
daß nur vorzüglich Begünstigten das Glück würde, hier unter der
schweren Arbeit fast zu erliegen, und daß das Loos von tausend
andern noch unendlich härter sey. Die eigentlichen Zeughäu-
ser, in denen die Kanonen und Waffen aller Art aufbewahrt
werden, besuchten wir nicht, aber das große Bassin, in wel-
chem die größten Linienschiffe durch Ableiten des Wassers aufä
Trockne gelegt werden können, um sie bequem auszubessern (Do-
cke). Ferner gehört zu dem Arsenal der berühmte Krieg sh äsen,
in dem die Kriegsschiffe liegen. Auch liegen hier die Galeere-»
dicht am Ufer. Sie sind eigentlich unbrauchbar gewordene Kriegs-
schiffe, ohne Mastbäume, mit Dächern bedeckt. Jedes derselben
dient 500 Gefangenen zur traurigen Wohnung. Die hier nicht
Platz finden, werden in große, dunkle und feuchte Kerker einge-
sperrt, die noch fürchterlicher seyn sollen als die Galeeren. DaS
Elend selbst in diesen soll so furchtbar seyn, daß sogar Männer,
die im Kriege das Schrecklichste muthig betrachten lernten, vor
diesem höchsten Jammer versunkener Menschheit schaudernd zurück-
beben, und die, welche die Gefangenen zuweilen besuchen müssen,
betreten die unheilvollen Schwellen immer mit bleibendem Entse-
tzen. Eben schlug die Glocke, welche die Gefangenen nach dem
mühseligen Tagewerk zum Schlaf in ihr schreckliches Nachtlager
ruft. Von allen Seiten raffelten sie in ihren schweren Ketten her-
bei, immer zwei und zwei zusammengeschmiedet. Alle sind in
grobe, rothbraune Kleider gehüllt, die an Vielen als halbvcrmo-
teile Lumpen herumfiattern. Auf den ganz kahl geschorenen Kö-
pfen tragen sie glatt anschließende rothe Kappen. An vielen be-
merkten wir wildverzerrte Gesichter, wahre Teusclslarven, mit
dem vollen Ausdruck der tiefsten Verworfenheit, wilder Mordlust
und grimmiger Verzweiflung. Andere schienen durch das lange
Elend zu dumpfer Thierheit herabgcsunken. Vielen sah man den
herzzerreißenden Gram an, das Gefühl der entsetzlichen Schande.
Die Schrecklichsten waren uns die, welche mit frecher Lustigkeit
ihre innere Wuth in wilden Liedern und noch entsetzlicherem La,
chen austobten. So sahen wir Einen, dem eben die Fessel an
den Fuß geschmiedet wurde; er pfiff und sang und lachte dazu so
schallend laut, in so grausenden Tönen, daß es uns daö Haar
emporsträubte. Mit inniger Wehmuth sahen wir Menschen von
noch nicht 20 Jahren mit dem Gepräge vergangener besserer Tage
an greife Verbrecher geschmiedet, aus deren versteinerten Zügen
die tiefste Verworfenheit sprach. Ihre Nahrung ist trocknes Brot
und Wasser; nur zum Frühstück erhalten sie eine elende Wasser-
suppe mit einigen gekochten Bohnen darin. Ihr Lager sind höl-
zerne Bänke, auf denen sie sich nicht ausstrecken können; ihre
154
ÍDi.S Königreich Frankreich.
Kleider tragen sie, bis diese in Fetzen herabfallen. Die größten
Verbrecher sind an ihre Bänke neben einander geschmiedet, die ihr
nen zum Sitz, zur Lagerstatt, zur Aufbewahrung ersparter Bis-
sen dienen, und von denen sie sich nur so weit entfernen können,
als cs ihre Kette erlaubt. Im Kerker muffen sie arbeiten, ver-
lassen ihn nie, athmen nie reine Luft, sehen die Sonne nie, und
leben doch oft viele, lange Jahre hindurch. Ueber allen schwebt
immer der Stock der Aufseher, und fallt beim kleinsten Versehen
in unbarmherzigen Schlägen auf sie nieder. So sahen wir sie
gezählt werden wie eine Heerde Vieh, und eingetrieben zu ihrem
entsetzlichen Nachtlager — 6000 Menschen, die hier in verzweifeln-
der Wuth ihre Tage verleben. Wenn nun einmal Flammen das
Arsenal ergriffen, die Niegel, die Ketten sprengten, und nun die
Einwohner der Stadt der Wuth dieser 6000 Verzweifelnden Preis
gegeben wären! Der Gedanke ist einer der fürchterlichsten, und
doch bei weitem nicht außer dem Gebiet der Möglichkeit." Von
Toulon östlich kominen wir nach dem kleinen, aber wegen seiner
schönen Lage und gesunden Luft berühmten Städtchen
Hieres. „Näher an Hieres," sagt jene Reisende, „wird
das ganze Land ein köstlicher Garten; Goldlack, Tazetten, Nar-
zissen, tausend wunderschöne Blumen, die wir sorgsam pflegen
müssen, bedecken die Wiesen und Felder; Balsamduft von La-
vendel und unendlich vielen Kräutern erfüllt die Lufl; überall
glänzen Hecken von wilden, einfachen Granaten, blühenden
Centifolien, Myrthen, Oleander, Aloen und den schönsten Jas-
minarten. Breitblättrigc Feigenbäume, hohe Granatbäume,
Mandeln, Pinien, Cypressen, Lorbeerbäume, alle Arten der edel-
sten Obstbäume beschatten die Straße. Kurz vor der Stadt öff-
net sich eine herrliche Aussicht auf das Meer und über alle Gar-
tenmauern ragen mit Früchten beladene Orangenbäume hervor.
Hieres selbst liegt auf'einem steilen Felsen, und ist ein enges,
schmutziges Nest, aber am Abhange des Berges sind sehr artige
Wohnungen zur Aufnahme der Fremden erbaut. Unsere Wirthin
führte unS eine Treppe hoch in ein Zimmer mit verschlossenen
Jalousien, und da sie diese öffnete, standen wir alle sprachlos da
vor überraschendem Entzücken» Der Abhang dcS Berges, auf dem
das Haus steht, senkt sich sanft hinab bis ans Gestade des Mee-
res, welches weit ausgebreitet vor uns lag, gekräuselt von kleinen,
blürhenweißen Wellen. Gerad'e vor uns erhoben sich aus der
Fluth, schwimmenden Gärten gleich, die drei mit Wäldern ge-
krönten thierischen Inseln. Orangen- und Citronenbäume be-
decken den ganzen Abhang des Ufers, vom Hause an, so weit
das Auge reicht; berauschend stieg der Blüthenduft zu uns herauf,
und tausend Nachtigallen flöteten im dunkeln, glänzenden Laube
der von der Last schöner Früchte tief gesenkten Zweige. So ist cs
in diesem glücklichen Lande das ganze Jahr hindurch; ewig Herr-
DaS Königreich Frankreich.
155
schen bier Frühling und Herbst im herrlichsten Vereine; die Bäu-
me blühen immer und tragen zugleich Früchte, und kein Winter
entlaubt ihre Zweige. Alte Leute erzählen ihren Kindern von
Schnee und Eis als einer seltenen, furchtbaren Naturerscheinung,
die etwa alle 30 Jahre einmal auf kurze Zeit die Einwohner er-
schreckt. Im Sommer mildert die Nähe des Meeres die drückende
Hitze; im Frühling, im Herbst, und vor allem im Winter ist die
Luft die reinste und wildeste in der Welt. Jeder Einwohner von
Hieres hat seinen Orangengarten. Nicht nur die Früchte, auch
die Blüthen derselben werden in großen Quantitäten zu wohlrier
chenden Essenzen und Confitüren verkauft." Zwei Garten zeichn,
nen sich besonders durch ihre Größe aus. „Wir besuchten beide.
Der bedeutendste derselben soll 20.000 Orangenbäume enthalten,
die dem Besitzer, wie man sagt, jährlich 60,000 Franken einbringen.
Unmöglich ist es, die unendliche Pracht und Schönheit dieses Oran-
genhaines zu beschreiben, den Duft der von Millionen Bienen
umschwirrten Blüthen, den Glanz der goldenen Früchte, deren
Last die Zweige kaum tragen, in denen Hunderte von Nachtigallen
unaufhörlich laut schmetterten, als wollten sie die Herrlichkeit, die
sie umgab, aller Welt verkündigen. Kein Schatten irgend eines
WaldeS gleicht der Dämmerung dieses in alle Nüancen von Grün
spielenden, glänzenden Laubes; immer sprossen junge Blätter net
ben den älteren, Knospen neben völlig entfalteten Blüthen, kleine
grüne Früchte neben ganz goldenen, an Farbe und Größe bei wei-
tem die übertreffend, welche halb unreif für uns arme Nordlän-
der gepflückt werben. Die Bäume stehen alle neben einander in
dichte Reihen gepflanzt; ihre Zweige verschlingen sich, und bilden
ein fast undurchdringliches Dickicht."
Die h i eri s chen Inseln werden von manchen Nei-
scndcn als ein Paradies geschildert. Es sind aber nur wilde,
waldbewachsene Felsen, ohne Cultur und ohne Orangenbäume.
Einige arme Fischerfamilien sind die einzigen Bewohner der bei-
den größten; die dritte ist ganz unbewohnt. Desto schöner
aber ist Gegend bei Hieres. „Erde und Himmel, Luft
und Meer machen es zum Paradiese der Welt, und doch laßt
sich so wenig davon sagen, wie von allem wahrhaft Schönen
. und Großen. Man muß es gesehen haben, um es sich den-
ken zu können, oder auch nur daran zu glauben. Giebt es
einen Aufenthalt auf Erden, wo der Anblick der Natur ein
durch bittere Erfahrungen zerrüttetes Gemüth heilen, wo milde
Luft eine zerstörte Brust wieder stärken kann, so ist es Hic-
res. Dieser ewige Frühling, dieser reine, dunkelblaue Aether,
diese Sonne, diese Düfte, diese Nachtigallcnlicder müssen den
156
Das Königreich Frankreich.
zerrüttetsten Nerven wieder Spannkraft geben, in diesen Oran-
genhainen muß jeder herbe Schmerz zur süßen Wehmuth wer-
den, wenn es auf dieser Welt noch irgend möglich ist."
Wenn wir an der Südküste noch weiter nach Osten Hin-
reisen, so finden wir noch zwei Oertcr, die eine historische
Wichtigkeit haben:
Fr ejus, ein Seestädtchen, wo Bonaparte 1799 landete,
als er aus Aegypten zurückkehrte, und
Cannes, wo er, von Elba entflohen, 1815 ans Land
stieg *).
Gleich nördlich von Marseille liegt
Air (spr. Aehx), auch von herrlichen Gärten und Landhäu-
sern umgeben, in einem weiten, schönen Thale, mit warmen Bä/
Lern. Zn der Nähe war die große Schlacht, in welcher Marius
102 vor Christus die wilden Teutonen bezwang **).
An der Rhone liegt
Avignon, im Mittelalter lange die Residenz der Päpste,
jetzt eine enge, schmutzige, düstere Stadt. Der ehemalige präch-
tige päpstliche Pallast liegt jetzt in Ruinen, und nur seine halb-
verfallenen Portale, Thürme und Mauern erinnern an seine ehe-
malige Größe und Pracht. Einige Stunden östlich davon ist das
berühmte Thal, das die Quelle
Vauclüse enthalt. Petrarka, der ausgezeichnetste
Dichter Italiens im 14tcn Jahrhundert, lebte viele Jahre in
dem Thale des Flüßchens Sorgue, dessen O-uelle Vauclüse
heißt. Er liebte mit der ganzen Schwärmerei eines glühenden
Herzens die schöne Laura, die Tochter des Herrn des Dorfes
Vauclüse, die an einen Grafen von Sade vcrhcirathet war.
Um in ihrer Nähe zu seyn, die er doch nicht besitzen konnte,
wählte er das einsame Thal zum Aufenthalt. „Hier hörte
er nichts als das Blöken der Heerdcn, den Gesang der Vö-
gel und das Rauschen des Wassers; er hatte keine andere Ge-
sellschaft als seinen treuen Hund und seine Bücher; er beob-
achtete oft vom Morgen bis zum Abend das Stillschweigen
eines Karthäusers; er lebte nur von schwarzem Brote und
von Früchten, kleidete sich wie seine Nachbarn, die Fischer
*) S. mein Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte für Töchterschulen,
2te Ausq., Th. 3., S. 390 u. 422.
**) S. ebendas. LH. 1-, S. 227.
Das Königreich Frankreich.' 157
und Hirten, baute seinen Garten mit eigener Hand, schweifte
am Morgen auf den umliegenden Hügeln, und am Abend in
den nahen Wiesen umher, und stieg oft um Mitternacht, beim
Scheine des Mondes, in die furchtbare Höhle hinab, wo ec
steh sogar in Gesellschaft und am hellen Tage von geheimen
Schauern durchdrungen fühlte. Im Felde und im Walde las,
schrieb und träumte er wie in seinem Cabinctte, durchdachte
prüfend die Vergangenheit und rathschlagte über die Zukunft.
Hier sang er die Canzonen und Sonette," die seinen Namen
unsterblich gemacht haben. „Wir traten," sagt ein Ncisen-
dcr, „in der Frühe des Tages unsere Wanderung nach Vau-
clüse an. Der Weg von dem 1 Stunde davon entfernten
Städtchen L'Jsle führte uns durch einen dunkeln, reizenden
Baumgang. Es war ein herrlicher Morgen; eine erquickende
Morgenluft umwchete uns; kein Wölkchen schwamm am schö-
nen blauen Himmel; die lieblichste, fruchtbarste Ebene lag vor
uns im Glanze der Morgensonne. In einer fortdauernden
Begeisterung erhielt mich der Gedanke an das berühmte ro-
mantische Felsenthal, in welchem einer der edelsten und größ-
ten Geister, der gefühlvollsten, unmuthigsten Dichter, die je
gelebt haben, so manches Jahr seines Lebens in gänzlicher
Abgeschiedenheit von der Welt, in der tiefsten Einsamkeit, an
der herrlichen Felscnquelle und an den blühenden Ufern des
krystallenen Gewässers der Sorgue den Wissenschaften lebte.
Die Ebene, durch die wir kamen, ist mit schönen Wiesen und
fruchtbaren Feldern geschmückt, auf denen Maulbeerbäume,
Oelbäume und Neben zerstreut sind. Vor uns und auf beiden
Seiten bemerkten wir in der Entfernung eine Kette von Ber-
gen, die einen halben Cirkel bildeten. Eine Stunde lang
wanderten wir durch die schöne Ebene; nun waren wir dem
Gebirge von Vauclüse ganz nahe; die Sorgue stoß auf un-
srer rechten Seite; wir betraten jetzt das romantische Thal.
Wilde, groteske Fclsenmassen erhoben sich links, zerstreut in
mancherlei Formen. Auf der rechten Seite bildeten die klaren,
grünlich und bläulich scheinenden Gewässer der Sorgue, welche
sanft in ihrem von grünen Teppichen bedeckten Bette, zwischen
Ufern, die mit den schönsten Gebüschen, Pappeln und Weiden
geschmückt sind, die sich in ihnen spiegeln, und durch die fri-
158
DaS Königreich Frankreich.
fchestcn Wiesen hinschlichen, auf denen Pferde, Schafe und
Ziegen in ungestörter Ruhe hcrumirrten, einen liebliches Ge-
mälde, das durch seinen sanften Charakter im stärksten, an-
genehmsten Contraste stand mit dem wilden, kühnen Felsenfcc-
nen gegenüber. Je weiter wir kamen, desto höher thürmten
sich links die entsetzlichen, nackten, röthlichgelbcn Felsenmassen
empor, desto weiter wurde das majestätische Amphitheater der
ungeheuren Fclscnmaucrn umher." Eine hohe Fclsenwand
schließt endlich das Thal. Am Fuße derselben gelangt man
durch ein dunkles Fclscnthor zu dem armseligen Dörfchen Vau-
clüse. Von hier hat man einen sehr rauhen und schmalen
Weg nach der östlich liegenden Quelle hinauf. Cr steigt ne-
ben der äußerst wilden, hohen und drohenden, nördlichen Fcl-
scnmaucr hoch auf der rechten Seite der Sorgue über Fel-
senschutt empor. Rechts schäumt unten das Gewässer zwischen
Trümmern hin. Wie man mehr in die Höhe kommt, wird
das wilde, kahle Thal immer enger. Man sieht mehrere kry-
stallhelle Bäche mit großer Wasserfüllc am Fuße der Felsen-
mauern auf der Nord - und Südseite der Sorgue hervorrau-
schcn. Weiter oben haben nur noch der schmale Pfad und
das Strombette Platz. Hier sahen wir keine Nebe, keinen
Oelbaum, kein Pstänzchen und keinen Tropfen Wasser mehr;
eine öde, dürre, schattenleere Wüste lag neben und vor uns.
Das Strombette war mit zahllosen 4 — 8 Fuß dicken Fels-
blöcken übersäet, über welche sich im Winter, und besonders
wenn der Schnee schmilzt, der Strom majestätisch donnernd
und schäumend herabstürzen soll. Ganz eben erblickt man
eine prächtige, sehr hohe, runde, hellgelbe Säule, die dem
Pctrarka geweiht ist, und in diesen rauhen Felsen sehr über-
rascht. Sie steht hart am Fuße der mittlern Mauer des ma-
jestätischen Fclscnamphitheaters, und hat nur die einfache In-
schrift A Petrarque 1809. „Endlich hatten wir das Allcrhei-
ligste erreicht, und standen staunend und begeistert, von einem
Halbcirkel senkrechter, himmelhoher, nackter Felsen umstarrt,
neben Pctrarka's Denkmal und vor der sich weit und schauer-
lich öffnenden Quellenhöhle, in der Petrarka oft in einsamen,
stillen, mondhellen Nächten auf bemoosten Steinen saß."
Der Boden der Höhle ist mit dem Wasser angefüllt, aus dem
Das Königreich Frankreich. 159
die Sorgue entspringt, und das einen weiten, sehr tiefen,,
und ganz mit schauerlichen F-elsgewölben bedeckten Teich bil-
det. Nur wenn dieser Teich nach einem trocknen Sommer
ganz niedrig ist, kann man tiefer in die Höhle eindringen; ist
aber das Wasser durch das Schmelzen des Schnees recht groß,
so kann es nicht ganz durch unterirdische Klüfte zur Sorgue
hinabfließen, sondern stürzt sich brausend über den Rand der
Grotte hinab. Dies ist die eigentliche Vauclüse *).
Nördlich von Avignon liegt die schmutzige, winklige kleine
Stadt
Orange, zur Zeit der Römer eine prächtige'Stadt. Von
ihr hat das Fürstenhaus Oranien seinen Namen.
9. Dauphine
ist ein Berg - und Hügelland. Lange Arme der benachbarten
Alpen streichen durch das Land, das je naher nach Osten,
desto rauher ist, wo sich Berge auf Berge bis zu den höch-
sten Alpen hinaufthürmen. Am Fuße der Alpen, in einer
wilden Berggcgend liegt
Grenoble, in einem Thale, von Bergen umringt, über
die sich das weiße Haupt des Montblanc in der Ferne erhebt.
Sie ist eng, schlecht und düster gebaut. Desto schöner sind die
Umgebungen derStadt; in der Nähe ist sie von Wiesen und Bäu-
men, in kleiner Entfernung von steilen Bergen und Felsen umge-
ben, welche die sonderbarsten Formen haben. Die Kunst hat we-
nig gethan; aber die Natur bietet überall wilde Schönheiten dar,
die durch den FlußZscre, der durch die Stadt strömt, noch mehr
*) Ueber die rührende Neigung Petrarka's zu seiner Freundin Laura
merke man noch Folgendes: Es war in der Kirche des Nonnenklosters
von St. Claire bei Avignon 1327 Morgens, als Petrarka, ein Jüng-
liug, der sich nachmals als Staatsmann, Gelehrter, Philosoph und be-
sonders als Sänger gefühlvoller Lieder auszeichnete, die schone Laura in
einem grünen Kleide, mit goldnen Veilchen durchwirkt, zum ersten Male
sah, und eine solche Zuneigung für sie faßte, daß keine Zeit sic kühler
machen konnte. Sie war bereits an den Grafen Hugo de Sade vermahlt.
Sie starb 1348 in ihrem 38sten Lebensjahre an der Pest, die damals in
Avignon, wo sie lebte, wüthete, an demselben Tage, und sogar zu der-
selben Stunde, in welcher Petrarka sic 20 Jahre früher zum ersten Male
erblickt hatte.^ Auch nach ihrem Tode konnte er bis zu seinem Lode we-
der im Gewühl des Geschäfts- und Hoflcbens, noch am einsamen Stu-
dicrtischc, noch auf Reisen ihr Bild aus seinem Gedächtnisse los werden.
Er starb 1373 auf seinem Landsitze in der Gegend von Padua.
160
Das Königreich Frankreich.
Leben erhalten. Wandert man von Grenoble 6 Stunden weit
nördlich, so kommt man nach der
Kart Hause (la Chartreuse), von welcher der Orden der
Karthäusermönche den Namen hat. Es ist eine äußerst wilde, ro-
mantische Fclsengegend. Schon der Weg dahin ist schauerlich, durch
enge, von Bergströmen dnrchrauschte und zerrissene Felscnthäler.
Endlich wird der Weg so eng, daß man nur zu Fuß weiter kann.
Die Einsamkeit der wilden Oede wirb nur durch das Getöse der
Waldströme gestört. Die beiden Gebirge rcchtS und links, niit
dunkeln Tannenwäldern bedeckt, treten zuletzt so nahe zusammen,
daß jeder Ausweg verschlossen zu seyn scheint. Die Spitzen der
Felsen verlieren sich in den Wolken, und ringsumher sieht mau
nichts als Oede und Graus: Felsentrümmer, Dorngebüsch und
wildrauschende Bäche. Nur eine ganz schmale Felsenschlucht noch,
und man befindet sich in der Kartbause. Sie besteht aus einem
ganz engen Felsenthale, das auf beiden Seiten von den höchsten
und steilsten Felswänden eingeschlossen ist, die überall, wo nur
ein Baum wurzeln kann, mit Lüstern Tannen bewachsen sind.
Am hellen Tage selbst ist es hier so düster wie in der Dämme-
rung; kein Sonnenstrahl kann in diese Wildniß dringen. Neben
dem Wanderer, den der Weg immer höher führt, braust der Berg-
strom in grausiger Tiefe dahin. Endlich erweitert sich das Thal
ein wenig, der Wald hört auf, und nun hat man das Kloster
vor sich. Wie staunt man, plötzlich in dieser Oede ein solches
Prachtgebäude vor sich zu sehen! Der heilige Bruno, ein
Mann von schwärmerischem Gemüthe, zog sich 1086 in diese Ein-
öde zurück, um abgeschieden von der Welt ein strenges Leben zu
führen, und schrieb sich und denen, die sich ihm anschlossen, eine
Negel vor, die härter war als die aller andern Mönchsorden *).
Das Gebäude enthielt 80 Zellen, in denen die Mönche lebten.
Nicht einmal das Sprechen war ihnen erlaubt; ein hohlgespro-
chenes; nmnrento mori! (gedenk an deinen Tod!) war das Ein-
zige, was sie sich, wenn sie einander in den öden Hallen begeg-
ueten, zuriefen. Zeder schlief in seinem Sarge, den Kopf auf ei-
nem Steine, und sein Grab, daS immer offen stand, seine Leiche
aufzunehmen, mußte er sich selbst graben. Jetzt ist das Gebäude
leer, und verfällt nach und nach. Als die Klöster aufgehoben
wurden, fand sich Niemand, der cs kaufen wollte; Keiner hatte
Lust, in dieser Wildniß zu leben. Noch eine Viertelstunde höher
liegt auf einem mit Bäumen bekrönten Felsen, in einer schauer-
lichen Gegend, eine einsame Capelle, einst die Zelle des heiligen
Bruno, wo er wohnte, ehe das große Kloster erbaut war. Hier
herrscht eine ewige Ruhe; nur in der Ferne hört man das dum-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2teAusg.,
Th. 2., S. 133.
DaS Königreich Frankreich.
161
pfe Brausen der Waldströme; alle Leidenschaften schweigen; das
Gemüth fühlt sich von der Erde abgezogen, erhoben zu den ern-
stesten Gedanken an Gott und Ewigkeit.
10. Bourgogne
ist ein schönes, anmuthiges Land, voll Berge und Thäler, und
die Hügel meist mit Weinreben bepflanzt, aus denen der be-
rühmte Burgunder gepreßt wird. Von den hier liegenden
Städten merken wir nur zwei:
Dijon, eine ansehnliche, schön gebaute Stadt, mit geraden,
wohlgcpftasterten Straßen, mit mehreren schönen Plätzen und
Pallästen, und herrlichen Spatziergängen um die Stadt herum.
Südlich liegt
Chalons für Saone (spr. Sohne), die nicht mit Cha-
lons für Marne verwechselt werden muß.
11. Franche Comté
liegt westlich von Helvetica, von dem es nur durch den Jura
getrennt wird. Daher ist das Land meist bergig durch die
Zweige, die der Iura aussendet. Auch hier fehlt cs an merk-
würdigen Städten.
Besancon ist eine sehr alte, doch gut gebaute Stadt, von
Bergen umgeben und befestigt.
Dole ist ein nettes Städtchen, am Fuße des höchsten Beri
geö des Jura, Dole, in einem äußerst reizenden Thale, das man
seiner Naturschönheitcn wegen Val d' amour nennt.
12. Elsaß
heißt das schmale, von Süden nach Norden sich ausbreitende
Landchcn, das rechts den Rhein und links die Vogesen hat,
fruchtbar, lieblich, voll wohlgebauter und anmuthigcc Dörfer,
in denen noch meist deutsch gesprochen wird, voll Berge und
Hügel, zwischen denen höchst liebliche Thäler liegen.
Straßburg, ein halbe Stunde vom Rheine entfernt, in
einer höchst angenehmen, trefflich angebauten Gegend, von reichen
Dörfern umgeben. Die Stadt ist groß (60,000 Einw.), hat
meist gerade, zum Theil breite Straßen und ansehnliche Häuser.
Ihre größte Zierde ist das herrliche Münster. So heißt die
Nösseltö Geographie II. 11
162
DcrS Königreich Frankreich.
alte Hauptkirche, die weit über alle Gebäude hinwegragt, und ei/
nen der höchsten Thürme bat. Der Bau dieser ehrwürdigen Kir/
che wurde schon im Ilten Jahrhundert angefangen, und erst nach
250 Jahren vollendet; dann erst wurde der Thurm gebaut, der
sich nicht nur durch seine Höhe, sondern auch durch seine schlanke
Gestalt rmd durch den Reichthum der Verzierungen auszeichnet.
Er hat eine Höhe von 443 Fuß.
Colmar, nicht weit von Straßburg, nordwestlich, ist die
Vaterstadt des bekannten blinden Dichters Pfeffel, der hier
1309 als Director der Cadettenschule starb.
13. Lothringen
liegt zwischen den Vogesen und Ardennen, und ist meist hü-
gelig.
Nancy, in einer weiten, schönen Ebene, ist eine der schön-
sten Städte. ' Die Straßen sind gernde, sehr breit, mit ansehn-
lichen Häusern besetzt, kurz, sic wird für die schönste Stadt in
Frankreich gehalten. Ihre Schönheit verdankt sie besonders dem
guten König von Polen Stanislaus Lescinsky, der nach
seiner Absetzung von 1737 bis an seinen 1766 erfolgten Tod Lo/
thringen besaß und in Nancy residirte. Vorzüglich schön ist der
iMac« royale, der von lauter Pallästcn und öffentlichen Gebäuden
umgeben ist. Auf der einen Seite desselben steht eine Triumph/
pfortc, die nach einem andern schönen Platz, la Carrière, führt,
in dessen Mitte die Einwohner unter den schattigen Bäumen spa-
tzieren zu gehen pflegen. Ihrer Größe nach könnte die Stadt viel
nrehr als 40,000 Einwohner haben. Daß der stolze Herzog von
Burgund, Karl der Kühne, 1477 in der Schlacht bei Nancy
sein Leben verlor, wird den Leserinnen aus der Geschichte bekannt
seyn *). Seine Gebeine ruhen in einer der Kirchen der Stadt.
Südöstlich nicht weit von Nancy, liegt
Lüneville, berühmt durch den hier 1807 geschlossenen Frie-
den **). Von Nancy südwestlich ist das Städtchen
Vaucouleurs, in dessen Nähe das Dorf
Domremi liegt, wo das Mädchen von Orleans geboren
wurde. Das Haus, in welchem sie geboren wurde, steht noch,
selbst die Kammer, in der sie schlief, und der Schrank, in wel-
chem sie ihre Sachen hatte, so lange sie noch Baucrmädchen
war ***). Der Kanzler Niemeyer, der das Haus 1807 besuchte.
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg-,
Th. 2., S. 202.
**) Ebend. Th. 3., S. 392.
***) Ebend. Th. 2., S. 165.
DaS Königreich Frankreich.
163
legte in JohannenS Wandschrank sein Exemplar von Schillers Jung-
frau als Weihgeschenk, und dazu ein Blatt mit folgenden Versen:
Also hier, du wunderbares Wesen,
Deinem Volk zur Retterin erlesen.
Also hier, entflammt der höhcrn Welt,
Hat dein Geist der Erde sich gesellt!
Diese alten, öden Mauern
Sahen deiner Seele stilles Trauern,
Deine Thränen, als des Fremdlings Hand
Raubte deiner Vater Land.
Unter fremder Rosse Hufen
Floß in Strömen Bürgcrblut.
Du vernahmst sein lautes Rufen,
Und der Schmerz ward Heldenmuts).
Einsam oft auf jenen Höhen,
Stieg zu Gott dein heißes Flehen,
Und, gereift in ernster Stille,
Stählte sich zur Kraft dein Wille.
Seit der Zeit hat der König alle umher stehende alte Gebäude
wegräumen, das Haus der Jungfrau ausbessern, und davor ein
Denkmal mit der marmornen Bildsäule derselben errichten lassen.
Nördlich von Nancy liegt die Stadt
Metz an der Mosel, eine starke Festung, meist recht gut
gebaut, so alt sie auch ist, und recht ansehnlich, fast so groß als
Nancy. In einer der Kirchen liegt Ludwig der Fromme, Karls
des Großen Sohn, begraben *). Westlich von Metz finden wir
Verdun an der Maas, auch schon aus der Geschichte be-
kannt. Hier schlossen ja die drei Söhne jenes Ludwigs des From-
men 843 den wichtigen Vertrag, durch den Deutschland, Frank-
reich und Italien besondere Reiche wurden **)♦ Wieder westlich
von Verdun finden wir zwei Städtchen
St. Menehould ( spr. St. Menu) und
Varennes, die aus der französischen Nevolutionsgeschichte
bekannt sind. In jener wurde ja König Ludwig XVI. auf seiner
Flucht von dem Postmeister Drouet erkannt, und in VarenneS
wurde er verhaftet ***).
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für
Th. 2., S. 35.
**) Ebend. S. 38.
Ebend. Th. 3., S. 343.
Töchterschulen, 2tcAusg.,
164
Das Königreich Frankreich.
14. I 6 le de France.
So heißt die kleine Provinz, in welcher das Herz Frank-
reichs, die Stadt Paris, liegt, und die von der Seine durch-
flossen wird. Sie ist eine weite Ebene, voll wohlgebauter,
blühender Dörfer, die um so schöner sind, je naher man Pa-
ris kommt. Man mag kommen, von welcher Seite man will,
so ist des Hin- und Herfahrens der Wagen von und nach der
Stadt kein Ende. Die Hauser der Dörfer werden immer net-
ter, haben zum Theil vielversprechende Aufschriften, und die
Kramläden laden zum Kaufen ein. Kommt man endlich in
Paris selbst an, so ist des Drängens und Treibens, Fah-
rens, Reitens und Laufens, Lärmens und Verkehres so viel, daß
inan in der ersten Zeit wie berauscht und ganz verwirrt ist. Um
Paris kennen zu lernen, wollen wir cs seinen einzelnen Theilen
nach durchgehen. (Können die Leserinnen einen Plan von Paris
erhalten, so werden sie das Folgende freilich viel bester verstehen,
alö ohne denselben. Indessen hoffen wir für Jeden, der auf-
merksam uns durch Paris begleiten will, verständlich zu wett
den).
Die Stadt ist ziemlich gleich lang als breit, und wird in
der Mitte von der Seine durchflossen. Der Strom geht von
Osten nach Westen, oder genauer von Ost-Süd-Ost nach West«
Nord-West. Dadurch zerfällt die Stadt in drei Theilet in den
nördlichen, den südlichen und die Inseln. Der Theil, der nörd-
lich von der Seine liegt, heißt la Ville; der südlich vom Strome
1' Université, und die größte Seine-Insel, zwischen beiden, In
Uitê. Alle drei Theile sind durch mehrere, zum Theil sehr schöne
Brücken mit einander in Verbindung. Längs dem Strome laufen
auf beiden Seiten herrliche gepflasterte Kai's hin. Ehemals, als
Paris kleiner war, hatte es Wälle und Gräben. Jene wurden
nachmals abgetragen, und diese zugeschüttet, und so entstand eine
schöne, breite Straße, die mit hohen, schattigen Bäumen be-
pflanzt ist, Boulevards genannt wird, und rund um Paris
läuft, aber nicht um die Stadt im weitesten Umfange, sondern
innerhalb derselben, so daß etwa die Hälfte der Stadt durch sie
eiiigcschloffen ist. Es giebt demnach Boulevards in In ViÜ6 und
in der Université. Jene werden die alten, diese die neuen ge-
nannt. Sie dienen den Parisern zu Spatziergängen, sind durch
schöne Springbrunnen geziert, und von herrlichen Häusern einge-
schloffen. Die Stadttheile, die außerhalb der Boulevards liegen,
werden Vorstädte (fauxbourgs) genannt, obgleich die jetzigen
Stadtthore erst am Ende der fauxbourgs sind.
Der erste allgemeine Eindruck, den Paris macht, ist nicht
günstig. Es ist ein Labyrinth von meist krummen und engen Gas«
165
DaS Königreich Frankreich.
sen und Gäßchen, die von sehr hohen Häusern eingeschlossen,
und, im Winter oder wenn es geregnet hat, sehr kothig sind.
Dabei muß man stets auf seiner Hut seyn, von den unaufhörlich
vorüberrellenden und jagenden Wagen nicht überfahren zu werden.
Am meisten ist dies in der Cité und Ville der Fall, die beide
am engsten gebaut sind. Wenn also auch Paris im Ganzen wer
der schon noch regelmäßig gebaut ist, so sind doch einzelne Theile
wahrhaft prächtig und einer großen Königsstadt würdig. Die
Zahl der Einwohner läßt sich schwer angeben, weil sie im bestem-
Ligen Wachsen begriffen ist, und die Menschen unaufhörlich ab -
und zuströmen, aber 1 Million kann man ungefähr annehmen.
An der Nordseite der Stadt liegt ein Berg hart an der Stadt-
mauer, der Montmartre. Hier hat man eine merkwürdige
Aussicht über die ganze weite Stadt. So weit das Auge reicht,
sieht man nichts als Dach an Dach, Giebel an Giebel vor sich,
aus denen sich die Thürme wie Schornsteine erheben.
Unsere Wanderung beginnen wir mit t»cr Cité, der Alt,
st adt. Diese, gegen das übrige Paris sehr kleine Seine-Insel
liegt in der Mitte der Stadt, und ist der älteste Theil derselben.
Mehrere Brücken führen nach der einen und nach der andern
Seite. Unter diesen Brücken ist die längste und besuchteste der
Po nt-neuf. Sie geht über die westlichste Spitze der Insel von
der Université nach der Ville. Sie hat auf beiden Seiten Bal-
cône, von denen man eine schöne Aussicht hat, und besteht aus
großen Quadern. Vor der Revolution stand hier in der
Mitte die Roßbildsäule Heinrichs IV. Sie wurde damals zerr
stört; aber eine neue ist an ihre Stelle gekommen. DaS Getümr
mel der Ab- und Zugehenden ist hier vom Morgen bis zum Abend
ungeheuer, und eben darum halten sich hier derer, die von An-
Lern Gewinn ziehen wollen, eine Menge auf: Schuhputzer, Kohr
lenträger, Schiffer, Lastträger, Savoyarde», die den Vorüberge-
henden ihre Dienste anbieten. Dabei sind eine Menge Buden und
Tische, auf denen die Bedürfnisse dieser Leute zu Kaufe ausge-
legt sind: alte Kleidungsstücke, Branntwein, Speisen u. a. Jene
Leute warten auf Arbeit, und wissen sich durch dies oder jenes
täglich so viel zu verdienen, daß sie sich satt essen können. Hat
man sich durch dies Publicum durchgewunden, so eröffnen sich
neue Scenen. An den Bürgersteigen sitzen die Schuhputzer mit
ihrem ganzen Apparat von Bürsten, Schuhwachs u. s. w. Ne-
ben ihnen steht auf einem Stabe eine Tafel mit ihren Namen,
und sie laden mit lauter Stimine die Vorübergehenden ein, sich
ihrer Kunst zu bedienen. Längs dem Brückengeländer stehen Ti-
sche mit allerhand kleinen Waaren : Pfefferkuchen, Stöcke, Puppen
u. dergl., während dazwischen Buden mit werthvollern Waaren
stehen. Am ärgsten ist das Gedränge in der Mitte der Brücke,
da wo sie auf der Inselspitze aufsteht und Heinrichs IV. Bildsäule
/
166
Das Königreich Frankreich.
sich befindet, weil hier die aus den drei Stadtthcilen Kommenden
zusammentreffen. Wir bleiben zunächst in der Cité. An ihrem
östlichen Ende ragt die Hauptkirche von Paris, ja von ganz
Frankreich, die alte Notre-Dame, empor. Zhr Ban wurde
schon unter den Merowingern angefangen, und im I2ten Jahr-
hundert vollendet. Welches ehrwürdige Gebäude! schon durch sein
Alter merkwürdig. An der Vorderseite sehen wir drei Hauptthü-
ren, über denen sonst in einer langen Neihs»26 Bildsäulen von
Königen von mehr als menschlicher Größe standen, die aber von
der tollen Wuth der Nevolutionsmänncr zerstört worden sind.
Vorn erheben sich zwei viereckige, oben abgeplattete Thürme, von
denen man eine köstliche Aussicht über die ganze Stadt hat. Zn/
wendig ist die Kirche weder prachtvoll noch elegant; aber die vie-
len alten Denkmäler, die grauen Mauern und das Helldunkel
stimmen das Gemüth unwillkürlich zum Nachdenken. Von wie
vielen Begebenheiten waren diese Mauern stumme Zeugen! Hier
betete der heilige Ludwig; hier sang Heinrich IV. nach seinem
Einzuge in Paris das Tcdeum *). — An der Nordseite der In-
sel, der Notrcdamckirche säst gegenüber, steht das Hotel Dien,
ein ungeheures Grbäude, wo unbemittelte Kranke uncntgcldlich
verpflegt werden.
Jetzt gehen wir auf dem Pontncuf oder einer andern der von
der Cité wegführenden Brücken nach dem nördlichen von der Seine
liegenden Stadtheile, In Villa, und betreten die herrlichste Ge-
gend der Stadt, nämlich die, welche sich vom Louvre bis über
die elysäischen Felder hinaus, von Osten nach Westen, längs der
Seine hinzieht. Sobald wir über den Pontncuf sind, und uns
ein wenig links (nach Westen) gewendet haben, stehen wir vor
dem Pallaste des Louvre, der auf der einen Seite von dem
Kai an dem Seineufcr, auf der andern von der Straße St.
Honoré, einer der Hauptstraßen, eingeschlossen ist. Er war
ehemals der Residenzpallaft der Könige, ist jetzt aber zu andern
Zwecken bestimmt. Ein Theil desselben enthält Sammlungen von
Gemälden und Bildsäulen. Von dem Louvre gehen zwei lange,
lange Gebäude aus, die man die Calorie rln Louvre nennt.
Das eine läuft längs dem Kai hin, das andere mit diesem ziem-
lich parallel. Beide gehen bis zum Tuilerienpallast, und schließen
mehrere große und prächtige Plätze ein. Zn den Gallerien besin-
dcn sich die herrlichen Sammlungen von Gemälden und Bildsau/
len, die man täglich unentgeltlich besuchen kann. Jene Plätze
liegen in einer ununterbrochenen Neihe neben einander zwischen dein
Louvre und den Tuilerien, und werden nur durch zierliche Eisen-
gitter getrennt, durch welche prächtige Triumphbogen führen. Auf
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Auêg.,
Th. 3., S. 114.
DaS Königreich Frankreich.
107
zweien dieser Prachtthore standen einige Jahre hindurch die be-
rühmten Pferde der Marcuskirche in Venedig (s. oben S. 14.)
und der Siegeswagen vom Brandenburgerthore in Berlin. Beide
Siegeszeichen Napoleons wurden aber 1814 wieder auf ihre Stet,
len gefetzt. Zunächst am Louvre ist der Platz des Louvre,
der größte dieser Plätze. Dann der C a r o u sse l- P l a tz, und end-
lich der Platz der Tuilerien. Alle sind so reinlich, daß man
auch nach dem stärksten Regen hier immer trocken geht. Jetzt ste-
hen wir vor dem Pallaste der Tuilerien. Der Name
Ziegelbrennereien ist daher entstanden, daß vor alten Zeiten hier
dergleichen standen. Es ist ein gewaltig breites, prächtiges, ei-
nes großen Königs würdiges Gebäude. Katharina von Medicis
fing den Bau an, und Ludwig XIV. vollendete ihn. Der Pal,
last besteht aus 5 sogenannten Pavillons, d. i. Hauptgebäuden,
die durch vier etwas zurücktretende Corps de Logis verbunden sind,
so daß die ganze Vorderseite beinahe 550 Schritte lang ist. Aus
dem mittelsten Pavillon hat man eine schöne Aussicht über den
Tuileriengarten, die elysäifchen Felder und quer druck) eine präch-
tige Allee hinab bis über die Maliern von Paris hinaus.
So wie wir durch die Hallen des Pallastes hindurch sind,
liegt der Garten der Tuilerien vor uns. Von dem Schlosse
gehen zwei Terrassen aus, die sich auf beiden Seiten des Gar-
tens hinziehen, und sich beim Ausgange desselben in zwei reichge-
schmückte Hügel endigen, von denen man eine wahrhaft prächtige
Aussicht über diesen schönsten Theil von Paris hat. Der Garten
bildet ein längliches Viereck, daS von Eisengittern eingefaßt ist,
und läuft, wie die Gallerien des Louvre, von Osten nach Westen
längs der Seine hin. Auf der nördlichen Terrasse, auf welcher
mehrere Kaffeehäuler stehen, stand das Gebäude, in welchem der
berüchtigte Nationaleonvent während der Revolution seine stürmi-
schen Sitzungen hielt *). In der Mitte des Gartens ist ein
weites Marmorbeckcn, aus dem ein hoher Wasserstrahl emporsteigt.
Umher stehen vier große Marmorgruppen. Die Gänge sind mit
festgestampftem Sande bedeckt, so daß man hier immer trocken
geht, und ist es trocknes Wetter, so werden sie täglich mehrere-
mal mit Wasser benetzt. Mitren durch den Garten läuft ein ho-
her und schnurgerader Baumgang, durch den man bis weit über
die elysäifchen Felder hinaus sehen kann. Rings um das Bassin
herum sind Beete mit den prachtvollsten Blumen und eine un-
vergleichliche Orangerie. Dennoch ist dieser Theil des Gartens
nicht der anziehendste, weil man hier den Sonnenstrahlen ausge-
setzt ist; angenehmer sind die kühlen Gänge, welche die hintern
zwei Drittheile einnehmen. Die hohen, enggepstanzten Bäu-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Au6g.,
Th. 3., S. 348.
168
DaS Königreich Frankreich.
me kaffen keinen Sonnenstrahl durch, und unter ihnen stehen
Stühle und Banke zum Niedersetzen. Fünf Alleen ausgenommen,
die schnurgerade sind, stehen die Bäume bunt durch einander;
zwischen ihnen sind hier und da Rasenstücke angebracht, auf Lenen
Spatzicrgäuger sitzen oder ausgestreckt liegen, oder Kinder' ihre
Spiele treiben. „Nichts ist angenehmer, als einen schönen Mor,
gen in diesem Garten zuzubringen; aber die Pariser schlafen so
lange, daß vor 9 Uhr kein Mensch darin anzutreffen ist. Der
Garten wird daher auch selten vor halb 8 Uhr geöffnet, so wer
nig wie die Kaffeehäuser auf der Terrasse. Nach 9 Uhr finden
sich allmälig mehr Menschen ein; aber der größte Theil davon
bleibt auf der Terrasse vor Len Kaffeehäusern. Nur einzeln kom,
men sie herab, und setzen sich mit einem Buche im Gehölze nie,
der. Gegen 10 Uhr kommen Kindermädchen und Kinder, und
nehmen einen langen Rasenplatz ein, der längs der Terrasse hin,
läuft. Nach 11 Uhr kommen schon Leute auS höheren Ständen,
besonders Damen mit ihren Freunden und Hunden im geschmack,
vollen Neglige. Bis 2 Uhr hält dies Publicum hier an; aber
nach dieser Zeit zerstreut es sich wieder, und man ist oft zwischen
3 und 4 Uhr so allein hier, als zwischen 7 und 8 Uhr des Morr
gens. Am zahlreichsten wird cs aber von 5 Uhr an, und das
größte Gewimmel ist in den Z Hauptalleen. Die Leute, die hier,
her kommen, sind sorgfältig gekleidet. Des Sonntags sind die
Tuilcrien am lebhaftesten und glänzendsten. Von 9 Uhr an ver,
liert sich das Getümmel dieses Gartens, und um 10 Uhr ist
Niemand mehr darin. Die Gitter werden dann geschloffen."
Wir treten aus dem Garten auf der Seite hinaus, die dem
Tuilerienschlosse entgegengesetzt ist, also aus dem westlichsten Thore.
Hier stehen zwei große marmorne Flügelpferde. Wir stehen nun
auf dem prächtigen Platz Ludwigs XV. Er ist unstreitig
der schönste, und sogar noch größer als der Königsplatz. Er
hat auf seiner östlichen Seite den Tuileriengarten, gegenüber
auf der westlichen die elysäischen Felder; auf der nördlichen Seite
stehen zwei lange Palläste, welche die 6 urcka-Älen blas hei,
ßen, weil sonst hier die königlichen Meublcs aufbewahrt wurden;
jetzt werden sie von zwei Ministern bewohnt. Die vierte, südliche
Seite wird von der Seine begränzt. Dieser herrliche Platz weckt
traurige Erinnerungen. Hier war es, namentlich auf der Seite
der Garde,Meublcs, wo bei der Vermählung Ludwigs XVI. mit
Maria Antoinette viele hundert Menschen in dein ungeheuren
Gedränge erdrückt und zertreten wurden. In der Mitte des Pla,
tzcs stand das Blutgerüste, auf welchem Ludwig XVI., und, 9
Monate darauf, Marie Antoinette 1793 enthauptet wurden *).
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 361 u. 370.
Das Königreich Frankreich.
169
Auf derselben Stelle hielten Friedrich Wilhelm III. und Alexander
4814 einen feierlichen Gottesdienst, um Gott für ihren Sieg zu
danken, Angesichts ihrer Heere. Der ganze Platz ist mit Graben
umgeben, die von steinernen Geländern eingefaßt sind
Von dem Platze tritt man in die c ly sä i sch en Felder.
Den Eingang zieren zwei kolostalc, sich bäumende Pferde, die
von zwei Männern gehalten werden. Unter jenem viel verspre-
chenden Namen versteht man ein reizendes Wäldchen. Eigentlich
ist eS ein großer Nasenplatz, der nach allen Richtungen hin mit
Da mgängen durchschnitten ist. Ueberall findet man hier Kaffee-
häuser, Traiteurs und Restaurateurs-für die elegante, und Gar-
küchen, Weinhäuser und Bierschcnken für die gemeine Welt. Am
angenehmsten ist LieS Wäldchen des Morgens, wird aber dann
fast gar nicht, mehr des Abends besucht. Am meisten wird eS
von den Vornehmen benutzt, um darin spatzieren zu fahren. Auf
der Seite an der Seine steht ein reizender königlicher Pallast,
Elisée Bourbon. Milten durch die elysäischen Felder führt
eine weite Allee von Osten nach Westen, eine Fortsetzung von der,
die durch den Tuilericngarten lief. Sie geht, schön und breit,
bis an das Stadtthor, wo ein herrlicher Triumphbogen mitten
auf einem cirkelrunden Platze steht.
Alle diese Herrlichkeiten, vom Louvre an bis an diesen Are
de Triomphe, liegen in eintr Reihe in einer stundenweiten Aus-
dehnung von Osten nach Westen längs dem rechten Ufer der Seine.
Zn derselben Richtung, wie die Seine, läuft auf der andern Seite
dieser Plätze und Palläste die schon oben erwähnte Straße S t.
Honoré hin, eine der bedeutendsten der Stadt, die auch von
Osten nach Westen geht. In ihr befindet sich, der nördlichen
Gallerie deS Louvre gegenüber, das berühmte Palais Royal,
daS dem Herzoge von Orleans gehört und auch von ihm bewohnt
wird, aber zugleich auch Hunderten von andern Leuten der verschie-
densten Lebensart zur Wohnung dient. Durch den mittleren Theil
der prächtigen Vorderseite führen drei große Thore in den ersten
Hof. Auf einer breiten Treppe gelangt man in den zweiten und
durch diesen in den sogenannten Garten, der aber jetzt nur noch
Bäume enthält, und mehr ein ungeheurer, belebter Platz ist,
Rings um denselben laufen Säulengänge mit 180 Schwibbogen,
die Kaufmannsgewölbe enthalten, unter denen sich wieder 180
Souterrains befinden, in denen Speisewirthe, Restaurateurs und
andere Leute zu finden sind. Das Ganze macht eine Stadt im
Kleinen aus. Der Hof und Garten sind von sehr hohen Ge-
bäuden eingeschlossen, in denen Zimmer zu hohen Preisen vcr-
miethet werden. Der Platz vor dem Palais ist unaufhörlich von
einer Menge von Kutschen und hinein - und hinausdrängenden
Menschen bedeckt; denn so wie Paris das Herz Frankreichs ge-
nannt werden kann, so ist wieder das Palais royal der Haupt-
170
DaS Königreich Frankreich.
tummelplatz der Pariser und der Fremden. In den Gewölben
über und unter der Erde kann man alle, auch die kostbarsten Be-
dürfniffe befriedigen; hier sind alle nur mögliche Waaren zu ha-
ben, und alle Genüsse zu erhalten. Die herrlichsten KaufmannS-
waaren sind hier zur Schau ausgelegt. Will man vom Kopf bis
auf den Fuß bekleidet seyn, so kann man es binnen einer Stun-
de; ein Geschwindschneider schafft alle Kleidungsstücke nach der
neuesten Mode fertig. Hier sehen wir das Gewölbe eines Buch-
händlers, der die ältesten und neuesten Bücher, nach denen wir
fragen, augenblicklich herbeischafft. Daneben ist ein Bijouteriege-
wölbe, dessen Glanz die Augen blendet, wo wir die kleinsten
Ringe, aber auch die kostbarsten Armbänder und Diademe erhal-
ten können. Am Tage strahlt das Gewölbe vom Glanze der
Sonne, am Abend ist es von 50 Wachskerzen erleuchtet, und
große Spiegel vermehren das magische Farbenspiel. In einem
dritten Gewölbe hat eine Modehändlerin alles, was sich aus Band,
Flor, Seide und Federn aufbauen läßt, zur Schau dargelegt.
Eine Anzahl junger Mädchen sitzen um sie herum, und stecken
und nähen die künstlichen Gebäude zusammen. Ein viertes ist mit
den feinsten Tüchern, seidenen Zeuehcn und Stickereien bepackt.
Daneben ist ein anderes mit Stahlwaaren, die hinter Spiegel-
scheiben schimmern. Weiterhin wird man von den Wohlgerüchen
eines anderen Gewölbes angezogen, in dem man wohlriechende
Handschuhe, Essenzen, Zahnpulver, Waschseife, Näucherpulver
und alles andere, was sonst wohl riecht, kaufen kann. Jetzt lockt
uns ein geschmackvoll verziertes Kaffeehaus an. Auf einem erhö-
heten Sitze thront die Wirthin, höchst nett und zierlich gekleidet.
Sie übersieht und leitet das Ganze, nimmt jede Bestellung an,
ertheilt ihre Befehle, und hat doch noch Zeit und Aufmerksamkeit
genug, die vielen ihr gesagten Artigkeiten zu hören und zu erwie-
dern. Jetzt stehen wir vor dem Gewölbe eines Confituriers, der
alle Sorten Zuckerwerk, Eis, eingemachte Früchte und süße Ge-
tränke zur Auswahl bereit hält. Daneben hat ein Meublehändler
die kostbarsten und verschiedenartigsten Hausgeräthschaften von den
schönsten Hölzern feil. Daran stößt daö Gewölbe eines Stiefel-
wrchsers. Dem Eintretenden wird ein weiches Sopha angewiesen,
und während er hier sanft ruht, und sich an den rings an den
Wänden hängenden großen Spiegeln mehr wie ein Mal erblicken
kann, machen ihm mehrere geschäftige Diener die Stiefeln so
blank, daß sie selbst einem Spiegel gleichen. Eine Dame verlangt
neue Schuhe; man weist sie in das Gewölbe eines Schuhma-
chers, der die verschiedenartigsten Schuhe zur Auswahl stehen hat;
aber die Dame will neue Schuhe; sogleich wird ihr ein Polster-
stuhl angewiesen; sie setzt sich, und ein zierliches Mädchen nimmt
ihr Maaß; in einer Stunde kann sie die fertigen Schuhe schon
anziehen. Aber wie würden wir fertig, wenn wir alle die ver-
DaS Königreich Frankreich.
171
schiedenen Gewölbe durchmustern wollten, es sey genügt zu wissen,
daß man hier alles zu kaufen findet, worauf nur der Eigensinn
verfallen kann. — In dem ersten Stockwerk über diesen Gewöl-
ben finden wir große Säle und Gemächer zum Nutzen und Ver-
gnügen: Sammlungen von Gemälden, Möbelmagazine, Vorräthe
von Porzellan, goldenem und silbernem Geschirre, Uhren, Säle
für Leelüre, Billards, Zimmer für Schachspieler, und andere An-
stalten zum Vergnügen und zur Erholung; nur muß man einen
vollen Geldbeutel haben, weil alles kostbarer ist, als wenn man
eS an einem andern Orte haben wollte. Höchst merkwürdig find
die Nestaurationen, wo man zu jeder Tageszeit zu essen bekom-
men kann. Für jeden beliebigen Preis, für einen Franc und für
3 Louisd'or, wie man will. Die Küche ist im Kellergeschoß; un-
aufhörlich schreien die Aufwärter in die Küche hinab, was die
angekommenen Gäste bestellen, und augenblicklich wird es gebracht,
ohne daß eine Verwirrung entsteht. „Garçon!“ schreit Einer
hier; „Garçon!“ schreit Einer da; oft rufen Mehrere auf ein-
mal, und doch überhören die Aufwärter Keinen. „Oni, Mon-
ßieur! A l’instant Monsieur!“ ist die Antwort, ohne die Ge-
duld zu verlieren, und so fliegen die gewandten Burschen den gan-
zen Tag von einem Tische zum andern. Die Kaffeehäuser, deren
eS hier mehrere giebt, find beständig voll müsfiger Menschen. In-
wendig ist alles äußerst geschmackvoll eingerichtet, die Tische von
Marmor, die Wände mit großen Spiegeln bedeckt, und vor den
Säulengängen bis weit in den Garten hinein stehen, im Som-
mer oft unter Zelten, unzählige Tische und Stühle, die von 9
Uhr Vormittags bis 4 Uhr Nachmittags, und Abends von 8 —
11 Uhr ganz besetzt sind. Damen gehen in daS Innere nicht,
wohl aber sitzen sie auswendig, und verzehren ihren Kaffee, oder
ihr Eis und ihre Limonade. Damit sind aber die Herrlichkeiten
des Palais royal nicht zu Ende; eine Menge von Sehenswürdig-
keiten wird hier noch gezeigt. Hier sind Niesen, dort Zwerge,
Marionettenspieler, Natur - und Kunstseltenheiten, Taschenspieler
und wer weiß was alles zu sehen. Dieser Vergnügungsort wird
von den Parisern und noch mehr von den zahlreichen Fremden
von Morgens 9 Uhr bis Nachts um 12 besucht, aber nicht im-
mer gleich zahlreich. Morgens 7 Uhr trifft man, außer den da
wohnenden Leuten, noch niemand an; die Gewölbe sind noch ge-
schlossen, die Auswärter noch beim Anziehen oder beim Reinigest
der Speise- und Kaffeehäuser. Nach 8 Uhr öffnen sich die Ge-
wölbe nach und nach; ihre Inhaber legen ihre Waaren aus; in
den Kaffeehäusern wird Feuer gemacht; um 9^ ist alles bereit.
Es erscheinen einzelne alte Herren, noch im halben Neglige, um
sich mit Kaffee oder Choeolade zu erquicken. Nach 9 Uhr fangen
die Kaffeehäuser an sich zu füllen, der Garten wird lebendig, die
Stühle und Bänke werden besetzt; auch Damen erscheinen bereits.
172
Das Königreich Frankreich.
und nehmen ihr Frühstück ein. Ucberall stehen zwar steinerne Danke
umher; auch sind unzählige Stühle vor den Kaffeehäusern, da
aber diese nicht hinreichen, so haben Leute, die davon leben, Hun-
derte von Stühlen zum Vermiethen bei der Hand. Von 2 — 4
Uhr ist die Promenade sehr lebhaft und zugleich sehr vornehm.
Um diese Zeit kommen Leute aus den höchsten Standen hierher,
und vor dem Palais stehen die schönsten Equipagen gedrängt.
Von 4 bis 7 Uhr ist der Garten ziemlich leer, weil dies die ge-
wöhnliche Essenszeit ist. Aber nach dieser Zeit füllen sich zuerst
die Kaffeehäuser und dann auch die übrigen Räume; der Zudrang
ist dann sehr groß und lärmender als zuvor, bis sich die Theater
öffnen, die einen Theil davon bei sich aufnehmen, doch bleibt cs
bis 11, 12 Uhr immer noch voller als Vormittags. Abends ge-
währt die Erleuchtung einen prachtvollen Anblick. Außer den 82
großen Doppellampen, die unter den Säulengängen hängen, schim-
mern aus den Gewölben heraus eine Unzahl von Kronleuchtern,
Lampen und Wachslichtern, welche die Nacht zum hellsten Tage
machen. Nach dem Theater erreicht das Gedränge den höchsten
Grad, bis um 12 Uhr nur noch Einzelne gesehen werden. Auf
ein zweimaliges Pfeifen werden die Gitterthore geschloffen.
Gehen wir vom Palais royal südöstlich, mit der Seine
ziemlich parallel, so kommen wir nach dem Greve-Platz, wel-
cher der Eite, und zwar dem Hotel Die» ziemlich gegenüber liegt.
Hier steht das ziemlich alte Rathhaus, das in der Revolution so
oft der Schauplatz der heftigsten und blutigsten Scenen war. Vor
ihm stehen die berüchtigten Laternenpfähle, an denen in der Revo-
lution so manche vom wildempörten Volke aufgehängt wurden.
Hier wurden die 60 Schweizer, die sich bei der Erstürmung der
Tuilerien ergeben hatten, abgeschlachtet*); hier stand die Guillo-
tine, unter der Tausende von Schuldigen und Unschuldigen blute-
ten **). Im Rathhause sehen wir das Zimmer, wo der schreck-
liche Robespierre verhaftet wurde, und sich durch einen Pistolen-
schuß vom Leben zum Tode bringen wollte ***). Auch wurde der
Mörder Heinrichs IV., Ravaillac, auf dem Grcveplatze zu Tode
gemartert ff).
Vom Greveplatze wenden wir uns in nördlicher Richtung
nach den Boulevards. Dicht neben diesen finden wir ein gro-
ßes alrerlhümliches Gebäude mit mehreren Thürmen. Es ist der
berüchtigte Tempel, ehemals ein Schloß der unglücklichen Tem-
pelherren ft), dann das Gefängniß Ludwigs XVI., seit seiner Ab-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg.,
Th. 3., S. 330.
**) Ebend. S. 352.
***) Ebend. S. 373.
f) Ebend. S. 117.
ff) Ebend. Th. 2., S. 103 u. 104.
Das Königreich Frankreich.
173
setzung biS zu seiner Hinrichtung 1793 *). Das kleine Zimmer,
in welchem er gefangen saß, hat man nachmals zu einer Capelle
eingerichtet.
Wir gehen nun nach dem Stadttheile über, der südlich von
der Seine liegt, und l'Université heißt. Der westliche Theil
dieses Stadttheils, von dem Pontneuf an nach Westen, heißt
Fauxbourg St. Germain. Wir gehen hinüber auf einer der schö-
nen Drücken, die über die Seine geschlagen, und entweder von
Quadersteinen oder auch wohl von Eisen sind. Den Pontneuf
kennen wir schon. Nach Westen zu finden wir ihr zunächst den
Pont des arts (Kunstbrücke). Sie ist dem Louvre gegenüber,
von Eisen, nur für Fußgänger bestimmt, und im Sommer mit
köstlicher Orangerie und andern Blumen besetzt. Außerdem sitzt
hier immer eine Menge von Weibern, die mit Blumen handeln,
so daß man hier die lieblichsten Wohlgerüche zu finden gewiß ist.
Dann kommt zunächst die Brücke der Tuilerien, dem Schlosse
gegenüber; ferner die Brücke Ludwigs XVI. Sie ist dem
Platze Ludwigs XV. gegenüber, und gehört zu den schönsten. Die
westlichste, ganz am Ende von Paris, ist die Brücke von Je-
na, die Napoleon aus Eisen ausführen ließ. Alle diese Brücken
führen nach ber Fanxbonrg' St. Germain. Die östlichste aber ist
die Drücke von Austerlitz, auch von Eisen, und nur für
Fußgänger bestimmt, daher auch mit Blumen geschmückt.
Auch in diesem südlichen Stadttheil sind längs der Seine
eben so schöne Kai's als in dem nördlichen. Gleich, wenn wir
über den Pont des arts kommen, stehen wir vor einem Prachtge-
bände, dem Pallast Bourbon (nicht zu verwechseln mit Elisée
Bourbon), in welchem die Dcputirtcnkammer ihre Sitzungen hält.
Eine breite Treppe führt nach einer Vorhalle von korinthischen
Säulen, durch die man erst ins Gebäude selbst eintritt. In dem
großen Versammlungssaal erheben sich die in die Runde laufenden
Sitzreihen wie bei einem Amphitheater. Gehen wir gerade nach
Süden, so erblicken wir ein noch größeres Prachtgebäude, den
Pallast Luxembourg, von Maria von Medieis, Heinrichs IV.
Gemahlin, erbaut. Hier ist der Versammlungssaal der Pairskammer.
Hinter dem Pallast ist der schöne Garten, der dem Publicum zum
Beluche offen steht. Hier wurde 181-5 der Marschall Nep auf
Befehl des Königs wegen seiner Verrätherei erschossen.
Von diesem Pallast ein wenig östlich, gerade südlich von dev
Notredamekirche in der Cité, steht das Pantheon, eine herr-
liche, große Kirche mit einem hohen Dom, der uns an die Pe-
terskirche in Nom erinnert. In der Revolution, als man allem
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.
Th. 3., S.350.
174
DaS Königreich Frankreich.
Gottesdienst den Krieg ankündigte, und alle Kirchen schloß, wurde
diese Kirche zu einem Denkmal für die großen Männer des Va-
terlandcs geweiht, und ihr der Name Pantheon gegeben, da sie
früher der heiligen Genoveva geweiht gewesen war. Unter den
Särgen der hier liegenden Männer suchen wir besonders die auf,
welche die Gebeine des Dichters Voltaire *) und des Philoso-
phen Rousseau **) enthalten.
Wenn wir vom Pantheon weiter östlich gehen, und so wie/
der an die Seine gelangen, so finden wir da, wo sie in die Stadt
tritt, der Brücke von Austerlitz gegenüber, den botanischen oder
P flanzeng arten (jardín des plantes), der also am östlichsten
Ende von Paris liegt, und eineg sehr anmuthigen Spatziergang
darbietet, wenn man nicht vorzieht, das Gewühl im Tuileriengar-
ken anzusehen. Wir treten durch ein stattliches Gittcrlhor in die
Hauptallee, die mitten durch den Garten führt bis an das Ende,
wo das Museum der Naturgeschichte anfängt. Eine Menge
Gange durchkreuzt den Garten in allen Richtungen; überall sieht
plan köstliche ausländische Blumen, Stauden und Bäume, neben
Lenen eine kleine Dafel dem Unkundigen den Namen angiebt;
und wie viele enthalten nicht die großen Gewächs, und Treibhäu-
ser! Immer findet man hier Spatzicrgänger, aber nicht so viele,
als in den andern öffentlichen Gärten. An den botanischen Gar-
ten schließt sich die Menagerie an. Hier findet man in be-
sonderen, mit Eisenglttern umzäunten Behältnissen allerhand wilde
und harmlose Thiere fremder Zonen: Elephanten, Giraffen, Bä,
ren, Tiger, Löwen, Leoparde, Panther, Affen und unzählige
andere ***), die hier viel kräftiger und natürlicher sind, weil sie
sich in den freien großen Behältnissen besser bewegen können, als
in den engen Behältnissen, in denen man sie in den umherziehen-
den Menagerien sieht. Wie unerschöpflich ist nun erst das Mu-
seum der Naturgeschichte! Welcher Reichthum an allen
Naturmerkwürdigkeiten aus allen Neichen und Erdtheilen! Am
Merkwürdigsten sind besonders zwei Abtheilungen desselben: die
Sammlung von Skeletten solcher Thiere, die nur einer unbekann-
ten Vorwelt angehören, und die man tief in der Erde gefunden
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., <3.278.
**) <3. den ersten Theil, wo wir bei Gelegenheit der Petersinsel im
Bieter-Sec von ihm gesprochen haben.
***) Vor einigen Jahren stand eine Kindcrwärtcrin mit einem Kinde vor
dem Bärenzwinger. Während ftc tritt einer Bekannten schwatzte, drängte
sich das Kind zwischen die Eiscnstäbc, und — siel hinein. IhrAngstge-
schrei rief geschwind einen der Wärter herbei. Ehe sich dieser aber den
eisernen Panzer anlegte, ohne den er sich den wilden Thieren nicht nä-
hern kann, hatte einer der Bären schon das arme Kind zwischen die Ta-
tzen genommen und zerrissen.
Das Königreich Frankreich.
175
hat. Wie staunt man über die ungeheure Große einiger und den
wunderbaren Bau anderer? Ferner die Sammlung ausgestopfter
Thiere. Es ist, als wenn sich von allen Thierarten ein Paar
eingefunden hätte, um noch einmal in die Arche Noah's einzuge-
hen. So vollständig sieht man das Thierreich in seiner unendli-
chcn Mannigfaltigkeit vielleicht nirgends. An zwei Tagen in der
Woche kann Jeder die Sammlungen ansehen, so wie überhaupt alle
öffentlichen Sammlungen in Paris unentgeldlich zu sehen sind, nicht,
wie z. B. in Dresden, erst für schwere Bezahlung.
Nahe beim Pflanzengarten, gleich vor dem nächsten Stadt-
thore, hart an der Seine, liegt die Salpctriere. So heißt
eine sehr wohlthätige Anstalt, die zur Pflege und zur Unterhal-
tung des hülflosen weiblichen Alters bestimmt ist. Es ist nicht
ein Haus, sondern es sind so viele Gebäude, daß sie eine kleine
Stadt ausmachen, denn es wohnen hier 5000, manchmal noch
mehr Menschen. Ein ansehnliches Thor führt in das Inne-
re, das von einer langen Mauer eingeschlossen ist. Von dem
mit Bäumen bepflanzten Vorhof kommt man in einen zweiten,
wo man sich mit großen und kleinen Reihen von Oekonomiege-
bäuden, Magazinen, freundlichen Rasenplätzen und kleinen Gär-
ten umgeben sieht. Auf dem letzten Hofe bilden die Wohnungen
der Wahnsinnigen mehrere niedrige Straßen. Der mittlere Raum
ist mit Bäumen bepflanzt, und ein Springbrunnen ist mit einem
großen Rasenplatze umschlossen. Welche große Leiden umschließen
nicht alle diese Gebäude! Von welchen verschiedenen Seiten zeigt
sich hier nicht das menschliche Elend! Welches Gegenstück gegen
daS frcudcathmende Palais royal! Ein großer Theil jener 5000
muß in den Stuben, Sälen und gefängnißartigen Logen seine
Tage und Nächte hinbringen, während viele andre frei herum ge-
hen, die Obstverkäufer und Trödler umschwärmen, oder die Frem-
den um eine Gabe ansprechen. Alle Frauen, die hier aufgenom-
men werden, müssen hülslos, und entweder alt oder wahnsinnig
seyn. Bei der Menge von Pfleglingen ist hier alles großartig,
z. B. das Magazin der Leibwäsche, der Kleider, die Küchen, in
denen das Fleisch in 5 ungeheuren Kesseln gekocht wird. Selbst
die meisten Wahnsinnigen gehen frei herum, nur die Rasenden
werden in enge Lvgen eingesperrt.
Von diesem östlichsten Theile der Stadt begeben wir uns nach
dem südwestlichsten, dem IHuxliourZ' 8t. Olermuin. Hier kommen
wir auf einen großen, runden, sehr freundlichen Platz, der von
Baumgängen und Rasenplätzen umgeben ist, der Platz Bre-
teuil genannt. Von da haben wir zwei prächtige Gebäude vor
uns: nach Norden das Hotel der Invaliden, und nach Westen
die Militairschule. Das Hotel der Invaliden ist ein gro-
ßer Pallast, mit wahrer Pracht von Ludwig XIV. erbaut. Be-
sonders herrlich ist der Dom der Kirche, der nebst dem Dom des
>î ' » ^
176 Das Königreich Frankreich.
Pantheons als ein Meisterstück betrachtet wird. Fünftausend ver/
dienstvolle, aber durch Alter oder Wunden zum Dienst unfähige
Krieger leben hier bequem und glücklich. Alles ist hier reinlich
und großartig. Der Anblick der vielen in glücklichen Schlachten
erbeuteten Fahnen und anderer Siegeszeichen erfreut ihr Gemüth.
Hinter dem großen Gebäude, das 12 kleinere und l großen Hof
enthält, ist ein langer, weiter Spatziergang, der bis an die Seine
reicht, die Esplanade. Das andere große Prachtgebäude, die Mi/
litairschule, enthält keine Unterrichtsanstalt mehr, sondern ist
eine Kaserne. Hinter ihr befindet sich der größte Platz in Paris,
das Marsfeld, ein ungeheures längliches Viereck, von einem
Graben und mehreren Baumgängcn eingeschlossen. Hier wurde
1790 das große Bürgerfest gefeiert, bei dein der König Ludwig
XVI., alle Beamte, das Heer und das Volk die neue Verfassung
beschworen, und sich ewige Liebe und Eintracht gelobten *).
Nach der vorstehenden Wanderung durch Paris werden
bei einiger Aufmerksamkeit auch die, welche keinen Plan zur
Hand haben, sich eine ungefähre Vorstellung von der Lage
der Stadt machen können. Einige interessante Punkte dersel-
ben wollen wir nun noch einzeln nachholen.
Das Findel haus ist eine der merkwürdigsten Anstalten.
Es liegt in la Ville, beinahe am östlichen Ende der Stadt, nicht
weit vom Pflanzengarten, aber auf der entgegengesetzten Seite der
Seine. Alle hierhin gebrachte Kinder werden ohne Weiteres auf-
genommen. Sobald die Glocke gezogen wird, öffnet sich die Thüre.
Man nimmt das dargebotene Kind in Empfang, ohne nach dem
Namen und den Eltern zu fragen, und nimmt es in Pflege.
Man legt den kleinen Ankömmling gleich in ein reinliches Bett/
chen, um ihn erst zu erwärmen. Dann wird er gereinigt, beklei-
det, sein körperlicher Zustand untersucht, und in ein großes lufti-
ges Zimmer gebracht, in welchem gegen 100 Wiegen bereit ste-
hen. Die Knaben bekommen Mätzchen mit rothem, die Mädchen
mit blauem Bande. ,,Wie harmlos lagen sie da," sagt ein Rei-
sender, der die treffliche Anstalt besuchte; ,, einige freilich Bilder
des Jammers, andere gesund und schön, wahre Engelköpfchen."
Nun sorgt man zunächst für eine Amme. Ist das Kind gesund,
so wird es ihr mit in ihre Wohnung gegeben, und ihr monatlich
ein Kostgeld bezahlt; die Aufsicht führt die Anstalt. Ist das
Kind aber krank oder schwächlich, so wird es in der Anstalt be-
halten, und hier von einer Amme verpflegt. Viele Mütter sind
so gewissenlos, ihr Kind der Anstalt ohne weitere Abzeichen zu
übergeben, so daß Mutter und Kind nie wieder von einander et-
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2teAuög.,
Th. 3., S. 341.
DaS Königreich Frankreich.
177
was erfahren. Es werden jährlich etwa .5000 Kinder aufgenommen,
also im Durchschnitt täglich 14. Wie wohlthätig solche Anstalt
sey, geht daraus hervor, daß gewiß die meisten dieser armen Kin-
der ohne die väterliche Pflege, die sie hier erhalten, körperlich
und moralisch verloren gingen. Auch an andern Wohlthätigkcits«
anstalten ist Paris sehr reich, und wird darin vielleicht nur von
London noch übertroffen. Das Hotel Dieu haben wir oben schon
erwähnt; hier mag noch das treffliche Blindeninstitut und
das für Taubstumme genannt werden.
Daß Paris, das seine Moden und Modeartikel über die
ganze gebildete Erde verbreitet, viele und ausgezeichnete Fabriken
hat, braucht kaum erst gesagt zu werden. Von denen, die für unsere
Leserinnen besonderes Interesse haben, nennen wir zuvörderst die
Galanteriewaaren aller Art, die Gold - und Silberarbeiten,
die wohlriechenden Wasser und Pomaden (bei Laugicr), die fei#
ncn Moutarden (Senf), die Bonbons und anderen Zuckerwaaren,
die Uhren und zierlichen Berloques und unzählige andere Sachen,
die, wie die Pariser und selbst viele Deutsche glauben, nirgends
so schön und geschmackvoll wie hier, gemacht werden. Besonders
besuchen wir auch die berühmteTapetenfabrik der Gobelins. Sie
hat ihren Namen von einem geschickten Färber, der vor länger
als ZOO Jahren lebte. Die Fabrik wird auf Kosten des Königs
betrieben, und macht wohl die vollkommensten Arbeiten der Art,
so daß man beim Anblicke einer solchen Tapete vor einem Ge-
mälde zu stehen glaubt, und es für kaum möglich hält, daß mit
wollenen Fäden auch die feinste Schattirung dargestellt werden
kann. Die Arbeit ist ungemein mühsam; denn der Arbeiter hat
das Oelgemälde, das er darstellen soll, hinter sich stehen, und
muß nun bald hinter sich sehen, bald vor sich blicken, um die
paffenden Fäden auszuwählen. Dies geht natürlich sehr langsam,
und erfordert eine große Geduld; denn oft vergehen Z — 6 Jahre,
che eine Arbeit vollendet wird. Diese großen Werke sind zu
theuer, um von Privatpersonen gekauft zu werden, und werden
vom Könige nur als Geschenke oder zur Ausschmückung von Schlös-
sern oder Kirchen bei feierlichen Gelegenheiten benutzt. Ferner
besuchen wir die große S p i ege l fa b r i k, wo die Spiegel auf
lange Mctallplatten gegoffen, hernach glatt gewalzt, geschliffen
und zuletzt belegt werden. Die größten Spiegel haben eine Höhe
von 10 Fuß und eine Breite von 5, und ein solcher kostet nur
3-500 Rthlr., ein immer sehr mäßiger Preis.
Wenn man über den Pont des arts vom Louvre nach der
Fauxbourg- St. Gennain geht, so steht, wie oben gesagt, gleich
links jenseit der Brücke der Pallast Bourbon, rechts aber, ihm
gegenüber, ein ehemaliges Kloster, les petits Augustins genannt.
Hier finden wir eine höchst merkwürdige Sammlung; es ist das
Museum der französischen Denkmäler. Als nämlich
Nösselts Geographie II. 12
17«
DaS Königreich Frankreich.
in der Revolution die wüthenden Königsfeinde alle Kunstwerke zu
zerstören anfingen; und selbst gegen die Grabgewölbe der Könige
wütheten, suchten einige kunstliebende Männer alles, waS noch
nicht zerstört war, zu retten. So entstand dies Museum. Der
verständige Aufseher hat alles, was einem einzelnen Jahrhunderte
angehörte, besonders aufgestellt. Vorzüglich merkwürdig sind die
ältesten Denkmäler der französischen Könige Da sind selbst noch
die Grabsteine von Merowingern zu sehen. Auf einer großen Stein,
platte sieht man unter andern das rachsüchtige Weib, Frede-
gunde *), eine lange Gestalt, den Scepter in der Hand (gest.
597). Auch die Denkmäler der Carolinger Karl Martell, Pi,
pin und Karlmann sind hier aufgestellt. Hier ruht Hugo Capet;
dort der wilde Karl von Anjou, der Mörder Conradins; da Phi-
lipp der Schöne, der die Tempelherren so grausam verfolgte **).
Noch reicher sind die Denkmäler der späteren Jahrhunderte: Franz
I., Richelieu, Mazarin, Coligny und viele andere liegen vor unS
in Bildsäulen da; die Geschichte Frankreichs ist vor uns wie auf,
geschlagen.
Da wir von den Verstorbenen eben reden, so wollen wir
über die Wohnungen der Todten hier einige Worte sagen. Bei
Begräbnissen werden wenige Umstände gemacht. „Kaunr ist
der letzte Athemzug gethan, so meldet man es Len Unternehmern
der Begräbniste, die ein ganzes Corps von Leichenbesorgern, Pfer-
den und Wagen zur Hand haben. Unverzüglich erscheinen die
grauen Männer mit schwarzen Aufschlägen und Kragen. Der
Todte wird ihnen übergeben, und von dem Augenblick an beküm-
mert sich niemand weiter um ihn. Er wird eingekleidet, einge-
sargt, und, je nachdem mehr oder weniger daran gewendet wer-
den soll, bald von Trägern, bald bei größeren Entfernungen auf
einem mir einem schwarzen Tuch behängten Wagen, ohne Sang
und Klang, oft im schnellen Trabe zur Gruft geschafft. Nach
24 Stunden ist alles abgethan. Häufig wissen die nächsten Nach-
baren, und in großen Häusern nicht einmal die Bewohner, daß
jemand gestorben sey." So herzlos das auch zu seyn scheint, so
ist doch wohl die Schnelligkeit der Beerdigungen bei der großen
Menschenmasse in dein engen Raume der meisten Wohnungen sehr
nöthig. Der berühmteste Begrabnißplatz ist der deö ?cw6 la C'lxai-
se, — so hieß der Beichtvater Ludwigs XIV., — der in der Nähe
dieses Platzes seinen Garten hatte. Der Platz gleicht einem freund-
lichen Garten, reich an schönen und rührenden Denkmälern. Auf
mehreren großen Begräbnißplätzen werden auch wohl, besonders
für Aermere, große Gruben gemacht, in welche man, bis sie ge-
*) S. meine Geschichte der Deutschen für höhere Töchterschulen, Th. 1.,
S. 126 u. folg.
**) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, Th. 2.
Das Königreich Frankreich. 179
füllt sind, Särge auf und neben Särge seht, und dann erst Erde
darauf wirft.
Zu den Wohnungen der Todten gehören auch die Katakom-
ben. Man fand nämlich erst kur; vor der Revolution, daß die
Begräbnisse innerhalb der Stadt in den Kirchen und um diesel/
den für die Lebenden höchst nachtheilig wären; denn die Ausdün-
stungen waren bei dem einen Kirchhofe so arg, daß die umstehen-
den Häuser nach und nach von einer ekelhaften talgartigen Masse
überzogen wurden. Man beschloß daher, künftig außerhalb der
Stadtmauern zu beerdigen, und die vielen bereits in der Erde
liegenden Gebeine in die großen unterirdischen Höhlen zu bringen,
die unter einem großen Theile der Stadt hinlaufen, und ohne
Zweifel ursprünglich Steinbrüche waren, aus denen man sonst die
Bausteine zu Tage förderte. Seitdem heißen diese unterirdischen
Gänge und Gewölbe Katakomben. Anfangs widersetzte sich
die öffentliche Meinung von der Heiligkeit der Grabstätten; end-
lich aber siegte die Vernunft und Nothwendigkeit, und nun wur-
den die Gräber geöffnet, die Gebeine in Beiseyn der Anverwand-
ten mit Schonung gesammelt, und feierlich bei Nacht in die Ka-
takomben gebracht. Der Eingang ist am äußersten Südcnde von
Paris, die ziemlich schmalen Treppen führen in die hohen Ge-
wölbe herab; unten liest man überall, unter welcher Straße und
welchem Hause man sich befindet. ,,Was aber diese Unterwelt
so schauerlich macht, das sind die zahllosen menschlichen Ueberreste.
Sie bilden eine lange Mauer, bald von künstlich zusammengeord-
neten größeren und kleineren Gebeinen, bald von starren, hohl-
äugigen, grinsenden Schädeln, als wollten sic fragen: „was für
Verkehr hat das Leben mit den Todten?" Man kann stunden-
lang umhergehen, und nie enden diese Gcbeinwände. Unerschöpf-
lich sind die Ideen der Anordner gewesen, die Aufstellung so kunst-
voll und symmetrisch als möglich. Auf einer Stelle stößt man
auf eine hohe Vermauerung; sie verbirgt dem Auge, was sie ver-
schließt. ES sind die Opfer der schrecklichen Septembertage (1792) *),
die man zu Hunderten in diese Steinbrüche schleppte, und dann
— gleichviel, ob vornehm oder gering, Bischof oder Klosterbru-
der, Frau oder Jungfrau —, alle durch einander, hinter dieser
Umgebung der Verwesung zum Raube hinwarf. Auch an In-
schriften fehlt es hier nicht. Wenn man auf einer Seite z. B.
liest: „Sie ruhen hier, der seligen Hoffnung harrend," so ruft
die andere aus Dante's Hölle: ,,Entsage, wer hier eintritt, jeder
Hoffnung!" Dem denkenden Besucher dieses Todtenreichs drän-
gen sich von selbst der Betrachtungen so viele auf, daß es. der häu-
*) S. mein Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte für Töchterschulen,
2te Ausg., Th. 3., S. 352.
180
Das Königreich Frankreich.
ssgen Mahnungen an die eigene Sterblichkeit nicht bedarf. Es
sind die Geschlechter auS 7 Jahrhunderten, die einst voll frischer
Lebenslust, oder auch von Noth und Unruhe umhergetrieben, hier
alle zur Ruhe gebracht sind. Wo kann man mehr an das so un-
gleiche Loos des Erdenpilgers erinnert werden? Welche Bahnen
hat jeder Einzelne durchlaufen müssen? Und wie ganz anders wäre
die Bahn eines Jeden gewesen, hätte er in einer andern Periode
gelebt? Keiner konnte die seinige wählen. Einer nur, der über
der Zeit und dem Raume wohnt, hatte bestimmt, wo jeder das
Licht erblicken, „wie lange und weit er wohnen sollte," und wer
mag sagen, er habe die verborgenen Wege des Ewigen erkannt?
Sie verlieren sich spurlos vor dem Auge der Sterblichen!" Mit
welchem Schauder sich auch das Auge von dieser ungeheuren Schär
delstätte abwendet, so spricht doch in unserm Innern eine tröst,
und hoffnungsreiche Stimme :
,, Leben bleibt und Unsterblichkeit,
Ob auch, was Staub ist, vermodert.
Ob die Asche verglimmt, in die Lüste zerstreut,
Die himmlische Flamme doch lodert.
Was denket, was liebet, was forschet, was späht,
Der Gott in dem Menschen nicht untergeht!"
Wir gehen zu etwas Fröhlicherem über, zu den Vergnügungs-
örtern der Pariser. Der besuchteste Kaffcegartcn ist Tivoli,
gerade nördlich von dem Tuilericngarten, jenseit der Boulevards.
Es ist ein großer Garten, in dem inan vielerlei sehen kann. Man
^ahlt am Eingänge 3 Franken (18 Groschen). Dafür hat man
aber nicht allein die schöne Musik, sondern auch Feuerwerke, und
alles übrige, was es da zu sehen giebt. Vorn an sind Blumen-
beete; dann kommt man zu einem großen Gebäude, das große
Säle und Gemächer für die Gäste bei rauhem Wetter oder zu
Bällen und Gastmählern enthält. Vor demselben stehen unzählige
Tische und Stühle zum Gebrauch der Gäste; doch stehen derglei-
chen auch in allen übrigen Theilen des Gartens. Lange Baum-
gänge gehen durch den Garten, und endigen sich in niedliche Luft-
häuser. Hinten ist eine sanfte Anhöhe, wo wieder Lauben, Grot-
ten, Büschchen, artige Häuser, in denen man Erfrischungen ha-
ben kann, mit einander abwechseln. „An den festlichen Tagen,
wo der ganze Garten erleuchtet wird, prächtige Feuerwerke, grö-
ßere und kleinere, geschlossene und freie Tanzpartien, Caroussels,
Schaukeln, Rutschbahnen, Wasserbelustigungcn auf kleinen Tei-
chen angestellt werden, wo Luftspringer, Gaukler und Schatten-
spieler ihr Wesen treiben, ist der Zufluß von Menschen so groß,
daß man die Zahl an einem Abend oft auf 8 —12,000 berechnet
hat. Nur an wenigen Plätzen ist lästiges Gedränge, an andern
ein sehr bequemes Nebeneinandersehn und ungestörte Gelegenheit,
181
Das Königreich Frankreich.
die unglaubliche Mannigfaltigkeit von Menschengestalten, Gesichts-
bildungen und Anzügen zu beobachten, wobei der Fremde reiche
Unterhaltung findet. Ist, wie oft, ein großes Feuerwerk ange-
kündigt, so ist der Zudrang besonders groß, und wirklich die Un-
erschrockenheit, mit welcher der berühmte Seiltänzer Furioso auf
dem gespannten Seile durch ein Flammenmeer hcrabsteigt, zu be-
wundern. Uebrigens herrscht hier, wie überall in Paris, wo ein
einigermaßen gebildetes Publicum zusammenkommt, Ruhe und
Stillschweigen, sobald etwas Merkwürdiges vorgeht, als wäre
man in der feinsten Gesellschaft. Die auf den Rasenplätzen sich
bewegenden Tänze zeichnen sich nicht weniger durch eine edle Haltung,
wie durch die gefälligsten Formen aus. So gemischt auch die Ge-
sellschaft ist, so wird man doch nie durch die geringste Unanständig-
keit oder Zudringlichkeit beleidigt."
Ein ähnlicher Vergnügungsort ist der Garten Frascati,
doch nicht so stark besucht als der vorige. Er liegt ungefähr in
der Mitte der nördlichen Boulevards, und hat zwar nur einen
kleinen Garten, aber ein wahrhaft prachtvolles Kaffeehaus. Hier
findet man die vornehmere Welt, die besonders nach dem Schau-
spiele hierher strömt, um Erfrischungen einzunehmen. Nur wenn
hier doppelte Gartenerleuchtung ist, ein großes Orchester spielt,
und gewöhnlich ein Feuerwerk den Tag beschließt, wird Einlaß
bezahlt.
Die Boulevards, die schon oben erwähnt sind, müssen hier
noch näher beschrieben werden. Sie sind mit mehreren Baumrei-
hen bcpstanzt, und auf beiden Seiten von hohen Gebäuden, theils
Privatwohnungen, theils prächtigen Hotels, allen Arten von Ver-
gnügungsorten, Kaffee- und Gasthäusern, Pavillons und Bä-
dern eingeschlossen. Die mittelste, sehr breite Allee ist für die
Fahrenden und Reitenden, die Seitenalleen für die Fußgänger
bestimmt. Bei großer Hitze werden große durchlöcherte Wasser-
fässer auf - und niedergefahren, um den Staub zu löschen. „Das
Leben und Treiben gleicht hier einem ewig wechselnden Schau-
spiele, und bei einermaßen günstiger Jahreszeit thut man vom
Morgen bis in die Mitternacht keinen Schritt, ohne auf irgend
eine neue Gestalt oder Erscheinung zu stoßen, durch welche das
schaulustige Volk auf tausendfache Weise unterhalten wird. An
die Erfindungen des höchsten Lupus schließen sich die niedrigsten
Erwerbsarten an. Neben dem üppigsten Reichthum schleicht die
bitterste Armuth kümmerlich einher. Während in der Gegend,
wo die großen Gewölbe mit den reichsten Stoffen, mit Silberge-
räth, Bijouterien, und was sonst in den Wohnungen der Großen
zum Bedürfniß geworden ist, angefüllt sind, und die Waaren
um die höchsten Preise verkauft werden, wühlen arme zerlumpte
Weiber in dem Kehricht vor den Häusern, um irgend etwas Ver-
lorenes, Scherben, Papierblätter, Nadeln, oder gar weggewor-
182
Das Königreich Frankreich.
fene Abgänge von Fleisch und Knochen zu finden, und damit
wieder einige Sous oder ein Glas Bier für den Durst zu ge,
winnen. Wollte man alles, was auf diesen stundenlangen Prome-
naden zu sehen, zu hören, zu kaufen, zu genießen ist, nur summarisch
bezeichnen, es würde kein Ende nehmen, und doch vieles verges-
sen werden. Wer vermag auch alles zu übersehen, zumal in den
Stunden, wo sich, was nur irgend von Fuhrwerk in Paris ist,
von den prächtigsten Equipagen bis zu den mit Hunden bespann-
ten Karren herab, in Bewegung gesetzt zu haben scheint, und
das Gedränge so groß ist, daß man in steter Gefahr schwebt,
mit dem Strome fortgezogen zu werden/' Hier stehen einige in
den Bücherladen und vor den großen Ausstellungen kostbarer Ku,
pfcr, Gemälde und Kunstwerke, dort andere vor Len kleinen Bret,
terbudcn der Posten - und Marionettcnspiele, vor den auf Hölzer,
neu Tischen mit großem Pathos vorgetragenen, Räuber- und Mord-
geschichten , oder vor kreischenden Quacksalbern und Wundcrdoeto,
ren. Noch andere eilen nach den verschiedenen Schauspielhäusern,
oder nach den großen Menagerien, während andere die zahllosen
Schauplätze der Affen und Hunde, der sprechenden und schimpfen-
den Papageien, der abgerichteten Canarienvögel, und wer weiß
welche Sehenswürdigkeiten umstehen. Mit Tagesanbruch kommen
die herrlichsten Blumentöpfe auf großen Wagen herbei, und wer-
den höchst geschmackvoll geordnet aufgestellt; die köstlichsten Früchte,
wie sie eben die Jahreszeit liefert, werden zierlich und durch das
wechselnde Farbenspicl höchst malerisch auf einander geschichtet.
Will man sich durch ein Bad stärken, so sind am Ufer der Seine
einladende schwimmende Badeanstalten. Rings um den Bord die-
ser Badcschiffe blühen in Beeten und Vasen Citronen und Pome-
ranzen, und dio gewähltesten Staudengewächse verbreiten die schön,
sten Gerüche aus fernen Klimaten. „Was indesten diese Boule-
vards am meisten belebt, ist der Handel in allen seinen Abstufun-
gen. Schwerlich ist irgend ein Erzeugnis; des Gewerbfleißes ger
denkbar, das nicht entweder in einem prächtig geschmückten Ge-
wölbe die Aufmerksamkeit fesselte, oder dort in einer kleinen Bude
oder auf einem zerbrechlichen Tischchen zu sehen wäre. Sogar
der Rand der Fußwege ist mit leichten Waaren, Porzellan, ir,
denen Gefäßen, spottwohlfeilen Bändern und Tüchern bedeckt.
Noch am späten Abend sieht man oft ein kleines Lämpchen dabei
brennen, als ob cs die Vorübergehenden ansprechen wollte, dem
harrenden Mütterchen einen kleinen Gewinn zu gewähren, bis zu,
letzt mit der Mitternacht Licht und Hoffnung ausgeht. So man,
nigfaltig die hier feilgebotenen Waaren sind, ebenso mannigfaltig
find auch die Mittel, sic an Mann zu bringen. Hier ist es Glanz
und Eleganz, wodurch der Vorübergehende angezogen wird, we,
nigstenö still zu stehen, und wer nur erst still steht und überlegt,
hat auch schon den ersten Schritt gethan, und das freundliche
DaS Königreich Frankreich.
183
Zureden beredter Zungen verfehlt feiten ganz feine Wirkung. 2Cm
meisten aber rechnet der Kleinhändler auf den Reiz der Wohlfcil-
beit, an deren Verkündigung er sich den ganzen Tag heiser schreit.
Wo man geht und steht, hört man das laute Rufen, was alles
zu sehen, zu kaufen, zu gewinnen sey: „à quatre sous! à six
sous! à un sous!"
Daß es in Paris mehrere Schauspielhäuser, und dar-
unter sehr große und prächtige giebt, braucht wohl nicht erst ge-
sagt zu werden. Sie sind von sehr verschiedener Art; auf dein
einen werden mehr große Stücke, auf einem andern Lustspiele,
auf einem dritten Possen, auf einem vierten Opern u. s. w. auf-
geführt. Zn den Lustspielen und Possen sind die Franzosen ganz
in ihrem Elemente, und ungemein gewandt; am reizendsten aber
sind die Ballete, in denen die Tänzer und Tänzerinnen eine
bewunderungswürdige Geschicklichkeit zeigen. Weniger sprechen
uns ruhige Deutsche die Darstellungen der tragischen Rollen an,
die mit einer ungeheuren Heftigkeit und mit übertrieben lebhafter
Deelamation gegeben werden; wir nennen daö widernatürlich, die
Franzosen aber und Italiener finden diese Uebertreibungen schon.
Ehe wir Paris verlassen, haben wir noch der Telegra-
phen zu erwähnen, einer sehr nützlichen Einrichtung, deren Er-
finderin Frankreich ist. Mau fand nämlich in der Revolution bei
der damals herrschenden Ungeduld, daß die durch reitende Boten
abgefertigten Nachrichten vom Kriegsschauplätze viel zu langsam
nach Paris kämen. Da kam ein denkender Kopf auf den Gedan-
ken, eine Zeichenschrift einzuführen, durch die man von Ort zu
Ort kurze Nachrichten von Ereignissen fortpflanzen könnte. Es
wurde also eine Menge von Zeichen von bedeutender Größe ge-
macht, und man errichtete auf Anhöhen Thürme (wenn man de-
ren nicht schon vorfand), so daß man von dem einen die beiden
zunächst stehenden sehen tonnte. Auf jedem wurden Wächter an-
gestellt, die.- einen Vorrath von jenen Zeichen hatten, und mit
Fernröhren versehen waren, um genau zu beobachten, welche Zei-
chen einer der beiden nächsten Thürme aufsteckte. Dieselben wur-
den dann auch aufgesteckt, und von dem nächsten Thurme der an-
dern Seite gleichfalls nachgeahmt. Ein Beispiel wird das deut-
licher machen. Zn Calais kommt zur See die Nachricht an, daß
der König von England gestorben sey. Geschwind steckt der Auf-
seher des dortigen Telegraphen das Zeichen auf, das den Tod be-
zeichnet, und dann das Zeichen des Königs von England. Der
eine Stunde davon entfernte Telegraph thut dasselbe, ohne zu
wissen, was die Zeichen bedeuten; der folgende macht es eben so,
und binnen 3 Minuten ist die Nachricht schon in Paris. Von
Straßburg bis Paris gehen die Nachrichten nur 6, und von Lyon
bis Paris nur 8 Minuten. Zn Paris ist nun der Haupttele-
graph auf dem Berge Montmartre. Einer der Aufseher sitzt im-
/
184 Das Königreich Frankreich.
wer zwischen zwei Fernrohren, um gleich zu bemerken, wenn tu
ner der nächsten Telegraphen ein Zeichen aufsteckt, und der andere
regiert die Maschine. Solcher telegraphischen Linien gehen meh-
rere durch Frankreich, so daß man in Paris merkwürdige Ereig-
nisse gleich erfahren kann. Doch können durch den Telegraphen
begreiflicherweise keine umständlichen Berichte, sondern nur kurze
Nachrichten gegeben werden.
Zum Schluffe stehe hier noch das Urtheil eines berühmten
Reisenden (Niemeyers) über das Leben in Paris: „Schon die
unendlich mannigfaltigen Bedürfnisse machen es nothwendig, daß
der Verkehr auf den Straßen mit dem Anbruch des Tages begin-
nen und die nächtliche Ruhe sich auf wenige Stunden beschrän-
ken muß. Diese Ruhe tritt auch in den bewohnteren und volkrei-
cheren Theilen der Stadt kaum vor Mitternacht ein; doch verliert
sich das stärkere Gewühl, die Gegenden der Schauspiele ausge-
nommen, oft schon früher, so daß ich, wenn ich von einem spa-
ten Bestich, von der Weite des Weges erschöpft, um 11 Uhr in
einem noch offenen Laden Erfrischungen suchte, mich oft mit der
Inhaberin allein fand, und manche Klagen über die schlechten Zei-
ten anhören mußte. Wir wohnten zwar in einer stillen und en-
gen Straße dos bons enfans, aber nicht sehr entfernt vom Lou-
vre, an welchem damals gerade so stark gebaut wurde, daß das
Herbeifahren der Steine, daS Schreien der Fuhrleute, das mir-
aufhörliche Knallen der Peitschen, das Zersägen der Marmorblöcke
schon in den frühesten Morgenstunden sehr störend ward. Fast
mehr noch haben wir eine alte heisere Ausruferin verwünscht, die
an der Ecke der Straße vor dem Eingang des uns ganz nahen
Palais royal Posto gefaßt hatte, und mit heiser-kreischender
Stimme, in den widrigsten Nasenlauten, alle mögliche Neuig-
keiten ausrief, und gewöhnlich mit einem schmetternden: par or-
dre de Sa Majesté endigte. Wirklich thaten alle Hammerschläge
der Steinhauer, alles Rollen der Wagen und Karren, dem Ohre
nicht so weh, als dieses Geschrei. Mit der fünften oder sechsten
Morgenstunde begann auf allen Plätzen und an allen Straßen-
ecken der große und der kleine Markt. Am freundlichsten erschien
er mir, wo die während der Nad)t herbeigefahrencn und getra-
genen Blumen und Früchte in pyramidalischer Anordnung Reich-
thum, Schönheit und Geschmack vereinigen. Wenn an andern
Stellen die hohen Gerüste mit 10 und 20 Stufen, auf welchen
das nackte Federvieh reinlich aufgethürmt ist, weniger Anziehendes
hatten, so waren sie doch die sprechendsten Symbole der kaum zu
berechnenden Consumtion, namentlich deS Geflügels *). Müh-
*) Nach der neuesten Angabe werden jährlich in Paris verzehrt:
549,000 Puter, 251,000 Kapaunen, 2,289,000 junge Hühner, 901,000
Tauben u. s. w.
Das Königreich Frankreich.
185
sam drängt man sich in gewissen Stunden durch die im>ner wach-
senden, ab - und zuströmenden Volksmassen. Man findet eö bei
der Unzahl von Gaunern und Müßiggängern rathsam, seine Ta-
schen in Acht zu nebmcn, da Stehlen und Ueberlisten zu einem
förmlichen Handwerk geworden ist. Noch einen Blick habe ich
auf den Sitz der Po iss arden (Fischweiber) und der übrigen
Damen der Halle (Fisch - und Trödelweiber), Len berüchtigt
ten Markt des Inno cents, zu werfen." Er ist etwas öst-
lich vom Palais royal, also mitten in der Stadt. „Die Sei-
ten dieses Marktes umgeben die Hallen der Kleider - und anderer
Trödler. Die Mitte ist vom frühsten Morgen an mit Garten-
früchten, Obst und Gemüse, ein Theil mit den unter großen Re-
genschirmen von Wachstuch sitzenden, zum Theil kolossalen Gestal-
ten jener Fischweiber angefüllt. Vielleicht giebt es keinen Theil
von Paris, wo dichtere Menschcnmasscn bei Tag und Nacht
zusammentreffen. Es macht hier besonders das rege Leben Der
nützlich arbeitenden Klasse, daß man hier, wo viele Werkstätten
an den Straßen hinter den hohen Fenstern liegen, ungleich mehr
als bei unS gewahr wird, einen angenehmen Eindruck."
„Woran man sich vielleicht am ersten gewöhnt, ohne es an-
fangs kaum für möglich zu halten, ist das lärmende Geräusch,
von dem man unaufhörlich umgeben ist. Ist es gar ein Regen-
tag, so ist von den unzähligen Fiacres *), die auf allen großen
Plätzen stehen, nicht einer zu haben, wiewohl man, wie uns selbst
einmal begegnete, Gefahr läuft, wieder ausstcigen zu müssen, wenn
das eine oder das andere schon athemlose Pferd ohnmächtig vor
dem Wagen niederfällt. Die StaatSearossen, die Postwagen, die
Karren aller Art, die schwerfälligen Tombereaus, welche den Un-
rath von den Straßen schaffen, durchkreuzen sich unaufhörlich.
Das Ausrufen der Kleinhändler, der Savoyarden, der Wasser-
träger und Wasserverkäufer — denn leider muß man das oft eben
nicht erquickliche Wasser, wenigstens in manchen Gegenden der
Stadt, kaufen — alles dies Geräusch und Gewühl endet nicht.
Und doch gewöhnt sich Las Ohr bald daran, wie der Müller an
das Geklapper der Mühlräder oder an das Rauschen des Was-
serfalls. Bewunderungswürdig ist die Gefügigkeit des pariser
Volks, sich durch das Gewühl von Pferden und Menschen durch-
zuzwingen. Oft ward ein Haufen von Fußgängern, ehe man es
sich versah, von Wagen, die sich in einer engen Straße entgegen-
kamen, um und um eingeschlossen. Dicht daneben ächzten hier
Lastträger unter ihrer Bürde; dort drehten sich Obst- und Blu-
*) Beiläufig gesagt, Paris ist der Geburtsort der Fiacres. Der erste
Fuhrmann nämlich, der solche Miethkutschcn auf öffentlichen Platzen un-
terhielt, wohnte in einem ehemaligen Kloster des heiligen Fiacre. Da-
her nannte man seine Wagen Fiacres.
186
DaS Königreich Frankreich.
menweiber, große Körbe vor sich hertragend, in die Runde; hier
Polizeisoldaten mit ihrem Gewehr; dort Aufwärter auö den Kaffee-
häusern mit Kannen und Taffen auf großen Tellern; dort Lahme
auf Krücken, hier Blinde mit ihrem Führer. Hohe zweirädrige
Whiski's und unbehülfliche Karren vermehrten das Gedränge, und
dennoch löste sich alles ohne Unfall und Verletzung auf. Man
drängte nicht, man schalt nicht, man stieß nicht. Zeder ließ sich
Zeit, und dachte verständig darauf, wie er durchkommen könnte,
ohne den andern zu verletzen."
Machen wir nun einige Ausflüge in die Umgegend von Pa/
riö, so finden wir hier viele intercffante Orte. Der nächste Spa-
tzierort für die, welche sich entschließen, sich bis vor die Thore
zu bewegen, ist das Gehölz von Boulogne, gleich westlich
von Paris, ein schöner, mit vielen geraden und krummen, brei-
ten und schmalen Alleen durchkreuzter, an Rasenplätzen reicher
Wald.
Auf der Ostscitc liegt ein ähnliches Gehölz, das Bois de
V in een n es, hinter welchem das Schloß gleiches Namens liegt,
wo der unglückliche Herzog von Enghien 1804 auf Befehl Na-
poleons erschossen wurde *).
Nach Norden liegt in einer Entfernung von einer Stunde
die berühmte Abtei St. Denys, in deren ehrwürdiger Kirche
die Könige von Frankreich aus den Familien der Merowinger, Ca-
rolinger und Capetinger begraben lagen. Die alten Särge stan-
den in den unterirdischen Gewölben unter der Kirche, diese aber
war besonders durch ihre alten gemalten Glasfenster merkwürdig.
Tag und Nacht ertönten hier ohne Unterbrechung die Seelmeffen
für die verstorbenen Könige. So war eö bis zum Oec. 1793.
Da raunte wenige Tage nach der Hinrichtung der Königin Marie
Antoinette ein wüthender Volkshaufen von Paris nach St. De-
nps, um an die Grabstätten der gekrönten Häupter die Hände zu
legen. Sie brachen alle Särge auf, warfen die Gebeine der Kö-
nige in zwei große Gruben, nahmen das Blei der Särge mit,
um Kugeln daraus zu gießen, zertrümmerten die schönen gemalten
Fenster, die Thüren, die Bildniffe der Heiligen, und stürzten die
Altäre um. Napoleon stellte die Kirche und die Grabgewölbe
wieder her; die zerstörten Alterthümer konnte er freilich nicht wie-
der herbeischaffen, und richtete für sein Kaiserhaus eine prächtige
Gruft ein. Aber — so eitel sind die Pläne selbst der mächtig-
sten Menschen! — es war ihm nicht bestimmt, dort begraben zu
werden. Er mußte nach der entfernten Insel St. Helena wan-
dern, während die BourbonS den Thron wieder bestiegen, die
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te AuSg>,
Th. 3., S 397.
Das Königreich Frankreich.
187
neue Gruft für sich bestimmten, die Gebeine ihrer Vorfahren auS
jenen Gruben hcrausgraben, und sie unter einem prächtigen Denk-
male beisetzen ließen.
Westlich von Paris liegt, nicht sehr entfernt vom Thore,
St. Cloud, ein Dorf mit einem Lustschlossc, in dem sich
Napoleon am liebsten aufzuhalten pflegte. Es liegt auf einer An-
Höhe, und gewährt daher eine weite Aussicht über Paris und die
Umgegend. Hinter ihm ist ein herrlicher Park, der Sonntags
besonders sehr belebt von Parisern ist. Nicht weit davon liegt
Malmaison, auch ein Lustschloß, das Joscphinen, der er-
sten Frau Napoleons gehörte. Sie hatte es sich ganz nach ihrem
Geschmacke höchst anmuthig eingerichtet, und verlebte hier die
glücklichsten Stunden mit ihrem Gatten, der sich dahin zurückzog,
wenn er einmal ungestört seyn wollte. Als er sich von ihr ge-
schieden hatte, brachte sie hier die letzten einsamen Jahre ihres
Lebens zu, in Beschäftigungen mit der Pflege seltener Pflanzen,
die sie sehr liebte, und im Wohlthun, bis sie 1814 starb.
Wenn man von Paris nach Versailles fahren will, so
wendet man sich nach Südwesten. Die herrliche Allee führt
durch mehrere schon gebaute Dörfer, unter andern durch Se-
vres, wo die berühmte Porzcllanfabrik ist, aus der die vie-
len schönen Tassen kommen, die wir in unfern Porzellanhand-
lungen finden; doch giebt es ähnliche Fabriken auch in Paris.
Versailles ist eine wcitläuftig, sehr schön gebaute, aber
jetzt sehr öde Stadt, seitdem der Hof nicht mehr hier wohnt.
Ludwig XIV. machte sie zu seiner Residenz, wendete viele Millio-
nen auf den Bau des ungeheuren Prachtschlosscs und des großen
Gartens und Parks hinter demselben, und nach ihm wohnten hier
auch seine beiden Nachfolger, Ludwig XV. und XVI. Wenn
man die langen, schnurgeraden und zum Theil mit Bäumen be-
pflanzten Straßen durchgangen ist, kommt man auf den großen
Schloßplatz, und steht staunend dem mächtigen Gebäude gegen-
über. Seine schönste Seite kehrt das Schloß dem dahinter lie-
genden kleinen Park zu. Klein ist dieser Park zwar nicht; aber
er heißt so, im Vergleich mit denn großen Park, von dem er nur
ein Theil ist, und der einen solchen Umfang hat, chaß er mehrere
Dörfer und Schlösser in sich faßt. Der kleine Park ist zum Theil
im altfranzösischem Geschmack angelegt, mit langen, breiten, schnur-
geraden Baumgängen und künstlich beschnittenen Bäumen, zum
Theil ixn englischen. Das Schloß ist jetzt öde und leer; doch sieht
man noch überall Verschwendungen an Gold und Marmor. Nur
hier und da steht noch ein vergessenes Prachtstück, und predigt
laut die Vergänglichkeit aller menschlichen Größe. Zn dem großen
Garten liegen die Schlösser G r o ß - T r i a n o n und Klein-
Trianon. Zeues ist ixn morgenländischen, dieses ixn römischen
188
DaS Königreich Frankreich.
Geschmacke aufgeführt. In Klein, Trianon lassen wir uns daS
Fenster zeigen, das Veranlassung zu dem Kriege Ludwigs XIV.
gab, in welchem 1689 die Pfalz am Rhein so greulich verwüstet
wurde*). In diesem Schlosse verweilte die nachher so unglückliche
Maria Antoinette am liebsten. Ferner befindet sich im großen
Park das Dorf St. Cyr, wo die Maintenon sich oft aufhielt
und starb, und wo sie die Erziehungsanstalt für arme FräuleinS
anlegte **). Seit der Revolution ist die Anstalt aufgehoben.
Vierzehn Stunden südlich von Paris ist
Fontainebleau, mitten in einem großen Walde. König
Franz I. baute das Lust, und Jagdschloß, und daraus entstand
nach und nach die dabei liegende Stadt. Hier endete Napoleon
seine Negierung, indem er 1814 seine Abdankung unterschrieb ***).
Von Paris nordöstlich ist
S vissons, jetzt nicht sehr bedeutend, einst aber die Resi-
denz merowingischer Könige. Hier war cs auch, wo der schwache
Ludwig der Fromme Kirchcnbuße thun mußtet)- Reisen wir von
Paris nördlich, so kommen wir nach
Compiegne, wo die Jungfrau von Orleans das Unglück
hatte, in die Gefangenschaft der Engländer zu fallen chch). Zwi,
schen Paris und diesem Orte liegt das reizende und prächtige
Schloß
Chantilly, die Residenz des Herzogs von Condö, aus ei,
ncr Seitenlinie des französischen Könighauscs. Nicht weit da-
von ist
Ermenonville, ein Dorf, wohin sich der menschenscheue
Rousseau, von dem wir schon mehrmals gesprochen haben, am
Abend seines Lebens zurückzog, um fern von der ihm verhaßten
Welt ruhig sterben zu können. Hier starb er auch 1778, und
seine Gebeine wurden in der Revolution nach Paris ins Pantheon
gebracht.
15. Champagne
liegt gleich östlich von Jsle de France, und ist ein fast durch-
aus fiachcs Land, nur hier und da von Kreidehügeln durch-
zogen. Ueberhaupt ist der Boden meist thonig und kreidig,
und daher beim Regen kaum fortzukommen. Hier wachst
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th- 3., S- 212. Besonders aber meine Geschichte der Deutschen für hö-
here Töchtcrsch., Th. 2., S. 275.
**) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg
Th. 3., S. 219.
***) Ebend. S. 420.
ch) Ebend. Th. 2., S. 37.
ff) Ebend. Th. 2., S. 169.
DaS Königreich Frankreich.
189
der berühmte Champagnerwein, der ja auch bei uns oft ge-
trunken wird. Zuerst besuchen wir die am nördlichsten lie-
gende Stadt
Nheims, alt, aber gut gebaut. Ihre Hauptzierde ist die
alte ehrwürdige Kathedrale, in welcher die Könige von Frankreich
seit Chlodwigs Zeiten gesalbt werden. Dazu wurde sonst ein we-
nig Oel aus der heiligen Flasche genommen, welche bei der Taufe
Chlodwigs (ums Jahr 500) eine weiße Taube vom Himmel ge-
bracht haben sollte; aber in der Revolution wurde sie zerschla-
gen *). Wer sollte sich nicht auch bei dieser Domkirche der Jung-
frau von Orleans erinnern, die den König Karl VII. nach Nheims
führte, und bei dessen Krönung neben ihm mit ihrer Fahne vor
dem Altar stand **). Südlich von Nheims liegt
Epernay am Flusse Marne, einem Seitenflusse der Seine.
Die Stadt ist an sich unbedeutend; aber sie treibt den stärksten
Handel mit Champagner. Kommt man in die Keller der hiesigen
Weinhändler, so sieht man Keller an Keller weithin unter der Erde
fortlaufen, deren Wände mit Nepositorien bedeckt sind, auf denen
eine Flasche an der andern gereiht ist. Unter jeder Reihe sind
Rinnen angebracht, damit der Wein, der etwa zerspringenden
Flaschen nicht verloren gehe. Oestlich von Epernay kommen wir^
den Fluß aufwärts gehend, nach der Stadt
ChalonS für Marne (denn es giebt noch ein Chalons,
an der Saone), eine altmodische Stadt, mit krummen und engen
Gassen; aber sie ist merkwürdig, weil hier Attila, der Hunnenkö-
nig, die große Schlacht Len Römern und andern Völkern lieferte
451 ***). Gehen wir noch südlicher, so kommen wir nach dem
Flusse Aube, der auch der Seine zufließt. An ihm finden wir
zwei Städtchen, bei Lenen 1813 Schlachten zwischen den Ver-
bündeten und Napoleon vorfielen:
Bri enne östlich, und
Arcis für Aube westlich ch).
16. Lyon ois
licgt tim die Flusse Rhone und Saone herum, und ist von
niedrigen Bergreihen durchzogen. Hier ist die grotze Stadt
17 ' mC*nC ^lchichte dcr Deutsche» sur Tochterschulen, Th. 1.,
**) S. mein Lehrb. dcr Weltgeschichte sur Tochterschulen, 2tc Ausg.,
Th. 2., S. 168.
***) Ebend. Th. 1., S. 335.
-f) Ebend. Th. 3., S. 419.
190
DaS Königreich Frankreich.
Lyon, nach Paris die größte in Frankreich, mit etwa 150,000
Einwohnern. Sie ist eine der häßlichsten, aber auch der schön-
sten Städte, se nachdem man den einen oder den andern Theil
betrachtet. Sie liegt da, wo die Saone (spr. Sohne) in die
Rhone fließt. Die Saone trennt die beiden Stadttheile. Der
Theil, der auf dem rechten Ufer liegt, ist alt und häßlich; der
andere, auf dem linken Ufer, also auf der Landzunge zwischen
der Saone und Rhone, sehr schön gebaut. Noch ein kleiner
dritter Theil ist auf der linken Seite der Rhone, also dem vori-
gen gegenüber. Herrlich sind dic Kai's, die am Ufer beider Strö-
me hinlaufen, sie bilden den schönsten und volkreichsten Theil der
Stadt, und sind mit Baumrcihen besetzt. „Die Straßen mitten
in der Stadt sind fast alle sehr enge, schmal, winklig und krumm ;
doch sieht man in ihnen viele schöne, oft 7— 8 Stockwerk hohe
Häuser; auch giebt es hier mehrere freie Plätze, zum Theil mit
ansehnlichen Bäumen umgeben?" Der schönste Platz ist der Bel-
let our, ein Lieblingsspatziergang der Einwohner, weil er mit
Baumreihen bepflanzt ist. Lyon hatte sich 1798 den Befehlen
des grausamen Robespicrrc und des Nationalconvents widersetzt,
und wurde deshalb belagert. Endlich mußte cs die Thore öffnen,
und nun sah man hier schauderhafte Scenen. Die angesehensten
und reichsten Einwohner wurden festgenommen, und nicht, wie
in Paris, einzeln guillotinirt, sondern in ganzen Haufen, zusam-
mengebunden, mit Kartätschenkugeln niedergeschmettert, oder mit
Säbeln niedergehauen, oder von der Rhonebrücke in den Strom
gestürzt. Damit noch nicht zufrieden, zerstörten die Republikaner
die Prachtgebäude, die diesen Platz cinschloffen. Erft späterhin
wurden auf Napoleons Befehl die Häuser wieder aufgebaut. An
dem Kai liegt ein großes, pallastähnliches Gebäude; cs ist das
Hotel-Dien, ein großes Krankenhaus, in welchem zweitausend
Kranke und Alte verpflegt werden, meist von barmherzigen Schwe-
stern. Der interessanteste Punkt Lyons ist der, wo die Erdzunge
ausläuft, und beide Ströme sich vereinigen. „Die große Was-
sermasse derselben, der Anblick der Stadt, die mit schönen Land-
häusern geschinückten hohen malerischen Felsenufer der Saone, die
reich bebauten, hier flacheren User der Rhone, die Vorstadt jen-
seits, alles bildet hier eine entzückend mannigfaltige Aussicht."
Desto elender und schmutziger ist der Theil auf dem rechten Saone-
ufer, wo die ärmsten Menschen, meist Fabrikarbeiter, in schlechten
Häusern zwischen engen Gaffen wohnen. Er liegt auf einer An-
höhe, auf deren Spitze eine schöne Aussicht ist. Hier stand die
ganz alte Stadt zu den Zeiten der Römer. Längs der Saone
liegen eine Menge geschmackvoller Landhäuser, die nur durch die
breite Kunststraße von dem silbernen Strome getrennt werden.
Besonders merkwürdig sind in Lyon die Fabriken. „Unmög-
lich ist es, nur alle die einzelnen Artikel aufzuzählen, welche fici-
Das Königreich Frankreich.
19 t
ßige Hände hier in Menge hervorbringen; sie kleiden und putzen
halb Europa. Alles wird hier gewebt und gearbeitet. Seidene
Stoffe, Bänder, Stickereien, die schönsten, die man sich nur
denken kann, in Gold, Seide und Baumwolle, goldene und sil/
bcrnc Tressen und Verzierungen aller Art, Knöpfe, Petinct, Gaze,
Sammet u. s. tt)." Die Seide wird in den umliegenden Dör/
fern und kleineren Städten gesponnen, und nur zuni Weben nach
Lyon gebracht. Die reichen Fabrikherren geben sic dann den Ar/
beitern, die sie in ihren Wohnungen verarbeiten. Oft findet man
die geschicktesten Arbeiter in engen, schmutzigen Gassen 7— 8
Treppen hoch. Man erstaunt über die bewundernswcrthe Geschick-
lichkeit, wird aber von Wehmuth ergriffen, wenn man die große
Armuth dieser fleißigen und durchaus rechtlichen Menschen sieht.
„Nichts kann schneidender contrastiren, als ihre kümmerliche Exi-
stenz mit der Pracht der unter ihren Händen entstehenden glän-
zenden Stoffe. Alles, womit wir unser Daseyn schmücken, ent-
springt leider in den Hütten der Armen, oft unter Seufzern und
bittern Thränen; wir denken in unsrer Freude nicht daran; aber
doch ist es uns gut, wenn wir zuweilen daran erinnert wer-
den *)."
Die Einwohner von Lyon sind ernster und sittlicher, als cS
in Frankreich sonst gewöhnlich ist, wohl eine Folge ihres Fleißes
und ihrer Arbeitsamkeit. Sie tanzen und singen zwar auch, und
während des Earnevals geht es hier unter Armen und Reichen
gar lustig her; aber ihre Freude ist nicht so unregelmäßig und
wild als in andern französischen großen Städten, und der Luxus
geringer. Der Ton, selbst in den Hausern der Reichen, ist so
berzlich und familienhaft wie in Deutschland. Ueberall herrscht
Ordnung und Reinlichkeit, aber wenig Prunk; alles deutet auf
eine freundliche, ruhige Häuslichkeit, auf freundliches Zusammen/
leben der Familienglieder unter sich hin. Die Frauen kleiden sich
einfach und haben bescheidene Sitten; die Männer gehen den Tag
*) Madame Schopenhauer erzählt ein Beispiel von großem Fleiß und
großer Armuth in Lyon: „Wir fanden eines Tages in einem reinlichen,
aber ärmlichen Zimmer eine ganze Familie bei ihr,»»,, kargen Mittagsbrot
vereint. Nur die älteste Tochter, ein schönes, blasses Mädchen von 18
Jahren, saß am Weberstuhl, und arbeitete emsig an einem reichen Stoffe
mit wunderschönen Blumen, der in St. Cloud ein Zimmer zu schmücken
bestimmt war. Sie webte, während ihr Vater aß, damit die Arbeit
ununterbrochen fortgesetzt würde, und der einzige Webcrstuhl, den sie be-
faßen, keine Minute ruhe. Selbst in den Stunden des Schlafs wechselte
sie io mit dem Vater, und doch sahen wir deutlich, daß dieser angestrengte
Fleiß diese noch aus der Mutter und ein paar kleinen Kindern bestehende
Familie nur dürftig ernähre, obgleich dieser Arbeiter gewiß einer der
vorzüglichsten war. So trafen wir cs durchgehends bei mehreren ähnli-
chen Besuchen, überall Armuth, und dennoch knattert der Weberltusil
überall bei Tage und bei Nacht."
192 I DaS Königreich Frankreich.
über ihren Gcscbäften nacb, und erholen sich Abends im Kreise
ihrer Familie oder ihrer Freunde. Um 7 oder 8 Uhr kommen
befreundete Familien ungeladen bei diesem oder jenem Freunde
zusammen; die älteren Personen spielen Karten, die jüngeren erz
g'ötzen sich auf ihre Weise, oft mit Musik und Tanz. Zuletzt
wird ein mäßiges Abendessen ohne viele Umstände aufgetragen.
Von Lyon gerade westlich finden wir
Clermont, mitten im Gebirge von Auvergne, als Stadt
unbedeutend, aber in der Geschichte berühmt. Hier hielt Papst
Urban 1095 die große Versammlung, auf welcher der erste Kreuz-
zug beschlossen wurde *).
17. Die Insel Corsica
liegt bekanntlich gleich über Sardinien, von welcher sie durch
den Kanal von San Bonifacio getrennt wird, in dem schöne
rothe Korallen gefischt werden. Die Insel wird in ihrer gan-
zen Lange von einem Gebirge durchzogen, dessen höchste Spi-
tzen mit ewigem Schnee bedeckt sind, und dessen Seitenzweige
sich über die Insel verbreiten. In den Thalern ist die Luft
mild und schön; da wachsen edle Früchte, besonders Kasta-
nien, die Lieblingsspeise der Einwohner, in Ucberfluß; aber
auf den Bergen ist cs rauh und oft stürmisch, so wie der
Sinn der Einwohner. Der Corse ist von kleinem, aber ge-
drungenem Körperbau, unwissend und abergläubisch, freiheits-
liebend, heftig und ungemein rachsüchtig. Wie auf Sardi-
nien herrscht hier noch die Blutrache. Ist Einer beleidigt, so
ruht er nicht eher, bis er sich, oft erst nach Jahren, gerächt
hat, und ist Einer gar getödtet worden, so herrscht so lange
zwischen der Familie des Ermordeten und des Mörders un-
versöhnliche Feindschaft, bis beide Familien sich wechselseitig
aufgerieben haben. An der Westküste liegt die kleine Stadt
Ajaccio (spr. Ajatscho), die nur durch die Geburt Napo-
leons 1768 merkwürdig ist.
Außerhalb Europa hat Frankreich einige Besitzungen,
nämlich:
1. in Asien: die Stadt Pondichery auf der Küste
Coromandel in Ostindien,, mit einem kleinen Gebiete.
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 2., S. 83.
Das britische Reich.
193
2» in Afrika: einige Niederlassungen an der Mündung
des Senegal und auf der Küste von Guinea. Auch die In-
sel Bourbon, der südöstlichen Küste gegenüber.
3. in Nordamerika: zwei Jnfelchen bei Neufundland,
die wegen des Stockfischfanges wichtig sind.
4. in Wcstindien: einige der kleinen Antillen, unter
andern: Martinique, Guadeloupe.
5. in Südamerika: an der Ostküste die Insel Ca-
yenne mit einem Gebiet auf dem festen Landen
Das britische Reich.
Eiland'des Segens! In bczwungne Meere,
Die rings um deine Fclsenklüfte donnern.
Gestellt, zugleich das Wunder und das Schrecken
Entlegner Völker, deren fernste Ufer
Du mit dem Arm der Seemacht schnell erschütterst;
Selbst unerschütterlich stößt du die Stürme
Von dir hinweg, wie deine graue Klippe
Die laute Mecreswoge von sich stößt.
Thomson.
Nördlich von Frankreich, jenseit des Kanals, liegen zwe»
große Inseln neben einander. Die östliche, die mehr als dop-
pelt so groß ist wie die westliche, heißt Großbritannien;
die westliche, Irland. Zwischen ihnen ist die irländische
See, die einen nördlichen und südlichen Zusammenhang mir
dem atlantischen Meere hat. Der nördliche Eingang heißt
der Nord-Kanal, der südliche der Sanct-Gcorgs-Ka-
nal. In dieser See liegt einzeln die Insel Man (sprich
Mann). Der südwestlichen Spitze von Großbritannien gegen-
über liegen die kleinen sorlingischen oder Seil ly-In-
seln. An der Nordwestküste die Hebriden oder westli-
chen Inseln. An der Nordküste erst die Orkneys (spr.
Orkni), und über ihnen die sh e tländisch en (spr. schettlan-
dischcn) Inseln. Großbritannien besteht aus zwei Königrei-
Nösselts Geographie II. 13
194
Das britische Reich.
chen: England im Süden und Schottland im Norden;
jenes das größere, dieses das kleinere.
1. Das Königreich England*).
Es wird eingetheilt in das eigentliche England
und in das Fürftenthum Wales (Wahls). Jenes wieder
hat 40, dieses 12 Grafschaften, hier S hi res (Scheirs) ge-
nannt. (In der Zusammensetzung spricht man Shirc nicht
Scheir, sondern Schier aus, z. B. Dorsetshkre; aber wenn
das Wort Shire allein steht, so spricht man Scheir).
Boden: Im südöstlichen Theile ist England meist ganz
eben; die Küsten sind hier theils flach, so daß man, vom
Meere kommend, weit ins Land sehen kann, theils mit Krei-
defelsen umgürtet. Die Südküste ist meist felsig, und wird
es nach der südwestlichen Spitze immer mehr und mehr. Die
Westküste ist besonders felsig, und bietet einen wilden Anblick
dar. Die Wuth der Wellen hat die Felsen ausgewaschen;
überall ragen steile Klippen in die See. Am bergigsten ist
das Fürstcnthum Wales, das ganz von Bergen und Thalern
durchzogen ist. Zwar sind die Berge nicht vorzüglich hoch,
aber sehr wild und zerrissen. Durch die Mitte von England
zieht sich das Peak- (Pik-) Gebirge, das eine interessante
Höhle enthält, von der wir nachher sprechen werden. Auch
das nördliche England, nach Schottlands Gränze hin, ist ber-
gig. Aber keiner der englischen Berge übersteigt die Schnee-
linie. Auffallend ist in England der gänzliche Mangel an
Waldungen. Hat ein reicher Mann bei seinem Landgute ei-
nen sogenannten Park, d. i. einen mit einer Mauer einge-
schlossenen Baumgarten, so wird viel Wesens davon gemacht.
Der Boden ist meist fruchtbar und gut angebaut; besonders
schön sind die englischen Wiesen. Der Rasen ist wie grüner
*) Wir geben die Aussprache der englischen Namen, wo sic von der
Schrift abweicht, in der Parenthese daneben. Da die Aussprache der Ei-
gennamen sich nicht immer nach den allgemeinen Regeln richtet, so können
wir uns hier und da wohl irren; doch haben wir nicht unterlassen, uns
deshalb bei Sachverständigen zu erkundigen, wo unsere eigene Kenntniß
der englischen Sprache uns verliess.
I
Das kritische Reich. 195
Sammet, weil er sehr sorgfältig gepflegt, beschnitten und
begossen wird.
Gewässer: Sehr lange und große Flüsse kann Eng-
land schon darum nicht haben, weil die Insel nicht sehr groß
ist. Die bedeutendsten sind folgende:
1. Die Themse (the Thames, spr. dse Tähms). Sie
heißt bei ihrer Quelle Isis, nimmt bei Oxford erst den Na-
men Themse an, wird bei London recht breit, noch mehr aber
bei ihrer Mündung in die Nordsee.
2. Die Scvernc. Sie kommt aus Wales, fließt durch
das Gebirge hindurch, und geht endlich in den großen Meer-
busen der Westküste, den Busen von Bristol.
3. Der Trent kommt aus der Mitte von England, fließt
nordöstlich, vereinigt sich kur; vor seiner Mündung mit noch
mehreren Flüssen, und nimmt nun den Namen Hu mb er
(Homber) an.
Was diese und die vielen andern Flüsse wichtig macht,
ist, daß sie meistentheils schiffbar sind, und mit einander durch
Kanäle in Verbindung stehen, so daß man die Produete und
Waaren von einem Orte zum andern mit Leichtigkeit zu Was-
ser bringen kann.
Klima: Die Luft ist in England sehr feucht und ver-
änderlich. Selten ist der Himmel ganz heiter; dagegen oft
ein so dichter Nebel, daß man kaum einige Schritte weit vor
sich sehen kann. Das Klima ist dabei milder als in irgend
einem Lande unter gleicher Breite. Erst um Weihnachten
fängt die Winterkälte an; aber dauerhafter Frost findet fast
nie statt. Friert es oder schneit es, so dauert es selten über
24 Stunden, und Frost und Schnee ist wieder fort. Daher
haben auch die Engländer keine Oefen wie wir, sondern be-
dienen sich der Kamine, die dem Zimmer viel weniger Hitze
geben. Ebenso ist aber auch die Sommerhitze nicht groß.
Es ist nie so heiß, wie in unsern Hundstagen; daher ist
auch das Grün der Wiesen so schön, weil der Nasen von
der Sonne nie verbrannt und durch Nebel und Thau immer
getränkt wird. England hat eine gesunde Luft, und die Men-
schen erreichen oft ein hohes Alter.
13 *
196
DaS britische Reich.
Produkte: Die Pferde sind hier von besonderer
Schönheit; sie sind langgestreckt, von dünnem Gliederbau, und
daher ungeheure Nenner. Die englischen Pferderennen sind ja
bekannt. Die, welche man zum Ziehen der schweren Wagen
gebraucht, sind dagegen von gewaltiger Größe und Stärke,
wirkliche Niescnpfcrde. Das englische Rindvieh ist so kraft-
voll, wie in wenigen Landern; manche Ochsen sind so groß,
daß sie der Merkwürdigkeit wegen für Geld gezeigt werden.
Besonders schön aber sind die Schafe, an denen England einen
besonderen Reichthum besitzt. Sie sind schön gewachsen, und
tragen eine Wolle, die nur der spanischen nachsteht. Hunde
sind in England ein Luxusartikel. Reiche Leute pflegen sich
große Doggen zu halten, die sich durch Stärke, Gelehrigkeit
und Geschwindigkeit auszeichnen. Daß cs an Fischen, Au-
stern und allen Arten von Krebsen einen Uebcrfluß giebt,
versteht sich von selbst. Von Getreide wird viel mehr Weizen
als Roggen gebaut, weil der Engländer nur weißes Brot ißt;
selbst die Bettler besinnen sich sehr, wenn sie Roggenbrot es-
sen sollen. Unter den Metallen ist das englische Zinn und
Blei berühmt. Das Eisen dagegen ist spröde und brüchig,
und kann daher zu den feinen englischen Stahlwaarcn nicht
gebraucht werden. Dazu müssen die Engländer das schwedi-
sche und norwegische Eisen nehmen, das viel vorzüglicher ist.
Einen großen Reichthum besitzt England an Steinkohlen.
Besonders im nördlichen und südwestlichen Theile giebt es
mächtige Lager, die, so viel auch täglich zu Tage gefördert
werden, doch unerschöpflich scheinen. Und doch brennt man dort
nichts als Steinkohlen, und wie viel werden nicht in den
vielen Fabriken, zu den Dampfmaschinen und den Dampfschif-
fen gebraucht! Endlich wer sollte die englischen Bleistifte
nicht kennen? Sic werden aus Wasserblei gemacht, das sich
hier von vorzüglicher Art findet.
Einwohner: Die Engländer sind eine gemischte Na-
tion. Sie stammen von verschiedenen Völkern ab, die nach
einander über Britannien geherrscht haben: Briten, Angelsach-
sen, Normännec, Franzosen. Die deutsche Abkunft ist bei
ihnen nicht zu verkennen, und zeigt sich ^besonders in ihrer
Sprache. Der Engländer hat einen kräftigen Wuchs, blü-
Das britische Reich.
197
hcnde Gesichtsfarbe, und zeigt Gefühl von Kraft und Würde
in Gang und Haltung. Die Frauen sind zarter und schlan-
ker gebaut, selten voll, haben aber eine sehr weiße Haut und
große blaue Augen. Der englische Charakter hat viel Origi-
nelles, viel Großes und Hervorstechendes, aber wenig Liebens-
würdigkeit. Der Engländer ist ernst, kalt und stolz, beson-
ders gegen Fremde, und für diese hält es schwer, sein Zu-
trauen zu gewinnen. Hat man dies aber einmal gewonnen,
so kann man sich auch auf seine Freundschaft verlassen. Er
ist freimüthig, großmüthig und freigebig, aber auch selbstsüch-
tig und geldgierig. Von seinem Vatcrlande hat er einen so
hohen Begriff, daß er es für das erste Land der Erde halt;
er verachtet alles, was nicht aus Altengland (016 England,
Olt-Ingland) ist. Er ist lebhaft, aber besonnen, nachden-
kend und von scharfem Urtheilsvermögen. Von Gastfreund-
schaft und Geselligkeit ist er kein Freund, sondern lebt mehr
für sein Haus und seine Familie, vund selbst in den höchsten
Standen wird häufiger als bei uns innige Liebe zwischen
Mann und Frau, Eltern und Kindern gefunden. Dagegen
wirst man ihm Neigung zum Trünke vor; doch soll dies La-
ster, immer ein Zeichen von Rohheit eines Volks, immer mehr
unter den gebildeten Ständen abnehmen. Nirgends sind die
Stände weniger abgeschieden als in England. Wenn bei uns,
auf ächt krähwinkelig, der Graf oft Bedenken trägt, mit dem
gemeinen Edelmann umzugehen, und die Baronesse sich über
die Frauen der gebildeten Stände erheben will, so ist das in
England ganz anders. Da sieht man Keinen mit Ordenszci-
chen umhcrstolziren, oder auf seine Uniform einen Werth le-
gen, sondern Jeder ist das, für was er sich giebt. Wer or-
dentlich gekleidet ist und sich anständig aufführt, heißt ein
Oentleman (Djentelmänn), ein Ehrenmann, und in Gesell-
schaft wird nie gefragt, welchen Titel Jemand habe, sondern
man achtet ihn nach seinem Betragen. Daher geschieht cs
nicht selten, daß ein Lord mit seinem Schneider an einem und
demselben Lustort sich befindet; aber jenem wird nicht einfal-
len, die Nase zu rümpfen. Die Sitten der Engländer wei-
chen sehr von den unsrigcn ab, um so mehr, da man dort
gern beim Alten bleibt; wir werden bei Beschreibung von
T
198 Das britische Reich.
London noch manches davon zu erzählen Gelegenheit haben.
Eine große Vorliebe haben sie für Wettrennen, so wie über-
haupt fürs Wetten. Bei jeder Gelegenheit heißt cs: „was
gilt die Wette?" Bei Kleinigkeiten pflegt man um einen Hut
zu wetten, und der Sieger erhalt dann eine Anweisung auf
den Hutmachcr des Besiegten, sich entweder einen Hut oder
den Werth desselben im Gelde geben zu laffen. Beim Pfer-
derennen werden oft große Summen verwettet. Einen auffal-
lenden Hang zur Melancholie und zum Lebensüberdruß findet
man in England recht häufig, wozu wohl die dicke Luft viel
beitragen mag. Daher pflegt auch wohl der Engländer von
einem recht trüben, nebligen Tage zu sagen: „das ist ein
rechter Hängetag!" ein Tag, wo man sich erhenken möchte.
Es ist nichts Seltenes, daß sich Leute von großem Vermö-
gen erhenken, ertränken, oder auf andere Weise ums Le-
ben bringen; erst noch vor wenigen Jahren schnitt sich der erste
englische Minister den Hals ab, und zwar nicht etwa aus Ge-
wissensangst oder Verlegenheit, sondern bloß aus Lebensüberdruß.
Ganz verschieden von dem Engländer ist der Walliser,
ein Nachkomme der alten Briten, die sich nach der Eroberung
von England durch die Angelsachsen in die Gebirge von Wa-
les oder nach Bretagne in Frankreich zurückzogen. Er ist
klein gewachsen, aber stark, mit vollem Gesicht und kirsch-
braunen Backen; der Mann schwerfällig und träge, die Frau
lebhaft, thätig und gesprächig. Dem Engländer ganz entge-
gengesetzt, ist er gesellig, gastfrei und gutmüthig, aber arm,
unwissend und abergläubisch. Seine Kleidung, seine Sitten,
seine Spiele sind noch ganz national.
Die Sprache der Engländer ist volltönend und kräftig.
Die meisten bekennen sich zu der englischen (bischöflichen.
Episkopal- oder hohen) Kirche, die mit den Grundsätzen der
lutherischen am meisten übereinkommt. Doch werden in Eng-
land alle Religionen geduldet.
Dem Stande nach gehören alle Engländer entweder zum
Adel oder zu den Gemeinen. Zum Adel gehören noch
nicht 600 Familien; man versteht darunter nur den hohen
Adel und die hohe Geistlichkeit. Der niedere Adel dagegen
gehört zu den Gemeinen; doch ist schon gesagt, daß diese
Das britische Reich«
IW
Standesverschicdenheit sich nicht aufs gesellige Leben erstreckt,
sondern sie bezieht sich allein auf die Verwaltung des Landes.
Es ist bekannt, daß cs nirgends so viele Fabriken giebt,
und daß nirgends das Maschinenwesen so vervollkommt ist,
als in England. Wir müßten ein ganzes Buch schreiben,
wollten wir alle. Waaren nennen, die dort gemacht werden.
Nur einiges des Wichtigsten mag hier stehen. Der bekannte
englische Käse wird am meisten in den westlichen Provinzen
gemacht, besonders bei Chester (Tschcster); daher heißt er auch
der Chesterkäse. Den Gemüsebau verstehen die Engländer
sehr gut; man ißt dort trefflichen Spargel, Blumenkohl und
andere Gemüsearten; vorzüglich aber die Kartoffeln, deren man
hier viele Arten hat, von denen die ganz kleinen, von der
Größe der Kirschen, die schmackhaftesten sind. Daß die Fa-
briken in England so vorzüglich sind, rührt theils von der
Neigung der Engländer für den Gewcrbfteiß her, theils von
ihrem größeren Neichthume, der sie in den Stand setzt, große
Maschinen zu errichten. Indessen hat man ihnen in neuester
Zeit auch in andern Ländern rühmlich nachgeeifert, namentlich
in Frankreich, in Westphalen und in Sachsen. Doch sind
ihre Fabrikunternchmungen allerdings großartiger als in diesen
Ländern. Dabei kommen ihnen die herrlichen, künstlichen Ma-
schinen zu Statten, mit denen sie viele Menschenhände erspa-
ren, und also die Waaren weit wohlfeiler liefern können, als
cs sonst möglich wäre. Am ansehnlichsten sind die
Baumwollenfabrikcn. Sie sind so vervollkommt,
daß da, wo sonst 100 Menschen ihre volle Arbeit hatten, jetzt
eine Maschine dieselbe Arbeit wie von selbst macht, und nur
einige Kinder nöthig sind, um die Aufsicht darüber zu führen,
und doch werden 800,000 Menschen damit beschäftigt. Sie
werden am meisten im Innern von England gefunden.
Die Wollenfabriken beschäftigen etwa 500,000 Ar-
beiter, und liefern eine unendliche Menge von Tuchen, Tü-
chern, Casimir, Strümpfen, Mützen, Westen, Teppichen u.
s. w. Nächst ihnen kommen die
Eisen- und Stahlfabriken. In ihnen werden nicht
nur die feinsten Stech - und Schneideinstrumente, Scheeren,
Messer, Nadeln, sondern auch die größten Stücke verfertigt:
200
Das britische Reich.
eiserne Schiffe, Wagen, Brücken u. dergl. gemacht. Das
Größte der Art sind wohl die ungeheuren Ketten, die man
zu der Hängebrücke gemacht hat, welche von der Nordwestspihe
von Wales nach der Insel Anglesea (Aengelsi) geschlagen ist,
von der wir noch unten sprechen werden.
Die Steingutfabriken. Das englische Steingut,
das nach dem Manne, der es zu einer so großen Vollkom-
menheit brachte, Wedgewood (Wetschwuhd) genannt
wird, ist ja auch bei uns bekannt genug. Ferner merke man
sich die
Glas-, Papier-, Uhren-, Hutfabriken,
und die großen Bierbrauereien, von denen wir unten
mehr sagen werden. Mit diesen und unzähligen andern Waa-
ren treibt England den ausgebrechclften Handel. Seine Schiffe
befahren alle Meere und besuchen alle Länder. Aber auch im
Innern ist ein ungemein lebhafter Verkehr; alle Landstraßen
sind mit Wagen und Landkutschen, alle Flüsse und Kanäle mit
Schiffen bedeckt, die den Städten und Seehäfen den unend-
lichen Reichthum von Waaren zuführen. Durch ganz Eng-
land laufen die herrlichsten Landstraßen, die fo glatt sind wie
die Diele. Zum Theil sind sie mit Eisenbahnen belegt, d. i., es
sind eiserne Rinnen gelegt, die aber nicht vertieft, sondern er-
haben sind, auf welche die dazu eingerichteten Wagenräder
paffen. Diese Räder sind, wie unsere Schlittschuhe, in der
Mitte vertieft. Dadurch wird den Pferden die Last sehr er-
leichtert, so daß Ein Pferd so viel als sonst 6 ziehen kann.
Besonders wird der innere Verkehr befördert durch die
Landkutschcn, Stage Coach (Stehtsch Kohtsch), durch welche
man schnell und wohlfeil von einem Ende des Landes zum
andern kommen kann. Sie sind, mit unfern Postwagen ver-
glichen, ein gar stattliches Fuhrwerk. „Die Mitte gleicht völ-
lig unfern viersitzigen Kutschen mit Glaöfenstcrn. Der An-
strich des Kutschkastcns, meist Zinnobcrroth oder Grün, ist
mit dem feinsten Lackfirniß überzogen. Am Schlage und an
beiden Seiten lieft man die Namen des Eigcnthümers, des
Hauptorts, von dem die Kutsche ausgeht, und wohin sie
fährt, dann aller kleineren Oerter, welche sie berührt, und
dies alles in großen goldenen Buchstaben, so glänzend, als
Das britische Reich.
201
ob cs von gestern her wäre. Von außen befinden sich zuvör-
derst drei Plätze dicht an der Kutsche, die rückwärts kein Fen-
ster, wie unsere Scheibcnwagcn gewöhnlich, hat. Vor diesen
ist der Sitz des Kutschers, neben welchem noch ein Paffagicr
Platz findet. Hinten, wo man bei unsern Postwagen die
Schoßkclle ficht, befinden sich wieder zwei, mit dem Wagen
in Federn hängende Bänke einander gegenüber, zu drei Perso-
nen. Auf dem Kutschhimmcl selbst können gleichfalls vor-
und rückwärts 3 und 3 Platz finden. Alles dies heißt die
Außenseite. Auf der Mitte der Decke findet eine Menge von
Gepäck, Koffern und Schachteln Platz, die auch wohl man-
chem zu spät kommenden Passagier zum Nothsitz dienen. So
können denn in diesen so eingerichteten Kutschen, deren es eine
unzählige Menge giebt, und die nach manchen Gegenden jede
Stunde abgehn, oft 16 —18 Personen Raum finden. Sitzt
man in der Kutsche, so hat man kaum eine Ahnung von der
großen Gesellschaft, in der man sich befindet. Die Außen-
seite ist fast immer gedrängt voll, und oft zur Hälfte mit
weiblichen Reisenden, meist in schönem weißem Anzuge. Man
zieht jene schon der größeren Wohlfeilheit wegen, dann auch
wegen, der freien Aussicht den inneren Sitzen vor, die zuwei-
len durch die Nachbarschaft sehr starker, wohlgenährter Herren
und Damen, deren es in diesem Lande des feisten Nostbeefs
(Nohstbif, d. i. dünne Scheiben gerösteten Nindficisches) und
Muttons (Motten, d. i. Hammelbraten) recht viele giebt,
sehr beengt werden. Vier, auch sechs prächtige Pferde, mit
schönem blanken Geschirr, als ob cs einen Paradeaufzug gälte,
sind wenige Minuten vor der Abfahrt zur Stelle. Sobald der
Schirrmeister dem gewöhnlich sehr stattlich gekleideten Kutscher
sein AU right! (Ahl reit) d. i. alles ist in Ordnung, zu-
ruft, geht die Reise fort, in einem so gleichmäßigen raschen
Trabe, daß man, da der Wagen in Stahlfedern hängt, und
die Landstraßen unsern Stubendielen gleichen, ohne Ermüdung
oft in einer halben Stunde eine deutsche Meile zurückgelegt hat.
Sobald man sich dem Hause naht, wo der Pferdewechsel ist,
sieht man die 4 oder 6 Rosse stolzirend aus dem Stalle her-
vorgehn, und man kann fast bis auf die Minute wissen,
wenn man an jedem Orte eintreffen wird."
' 202
Das britische Reich.
Außerdem, daß uns England mit einer großen Menge
seiner Fabrikate versieht, erhalten wir durch englische Schiffe
auch den größten Theil der sogenannten Colonialwaaren (Zu-
cker, Kaffee, Thee, Apothekerwaaren, Cacao, Baumwolle,
Rum u. s. w.), welche jene aus den fremden Crdtheilen
holen.
Der Schulunterricht ist in England zwar nicht so gut
und ausgebreitet als in Deutschland, aber doch auch gut.
Bis die Kinder 7— 8 Jahre alt sind, werden sie im Hause
erzogen, und hier ist der Umgang zwischen Eltern und Kin-
dern herzlich, aber ohne Tändelei und Empfindsamkeit. Die
Kinder werden sorgfältig zur Religion angehalten, und in vie-
len Hausern wird ihnen am Morgen und Abend kniend von
den Eltern der Segen ertheilt. Dann werden Mädchen und
Knaben in eine Pcnsionsanstalt, deren es eine große Menge
giebt, gethan. Die Mädchenschulen sind größtentheils schlecht,
weil die meisten von Frauen, auch wohl Französinnen, ge-
leitet werden, und doch mit wenigen Ausnahmen die Frauen
nicht Kraft und Kenntnisse genug haben, um mit Nutzen an
der Spitze einer Schule zu stehen. Die Mädchen kehren nach-
her mit sehr mittelmäßigen Kenntnissen ins elterliche Haus zu-
rück, die Knaben aber werden in die höheren Schulen, und
späterhin auf die Universitäten geschickt, wenn sie nicht schon
früher ins bürgerliche Leben übergehen. Beide Arten von Un-
terrichtsanstalten sind fast klösterlich eingerichtet, und halten
noch ganz an dem alten Herkommen; die jungen Leute werden
streng gehalten, und selbst die schon erwachsenen Schüler bei
den Ucbertrctungen der Gesetze mit Ruthen gezüchtigt. In
vielen Wissenschaften zeichnen sich die Engländer aus, ob sie
gleich im Ganzen darin den Deutschen nachstehen. Aber die
Liebe zu den Wissenschaften ist bei ihnen unter den Nichtge-
lehrten größer als bei uns. Da ist kein reicher Mann, kein
Gutsbesitzer, der nicht eine ansehnliche Bibliothek hätte, und
jährlich für mehrere Hundert oder Tausend Thaler Bücher
kaufte.
England, Schottland und Irland stehen unter einem ge-
meinschaftlichen Könige, aus dem Hause Hannover. Dieser.
König aber ist eingeschränkt, und die Einwohner genießen da-
Das britische Reich.
203
her eine gewisse Freiheit, auf die sie sehr eifersüchtig sind.
Die Rechte des Königs sind: daß er wegen seiner Handlungen
nie verantwortlich ist, wohl aber seine Minister, wenn sie den
Landesgcsctzen entgegenhandeln; daß er Krieg erklären und
Bündnisse und Frieden schließen kann; daß er über die Voll-
ziehung der Gesetze wacht und die Ucbcrtrcter straft; daß er
die höheren Staatsbeamten und Militairs ernennt; daß er
den Adel ertheilt; daß er Verbrecher begnadigen darf, und daß
kein Gesetz eher Gültigkeit hat, bis er es bestätigt, was er
fast nie unterlaßt, um nicht die Liebe des Volks zu verlieren.
Der König ist eingeschränkt durch die Gesetze, die er
nicht willkürlich abändern kann und durch das Parlament.
Das letztere besteht aus dem Ober hause und dem Unter-
hause. Zum Oberhause gehören die Häupter der adeligen
Familien, die Erzbischöfe und Bischöfe, und haben den Titel
Lord. Auch schicken die Schotten und Irländer einige Lords
ins Parlament. Der König ernennt die Lords; hat er aber
einmal Jemanden zum Lord erhoben, so erbt die Würde in
der Familie fort, so daß immer das Familicnhaupt sie beklei-
det. Würde und Reichthum des Adels gehen in England nur
auf den ältesten Sohn über. Daher geschieht cs oft, daß der
älteste Sohn eines Lords ein steinreicher und sehr angesehener
Mann ist, während die anderen Söhne arm und ohne Be-
deutung sind. Stirbt nun der älteste Sohn ohne Kinder, so
wird der Zweite, der vielleicht bis dahin ein armer Landpre-
diger oder noch weniger war, plötzlich ein Lord und Herr
großer Güter. Das Unterhaus oder das Haus der
Gemeinen. Es besteht aus etwas mehr als 650 Abgeord-
neten des Bütgerstandes, meist aus England, einige aber auch
aus Schottland und Irland. Die Wählenden sind alle die,
welche von ihrem Vermögen jährlich eine bestimmte Einnahme
haben, und um gewählt zu werden, muß man wenigstens ein
Vermögen haben, das jährlich 3000 Rthlr. abwirft. Das
ist auch nöthig, denn die Deputirten bekommen keinen Gehalt,
und doch versäumen sie, während sie in London dem Parla-
mente beiwohnen, ihre übrigen Geschäfte. Der König hat
das Recht, das Parlament zusammenzurufen. Dann gehen
die Wahlen vor sich, wobei es gewöhnlich entsetzlich unruhig
204
Das britische Reich.
zugeht. Denn jeder, der sich zu einer solchen Stelle eines
Parlamentsgliedes gemeldet hat, hat unter dem Volk seine
Parthei, die ihn durchaus durchsetzen will. Daher ist vor
dem Wahlhause jeder Stadt dann ein fürchterlicher Tumult,
und ist nun endlich durch die Stimmenmehrheit die Wahl
entschieden, so wird der Gewählte von seiner Parthei im
Triumph durch die Stadt getragen. Von allen Seiten erhebt
sich nun das wildeste Geschrei, wahrend seine Anhänger ihm
zujauchzen, verfolgen ihn seine Gegner mit Hohngeschrci, und
werfen wohl gar mit faulen Eiern oder Aepfcln nach ihm, so
daß es nichts seltenes ist, daß er die Ehre, gewählt zu seyn,
mit einer blutigen Nase und mit Beulen bezahlen muß. Am
bestimmten Tage versammelt sich das Parlament, und wird
mit einer königlichen Rede eröffnet, die manchmal der König
selbst, gewöhnlich aber einer seiner Minister hält. Dann be-
rathschlagen beide Häuser, jedes für sich, die Angelegenheiten
des Reichs, und da jeder das Recht hat, sich ganz frei über
die Negierung zu äußern, so werden in beiden Häusern oft
sehr heftige Reden gegen die Minister gehalten, die sich jeden
Tadel gefallen lassen und oft bittere Wahrheiten hören müs-
sen. Besonders hat das Unterhaus das große Vorrecht, daß
der König ohne dessen Einwilligung keine Abgaben dem Volke
auflegen darf, und darum muß er sich wohl sehr in Acht neh-
men, nicht das Vertrauen des Hauses zu verlieren. Auch
darf er kein Gesetz abändern oder ein neues geben, ohne Zu-
stimmung beider Häuser. Soll ein Gesetz gegeben werden,
so wird der Vorschlag dazu entweder vom Könige oder von
irgend einem Parlamentsgliede gemacht. Ein solcher Vorschlag
heißt eine Bill. Sie muß dreimal an 3 verschiedenen Ta-
gen vorgelesen werden; dann wird darüber gestimmt. Ist sie
in dem einen Hause angenommen, so wird sie nach dem an-
dern Hause gesandt, und nimmt auch dieses sie an, und be-
stätigt sie der König, so ist sie zum Gesetz geworden.
Einer Eigenthümlichkeit der englischen Gerichtsverfassung
müssen wir noch erwähnen, der Jury oder des Geschwor-
nengerichts. Wenn nämlich Jemand eines Verbrechens
angeklagt wird, so werden 12 von dem Stande des Beklag-
ten zusammengerufen, und diese untersuchen, ob nach ihrer
Das britische Reich.
205
v
Meinung der Beklagte schuldig oder unschuldig sey. Ist das
erstere, so wird er sogleich freigelassen; ist aber das letztere,
so wird er den Gerichten übergeben. Das scheint nun recht
schon; aber wie leicht kann nicht Jemand unschuldig seyn,
und doch der Schein gegen ihn sprechen^)? Eine andere Son-
derbarkeit ist die, daß Jeder, der einen Diebstahl begeht, am
Galgen hingerichtet wird, sobald der König das Urtheil be-
stätigt. Nun wird in England sehr viel gestohlen; viele Men-
schen leben bloß vom Diebstahl, und die Gefängnisse werden
nicht leer. Die, welche der König begnadigt, werden nach
Neuholland geschickt, um dort arbeiten zu lernen und vom
Diebstahl sich zu entwöhnen; die andern aber zum Galgen
geführt. Dieser wird dem Gefängniß gegenüber aufgeschlagen;
er steht auf einem Gerüste, zu welchem eine Art von Brücke
von dem Gerichtshause führt. Die Verbrecher werden neben
einander unter den Galgen gestellt, Zeder einen Strick um
den Hals, und dann gefragt, ob sie noch etwas zu sagen
hatten. Gewöhnlich benutzen Einige die Erlaubniß, um zum
Volke zu reden, und es zu ermahnen, sich durch ihr Beispiel
warnen zu lassen. Und doch sind bei solchen Gelegenheiten *)
*) Man höre folgendes Beispiel, das sich wirklich zugetragen hat. In
der Nahe der Themse wohnte aus dem Lande ein unbescholtener Mann,
der eine erwachsene Stieftochter hatte. Diese war eines Tages verschwun-
den, ohne daß der Vater angeben konnte, wo sie geblieben sey. Da aber
in dem Flusse ihre Haube schwimmend gefunden wurde, und ein Nachbar
aussagte, er sey des Abends, vor dem Verschwinden des Mädchens, bei
dem Hause vorbeigegangen, und habe gehört, wie sie ausgerufen: ,,ach,
Vater! ihr bringt mich uw!" so wurde er beschuldigt, die Tvchter er-
mordet, und ihre Leiche in den Fluß geworfen zu haben. Er betheuerte
zwar seine Unschuld, aber die Geschwornen hielten das Verbrechen für
erwiesen, sprachen ihr Schuldig aus; die Gerichte erkannten die Strafe
der Hinrichtung, und der Mann starb als Mörder. Nach einiger Zeit
fand sich die angeblich Ermordete gesund und frisch wieder ein, und auf
Befragen sagte sie aus: allerdings habe sie jene Wdvte ausgerufen, aber
von einer Ermordung sey nicht die Rede gewesen. Der Vater nämlich
habe sic zu einer Heirath, die ihr zuwider gewesen sey, zwingen wollen,
und da habe sie sich gesträubt, und jenes gesagt. Da aber der Vater
darauf bestanden, so sey sic in der Nacht davon gelaufen, habe sich über
den Fluß setzen lassen, in der Wuth sich die Mütze vom Kopfe gerissen,
Und sie in den Fluß fallen lassen. Zu spät erkannten nun die Geschwo-
renen ihren Irrthum. Sic erklärten den Mann zwar für unschuldig;
aber sie konnten ihn doch nicht wieder lebendig machen. Wie viel besser
sind wir daran, bei denen Keiner zum Tode verurtheilt wird, wenn nicht
das Verbrechen völlig erwiesen, und von ihm eingestanden ist.
206
Das britische Reich.
die Taschendiebe gerade am thätigsten, den Zuschauern die Ta-
schen zu leeren. Hat nun Keiner mehr etwas zu sagen, so
zieht der Henker Jedem eine weißbaumwollene Mütze über das
Gesicht; das Brett, auf welchem sie stehen, fallt herab, und
— alle werden in einem Augenblicke erwürgt.
Wir wollen unsern Leserinnen die 52 Shires von Eng-
land und Wales nicht nennen, ebenso weni'A die alten 8 Pro-
vinzen, die jetzt nicht mehr gebräuchlich sind, sondern das
Land von Stadt zu Stadt durchreisen, zuvor aber etwas
über die englischen Sitten und Einrichtungen, in wie fern sie
von den unsrigcn abweichen, und von der Beschaffenheit des
Landes sagen, damit, wir ein deutliches Bild von England
bekommen.
Wenn man sich England nähert, so nimmt der erste An-
blick sehr für das Land ein. Man sieht überall am Ufer
freundliche Städte und Dörfer liegen, und das Land selbst
scheint sehr waldig zu seyn. Ist man ans Land gestiegen,
so findet man sich darin freilich getäuscht. Die Felder näm-
lich sind mit Bäumen eingeschlossen, und das giebt, von der
See aus gesehen, dem Lande ein waldiges Ansehen. In Eng-
land zu reisen, ist sehr angenehm. Ueberall im Lande findet
man herrliche Landsitze und unmuthige Parks. Jeder reiche
Mann nämlich, wenigstens jeder Lord, hat außer seinem
Hause in London noch einen Landsitz. In London wohnt Je-
der, selbst der König, sehr eng und klein; denn cs fehlt dort
im Gedränge so vieler Menschen überall an Platz. Aber auf
ihrem Landsitze zeigen sie ihre ganze Pracht, da haben sie
ihre Bibliotheken, ihre Gemälde- und andere Sammlungen,
und die Gemächer sind so prachtvoll eingerichtet, daß sich kein
Fürst, darin zu wohnen, schämen dürfte. Bei jedem solchen
Landsitze pflegt ein Park zu seyn, meist von großem Umfange.
Dieser Park besteht nicht bloß aus Bäumen, sondern auch aus
Aeckern und Wiesen, mit lebendigen Hecken zierlich eingefaßt,
durchschnitten von wohl unterhaltenen Kieswegen zum Gehen
und Fahren. Unvergleichlich schön sind die grünen Wiesen
und die prächtigen Bäume, meist Buchen und Eichen, die in
Gruppen vertheilt sind. Wasser darf nie dabei fehlen; Teiche
oder fließendes Wasser, mit Brücken und Gondeln, sind eine
Das britische Reich.
207
Hauptcigcnschaft eines Parks. Hunderte von Hirschen und Re-
hen weiden auf den grünsten Wiesen der Welt; mit ihnen die
schönsten Pferde, Kühe und Ziegen. Das Wohnhaus liegt
immer auf einer sanften Anhöhe, ganz frei, ohne Bäume,
aber umgeben von den herrlichsten Wiesen, wie von einem
Teppich. Vor der Hausthür ist eine Säulenhalle, und die
dahin führende Treppe ist mit unzähligen Vasen voll der aus-
gesuchtesten Blumen und Gesträuche besetzt. Zn den Häusern
dieser Großen herrscht einfache Pracht, Fußboden, Treppen
und Vorplätze sind mit schönen Teppichen belegt. Mahagony-
holz sieht man meist nur an den Treppen, Geländern, großen
Eßtischen und Bettstellen; die Möbeln der Zimmer sind von
köstlicheren Holzarten, meist aus Südamerika. Die Möbeln
stehen nicht, wie bei uns, an den Wänden umher; das fin-
det man unmodisch und bürgerlich. Zn den Wohn- und Ge-
sellschaftszimmern stehen sie in einem großen Kreise umher, so
daß noch ein beträchtlicher Raum zwischen ihnen und den
Wänden bleibt. Die Schreibtische und die Fortepiano's stehen
immer mitten im Zimmer, da, wo ihnen das Licht am gün-
stigsten fällt. Die Kamine sind von Marmor oder von brit-
lantirtcm Stahl, und machen eine Hauptzierde der Zimmer
aus. Auf ihren Gesimsen stehen schöne Vasen und prächtige
Leuchter.
Was ferner das Reisen in England sehr erleichtert, sind
die gut eingerichteten Wirthshäuser. In keinem Lande
versteht man sich wohl besser auf die Benutzung des Raumes.
„Sieht man die Häuser von außen, so begreift man kaum,
wie sie eine solche Menge zwar kleiner, aber netter und freund-
licher Zimmer einschließen können. Zn diesen Zimmern nimmt
das in der Mitte von 3 Seiten freistehende, breite Himmel-
bette, umgeben von feinen schneeweißen oder blumigen Kat-
tunvorhängcn, den größten Theil des Raumes ein. Alle Fuß-
böden sind, wie die Treppen, mit Teppichen belegt." Die
Reinlichkeit ist überall außerordentlich, und doch nicht gesucht.
Sobald man ankommt, ist gleich der Wirth bei der Hand,
als hätte er die Gäste längst erwartet. Er öffnet selbst den
Schlag, und hilft den Fremden heraus. Zn der Thüre steht
die Wirthin; mit dem freundlichsten Gesichte knickst sic ein
208
Das britische Reich.
halbes Dutzend Mal kurz hinter einander, und führt die rci*
senden Damen in die Zimmer, während der Mann bei den
Herren die Honneurs macht. Ebenso wird man von Wirth
und Wirthin, wenn man wegreist, wieder an den Wagen
begleitet. Die Geschäfte sind unter die Dienenden gleichmäßig
vertheilt. Das Stubenmädchen hat die Sorge für die Zim-
mer, klopft des Morgens pünktlich, wie man cs bestellt hat,
an die Thüre und meldet die Stunde. Der Aufwärter be-
sorgt das Frühstück, den Tisch' u. s. w. Die kleineren und
niederen Dienste liegen dem Hausknecht, von den Stiefeln,
die er putzen muß, Boote (Butz) genannt, andere dem Stall-
knecht ob. Alle diese Leute scheinen Flügel zu haben; so
schnell kommen sie auf jeden Klingelzug. Besonders nett sicht
das Stubenmädchen aus. Sie erscheint im langen, feinen,
kattunenen Kleide, mit einer schneeweißen Muffel inschürze, ei-
nem artigen Spitzcnhäubchcn, kurz ganz nett und damenhaft
gekleidet. Sie sorgt jeden Abend dafür, daß vor dem Bette
ein Leuchter mit angezündeter Wachskerze und Pantoffeln ste-
hen, und auf dem Bette eine feine Nachtmütze liege.
Wenn wir von Calais in Frankreich kommen, so stei-
gen wir bei der Stadt
Dover ans Land. An ihr selbst ist nichts zu sehen; aber
der hier täglich herrschende Verkehr ist sehr groß, Sie wird nie
leer von Fremden, die entweder von Frankreich nach England
kommen, oder von England nach Frankreich überfahren wollen.
Zunächst eilen wir nach London. Von welcher Seite
man sich auch dieser einzigen Stadt nähert, überall begegnet
uns die Spur landwirthschaftlichcn Fleißes. „Man glaubt
in schöne, wohlhabende Städte zu kommen, und ist doch nur
in einem Dorfe. Man glaubt prächtige Landsitze zu sehen,
und es sind die Wohnungen der Pachter oder Kaufleute. Die
gewöhnlichen Häuser in den Flecken und Städten sind zwar
klein und schmal, aber wie freundlich durch die spiegclhcllen
Fenster, durch die artigen Umzäunungen, durch die kleinen
Blumengärten, durch welche ein reinlicher Weg zur Hausthüre
leitet. Und schon auf dem Lande beginnt das kaufmännische
Leben. Man fährt vor einem Laden nach dem andern vor-
über. Hinter den hohen Fenstern von schönem Kronenglase,
Das britische Reich.
209
welche das untere Stockwerk ausmachen, liegen alle Arten von
Waaren kunstvoll aufgeputzt zur Schau. Und welche Sauberkeit
und Nettigkeit in dem Anzuge der Meisten, denen man begeg-
net, oder die neugierig an Thüre und Fenster treten, wenn
die Postkutsche vorbeifahrt! Und wenn man nun der Haupt-
stadt naht, wie wird mit jedem Schritte der Menschenstrom
voller und breiter! Wie folgen sich, als gälte cs einem gro-
ßen Festaufzuge, Reiter und Wagen von allen Gestalten!
Wie stiegen die Ez'trapostchaifen, geführt von dem in eine
leichte Nankinjacke, auch wohl in Seide gekleideten Postillon
auf dem Sattelpferde, vorüber, und lassen selbst die Sechs-
spänner hinter sich! Wie malerisch erscheinen von fern die
großen langen Kutschen, oft im Innern von 12 Personen be-
setzt, und von außen von eben so vielen weißgekleideten, auf
den luftigen Sitzen zusammengedrängten Genien in Menschen-
gestalt umschwebt. Die Landhäuser des Adels mehren sich an
den Seiten der Straße, von großen Parks unterbrochen, wo
das Auge zweifelhaft ist, ob cs auf dem feinen, grünen
Sammt des weltberühmten britischen Rasens, oder der herrli-
chen Gruppirung der Bäume und ihres wundervoll malerischen
Laubes länger verweilen soll. Wie getragen von dem kaum
zu beschreibenden Gcwühle der Fahrenden und Gehenden, das
besonders 2 Meilen vor London schon anfängt, und von bei-
den Seiten schon mit Wohnungen umgeben, kommt man nach
London, ohne recht zu wissen, wo die Stadt beginnt, da
von Stadtthoren gar nicht die Rede ist. Wunderbar ist der Einr
druck, welchen die Stadt in ihrer Größe und Herrlichkeit, ihre
Prachtgebäude, ihr immer wogendes Leben, ihre mit keiner an-
dern großen Stadt zu vergleichenden Eigenthümlichkeiten auf Je-
den machen muß, der zuerst in diese — jetzt von wenigstens
1,200,000 Menscken bewohnte — kleine Welt eintritt. Es ist
ein Gemisch von Erstaunen und Beklommenheit. Das Ungeheure
erhebt und erdrückt zugleich. Man weiß noch nicht, wie man
durch dies Alles hindurch kommen, wie man sich darin zurecht-
finden wird. London besteht aus drei Haupttheilen: die City
(Dßitti) oder Altstadt nimmt den östlichen Theil des nördli,
chen Ufers der Themse ein, und reicht bis zu Temple Bar
(Tempel Bahr). So nennt man ein Thor, das die City von
Westminster trennt, und immer offen steht. Westminfter
heißt der westliche Theil des nördlichen Themseufers, und ist der schön-
ste Theil der Stadt, der Wohnsitz der reichen und vornehmen Welt,
Nösselts Geographien. 14
210
Das britische Reich.
während in der City mehr die gewerbfleißigcn Kaufleute und Hand,
werter wohnen. Jenseit der Themse, südlich liegt der dritte Theil
von London , Southwark (Sauthwahrk). Sechs schöne Brü,
cken verbinden diesen Theil mit der City und Westminster. Die
älteste ist die ehrwürdige London-Brücke, von steinernem Ge-
länder eingefaßt, und deö Nachts mit großen Laternen erleuchtet.
Hier war sonst ein alter Thurm, auf besten Zinnen die Köpfe
der Hingerichteten Hochverrälher dem Anblicke des Volks preisge-
geben wurden *). Sie ist die besuchteste, und Tag und Nacht
wird sie nicht leer. An einem Sonntage zählte man einmal bei,
nahe 90.000 Fußgänger und 1240 Kutschen, die über sie gingen
und fuhren. Unterhalb derselben ist der Strom fast ganz mit
großen und kleinen Schiffen bedeckt; denn hier ist der Hafen von
London. Am herrlichsten ist die erst neugebaute Waterloo,
Brücke, die über 3 Mill. Thaler gekostet hat, und an dem er,
sten Jahrstage der Schlacht von Waterloo (oder Belle Alliance)
zum ersten Male befahren wurde. Da man hier aber einen Zoll
bezahlen muß, so ist sie nicht so besucht als die andern, über
welche man unentgeltlich gehen kann. Eine der Brücken, die
SouthwarkSbrücke, ist ganz von Eisen; sie schwebt wie ein
leichtes Gitterwerk über dem breiten Strome **).
Vergebens sucht man in London große Palläste, die man in
andern großen Städten zu finden gewohnt ist. Selbst die Woh-
nungen der Personen des königlichen Hauses sind nicht ausgezeich-
net und führen nur den bescheidenen Namen von Häusern. Alle
ihre Pracht ist nur im Innern der Zimmer, nie im Aeußern zu
suchen. Ganz London ist von roth - und weißgrauen Backsteinen
erbaut, und äußerst selten sind diese mit Kalk überzogen. Nur
sehr wenige neue Gebäude bestehen aus Quadersteinen. Durch
den beständigen Kohlendampf bekommen alle sehr bald ein düste,
res Ansehen, das nur durch das sehr helle Spiegelglas der Fenster
einigermaßen gehoben wird. Die meisten Häuser sind sich völlig
gleich, in der Regel sehr schmal. Man geht durch lange Stra-
ßen, wo alle nur ein gemeinschaftliches Dach zu haben scheinen,
und bloß durch ziemlich schmale Hausthüren von einander abge-
sondert sind. Die meisten sind nur Z Fenster breit, aber Z — 5
Stock hoch. Die Tiefe ersetzt einigermaßen den Raum; von lan-
gen Zimmerreihen kann hier nicht die Rede seyn. Jede Familie
bewohnt ihr Haus allein, und nur einzelne Personen, nicht leicht
ganze Familien, finden Gelegenheit, sich Zimmer zu miethen.
Denkt man sich daher London menschenleer und ohne Handel, so
*) Daher heißt cs in Schillers Maria Stuart:
„Babingtons und Tichburns blut'ge Häupter
Auf Londons Brücke warnend aufgesteckt."
**) Wir folgen in dem Folgenden meist den Beschreibungen von Nic-
mcyer und der Madame Schopenhauer.
DaS britische Reich.
211
wäre es, zumal in den meist engen Straßen der City, eine dunkle,
melancholische Häusermaste. Aber wie ganz anders erscheint es,
wenn das Leben am Morgen beginnt, und erst gegen Mitternacht
ruht! Was derStadt einen unvergleichlichen Glanz und den Stra-
ßen einen großen Reiz giebt, sind die Ausstellungen der Kauf-
mannswaaren, die man nirgends so findet. Es ist nicht bloß die
Unendlichkeit der Gegenstände, auch nicht bloß ihre Kostbarkeit;
es ist eben so sehr die Art, wie sie dem Vorübergehenden darge-
stellt und empfohlen werden. In den Hauptstraßen kann man an-
nehmen, daß der untere Theil fast jeden Hauses ein Waarenlager
oder ein Kaufmannsladen ist, so daß die zur Straße gekehrte Seite
deS Erdgeschosses oft gar keine Mauer hat, sondern bloß von
starken eisernen, mit Spiegelglas ausgesetzten Stäben getragen
wird. Hinter diesen durch ganze Straßen sich hinziehenden Glas-
wänden, die bloß von den Hausthüren an der Stelle des dritten
Fensters unterbrochen, und jede Nacht, so wie den ganzen Sonn-
tag mit tragbaren Laden verschlossen werden, ist nun alles mit
größter Gemächlichkeit zu schauen, was theils auf die physischen
Bedürfnisse berechnet, theils von dem Kunstfleiß zur Befriedigung
aller Acten des Lupus erfunden ist. Wenn das Auge von den
großen Silbergcwolben oder von den Schätzen der Zuweliercr, oder
den reichen Stoffen, den Draperien, den kostbaren Shawls, oder
den Glas- und Stahlwaaren geblendet ist, so kann es bald wie-
der auf den kunstvollsten Stickereien, oder bei den lieblichen Mi-
niaturgemäldcn, die als Probestücke der Künstler ausgehängt sind,
oder bei den blendend weißen Kattunwaaren aller Art, selbst an
den zierlich aufgeschichteten Kleider - und Schuhladen ausruhen,
oder sich an den köstlichen Kupferstichen ergötzen. An die gewal-
tige Consumtion erinnern dann wieder die Eßwaaren; hier die
ungeheuern, höchst zierlich terrassenartig aufgelegten, auch wohl
von Wurstgehängen umgebenen Schinken; dort die auf schrägen
marmornen Platten aufgethürmten, durch Eiswasser immer frisch
erhaltenen Seefische aller Art, mit ihrem gähnenden Gebiß; die
Muschelthiere, die Tausende von Krebsen; die Brot- und Kuchen-
waaren ; die feinen Confitüren und Glacen in geschliffenem Kry-
stall von allen Gestalten. Dem Reisenden, deren täglich 10 —
12,000 ein- und ausströmen sollen, bieten sich Koffer, Mantel-
säcke, Schreibzeuge und Reisewirthschaften, in denen auch das
kleinste nicht vergessen ist, in allen Formen und Farben an. Selbst
der Verstümmelte und Gebrechliche findet reiche Magazine künstli-
cher, der Natur sehr nahe kommender Hände, Füße, Zehen, Fin-
ger, Augen, Nasen und Wangen. Nach den Preisen zu fragen
hat man selten nöthig. Denn fast auf jedem Stück ist mit deut-
lichen Zügen auf Zetteln und Karten der Preis verzeichnet, oft
mit dringender Empfehlung: „daß es ausnehmend wohlfeil, wohl-
feiler als je, als irgendwo, sey, daß cs nur, nur so viel, ja
14 »
\
212
DaS britische Reich.
wirklich, man sollte es kaum glauben, nur so viel koste." Auch
durch die großen, meist goldenen Inschriften, mit denen Laden
und Wände der Häuser, oft von oben bis unten, bedeekt sind,
werden die Käufer eingeladen. Fast jeder Verkäufer rühmt sich
der Patronschaft irgend eines königlichen oder pnuzlichen Haupts,
oder versichert, daß er dem Könige, oder doch einem Prinzen duach
sein Patent besonders angehöre. Daher gab es sogar einen „Wan-
zenvertilgcr Ihrer Majestät der Königin," und einen „Eselsmilch-
licferanten des Prinzen von Wales." Ein SticfelwichSfabrikant
preist seine Waare mit einer im dritten Stockwerk anfangenden,
bis ins erste herabgehenden Inschrift von 2 Ellen hohen goldgcl-
ben, hölzernen Buchstaben als die einzige und beste an, und sein
Laden kann leicht 10,000 Büchsen enthalten. Wenn diese Kauft
läden dem Fremden schon am Tage den interessantesten Anblick
gewähren, so ist die Wirkung am Abend noch ganz anders. Die
schon sonst berühmte londoner Straßenerleuchtung ist jetzt durch
den Gebrauch des Gaslichts im hohen Grade gesteigert. Dies
reine Licht, das sowohl in den Laternen der Straßen, als in den
Läden selbst, sobald es dämmerig wird, brennt, wirft auf alles
einen solchen magischen Strahlenglanz, daß man in Feenschlössern
umherzugehen glaubt. Da in vielen tiefen Laden im Hintergründe
und an den Scitenwänden Spiegel angebracht sind, so wieder-
holt sich alles doppelt und dreifach. Die köstlichen Seidenzcuche
von den brennendsten Farben, malerisch neben einander und über
einander gelegt, die ostindischen ShawlS, die Krystallarbeiten;
die pyramidalifch aufgestellten kostbaren und seltensten Früchte al-
ler Länder, die natürlichen und künstlichen Blumen, erscheinen
am Abend noch einmal so schon als am Tage. Dazwischen strah-
len die großen, runden Flaschen und Vasen der Apotheker mit
hellen, rothen, blauen, grünen und gelben Wassern gefüllt, als
ob Rubine und Sapphire, Topase und Smaragde in ihnen aufge-
löst wären, und erwecken von fern schon die Idee einer festlichen
Erleuchtung, da sie doch bloß das Alltägliche sind. Und nun die
Hunderttausende von Menschen, die sich in diesem großen Pano-
rama unaufhörlich hin und her bewegen *)
*) Man erzählt von einem kleinen deutschen Fürsten, deren es sonst
so viele gab, der geäußert habe, als er des Abends in London ankam,
und durch die hell erleuchteten Straßen fuhr: cs thue ihm leid, daß die
Londoner um seinetwillen so viele Umstände gemacht haben. Ein andrer
Deutscher kam in der Nacht an, und wollte am andern Mittag seinen
ersten Ausgang halten. Als er aber vor die Hausthürc seiner Wohnung
trat, und die vorbeiströmende Menschenmenge sah, glaubte er, es sey ein
besonderes Ereigniß, welches die vielen Menschen herbeizöge, eine Hin-
richtung oder ein Auszug, und wollte abwarten, bis sich das Gedränge
etwas gelegt hätte. Nach einer Stunde kam endlich ein Bekannter vor-
bei, dem er seine Gedanken äußerte. „Lieber Freund," antwortete ihm
dieser, „wenn Sic das Ende des Gedränges abwarten wollen, so müssen
Sie bis um Mitternacht stehen; denn so ist cs den ganzen Lag."
Das britische Reich.
213
DeS Morgens fängt das Leben in London später an als bei
uns. Selbst an den schönsten Sommertagen sind die Straßen
bis 7, selbst Z Uhr sehr menschenleer. Man begegnet fast wenigeren
Fußgängern als Postkutschen, die nach allen Richtungen abgehen,
desgleichen den großen Kohlenwagen, die von 7 ungeheuren Nossen
vom User der Themse durch enge Gänge nach der Hauptstraße
hinaufgeschleppt werden, um alle Häuser mit Brennmaterial zu
versehen. Diese Kohlen sind in starken Säcken neben einander
geschichtet, aus welchen sie vor jeder Hausthüre durch runde,
mit einer beweglichen Eisendccke versehene Oeffnungen gleich in
das Küchen- und Kellergeschoß hinabgeschüttct werden, ohne das
Innere des Hauses zu berühren. Daneben begegnet man den flci;
nen Unglücklichen, welche um die von Ruß gefüllten Schornsteine
zu reinigen, sich in die engen Schlüfte hinaufzwängen müssen, und
in dem härtesten und traurigsten aller Geschäfte um ihre schönen
Kinderjahre, oft um Gesundheit und Leben kommen. Es ist ein
Iammeranblick, wenn man die 7 — 8 jährigen Knäbchen, an de-
nen nichts weiß ist, als etwa das Auge, die Borstbesen in der
Hand, einen Sack auf der Schulter, eine schwarze Binde um
den Kopf, ihr kläglich tönendes Sweep (swihp), d. i. Kehren!
ausrufen, oder in kleinen Gassen aus den Kellern elender Häuser,
wo sie die Nacht zubringen, wie aus einem unterirdischen Nest,
die kleinen Mohrenköpfe herausstecken und nach Luft schnappen
sieht. Fast eben so widrig ist der Anblick der Kccidcraufkäufer,
die: old Clotlis (old Klahs), d. i. alte Kleider! ausrufend, jeden
Morgen die Straßen mit großen Säcken durchziehen, oder gar
der schmutzigen Gesellen, die durch ihr gellendes: Cats bee£
(Kehts Bih-f), d. i. Katzenfleisch! zum Futter für Katzen und
Hunde Käufer einladen, und ihnen den ekelhaften Fraß genau zur
wägen- In den Fahrwegen der Straßen sind die Gassenkehrer
beschäftigt, den Koth wegzuschaffen; vor den Häusern aber die
Hausmädchen, die Fußtritte und Steinwege zu scheuern. Freund-
licher erinnern die Milchfrauen, mit ihren reinlichen hölzernen und
kupfernen Eimern, an die nahe Stunde des Frühstücks. Nach
und nach werden die Kaufläden ihrer nächtlichen Decken entkleidet.
Die Lehrlinge sind emsig mit dem Abreiben und Putzen der Glas-
fenster beschäftigt. Der bunte Waarenschmuck erscheint wieder,
und jetzt kaun man ungestört vom Gedränge alles am gemächlich/
sten beschauen.
Gegen 9 Uhr und früher noch in der City als in West-
minster — mehrt sich die Menschenmenge. Die Kaffeehäuser fül/
len sich mit jeder Stunde. Die Tagsblätter sind erschienen, und
jeder eilt, des einen oder des andern habhaft zu werden. Die
Sitze und Tische sind durch fast mannshohe Scheidewände von
Mahagonyholz von einander geschieden, und man sucht die leeren
Plätze, um desto ungestörter die Neuigkeiten des Tages aus die-
I
214
Das britische Reich.
sen im größten Folioformat gedruckten Zeitungen zu erfahren.
Niemand spricht mit dem Andern, wenigstens nicht anders alS
leise. Um die Mittagsstunde verändern sich die größeren Kaffee-
häuser in förmliche Büreau's, wo Briefe geschrieben, wo oft
weit mehr Geschäfte als in den Privatwohnungen abgemacht wer,
den, und man stets sicher ist, seinen Mann zu finden, wenn man
weiß, welches Kaffeehaus derselbe regelmäßig besucht. Die Bür,
gersteige vor den Häusern sind nicht nur von der Fahrstraße ge,
sondert, sondern auch etwas erhöht. Dazu kommt das schöne
Pflaster mit Quadersteinen und die Gewohnheit, stets rechter
Hand auszuweichen, so daß das Gehen trotz des Gedränges nicht
beschwerlich ist. Entsteht ja eine Hemmung durch das zu starke
Gedränge, so hält irgend ein geschmackvoller Kaufladen, vor dem
man stehen bleibt, schadlos. Vor einigen der schönsten sieht man
immer einen Kreis von Beschauern. Nur nehme man hier seine
Taschen in Acht. Denn gerade diese Augenblicke wissen die Pick-
Pockets (Taschendiebe), die man in ihrem anständigen Anzuge
nicht herauskennt, zu benutzen, und unter dem Scheine, die Waaren
zu beschauen, ihr HänLespiel gar künstlich zu treiben. Was man
in den großen Straßen von Fußgängern sieht, hat fast ohne alle
Ausnahme den Anschein von Wohlhabenheit. Aermlichkeit und
Schmutz erblickt man fast allein in Len kleinen Straßen der City
oder auf größern Märkten und Plätzen. Dort hingegen ist fast
Jeder wahlgekleidet; die Männer im Durchschnitt schwarz und
stets in sehr weißer Wäsche — denn dies ist unerläßlich, um als
ein Oentleman zu erscheinen —, die Frauen ohne Ausnahme in
Hüten und sehr zierlich angezogen, recht eigentlich geputzt, als ob
sie eben in Gesellschaft gehen wollten. In einigen Gegenden, wo
die Prachtlädcn sind, sieht man in den Stunden von 12— 3 die
elegantesten Damen, die, weniger um zu kaufen, als um zu se,
heu, gesehen zu werden und sich zu unterhalten, sogenannte La-
dengänge oder Ladenfahrten machen, waS sie g-o a shappiiig (go
a Schäpping) nennen. Sie reißen in den Kaufmannsläden hum
derterlei auseinander, lasten sich eine Menge von Dingen zeigen,
oft ohne das geringste zu kaufen, und wahrlich die Geduld der
Kaufleute ist zu bewundern, die sich das nicht nur gefallen lasten,
sondern sogar die Höflichkeit selbst dabei sind.
Mitten unter dem so beweglichen Leben der Straßen und
Plätze trifft man auch oft unbewegliche Gestalten an. Da sieht
man Männer, die wie Laterncnpfähle an hohe Stangen gelehnt
sind, an denen oben eine Tafel befestigt ist, welche Sehcnswür,
digkeiten: fremde Thiere- Riesen und Zwerge, Lotterien, bei de-
nen Tausende zu gewinnen seyn sollen, ohne etwas zu verlieren,
Panorama's, Concerte u. s. w. ankündigt, indcffen Andere, die
dergleichen Tafeln auf den Rücken geheftet haben, sich ganz lang-
sam damit fortbewegen. Der Fahrweg wird in den Hauptgcgen-
DaS britische Reich.
215
den der Stadt nicht nur nie leer, sondern füllt sich im Gegentheil
oft so sehr, baß man zu Fuß weit schneller fortkommt als zu Wa-
gen, indem häufig so viele Post, und Miethkutschen, Kabriolets
und ungeheure Lastwagen zusammenstoßen, daß man, besonders bei
Temple Bar (s. oben), nicht selten still halten muß, bis es end,
lich möglich ist durchzukommen. Zn allen Hauptstraßen und
auf allen Plätzen findet man vom Morgen um 9 bis nach Mit,
ternacht unzählige Hackney’s (Häckni ), d. i. zwei - und viersitzige
Miethkutschen. So groß auch ihre Zahl ist, so fehlt es dennoch
oft ganz daran, sobald Regenschauer eintreten, was, selbst an
schönen Tagen, sehr häufig der Fall ist. Dann eilt alles in die
zunächst stehenden Wagen, die augenblicklich sämmtlich in Bewe-
gung gesetzt sind.
Am Abend wird es früher in der Milte der Straße, später
auf den Fußwegen still. Diese sind, da die Erleuchtung der Kauf-
laden und das Gaslicht der Laternen die Nacht zum Tage macht,
oft um 9 und 10 Uhr noch so voll wie um Mittag, und sic wer-
den es vorzüglich noch einmal, wenn die Schauspiele gegen 12
Uhr Mitternachts, auch wohl später, geendet haben. Dann ver-
hallt allmälig das Getümmel. Schon von 9 Uhr an nehmen die
Nachtwächter ihren Posten mit Piken und Schießgewehr an den
Straßenecken ein, und rufen vernehmlich die Stunden, gegen Mor-
gen auch das Wetter ab.
Was die Sitten und die Lebensweise in England, und na,
mentlich in London, betrifft, so tritt hier die VolkSthümlichkeit
weit stärker hervor als in andern Ländern. Den Hauptunterschied
der Sitten macht, wie überall, die Verschiedenheit der Stände.
Jedoch ist gerade hier schwerer als in andern Ländern die Ver-
schiedenheit äußerlich wahrzunehmen. Dies ist schon bei der Klei,
düng der Fall. Die männliche Tracht zeichnet sich durch die größte
Einfachheit aus. Die Güte des Stoffs ist freilich verschieden;
aber was ins Auge fällt, wenn man den Staatsminister, den
reichsten Lord, den Kaufmann, den wohlhabenden Handwer-
ker, den HandlungScommis auf der Straße oder in Gesellschaft
erblickt, ist durchaus dasselbe, bloß die Hofgalla ausgenom-
men. Man sieht Keinen, der sich durch ein äußeres Abzeichen,
eine besondere Uniform, unterschiede. Ein solcher, der von der
gewöhnlichen Kleidung abwiche, würde Gefahr laufen, vom Pö-
bel verspottet zu werden. Als der berühmte Campe in London
war, ging er eines Tages im Oberrock auf die Straße, und trug,
wie es damals in Deutschland üblich war, statt des Hutes auf
dem Kopfe, ein kleines seidenes Armhütchen unter dem Arme.
Es währte nicht lange, so hatte sich eine Menge Menschen, Alte
und Junge, Männer und Weiber, um ihn versammelt. Der
Lärm wurde endlich so arg, daß er nicht mehr zweifeln konnte,
der Zusammcnlauf gelte ihm. Er sah sich verlegen und verwun-
216
Das britische Reich.
dert um, wußte aber gar nicht, was man eigentlich von ihm
wollte. Glücklicherweise erkannte ihn ein Bekannter, der zufällig
am Fenster stand, eilig hinunterlief, ihn in seine Wohnung ein-
lud, und dringend bat, sich ja nicht wieder durch Abweichung vom
Ueblieben Unannehmlichkeiten auszusetzen *).
Ebenso ist es mit dem Anzuge der Frauen. Der innere Ge-
halt und die Kostbarkeit, nicht die Form, nicht die Art, sich zu
tragen, macht den Unterschied. Die letzte Kammerjungfcr trägt so
wie die reichste Lady einen Strohhut und ein schneeweißes Musselin-
kleid, und nur bei seltenen, sehr feierlichen Gelegenheiten, wird al-
ler Glanz der Kleiderpracht dargelegt. Deshalb glaube man aber
nicht, daß die Kleidung gar nicht beachtet würde. Im Gegentheil
hat dort jede Tageszeit ihr eigenes Costume. Selbst wenn man
ganz in der Familie lebt —• und dies ist in der Regel der Fall —
kleiden sich besonders die Damen eigen für das Frühstück, eigen für
das'Ausgehn oder Ausfahren, wo ein großer Hut, Umschlagctuch oder
Shawl ganz unerläßlich sind, um nicht angestaunt oder verspott
tct zu werden; dann wieder eigen für die Mittagszeit, wo auch
der Kaufmann seinen Comptoir- oder B'örsenrock auszieht. Die
Lebensweise ist in den Familien der gebildeten Stände fast ganz
gleich. Vor 8 klhr wird cs fast in keinem Hause lebendig, weit
eS so spät Nacht wird. Das Frühstück wird nie allein, sondern
mit der ganzen Familie eingenommen, und wichtiger genommen als
bei uns, zuweilen auch wohl Freunde und Fremde dazu eingela-
den. Gewöhnlich geht demselben das Morgengebet voran, bei
dem nicht nur die ganze Familie, sondern auch die Dienerschaft
zugegen ist. Der Hausvater liest die vorgeschriebenen kirchlichen
Gebete vor, und cs währt etwa eine Viertelstunde. Dann geht
*) Ein ähnlicher Fall trug sich mit einem Kaufmann aus Breslau zu,
der, mit der englischen Lebensart unbekannt, nach London gekommen
war. Er hatte sich ein Zimmer in einen: Privathause gemiethet, und, zu
müde, um auszugehen, wollte er sich die Zeit damit vertreiben, daß er
aus dem Fenster sähe. Er stopfte sich seinen Meerschaumpfcifenkopf, schob
das Fenster in die Höhe (in England werden die Fenster dadurch geöff-
net, das man sie hinausschiebt), und legte sich mit dem oberen Theile sei-
nes Körpers und der Pfeife hinaus. Es währte nicht lange, so sam-
melte sich ein Volkshause vor den: Hause, und blickte lachend zu dem
Fremden hinauf, der nichts weniger als sich für den Gegenstand der Be-
wunderung hielt, und glaubte, eS sey über ihm etwas zu sehen. ^Ru-
hig sah er daher auf den Tumult herab, und rauchte fort. Plötzlich
stürzte die Wirthin wuthentbrannt in das Zimmer. „Ums Himmels wil-
len, Herr! was machen Sie? Sie verderben mir ja mit ihrer abscheu-
lichen Pfeife die Tapeten und Gardinen! Wissen Sie denn nicht, daß
man nur in der Tabacksstube des Kaffeehauses raucht? Geschwind die
Pfeife fort! Und nun legen Sie sich noch dazu ins offene Fenster, was
doch ganz unschicklich, und kaum dann erlaubt ist; wenn ein Auszug vor-
beizieht! Sehen Sie denn nicht, daß sich das Volk schon sammelt, und
eben im Begriff ist, meine Fenster einzuwerfen?"
Das britische Reich.
217
es zum Frühstück. Den meist runden Tisch bedeckt ein schneewei-
ßes Tuch. Das Thee- und Kaffecgeräth steht wohlgeordnet in
der Mitte. Im einfachsten, aber zierlichsten Anzuge sitzen die Fa-
milienglieder umher. Die Hausfrau oder auch eine der älteren
Töchter bereitet mit vieler Umständlichkeit den Thee, oder schenkt,
je nachdem es ein Jeder wünscht, den Kaffee ein. lieber dem
Kaminfeuer, daS man selbst im Sommer selten in großen Zim-
mern vermißt, siedet der blanke Keffel. Nicht weniger ist für das
Essen gesorgt. Man hat die Wahl zwischen dem feinsten weißen
Brot, oder am Feuer gerösteten, von beiden Seiten mit Butter
bestrichenen Brotschnitten, mohnblätterartigcn Buttersemmeln, wcich-
odcr hartgekochten Eiern, auch wohl allerhand zierlich aufgeschnit-
tenen Fleischspeisen, allerlei Marmeladen, selbst Früchten zun, Ein-
tauchen in Sahne, kleinen Krebsen und vielen andern Dingen.
Alles das ist auf das späte Mittagsessen berechnet. . Wenn jeder
Gast mit großer Aufmerksamkeit besorgt ist, und man erklärt, daß
man nichts mehr bedürfe, dann erst wird das Gespräch lebhafter.
Nach 1 oder 14- Stunde entfernt sich Jeder zu seinem Geschäft.
Zwischen dem Frühstück und dem Mittagsessen liegt in der Regel
ein sehr langer Zeitraum von 7—8 Stunden. Es tritt daher in
sehr vielen Häusern um 1 llhr ein zweites Frühstück ein, wo
man kalte Speisen nebst einem Glase Porterbier oder Wein
genießt. Wer nicht in einer Familie lebt, geht wohl in die
Kaffee - oder Spcisehäuser, und ißt einen Teller Suhpe, Cote-
lcts, Pastetchcn oder Beefsteaks. Am delieatcsten, aber auch
theuersten sind die Turtles (Tortels), d. i. Schildkrötensuppen,
von denen der Teller 1^-— 2 Thaler kostet.
Die Hauptmahlzeit fängt frühstens um 4, meist um 5, in
hohen Häusern kaum vor 7 Uhr an. Hat man Gäste geladen,
so sind deren selten mehr als 12 da, weil der Raum mehr zu la-
den nicht erlaubt. Die Tafel steht, wenn man ins Tafelzimmer
eintritt, scrvirt da, meist ohne Servietten. Das Tischtuch hängt
bis auf die Erde herab, und Jeder nimmt cs beim Niedersetzen
auf den Schooß, und bedient sich seiner wie bei uns der Serviette.
Die Dame vom Hause thront in einem Lehnstuhle am oberen
Ende der Tafel, ihr Gatte sitzt ihr gegenüber unten am Tisch;
die Gäste nehmen auf gewöhnlichen Stühlen zu beiden Seiten
Platz, so viel möglich in bunter Reihe, nach der Ordnung, die
ihnen vom Herrn des Hauses vorgeschrieben wird. Die Gerichte
werden nicht einzeln, sondern alle, die zu einem Gange gehören,
zugleich auf den Tisch gesetzt, und zwar mit Blechglocken bedeckt.
Die Dame servirt die, reichlich mit Pfeffer gewürzte, ziemlich
dünne Suppe, nachdem sie jeden Tischgcuossen namentlich gefragt
hat, ob er davon verlange. Ein paar Hausfreunde helfen sodann
dem Herrn und der Frau vom Hause im Vorlegen der Schüs-
seln. Alle werden nach der Suppe zugleich servirt. Sie beste-
218
DaS britische Reich.
hen gewöhnlich aus einem großen Seefisch, Lachs, Kabliau,
Stcinbutte oder dergleichen, der, beim Kochen gesalzen, noch
vortrefflicher wäre, aus Puddingen, Gemüsen, Pasteten und
allen Gattungen von Fleisch und Geflügel , ohne Salz, Butter
oder fremde Zuthat, in eigener Brühe gedämpft, geröstet, gebra-
ten oder gekocht. Nur der Pfeffer ist daran nicht gespart. Hat
man über eine solche Schüssel einen dünnen, trocknen Butterteig
gelegt, so beehrt man sie mit dem Titel einer Pastete. Die halb-
rohen Gemüse müssen grün und frisch aussehen; erst bei der Ta,
fel thut Jeder auf seinem Teller nach Belieben geschmolzene But-
ter daran. Kartoffeln fehlen bei keiner Mahlzeit. Der Salat
wird von der Dame vom Hause über Tisch mit vieler Umständ-
lichkeit bereitet und kleingeschnitten; er besteht aus einer sehr zar-
ten, saftigen Art Lattich, dessen Blätter schmal, aber wohl eine
halbe Elle lang sind. Des Fragens von Seiten der Wirthe und
des Antwortens von Seiten der Gäste ist an einem englischen Ti-
sche kein Ende. Der Gast muß Rede und Antwort von jeder
Schüssel geben, ob er davon verlangt, ob viel oder wenig, mit
Brühe oder ohne Brühe, welchen Theil vom Geflügel, vom
Fisch, ob er cs gern stärker oder weniger gebraten hat? Beim
Essen ist fast nur vom Essen die Rede. Das Ceremoniell beim
Trinken ist sich überall gleich. Gewöhnlich nimmt der Wirth
zuerst das Wort, und bittet eine Dame um die Erlaubniß, ein
Glas Wein mit ihr zu trinken, und zugleich zu bestinnnen, ob
sic rothen Portwein oder weißen Scherry vorziehe. Zierlich sich
gegen einander verneigend sprechen die beiden handelnden Personen
wie im Chor: ,,Sir" (Scrr, die gewöhnliche Benennung, mit wel-
cher man jeden Herrn anredet), Ihre gute Gesundheit! Madame,
Ihre gute Gesundheit!" trinken die Gläser aus, und setzen sie
weg. Nach einer kleinen Weile tönt dieselbe Aufforderung von
einer andern Stimme; dieselbe Ceremonie wird wiederholt, und
immer wiederholt, bis jeder Herr mit jeder Dame, und jede Da-
me jedem Herrn wenigstens ein Mal die Reihe durchgemacht hat.
Abschlagen darf man cs Niemandem; das wäre beleidigend; oben-
drein muß inan noch mit dem ersten Glase den Wunsch für die
Gesundheit jeder einzelnen Person an der Tafel, wenigstens durch
ein Kopfnicken, andeuten, und auch genau Acht geben, ob Je-
mand der andern Gäste uns diese Ehre erzeigt. Es wäre die
höchste Unsittlichkeit, wenn eine Dame unaufgefordert trinken
wollte; sie muß warten, wäre sie auch noch so durstig; doch bleibt
die Aufforderung selten lange aus. Auch die Männer müssen
sich zu jedem Glase einen Gehülfen einladen; ein Dritter hat aber
die Erlaubniß, sich mit anzuschließen, wenn er vorher geziemend
darum anhält. So hat man denn mit Antworten auf die Ein-
ladungen zum Essen und Trinken, mit Gesundheiltrinkcn. und
mit Achtgeben, ob nicht Jemand die unsrige trinke, vollauf zu
Das britische Reich.
219
thun. — Selten ist die Zahl der Schüsseln groß. Alles gehtrasch.
Nach einer guten Stunde ist die Mahlzeit vorbei. Der Tisch
wird geleert, die Brotkrumen sorgfältig mit einem Tuche abge,
kehrt, und es erscheinen verschiedene Arten von Käse, Butter,
Radieschen und wieder Salat, der ohne Zuthat bloß mit Salz
zum Käse gegessen wird. Dieser Zwischenaet dauert nicht lange;
er macht bald einem zweiten Platz. Jeder Gast bekommt nun ein
kleines, schön geschliffenes Krystallbecken voll Wasser zum Spülen
der Zähne und Händewaschen und eine kleine Serviette. Man
verfährt damit, als wäre man für sich allein zu Hause. Nach
dieser Reinigungsceremonie ändert sich die ganze Dekoration. Das
Tischtuch, mit allem, was darauf stand, verschwindet, und der
schöne hellpolirte Tisch von Mahagonyholz glänzt uns entgegen.
Jetzt werden Gläser und Flaschen vor dem Herrn des Hauses hin-
gestellt, das Obst wird aufgetragen, und jeder Gast erhält ein
kleines Couvert zum Desert, zwei Gläser und ein kleines rothge-
würfeltes oder auch ganz rothes, viereckig zusammengelegtes Tuch.
Dies wird nur selten entfaltet; man benutzt es nur, bas Glas
darauf zu stellen. Das Obst wird nicht herumgereicht,, sondern
nur mit vielen Fragen ausgcbotcn. Jetzt fangen die Flaschen an,
die Hauptrolle zu spielen; Jeder schiebt sie seinem Nachbar zu,
nachdem er sich selbst etwas eingeschenkt hat, viel oder wenig,
wie man will. Der Wirth bringt nun einige Toa8l'8 (Tohst)
aus; er läßt seine Freunde leben, und nie wird dabei die könig-
liche Familie vergessen. Bald aber erhebt sich die Dame des Hau-
ses aus ihrem Lehnsessel; mit einer kleinen Verbeugung giebt sie
den übrigen Damen das Signal. Alle erheben sich, und gehen
sittsamlich hinter ihrer Führerin zur Thüre hinaus. Jetzt wird
cs den Männern leichter ums Herz; aller Zwang ist nun ver-
bannt; sie bleiben unter sich allein, bei Wein, Politik und heiterm
Gespräch. Indeß langweilen sich die Damen im andern Zimmer
am Kamin, bis nach einer Stunde, auch wohl später, der Thee
und Kaffee bereitet ist, die Männer wieder zur Gesellschaft kom-
men, und das Gespräch wieder lebendiger wird. Mit der späten
Theeftunde endet in sehr vielen Haushaltungen der Tag. Doch
findet man auch in manchen Familien um 9 oder JO Uhr wieder
ein einfaches, meist kaltes Abendbrot, wobei gewöhnlich der hol-
ländliche oder der Chesterkäse in einer sehr großen, blechernen Kap-
sel, die schön lackirt, mit Rädern versehen, und halb offen ist,
die Runde macht.
Man kann in katholischen Ländern nicht strenger auf die Feier
des Sonntags halten, als es in England geschieht. Musik und
Tanz sind hoch verpönt; ans Theater ist gar nickt zu Lenken er-
laubt, und wenn das Stück, das Sonnabends gespielt wird, um
Mitternacht noch nicht beendigt ist, so muß dennoch der Vorhang
fallen, weil der Sonntag bereits angebrochen ist. „Jsts wirklich
220
Das britische Reich.
ivabr," fragte eine Engländerin eine deutsche Dame, „daß mau
in Deutschland am Sonntage Karten spielt?" — „Freilich!" —
war die Antwort, „und zwar da am meisten, weil es da die
Geschäfte am meisten erlauben." — „Euter Gott!" seufzte eine
zweite Dame, „aber man kann cs ihnen nicht so verübeln, weil
sie nicht bester gelehrt werden," und dabei blickte sie mitleidig
auf die Deutsche hin. „Aber sie spielen doch nicht um Geld?"
fragte eine Dritte. — „Freilich um Geld." -— Alle fuhren
schaudernd zurück. Das thut das Vorurtheil; dagegen hält der
Engländer nicht für Unrecht, den ganzen Sonntag müßig zu gehn
und sich zu betrinken, was daher auch recht fleißig geschieht. Der
ächte Engländer theilt den Tag zwischen öffentlichem Gottesdienste,
häuslicher Betstunde und der Flasche. Seine Frau bringt die
Zeit außer der Kirche mit irgend einer Gevatterin zu, und läßt
den Nächsten eine scharfe Revue passircn; denn das ist Sonntags
erlaubt. Den Fremden geht cs noch schlimmer, weil sie des
Zwanges ungewohnt sind. Man 'öffnet das Clavier; da knickst die
Wirthin inS Zimmer herein, und bittet, den Sonntag nicht zu
vcrgesten. Man ergreift ein Brich; da kommt ein Besuch, sieht,
daß man eine weltliche Leetüre gewählt hat, und hält uns eine
Strafrede. Aergerlich setzt man sich ins Fenster; man ergreift,
ohne daran zu Lenken, ein Strickzeug. Da versammelt sich der
Pöbel vor dein Hause! er zieht uns mit Schimpfen und Schelten
einen neuen Besuch der Wirthin zu, welche sich ernstlich die Ent-
weihung des Sonntags verbittet. Für Viele ist daher der Sonn-
tag in England sehr langweilig; dennoch ist er für den Fremden
schon darum interestant, weil London dann ein ganz anderes An-
sehen hat; denn alle Kaufmannsladcn sind dann fest vcrschlosten, und
die Fensterwände mit farbigem Vorlagen bedeckt. Auf den Stra-
ßen ist es sehr still, bis um 10 oder 11 Uhr der Gottesdienst be-
ginnt. Dann mehren sich wohlgckleidete Kirchgänger, auf allen
Wegen, im Bürgerstande gewöhnlich Mann und Frau, die Kin-
der vor sich her, meist das Gesang- und Gebetbuch in der Hand.
Die Kirchen werden stark besucht; besonders sind einige Abendkir-
chen, die um 6 Uhr angehen, so unbeschreiblich gefüllt, daß der
Spätkommende keinen Platz mehr sindet. Ueberhaupt ist in Eng-
land die äußere Achtung vor dem öffentlichen Religionswesen und
die christliche Gemeinschaft zur Erhebung der Seele zu Gott viel
allgemeiner als bei uns. Viele bringen den Sonntag auf dem
Lande zu. An schönen Tagen sind die Landstraßen mit Wagen
und Fußgängern oft gefüllter als an Wochentagen, und die Themse
ist mit Fahrzeugen bedeckt, welche große Gesellschaften nach den
herrlichen Ufergegcnden und Landsitzen führen. Besonders aber
sind gegen Abend die Gast- und Trinkhäuser mit Menschen an-
gefüllt. In den drei Hauptspatzicrorten Londons, dem James-
Park (DjämS-Pärk), dem Hyde-Park (Heide-Park), beide
Das britische Reich.
221
auf der Seite von Westminstcr und dem P r i n z-R e ge n ts -
Park, auf der Nordwestscite der Stadt, ist es Sonntags, son-
derlich gegen Abend, so voll, als wenn hier die ganze Bürgerschaft
von London ans der Wanderschaft wäre.
Im Umgänge herrscht in London, wie überall in England,
die edelste Einfachheit der Sitten, ans der die wahre Höflichkeit
mehr beruht, als auf den tiefen Verbeugungen und den herge-
brachten Höflichkeitsformeln, die man bei uns kommend und ge-
hend so oft gebraucht, ohne etwas dabei zu denken. Man reicht
dem Vornehmsten wie seines Gleichen die Hand, und ist einer
freundlichen Erwiederung gewiß. Man begrüßt den Lord wie den
Freund mit einem „Guten Morgen!" und scheidet von ihm mit
einem: „Guten Abend!" oder „ Gute Nacht!" Diese Worte,
so wie das auch oft vorkommende „Lebewohl!" (fare well, Fä-
rcwell), hört man nicht selten mit rechter Herzlichkeit aussprcchen.
Dagegen sind Umarmungen und Küste unter Männern dort so
ungewöhnlich, daß der, welcher einen Freund auf der Straße küssen
wollte, Gefahr liefe, vom Pöbel verhöhnt zu werden. Ebenso
fällt dort das so lästige und bedeutungslose Wünschen einer ge-
segneten Mahlzeit ganz weg. Zu den schönsten Eigenthümlichkei-
ten des britischen Lehens gehört, daß die scharfen Astschnitte zwi-
schen den Ständen, die bei uns noch so häufig statt, finden, dort
ganz wegfallen. Alle Menschen von Bildung betrachten sich als
ihres Gleichen, und wer sich über den andern seines Reichthums
oder Standes wegen erheben will, macht sich nur lächerlich. Der
Mensch gilt in England für das, wie er sich giebt, und das ist
allerdings ein Beweis von höherer geselliger Bildung, als wenn
man bei uns erst nach dem Titel fragt, um danach die Tiefe der
Verbeugungen zu bestimmen.
Der König von England wohnt im St. Zamcs-Pallast
(Sehn Djäms), einem alten, rußigen, verwirrt gebauten Gebäu-
de, das man nicht für einen Königssitz halten möchte. Die in-
nere Einrichtung mag freilich desto schöner seyn. Er liegt im süd-
westlichen Theile voil Westminster, nicht weit von der Themse und
der Westminsterbrücke. Nahe dabei ist der königliche Pallast Carl-
ton-Ho use (Kärltenhaus ). Ueberhaupt liegen hier die Woh-
nungen der Glieder des königlichen Hauses und die Palläste der
Großen beisammen. Auch ist nicht weit davon die berühmte
W e st m in stc r-A b t e i. Sie ist die älteste Kirche Londons,
deren Entstehung in die grauesten Zeiten hinaufgeht. Ein präch-
tiges Portal führt in das innere Hciligthum. Schlanke, leicht
und kühn gebildete Pfeiler tragen daS hohe Gewölbe, das nur
durch ein dämmerndes Licht erhellt wird. Das höchste Interesse
gewinnt diese alte Kirche durch die fast nicht zu berechnende Menge
der Todten, die in ihrem Schooße ihre letzte Ruhestätte gefunden
haben. Hier liegen nicht nur die Könige begraben, sondern auch
222
DaS britische Reich.
andere durch Geist, Gelehrsamkeit, Feldherrntalente oder andere
Verdienste ausgezeichnete Männer. Die Gräber selbst und die
Monumente sind in dem ganzen unübersehbaren Raum der Kirche
zerstreut. Hier hat man die wichtigsten Personen der englischen
Geschichte, die vorzüglichsten Dichter, Musiker, Gelehrten, Staats-
männer, Admiräle, kurz alles, was durch Geburt oder Talente
glänzte, beisammen. Bei vielen sind schon 6—7 Jahrhunderte
vorübergegangen. Welche Erinnerungen, und welche Betrachtung
gen über die Nichtigkeit alles dessen, was wir groß nennen, knü-
pfen sich daran! Zuerst treten wir in den Theil der Kirche, wo
die Denkmäler berühmter Gelehrten, Dichter und Redner sind.
Auf Shakespear's Denkmal steht dieser in ganzer Figur, und zeigt
auf eine Pergamentrolle, auf welcher die Worte stehen:
So werden
Die wolkenhohcn Thürme, die Palläfte,
Die hohen Tempel alle, selbst der große Erdball,
Und was ihm angehört, einst untergehn,
Und ohne Spur verschwinden! — Dem Stoff,
Aus dem der Traum gewebt ist, gleicht der unsre;
In langen Schlaf versinkt das kurze Leben.
Weiterhin sieht man in mehreren Seitencapcllen die alten
Könige von England liegen. Jeder, der die englische Geschichte
kennt, muß hier von den mannigfaltigsten Empfindungen durchdrun-
gen werden. Die Denkmäler sind meist steinerne, auf Postamen-
ten ruhende Sarkophage, an den Seiten mit historischen Basre-
liefs verziert. Auf ihnen liegen die Figuren in Lebensgroße, theils
in Marmor, theils in Erz, in das Costiime ihrer Zeit gekleidet,
starr hingestreckt, und trotzen der Zeit, während die Leichname in
den steinernen Särgen längst in Staub verwandelt sind. Dies
sind die Herrscher, die ihre nun auf immer geschloffenen Lippen
einst zu Segen und Fluch öffneten, die nun erstarrten Hände mit
dem Schwert bewaffneten, oder die zahllose Todesurlheile unter/
zeichnen ließen; dies die nun gebrochenen Herzen, in denen so oft
Liebe und Haß wechselnd gekämpft hatten. Bei den Gräbern der
Heinriche und Eduarde, wie erneuert sich da das Andenken an
die blutigen Fehden der rothen und weißen Rose in den Häusern
Pork und Lancaster *)! Wer stände besonders nicht still an dem
prächtigen Denkmal, daS Jakob I. seiner unglücklichen Mutter
Maria Stuart errichten, und in welches er ihre Gebeine le-
gen ließ, die anfangs im Dom von Peterborough (Peterbro) be-
stattet waren **)! Wie ruhig liegt ihr steinernes Bild jetzt da!
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 2., S. 199.
**) Ebend. Th. 3., S. 60 u. 94.
Das britische Reich,
22Z
Keine Spur mehr von der Unruhe, durch welche ihr Leben einst
bewegt wurde! In gleicher Linie, nicht weit davon, ist das Mo-
nument ihrer Todtfeindin Elisabeth. Steht man zwischen beiden
Gräbern, ■— gern überläßt man sich dann der Täuschung, als
sehe man die beiden Königinnen selbst der Gruft entsteigen, und, wie
in Schillers Trauerspiel, einander gegenüber stehen. Aber die
beiden Feindinnen haben sich auf dieser Erde nie gesehen, und sind
nun im Tode einander so nahe!
Nicht weit von der Kirche, näher nach der Themse zu, steht
die W e stm i nsterh a l le, der größte Saal in Europa, dessen
Decke auf keinem Pfeiler ruht. Hier war es, wo einst der un-
glückliche Karl I. vor dem Gerichte stand, das ihm das Todes-
urtheil sprach *). Hier werden tagtäglich die hohen Gerichte
gehalten, und mit Verwunderung sehen wir hier viele Herren
in langen schwarzen Mänteln und mit großen weißgepuderten Per-
rücken aus- und eingehen. Das sind die Gerichtspersonell, die
nach altem Gebrauche diese Tracht haben müssen.
An dies Gebäude stoßt ein anderes, das Unterhaus oder
das Haus der Gemeinen. Es ist ein mäßiger Saal, dessen
Wände getäfelt sind. Dem Eingänge gegenüber sitzt auf einer
Art von Thron in langem schwarzem Mantel, das Haupt mit
einem Hut und einer ungeheuren Perrücke bedeckt, der Sprecher.
Vor ihm steht ein großer behängter Tisch, an welchem zwei Se-
cretairs, auch in Perrücken und schwarzen Mänteln, sitzen. Auf
demselben liegen die Papiere und Pergamentrollen der eingebrach-
ten Bills. Die Bänke, die sich amphirheatralisch über einander
erheben, sind mit grünem Saffian beschlagen, und mit den Mit-
gliedern des Unterhauses bedeckt, die keine Amtskleidung haben,
und ganz ungezwungen sind; sie haben meist den Hut «ns dem
Kopfe, essen aus der Tasche, sprechen mit einander, kurz sie thun,
was sie wollen, besonders wenn der Gegenstand, der eben ver-
handelt wird, sie nicht sehr interessirt. Der Thüre gegenüber ist
in der Hohe die Gallerie, auf welcher etwa 200 Zuhörer Platz
haben. Auf der letzten Bank derselben sitzen ganz in der Hohe
die Geschwindschreiber, die mit unglaublicher Schnelligkeit jedes
Wort aufmerken. Während der Nacht werden die Reden ge/
druckt, und am andern Morgen kann mau schon in den Zeitun-
gen lesen, was Tags vorher im Parlamente gesprochen wor-
den ist.
Dicht daneben ist das Oberhaus. Der Saal ist eben so
groß, hat aber keine Gallerie. Die Wände sind mit fast zwei-
hundertjährigen Tapeten bedeckt, welche den Sieg über die Arr
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg.,
Th. 3., S. 207.
224
Das britische Reich.
mada darstellen *). Am Ende des Saals steht der Thron, auf
welchem der König das Parlament durch eine Rede eröffnet.
Vor dem Throne sitzt der Großkanzler, der imOberhause, wie der
Sprecher im Unterhause, präsidirt, auf seinem Wollsacke.
Alle diese Gebäude: Westminster-Abtei, Westminsterhalle,
Unter- und Oberhaus, befinden sich in dem südwestlichsten Theile
von Westmi'nster (und zwar, wenn man von dem James-Park
nach der Westminsterbrückc geht, gleich rechts).
Andere merkwürdige Gebäude sind folgende:
Die Paulskirche. So wie man den Sauet Peter in
Rom schon weithin sieht, so erblickt man auch jene Kirche, wenn
man sich London naht, weit über alle Häuser hinwegragen. Sie
liegt in der City, und zwar nicht weit von Temple Bar, und
würde bei ihrer ungeheuren Größe noch einen stärkeren Eindruck mar
chcn, wenn sie freier stände, und nicht durch Straßen und Gebäude
ganz eingeengt würde. Man steigt zu ihr empor auf 20 breiten
Marmorstufen, und tritt durch eine Halle, die von 12 korinthi-
schen Säulen getragen wird, in das Innere des hohen Doms.
Der Anblick des auf erhabenen Säulen ruhenden Gewölbes, bis
in die Mitte, wo sich die Kuppel auf 32 Säulen erhebt, ist so
überwältigend und ergreifend, daß man anfangs ein feierliches
Grauen, eine Art Bangigkeit empfindet, besonders wenn man mit-
ten in der Kirche steht, und hinaufblickt bis dahin, wo sich der
Dom beinahe unabsehbar wölbt. Die Menschen umher schwinden
fast vor den Blicken, und machen durch ihre Kleinheit den Riesen-
bau erst recht anschaulich. Am Fuße der ungeheuren Kuppel läuft
eine Gallerie umher, zu der man auf einer Wendeltreppe gelangt»
Dies ist die berühmte Wliispering- Gallerie (Hwispering Gälten),
d. i. Flüstergallerie. Spricht man hier so leise, als man will,
gegen die Wand, so hört es der Andere auf der entgegengesetzten
Seite, in einer Entfernung von 100 Fuß, so deutlich, als stän-
de der Redende dicht neben ihm, und wirft man die Thüre zu,
so ist der Schall so betäubend, als stürzte das ganze Gebäude
ein. Steigt man bis auf die ganze Höhe von 500 Fuß, so hat
man hier eine unbeschreiblich weite Aussicht über das ganze Häu-
sermeer von London und über die Umgegend.
Geht man von der Paulskirche in der City östlich längs der
Themse hin, so kommt man nach dem Tower (Taur), einer
uralten Festung, die in der englischen Geschichte als Staatsgc-
fängniß eine so große Rolle spielt **). Das Ganze ist ein ver-
worrener Haufen von Thürmen, großen und kleinen Gebäuden,
die das alte Hauprschloß umgeben. Zn diesem merkwürdigen Ge-
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., <3-104.
*.) Ebcnd. Th. 2., 3. 205. Th. 3., 3. 65, 74, 78, 109.
DaS britische Reich.
225
Hände sind nun der Sehenswürdigkeiten mancherlei. Zuerst die
Reich s kl ein od ien. Sie sind in einem düstern Gewölbe.
Wir müssen uns auf eine Bank niedersetzen, vor welcher sich ein
Eisengitter befindet, damit wir ja nicht etwa einen Diebstahl be,
gehen. Hinter dem Gitter steht der Schatzbewahrer, und zeigt
ein Stück nach dem andern vor. Die großen Prachtstücke, die
Kronen u. dergl. können nicht so interessiren, als die, an welche
sich historische Erinnerungen knüpfen, z. B. die Bildsäulen der
englischen Könige, wie sie in den Rüstungen, die sie einst trug
gen, auf hölzernen Rossen in Lebensgröße sitzen. Zn den Zeug,
Häusern erst, welche Menge von Waffen aller Art! Auch das
Henkersbeil ist hier zu schauen, mit welchem Anna Boleyn's (Du,
lehn) schönes Haupt abgehauen wurde *). Man zeigt ferner den
sogenannten Blutthurm, und hier das grausenhafte Zimmer,
in welchem die unschuldigen Kinder König Eduards V. und sein
Bruder, der kleine Uork, von ihrem Oheim Richard III. so grau,
sam ermordet wurden **). Auch sehen wir daS Gefängniß der
unglücklichen Königin Anna Boleyn, und das der liebenswürdig
gen Zohanne Gray ***). Am meisten werden die Fremden nach
dem Tower gezogen durch die Menagerie lebendiger Thiere, die
hier in schönen Käfigen gehalten werden. Da sieht man Löwen,
Tiger, Leoparden, alle Arten von Bären und wer weiß, wie
vielerlei ausländische Thiere. Welches Land könnte auch so leicht
sich die Thiere der entferntesten Erdtheile verschaffen, als England,
das seine Schiffe nach allen Meeren schickt?
Daß in London viele Verbrechen begangen werden, liegt in
der Natur der Sache, und zwar ist diese Stadt vorzugsweise weg
gen der vielen hier vorfallenden Diebereien bekannt. Auch in Hin,
sicht der Gefängnisse ist hier alles großartig. Eins der berührn,
testen ist die Kings ben ch (Kingsbentsch) in Southwark. Hier
sitzen solche Leute, die ihre Schulden nicht bezahlen können. Es
ist eine völlige kleine Stadt, rings um mit hohen, glatten Mauern
umgeben. Das Sonderbarste aber ist, daß die hier sitzenden Ge,
fangenen, außer der Freiheit, fast keine Art von Lebensgenuß
entbehren. Die Aushängeschilder kündigen hier ein Kaffeehaus,
dort ein Wein, oder Speisehaus an; selbst Privatbälle und Pri,
vattheatcr sollen nichts ungewöhnliches seyn. Ein anderes Ge-
fängniß heißt Newjate (Njugeht), und liegt nicht weit von der
Paulskirche, afio in der Eity, dicht neben dem Gerichtshöfe O ld-
Dailey (Old-Bäli), vor dem die oben beschriebenen Hinrichg
tungen statt finden. Hier finden sich größtentheils Diebe undBe,
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 67.
**) Ebend. Th. 2., S. 205.
***) Ebend. Th. 3., S. 71 u. folg.
N ö sselt 6 Geographie II. 15
226
Das britische Reich.
trüger zusammen, zum Theil sogar Kinder, und zwar von diesen
eine große Menge. Früherhin lagen diese Unmündigen mit denen,
die in Verbrechen ergraut waren, zusammen, und Keiner dackre
an die Besserung dieser Irregeleiteten, die doch viellcichr noch für
Tugend und Frömmigkeit gewonnen werden konnten. Da traten
einige Menschenfreunde zusammen, und dachten darauf, wie man
wohl auf die Besserung der jungen Verbrecher hinarbeiten konnte.
Vor allen nahm sich die Frau eines Bankiers, eine Quäkerin,
Madam Frey, der weiblichen Gefangenen recht mütterlich an, und
bald hatte sie um sich einen Verein von andern wohldenkenden
Frauen, die sie in dem edlen Geschäfte unterstützten, gebildet.
Der erste Grundsatz war, daß weibliche Gefangene nur durch
weibliche Aufsicht und Leitung regiert werden müßten, Besserung
aber nur durch Beschäftigung, liebevollen und religiösen Umgang
erreicht werden könne. Anfangs wurden den edlen Frauen Schwie,
rigkeiten gemacht. Die Geistlichen zuckten die Achseln, die Auf-
seher schüttelten die Köpfe; doch wurde ein Versuch gemacht. Alle
Zimmer und Zellen wurden gereinigt, allen Gefangenen eine ein-
fache Kleidung gegeben, und sic nach dem Alter und dem Grade
ihrer Verschuldungen gesondert und beschäftigt. Zwei Frauen dcS
Vereins sind nun beständig gegenwärtig, sehen nach den Arbeiten,
unterrichten durch Vorlesen aus der heiligen Schrift oder andern
lehrreichen Schriften, suchen das Vertrauen der Gefangenen zu
gewinnen, rathen, helfen, und sorgen auch, daß die Kinder der
Gefangenen in einer besonderen Stube Unterricht erhalten. Und
der Erfolg? — Mit Wohlgefallen besucht man jetzt dieselben
Orte, von denen sich noch vor wenigen Zähren der Menschenfreund
schaudernd wegwendete. Man sieht mit Rührung die sanfte Theil,
nähme der edeln Menschenfreundinnen, die lieber helfen, als rich-
ten und verdammen; man erblickt auf so manchem Gesichte die
beginnende Veredlung; man hört mit Freuden, wie so Manche,
von Kindheit an verwahrlost, hier die ersten Begriffe von Reli-
gion und Sittlichkeit bekommen und sich an ihnen aufgerichtet
haben, Andere unter solchenr Zuspruche getrost an die Todespforte
getreten sind, zwar im tiefen Gefühl ihrer Schuld, aber doch
in freudiger Hoffnung auf einen barmherzigen Richter *). Der
wilde, unsittliche Lärm, die empörende Lustigkeit der Verzweiflung
ist in eine ernste Stille übergegangen. Zn einem besondern Zim,
mer liegen die schönsten weiblichen Arbeiten zum Verkauf aus, de-
*) Wer mag sich wohl glücklicher, beseligter fühlen, jene edeln Frauen,
wenn sic ein verirrtes Gemüth auf die Bahn der Tugend zurückgeführt
haben, oder eine Frau, die von einer Assembler, einem Thee dansant,
dem Theater mit leerem Herzen zurückkommt: Wer denkt da nicht an
Gcllcrts schöne Worte„O Gott, wie muß das Glück erfreun, der
Retter einer Seele seyn! "
Das britische Reich.
227
ren Ertrag denen gehört, die sie machten, und den sie erhalten,
sobald ihre Strafzeit beendigt ist. Von Strafen und Züchtigung
gen, wie sie sonst für unentbehrlich gehalten wurden, ist jetzt
nicht mehr die Rede. „Wir haben sehr strenge Gesetze," sagte
Madam Frey in einer Rede vor den obrigkeitlichen Personen.
,, Wir haben dies den Gefangenen vorhergesagt, und daß es da,
bei auf ihr Bestes abgesehen sey. Aber sie haben sich alle freit
willig jeder Anordnung unterworfen. Seitdem haben wir das
größte Ansehn bei ihnen. Einige sagten unlängst, sie wollten viel
lieber vor dem Richter als vor mir erscheinen. Gleichwohl bet
handeln wir sie bloß mit Sanftmuth und Liebe, und ich habe noch
nicht eine Einzige strafen lasten. Unaussprechlich hat die tägliche
Erweckung und das Vorlesen aus der heiligen Schrift gewirkt,
und die in ihr enthaltenen Grundsätze der Tugend und Frömmig-
keit sind für Viele, die nie eine Schule besucht hatten, etwas so
Neues gewesen, daß es desto tiefer in ihr Gemüth gedrungen ist."
Kein Land und keine Stadt ist so reich an wohlthätigen Ver-
einen, als England und London. Von den vielen derselben wollen
wir nur zweier Anstalten erwähnen, die zur Besserung gesunkener
Frauenspersonen ganz ausdrücklich bestimmt sind. Die eine ist
das Magdalenen-Hospital, in Southwark, und das an-
dere das weibliche B e s s e r u n g s h a u s im nördlichsten Theile
von London. Ein Verein von 24 Männern und eben so vielen
Frauen, steht jeder dieser Anstalten vor. Eine der Frauen, Ma-
trone genannt, leitet die Geschäfte, und giebt den beiden Frauen,
die abwechselnd täglich das Haus besuchen, Anweisung. Die Ein-
richtung ist in beiden Anstalten dieselbe. Jedes Mädchen, das
auf Abwege gerathen ist, und zur Tugend und Arbeitsamkeit zu-
rückzukehren wünscht, kann sich zur Aufnahme melden. Erlaubt
cS der Raum nur irgend, so wird sie zur Probe aufgenommen,
und nach weiter nichts, als nach ihrem Namen und ihrer Her-
kunft gefragt. Nachdem man sie zwei Monate beobachtet hat,
steht es ihr frei, entweder wieder auszutreten, oder sich unter die
Zahl der Hausgenossen aufnehmen zu lassen. Diese sind nach ih-
rer Bildung und größeren oder geringeren Moralität von einan-
der geichieden, und treiben in einzelnen Zimmern oder in der
Wirthschaft, nach Geschicklichkeit und Charakter gesondert, ihre
Geschäfte; denn Arbeit, Beschäftigung und religiöser Zuspruch
werden als die Hauptbesserungsmittel betrachtet. Auf das Haus
und den Garten beschränkt, sehen sie niemand, als etwa Vers
wandte und nahe Freunde, und jede Verbindung mit der Welt ist
streng bewacht. Morgens, Abends und Sonntags vereinigt sie
ein einfacher Saal zum Gebet. Im ganzen Hause, den Wohn-
und Schlafzimmern, herrscht neben Einfachheit die höchste Rein-
lichkeit und Zweckmäßigkeit aller Einrichtungen. In dem Eintritls-
zimmer findet man eine Menge der schönsten weiblichen Arbeiten
15 «
228
Das britische Reich.
aller Art, die zum Theil zum Besten dcS Hauses, zum Theil der
Arbeitenden, verkauft werden. So wie Jede freiwillig eingetre-
ten ist, so wird auch Keiner gewehrt, das Haus wieder zu ver-
lasten. Doch hält man zwei Jahr für die augemestenste Zeit des
Aufenthalts, um sie an eine neue Lcbensordnung zu gewöhnen.
Während ^derselben bemühen sieb die Vorsteherinnen, sie mit il)*
rcn Eltern oder Verwandten wieder zu versöhnen, und die Ver-
irrte in den Schooß der Familie zurückzuführen. Ist dies nicht
möglich, so sucht man ihr, wo möglich außer London, einen
Dienst oder ein anderes Unterkomnien zu verschaffen. Auch wenn
sie das Haus verlassen haben, zieht man fortgesetzt von ihrem Be-
tragen Nachricht ein. Ueberscbicken sie nach Jahresfrist ein gutes
Zeugniß, so erhalten sie eine Guinee (6 Rthlr.) zur Aufmunte-
rung, nach 2 Jahren zwei, und so fort nach einer Jeden Lage
und Bedürfniß. Die sich nach wiederholten Erinnerungen in die
Ordnung nicht fügen wollen, werden verwiesen. In dem weibli-
chen Bcsterungshause hatten sich in ji Jahren 2200 gemeldet,
von denen aber nur 64-5 angenommen werden konnten, deren bei
weitem der größere Theil zur Tugend und Ordnung, also auch
zum Lebensglück, zurückgebracht wurde. Die vielen dankbaren
Briefe, welche die Entlassenen, nach ihrer Rückkehr in ihre Fa-
milie, oder in Dienste getreten, an die Vorsteherinnen schreiben,
beweisen den Nutzen, den beide Anstalten stiften. So schrieb eine
solche: „Als ich das Haus verließ, war ich zu überwältigt von
meinen Gefühlen, um Ihnen meinen Dank mit Worten auszu-
drückcn. Ich wage es jetzt, Sic durch diese Zeilen zu bitten, al-
len den ehrwürdigen Damen zu bezeugen, wie hoch ich mich Jh,
neu für alle die Güte verpflichtet fühle, die ich unter Ihnen so
unverdient genoß, um der Gesellschaft der Tugendhaften zurück-
gegeben zu werden. Aber auch jetzt fehlt es mir an Worten für
meine Empfindung. Meine Augen sind voll Thränen, und ich
kann nur sagen: „Lobe den Herrn, meine Seele!" Ach! ich
glich lange einem verirrten Wanderer; meine Gesundheit schwand
hin; mein Friede war gestört. Nicht einen Freund hatte ich
mehr, von dem ich nur den geringsten Trost hätte hoffen können.
Ich hatte alle Hoffnung für diese Welt aufgegeben, und ich fing
an, an einer besseren Zukunft zu verzweifeln. Das Leben war
mir zur Last geworden; aber der Gedanke an den Tod, war mir,
da ich so voll Sünde war, fürchterlich. Da führte mich eine
gnädige Vorsehung in Ihr Asyl, und ich fand einen heilenden
Balsam für allen meinen Jammer. Man führte mich zu den
Füßen des Erlösers. In ihin fand ich Ersatz für alles, was mir
gebrach. Wie bin ich allen den edeln Frauen verpflichtet, unter
deren Aufsicht ich stand; in jeder Abtheilung, in welcher ich lebte,
in gesunden und kranken Tagen, erfuhr ich von Ihnen jede Art
von Freundlichkeit, Trost und Beistand. Möge Gott seine hoch-
Das britische Reich.
229
stcn Segnungen über alle verbreiten, welche dieses wohlthätige
HauS verwalten. DaS ist mein täglich Gebet. Ich fürchte nur,
ich mißbrauche Ihre Geduld; aber mein Herz — ach! es ist so
voll, daß ich nicht aufhören möchte zu schreiben."
Einer der größten Vereine Englands ist die Bibelgesell-
schaft, die 1804 gestiftet wurde, und den Zweck hat, die heilige
Schrift möglichst zu verbreiten, und zwar nicht allein in Eng»
land, sondern auf der ganzen Erde. Darum hat sie fast in al-
len Landern Töchtergesellschaften, die eben dahin wirken, und von
der Muttergcsellschaft mit Bibeln und Geld unterstützt werden.
Das dazu erkaufte Haus trägt den in London gewöhnlichen Cha-
rakter der Größe. Zn dem Erdgeschoß sind die Expeditionszim-
lncr; darüber die Bibliothek, wo die Exemplare der Bibel in al-
len Sprachen, in welche man sie bis setze übersetzt hat, aufgestellt
sind. Daneben der große Versammlungssaal; neben und über
demselben die verschiedenen Büreau's für die Secrctaire und Ge-
hülfen. Zn dem Nebengebäude ist das große, durch Z Stockwerk
gehende Magazin und die Niederlage aller der Bibeln und neuen
Testamente, welche auf Kosten der Gesellschaft gedruckt und meist
gebunden versendet werden. Man sieht mit Erstaunen die uner-
meßlichen Vorräthe und Räume an, die sich täglich leeren und
füllen. Ebenso merkwürdig ist der herrliche Mechanismus, mit
dem die Ballen und Kisten zur Reise durch die halbe Erde sorg-
fältig verpackt, gewogen, auf- und abgewunden, dann zu dem
unteren Thore hingerollt werden, um an den Ort ihrer Bestim-
mung zu gelangen. Wer mag zählen, wie viele Hände das Alles
in Papierfabriken, Druckereien, Schriftgießereien, wie viele Ar-
beiter von allen Gewerken es täglich beschäftigt, und schon dadurch
segensreich wirkt? Wie ausgebreitet diese Gesellschaft wirke, kann
man schon daraus abnehmen, daß sie schon vor 10 Zähren jähr-
lich fast 500,000 Rthlr. ausgab, ohne das zu rechnen, was durch
die Tochtergesellschaften geschieht.
Bei unsern Wanderungen durch die Stadt fallen uns die
freundlichen Plätze auf, die hier den Namen Squares (Squärs)
führen und sich am meisten in Westminster finden. Fast auf al-
len öffentlichen Plätzen nämlich hat man den mittlern Raum zu
Gartcnanlagen oder zu Graspflanzungen benutzt. Meist sind diese
Squares zirkelrund, länglichrund oder viereckig. Manche sind öf-
fentlich, und dann den ganzen Tag über mit einer Menge kleiner
Kinder bedeckt, die hier unter der Aussicht ihrer Wärterinnen ihr
Wesen treiben. Die meisten aber sind mit eisernen Gittern ein-
gefaßt, mit Spatziergängen durchzogen, die den Platz zierlich
durchschlängeln und mit Kiessand bestreut sind, mit den schönsten
Sträuchern und Blumen bepflanzt, auch wohl durch Bildsäulen
und Denkmäler verherrlicht. Zu solchen Squares haben bloß die
Besitzer der umliegenden Häuser den Schlüsiel.
Das britische Reich.
230
Wenn wir in Westminster die Palläste der Großen gefunden
haben, so finden wir dagegen in der City alles, was auf Han,
del und Gewerbfleiß Bezug hat, zusammengedrängt. Oestlich von
der Paulskirche sehen wir zwei ungeheure Gebäude einander gegen,
uberliegen, welche für den englischen, wie für den ganzen irdi,
schen Handel als das Herz betrachtet werden können; die Bank
und die Börse. Welche; gewaltige Summen gehen nicht täglich
in der Bank ein und aus! Welche große Gewölbe sieht man
hier nicht theils von schweren Goldbarren, theils von Säcken mit
Silbergeld, theils von Banknoten strotzen! Unaufhörlich hört
man das Klimpern des Geldes, das auf die Tafel geworfen wird,
um das Aechte von dem Falschen zu sondern. In der Börse,
einem großen Gebäude, das ein großes Viereck einschließt, welches
von bedeckten Gängen und Hallen umgeben ist, findet man täg,
lich von 2 — 4 Uhr das größte Gewühl. Die großen Banquiers
haben ihre bestimmten Plätze. Um sic herum stehen unzählige
Menschen, die mit ihnen Geschäfte abmachen wollen. Welcher
Ausdruck in den Gesichtern der sich hier drängenden Menschen!
Wie spiegelt sich auf ihren Zügen Begierde, Furcht, Angst, Hoff,
nung, Freude ab, je nachdem die Papiere steigen oder fallen, ober
ihre unternommenen Geschäfte einen glücklichen oder unglücklichen
Ausgang genommen haben! In dem Erdgeschoß der Börse sind
eine Menge von Tabernen, Zeitungserpedilionen und sehr besuch,
ten -Kaffeehäusern, die voll Kaufleute sind, welche theils Geschäfte
abmachen, theils die Tagcsblätter aufmerksam lesen. Unter die,
sen Kaffeehäusern ist Lloyd's Kaffeehaus das berühmteste.
Es führt aber nicht den Namen mit der That; denn Kaffee ist
da so wenig als andere Erfrischungen zu haben, sondern der ziem,
lieh große Saal, voll kleiner Mahagonylische und abgcschloffener
Sitze ist nur für Handelsgeschäfte bestimmt. Alle Kaufleute näm,
lich, die diesen Ort dazu benutzen wollen, zahlen dafür jährlich
etwas Gewisses; dafür haben sie das Recht, hier sich aufzuhalten,
Geschäfte abzuschließen, und die Nachrichten zu lesen, die hier
aus allen Gegenden der Erde zuerst einlaufen. Zst ein Schiff un,
tergegangen, oder eins gekapert morden, oder sind die Preise der
Waaren gestiegen oder gefallen, so erfährt man das hier zuerst.
Für den Fremden ist eS besonders interessant, auf der Bör>e alle
europäischen Sprachen reden zu hören und Menschen nicht nur
aus allen Theilen Europa's, sondern selbst Asiaten und Afrikaner
zu sehen.
Von dem Getümmel der Bank und der Börse wenden wir
unS nach Westminster, in dessen Mitte ungefähr wir das große
britische Museum besuchen. Hier ist fast alles, was der
König von literarischen und Kunstschätzcn besitzt, zusammenge,
bracht worden, und wollten wir uns hier einigermaßen genau um,
sehen, so würden wir in mehreren Wochen nicht fertig werden.
DaS britische Reich.
23 l
In den oberen, sehr großen Zimmern finden wir die Sammlun/
gen von Mineralien, von Versteinerungen und von Thieren. Auch
scheu wir hier eine Sammlung der Kleidungen, Gerärhschaften,
Waffen und Kunstwerke der verschiedensten Volker deS Erdbodens.
In andern Gemächern ist die kostbare Sammlung antiker Vasen,
die in Italien theils in der Erde beim Graben, theils in Pom,
peji und Hereulanum gefunden wurden. In ffi Sälen und Zim,
mcrn des Erdgeschosses steht die Bibliothek. Nirgends werden so
viele Prachtwcrke gedruckt als in England, in denen der Drucker
und der Kupferstecher wetteifern, etwas Ausgezeichnetes zu leisten.
Alle diese Werke findet man hier aufgestellt. Aber fast noch an,
ziehender ist eine lange Reihe von Lederkapscln, in denen sich eine
unendliche Menge von Schriften, besonders Briefen merkwürdi-
ger Personen der Vorzeit finden. Da können wir die Original-
briefe der Elisabeth, Maria Stuart, der Königin Anna, der Lady
Marlborough u. s. w. lesen. Wie vieles liegt davon noch unbe,
nutzt da. Ferner zeigt man uns eine reiche Sammlung von an,
tiken Kunstsachen, herrliche Bas - und Hautreliefs aus Griechen-
land, Bildsäulen aus Rom, Säulen, Mumien, Bilder und Pa,
pyrusrollen aus Aegypten, auch den großen Kopf der Memnons,
bildsäule, zu dessen Herüberbringung aus Aegypten nach England
allein ein großes Schiff nöthig war *).
Will man die großen Anstalten für die englische Seemacht
sehen, so muß man nach dem östlichen Theile der City, jenseit
der Londonbrücke, gehen, wo an dem Ufer der Themse viele An-
stalten sind, die sich auf die englische Seemacht beziehen. Wir
erwähnen davon nur die ungeheuren Docks. Was man unter
Docken versteht, ist schon im ersten Theil erklärt worden. Aber
nirgends sind wohl die Bassins von so unermeßlicher Größe als
hier in dieser größten Seestadt der Erde. Alle englische Schiffe,
sie mögen nun aus Ost- oder Westindien, oder aus jedem andern
Erdtheile kommen, finden hier ihre besonderen Landungsplätze und
gleichsam ihren eigenen Hafen, so daß man gleich wissen kann,
wo man die aus China, die aus Südamerika, die von Ostindien
u. s. w. kommenden Schiffe zu besuchen hat. Von der Größe
der Bassins kann man sich eine ungefähre Vorstellung machen,
wenn man weiß, daß hier 300 selbst der größten Schiffe ganz
bequem neben einander liegen können; also würden unsere größten
Marktplätze selbst gegen diese Docks sehr klein erscheinen. Rings
herum befinden sich große Speicher, Niederlagen und Keller, in
welche die angekommenen Waaren gleich untergebracht werden
können.
^cc Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
232
Das britische Reich.
Nun etwas über die Vergnügungen in London, zuerst
über das Theater. Bei uns Deutschen wird der Schauspieler
am meisten gelobt, der die Natur am meisten nachahmt. Nicht
so in England. Hier muß ^er die Natur überbieten, und besonn
ders im Trauerspiel die heftigsten Leidenschaften recht grell darstcl/
len. Der wüthendste Ausdruck des Leidens, der laute Schrei des
körperlichen Schmerzes, alle Verzerrungen des Wahnsinns, das
krampfhafte Zucken des Sterbenden, nichts wird dem Publicum
ertasten, dag dann am meisten Beifall klatscht, wenn es vor Schre/
cken schaudert. Dabei muß der Schauspieler ganz langsam Satz
für Satz sprechen, damit man ihn in dem großen Hause überall
verstehe. Am unübertrefflichsten aber sind die englischen Schau/
spieler im Postenspiel, und manche brauchen sich nur zu zeigen,
um den rauschendsten Beifall einzuerndten. Das Theater fängt
um 7 Uhr an, ist aber selten vor Mitternacht zu Ende; denn es
müssen jeden Abend wenigstens 2 Stücke gegeben werden. Die
Logen sind geräumig, und haben mehrere Reihen Bänke hinter
und über einander. Da das ganze Haus glanzend erleuchtet ist,
so ist der Eintrittspreis weit höher als bei uns, und selbst ein
Platz im Parterre kostet über einen Thaler. Recht schön nehmen
sich die mit geputzten Damen gefüllten Logen aus; denn hier muß
jede im vollen Putze erscheinen; in einem tiefen Hute wird keine
eingelassen. Da der Eintritt so theuer ist, so warten Viele bis
zu Ende des dritten Acts; denn da kann man für das halbe Ein»
trittsgcld hinein; aber die dann erst kommen, pflegen zur schlech-
ten Gesellschaft zu gehören. Welche Pracht, wenn man in daS
Theater von Drurylane (Drurilähn) tritt, und uns wenigstens
50 krystallene Kronleuchter und mehrere Hunderte von Wachslich/
tern, die ringsum auf Wandleuchtern brennen, cntgegenlcuchten!
Und doch, wie wird dieser Glanz überstrahlt, wenn der Vorhang
aufrollt, und das Theater wie im hellsten Sonnenscheine glänzt!
Noch prächtiger erscheint das Theater von Coventgarden (Eo-
wentgärdin), weil viele Spiegel die strahlenden Kerzen ins Un/
endliche vervielfältigen.
Außer den großen Spatziergängen, dem Hyde-Park und
St. James-Park, die wir schon genannt haben, giebt eS
dicht bei London noch zwei: der Green-Park (Grihn-Pärk)
zwischen jenen beiden, der aber aus nichts als einem großen Gras/
platz besteht, und der neu angelegte P r i n c e / R e g e n t - P a r k
an der Nordseite von Westminster. Aber waS für die Pariser
Tivoli und Frascati ist, das sind für die Londner Vau xh all und
Ranelagh (Wahrhal und Rähnlä). „Reizender, blendender,
feenhafter," sagt Madame Schopenhauer, „läßt sich nichts den/
ken, als Vauphall, ein in Southwark, nicht weit von der Themse
gelegener Garten (er ist der Westminstcrabtei und dem Parla-
mentshause schräg ge^knüber, auf dem rechten Themseufer, aber
DaS britische Reich.
233
noch südlicher), besonders wenn er wegen eines Geburtstages ir-
gend eines Mitglieds der königlichen Familie in doppelter Erleuch-
lung prangt. Gegen 15,000 wohlgekleidete Männer und Frauen
wandeln dann im Schimmer unzähliger Lampen auf diesem magst
sehen Fleckchen Erde, zwischen schönen Bäumen und blühenden
Sträuchen, im fröhlichsten Gedränge umher. Musik tönt durch
die laue Sommernacht, alles athmet Lust und Vergnügen. Nir-
gends sieht man herrlichere Gestalten als hier, wo die in allen
Farben prangende sonnenhelle Beleuchtung jeden Reiz erhöht.
Gleich der Eintritt in diesen Zauberort überrascht und blendet.
In der Mitte eines großen, ringsum mit schönen Bäumen um-
gebenen Platzes erhebt sich das Orchester hoch in die Luft. AuS
tausendfarbigen Lampen zusammengesetzt, strahlt es blitzend gegen
den dunkeln nächtlichen Himmel, wie ein aus Edelsteinen erbauter
Feenpallast. Leicht und luftig steht das phantastische Gebäude da,
und doch innerlich fest genug, um nahe an 100 Personen sicher
zu tragen. Hinter den ebenfalls erleuchteten Bäumen ziehen sich
oben bedeckte Arkaden hin, unter welchen mehrere hundert kleine
Bogen und Pavillons angebracht sind. Auch an diesen Arcaden
reihet sich Lampe an Lampe; oben, unten, an den Seiten, überall
funkelndes Licht und brennende Farbenpracht. Von diesem Platze
aus laufen mehrere hell erleuchtete Baumgänge neben einigen dun-
keln. Transparente Gemälde endigen die erleuchteten Gänge.
Säle, mit Bildsäulen, Transparenten, Blumen und krystallenen
Girandolen geziert, bieten Schutz gegen Kälte, Wind und plötz-
lich einfallenden Regen. In einigen vom Orchester entlegenen Sä-
len spielen kleine Musikchöre. Mehr als 100 wohlgekleidete, ge-
wandte Aufwärrer stehen neben den Bogen, welche den großen
Platz umgeben. Jeden Winks bereit, besetzen sic im Nu die darin
fertig gedeckt stehenden Tische mit allem, was man an einem solchen
Orte von kalten Speisen und Getränken verlangen kann. DaS
Orchester besteht größtenthcils aus Blaseinstrumenten, und die be-
sten Musiker, selbst die beliebtesten Theatersänger, lasten sich hier
hören. Im Freien klingt jede Musik gut; aber der Eindruck, den
diese aus dem Feentempel herüberschallenden rnächligen Töne in der
funkelnden, ichmeigenden Nacht hervorbringen, ist unbeschreiblich;
denn trotz der großen Menscher,menge hört man doch nirgends wil-
den Lärm auf vielem Platze. Sü'weigend oder stüsternd wandelt
Alles umher, und horcht der Mustk, bis um 10 Uhr eine Glocke
uns in einen etwas abgelegenen Theil des Gartens ruft. Dort
sehen wir in einem großen, sich bewegenden Gemälde einen Was-
serfall aufs täuschendste dargestellt. Man hört das wilde Rau-
schen der Fluth, und sieht sie sich in stäubenden Schaum verwan-
deln. Die Scene belebt noch eine am Fuße des Falls angebrachte
Brücke, über welche mancherlei Fuhrwerke, Fußgänger, Reiter
234 DaS britische Reich.
und Thiere passiren, alles aufs natürlichste und täuschendste dem
Auge dargeboten.
„Von hier kehrt man zum Orchester zurück, von wel»
chen um diese Zeit gewöhnlich eine große Arie oder sonst ein
ausgesuchtes Tonstück erschallt. Dann lustwandelt man in den
hellen Baumgängen, und besucht die verschiedenen Säle. Pfcil-
schnell verfliegt die Zeit; ehe man es erwartete, ist es Mit«
ternacht. Eine zweite Glocke ruft uns in einen andern Theil deä
Gartens, zu einem artigen Feuerwerke. Nach demselben vertheilt
sich der größte Theil der Gesellschaft in die Logen, wo man in
kleinen, selbst gewählten Kreisen fröhlich zu Abend ißt, und da/
bei die draußen umherwandelnde schöne Welt die Musterung pas-
sircn läßt."
„Späterhin wird auf dem grünen Rasen in der Nähe deö
Orchesters getanzt. Indessen würde fick in London ein Mädchen
von gutem Rufe zu einer solchen öffentlichen Ausstellung nicht
verstehen; doch betrugen die, welche wir hier sahen, sich anstän-
dig, und waren jung, schön und wohlgekleidet. Gewöhnlich bricht
der Tag über allen diesen Freuden an; doch pflegt die gute Ge-
sellschaft sich vor 2 Uhr zu entfernen; später artet der Ton aus,
und wird zuweilen wild und bacchantisch."
„Ranelagh ist nicht in London selbst, sondern in dem Dorfe
Chelsea (Tschelsi) nahe bei der Stadt, an der Themse, aufwärts.
Hier finden wir eine schöne große Rotunde mit einem Garten.
„Vom Februar bis Ende Mai wird hier alle Tage, Sonntags
ausgenommen, Abends 9 Uhr Musik gemacht. Der Saal ist
glänzend erleuchtet; man wandelt umher, spricht mit Bekannten,
betrachtet die Unbekannten, setzt sich zuletzt mit seiner Gesellschaft
an einen Theetisch, und fährt dann wieder nach Hause. Rane-
lagh ist. mehr Sammelplatz der vornehmen Welt als Vaurhall,
aber dafür auch unendlich langweiliger. Der Anblick des großen,
glänzend erleuchteten Saals voll geputzter Herren und Damen
hat etwas Imposantes; aber er macht keinen fröhlichen Eindruck."
Eben so belehrend als belustigend ist der Besuch von Wecks
(Wihks) Museum. Hier findet man die künstlichsten und nied-
lichsten Arbeiten, die nur der Kunstfleiß und die Mechanik hervor-
bringen kann, aus dem köstlichsten Material aufgestellt. Unter
andern sah hier Madame Schopenhauer einen schönen, lebensgro/
ßen silbernen Schwan, der in einem kleinen Bassin auf lehr
täuschend sich bewegenden krystallenen Wellen zu schwimmen schien.
„Kleine goldene Fische spielten lustig um ihn her; er dehnte die
Flügel aus, und putzte die schimmernden Federn. Dann fing er
einen Fisch, und schluckte ihn mit sichtbarer Anstrengung nieder.
Ein weniger reizendes, aber wegen seiner Kleinheit noch unbe/
greiflicheres Kunstwerk war eine schwarze Kreuzspinne, nicht grö-
ßer, als man sic wohl zuweilen findet. Wie nach Willkür lief
Das britische Reich.
235
sie kreuz und quer auf dem Tische umher, zappelte mit den Fu-
ßen , wenn man sie aufnahm, und gebcrdete sich durchaus, wie
eine natürliche Spinne. Herr Week zeigte uns die vielen Ge,
lenke an den Füßen und die dem Auge fast unsichtbaren Räber
im Innern des Körpers, welche dem Thierchen scheinbares Leben
gaben. Er gab ihre Zahl auf U5 an. Noch artiger war ein
kleiner, kaum einen Zoll großer Colibri von Gold und Emaille.
Auf den Druck einer Feder sprang er aus dem Medaillon einer
Tabacksdose heraus, öffnete den kleinen Schnabel, bewegte die
zarten Flügelchen, und flötete ein Liedchen recht laut, deutlich und
angenehm. Dann sprang er zurück; das Medaillon klappte wie,
der zu, und Niemand ahnte etwas von dem zierlichen Gaste,
selbst wenn man die Dose öffnete. Um uns völlig ins Feen,
land der Tausend und Einen Nacht zu versetzen, zeigte man unS
bei Kerzcnschein noch zwei für den Kaiser von China bestimmt ge,
wesene Tempel, die sich stufenweise erheben, und 7;—8 Fuß hoch
sind. Jeder derselben trägt oben eine schöne Uhr, und soll zwi,
sehen ,50 — 70,000 Thaler gekostet haben. Sie glänzen von Gold
und blitzenden Steinen, aber diese sind unbedeutend gegen den
Aufwand der daran verschwendeten Kunst und darauf verwandten
Mühe. Goldene Elephanten, Vögel und Fische, krystallene, wo-
gende Wasserfälle, Nymphen und Jäger an ihren mit tausend
Blumen besäeten Ufern sind darauf angebracht; die Blumen sind
von Juwelen zusammengesetzt. Man sieht Palmbäume, ländliche
Scenen, tanzende Figuren, Winzer in einem Weinberge, beschäf-
tigt, rubinene Trauben zu sammeln, und Bäche, belebt von
Schwänen und schwimmenden Barken. Brillantne Sterne kreisen,
alles ist Wechsel, alles Bewegung, alles funkelt und blitzt. Thiere
und Menschen leben, die Bäche rieseln, die Blumen welken und
blühen schöner wieder auf, die Palmbäume neigen und erheben
ihre Zweige. Alle Augenblicke verändert sich die Scene; das eben
Gesehene verschwindet, und etwas Neues und Glänzenderes tritt
an dessen Stelle."
Einer sonderbaren Art von Gesellschaften, die in London üb-
lich ist, müssen wir noch erwähnen, der Nouts (Rauls). Sie
sind ungefähr das, was bei uns die Assemblern sind. Die Frau
vom Hause labet dazu ein, und macht dabei die Honneurs.
„Schon mehrere Tage vorher werden allen Bekannten Karten zu-
geschickt, und zwar ungefähr an dreimal so viele Personen, als
das Local gemächlich fassen kann. Um 10 Uhr Abends, oft noch
viel später, fängt man an, sich zu versammeln, drängt sich durch,
um die Wirthin zu begrüßen, die gewöhnlich unfern der ersten
Thüre im Zimmer Posto gefaßt hat, und nimmt dann Platz an
einem der vielen Spieltische, die dicht zusammengedrängt den
ganzen Raum erfüllen. Thee und andere Erfrischungen werden
herumgereicht, so lange die Bedienten durchkommen können. Wird
236
Das britische Reich.
cS zuletzt so voll, daß Niemand mehr athmen kann, daß vor all-
gemeinen Geräusch kein Wort mehr zu verstehen ist, daß cS an
Stühlen und an Raum fehlt, deren zu stellen, ja daß die zuletzt
Kommenden auf Treppen und Vorplätzen stehen bleiben müssen,
so hat das Vergnügen den höchsten Gipfel erreicht. Um 2, 3
Uhr des Morgens entwickelt sich der Menschenknaul langsam, wie
er anschwoll. Man fährt nach Hause, und hat einen deliciösen
Abend im großen Styl hingebracht. Die Dame vom Hause zieht
sich in ihr Zimmer zurück, zwar betäubt von dem Lärm, wie zer-
schlagen an allen Gliedern von dem ewigen Stehen und allen Be-
grüßungsformeln, aber doch mit dem stolzen Bewußtseyn, die höchste
Glorie des geselligen Lebens erreicht zu haben."
Zu den größten Sehenswürdigkeiten Londons gehören — die
Bierbrauereien. Vergleicht man sie mit den unsrigen, so
fällt recht deutlich in die Augen, wie großartig in England alles,
was zum Gewerbe gehört, getrieben wird. Es giebt nämlich in
England zwei Bierarten, die häufig ins Ausland verschickt, und
in ungeheurer Menge fabricirt werden; Porter (Pohrtcr) und
Ale (Aehl), jenes ein starkes braunes, dieses ein weißes Bier.
Die Eigenthümer dieser großen Brauereien sind ganz andere Leute,
als unsere Bierbrauer; es sind nicht nur Besitzer von oft mehr
als einer Million, sondern auch durch sorgfältigen Unterricht und
weite Reisen gebildet, und gewöhnlich Mitglieder des Parlaments.
Sie legen nicht selbst Hand an, sondern haben mehrere hundert
Leute in ihrem Dienste. Einst fragte der König einen der größ-
ten dieser Braueigcner, wie viele Fässer er wohl habe? — „Die
Zahl kann ich nicht angeben," war die Antwort; „wollte ich sie
aber der Länge nach dicht an einander legen, so würden sie wohl
von London bis Windsor (d. i. über 4 deutsche Meilen) reichen."
Eine nicht große, im Kellergeschoß angebrachte Dampfmaschine ist
die Seele des ganzen ungeheuren Werks, und verrichtet die Ar-
beit, welche sonst 70 Tag und Nacht beschäftigte Pferde verrich-
ten würden. Sie macht fast alles, d. i. sie schafft das nöthige
Wasser herbei, leitet den fertigen Porter durch unterirdische Ka-
näle guer unter der Straße in ein anderes Gebäude, wo er in
Fässer gefüllt wird, bringt die Fässer zum Aufladen aus dem
Keller herauf, mahlt das Malz, rührt es in den 20 Fuß tiefen
Malzkufen, und windet es bis oben in die Spitze des Gebäudes.
Ein einziger, genau beobachtender Aufseher steht in der Mitte
und leitet das Ganze; ein kleiner Druck an dieser oder jener
Schraube bringt hier die größten Wirkungen hervor. In den
oberen Räumen sind die ungeheuren großen Kühlschiffe oder Ei-
sternen zum Abkühlen des Porters, wahre Seen, die Z englische
Morgen Landes bedecken würden. Täglich werden 200 Arbeiter
und 80 ungeheuer große Pferde beschäftigt. In einem Gebäude,
hoch und groß wie eine Kirche, stehen 49 große Fässer, in wel-
chen der Porter aufbewahrt wird, bis man ihn in kleinere füllt.
DaS britische Reich.
237
um ihn zu verschicken. Hätte Diogenes ein solches großes Faß
gehabt, so hätte er recht füglich 12 Personen an einem runden
Tische bewirthen können. Das größte hat oben einen Balcón,
zu welchem man auf einer Treppe hinaufsteigt; es ist 27 Fuß hoch,
d. i. höher als zwei unsrer gewöhnlichen Stuben, und von oben
bis unten mit eisernen Reifen beschlagen. Denn wenn ein solches
Faß einmal spränge, so wäre nicht nur der Verlust an Bier be-
deutend, sondern es würde die dadurch entstehende Ucberschwem-
mung auch vielen Schaden anrichten. Ein solcher Fall ereigne-
te sich vor noch nicht 20 Jahren. Trotz 30 starker eiserner
Reife, welche das große Faß umgaben, sprang es dennoch. Ein
unaufhaltsamer Strom warf sogleich die Wände des Hauses nie-
der ; die benachbarten Häuser stürzten ein, und Menschen und
Thiere wurden weggeschwemmt. Eine Mutter, die eben in einem
nahgclegenen Hause traurig bei der Leiche ihres Kindes saß, wurde
nebst einem neben ihr sitzenden anderen Kinde ertränkt, und über/
Haupt kamen 8 Menschen dabei ums Leben.
Ehe wir von London scheiden, müssen wir von den Leichen-
begängnissen einige Worte sagen. Man sieht sie nur selten, weil
dazu die frühen oder sehr späten Abendstunden gewählt werden.
Die meisten Todten werden, wie bei uns, auf Bahren zur Gruft
getragen. Der Sarg ist schwarz behängt, und über dem Leichen-
ruche wehen schwarze Troddeln. Den Stand des Todten erkennt
n»an besonders an dem zum Theil sehr prachtvollen hohen Feder/
huschen, mit denen die Pferde vor dem Leichenwagen geschmückt
sind. So lange der Kranke noch lebt, sorgen die Angehörigen,
wenn sie zu den angesehenen Ständen gehören, möglichst für seine
Ruhe und man sicht darum oft ganze Straßen dick mit Stroh
belegt, um daS Raffeln der Wagen zu hemmen. Sobald aber
der Kranke todt ist, bekümmert sich Keiner der Familie mehr
um die Leiche. Véan überläßt die Besorgung der Bestattung
ganz einem Leichenbestatter, der durch seine Leute für alles dabei
Nöthige Sorge trägt. Die dabei üblichen kirchlichen Gebräuche
haben etwas sehr Würdiges und Feierliches. Der Prediger em-
pfängt die Leiche am Eingänge des Kirchhofs mit den Worten:
,,Jch weiß, daß mein Erlöser lebt; am letzten Tage wird er auf
dem Staube stehen. Nichts brachten wir mit auf die Erde;
nichts nehmen wir von dannen mit. Der Herr gab ihn, der
Herr nahm ihn! Sein Name sey gepriesen !" Während der Sarg
in die Gruft gesenkt wird, spricht der Geistliche: „Der Mensch,
vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit. Er blüht auf wie eine Blu-
me und fällt ab; er verschwindet wie ein Schatten, und bleibt
nicht. Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen."
„Von Bettlern wird man in London," sagt Madame Scho-
penhauer, „wenig gewahr; doch wissen die Armen auf mannig-
faltige Weise dennoch das Mitleid anzuregen. So sahen wir oft
\
238
Das britische Reich.
zwei Matrosen; dem Einen fehlte ein Bein, dem Andern ein
Arm. Auf einander gestützt schwankten sie durch die Straßen, in,
dem sie mit lauter Stimme nach einer wilden, klagenden Melodie
eine Art Ballade sangen, welche die Geschichte ihrer Leiden ent,
hielt. Mitleidig horten viele Vorübergehende zu, und gaben ei-
nige Penny. An den Kreuzwegen, wo man über den Fahrweg
gehen muß, stehen immer Leute, welche geschäftig einen reinlichen
Fußpfad kehren, der freilich jeden Augenblick durch darüber hin-
rollende Wagen wieder gestört wird. Bescheiden wagen sie wohl
die Frage: ob man nicht einige einzelne Pfennige bei sich habe?
An weniger betretenen Platzen, besonders an ruhigen Theilen der
Stadt, sieht man oft Männer, die mit Kreide auf den breiten
Quadern der Fußsteige wunderschöne kolossale Buchstaben malen,
Namen, Sentenzen, Bibelsprüche. Der Vorübergehende steht
still, bewundert ihre Kunst, und belohnt sie unaufgefordert mit
einer kleinen Gabe. Vor allen diesen erschien uns eine Bettlerin
merkwürdig, der wir täglich in den volkreichsten Straßen der City
begegneten. Sie hatte eine hohe, edle Gestalt, Adel in Blick
und Miene, war aber blaß, und ihre Züge wie versteinert durch
lange Gewohnheit des Unglücks. Sie trug immer einen schwarz-
seidenen Hut, ein grünwollenes Kleid, eine schneeweiße große
Schürze, und ein eben solches Halstuch. Schweigend, mit stol,
zem Ernst wandelte sie, gestützt auf zwei Krücken, langsam, unge-
hindert durch die Menge, jedermann wich ihr mit einer Art von
Ehrfurcht aus, als ehrte man in ihr die Heiligkeit eines großen
ungekanntcn Unglücks. Sie forderte nicht, sic bat nicht; aber
reichliche Gaben wurden ihr dennoch von allen Seiten geboten;
Zeder fühlte sich gezwungen, getrieben, ihr zu geben. Man hatte
ihr danken mögen, daß sie die gebotene Gabe nur nahm. Sie
dankte nicht; mit dem Anstande einer Königin nahm sie das Dar-
gebotene, und wandelte stumm weiter, wie ein Geist."
Durch das Vorstehende werden wohl die Leserinnen mit
London genau genug bekannt geworden seyn. Die ungeheure
Stadt wird täglich größer, da sie keine Mauern und Thore
hat, so daß man auch nicht eigentlich weiß, wo sie anfangt
und aufhört. Wirklich gehören auch jetzt schon mehrere kleine
Städte und Dörfer, die sonst davon getrennt lagen, zu der
Stadt, wodurch ihre Größe ansehnlich zunimmt. Nun wollen
wir einige merkwürdige Oerter der Umgegend besuchen. Die
angenehmsten Lustörtcr findet man westlich von London, an
der Themse, aufwärts von der Stadt. Zunächst kommen wir
da nach
Kensington. Es ist ein königliches Lustschloß, das am
Ende deS Hydeparks liegt, also nicht an der Themse, sondern
239
Das britische Reich.
nördlich von derselben. Gehen wir aber von London die Themse
etwas aufwärts, so finden wir
Che lsea (Tschelsi), das jetzt schon mit London durch viele
Gassen zusammenhängt. Außer einer Menge von Kaffeehäusern,
Gärten (unter andern Nanelagh) und andern Belusiigungsörtern
für die londner Bürger zieht uns das große Hospital für aus-
gediente Soldaten an, eine herrliche, großartige und sehr wohl-
thätige Anstalt. Im Hause selbst, das hart am Nordufer der
Themse liegt, wohnen zwar nur 500 Invaliden; aber 10,000 an-
dere erhalten aus der reichen Kasse eine Pension. Auch ist da-
mit eine Erziehungsanstalt und Schulen für 500 Sohne armer
Offiziere und Soldaten verbunden.
Kew (Kju). Von Kensington bis Kew an der Themse
fahren wir 1 deutsche Meile zwischen einer fast ununterbrochenen
Reihe schöner, mit zierlichen Grasplätzen und Gärten eingefaßter
Landhäuser. In dem größten Theile derselben wohnen die Frauen
und die Kinder wohlhabender londner Geschäftsmänner, die am
Tage in der Stadt ihre Geschäfte haben, und erst am Abend her-
auskommen, um sich im Kreise der Familie des schönen Landlebens
zu erfreuen. Es läßt sich nichts reinlicheres, geschmackvolleres und
bequemeres denken, als diese halb ländlichen, halb städtischen Woh-
nungen , die durchaus das Gepräge von Einfachheit und doch von
Wohlhabenheit tragen. In Kew hat der König ein unbedeuten-
des Schloß; aber sehr merkwürdig sind die herrlichen botani-
schen Gärten, die eine unendliche Mannigfaltigkeit von Pflan-
zen aller Erdtheile und aller Zonen enthalten. „Es ist eine große
Freude, auf den festgewalzten, bequemen Kieswegen dieser Gär-
ten zwischen mannigfaltig geformten Blumenbeeten zu wandeln,
und sich an dem freundlichen, ewig wechselnden Spiele der Natur
mit Farben und Formen zu ergötzen; dann in die großen Treib-
häuser zu treten, in jedem derselben eine andere neue Welt zu
finden, in dem einen die seltensten Producte des glühend heißen
Afrika, im andern alles zu bewundern, was im südlichen Amerika
wächst; dann wieder sich an den Pflanzen milderer Zonen zu er-
freuen, und doch immer das auf Einem Punkte vereinigt zu sehen,
was zusammen gehört. Auch die lebendigen Blumen der Lüfte
werden hier gepflegt/' Ein großes, mit Draht umflochtenes Be-
hältniß enthält eine Menge der schönsten ausländischen Vögel, die
darin wenigstens in scheinbarer Freiheit ihr lustiges Wesen treiben,
als wären sie zu Hause. Zn einer größeren Abtheilung des Gar-
tens werden die schönsten Gold - und Silberfasanen gehalten; ne-
ben ihnen stolziren prächtige Pfauen und mehrere andere Arten
größerer fremder Vögel. Mitten in dieser Abtheilung befindet sich
ein Teich mit einer Insel, auf welcher ein chinesischer Pavillon
erbaut ist. Wasservögel aller Art, mit langen und breiten Schnä-
beln, schwimmen auf den silberhellen Wellen, oder wandeln auf
240
Das britische Reich.
langen Stelzbeinen gravitätisch am Ufer. Auf einer großen grii-
nen Wiese Hüpfen Känguruhs in Menge umher. An die Gärten
von Kew stoßen die von
Ricümond (Ritschmond). Die Umgegend dieses Ortes an
der Themse wird als das englische Paradies betrachtet. Ein deut«
scher Reisender rief schon vor längerer als 40 Jahren aus: ,, O
Richmond! Richmond! Nie werde ich den Abend vergessen, wo
du von deinem Hügel (Richmond -Hill) so sanft auf mich herabr
blicktest! O ihr blühenden jugendlichen Auen, ihr grünen Wiesen,
und ihr Silbcrstrome in diesem glücklichen Lande, wie habt ihr
mich entzückt, als ich an dem blumigen Ufer der Themse voll Be-
geisterung auf- und niederging!" Und der berühmte Dichter Thomr
son, der auf dem Kirchhofe von Richmond begraben liegt, sangt
,,Bezaubernd Bild mehr als die Muse je
Von Hellas sang und von Hespcrien;
Du reiches Thal, du sanft geschwellte Höhe,
Wo hingestreckt des Landbaus Göttin froh
Die Wunder ihrer Reiche überschaut!
O Himmel! Welcher reiche Anblick rings umher!
Schau! Höhn und Thal, und Wald und Flur und Zinnen
Und hohe Burgen, goldne Strönic, bis
Die weite Landschaft sich in Nebelduft verliert."
,, Schon von der steinernen Brücke aus," sagt Madame
Schopenhauer, „die nahe vor dein berühmten Hügel von Nich-
mond über die Themse fährt, genießt man einer entzückenden Aus-
sicht auf den Strom, seine mit schönen Villen geschmückten Ufer,
und den sich sanft zu keiner sehr beträchtlichen Höhe erhebenden,
grünenden und blühenden Hügel. Weit schöner noch ist es, wenn
man diese Anhöhe ersteigt, und nun aus dem Fenster des darauf
erbauten Gasthofes hinabblickt auf eines der reizendsten Thäler der
Welt. Größere, ausgebreirctere, romantischschönere Aussichten
giebt es viele, aber keine, welche an Anmuth diese überträfe. Ein
unaussprechlich süßes Gefühl von Ruhe, stillem Glück, Freude am
Leben, ergreift Jeden mächtig, der von hier auS den Blick hin-
absenkt. Alles grünt und blüht hier in der herrlichsten, üppigsten
Vegetation. Die höchst möglichste Cultur schmückt das weite, von
einem der schönsten Ströme belebte, von sanft anschwellenden,
waldgckrönten Hügeln umgebene Thal. Selbst England bietet
keine solche zweite Aussicht dar, und außer dieser Insel kann es
keine ähnliche geben; denn wo fände man dieses frische Grün in
Wiese und Garten, Feld und Wald? In mannigfaltigen Bier
gungen und Krümmungen durchströmt die Themse dies Paradies.
Hier ist sie noch nicht der mächtige Strom, der, nahe bei der
Hauptstadt sich prächtig ausbreitend, die Schätze aller Erdtheile
auf seinem Rücken trägt. Nur schiffbar für kleinere Fahrzeuge
Das britische Reich.
241
gleitet sie durch die friedlicbe Landschaft, das Bild eines schonen
thätigen Lebens in stillem Frieden. Das üppigste Gedeibcn füllt
Wald, Höhe und Thal, krönt die User, die schönen Hügel, so
weit das Auge nur reicht. Weiße Giebel freundlicher Pächterwoh-
nungen, schöne Fanden prächtiger, mit Säulen geschmückter Vil-
len, Landhäuser, umrankt von Jelängerjelieber, Thürme entfern-
ter Kirchen, stattliche Schlösser, freundliche Dörfer und Städt-
chen blinken überall hervor, aus Bäumen und Gebüsch, in der
Höhe und in der Tiefe, in der Nähe und in der Ferne. Wohin
sich das Auge wendet, überall erblickt es freundliche Gegenstände,
überall ist Lebensgenuß und Freude, nirgends Geräusch und ängst-
liches Treiben. Diese wunderbar reizende Gegend kann nicht um-
ständlich beschrieben werden; nicht einmal der Pinsel kann ihren
Zauber wiedergeben. Der Park von Richmond gehört zu den
größten in England, und hat 2 deutsche Meilen im Umfange.
Nirgends drängt sich hier die Kunst vor; zahme Hirsche und Rehe
weiden hier in großer Anzahl zwischen herrlichen Bäumen." —
Fährt man von Richmond das Thal der Themse eine gute Meile
weiter hinauf, so kommt man nach dem königlichen Lustschlosse
Hamptoncourt (Hämptenkort). „Welch ein Thal!
Ueberall zeigt der Augenschein, daß glückliche, wohlhabende Land-
leute hier neben reichen Gutsbesitzern wohnen." In dem großen
Schlosse saß der unglückliche Karl 1. eine Zeitlang gefangen. Die
großen Gärten und der Park sind etwas altmodisch, weil der Kö-
nig nicht hinzukommen pflegt, und also nichts Neues angelegt
wird. Noch etwas weiter, und man ist in
Windsor, etwas über 4 deutsche Meilen von London, auch
. an der sich hier viel schlängelnden Themse. Die Stadt selbst ist
unbedeutend; aber dabei liegt auf einer Anhöhe, zu welcher man
auf mehreren hundert Stufen hinaufsteigt, das alte Windsor-
schloß, das zuerst schon vor fast 800 Jahren erbaut wurde.
Seitdem haben mehrere Könige daran gebaut, besonders die Königin
Elisabeth, die hier 45 Jahr lang wohnte. Dennoch sieht es sehr
alterthllmlich aus, und bildet einen sonderbaren Contrast mit der
freundlichen, lachenden Gegend rings uniher, die eine zahllose
Menge zierlicher Landhäuser enthält, in denen die Familien, die
sich dem Stadtgewühl entziehen wollen, oft das ganze Jahr hin-
durch wohnen. Der schönste Punkt dieser reizenden Gegend ist
die berühmte Terrasse, die um einen Theil der Schloßgebäude
geht. Sie besteht aus einem schönen, breiten, mit Sand beleg-
ten Wege, den schon die Königin Elisabeth anlegte. Hier hat man
eine wundervolle Aussicht. Besonders fallen jedem Fremden die
herrlichen grünen Wiesen auf, die wirklich so dichtes, wolliges,
kurzes Gras haben, daß man auf dem schönsten grünen Sammete
zu gehen glaubt. Die Engländer wenden aber auch die größte
Sorgfalt darauf, scheeren wöchentlich wohl zweimal die Spitzen
Nö sfelts Geographie II' 16
242
Das britische Reich.
ab, und ziehen eiserne Walzen darüber hin. Am Sonntage sin«
det man auf jener Terrasse eine unendliche Menge von Menschen,
die aus London und der ganzen umliegenden Gegend bcrbeiströ-
men: Landleute, Gutsbesitzer, Pächter, schwerfällige Bewohner
der City mit ihren wohlbeleibten, geputzten Ehehälften und zierli-
chen, trippelnden Töchtern u. a. m. — Ganz nahe bei Windsor,
nur durch den Fluß getrennt, liegt
E to n (Jten), ein großes Dorf, mit der berühmtesten Schule
Englands, wo die vornehmsten jungen Leute erzogen und unter-
richtet werden. Ein halbe Stunde weiter kommen wir über dem
Sammetteppich blumenreicher Wiesen nach dem Dorfe
Slough (Sloh), wo der berühmte, vor wenigen Jahren
verstorbene Astronom Herschel wohnte. Vor seinem stillen
Hause steht sein ungeheures Spiegelteleskop, das zu groß ist, um
in einem Gebäude Platz zu siuden. Die Röhre dieses Niesenfern-
rohres ist fast 20 Ellen lang, von geschmiedetem Eisen, und ruht
auf einem Fußgestellc, das durch 20 Rollen nach allen Seiten be-
wegt werden kann. Es vergrößert die Himmelskörper ZOOO Mal,
und oft sah Herschel in einer Stunde mehr als 50,000 Sterne
vor dem Gesichtsfelde des Fernrohrs vorübergehen. Mit dieser
bewunderungswürdigen Maschine hat der große Mann die stau-
nenswürdigsten Entdeckungen am Himmel gemacht. Jetzt ist er
da, wo er wohl heller sehen wird, was er hier nur ahnen konnte.
Seine Schwester half ihm bei seinen Beobachtungeri, und hat selbst
manche wichtige Entdeckung gemacht. — Wenn wir nach London
zurückgekehrt sind, und nun östlich, stromabwärts, fahren, so
kommen wir nach
Greenwich sGrinitsch). Wir fahren auf der Themse hin-
ab. Welcher stetö" Wechsel der Ansichten an beiden Ufern! „Hier
Palläste, dort armselige Fischerhütten ; zur Rechten die engen. Lich-
ten Straßen von Southwark; zur Linken der herüberdrohende To-
wer, und an dem Fuße seiner Wälle die Landungsplätze, wo vor-
mals so oft bei nächtlicher Weile die Opfer des Todes ausgeschifft
wurden; dann weiter nach Osten die Londondocks. Auf dem Stro-
me selbst — welches unaufhörliche Gewühl der Boote, die sich
mit bewunderungswürdiger Gewandtheit begegnen und ausweichen;
Gondeln und Nachen mit bunten, wehenden Wimpeln; reichgeklei-
dete Ruderer; fröhliche Musikchöre. Von fern schon erblickt man
Greenwich, ein freundlich belebtes Städtchen." Seine größte Se-
henswürdigkeit ist das wahrhaft prächtige Hospital für 3000
invalide Seeleute. Man glaubt einen königlichen NesideiizpaUast
zu sehen. Wie ärmlich nimmt sich dagegen der St. James-Pal-
last in Westminster aus! Eine breite Treppe führt von der Themse
nach der geräumigen Vorhalle, von welcher die ausgedienten See-
leute, die nun in den ruhigen Hafen ihres Lebens eingelaufen
sind, die vorübergleitendcn Schiffe ungestört betrachten können.
Das britische Reich.
243
\
Eine zweite Merkwürdigkeit ist bier die große Sternwarte.
Die Engländer nehmen den Meridian, der über diese Sternwarte
gebt, als den ersten an ( s. Th. 1. S. 21). Fahren wir die
Themse vollends hinab, so finden wir an ihrer weiten Mündung
die Dünen. Sonst nennt man so Sandhügcl, wel-
che das Meer am Ufer aufgeworfen hat. Hier aber versteht
man darunter das seichte, sandige Meer, das besonders guten
Ankergrund hat, wo daher immer viele Schiffe als auf einer
sichern Rhede liegen. — Fast ganz südlich von London liegt
Brighton (Breiten), eine kleine Seestadt. Der fetzige
König von England, Georg IV., pflegt sich hier oft aufzuhalten,
um die hiesigen Seebäder, die stark besucht werden, zu gebrau-
chen. Alles, was zur großen Welt gehören will, eilt in den
Sommermonaten hierher, um — zu baden? — nein! sondern um
sich auf den Promenaden herum zu treiben, und sagen zu können:
„auch ich war in Brighton!" — Wenn wir an der Südküste
von England von Osten nach Westen fahren, so kommen wir nach
folgenden Ocrtcrn:
Portsmouth (Portsmuss), an einem Busen des Kanals,
der hier einen vortrefflichen Hafen bildet. Hier liegt ein Theil der
englischen Kriegsflotte, und daher findet man hier alles, was zum
Bau, zur Ausrüstung und Verproviantirung der Kriegsschiffe ger
hört. Man erstaunt, wenn man auf den Werften die hölzernen,
im Bau begriffenen Kolosse, in den Eisengießereien die ungeheuern
Anker, in den Magazinen die großen Segeltücher, die vielen Ka-
nonen und anderen Gewehre, und die unermeßlichen Vorräthe al-
ler Art sieht. Nicht weit davon ist die berühmte Rhede von
Spithead (Spithedd). So heißt ein am Meere auf einer
Landspitze liegendes Dorf. Diejenigen Schiffe, die nicht nöthig ha-
ben, bis in den Hafen zu fahren, werfen auf dieser trefflichen
Rhede ihre Anker. Gegenüber ist die Insel Wight (Hweit).
— Viel östlicher als Portsmouth liegt
Plymouth (Plimmuss), ebenso wie die vorige eine höchst
wichtige Seestadt, eine Festung und ein Kriegshafen, aber noch
größer als Portsmouth. Dem Hafen liegt gegenüber, einige
Meilen entfernt, die Klippe Ed dysto ne. Da die Schiffe sehr
leicht daran scheitern könnten, so hat man einen merkwürdigen
Leuchtthurm darauf erbaut, auf welchem immer drei ^Nänner sich
befinden, welche des Nachts ein Helles Leuchtfeuer unterhalten.
Sonst waren es nur zwei. Als aber einmal einer derselben starb,
und der stürmsschen Witterung wegen einige Wochen lang das
Schiff, welches ihnen Lebensmittel bringt, nicht anlanden konnte,
so war der Uebcrlebende genöthigt, die faulende Leiche seines Ca-
meraden so lange bei sich zu behalten, damit man nicht, wenn
er ihn ins Meer würfe, ihn beschuldigen könnte, denselben cr-
16 *
244
Das britische Reich.
mordet zu haben. > Seitdem sind hier ihrer drei. Furchtbar schon
ist es hier zur Zeit des Sturmes, wenn die brausende See um;
herwogt, die Wellen laut heulend gegen die Mauern schlagen,
der Schaum bis oben an die Fenster spritzt, und doch Fels und
Thurm nicht wanken, ein würdiges Seitensiück zu den Murazzis
in Venedig.
Der südwestlichste Theil von England heißt Cornwall
(Kornwahl), ein mit kahlen Bergen ganz bedecktes, aber an
Blei und Eisen sehr reiches Landchcn. An den Küsten wer-
den jährlich viele Millionen Sardellen gefangen. Der bedeu-
tendste Ort ist
Falmouth (Fallmuss), eine Seestadt, die fast nur aus
einer einzigen sehr langen Straße längs dem weit ins Land ge-
henden Hafen besteht. Von hier gehen die Postschisse nach Por-
tugal, Spanien und Amerika ab.
Dies sind die Städte an der Südküstc. Auch noch im
Süden, aber von der Küste entfernt, liegt die Stadt
Salisbury (Sohlsbri), die nur eine Merkwürdigkeit hatt
eine sehr alte, herrlich gebaute Domkirche, die für ein Meistcr-
ftück der altdeutschen Baukunst gehalten wird. Auf ihr steht der
höchste Thurm Englands, der aber doch noch von mehreren hohen
Thürmen Deutschlands übertroffcn wird. Er ist 410 Fuß hoch.
Nicht weit davon ist das berühmte
Stonehenge (Stohnhentsch). Dies ist ein merkwürdiges
Denkmal aus dem grauesten Alterthume. Eine Reihe ungeheurer
Felsenstücke sind in einer kreisförmigen Gestalt aufrecht gestellt,
doch so, daß zwischen allen ein Zwischenraum ist. Oben jieht
man noch die Spuren von Vertiefungen, in welchen andere Stein-
blöcke lagen, durch welche jene aufrecht stehend.en verbunden wur-
den, so daß das Ganze einen großen Kranz von Steinen bildete.
Um diesen herum lief eine eben solche Umzäunung, ein viel wei-
terer Kreis, von welchem aber nur noch wenige Steine stehen.
Dies Denkmal muß uralt seyn; denn theils sprechen schon die
ältesten Geschichtsschreiber davon, theils ist die Arbeit so roh, daß
sie nur von einem noch ganz rohen Volke herrühren kann; und
doch läßt sich nicht begreifen, wie die ungeheuren Steine ohne künst-
liche Werkzeuge haben von so weiter Entfernung dahin gebracht
werden können; denn es giebt nirgends in der Nähe solche Stein-
art'. Wahrscheinlich diente der runde Platz den allerältesten Be-
wohnern Englands zu Volksversammlungen.
Von Salisbury wenden wir uns nordwestlich, gegen
den großen Meerbusen, den Kanal von Bristol (nicht Bristt,
sonders Bristol auszusprechen), hin, und kommen, ehe wir
ihn noch erreichen, nach dem berühmten Badeorte
Das britische Reich.
245
Bath (Baß). Das Leben in den englischen Badeorten!
ist ganz anders als in den unsrigen, und verdient bei dieser Ge-
legenheit eine Schilderung. So sehr auch der Engländer die Frei-
heit liebt, so ist er doch weit mehr ein Selave der alten Gewohn-
heiten und der eingeführten Etikette. Das ist besonders in Ba-
deörtern der Fall, und damit diese nie verletzt werde, ist in jedem
Badeorte ein eigener Ceremonienmeister, in Bath sogar zwei, ange-
stellt. Dieser macht gewissermaßen den Wirth, sorgt für alles,
kommt Jedem höflich entgegen, veranstaltet die gemeinschaftlichen
Vergnügungen, Bälle, Assembleen, sieht dabei auf Ordnung, sicht
darauf, daß sich Jeder möglichst unterhalte, und schlichtet etwa
entstehende Streitigkeiten. Dagegen fehlen die bei uns gewöhnli-
chen Brunnenärzte in England ganz. Hat man sich gleich nach
seiner Ankunft im Badeorte häuslich eingerichtet, hat man Kar-
ten an die Badegäste geschickt, die man kennt oder deren Bekannt-
schaft man wünscht, so unterzeichnet man zu den an bestimmten
Tagen statthabenden Assembleen, Concerten und Ballen, vor al-
len Dingen aber zu einer der vielen Leihbibliotheken, die der
Haupttrost für diejenigen sind, die nicht wissen, wohin sie mit ih-
rer Zeit sollen. „Ist früh das Wasser getrunken, welches ge-
wöhnlich während der Promenade in einem der Brunnensäle ge-
schieht, hat man gebadet, für sich gefrühstückt, was fängt man
dann mit dem langen Vormittage bis Z Uhr an, wo die zweite
Toilette beginnt? Reiten, fahren, gehen kann man nicht immer;
die wenigen Visiten, der Besuch der Putzläden sind bald abge-
macht." Dann geht man in die Leihbibliotheken, wo man immer
Gesellschaft stndet, und nach Belieben entweder lesen oder plau-
dern kann. Zu Mittage speist man etwas eher als in London,
weil die Abcndvergnügungen schon um 7 Uhr anfangen. Die mei-
sten essen zu Hause. Nach Tische ,vird die dritte Toilette gemacht.
Jeder Abend hat seine bestimmte Vergnügung. Ist diese vorbei,
so geht man um Mitternacht zur Ruhe, und hat einen Tag —
ohne Nutzen für sich und die Welt hingebracht. Wie sind die zu
bedauern, die so leben müssen oder leben wollen? Am traurigsten
ist der Sonntag. Da sind Spiel, Tanz, selbst Lectürc verpönt;
alle Laden sind geschlossen. Es bleibt da kein Trost übrig, als
im Salon umherzugehen und Thee zu trinken. So wie in Eng-
land Ton ist, die Natur der Dinge umzukehren, und aus dem
Tage Nacht und aus der Nacht Tag zu machen, so ist das auch
mir der Badezeit. Bath besuchen die Badegäste nicht im Som-
mer, sondern im Winter. Vom November bis zum Mai wim-
melt es hier von eleganter Welt, die aber mehr des eiteln Her-
umtreibens wegen hierher kommt, als um die Gesundheit wieder-
herzustellen. Im Sommer ist cs leer; da wird der Ort nur von
den wirklichen Kranken besucht. Die Stadt Bath hat eine schöne
Lage, in einem lachenden, von einem Flusse durchströmten Thale,
246
DaS britische Reich.
umgeben von bedeutenden Hohen. Einzig wunderbar ist der An«
blick der Stadt. Das Thal ward nämlich bald für die vielen
Häuser zu enge, und nun baute man an den Bergen hinan, an de«
ren Abhängen sich nun Palläste über Palläste thürmen, und da
die Häuser alle aus schönen weißen Quadern erbaut sind, so sehen
sie so neu aus, als wären sie eben erst fertig geworden. Ans Fahren
ist hier bei den steil auf« und abwärts laufenden Straßen natür«
lich nicht zu denken; dafür ist das Pflaster aber wunderschön,
und eine Menge von Sänften steht beständig bereit. Jeden bis
auf die höchste Höhe zu tragen. Alle Häuser sind zu Wohnungen
für Badegäste eingerichtet, und alle möglichen Bcdürfniffe, aller
Hausrath/alle Verzierungen der Wohnungen miethweise zu erhal-
ten , so daß man binnen 2 Stunden die Wohnung aufs netteste
und prachtvollste eingerichtet haben kann. Daß die Kaufmanns«
gcwölbe eben so schön und geschmackvoll wie in London ihre Waa-
ren hinter großen Glasfenstern zur Schau stellen, braucht kaum
erst gesagt zu werden. — Einige Meilen von Bath liegt die
große Satdt
Bristol (sprich, wie man sie schreibt), von ungefähr
100,000 Einwohnern. „Im unaufhörlichen Wechsel der reizend-
sten Aussichten fährt man in einem Garten, auf den schönsten
Wegen, durch ein Land von mannigfaltiger, hoher Schönheit."
Bristol liegt am Avon (Ehwen), einem breiten Fluffe, der 1?
Meile davon in den Kanal von Bristol fallt, und auf dem die
Schiffe bis zur Stadt kommen können. Die Uingebungcu der
Stadt sind unstreitig die schönsten in ganz England; der breite
Strom, das nahe Meer, Berg und Thal, Feld und Wald, der
reiche Anbau des Landes, alles trägt dazu bei. Die Straßen
und Plätze sind breit, gut gepflastert, stark belebt, die Häuser
groß und schön. Sie liegt, wie das alte Rom, auf ? Hügeln,
von denen man zum Theil eine sehr schöne Aussicht über das
umliegende Land genießt. Besonders schön, ja prächtig ist der
Kai am Häfen. Auch bewundern wir hier, wie in Salisbury, die
alte, schöne Kathedrale. — Von Bristol östlich finden wir
Opford an der Themse, die bis dahin den Namen Isis
führt. Die Stadt ist ziemlich todt, aber freundlich; doch ver-
schwindet die eigentliche Stadt fast ganz vor den Universitätsge-
bäuden. Auf unsern deutschen Universitäten haben wir ein einzi-
ges dazu bestimmtes Gebäude; hier aber giebt es deren 2,5» Man
nennt sie Collegien. Jedes hat seine besonderen Professoren und
Studenten, und bildet gewissermaßen eine Universität für sich.
Einige sind nur unbedeutend; andere dagegen aber wahrhaft
prächtig und pallastartig; ja das eine mimmt einen Flächenraum
von einer halben Meile ein. — Nahe dabei ist
Wood stock (Wuhdstock), wo treffliche Stahlarbeiten ge-
macht werden. — Reisen wir von den beiden letzteren Oertern
Das britische Reich. 247
gerade nach Norden, so finden wir ungefähr in der Mitte von
England die Stadt
Birmingkam (Vcrminghem), die ansehnlichste Fabrikstadt
des ganzen Landes, von deren Erzeugnissen gewiß jede meiner Le/
serinnen irgend etwas besitzt. So groß die Stadt auch ist —
denn sie hat weit über 100,000 Einwohner, — so düster sieht sie
doch aus, wegen der beständig rauchenden Fabrikgebäude. Die
ganze Stabt ist in ewigen Steinkohlendampf gehüllt, und darum sind
alle Gebäude räucherig. Ueberall hört man hämmern und pochen,
und geschäftig laufen die thätigen Menschen auf den Straßen hin
und her. Die Sachen, die hier gemacht werden, alle zu nennen,
ist hier unmöglich. Besonders macht man hier alles, was man
bei uns kurze Waaren nennt: Knöpfe, Messer, Scheeren, Na-
deln, Schnallen, Dosen, Leuchter, Feilen, Hämmer, Uhrkelten,
Peitschen, Brieftaschen u. s. w., und zwar nicht allein in der
Stadt, sondern auch in den umliegenden Dörfern. Unter den
Oertern der Nachbarschaft ist vorzüglich merkwürdig
Soho, das ein einziger betriebsamer Mann, Boulton (spr.
Bolten), angelegt hat. Der Ort besteht aus vier großen Vier-
ecken und mehreren Straßen, die alle entweder Fabrikgebäude
oder Wohnungen der Fabrikarbeiter enthalten. Vorzüglich merk-
würdig ist hier die große Münze, auf welcher unzählige engli-
sche und ausländische Münzen geprägt werden, und zwar durch
eine einfache Dampfmaschine. Diese macht, daß alles sich wie von
selbst bewegt; mit Blitzesschnelle schieben sich Stücke Gold, Sil-
ber oder Kupfer unter den Prägestock, und machen, sobald sie
geprägt sind, andern Platz. Alles scheint wie von unsichtbaren
Geistern getrieben. Zn einem andern Zimmer werden die zu mün-
zenden Stücke Metall geschnitten; in noch einem andern die ge-
prägten in langen, leinenen Säcken hin und her geschwungen,
und auf diese Art gereinigt. Die Maschine, die dies alles treibt,
ist in einem unterirdischen Gewölbe. Jahr aus, Jahr ein. Tag
und Nacht, wird hier das Wasser kochend erhalten. Auch hat
Boulton eine Fabrik von silberplattirten Waaren. Dünne
Silberplattcn werden auf kupferne Stücke oben und unten ange-
schmolzen, so daß man die daraus verfertigten Waaren nicht mehr
von ächt silbernen unterscheiden kann. Ferner sieht man hier eine
G las sch le i f ere i, wo die herrlichen Kronleuchter, Vasen, Fla-
schen und Trinkgläser, die man in den Glasgewölben Londons
prangen sieht, geschliffen werden. Endlich finden wir auch eine
ganze Fabrik von Dampfmaschinen, die durch Europa ge-
hen. Man kann hier sehen, was ein einziger denkender und thä-
tiger Mensch vermag. Er ist nicht nur selbst dabei ein Millionair
geworden, sondern verschafft dabei zugleich über 1000 Menschen
Arbeit und Brot.
248
Das britische Reich
Wenn wir unsre Reise mitten durch England von Sü-
den nach Norden fortsetzen, so kommen wir von Soho nach
Derby (Dahrbi). Die Hauptmerkwürdigkeit dieser zwar
ziemlich großen, aber schlechtgebauten Stadt ist die große Spinn-
maschine, die wohl ihres Gleichen nicht bat, und zeigt, was
der menschliche Erfindnngsgeist vermag. Es wird hier nämlich
Seidengarn bereitet, und zwar in einer stauncnswürdigen Schnei/
ligkeit. Die Maschine hat fast 26,600 Näder und Rädchen und
fast 100,000 Spulen, und alle diese drehen sich in einer Minute
dreimal um und um, wodurch in jeder Minute über 221,OOO El-
len Seidengarn geliefert wird. Kann man sich etwas Staunens/
würdigeres denken! Dadurch allein ist es zu erklären, daß diese
Waaren für einen so niedrigen Preis jetzt zu erhalten sind. —
Gehen wir von Derby etwas westlich, so kommen wir nach
Newcastle under Line (Njukässel önder Leine). An
sich ist die Stadt nicht bedeutend; aber hier und in der ganzen
Umgegend sind weit mehr als 100 große Steingutfabriken. In
ihnen wird das bekannte englische Steingut, das wir auch in un-
sern Kaufmannsgewölben von so großer Vollkommenheit finden,
verfertigt. Die größte dieser Fabriken ist in
Etruria. Diesen Ort hat ein einziger unternehmender
Mann angelegt, so wie Soho von Boulton gegründet war. Er
hieß Wcdgewood (Wetschwuhd), und war anfangs ein ge/
meiner Töpfer. Da er aber als ein denkender Kopf nicht beim
alten Schlendrian bleiben wollte, so dachte er nach, wie er dem
Töpfergeschirr bessere Formen geben, und den Thon verbessern
könnte. Durch sorgfältige Bereitung des Thons, durch Zusetzung
verschiedener Farben und durch Erfindung neuer, schöner Glasuren
und Lacke brachte er bald eine Menge von verschieden gefärbtem
Töpferzeng hervor: rothes, gelbes, graues, schwarzes u. s. w.
Manches sah wie Eisen, anderes wie Kupfer aus; das eine war
blank, das andere matt; dieses glatt, und jenes mit Verzierungen
von unendlicher Mannigfaltigkeit versehen. Ferner sah er ge/
nau die schönen Gefäße an, die man auS dem Alterthume übrig
hat, und bildete diese geschmackvollen Formen nach. Seine Er-
findungen wurden bald bekannt, und nun wollte Jeder von ihm
kaufen. Der Mann hatte bald so viel zu thun, daß er sich im-
mer neue und neue Arbeiter anschaffen, und ein Fabrikgebäude
nach dem andern anlegen mußte. So entstand nach und nach eine
ganze Stadt, die er Etruria nannte, und die aus seinen Fabrik-
und Wohngebäuden und aus denen seiner Arbeiter bestellt. Sein
Geschirr geht in alle Welt, und steht auch auf unsern Thee/
und Kaffeetiscllen.
Wenn wir von Derby noch etwas nördlicher reisen, so
kommen wir in das Gebirge Peak (Pihk), ein rauhes, kah-
Das britische Reich. 249
lcs, meist ödes Land, aber merkwürdig wegen seiner Höhlen.
Am berühmtesten ist die Peaks- oder Castle ton- (Käs-
seltn) Höhle, die uns Mad. Schopenhauer beschreiben mag:
„Ein enges, schauerliches Thal empfing uns; kein Baum,
keine Spur von Vegetation, nur nackte und steile Felsen,
zwischen denen wir uns ängstlich hinwinden mußten, die je-
den Augenblick den Weg zu versperren schienen. Wir durch-
reisten die ödeste, traurigste,, schauerlichste Gegend in England.
Endlich langten wir in Castle ton an, einem so armen Städt-
chen, wie wir noch keins in England gesehen hatten. Wir
eilten bald nach der Peaks-Höhle. Sie liegt nahe bei
der Stadt. Der Eingang derselben ist wahrhaft groß und
imposant. Eine Reihe meist senkrecht steiler Felsen von wun-
derbar zackiger Form erhebt die mit Baumen gekrönten Schei-
tel. In einem derselben hat die Natur ein schauerliches, 42
Fuß hohes und 120 Fuß breites Thor gewölbt, durch wel-
ches man in undurchdringliches Dunkel zu blicken wähnt.
Vor der Wölbung hangen ungeheure, bizarr geformte Tropf-
steine; wildes Gesträuch rankt dazwischen, Ephcu umwindet sie,
und fiattcrt in leichten Kränzen darum her. Felsenstücke hän-
gen herab, Untergang drohend dem Haupte dessen, der vor-
witzig in die Geheimnisse der Unterwelt dringen will. Wir
traten in die Höhle. Die dunkle Nacht ward dem allmälig
sich daran gewöhnenden Auge zur Dämmerung. Bald unter-
schieden wir darin eine Menge Weiber und Kinder, emsig
spinnend, die ärmlichsten Gestalten, welche die Phantasie nur
erdenken kann. Gnomen gleich, hocken sie in dieser kalten,
feuchten Dunkelheit, und fristen kümmerlich ihr armes Leben;
des Nachts schlafen sie in kleinen brcttcrnen Hütten, die sie
sich in der Höhle erbauten, und deren wir eine ziemliche-An-
zahl herumstehen sahen. Ungestüm bettelnd umgaben sie uns,
so wie sie uns gewahrten. Wir waren froh, nach dem Ra-
the der Wirthin in Castleton eine Menge Kupfergeld einge-
steckt zu haben, um uns loszukaufen. Die Wärme der Höhle
im Winter, die ein eigentliches Haus entbehrlich macht, der
kleine Gewinn, den die Fremden ihnen gewähren, vor Allem
aber die Freiheit von Abgaben, welche nur auf der Oberwelt,
im Sonnenlichte, gefordert werden, bewegt diese Armen, eine
250
Das britische Reich.
so unfreundliche Wohnung zu wählen. Nachdem wir uns von
ihrem Ungestüm losgemacht hatten, kauften wir Lichter. Je-
der von uns mußte eins tragen; der Führer trug deren zwei
voraus, und so ging es denn weiter in den ganz finstern Hin-
tergrund der Höhle. Der Führer machte uns auf einige un-
geheuer große Tropfsteine aufmerksam, welchen er allerhand
Namen gab. Dann öffnete er eine schmale, niedrige Thür,
und wir standen in einem großen Gewölbe, von dessen Decke
große Felfenstücke drohender als je über unsere Häupter herab-
hingen. Der Schimmer der flackernden Lichter machte sic noch
grausendcr; sie schienen sich zu bewegen. Jetzt ward das Ge-
wölbe ganz niedrig. Gebückt, mit unsicherem Tritte auf dem
schlüpfrigen, unebenen Boden, mußten wir uns lange durch
eine enge Felsenspalte winden; bald ging es steil in die Höhe,
bald eben so herunter. Die Luft war schwer, wir möchten
sagen zähe; denn ihr Widerstand schien uns fühlbar. End-
lich konnten wir unsere Häupter erheben. Wir befanden uns
in einem kleinen Gewölbe und bald am Ufer des unterirdi-
schen Stroms, der hier, wie der Styp, kalt und stumm in
ewiger Nacht die schwarzen Wellen langsam dahinwälzt. Wir
fanden einen mit Stroh angefüllten Kahn, in welchem zwei
Personen ausgestreckt neben einander liegen konnten. Der Füh-
rer stieg ins Waffcr, welches ihm fast bis an die Hüfte ging.
So schob er den Kahn vor sich hin, in welchem wir auf dem
Stroh lagen, und kaum zu athmen wagten. Cs ging unter
Felsen weg, die, kaum eine Hand breit von unserm Haupt
entfernt, alle Augenblicke einzustürzen schienen; von beiden
Seiten war kein Zoll breit Ufer, um darauf fußen zu kön-
nen. Nie war uns die Idee eines lebendig Begrabenen an-
schaulicher, als hier in dem sargähnlichen Kahne mit der
schwarzen Felsendecke über uns. Der Führer mußte ganz ge-
bückt waten; ein Stoß an einen Felsen, der ihn besinnungs-
los gemacht hätte, und wir waren auf die entsetzlichste Weise
verloren. Mit diesen Gedanken beschäftigt, schwammen wir
eine ziemliche Zeit, bis wir landen konnten, immer das Licht
in der Hand. Endlich stiegen wir aus unserm Sarge.
Schwindlich von der Fahrt, mußten wir uns erst eine Weile
erholen, che wir um uns blicken konnten, und fast waren
Das britische Reich.
251
wir es beim ersten Umherschauen aufs Neue geworden. In
einem ungeheuren Dom, der 120 Fuß hoch, 270 lang und
210 breit war (also wie die größte Kirche), funkelten eine
Menge hin und wieder zerstreuter Lichter wie Sterne. Hier
ist der Tempel des ewigen Schweigens, zu dem noch nie ein
Strahl der sonnigen Oberwelt, ein Laut der Freude drang.
In dieser unabsehbaren Höhle war uns noch bänglicher als
in der engen kleinen; die Entfernung von allem Leben war
hier fühlbarer durch den Raum,, der uns sichtbar davon trennte.
Mühsam kletterten wir über abgerissene, rauhe Felsstückc, und
kamen wieder an das Wasser. Wir standen still; es war,
als ob Töne einer sehr fernen Musik zu uns hcrübcrschlüpf-
ten. Der Führer stieg abermals ins Wasser, und trug einen
nach dem andern eine ziemliche Strecke auf den Schultern
hindurch. In einer kleinen runden Höhte, in welcher das
Wasser tropfenweise von allen Seiten unaufhörlich niedersinkt,
fanden wir eben in diesem ewigen Tröpfeln die Ursache jener
Töne, die uns vorher wie Musik aus der Ferne schienen. Der
Fußboden war mit tausend wunderlichen Schnörkeln aus Tropf-
stein bedeckt. So gut es anging, eilten wir weiter, und in
einer höheren, gewölbten Abtheilung der Höhle harrte unser
eine sonderbare Uebcrraschung. Ein Chor von Männern em-
pfing uns mit einem langsamen, eintönigen Gesänge. Lichter
in den Händen haltend, die sie hin und her schwenkten, stan-
den sie 50 Fuß hoch über uns in einer Art von Nische. Ihr
Gesang war rauh, aus wenig Tönen zusammengesetzt, wild
und klagend, aber dennoch nicht unangenehm. Nach diesem
wunderlichen Empfange ging es weiter. Acngstli'ch gebückt,
schlichen wir unter und über Felsmassen, bis zu einem kleinen
Gewölbe, noch grausendcr und schauerlicher als alle übrige,
und ein schwarzer Abgrund, zu welchem wir zitternd hinab-
leuchteten, gähnte dicht vor unsern Füßen. Der Führer zeigte
uns den steilen, furchtbaren Fußsteig, der über schlüpfrige
Tropfsteine hinabführt. „Dies ist der Teufelskeller," sagte
er, „und" — indem er plötzlich einen von uns beim Arme
ergriff, „hier bin ich Herr," sagte er widerlich lachend;
„hier kann ich thun, was ich will." Wir können's nicht
leugnen, wir erschraken; denn er war nur zu sichtbar Herr.
252
Das britische Reich.
Indessen faßten wir uns bald, und gaben ihm zu verstehen,
das; unsre Begleiter draußen geblieben waren, und ernstlich
nachforschen würden, wenn uns hier ein Unglück widerfübre.
Dies machte ihn etwas höflicher. Der Führer leuchtete jetzt
in den Abgrund vor uns hinab. Die wenigsten Wanderer
wagen sich den steilen Pfad hinunter, der 150 Fuß tiefer
führt. Sie lassen bloß den Führer mit einigen Lichtern hin-
abgehen , und begnügen sich mit dem schauerlichen Anblick von
oben. Wir thaten dies auch. Kühne, bogenähnliche Vertie-
fungen, emporstrebende Säulen, geformt von der Hand der
Natur, sahen wir im flimmernden Lichte; das Wasser plät-
scherte lebendiger im tiefsten Grunde. Endlich stieg er wieder
herauf. Wir traten den Rückweg an; ein ferner Schimmer
des Tages, den unser an die Dunkelheit gewöhntes Auge
jetzt in der zweiten Höhle vom Eingänge entdeckte, erfreute
uns unbeschreiblich. Zwei Stunden waren wir in der Woh-
nung der Nacht und des ewigen Schweigens geblieben. Wie
wir nun wieder hinaustraten an's erfreuliche Sonnenlicht, wie
uns nun wieder die milde, schmeichelnde Sommerluft warm
und labend empfing, da war uns, als erwachten wir von
einem beängstigenden Traume."
Nicht weit davon liegt ein einsames Schloß, in welchem
Maria Stuart 16 Jahre lang den Verlust ihrer Freiheit be-
weinte. Es heißt
Chatsworth (Tschätsworß), und liegt in einer höchst ein-
samen Gegend, die recht sonderbar gegen das prächtige und große
Schloß absticht, dessen Fensterrahmen auswendig vergoldet sind,
und ihm, wenn sie im Sonnenstrahlc flimmern, ein wunderba-
res, fcenartiges Ansehen geben. Von hier wurde Maria Stuart
unmittelbar nach Fotheringhay (Foseringh«) gebracht, wo sie ent-
hauptet wurde. Das Schloß, dem reichen Herzog von Devon-
shire gehörend, ist prachtvoll, aber eigenthümlich. Im zweiten
Stock des ältesten Theils des Schlosses findet man das Zimmer
Mariens, noch ganz so, wie sie cs damals bewohnte. „Es ist
groß und hoch; alte gewirkte Tapeten, die ihm ein finsteres,
schauerliches Ansehen geben, hängen an den Wänden. Ein hoher
Betstuhl steht in der Nähe eines Fensters» DieAnssicht aus dem-
selben ist nicht erheiternd; man sieht in eine zwar schöne, aber
höchst einsame, von Bergen eingclchlossene Gegend. Alle Möbeln
im Zimmer, die hohen schweren Stühle mit kleinen Treppen da-
vor, die eichenen oder nußbaumenen, unbeweglichen Tische versetzen
Das britische Reich.
253
Len Beschauer in jene trüben Tage, welche die schönste und un-
glücklichste Frau ihrer Zeit hier verlebte. Ihr Bette mit schwe-
ren, rothsammtenen Gardinen, die mit breiten, silbernen Tressen
besetzt sind, steht noch da; es ist, als sähe man noch die Spuren
der einsamen Thränen, die sie hier verweinte."
Reisen wir von Chatsworth westlich, so finden wir vier
merkwürdige Städte, von denen zwei, Northwich (Norßwitsch)
und Manchester (Mantschestr) im Innern des Landes, die bei-
den andern aber, Chester (Tschcstc) und Liverpool (Livver-
puhl), an der See liegen.
Northwich ist merkwürdig durch seine reichen und tiefen
Steinsalzgruben. Westlich davon liegt
Chester an der See. Wer sollte den Chesterkäse nicht ken-
nen, der in der Umgegend gemacht wird, und hier seinen größ-
ten Markt hat? Von hier pflegt man nach Irland überzufahren.
Das thun wir zwar nicht, aber wir fahren dafür nach der mit-
ten in der irländischen See liegenden Insel
Man (Mann). Sie ist überaus felsig, voll Berge,
die meist öde und nackt sind. Die Einwohner sind Nachkom-
men der alten Briten, habe ihre eigene Sprache, sind roh,
treiben viele Fischerei, und sind wegen des Schleichhandels be-
rüchtigt, den sie mit großer Kühnheit treiben. — Nach der
englischen Küste zurückgekehrt, kommen wir nach
Liverpool, einer der größten Städte des Reichs, und nach
London der größten Handelsstadt. „Handel und Betriebsamkeit
haben über diese große Stadt ihr Füllhorn ausgeschüttet, und
Reichthum und Luxus glänzen dem beobachtenden Fremden überall
entgegen." Die Stadt ist nicht schön; aber die reichen Kaufleute
haben prächtige Gebäude aufgeführt. Das kostbarste Werk aber
sind die Docks, die so eingerichtet sind, wie die in London. Die
Promenade längs ihren Ufern ist darum nicht angenehm, weil
das Gewühl, das Schreien, das Drängen und Stoßen betäubt,
und der Seegeruch lästig ist; aber der Anblick der offenen See
über die Docks hinaus ist desto schöner. Die Einwohnerzahl be-
läuft sich auf 160,000, und vermehrt sich jährlich bedeutend.
Unter ihnen sind viele Quäker-familien. In mehreren Kaufmanns-
läden sieht man die Quäkerinnen in ihrer einfachen sauberen Klei-
dung stehen, die ihre Religion ihnen vorschreibt. Sie nennen be-
kanntlich Jedermann „Du," was sich in ihrem Munde recht be-
scheiden ausnimmt. Es handelt sich mit ihnen sehr gut; ihre
Waaren sind von vorzüglicher Güte; aber abdingen lassen sic sich
nichts; warum ist das nicht überall so? Wie fast in allen großen
Handelsstädten giebt es hier viele und treffliche Wohlthätigkeits-
anstalten, unter denen sich die für Blinde auszeichnet. Die
254
Das britische Reich.
Unglücklichen wohnen theils in der Anstalt selbst, theils in Pri-
vathäuscrn; aber in der Anstalt speisen sie zusammen, erhalten
gemeinsamen Unterricht, und bringen den ganzen Tag nach Gefal;
len mit einander zu. ,,Jn zwei Zimmern stehen gute Fortepiar
no's zu ihrem Gebrauche, im dr-tten eine Orgel". ,,Als wir,"
sagt Madame Schopenhauer, ,,in letzteres traten, saß ein junger
Blinder an der Orgel, und begleitete den Gesang dreier jungen
Mädchen, seiner Unglücksgefährtinnen. Sie sangen dreistimmig
eine rührende Klage, gemildert durch stille Ergebung und Hoffnung
auf den Tag, der einst ihre lange Nacht erhellen wird. Ihre
Stimmen waren angenehm und rein; sie bemerkten unsern Ein-
tritt nicht, und sangen ungestört fort; gerührt standen wir am
Eingänge des Zimmers still, und hüteten uns wohl, sic zu unter-
brechen. Im Ganzen sind diese Blinden, wie fast alle ihre Un-
glücksgefährten, immer heiter, froh und gesprächig. Zn einem
untern Zimmer fanden wir eine Menge spinnender Weiber und
Mädchen; Näder und Zungen schnurren um die Wette. In einem
andern Zimmer, wo sich Männer und Jünglinge mit Korbflechten
beschäftigten, ging es nicht weniger munter her. Wir bewunder-
ten die Feinheit und zierliche Form der Körbchen; sie flochten so-
gar Muster von grünen und rothen Weiden hinein, und wußten
Liese von Len weißen durchs bloße Gefühl aufs genaueste zu un-
terscheiden." Andere weben, noch Andere machen Seile; es giebt
sogar Schuhmacher unter ihnen. — Reisen wir von Liverpool öst-
lich, so finden wir
Manchester (Mäntschestr), nebst Birmingham die wich-
tigste Fabrikstadt von England. Jedes Jahr nimmt ihr Umfang
und ihre Einwohnerzahl zu, die man jetzt auf 170,000 anschla-
gen kann. „Dunkel und von Kohlendampf eingeräuchert, sieht
sie einer ungeheuern Schmiede oder sonst einer Werkstatt ähnlich.
Arbeit, Erwerb, Geldgier scheinen hier die einzige Idee zu seyn;
überall hört man das Geklapper der Baumwollenspinnereien und
der Weberstühle, auf allen Gesichtern stehen Zahlen, nichts als
Zahlen." Das hat auch auf den Ton der Geselligkeit Einfluß.
Die Männer erholen sich in Tavernen bei der Flasche von der
ermüdenden Arbeit, und die Frauen haben ihre Cirkel unter sich.
Wie wenig unterhaltend aber eine Gesellschaft von lauter Englän-
derinnen seyn mag, kann der leicht denken, welcher die Schweig-
samkeir derselben kennt. Die sich jährlich vermehrenden Fabriken
beschäftigen sich besonders mit Bauniwolle, Wolle und Seide, die
zu den verschiedensten Zeuchen und Bedürfnissen verarbeitet werden.
„Wir besuchten," erzählt Madame Schopenhauer, „eine der
größten Baumwollenspinnereien. Eine im Kellergeschoß angebrachte
Dampfmaschine setzte alle die fast unzähligen, in vielen über ein-
ander gethürmten Stockwerken angebrachten Räder und Spindeln
in Bewegung. Uns schwindelte in diesen großen Sälen bei dem
DaS britische Reich.
255
Anblicke des mechanischen Lebens ohne Ende. Zn jedem derselben
sahen wir einige Weiber beschäftigt, die nur selten reißenden Fä-
den der unaufhörlich sich drehenden Spindeln wieder anzuknüpfen;
Kinder wickelten und haspelten das gesponnene Garn. In einem
großen Saal reinigte man die noch ungesponnene Baumwolle; in
großen, viereckigen, wartenähnlichen Stücken lag sic ausgebreitet
auf großen Tischen; eine Menge Weiber und Mädchen, in jeder
Hand mit einem dünnen Stecken bewaffnet, prügelten lustig dar-
auf los; in einem andern Saale ward sie durch eine, einem un-
geheuren Kamme ähnliche Maschine getrieben, und glich nun ei-
nem äußerst dünnen, aber doch zusammenhängenden Gewebe. Noch
in einem andern ward sie zu einem lockern, fast zwei Finger
dicken Faden gesponnen, und so durch viele Säle durch, immer
feiner, bis zu der Feinheit eines Haares. Alles wird hier auf
die leichteste Weise durch Maschinen bewirkt, deren jede uns ein
Wunder der Industrie schien. So sahen wir eine, einer Schnell-
wage ähnliche Maschine, die vermittelst eines Zeigers die Num-
mer und zugleich den Grad der Feinheit der daran gehängten
Garnspule anzeigte. Alles in der Fabrik, auch das Geringste, ge-
schieht mit bcwundernswcrther Genauigkeit und Zierlichkeit, dabei
mit Blitzesschnelle. Am Ende schien es uns, als wären alle diese
Räder hier das eigentliche Lebendige, und die dabei beschäftigten
Menlchen die Maschinen." Durch diese so künstlichen Maschinen
wird es nun auch allein möglich, die Waaren so fast unbegreif-
lich wohlfeil zu liefern. Denn was sonst Hunderte von Menschen
verrichteten, bewirken jetzt einige derselben. Nur entsteht dadurch
der Nachtheil, daß Tausende solcher Menschen, die sonst in den
Fabriken Arbeit fanden, nun nicht wissen, woher sie Brot neh-
men sollen. Daher sind auch in neueren Zeiten öfters die Fälle
vorgekommen, daß sich die brotlosen Menschen zusammenthaten,
und die Spinnmaschinen zertrümmerten, um die Fab'rikherren zu
nöthigen, sie wieder in Arbeit zu setzen.
Ein anderes Wunder enthält Manchester: den Bridgewa-
ter- (Britschwater) Kanal. So heißt er von dem Herzog,
der ihn anlegen ließ. Er geht nämlich über Berge hin, über ei-
nen Fluß weg, so daß unten und oben zugleich Schiffe fahren
können. ,,Wie in der Luft sahen wir," erzählt Madame Scho-
penhauer, ,, ein Kohlenschiff mit vollen Segeln hinschweben, wäh-
rend ein anderes in entgegengesetzter Richtung darunter hinflihr.
Nachdem die Wirkung des ersten Erstaunens vorüber war, besahen
wir die Sache näher. Ein schiffbarer Fluß strömt zwischen hohen
Ufern dahin; ein Kanal führt auf dem höheren Lande in einer, -
ihn gerade durchkreuzenden Richtung. Ueber den Fluß ist eine
auf drei ungeheuern Bogen ruhende, schnurgerade Brücke gebaut,
die aber nicht zum Gehen oder Fahren, sondern zur Aufnahme
des Wassers bestimmt ist. Sie ist wasserdicht gemacht, und em-
256
Das britische Reich.
pfiingt den Kanal in einem Bette, welches tief genug ist, um
nicht bloss Kähne, sondern auch Schiffe von ziemlicher Grösse zu
tragen. Zu beiden Seiten des Kanals ist noch ein breiter Fuß-
steig qclaffen. Wenn man. oben wandelt und nicht gerade hinun-
terblickt, so ahnet man nicht das Daseyn der Brücke, sondern
glaubt noch immer auf festem Lande zu seyn," und doch schwebt
man über dem Waffer des unten fliessenden Stromes.
Auch Bleistifte werden hier in Menge gemacht. Es werden
hier kleine, etwa eine halbe Elle lange und breite Brettchen von
Ccdernholz ganz glattgehobelt. Ein Andrer schneidet sie in schmale
Streifen zu viereckigen Bleistiften, und macht mit einem eigenen
Instrumente die Rinne, welche das Blei aufnehmen soll; ein Drit-
ter sehr das Blei hinein. Dies besteht aus vier Zoll langen und
halb so breiten Stücken. Diese werden so weit abgeschnitten, daß
sic in die Rinne des Holzes hineinpassen. Ein Viertel leimt kleine
dazu abgepaßte Späne hinein, die das Blei bedecken. Zuletzt wird
der viereckige Bleistift auf einer Maschine rund gemacht. DaS
Ganze geht blitzschnell, und ein Bleistift ist fertig, ehe man es
sich versieht.
Mit Manchester liegen zwei andere merkwürdige Städte
im Dreieck, die eine nach Nordosten, Leeds (Lihds), die an-
dere nach Südosten, Sheffield (Schcffihld).
Sheffield. Hier ist das Pochen, Klirren und Hämmern
noch ärger als in Soho und in Woodstock. Denn in keiner Stadt
werden so viel eiserne und stählerne Schneideinstrumente gemacht
als hier: Diester aller Art, Scbeeren, Feilen u. s. w., auch
Knöpfe und platrirte Waaren. Gerade nördlich von dieser häm-
mernden Stadt ist
Leeds. Der ganze Weg bis dahin ist öde, fast ohne An-
bau; überall sieht man nur Bleigruben, Kohlenminen, Stein-
brüche, Schmelzöfen, Ziegclfabriken, Baumwollenspinnereien und
andere Fabrikanlagen. Die Luft ist dick und schwarz vom Koh-
lendämpfe; überall sieht man emsig und mühsam arbeitende Men-
schen. In Leeds selbst ist der Hauptmarkt für Tuch und andere
Wollenzeuche. Der größte Theil der fast 100,000 Einwohner
besteht aus Tuchmachern; es ist, als wenn man hier die ganze
Welt mit Tuch bekleiden wollte. Ein großer viereckiger Platz ist
ringsum mit geräumigen Hallen umgeben; jeder Fabrikant hat
seine besondere Nummer, und hier legt er an den Markttagen
seine Waaren aus. Auch werden hier schöne Teppiche gemacht,
und sind sie auch nicht mit den Hautelissen in Paris zu vergleichen
(s. oben S. 177.), so ist doch die Geschwindigkeit zu bewundern,
mit welcher die schönsten Blumen und Muster in reicher Farben-
pracht fertig sind, wenn man sie kaum angefangen glaubt. —
Ein wenig nordöstlich von Leeds finden wir die alte Stadt
Das britische Reich.
257
Park; sie ist sehr todt und ebne alle Betriebsamkeit, und
kommt man, wie wir, auS den fleißigen Fabrikstädten, so fällt
die öde Stille der altväterischen, enggebanten Stadt um so mehr
auf. Zbre einzige Zierde war sonst die alte Domkirche, nach der
Paulskirche in London die größte in ganz England. Aber 1829
ist sie abgebrannt; ein verrückter Handwerker bildete sich ein, daß
ihn der Himmel dazu bestimmt habe, sie zu zerstören, und so
sank sic in Asche. Doch ist man schon dabei, sie wieder herzustel-
len. — Wenn wir von hier den Fluß hinabfahren nach dem Hum/
ber, so finden wir an dessen Mündung die Seestadt
Hulk (Holl) oder Kingston upon Hüll (Kingstn opan
Holl). Sie ist eine der ansebnlichsten Seestädte, die besonders
mit den Ostseestädten im lebhaftesten Verkehre steht. Hätten wir
nicht schon ähnliches anderwärts gesehen, so würden wir hier die
herrlichen Docks und weitläuftigen Schiffswerft? bewundern. Nun
reisen wir an der Seeküste in nördlicher Richtung hin, und fin-
den bei
Sunderland (Sonderländ), im nördlichsten Theile Eng,
lands, die berühmte eiserne Brücke, eins der merkwürdigsten
Werke der Art. ,,Ein einziger ungeheurer Dogen wölbt sich 100
Fuß hoch über die Fläche des Wassers, so daß ein Schiff, ohne
die Masten umzulegen, darunter hiusegeln kann. Wie. wunderbar
sind hier Zierlichkeit und Stärke vereint! Wie ein Zaubermerk
scheint sie in der Luft zu schweben. Ein wenig nördlicher liegt
New kastle (Njukcssl), zum Unterschiede von dem schon
erwähnten undcr Line, unter Tyne (önder Teine) zubcnannt.
Schon von weitem kann man die Stadt riechen; denn unaufhör-
lich steigt hier ein dicker Steinkohlendampf in die Luft. Hier sind
nämlich die unerschöpflichen Steinkohlenlager, welche dieses so noth-
wendige Material für die Oefen und Fabriken von ganz England
liefern. Daß die Stadt, die an einem steilen Abhange liegt und
recht groß ist, in einen ewigen Rauch gehüllt, und davon ganz
schwarz gefärbt ist, liegt in der Natur der Sache. Steigt man
in die Kohlengruben hinab, so ist cs, als wenn man in den Höl,
lenrachen stiege. Sie führen immer tiefer und tiefer, weit unter
den Boden der See, und dann seitwärts, so daß man beim Stur-
me deutlich über sich das Brausen der Wogen hört. Am merk-
würdigsten ist aber, mit welcher Leichtigkeit die schweren Kohlen
zu Tage gefördert werden. Alles wird hier durch Dampfmaschi-
nen getrieben. Durch sie werden die losgehauencn Kohlen in un-
geheure Körbe gethan; diese fliegen dann, als wenn sie Federbälle
wären, aus der tiefsten Tiefe bis an das Tageslicht in die Höhe.
Hier werden sie in die schon bereit stehenden Kohlenschiffe oder
Kohlenwagen geschüttet, und fliegen dann leer so schnell wieder
hinunter, wie sie hinaufgekommen sind. Die Schiffe fahren so-
gleich ab, um andern Platz zu machen, und bringen ihre Ladung
N o s s e l t 6 Geographie il. | y
258
DaS britische Reich.
entweder auf Flüssen und Kanälen nach den Landstädten, oder zur
See nach London und andern Seestädten. Recht sonderbar nimmt
sich der Zug der Kohlenwagen aus. Sie sind bestimmt, die Kol),
len nach den vielen umherliegenden Fabriken zu bringen, die hier
wegen der Nähe der Gruben erbaut worden sind. Von den Gru-
ben bis zu jeder solchen Fabrik sind eiserne Gleise gelegt; auf
ihnen gehen die Wagen. Voran fährt, ohne Pferde, ein Wagen
mit einer Dampfmaschine, die ihn in Bewegung setzt, und unter
der Aufsicht eines einzigen Menschen steht, und an diesem vorder,
ften Wagen hängen mehrere andere, die mit Kohlen beladen sind.
So sieht man hier lange Reihen Wagen sich ohne Pferde, wie
von selbst, als wenn sie Leben hätten, fortbewegen.
Von Ncwkastle führt eine altrömischc Mauer quer durch
Nordengland westlich hin bis an die Westküste. Sie wird
Pikts-Wal genannt, und wurde von einem römischen Kai-
ser angelegt, um die kriegerischen Bewohner Schottlands von
den Einbrüchen in England zurückzuhalten. Sie ist noch ziem-
lich gut erhalten und reicht bis zur Stadt
Carlisle (Kärleil) an der Westküste, zu der wir uns nun
wieder wenden. Dies ist der Ort, nach welchem Maria Stuart
zuerst eilte, als sie von Schottland nach England geflüchtet war,
und wo sie auf Befehl Elisabeths gefangen genommen wurde *).
Sonst ist diese freundliche Stadt unbedeutend. — Etwas südli,
chcr, auch an der Westküste, liegt
White haven (Ueithäwen), wo wir wieder, wie in New,
castle, tiefe Steinkohlengruben finden, die gleichfalls bis unter den
Boden des Meeres hinlaufen.
Als wir von London unsere Reise durch England antra-
ten, haben wir die Städte des südöstlichen Englands unbe-
sucht gelassen. Wir gehen jetzt zu ihnen über. Gerade nörd-
lich von London liegt
Cambridge (Kehmbritsch), eine sonst sehr altväterische,
jetzt aber recht wohl und freundlich gebaute Stadt. Die Univer-
sität ist ebenso wie die in Oxford eingerichtet, und besteht aus zum
Theil prächtigen Gebäuden. Wir sehen hier noch den alten Maul,
becrbaum, den der Dichter Milton gepflanzt hat**). Nicht
weit von Cambridge liegt
N e w m a r k e t (Njumerket), ein an sich unbedeutender Ort, aber
für den Engländer von großer Wichtigkeit, weil hier die großen
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2teAnsg.,
Th. 3 , S. 92.
**) Milton war einer der trefflichsten englischen Dichter. Er lebte
von 1608— 1674. Sein berühmtestes Gedicht ist das Epos: Das ver-
lorene Paradies.
DaS britische Reich.
259
Pferderennen jährlich gebalten werden. Ein langer, langer Raum
ist abgesteckt, und mir Schranken umgeben. Am Ende desselben
sitzen die Kampfrichter, auf einen, hoben Gerüste. Eine unzäh,
lige Menge umsteht den Platz; hinter ihr tummeln sich in buntem
Gewühle zahlose Wagen und Pferde herum. Wenn nun die
Rennpferde bereit gestellt, und die auf ihnen reitenden Jockeys
gegen einander abgewogen sind, damit Keiner schwerer sey als der
Andere, so giebt ein Trommelschlag das Zeichen, daß Zeder sei,
neu Platz einnehmen solle. Aller Augen sind nun auf den Platz
gerichtet, und die Männer gehen mit einander Wetten ein, welr
ches Pferd siegen werde. Diese Wetten sind zum Theil sehr be,
deutend, und gehen oft in die Tausende. Endlich ertönen die
Trommeln zum zweiten Male. Die Nenner stürzen fort; mit Bli,
tzesschnelle stiegen sie vorüber, in so gestrecktem Laufe, daß sie
die Erde mit dem Bauche beinahe berühren. Bald sieht man sie
auf der entgegengesetzten Seite zurückkommen, dann zum zweiten
Male vorbeijagen, und nun reitet alles, was Pferde hat, wie
wüthend hinterdrein, um zu sehen, welches Pferd siegen werde;
denn die Nenner durchlaufen zwei Mal die Bahn, ehe sie am
Ziele halt machen dürfen. Dieser Weg, den sie zu durchlaufen
haben, beträgt fast eine unserer Meilen. Zst das erste Wettrenr
nen vorüber, so reitet, fährt und läuft alles verwirrt durch ein*
ander, bis ein Tron,melschlag ankündigt, daß das zweite Nennen
statt stnden solle. Andere Pferde werden vorgeführt, und alles
ist dabei, wie bei dem ersten Male. Solcher Wettrennen werden
jedes Mal drei hinter einander gehalten. Die Pferde sind, wenn
sie ans Ziel kommen, mir Schweiß bedeckt, ermattet, daß sie
kaum athmen können und das Blut strömt aus den ihnen durch
die Spornen verursachten Wunden. Die Zockeys sinken fast vor
Ermattung um; das pfeilschnelle Reiten nimmt ihnen so alle Lust,
daß sie mit der einen Hand die Luft vor dem Munde zertheilen müssen,
um nicht zu ersticken. Nördlich von Cambridge kommen wir nach
Peterborough (Piterbro). Hier ist wieder eine der
herrlichen, großen, gothischen Kathedralen zu besehen, an denen
England so reich ist. Zn ihr betrachten wir das Denkmal der
Maria Stuart, die in dem benachbarten Schlosse
Fotheringhay (Foseriughe) 1587 enthauptet wurde*).
Von Cambridge südöstlich finden wir an der See zwei
Städte: Harwich und Colchester.
Harwich (Härritsch), von wo die gewöhnliche Ueberfahrt
nach Holland ist, besonders nach dem Hasen von Helvoetsluis
(Hclvuhtslcus). In
Colchester (Kaltschestr) finden wir die besten Austern.
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 84.
17 *
260
Das britische Reich.
Wir haben nun die merkwürdigsten Städte Englands be-
sucht, und gehen zum
Fürstenthum Wales
über. Von der bergigen Beschaffenheit dieses Landes und
von der Eigenthümlichkeit seiner Einwohner haben wir schon
oben geredet. Große und merkwürdige Städte giebt es hier
nicht. Der Hauptort ist
Pembroke (Pembrock), an der Südwestspitzc des Landes,
ein kleiner, unbedeutender Ort.
Der Nordwcstspl'tze des Fürstenthums gegenüber liegt die
Insel
Anglesea (Aengelsi). Hier ist die Kettenbrücke sehr
merkwürdig, die seit einigen Jahren über den Mcercsarm,
welcher die Insel vom festen Lande trennt, geschlagen ist. Sie
ist fast 900 Schritte lang, ruht auf ungeheuren, von einem
Ufer zum andern gespannten Ketten, die so stark sind, daß
sie die schwersten Fuhrwerke tragen, und schwebt hoch über
dem wogenden Meere.
Neben England merke man sich
1. Die kleinen Scilly- oder sorlingischen In-
seln, die der südwestlichen Spitze Englands (Cornwal) ge-
genüber liegen. Die Einwohner sind arme Fischer.
2. Die normannischen Inseln. Sic liegen im Ka-
nal, der französischen Küste näher als der englischen. Ihre
Einwohner leben von Fischerei, Viehzucht, besonders aber vom
Schleichhandel. Die wichtigsten heißen Jersey (Dschersi)
und Gucrnscy (Gernsi).
2. Das Königreich Schottland.
Boden: Viel felsiger und rauher als England. Mit-
ten durch das Land läuft von Nordosten nach Südwesten das
sehr steile, zerrissene Gebirge Grampian, durch welches
Schottland in das (südliche) Niedcrland und das (nörd-
liche) Hochland getheilt wird. Boden und Menschen sind
in beiden sehr verschieden. Im Niederlande ist der Bo-
den zwar auch bergig und hügelig, aber Berge und Hügel
Das britische Reich.
261
4
sind weder besonders hoch noch wild, und dazwischen weite
Thaler und Ebenen. Die Luft ist hier feucht, ungefähr wie
in England. Am Hochlande dagegen thürmcn sich Berge
auf Berge, und bilden die wildesten und romantischsten For-
men. Zwischen ihnen sind graufende Abgründe und Schluch-
ten, hier und da tiefe Seen, und die Gipfel der Felsen sind
fast immer in Nebel gehüllt. Eben so wild zerrissen sind die
Küsten des Meeres, besonders die Westküste. Schon der An-
blick der Karte zeigt, wie tief die See die Gestade ausgewa-
schen hat. Unaufhörlich schlagt hier eine dumpfhallcnde Bran-
dung an die Felsen, die sich steil aus dem Meere erheben,
und von unzähligen Secvögeln umflattert und bewohnt wer-
den. Mit Mühe erklettert man die steilen Höhen, und hat
man die Gipfel erreicht, so hat man entweder um und unter
sich ein Meer von Wolken und Nebel, oder man blickt in
graufende Abgründe hinab. Lieblichkeit nirgends, überall Wild-
heit und Erhabenheit der Natur! Unter den Seen (Loch’s)
zeichnet sich der See Lommond aus. Er liegt im südwest-
lichen Theil des Grampian-Gebirges, und ist rings von ho-
hen und steilen Bergen umgeben, von denen der Ben (Berg)
Lommond einer der höchsten des Landes ist.
Gewässer: Die Meerbusen, deren es hier so viele
giebt, werden hier Firth (First) genannt, und erhalten ihre
Beinamen meist von den Flüssen, die sich hineinmünden.
Groste Flüsse giebt es begreiflicherweise hier nicht. Wir mer-
ken uns deren nur zwei: der Forth (Forst) und die Clyde
(Kleid). Jener mündet auf der Ostküste in den Firth of
Forth (First aff Forst); diese auf der Westküste in den Firth
of Clyde. Beide Firths sind einander gegenüber, und durch
einen Kanal mit einander verbunden.
Luft: Das; das Klima im Niederlande so wie in Eng-
land sey, ist schon gesagt worden. Die Sommer sind trübe,
die Winter gemäßigt und feucht. Stürme kommen oft vor.
Im Hochlande dagegen ist es sehr rauh. Auf den höchsten
Gipfeln ist beständiger Schnee; die Berge fast ununterbrochen
in Wolken gehüllt; die Stürme heulen schauerlich durch die
engen Thäler, und das Wetter ist so veränderlich, daß man
nie weist, wie es in der nächsten Stunde seyn wird. Nur
im Juni und Juli pftegt die Luft mild und heiter zu seyn.
262
DaS britische Reich.
Products: Daß ein so bergiges und rauhes Land
nicht die feineren Früchte des SüdcnS, nicht einmal viel Ge-
treide hervorbringen könne, versteht sich von selbst.' Dagegen
ist es sehr reich an nützlichen Metallen, besonders Eisen, und
liefert aus seinem Schooß eine überschwengliche Menge von
Steinkohlen, die hier, bei dem wenigen Holze, von doppel-
tem Werthe sind. Zn den Thalern und auf den Bcrgabhän-
gen weiden Schafe und Rindvieh, und auf den Gebirgen lebt
eine Menge von Wild: Hirsche, Rehe, Schweine, Katzen,
Hasen. Die Felsen der Küste und die Klippen und Inseln
der See werden von unzähligen Seevögeln bewohnt, und in
den zahlreichen Firths und Lochs wird viel Fischerei getrieben.
Einwohner: Zm Niederlande finden wir die Menschen,
wie in England. Die Bildung ist dieselbe, Cultur überall
verbreitet, Schulen und Universitäten wie dort. Nur ist das
Volk einfacher, gutmüthiger, und der gemeine Mann genüg-
samer. Man wird hier mehr an Deutschland erinnert. Auf
dem Lande gehen die Menschen meist barfuß, was in Eng-
land etwas unerhörtes ist. Die Sprache ist die englische;
nur der gemeine Mann hat eine andere Mundart. Im Hoch-
lande dagegen wohnen die Bcrgschottcn, Nachkommen der
alten Pikten und Skotcn oder Calcdonicr, die den alten Bri-
ten und Römern so viel zu thun machten. Rauh, wie ihr
Land, find auch ihre Sitten, ihre Sprache und ihre Lebens-
art. Sie selbst nennen sich Gaö'ls und ihre Sprache das
Gaölik. Zhr Körper ist voll Kraft und Gewandtheit, ihre
Sitten sind einfach, ihre Kleidung national. Die Männer
tragen enge, blaue Mützen, oben mit einer rothen Q-uaste oder
mit einer Feder geziert, mit einem Aufschläge von roth und
weiß gewürfeltem Zeuche; eine ziemlich lange Jacke; statt der
Beinkleider ein sehr faltenreiches, kurzes Röckchen von blau
und roth gewürfeltem wollenem Zeuche, das nicht ganz bis
ans Knie reicht. Um die Hüften wird es von einem Gürtel
festgehalten, in welchem oft eine Art von Dolch steckt. Auch
hängt ein lederner, mit Troddeln gezierter Beutel daran, in
welchem Geld und Taback verwahrt wird. Die Knie sind
nackt, die Füße aber mit roth und weiß gewürfelten Strüm-
pfen, die sich unten in eine starke lederne Sohle endigen, be-
DaS britische Reich.
263
kleidet. Das Hauptftück ihrer Kleidung ist der Plaid (Plehd),
ein langes, breites Stück von jenem gewürfelten Zeucht, das
sie beim Negcnwettcr über den Kopf nehmen, bei gutem Wet-
ter aber nachlässig wie einen Shawl umwerfen. Die Weiber
zeichnen sich weniger aus. Auch sie kleiden sich meist in je-
nes bunte schottische Zeuch, gehen übrigens sehr ärmlich, mit
nackten Füßen, oft in bloßen, kurz geschnittenen Haaren, ohne
Haube und Hut. An Unterricht fehlt es ihnen fast ganz.
Sie sind rohe Kinder einer rauhen Natur, aber gutmüthig,
gastfrei, religiös, voll Nationalstolz und Freunde des Gesan-
ges und der Dichtkunst. Die Sackpfcife ist ihr Lieblingsin-
strumcnt, und die Gedichte des herrlichen Sängers Ossi an
(im 3ten Jahrhundert nach Christus) sind noch in Aller Munde.
Ihre Häuptlinge, Th ans, stehen noch heute in großem An-
sehen. Dabei sind sie sehr arm, aber genügsam, und bei
ihrem kärglichen Haferbrot seclenvergnügt. Die Schotten be-
kennen sich zur presbyterianischen Kirche, die in Leh-
ren und Gebrauchen der rcformirtcn nahe kommt.
An Fabriken ist das Land zwar nicht arm, kommt
darin aber doch England nicht gleich.
Bis zum Jahr 1603 hatte Schottland seine eigenen Kö-
nige. Da starb Königin Elisabeth, und mit ihr erlosch das
Haus dcr Tudor (Todder) *). Daher wurde Jakob VI. von
Schottland, ein Sohn dcr Maria Stuart, König beider Lan-
der; aber dennoch behielt jedes Königreich seine eigene Verfas-
sung, bis 1707 beide in Ein Reich verschmolzen wurden. Auch
Schottland wird in Shires (Scheirs) getheilt, die wir aber
so wenig als die englischen aufzählen wollen.
A. Das Niederland: Die Hauptstadt des ganzen Kö-
nigreichs ist
Edinburgh, eine Viertelstunde von Firth of Forth. Eine
große Stadt von etwa \30,000 Menschen. „Sie ist eine der
schönsten und häßlichsten Städte zugleich, und kann in dieser Hin-
sicht mit Marseille (s. oben) verglichen werden. Die Altstadt,
ein Grauen und Ekel erregender Klumpen alter, schmutziger, den
*) S- mein Lehrbuch dcr Weltgeschichte sür Töchterschulen, 2te Au6g.,
Th. 3., S. 110. ' a#
264
Das britische Reich.
Einsturz drohender Häuser, die ohne anscheinende Ordnung in cnr
gen, winkligen Straßen an und über einander geworfen zu seyn
scheinen; die Neustadt dagegen wetteifernd mit den schönsten
Städten Europens. Edinburghs Lage ist einzig in ihrer Art, von
hoher, romantischer Schönheit. An den Seiten eines hohen Fel-
seno, der sich an eine lange majestätische Reihe anderer Felsen an-
schließt, liegen die Häuser der Altstadt wie Schwalbennester an-
geklebt, unter und über einander; einige dieser Häuser haben,
von einer Straße aus gesehen, 10 Stockwerk, während sie, von
der andern Seite gesehen, deren nur 2 oder 3 zählen, und man
kann aus dem vierten oder fünften Stock der niedriger liegenden
Seite auf der hoben geraden Fußes ins Freie in eine andere
Straße gehen. Wie krumm, wie winklig, wie eng der größte
Theil dieser Straßen ist, läßt sich schwer beschreiben. Einige dcr-
selben führen steile, hohe Berge hinauf und hinab, auf die aller-
beschwerlichste Weise. Auf dem höchsten Gipfel dieser Felsenkette
thront die uralte Wohnung der schottischen Könige, das Eastcll,
hoch über den Häusern der übrigen Einwohner. Eine tiefe Kluft,
aus welcher jene Felsen steil, fast senkrecht empor steigen, trennt
die Altstadt von einer Anhöhe, auf welcher die Neustadt er-
baut ist. Einige schöne steinerne Brücken führen hinüber, und
vereinigen beide Städte. Tief im Abgrunde sieht man von einer
dieser Drücken Straßen, die dort unten liegen, wie im Erc-
bos, denen Sonne und Mond fast nie scheinen, und deren-Dä-
cher noch lange nicht bis zu der Grundlage der Brücke hinaufrei-
chen. Die Menschen, die dort wandeln, erscheinen, von oben
gesehen, wie Gnomen. Es ist unbegreiflich, wie man im Ange-
sicht der schönen Neustadt diese unfreundlichen Wohnungen ertra-
gen kann. Nur ein Theil dieser Kluft ist bebaut; der übrige
wirb zum Theil als Viehweide benutzt, zum Theil liegt er steinig
und unfruchtbar da. Die Neustadt kann sich in Hinsicht der Re-
gelmäßigkeit und Breite der wohlgcpfiastcrtcn, mit breiten Fußwe-
gen versehenen Straßen mit den schönsten Städten EuropenS mes-
sen; in Hinsicht der Schönheit, der Solidität und des guten Ge-
schmacks der aus -Quadersteinen erbauten Wohnhäuser übertrifft
sie dieselben vielleicht. Wie- in London giebt es auch hier große
Plätze, umgeben von schönen Gebäuden, und in ihrer Mitte ei-
nen mit eisernen Geländern eingefaßten arligen Garten, oder ei-
nen schönen Grasplatz. Fast alle Straßen bieten Aussicht aufs
Meer. Dieses große, ewig wechselnde, ewig neue Schauspiel er-
hält hier noch durch eine Menge kleiner, zerstreut liegender In-
seln einen neuen Reiz Ferne blaue Berge begränzen von der ei-
nen Seite die große Perspective, die von der andern sich ins Un-
endliche ausbreitet." „Unvergeßlich bleibt unS ein Abend," sagt
Madame Schopenhauer, „den wir in Princes - Street (Prinzes-
Slriht) bei einem unsrer Bekannten zubrachten. Diese, eine eng-
Das britische Reich.
265
lische Meile *) lange Straße besteht aus einer Reihe sehr schö-
ner Hauser; gegenüber bcgränzt ein eisernes Geländer jene Kluft,
welche die alte Stadt von der neuen scheidet, und welche, gerade
hier unbebaut, Kühen und Ziegen zur Weide dient. Senkrecht
steigen daraus die ganz nackten Felsen empor, wild, zackig, in
schönen wechselnden Formen. Hoch liegt die alte Königsburg und
andere alte Gebäude. Ueber ihnen droht, von blauen Nebeln
umwoben, König Arthur's Sitz, ein wunderbar geformter Fels,
fast wie ein Thron gestaltet. Von ihm erzählt sich das Volk
manche schauerliche Sage der Vorzeit. Zn seiner Nähe erblickt
man auf einem andern Felsen die Ruinen eines alten Schlosses,
in welchem die unglückliche Maria Stuart von ihrem Volke ge-
fangen gehalten wurde, che sie nach England in den Tod ging **).
Das Meer bcgränzt die Aussicht am Ende der Straße. Hier sa-
hen wir die sinkende Sonne die Spitzen der Felsen röthen, später
den Mond die Wellen des Meers versilbern, und schieden mit der
Ueberzeugung, daß nicht leicht eine andere große, volkreiche Stadt
ein ähnliches Schauspiel darbieten werde." Das Castell, hoch
auf dem Gipfel des Felsens, heißt Holpreadhouse (Holiridr
haus), und erinnert an die ehemaligen schottischen Könige, die
hier rcsidirten, auch an Maria Stuart. Es ist ein großes, alt-
modisches Gebäude, das dennoch bester aussieht als der St. Ja-
mes-Pallast in London. Die Universität Edinburghs ist die
bedeutendste des Landes.
Von Edinburgh führt eine lange Straße bis ans Ge-
stade des Meers. Hier liegt
Leith (Lihd), das als der Hafen jener Stadt betrachtet
wird. Die Stadt ist ziemlich groß, aber fast so häßlich gebaut
wie die Altstadt Edinburgh, und wegen des Handels und der
Schifffahrt sehr lebendig. — Reisen wir den Fluß Förth aus-
wärts, so kommen wir nach
Car ron wer ft (Kärrenwcrft). Hier sind vielleicht die
größten Eisengießereien auf der ganzen Erde. Kanonen, Mörser,
große Kessel und alles mögliche Eisenwerk wird hier gegossen. Die
vielen zerstreut liegenden Gebäude liegen in eineru ewigen Stein-
kohlendampfc; Asche und Ruß stiegen weit umher und bedecken
selbst Baume und Stauden, und das Gehämmer und Gepoche
kann man Stunden weit hören. Von hier gerade nördlich sinden
wir die Stadt
Perth (Perß) , eine ziemlich große Stadt, hnbschgebaut,
und die schönen breiten Straßen voll lebendigen Gewühls, Alles
*) Eine englische Meile ist der fünfte Theil einer deutschen, also etwa
ein und eine, halbe Viertelstunde.
**) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 81.
266
Das britische Ne ich.
hat hier den Anstrich von Wohlhabenheit. Hier wird besonders
viel Leinewand gemacht, und die Bleichen von Perth sind weit
und breit berühmt. Die Fabrikanten verstehen hier die Kunst,
der Lcinewand einen wahren Atlasglanz zu geben, besonders gut.
Sie bedienen sich dazu einer einfachen Maschine. Es sind zwei
große hölzerne Walzen, die über einander laufen; sie haben zwi-
schen sich eine kleinere von Zinn, die an jene beiden so genau an-
schließt, daß die Leinewand nur mühsam sich dazwischen durchdrän-
gen kann. Durch diesen Druck erhält sie den herrlichen Glanz.
Nahe bei Perth ist eine historische Merkwürdigkeit;
Scone-Palace (Skone-Pälläß). Dies uralte Gebäude,
das jetzt äußerst verfallen und düster ist, war einst der Sitz der
alten schottischen Könige und der Versammlungsort des Parla-
ments. Es wird mit Recht sorgfältig erhalten. Man bewahrt
hier noch manche Ucberreste aus jener Zeit, z. B. das Bette, in
welchem Maria Stuart während ihrer Gefangenschaft in jenem
alten Schlosse bei Edinburgh (f. oben) schlief; auch eine Sticke-
rei, die sic dort sehr mühsam verfertigte. Sie hat mit Silber
und Seide auf einen violetsammtnen Vorhang eine Menge ver-
schiedener Blumen gestickt; das Muster ist steif, die Arbeit eine
Art Kettenstich, aber sehr sauber und zierlich. Reisen wir von
Perth östlich, so kommen wir nach
Dundee (Dondi), einer großen, jedoch eng und schmutzig
gebauten Seestadt, die aber großen Handel mit schottischen Fa-
brikaten, besonders nach Rußland, treibt. Nördlich, längs der
Küste reisend, kommen wir nach
Aberdeen (Aebcrdihn) an der Ostküste von Schottland.
Sie besteht aus zwei Städten, die eine Viertelstunde von einander
entfernt sind, und beide Universitäten haben. Die eine (Old -
Aberdeen) ist klein, alt, häßlich, arnstclig; die andere, New-
(Nju-) Aberdeen, groß, neu, schön und wohlhabend, voll Leben,
Handel und Schifffahrt. Wenn wir von Aberdeen nach Edin-
burgh zurückreisen, und nun westlich quer durch das hier sehr
schmale Schottland gehen, so finden wir die große Stadt
Glasgow (Gläßgo) am Clyde. Sie ist noch großer als
Edinburgh, und hat 160,000 Einwohner. Ihre Bauart erinnert
sehr an Edinburgh; dieselben breiten Straßen und Plätze, diesel-
ben aus Quadern erbauten Häuser, aber sic ist noch lebhafter.
Denn theils sind hier die Fabriken, besonders Spinnmaschinen,
noch zahlreicher, theils der Handel, namentlich nach Amerika und
Ostindien, noch ansehnlicher. Man darf nicht versäumen, die
romantischen
Wasserfalle des Clyde, die sich mehrere Meilen
oberhalb Glasgow (d. i. südöstlich) befinden, zu besuchen.
Das britische Reich.
267
Schon der Weg dahin ist äusserst schön. Man fahrt am Ab-
hänge hoher , zum Theil bewaldeter Felsen am Flusse hin, der
tief unter uns braust. Das Getöse vermehrt sich; man ahnt
die Nahe des Falles. Wir steigen durch dichtes Gebüsch von
der hoch am Felsen gehenden Strasse zum Strome herab.
„Ganz in Schaum verwandelt, stürzt er hier laut brausend
von einer beträchtlichen Höhe hinab, über große Felsenstücke,
und windet sich dann zürnend und schaumend weiter durch das
reizende Thal. Die hohen, malerischen Felsen, bekränzt mit
schönem Gesträuche und hohen Bäumen, von welchen leichtere
Epheukränze hinfiattcrn in der vom donnernden Fall ewig be-
wegten Luft, die große Wassermasse, die hier hinunterstürzt,
der Kontrast des Schaums, weißer als Schnee, mit dem dun-
keln, in ewigem Thau stets frischen Grün, die Millionen Tro-
pfen, die wie Diamant im Sonnenstrahle blitzen; alles be-
zaubert hier den erstaunten Reisenden." Dies ist der untere
Wasserfall. Die beiden andern liegen über eine Meile nörd-
licher. Diese Gegend gehört zu den schönsten in Niederschott-
land. „Eine Meile ging es," erzählt Madame Schopen-
hauer, „über Berg und Thal durch frisches, dichtes Gehölz
hin. Nun erstiegen wir mühsam einen ziemlich hohen Berg;
höhere Felsen drohten über ihm gen Himmel. Als wir oben
waren, erschreckte uns die fürchterlich schönste Ansicht, die
wir jemals sahen. Jeder Blick hinab war schwindelerregend,
und doch wars unmöglich, nicht immer hinabzusehen. Hart am
Rande eines tiefen, steilen Abgrundes fuhr unser Wagen, keine
Hand breit Raum zwischen uns und dem schrecklichsten Unter-
gänge. Ein Fehltritt der Pferde, der kleinste Unfall am Wa-
gen wäre unvermeidlicher Tod gewesen; und dennoch war cs
unmöglich, an der Felsenwand, an welcher wir hinfuhren,
auszusteigcn. Wir vergaßen aber alle Gefahr bei dem An-
blicke des wunderschönen Thals, das uns viele Klaftern tief
im Glanze der Morgensonne entgegen schimmerte, durchströmt
vom Clyde, der zögernd zwischen den blühenden Gärten und
fruchtbaren Feldern sich fortwand. Zur Seite lag mitten im
Thale eine kleine Stadt, nicht weit davon 3 — 4 große an-
sehnliche Gebäude mit schönen Gärten. Es sind Baumwollen-
spinnereien, die hier vom Wasser, ohne Dampf, getrieben
268
Das britische Reich.
werden. Sie lagen so tief unter uns, daß wir nicht das
Geräusch, das sie verursachen, hören konnten. Ieht senkte
sich der Weg den Berg hinunter; dichtes Gehölz empfing
uns wieder in seine Schatten; laut hörten wir den Strom
donnern, und bald hielten wir vor einem Garten still. Wir
traten hinein, erstiegen einen kleinen Hügel, und vor uns
stürzte der Strom weit wasserreicher und majestätischer als am
untern Falle über wilde, hohe Felsen. Noch einige Schritte
weiter hinauf, und wir sahen ihn abermals über noch hö-
here Felsen, in noch tiefere Abgründe gewaltig hcrabbrausen.
Er fallt von einer so steilen Höhe, daß er einen Bogen bil-
det. Wer cs wagen will auf dem schlüpfrigen Boden, sann*
zwischen dem Felsen und der großen Waffermaffe hinuntcrklettern.
Unten in dieser kristallenen Grotte ist man wie imNixenrciche,
überall umgeben von dem ungeheuren Toben und Wogen.^
Noch ein berühmtes Dorf müssen wir rms merken, das
hart an der englisch-schottischen Gränze, an der Westküste,
liegt.
Gretnagreen (Gretnegrihn). „So unbedeutend, wie cs
aussieht, ist es dennoch ein Ort vdn großer Wichtigkeit. Hunderte
bereuen es lebenslang, sich einmal unbesonnen hingewagt zu haben.
Hier wohnt nämlich der berühmte Hufschmied, der die unauflös-
lichsten Ketten schmiedet," die Ketten der Ehe. „Er ist dort
Friedensrichter, und dies Amt macht ihn zu einer sehr wichtigen
Person. Denn in Schottland bedarf cS zu einer gesetzmäßigen
Trauung keines Aufgebots, keiner Einwilligung der Eltern, keines
Priesters. Das Brautpaar geht zum ersten besten Friedensrich-
ter, versichert, es sey frei und ledig, auch nicht im verbotenen
Grade verwandt, und wird nun von ihm ohne weitere Umstände
getraut." Wenn sich also in England zwei junge leichtsinnige
Leute heirathen, die Angehörigen cs aber nicht zugeben wollen,
so packt der Bräutigam seine Braut in einen Wagen, und gallo-
pirt mit ihr fort nach Gretnagreen. Die Leute unterwegs sind
darauf schon vorbereitet, solche leichte Vögel durchreisen zu sehen--
die große Eile haben. Alle Schlagbäume werden schnell geöffnet,
und hat der berüchtigte Hufschmied sie einmal zusammcngcgcbcn,
so hilft kein Widerspruch der Verwandten. Indessen ist ihm doch
vor einigen Jahren sein Handwerk, durch das er so viele Paare
lebenslang unglücklich gemacht hat, einigermaßen gelegt worden.
Ein junger Wüstling nämlich hatte ein reiches Mädchen von vor-
nchlncr Geburt listig entführt, und nach Gretnagreen gebracht.
Der Schmied traute sie. Aber nun klagten die Verwandten beim
Das britische Reich.
269
Parlamente; dieS nabm ihn ernstlich deshalb vor, und untersuchte
genau, mit welchem Rechte er denn diesen Unfug triebe. Es ist uns
nicht erinnerlich, ob er bestraft worden sey; aber er wird seitdem
wohl vorsichtiger geworden seyn; jene Ehe wurde für ungültig
erklärt, und der Entführer nachdrücklichst gestraft, und daS von
Rechtswegen.
B. Das Hochland.
Wir können das Hochland nicht besser kennen lernen, als
wenn wir die schon oft erwähnte Reisende erzählen lassen, die
einen Theil desselben, in der Gegend des Loch Lommond, be-
reifte. Wir haben schon manche Gebirgsgegenden, namentlich
die in Helvetien, geschildert; aber der Charakter der Gebirges
im schottischen Hochland unterscheidet sich von dem aller übri-
gen. Es sind nicht sowohl ungeheure Berge, die ihre Spi-
tzen über die Schneercgion erheben, nicht starre Eisfelder und
Gletscher, sondern wild zerrißne Schluchten, jähe Abgründe,
prächtige Wasserfälle; kurz es ist, als wenn die wildeste aller
Naturrevolutionen hier gewüthet, und alle Fclsenmaffen wild
durch einander geworfen hätte.
„Von Perth gelangten wir durch eine ziemlich stäche,
fruchtbare Gegend in ein Thal von erhabener Schönheit.
Hohe, wilde Felsen umgaben es von allen Seiten. So wie
der Weg an ihrem Fuße immer in einer gewissen Höhe sich
hinwindet, öffnen sich neue, entzückende Aussichten. Tief un-
ten rauscht der ziemlich breite Strom Tay (Tch). Kleine
Kornfelder und Baumgärtchcn grünen und blühen an den Ufern;
zwischen ihnen zerstreuen sich einzelne Hütten. In einem tie-
feren Winkel, heimlich zwischen die Felsen gedrängt, sahen
wir ein Dörfchen; Schaaren fröhlicher Kinder trieben darin
ihr lautes Spiel, die Mütter -spannen in den Thüren, die
Männer in ihrer romantischen Tracht waren in den Feldern
und Gärten beschäftigt. Das Ganze sah sehr fremd aus,
und doch wieder so heimisch, so ruhig und zufrieden. In
Dunkcld (nördlich von Perth) sahen wir das große Schloß
des Herzogs von Athol. Auf einer Brücke, über einen tiefen
Abgrund geschlagen, kamen wir in den Park. Unser Führer
brachte uns zu einer Art von gemauerter Laube auf dem Fel-
sen, um auszuruhen. Ein freundlicher Platz; vor uns der
270
Das britische Reich.
grüne Wald, ziemlich in der Nähe der brausende Strom.
Auf der Hinterwand der Nische sahen wir ein großes Ge-
mälde, den Barden Ossian vorstellend, umgeben von den weiß-
armigen Mädchen von Eoma. Plötzlich, auf den von uns
nicht bemerkten Druck einer verborgenen Feder, verschwand
das Gemälde, und wir befanden uns am Eingänge eines
ringsum mit Spiegeln verzierten Pavillons. Hier flogen die
Vorhänge an den großen Bogenfenstern, ebenfalls wie von
unsichtbaren Händen gezogen, in die Höhe; zu unsern Füßen
dicht unter dem Pavillon gähnte uns ein Abgrund an, scnk-
rcchtsteil, tief, schwarz und fürchterlich; gegenüber thürmten
sich wilde, nackte Felsen in ungeheuren Masten über einander;
von ihnen stürzte mit donnerndem Gebraust ein Waldstrom
schaumend in den Abgrund. Der Eontrast des geschmückten
Saals mit der wilden Natur, der in den Spiegeln rings
umher, selbst über unsern Häuptern an der Decke unzählige
Mal wiederholte Wasserfall, sein ungestümes Brausen, der
Glanz der Abendsonne, gaben ein für den ersten Augenblick
wahrhaft betäubendes Schauspiel. Erst nach und nach wurden
wir fähig, es in seiner ganzen, erhabenen und fast feenhaften
Schönheit zu genießen."
„Immer noch am romantischen Ufer des Stroms Tay
führte unser Weg uns tiefer ins Gebirge. Wir fuhren über
Berg und Thal, zuweilen dicht an Abgründen hin, die uns
schaudern machten. Bald näherten wir uns ganz dem Gestade
des Stroms, bald sahen wir ihn nur in einiger Entfernung,
zuweilen verloren wir ihn ganz aus dem Gesichte; aber im-
mer führte der sich schlangelnde Weg wieder in seine Nähe.
Ein unnennbar freudiges Gefühl von Ruhe und Frieden be-
mächtigte sich unser in dieser stillen Abgeschiedenheit, wo klare
lebendige Wasser durch fruchtbare, angebaute Thäler rieseln und
brausen, von hohen Bergen umfriedet. Diese starrten nicht,
wie die von Derbyshire, rauh und nackt uns entgegen; schöne
Waldungen bekleiden sie, fast bis zum höchsten Gipfel hinauf,
und winken freundlich dem Wanderer in ihre erquickende
Schatten. Der Anblick der armseligen Hütten, die wir ein-
zeln in den Thälern, am Fuße der Felsen oder in der Nähe
des Stroms zerstreut liegen sahen, würde uns schmerzhaft bc-
Düs britische Reich.
271
rührt haben, wenn die Bewohner mit ihrem kläglichen Loose
weniger zufrieden schienen. Wir sahen große Armuth, aber
nicht eigentliches Elend. Jede Hütte hat ihr kleines Kartoffel-
feld, das die Einwohner nährt, und einige Ziegen und Schafe,
von einer besondern, sehr kleinen Nace, welche ihnen Milch,
Käse und die nothwendige Kleidung gewähren. Die Häuser
in den schottischen Hochlanden sind wohl die schlechtesten mensch-
lichen Wohnungen im gebildeten Europa, so enge, daß man
nicht begreift, wie eine Familie darin Platz findet, aus ro-
hen Steinen, oft ohne allen Mörtel, nur zusammen getragen.
Die Fugen sind mit Moos und Lehmerde verstopft, Thüren
aus Brettern schlecht zusammen geschlagen, ohne Schloß und
Riegel, Fenster so klein, daß man sie kaum bemerkt, oft so-
gar ohne Glas. Die niedrigen Dächer von Schilf, Moos,
Nasen, bisweilen auch aus Holz oder Schiefer, haben oft
statt des Schornsteins nur eine Oeffnung, durch welche der
Rauch hinauszieht. Das Innere dieser Hütten entspricht dem
Acußeren. Menschen und Thiere hausen unter demselben Dache
friedlich beisammen, nur durch einen schlechten bretternen Ver-
schlag von einander getrennt. In dem einzigen Zimmer des
Hauses sieht man deutlich bei dem fast gänzlichen Mangel al-
les Hausgeräths, wie wenig der Mensch zum Leben eigentlich
gebraucht. Der Fußboden besteht aus festgetretenem Lehm;
der große Fcuerplatz, dicht auf der Erde, ohne alle Erhöhung,
dient zugleich zum Feuerheerd und Kamin. Ein an einer Kette
hängender Kessel über dem Feuer, einige hölzerne Schemel,
ein grob zusammengezimmerter Tisch, und in der Ecke ein La-
ger von Moos oder Stroh, das ist Alles, was diese von al-
ler Weichlichkeit entfernten Menschen zu ihrer Bequemlichkeit
haben. Das Ansehen der Männer ist wild, und ihre fremde
Kleidung, die so sehr von jeder andern europäischen abweicht,
ist zum Theil schuld daran. Im Umgänge verliert sich der
Eindruck gänzlich, den ihr erster Anblick erregt. Ihr von Luft
und harter Arbeit gebräuntes Gesicht ist ausdrucksvoll; seine
Züge sind angenehm und regelmäßig. Stiller Ernst, welcher
an Trauer gränzt, scheint der Grundton ihres Wesens; den-
noch können sie sehr fröhlich seyn. Sie sind gebildeter als
man vermuthen sollte. Die Geschichte ihrer Väter und ihre
j
272
Das britische Reich.
Heldengcsänge sind Keinem fremd. Fast in jeder Hütte sahen
wir eine Bibel, ein Gebetbuch, auch wohl irgend eine alte
Chronik, aus welchen der Hausvater Sonntags die Seinen
erbaut. „Wir beten und spinnen!" antwortete mir ein jun-
ges schönes Mädchen auf die Frage: „Was thut ihr denn
Winters, wenn Kalte und Schnee euch in euren Hütten ge-
fangen halt?" In jedem Hause beinahe hangt der Stamm-
baum der Familie, auf welchen sie oft mit Stolz blicken."
Je weiter man den Tay aufwärts fährt, desto höher
und wilder werden die Felsen. Endlich erweitert sich der
Strom zum See, dem Loch-Tay. „Drohende, starre Felsen
erhoben sich furchtbar über unserm Haupte immer höher und
höher über einander, während wir längs dem Sec hinfuhren.
Wolken in seltsamer Gestalt umlagerten die höchsten Gipfel
der Berge und wogten im Winde, kamen und schwanden;
Alles um uns war feierlich, groß und einsam. Wir erstie-
gen, geführt von einem Bewohner des Thales, den Gipfel
eines Berges. Die Aussicht oben war eine der einsamsten
der Welt; wir sahen nichts als andere kahle, schauerliche Fel-
sen und zwischen ihnen dunkle, einsame Thaler. Ben-More,
fast der höchste Berg in Schottland (4000'), drohte aus der
Ferne, das Haupt in graue Nebel gehüllt. Hecrdcn von je-
nen kleinen Schafen belebten allein die feierliche Wüste.
Wir kehrten zurück zum Loch-Tay. Das Thal, welches ihn
einschließt, ist so grün, Bäume und Sträuche wachsen in so
üppiger Fülle, wie man cs in diesem nördlichen Winkel der
Erde nicht erwarten sollte. Alles ist angebaut wie ein Gar-
ten, kleine wogende Kornfelder wechseln mit Kartoffclbectcn,
und steinerne Einfassungen schützen die Felder gegen die Be-
schädigungen der überall weidenden Schafe. Hohe Felsen um-
geben dies liebliche Plätzchen, das als eins der schönsten in
diesem Lande bekannt ist. Der See bildet hier gerade vor
dem reinlichen Wirthshause eine kleine wunderschöne Bucht;
ein einsamer Kahn durchschnitt die silberne Fläche in mannig-
fachen Wendungen. Bäume und Sträuche spiegelten sich im
kla..n Wasser; die Felsen glühten rings umher im Abendrot!);
die Nebel, welche ewig ihre Gipfel umwogen, glänzten wie
Purpur und Gold, und aus dem Kahn zu uns herüber tön-
Das britische Reich.
273
tcn die klagenden Moll-Accorde eines schottischen Volksliedes
durch die feierliche Stille der sinkenden Nacht. Am folgenden
Morgen kamen wir einem Wasserfalle vorbei. Von einer
beträchtlichen Höhe eilt er dem stillen Loch-Tay zu, wild ein-
her brausend und schaumend, über abgerissene Felscntrümmer.
Seit Jahrhunderten schon glanzen seine Tropfen gleich Thrä-
nen auf den grün bemoosten Steinen eines ganz nahen Hel-
dengrabcs der Vorzeit, und sein Rauschen ertönt wie der
Nachhall der Bardenlieder, die einst hier die Thaten der Tod-
ten besangen, und seinen Geist in die ewigen Hallen der Va-
ter geleiteten. Weiterhin wurden die Felsen immer schroffer
und höher, öder und einsamer die ganze Gegend umher.
Wilde Bergwasser rieselten von allen Bergen, und stürz-
ten hinab ins Thal. Es war ein wahrer ossianischer Tag;
graue Nebel hingen an den Spitzen der Berge, wogten zu-
weilen herab, und durcheilten, gejagt vom Winde, wie Gei-
stergestalten die Schluchten der Felsen. Einzelne Sonncnblicke
siogen durch das Thal, durch welches bald silberhell, bald
wild tobend ein starker Bach sich wand. Nur selten erinnerte
uns in dieser Wildniß ein kleines Kornfeld,«eine niedrige Hütte,
daß in dieser abgeschiedenen Einsamkeit noch Menschen leben.
Hier erscheint die Natur, wie Ossian sie malte, die Ströme,
die Felsen, die uralten einzelnen Eichen. Der Wind heult
über die Haide, die Distel wiegt ihr Haupt im Sturme am
Grabe der alten Krieger. Die vier grauen bemoosten Steine
erheben sich noch einsam am Hügel der Helden, und verkün-
den stumm dem stillen Wanderer die Geschichte vergangener
Jahrhunderte. Wir sahen viele solcher Denkmale der Helden.
König Fingal (Ossians Vater, König der Caledonicr und be-
rühmtester Held jener Zeit) ruht der Sage nach in diesem Thäte
im tiefen, dunkeln Bette, und Ossians Name und Lieder sind
zwischen diesen Felsen noch nicht verhallt."
„Wir erreichten Tyndrum, einen fast allein liegenden
Gasthof, in einer schauerlichen, wilden Einöde, auf der höch-
sten bewohnten Höhe der schottischen Hochlande. Der Regen
stürzte jetzt in Strömen herab. Lange sahen wir zu, wie die
schweren Wolken an den Bergen hinrollten, einzelne Streifen
von Sonnenlicht bisweilen auf Momente die nackten Gipfel
Nösselts Geographie II. 18
274
Das britische Reich.
der Felsen verklärten, und der Wind den Regen wild herum-
pcitschte. Gegen Abend, als das Wetter sich aufklarte, er-
freuten wir uns des wunderbaren Spiels der Wolken. Im
stachen Lande kann man sich keinen Begriff von diesen magischen
Erscheinungen machen. Die schweren Regenwolken schienen
wie eine dunkle Decke auf den höchsten Gebirgen zu lasten;
leichteres Gewölk zog sich wie ein Heller Schleier um andere
tiefere Berge, verdeckte sie in diesem Augenblicke ganz, rollte
sich dann zusammen, und verschwand im nächsten, oder zog
pfeilschnell dahin in wunderbaren Gestalten, im ewigen Kam-
pfe mit Sonnenlicht und Sturm, unendlich wechselnd mit
Licht und Farbenspicl."
Die Reisende fuhr von dem Loch-Tay in westlicher Rich-
tung, nördlich von Loch-Lommond. „Die Wildniß wurde
noch schauerlicher und öder. Nur das Rauschen der von den
kahlen Felsen schäumend herabstürzenden Bcrgströmc tönte durch
die leblose Stille der öden Haide. Hier und da klommen ei-
nige Schafe an den mit spärlichem Berggrase bekleideten
Felsen; einsam und traurig blickte dann und wann ein Hir-
tenknabe von den Höhen herab auf unfern Wagen; jede an-
dere Spur des Lebens war verschwunden. Viele halbversun-
kcne alte Gräber zeigten, daß sonst ein mächtigeres Leben
hier waltete. Am Himmel war geschäftige Bewegung; Nebel,
Wolken und Sonne trieben noch immer ihr wunderbares Spiel.
Die Menschen werden in diesem Lande sehr alt. Mit 60
Jahren fühlen sie das Alter noch nicht. Wir sahen einen
Mann von 103 Jahren, den seine Nachbaren beschuldigten,
das; er sich jünger mache, und schon 111 Jahr alt wäre.
Man hätte ihn für einen Sechziger gehalten. Kurz vorher hatte
er erst eine Frau von 40 Jahren geheirathct, und dabei noch
( ein Tänzchen gemacht und auf der Sackpfeife gespielt. Hier
'findet man nur Haferbrot; cs ist ein dünner, runder Kuchen,
wie unsere Pfannkuchen, nur hart wie eine Brotrinde und
auf beiden Seiten mit ein wenig Waizenmehl bestreut. Der
Geschmack ist etwas bitter, aber die Speise nahrhaft und ge-
sund. In einem Dörfchen wurden wir lebhaft an Ossian er-
innert. Ein Greis in der Nationaltracht saf; auf einem Steine
nahe am Kirchhofe; sein langer, schneeweißer Bart flog im
Das britische Reich.
275
Winde; sein Aussehn war wild; ein Paar dunkle Augen glüh-
ten unter einem hohen, kahlen Scheitel hervor. Der Plaid
hing phantastisch von den Schultern herab; zwischen den Knien
hielt er eine kleine Harfe, aus der er einzelne Accorde hervor-
riß. Mit starker, tiefer Stimme sang er dazu alte Volksge-
sange in der Gaelsprache. Sein Gesang war eintönig, fast
mehr Deklamation als Lied. Um ihn her war das ganze
Dorf versammelt; alles hörte aufmerksam zu. Man sagte
uns, der Greis sey ein Sänger, der mit seiner Harfe das
Land durchziehe, ohne, eigentliche Heimath, aber überall ein
willkommner Gast, wie sonst die alten Barden."
„ Nach vielem Bergauf - und Bcrgabfahrcn senkte sich
der Weg; bald sahen wir uns in einem schönen englischen
Park, mitten darin ein gothisches Schloß. Wir befanden
uns in einer wahrhaft paradiesischen Gegend. Vor uns lag
das große Schloß Inverary, der Sitz des Herzogs von
Argyle (Aerdschöhl), mitten in einem durch herrliche Baume
und Büsche verschönten, fruchtbaren Theile. Lustpfadc schlan-
geln sich nach verschiedenen Richtungen hindurch, alle lockend
und lieblich. Im Hintergründe erheben schöne waldbewachsene
Felsen das stolze Haupt; seitwärts vom Schlosse winkt der
eigentliche Garten voll blühender Rosenbüsche; auf der an-
dern Seite erhebt sich ein hoher, schroffer Fels von wunder-
bar drohender Gestalt. In einem Pavillon auf seiner Spitze
genießt man einer Aussicht von unendlicher Schönheit, die
alles vereint, was die Natur Erhabenes und Freundliches dar-
bietet. Vom Schlosse an erstreckt sich eine schöne Wiese bis
hinab an den Loch-Fine (Fein). Dieser ist eigentlich ein
schmaler Meerbusen, der tief ins Land hineinläuft. Nahe und
ferne Berge dehnen sich an beiden Ufern hin. Seine Länge
ist unübersehbar; das ferne Meer begränzt ihn; seine Fläche
spiegelt grün wie dieses; weiße Wellen hüpften wie im Tanz,
und schaukelten lustig die Fischerböte, die kleinen Schiffe und
Barken, die, darauf schwimmend, der Scene nenes Leben ga-
ben. Dem Schlosse seitwärts liegt das Städtchen Inve-
rary, mit geraden Straßen und weißen, hübschen Häusern.
Die umgebende herrliche Natur erschien uns fast im fccnhaf-
18 *
276
DaS britische Reich.
tcn Schimmer, nach den wilden, erhabenen Umgebungen, in
denen wir die letzten Tage verlebt hatten."
Nun ging die Reise wieder zurück, in östlicher Richtung,
nach dem Loch-Lommond zu. So lange es längs dem Loch-
Fine noch hinging, war die Gegend lachend. Aber nach 2
Meilen begann das Steigen; „der See, das schöne Thal
und alle Anmuth der Gegend verschwanden unserm Blick.
Mehrere Stunden hindurch ging cs immer höher und höher,
über nackte Felsen, durch dunkle, enge Klüfte, zuweilen durch
düstre Thäler; dann wieder hoch auf den Bergen. Nur feines
grünes Moos deckt das Gestein; sonst keine Vegetation, kein
Leben, nur Todtenstille und öde Einsamkeit rings umher. Kein
Laut ertönt in dieser Wüste, als das Brausen der Felsenba-
che, die hin und wieder herabstürzen; keine Spur menschlichen
Daseyns ist sichtbar, außer zuweilen eine jener armseligen
Hütten neben dem schäumenden Bach in eine Fclsenccke ge-
drückt, einsam verloren. Bei aller Oede trägt diese Gegend
dennoch den Charakter unbeschreiblich erhabener Größe. Die
mächtigen Felsen stehen rings umher in schauerlichem Schwei-
gen; die rothe Blüthe des Heidekrauts bedeckt ihre kolossalen
Umrisse mit einem Purpurmantcl, ohne sie zu verhüllen; ihre
Häupter umwogen ewige Nebel, die im Sonnenstrahle zur
Glorie werden. Endlich hatten wir den steilsten Gipfel des
Weges erreicht. Hier begegneten wir dem einzigen Wanderer
auf dem ganzen Wege durch diefe Wüste, einem jungen, ra-
schen, in seinen Plaid gehüllten Hochländer. Er half uns
eine nahe Anhöhe ersteigen, wo sich uns eine ausgebrcitetere
Aussicht eröffnete. Dort übersahen wir die imposanten Mas-
sen, die schwarzen, zackigen Kronen unzähliger anderer, von
aller Vegetation entblößter Berge, die Wasserfälle, die von
ihrer Seite hcrabtanzen und sich in dunkle Tiefen verlieren,
ohne daß wir ihr Brausen auf dieser Höhe vernehmen konn-
ten. Wie Vogelnester erschienen von hier aus die wenigen
kleinen Wohnungen am Fuße der Felsen oder am Eingänge
der schauerlichen, düstern Thäler, die so enge sind, daß sie,
größern Fclscnspalten gleich, wohl nur wenig Stunden des
Tagelichts sich erfreuen. Nun ging es tief hinab, immerfort
über öde Felsen, durch düstre Klüfte und Thäler, und wir
DaS britische Reich. 277
erreichten endlich die Ufer des schönsten und größten Sees der
Hochlande, des
Loch-Lommond. Ländliche Anmuth und erhabene
Größe wechseln in seinen Umgebungen. Bald scheinen die
prächtigen, größtenthcils waldbewachsencn Berge sich um ihn
zu drängen, als wollten sie sich in seinen klaren Fluthen spie-
geln; dann treten sie wieder zurück, und Wiesen und Felder
umgeben das glänzende Gewässer. Zuerst empfing uns ein
frischer, grüner Wald am Ufer; unter hohen Laubgewölbcn fuh-
ren wir hin, und freuten uns des Silbcrglanzcs im See.
Ein hoher Berg stellte sich uns in den Weg. Wir erreich-
ten seinen Gipfel, der Weg senkte sich, und vor uns, unab-
sehbar breit, in aller seiner hohen Pracht, lag der ganze
herrliche Sec da, besäet mit kleinen und größeren grünenden
Inseln, zwischen denen Fischerböte leicht hinruderten. Millio-
nen weiße, sich kräuselnde Wcllchcn belebten die silberne Flä-
che, aus der auf der andern Seite der mächtige Ben-Lom-
m o n d senkrecht steil emporsteigt, bis zu den Wolken, die sein
Haupt verhüllen. Die ganze Gegend ist von so wunderbarer
Schönheit, daß jeder Versuch, sie zu beschreiben, vollkommen
zwecklos wäre." Die Reisende fuhr nun am Westufer des *
Sees in südlicher Richtung hin, und trat am südlichen Ende
des Sees, wo die Gegend wieder fiacher wird, aus dem
Hochlande in das Niederland.
Große und viele Städte giebt es in dem wilden Hoch-
lande nicht. Als Hauptstadt wird
Indern eß betrachtet. Sie liegt an der Ostküste, und zwar
am innersten Winkel eines tiefen Meerbusens, des Murrays
Firth (Morreh- Firß). Hierhin bringen die umwohnenden
Bergschotten ihre wenigen Erzeugnisse: Fische, grobe Leinewand,
Felle, und kaufen hier ihre geringen Bedürfnisse.
Um Schottlands Küsten liegen drei Inselgruppen: die
Hebriden (westlich), die Orkneys (nördlich) und die
Shetlands-Inseln (am nördlichsten). Alle haben ein
rauhes, stürmisches Klima mit einander gemein; das oft wild
empörte Meer schlägt schäumend an die Fclsengestade, die sich
überall schroff erheben. Nur die größeren sind von Menschen,
die von Fischen und Schafzucht kümmerlich leben, sparsam be-
wohnt. Die kleineren wimmeln von Scevögcln aller Art,
278
Das britische Reich.
unter denen besonders die Eidergans mit dem weichen grauen
Gefieder sich auszeichnet. Fällt in der Nähe solcher vogclrci-
chcn Inseln ein Schuß, so erheben sich Wolken von schreien-
den Vögeln in die Luft. In der Brütezcit liegt hier Neft
an Nest, und klettert ein Mensch diese Klippen hinan, so flat-
tern die aufgejagten Alten mit klagender Stimme um seinen
Kopf. Die Bewohner der Inseln sammeln die Eier, so viel
sie bekommen können; ebenso die Federn der Eidergänse, mit
denen diese Thiere ihre Nester auspolstern. Das Herumklet-
tern an den steilen Klippen, hangend über dem brausenden
Meere, ist sehr gefährlich, und mancher wird dabei ein Opfer
seiner Kühnheit.
1. Die Hebriden werden auch die westlichen In-
seln genannt. Einige sind recht groß. Die größte heißt Sky
(Skei). Am abgelegensten ist die Insel St. Kilda. Sie
besteht aus einem schroffen Felsen, der sich mehrere tausend
Fuß aus dem Meere senkrecht erhebt. Nur an einer Stelle,
wo. eine Schlucht zum Meere führt, ist es möglich zu landen.
Die wenigen hier wohnenden Familien sind.von der ganzen
übrigen Welt abgeschnitten. Nur ein einziges Boot geht zu-
weilen nach dem festen Lande, um die wenigen Bedürfnisse zu
holen, und wenn der Sturm weht, was häufig der Fall ist,
so ist auch dies unmöglich. Auf der ganzen Insel ist kein
Baum und kein Strauch zu finden. Geld haben die Einwoh-
ner gar nicht, sondern sie zahlen mit Federn, Vogelciern,
Butter oder Käse. Klein, aber wegen der Fingalshöhle
berühmt ist die Insel Staffa. Sie besteht aus lauter Ba-
salt, und namentlich ist die Höhle aus Basaltsäulcn, welche
die Seitenwände und die Decke bilden, zusammengesetzt. Sie
bildet ein hohes und tiefes Gewölbe, wie das einer großen
Kirche, ist aber mit Secwasser bedeckt. Man kann sie daher
nur zu Schiffe besuchen.
2. Die Orkneys (Orkni), d. i. Seehundsinseln, von
uns oft fälschlich orkadische Inseln genannt, liegen gleich über
Schottland. Die größte Insel heißt Pomona, auch Main-
land (Mähnländ), d. i. das größte Land genannt.
3. Die Shetlands - (Schettländs) Inseln. Sie
liegen noch nördlicher als die Orkney's, und sind noch rauher
Das britische Reich.
279
und stürmischer. Auch hier wird die größte Insel, Shet-
land, Mainland genannt.
3. Das Königreich Irland.
Man theilt Irland in vier Hauptprovinzen ein: Lern-
ster (Lehnster) im Osten, Connaught (Kannaht) im We-
sten, Ulster (Olster) im Norden, Munster (Monster) im
Südens
Boden: Die schöne Natur, die wir in England zum
Theil und in Schottland fast überall fanden, finden wir in
Irland nicht. Das Land ist meist flach, und wo cs Berge
und Hügel giebt, da sind sie unbedeutend, kahl und öde.
Fruchtbar ist cs meist, aber cs liegen noch große Strecken
unbebaut, weil bis zum Jahr 1829 die Bewohner unter gro-
ßem Drucke seufzten, und die Katholiken, deren hier die mei-
sten sind, nicht das Recht hatten, Landeigenthum zu erwer-
ben. An der Nordküste lauft eine weite Strecke ins Meer
hinein eine breite Reihe Basaltsäulen, die wie aus dem Was-
ser hcrvorgewachsen scheinen. Sie stehen ganz dicht beisam-
men, ragen 20 — 40 Fuß über den Wafferspiegel weg, und
sind 120 —140 Fuß breit, so daß man auf ihnen eine weite
Strecke ins Meer gehen kann. Die Engländer nennen sie den
Riesendamm, the (dße) Giants (Dscheients) Causeway
(Kahsweh).
Gewässer: Das Meer bildet eine Menge Buchten
und Busen. Im Innern des Landes giebt cs viele, zum
Theil recht große Landsecn. Der kleinsten einer ist der rei-
zende Killarney- (Killarni) See im Südwesten der Insel,
unweit des Meeres. Reisende können die Lieblichkeit seiner
Ufer nicht genug preisen. Dicke Waldungen, dahinter hohe
Berge, umgeben ihn, und in ihm liegen mehrere bewachsene
Inseln zerstreut. Bedeutende Flüsse giebt es in Irland nicht.
Der größte ist der Shannon (Schänncn). Aber wie in
England sind auch hier Kanäle angelegt, die den Verkehr im
Lande sehr erleichtern.
Luft: Die Luft ist wie in England: gelinde Winter,
gemäßigte Sommerwärme, ein fast ewig trüber Himmel,
280
Das britische Reich.
viele Nebel, und daher ein herrliches, immer frisches Grün,
das die Wiesen und Felder bedeckt.
Produkte: Außer den gewöhnlichen Erzeugnissen eines
fruchtbaren Landes in solcher Breite: Getreide, Kartoffeln,
Flachs, Vieh Heer den und dergleichen, bringt die Insel viele
Steinkohlen und Torf hervor, was bei dem großen Mangel
an Holz ein großes Glück ist.
Einwohner: Die Irländer gehören zum Stamme der
Bergschotten, und sprechen eine Sprache, die mit dem Gae-
lik verwandt ist. Sie bekennen sich meist zur katholischen
Kirche, und alle Katholiken standen bis zum Jahr 1829 un-
ter großem Drucke; man hatte sie fast aller bürgerlichen Rechte
beraubt. Daher liegt das Volk in großer Unwissenheit und
Armuth. Der gemeine Irländer ist träge, abergläubisch, un-
reinlich und drückend arm, und lebt mit seinem Schwein in
einer Stube. Bei jeder Parlamentssitzung wurde seit vielen
Jahren auf die Nothwendigkeit aufmerksam gemacht, den un-
glücklichen Menschen gleiche Rechte mit den übrigen Untertha-
nen des Reichs zu verschaffen; aber die menschenfreundlichen
Vorstellungen scheiterten an den unduldsamen Gesinnungen be-
sonders der englischen hohen Geistlichkeit. Endlich gelang es
1829. Sie erhielten gleiche Rechte mit allen übrigen; nur
wurde durch einige Anordnungen vorgebeugt, daß die katholi-
sche Kirche nicht weiter um sich greife. Außerdem leben in
Irland viele Engländer, besonders in der Hauptstadt und
überhaupt im östlichen Theile der Insel. Sie und die höhe-
ren Stände sprechen englisch und haben englische Bildung.
Die Negierung führt einen Vicekönig, den der König schickt
und zurückrufen kann, wenn cs ihm beliebt. Sonst hatte
Irland sein eigenes Parlament; aber seit 1800 schickt es Lords
und Deputirte zum Parlamente. Den meisten Handel treibt
die Insel mit Leincwand und Fleisch. Die Leinewand, die
weit und breit berühmt ist, wird durch die Engländer bis in
die fernsten Erdtheile verführt, und die Vieh he erden verse-
hen den größten Theil der englischen Schiffe mit dem unent-
behrlichen Pökelfleisch. *
*
DaS britische Reich.
281
Städte sind
1. in Leinst er:
Dublin (Dobblin), die Hauptstadt der ganzen Insel, und
nach London die größte Stadt des Reichs, mit mehr als 250,000
Einwohnern. Ein Fluß durchfließt sie, und theilt sie in zwei
Theile. Meistentheils ist sie sehr schön gebaut; die Straßen sind
breit und gerade, herrlich gepflastert, schön erleuchtet; die Plätze
haben prächtige Square's, und die Häuser sind meist hoch, breit,
zum Theil pallastartig. Nur der Theil, in dem die Hefe deS
Volkes wohnt, und der Liberty heißt, ist ganz elend, mit Hütten
angefüllt und voll Unreinlichkeit. Vor allen Prachtgebäuden ist
daS Schloß, in welchem der Vicekönig wohnt, das ausgezeich-
netste. Die Universität, die einzige des Landes, ist unbedeutend;
aber der Hafen ist ansehnlich. Ein Steindamm läuft eine Vier-
telstunde weit ins Meer hinein, und auf seiner äußersten Spitze
steht ein Leuchtthurm.
2. Zn Cannaught:
Gallway (Gällweh), eine Seestadt.
3. Zn Ulster:
Belfast hat den stärksten Leinewandshandel nach dem Aus/
lande.
4. In Munster:
Limerik, da, wo sich der Shannon in einen großen Meer-
busen ergießt, eine große Stadt mit etwa 70,000 Menschen, ei-
nem schönen Hafen und starkem Handel. Die Handschuhe von
Limerik sind berühmt. Auch wird hier viel Vieh zur Versorgung
der englischen Schiffe geschlachtet. Ueberhaupt sind alle Seestädte
dieser Provinz Niederlagen für gesalzenes Fleisch, und die Masse
der hier geschlachteten Schweine und Ochsen geht ins Ungeheure.
Am größten ist die Ausfuhr dieses Artikels in
Cork. Diese Stadt liegt gerade südlich von Limerik am
südlichen Ufer der See, und ist nach Dublin die größte Stadt
der Znsel; denn es wohnen hier an 120,000 Menschen. Die
Straßen sind eng und winklig, die Häuser aber meist schön, weil
hier großer Wohlstand herrscht. Die englischen Schiffe pflegen
sich nämlich, ehe sie in die Ferne segeln, hier mit dem nöthigen
Bedarf an Lebensmitteln zu versorgen. Man könnte die Stadt
das große Schlachthaus für die englischen Schiffe nennen. Ueber
1000Düttner haben hier allein zu thun, die Fässer zu machen, in
denen das Pökelfleisch, der Speck, die Butter und andere Lebens-
mittel verpackt werden, und unaufhörlich hört man das Brüllen
und Schreien der Ochsen und Schweine, die hier geschlachtet wer-
den. Außerdem wird hier viel Porter gebraut und Branntwein
282 Das Königreich Spanien.
gebrannt, alles für die englischen Schiffe, die täglich hier einlau,
fen und abgehen.
Daß Großbritannien auch die Insel Helgoland und
die Insel Malta besitze, ist schon oben gesagt worden. Jene
haben wir bei Deutschland, diese bei Italien bereits beschrie-
ben. Außerdem besitzt cs auch den Felsen und die Festung
Gibraltar, die wir bei Spanien beschreiben werden. Daß
cs große Besitzungen in den andern vier Erdtheilen habe, braucht
kaum erst gesagt zu werden. Wir werden sie aber nicht hier,
sondern erst bei Beschreibung jener Erdtheilc nennen und be-
schreiben.
Das Königreich Spanien.
Zuerst suche man auf der Karte die Hauptthcilc des Kö-
nigreichs auf^).
1. Gali eia ist die nordwestlichste Provinz.
2. Asturi a daneben, östlich.
3. Die baskischen Provinzen, daneben, östlich,
bis an die äußerste französische Wcstgränze reichend.
4. Navarra, daneben, östlich und südöstlich.
5. Aragon, östlich und südöstlich von Navarra.
6. Cataluria (Catalunja), die nordöstlichste Provinz.
Diese 6 sind die nördlichsten Provinzen. *)
*) Wir halten es für unzweckmäßig, das Gedächtniß unsrer Leserinnen
mit den Namen der 31 Provinzen zu belästigen, und nennen dafür lieber
die 15 Hauptprovinzen, ob wir gleich recht wohl wissen, daß dies die
alte, und jenes die neue Eintheilung ist. — Da die spanischen Namen
oft anders ausgesprochen, als sie geschrieben werden, so haben wir die
Aussprache in Parenthese danehcn gesetzt.
Das Königreich Spanien.
283
7. Valencia, südlich von Aragon und Catalufia.
8. Murcia (Murßia), südwestlich von Valencia.
9. Granada, südwestlich von Murcia.
10. Andalusia, westlich von Granada, bis an die por-
tugiesische Gränze. Die letzten vier Provinzen sind die östlich-
sten und südlichsten. Längs der portugiesischen Gränze liegen
folgende zwei:
11. Estremadura, nördlich von Andalusia.
12. Leon, eine der größten. Sie reicht von Estremadura
bis Asturia. — Zn der Mitte sind folgende zwei große Pro-
vinzen:
13. Neu-Castilia. Cs nimmt den ganzen mittelsten
Theil von Spanien ein, und wird von Aragon, Valencia,
Murcia, Andalusia und Estremadura eingeschlossen. Darüber
liegt
14. Alt-Castilia. Es wird eingeschlossen von Leon,
den baskischen Provinzen, Navarra, Aragon und Neu-Castilia.
15. Das Königreich Mallorca (Maljorka). Dazu ge-
hören die beiden Inselgruppen: die balearischen und pi-
tyusischen Inseln.
Boden: Von Frankreich wird das Königreich durch
eine hohe Gcbirgswand geschieden, die Pyrenäen. Daher
nennt man auch wohl Spanien und Portugal die pyrenäische
Halbinsel. Außerdem ist das ganze Land von vielen Bergrci-
hen durchzogen, so daß es nur wenige flache Gegenden, aber
meist Berge und Thal enthält. Die Berge sind, die Pyre-
näen abgerechnet, nicht bedeutend hoch, und erheben sich sel-
ten bis über die Schneelinie. Die vornehmsten Bergreihen
wollen wir näher betrachten.
1. Die Pyrenäen. Von der französischen Seite stei-
gen sie weit sanfter an, als von der spanischen, wo sie wild
und schroff herabfallen, und nur in den Thälern und Schluch-
ten fortzukommen ist. Nach Frankreich zu sind die Thäler
ungemein lieblich und mild. Felder, Wiesen und Gärten
ziehen sich in der ganzen Pracht, die ihnen die südliche Na-
tur giebt, an den Höhen hinan; nur der Hauptrücken erhebt
sich hoch und zackig bis über die Wolken. Die höchste Spitze
dieses wilden Gebirges ist der Mont perdu (er ist über
284 Das Königreich Spanien.
10,000 Fuß hoch, und liegt gerade südlich von Tarbcs in
Frankreich). Nach Spanien zu senkt sich das Gebirge viel
steiler; die Thäler sind öder und schauerlicher, die Abgründe
tiefer und schroffer, die Schluchten enger und wilder, und die
Bergwasser reißender. Nur wenige Fahrwege führen hinüber,
aber Schleichwege giebt cs in Menge, auf welchen kühne
Schleichhändler die im Nachbarlande verbotenen Waaren hin-
überführen. Sie ziehen in den wildesten Thälern und Schluch-
ten aufwärts bis auf den Hauptkamm, und da jenseits wie-
der hinab, immer in Gefahr, in die Abgründe zu stürzen,
und stets bewaffnet, um den ihnen aufpassenden Gränzjägern
die Spitze zu bieten. Das berühmteste Thal auf spanischer
Seite ist das von Ronce val, in welchem Karls des Gro-
ßen Nachhut von den Bergbewohnern überfallen, und der große
Roland und andere Helden erschlagen wurden #). — Eine
Fortsetzung der Pyrenäen nach Westen zu, bis an die Nord-
westspitze von Spanien heißt das cantabrische und astu-
rischc Gebirge.
2. Die Sierra Morena (Sierra heißt Gebirge). Es
ist auf der Nordgränze von Andalusia, nach Neu-Castilia hin.
Hoch ist es nirgends, aber meist öde und menschenleer.
3. Das Gebirge von Granada. Es ist an der Nord-
gränze von Granada, sehr hoch und steil, voll wilder Schluch-
ten, und einzelne Spitzen sind sogar höher als die der Py-
renäen.
Die vielen weiten und engen Thäler Spaniens sind
meist von Flüssen und Strömen durchflossen, die das Land
fruchtbar machen. Dazu kommt die Milde des Himmels, so
daß Spanien eins der gesegnetsten Länder ist. Und doch ist
das Volk arm, weil cs — faul ist. Große Strecken des
Landes liegen unangebaut, nicht durch Schuld des Himmels,
der sein Füllhorn über dasselbe ausgoß.
Gewässer: Zwei Meere bespülen Spaniens Küsten:
das mittelländische und das atlantische Meer. Beide hängen
durch die Straße von Gibraltar zusammen. Der Theil *)
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 2., S. 21.
Das Königreich Spanien.
285
deß atlantischen Meeres, der zwischen Frankreich und Spanien
einen Winkel bildet, heißt das biscayische oder aquita-
nische Meer. ^
Die Hauptflüffe sind:
1. Der Ebro. Cr fließt ins mittelländische Meer. We-
gen seines über Felsen strömenden Laufs kann er nicht überall
befahren werden. Daher hat schon Kaiser KarlV. den längs
seines rechten Ufers hinlaufenden Kaiserkanal anlegen las-
sen, ein schönes, großartiges Werk; besonders merkwürdig ist
der Theil des Kanals, der auf langen Bogengängen über ein
Thal geleitet ist, in welchem ein Fluß dem Ebro zuströmt.
Hier kann also das geschehen, was wir schon bei Manchester
in England vom Bridgcwater-Kanal bewundert haben, daß
zwei Schiffe über einander fahren, eins unten im Flusse, und
das andere oben in der Wasserleitung.
2. Der Minho (Minjo), der ins atlantische Meer geht,
und die Gränze zwischen Portugal und Galicia macht.
3. Der D u o c o. Er macht eine Strecke hin die Gränze
zwischen Portugal und Leon, und geht, südlich vom Minho,
ins atlantische Meer.
4. Der Tajo (Taho) *). Er ist der größte Strom,
geht nach Portugal, und hier ins atlantische Meer.
5. Die Guadiana fallt auf der spanisch-portugiesischen
Gränze in dasselbe Meer.
6. Der Guadalquivir (Qualkibir) mündet in das-
selbe Meer, östlich von dem vorigen Flusse.
Klima: Die Luft ist, die gebirgigen Gegenden ausge-
nommen, überaus mild, und in dem langen Sommer sehr
warm, ja heiß. So angenehm wie in Italien ist sie nicht;
denn auf den Bergen ist das Klima zum Theil rauh, und der
Winter kalt, und in den Thälern ist es drückend heiß. Im
Süden ist die Luft so warm, daß hier schon die Palme, das
Zuckerrohr, die Aloe und andere Erzeugnisse des heißen Sü-
dens fortkommen. Der Frühling, der äußerst reizend ist, be-
ginnt schon im Januar. Im Sommer weht zuweilen, wie *)
*) Das spanische j wird wie ein ganz weiches ch, fast wie h ausge-
sprochen.
286
Das Königreich Spanien.
in Italien der Sirocco, ein erstickend heißer Wind von Afrika
herüber, der Solano.
Einwohner: Die Spanier sind eine gemischte Nation.
Sie stammen theils von den alten Bewohnern, theils von
den Römern, Wcstgothen, Suevcn und selbst von den Ara-
bern, die viele Jahrhunderte hier hausten. Daher hat der
Spanier eine braunere Haut als andere Europäer. Er ist
von mittler Statur, meist mager, aber von festen, kräftigen
Muskeln, feurigen, schwarzen Augen, großer Lebendigkeit, und
leicht in Zorn zu setzen, im Unglück aber geduldig und gleich-
gültig. Cr hat viele Anlagen, aber wenige Bildung, und
dennoch, oder vielmehr eben deswegen einen großen Stolz.
Uebcrhaupt sind in seinem Charakter die schroffesten Gegensätze.
Auf der einen Seite ist er tapfer, kühn, großmüthig, gedul-
dig, unermüdlich, treu, sanft, und auf der andern feig,
träge, faul, räuberisch, grausam und falsch. Die Leidenschaft
kann ihn zu den entsetzlichsten Handlungen hinreißen, und doch
ist er in vielen Fällen des Lebens unerwartet gleichgültig und
geduldig. Um die Zukunft hat er gar keine Sorge; er lebt
nur für den Augenblick, und trifft ihn ein Unglück, so tröstet
er sich mit den Worten: „Was thut es?" oder: „man
muß sich darein finden!" über alles, es sey nun der Tod
eines Huhns oder Esels, oder der Verlust eines seiner Lieben.
Die Sitten der Spanier weichen von den unsrigen ganz ab.
Der Umgang unter den einzelnen Ständen ist weit ungezwun-
gener als bei uns. Dem Spanier sind die unzähligen Abstu-
fungen, welche die Amtsverhältniffe bei uns gemacht haben
und täglich machen, ganz unbekannt. Wenn bei uns ein Un-
terbcamter mit einem höheren nur ehrfurchtsvoll spricht, so
nähert sich der Spanier dem Vornehmsten ganz zutraulich und
ohne Umstände, mit den Worten: „guten Tag, mein Herr
Johann oder Ferdinand." Setzt sich der Aermste zum Reich-
sten, so holt er seine Cigarre heraus, steckt sie an mit den
Worten: „mit eurer Erlaubniß!" und hat er sie halb abge-
raucht, so bietet er sie seinem Nachbar an mit den Worten:
„ist Ihnen gefällig?" Dies zu unterlassen, wäre so, als
wenn ein Tabacksschnupfer bei uns vergäße, seine Dose auch
den Umstehenden zu präsentircn. Die Lebensart des Spaniers
Das Königreich Spanien.
287
ist sehr einfach. Sein Wohnhaus hat in der Regel außer
dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk, und entbehrt fast alles,
was wir zur Bequemlichkeit rechnen. Hier ist nur auf Küh-
lung gesehen. Die Zimmer sind hoch, lang, mit viereckigen
Ziegeln gepflastert, und daher ist in ihnen immer eine Art von
Kellerluft. Dem Spanier fällt das weniger auf als uns, da
er immer einen Mantel tragt. Statt der Fenster hat das
Haus hölzerne Läden, in deren Mitte viereckige Löcher sich be-
finden, die mit in Oel getränktem Papier verklebt sind, durch
welches ein spärliches Tageslicht fällt. Nur reiche Leute ha-
ben Glasfenster. Die meisten Fenster sind zugleich Doppel-
thüren, durch welche man auf Balcons tritt, die keinem Haufe,
ja kaum einem Fenster, fehlen, und besonders des Abends
stark besucht werden. Die Häuser armer Leute enthalten
nichts außer einer hölzernen Bank, einem Tische, einer Ma-
tratze und einigem Küchcngeräth, so daß, wenn die Familie
auszieht, ein Esel die ganzen Habscligkeiten wegtragen kann.
Nicht viel besser sieht es mit dem Hausrathe eines schon ver-
mögenden Mannes aus. Ein schlechter Tisch, ein paar.noch
schlechtere Stühle, Heiligenbilder aller Art sind die Hauptge-
räthschaften. In der geräumigen Küche, die zugleich zum
Wohnzimmer dient, findet man gewöhnlich nichts als einige
schlechte Töpfe und einen eisernen Tiegel. Der Wein, das
Oel und Wasser befinden sich in einigen Ziegenhäutcn oder
großen irdenen Töpfen. Teller und Gläser gelten schon als
Ueberfluß. Reiche Leute wohnen zwar etwas bequemer, doch
könnte sich der Hausrath eines spanischen Grand ( die höchsten
Edelleute) kaum mit dem eines unsrer wohlhabenden Profes-
sionisten messen. Hat dort ein wohlhabender Bürger ein har-
tes Sopha, zwei Reihen dicht neben einander stehender Rohr-
stühle, einige Decken von Stroh oder Zeuch, den Boden zu
bedecken, einen Spiegel, eine Glutpfanne nebst Feucrschaufel,
und ein kühles Schlafgcmach, so verlangt er nichts mehr.
Der Grand fügt zu diesen Sachen etwa noch eine plumpe
Wanduhr, einige große Spiegel und einige plumpe Schränke
und Eommodcn, meist von Mahagony und mit starker Ver-
goldung. Will er Geschmack zeigen, so hat er auch noch ei-
nige Gemälde, und in einem Schranke die Meisterwerke dep
288
Das Königreich Spanien.
spanischen Literatur, mit Kirchenvätern und Legenden ver-
mischt. Am kühlsten ist das Schlafgcmach, gewöhnlich ein
dunkler Alkoven mit einer reinlichen Matratze.
So einfach wie sein Haushalt, ist auch seine Lebensart.
„Etwas Brot, leichtes Gemüse, Ocl und Wein, den man
sich in einigen Provinzen aus Flaschen mit dünnen, langen
Röhren, die aus der Wölbung hervorgehen, aus einer gewis-
sen Höhe in den Mund gießt, sind die gewöhnliche Nahrung
des gemeinen Mannes. Kommt hierzu etwas Speck und ein
paar in Oel gesottene Eier, so hat er wie ein Fürst gelebt.
Im Falle der Noth vertreten ein auf Asche gebackener Kuchen
aus Mais, eine Zwiebel, oder wilder Lattich, ein Salat von
wilden Zichorien, ein paar Feigen, eine Pomeranze, eine
Hand voll Oliven deren Stelle. Zu dieser Mäßigkeit im Es-
sen gesellt sich noch eine große Enthaltsamkeit im Genusse gei-
stiger Getränke. Einen betrunkenen Spanier zu sehen, ist eine
wahre Seltenheit. Der Vornehmere lebt allerdings besser,
doch auch höchst einfach. Jeder, der es erschwingen kann,
trinkt des Morgens seine Tasse Chocolade und ein Glas fri-
schen Wassers. Die darauf folgende Zeit gehört den Geschäf-
ten, oder wird mit einem dumpfen Hinbrüten bei der Glut-
pfanne hingebracht. Sind nicht etwa wichtige Neuigkeiten an
der Tagesordnung, so sitzen mehrere Spanier wohl öfters
Stunden lang beisammen, ohne eine Wort zu reden, und
nur wenn ein neuer Cigarro angebrannt wird, hört man viel-
leicht ein: ya, ya, Sennor, was etwa dem Gähnen bei uns
gleichkommt. Bevor indessen die Sonne drückend wird, be-
liebt man noch einen Spatziergang zu machen, um die Mor-
genluft zu genießen. Auf diesen folgt dann das Mittagsbrot.
Der Pacherò, d. h. ein Gemenge aus Kuhfleifch, kleinen
Würsten von Schwein - und Eselsfleisch mit Erbsen, Rüben
oder anderem Gemüse, und der Quisado — ein Ragout von
Fleisch und einigen Liebesäpfeln — sind einen Tag wie den
andern des Spaniers Kost. Doch pflegen sie auch wohl noch
ein in Oel gesottenes Rebhuhn, eine Menge Zuckerwerk und
einige Melonen, oder andere Früchte hinzuzufügen. Die Spei-
sen sind gewöhnlich so unbarmherzig mit Oel zugerichtet und
mit spanischem Pfeffer gewürzt, daß jeder nicht spanische Ma-
Das Königreich Spanien.
289
gen gewiß gern auf deren Genuß Verzicht leistet. Ucbrigcns
wird eine spanische Familie von 4—6 Personen füglich von
dem leben, was ein deutscher Magen für Eine Mahlzeit be-
gehrt. Der gesegnete Appetit eines Nordländers erregt in
Spanien große Verwunderung. Der Mahlzeit folgt die Sle-
st e. Beim Erwachen darf die Chocolade und das Glas Was-
ser abermals nicht fehlen. Ein Spatziergang gegen Abend,
um die Kühle der Luft zu genießen, beschließt des Tages
Mühen. Die Abendmahlzeit ist noch frugaler als der Mit-
tagstisch, und besteht gewöhnlich nur aus ein paar Eiern oder
einem Salat, in den südlichen Provinzen aber aus einer Was-
sersuppe. Diese Tugend der Mäßigkeit wird durch eine große
Unreinlichkeit im Hauswesen und in der Kleidung entstellt.
Bei einer spanischen Dame ist oft nichts rein als der blen-
dend weiße Strumpf, und Ungeziefer zu haben, und sich da-
von öffentlich zu säubern, gilt hier für keine Schande."
Die Kleidung der Spanier ist zwar in allen Provinzen
verschieden, aber doch eigenthümlich. Der wohlhabende Land-
und Stadtbewohner trägt schwarzfeidene Strümpfe und Schuhe,
kurze, enge Ilntcrkleider, eine Art Spencer von derselben Farbe,
eine seidene Weste mit schweren silbernen Knöpfen, einen drei-
eckigen Hut, und dazu einen weiten Mantel, gewöhnlich von
dunkler Farbe, ohne Aermel und mit einem kleinen Kragen.
Nur in großen Städten und besonders Handelsörtcrn, sieht
man auch viele französische Kleidungen. Der gemeine Mann
dagegen geht in einigen Provinzen beinahe ganz nackend;
doch hat jede Provinz irgend ein eigenthümliches Kleidungs-
stück. „Uebrigens ist die Tracht zu allen Jahrszeiten ein und
dieselbe. Der Mantel und die Decke wehren dem Einflüsse
jeder Jahreszeit, und sind, je nachdem sic fester oder nachläs-
siger umgeschlagen sind, das Thermometer der Witterung."
„Der Anzug der Damen ist nicht sehr mannigfaltig.
Nichts Geringeres als eine Feuersbrunst könnte eine Spanie-
rin bewegen, auszugehen ohne einen schwarzen Nock — Bas-
quifia (Basquinja) oder Saya —, und einen großen schwar-
zen Schleier — Mantilla —, der vom Kopf über die Schul-
tern herabhängt, und sich auf der Brust kreuzt wie ein Shawl.
Dieser Schleier ist gewöhnlich von Scidcnzeuch, mit breiten
Rösseltö Geographie II. 19
290
Das Königreich Spanien.
Spitzen besetzt. An Sommerabcndcn sieht man wohl auch
einige weiße Mantilla's; keine Dame aber würde dieselben des
Morgens tragen, und noch weniger mit- einem so weltlichen
Anzuge in der Kirche erscheinen. Ein hübscher Fächer ist ein
unumgängliches Crforderniß zu allen Jahreszeiten, sowohl zu
Hause als außer demselben." Mit demselben weiß die Spa-
nierin die ausdrucksvollsten Bewegungen zu machen, und ihre
Gefühle kund zu geben. Die Vortheile der Erziehung und der
geistigen Ausbildung fehlen der Spanierin ganz; dafür hat sie
aber eine ungeheure Lebendigkeit, und diese macht ihre Unter-
haltung angenehm.
Die gesellschaftlichen Vergnügungen der Spanier sind sehr
mannigfaltig, und sie bedürfen ihrer, da der Müßiggang all-
gemein ist. Der Reiche kennt fast nur eine Leidenschaft: das
hohe Spiel. Die jungen Leute beiderlei Geschlechts in den
höheren Ständen vergnügen sich mit Gesang, Tanz und Ge-
sellschaftsspielen. Unter den Tänzen steht der Fandango
und dcr V o le ro oben an. Diese selenvollen Tänze lasten sich
nicht beschreiben; sie müssen gesehen werden; selbst die Nach-
ahmungen derselben auf manchen Theatern des Auslandes ge-
ben nur ein schwaches Bild. „Die Anmuth, mit welcher
man die Nationaltänze tanzt, geht durch alle Stände. Man
kann sich von dem regen Leben, das mit Untergang der Sonne
auf allen öffentlichen Plätzen und in den Straßen beginnt,
keinen Begriff machen; überall wird gesungen, getanzt und
gespielt." Das Hauptvergnügcn des Volks sind aber die
Stiergefcchte, von denen wir unten bei Madrid umständlicher
reden werden.
Die Religion der Spanier ist die katholische. Zwar
werden die Andersdenkenden nicht mehr verfolgt, aber freie Re-
ligionsübung haben sie nicht, und die Spanier sind so unwis-
send und abergläubisch, daß sie alle Nichtkatholiken für Un-
christcn halten.
Produkte: Spanien ist ein so fruchtbares Land, daß
es seine Bewohner, und noch dreimal mehr Menschen, als
darin wohnen, reichlich nähren könnte, wenn die Leute nicht
so sehr träge wären, und die Regierung den Fleiß und die
Thätigkeit der Einwohner mehr belebte. Ungeachtet dieser Faul-
Das Königreich Spanien.
291
* • i
heit derselben bringt das Land dennoch viele schone Producte
hervor. Obenan steht der Wein, der überall wachst, süß
und feurig ist. Ferner Südfrüchte in Menge: Mandeln,
Rosinen, Feigen, Castanien, Citronen, Apfelsinen, Orangen,
Melonen u. s. w. Treffliches Baumöl, das um so nöthiger
ist, da die Butter nichts taugt, und daher alle Speisen mit
Oel gekocht werden muffen. Ausgezeichnete Wolle. Die
spanischen Schafe sind so berühmt, daß man mit ihnen un-
sere Hecrden zu veredeln pflegt. Sie zeichnen sich durch große,
dicke, gewundene Hörner, dicke, sehr weiße und feine Wolle
aus. Die besten sind die Merino oder wandernden Schafe.
So nennt man diejenigen Hcerden, welche im Sommer nach
den nördlichen Gebirgen getrieben werden, wo sie die kräftigen
Alpenpflanzen freffen, im Winter aber nach den wärmeren süd-
lichen Provinzen zurückkehren. Die Pferde sind nur in An-
dalusia berühmt; dagegen bedient man sich überall der Maul-
esel und Esel.
Regierung und Verfassung: Spanien wird von
einem Könige regiert, der unumschränkte Gewalt hat, zu thun
und zu lassen, zu gebieten und zu verbieten, was er will.
Das Land befindet sich in einem höchst unglücklichen Zustande.
Diejenigen, welche eine eingeschränkte Regierung wünschen,
werden von den Anhängern des Königs leidenschaftlich ver-
folgt; überall sind Partheien, überall Unfrieden, Mißvergnü-
gen mit der Regierung und Mißtrauen unter einander. Da-
bei liegen der Handel und die Fabriken danieder; in allen
Ständen ist Armuth und Mißmuth, und der König selbst
nicht im Stande seine Soldaten und Beamten regelmäßig zu
bezablen. Die Geistlichkeit ist noch sehr zahlreich; man rech-
net auf 59 Einwohner 1 Geistlichen; unzählige Klöster" sind
über das Land verbreitet, und besitzen den größten Theil der
Aecker und Güter. Geistliche und Mönche aber sind hier pri-
vilegirte Müßiggänger, die nur die Früchte des Landes ver-
zehren, ohne ihm zu nützen, und das arme Volk in Unwis-
senheit und Aberglauben erhalten. Von freier Bildung des
Geistes ist hier nicht die Rede. Acngstlich wird an der Gränze
darüber gewacht, daß kein fremdes Buch in das Land kom-
me, damit das Volk ja nicht gesündere Begriffe über Reli-
19 *
292
DaS Königreich Spanien.
gion und Verfassung erhalte. Universitäten und Schulen sind
im elendesten Zustande, und mit denen in unserm Deutschland
gar nicht zu vergleichen.
Wir wollen das Land in der Ordnung durchreisen, in
welcher wir die Provinzen oben angegeben haben, und fangen
also mit
1. Galicia
an. Wir reisen entweder in einer schwerfälligen sechssitzigen
Kutsche, mit 7 Maulthieren bespannt, oder in einem zweisitzi-
gen Wagen, den 1 oder 2 Maulthiere ziehen. Die Thiere
werden nicht durch Zaum und Peitsche, sondern bloß durch
den Zuruf des Fuhrmanns gelenkt. Oder wir miethen ein
Maulthier zum Reiten, und der Eigenthümer desselben lauft
neben her. Angenehm reist cs sich in Spanien auf keine
Weise; denn nirgends findet man die herrlichen Kunftstraßen,
die wir in den bisher durchreisten Ländern fanden, und daher
geht die Reise sehr langsam. Dabei sind die Wirthshäuser
meist sehr schlecht. Die gewöhnlichen, welche auf allen Land-
straßen einzeln stehen, heißen Venta's. In ihnen fehlt cs
an jeder Bequemlichkeit, und selten bekommt man hier mehr
als Brot und Wein. Nur selten findet man solche, die un-
seren gewöhnlichen Wirthshäusern der Städte gleichkommen,
und selbst in vielen derselben erhält man kein anderes Essen,
als das man sich selbst mitbringt oder in dem Orte einkauft.
Das Unangenehmste ist in den Venta's die große Unsauberkeit,
die dem Spanier überhaupt so eigen ist.
Galicia ist meist bergig, und zwischen den Bergen sind
schöne Thäler, die gut angebaut sind. Uebcrhaupt ist dies
die bevölkertste Provinz, und die Einwohner sind fleißige Leute.
Daher sind sie auch gesünder, stärker und ehrlicher als die
übrigen Spanier; denn Thätigkeit erhält Leib und Seele ge-
sund. Zuerst besuchen wir
San Jago di Compostella (Compostelja), eine auf
einem Berge gelegene Mittelstadt. Vor allen Häusern ragt die
prächtige Domkirche hervor, eine der größten und ansehnliche
sten des ganzen Königreichs. Zn einer der vielen Capellen dersel-
ben liegt der heilige Zakob (San Zago) angeblich begraben, und
DaS Königreich Spanien.
293
da dieser Heilige der Schutzpatron aller Spanier ist, so wird zu
seinem Grabe aus allen Gegenden fleißig gewallfahrter. „Diese
Capelle vereinigt alles, was man nur von Pracht und Reichthum
sehen kann. Alle Nächte brennen an 1000 Wachskerzen darin,
und verbreiten durch ihren Widerschein von den vielen Gold / und
Silbcrmassen einen gleichsam überirdischen Glanz." Reisen wir
an die nordwestlichste Meeresküste, so finden wir einen geräumi-
gen Meerbusen, und an demselben zwei wichtige Seestädte: Co/
runa (Corunja) und Ferrol.
Coruña ist mehr eine kleine als große Stadt, dabei mit
schlechten, am Abhänge eines Berges und am Meere hingcbauten
Häusern. Aber der Hafen ist einer der besten Spaniens, und
daher immer voll Schiffe. Rings um ihn herum sind Festungs-
werke angelegt, und vor ihm liegt auf einem steilen Felsen ein
Leuchtthurm, deffen nächtliches Feuer den Schiffen wohl 20 Mei-
len weit zeigt, wo der Hafen liegt. An demselben Meerbusen,
aber nördlicher, liegt
Ferrol, mit einem vorzüglichen Kriegshafen, der alles ent-
hält, was man in einem solchen zu finden gewohnt ist. Alle diese
Anstalten sind schön eingerichtet, alle dazu gehörende Gebäude
mit Pracht gebaut, und überall herrscht die größte Ordnung.
Z. B. hat jedes Schiff sein eigenes Magazin, in welchem alle
zu seiner Ausrüstung gehörenden Dinge mit der größten Genauig-
keit aufbewahrt werden. Dennoch hat der Hafen nichts erfreuli-
ches; hier fehlt ganz das sonst in den Seestädten so lebhafte Trei-
ben, weil kein fremdes Handelsschiff, sondern nur die königlichen
Kriegsschiffe einlaufen dürfen. Man hört nur das Pochen der
AnkerschmieLe, das Knarren der Seiler, das Klappern der Sc-
geltuchweber, das Hämmern und Segen der Schiffbauer und daS
Klirren der Galeerensclaven.
2. 2t st u r i e n
ist ganz voll rauher Gebirge, in welche sich nach dem Eindrin-
gen der Mauren 711 die besiegten Spanier zurückzogen *);
keine Provinz ist so gebirgig als diese. Auch hier sind die
Einwohner sehr fleißig und thätig, und bauen ihre Thäler und
Bergabhänge mit der größten Sorgfalt an. Die Rechtlichkeit
und die Ausdauer der Asturier ist durch ganz Spanien be-
rühmt. In der Stadt
Oviedo ist nichts als eine recht schöne alte Domkirche zu
merken.
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te AuSg.,
2., S. 12.
294
Das Königreich Spanien.
3. Die baskischen Provinzen
werden auch wohl Biscaya genannt, obgleich dies Land ei-
gentlich nur ein Theil von jenen ist; wieder voll Berge und
Thaler, die von den Pyrenäen auskaufen. Dieselbe Thätigkeit,
denselben fleißigen Anbau, den wir in Galicia und Asturia
rühmten, finden wir auch hier. Die Einwohner haben eine
große Körpcrstarke, viele Gewandheit, hohen Muth, F-rciheits-
licbe, Gutmüthigkeit und Ehrlichkeit. Ebenso kräftig zeigen
sich auch die Weiber. Man muß erstaunen, wenn man steht,
wie sie alle Arbeit der Männer theilen, und sogar Lasten tra-
gen-, die jenen fast zu schwer sind. Dabei zeichnen sie sich
durch ihr rasches, kühnes Wesen aus, so wie durch Fröhlich-
keit und muntre Laune. Daher sicht man nirgends so viele
frohe Spiele wie hier. Dörfer findet man hier nicht, son-
dern nur eine Menge einzelner, zerstreuter Bauerhöfe, die im-
mer vom Vater auf den Sohn forterben; denn es wird für
eine große Schande gehalten, ein solches Familieneigcnthum
zu verkaufen. Die Einwohner machen einen besondern Volks-
stamm aus, und werden die Basken genannt. Sie ha-
ben ihre eigene Sprache. Wenn man von Frankreich herüber
kommt, so fällt dem Reisenden hier zuerst das ganz andere
Wesen, die verschiedene Tracht, die spanische Lebensart auf.
Besonders unangenehm tönt ihm das Knarren der Räder in
die Ohren. Denn in ganz Spanien herrscht die sonderbare
Sitte, nicht, wie sonst überall, mit durchbrochenen Rädern
zu fahren; sondern diese bestehen aus großen hölzernen Schei-
ben, die in der Mitte ein Loch haben, durch welches die Axe
geht. Diese Räder werden aber nie geschmiert, und ma-
chen also bei jeder Umdrehung eine gräuliche Musik, so daß
man sie weithin hören kann. Muß man nun gar auf solchen
Wagen fahren, so ist es kaum zum Aushalten. Die spani-
schen Bauern glauben durch das Knarren die bösen Geister zu
vertreiben, und sind daher von der abscheulichen Gewohnheit
nicht abzubringen. Nahe an der französischen Gränze liegt
San Sebastian, am Meere, auf einer Landzunge, und
über ihr thront auf einem fast cirkelrunden Berge die Citadelle.
In dem Hafen wimmelt es immer von Schiffen, die besonders
von Frankreich herüberkommen. Die Aussicht auf die Pyrenäen
Das Königreich Spanien. 295
und auf das nahe Meer ist entzückend schön. Weiter nach Westen
finden wir
Bilbao. Sie liegt zwar zwei Stunden vom Meere ent/
fernt, hat aber doch starken Seehandel; denn der Fluß, an dem
sie liegt, ist tief genug, um die Seeschiffe bis nach der Stadt zu
bringen, die in einer wahren Schwcizergegend liegt. Bilbao ist
der wichtigste Seehafen an dieser ganzen Nordküste. Reisen wir
von hier gerade südlich ins Land hinein, so finden wir
Vi ttoria. Die Stadt ist nicht bedeutend; aber wir kennen
sie aus der Geschichte, weil hier der Herzog von Wellington daS
französische Heer am 2lsten Jun. 1813 völlig aufs Haupt schlug *).
Hier werden jährlich drei recht schöne Feste gefeiert, die mehr
Sinn haben als die vielen Heiligenfcste im übrigen Spanien; das
Knaben-, das Mädchen - und das Ehesest. An den dazu bestimm-
ten Tagen ziehen die Familien, die cs feiern — und wer sollte
nicht das eine oder das andere oder alle drei zu feiern Ursache
haben? — festlich geschmückt, auf eine Wiese vor dem Thor.
Man lagert sich dort im Grase unter Bäumen oder Zelten, und
bringt den ganzen Tag in der schönen Natur im Gefühl der rein-
sten Familienfreuden hin. Besonders schön nimmt sich an den bei-
den Kinderfesten der Schwarm der fröhlichen Kleinen aus.
4. Navarra.
Viele Aeste der Westpyrenäen breiten sich über das Land
aus, das bis zum Ebro hinunterreicht. Zwischen ihnen sind
herrliche Thäler, die zu den Pyrenäen ziemlich schroff und immer
enger und enger hinaufsteigen. Unter ihnen ist das schon oben
genannte Thal Nonceval. Die Einwohner sind kühn, kräftig
und gewandt, die besten Läufer, Springer und Battschlägcr
in ganz Spanien; aber ernst, verschlossen, stolz, trotzig, streit-
süchtig und jähzornig. Ungeachtet ihrer Arbeitsamkeit ist der
Anbau nicht so gut als in den drei vorigen Provinzen, weil
die Berge nur zur Viehzucht taugen. Der Hauptort ist
Pamplona, ohne Merkwürdigkeit.
5. Aragon
ist auch bergig, im Norden von den Aesten der Pyrenäen
durchzogen, in der Mitte vom breiten Ebro durchflossen. Ein
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc AuSg.,
Th. 3., S. 418.
296
Das Königreich Spanien.
fruchtbares Land, für jede Cultur geeignet, aber sehr entvöl-
kert, und daher schlecht angebaut. Ueberall sieht man verödete
Dörfer. Die Einwohner sind groß, stark, wohl gebildet, aber auch
stolz und anmaßend, und glauben, daß ihr Vaterland über
alle Länder der Erde gehe. Ihr Aussehen ist ernst und ge-
bieterisch, ihr Ton trotzig und ungestüm, ihr Betragen kalt
und förmlich. Die Hauptstadt ist
Zaragoza (Saragossa), die größte Stadt, die wir bis
jetzt genannt haben, mit etwa 60,000 Einwohnern, in einer rei-
zenden Ebene am rechten Ufer des Ebro. Die Bauart ist sehr
unregelmäßig, die Straßen eng, winklig und schlecht gepflastert,
aber die Häuser groß und ansehnlich. Auch ist hier, wie in Pisa,
ein hängender Thurm, der sich ebenso wie jener auf die Seite
neigen soll. Die Gegend um die Stadt gleicht einem großen,
trefflich angebauten Garten. Im Jahr 1809 wurde die Stadt
von den Franzosen belagert, und wehrte sich mit einer seltenen
Hartnäckigkeit. Die Franzosen setzten alles daran, sie einzuneh-
men, und wandten alles auf, was die Kriegskunst vermochte.
Aber erst nach der wüthendstcn Gegenwehr, nachdem sie Straße
für Straße und Haus für Haus wie eine Festung vertheidigt hatt
ten, ergaben sich die heldcnmüthigcn Einwohner.
6. Catalu na (Catalunja).
Auch hier fast lauter Berge und Thäler. Die Gipfel
jener sind den ganzen Winter mit Eis und Schnee bedeckt.
An der See ist das Wetter so veränderlich, daß man an ei-
nem Tage oft Kälte und Wärme, Regen und Sonnenschein,
den heitersten Himmel und den dicksten Nebel, die größte Tro-
ckenheit und die größte Feuchtigkeit hat. Der größte Theil
des Landes gleicht einem blühenden Garten; denn die Catalo-
nier sind sehr steißige Leute, welche den steinigen Boden mit
großer Sorgfalt anbauen. In allen Thälern finden wir reiche
Olivenpfianzungen, andere Obstbäume, besonders Nuß-, Man-
del-, Orangen-, Citronen-, Feigen- undCastanienbäume. Die
Catalonen haben in ihrem Wesen etwas Rauhes, Barsches und
Heftiges. Sie sind freiheitsliebend, stolz, voll Selbstgefühl,
und große Feinde jeder Willkür und Unterdrückung. Daher auch
die beständigen Unruhen unter der eigenmächtigen Regierung
Ferdinands VII. Sie sind im hohen Grade rachsüchtig, aber
auch die zuverlässigsten Freunde. Ueber alles lieben sie ihr
Das Königreich Spanien.
297
Vaterland, glauben, daß cs nirgends so gut sey als hier,
und verachten daher alle Ausländer. Sie reden eine eigene
Sprache, die fast mehr dem Französischen als dem Spani-
schen ähnelt. Die größte Stadt ist
Barcelona an dem mittelländischen Meere, eine große
Stadt von wohl 140,000 Menschen, also eine der größten in
ganz Svanien. Sie liegt in einer Ebene, von niedrigen Bergen
eingeschlossen, und nur nach der Sec zu offen. Südwestlich von
der Stadt liegt auf einem hohen Berge das Fort M ont-Jouy,
Las eine weite, herrliche Aussicht über die Stadt, den Hafen und
das Meer gewährt. Großentheils ist Barcelona recht schön ge-
baut; die meisten Hauser sind neu, obgleich nicht prachtvoll, keine
Palläste, wie man sie in den Städten Italiens findet. Die mei-
sten sind 4 — 5 Stock hoch, und alle Fenster niit Balcons verse-
hen. Die Straßen find enge und winklig, besonders in dem hö-
heren Theile der Stadt; besser sind sie in der Nähe des Gesta-
des. 'Neben der Stadt liegt eine andere kleinere, Barcelo-
netta, sonst eine wüste Sandfiäche, und erst seit etwa 80 Jah-
ren angelegt. Hier durchschneiden sich alle Straßen in rechten
Winkeln; sie sind breit, gerade, und die Häuser völlig gleichför-
mig, so daß das Auge bald ermüdet wird, und man kaum die
eine Straße von der andern unterscheiden kann. Das Wetter ist
in Barcelona höchst veränderlich und feucht, besonders im Winter
und Frühling. Der häufig wehende Ostwind jagt die Regenwol-
ken vom Meere herüber, so daß man keinen Tag vor Regen sicher
ist. Die Gegend umher ist recht schön. Wohin man sich auch
wenden mag, überall findet mau die üppigste Vegetation, überall
Schatten und Kühlung. Der ganze Raum von den Thoren der
Stadt bis zu den sie umgebenden Anhöhen ist mit Landhäusern be-
deckt, von denen die, welche an den Bcrgabhängen liegen, eine
höchst liebliche Aussicht über die ganze Ebene und das Meer ha-
ben. Die Einwohner lieben, ganz gegen die Gewohnheit der
Südländer, das. Landleben ungemein, und bringen wenigstens ei-
nige Tage in der Woche auf ihren Torres — so nennen sie die
Landhäuser — zu. Sehenswerth sind hier besonders die kirchli-
chen Feierlichkeiten, die, am meisten in der Charwoche, mit gro-
ßem Glanze begangen werden. Alle Kirchen und Capellen sind
dann festlich mit Wachskerzen erleuchtet, die vom Gründonners-
tage bis zum Ostersonnabende unaufhörlich brennen, und einen
schönen Anblick, am meisten in der Domkirche, gewähren. Ebenso
die feierlichen Prozessionen an allen hohen Festtagen. Stunden-
lang ziehen sie in der Stadt herum, und Personen aller Stände
nehmen in großer Menge daran Antheil. Einige sind schwarz ge-
kleidet, die anderen haben sogenannte Pönitenlcnsäcke an. Das
sind eine Art Hemden von schwarzer Glanzleinwand, vorn über
298
Das Königreich Spanien.
dem Gürtel offen, mit einer großen Schnur um den Leib festge-
bunden, von der ein Rosenkranz herunterhängt. Hinten haben sie
eine lange Schleppe von wenigstens 5 Fuß. Recht abenteuerlich
sind dabei die Kopfbedeckungen. Einige Leute haben vorn die
Haare zierlich frisirt, die hinten lang herunterhängen; Andere ha-
ben auf dem Kopfe eine schwarze Kappe, die vorn über das
Gesicht bis auf die Brust und hinten den Rücken herabhängt;
für die Augen sind zwei Löcher geschnitten. Die Adelichen ha-
ben das Vorrecht einen Dolch im Gürtel zu tragen, und hinter
sich Lievreebedicnten zu haben. Alle tragen weiße Wachskerzen in
der Hand, und schreiten Paar an Paar hinter einander her, und
zwar wegen der langen Schleppen in weiten Zwischenräumen.
Manche Pönitenten gehen sogar barfuß, oder sind mit schweren
Ketten belastet, oder tragen die verschiedenen Marterwerkzeuge
des Heilandes in den Händen. Zwischen ihnen werden ungefähr
30 schön verzierte, mit langen Decken behängte Gerüste getragen.
Auf ihnen befinden sich Figuren von Holz oder Pappe, welche die
Lebens- und Leidensgeschichte Jesu darstellen. Ob das eine wür,
dige Feier des Erlösers ist? — Es dauert wohl an zwei Stun-
den, ehe eine solche Prozession vorübergezogen ist, und an
30,000 Wachskerzen werden dabei verbrannt. Am imposante-
sten ist die Prozession am Frohnleichnamstage; nur fehlt es da-
bei ganz an kirchlicher Würde. Sobald nämlich die Glocken
anfangen zu läuten, entsteht auf allen Straßen, in allen
Gewölben, in allen Häusern der furchtbarste und verwirrteste
Lärm, den man sich denken kann. Alles schreit, schließt, wirft
mit Schwärmern umher, so gut Jeder kann. Diese Feste sind
darum in Barcelona bedeutender als anderswo in Spanien, weil
hier die Menschen den größten Hang zu Vergnügungen jeder Art
haben, eine Folge der hier allgemein herrschenden Wohlhabenheit.
Denn es wird hier ein sehr bedeutender Handel getrieben, und zu-
gleich werden viele Seidenzcuche, Bänder und Borten gewirkt.
Man sieht hier fast lauter wohlgekleidete Menschen, was in kei-
ner einzigen andern spanischen Stadt der Fall ist. — Eine vor-
zügliche Merkwürdigkeit Cataloniens ist der
Montserrat, ein sonderbarer Berg, von Barcelona nord-
westlich. Ganz einzeln, mitten in der Ebene, steht er da wie
eine kahle, zackige Wand mit seltsam geformten Spitzen und Ecken.
Ein wenig über der Mitte des Berges steht, ganz am Abhange,
an der überhängenden Felswand gelehnt, ein großes Kloster, zu
dem in Schneckcnlinien rings um den Berg herum zwei Wege
hinauf führen, einer für Fußgänger, der andere für Wagen, bei-
de in den Felsen gehauen. Auf die Höhe kann man von der Län-
ge der Zeit, die man dazu braucht, schließen. In zwei Stun-
den kann man zu Fuß das Kloster erreichen; zu Wagen hat man
dazu mehr als einen halben Tag nöthig. Ist man endlich oben.
Das Königreich Spanien.
299
so findet man ein weitläuftiges Klostergebäude, dessen eine Seite
an dem furchtbar schroffen Abgrunde steht. Etwa 250 Menschen
wohnen in dieser schauerlichen Einöde. Das Kloster ist uralt, und
sein Ursprung in Mährchen und Sagen gehüllt. In der Kirche
wird ein angeblich wunderthätiges Marienbild aufbewahrt, zu dem
unzählige Pilger wallfahrten. Täglich ist die Kirche mit 40 gro-
ßen silbernen Lampen erhellt, und nie wird sie von Wallfahrern
leer, die das über dem Altare in einer Nische stehende, an Hän-
den und Gesicht schwarze Marienbild anbeten. Vor dem Kloster-
thore windet sich eine schmale und enge Felsentreppe hinauf, die
Einsiedlerleiter genannt. Sie ist zum Theil sehr steil, und führt
zu den 13 Einsiedeleien, die wie Adlernester auf den Spitzen des
Felsens kleben. Zede Einsiedelei besteht aus mehreren Zimmerchen
und Kapellen, und hat sogar ein Gärtchen davor, alles in den
Felsen gehauen. Das Leben der Einsiedler ist ungemein beschwer-
lich. Beständig sind sie dem Winde und dem Regen ausgesetzt;
fast den ganzen Tag bringen sie mit Gebet und Bußllbungen zu,
und nur selten sieht einer den andern; noch seltener kommen sie
ins Kloster herab. Ein Maulesel bringt ihnen ihre Kost, die
sehr einfach ist, da sie nie Fleisch essen dürfen, und fast nur
von Brot, Wasser und Früchten leben. Die Höhe des Berges
beträgt gegen 4000 Fuß.
7. Valencia.
Dies ist ein so schönes Land, daß man cs den Garten
von Spanien nennt. Dabei ein fast immer heiterer Himmel.
Reif und Nebel kennen die Einwohner nur der Beschreibung
nach. Ucberall sieht man den herrlichsten Anbau, die üppigste
Fruchtbarkeit, die reizendsten Frucht - und Gemüsegarten; es ist,
als wenn man durch einen beständigen Garten reiste. Zwi-
schen den lieblichsten Baumgruppcn liegen niedliche Dörfer;
und besonders malerisch sind die Thaler, die sich von der See
nach dem Gebirge hinziehen. Wie köstlich ist der Wein, der
hier wächst! Große Trauben von 0 —14 Pfund ziehen die Ne-
ben fast zu Boden, und geben Wein und Rosinen. Mandeln,
Feigen, Datteln und alle herrlichen Früchte des Südens wach-
sen hier im Ueberstuß. Die Valcncianer sind ein sehr thäti-
ges und gewandtes Volk, und die Provinz recht das Vater-
land der Seiltänzer und Luftspringcr. Die vorzüglichsten Kunst-
stücke, die wir bei den herumziehenden Seiltänzern bewundern,
z. B. der Eiertanz, die Mcnschenpyramide, der Salto mor-
300
Das Königreich Spanien.
tale u. s. w., sind hier erfunden worden. Dabei sind die
Valcnci'aner sehr heiter, vergnügungssüchtig, und Freunde von
Musik und Tanz; lebhaft, witzig, zuvorkommend, leichtsinnig
und veränderlich; heute können sie freundlich, und morgen
mvrdsüchtig seyn. Die geringste Beleidigung reizt sie zur glü-
hendsten Nachsucht; daher kommen so viele Meuchelmorde vor,
daß man im Durchschnitt auf jeden Tag einen rechnet.
Valencia heißt auch die Hauptstadt. Sie liegt eine halbe
Meile vom Meere entfernt, ist groß (90,000 Einw.) ; die Stra-
ßen der eigentlichen Stadt sind zwar eng und winklig, aber die
der weitläuftigen Vorstädte breit, regelmäßig und freundlich. Sie
hat Las Eigenthümliche, Laß die Straßen nicht gepflastert, son-
dern mit feinem Kies bestreut sind; aber sie sind dessenungeachtet
reinlicher als in den meisten andern spanischen Städten. Valencia
hat eine der schönsten Promenaden, die man irgendwo nur sehen
kann. Das ist die A lo meda. Sie befindet sich außerhalb der
eigentlichen Stadt, am jenseitigen User des vorbeifließenden Flus-
ses, und wird von den herrlichsten Platanen, Orangen - und Ci-
lronenbäumen beschattet. Sie bilden mehrere Baumgänge längs
dem Flusse. Der mittelste ist nur für Wagen bestimmt, und
von herrlichen Fußwegen mit Marmorbänken eingefaßt. Beson-
ders prachtvoll ist es, wenn die zahlreichen Granatenbäume blü-
hen, und zwischen den herrlichen rothen Blüthen Cyprcssen, Pal-
men, Pappeln und die schönsten südamerikanischen Bäume hervor-
ragen. Selbst im December kann man hier unter den grünen
Schatten des Frühlings wandeln, und selbst nach Sonnenunter-
gang fühlt man hier weder Kälte noch Feuchtigkeit.
Um das Volksleben in Spanien, und namentlich in Valen-
cia, beurtheilen zu können, mag hier die Beschreibung des Fe-
stes des heiligen Vincenz stehen, welcher der Schutzheilige
der Stadt ist, und daher in großen Ehren steht. Zuerst wird in
der einen Kirche ein ordentliches Theater gebaut, auf dem man
die Taufe deö Heiligen vorstellt. Dies geschieht Lurch Marionetten
in Lebensgröße. Da sieht man den Pfarrer, seinen Caplan, zwei
angesehene Taufzeugen, von denen der eine das Kind aus den Ar-
men trägt, eine Dame als Pathe, die Hebamme, den Vicckönig
und dessen Frau, noch 10 andere Damen als Gäste, einen Neger
und eine Negerin als Bediente, alle aufs prächtigste ausstaffirt,
die Damen mit reichen Ohrgehängen, Halsketten und Armbän-
dern und in französischer Kleidung, den Vicekönig in einem blauen,
mit Silber galonirten Kleide u. s. w. Dies Theater wird dem
herbeiströmenden Volke drei Tage nach einander gezeigt, und da-
bei ist die Kirche voll unzähliger Victualienhändler, die reichen
Absatz haben. Außer dieser unwürdigen kirchlichen Feier werden
noch in den Straßen, besonders an den Ecken, viele größere und
DaS Königreich Spanien.
301
kleinere Altäre gemacht, bei denen wieder andere Marionettenspiele
gehalten werden, und beständig Musik gemacht wird» Drei dar-
unter zeichnen sich besonders aus. Wir wollen hier nur die Vor-
stellung auf dem einen dieser Altäre als Probe schildern. Es
wurde die Auferweckung zweier geschlachteter Kinder vorgestellt.
Das Theater stellte ein bürgerliches Zimmer mit einem gedeckten
Tische vor, auf welchem Brot, Wein und eine Terrine standen.
Zn dieser Terrine befanden sich, der Legende gemäß, die eigenen
Kinder des Hauswirths, welche dieser als das Köstlichste, was
er hatte, dem eingeladenen Heiligen als Fleischspeise vorsetzen
wollte. Der heilige Vincenz, eine lebensgroße Puppe, fand den
Wirth sehr betrübt, und als er die Ursache erfahren hatte, nä-
herte er sich dem Tische, segnete die Terrine ein, und augenblick^
sich sprangen die Kinder neubelcbt, gesund und frisch wieder her-
aus, tanzten auf dem Tische herum, umhalseten die Eltern, den
Heiligen, dessen Begleiter und eine Magd, die indessen mit einer
Pastete hereingetreten, und vor Erstaunen unbeweglich stehen ge-
blieben war. Voll Dankbarkeit bot sie jetzt dem Heiligen die Pa-
stete an, und siehe da! es ereignete sich ein neues Wunder. Der
Heilige machte nämlich ein Kreuz über die Pastete; sogleich 'off-
nere sich dieselbe, und eine darin befindliche gekochte Taube wurde
ebenfalls wieder lebendig, und flog mit klatschenden Flügeln auf
und davon. Dergleichen alberne Geschmacklosigkeiten kommen auf
allen Altären vor, und werden die drei Tage hindurch von dem
gaffenden Volke mit Bewunderung und Entzücken angestaut. Ebenso
sind die Prozessionen an diesem und an andern Festen das bunteste
Gewühl, daß man sich nur denken kann. Einige stellen die Ge-
schichte Jesu in den groteskcsten Aufzügen dar. Andere haben
sich aufs fratzenhafteste maskirt. Die heiligsten Personen und Ge-
genstände werden auf die krasseste Weise dargestellt. Einer stellt
Gott, ein Anderer Jesus, Andere die Apostel dar, und zwar in
den lächerlichsten Verkleidungen, und an diesen anstößigen Aufzü-
gen nimmt die Geistlichkeit, der Magistrat und das ganze Volk
Theil, und Alle glauben, ein recht frommes Werk zu thun. So
steht es in Spanien mit der religiösen Ausbildung! Was würden
Jesus und die Apostel zu solchem abscheulichen Wesen dieser Leute
sagen, die da behaupten, daß ihr Glaube der alleinseligmachende
sey? — Noch ärger ist der Unfug am Frohnleichnamsfeste. Den
Abend vorher finden mehrere sonderbare Gebräuche statt. Unter
der schallenden Musik von Oboen, Trompeten und Tambourins
rennt ein Haufen von Masken auf den Straßen umher, und stellt
den Kindermord von Bethlehem vor. Ferner sieht man die heilige
Familie nach Aegypten ziehn. Ein als Frau verkleideter Kerl
stellt die Jungfrau Maria vor; er sitzt auf einem Esel, und hält
das Jesuskind im Arm. Joseph führt den Esel an einem Strick.
Ist dieser Zug vorbei, so erscheint ein Schwarm von Henkers-
302
Das Königreich Spanien.
knechten, die, mit Säbeln, Messern, Beilen u. dergl. bewaffnet,
alle Vorübergehende anfallen, sie zu ermorden drohen, ihnen die
Waffen auf die Brust setzen, und allerhand Neckereien vornehmen.
Am eigentlichen Feste erscheinen zuerst 6 große Karren, jeder mit
6 Maulthieren bespannt, die mit vielen bunten Bändern ausge-
putzt sind. Auf jedem dieser Karren befindet sich ein Theater mit
der ganzen Zurüstung von Vorhängen und Coulissen. Auf dem
ersten wirb die Schöpfung aufgeführt. Man sieht, wie Adam aus
einem Erdenklos geformt, und Eva aus seiner Nippe gebildet
wird. Die Schlange kommt, verführt die Eva zum Genuß des
Apfels, worauf der Engel mit flammendem Schwerte, und zuletzt
Gott selbst erscheint. Dies alles führen wirkliche Personen auf,
die dazu phantastisch angezogen sind. Auf den andern Theatern
sieht man ähnliche Scenen oder pantomimische Tänze aufgeführt
werden. Dergleichen Unsinn kam bei uns auch wohl vor, aber
im l4ten und I5ten Jahrhundert; doch im löten dergleichen noch
zu sehen, ist freilich etwas arg, und zeugt von der niedrigen
Stufe, auf welcher in Spanien die Bildung, namentlich die re-
ligiöse, steht.
Eine andere Narrheit findet man hier im geselligen Umgänge,
die von der geringen Bildung auch der höheren Stände einen Be-
weis giebt. Die Stände nämlich sind schroff von einander durch
kindischen Stolz und Vorurtheil geschieden. Der Adel theilt sich
in drei Klasien nach seinem Alter; zur untersten gehören die, wel-
che ihre Ahnen noch keine 200 Zahre hinaufführen können, und
kein Edelmann würde es sich vergeben, und wenn er noch so arm
wäre, mir einem andern aus einer niedrigeren Klasse umzugehen.
Ueberall erblickt man den elendesten Stolz und Dünkel, nirgends
aber Verdienste und Vernunft. Der Abel verwendet seine Ein-
künfte auf einen ungeheuren Bedientenschwarm, auf kostbare Klei-
der , prächtige Equipagen und einen Haufen von Geistlichen, die
zu seinem Gefolge gehören, und hat daher nichts übrig für das,
was Lebensgenuß giebt. Man erstaunt, in den ersten Hausern
nichts als Strohstühle und den allerelcndesten Hausrath zu sehen.
Weit angenehmer leben die Kaufleute, die nicht sowohl auf den
elenden Prunk als auf häusliche Annehmlichkeit sehen, aber von
dem Abel kaum über die Schultern angesehen werden. Die Wei-
ber aller Stände zeichnen sich durch Aufwand in Kleidungsstücken
und durch Faulheit aus. Sie sind zwar den ganzen Tag auf den
Beinen, weil sie sehr lebhaft sind, aber sie thun nichts als in
den Kirchen umherlaufen, den Rosenkranz beten, an den Festen
Theil nehmen und sich putzen. Die Prachtsucht zeigt sich beson-
ders bei Hochzeiten, die mit großer Verschwendung begangen wer-
den, so daß sich mancher Vater durch die Aussteuer seiner Tochter
für immer in Armuth stürzt. Die ganze Ausstattung wird in ei-
nem Saale zur Schau ausgestellt, und von einer Verwandtin den
Das Königreich Spanien.
303
herbeiströmenden Besuchern Stück für Stück gezeigt. -- Reisen
wir von Valencia südlich an der Seeküste hin, so kommen wir
nach
Alicante, nächst Cadiz und Barcelona der ansehnlichsten
Seehandelsstadt Spaniens. Sie liegt in der Gestalt eines Halb/
mondes längs dem Busen, und erhebt sich hinten bis zu mehreren
Anhöhen. Die Bauart ist schlecht, die Häuser unansehnlich, und
die Straßen eng und winklig; aber die Umgebungen äußerst rci/
zend. Wunderlieblich sind die Thäler voll Weinreben, Pome/
ranzen/, Citronen-, Feigen-, Mandeln/, Aprikosen/, Pfirsich-,
Granaten- und andern herrlichen Obstbäumen, die sich die Berge
hinanziehen. Ueberall sieht man zwischen diesen Obstwäldchen
freundliche Häuser stehen.
8. Murcia
ist ein heißes und trocknes Land, aber der Himmel so schön,
als man ihn sich nur denken kann; der Winter so gelinde, das;
man selten auf Erwarmungsmittel zu denken braucht, der Som-
mer glühend heiß, aber der Herbst entzückend schön. Nebel
sind hier ganz unbekannt, und es kommen Jahre vor, wo cs
auch nicht ein einziges Mal regnet. Die Hitze äußert ihren
Einfluß auf die Einwohner, die unbeschreiblich trage sind;
daher ist auch das Land wenig angebaut. Cs könnte so herr-
liche Früchte hervorbringen, wenn die Einwohner der Natur
nur etwas zu Hülfe kamen; aber die Murcianer geben sich
kaum die Mühe, das nothdürftigste Getreide und Gemüse an-
zubauen. Der reiche Murcianer setzt sein höchstes Glück in —
Nichtsthun. Essen, Trinken, Rauchen, Stillsitzen und Schla-
fen wechseln mit einander ab. Er steht spat auf, frühstückt
seine Chocolade, geht in die Messe, ißt einen Salat, und
raucht dann bis zum Mittagstisch. Dann hält er eine lange
Siesta, worauf eine Taffe Chocolade und ein Glas Eiswasser
folgt. Jetzt macht er einen kleinen Spatziergang, setzt sich
bald wieder, um zu rauchen, bis endlich das Abendessen und
der Schlaf das mühvolle Tagewerk beendigt. Das Alles ge-
schieht mit unendlicher Gravität, und ist der Cigarro einmal
angebrannt, so könnte die Welt vor ihm untergehen, er würde
sich nicht rühren. Nicht viel besser machen es die mittleren
und die ärmeren Klaffen. Auch sie frühstücken zweimal, hal-
-
304
Das Königreich Spanien.
ten eine lange Siesta, gehen spät an die Arbeit, und zeitig
wieder davon, und rauchen dazwischen ihre Cigarren mit mög-
lichster Behaglichkeit. Sie lassen sich durch die kleinste Stö-
rung in ibrcr Arbeit unterbrechen, nehmen mit unbeschreibli-
cher Langsamkeit eine Prise Taback, und fahren dann erst lang-
sam in ihrer Arbeit fort. Selbst die Landleute sicht man fast
den ganzen Tag müßig sitzen und rauchen. Aber die Frauen?—-
Die machen es nicht besser, um die Männer nicht zu beschä-
men. Selten oder fast nie sicht man eine vornehme Murcia-
nerin sich mit einer Nadel- oder Strickarbeit beschäftigen. Ihr
größtes Vergnügen besteht in — Essen, Schlafen und Nichts-
thun. Unaufhörlich tragen sie ihre lang herabhangenden Ro-
senkränze mit sich herum. Die Weiber der ärmeren Klassen
lassen eben so gern die Hände ruhen, und viele Dicnstmägde,
die sich ein paar Piaster erspart haben, gehen während des
Sommers aus dem Dienst, und begnügen sich lieber mit Sa-
lat und Melonen, als daß sie Arbeit verrichten. Daher ist
das Leben aller Stände hier höchst einförmig und traurig.
Musik und Tanz kommen hier wenig vor; ja selbst der sonst
in Spanien vorkommende Luxus in Kleidern und Speisen ist
hier weniger, weil die Menschen selbst dazu zu faul sind. Nur
in der Hauptseestadt Carthagcna ist ein angenehmes, geselliges
Leben, weil da viele fremde Familien, Engländer, Italiener,
Franzosen und Deutsche sich aufhalten. Die Hauptstadt ist
Murcia (Murßia), in der Mitte eines großen herrlichen
Thals, das nach Norden, Westen und Süden offen, nach Osten
aber in einer meilenweiten Entfernung von hohen, steilen und kah-
len Bergen eingeschlossen ist. Sie ist ziemlich groß, aber schlecht
und eng gebaut, und die vielen engen Straßen und Gasten bil-
den ein solches Labyrinth, daß man sich kaum herausfinden kann.
In den glühenden Sommermonaten hält sich Jeder am Tage in
seinem dichtverschlossencn Zimmer auf, und darf nur des Abends
die Fenster öffnen. In den heißen Mittagsstunden würde man
auf freier Straße leicht vom Sonnenstich getroffen werden. Von
Geselligkeit ist hier keine Spur; Jeder lebt still für sich in seinem
Müßiggänge. Laßt sich einmal ein Fremder sehen, so staunen ihn
anfangs die Einwohner als ein Wunderthier an, und sind sie sei-
nes Anblicks gewohnt, so fliehen sie ihn als einen Pestkranken.
Alle sind unglaublich abergläubisch, unwissend, träge und in sich
gekehrt. Zeder betrachtet den Andern als seinen Feind, und sorgt
Das Königreich Spanien.
305
nur für sich. Einem ändern gefällig zu seyn und zu helfen, würde
Keinem einfallen. — Gerade südlich liegt am Meere
Carthagena, eine alte berühmte Handelsstadt, in einer
sehr schönen Gegend, am Abhange eines Hügels, die Straßen
sind meist breit, die Hauser bequem, und haben platte Dächer,
auf denen sich die Einwohner des Abends versammeln, um sich
von den kühlen Seewinden anwehen zu lassen. Der Hafen ist
tief und rund, ringsum von Bergen umgeben, und da er ein
Kriegs Hafen ist, so finden wir hier Schiffswerfte, Docken,
Magazine, Zeughäuser u. Lergl.
9. Granada.
ist die südlichste Provinz. Voll hoher Gebirge und herrlicher
Thäler; jene sind im Winter kalt und voll Schnee, diese desto
milder und angenehmer, und überhaupt ist hier die Hitze nicht
so arg als in Murcia. Zn Granada hielten sich die Mauren
am längsten auf, und da dies Volk ftcißig und thätig war,
so ist auch hier der Anbau viel besser als in der vorigen Pro-
vinz *). Die Einwohner sind sehr lebhaft, auffahrend, trotzig und
thun gern groß, aber auch arbeitsam, und die Frauen beson-
ders sehr schön. Die Hauptstadt ist
Granada, am Fuße eines hohen Gebirges in einer Herr/
lich angebauten Ebene. Die eigentliche Stadt, die schöne Häu,
ser, große Plätze, schöne Gärten und viele Springbrunnen hat,
liegt tief, an einem Flusse und zwischen benachbarten Hügeln.
Auf dem einen derselben liegt der Alhambra. Dies ist ein
großer maurischer Pallast, in dem einst die arabischen Könige von
Granada residirten. Eine lange, sich schlängelnde Ulmenallee führt
von der Stadt hinauf. In ihrer Mitte steigt aus einem Spring,
brunnen ein hoher Wasserstrahl in die Höhe, der sich über die
Bäume erhebt. Auf der Höhe des Berges angelangt, tritt uns
zuerst der neue Pallast entgegen, den Kaiser Karl V. erbauen
ließ. So schön sich auch das große viereckige, aus lauter -2.ua,
dcrn aufgeführte Gebäude ausnimmt, so verfällt es doch schon
nach und nach, weil es nicht unterhalten wirb. Bald dahinter
sehen wir Len Alhambra, der mit dicken Mauern und Thürmen
umgeben ist. Der erste Hof, in Len wir durch einen großen vier,
eckigen Thurm treten, ist ein längliches Viereck, mit weißem Mar,
mor gepflastert und mit einem herrlichen Säulengange umgeben,
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen,
Th. 2,, S- 13 u. 218.
Rössel ts Geographie II.
2teAusg.,
20
306
DaS Königreich Spanien.
alles herrlich verziert und mit arabischen Inschriften bedeckt. Zn
der Mitte des Hofes ist ein weites marmornes Bassin mit fließen/
dem Wasser, an dessen Seiten Blumenbeete und Orangenalleeu
hinlaufen. Auch der zweite Hof bildet ein längliches Viereck, daS
mit reichverzierten Säulenhallen umgeben ist. In der Mitte ist
abermals ein Bassin mit einer prächtigen Kuppel von Alabaster.
Das Schloß selbst enthält eine Menge Zimmer; jedes hat seinen
Alkoven mit einem Springbrunnen. Noch höher als der Alham-
bra, auf der Spitze des Berges, liegt ein altes maurisches Lust,
schloß. In dem Garten plätschern unzählige Springbrunnen; ei/
ner derselben erhebt seinen armdicken Strahl bis über das Dorf
des Schlosses; Lickbelaubte Bäume geben einen köstlichen Schat,
ten, und die Aussicht auf die Stadt und die weite, bergbekränzte
Ebene ist wunderschön. Um Granada herum ist die hügelreiche
Gegend herrlich bebaut, reich an Goldfrüchten, und selbst Zucker-
rohr kommt hier fort. — Südwestlich liegt
Malaga, im Hintergrund einer Bai, also am Meere,
nach Norden von Bergen begränzt, eine enggebaute, unregelmä-
ßige, winklige Stadt mit sehr hohen Häusern. Das Klima ist
hier wunderschön, und der Handel, den Malaga mit Wein, Ro-
sinen, Feigen und Sardellen treibt, ist sehr ansehnlich. Die Ein/
wohner zeichnen sich durch Höflichkeit und Gastfreundschaft, die
Frauen durch Schönheit und Grazie aus, und alle leben recht ge-
sellig mit einander, ganz das Gegentheil von Murcia.
10. A n d a l u s i a,
nebst Granada das südlichste spanische Land, vom Guadalqui-
vir durchströmt, von der Sierra Morena im Norden begränzt,
ist ein herrliches, fruchtbares und nicht zu heißes Land.
Sanfte Hügelreihen durchziehen es; die Orangen- und Eitro-
ncnbaume bilden hier ganze Wälder, die oft kein Sonnen-
strahl durchdringcn kann, und in den Thälern findet man ei-
nen trefflichen Anbau; nur die ebenen Gegenden sind meisten-
theils öde und wüst. Die schönen andalusischen Pferde sind
schon oben gerühmt worden. Die Einwohner sind höchst le-
bendig, und darin mit den Italienern zu vergleichen, nur viel
stolzer und gravitätischer. Ihre Sprache, ihr ganzer Ton,
ihre Gebchrden, ihre Tracht, kurz ihr ganzes Wesen verräth
großen Hang zur Großthuerei, noch mehr als bei den Ein-
wohnern von Granada. Sie reden unaufhörlich von sich
selbst und ihren Thaten, lügen unverschämt, werden aber sehr
Das Königreich Spanien.
307
kleinlaut und bescheiden, wenn man ihnen Widerstand zeigt.
Zuerst besuchen wir
Gibraltar, Las den Engländern gehört. Kommen wi zu
Lande an, so muffen wir, ehe wir die auf einem steilen Felsen
gelegene Festung erreichen, erst die spanische Linie passiren. Wir
gehen dazu auf einer sandigen Landzunge fort, die auf der einen
Seite vom mittelländischen, auf der andern vom atlantischen Meere
bespült wird, und erreichen endlich jene Linie, welche aus einer
doppelten Mauer besteht, die von einem Meere bis zum andern
reicht. So wie wir hier durch sind, sehen wir unzählige Kano-
nenmündungen, die überall aus den Batterien des vor uns lie-
genden Felsens hervorragen, auf uns gerichtet sind, und uns zer-
schmettern würden, wenn wir uns als Feinde näherten. Die
Batterien stehen vom Fuße des Felsens bis zum Gipfel über ein-
ander, so daß der Felsen ganz ausgehöhlt zu seyn scheint. Dieser
reicht etwa eine Stunde weit ins Meer hinein, und ragt aus
demselben 1400 Fuß empor. An seinem Fuße liegt die Stadt
Gibraltar. Sie ist zwar nur klein, aber recht schön, und zwar
ganz auf englische Art gebaut; nur sieht man hier noch einmal
so viele Soldaten als bürgerliche Einwohner. Die Hauptstraße,
welche die Stadt durchschneidet, und über eine halbe Stunde lang
ist, sieht einer englischen Straße so ähnlich, daß man sich mit
einem Male nach London versetzt glaubt. Man sieht dieselben
netten Fußsteige, dieselben schmalen Häuser, dieselben kleinen
Hausthüren und hohen Gewölbfcnster, denselben Reichthum der
Waaren, dasselbe Getümmel, dieselben Menschen und Karren, und
hört dieselbe Sprache. Sonderbar ist aber die Gewohnheit, alle
Häuser schwarz anzustreichen, und nur die Stockwerke durch weiße
Q-uerstreifen zu unterscheiden. Der Grund davon soll seyn, um
den Widerschein der Sonnenstrahlen zu verhindern (?). Sobald
es dunkel geworden ist, stehen überall Posten aus; Patrouillen ge-
hen in den Straßen umher, und kein Einwohner darf ohne La-
terne ausgehn. Es wird hier ein starker Schleichhandel nach den
spanischen Küsten getrieben. Wir steigen durch die Stadt den
Felsen hinauf.^ Bekanntlich gehört diese, jetzt wohl nicht mehr
zu erobernde Felsenfestung den Engländern seit 1704, wo sie die-
selbe durch Ueberrumpelung einnahmen. Es ist wahrlich zu be-
wundern , mit welcher ungeheuren Arbeit hier alles: Wege, Bat-
terien, Wohnungen, Kasematten und Kasernen, in den Felsen ge-
hauen lind. Ganze Reihen hoher Gewölbe, so geräumig, daß die
ganze Garnison darin Platz hat, laufen rings um den Felsen, und
eine kostbare Wendeltreppe, die auch bedeckt ist, verbindet alle
Gallerien und Batterien, so daß der Gouverneur sogar zu Pferde,
ohne vom Feinde gesthen oder beschossen zu werden, von eurem
Posten zum andern kommen kann. Ganz oben auf des Felsens
Spitze steht eine Art Wartthurm, von dem man eine weite Herr-
20 *
308
Das Königreich Spanien.
liche Aussicht nach beiden Meeren und nach dem jenseitigen Afrika
hat. Am Abhange des Berges findet man recht niedliche Land«
Häuser, zum Theil mit kleinen Garten umgeben. — Jetzt reisen
wir längs der Secküste nach Nordwesten hin, und kommen nach
dem Vorgebirge
Trafalgar, wo j805 Nelson den großen Seesieg über
die vereinigte Flotte der Spanier und Franzosen erfocht *). Wei-
terhin finden wir
Cadiz (Kadis). Zuerst fuhrt uns eine Brücke nach einer
Insel, der Isla de Leon, auf der eine Stadt gleiches Namens
liegt, die recht groß ist. Wir fahren durch die fast 2 Stunden
lange Hauptstraße, die auf beiden Seiten mit Kaufmannsläden
eingefaßt ist. Ein schöner, sehr lebhafter Weg führt von da noch
eine und eine halbe Meile auf einer schmalen, sandigen Land-
zunge bis nach Cadiz, das wie auf den Fluthen zu schwimmen
scheint. Die Stadt hat ein sonderbares, fremdartiges Ansehen.
Die Häuser haben nämlich sehr hohe Stockwerke, dabei schmale
Fenster, und die platten Dächer sind mit Blumenbeeten und mit
Thürmchcn geziert. Die Straßen sind weder eng noch breit, sehr
reinlich, das Pflaster gut, und man merkt überhaupt bald, daß
man sich in einer Stadt befinde, in welcher sich viele Ausländer
aufhalten. Sie hat an 80,000 Einwohner. Ueberall hört man
nicht bloß Spanisch, sondern auch alle übrige europäische Spra-
chen reden; denn es halten sich hier Kaufleute aller Nationen auf,
und keine Stadt Spaniens treibt so starken Handel als sie. Der
gesellige Ton ist hier sehr angenehm; Bälle, Landparthien, Ter-
tulias (Abendgesellschaften) wechseln mit einander ab. Einen
sehr empfindlichen Mangel hat die Stadt: sie hat kein trinkba-
res Wafier. Man sanimelt zwar jeden Tropfen Negenwasser;
aber es wird bald ungenießbar, und so muß man das Trinkwaffer
für vieles Geld vom Lande herüberkonunen lassen. Eine Menge
von Wein, Oel, Früchten und Salz wird aus Cadiz ausgeführt.
Besonders lebhaft ist der Handel mit Havannah auf der Insel
Cuba in Amerika, aber auch mit den europäischen Häfen. Die
Tertulias sind hier fast so, wie in Nom die Converjazioni. Wer
einmal der Frau vom Hause vorgestellt worden ist, kann täglich
kommen. Es herrscht dabei keine Etiquette; man kommt und geht
wenn man will. Wenn die Unterhaltung stockt, so nimmt man
zur Guitarre oder zum Clavier seine Zuflucht. Wenige Damen
verstehen viel Musik, aber sie singen schön.
Die Spanier in Cadiz sind zwar viel leichtsinniger als an-
derswo , vielleicht durch die Schuld der vielen Fremden; aber das
hindert sie nicht; die Gebrauche ihrer Kirche mit der größten
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg-,
Th. 3-, S. 389.
DaS Königreich Spanien.
309
Strenge zu beobachten, und dadurch schon glauben sie den Dei-
fall Gottes hinlänglich zu erwerben. Was dabei besonders auf-
fällt, ist, daß sic Gott und Jesus ihre Majestät nennen. Wird
ein Geistlicher zu einem Kranken gerufen,' ihm das heilige Abend-
mahl zu ertheilen, so läßt er sich in einer Sänfte hintragen.
Vorauf geht der Küster mit einer Glocke. Sobald diese auf der
Straße ertönt, so ruft jeder: „Dios, su mayestad!“ (Gott,
Ihre Majestät!), kniet augenblicklich nieder, und schlägt an seine
Brust. Sogar in jeder muntern Gesellschaft verstummt der Scherz
augenblicklich, und jeder stürzt auf die Knie, bis sich das Klin-
geln in der Ferne verliert; dasselbe geschieht, wenn man bei Ti-
sche sitzt, und wer im Bett liegt, muß sich wenigstens aufrichten.
Am sonderbarsten erscheint die Wirkung der Klingel im Schau-
spielhause. Kommt der Geistliche bei demselben vorbei, so tritt
die draußen stehende Wache ins Gewehr, die Trommel wird ge/
rührt, und alle Soldaten fallen auf das rechte Knie. So wie
man die Trommel im Schauspielhause Hort, erschallt von allen
Seiten der Ruf; „Dios! Dios!u (Gott! Gott!), und Zeder
kniet nieder, wo er steht. Die Stimmen der Schauspieler, das
Klappern der Castagnetten beim Fandango verstummt so lange,
bis man die Klingel nicht mehr hört. Dann aber setzen die Schau-
spieler mit dem vorigen Lärm die Unterhaltung fort. Das heißt
Gottesdienst! — Wenn wir unsere Fahrt längs der Seeküste von
Cadiz in nordwestlicher Richtung fortsetzen, so finden wir das
Städtchen
Palos, an dem weiter nichts zu merken ist, als daß der
Entdecker Colombo 1492 von da aus seine erste Fahrt zur Ent-
deckung Amerika's antrat *). Gerade östlich von Palos liegt
Sevilla (Sevilja), eine große Stadt mit 100,000 Ein-
wohnern , in einer schönen, großen Ebene, am linken Ufer des
Guadalquivir. Schöne, hohe Mauern, schon von den Römern
erbaut, mit 166 Thürmen versehen, schließen sie ein. Die Stra-
ßen sind eng und winklig, aber die Häuser meist gut. Fast alle
haben rings um den Hof Gallerien, auf welche sich die Thüren
der Zimmer öffnen. Milten im Hofe steht ein Springbrunnen.
Zm Sommer überzieht man diese Höfe mit einem großen Tuche,
und wohnt in ihnen wie in einem kühlen Zimmer. Diese Ge-
wohnheit findet man in mehreren Städten Andalusiens, nament-
lich auch in Cadiz. Das sehenswürdigste Gebäude ist der Al-
cazar (Alkassar). So heißt hier der alte maurische Königs-
pallast, der noch recht schöne große Säle und Zimmer enthält,
die aber immer mehr verfallen. Obgleich Sevilla nicht am Meere
liegt, so ist sie doch eine ansehnliche Handelsstadt.
♦) S- mein Lchrb.
LH. 2., S.219.
der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Au6g>
310
Das Königreich Spanien.
Hier stehe eine kurze Beschreibung des geselligen Lebens die,
fcr Stadt, das im Allgemeinen ans alle Spanier von Stande
paßt. Nach dem Aufstehen von der Matratze nimmt Jeder sein
Frühstück, daß nicht wie in England ein Familienmahl ist, zu
sich. Es besteht gewöhnlich aus Chocolade und geröstetem But-
terbrot oder kleinen Kuchen. Jeder fordert sein Frühstück, wenn
es ihm beliebt; Viele erst, wenn sie aus der Messe kommen, die
nicht leicht versäumt wird. Nach dem Frühstück gehen die Man,
ner an ihre Geschäfte und die Damen hören die Musik und die
Predigt in derjenigen Kirche, in welcher gerade eine Feierlichkeit
ist; denn für einen solchen Kirchenbesuch erhalten sie Ablaß wegen
ihrer Sünden. Gegen Mittag sind die Damen zu Hause, be«
schäftigen sich mit der Nadel, und nehmen Besuche an. Was in
Spanien schicklich ist, ist cs nicht immer bei uns, und umgekehrt;
z. B. wäre cs in Spanien für eine Dame sehr unanständig, den
Besuch eines Mannes anzunehmen, wenn die Thüre keine Glas«
fenster hat, oder nicht noch eine Zeugin bei ihr ist; ebenso iuu
schicklich wäre es, eines Mannes Arm anzunehmen oder ihm die
Hand zu geben. Dagegen ist es gewöhnlich, daß die Damen ei-
nem Bekannten nach einer längeren Abwesenheit oder bei einem
Glückwünsche einen Kuß geben. Unverheirathete Damen dürfen
nie ohne Begleitung aus dem Hause gehen, und nie ohne Zeugen
mit einem Herrn sprechen. Mittags ißt man gewöhnlich um 1
Uhr. Selten werden dazu Gäste gebeten; das geschieht nur etwa
bei besonderen Familienereigniffen. Dann werden die Speisen aus
dem Wirthshause fertig geholt, und auf den Tisch gestellt. Die
Familien sind so schlecht mit den zu einem Gastmahl nöthigen Ge-
räthschaften versehen, daß auch Teller, Gläser, Löffel, Messer
und Gabeln dazu vom Speisewirthe geliefert werden müssen. Bei
Tische macht man einen großen Lärm, und spricht der Flasche flei-
ßig zu, was sonst bei den nüchternen Spaniern nicht gewöhnlich
ist. Eine sonderbare Gewohnheit ist in Spanien, daß man seine
Freunde wohl — wie man bei uns sagt -— auf den Aermel einladet.
Daher muß der Geladene die Einladung ja nicht etwa gleich an-
nehmen , sondern er dankt für die Ehre tausendmal. Ist es aber
dem Wirthe Ernst damit, so ladet er zum zweiten Male ein, und
nun erst darf man es annehmen. Gleich nach Tische genießt man
Ruhe, die Szesta. Nach derselben geht man spatzieren; vorher
besuchen die Männer ein Kaffeehaus. Die Spatziergänge lind
Ulm- und Pappelbaumgänge, neben denen große steinerne Bänke
zum Ausruhen stehen.
Hier in Sevilla, so wie in andern Städten Spaniens, be,
sonders des südlichen, hat schon manchmal das gelbe Fieber große
Verheerungen angerichtet. In Gibraltar ist dies erst 1828
der Fall gewesen. Wenn auch ärztliche Vorkehrungen bisher wer
nig im Stande gewesen sind, dem Fortschreiten der fürchterlichen
DaS Königreich Spanien.
31t
Krankheit Einhakt zu thun, so trugen jene doch wenigstens den
Charakter der Vernunftmäßigkeit. So verfährt man in Spanien
nicht immer, sondern nimmt zu den abergläubischsten Mitteln oft
seine Zuflucht. Als vor fast 30 Jahren in Sevilla das gelbe Fie,
ber ausbrach, suchte man es zuerst durch ein neuntägigcö Gebet
zu beschwören, das in der Hauptkirche gehalten wurde, indem 40
Männer die Bußpsalmen sangen, Da das nichts half, beschloß
die hohe Obrigkeit, ein anderes Mittel anzuwenden. Ein Stück
Holz, das die ehrlichen Leute für ein Stück vom Kreuze deS Er-
lösers halten, und das in der Domkirche heilig verwahrt wird,
wurde in feierlicher Prozession nach dem höchsten Thurme der
Stadt getragen, und ganz oben befestigt, damit cs durch seine
Erscheinung die böse Luft vertreibe. Die ganze Bevölkerung
strömte herbei, und lag, zu ihm emporblickend, auf den Knien.
Und der Erfolg? Er war so, wie er immer ist, wenn der Mensch,
statt im Vertrauen auf Gott seine Vernunft zu gebrauchen, aber-
gläubische Mittel anwendet. Das Gift der Krankheit war durch
das Zusammendrängen der Menschen bei der Prozession noch mehr
verbreitet worden, und nach wenigen Tagen schon war fast keine
Familie mehr verschont.
Sevilla ist vorzugsweise reich an Klöstern. Der Nonnenklö-
ster allein giebt es hier 29, und da die Nonnen, welche einmal
Profeß gethan haben, nie wieder ins Leben zurücktreten können,
so ist die Lage der Unglücklichen, die den einmal gethanen Schritt
nachmals bereuen, wahrhaft verzweiflungsvoll; denn das ganze
Leben müssen sie zwischen den öden Klostermauern vertrauern.
Man sollte es für unmöglich halten, daß ein junges Mädchen von
16 Jahren sich entschließen könnte, ihr ganzes übriges Leben so
hinzuopfern. Aber von Kindheit auf wird ihnen vorgeredet, wel-
ches große Verdienst es sey, sich — wie sie es nennen — Gott
ganz zu weihen; nur dadurch können sie Gott ihren Dank bezeu-
gen, und einst im Himmel die höchste Stufe der Seligkeit errei-
chen. Merkt nun der Beichtvater, daß das Mädchen den leisesten
Wunsch hat, den Schleier zu nehmen, so läßt er sie nicht mehr
zur Besinnung kommen, und bestürmt sie so lange, bis sie ein-
willigt. Die Eltern, die allerdings vor dem Entschlüsse der Toch-
ter erschrecken mögen, wagen nicht, sich — wie sie meinen —
zwischen Gott und die Tochter zu stellen, und dem Himmel eine
Braut zu rauben. Um nun recht viele anzulocken, wird die Ein-
kleidung einer Nonne mit großer Feierlichkeit begangen. Sobald
das Mädchen das Kloster bestimmt hat, in daS sie treten will,
so wird sie von den Klosternonnen wie eine Braut angeredet, und
mit der größten Auszeichnung behandelt. Für den Tag ihrer Ein-
kleidung werden die festlichsten Zubereitungen gemacht. Man klei-
det sie prächtig an, behängt sie mit allen Kostbarkeiten, welche
die Familie besitzt, nimmt so von ihren Freundinnen, welche ih-
312
Das Königreich Spanien.
ren Heldenmuth bewundern, Abschied, und wird nun von allen
Bekannten und von dem Volke, das sich dem Zuge nach der Kirche
anschließt, mit Segenswünschen begleitet. Der Geistliche, der die
Ceremonie verrichten soll, kommt ihr bis an die Kirchthüre ent,
gegen, und führt sie unter dem Läuten der Glocken und dem
Schalle der Musik zum Altare. Er segnet das schon bereit lie-
gende Klostergewand ein; sie umarmt ihre Eltern, Geschwister und
Verwandten zum letzten Male, und wird dann von einer Freundin
nach der Gitterthür geführt, welche das Chor der Nonnen von
dem Schiffe der Kirche trennt. Ein Vorhang fallt nieder. Hin-
ter demselben schneidet die Aebtissin ihr das Haar ab, entkleidet
sie vom weltlichen Putz, und zieht ihr das Klostergewand an.
Jetzt rauscht der Vorhang in die Höhe; sie steht da im Kloster-
anzug, umgeben von den Nonnen, welche Wachskerzen tragen.
Von nun an lebt sie ein Jahr lang im Kloster zur Probe, ob
sie auch bei ihrem Entschluffe beharret. Der Fall, daß ein Mäd,
chen während des Probejahres oder nach Beendigung desselben zu-
rückträte, kommt selten vor. Denn der Beichtvater und die Mir-
nonnen schildern ihr die dadurch zu begehende Sünde und die da-
mit verknüpfte Schande als so groß, daß sie davor zurückschau-
dert, und zugleich wird kein Kunstgriff gespart, ihr das Kloster-
leben während der Zeit möglichst angenehm zu machen. Endlich
erscheint der Tag, an welchem sie den Schleier für immer neh-
men soll. Die Feierlichkeit dabei ist ungefähr wie bei der ersten
Aufnahme, und alle Verwandten zugegen. Sobald ihr der Schleier
übergehängt ist, hat sie die Eltern, und diese sie das letzte Mal
geschaut, wenn sie nicht etwa so lange leben, um sie noch ein-
mal im Sarge zu sehen *).
*) Ein Spanier erzählt folgendes Beispiel der geistlichen Tyrannei in
solchen Fällen: ,,Ein lebhaftes , interessantes Mädchen von 15 Jahren,
arm, aber nüt einigen der angesehensten Familien von Sevilla verwandt,
war von einer Base erzogen worden, welche Aebtissin eines reichen Klosters
des Franziscanerordens war. Das Mädchen erhielt endlich die Erlaubniß,
die Welt'zu seh^n, che sie den Schleier nähme. Sie halte das Kloster
kaum 2 Wochen verlassen, als diese Welt, die ihr mit so abscheulichen
Farben geschildert war, ihr zu gefallen anfing, so daß sie nach Verlauf
von drei Monaten ihre Abneigung gegen das Klosterleben kaum zu un-
terdrücken vermochte. Aber als der Tag sich näherte, an welchem die Ce-
remonie vorgenommen werden sollte, hatte sie nicht den Muth, sich ihr
zu entziehen; denn sie wußte wohl, daß ihr Vater, ein guter, schwacher
Mann, sie nicht gegen die üble Behandlung ihrer gefühllosen Mutter
schützen könnte, deren Eitelkeit dabei zu sehr betheiligt war, eine Toch-
ter auf diese Weise zu versorgen, für die sie keine Hoffnung hatte, eine
paffende Hcirath zu finden, lleberdies machte die Güte und das Wohl-
wollen ihrer Base, welcher die arme Kleine den Genuß ihrer frohen
Kindheit zu verdanken hatte, einen zu großen Abstich niit der Unfreund-
lichkeit der unnatürlichen Mutter, um nicht das schwankende Gemüth des
MadchenS entscheidend, obgleich schmerzhaft, zum Kloster hinzulenken.
DaS Königreich Spanien.
313
Zur Vergleichung mit dem italienischen Carneval wollen wir
die Lustbarkeiten des spanischen beschreiben. Sobald sich der Car,
neval nähert, sangen die Posten an. Besonders treiben dann die
wozu noch die Kunstgriffe der frommen Verführung kamen, die unter den
Mönchen und Nonnen so gewöhnlich sind, llntcrdeß wurden die Vorkeh-
rungen zu der nahen Feierlichkeit mit Vorbedacht möglichst öffentlich be-
trieben. Es wurden Verse verbreitet, in denen ihr Beichtvater den
Triumph der göttlichen Liebe über die trügerischen Anlockungen der gott-
losen besang. Das Hochzeitlied wurde allen Bekannten herumgczeigt,
und Freunde und Verwandte erhielten förmliche Einladungen zu dem
Tage der Feier- Aber die Furcht und Abneigung des geweihctcn Schlacht-
opfers wuchsen in Verhältniß, als sie sich mehr und mehr in den Fall-
stricken verwickelt sah, die sie nicht Muth gehabt halte zu zerreißen, als
sie dieselben zuerst wahrnahm. Am Vorabend des Tages , an welchem
das unglückliche Mädchen den Schleier nehmen sollte, ging sie in die
Kirche, und ließ einen Geistlichen, zu welchem sie besonders Vertrauen
hatte, ersuchen, daß er sich zu einer Bußfertigen in den Beichtstuhl ver-
fügen möchte. Mit schmerzlichem Erstaunen sah er die künftige Novizin
vor sich knien, in einem Zustande, der an völlige Verzweiflung gränzte.
Nachdem ein Thranenstrom ihr Luft gemacht hatte, sagte sie ihm, er
sey der Einzige auf Erden, vor dem sie ihr Herz ausschütten könne, und
sie komme zu ihm, nicht um zu beichten, sondern weil sie hoffe, er werde
mit Nachsicht und Theilnahme ihre Klagen anhören. Sic betheuerte,
daß die zukünftigen Schrecknisse eines höchst unglücklichen Lebens, die sie
durch ihren Entschluß auf sich zu ziehen fürchte, doch nicht stark genug wa-
ren, sie von dem Schritte abzuhalten, der ihr allein gegen die unaufhör-
lichen Verfolgungen ihrer Mutter Schutz gewähre. Umsonst trug ihr der
Geistliche seinen Beistand an, um sie aus ihrer schwierigen Lage zu rei-
ßen; umsonst erbot er sich, zum Erzbischof zu gehen, und dessen Ver-
mittelung nachzusuchen; ihr Entschluß blieb fest, und sie verließ ihn in
einer Stimmung, als wenn sie zum Tode ginge, nahm aber dennoch am
nächsten Tage den Schleier ^Die wirkliche Güte ihrer Base und die er-
heuchelte Freundlichkeit der übrigen Nonnen hielten die leidende Novizin
das Probejahr hindurch ziemlich aufrecht -, aber die Scene, der ich bei-
wohnte, als sie das unverbrüchliche Gelübde des Klosterlcbens ausspracsi,
erfüllt noch jetzt in der Erinnerung meine Brust mit erstickender Beklem-
mung. Eine feierliche Messe, die mit aller Pracht vollzogen wurde, ging
dem furchtbaren Gelübde voran. Beim Schluffe des Gottesdienstes nä-
herte sie sich dem Obersten des Ordens. Eine Feder mit bunten, nach-
geahmten Blumen verziert, ward ihr in die zitternde Hand gegeben, um
die lebenslängliche Verpflichtung zu unterzeichnen, die sie jetzt zu überneh-
men im Begriff war. Dann nahm sie ihren Platz vor dem eisernen Git-
ter des Chors, und begann mit schwacher, gebrochener Stimme ihre
Weihe zum Dienste Gottes auszusprechen, sank aber nach wenigen Wor-
ten ohnmächtig in die Arme der sie umringenden Nonnen. Man schrieb
dies ausschließlich ihrer Ermüdung und Rührung zu, und nachdem sie
wieder zu sich selbst gebracht, und der Sprache wieder mächtig geworden
war, eilte sie über den Schluß dessen, was sie zu sagen hatte, schnell
Hinwegs und vollzog so gewissermaßen ihre eigene Vcrurtheilung mit ei-
ner Heftigkeit, die von denjenigen, welche die Umstände nicht kannten,
für einen erneuerten Antrieb feierlichen Eifers, von denen aber, die um
das traurige Geheimniß wußten, mit Recht für Vcrzwciflungswahnsinn
gehalten wurde. Die wahren Gefühle der neuen Nonne wurden jedoch
314
DaS Königreich Spanien.
Straßenjungen ihr Wesen. Sie laufen haufenweise herum, und
tragen ein langes Stück Papier, in welchem sie eine krumme
Stecknadel befestigt haben, in der Hand. Unbemerkt schleicht ei-
ner von ihnen einer langsam cinherschreitenden Frau nach, die,
in ihren Schleier gehüllt, ihren Rosenkranz betet, und hängt ihr
ganz sacht den papiernen Schweif an die Hinterseite des schwar-
zen Kleides. Eine Menge kleiner Lumpenjungen beobachtet die
That ihrer Spießgesellen von weiten, und alle schreien überlaut:
„wirf ihn weg! wirf ihn weg!" worauf jede Frau, die sich auf
der Straße befindet, sich umsieht, um zu sehen, ob sie die De-
zeichnete ist. Ueber diesen allgemeinen Schreck, über das Herum-
drehen der Frauen, besonders über die Bemühungen derjenigen,
welche der Gegenstand des Spottes ist, lacht nun der Pöbel,
während die Verlachte beschämt davon schleicht. Der eigentliche
Carneval ist auf Fastnacht und die beiden vorhergehenden Tage
beschränkt. Diese Zeit bringen die gemeinen Leute mit Trinken
undHcrumschwärmen in den Straßen zu, in denen es eine Menge
Trinkhäuser giebt. Vor denselben versammeln sich ganze Haufen
von Männern, Weibern und Kindern, die da singen, tanzen,
trinken, und sich unter einander mit Puder bewerfen. Doch er-
lauben sie sich nicht leicht Freiheiten gegen Personen höheren Ran-
ges ; indessen nähert man sich diesen Orten nicht ohne Bcsorgniß.
Zn Madrid, wo ganze Theile der Stadt von dem gemeinsten
Volke bewohnt werden, übt man jene Gemeinheiten auf einem
größeren Fuße. ,,Zch wagte einst," erzählt ein Reisender, „mit
einigen Freunden, in Mäntel gehüllt, während des Carnevals in
Madrid durch eine jener Stadtgegenden zu gehen. Die Straßen >
von ihren scheinheiligeren und mehr rcsignirtcn Mitnonncn nur zu rich-
tig beurtheilt, und da sie, durch Zeit und Verzweiflung getrieben, niin-
der vorsichtig ward, so betrachtete man sie bald als eine solche, die den
ganzen Orden beschimpfen könnte, indem sie das Geheimniß verrathe, daß
cs Nonnen gebe, die ihr Gelübde drückend finden. Das Ungcwittcr klö-
sterlicher Verfolgung zog sich über dem unglücklichen jungen Mädchen zu-
sammen, und als sie nach dem frühzeitigen Tode ihrer Base auch von
dieser nicht mehr geschützt werden konnte, fühlte sie sich bald zu schwach
einem Haufen schwärmerischer Quälerinnen länger zu widerstehen, und
faßte in ihrer Verzweiflung den raschen Entschluß, durch Selbstmord ihr
Leiden gewaltsam zu endigen. Aber der Versuch mißlang, und nun zeigte
sich der unbarmherzige Geist katholischen Aberglaubens in seinem vollen
Glanze. Da die Mutter todt war, so machten einige Verwandte und
Freunde der armen Gefangenen, von ihrem Elende gerührt, den Versuch,
bei der geistlichen Obcrbehörde die Lösung des Gelübdes auszuwirken.
Aber der ganze Franziskancrorden, der seine Ehre dabei aufs Spiel ge-
setzt glaubte, erhob sich gegen die rebellische Nonne, und die Richter er-
klärten ihr Gelübde als freiwillig und gültig. Sic starb 1821 in einem
Zustande, der an Wahnsinn gränzte." Solche Fälle mögen wohl öfter
vorkommen, als sie bekannt werden. Im Allgemeinen leiden alle Nonnen
an einem höheren oder geringeren Grade religiösen Trübsinns.
Das Königreich Spanien.
315
waren voll Männer, die bei der geringsten wirklichen oder einge-
bildeten Veranlassung sogleich ihre Messer gezogen hätten; aber
wir betrugen uns fein artig, sahen mit Wohlgefallen ihren Pos-
sen zu, hielten uns in einer höchst ebrerbietigen Entfernung, und
so entließ man uns ohne die geringste Spur von Rohheit oder
Grobheit." Mordthaten kommen im Carneval häufiger vor als
sonst; in Sevilla rechnet man bei jedem öffentlichen Feste 2— 3
gefährliche oder gar tödtliche Verwundungen. Denn bei der klein-
sten Veranlassung zieht der reizbare Spanier sogleich sein Messer,
um es seinem Gegner in den Leib zu stoßen. Die Carnevalslust
der mittleren Stände besteht darin, daß man andere, die darauf
unvorbereitet sind, neckt; z. B. man schleudert Eierschalen voll
zerstoßner Steinchen an den Kopf, oder man bewirft die Da-
men mit Zuckerplätzchen, und wird dafür von ihnen mit Was-
ser bespritzt. Die höheren Stände endlich pflegen denen, wel-
che ihre Tertulia's besuchen, einen Ball und ein Abendessen zu
geben. Darin besteht die ganze Lust, wahrend sich in Italien alle
Stände froh durch einander mischen, und eine Menge geistreicher
Scherze treiben. Dafür sind in Spanien, und namentlich in Se-
villa, die kirchlichen Feierlichkeiten, besonders die in der Charwo-
che, desto mehr darauf berechnet, das Auge und die Phantasie
des Spaniers zu ergötzen, wie wir schon oben erzählt haben. Nur
fehlt bei den letzteren aller Geschmack und alle kirchliche Würde.
Unter den Gebäuden in Sevilla zeichnet sich besonders der
alte, große Dom aus. Von der Menge der Altäre — es sind
ihrer 82 — kann man auf seine Größe schließen. Was ihm aber
in den Augen der Spanier den größten Werth giebt, sind die Re-
liquien, die er aufbewahrt, und die bei der Prozession des Frohn-
leichnamstages herumgetragen werden. Wir wollen sie hier nen-
nen , um einen Begriff von dem Aberglauben dieses Volks zu ge-
ben: i) ein Zahn vom St. Christoph; 2) ein Becher von Achat,
dessen sich der Papst, der unmittelbar auf den heiligen Petrus
folgte, bei der Messe bedient hat. (Damals aber gab es weder
Päpste noch Messen); Z) ein Arm vom St. Bartholomäus; 4)
ein Kopf einer der 10,000 Jungfrauen; 5) ein Theil deS Körpers
des heiligen Peter; 6) desgleichen vom heiligen Lorenz; 7) des-
gleichen vom heiligen Blasius; 8) die Knochen des heiligen Se-
ver und deS heiligen Germain; 9) desgleichen vom St. Floren,
tius ; 10) ein Dorn aus des Heilands Krone; 11) ein Stück vom
wirklichen Kreuze.
Bei dieser Gelegenheit noch einiges über die abergläubischen
Gewohnheiten der Spanier: Wenn jemand krank ist, so begiebt
er sich, wenn er sich irgend noch fortschleppen kann, nach dem
Bilde der Jungfrau der Gesundheit, das mitten in einer der
Hauptkirchcn der Stadt sich befindet. Dieses Bild beschenkt er
nach seinen Vermögcnsumständen, und erhalt dafür zur Vergel-
316
DaS Königreich Spanien.
tung ein gedrucktes Blatt, auf welchem die Worte: Heil dem
Schwachen! mehrmals in bestimmten Zwischenräumen sehr klein
gedruckt stehen. Diese Worte nun werden abgeschnitten, fein zu-
sammengewickelt, und der Kranke verschluckt sie in einem Glase
Wasser, im festen Vertrauen auf Hülfe. An dem Bette ei-
nes gefährlichen Kranken findet man gewöhnlich mehr Reliquien
und Amúlete als Arzneien, und vom Priester wird mehr Heilung
erwartet als vom Arzte.
Nach dem Glauben der Spanier ist kein Kind vor dem 7ten
Jahre für seine Handlungen verantwortlich; stirbt daher eins vor
diesem Alter, so ist es nach ihrer Meinung nicht als ein sünd/
Hafter Mensch, sondern als ein Heiliger gestorben, und hat durch
die Taufe einen sichern Platz im Himmel. Daher ist der Tod eines
Kindes eine Veranlassung zur Freude, außer für die, bei denen das
natürliche Gefühl lauter spricht als der Aberglauben; Freunde und
Verwandte kommen, den lraurenden Eltern Glück zu wünschen, und
selbst die Begräbnißanstalten sind wie zu einem Freudenfest! Wie
unnatürlich! Das todte Kind wird in ein weißes Gewand geklei-
det, das Haupt mit einem Blumenkranz geschmückt, in einen of-
fenen Sarg gelegt, mit Blumen überstreut, und von vier weiß-
gekleideten Kindern, umgeben von Geistlichen mit brennenden
Wachskerzen, nach der Kirche getragen. Dabei singen die Begleit
tenden Psalmen in fröhlicher Weise, und die Glocken stimmen ein
munteres Geläute an. Selbst die Verwandten tragen kein Trauer-
kleid, und in der Kirche preist man das Glück des zarten Wesens,
das durch den Tod alles irdischen Ungemachs überhoben, und so
früh in den Himmel unter die Engel versetzt sey. Aber gerade
diese unnatürliche, erzwungene Freude hat etwas ungemein Me-
lancholisches. Stirbt ein erwachsenes, junges Mädchen, so wird
sie wie eine Nonne gekleidet, weil man glaubt, daß schon dieser
Anzug ihr im Himmel als Verdienst werde angerechnet werden.
Die Kinder bekommen bei der Taufe in der Regel eine große
Menge Namen, die alle von Heiligen hergenommen sind, weil sie
glauben, daß alle diese Heiligen verpflichtet sind, über das Glück
und das Leben des Kindes zu wachen. Daher wissen Manche
nicht alle ihre Taufnamen; das ist aber auch nicht nöthig/wenn
sie nur im Kirchenbuche stehen.
Wenn wir den Guadalquivir weiter hinauf reisen, so
kommen wir nach
Cordova, einst die stolze Residenz der maurischen Chalifen,
jetzt kaum 30,000 Einwohner zählend. Sie liegt sehr anmuthig
am Fuße hoher Berge der Sierra Morena und am Anfange ei-
ner weiten Ebene, am rechten Ufer des Guadalquivir, und ist
eben so wie Sevilla mit einer von den Römern und Mauren
erbauten Mauer, die eine Menge kleiner Thürme hat, umgeben.
Sic hat eilten großen Umfang, weil sie außer den Häusern viele
DaS Königreich Spanien.
317
Blumen - und Obstgärten enthält. Die Straßen sind, wie fast
überall in Spanien, eng und winklig, aber die Häuser schön, bei
denen sich gewöhnlich ein schöner Blumen- und Orangengarten
mit kühlenden Springbrunnen befindet. Unter allen Gebäuden
zeichnet sich die Kathedral- (Dom-) Kirche aus, ein ungeheures
Gebäude, ehemals eine Moschee. Vier schone, große Straßen
führen auf den Platz, auf dem sie liegt. Ihre Bauart ist ganz
abweichend von der anderer Kirchen. Diese haben in der Regel
nur ein sogenanntes Schiff; die Kathedrale aber 19, die in die
Länge, und 19, die in die Quere gehen; ferner 17 große Ein,
gangöthore, und das Dach ist mit einer Unzahl von Kuppeln,
Thürmen und Thürmchen verziert. — Daß von Cordova das Corr
duan-Leder den Namen habe, ist bekannt.
11. Estremadura
wird vom Tajo und der Guadiana durchflossen, und gehört
zu den heißesten Provinzen Spaniens. Die Winter sind mild,
aber sehr regnig; die Sommer Mittags glühend heiß, und
meist fallt, wie in Murcia, in den Sommermonaten kein Tro-
pfen Regen, der Himmel ist dann gänzlich ohne Wolken, in
dunkler Blaue strahlend. Das Land könnte, bei seiner Frucht-
barkeit, recht blühend seyn; aber es ist wenig angebaut, und
der größte Theil des Landes ist — den Schafen überlassen.
Hier nämlich pflegen die Merino's zu überwintern; daher sieht
man weite, fast unübersehbare Strecken von Wiesen, ohne Baum-
pflanzungen, die sonst so häufig in Spanien sind. Die Einwoh-
ner zeichnen sich durch Geradheit, Ehrgefühl und Zuverlässigkeit
aus. Das großthuige, wilde Wesen der Andalusier findet
man hier gar nicht mehr; dafür desto mehr Gediegenheit des
Charakters. Nur fehlt es ihnen an aller Geistesbildung; sie
sind voll Aberglauben, und können tagelang stumm da sitzen,
ohne das Bedürfniß der Unterhaltung zu fühlen; und doch
kann man sie nicht trage nennen; es ist nichts als Geistesar-
muth der Grund. Nahe an der portugiesischen Gränze liegt
Badajoz (Badachos), eine unbedeutende, und doch die
wichtigste Stadt der Provinz. Mehr Interesse für uns hat das
Kloster
San Geronimo de Iuste (Chufte), auch bloß San
Juste genannt. Dies Kloster liegt in einer sehr wilden, öden Ge,
gend ganz im Gebirge (von Plasencia östlich). Hier hatte sich
Kaiser Karl ein Häuschen gebaut, in welchem er die beiden letzr
318 Das Königreich Spanien.
ten Jahre seines Lebens von 1556— 58 mit religiösen Beschäfti-
gungen zubrachte *).
12. Leon
ist meist bergig; denn von Asturien und Estremadura streichen
einzelne waldige Bergreihcn durch das Land, während die Ebe-
nen durchaus kahl sind. Die Winter sind feucht und rauh,
die Sommer dagegen sehr angenehm. Die Einwohner sind
redlich, kräftig und ernst, aber auch stolz und träge. Der
Städte merken wir uns drei: Leon, Valladolid und Sala-
manca. Die nördlichste derselben ist
Leon, in einer schönen, an Baumpflanzungen reichen Ebene.
Von außen hat sie ein schönes Ansehen mit ihren vielen Thür-
men; aber im Innern findet man überall Schmutz und Unordnung.
Nur ein Gebäude ist merkwürdig: der herrliche Dom, ein Mei-
sterstück der gothischen Baukunst.
Valladolid liegt nicht weit vom Duero, eine finstere,
verödete, traurige Stadt, einst die Residenz der Könige von Spa-
nien, von denen 17 hier begraben liegen, jetzt aber verfallen.
Ueberall sieht man Trümmer von Häusern; alles verräth dir ehe-
malige Größe und den jetzigen Verfall: große, mit Bäumen be-
pflanzte Plätze, prachtvolle, hohe Brücken, menschenleere, schmu-
tzige Straßen.
Sa la man ca, südlich vom Duero, am Abhange eines rei-
zenden Hügels. Die Domkirche dieser engen, unfreundlichen, al-
terthümlichen Stadt, ist eine der schönsten Spaniens; besonders
berühmt ist aber die Universität, die vorzüglichste des Kö-
nigreichs.
13. N e u - C a st i l i a
besteht aus einer unermeßlichen Ebene, die von mehreren Ge-
birgen durchzogen wird. Daher sind die Sommer sehr heiß
und die Luft im Gebirge ist mild. Wenigstens 8 Monate
des Jahres ist der Himmel ungetrübt heiter, ohne Wolken und
Regen. Das Land ist so fruchtbar, daß es recht viel her-
vorbringen würde, wenn die Einwohner nicht zu faul wären,
das Master durch die Felder zu leiten. So aber fehlt es an
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 47.
DaS Königreich Spanien.
319
Bewässerung, und die Pflanzen vertrocknen bei der anhalten-
den Dürre. Selbst Fruchtbäume sind hier selten. Die Neu-
Castilianer sind nachdenkend, bedächtig, von lebhafter Phanta-
sie, aber keine Freunde von vielen Worten, mehr zum Den-
ken, als zum Handeln aufgelegt; höflich, sanft, wahrheitslie-
liebend und mäßig. Aeußerlich stolz und gravitätisch, und doch
gefällig und Freunde der Fröhlichkeit, der Musik und des Tan-
zes. Hier liegt nun die Hauptstadt des ganzen Königreichs
und die Residenz des Königs,
Madrid, ungefähr in der Dritte von Spanien, auf einer
ungleichen, von niedrigen Hügeln durchschnittenen Ebene. Sie
ist nicht so groß, als man von der Hauptstadt eines so großen Lan-
des erwarten sollte, und weder mit London, noch Paris, noch Nea-
pel, sondern eher mit Rom, Venedig und Mailand zu vergleichen.
Die Zahl der Einwohner beläuft sich auf etwa 130,000- An ei-
nem großen Flusse liegt sie nicht; aber nicht weit davon fließt das
Flüßchen Manzanares, das sich nachher in den Tajo ergießt.
Ein Theil der Stadt ist alt, eng und schlecht gebaut; das ist
der westliche Theil, in der Nähe des königlichen Schlosses. Aber
der ganze nördliche, östliche und südliche Theil ist schön, die Stra-
ßen sind breit, regelmäßig und die Häuser hoch Besonders fällt
die Reinlichkeit der Straßen, die man in Spanien nicht gewohnt
ist, recht vortheilhaft auf. Der schönste Platz ist der Plaza
mayor, fast in der Mitte der Stadt. Er ist überall von ho-
hen, prächtigen Häusern eingefaßt, unter welchen Säulengänge
hinlaufen. Westlich von ihm, am Westende der Stadt, steht der
neue königliche Pallast, ein großes Prachtgebäude, an den
sich hinten ein großer Garten anschließt, der bis an den Fluß
reicht. Ein andrer königlicher Pallast befindet sich im östlichen
Theile der Stadt, Buen-Netiro genannt. Vor diesem weit-
läuftigen Gebäude ist ein großer Platz, und eine sehr breite, von
herrlichen Bäumen beschattete Straße, der Prado, führt von
Süden nach Norden bei demselben vorbei, von einem Ende der
Stabt bis zum andern, und hier ist der gewöhnliche Spatzierort
der Madrider. Jeden Abend sieht man hier Herren und Damen
auf und nieder spatzieren. Außerdem sind die wcirläuftigen Gar.'
tenanlagen hinter dem Schlosse Retiro ein angenehmer Spatzierort.
Von den Sitten und der Lebensweise in Madrid ist das zu
sagen, was wir schon oben von der Lebensart der Spanier über-
haupt gesagt haben; denn cs leben in Madrid Leute aus allen Pro-
vinzen, und bringen also ihre vaterländischen Gewohnheiten mit.
Daher hat die Lebensweise hier gar keinen besonderen Charakter.
Was in Madrid auffällt, ist, daß sich keine einzige Kirche
durch Größe, Pracht oder Geschmack auszeichnet, was wir in
320
Das Königreich Spanien.
Italien im Gegentheil so häufig fanden. Ebenso ist es mit den
Pallästen der spanischen Großen. Ihre Häuser sind zwar groß,
aber nicht mit denen unserer Großen zu vergleichen; es fehlt ih,
nen Geschmack, Bequemlichket und selbst Pracht, die, wo sie ge,
funden wird, wenigstens altmodisch ist.
Gleich vor der Stadt, neben dem Garten des Buen-Retiro,
finden wir ein cirkelrundes Amphitheater, für das Lieblingsvergnü-
gen der Spanier, die S t i e r g e f e ch t e, bestimmt. Schon Kna-
ben spielen nichts lieber als — Stiergefechte. Einer von ihnen
stellt den Stier vor. Er halt ein Brett, das dazu zwei Hand,
haben hat, vor den Kopf. Vorn sind zwei Hörner befestigt;
sonst ist es mit einem Stück Korkholz versehen, in welches die
andern Knaben ihre kleinen Wurfspieße zu treiben suchen, wenn
der den Stier spielende Knabe auf sie losrennt, und mit seinen
Hörnern um sich herumstößt.
Etwas ernster sind diejenigen Stiergefechte, welche die Land-
edelleute, die Rinderheerden besitzen, z.u Anfang des Sommers zu
halten pflegen. Sie laden ihre Nachbaren und Freunde ein, um
der Probe der einjährigen Stiere beizuwohnen; man will dabei
diejenigen kennen lernen, die sich für die großen, öffentlichen Stier-
gefechte eigenen. Auf einem großen, mit einer Mauer eingeschlos-
senen Hofe wird ein Gerüste für die Damen errichtet. Die Män-
ner sind sämmtlich zu Pferde, und tragen kurze offene Zacken von
Seide oder anderem leichten Zcuche, deren Aermel nicht angenäht,
sondern mit breiten Bändern von paffender Farbe bauschig ange-
schnürt sind. Männer und Frauen haben an denHandgelenken meh,
rere Reihen locker herabhängender Knöpfe von Silber und Gold.
Auf dem Kopfe tragen die Männer einen weißen Hut, der mit
einem Bande unter dem Kinne befestigt ist, und nie bei Stierge-
fechten fehlen darf. Zeder Ritter führt eine 12 Fuß lange Lanze
mit einer dreischneidigen Spitze von Stahl. Diese Spitze steckt
in einer Scheide von Leder, die man mehr oder weniger zurück-
ziehen kann, es wird daher vor dem Gefechte bestimmt, wie weit
die Spitze frei seyn solle oder nicht; denn wäre fie cs ganz, so
würde der Stier bald get'odret, und das soll er bei Liesen Gefech-
ten nicht. Wenn nun die Gesellschaft ihre Plätze eingenommen
hat, so werden die einjährigen Stiere von den Hirten einzeln her-
eingeführt. Die Ritter halten den Thieren die Lanzen vor, da-
durch gereizt, laufen die Stiere auf sie los, und nun sucht man
ihnen auszuweichen, dabei aber iynen Wunden beizubringen. Wenn
der Stier nach tapfrer Gegenwehr zwei Wunden erhalten hat, so
wird er der Ehre des Kampfes würdig geachtet, und für die öf-
fentlichen Kämpfe aufbewahrt; ist er aber feige, so wird er so-
gleich zum Joche abgeführt. Zum Schluffe wird oft noch ein
grausameres Spiel getrieben. Man treibt einen jungen Stier in
das offene Feld, und der ganze Reiterhaufen verfolgt ihn in vol-
Das Königreich Spanien,
321
lem Galopp. Anfangs haben die Pferde Mühe, ihm nachzukom-
men; fängt er aber erst an müde zu werden, fo zielt der nächste
Reiter mit der Lanze nach dem Nacken des Thiereö, spornt sein
Pferd, und bringt dem Stiere im Vorbeireiten eine Wunde bei,
die so schmerzhaft ist, daß er mit den Füßen ausschlägt, das Gleich/
gewicht verliert, und mit einem entsetzlichen Falle niederstürzt.
Die Leute, welche bei den öffentlichen Stiergefechten fh‘m*
pfcn sollen, üben sich vorher in dem großen Schlachthause. Wenn
hier das Vieh ankommt, so versammelt sich auf dem nahen Felde
eine Menge Menschen, die durch das Hin- und Herschwcnken der
Mäntel und durch lautes Pfeifen die Thiere in Unordnung brin-
gen. Der wüthigste Stier ist bald herausgespürt, und aus ihn
richten sich nun Aller Blicke. Um ihn zu necken, bedient man
sich nur des Mantels. Dieser wird auf eine zierliche Weise ausgc-
breitet so gehalten, daß er den Körper vom Kopf bis zu den
Füßen deckt. Die Männer, die den Stier angreifen, bewegen
den Mantel hin und her, schütteln die Köpfe auf eine trotzbie-
tende Art, und rufen herausfordernd: >,Ha! Toro! Toro! (Stier!)."
Eine Weile sieht der Stier sie starr an; dann rennt er auf einen
von ihnen los. Der Angegriffene wirft in dem Augenblicke den
Mantel dem Thiere über den Kopf, und weicht links aus. Der
Stier, von der Heftigkeit des Anlaufs getrieben, rennt blind vor-
wärts, und ehe er sich nach seinem Feind umwenden kann, ist
dieser schon in Sicherheit. Zm Innern des Schlachthofes üben
sich nun besonders die Edelleute; denn es wird keineswegs für eine
Schande gehalten, sich mit den Ochsen herumzuschlagen, und oft
treten selbst auf den öffentlichen Kampfplätzen Edelleute als Kam/
pfer auf. Das geschieht nur bei solchen Stiergefechren, die in
Gegenwart des Hofes gegeben werden. Dazu bieten die vor-
nehmsten Edelleute ihre Dienste an, und der Sieger hofft dadurch
ein gutes Amt oder einen Orden zu erhalten. Denn es wird in
Spanien für ein großes Verdienst gehalten, mit den Ochsen ge-
schickt umgehen zu können. Diese Edelleute erscheinen dabei zu
Pferde, von den Fechtmeistern zu Fuß umgeben, und tragen kurze
Lanzen mit breiten Klingen.
Bricht nun ein feierlicher Stiertag an, so ruhen alle Ge-
schäfte. Schon Tags vorher wogen die Menschen auf dem Am-
phitheater umher, um sich den Schauplatz recht zu betrachten, wo
die Stiere gehetzt werden sollen. Die oberen Sitze haben eine
Decke in Form einer offenen Gallerie, und werden gewöhnlich von
den Damen eingenommen; die übrigen Sitzreihen sind ganz offen.
Sie sind 8 Fuß über dem Kampfplatze erhaben, um alles recht
gut übersehen zu können. Der innere Raum wird von einer zwei-
ten Schranke umgeben; es ist eine 6 Fuß hohe Mauer, die zwi-
schen sich und den Zuschauern einen Raum von etwa iO Schrit-
ten Breite laßt. Zn dieser Mauer sind mehrere Oeffnungen,
Rössel ts Geographie II.
21
322
Das Königreich Spanien.
durch welche die Fußkampfer, wenn der Stier ihnen zu heftig zu-
setzt, schlüpfen können; gewöhnlich springen sie aber mit großer
Gewandtheit über die Mauer hinweg. Zwar springen die Stiere
zuweilen nach; aber dann schlüpft der Fußkämpfer geschwind durch
eine der Oeffnungen wieder zurück, und der Stier wird durch ein
Thor auf den Kampfplatz zurückgetrieben. Vor dem Tage ei-
nes Stiergefechts gehen wenige der geringen Leute zu Bette,
um nur recht zeitig einen Platz einnehmen zu können. Schon
von Mitternacht an wogt es durch die Straßen nach dem Amphi/
thcater. Die Stiere, die zum Kampfe bestimmt sind, werden von
den Feldern auf eine weite Ebene nahe bei der Stadt getrieben,
und 18 von ihnen nach dem Kampfplatze geführt. Diese Scene
hat einen eigenthümlichen wilden Charakter. Alle Liebhaber des
Schauspiels, zu Pferde und mit Lanzen bewaffnet, eilen nach
denr Orte, wo die Thiere weiden. Die Hirten treiben die zu der
Ehre des Kampfes ausgewählten Stiere zusammen, und leiten
sie nach der Stadt durch zahme Ochsen, die an .Halftern geführt
werden und am Halse tieftönende Glocken tragen. Von allen Sei/
ten wird die Heerde von den Reitern umringt, und so im Trab
bis etwa eine Viertelstunde vom Amphitheater gebracht. Von
hier an ist ein Weg für die Stiere abgepfählt, der bis zum Kampf-
platz führt; doch geben die Scitenbalkcn nur eine schivache Schutz-
wehr gegen die unbändigen Thiere. „Ich ließ micherzählt ein
Reisender, „verleiten, eines Morgens mit Tagesanbruch aufzu-
stehen, und meinen Standpunkt auf dem Amphitheater zu nch-
men, wo ich eine freie Aussicht auf das Feld hatte. Beim fer-
nen Schalle der Ochsenglocken sah man große Menschenhaufen über
das Feld wegziehn, und ihre ganze Haltung verrieth einen Kampf
zwischen Furcht auf der einen, und Eitelkeit und Gewohnheit auf
der andern Seite; denn bald näherten sie sich dem Pfahlwcrk,
bald flohen sie wieder nach einem entfernteren Orte. Einige klet-
terten auf die Baume, Andere aber, die kühner waren, hielten
sich auf einem Standpunkte, den sic als einen Ehrenposten be-
trachteten. Da unsere Aussicht durch einen Hohlweg unterbrochen
wurde, so hatte der Aufzug der Reiter, der plötzlich in vollem
Galopp aus dem Wege hervorbrach und auf uns loskam, eine
desto überraschendere Wirkung für uns. Bei den Reitern an der
Spitze des Zuges, die sich nun innerhalb des Pfahlwerks befan-
den, und denen die ganze Heerde auf dem Fuße folgte, stand jetzt
das Leben auf dem Spiele. Auch waren es ihrer nur wenige,
die das Wagstück versuchten; die meisten hatten sich hinten ange-
schlossen. Die Hirten, die sich den Ochsen auf die Hälse häng-
ten, um mit den Pferden gleichen Schritt zu halten, schienen für
ein ungeübtes Auge ihrem Untergange nicht entgehen zu können.
Das Jauchzen der Menge, der Schall der zahllosen Hörner, das
laute, durchdringende Pfeifen, das die Stiere am meisten zu rei-
Das Königreich Spanien.
323
zen und zu entrüsten schien, und die verwirrte schnelle Bewegung
der ganzen großen Scene war nicht ohne einen Grad von Schwin-
del zu ertragen. Endlich glückte es, alle in den Toril in Sicher-
heit zu bringen. So heißt ein kleiner Hof, der in eine Reihe De-
hältnisse mit schleußenartigen Fallthüren abgetheilt ist, in welchen
sie bis zum Anfange des Kampfes aufbewahrt werden."
,,Sobald ste eingebracht sind, ist eS gewöhnlich, einen der
Stiere dem Volke preiszugeben. Das unregelmäßige Gefecht, daS
darauf folgt, gewährt einen abstoßenden, widrigen Anblick. Der
Kampfplatz war dies Mal buchstäblich mit Menschen zu Fuß und
zu Pferde angefüllt. Glücklicherweise verwirrte ihre Menge das
Thier; auf welche Sette cs sich wandte, trieb eS große Volks-
maffen vor sich her, unter denen es eine schreckliche Niederlage
angerichtet haben würde, wenn nicht der Lärm und das Gedränge
sogleich seine Aufmerksamkeit wieder auf einen andern Punkt ge-
zogen hätte. Nur Einer aus der Menge, der augenscheinlich be-
trunken war, blieb vor dem Thier stehen, wurde hoch in die Luft
geschleudert, und lag für todt auf dem Sande; wenigstens würde
er unfehlbar vor unsern Augen zermalmt worden seyn, wenn nicht
die Hirten und einige gute Fechter das Thier mit ihren Mänteln
abgezogen hätten. Solche Gräuel ereignen sich häufig, besonders
bei diesen unregelmäßigen Gefechten. Bevor ich das Amphithea-
ter verließ, führte mich mein Freund in die Gallerie, von wo aus
die Stiere in ihre abgesonderten Ställe getrieben werden. Da
dieselbe nur zwei bis drei Fuß über ihre Köpfe wegragt, so konnte
ich mich eincS gewissen Schauders nicht erwehren bei dem nahen
Anblick dieser feurig-wilden Augen und dieser heftigen Anstren-
gungen, die Zuschauer zu erreichen, verbunden mit einem fast un-
unterbrochenen fürchterlichen Gebrüll."
„Das Amphitheater gewährt, wenn es voll Zuschauer ist,
einen überraschenden Anblick. Die Meisten erscheinen in der an-
dalusischen Kleidung. Die Mäntel der Herren sind entweder dun-
kelblau oder scharlachroth, und in der schönen Jahreszeit von Seide.
Ihre kurzen offenen Jacken zeigen den lebhaftesten Farbenwechsel,
und die weißen Schleier, welche die Damen bei dieser Gelegenheit
zu tragen pflegen, schicken sich vortrefflich zu ihrem übrigen mun-
tern Anzuge. Endlich erscheint die Stunde des Anfangs. Der
Schauplatz — die Arena — muß nun geräumt werden. Ein
Regiment Fußvolk marschirt zu dem einen Thore hinein, über die
Arena hin, treibt das Volk vor sich her, und wenn der Platz
menschenleer ist, ziehen sich die Soldaten zu einem anderen Thore
heraus."
,, Jetzt ziehen die Toreros (Stierfechtcr), von denen die
eine Hälfte blaue, und die andere Scharlachmäntel trägt, in
zwei Reihen über die Arena, um dem Präsidenten ihre Verbeu-
gungen zu machen. Sie sind gewöhnlich 12 — 14 Mann stark,
21 *
324
Das Königreich Spanien.
die beiden Nîàrkoreg und ihre beiden Gehülfen, die man Ne-
diaespada (Halbschwerter) nennt, mit eingerechnet. Ihnen folgen
die Picadores (Pikenträger) zu Pferde, in Scharlachjacken, mit
Silber besetzt. Ihre sehr weiten, ledernen Beinkleider sind mit
weichem, braunem Papier ausgestopft, welches den Hörnern der
Stiere großen Widerstand leistet. Nachdem die Reiter ebenfalls
den Präsidenten begrüßt haben, nehmen sie ihren Platz längs der
Schranke in einer Reihe, zur Linken des Thores, durch das die
Stiere kommen, und in einer Entfernung von ZO — 4O Sehnt-
tcn von einander. Die Fußkämpfer, ohne Waffen oder irgend ein
VcrthcidigungSmittel außer ihren Mänteln, halten sich nahe bei
den Pferden, um den Pikenträgern nöthigenfalls Beistand leisten
zu können. Wenn dies alles nun in Ordnung ist, reitet ein Stadt-
diener in altspanischer Tracht zur Hauptgallcrie hin, und empfängt
in seinem Hute den Schlüffek zu dem Toril oder Stierbehälter,
den der Präsident ihm vom Balcon zuwirft. Der Stadtdiener be-
fördert den Schlüssel sogleich weiter an den Hausmeister; der
Präsident winkt mit dem Taschcntuche, die Waldhörner ertönen
unter dem lauten Jubel der Menge; die Thore öffnen sich, und
der erste Stier bricht heraus auf den Kampfplatz. Der Stier
stand einen Augenblick still, übersah mit wildem Blick den Schau/
platz, fixirte sodann den ersten Reiter, und machte einen heftigen
Ausfall gegen ihn, ward aber mit der Spitze der Pike empfan-
gen, die der Regel gemäß nach den, fleischigen Theile des Halles
gerichtet wurde. Eine geschickte Bewegung mit der linken Hand
und dem rechten Bein lenkte das Pferd auf die linke Seite, wo/
durch cs dem Hörne des Stieres auswich, der, durch die erhal-
tene Wunde nur noch wilder gemacht, sogleich den nächsten Pi-
kcnträgcr angriff, und dem Pferde desselben, das nicht so ge-
wandt war als das erste, eine so tiefe Brustmunde beibrachte, daß
cs augenblicklich todt niederfiel. Die Heftigkeit des Stoßes hatte
den Reiter auf der andern Seite des Pferdes hinabgeworfen. Ein
ängstliches Schweigen folgte. Die Zuschauer, von ihren Sitzen
aufstehend, sahen, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, wie
der wilde Stier an dem gefallenen Pferde seine Wuth auslicß,
während der Mann, der sich nur dadurch retten konnte, daß er
bewegungslos liegen blieb, allem Anschein nach wirklich todt war.
Diese peinliche Scene dauerte jedoch nur wenige Secunden, indem
die Fußkämpfer unter lautem Geschrei, und ihre Mäntel hin und
her schwenkend, von allen Seiten herankamen, und die Aufmerk-
samkeit des Stieres von dem Pferde ab, und auf sich zogen.
Als nun die Gefahr des Reiters vorüber war, er wieder auf die
Beine kam, und ein anderes Pferd bestieg, dawar der Ausbruch der
Freude und des Beifalls so groß, daß man ihn am andern Ende der
Stadt mußte hören können. Unerschrocken, und von Rache ge-
spornt, griff er nun seiner Seits den Stier an. Ohne mich je-
DaS Königreich Spanien.
325
doch in eine umständliche Schilderung der blutigen Auftritte ein-
zulassen, die nun folgten, will ich bloß erwähnen, daß das wü-
thige Thier die Reiter zu zehn Maien angriff, vier Pferde ver-
wundete und zwei tödtete. Eines dieser edlen Geschöpfe, obgleich
es aus zwei Wunden blutete, stellte sich, ohne zu wanken, dem
Stier entgegen, bis es zu schwach ward, und mit dem Reiter
niedersank. Und doch werden diese Pferde gar nicht für das Ge-
fecht abgerichtet, sondern man kauft sie für 10—15 Rthlr-, wenn
sie, durch Arbeit oder Krankheit entkräftet, zu andern Diensten
nicht mehr taugen."
„ Der Schall der Hörner entließ nun die Reiter bis zum Be-
ginn eines neuen Kampfes, und die Unterhaltring des Volks blieb
den Banderiller08 überlassen, die bisher so bereit, gewesen waren,
den Reitern bcizustehen. Die Banderilla (Fähnlein) ist ein 2
Fuß langer, mit einem stählernen Widerhaken versehener, und mit
vielen bunt ausgeschnittenen Streifen farbigen Papiers verzierter
Pfeil oder Schaft. Ohne Mantel, aber nrit einem dieser Instru-
mente in jeder Hand, tritt der Fechter dem Stier entgegen, und
bohrt ihm denselben, in dem Augenblicke, rvo dieser sich zum Stoße
bückt, dicht hinter den Hörnern in den Nacken. Das Schmerzge-
fühl veranlaßt den Stier, den Kopf zu erheben, noch ehe er den
bezweckten Stoß hat vollführen können, und während er wüthend
strebt, die herabhängenden Pfeile abzuschütteln, hat der Mann
Zeit zu entfliehen. Mißlingt cs aber den Banderillcros, die
Pfeile einzubohren, dann tritt der Fall ein, wo sie ihrer ganzen
bewunderungswürdigen Schnellfüßigkeit bedürfen, indem ihnen, von
keinem Mantel geschützt, nichts übrig bleibt, als augenblickliche
Flucht. Der Stier folgt ihnen in vollem Laufe, und ich habe den
Mann über die Schranken wegsetzen sehen, und das wüthende
Thier so dicht hinter ihm her, daß es schien, als habe er mit
den Füßen auf den Kopf desselben getreten, und sey so hinüber-
gesprungen. Einige der Pfeile sind mit Raketen und Schwärmern
versehen, und ein kurz vor dem beabsichtigten Angriff anzuzünden-
des Stück Zunderschwamm wird dergestalt an die Spitze des Pfeils
befestigt, daß cs durch das Eindringen derselben in die Haut in
die Höhe geschoben wird, und so den Zündpunkt des Feuerwerks
berührt. Der Zweck davon ist, den Sinn des StierS ganz zu
verwirren und diesen völlig rasend zu machen, um dadurch die Ge-
fahr des Matadors zu mindern, der am meisten zu fürchten hat,
wenn das Thier seinen Angriff nicht ganz ohne Besinnung voll-
führt. Auf ein zweites Zeichen, das. der Präsident mit seinem
Tcstchentuche gab, erschallte vom Orchester das Todessignal, und
der Matador trat auf. Er näherte sich nach abgeworfenem
Mantel dem Stiere mit schnellem, leichtem und furchtlosem Schritte,
in der Linken ein viereckiges Stück rothes Tuch haltend, das an
einem Stabe, ungefähr 2 Fuß lang, ausgespannt war, und in
326
Das Königreich Spanien.
der Rechten ein breites Schwert von nicht viel größerer Lange.
Seine Gehülfen folgten ihm in einiger Entfernung. Dem Stiere
bis auf 6 — 8 Schritte entgegentretend, hielt er ihm die rothe
Fahne vor, hinter welcher er sich zum Theil, das Schwert aber
gänzlich verbarg. Der Stier stürzte auf das rothe Tuch los, der
Held aber wich ihm mit einer leichten Bewegung aus, und das
Thier ging unter der lockenden Fahne durch, die jener so lange
in der ersten Richtung hielt, bis er gegen die Hörner gesichert
war. Gereizt durch diese Täuschung und ungebändigt durch die
Schmerzen der zuvor erhaltenen W'-'nden, nahm der Stier jetzt
alle seine Kräfte zu einem heftigen Angriffe zusammen. Der Ma-
tador richtete nun sein Schwert auf die linke Seite des Stiers,
und indem er bei Annäherung desselben mit dem rechten Fuße eine
halbe Wendung machte, stieß er ihm dasselbe beinahe bis ans
Heft in den Leib. Der Stier schwankte, taumelte, und sank all-
mälig in die Knie; doch hatte er noch so viel Leben in sich, daß
ihm Keiner ohne Gefahr nahen durfte. Einige Minuten lang
beobachtete der Matador die Zeichen des herannahenden Todes an
dem nun im staube vor ihm liegenden gewaltigen Thiere, und auf
seinen Befehl schlich sich einer per Gehülfen hinter dasselbe, und
gab ihm mit eineni kleinen Dolche den Todcsstich in das Gelenk
zwischen dem Rückgrat und dem Kopfe. Vier mit Schellen und
Bändern geschmückte und neben einander an einen Querbalken ge-
spannte Maulthiere kamen nun im Galopp heran; ein dem Stier
um die Hörner gewundener Strick ward an dem in der Mitte des
Balkens befindlichen eisernen Haken befestigt, und so das todte
Thier schnell fortgeschleift."
Dieselbe Scene kommt mit manchen Abänderungen, die durch
die größere oder geringere Wildheit des Stiers herbeigeführt wer-
den, des Vormittags 8 Mal, und des Nachmittags 10 Mal
vor. ,,Dic Gefahr der Fechter ist groß. Am meisten ausgesetzt
ist das Leben der Matadore, die in der Regel traurig enden.
Auch jener Matador starb späterhin an einer Wunde, die er von
einem Stiere erhielt."
Einige Meilen südlich von Madrid kommen wir nach
A r a n ch u e z (Aranhues), einem ungemein freundlichen
Städtchen, in einer reizenden Gegend im Tajo-Thale. Die Stra-
ßen sind lang, breit, gerade, meist mit Bäumen bepflanzt, und
die zierlichen Häuser einfach, aber gleichmäßig gebaut. Alles hat
ein heiteres, frisches Ansehen. Eine herrliche Wirkung machen
die dahinter hervorragenden, höchst malerischen, mit Waldungen
gekrönten Gebirgsgipfel. In den Monaten April, Mai und Juni
hält sich der Hof hier auf, und dann ist ein großes Gewimmel.
Das Schloß ist ein einfaches Gebäude; aber die Gartenanlagen
sind wahrhaft schön und reizend. Lange, breite, von ungeheuren
Bäumen beschattete Gänge ziehen sich irr allen Richtungen hin, und
DaS Königreich Spanien.
327
gewähren selbst in den Stunden des Mittags eine angenehme Kiihle.
Ueberail sieht man Springbrunnen, Bildsäulen, Lusthäuser, dazwi-
schen allerhand Wild: Hirsche, Rehe, Gazellen, Kameele, alles in
der reizendsten Abwechselung. Am schönsten ist eine Insel im Tajo,
die in° den bezauberndsten Lustgarten umgeschaffen worden ist.
Sobald der Juni zu Ende geht, verläßt der Hof den Ort, und
dann ist alles wie ausgestorben; nur die Natur kann dann den
Fremden erfreuen. Reisen wir von Aranchuez den Tajo abwärts
westlich, so finden wir ^
Toledo, einst Die Residenz spanischer Könige. Von ihrer
alten Größe, da sie 200,000 Einwohner zählte, ist sie sehr her-
abgesunken, und hat kaum den zehnten Theil. Ihre Lage ist
merkwürdig und romantisch. Wilde Granitfclscn ziehen sich bis
in den Tajo hin, und werden von seinen Wellen, die sich brau-
send zwischen den Felsen hindrängen, bespült. An und aus diesen
Felsen liegt die Stadt, so daß die Straßen bergauf und bergab
gehen. Die Brücke, die hier über den Strom führt, bat eine
wahrhaft schauderhafte Höhe. Schön ist die Stadt nicht; die
Straßen sind eng, winklich, so todt, daß hier und da Gras
wächst, aber sehr reinlich. Die Hauptzicrde der Stadt ist die
große und hohe Kathedrale, die den vornehmsten Rang in
ganz Spanien hat, weil der Erzbischof von Toledo der erste Geist-
liche des Reichs ist. Auf einem Felsen liegt der Alkazar, der
alte maurische Königspallast, ein ehrwürdiges Gebäude, jetzt ein
Hospital und ein Waisenhaus. Trotz ihrer alterthümlichen Größe
ist Toledo eine höchst traurige Stadt.
Wir kehren nach Madrid zurück, und besuchen das auf
der Nordseite derselben gelegene königliche Jagd - und Lust-
schloß.
El Pardo (nicht zu verwechseln mit dem Spatziergang,
dem Prado, in Madrid), in einer malerischen Lage zwischen zwei
Hügeln, mit großen Waldungen in der Nähe, wo das Iagdwild
gehegt wird. Gerade östlich von Madrid ist
Alcala de Henares, mir einer einst berühmten Uni-
versität.
14. Alt - Castilia
fangt schon wenige Meilen von Madrid an, und zieht sich dann
nördlich hinauf. Das Land ist zum Theil mit hohen Gebir-
gen bedeckt, zwischen denen sich fruchtbare Thaler und weite
Ebenen hinziehen. Daher sind die Winter oft empfindlich kalt,
und selbst die Sommerabende und die Nachte kühl. Der
Himmel ist schön und fast beständig rein. Eine'auffallende
328
DaS Königreich Spanien.
Erscheinung in dieser Provinz ist der fast gänzliche Mangel an
Bäumen. Die Altcastilianer glauben nämlich, daß die Bäu-
me die Vögel anziehen, und daß diese den Erndten nachtheilig
sind. Nächst Estremadura ist diese die gewcrbloseste Provinz,
weil die Einwohner sich besonders auf Schafzucht legen. Sie
sind ein wohlgebauter, obgleich nicht kräftiger Menschenschlag,
hager, mit langen, braungelbcn Gesichtern. Dabei sind sie
ernst, melancholisch, verschlossen, zurückstoßend, aber rechtlich
und gutmüthig. Umgang halten sie unter sich wenig; Jeder
lebt für sich allein, und macht seinen Bekannten höchstens steife
Staatsbesuche, bei denen genau die spanische Etiquette beob-
achtet und wenig gesprochen wird.
Kommen wir von Madrid, so treffen wir, in nordwest-
licher Richtung, zuerst auf
El Escorial, ein überaus prächtiges und großes Klo-
ftcr in einem öden Gebirgsthals, am Fuße hoher, wilder Ger
biege, auf der einen Seite von waldbekränzten Hügeln, auf der
andern von kahlen, mit Schnee bedeckten Felsenbergen umgeben,
vorn mit einer Aussicht in die Ebene. Das ungeheure Kloster
wurde von Philipp II. aufgeführt. Er hatte nämlich ein Ge-
lübde gethan, dem heiligen Lorenz, an dessen Festtage sein Heer
einen Sieg über die Franzosen gewonnen hatte, ein Kloster zu
bauen, und da nun jener Heilige als Märtyrer von den Heiden
auf einem Roste gebraten seyn soll, so gab er dem Gebäude die
Gestalt eines Rostes. Das Ganze macht nämlich ein längliches
Viereck aus, indem die einzelnen Gebäude in die Länge und in
die Quere gebaut sind, so wie bei einem Roste die eisernen Stäbe
auch quer über und neben einander liegen. Die auf den vier
Ecken stehenden Thürme bilden gewissermaßen die Füße des umge-
kehrten Rostes. Zn der Mitte steht die große Kirche, die nach
dem Muster der Peterskirche in Rom gebaut ist, und einen sehr
reichen Schatz von Kostbarkeiten und Reliquien enthält. Unter
dem Hochaltare ist die mit Pracht ausgeschmückte königliche Gruft,
das Pantheon, wo die Könige von Spanien begraben liegen. An
das Kloster schließt sich das königliche Schloß an, ein langes Ge-
bäude, das die Handhabe des Rostes vorstellen soll. Das Ganze
ist eben so prächtig als großartig. Es enthält allein 20 Hofe,
und die Schlüssel zu allen Thüren wiegen mehrere Centner. Der
Hof pflegt sich den Herbst über hier aufzuhalten. Der Bau hat
selbst damals, wo die Materialien und das Arbeitslohn viel wohl-
feiler waren als jetzt, über 5 Millionen Ducaten gekostet. —
Vom Escorial gerade nördlich liegt
DaS Königreich Spanien.
329
San Ildefonso. Der Ort ist an sich unbedeutend. Aber
das königliche Schloß, in welchem sich der König den Sommer
hindurch aufzuhalten pflegt, weil es hier besonders kühl ist, ist
ein sehr ansehnliches Gebäude, und dem Schloß in Versailles sehr
ähnlich. Es liegt auf einer Anhöhe; hinter ihm ziehen sich hohe
Berge hin, und vorn hat es eine reizende Aussicht. Der Garten
ist in französischem Geschmacke angelegt, und daher etwas steif,
sonst aber sehr schön und voll Abwechselungen, überall mit Bild-
säulen und Springbrunnen und großen Baumgängen verziert. Bei
dem Schlöffe ist die berühmte Spiegelfabrik, die sonst die größten
Spiegel erzeugte, jetzt aber von unsern Spiegelfabriken übertrof-
fen wird. Nahe bei San Ildefonso ist
Segovia in einer malerischen Lage auf zwei Bergen und
in dem dazwischen liegenden Thale. Auch hier ist ein alter mau-
rischer Alkazar. Am merkwürdigsten ist aber die altrömische
Wasserleitung. Sie geht, wie alle alte Wasserleitungen, nicht
wie die unsrigen unter der Erde, sondern über derselben, von ei-
nem Berge zum andern, über ein Thal hinweg, und die breiten
Rinnen ruhen auf 160 Schwibbogen, die zum Theil über einan-
der gebaut sind. — In weiter Entfernung von Segovia, in nord-
östlicher Richtung, ist
Burgos, eine große, alte, meist enggebaute Stadt, men-
schenleer und düster. Eine Zierde der Stadt ist die alte große
Kathedrale, eins der prächtigsten Denkmäler der gothischen
Baukunst.
15. Das Königreich Mallorca (Maljorka).
Es besteht aus den beiden Inselgruppen, den balea-
rischen und den pityusischen Inseln im mittelländischen
Meere. Die Einwohner sind mit den Catalonicrn von Einem
Stamme, und beschäftigen sich meist mit Fischerei oder
Oelbau.
1. Die balcarischen Inseln. Sic bestehen außer ei-
nigen kleinen Inselchcn aus den größcrn Inseln Mallorca und
Minorca.
a. Mallorca, die größte, hat, wie auch die r'chri-
gcn, ein mildes, angenehmes Klima. Die Hauptstadt ist
Palma.
b. Minorca hat die Hauptstadt
Port Mahon.
2. Die pityusischen Inseln sind nur klein. ,Die
größte ist
330
Das Königreich Portugal.
a. Iviza (Iwissa), auf der die Stadt Iviza liegt.
Die viel kleinere Insel
b. Formen tera hat nur einzelne Höfe.
Außer Europa besitzen die Spanier folgende Colonicn:
1. in Afrika:
a. einige Städte an der nordwestlichen Küste, von de-
nen die Festung Ceuta, Gibraltar gegenüber, die wichtig-
ste ist.
b. Die Canarischen Inseln 1 . ^
. > c,{ ? an der Westküste.
c. Die Guinea-Inseln / 1 1
2. In Asien:
a. Die Philippinen.
b. Die Ladronen oder Marianen.
c. Die Carolinen oder Neu-Philipp inen.
3. In Amerika:
a. Die Insel Cuba.
b. Die Insel Portorico.
c. Die kleinen virginischen Inseln.
Das Königreich Portugal.
Oliven und die Purpurtraube bieten
Die reichen Schätze dar, o glücklich Land,
i Dem solches Segens Quell bcschieden!
Das Menschcnherz, zu frohem Dank gewandt,
Preist übersclig dich, glückselig Land!
O können Menschen solche Schönheit schauen,
Zu Dank und Liebe nicht zu Gott gewandt?
Das Land wird eingetheilt in die Provinzen (von Nor->
den nach Süden):
DaS Königreich Portugal.
331
1. Entre Minho (Mi'njo) e Duero*).
2. Traz (Tras) os Montes, östlich daneben.
- 3. Beira (drcisylbig).
4. Estremadura.
5. Alemtcjo (Alcngtejo; das j wie im Französischen aus-
gesprochen).
6. Alga rve.
Boden: Das Land wird in verschiedenen Richtungen
von Gebirgen, die aus Spanien kommen, durchzogen. Zwi-
schen diesen Bergketten sind einzelne ausgedehnte Ebenen. Es
bietet daher eine Abwechselung dar von rauhen Felsengebirgen,
schönen, sehr fruchtbaren Hügeln, reizenden Thälern und er-
giebigen Ebenen. Der Boden des Landes ist zwar meist san-
dig und steinig, dennoch aber überaus fruchtbar, und nur der
schlechte Anbau ist Schuld, daß nicht noch mehr hervorgebracht
wird.
Gewässer: Es sind dieselben Flüsse, die wir in Spa-
nien uns gemerkt haben, mit Ausnahme des Guadalquivir
und Ebro, also: der Minho (Minjo), Duero, Tcjo**)
und die Guadiana. Alle vier fallen hier ins Meer, der
Minho auf der nördlichen, die Guadiana auf der südlichen
Gränze.
Klima: Portugal hat eine sehr warme Luft, die aber
durch die von Westen her wehenden Seewinde sehr gemildert
wird. Daher ist die Sommerhitze hier nicht so groß als im
südlichen Spanien. In den heißesten Sommermonaten ist der
Himmel fast immer wolkenlos; daher sehen dann die Felder
und Wiesen wie verbrannt aus. In den bergigen Gegenden
ist dies natürlich anders; ja es giebt Gebirge, auf denen selbst
im Sommer Eis und Schnee hier und da liegen bleibt. Den
ganzen Sommer hindurch fällt kein Regen. Im September
fangen die Regengüsse an, und erquicken die lechzende Erde.
*) Es braucht wohl kaum erst gesagt zu werden, daß das Wort Eutrc
nickt Autcr (wie im Französischen), sondern Entre ausgesprochen werden
müsie.
**) In Spanien heißt er Tajo, in Portugal Tcjo. Das I wird aber
im Portugiesischen anders als im Spanischen ausgesprochen, nämlich wie
das französische j, also ungefähr Ledscho.
332
Das Königreich Portugal.
Alles wird nun zum zweiten Male grün, und der Octobcr ist
daher einer der angenehmsten Monate. Im November und
December regnet cs noch starker, und die Nachte sind recht
kühl. Der Januar und Februar ist in den stachen Gegenden
ziemlich kalt, so daß man zuweilen des Morgens Eisrinden
sieht, die aber bald an den Sonnenstrahlen thauen. Man hat
in Portugal weder Ocfen noch Kamine; selbst die in Italien
und Spanien gewöhnlichen Kohlenbecken sind hier nicht ge-
bräuchlich. Die Frühlingsmonate sind meist regnerisch und ha-
ben abwechselnde Witterung.
Produkte: Daß das unter einem so warmen und
milden Klima liegende Land eine unendliche Menge schöner
Pflanzen hervorbringe, ist natürlich; aber die Einwohner geben
sich mit dem Anbau derselben wenig Mühe. Außer denen,
die bei uns wachsen, ist das Land noch überreich an den
herrlichen Früchten des Südens, denselben, die auch Spanien
und Italien hervorbringen. Blumen, die wir in unsern Kunst-
gärten prangen sehen, wachsen dort wild. Im Allgemeinen
finden wir dieselben Producte, die wir bei dem Nachbarlande
Spanien schon bemerkt haben. Ebenso wie hier, giebt es
auch in Portugal mehr Esel und Maulesel als Pferde.
Einwohner: Die Portugiesen find meist wohlgebildet,
und im Ganzen von den übrigen Europäern, wenig verschie-
den, meist von mittler Größe, die Gesichter etwas schwärz-
lich, doch mit lebhaften, sprechenden Zügen, und besonders
feurigen Augen. Die Frauen sind meist schön; sie haben eine
sehr feine Haut, sehr weiße Zähne, schönes, volles Haar, das
ihnen bis auf die Fersen reicht, und schöne, schwarze, aus-
drucksvolle Augen; nur ihr Wuchs ist schlecht, und ihre Füße
sehr breit. Die Hauptzüge des portugiesischen Charakters sind:
Stolz, Lebhaftigkeit, Leichtsinn; zugleich aber auch Freundlich-
keit, Höflichkeit, Geselligkeit und Gutmüthigkeit. Daß sie sich
für die erste aller Nationen halten, haben sie mit vielen Völ-
kern gemein, und sie verachten besonders die Spanier. An
Kenntnissen und Geistesbildung fehlt es ihnen zwar sehr; aber
der Grund liegt nicht im Mangel an Gelehrigkeit, sondern in
der schlechten Negierung und in dem Mangel an guten Unter-
richtsanstalten. Der katholische Glaube ist allgemein verbreitet;
Das Königreich Portugal.
333
aber die Portugiesen sind nicht so abergläubisch wie die Spa-
nier. Die in Spanien fast überall zu findende Faulheit ist
dem Portugiesen nicht so eigen; er thut zwar auch nicht viel,
aber daran ist nicht angeborne Trägheit Schuld, sondern die
schlechte Negierung, die den Fleiß nicht aufmuntert und un-
terstützt, sondern das Volk hart niederdrückt. Wo der Por-
tugiese etwas verdienen kann, ist er gewiß thätig; da er aber
weiß, daß sein Fleiß ihm nichts nützt, so geht er lieber
müßig.
Folgende Schilderungen des Lebens in Portugal werden
dazu dienen, die Nation näher kennen zu lernen. „Auf Tisch-
freuden legen die mäßigen Portugiesen keinen großen Werth.
Auch ist die hiesige Kochkunst dem Gaumen des Ausländers
nicht genügend. Die erste Schüssel ist gewöhnlich eine starke
Suppe mit vielem Brot, und in derselben werden frisches
Nindfleisch, Speck und Fleischwürste gekocht, die stark mit
Knoblauch gewürzt sind. Hierauf wird dieses Fleisch mit Senf
und Gemüse verzehrt. Die dritte Schüssel besteht aus rosst
deek (Rohst Bihf) oder zahmem Geflügel; und mannigfaltige
Früchte, die man zu allen Jahreszeiten hat, machen den Nach-
tisch. Freitags und Sonnabends ißt man statt des Fleisches
Fische und Fischsuppe; denn cs gebietet der Glaube, zu fasten."
Ein Reisender, der in Portugal zum Mittagsessen geladen war,
saß neben einer Dame, die ihm, als einem Fremden, viele Höf-
lichkeiten erwies. „Schon wollte ich ihr," erzählt er, „die
Hand küssen, als mein guter Genius mir zur glücklichen
Stunde eingab, in einem fremden Lande nichts zu thun, was
ich keinen Andern thun sähe. Und welch ein Verstoß wäre
hier am Tische, in öffentlicher Gesellschaft, dieser Handkuß ge-
wesen, der in Deutschland so sehr gewöhnlich ist. Die Tisch-
sitten sind doch in jedem Lande anders. Hier war die große
Tafel mit Speisen besetzt, und ohne weitere Umstände nahm
Jeder Platz. Oben am Tische saß der Wirth allein und legte
die Suppe vor, von der nicht alle essen konnten; denn die
Fleischsuppe war heute nur für die Ketzer. Dann legte Je-
der vor, wer der Schüssel zunächst saß, und Jeder nahm oder
ließ sich geben von dem, was ihm gefiel. Einige Schüsseln
blieben unangerührt, weil sie Fleischspeisen enthielten, und ge-
334
Das Königreich Portugal.
rade ein Fasttag war. Hierauf wurde dieser ganze Gang ab-
genommen und ein anderer aufgetragen, allerlei Braten, Sa-
late und Torten. Es ging wie vorhin, bis der Nachtisch und
die fremden Weine kamen. So dauerte die ganze Mahlzeit
nur von 5—6i Uhr, die in andern Landern viele Stunden
gedauert hatte. Nach der Tafel wurde Karte gespielt. Der
Thee kam um 9, und um 12 Uhr Nachts aß man mit glei-
chem Appetit wie Mittags, worauf sich die Gesellschaft um 2
Uhr trennte."
Sind die Portugiesen auch nicht so bigott, wie die Spa-
nier, so fehlt es doch auch bei ihnen nicht an Prozessionen und
Kirchenfesten der Heiligen, aber mehr, .weil sie Freunde von fest-
lichen Aufzügen sind. Besonders häufig sieht man in der Fa-
stenzeit Prozessionen durch die Straßen ziehn. „Eine Menge
schlechtgemalter Bilder, die bald diesen, bald jenen Heiligen in
betender Stellung vorstellen sollen, werden von vermummten,
barfuß gehenden Personen auf den Gassen umhergetragen. Auch
sieht man Scenen aus der Leidensgeschichte, und alles ist in
natürlicher Größe. Priester und Mönche, und Männer in ro-
then und violetten Manteln tragen große Wachskerzen. Kin-
der sind geschmacklos zu Engeln umgekleidet. Große Fahnen,
roth oder purpurfarben, werden vorauf getragen. Weiterhin
schleppt sich eine Schaar vermummter Büßender, barfuß und
mit rasselnden Ketten; aber sic büßen nicht für sich. Reiche
haben gesündigt, und bezahlen sie. Jetzt kommt die heilige
Hostie, getragen unter einem Himmel, und umgeben von Prie-
stern im Meßgewande. Ein Trupp Soldaten zu Fuß und zu
Pferde schließt die ganze Prozession. Alle haben den Hut in
der Hand. Dann folgt der Pöbel, meist Weiber und häß-
liche Negerinnen, die einen geistlichen lateinischen Gesang
plärren."
Während der Fastenzeit darf der Rechtgläubige kein Fleisch,
keine Butter, keinen Käse, keine Eier essen, aber Fische so
viel als er will. Doch kann man für Geld Erlaubniß erhal-
ten, jene Speisen zu genießen. Auch darf man des Tags
nur eine Mahlzeit halten, außer Sonntags. Viele Portugie-
sen binden sich aber an diese Vorschrift nicht, sondern gehen
in die Wirthshäuser, wo man für die Ketzer Fleischspeisen be-
DaS Königreich Portugal.
335
reitet. Sie trösten ihr Gewissen damit, daß die Fischspeisen
ihrem Magen nicht zuträglich wären. Wie in Spanien wird
das Carneval nur am Fastnachtsdienstag und an den beiden
vorhergehenden Tagen gefeiert. Auch in Portugal vermißt
man die geistvollen Scherze der Italiener; die Lust besteht hier
meist darin, daß man die Vorübergehenden neckt: man pflegt
sie besonders mit Wasser zu bespritzen. Selbst mitten auf dem
Fahrwege wird man von den Spritzen derer, die an den Fen-
stern sitzen, erreicht. Auch wirft man mit Puder, Erbsen,
Bohnen, Citronen und Aepfelschalen nach allen gutgckleidetcn
Männern, und besonders machen sich die Damen diesen Spaß.
Schlcchtgeklcidete Leute überlaßt man den Gassenbuben, die
ihre Aufmerksamkeit durch Koth, Farbe, Kicnruß u. dergl.
beweisen. Auch werfen sie den Leuten wohl Reifen unter die
Füße, um sie zum Fallen zu bringen; sie hangen den Hun-
den alte Bratpfannen, Trichter u. dergl. an den Schwanz,
und wenn die geängstigten Thiere umherlaufen, wirft und
schlagt man nach ihnen, und empfindet dabei ein unendliches
Vergnügen. Unaufhörlich hört man das Zerplatzen der Rake-
ten in der Luft, und Schwärmer werden unter Gehende und
Fahrende geworfen. Manchem werden Zettel oder Lappen hin-
ten angehängt. Die in einem oberen Stockwerk wohnen, gie-
ßen Wasser auf die, welche unter ihnen aus dem Fenster se-
hen, hinab, und die letzteren spritzen zu jenen hinauf. Wer
so etwas übel nehmen wollte, würde Mangel an Sitten ver-
rathen; im Gegentheil betrachtet man solche Neckerei als eine
Aufmerksamkeit, die man sich zur Ehre schätzen müsse; daher
pflegen auch wohl die Herren die Damen, von welchen sie
bespritzt sind, freundlich zu grüßen. Die Einzigen, die keinen
Spaß verstehen, sind die Polizcibcdienten, die in den Straßen
umherreitcn, und auf Ordnung sehen, weil schon Falle vorge-
kommen sind, daß Fremde das Bespritzen mit Steinwürfen er-
wiedert haben.
Die Feier des Leidens des Erlösers beginnt am Grün-
donnerstage Schlag 12 Uhr Mittags. Hier legt Jeder seine
Arbeit nieder. Keine Glocke darf sich 48 Stunden lang hö-
ren lassen; selbst die Thurmuhrcn dürfen nicht schlagen. Alle
Gaffen sind mit Menschen angefüllt, die aus einer Kirche in
336
Das Königreich Portugal.
die andere gehen. Die Kirchen sind inwendig mit prächtigen
Stoffen ausschlagcn, diese aber mit schwarzen Decken verhängt,
und die tausend Lichter und Lampen stehen und hängen unan-
gezündet da. Aber am Ostersonntag Morgen werden die Gar-
dinen im Nu weggezogen; die Lichter und Lampen strahlen,
die Kanonen donnern vom Castell, und alle Glocken läuten
fröhlich. Man ruft sich fröhlich einander zu: „Jesus ist auf-
gestanden! Hallelujah!" Nun freut sich die ganze Bevölkerung,
daß — die beschwerlichen Fasten zu Ende sind. Viele Fami-
lien sind so erpicht auf das nun erlaubte Flcischcssen, daß sie
sich an die Tafel setzen, sobald die Glocke 12 Uhr in der
Nacht vor Ostern schlägt.
Der Portugiese, besonders der gemeine Mann, ist sehr
höflich. Auf dem Lande wird man von allen Begegnenden
gegrüßt; die Vornehmen verbeugen sich höflich, die Niederen
rufen: Viva! und begleiten diesen Gruß mit einem anmuthi-
gen Lächeln. Jeder, der einem Reisenden in einem Hohlweg
begegnet, weicht bescheiden aus. Begegnen sich ein paar Mäd-
chen niederen Standes, so reichen sie sich die Hände, und küssen
sich auf die Wange. Die Dienstboten küssen der Herrschaft
nicht nur beim Anwünschen eines guten Morgens oder einer
guten Nacht die Hand, sondern nach jeder kleinen Entfernung;
ebenso machen cs die Kinder mit ihren Eltern.
Die Hochzeiten werden auf eine sehr thörichte Weise ge-
feiert. Die Feierlichkeiten dabei nehmen kein Ende, und sind
mit so ungeheuern Kosten verknüpft, daß das junge Ehepaar
oft für die Feier einiger Tage mit jahrelanger Armuth kämpfen
muß. Außerdem ist cs Sitte, daß jeder Ehemann feiner Frau
einen Kopfputz von Edelsteinen schaffen muß. Will eine Frau
oder ein Mädchen in der guten Gesellschaft leben, so muß sie
durchaus Diamanten haben, und das nothwendigste Geschenk,
das eine Mutter ihrer aus den Kinderjahren tretenden Tochter
macht, ist ein Band von solchen Steinen. Die Tracht der
Portugiesinnen ist durchaus nicht geschmackvoll. Sie tragen alle
Farben des Regenbogens an sich, und haben eine unglaubliche
Menge von Locken und Zöpfen.
In ihren Häusern sehen die Portugiesen so wenig wie
die Spanier auf Reinlichkeit und Bequemlichkeit. Selbst vor
DaS Königreich Portugal.
337
den Wohnungen der Großen sieht man Schutthaufen liegen,
und es fallt Keinem ein, die Straßen fegen zu lassen, so daß
selbst in den Straßen der Hauptstadt Lissabon die Kothhaufcn
überall zu sehen sind. Jede Familie, reich oder arm, hält
vieles Federvieh; aber Keiner schafft den dadurch verursachten
Schmutz und die umherliegenden Federn fort. Schöne Equi-
pagen sind etwas Seltenes. Oft sieht man, besonders un-
ter dem Landadel, große, verschlossene Kutschen, die von Och-
sen gezogen werden, weil diese Thiere auf den Gebirgswegen
besser zu gebrauchen sind, als Pferde und Maulthiere, und
auch weniger kosten.
Bei Begräbnissen finden manche sonderbare Gebräuche
statt. Sobald das Glied einer Familie gestorben ist, setzen
sich die Trauernden in schwarzer Kleidung auf ein großes So-
pha am Ende des Zimmers, in dessen Mitte die Leiche
steht. Alle Bekannte kommen dann, um ihr Beileid zu be-
zeugen. Wird der Trauergottcsdienst gehalten, so setzt sich der
Erbe des Verstorbenen zu den Häupten desselben, und hält der
Leiche die Augenlieder offen, so lange die Ceremonien währen.
Die Todten werden meist in den Kirchen beerdigt. Da dies
aber viele Kosten verursacht, so sicht man nicht selten auf
offener Straße vor den Hausthüren einen Leichnam liegen, auf
dessen Brust ein kleiner Becher steht, um von den Vorübergehen-
den einen Beitrag zu den Begräbniskosten zu sammeln. Hat eine
Mutter nicht Geld genug, ihr gestorbenes Kind beerdigen zu
lassen, so trägt sie es nach der Residenz des Bischofs oder
nach der Hauptkirche, und legt die kleine Leiche auf die Stu-
fen hin. Da die Priester nicht gern etwas unentgeldlich thun,
so bleibt die Leiche zuweilen bis an den andern Tag liegen,
ehe sie begraben wird. Doch finden die Nonnen und andere
mitleidige Personen ein Vergnügen daran, solche kleine Leichen
auszuputzen, weil die vor dem siebenten Jahre gestorbenen Kin-
der auch hier als kleine Engel betrachtet werden. Die Eltern
müssen daher auch sich stellen, als wenn sie sich über den Tod
solches Kindes freuten. Was man mit der abgelegten körper-
lichen Hülle nach unserem Tode vornimmt, kann zwar dem
befreiten Geiste ganz gleichgültig seyn; aber für die Hinterblie-
benen hat cs etwas recht widriges, daß die Leichen nicht, wie
Rössel ts Geographie II. 22
1
338 DaS Königreich Portugal.
bei uns, im Sarge ins Grab gesenkt werden; sondern der
Leichnam wird, sobald man ans Grab gekommen ist, aus
dem Sarge gerissen, und nachlässig in die Grube geworfen,
oft sogar ohne in ein Leichentuch gehüllt zu seyn.
Wie in Spanien, so herrscht auch hier der abscheuliche
Gebrauch, schon kleine Kinder in der Wiege für das Kloster-
leben zu bestimmen. Die armen Kleinen werden dann, so-
bald sie anfangen zu gehen, in Mönchskutten gesteckt, und nun
redet man ihnen unaufhörlich von der Heiligkeit ihres Be-
rufs vor, so daß sie zuletzt keinen andern Gedanken haben,
und sich darein finden, weil es nicht anders seyn kann. Wel-
cher schändlichen Mittel man sich oft bedient, die Gemüther
zu verlocken, davon folgendes Beispiel aus der neueren Zeit.
Eine junge Dame war die Braut eines jungen Mannes. Da
aber ihre Verwandten dagegen waren, so suchten sie das Mäd-
chen durch folgende Ränke zu bewegen, mit ihm das Verhält-
niß abzubrechen und den Schleier zu nehmen. Sie gaben ihr
falsche Berichte von der Untreue ihres Verlobten, und bestürm-
ten ihr dadurch gebeugtes Gemüth so lange, bis sie sich ent-
schloß, ihr übriges Leben in einem Kloster zu vertrauern.
Kaum war sie aber eingetreten, so fand ihr Verlobter Mittel,
sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Sie, dadurch aufs
tiefste gerührt, kämpfte anfangs zwischen Liebe und Furcht
vor Schande, endlich entschloß sie sich,, aus dem Kloster zu
entfliehen, und sich mit ihrem Freunde in England trauen zu
lassen. Aber ihr Vorhaben wurde entdeckt, und sie verurtheilt,
zwischen zwei Mauern eingeschlossen zu werden, um so eines
langsamen Todes zu verschmachten. Wirklich mauerte man
sie auch in einem abgelegenen Theile des Klosters ein. Zn
demselben Kloster lebte eine Jugendfreundin, die wahrend des
Vorfalls durch Krankheit in ihrer Zelle festgehalten wurde, und
daher nichts von dem Schicksale ihrer unglücklichen Freun-
din erfahren hatte, und als sie jetzt nach ihr fragte, hieß es,
sie wäre gestorben. Höchst betrübt ging sie wenige Tage dar-
auf zufällig an dem Orte, wo jene schmachtete, vorüber. Da
hörte sie mit Schauder einen leichten Seufzer. Sie erkannte
die Stimme ihrer Freundin, und hörte von ihr selbst die Un-
glücksgeschichte. Befreien konnte sie die Unglückliche freilich
Das Königreich Portugal.
339
nicht, aber sie schlich sich in stiller Nacht zuweilen hin, um
ihr durch Unterhaltung einigen Trost zu gewähren. „Lebe wohl,
theure Freundinl" sagte die Eingemauerte in der einen Nacht,
als sie zur gewöhnlichen Stunde von einander Abschied nah-
men, „ich fürchte, wir sehen uns nie wieder; ich habe die
Ahnung, daß ich mit Dir zum letzten Male spreche." Und so
war es auch; als man am andern Morgen ihr Wasser und
Brot bringen wollte, lag sie in ihrem Blute da; sie hatte
sich in einem Anfalle von Verzweiflung mit einem Messer er-
stochen. In manchen adeligen Familien war cs sonst üblich,
daß die nachgcborncn Kinder gezwungen wurden, ins Kloster
zu treten, damit der älteste Sohn die ganze Erbschaft bekäme,
und der hohe Glanz der erlauchten Familie durch Theilung des
Vermögens nicht geschwächt würde.
Die sonst in Portugal so mächtige Inquisition ist in
neuer Zeit aufgehoben worden. Als das Gebäude geöffnet
wurde, und nun den Blicken des Volks bloß lag, fand man
in den dunkeln Kerkern noch viele Menschcnknochen und Schä-
del herumliegen.
Die Wissenschaften, die Künste, ja selbst die Handwerke
sind in Portugal in einem kläglichen Zustande, theils weil dem
Könige an allem mehr liegt, als seine Unterthanen aufgeklärt
zu machen, theils weil die Geistlichkeit absichtlich das Volk
in Unwissenheit und Aberglauben erhält, theils endlich, weil
die Portugiesen keinen Sinn dafür haben. Will man einen
wohlgearbeiteten Hausrath, ein gutgemachtes Kleid haben, so
muß man dies Alles von England kommen lassen. Darum
können auch die Portugiesen Englands nicht wohl entbehren.
England versieht Portugal mit dessen vielen Bedürfnissen, und
kauft ihm die Erzeugnisse des Landes ab. Am meisten wer-
den Wein — vorzüglich der Portwein, Rosinen,
Südfrüchte und Kork ausgeführt. Da aber Portugal
weniger erzeugt als es gebraucht, so hat es bei dem Verkehr
mit England Schaden, und ist daher ein armes Land, nicht
durch Schuld der segnenden Natur, sondern der trägen, un-
wissenden Einwohner.
Der König von Portugal ist ganz uneingeschränkt. Der
Kaiser von Brasilien in Südamerika, der auf die Krone von
340
Das Königreich Portugal.
Portugal zu Gunsten seiner Tochter verzichtete, gab zwar dem
Lande eine gemäßigte Verfassung, durch die der König be-
schränkt wurde; aber der jetzige König, sein Bruder, Don
Miguel, hat sich nicht daran gebunden, und sich mit Gewalt
zum König gemacht. Man darf sich der königlichen Familie
nicht anders als auf den Knien nahen, und muß so lange,
als sie mit den ihnen Vorgestellten sprechen, auf den Knien
liegen bleiben. Zeigt sich die königliche Familie auf der
Straße, so muß Zeder aus seinem Wagen oder vom Pferde
steigen und demuthsvoll grüßen, was selten mit einem gnädi-
gen Kopfnicken erwidert wird.
Die gewöhnliche Kost des gemeinen Mannes besteht aus
Weizenbrot, Sardellen oder andern Fischen und Wein. But-
ter giebt es wenig; im Lande wird fast gar keine gemacht;
man führt sie aus Irland ein. Dafür werden die Speisen
mit Oel bereitet. Ueberhaupt essen sie sehr mäßig; auch Wein
wird wenig getrunken; aber von frischem Wasser und Gefror-
nem sind sie große Liebhaber. Die gemeinen Portugiesen tra-
gen ein blaues, schwarzes oder braunes Camisol; darüber
werfen sie einen Mantel mit herabhangenden Aermcln, und
den Kopf bedecken sie mit einem dreieckigen Hute. Einen eben
solchen Mantel tragen auch die geringeren Frauen; die vor-
nehmen dagegen haben Mäntel von schwarzseidencn Zcuchen.
Ueber den Kopf haben die gemeinen Frauen ein Tuch gewun-
den, von dem hinten ein Zipfel herunterhängt. An Feierta-
gen tragen sie wohl auch, selbst auf den Dörfern, gestickte
Strümpfe und seidene Schuhe mit goldener Stickerei. Das
Tabacksschnupfcn ist ein allgemeiner Gebrauch bei Vornehmen
und Geringen, bei Männern und Frauen. Einem deutschen
Reisenden begegnete einst eine wohlgekleidcte Frau, die ihn um
eine Prise ansprach, weil sie ihre Dose verloren habe, und
da er ihr versicherte, er führe keine Dose bei sich, so rief sie
mit dem Ausdruck des heftigsten Schmerzes: „ich bin in
Verzweiflung!"
Der Luxus der Vornehmen besteht nicht in glänzend ein-
gerichteten Häusern, sondern, außer den Juwelen, in einer
zahlreichen Dienerschaft. Der Anstand erfordert, daß jeder
Edelmann wenigstens einen Secretair, einen Hauskaplan, meh-
Das Königreich Portugal.
341
rcre Bedienten, Köche, Küchenjungen, Tafeldecker, Vorreiter,
Stall- und Hausknechte u. s. w. habe; auch dürfen einige Stall-
meister nicht fehlen, die mit einem Degen vor der Kutsche ihrer
Herrschaft herreiten. Ebenso hat die gnädige Frau einen Schwarm
von Kammerfrauen, Kammcrjungfern, Nähterinnen, Putzma-
cherinnen, Stubenmädchen, Wäscherinnen um sich, und diese
Leute haben zum Theil wieder ihre Dienstboten. Dieser Luxus
erstreckt sich nach Verhältniß auch auf die andern Stände. Da-
für fehlt es ganz an den bei uns gewöhnlichen Bequemlich-
keiten. In den wohlhabendsten Bürgerhäusern haben in der
Regel nur der Mann und die Frau eine Bettstelle; die Kin-
der schlafen auf der Erde, und die Dienstboten erhalten selten
mehr als einen bloßen Strohsack. Die Frauen und Mädchen
der höheren Stände werden sehr eingezogen gehalten, und dür-
fen sich, außer in der Kirche, selten öffentlich sehen kaffen;
daher pflegen sie auch sehr schüchtern zu seyn. Sie arbeiten,
besonders die Städterinnen, wenig oder gar nicht, außer
wenn sie die Noth dazu treibt, und bringen ihre meiste Zeit am
Fenster zu. Die Weiber der niederen Stände sicht man oft
nach Art der Morgenländer mit untergeschlagenen Beinen auf
Matten sitzen.
Die Portugiesen sind eben so wenig umgänglich wie die
Spanier. Unter den höheren Ständen ist der Umgang steif
und zurückhaltend. Spatziercn zu gehen oder einen Kaffccgar-
tcn zu besuchen, ist gar nicht üblich. Jede Familie bleibt für
sich. Einen Theil des Jahres bringt sie auf dem Lande in
ihrer Quinta, d. i. Landhaus zu. Die niederen Stände
kommen in den Kaffeehäusern zusammen, die aber klein und
schmutzig sind, und die niedrigsten besuchen die Weinhäuser.
Ein Licblingsvcrgnügen der Portugiesen ist der Tanz, den sie
mit Castagnetten zu begleiten pflegen; der Haupttanz ist die
Foffa. Auf den Straßen der Städte hört man Abends und
die halbe Nacht hindurch Guitarrenspicl und Klagelieder. Das
Hauptvcrgnügcn sind aber die Stiergefechte, die hier eben so,
wie wir sie bereits in Spanien beschrieben haben, gehalten
werden.
342
Das Königreich Portugal.
1. Entre Min ho e Duero.
ist ein sehr wohl angebautes Land. Die Berge sind mit
Fichtenwäldern bewachsen, die Thäler sehr gut angebaut; überall
schlingen sich Weinreben an Hecken und Bäumen in die Höhe.
Je mehr man sich der Stadt
O Porto (spr. Uporto) oder Porto nähert, desto häu-
figer und bester werden die Dörfer; endlich steht man am Ufer
des Duero, der Stadt gegenüber. „Es ist ein außerordentlicher
Anblick, wenn man an einem steilen Berge zwischen zerrissenen
Felsen eine große Stadt mit unzähligen Kirchen und Thürmen
entdeckt, wenn man auf rauhen Bergen zwischen Fichtenwäldern
Gärten, Gebäude, Kirchen findet, wenn man herab auf den schö-
nen, reißenden Strom voll Schiffe sieht, das Getümmel, die Thä-
tigkeit der Menschen in Gegenden bewundert, welche die Natur
wilden Thieren zur Wohnung bestimmt hatte." Porto überrascht
durch seine erhabeneLage. Sie ist nächst Lissabon die größte Stadt
des Reichs, und hat etwa 40,000 Einwohner*). Die meisten
Straßen sind krumm, eng, schmutzig und, bergan gehend. Der
schönste Theil der Stadt ist oben auf dem Hügel, wo man in
einer englischen Stadt zu seyn glaubt; so reinlich ist hier alles.
Da Porro eine Handelsstadt ist — sie liegt ja an der Mündung
des Duero in das Meer —, so halten sich hier sehr viele Eng-
länder auf, wodurch der gesellige Ton etwas verbessert ist. Die
See ist von der Stadt fast 1 Stunde entfernt; dennoch können
die Seeschiffe bis zur Stadt kommen. Von Porto hat der Wein
den Namen, der besonders nach England so häufig ausgeführt wird;
aber er wächst nicht hier, sondern am oberen Duero.
Die ganze Provinz ist überaus reizend. „Kein Reisender
wird diesen reizenden Winkel der Erde, der unter den Schönhei-
ten des heißen Klima alle Erfrischungen des Nordens darbietet,
im Sommer ohne Entzücken durchreisen." Sie wird von den Por-
tugiesen eines heißen Bades wegen im Sommer häufig besucht;
aber auch selbst in Badeörtern verlieren die guten Leute ihre steife
Nationalität nicht. Der Adel, so arm er auch meist ist, bleibt
stets für sich, und langweilt sich lieber, als daß er sich mit den
Nichtadelichen abgäbe **). Eine Dame von Rang geht nie an-
*) Fast alle geographische Handbücher geben 50 - 70,000 an. Link
aber sagt, 1801 habe sie nur 30,000 gehabt. Mehr wie um 10,000 hat
sich die Zahl seitdem gewiß nicht vermehrt, man müßte denn die nahe da-
bei liegenden Flecken, die auch 20,000 Menschen enthalten, dazu rechnen.
**) C’est tout conune cliez nous! Zn vielen unsrer Badeörter, wo
doch alle Badegäste Eine Fanülie ausmachen sollten, ist es nicht anders,
und besonders der weibliche Adel glaubt sich herabzulassen, wenn er mit
Richtadlichen umgeht. Ob das ein Beweis von Geistesbildung und Ver-
Das Königreich Portugal.
343
ders aus, als daß ihr Escudero (Stallmeister) in einer Entfer-
nung von 20 Schritten vor ihr hergeht, mit entblößtem Kopfe
und den Hut in der Hand, so wie bei uns eitle Frauen ihren
Jager hinter sich hergehen lasten!
'2. Traz os Montes
ist ein rauhes Gcbirgsland, ganz mit hohen, dürren, un-
fruchtbaren Bergen bedeckt; aber die Thäler sind von den flei-
ßigen Einwohnern gut angebaut. Bedeutende Städte giebt cs
hier nicht. Die kleine, alte und häßliche Stadt
Bragan^a ist nur darum merkwürdig, weil sie das Stamme
haus der königlichen Familie ist.
3. B e i r a
wird von dem höchsten Gebirge Portugals, der Serra de
Estrella durchzogen. Hier ist eine wahre Alpennatur; doch
ist kein Berg so hoch, daß der Schnee den Sommer über
liegen bliebe. Nur die Wintermonate hindurch ist die Serra
mit Schnee bedeckt. Nach der See zu verflacht sich das Land.
Die ansehnlichste Stadt ist
Coimbra. Sie liegt, wie fast alle größere portugiesische
Städte, am Abhange eines Hügels, und zwar eines recht steilen.
Ein Fluß schlängelt sich in seinem weiten Bette dicht an den Hü-
geln vor der Stadt hin, zu der eine große steinerne Brücke führt.
Man sieht Coimbra nicht eher, bis man in das Thal kommt;
aber dann gewährt sie mit ihren vielen Klöstern und Kirchen einen
sehr schönen, überraschenden Anblick. Sobald man sie aber be-
tritt, findet man alles anders. Die Gaffen sind sehr eng, kurz,
krumm, winklig, schlecht gepflastert, steil und kothig, ohne alle
Plätze; alles zeigt, daß es eine sehr alte Stadt sey. Die wich-
tigste Merkwürdigkeit ist die Universität, die einzige des Kö-
nigreichs. Sonderbar nehmen sich die Studenten und Profefforen
aus. Sie haben einen einfachen, langen, schwarzen Rock ohne
stand oder vom Gegentheil ist? Als kürzlich in einem stark besuchten schlc-
sisthen Bade eine Gesellschaft höheren Adels beisammen war, und eine
Dame meinte, man könnte doch mit dem niederen Adel und den Bürger-
lichen nicht wohl sich einlassen, bemerkte ein sehr reicher, aber gebildeter
Graf: „Wie lange wird es doch noch wahren, bis man bei uns nur 2
Klassen: die Gebildeten und die Ungebildeten, unterscheidet?" Das half.
Augenblicklich war der Kastengeist verschwunden, und der Adel ließ sich
herab. ,
I
344
DaS Königreich Portugal.
Aermcl, hinten zugebunden, und vorn vom Halse bis zu den Fü-
ssen mit einer Reihe dichtstehender kleiner Knopfe besetzt. Dar-
über wird ein langer, weiter, schwarzer Nock mit Acrmeln, wie
die Geistlichen bei uns tragen, geworfen. Zeder hat einen kleinen,
schwarztuchenen Beutel in der Hand, in welchem er sein Taschen-
tuch, seine Tabacksdose u. dergl. trägt. Die Studenten gehen
immer im bloßen Kopf; nur die Professoren tragen ein schwarzes
Barett. Wer ohne diesen Anzug geht, wird mit Geld und Ge-
fängniß bestraft.
Coimbra gegenüber, am andern Ufer des Flusses, liegt ein
Landhaus, das noch heute die Quinta der Thränen heißt,
in deren Nähe die Quelle der Thränen unter dem Dunkel herrlir
cher Cyprcsscn der Erde entquillt. In dieser reizenden Gegend
wohnte die einst so glückliche und schöne Jnez (Znes) de Ca-
stro, die Frau des Thronerben Don Pedro, und hier wurde sie
1355 ermordet. König Alfons von Portugal nämlich hatte einen
Sohn, Don Pedro, der einst sein Nachfolger werden sollte. Er
warb für den Sohn hier und da um Königstöchter; aber Pedro
schlug alle aus; denn sein Herz hatte bereits gewählt. Er hatte
Znez de Castro, eine vornehme Castilianerin, .gesehen und ihr Her;
gewonnen, und da er nicht hoffen durfte, seines Vaters Einwilli-
gung zu erhalten, so vollzog er die Vermählung mit ihr in Bra-
gran^a heimlich, und baute ihr die schöne Quinta in der reizenden
Umgegend von Coimbra. Hier lebten die Glücklichen mehrere Zahre
im seligsten Frieden im Kreise von vier Kindern, und die Freuden
der Natur entschädigten sie für die Entbehrung der großen Welt.
In dem berühmten Gedichte deS ausgezeichnetsten portugiesischen
Dichters, Camoens (Kamoengs), der Lusiade, stehen zwei treff-
liche Verse, die sich freilich in der weichen portugiesischen Sprache
schöner als in der Uebcrsetzung ausnehmen, und ihr Glück preisen !
,,Jn Ruhe lebtest du, schöne Jnez, pflücktest deiner Jahre süße
Früchte in jener schönen, blinden Täuschung der Seele, die das
Schicksal nie lange bestehen läßt. In den reizenden Fluren des (Flus-
ses) -Mondego, nie trocken von deinen schönen Augen, lehrtest du die
Berge und die Blümchen den Namen, der in deine Brust geschrie-
ben war."
„Dort antworteten dir deines Prinzen Erinnerungen, die in dei-
ner Seele lebten; immer führten sie dich ihm vor seine Augen, wenn
er sich von den deinigen entfernte, des Nachts in süßen Träumen,
die ihn täuschten, am Tage in Gedanken, die entflohen, und was er
endlich dachte, was er sah, war alles Andenken an Freude."
König Alfons schöpfte endlich Verdacht, da Pedro alle Anträge
ausschlug; das Geheimniß der glücklichen Ebe wurde dem König
verrathen. Er fragte den Sohn nach der Wahrheit des Gerüch-
tes ; aber der erschrockene Prinz wagte nicht, die Wahrheit zu ge-
Das Königreich Portugal.
345
stehen; noch weniger konnte er sich entschließen, seine geliebte Inez
zu verstoßen. Da hielt Alfons mit seinen Günstlingen Rath, und
es wurde der Mord der Inez beschlossen. Wohl warnte die Kö-
nigin und ein Erzbischof den Prinzen, auf seiner Hut zu seyn;
aber er glaubte, man wolle ihn nur schrecken; eine solche That
konnte er vom Vater nicht erwarten. Alfons begab sich mit ei-
nigen Edelleuten nach Coimbra, sobald er erfuhr, daß der Prinz
auf mehrere Tage auf die Jagd gegangen sey. Inez erschrak, als
sie des Königs Ankunft erfuhr. Sie warf sich mit ihren Kindern
ihm zu Füßen, und flehte weinend um seine Gnade. AlfonS wurde
gerührt; die Schönheit und Sanftmuth der Inez hatte seinen
Zorn entwaffnet. Aber sobald sie aus seinen Augen war, regten
die Höflinge seinen Zorn aufs neue auf, und baten ihn so lange,
bis er ihnen erlaubte, den Mord zu vollziehen. Sie begaben sich
in ihre stille Wohnung, und stießen sie mit ihren Dolchen nieder.
Als Pedro den Mord seiner geliebten Inez erfuhr, war er außer
sich vor Schmerz, und empörte sich gegen den grausamen Vater;
doch wurde endlich ein Frieden vermittelt. Sechs Jahre darauf,
nachdem Pedro König geworden war, ließ er die Leiche ausgraben,
die Gebeine, mit königlichen Kleidern angethan und einer Krone
auf dem Haupte, auf einen Thron setzen, und dann in feierlichem
Zuge nach dem prächtigen Marmorgrabe bringen, das er ihr be-
stimmt hatte *).
4. Estremadura
ist meist eben und hügelig und zum Theil so fruchtbar und
gut angebaut, daß man in einem Garten zu seyn glaubt.
Hier liegt die Hauptstadt des ganzen Königreichs,
Lisboa, von uns Lissabon genannt, eine sehr große
Stadt, die größte der ganzen pyrenäischen Halbinsel, mit 250,000
Einwohnern. Sie liegt auf der nördlichen Seite des Tejo, der
aber hier eine Breite von 2 Meilen hat, und etwa 1 Meile da-
von sich in das Meer ergießt. Die Schiffe können bis an die
Stadt kommen, und beständig ist der Fluß mit ihnen bedeckt.
Wenn wir von der Seeseite kommen, und in den breiten Strom
einfahren, so bietet die Stadt einen unvergleichlichen Anblick dar.
Zn einer meilenlangen Ausdehnung erhebt sie sich von dem Ufer
an wie ein Amphitheater zu den zum Theil dicht dahinter, zum
Theil entfernter liegenden Anhöhen. Auf denselben und auf bei-
den Seiten am Meere liegen unzählige Landhäuser, Schlösser,
*) Eine ähnliche tragische Geschichte ist die von Agnes Bernauerin.
S. meine Gcsch. der Deutschen für Töchterschulen, Th. 1, S. 450.
346 -
Das Königreich Portugal.
Gärten, Kirchen und Klöster. Kommt man in die Stadt, so fin-
det man seine großen Erwartungen getäuscht. Ueberall Schmutz
und Armseligkeit. Die Straßen sind zwar zum Theil breiter als
vor dem fürchterlichen Erdbeben 1755, das einen großen Theil der
Stadt zerstörte, aber doch gegen die sehr großen Häuser viel zu
schmal. Diese sind nicht von Stein, sondern von Holz gebaut,
weil man glaubt, daß solche bei einem Erdbeben'nicht so leicht wie
steinerne zusammenstürzen. Das vierte Stockwerk wird hier für
das vornehmste gehalten, weil es reinere Luft hat als die unteren.
Es ist mit einem Balcon versehen, der ein eisernes vergoldetes
Geländer hat, und mit seidenen oder leinenen Marquisen verdeckt
ist. Hier sitzen die Damen, am meisten gegen Abend, lesen oder
nahen oder sehen die Vorübergehenden an. Oefen und Kamine
fehlen überall; ist es kalt, so hüllt man sich in seinen Mantel.
Am auffallendsten ist der abscheuliche Schmutz in den Straßen.
Aller Unrath wird auf die Gaffe geworfen, und da bleibt er lie-
gen, bis der Regen ihn wegschwemmt. Statt der Karren, in der
nen man bei uns den Unrath wegführt, bedient man sich dort —
der Hunde. Eine Unzahl von elenden, mageren, gierigen Hunden
treibt sich dort herrenlos in allen Straßen herum, wühlt in den
Kothhaufen, und frißt die Abgänge vom Fleisch und die umherlie-
genden todten Thiere. Jede Hanthierung pflegt hier ihre beson-
dere Straße zu haben; in der einen wohnen die Gold- und Sil-
bcrarbeiter, in einer andern die Schloffer, die Tischler u. s. w.
Es wandert sich, ungeachtet der gutgepflastertcn Bürgersteige, un-
bequem durch die meisten Straßen der Stadt, weil sie bergauf und
bergab laufen, und Abends sind sie nicht erleuchtet, sondern man
muß sich, um nicht zu stolpern oder von den vielen Tagedieben an-
gefallen zu werden, der Fackeln bedienen.
Unter den Einwohnern sieht man unzählige Neger und Mu-
latten, die größtenthcils zur dienenden Klaffe gehören. Auch un-
terscheiden sich die Gallcgos, die etwa daS sind, was in Neapel
die Lazaroni. Es sind starke, robuste Männer aus Galicia in Spa-
nien, die hierher kommen, um sich mit Tagearbeit etwas zu ver-
dienen. Sie gehören zu den ehrlichsten Leuten der Welt, und sind
dabei so gute Wirthe, daß sie sich als Bettler vor den Klöstern
speisen lasten, um nur ihren Tagelohn unverkürzt ins Vaterland
zurückbringen zu können. Eine große Last für die Einwohner sind
die unzähligen Bettler. Sie sind noch unverschämter als die italie-
nischen. Alle Sraßen sind mit ihnen angefüllt; alle Arten der
körperlichen Gebrechen tragen sie zur Schau, wirkliche und erdich-
tete ; man sieht sie zur Erde fallen, als wenn sie Krämpfe bekä-
men, und was der Gaukeleien mehr sind. Giebt man ihnen nichts,
so verfolgen sie die Leute bis an die Hausthüre, und warten
draußen so lange, bis man wieder herauskommt. Vor allen Häu-
sern, besonders der Reichen, sieht man sie haufenweise stehen, um
Das Königreich Portugal.
347
die Abgänge aus der Küche zu empfangen, und da viele Katholi-
ken das Almosenaustheilen, auch wenn es an Unwürdige geschieht,
für eine verdienstliche Handlung betrachten, so finden sie immer
ihre Rechnung. Von solchem Gesindel werden auch oft Mordtha-
ten in den Straßen verübt, und es vergeht wohl keine Nacht, wo nicht
dergleichen vorfielen. Es ward zwar in neuerer Zeit viel für die
Verbesserung der Polizei gethan; aber in den letzten Zähren ist
die alte Unsicherheit und Unreinlichkeit wieder eingcrissen.
Der schönste Platz ist der Com merz platz. Er liegt am
Strome, wo die Schiffe zu landen pflegen, und hat daher einen
prächtigen Kai. Auf drei Seiten ist er von Prachtgebäuden ein-
geschlossen, und die vierte, nach dem Flusse zu, ist offen. Zn der
Mitte steht die Noßbildsäule König Zosephs. Das bewunderungs-
würdigste Werk Ler Baukunst in ganz Portugal ist die Wasserlei-
tung, welche das Trinkwasser mehrere Meilen weit her nach Lis-
sabon schafft. Sie ist setzt 100 Jahre alt. Der merkwürdigste
Theil derselben ist der, wo sie über ein tiefes Thal hinweggeführt
werden mußte. Hier besteht sie aus 35 Dogen, auf denen die
marmorne Rinne liegt. Neben derselben gehen noch zwei Fußwege
über die Bogen hin, die also nicht nur für das Wasser, sondern
auch für die Menschen eine Brücke bilden. Alles ist hier so fest
gebaut, daß selbst durch das große Erdbeben nichts davon zerstört
wurde. Merkwürdige Gebäude hat Lissabon außer einigen recht
schönen Kirchen nicht, nicht einmal ein königliches Schloß; denn
der Hof hält sich in
Velem auf. So heißt ein Flecken, der mit Lissabon west-
lich zusammenhängt. Hier ist eine prächtige Klosterkirche, in wel-
cher die Grüfte der königlichen Familie sich befinden. Auch steht
hier das königliche Schloß, so, daß also Belem die eigentliche
Residenz des Hofes ist. Doch hält er sich auch oft in
O.uelus (Keluhs) auf, einem Dörfchen in einem engen
Thale, fast 2 Meilen hinter Belem. Auch dies Schloß ist kein
ausgezeichnetes Gebäude; es ist, als wenn man sich seit dem Erd-
beben icheure, große Gebäude aufzuführen, die jede Erneuerung
desselben wieder zerstören könnte. —
Bemposta ist ein drittes königliches Schloß.
Die herrlichste Gegend in ganz Portugal ist die von
Cintra (Szintra), einem Städtchen, noch etwas weiter
von Lissabon als Okuelus, und etwa 1 Meile vom Meere entfernt.
Alle Reisende vereinigen sich dahin, daß man etwas Reizenderes
nicht sehen könne. „Cintra! göttliches Cintra!" ruft einer der-
selben aus, „dich vergesse ich nie! ich vergesse dich nie! Aber
der bloße Versuch, die Schönheit des Ortes zu malen, ist ein ver-
gebliches Unternehmen. Das Gemälde, welches hier die Natur
aufstellt, ist in sich selbst so reich, so mannigfaltig, daß der Künst-
ler es nicht umfassen, nicht zeichnen kann. Zu diesem Stiel
348
Das Königreich Portugal.
spricht sich die Natur anderswo selten aus. Cintra ist ein Zu,
sammenhang kleiner Hügel und Thäler. Bald fuhren wir durch
reizende Haine von mannigfaltig belaubten Bäumen, durch deren
Blätter die Strahlen der Sonne glimmerten; bald öffnete sich
ein weites Landschaftsstück, das wieder in wenigen Augenblicken
dem Auge entschwand. Ein schöner Hügel verschloß die Aussicht;
aber kaum gewannen wir seine Spitze, so lag das herrliche Cintra
mit seinen romantisch zerstreuten Gebäuden in völliger Schönheit
des Sommers vor uns. Die Einbildung kann sich keine Felsen,
maffen denken, deren Formen so von der Gestalt andrer Gebirge
abweichen. Wie aber diese ungeheuren und so seltsam geformten
Steine zusammengebracht und auf einander gcthürmt werden konn-
ten, das würde wohl schwerlich jemand erklären. Unter ihnen er,
hebt sich eine schmale Pyramide, deren Spitze an 3000 Fuß über
der Mceresfläche hervorragen soll. Auf dieser Spitze steht das
Pen ha (Pensa) Kloster gleich einer Krone, das lange noch im
Strahle der Sonne glänzt, wenn Dunkelheit bereits den ganzen
Flecken Cintra überzogen hat. Ein dicker Nebel verhüllt die Mit,
te; die Spitze aber zeigt sich in vollkommenem Lichte. “ Zm
Sommer halten sich in Cintra viele Vornehme auf, die hier ihre
Quinta's haben; denn es ist die Luft hier viel kühler und gesün-
der. Die vielen sich hier aufhaltenden Damen bringen den Mor-
gen damit hin, auf großen stattlichen Eseln spatzicren zu reiten,
so daß man oft großen Gesellschaften von ihnen begegnet.
Alles ist hier anders als in Lissabon, alles reinlich, freundlich
und behaglich. Eine Reisende schreibt darüber an ihre Freundin:
Denke mich Dir am Fenster meines Zimmers in Cintra. Die
wcißgemalten Wände, der saubcrgctäfelte Fußboden, die altmodi-
schen Stühle erwecken das Andenken an Behausungen, die ich
in achtbaren englischen Pachthäusern, tief im Innern des Lan-
des, sah. Das schneeweiße Barchentbette und die zierliche Toilette
mit breitgestreiftem, blendend reinem Muffelin bedeckt, gaben ein
Ansehen von Reinlichkeit, Ordnung und Bequemlichkeit, daS für
Geist und Körper gleich erquickend war; doppelt erfreulich durch
den Gegensatz, den er zu der Unsauberkeit in Lissabon bildete.
Doch laß mich das Fenster öffnen. Welcher Hauch von Wohlge,
ruch steigt rings um mich auf! Orangen, und Citronenbäume von
außerordentlicher Größe senden ihre vermischten Düfte von Bill,
then und Früchten durch den leichten Wind, der vom Meere her
weht, und ich sehe das blaue Wasser des Oceans in einer Ent-
fernung von 1 Meile deutlich in der Sonne funkeln, welches je-
doch nur 4- Stunde von hier zu wogen scheint, so rein und klar
ist die Atmosphäre, und der Geruch des Lavendels und Rosmarins
vermischt sich mit dem würzigen Dufte der Gartennelke, die auf
dem Firste jeder Gartenmauer blüht. Ein verworrenes, aber lieb-
liches Murmeln der Wasserfälle, das Gesumme der wilden Bienen
Das Königreich Portugal.
349
und die verschiedenen Tone der Singvögel, unter denen sich die
Kaube und Ringeltaube auszeichnen, ergötzen das Ohr, während
ein wolkenloser Sommerhimmel Licht, Leben und Freude über alle
Gegenstände ausströmt."
„Ich machte," sagt ein andrer Reisender, „einen Spatzier-
gang nach der Bergspitze des Klosters Penha. Der Weg war
lang," — man klettert wenigstens 2 Stunden, — ,, wand sich
oft, war steil und beschwerlich. Das Kloster scheint auf Klippen
zu schweben, die jeden Augenblick herabzustürzen drohen, und der
Anblick von unten hinauf erregt zugleich Bewunderung, Entzücken
und Schauder. Das vorzüglichste ist hier die unermeßliche Aus-
sicht, die sich nach allen Seiten eröffnet!" Dicht unter den
Füßen liegt das Paradies von Cintra mit seinem Chaos von Fel-
sen, seinem mannigfachen Grün und seinen duftenden Orangengär-
ten; in größerer Ferne die Fluren Portugals, und im Westen die
unabsehbare Bläue des rollenden Weltmeers. Eine Meile von
Cintra liegt hart am Strande ein Fels, den man P edra (Stein)
nennt. Ein schmaler Fußsteig führt auf seine Spitze, und erst
nach schwerer Mühe gelangt man hinaus. Die Spitze ist ziemlich
breit; tritt man aber an den Abhang, so ergreift den Reisenden
Schauder und Entzücken. „Die Felswand senkt sich lothrecht
gegen das Weltmeer, dessen Wellen sich an dem Fuße brechen.
Stehen konnte ich nicht länger," sagt jener Reisende, „sondern
ich mußte mich auf den Leib niederlegen. So schaute ich hin
über das unermeßliche Weltmeer, und entdeckte mit dem Fernrohre
mehrere fernsegelnde Schiffe. Die Aussicht war erhaben, aber
schauerlich. Ich schwindelte, wenn ich die unermeßlich hohe Wand
hinabblickte, die hier die Klippe bildet. Und siehe! Zunge Bauer-
burschen kletterten an den kleinen, kaum bemerkbaren Unebenheiten
des Felsens, mit Hand und Fuß sich anklammernd, an dieser
schroffen Felsenwand auf und ab. Dies geschieht zur Ergötzung
der Reisenden, die aber nur Schauder und Grausen dabei empfin-
den; denn der geringste Fehltritt würde diese Wagehälse dem schreck-
lichsten Tode Preis geben, indem zahllose kleine spitzige Klippen
am Meeresufer hingesäet sind, an denen sie zerschellen würden."
— Nicht weit von Cintra, aber in einer wilden, kahlen, einför*
migen Gegend, liegt das
Korkklofter, auf und in einem Felsen, von dem man das
Meer übersehen kann. Die Zellen nämlich, die nicht viel größer
als ein Grab sind, die Kirche und die Sakristei sind größtentheils
in den Felsen gehauen, und daher so feucht, daß man die Wände
mit Korkholz ausgeschlagen hat; daher der Name. Scchszehn bis
zwanzig Franziskanermönche führen hier ein elendes, trauriges Le-
ben, und haben nur Brot, Fische und Früchte zu ihrer Nahrung.
Das Licht fällt spärlich durch in den Felsen schief gebrochene Oeff-
nungen hinein. Hier wird ein Loch gezeigt, in dem man weder
350
DaS Königreich Portugal.
gerade sieben noch liegen kann, und doch hat hier vor 200 Jah-
ren ein Mönch 16 Jahre lang freiwillig zugebracht. Bl'ätrer
dienten ihm zum Lager, und ein Stein abwechselnd zum Sitz und
zum Kopfkissen. Diese Narrheit wird von den ehrlichen Portugie-
sen als eine große Frömmigkeit betrachtet, und sein Grab als das
eines Heiligen verehrt. Noch etwas nördlicher, auch nahe an der
Seeküste, liegt
Mafra, ein Flecken, in einer einsamen, wüsten Gegend.
Seine Merkwürdigkeit ist ein ungeheures, aber nicht geschmackvol-
les Gebäude, welches ein königliches Schloß, eine Kirche und ein
Kloster enthält. Vor etwa 100 Jahren ließ es ein König des
Landes bauen. Es sollte ein zweites Escorial werden, und wirk-
lich wurden ungeheure Summen darauf verwendet. Es ist ein
gewaltiges Viereck; man läuft sich müde, wenn man es umgehen
will. Es enthält allein 5200 Fenster. Oben ist es platt, so daß
man überall darauf herumgehen kann.
5. A l e m t e j o-(Alengtejo, das I wie im Fran-
zösischen ausgesprochen).
Nur am'Tejo und am Meere ist diese Provinz eben, sonst
überall bergig und sehr schlecht bebaut. Die größte Stadt
ist hier
Evora, alt, mit krummen, engen, winkligen Gassen und ho-
hen, gothischen Häusern, voll Kirchen und Klöster. Das einzig
Merkwürdige ist ein Franziskanerkloster, dessen Mauern und Säu-
len ganz mit Menschcnknochen und Schädeln bedeckt sind, ein wah-
res memeuto inori!
6. Algarve,
ein schmales Küstenland, das durch Gebirge vom übrigen Por-
tugal geschieden wird. Bedeutende Städte giebt cs hier nicht.
Die azorischen Inseln
gehören zu Portugal, ob sie gleich weit westlich, auf dem
Wege nach Amerika, liegen. Es sind ihrer 9, alle sehr felsig,
mit Lava und vulcanischer Asche bedeckt; denn unter ihnen
muß sich ein großer vulcanischer Hecrd befinden, der dann und
wann Erdbeben und Ausbrüche bewirkt. Erst nach 1811 ent-
stand eine kleine Insel, die sich durch vulkanische Kräfte aus
Das Königreich Dänemark.
351
dem Meeresboden emporhob, aber nach 2 Jahren bei einem
Erdbeben wieder versank. Der Boden ist sehr fruchtbar, und
das Klima sehr mild. Sonst haben die südlichen Gegenden
bei aller ihrer Lieblichkeit einen Ueberfluß von Schlangen und
giftigen Insekten. Davon sind aber diese glücklichen Inseln
ganz frei. Die Einwohner sind meist Portugiesen, oder stam-
men wenigstens von daher. Auch wohnen hier noch viele
Leute, die aus Flandern herstammen; denn Flandrcr entdeckten
die Inseln zuerst. Man nennt sie daher auch wohl die slam-
ländischen oder flämischen Inseln. Die beiden größ-
ten heißen San Miguel und Terceira (das t wird ganz
kurz ausgesprochen).
Noch besitzt der König von Portugal folgende Länder:
1. in Afrika:
Die Insel Porto Santo.
Die weinreiche Insel Madeira (das i wird ganz kurz
ausgesprochen). Beide an der Westküste von Afrika.
Die Inseln des grünen Vorgebirges, ebenda-
selbst.
Einige Plätze im Königreich Kongo, auch auf der afri-
kanischen Westküste.
Einige Plätze auf der Küste Mosambik (auf der Ost-
küste von Afrika).
2. in Asien:
Die Insel und Stadt Goa, auf der Küste Malabar in
Ostindien diesseit des Ganges.
Die Insel Macao bei China.
Das Königreich Dänemark.
Das Königreich besteht aus festem Lande und aus In-
seln. Das feste Land bildet eine Halbinsel, die sich vom
352
Daö Königreich Dänemark.
Hcrzogthum Holstein gerade nördlich in daö Meer erstreckt,
und die Halbinsel Jütland heißt. Sie zerfallt in zwei
Theile. Der nördlichere heißt Nordjütland oder Jütland
schlechtweg, der südlichere Schleswig. Die größten Inseln
sind: Seeland, Fünen (oder Fyen), Langeland, Laa-
land, Falster. Entfernt von diesen, in der Ostsee, liegt
B o r n h o l m.
Boden: Das ganze Land ist eben oder hügelig. Berge
giebt es hier gar nicht. Aber die Abwechselung von Hügeln
und Thälern, von Wäldern und Wiesen, ist hier und da, be-
sonders an den Küsten Seelands, höchst reizend, und Reisende
sprechen mit Entzücken von den herrlichen Gegenden dieses nörd-
lichen Landes. Im Innern sind dagegen diese Inseln weite
Ebenen, die das Auge wenig erfreuen können. Auch auf Jüt-
land sind die Gegenden meist öde und kahl; nur an der Ost-
küste findet man mehr Abwechselung: Felsen, vom Meere aus-
gewaschen, fruchtbare Hügel, bewaldete Halbinseln. Die In-
seln sind auch größtentheils recht fruchtbar und gut bebaut. In
Jütland zieht sich von Norden nach Süden, ungefähr in der
Mitte, ein dürrer Strich hin, den man die Heide nennt;
dagegen ist an der Westküste der Boden fettes Marschland.
Klima: Nach seiner nördlichen Lage sollte man glau-
ben, daß Dänemark sehr kalt und rauh sein müßte. Das ist
cs aber nicht, weil die Kälte durch die Ausdünstung der See
gemildert wird; dagegen ist cs aber sehr feucht und nebelig;
selten hat man, wie in Großbritannien, recht heitere Tage,
und der selbst klare Himmel ist nie recht blau, sondern mehr
graublau. Im Durchschnitt besteht mehr als der dritte Theil
des Jahres aus Regentagen. Der Winter ist nicht beson-
ders streng, aber er dauert lange, ist feucht und naßkalt, und
der häufige Schnee bleibt selten lange liegen. Zwar frieren
zuweilen die Meerengen zwischen den Inseln zu, und sogar so
fest, daß man mit Schlitten darüber fahren kann, ja vor un-
gefähr 170 Jahren der kühne König von Schweden Karl X.
Gustav mit seinem ganzen Heere hinübermarschirte; aber
das rührt nicht von der strengen Kälte her, sondern von dem
Treibeise, das sich zwischen die Inseln schiebt und dann zusam-
menfriert. Der Frühling ist unangenehm, feucht, rauh.
Das Königreich Dänemark.
353
windig; selbst der Mai ist noch ziemlich kalt. Der Som-
mer, der erst im Junius beginnt, ist den Tag über sehr
heiß; die Nächte aber sind kühl, und das Wetter ist sehr ver-
änderlich. Der Herbst ist die angenehmste Jahreszeit; aber
er dauert nur den September und den halben Octobcr hindurch;
dann ist der Winter schon wieder da. Demnach kann man
das Klima Dänemarks kein angenehmes nennen. Dagegen
ist es gesund. Die Menschen sind daher kräftig, und erreichen
oft ein hohes Lebensalter.
Gewässer: Auf der Westseite von Jütland ist die
Nordsee, die hier West sce genannt wird. Nördlich biegt
sie sich um Jütland herum, und bildet im Osten von Nord-
jütland , und nördlich von Seeland und Fünen ein großes
Wasserbecken, das Kattegat. Von dem letzteren geht ein
langer, schmaler Meeresarm in westlicher Richtung in das In-
nere von Nordjütland, und reicht beinahe bis an die Wcstsee;
er heißt der Lym-Fiord (Fiord bedeutet Meerbusen). Fer-
ner dringt ein ähnlicher, aber nicht so tiefer, dafür aber brei-
terer Meerbusen von Norden nach Süden, der I se-Fiord.
Mit der Ostsee hangt das Kattegat durch drei Meeren-
gen zusammen: den Sund, den großen Belt und den kleinen
Belt.
Der Sund ist zwischen Schweden und Seeland, und
heißt bei seiner nördlichsten Mündung der Ore-Sund. Durch
ihn gehen die meisten, wenigstens die größeren Schiffe, die
aus der Nordsee in die Ostsee oder umgekehrt fahren. Sie
müssen aber am Öresund einen Zoll an Dänemark bezahlen.
Der große Belt ist zwischen Seeland und Fünen. Er
ist der breiteste; 3 — 4 Meilen breit.
Der kleine Belt ist zwischen Fünen und Jütland,
und wird am wenigsten befahren.
Noch sind zwei Meerbusen, oder vielmehr Meercsarme
der Ostsee zu merken. Sie dringen von Osten nach Westen
in Schleswig ein. Der nördlichere heißt der Flensburger-
Wiek, der südlichere die Schlei.
Flüsse hat Dänemark sehr wenige, und diese von kei-
ner Bedeutung. Wir erwähnen daher nur die Eider, die
auf der Gränze von Deutschland oder Holstein in die Nordsee
Nösseltö Geographie II. 23
354
Das Königreich Dänemark.
fließt. Daß sie durch den Schleswig-Holstein schcn-
Kanal mit der Ostsee verbunden ist, haben wir schon bei
Deutschland gesagt. Genau genommen ist also die Halbinsel
Jütland eine Insel; denn sie ist durch die Eider und den Ka-
nal ganz von Deutschland getrennt.
Producte: Daß Dänemark nicht viel Mineralien ent-
halte, liegt in der natürlichen Beschaffenheit; denn cs hat ja
keine Gebirge. Weit mehr liefert das Pflanzenreich; nament-
lich wachst hier nicht nur hinlängliches, sondern selbst über-
flüssiges Getreide. Von Obst bringt das Land so viel
hervor, daß nicht alles hier verbraucht werden kann, und vie-
les nach Rußland und Schweden ausgeführt wird. Daß die
feineren Sorten hier nicht fortkommen, versteht sich von selbst,
aber Acpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen. Besonders reich
ist das Thierreich. Die großen, starken Pferde, die fetten
Mast ochsen, der Käse von Jütland sind weit und breit
berühmt. Auch Schafe und Schweine werden in großer
Menge gehalten. Die Küsten, Flüsse und Seen liefern einen
Ueberfluß von Fischen. Man kann Dänemark zwar mehr
ein armes, als ein reiches Land nennen; aber cs bringt so
viel hervor, daß die Einwohner dabei bestehen können.
Einwohner: Die Dänen sind germanischen Ursprungs,
also unsere Stammverwandte. Das zeigt auch ihre Sprache,
die bei aller Verschiedenheit offenbar von der altdeutschen aus-
gegangen ist. Sie sind meistcntheils gutgewachsene, starke
Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren, und haben
einen dauerhaften Körper. Bei den Frauen wird besonders die
Weiße und Feinheit der Haut gerühmt. Der Däne ist tapfer,
aber friedliebend; wenig unternehmend, aber arbeitsam und beharr-
lich ; bescheiden, aber voll Gefühl seiner Würde, wenn man ihn
unterdrücken und verachten will; gastfrei, aber nicht dienstfertig;
heiter und fröhlich unter seinen Freunden, aber etwas kalt und
steif gegen Fremde; mehr ein Freund der Bequemlichkeit als
der Pracht; mit vielem Scharfsinn begabt, aber etwas langsam
und kleinlich; geneigt zu hoher Begeisterung, aber ohne Rasch-
heit im Handeln.
Außer den Danen finden wir auch noch Friesen im
Das Königreich Dänemark.
355
Lande. Sie wohnen in Schleswig, an der Westküste, sind
auch germanischen Stammes, und haben ihre eigene Sprache.
Die Religion ist die lutherische. Die höchsten Geist-
lichen heißen Bischöfe.
Die Hauptbeschäftigung der Einwohner ist der
Landbau, nächstdcm die Viehwirthschaft. Fabriken giebt es
auch wohl hier und da; aber sie sind nicht zahlreich und vor-
züglich genug, um für das Land hinzureichen. Indessen ge-
brauchen nur die höheren Stände die Zufuhr von außen; der
gemeine Mann pflegt sich die groben Zeuche, die er gebraucht,
selbst zu weben. Auch der Handel beschäftigt viele Menschen.
Die Dänen sind geschickte und muthkge Seefahrer.
Die Bildungsanstalten sind in Dänemark gut ein-
gerichtet; die Dänen stehen daher den Deutschen an Bildung
wenig nach, und mögen manche deutsche Provinz wohl noch
übertreffen.
Die Sitten der Dänen unterscheiden sich von denen
der Deutschen nicht wesentlich. Das ist besonders in den
Städten und überhaupt unter den gebildeten Ständen der Fall.
Mehr Eigenthümlichkeit haben die Bauern. Die Dänen sind,
wie die Engländer, starke Fleischcsser, und da das Fleisch für
die Armen zu theuer ist, so wird auch Pferdefleisch auf den
Markt gebracht; doch muß das Pferd, ehe cs geschlachtet
wird, von Polizeibcamtcn besehen werden, und ist es gesund,
so erhält es einen Stempel auf die vier Hufe, um zu verhü-
ten, daß nicht gefallene Pferde verkauft werden. Die liebste
und gewöhnlichste Speise der dänischen Bauern ist das Salt-
Mad-Fad. Es besteht aus gekochtem, gesalzenem und geräu-
chertem Fleische, Speck, Schinken, Würsten u. s. w. Sonn-
tags wird dies alles durch einander gekocht, und dann, bis es
aufgezehrt ist, alle Sonntage auf den Tische gebracht. So
gesellig sind die Dänen nicht als wir Deutsche; jede Familie
lebt mehr für sich. Am meisten Biederkeit findet man in
Schleswig.
Der König ist ganz unumschränkt; aber die Regierung
ist milde und gerecht, und daher wird der König von seinen
Unterthanen sehr geliebt. Man theilt das Königreich in Stifts-
ämter ein, die wir aber übergehen wollen.
23*
356
Das Königreich Dänemark.
1. Seeland,
die größte Insel des Königreichs, ist meist flach, hat nur ein-
zelne Hügel, aber die vielen Meerbusen, bewaldeten Landspitzen,
Landsitze und englischen Gärten machen sie zu einem sehr an-
genehmen Aufenthalte, und einzelne Punkte sind reizend zu nen-
nen. Die Hauptstadt und Residenz des Königs ist
Kopenhagen, dort Kiöbenhavn genannt. Sie liegt am
Sunde, ist eine große Stadt von etwa 120,000 Einwohnern, und
eine der schönsten Städte des Nordens; denn hat auch Peters-
burg einzelne weit prächtigere Palläste und Stadttheile, so findet
man doch in Kopenhagen nicht wie dort hölzerne Häuser neben
Prachtgebäuden. Die meisten Häuser sind, wie in Holland und
England, von Backsteinen, nur wenige von Bruchsteinen. Die
Straßen sind gut gepflastert, und zum Theil schnurgerade; denn
mehrmals haben große Feuersbrünste hier gewüthet, und man
sieht daher wenig alte Gebäude. Man unterscheidet drei Stadt-
theile. Der eine, unbedeutendste Theil liegtauf der Insel A m ack,
also jenseit eines schmalen Meeresarms, und heißt Christians-
haven. Die beiden andern Theile aber liegen neben einander
auf Seeland. Der südwestliche Theil heißt die Altstadt. Ihre
Straßen sind nicht durchaus gerade, doch seit dem großen Brande
1793 sehr verschönert worden. Am südwestlichsten Ende steht das
neugebaute Schloß C h r i st i a n s b u r g, ein großes, fast ungeheu-
res Gebäude. Es brannte 1794 ab; ein fürchterlich schönes
Schauspiel, als in dunkler Nacht die Lohe gen Himmel stieg.
Tausende von Menschen umherstanden, und keiner retten konnte *).
Viele Jahre stand die schwarze Ruine da; aber seit einigen Jah-
ren ist das Schloß wieder erbaut. Eine lange, breite, schnurge-
rade Straße trennt die Altstadt von der nordöstlich liegenden
Neustadt. Neben dieser Straße ist der größte Platz der Stadt,
der Königs platz, in dessen Mitte die Bildsäule Christians V.
steht. Der schönste Platz ist aber der Friedrichsplatz. Er
*) Ein Mann, in einen Mantel gehüllt, wurde der umherstehendcn
Menge oben in der Mitte des brennenden Gebäudes plötzlich sicht-
bar. Die Treppen brannten bereits; aus einem Fenster zu springen war
wegen der Höhe nicht möglich, eben so wenig, als ihm mit einer Leiter
zu Hülfe zu kommen. Die Gluth und die Flammen trieben ihn immer
weiter nach dem noch nicht brennenden Flügel, zuletzt auf den äußersten
Balcon. Weiter konnte er nicht; jeder Rückweg war abgeschnitten, und
unter ihm stand schon alles in lodernden Flammen. Alle Tausende sahen
schaudernd und angstvoll zu ihm hinauf, er Ptill in die Gluth hinab.
Als aber die Flammen immer naher rückten, hüllte er den Kopf in den
Mantel und — ein allgemeiner Schrei des Entsetzens! — stürzte sich in
das unten prasselnde Feuermeer, und wurde nrcht mehr gesehen.
Das Königreich Dänemark.
357
bildet ein regelmäßiges Achteck. Vier schnurgerade Straßen lau-
fen von ihm aus. In der Mitte steht die Roßbildsäule Fried-
richs V., und die vier großen Gebäude, die ihn umgeben, heißen
die Am alien bürg. Seit jenem Schloßbrande ist hier die Re-
sidenz der königlichen Familie. Ein drittes Schloß ist die Ro-
sen bürg, an sich nicht groß, aber mit einem weitläuftigen schö-
nen Garlen, der ein Hauptspatziergang für die Kopenhagner ist.
Zwischen der Alt- und Neustadt auf der einen Seite, und der
Insel Amack auf der andern ist der Hafen der Stadt, der immer
voll Seeschiffe liegt. Nur ist Schade, daß längs desselben nicht
wie anderwärts Kai's angelegt sind.
Die Znsel Amack, auf welcher Christianshaven liegt, ist der
Gemüsegarten für Kopenhagen. König Christian II. nämlich, der
vor ZOO Zähren regierte, hatte eine niederländische Frau, eine
Schwester Kaiser Karls V. Da sie sich sehr nach dem holländischen
Gemüse und Käse sehnte, so ließ der König holländische Bauern nach
Amack kommen. Diese Leute haben bis heute ihre Tracht, ihre
Sitten und ihre Sprache beibehalten, und versorgen die Stadt
mit Gemüse, Milch, Butter und Käse.
Die Lebensart in Kopenhagen unterscheidet sich von der der
nördlichen deutschen Städte nicht bedeutend, vielleicht ist sie aber
noch feiner. Der meiste Aufwand wird in Esten und Trinken
gemacht, weil alle Nordländer starke Esser sind. Daher sind die
Gastmähler hier kostbar und üppig. Die Geselligkeit wird dadurch
sehr befördert, daß der Adel gebildet genug ist, um sich nicht zu
isoliren. Alle gebildete Stände gehen hier mit einander um;
doch lebt, wie schon gesagt, jede Familie mehr für sich, als mit
andern. Zm Allgemeinen herrscht unter den höheren Ständen
viele Sittlichkeit; desto wüster ist die Lebensart des gemeinen
Mannes, wie gewöhnlich in Handelsstädten, wo der Verdienst leicht
und ansehnlich ist.
Kopenhagen hat eine Universität, die sonst sehr schöne
Sammlungen hatte. Ein großer Theil derselben ist durch die ver-
schiedenen Feuersbrünste, besonders durch das Bombardement durch
die Engländer 1807, zu Grunde gegangen.
Die Gegend um die Stadt ist sehr schön. Der Boden hebt
und senkt sich wellenförmig, ist mit Buchen - und Eichwäldern hin
und wieder bedeckt, und jeder Hügel gewährt eine reizende Aus-
sicht auf das Meer und die schönen Landsitze am Sunde. Zn
der Nähe sind mehrere Lustörter, meist zugleich Lustschlösser des
Königs. Am nächsten bei der Stadt, nur è Stunde davon, ist
F r i ed r i ch s b o rg , ein königliches Schloß mit einem Gar-
ten. Hier hält sich der Hof während des Sommers auf. Drei
Meilen von Kopenhagen ist das Schloß
Hi rsch Holm, ein großes viereckiges Gebäude, aus weiß
marmorirten Backsteinen aufgeführt, mit einem Graben umgeben.
358
Das Königreich Dänemark.
Die Pracht der weiten, langen Zimmerreihen ist wahrhaft fürstlich.
Besonders ist der Speisesaal merkwürdig. Hier sprudelt nicht
nur ein Springbrunnen Wasser aus, sondern auch 12 andere
Brunnen lassen ihr Wasser die Wände herabfließen, was in heißen
Sommertagen recht angenehm seyn mag. Eine sehr liebliche
Landschaft, reichlich mit Buchen/, Birken- und Eichwäldern be-
kleidet und von mehreren kleinen Seen im Schatten der Waldung
noch mehr belebt, führt uns 1 Meile weiter nach
Friedrichsborg. Das Schloß ist eine ungeheure ge-
schmacklose Masse, aus Back - und aus Bruchsteinen theils in
gothischem, theils in griechischem Geschmacke aufgeführt. Es liegt
am Ufer eines kleinen Sees. Am meisten zieht den Beschauer die
Reihe von Gemälden an, welche die dänischen Könige und ihre
Frauen darstellen. Wie stark spricht aus den Zügen Vieler das
Gemüth! Am merkwürdigsten möchten uns darunter die Abbil-
dungen Christians II. und seiner Frau Isa bella seyn. So
wie in den Mienen jenes grausamen Königs Harte und Herzens-
kalte liegt, so erkennt man in Isabellens Zügen die Herzensgute
und Sanftmuth, die sie gegen ihn im Glück wie im Unglück zeigte.
Es ist bekannt, daß ihn die Dänen wegen seiner Grausamkeit und
Willkür absetzten *). Im Glück hatte er die gute Zsabella durch seine
Launen unaufhörlich gequält, und da sie im Lande eben so beliebt als
er verhaßt war, so machten ihr die dänischen Stände die vortheil-
haftesten und ehrenvollsten Anträge, wenn sie ihr Schicksal von
dem ihres eingekerkerten Mannes trennen wollte. „Nein!" sagte
sie, „ich will nicht glücklich seyn, wenn er eS nicht ist, und nicht
regieren, wenn er der Krone beraubt ist." Sie überlebte seine
Regierung nur 3 Jahre. Sie ist dieselbe, um derentwillen die
Bauern aus Holland nach Amack kamen.
Nicht weit von diesem Schlosse finden wir am nördlichen
Ende des Sundes die Stadt
Helsin gor, eine hübsch gebaute Stadt, deren Häuser, wie
in Holland, aus unbeworfenen Backsteinen bestehen. Sie ist leb-
haft, weil hier der gewöhnliche Ueberfahrtsort nach Schweden ist,
und also fast stündlich Fremde abgehen und ankommen. Hier niuß
jedes durch den Sund fahrende Schiff beilegen, und einen Zoll
bezahlen. Nahe dabei steht die kleine Festung
Krön borg, deren Kanonen jedes ungehorsame Schiff zur
Erlegung des Sundzolls zwingen würden. In dem königlichen
Schlöffe saß die eben so liebenswürdige als unglückliche Königin
Mathilde eine Zeitlang gefangen. Sie war die Frau des gei-
stesschwachen Königs Christian VH., und eine Schwester des da/
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.
Th. 3., S. 149 und 150.
DaS Königreich Dänemark.
359
maligen Königs von England. Der mächtige Minister des Königs,
Graf Struensee, der seinen großen Einfluß auf den schwachen König
gemißbraucht hatte, wurde 1772 von seinen Feinden plötzlich gestürzt,
gefangen genommen und bald darauf aufs Blutgerüste gebracht. Die
junge Königin, die am Hofe viele Feinde hatte, wurde in seinen
Sturz verwickelt; man gab ihr Schuld, an den Ränken deS Grafen
Theil gehabt zu haben, und brachte sie in das Schloß von Kron-
borg, wo sie in großer Angst lebte, ob nicht ihre Feinde sie zu
lebenswieriger Gefangenschaft verurtheilen würden. Endlich wurde
ihr angekündigt, sie solle die Freiheit wieder haben, aber sogleich
an Bord eines Schiffes gehen, um das Reich für immer zu ver-
lassen. Im ersten Augenblicke überließ sie sich ganz der Freude;
aber als sie weiter erfuhr, sie dürfte die kleine Prinzessin, die sie
wenige Monate vor ihrer Gefangenschaft geboren hatte, nicht mit-
nehmen, versank sie in eine tiefe Traurigkeit. Die Pflege dieses
Schmerzenskindes war ihr in den Tagen der Angst ihr einziger
Trost gewesen, und sie hatte eine mehr als mütterliche Zärtlichkeit
zu diesem einzigen Gesellschafter in ihrem Kerker. Dazu kam,
daß das Kind gerade die Masern hatte, und also der mütterlichen
Pflege doppelt bedurfte. Es währte lange, ehe sie sich entschließen
konnte, das liebe Kind zu verlassen. Endlich drückte sie es krampf-
haft an ihr Herz, und stieg in einer Art von Verzweiflung in Las
Schiff. Hier blieb sie immer auf dem Verdeck, und schaute nach
Kronborg sehnsüchtig zurück, wo ihr geliebtes Kind weilte, bis die
Nacht ihr die Aussicht entzog. Die Windesstille machte, daß man
am andern Morgen Kronborg noch sah. Mit schmerzlichem Ver-
gnügen sah sie unverwandt hin, so lange, bis sie die Küste ganz
aus den Augen verlor. Man brachte sie nach der Stadt Eelle
im Hannoverschen; aber sie war nicht mehr dieselbe, ihr Herz war
gebrochen, ihr Verstand war verwirrt, und noch drei Jahre lang
lebte sie im Schlosse von Eelle in düsterer Schwermuth. Oft sah
man sie mit starrem Blick, das aufgelöste rabenschwarze Haar um
den Kopf herumfliegend, in wilder Hast durch den Schloßgarten
irren, als wenn sie ihr geliebtes Kind suchte. In ihrem stillen
Zimmer standen die Bildnisse ihrer Kinder; oft sprach sie mit ih-
nen, als wenn sie gegenwärtig wären, und wenn sie nicht antwort
tcten, fing sie an bitterlich zu weinen. Endlich machte der Tod
ihren Leiden, vor denen auch ihre Krone sie nicht schützen konnte,
ein Ende.
Bei dem Schlosse von Kronborg ist ein Garten, welcher der
Hamlets Garten heißt, weil hier Hamlets Vater ermordet
seyn soll. Wir beziehen unS dabei auf Shakespears bekanntes
Trauerspiel.
Von Kopenhagen einige Meilen westlich liegt
Röeskilde, von uns Noschild genannt, einst die Haupt-
stadt von Dänemark und der Sitz der Könige, gegen sonst eine
360
Das Königreich Dänemark.
sehr kleine Stadt. Ihre einzige Merkwürdigkeit ist die alte Dom,
kirche aus dem 10- Jahrhundert, in der sich die Grabmäler der
dänischen Könige seit jener Zeit befinden. — Wenn wir in süd-
westlicher Richtung quer durch die Insel reisen, so kommen wir
nach
Soröe, auf einer Insel zwischen drei kleinen Seen, in ei,
ner höchst lieblichen Gegend. Das Städtchen ist sehr klein, und
die Ritterakademie, die sonst berühmt war, jetzt ganz unbedeu-
tend, so daß wir sie gar nicht erwähnen würden, hätten sich nicht
mehrere Profefforen derselben sonst als treffliche Dichter ausgezcich,
net. Wohl mochten die schöne Gegend, die herrlichen grasreir
chen, von dunkeln Bäumen umschatteten Ufer des Sees, geeig-
net seyn, poetische Begeisterung zu erzeugen! — Noch einige Mei-
len weiter, südwestlich, und wir finden am Ufer des großen Belts
Korso er, eine kleine, schlechte Stadt, Len gewöhnlichen
Ueberfahrtsort nach der Insel Fünen. Reisen wir von hier nach
Norden, so finden wir an der Nordwestspitze von Seeland Las
Städtchen
Kallundborg. Hier verlebte der vorher erwähnte König
Christian H. seine letzten traurigen Lebensjahre *).
2. Füne n.
Sie wird vom großen und kleinen Belt eingeschlossen,
und ist theils eben, theils hügelig, überall fruchtbar. Kom-
men wir von Korsöer über den großen Belt, so steigen
wir bei
Nyeborg, einem hübschen Städtchen, ans Land. Von
hier nordöstlich ist
Odensee, die größte Stadt der Insel, aber doch klein und
unbedeutend. Wir eilen daher weiter, um nach Jütland zu kom,
men, und steigen bei dem armseligen Städtchen
Middelfahrt am kleinen Belt, ins Schiff, fahren über,
und steigen in Kolding in Jütland ans Land.
3. Jütland.
Von der Beschaffenheit von Jütland haben wir schon
gesprochen. Im äußersten Nordostcn geht das Land in eine
Spitze aus. Ein Vorgebirge kann man diese Spitze eigentlich
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.
Th. 3., S.151.
Das Königreich Dänemark.
361
nicht nennen, weil sie nur ein unbedeutender Hügel, aber kein
Felsen ist. Sie heißt Skagenshorn, von dem dabei lie-
genden Fischerstädtchen Skagen benannt. Von Skagenshorn
erstreckt sich, anfangs über, hernach aber unter dem Wasser,
weithin eine Sandbank, Skager-Nack. Hier steht zwar
ein Leuchtthurm, um die Schiffer zur Zeit der Nacht zu war-
nen; dennoch stranden hier jährlich viele Schiffe, theils weil
man bei starkem Nebel den Thurm nicht weithin sehen kann,
theils weil der Sturm die Schiffe oft hin treibt. Die durch das
Meer ans Ufer geworfenen Waaren und Schiffstrümmer sind
für die Umwohner kein geringer Gewinn. Folgende Städte
merken wir uns:
A a l b o r g am Lymfiord.
Wiborg, die größte deß Landes, am südlichsten Ende eines
Armes des Lymfiords. Sie ist ziemlich groß, aber sehr todt.
Aarhuns an der Ostküfte. Von hier pflegt man nach Kal-
lundborg auf Seeland überzufahren.
Kolding ist schon oben bei Fünen als der Ueberfahrtsort
über den kleinen Belt erwähnt worden.
Ripen an der Westküste.
Alle diese fünf Städte sind unbedeutend und, Wiborg
etwa ausgenommen, kaum Mittelstädte zu nennen.
4. Schleswig.
Da wir seine natürliche Beschaffenheit schon kennen, so
brauchen hier nur die Städte genannt zu werden. Nicht weit
von der Westküste liegt
Tendern, eine zwar kleine, aber nahrhafte Stadt. Be-
sonders berühmt sind die Spitzen, die hier in großer Menge ger
macht werden.
Südlicher liegen viele kleinere und größere Inseln in der
hier sehr seichten und mit Sandbänken angefüllten Nordsee.
Am denkwürdigsten darunter ist die jetzt kleine Insel Nord-
strand. Sonst bildete sie mit mehreren benachbarten eine
große Insel. Da entstand vor 200 Jahren eine ungeheure
Fluth, verschlang den größten Theil derselben, mit allen dar-
auf wohnenden Menschen und ihrem Vieh, und ließ nur das
noch stehende Znsclchen zurück. — Auf der Ostküste liegt
362
Das Königreich Dänemark.
Flensburg am Flensburger,Wiek. Sie besteht fast nur
aus Einer, aber sehr langen Straße, und treibt lebhaften Handel.
Südlicher kommen wir nach
Schleswig, liegt am Ende des Meerbusens Schlei in ei,
ner recht lieblichen Gegend. Sie ist zwar die Hauptstadt der
Provinz, aber doch kaum eine Mittelstadt zu nennen. Nahe bei
der Stadt liegt das alte Schloß
Gottorf, von dem eine Nebenlinie des königlichen Hauses
Len Namen führt. Flensburg gegenüber liegt die Insel
A l se n- Auf dieser durch Wälder, Landsecn und Obst-
gärten sehr anmuthigen Insel liegt das Städtchen
Sonderburg. Von hier und von dem Schlosse Augur
ftenburg auf derselben Insel hat gleichfalls eine Nebenlinie des
königlichen Hauses den Namen: Sonderburg, Augustenburg.
Hier setzen wir uns zu Schiffe, um, nach Osten fah-
rend, noch einige Inseln zu besuchen. Zunächst kommen wir
nach
5. Langeland.
Die Insel führt den Namen mit der That. Da sie uns
aber nichts Merkwürdiges zu zeigen hat, so setzen wir die
Fahrt gleich fort nach
6. Laaland,
eine ganz flache, aber sehr fruchtbare Insel; dann nach
7. Falster.
Diese Insel ist ungemein schön, und gleicht einem rei-
zenden Garten. Gleich dahinter ist die Insel
8. M ö e n,
so fruchtbar, daß man von den wohlhabenden Einwohnern sagt,
sie hielten täglich sieben Mahlzeiten. Wirklich sehen auch die
Bauerhäuser sehr freundlich aus. Jedes hat seinen Blumengar-
ten, und alles verräth, daß hier Wohlhabenheit und Behag-
lichkeit zu Hause sey. — Jetzt fahren wir nach Osten, und
steigen auf der felsigen Insel
DaS Königreich Dänemark.
363
9. Bornholm
aus. Sie ist die einzige der Art unter den dänischen Inseln,
und scheint vulcanischen Ursprungs zu seyn. Hoch ragt sie
aus dem Wafferspiegel hervor, fast wie die Insel Capri bei
Neapel. Auch sie ist überall schroff, und daher eine natür-
liche Festung. Anderthalb Meilen davon liegen 6 kleine Fel-
senklippen, die Erd Holme genannt. Die größte derselben
heißt C h ri stian s öe, und da der, welcher hierher gebracht
wird, nicht leicht wieder entwischen kann, so wird sie als
Gefängniß für Staatsverbrecher gebraucht. Frischere Luft als
in einem Gefängniß mögen die armen Gefangenen hier freilich
wohl haben; aber der beständige einförmige Anblick des Was-
sers mag doch sehr langweilig seyn.
Dem Könige von Dänemark gehören auch noch die Fjä-
röer, d. i. Feder-Inseln (denn Öc heißt Insel, tsnb ¿er
Inseln) und die Insel Island.
Die Fjäröer
liegen über die Shetlands-Inseln hinaus, im nördlichen Theile
der gemäßigten Zone. Sie bestehen aus lauter schroffen Fel-
sen-Eilanden, überall vom Meere, das viele Buchten ausge-
spült hat, umbraust. Viel kälter als auf den Shetlands-In-
seln ist es hier nicht; die Seeluft mäßigt die Kälte der Luft;
dafür aber toben oft fürchterliche Stürme, und die Luft ist so
feucht, daß man auf einen Hellen Tag drei Nebeltage rechnen
kann. Nur die größeren sind von Menschen, die kleineren
von unzähligen Seevögeln bewohnt, die zur Zeit des Brü-
tens ein unerhörtes Geschnatter machen, und den Einwohnern
viele Eier und Federn (Eiderdunen) liefern. Außerdem leben
die Menschen von Fischen und der Viehzucht. So hat sich
der Mensch selbst auf den einsamsten Felseneilandcn eine Wohn-
stätte zu bereiten gewußt. Bäume sind nirgends zu sehen;
zum Glück findet man Torf. Die Einwohner haben sich in
den Schluchten der Felsen ihre Hütten gebaut, wo sie vor
364
Das Königreich Dänemark.
der Wuth der Stürme geschützt sind. Oft, wenn es auch bei
ihnen ganz still ist, tobt der Sturm um die Häupter der Fel-
sen, und stürzt Felscnstücke in das Meer herab, mit so fürch-
terlichem Tosen, daß die ganze Insel bebt, und das Meer
hoch aufbraust. Die Ufer sind überall so hoch, daß die In-
sulaner sich an Stricken in ihre Boote hinablassen, und, wenn
sic zurückkehren, sich wieder hinaufziehen lassen müssen. Auf
den einzelnen Klippen sind der Seevögel oft so viele, daß
jene ganz mit ihnen und ihren Nestern bedeckt sind, und ei-
nen schwarzwcißen Uebcrzug zu haben scheinen. Die Einwohner
sind von einem starken, kernigen, derben Schlage, bieder, gutmü-
thig, höflich, mäßig, uneigennützig, gastfrei, und bereitwillig
Jedem, der Hülfe braucht, zu dienen. An Verfeinerung fehlt
es ihnen freilich, aber nicht an natürlichem Verstände, und
in ihrer Abgeschiedenheit, unbekannt mit den feineren Genüs-
sen des Lebens, fühlen sie sich recht glücklich. Ihre Lebens-
art und ihre Kleidung ist ungemein einfach. Männer und
Weiber tragen Kleider von selbst gemachtem wollenem Zcuche,
sogenanntem Wadmal. Die Männer kleiden sich in eine Ja-
cke, Beinkleider, und einen sehr kurzen, aber weiten Nock;
Strümpfe und Schuhe sind von Nindöleder. Die Weiber tra-
gen das Leibchen und den sehr faltenreichen Nock an einander
genäht, beide von Wadmal, gewöhnlich roth oder blau. Die
Frauen haben den Kopf mit einer rothen gestickten Mütze be-
deckt; die Mädchen gehen im bloßen Kopf mit geflochtenen
Haaren, Um den Leib tragen sie einen mit Messing beschla-
genen Gürtel. So gehen die Armen wie die Neichen. Ihre
Speisen sind ganz einfach; sie auf verschiedene Art zuzurichten,
verstehen sie nicht. Getrocknetes Fleisch oder gedörrte Fische,
beides ungesalzt, und eine Brühfuppe mit Grütze oder Ger-
stenmehl ist die fast tägliche Mahlzeit. Braten kommen sel-
ten vor. Sonderbar ist der Gebrauch, daß nicht Jeder nach
Belieben ißt, sondern daß die Speisen in bestimmte Theile ge-
theilt werden, doch so, daß jede Mannsperson doppelt so viel
erhält, als eine Weibsperson. Wasser wird gewöhnlich ge-
trunken, Bier und Branntwein nur bei festlichen Veranlassun-
gen; Thee und Kaffee sind nur ein Getränk der Vornehmeren.
Ihre Hausgeräthschaftcn machen sie sich selbst; darum sind sie
Das Königreich Dänemark.
365
schlecht und armselig. Ihre Betten sind bloße Strohlager,
ein Stück Wadmal ihre Decke. Zu Zerstreuungen und Ver-
gnügungen behalten sie keine Zeit übrig, weil sie mit Herbei-
schaffung ihrer Bedürfnisse vollauf zu thun haben. Nur bei
Hochzeiten und am Weihnachtsfest wird — nach ihrer Art —
geschmaust und gezecht, und dann singen sie auch alte Helden-
lieder. Das Schachspiel ist bei Männern und Weibern ein
Lieblingsvergnügen, und in jeder Hütte wird ein Schachbrett
gefunden.
Ist das Getreide auf den felsigen Aeckern reif geworden,
so schneiden sie es mit Messern ab, und tragen die Garben
nach Hause; denn es giebt hier weder Karren noch Wagen.
Eben so ist es mit dem Heu. Die Schafheerdcn weiden auf
den einem Jedem angewiesenen Triften Winter und Sommer,
zum Theil ohne Hirten, bloß von Hunden bewacht. Im Win-
ter werden sie oft so eingeschneit, daß sie nicht mehr heraus
können, wenn sie nicht starke Widder haben, die einen Weg
durch den Schnee bahnen. Dann kann der Hirt nur an dem
aufsteigenden Dampfe erkennen, wo die Heerde vergraben ist,
um ihr wieder herauszuhelfen. Die, welche weder einen Acker
noch eine Heerde besitzen, treiben Fischfang, besonders He-
rings- und Stockfischerei. Dann und wann erlegen sie auch
wohl einen Thun- oder Wallfisch, was ein großes Fest giebt.
Weit gefahrvoller und mühseliger ist der Vogelfang; daher ge-
ben sich auch nur Einige damit ab, die man Vogelmännec
nennt. Denn die Vögel nisten nur auf den unzugänglichsten,
schroffsten Felsenklippen. Entweder müssen sie sich an starken
Stricken über die Felsen zu ihnen herablassen, oder sich von
ihren Kameraden vermittelst besonders dazu eingerichteter Stan-
gen zu ihnen in die Höhe heben lassen. So zu ihnen gelangt,
schlägt der Vogelmann sie mit einer Stange todt, bindet sie
in Bündel zusammen, und läßt sie an Stricken hinaufziehen,
oder wirft sie ins Boot hinab. Die Vögel bleiben, wenn
sie brüten, ruhig auf dem Neste sitzen, und lassen sich eher
tödten, ehe sie es verlassen, und so hat ein Mann oft einen
ganzen Tag damit zu thun, sie nach einander zu greifen, zu
tödten, und hinabzuwerfen. Mancher verliert bei dieser ge-
fährlichen Jagd sein Leben, wenn er abgleitet, und in das
366 Das Königreich Dänemark.
Meer oder auf Klippen hinabstürzt. Verbietet die Jahreszeit
Fischfang, Vogcljagd und Ackerbau, so sitzen Männer, Wei-
ber und Kinder traulich am Feuer, und stricken wollene
Strümpfe oder weben Wadmal. So ist also das ganze Le-
ben dieser thätigen Menschen aus Arbeit und Mühe zusammen-
gesetzt; aber gerade darum sind sie glücklich und froh, und
bleiben mit unzähligen unsrer Sorgen unbekannt.
Die Kirchen sind kleine, hölzerne, mit Stroh gedeckte
Gebäude. Die 7 Prediger der Inseln haben ein sehr beschwer-
liches Amt; denn die meisten haben mehrere Inseln unter sich,
die sie abwechselnd besuchen müssen, oft bei dem gräulichsten
Wetter, unter Nebel, Sturm, Regen und Schneegestöber. Um
auf die ihnen anvertrauten Inseln zu kommen, müssen sie sich
mit Stricken die Felswände hinaufziehen lassen, und mancher
ist schon dabei verunglückt.
Die größte Insel heißt Strom-öe. Auf ihr liegt
die kleine Hauptstadt Thorshaven.
Island
liegt an der Gränze des nördlichen Eismeers, gehört aber noch
zu der gemäßigten Zone, näher an Amerika als an Europa,
eine große Insel; denn sie ist 50 Meilen lang und 45 breit.
Im nördlichsten Theile der Insel geht die Sonne am kürzesten
Tage gar nicht auf, und am längsten nicht unter; im südlich-
sten Theile dagegen dauert die kürzeste Nacht 4 Stunden, und
eben so lange der kürzeste Tag. Daraus schon kann man ab-
nehmen, daß das Klima nicht überall gleich seyn kann. Im
Allgemeinen ist die Luft kalt und rauh. Denn die Insel ist
bergig und hoch, in der Mitte mit beständigem Schnee be-
deckt, und während des langen Winters mit Treibeis umge-
ben, wodu-rch viel Kälte entwickelt wird. Einen Frühling und
Herbst giebt es hier nicht, bloß einen Sommer und Winter.
Der erstere dauert nur 4 Monate, von der Mitte des Mai
bis in die Mitte des Septembers. > Er kommt so schnell als
er geht. Heute ist noch der Boden mit Schnee bedeckt;
plötzlich springt der Nordwind nach Süden um; es weht eine
Das Königreich Dänemark.
367
warme Luft; morgen schon ist die Schneedecke verschwunden,
und unter ihr kommt das grüne Gras zum Vorschein. Alles
entwickelt sich hier schneller, weil es eher wieder zum Tode
reift. Die Sommerhitze pflegt groß zu seyn; aber die Nachte
sind kühl, und nicht selten fallt mitten im Sommer Schnee.
Die Nebel sind häufig und stark; oft regnet und stürmt es
heftig, und dann kommen wieder die schönsten Sommertage.
Im Winter, der in der Mitte des Septembers ganz plötzlich
einbricht, ist es sehr kalt, am meisten im Innern der Insel;
an den Küsten wird die Kälte oft durch Seeluft gemäßigt,
aber dann und wann ist sie auch so arg, daß die Vögel schaa-
renweise erfrieren, und die wilden Thiere sich in die Wohnun-
gen der Menschen flüchten. Zuweilen tobt der Sturm so arg,
daß sich die Menschen nicht auf den Beinen erhalten können,
und die freistehenden Häuser umgeworfen werden.
So öde die Natur also auch hier erscheint, so wunder-
bare Erscheinungen bietet sie doch dar. Nordlichter z. B.
sind sehr häufig, im Winter fast alle Nächte, und zwar strah-
len sie mit der mannigfaltigsten Farbenpracht. Auch Schnee-
lichter kommen im Winter oft vor. Der Sturm nämlich
wirbelt den Schnee zuweilen in die Höhe, und dann erscheint
dieser wie ein fliegendes Feuer, besonders wenn die Sonne
dagegen strahlt.
Ganz Island ist vulcanisch; es bildet gewissermaßen ei-
nen einzigen großen ^feuerspeienden Berg, der unzählige Cratec
hat. Fast die ganze Insel ist mit Felsen bedeckt, die in Trüm-
mer und Graus wild durch einander liegen; besonders wild
und grausig ist es im Innern. Die Spitzen sind zwar nicht
so hoch, wie in der Schweiz, aber es kommen doch Berge von
6 — 7000 Fuß Höhe vor, und viele sind mit ewigem Schnee
bedeckt. Diese Eis - und Schneeberge werden hier Iökul
genannt. Viele Gegenden sind noch ganz unbekannt, weil die
schroffen, wüsten Gebirge jede Annäherung verwehren. Steigt
man einen Berg hinauf, so findet man bald über dem Fuße
keine Vegetation mehr; nackte Felswände und Spitzen thür-
men sich über einander, und zwischen ihnen zeigen sich dem
Auge schauerliche Abgründe, Schluchten und Eisspalten. Zu
diesen schauerlichen Naturscenen kommen noch die Vulcane, von
368
Das Königreich Dänemark.
denen zehen fortwährend kochen und rauchen. Der bedeu-
tendste ist der Hekla, nahe an der Mitte der Südküstc.
Der größte Ausbruch in neuerer Zeit aber ereignete sich
östlich vom Hekla, auch nicht weit von der südlichen Kü-
ste, wo 1783 in einem hohen Bergthake die Erde sich plötz-
lich öffnete. Dieser Ausbruch übertraf alles, was man
bisher von vulkanischen Ausbrüchen gesehen hatte. Er be-
gann mit einem Erdbeben, das mehrere Tage währte und
immer zunahm. Es erhoben sich dann drei Feuersaulcn, die
anfangs besonders brannten, dann aber sich zu einer einzi-
gen Riesensäule vereinigten, und so hoch stiegen, daß man
sie 34 Meilen weit sehen konnte. Zugleich trieb der Wind
so viele schwefliche Asche und Sand umher, daß die Luft sich
ganz verfinsterte, und man am Hellen Mittage nicht lesen
konnte. Auch flogen glühende Steine umher, und der stark
herabfallende Regen, mit Schwefelsaure vermischt, atzte die
Hände, die Füße und das Gesicht, und zerfraß die Pflanzen.
Ein in der Nähe fließender Fluß verschwand plötzlich. Sonst
ergoß er sich in eine große Erdkluft von 4 Meilen Länge und
1000 Fuß Tiefe. Nun aber trocknete diese Kluft aus; sie
entzündete sich, und spie ein schreckliches Meer von glühender
Lava aus. Die Kluft füllte sich immer mehr und mehr.
Endlich war sie bis oben mit Lava angefüllt, und nun trat
diese über, ergoß sich über die ganze Gegend, überschwemmte
ganze Landgüter, Kirchen und Hauser, stürzte von Thal zu
Thal, und bahnte sich zuletzt durch das Gebirge einen Weg
nach den tiefer liegenden Gegenden. Dorthin stürzte sich der
Strom mit unbeschreiblicher Gewalt, riß Fclsenmassen vor sich
hin, und zerschellte sie mit fürchterlichem Krachen an einander.
Ueber 2 Monate dauerte dieser Feuerstrom, und man kann sich
einen Begriff von der Menge der Lava machen, wenn man
weiß, daß nach der Erkaltung die Lavaschichtcn von 400 — 800
Fuß Dicke gefunden wurden. Damit war aber die Erschei-
nung noch nicht zu Ende. Der Ausbruch hatte sich nur mehr
nach der Mitte der Insel ausgedehnt, wo kein Abfluß nach
der Küstengegend mehr ' statt finden konnte, und währte noch
länger als ein Vierteljahr fort. Siebzehn Landgüter waren
Das Königreich Dänemark.
369
vom Feuermccre bedeckt, vier vom Wasser weggeschwemmt
worden, und 11 Flüsse waren gänzlich ausgetrocknet.
Ucberall auf der Insel findet man Spuren von den Ver-
wüstungen, welche durch Vulcane angerichtet worden sind.
Ucberall gähnen den Reisenden fürchterliche Erdspalten an, in
denen Felsenstücke wild durch einander liegen, und die zum
Theil mcilcnlang find. Man zieht über weite Lavastrecken hin;
manche Gegenden sind mit Schwefel und verglasten Mineralien
bedeckt. Weite Strecken sind so öde, daß alles Leben in ihnen
ausgestorben ist, und der Tod allein in ihnen lebt. Von sol-
cher grauscnhaftcn Ocde der Natur haben wir in unsern Gegen-
den keinen Begriff. Der schauderhafteste Theil der Insel ist der
nordöstliche um den Vulcan Krabla herum, an dessen Fuße
der weite, öde See Myvatn und die schauerlichen Schwc-
felgruben liegen. Diese ganze Gegend ist so vulcanisch, wie
die Solfatara bei Neapel, und überall steht man über dem
unterirdischen Feuer. Wir wollen einen Reisenden reden las-
sen, der in neuerer Zeit diese Gegend besuchte. „Ich reiste
über einen ungeheuren Lavastrom, der in mehrere Thaler ein-
gedrungen war. Noch nie hatte ich so schöne und frische Lava
gesehen. Sie war so schwarz wie eine Kohle, voll unermeß-
licher Blasen. Die vielen darin befindlichen Spalten waren
verglaset, und boten dem Auge die schönsten und wunderbar-
sten Figuren dar. Dieser Schmelzstrom ist einer von denen,
die sich 1730 aus dem Krabla ergossen und fast die ganze
Ebene längs des nördlichen und östlichen Users des Myvatn-
secs überschwemmt haben. Er bewegte sich, nach den Be-
richten der Augenzeugen, langsam fort, indem er alles, was
ihm aufftieß, mit sich fortriß, und mit einer blauen Schwe-
felfiamme brannte, die aber wegen des dicken Dampfes nur
theilweise zu sehen war. Während der Nacht schien die ganze
Gegend in Flammen zu stehen; selbst die Atmosphäre schien
entzündet, und war mit großen Fcucrklumpcn angefüllt; Blitz-
strahlen schossen durch die Luft, und setzten die Bewohner selbst
entfernter Gegenden in Schrecken. Zuletzt stürzte sich die Lava
in den See, den sie bis zu einer ansehnlichen Entfernung aus-
füllte; sie bildete darin mehrere Inseln, und tödtete alle sich
darin befindende Fische. Die erschreckten Umwohner brachten
Nössclts Geographie II. 24
370
Das Königreich Dänemark.
schnell ihre Habscligkeiten in Sicherheit, so daß, außer der
Vernichtung dreier Meierhöfe, weiter kein Schaden angerichtet
wurde." Steht man auf einem der Berge, die dem Myvatn
umgeben, so glaubt man das todte Meer vor sich zu haben;
so fürchterlich wüsi ist die Gcgen-d. Der See hat feinen Na-
men Mückenfee von den ungeheuren Schwärmen großer, grauer,
mit glänzenden Flügeln versehener Mücken, die sich hier auf-
halten. Die ganze Gegend um ihn herum besieht aus einer
schwarzen, zerklüfteten Lava, die sich hier und da in den Sec
hineinzieht, und da sie ohne allen Pflanzenwuchs ist, so kann
man sich nichts Oederes denken, als diese mit einer schwarzen
Hülle bedeckte Gegend. Ueber ihr hin erheben sich rothe ke-
gelförmige Felsen mit den phantastischsten Gestalten, einer auf
den andern gethürmt und wild durch einander geworfen. Zwi-
schen ihnen steigen dunkle Rauchwolken aus den da liegen-
den Schwefclgruben empor. Das tiefste, todtenähnlichste
Schweigen ist über diese ganze öde Gegend ausgebreitet. Die
herum stehenden schwarzen Berge spiegeln sich in dem See,
der wie ein Pfuhl schwarzen Wassers aussieht, und aus dem
kleine, schwarze Lavainseln hervorragen. Hier uno da steigen
aus ihm Dampfsäulen hervor, die das Melancholische der
todten Gegend noch vermehren, indem sie den Geist auf die
Betrachtung des schrecklichen Elements lenken, welches noch
jetzt dicht unter der Oberfläche der Erde, im Schooße dersel-
ben kocht und wüthet, und alle diese Verheerungen hervorge-
bracht hat. Die bösen Mücken sind so giftig und gierig, daß
man sich durch keine Bekleidung vor ihnen schützen kann, und
schon Beispiele vorgekommen sind, daß sich Pferde der Rei-
senden aus Angst wüthend in den See gestürzt haben. Von
hier begab sich der Reisende nach den Schwcfelbcrgcn dieser
Gegend, immer über Lavaströme hin. „Meine Neugier wurde
durch die sonderbare Gestalt eines Hügels angezogen, aus des-
sen Gipfel und Seiten ansehnliche Rauchwolken hervorström-
ten, und welcher ganz das Ansehen eines feuerspeienden Ber-
ges im Kleinen hatte. Ich fand, daß er aus Lava und vul-
kanischem Sande bestand. In der Mitte war ein kreisförmi-
ger Crater; ich stieg zu ihm herab, und erblickte verschiedene
Risse in der verschlackten Seitenwand, aus denen so viel Rauch
Das Königreich Dänemark. 371
und Hitze drang, daß ich mich ihnen kaum bis auf einige
Schritte nähern konnte. Aus allem sah man, daß es ein
Vulcan sey, der sonst Lava über die umliegende Gegend er-
gossen hatte. Als wir weiter ritten, wurde die trügerische
Natur des Bodens immer größer, und endlich der Weg so
gefährlich, daß wir von unsern Pferden stiegen, und sie über
die Stellen, die uns am härtesten schienen, wegführten. Al-
lein ungeachtet aller Vorsicht traten die Pferde doch zuweilen
in den Boden, und sogleich quoll aus der gemachten Vertie-
fung Rauch in Menge hervor, so daß wir jeden Augenblick
in Gefahr geriethen, in ein Feuermeer zu versinken. Auf bei-
den Seiten lagen weite Schwefelschichten, mit einer dünnen
Rinde bedeckt, in welcher sich unzählige kleine Löcher befan-
den, durch welche der Rauch drang. Wenn man die Rinde
wegnahm, kam eine dicke Schicht reinen Schwefels zum
Vorschein, durch welche der Dampf zischend cmporfuhr. Diese
Schwefelbcrge ziehen sich zwischen dem See Myvatn und dem
Krabta 5 Meilen weit hin. Wir stiegen an dem Abhange
hinauf, wobei die Pferde oft tief einsanken, und kamen auf
eine weite Ebene, die aber plötzlich mit einem so steilen Ab-
hange endete, daß der Anblick Schrecken und Zittern in uns
erweckte. Kaum hatte ich mich von meiner Bestürzung er-
holt, als sich ein noch schrecklicherer Anblick meinen Augen
darbot. Fast in gerader Richtung unter dem Rande, auf wel-
chem ich stand, in einer Tiefe von mehr als 600 Fuß, lag
eine Reihe großer Kessel voll kochenden Schlammes, 12 an
der Zahl, die in voller und beständiger Thätigkeit waren;
brüllend, spritzend und unermeßliche Säulen eines dichten Dam-
pfes aussendend, die, sich hoch in die Luft erhebend, die
Strahlen der Sonne auffingen und verdunkelten. Nicht die
kühnste Phantasie kann sich die Wirklichkeit dieses Schwefel-
pfuhles denken/ Ich blieb eine Viertelstunde wie versteinert
stehen, ohne meine Augen von den furchtbaren Verrichtungen
abwenden zu können, welche in dem Abgrunde unter mir vor-
gingen, und als ich mich nach der linken Sekte hinwandte,
hatte ich die volle Ansicht des furchtbaren Krabla und an-
drer feuerspeienden Berge. Unsere Pferde zurücklassend, stiegen
wir vorsichtig mitten durch zahlreiche brennende Sümpfe herab,
24 *
372 DaS Königreich Dänemark.
bis wir dicht bei den Sch lamm quellen anlangten. Ei-
nige von ihnen bleiben im Stande der Ruhe, brüllen aber
furchtbar, und senden viel Dampf aus; andere sieden heftig,
und spritzen ihren schwarzen, schlammigen Inhalt rings um
den Rand der Grube; zwei oder drei werfen in gewissen Zwi-
schenräumen den Schlamm 4— 5 Fuß hoch. Die merkwür-
digste ist die nördlichste. Sie hat einen Durchmesser von etwa
20 Fuß. Das sehr unruhige schwarze Wasser war die er-
sten zwei Minuten ziemlich ruhig; aber dann brach es mit
verdoppelter Wuth hervor, schleuderte den Schlamm 10—15
Fuß hoch, und spritzte weit umher. Dies Auswerfen wird
von einem dumpfen Gebrülle und einer großen Menge Schwe-
scldampf begleitet. So wahrt es 5 Minuten; dann wird das
Wasser wieder ruhiger, bis der Auswurf sich nach wenigen
Minuten wieder erneuert. Dabei war der Boden ringsum
warm, und wurde, wenn man die Hand in die Erde steckte,
siedend heiß." Der Reisende wollte jetzt zurückkehren, als er
bemerkte, wie eine dicke Rauchsäule sich aus dem südwestli-
chen Abhange des Krabla hoch in die Luft erhob. Er
überredete mit Mühe seinen Wegweiser, hinaufzusteigen; denn
der Mann versicherte, der Berg sey noch nie erstiegen, und
die vielen Teiche voll kochenden Schlammes machten ihn un-
zugänglich. Endlich gab er nach. Nach vielen Gefahren und
Mühseligkeiten kamen sic, bald reitend, bald gehend, bis an
den Schlund, aus dem die Dampfsäule aufstieg. „In dem
Augenblicke, als mein Auge das ganze Schauspiel umfaßte,
entstanden in meiner Seele die stärksten Empfindungen des Wi-
derwillens und des Abscheues. Auf dem Boden einer großen
Vertiefung befand sich ein kreisförmiger Pfuhl voll einer flüs-
sigen Masse, welche fast 300 Fuß im Umfange hatte, und
aus dessen Mitte eine große Säule von derselben schwarzen
Flüssigkeit mit einem lauten donnernden Gebrülle aufstieg. Ich
bewog meinen Führer, mich von der Anhöhe, auf welcher
wir standen, und von welcher der Pfuhl noch 200 Fuß tiefer
lag, bis an den Rand desselben zu begleiten. Nun mehr in
der Nähe, sahen wir die Oeffnung in der Mitte des Pfuhls, aus
der die große Masse von Wasser, Schwefel und schwarzblauem
Bolus ausgeworfen wurde. Bei dem ersten Aufwallen erhob
DaS Königreich Dänemark.
373
sich die Flüssigkeit zu der Höhe eines gewöhnlichen Zimmers,
und fuhr nun sert, gleichsam in Sprüngen immer höher zu
steigen, bis sie den höchsten Punkt erreichte, zu dem sie sich
erhob, und der über 30 Fuß betrug, worauf sie wieder ab-
nahm. Nachdem der Auswurf ganz aufgehört hatte, bemerkte
man über der Ocffnung nur ein leichtes Sieden. Wahrend
meines Aufenthaltes traten die Ausbrüche alle 5 Minuten ein,
und wahrten ungefähr zwei und eine halbe Minute. Rings
um den Pfuhl war der Boden so weich, daß ich kaum mich
ihm nähern konnte. Das Grausendc des Schauspiels ist durch-
aus nicht zu beschreiben; man muß cs selbst gesehen haben,
und keine Länge der Zeit wird je den erschütternden Eindruck
verwischen, den es auf mich gemacht hat. Bis zu der Spitze
des Krabla hatte ich nicht mehr als 500 Fuß; aber die Zeit
fehlte mir, vollends hinaufzusteigen. Von der Stelle, wo ich
stand, war die Aussicht sehr ausgedehnt, aber über alle Ma-
ßen öde und traurig." Lauter öde Berge von verschiedener
Färbung, ohne allen Pflanzenwuchs, von den sonderbarsten
Gestalten; dazwischen Wüsteneien von schwarzen Lavaströmcn,
aus denen hier und da die Rauchsäulen der Schwcfelgrubcn
aufstiegen. Wohin sich auch der Blick wendet, überall bietet
sich ihm nichts dar als eine weite Wüste, wo alles Leben er-
storben ist. Leicht kann der Reisende in solchen Gegenden,
wenn er sich nicht wieder herausfinden kann, den Tod finden.
In einer ähnlichen Gegend fand ein anderer Reisender die Ue-
berreste einer Frau, die ein Jahr vorher sich in den Lavaklüf-
ten verirrt hatte. Ihre Kleider -und Gebeine lagen umher.
Wahrscheinlich hatte sie in einem Schneegestöber den Weg ver-
loren, war von einer steilen Anhöhe hinuntcrgeglittcn, und
war eine Beute der Adler und Füchse geworden.
Zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Insel Island
gehört der Geyser. Darunter versteht man mehrere heiße
Quellen, die von Zeit zu Zeit ihr Wasser wie einen Spring-
brunnen mit dumpfem Gebrülle in die Luft springen lassen.
Sie befinden sich im südwestlichen Theile der Insel, etwa 10
Meilen von der Süd- und von der Westküste entfernt. Wir
wollen wieder jenen Reisenden sprechen lassen. „Noch meh-
rere Meilen von dem Geyser entfernt, konnten wir an den
374 Das Königreich Dänemark.
Dampfwolken, die sich durch die Luft wälzten, den Ort er-
kennen, wo eine der unvergleichlichsten Scenen in der Natur
sich entfaltet, wo der Groß-Geyser, durch den gespaltenen
Boden dringend, sich siedend zwischen schroffen Felsen erhebt,
und Dampfwolken bis zu den Wolken sendet. Eben als wir
um den letzten Hügel herumkamen, wurden wir von einem
Ausbruch begrüßt, welcher mehrere Minuten anhielt, und wäh-
rend dessen das Wasser zu einer ansehnlichen Höhe in die Lust
geschleudert zu werden schien. Obgleich wir von einer großen
Menge siedender Quellen umgeben waren, so blieben wir doch
keinen Augenblick ungewiß, welcher Quelle wir uns zuerst nä-
hern sollten. Unfern vom nördlichen Ende des Striches erhob
sich ein großer kreisförmiger Wall, aus dessen Mitte sich ein
ansehnlicher Rauch erhob. Dies war der Groß-Geyser.
Wir bestiegen diesen Wall, und jetzt hatten wir den geräumi-
gen Kessel zu unsern Füßen, der mehr als bis zur Hälfte
mit dem schönsten, krystallhellcn, heißen Wasser angefüllt war,,
welches so eben in einem leisen Sieden sich befand. Die
Tiefe in der Mitte wurde 79 Fuß befunden. Der Kessel senkt
sich in diese Tiefe trichterförmig hinab, und hat einen Durch-
messer von etwa 50 Fuß. Nachdem wir einige Zeit da ge-
standen hatten, in stille Bewunderung des prächtigen Schauspiels
versunken, welches diese unvergleichliche Quelle selbst im Zustande
der Unthätigkeit dem Auge darbietet, kehrten wir nach dem Orte
zurück, wo wir unsere Pferde zurückgelassen hatten. Bald aber
wurden wir durch ein dumpfes Krachen und eine leise Erschüt-
terung des Bodens benachrichtigt, daß ein Ausbruch auf dem
Punkte sey einzutreten. Doch wurden bloß einige schwache
Wasserstrahlen in die Höhe getrieben, und das Wasser im
Kessel stieg nicht über die Oberfläche der Ausgänge. So währte
es mehrere Stunden fort, während derselben wir 5—6 Mal
das Krachen vernahmen, das die ganze llmgegend erschütterte;
doch erfolgte kein beträchtlicher Auswurf. Das Wasser kochte
bloß mit großer Heftigkeit. Endlich wurden die Knalle lauter
und zahlreicher, und glichen genau dem Abfeuern einer ent-
fernten Batterie. Ich eilte nach dem erwähnte Walle, der
heftig unter meinen Füssen erzitterte, und ich hatte kaum so
viele Zeit, in den Kessel hinabzublicken, als die Quelle her-
DaS Königreich Dänemark. 375
vorsprudelte, und mich augenblicklich nöthigte, mich windwärts
in eine ehrfurchtsvolle Entfernung zurückzuziehen. Das Was-
ser strömte mit großer Schnelligkeit aus dem Trichter hervor,
und wurde in unregelmäßigen Säulen in die Luft geschleudert,
von unermeßlichen Dampfwolken umgeben, welche großen
Theils die Säulen dem Blicke verbargen. Die vier oder fünf
ersten Strahlen waren unbedeutend, da ste nur eine Höhe
von 15 — 20 Fuß erreichten; auf diese folgte eine von unge-
fähr 50 Fuß; dann 2 oder 3 beträchtlich geringere, worauf
die letzte kam, welche alle vorhergegangenen an Glanz über-
traf, und sich zu einer Höhe von wenigstens 70 Fuß erhob.
Die großen Steine, welche wir vorher in den Trichter gewor-
fen hatten, wurden zu einer ansehnlichen Höhe geschleudert.
Bei dem Herabfallen der Säule wurde das Wasser bis über
den höchsten Theil des Walles, hinter welchem ich selbst stand,
hinweggetrieben. Der Körper der Säule, welcher wenig-
stens IO Fuß im Durchmesser hatte, erhob sich senkrecht, theilte
sich aber in eine Menge prächtiger Nebenzweige, und mehrere
kleinere Strahlen trennten sich davon, und schossen in schiefen
Richtungen, zur nicht geringen Gefahr des Zuschauers, von
dem herabfallenden Strahle verbrüht zu werden. Der ganze
Auftritt war unbeschreiblich wundervoll. Am andern Morgen
weckte mich mein Reisegefährte, um Zeuge des Ausbruchs der
Quelle zu seyn, welche man den neuen Geyser nennt,
und welche 40 Schritte südlich vom Groß-Geyser liegt. Es
ist nicht möglich, einen Begriff von dem Glanze und der Größe
des Schauspiels zu geben, welches sich meinen Augen in dem
Augenblicke darbot, wo ich den Vorhang meines Zeltes zu-
rückzog. Aus einem Trichter, welcher 9 Fuß im Durchmes-
ser hatte, und etwa 100 Schritte vor mir lag, wurde mit
unbeschreiblicher Gewalt eine Wassersäule, von erstaunlichen
Dampfwolken und einem furchtbar brüllenden Geräusche beglei-
tet, zu einer Höhe von 50 — 80 Fuß in die Luft geschleu-
dert, und drohte den Horizont zu verdunkeln, obgleich dieser
von der Morgensonne erleuchtet war. Während der ersten
halben Viertelstunde blieb ich auf meinen Knien in stiller und
feierlicher Anbetung versunken. Endlich begab ich mich nach
der Quelle hin, wo wir alle zusammentrafen, und uns wech-
376
Das Königreich Dänemark.
selseitig und mit Entzücken unsere Gefühle des Erstaunens und
der Bewunderung mittheilten. Die Wasserstrahlen hatten sich
jetzt gesenkt; aber Schaum und Dampf waren an ihre Stelle
getreten, welche mit einem betäubenden Gebrülle hervorstürzten,
und sich zu einer Höhe erhoben, welche derjenigen wenig nach-
gab, zu der das Wasser selbst gelangt war. Als wir die
größten Steine, die wir finden konnten, in den Trichter war-
fen, wurden sie augenblicklich zu einer erstaunlichen Höhe ge-
schleudert, und einige, die senkrecht geworfen waren, und also
wieder in den Kessel fielen, wurden 4 — 5 Minuten lang
mehrmals auf und nieder geschleudert. Während ich auf der
Sonnenseite stand, zeigte sich ein überaus glänzender Regenbo-
gen auf der entgegengesetzten Seite der Quelle, und nachdem
ich mich so gestellt hatte, daß die Quelle zwischen mir und
der Sonne war, gewahrte ich einen zweiten noch schöneren,
der aber so klein war, daß er bloß meinen Kopf einschloß.
Nachdem das brüllende Geräusch wohl noch eine halbe Stunde
gewährt hatte, nahm die Schaumsäute ab, und sank allmä-
lig, bis alles in den ruhigen Zustand zurückkehrte, in dem
wir die Quelle Tags vorher betrachtet hatten." Der Groß-
Gcyser wirft alle 6 Stunden aus, aber die Höhe der auf-
steigenden Wassersäule ist nicht immer gleich. Sie steigt zu-
weilen auf 200 — 360 Fuß. Eine dritte Quelle ist die
Strockr, nicht weit von jenen beiden Geysers. „Der ent-
zückendste Auftritt, den wir zu beobachten Gelegenheit hatten,
traf an dem folgenden Morgen ein. Gegen zehn Minuten nach
5 Uhr wurden wir durch das Gebrüll der Strockr geweckt,
welche eine große Menge Dampf in die Höhe trieb, und in
dem Augenblick, wo meine Uhr ein volles Viertel zeigte, ent-
stand ein Krachen, als wenn die Erde geborsten wäre, wor-
auf augenblicklich Strahlen von Wasser und Schaum folgten,
die sich in einer senkrechten Säule zu einer Höhe von 60 Fuß
erhoben. Noch war die Strockr nicht 20 Minuten in Thätig-
keit gewesen, als der Groß-Geyser, gleichsam als wenn er
eifersüchtig auf seinen Ruf und unwillig darüber gewesen wä-
re, daß wir seiner Nachbarinnen einen so großen Beifall zoll-
ten, so furchtbar zu donnern anfing, und solche Massen von
Dampf auswarf, daß wir uns mit einer Beschauung von
DaS Königreich Dänemark.
377
fern nicht begnügen konnten, sondern nach dem Walle mit
eben so großer Neugier hineilten, als wenn dies der erste
Ausbruch gewesen wäre, den wir beobachten sollten. Wenn
aber dieser letzte Ausbruch in Hinsicht seiner Größe der merk-
würdigste von allen war, so befriedigte er am wenigsten in
Hinsicht seiner kurzen Dauer, da nach Verlauf von 5 Minu-
ten alles wieder ruhig ward, wahrend die benachbarte Quelle,
weniger prunkend, aber beständiger, bis gegen 4 Minuten auf
6 Uhr zu spielen fortfuhr." Solcher Wasserqucllen giebt es
rund herum noch mehrere, aber nicht nur hier, sondern auch
in andern Gegenden der Insel.
Nur die Küste dieses rauhen, unwirthbaren Landes kann
bewohnt werden, ob es gleich auch hier an Felsen, Morästen,
Sümpfen und andern Hindernissen der Cultur nicht fehlt.
Daß Island ein sehr armes Land sey, und nur dürftig seine
Bewohner nährt, geht aus dem Gesagten hervor. Alles, was
die feuerspeienden Berge hervorbringen, findet man hier in
Menge: Schwefel, Bimssteine, Bolus (rothe Erde),
Lava in den mannigfaltigsten Farben, Basalt, Obsidian (ein
ganz schwarzer Stein, wie Glas), und den merkwürdigen
Surturbrand. Darunter versteht man ein unter der Erde
befindliches Holz, das von Erdpech durchzogen ist, und daher
ganz schwarz aussieht. Bringt man es an die Luft, so zer-
fällt es, in der Feuchtigkeit aber erhält es sich und verfault
nie. Für die Isländer, denen es ganz an Baumen fehlt,
ist dieser Surturbrand von großem Nutzen; denn sie brauchen
ihn zum Brennen sowobl als zum Schmieden, machen auch
Teller, Tassen und Töpfe daraus, die eine herrliche Politur
annehmen. Getreide gedeiht hier nicht mehr. Die Saat geht
zwar schön auf, aber sie wird nicht reif. Aber desto besser
kommen die Gartengewächse fort, und die fleißigen Is-
länder bauen ihrer daher eine Menge an: Blumenkohl und
andere Kohlarten, Salat, Rüben, Kartoffeln, Nettige, Zwie-
beln u. a. m. Ueberhaupt wachsen hier viele recht nützliche
Pflanzen, sonderlich zum Viehfutter, so daß Gott auch für
diesen kalten Winkel der Erde genugsam und recht väterlich
gesorgt hat. Dahin gehört auch das bekannte isländische
Moos, das, so bitter cs auch schmeckt, doch sehr nahrhaft
378 DaS Königreich Dänemark.
und gesund ist. Das Rindvieh zeichnet sich hier dadurch
aus, daß cs meist keine Hörner hat. Die Pferde sind sehr
klein, aber klug und dauerhaft. Ungemein reich ist die Insel
an Vögeln. Alle Klippen, Vorgebirge und Felsen längs der
Küste sind von Scevögeln bewohnt. Da findet man wilde
Enten, Eidergänse, Fettgänse, Taucher, Seepapagcien, Löffel-
gänse, Mecrschwalben, Strandläufer, Wasserhühner, Pele-
kane, Schwäne, die hier sogar recht lieblich singen sollen,
und was es der Seevögel noch mehr giebt. Um ihrcntwillen
halten sich hier auch recht viele Adler, Falken und andere
Raubvögel auf, die hier eine reichliche Jagd haben. Auch
Fische haben die Isländer in Ueberftuß, und welche delicate
Arten!
Die Isländer sind schlank gewachsen, haben eine blü-
hende Gesichtsfarbe, und Haare so weich und gelb wie Flachs.
Die Frauen sind etwas kleiner, und nur wenige zeichnen sich
durch Schönheit aus, was wohl mehr an ihrer Tracht als
an ihrem Körper liegt. Ihr Charakter ist sehr liebenswürdig.
Es sind offene, stets heitere, fromme, gottergebene Menschen,
und haben dabei eine innige Anhänglichkeit an ihr Vaterland.
Ihr gewöhnliches Sprichwort ist: „Island ist das beste
Land, über welches die Sonne scheint." SDiit großer Strenge
hängen sie an ihren alten Gebräuchen; seit 9 Jahrhunder-
ten haben sie dieselben Sitten und dieselbe Kleidung bewahrt.
Ihre Sprache ist eine Mundart der Dänischen. Eine sonder-
bare Erscheinung ist, daß die Isländer zu einer Zeit, als
die tiefste Finsterniß der Unwissenheit und Barbarei noch über
Deutschland lag, im Mittelalter, sich mit den Wissenschaften
beschäftigten, tüchtige Gelehrte hervorbrachten, und viele von
ihnen große Reisen durch Europa unternahmen, um ihre Kennt-
nisse zu vermehren. Wie kam dies Licht einer hohen Gei-
stesbildung nach dieser entlegenen und armseligen Insel? Auch
jetzt noch ist eine allgemeine Bildung über Island verbreitet,
so schwer es auch hält, daß die Kinder in Schulen unterrich-
tet werden. Aber jeder Hausvater unterrichtet seine Kinder
so gut er kann selbst, und die Geistlichen geben sich alle Mühe,
den Leuten vernünftige Begriffe beizubringen. Ihre Religion
ist die evangelische nach lutherischen Gebräuchen. Sie sind äu-
DaS Königreich Dänemark.
379
ßerst fromm, und hängen mit großer Liebe an ihren Kindern.
Ein Reifender fragte eine Frau, wie viele Kinder sie habe.
„Ich habe vier," antwortete sie, „zwei sind hier bei uns,
und die beiden andern sind bei Gott. Die sind die glücklich-
sien, die bei ihm sind, und meine Hauptsorge um die beiden,
die uns noch übrig geblieben sind, isi, daß sie mit Sicherheit
in den Himmel gelangen." Welcher schöne kindliche ^Glaube!
Der gewöhnliche Gruß der Isländer ist: „Ich wünsche dir
Glück und Heil!" Die Antwort ist: „Der Herr segne dich!"
Hat man Jemand besucht, so sagt man zum Abschied: „Mö-
get ihr in Gottes Frieden beharren!" Der Wirth antwortet:
„Gottes Frieden begleite euch!" Sowohl beim Zusammen-
treffen als beim Abschied ist ein herzlicher Kuß auf den Mund,
ohne Unterschied des Ranges, des Alters und des Geschlechts,
die einzige Art von Begrüßung, ohne die bei uns gewöhnli-
che Ziererei. Kommt man in eine Familie, so begrüßt man
alle einzeln der Reihe nach, von dem Höchsten anfangend,
selbst die Dienstboten nicht ausgenommen; beim Abschiede fängt
man umgekehrt mit den Dienstboten an, dann kommen die
Kinder, zuletzt die Eltern an die Reihe. Der höchste Wunsch,
den eine Familie zu haben pflegt, ist, eine Bibel zu besitzen,
und so arm diese guten Menschen auch sind, so haben sie
manchmal schon 6 — 8 Rthlr. für eine geboten, ohne sie
erhalten zu können. Ein Reisender, der sich eines Sonn-
tags hinter eine Faktorei ins Gras gelegt hatte, um zu lesen,
hörte hinter sich singen, und als er sich umwendete, fand er,
daß die Töne aus einer nicht sehr entfernten Hütte kamen.
Die Einwohner, aus zwei Familien bestehend, hatten sich zu
einem gemeinschaftlichen Gottesdienst vereinigt, und ließen ihre
Loblieder ertönen. Dieser schöne Gebrauch ist allgemein auf
der Insel. Jeden Sonntag treten die nahe bei einander woh-
nenden Familien, wenn keine Kirche in der Nähe ist, zusam-
men, um sich mit einander zu erbauen. Sie singen Lieder,
lesen das Evangelium und eine gedruckte Predigt. Man sollte
glauben, die Abgeschiedenheit, in welcher die Isländer leben,
müßte den Geist niederdrücken; denn oft sind einzelne Fami-
lien von andern meilenweit geschieden. Aber eben diese Ein-
samkeit treibt sie an, ihr Inneres anzubauen. Die Großar-
380
DaS Königreich Dänemark.
tigkeit der Natur, die furchtbaren Erscheinungen der Vulcane
und Erdbeben, predigen ihnen die Größe und Macht des Schö-
pfers und die Schwache und Abhängigkeit der Menschen. Die
langen Winterabende, wenn die Hütte in Schnee fast begraben
liegt, und eine Todtcnstille draußen herrscht, treiben sie zum
Nachdenken über sich selbst und zum Lesen ihrer wenigen Bücher,
keine Nomane, sondern die Bibel oder Sagen der Vorzeit.
So findet man auch in den ärmlichsten Hütten eine gewisse
geistige Bildung, die man bei unserem gemeinen Mann, der
nur in groben Sinnengenuß seine Glückseligkeit setzt, ganz
vermißt. Dafür sind dem Isländer grobe Laster ganz
fremd, und es leidet wohl keinen Zweifel, daß er durch sei-
nen frommen, nüchternen, verständigen Sinn glücklicher ist
als unser Landmann. O welch eine große Kraft liegt doch
im menschlichen Geiste, überall, auch unter den ungünstigsten
Umständen, glücklich zu leben, da wo die Natur ihr reichstes
Füllhorn ausgicßt, wie da, wo die rauhen Stürme des Nor-
dens wehen, die Erde ihre Schlünde öffnet, und Feuerströme
ausgicßt! Des Menschen Geist ist über die Natur erhaben;
sein Glück hängt nicht von äußeren Erscheinungen ab. Da,
wo die Natur ewig lächelt und verschwenderisch ihre Gaben
spendet, lebt oft der Mensch in Unsittlichkcit und Lastern ein
unglückliches Leben, und da, wo alle Schrecken der Natur
ein Land zur Einöde machen, wohnt er in harmloser Ruhe,
und genießt ein Leben voll Seligkeit! Denn das wahre
Glück beruht nicht auf äußeren Verhältnissen,
sondern auf dem innern Menschen.
Die Isländer haben aber auch ihre Vergnügungen. Kom-
men mehrere Familien zusammen, so unterhalten sie sich wohl
mit Wikcwaka, d. i. eine Frau und ein Mann fassen sich bei
der Hand, und singen abwechselnd Lieder, die auf einander,
passen, worauf der Chor einstimmt. Auch spielen sie Schach,
oder auch wohl Karten, aber ohne Geld darauf zu setzen. Im
Sommer ist mehr Abwechselung; bald ist Fischzug, bald Heu-
crndte. Am Schlüsse einer solchen Arbeit wird ein ländliches
Fest gegeben. Alle Häuser der Isländer sind auf dieselbe Art
eingerichtet. Die Mauern, die sehr niedrig, aber ungemein
dick sind, bestehen aus Lagen abwechselnd aus Stein und aus
Das Königreich Dänemark.
381
Erde. Das Dach ruht auf wenigen Balken, ist mit Reisern
und Zweigen von Birken durchflochten, und mit Grasstücken
belegt. Alle Jahre wird das hier wachsende Gras abgemäht.
Die Hausthüre führt in einen langen schmalen Gang, von
welchem die Stubcnthüren rechts und links nach den verschie-
denen Gemachern gehen. Das Licht fallt durch kleine Ocff-
nungcn im Dach, die selten mit Glasschcibchcn, meist mit
Schafhaut überzogen sind. Der Rauch geht durch ein Loch im
Dache. Ihre Bettstellen sind drei Fuß über dem Fußboden,^
und mit Federn oder Seegras angefüllt, je nachdem der
Wohlstand der Familie es erlaubt. Selten haben sie Dielen
auf dem Fußboden, der daher sehr feucht ist. Zu diesem
armseligen Zustande kommt der große Schmutz, der überall
herrscht. Die Menschen selbst, ihre Gerätschaften, ihr Fuß-
boden, alles ist unreinlich. Zn einem einzigen Zimmer schla-
fen oft 20 Menschen. Dazu kommen die Ausdünstungen
von den aufbewahrten Oclsack'cn, Häuten und getrockneten Fi-
schen, und nirgends kann die verpestete Luft hinaus, nirgends
reine Luft herein. Am elendesten sind die Hütten der ganz
Armen, die so sind, daß man sich wundern muß, wie ein
menschliches Wesen darin leben kann.
So einfach, wie die Wohnungen, sind auch die Speisen
der Isländer. Ihr Frühstück besteht in einem Gerichte ge-
ronnener saurer Milch, mit süßer Milch oder Sahne versetzt,
und zuweilen mit dem Safte von Blau- oder Wacholderbee-
ren vermischt; das Mittagscssen aus getrocknetem Fische und
Butter, die in der Regel sauer ist. Zum Abend effen sie
entweder wieder geronnene Milch wie am Morgen, mit Brot
und Käse, oder eine Suppe von isländischem Moos. Nur
an Sonn - und Festtagen werden gekochtes Hammelfleisch,
Mchlsuppe und Milchspeisen aufgetragen. Die große zinnerne
Schüssel steht in der Mitte des Tisches, und alle effen mit
ihren Gabeln gemeinschaftlich daraus. Das gewöhnliche Ge-
tränk ist eine Art Molken, mit Wasser vermischt.
Auch die Kleidung der Isländerinnen müssen wir unsern
Leserinnen beschreiben. Zunächst tragen sie ein Hemde von
grober Leinewand, das um den Hals mit einem silbernen oder
kupfernen Knopf befestigt ist; darüber 2 — 3 Untcrrdcke von
382
DaS Königreich Dänemark.
blauem Zeuche; dann eine Schürze von demselben Zeucht, mit
schwarzem Sammt besetzt, und oben mit einer Verzierung von
Silber oder vergoldetem Kupfer versehen. Das Leibchen be-
steht aus rothem oder schwarzem Zeuche, und hat auf dem
Rücken drei Sammtstrekfcn; auf der Brust laufen zwei Bor-
ten von demselben Zeucht, mit 5 oder 6 silbernen Haken und
einer großen Menge Treffen geschmückt. Unter dem Leibchen
sind die Röcke mit einem Sammtgürtcl befestigt, dem aller-
hand Zierrathen von Silber, geschliffenen Steinen u. dcrgl.
nicht fehlen dürfen. Um den Hals geht eine Halskrause von
schwarzem Sammt, etwa vier Finger breit, und säuberlich
mit Silber gestickt. Darüber wird eine Zacke von schwarzem
Zeuche, die genau anschließt, gezogen. Die fest anschließen-
den Aermcl haben an der Handwurzel Knöpfe von vergolde-
tem Silber mit den Anfangsbuchstaben des Mannes und der
Frau. Bis dahin ist der Anzug wohlkteidend. Aber der Kör-
per wird verunstaltet durch das Kleid von schwarzem Tuch,
das sic darüber ziehen. Auch hier sind die Ränder mit Sammt
besetzt, und vorn ist cs mit Haken befestigt. Die Strümpfe
sind von dunkelblauer oder rother Wolle, und die Schuhe be-
stehen aus Seehunds - oder Schaffell, das die Sohle bildet,
und mit ledernen Riemen oben an den Fuß festgebunden wird.
Wohlhabende Frauen hängen noch silberne Ketten um den
Hals mit großen silbernen Schaustücken. Der auffallendste
Theil dieser Tracht ist der Kopfputz. Es ist eine Art von
Turban von weißer Leincwand, der mit einer Unzahl von Na-
deln aufgesteckt wird. Er ist gewöhnlich 15—20 Zoll hoch,
ist am Kopfe rund, wird aber bald flach, biegt sich 12 Zoll
ungefähr rückwärts, und dann wieder vorwärts wie ein Horn.
Er endigt hier in ein sechs Zoll breites Viereck. Befestigt
wird er um den Kopf durch ein schwarzseidenes Tuch, das
mehrmals um den Kopf gewunden wird, das Haar ganz ver-
birgt, und hinter den Ohren herabhängt. Weit hübfcher als
diefe Sonntagstracht ist die der Werkcltage. An diesen tra-
gen die Frauen im Sommer bloß ein Hemde, Unterrdcke von
weißem leinenen Zeuche, und auf dem Kopfe eine blaue Mütze,
deren lange Spitze, mit einer rothen oder grünen Q-uaste ver-
ziert, auf der Seite herunterhängt. Ganz einfach gehen die
Das Königreich Dänemark. 383
Männer. Sie tragen blaue Jacken, Westen und weite Schkf-
ferbcinklekdcr, die Ränder mit rothem Zcuche besetzt; im Hause
herabhangende Mützen; wenn sie ausgehen, Hüte mit breiten
Krempen, und, wenn cs kalt ist, weite Mantel.
Wie sehr die Sitten der Isländer und ihre Begriffe von
Schicklichkeit von den unsrigen abweichen, davon nur ein Bei-
spiel. Ein englischer Geistlicher bereiste einst die Insel, und
wurde im Hause eines dortigen Bischofs sehr freundlich aufge-
nommen. Als dieSchlafstundc gekommen war, wurde er von
dem Bischof, seiner Frau und seinen Töchtern nach dem Schlaf-
zimmer begleitet. Hier wünschten sie ihm eine gute Nacht;
nur die älteste Tochter blieb zurück, um — dem lieben Gaste
die Strümpfe auszuziehen. Umsonst protesiirtc der Fremde
dagegen; das Mädchen behauptete standhaft, das sey der all-
gemeine Gebrauch des Landes, und sie würde eine große Un-
schicklichkeit begehen, wenn sie das nicht thäte. Der Mann mußte
es geschehen lassen; sie half ihm ins Bette, schob ein langes
Brett davor, daß er nicht hinausfiele, setzte ihm ein frisches
Glas Milch hin, und nun erst entfernte sie sich. Wer erkennt
darin nicht den ungczicrten Ausdruck der Gutmüthigkcit und
Menschenliebe, und wer ist mehr zu schätzen? Die unverdor-
bene Isländerin, oder die gezierte Deutsche, die in jeder
freundlichen Dienstleistung gleich eine Unschicklichkeit ahnt?
Wenn man von einem Orte zum andern reist, so ge-
schieht das auf Pferden, da cs hier keine Fahrwege giebt.
Man legt den Thieren Sättel auf den Rücken, d. i. viereckige
Stücke Torf, bindet eins an den Schwanz des andern, und
nimmt sich Zelte und die nöthigen Lebensmittel und Geräth-
schaftcn mit, weil man nicht sicher ist, unter freiem Himmel
übernachten zu müssen. Wirthshäuser giebt es nicht; aber man
wird überall von Bekannten und Unbekannten gastfrei aufgenom-
men *).
,
*) Mit welchen großen Beschwerden solche Reisen verbunden sind, kann
man leicht denken. Ein Reisender erzählt ein solches Beispiel. „Nach-
dem ich mein Zelt dicht am Rande eines Lavafcldcs aufgeschlagcn hatte,
meldete mir mein Diener, daß eine Rcisekaravane angekommen sey. Es
war ein dänischer Kammeraffcssor, der mit seiner Familie nach dem Sü-
den der Insel auswanderte. Es ist unmöglich, daß sich Jemand, der nie
384
Das Königreich Dänemark.
Je mehr wir unS bei Beschreibung der Insel und der
Einwohner aufgehalten haben, desto weniger brauchen wir eS
bei ihren Oertern. Denn eigentliche Städte hat sie gar nicht,
nur einzelne offene Oerter, die man selbst kaum Dörfer nen-
nen kann. Im Innern des Landes giebt cs der Wohnungen
nur sehr wenig; nur hier und da an Flüssen. Die meisten
liegen an den vielen Meerbusen, und bestehen nur aus weni-
gen Häusern. Der Hauptort ist
Reikiawiik, auf einer kleinen Halbinsel an der Südwcst-
küste. Ein Reisender erzählt von seiner Ankunft: „Nach iO
Uhr Abends warfen wir die Anker vor dem Orte aus. Der erste
Beweis, den uns. die Einwohner von ihren freundschaftlichen Ge-
sinnungen gaben, war, daß sic uns auf ihren Schultern auS dem
Boote ans Ufer trugen. Als wir landeten, kam uns ein Hau-
fen Männer, Weiber und Kinder entgegen, welche die Luft mit
ihren Zurufungen erfüllten: „Frieden! Kommt in Frieden! Der
Herr segne euch!" An der Spitze der Bai erwartete uns die hö-
here Klaffe der Einwohner. Einer derselben nahm mich mit in
sein Haus, wo wir eine treffliche Abendmahlzeit, aus frischem
Lachs bestehend, einnahmen. Der Ort ist die Residenz des Gou-
verneurs und dcS ersten Bischofs, und der erste Handelsplatz. Er
besteht nur aus 2 Straßen. Alle Häuser, nur zwei azisgenommen,
sind aus Holz erbaut. Ein paar andere Reisende veranstalteten
einen Ball, und luden dazu alle Standcspcrsonen in und um
in Island war, einen Begriff von den Gefahren und Beschwerden mache,
die mit einer solchcnAuswandcrung verknüpft sind. Das Durchwaten der
Flüsse, das Erklimmen der Berge, das Klettern über die Lava, der
Durchzug durch Moraste, schlechtes Wetter u- a. m. bieten auch dem
stärksten Wanderer die größten Schwierigkeiten dar. llnd doch hatte die
Frau niit ihren 3 Kindern eine Reise von 100 deutschen Meilen unter-
nommen, und schien mit einem bewundernswürdigen Muthe den Beschwer-
den zu trotzen. Jeder von ihnen hatte ein Pferd, ausgenommen das
jüngste Kind, ein Mädchen von 2 Jahren, welches ein Diener vor sich
auss Pferd genommen hatte. Dies arme kleine Kind hatte das Unglück
gehabt, daß ihr Führer cs an demselben Morgen hatte herabfallen laßen;
doch schien cs keinen bedeutenden Schaden genommen zu haben; cs klagte
nur über Schmerz im Magen. Als aber die Reisenden bei meinem Zelte
angelangt waren, und das Kind auskleideten , fand cs sich, daß cs den
Schcnkclknochcn gebrochen hatte. Man kann sich leicht die Angst und Ver-
legenheit der Eltern bei dieser Entdeckung denken. An einem fremden
Orte, mehr als die Hälfte der Reise bis zu ihrem Bestimmungsorte noch
vor sich, und wenigstens 12 Meilen von jeder ärztlichen Hülfe entfernt,
war ihre Lage wahrhaft erbarmungswürdig. Wir bemühten un6, den
Knochen, so gut wir konnten, zurecht zu setzen, und banden einige Strei-
fen Schaffells herum, um das Ausbicgcn zu verhindern. Das Kind er-
trug alles mit großer Geduld, und am folgenden Morgen setzte die Fa-
milie ihre Reise unter ängstlichen Besorgnissen fort."
Das Königreich Schweden.
385
Reikiawük ein. „ Eine schlecht gestrichene Geige wurde von einem
rostigen Triangel und einer Trommel begleitet. Während des
Tanzes, der sehr verwickelt war, wurde Thee und Kaffee berum-
gegeben, und die Herren, welche nicht tanzten, tranken Punsch,
rauchten Taback, und speisten überall auf dem Fußboden. Ber
dem Abendessen sangen einige Frauen und Mädchen ziemlich gut;
wir hatten aber keinen Genuß davon, wegen deS unaufhörlichen
Plauderns der Männer. Einer der Gesänge war zu unserm Lobe
als Wirthe, und während des Chors wurde mit den Gläsern an-
gestoßen. Obgleich cs die ganze Nacht hell war — es war in
der Mitte des Mai —, so brannten doch mehrere Leuchter im
Zimmer. Als die Gesellschaft um 3 Uhr des Morgens ausbrach,
stand die Sonne schon hoch am Himmel/^
Dänemark hat auch einige kleine Besitzungen außer Eu-
ropa:
1. in Asien, und zwar in Ostindien, auf der Küste Co-
romandel (der Ostküste von Vorderindien): die Stadt Tran-
quebar;
2. in Afrika: auf der Küste von Guinea zwei kleine Fe-
stungen ;
3. in Nordamerika: Grönland;
4. in Westindien, drei der kleinen Antillen: St. Tho-
mas, St. Croix und St. Jean.
Rösselts Cst'ographie II.
25
386 Das Königreich Schweden.
Das Königreich Schweden.
Unregelmäßig hoch, erhaben, steil,
Und Mass' auf Mass' gcthürmt, und Fels auf mächt'gen Fels,
In Alpenmajestät. Die hohe Stirn
Gefaltet jetzt in düstern Runzeln, heiter dann;
Unsichtbar bald, gehüllt in Wolken, bald
In goldnen Sonnenstrahlen glühend.
Lage: Schweden bildet den östlichen Theil der großen
skandinavischen Halbinsel, wahrend Norwegen den westlichen
Theil einnimmt. Zwei Flüsse, der Tornea *), und der in ihn
ftießende Muonio, trennen das Land im Nordosten von Ruß-
land.
Boden: Ganz Schweden beinahe ist Bergland, wenige
Küstenstriche ausgenommen. Das rauhe Gebirge, das beide
Königreiche, Schweden und Norwegen, von einander trennt,
heißt das Kölen- oder Kjölen-Gebirge. Es ist unge-
mein wild, zerrissen und wüst; nur die südlicheren Berge sind
mit Wald bewachsen; die nördlichen dagegen kahl, und die durch
einander geworfenen und auf einander gethürmten Felsmassen
bieten die abenteuerlichsten Formen dar. Der Hauptgcbirgs-
knoten ist auf der Gränze nahe bei der norwegischen Stadt
Röraas. Von hier zieht sich das Gebirge längs der Gränze
nach Nordosten bis an das Eismeer, und überall ragen an
der Küste die wüsten, schauerlichen Klippen tief in die See
hinein. Von Röraas gehen mehrere Zweige nach Süden,
Südosten und Südwesten aus, und verbreiten sich besonders
über Norwegen. Das Kjölen-Gebirge wird in Schweden
Norrska-Fjällen genannt, d. i. die nördlichen Schneeberge,
und wirklich werden viele dieser Berge nie vom Schnee be-
freit. Von der Gränze sendet das Gebirge Seitcnzweige durch
ganz Schweden bis ans Meer hin, die je weiter nach der
Küste desto niedriger werden. Daher ist Schweden kein sehr
fruchtbares Land. Einen großen Theil des Bodens nehmen
Waldungen, Berge, steinige Thäler, Seen und Moräste ein.
*) Die Schweden haben einen Vocal, der unsrer Sprache fehlt, das a,
welches halb wie a und halb wie o ausgesprochen wird.
Das Königreich Schweden. 387
und nur der südlichere Theil des Landes ist eines besseren An-
baues fähig.
Gewässer: Schweden wird von den Gewässern der
Nordsee, des Kattegat, des Sundes, der Ostsee und des bott-
nischcn Meerbusens umgeben.
Vom Gebirge strömen eine Menge Bache und ' Flüsse
herab, die sich zum Theil, ehe sie das Meer erreichen, in den
tiefen Gegenden zu großen Wasserbehältern, Landsecn, sammeln.
Schweden ist daran ganz vorzüglich reich. Die größeren lie-
gen freilich mehr in dem niedrigen Lande; aber selbst bis auf
das hohe Gebirge hinauf trifft man überall Landseen an. Die
größten sind:
1. Der Wener - See.
2. Der Wetter-See.
3. Der Hiclmar- (spr. Hielmar) See.
4. Der M ä l a r - S e e.
Die meisten Flüsse sind unbedeutend, weil sie nur einen
kurzen Weg von ihrer Quelle bis zu ihrer Ausmündung ha-
ben. Wir merken, außer dem
1. Tornea, der den Muonio aufnimmt,
2. die Dal-Elf. Sie entspringt nahe bei Nöraas auf
der Höhe des Gebirges, stießt in südöstlicher Richtung hinab,
und mündet sich in den bottnischen Busen.
3. Der Motala ist der Abfluß des Wettcrsces nach der
Ostsee. Da aber dieser Strom für Schiffe nicht gut zu be-
fahren ist, so ist ein Kanal angelegt, der Götha-Kanal,
der erst vom Wenersec nach dem Wettersee, und von diesem
in östlicher Richtung nach der Ostsee führt.
4. Die Götha-Elf ist der Abfluß des Wcnersces nachdem
Kattegat. Gleich nach ihrem Austritt aus dem See stürzt sie
einen Berg in vielen Absätzen hinab, und demnach ist sie nicht
für Schiffe zu befahren. Um dies aber doch möglich zu ma-
chen, hat man daneben einen sehr kostbaren und künstlichen
Kanal gegraben, den Troll)ätta-Kanal, durch welchen
vermittelst vieler Schleusenkammern die aus dem See kommen-
den Schiffe hinab- und die entgegengesetzt kommenden hinauf-
gebracht werden können.
25*
388
Das Königreich Schweden.
Klima: In einem Lande von solcher Ausdehnung ist
das Klima natürlich sehr verschieden, und wir müssen daher
die südlichen von den nördlichen Gegenden wohl unterscheiden.
In den südlichen Provinzen finden 4 Jahreszeiten noch statt;
aber der Sommer ist kürzer, der Winter viel langer als bei
uns, und Frühling und Herbst gehen schnell vorüber. Der
kurze Sommer ist sehr warm, der Winter hat dauernde und
strenge Kalte. Je weiter nach Norden, desto kalter und rauher,
und oft wehen heftige Stürme, besonders beim Wechsel der
Jahreszeiten. Frühling und Herbst fallen hier ganz weg, und
cs geht der Winter schnell zum Sommer, und dieser plötzlich
zum Winter über. Dabei ist aber die Luft gesund und rein,
und die Schweden erreichen oft ein recht hohes Alter. Durch
den Norden von Schweden geht der nördliche Polarkreis, und
hier geht also in den kürzesten Tagen die Sonne gar nicht
auf, und in den längsten gar nicht unter.
Producte: Einen Hauptreichthum des Landes machen
die Mineralien aus, besonders Kupfer und Eisen.
Beide sind nicht nur in großer Menge, sondern auch von vor-
züglicher Güte vorhanden. Das schwedische Eisen wird für
das beste gehalten, und ist zu allen Arten von Arbeiten zu
brauchen; denn es ist nicht so spröde wie das englische, und
wird vorzüglich von den Engländern zu ihren schönen Stahl-
waaren gebraucht. Getreide wachst nur in den südlichen Ge-
genden; aber nach Norden zu hört cs ganz auf, und hier ist
manchmal solcher Mangel an Korn, daß die Leute gemahlene
Baumrinde und isländisches Moos unter das Mehl thun, und
zu Brot verbacken. Weintrauben findet man im ganzen Lande
nicht, außer ganz im Süden, wo sie als eine große Mcrkwür-
digkcit an wenigen Orten am Spalier gezogen werden.
Ein zweites Hauptproduct sind die Waldungen, die
sehr vielen Menschen Arbeit geben. Manche fällen die hohen
Tannen und Fichten, Andere schneiden sic zu Brettern, Balken
und Latten, noch Andere machen hölzerne Löffel, Teller, Fässer,
Schachteln, O-uirle und andere Holzwaaren. Diese Waaren
werden nicht allein viel im Lande verbraucht, sondern gehen
noch mehr ins Ausland, und namentlich holen die Engländer
die hohen Tannen, um sie zu Mastbäumen zu verbrauchen.
Das Königreich Schweden.
389
Drittens gehört die Fischerei zu den wichtigsten Ge-
werben. An den Küsten der Nordsee ist der Hering, an denen
der Ostsee und des bottnischen Meerbusens der Strömling der
Hauptfisch, und zwar in ungeheurer Menge, ein großes Glück
für Tausende armer Menschen, die hauptsächlich davon leben.
Einwohner: Die Schweden sind, wie die Dänen, ger-
manischer Abkunft, ein treues, biederes, redliches Volk, thätig
und fleißig, ausdauernd und geduldig, dabei voll Feuer, gast-
frei, gesellig und höflich. Sic find meist von starkem, kraft-
vollem Körperbau, haben blaue Augen und blonde Haare; doch
findet man in den nördlichen Gegenden auch Menschen mit
dunkeln Haaren und Augen. In ihren Sitten ist eine liebens-
würdige Einfachheit, und vor Allem zeichnet sie eine ungchcu-
chelte Frömmigkeit aus. Grobe Laster, Mord, Raub, Dieb-
stahl kommen sehr selten vor; besonders auf dem Lande findet
man eine seltene Sittenreinheit. Ihre Sprache ist die schwe-
dische, eine Schwester der dänischen.
Ein zweiter Menschenstamm sind die Finnen, die im
nördlichen Theile des Landes wohnen. Sie . sind von den
Schweden ganz verschieden, nur von mittelmäßiger Größe, aber
von dauerhaftem Körperbau. Ihr Gesicht ist flach, mit ein-
gefallenen Backen, ihre Farbe gelblich, die Augen dunkelgrau,
der Bart dünn, das Haar braungelb. Sic sind ernst, arbeit-
sam, abgehärtet, aber auch sehr eigensinnig und starrköpfig,
unreinlich und rachsüchtig. Sie haben ihre eigene Sprache,
und zeichnen sich durch eigenthümliche Sitten aus.
Die Religion in Schweden ist die christliche nach dem
lutherischen Lehrbegriff mit bischöflicher Form, wie in Däne-
mark. Von den Sitten werden wir bei den einzelnen Pro-
vinzen noch besonders sprechen; hier nur im Allgemeinen etwas
davon. Alle Nordländer sind starke Esser, und ziehen die Freu-
den der Tafel allen andern vor. Ehe man sich zur Tafel setzt,
tritt man in den Häusern der Vornehmen an einen seitwärts
gedeckten Tisch, und genießt hier, um sich den Appetit zu schär-
fen, stehend einige pikante Sachen, gewöhnlich dürren Brotku-
chen (Knäckebröd), Butter, Käse, Sardellen, Lachs oder Pökel-
fleisch, und trinkt dazu ein gutes Glas Branntewein; selbst
die Damen nehmen ihren Schluck. Dies Vorcffen darf in
390
Das Königreich Schweden.
keinem anständigen Hause fehlen. Dann erst setzen sie sich an
die Tafel, und die Schmauserei beginnt. Auch hier fängt
die Mahlzeit mit einem Voressen von gesalzenen Fischen und
Pökelfteisch an, auf welches erst die Suppe folgt. Dann
kommt eine lange Reihe von allerhand Schüsseln mit Fischen,
Fleischspeisen, Braten u. s. w., gewöhnlich zwei Stunden lang.
Zuletzt macht der Nachtisch, wie bei uns aus Backwerk, Obst
u. a. bestehend, den Beschluß. Unmittelbar darauf folgt der
Kaffee, aber zugleich auch Punsch, Thee, englisches Bier, ge-
räucherter Lachs, Schinken, Kuchen u. a. Dinge. Zucker und
Gewürze dürfen bei keinem Gerichte, nicht einmal im Brote,
fehlen. Das gewöhnlichste Getränk ist Branntwein, der be-
sonders vom gemeinen Mann in großer Menge genossen wird.
Die Landleute haben sehr armselige Hütten, die meist
zerstreut stehen; Dörfer sind selten, und selbst in ihnen stehen
die Hauser sehr einzeln. Die Bauerhütten bestehen aus
Baumstämmen, die der Länge nach über einander gelegt, und
auswendig roth angestrichen sind, was gegen das Grün des
Grases recht hübsch absticht. Eine solche Hütte enthält ge-
wöhnlich nur Einen Raum, in welchem sich Menschen und
Vieh befinden. Dieser Raum ist Wohnzimmer, Küche, Keller,
Schlafgcmach und Stall zugleich. Das Schlimmste dabei ist
die große Unreinlichkeit; die Wände sind schwarzgeräuchert, und
alles so unreinlich, daß jeder Fremde sich mit Widerwillen
wegwenden muß. Frische Luft kann in solche Löcher nie kom-
men, weil die Fenster zugenagelt sind, und keine andere Oeff-
nung als der Schornstein da ist. Der Geruch ist daher, am
meisten im Winter, unerträglich. Nur die Kirchen sind von
Stein, und mit einem kleinen Thürmchen versehen, auf welchem
aber die Glocke nicht hangt. Diese befindet sich neben der
Kirche auf einem besonderen, roth angestrichenen Gerüste. —
Nicht besser sind die Hütten der Finnen; nur sind sie noch
rauchiger, weil sie keine Schornsteine haben. Bei den meisten
Hütten ist statt dessen in der Mitte der Decke ein Loch ge-
lassen, oder, wo auch dies fehlt, überläßt man es dem Rauche,
sich selbst einen Ausweg zu suchen. Das Innere einer solchen
Hütte sieht also kohlschwarz aus. Diese Schwärze wird noch
Das Königreich Schweden.
391
vermehrt durch die Kienspäne, welche man hier im Winter
statt der Lampen brennt.
Das Landvolk in Schweden hat zwei Hauptfesttage:
den ersten Mai und den Io h a nn i ö tag. Am Isten Mai,
der hier noch sehr rauh zu sein pflegt, werden auf den Feldern
große Feuer angezündet, um die sich die Umwohner versammeln,
um zu schmausen und Branntwein zu trinken. Noch feierlicher
ist der Johannistag, der in eine schon bessere Jahreszeit fallt.
Schon am Abend vorher versammeln sich die Nachbarn., Die
Hauser werden mit grünen Reisern geschmückt; Jünglinge und
Mädchen pflanzen einen Maicnbaum, und tanzen um ihn, bis
der Tag anbricht. Nach kurzer Morgenruhe gehen alle in die
Kirche, und bringen den übrigen Tag unter allerhand ländlichen
Vergnügungen hin. In Stockholm, der Hauptstadt, wird dies
Fest noch feierlicher begangen. Am Johannistage zieht die
königliche Familie in den Park, und bringt die übrigen 6
Tage des Juni unter bequem eingerichteten Zelten zu. Nahe
dabei schlagen die Soldaten der Stadt ein Lager auf. In
den Gassen dieses Lagers befinden sich bunte Pfähle, mit al-
lerlei Zicrrathen geschmückt. Auf jedem Pfahl liegt eine Bier-
tonne, und alle werden des Abends auf ein gegebenes Zeichen
angezapft. Nun erst geht die wahre Lust an. Jeder kann
trinken, so viel als er will, und erhält noch obendrein eine
Pfeife, ein Brot, zwei Heringe und einiges Geld. Dazu spie-
len die Musikanten, und nun tanzen, springen und jubeln die
Leute nach Herzenslust. Auf jeder Tonne sitzt ein Soldat als
Bacchus oder sonst verkleidet, und ruft Gesundheiten aus. Daß
das ganze Lager dann voll Menschen ist, versteht sich von
selbst; man ergötzt sich am Anblick der jubelnden Soldaten,
die aber, sobald der Zapfenstreich gerührt wird, augenblicklich
zu ihrem Dienst zurückkehren müssen.
Fabriken und Künste werden in Schweden weniger als
anderwärts betrieben, weil der gemeine Mann sich sein Wad-
mal und seine Hausgeräthe selbst macht, und was die gebil-
deten Stände gebrauchen, wird ihnen aus andern Ländern,
meist aus England, zugeführt. Die Hauptnahrungszweige sind
Bergbau, Waldbau und Fischerei. An Geist fehlt
cs den Schweden, trotz der alles erstarrenden Kälte, keines-
392
Das Königreich Schweden.
wegcs, und in allen Zweigen der Wissenschaften und der Künste
haben sich einzelne Männer ausgezeichnet.
Schweden steht unter einem eingeschränkten Könige, jetzt
Karl Johann, mit dem Familiennamen Bernadottc, ein
Franzose, einst unter Bonapartes Negierung Fürst von Ponte
Corvo. Seine Rechte sind ungefähr wie die des Königs von
England; er wird aber nicht durch ein Parlament, sondern
durch die Reichs stände eingeschränkt, die aus dem Ritter-
stande, der Geistlichkeit, dem Bürgcrstande und dem Bauern-
stande bestehen. Alle 5 Jahre werden sie zusammenberufen.
Jeder Stand versammelt sich besonders, und hat seinen Spre-
cher ; jeder Stand hat nur Eine Stimme. Jedes Gesetz muß
von drei Ständen genehmigt und vom Könige bestätigt seyn.
Das Königreich wird eingetheilt in drei Länder: G öta-
la nd, das südlichste; Svealand, das mittlere; Norr-
land, das nördlichste.
1. G ö t a l a n d.
Es ist der südlichste Theil. Die nördliche Gränze geht
quer durch den Wenersec, berührt die Nordspitze des Wettersee,
und endigt gerade östlich von derselben am Meere. Wenn
man von Deutschland kommt, so pflegt man in
Vstadt zu landen, der südlichsten Stadt Schwedens. Sie ist
klein, hat enge und krumme Gassen und meist hölzerne Häuser.
Zu unsrer Reise in Schweden bedienen wir uns der Ex-
trapost. Gewöhnliche Fahrposten giebt cs dagegen hier nicht,
weil die Kosten nicht herauskommen würden; wohl aber Neit-
posten. Ucberall findet man herrliche Wege, völlig den deut-
schen und italienischen Kunststraßen gleich, bis in die nörd-
lichsten Gegenden hinauf. Dabei werden die Reisenden mit
der größten Höflichkeit und Gefälligkeit behandelt; nicht nur
die Gastwirthe wetteifern darin, sondern auch die Bauern, die
nirgends so viele Bildung verrathen als in Schweden. In
diesem Theile des Landes nimmt sich die Tracht derselben recht
hübsch aus; sie tragen schwarze Jacken mit weißem, hervor-
stehendem Kragen. — Nordöstlich von Pstadt liegt, auch am
Meere,
Das Königreich Schweden.
393
Carlskrona, eine sehr freundliche Stadt mit breiten Gas-
sen, aber meist hölzernen Hausern. Sie hat einen Kricgshafen,
mit Schiffswerften, Docken, Zeughäusern, Magazinen u. s. w.
Zn der Ankerschmiede hat man den traurigen Anblick menschlicher
Verworfenheit. Mörder und andere schwere Verbrecher werden
hier beschäftigt, und sind mit schweren Ketten zwei und zwei an
einander geschmiedet. So groß in der Admiralität — so nennt
man die zum Hafen gehörenden Gebäude — auch die Thätigkeit
ist, so todt ist es dagegen in der Stadt. Man kann mehrere
Minuten gehen, ohne einem Menschen zu begegnen.
Wenden wir uns von Pstadt nach Westen, so finden
wir, Kopenhagen gegenüber, die Stadt
Malmö, die im Winter, wenn der Sund mir Eis bedeckt
ist, von den Kopenbagnern fieißig zu Schlitten besucht wird. Sie
ist eine recht freundliche Stadt mit breiten Gaffen, und vielen
hübschen bölzernen Häusern. Freundliche Spatziergängc und Gär-
ten umgeben sie. Besonders nett ist der Markt, ein regelmäßi-
ges Viereck, rings mit Linden, Ahorn- und Kastanienbäumen
bepflanzt. — Ganz nahe bei Malmö, etwas nordöstlich, liegt
Lund. Alle diese Städte sind sehr klein, aber ungemein
freundlich, haben gerade, breite Straßen, viele Häuser sind mit
Gärten versehen, und alles hat das Ansehen von Reinlichkeit.
Sie liegt nicht ganz nahe an der See. Ihre Merkwürdigkeit ist
eine alte Universität. Von der sonst auf Universitäten herrschen-
den Rohheit findet man hier nichts. Die Studenten sind heiter,
aber anständig, und in den langen schattigen Baumgängen vor
dem Universitätsgcbäude sieht man sie fleißig lustwandeln. Das
elende kleinstädtische Gcklatsche, das bei uns so häufig gefunden
wird, kennt man dort nicht. Alle Familien halten zusammen,
und führen ein gar geselliges Leben. Neben alter Frugalität
herrscht in Gesellschaften Biederkeit und feine Gewandtheit, und
mit Herzlichkeit werden alle Fremde aufgenommen. Eine zweite
Merkwürdigkeit von Lund ist der alte, ehrwürdige und prachtvolle
Dom. Er wurde schon ums Jahr 1000 gegründet, und ist ganz
aus Sandsteinquadern gebaut. Die 64 Altäre, die ihn einst
schmückten, der unermeßliche Reichthum, die Reliquien, sind zwar
verschwunden; aber die herrlichen Thürme, die Pfeiler und Hal-
len machen noch immer einen großen Eindruck. Ueber der einen
Thüre der Kirche sind noch die Ucberreste einer berühmten künstli-
chen Uhr. Am Zifferblatte waren einander gegenüber zwei ge-
harnischte Ritter angebracht, die, wenn die Glocke schlug, sich so
viele Lanzenstöße gaben, als der Seiger Stunden wies. Darun-
ter saß die Jungfrau Maria; zu ihren beiden Seiten befanden
sich zwei Thüren, und vor ihr war ein kleiner Schauplatz. An
der Thüre zur Linken erschien ein kleiner Herold, und klopfte an;
die Thüre wurde geöffnet, und zwei Trompeten erschallten. Nun
394
DaS Königreich Schweden.
kamen die 3 Weisen aus dem Morgenlande, im königlichen Schmu-
cke, heraus, bildeten um die Maria einen Halbkreis, indem sie,
anbetend, sich vor ihr verneigten, und kehrten dann durch die
zweite Thüre zurück. Jeder der 3 Weisen hatte einen Bedienten
hinter sich, der aber steif einher ging, nicht grüßte, und als nicht
zur Gesellschaft gehörend sich darstellte; aber der Letzte, der von
der Scene zurücktrat, machte die Thüre zu, welche einen lauten
Klang von sich gab. — Nordwestlich von Lund ist
„ Helsingborg, eine kleine, offene, unansehnliche Stadt,
Hclsing'ör gegenüber, und daher der gewöhnliche Ueberfahrtsort
nach Danemark. Von da fahren wir hinüber nach der kleinen
Insel
Hven im Sunde. Sie ist an sich unbedeutend, hat
aber durch den berühmten Tycho de Brahe Bedeutsamkeit
erhalten. Dieser Mann war ein gelehrter Astronom im 16ten
Jahrhundert, ' und erhielt die Insel vom Könige von Dane-
mark, dem sie damals gehörte, geschenkt, um darauf eine
Sternwarte zu bauen, von der er recht ungestört den Himmel
beobachten könnte. Die Sternwarte hieß Uraniborg, und
21 Jahre lang (1576 —1597) hielt sich Brahe hier auf *).
Von Uraniborg sind kaum noch wenige Spuren zu sehen. —
Wenn wir von Helsingborg nach Norden längs der Küste hin-
reisen, kommen wir nach
G'ötheborg oder Gothen bürg, ein Werk des großen
Gustav Adolph. Sie liegt dem Skagenshorn in Jütland gerade
gegenüber, an der Mündung der Götha/Elf, die in mehreren Aer-
men die Stadt durchströmt. Die Umgebungen der Stadt sind
überaus freundlich; ringsum sind Baumgänge, Gärten und lieb-
liche Landsitze, neben denen nackte Felsen sich erheben, von denen
man herrliche Aussichten auf das weite Meer hat. Die meisten
Häuser der Stadt sind — eine Seltenheit in Schweden, von
Stein. Die Straßen sind breit und gut gepflastert. Bei uns
würde sie eine Mittelstadt heißen; denn sie hat nur etwa 20,000
Einwohner; in Schweden aber betrachtet man sie als eine große;
auch ist sie nächst der Hauptstadt Stockholm die größte des Reichs.
Sie hat einen vortrefflichen Hafen, und bejonders aus England,
Hamburg und Lübeck laufen viele Schiffe aus und ein.
Wenn man von Götheburg noch nördlicher reist, nach der
norwegischen Gränze zu, wird die Gegend immer felsiger und
*) Mehr über Tycho de Breche findet man in meiner Geschichte der
Deutschen für Töchterschulen, Th. 2., S- 159. Auch s. Th. 1. dieser
Geographie, S. 131.
Das Königreich Schweden.
395
wilder. Ucberall steigen hohe, schroffe Bergwände cmvor, die
nur selten bewachsen sind; hier und da erblickt man zwischen
ihnen hindurch das Meer. Diese Abgeschiedenheit des Landes
bewahrt die Einfachheit der Sitten der Einwohner, die gut-
müthig, bieder, arm, aber sehr genügsam, und darum glück-
lich sind. Besonders leuchtet dem weiblichen Geschlecht die
Sanftheit, Freundlichkeit und Herzensgüte aus den Augen.
Begegnen sie ihren Freunden, oder wollen sie ihren Dank sa-
gen, so begleiten sie ihre Worte mit herzlichen Küsten; denn
Sittenreinheit wird hier überall gefunden. Ein Reisender er-
zählt davon folgendes Beispiel: „Ich übernachtete in einem
kleinen Orte, wo ich am Morgen Zeuge einer rührenden
Scene war. Der stille und gottesfürchtige Sinn der auf-
wartenden Tochter des Hauses hatte mich veranlaßt, sie mit
einem neuen Testamente zu beschenken. Mit großer Innigkeit
dankte sie für die große Gabe, wie sie es nannte, und wie-
wohl die guten Leute sehr arm zu seyn schienen, so wollten
sie doch durch geringeren Ansatz meiner Rechnung sich dankbar
beweisen; und nur durch die dringendste Bitte konnte ich Er-
höhung derselben bewirken, worauf die Beschenkte zu mir trat,
und mit einer solchen Innigkeit mir die Hände drückte, daß
ich durch die herzliche Dankbarkeit des sanften Mädchens, des-
sen schönes Antlitz Einfachheit und Unschuld verklärten, mich
tief ergriffen fühlte. Wahrlich, es giebt nichts Schö-
neres auf Erden, als die Dankbarkeit einer
frommen, schuldlosen Seele!"
Die Frömmigkeit und Gemüthlichkeit der Schweden zeigt
sich bei jeder Gelegenheit, namentlich auch durch die Art, wie
sie das Weihnachtsfcst begehen. Die kurze Schilderung eines
Reisenden wird Niemand ohne Interesse lesen: „Ucberall
dauert die Feier vom 24sten December bis zum 6ten oder
13ten Januar. In stiller und lauter Freude werden diese
Tage verlebt. Lange zuvor rüstet man sich, und das Beste,
was das Haus vermag, wird für diese Tage aufgespart.
Auch das Gesinde hat es in diesen Tagen der Freude bester,
wie je sonst im Jahre; es speist vom Tische seiner Herren,
oder wird doch durch ein besseres Mahl, wobei die Wcih-
nachtsgcrichte nicht fehlen dürfen, erquickt; ja selbst das Vieh
396
Das Königreich Schweden.
wird in der ganzen Weihnachtszeit besser als gewöhnlich ge-
füttert. Mehrtägige Vorbereitungen gehen der Freudenzeit vor-
an. Je näher Weihnachten, desto geschäftiger findet man al-
les in den Häusern; da wird gebacken, gebrauet, gebrannt,
gescheuert, gesäubert und ausgeschmückt. Am 23sten Decem-
ber hängt man auch die Tapeten auf, welche in allen Bauern-
häusern die Weihnachtszeit hindurch die Wände schmücken.
Diese Tapeten sind theils von Lcincwand, durchwirkt mit al-
lerlei, sich auf das Fest beziehenden Darstellungen und Bil-
dern, theils von Papier mit Abbildungen aus der Geschichte
der Geburt und des Kindesalters Jesu: die Engel und die
Hirten; Maria mit dem Jesuskinde in der Krippe; die an-
betenden Weisen u. s. w. Auch Fenster, selbst Geräthe, ja
den Kessel, in welchem die Weihnachtsgrütze gekocht ward,
schmückt man mit Franzen u. s. w. Auch hängt man Klei-
dungen in den Zimmern und an den Wanden auf; jedes Fa-
milienglied erhält in nur irgend wohlhabenden Bauernfamilien
zum Weihnachtsfest ein neues Kleid; auch pflegen wohl die
Stühle weiß überzogen zu werden. Am 24stcn Morgens be-
ginnt schon die bessere Bcwirthung. Die Hausfrau setzt den
größten Kessel, den sie hat, aufs Feuer, und thut darein al-
les Fleisch, das für das ganze Fest bestimmt ist. Um diesen
Kessel sammelt sich zu Mittage die gcsammte Hausgcnoffen-
schaft, und hält ihr Mittagsmahl, indem man Brot in das
oben fließende Fett taucht; ein anderes Mittagsmahl wird nicht
gereicht. Alles legt nun seine Festkleider an, wenn das nicht
schon am Vormittage geschehen ist; der Fußboden der Zimmer
wird mit Stroh belegt, und der Weihnachtstisch wird gedeckt."
„An einigen Orten um 12 Uhr Mittags, doch gewöhn-
lich erst um 3 oder 4 Uhr bei einbrechender Dunkelheit, wo
auch die Festglocke vom Kirchthurm erschallt, hebt das Fest
an. Nun ruht alle Arbeit; man sammelt sich um das lo-
dernde Kaminfeucr; die Oelkanne geht umher, und man er-
baut sich in Betrachtung der Abbildungen auf den Weihnachts-
tapeten. Jeder Fremde, der eintritt, seit das Fest begonnen
hat, muß nothwendig etwas genießen; er würde sonst den
Frieden mitnehmen aus dem glücklichen Kreise. Die Gast-
freundschaft, diese herrliche Tugend der Schweden, hat in der
Das Königreich Schweden.
397
frohen Weihnachtszeit die höchste Stufe erreicht. Bald fetzt
man sich an die festlich geschmückte Tafel. In großen^ Gefä-
ßen tragt sie das auf dem Feuer bereitete Fleisch; daneben
Schinken, Stockfisch, die erwähnte süße Weihnachtsgrütze,
mit Rosinen bestreut und mit einer Höhlung, welche geschmol-
zene Butter zum Eintauchen der Grütze in dieselbe faßt; fer-
ner eine Pyramide, die ein bis ein und eine halbe Elle hoch,
aus mehreren über einander geschichteten stachen dünnen Brot-
arten, aus einem großen Käse, Kringeln, und ganz oben aus
Aepfcln gebildet wird; das Brot ist besser und feiner als sonst
gewöhnlich. An einigen Orten steht vor jedem Gast ein Hau-
fen vielgcstaltctcr Brolkuchcn, die verschiedene Thiere darstel-
len, die Branntweinflasche und die Oelkanne nicht zu ver-
gessen; auch Nüsse werden aufgetragen. Neben der Tafel
hängt von der Decke eine aus Stroh geflochtene, fein ver-
zierte Krone herab. Viclarmige Lichter —- jedes Kind erhält
das seinige — erhellen die Tafel. Unter fröhlichen Scherzen
feiert man das gemeinsame Mahl, und namentlich darf Keiner
die Weihnachtsgrütze kosten, ohne vorher durch Hcrfagung ei-
nes Reims sich ihrer würdig gemacht zu haben. Da giebt
es denn nun allerlei belustigende Einfälle. Nach geendigter
Mahlzeit singt man Weihnachtslieder und liest Wcihnachtsge-
bete. Dann zündet man das große Weihnachtslicht an, wel-
ches die ganze Nacht durch nicht verlöschen darf, worauf sich
die ganze Familie auf dem im Zimmer ausgebreiteten Stroh
schlafen legt. Nach einigen Stunden Ruhe bcgiebt man sich
auf den Weg zur Christmette, nachdem man von den Resten
des gestrigen Mahles Frühkost gehalten hat. Auch Weiber
und Kinder kosten nun die hitzigen Getränke. Von der Christ-
mette, die um 5 Uhr oder später beginnt, und in den mei-
sten Landschaften noch üblich ist, bleibt niemand zu Haufe.
Vereinigt ziehen die Dorffchaften zu Wagen, zu Pferde und
zu Fuß, mit Fackeln, wenn kein Mondschein ist, zur Kirche.
Die Kirche ist auf Kosten der Gemeinde reich erleuchtet; au-
ßerdem führt Jeder ein kleines Wachslicht mit sich, das er
auf seiner Bank in einen Leuchter befestigt, und von dem ec
gern noch ein Ucberbleibfel, als geweiht, mit nach Haufe
bringt. Aus Aller Gesichtern spricht Freude. — An die
398
Das Königreich Schweden.
Christmette schließt sich der Vormittags- oder Hauptgottesdicnst
an. Beide Gottesdienste pflegen um 8 Uhr geendigt zu seyn;
dann eilt alles aus der Kirche, und so schnell als möglich zu
Hause. Wer zuerst im Dorfe anlangt, löst als Siegeszeichen
einen Schuß, und wird, nach der Meinung des Volkes, auch
zuerst im nächsten Jahre die Erndte vollenden. Nach eingenom-
menem Morgenbrote verfließt der übrige Theil des Tags daheim
in Freude und Scherz, wie in Uebungen der Andacht, oder
draußen in Spielen auf dem Eise. Man fahrt Ring, indem man
einen an einem Pfahl befestigten Schlitten umlaufen laßt; man
tanzt, ringt u. s. w. Ist kein Eis da, so belustigt man sich
auf andere Art in der Luft, und zwar fo, daß dabei viel ge-
laufen und gesprungen wird; denn wer heute rasch und mun-
ter ist, der bleibt so das ganze Jahr hindurch. Niemand
legt sich schlafen, wenn der Branntwein ihn nicht wider sei-
nen Willen dazu nöthigt. Aber kein Besuch wird am ersten
Weihnachtstage gegeben oder empfangen; man hält es viel-
mehr für schimpflich, an diesem Tage in eines Andern Hause
zu seyn. — Auf ähnliche Art verfließt der zweite Weih-
nachtstag unter Besuch der Kirche und unter fröhlichen Spie-
len. Aber die Honoratioren geben sich an diesem Tage schon
Besuche. In Stadt und Land beginnen am Abend desselben
die Wcihnachtslustbarkeiten. Diese bestehen theils und meist
in Tänzen, theils in fröhlichen Mahlen, theils in Spielen
mancherlei Art. Solcher Spiele giebt es eine große Menge;
sie finden aber mehr bei den Vornehmen statt. Gleiche Lust-
barkeiten zeichnen auch die übrigen Tage aus; zumal an Sonn-
tagen , selbst nach Ablauf der Festzeit, trifft man in den Dör-
fern die fröhlichen Weihnachtstänze, die an einigen Orten auf
Stroh gehalten werden."
„In allen Häusern sieht man am 24sten, Lösten und
Lösten December den Weihnachtstisch mit den gehörigen Fest-
speisen besetzt, und ein Jeder, Freund wie Feind, Einheimi-
scher wie Fremder, ist an demselben willkommener Gast; ja
es ist Freude im Hause, wenn ein Fremder das Weihnachts-
mahl nicht verschmäht, und Trauer, wenn er, ohne genossen
zu haben, weggeht, im Hause der Wohlhabenden wie der Ar-
men. Am 27sten December wird abgedeckt, und bis zum
Das Königreich Schweden.
399
31stcn speist man weniger gut. Die Abende des 31stcn De-
cembers und des 5ten Januars werden als heilige Abende in
stiller, häuslicher Feier begangen: jede Familie ist da für sich.
Die vielarmigen Lichter werden wieder angezündet, brennen
aber nicht bis zum Morgen; die .Weihnachtsspeisen werden
nochmals aufgetragen. Doch ist die Feier minder herrlich, aber
der Tisch bleibt bis zum nächsten Morgen unabgedcckt. Man
liest in der Bibel, und singt geistliche Lieder. An den Sonn-
und Festtagen der Weihnachtszeit geht Alles zur Kirche, das
Wetter mag seyn wie cs will, und auch an den Wcrkeltagen
wird nur in Nothfällen gearbeitet. Am 6ten Januar Abends
endet das Fest. Die Arbeit beginnt nun wieder, die Alltags-
kost kehrt zurück; nur die Tapeten sitzen noch eine Woche, bis
zum 15ten Januar. In den Städten endet das Fest erst an
diesem Tage, und zwar mit einem fröhlichen Tanze. Am
folgenden Tage werden die Tapeten abgenommen, und man
gedenkt mit Wehmuth der verschwundenen fröhlichen Zeit."
„Die Weihnachtsfeier in den Städten und bei den Ho-
norationen ist im Wesentlichen der eben beschriebenen Volks-
feicr gleich. Eigenthümlicher sind aber den Vornehmen die
Weihnachtsgeschenke. Jedes Familienglied beschenkt seine Haus-
genossen, vorzüglich aber die Eltern die Kinder, und jedes Ge-
schenk wird auf die mannigfaltigste Weise verpackt, auch wohl
von verkleideten Leuten überbracht; denn Keiner darf wissen,
von wem die Gabe kommt. Je versteckter die Gabe, je sinn-
reicher die Verpackung, desto größer ist die Freude. Mehrere
Stunden bis spät in die Nacht dauert die Vergabung. Zahl-
los sind die Gaben dieses Abends; denn Jeder erhält deren
nicht eine, sondern viele. Auch die Armen, besonders die ver-
schämten, werden an diesem Freudenabende auf eine zarte
und überraschende Art erfreut."
Wie schön und einfach ist nicht eine solche Feier, wie
ganz anders als die abergläubischen und geschmacklosen Feste
in Spanien, Portugal und Italien!
Wir setzen unsere Reise durch Götaland fort, und rei-
sen in das Innere. Hier finden wir nahe an der Ostküste die
Stadt
400
Das Königreich Schweden.
Norkoping, am Motalastrome, eine der größten Städte,
was freilich nicht viel sagen will, dabei sehr freundlich und hübsch
gebaut. Da sie da liegt, wo sich der Mótala iu eiucu Meerbur
sen ergießt, so hat sie recht ansehnlichen Handel. Wenn wir längs
der Ostküste nach Süden fahren, so kommen wir nach
Calmar, durch eine Meerenge von der unweit liegenden
Insel Oeland getrennt. Die Stadt bietet uns keine sonderliche
Merkwürdigkeit dar. Daher fahren wir gleich nach
Oe land über, und von da nach der entfernter liegen-
den Insel
Göttland. Sie ist recht fruchtbar und wohl ange-
baut, reich an Schafen, zahmen und wilden Pferden, See-
hunden und Fischen. Auf ihr liegt die Stadt
Wisby, jetzt unbedeutend, altmodisch und eng gebaut, im
Mittelalter aber eine sehr ansehnliche Handelsstadt, eine Haupt-
niederlage für die Waaren des Südens, die von der Hanse hier-
her geführt wurden,' um dieselben von da nach Len Ostseeprovin-
zen zu verhandeln.
2. S v e a l a n d
ist der mittlere Theil des Königreichs, ein meist bergiges und
waldiges Land, am Meere meist stach und niedrig; aber nach
Westen zu erhebt es sich immer höher und höher, bis es zu
den Kjölen ansteigt. Wir fangen bei der Beschreibung mit
Stockholm, der Hauptstadt des ganzen Königreichs und der
Residenz des Königs, an. Die Lage dieser herrlichen Stadt ist ganz
eigenthümlich. Sie liegt nur zum Theil auf dem festen Lande, meist
aber auf größeren und kleineren Inseln, am Ausflüsse des Mälarsecs
nach der Ostsee. Es wechseln hier Palläste und Wohnhäuser mit Ber-
gen, Klippen und Nadelholz ab; hier ist die Pracht einer Königsstadt,
dort eine kräftige, romantische Natur, und dort wieder ein Wald
von Schiffen, welche unaufhörlich ab- und zufahren. „Am Ende
dcS Mälar steigen auf schroff in die Höhe strebenden Klippen, auf
sanft sich erhebenden Anhöhen, auf größeren und kleineren Inseln
die Straßen und Häuser der Stadt empor; in unendlich man-
nigfaltigen und abwechselnden Parthien, einige regelmäßig, groß
und prächtig gebaut, andere unordentlich und unzusammenhängend,
bald große, ebene Massen von Häusern, bald einzelne, ausfallend
hervortretende Palläste, bald hier und da am Abhange der Klip-
pen liegende Gebäude oder Straßen, die sich 'zwischen diesen hin-
aufschlingen, oder Kirchen und Thürme, die stolz und prächtig
über die mit Häusern bedeckten Berge hervorragen, und nun wilde,
beinahe öde Klippengegenden innerhalb der Stadt; Seen, Gehölz
Das Königreich Schweden.
401
und Grasfelder, sichtbar zwischen den Straßen auf dem Berge,
und in der Tiefe die herrlichen, klaren, mannigfaltig sich schlan-
gelnden, alles umgebenden Gewässer, und rund um den Ort her-
um Gebirge und Gehölz', eine reiche, hohe romantische Natur.
Es giebt daher keine Stadt, die eine so große Menge und Ab-
wechselung schöner und lieblicher Spatziergänge innerhalb ihrer
Gränzen darböte. Noch reicher ist die Anschauung, wenn man
einige der höchsten Standpunkte besteigt, von wo man den größ-
ten Theil dieser bewunderungswürdig schönen Stadt überschaut,
die Massen der Häuser, die Klippen, theils nackt, theils mit
Pflanzen und Bäumen bedeckt, die Kirchen mit Thürmen, das
große majestätische Schloß im Mittelpunkte der Stadt, und alle
Liese Lieblichkeit erhöht durch das Master, das fast von allen
Seiten diese bebauten Inseln und Halbinseln breit und schmal
durchschneidet und umfließt."
Mitten in dem Hauptstrom, der aus dem Malar nach der
Ostsee abfließt, liegt eine Insel, Staden genannt, welche den
ältesten Theil von Stockholm enthält. Sie ist ganz mit Häusern
bedeckt, und enthält keine bedeutenden Anhöhen und Klippen.
Hohe Häuser bilden lange, zum Theil schmale Gasten. Hier ist
das Straßenpflaster schlecht; es sind keine Bürgersteige da, und
die Rinne läuft in der Mitte. Nur derjenige Theil ist prächtig,
wo das königliche Schloß und andere öffentliche Prachtgebäude
stehen. Alle Häuser sind von Stein, in Schweden eine Selten/
heit; die meisten haben Z—4 Stockwerke. An der nördlichen
Spitze dieses Stadttheils steht das prächtige königliche Schloß.
Es ist ein neues, noch nicht 80 Iahxe altes Gebäude, liegt auf
einer sanften Anhöhe , und hat herrliche Aussichten über die schön-
sten Gegenden Stockholms. Denn nach zwei Seiten stößt der da-
vor liegende Platz an das Wasser. Der reizendste Theil des
Schlosses ist der Logaard. So heißt ein kleiner Garten, der
an der Ostseite auf der Terrasse zwischen den beiden vorspringen-
den Seitenflügeln angebracht ist. „Ich kann," sagt ein Reisen,
der, „den bezaubernden Eindruck nicht beschreiben, den es auf
mich machte, wenn ich hier zwischen grünen Bäumen and Ge-
büschen wanderte, umduftet von den Wohlgerüchen der Blumen,
und umgeben von einer lichten, freien, belebten Aussicht zum Ha-
fen und zur Stadt, mit einem Säulengange im Hintergründe,
wo man" -- denn in diesem Theile deS Schlosses ist das Mu-
seum für Antiken — „zwischen den großen, bis zum Boden rei-
chenden Fenstern die herrlichen Kunstwerke erblickt. Es kam mir
vor, als wenn ich durch die Glasthüren gleichsam in einem Zau-
berspiegel die heilige, wundervolle Welt der Kunst vor mir offen
liegen sähe, ^ während zugleich die Natur und das Leben ganz
nahe vor meine Sinne traten. Hier glaubt man in dem südli-
chen schönen Vaterlande der Kunst zu seyn,- und nicht hoch oben
Nösselts Geographie II. 26
402
Das Königreich Schweden.
in dem kalten, klippenreichen, kunstarmen Norden." Von diesem
östlichen Theile des Schlosses zieht sich längs dem ganzen Ostufer
dieser Altstadt eine breite, mit herrlichen Gebäuden auf der einen
Seite besetzte Straße hin, welche die Schiffbrücke heißt. Eine
Drücke ist sie aber keineswegs, sondern eine sehr ansehnliche Stra-
ße , wo ein ungemeines Leben herrscht; denn hier laden die mei-
sten Schiffe aus und ein, und den ganzen Tag wird es hier
nicht leer von Menschen. Auf ihr, dicht am Wasser und nahe
am Schlosse, steht die Fußbildsäule König Gustavs HI. von
Metall. Denn hier stieg dieser treffliche König ans Land, als
er 4790 ans dem Kriege mit Rußland siegreich zurückkehrte.
Gerade in der Mitte von Staden ist der große Markt, der
darum merkwürdig ist, daß auf ihm Christian das stockholmer
Blutbad anrichtete *).
Von Staden liegt der eine Haupttheil von Stockholm
nördlich, der andere südlich. Der nördliche heißt Norr-
malm, der südliche Södermalm. Nach
N o rrmalm kommt man von Staden vermittelst einer herr-
lichen Brücke, die Norrbro heißt, und aus gehauenen Granit-
blöcken besteht. Sie ist sehr breit, hat auf beiden Seiten einen
erhöhcteu Fußsteig von Marmorquadern, und ist fast halb so lang
als die Moldaubrücke in Prag. Unaufhörlich strömt die Volks-
menge hier hin und her, weil sie der einzige Verbindungsweg
zwischen der nördlichen und südlichen Stadt ist. Fast alle Stra-
ßen sind hier schnurgerade, und durchschneiden sich in rechten Win-
keln. Alles hat hier ein größeres, freieres, prächtigeres Aussehen
als in den engen Gassen von Staden; denn hier wohnen meist
die Reichen, die Minister und hohen Staatsbeamten. Nur die
äußersten Enden von Norrmalm verlieren sich in schinutzigen Gas-
sen, wo zwischen Klippen und Anhöhen die Wohnungen der Ar-
muth sind. Kommt man von jener Brücke Norrbro, so tritt
man zunächst auf den schönen viereckigen Markt Gustav
Adolfs, wo dieses Königs Roß-Bildsäule steht. Dann durch-
wandert man die langen, geraden Straßen, und fühlt sich zu-
letzt wunderbar überrascht, wenn man nach den nördlichen Quar-
tieren kommt, wo die wilde Natur in Höhen, Klippen und tie-
fen Thälern hervortritt, und hier an manchen Stellen malerische
und ländliche Aussichten findet. Man scheint zuletzt auf dem
Lande zu seyn, und ist man nur aus dem nördlichen Thore hin-
aus, so findet man sich plötzlich in eine sehr romantische Gegend
versetzt. Man findet Waldung und das freundliche Lustschloß
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 144.
Das Königreich Schweden.
403
hier vergißt man ganz, daß man nur einige 100 Schritte von
der großen Hauptstadt entfernt ist. — Nicht weit von Gustav
Adolfs Markt ist der Kö n ig S g a r ten, ein angenehmer Spa/
tziergang, der mit dem Garten der Tuilerien in Paris zu ver-
gleichen ist. Davor steht das Zeughaus, in welchem wir un-
ter andern die Kleidungsstücke Karls HI. finden, in denen er er-
schossen wurde*): den Hut, in dem man noch das Loch sieht,
welches die Kugel machte, seinen Nock von grobem Tuch mit gro-
ßen Mctallknöpfen und ledernen Taschen, seinen blauen Tuchman/
tel, seine langen, steifen, mit Blut befleckten Handschuhe, seine
steifen Stiefeln mit schweren, eisernen Sporen u. s. w. „Wie
wunderbar lebendig tritt eine Begebenheit, selbst der entferntesten
Zeiten, vor unsere Phantasie, beim Anblicke lebloser Dinge, wel-
che, alö sie geschah, ihre stummen Zeugen waren, aber noch nach
Jahrhunderten von ihr reden! Keine Erzählung vergegenwärtigt
den Tod des edlen königlichen Helden so, als diese Kleidungsstücke,
in denen er zum letzten Mal geathmet hat. Mit einem ähnli-
chen Gefühl sieht man hier auch den Maskenanzug, in welchem
Gustav Hk. 1792 im Opernhause (an Gustav Adolfs Markt)
von Ankarström den tödtlichcn Schuß erhielt: eine graue gestrickte
seidene Jacke mit eben solchen PantalonS, einen Domino, das
blutige Hemde und die Larve**)." Auch ist Gustav Adolfs Har/
nisch und Sturmhut hier zu sehen. Nach
Södermalm führt ein breiter, mit Häusern bebauter
Damm von Staden aus. Auch hier sind die Straßen schnurge-
rade, aber die Häuser nicht so ansehnlich als in Norrmalm, und
je weiter man geht, desto weniger glaubt man in einer Haupt-
stadt zu seyn; zuletzt werden die Gassen ganz dorfmäßig und ho/
rcn ganz auf; denn die äußersten Gegenden dieser großen Insel
sind ganz unbebaut; viel Land an und zwischen den Klippen ist
noch öde, oder wird zu Gärten, zu Gras - und Ackerland benutzt.
Södcrmalm ist der höchste, bergigste Theil von Stockholm. Man
findet hier Straßen, die so steil sind, daß man sich scheut, hin-
unterzufahren, ja in manchen ist dies gänzlich unmöglich. Sonder-
bar sieht es aus, wenn man zuweilen von unten her in den höch-
sten Gassen einen Wagen gleichsam über den Dächern der darun-
ter liegenden Häuser schweben sieht.
Was nun die Bauart von Stockholm betrifft, so bietet
die Stadt die sonderbarsten Contraste dar. Betrachtet man das
wahrhaft königliche Schloß, schaut man von den Anhöhen auf
die belebtesten Theile der Stadt herab, auf die von Menschen
wimmelnde Brücke, auf den Platz Gustav Adolfs, auf den mit
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 256.
**) Ebend. S. 346.
26 *
404
Das Königreich Schweden.
Schiffen angefüllten Hafen, so fühlt man, daß man sich in einer
Königsstadt befindet. Begeben wir uns dagegen in die äußersten
Gegenden der Malmen, so glauben wir nicht mehr in derselben
Stadt zu seyn. Wir finden hier bloß einzelne hölzerne Häuser,
einige sogar noch mit dem schwedischen Nasendache, und selbst
ganze Straßen damit besetzt, so daß wir glauben, in eine kleine
Landstadt versetzt zu seyn. Auch in den besten Theilen der Stadt
fällt es auf, daß alle Straßen schmal sind; keine einzige, selbst
die schönste unter allen, die Königinnenstraße in Norrmalm,
ist breit; das höchste ist 20 Schritte. Bürgersteige fehlen entwe-
der ganz, oder sic sind so schmal, daß sie wenig nutzen. Bei schmu-
tzigem Wetter muß man daher immer im Kothe waten, und im-
mer ist man in Gefahr, von den schnellfahrendcn Wagen überfah-
ren zu werden. Daher sieht man auch weniger Damen auf der
Straße, als in andern großen Städten. Die Häuser sind stark
gebaut, die Treppen gewöhnlich von Stein, aber finster, das Aeu-
ßere ist selten verziert, und Alles zeugt von Alter. Die Häuser
find eng und düster, dagegen die Zimmer groß und geräumig;
denn die Stockholmer wohnen gern recht bequem, und selbst ge-
meine Leute haben oft mehrere gut meublirte Zimmer. Der Haus-
rath ist nicht so kostbar als in andern Hauptstädten. Einen Haupt-
lupus machen die Oefen aus, die meist von glasirten Steinen und
recht geschmackvoll geformt sind.
Die Vergnügungen »n Stockholm weichen von denen in un-
sern großen Städten nicht bedeutend ab. Getanzt wird viel, und
zwar tanzen die Schweden sehr gut. Daher giebt es lfier eine
Menge geschlossener Gesellschaften, die man Orden nennt, deren
einziger oder doch hauptsächlichster Zweck ist, zu tanzen. Zn den
höheren Ständen findet man gewöhnlich einen steifen und abge-
messenen Ton; die schwedische Gastfreiheit und Biederkeit ist hier
weit seltener. Man giebt jährlich ein paar Mal große Gesell-
schaften, zu denen man genau alle diejenigen einladet, von denen
man zuletzt geladen gewesen war. Kleine freundliche Familienzir-
kel werden nur selten gefunden. Auf gut Kleinstädtisch wir!, in
Stockholm sehr auf Titel und Orden gesehen. Kommt ein Frem-
der ohne beides hin, so hält es schwer, in hohen Zirkeln Zutritt zn
erhalten, wenn er auch sonst durch Bildung sich auszeichnen sollte.
Französische Sprache und französische Sitten sind hier sehr beliebt,
und man pflegt daher wohl die Stockholmer die Franzosen des Nor-
dens zu nennen. Aber die französische Gewandtheit fehlt ihnen
sehr, und ein deutscher Reisender versichert, daß er in keiner gro-
ßen Stadt so viel kleinstädtisches Wesen gefunden habe als hier.
Viele und häufige Verbeugungen, Handküssen, Complimente und
Wiederholungen von Titeln, ein ängstliches Bestreben dem Andern
den Ehrenplatz zur rechten Hand zu lassen, sind hier überall zu
sehen, und zeugen von Mangel an vorgeschrittener Bildung.
Das Königreich Schweden.
405
Will man Stockholms Schönheit und äußeres und in-
neres Leben ganz kennen lernen, so muß man diese Stadt in
ihrer doppelten Gestalt gesehen haben: im Sommer, „wenn
sie hoch und prächtig in den sie umfiuthcndcn Gewässern
schwimmt, und im Winter, wenn diese überall mit Eis belegt
sind, wenn der klare Himmel sich rein und ätherblau über
Stockholms weißen Klippen und Dächern wölbt, und die
Schlitten in pfeilschnellem Fluge über die in der Sonne glän-
zenden Schnecbahncn einherfliegen." Ein Hauptvcrgnügen der
Einwohner ist im Sommer, auf Böten die verschiedenen Ge-
wässer zu befahren, und im Winter die Eisdecken auf dem
Mälar zu Schlittenfahrten zu benutzen. Der bekannteste, vom
gemeinen Mann besonders besuchteste Spatzicrort ist
der Thiergarten. Er ist eine hügelige, mit Holz be-
wachsene Halbinsel, östlich von Staden. Man läßt sich auf Bö/
ten dahin über den Hafen setzen, und findet da recht angenehme
Landpartien. Längs dem Strande sind viele Kaffeehäuser gebaut,
und Sonntags ist oft ein zahlreicher Volkshaufcn versammelt. Weit
reizender ist das schon erwähnte
Hag a, in einer höchst romantischen Gegend, mit einem liebli-
chen englischen Park. In einer einsamen Gegend dieses Gartens
steht ein ganz einfaches, aber geschmackvoll eingerichtetes Häuschen
mit vier Zimmern, in welchem Gustav III. sich am liebsten aufhielt,
sein Sanssouci. — Eine halbe Stunde weiter liegt das Schloß
Ulriksdal, auch an einem Meeresarm, über den es eine
herrliche Aussicht gewährt; aber der Garten ist nicht so reizend
als der von Haga. — Eine Meile westlich von Stockholm liegt
das Lustschloß
Drottningholm auf einer Znsel des Mälar, in einer
höchst reizenden Gegend. Gleich hinter dem prächtigen Gebäude
ist ein französischer Garten, und dahinter ein größerer mit engli-
schen Anlagen, den zu durchwandern mehrere Stunden nöthig sind.
Ein viertes, südwestlich von Stockholm gelegenes königliches Lust-
schloß ist
Gripsholm. Es liegt auf einer reizenden Insel des Mä-
lars, und ist alt, aber in neuerer Zeit inwendig neu ausger
schmückt worden. Geschichtlich ist eS merkwürdig, weil der König
Gustav IV. Adolph nach seiner Gefangennehmung 1809 hier 9
Monate lang gefangen gehalten wurde, bis er die Erlaubniß er-
hielt, nach Deutschland zu gehen*).
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Lh. 3., S.400.
406
DaS Königreich Schweden.
Kehren wir nach Stockholm zurück, so fallt cs uns auf, hier
keine einzige ausgezeichnete Kirche zu finden, deren wir in den großen
Städten andrer Länder zu finden pflegen. Die Zahl der Ein-
wohner beläuft sich auf etwa 80,000. Der Handel, den die
Stadt treibt, ist sehr wichtig. Die meisten schwedischen Erzeug,
niste gehen durch Stockholms Hafen ins Ausland, und was Schwe-
den aus dem Auslande erhält, wird größtentheils über Stock-
Kolm eingeführt. Zuletzt mögen noch die Worte .eines berühmten
Reisenden *) über diese Königsstadt stehen. „Es ist doch eine
wunderbare, einzige Stadt! Welche romantische Ansichten, In,
sein, Gewässer, Felsen, Höhen und Thäler! Was man sich in
entfernten Gegenden zusammenträumt, ist hier im Umfange der
Stadt vereinigt. Was die Natur Großes aufweisen kann, findet
sich in der Nachbarschaft der schönsten Denkmäler der Kunst.
Freilich ist hier nicht die betäubende Pracht von Neapel; allein
dafür eine so unbegreifliche Mannigfaltigkeit von Ansichten und
Eindrücken, daß sie sich vielleicht in Jahresfrist nicht alle auffin-
den lassen. Wie schön ist die Lage des imposanten Schlosses auf
einem Hügel mitten in der Stadt, von welchem man ringsum
fast die ganze Stadt Übersicht, wie sie sich vom Wasser an den
Abhängen hinaufzieht! Wie einsam reizend sind die felsigen Ufer
nach Westen hin, an welchen sich artige Landhäuser in den Klüf-
ten verbergen! Wie prächtig der Blick von Södermalms Felsen
auf das Innere der Stadt, auf die Schiffe im Hafen, die In-
seln, die Boote, und auf den Wald und die Felsen des Thier,
gartens jenseits! Die Straßen sind so künstlich geführt, daß in
ihnen die großen Gebäude oder Kirchen, ganz in der Ferne und
in ganz entlegenen Theilen der Stadt, immer im Gesichtspunkte
stehen, immer beschäftigen, und den Blick auf das Entfernte hin-
richten. Solche Abwechselung giebt es in keiner andern Stadt in
Europa."
Hören wir einen andern Reisenden, der von Stockholm nach
Upsala mitten im Winter fuhr! „Ich verließ Stockholm am
8ten Februar Mittags. Schnell glitt mein Schlitten durch das
wogende Menschengetümmel der Altstadt, über die große Brücke,
zum Norrmalm, dann durch die lange Königinnenstraße. Ich
hüllte mich in meinen Mantel, zog meine weiten, über die Knie
herauf reichenden, Füße und Hände zugleich wärmenden, mit See-
hundsfell bekleideten und mit Bärenfell gefütterten Pelzstiefeln in
die Höhe, und flog, so der Kälte und dem Winde trotzend, auf
dem spiegelglatten Wege fort." Man fährt bei Haga dicht
vorbei, durch eine hügelige Gegend. Hin und wieder sieht man
einen Edelhof, zu dem ein hübscher Baumweg führt, oder eine
freundliche Dorfkirche. Nach und nach hören die Hügel auf, und
*) Leopold v. Buch.
DaS Königreich Schweden.
407
man kommt in eine weite Ebene, die den Reisenden vergessen
läßt, daß er sich in dem bergigen Schweden befindet. In dieser
Ebene liegt die alte Stadt
Upsala. Diese ehemalige Haupt- und Residenzstadt gleicht
jetzt an vielen Stellen einem großen, einzelne gute Häuser ent-
haltenden Dorfe. Die niedrigen, hölzernen, braunroth angestri-
chenen Häuser stehen oft weit von einander, und zwischen ihnen
befinden sich Garten. Die Stadt wird beherrscht Lurch das
Schloß, das auf einer Anhöhe steht, und meist in Ruinen liegt,
einst der Sitz der alten schwedischen Könige. Das merkwürdigste
Gebäude ist aber die alte, ehrwürdige Kathedrale. Feierlich
und ernst ragt sie über alle Gebäude der Stadt empor. Herrlich
erhebt sie sich auf einem freien Platze, und verdunkelt durch ihre
Größe alles, waö sie umgiebt; ja die ganze Stadt scheint nur
eine unbedeutende Zugabe zu ihr zu seyn. In ihr wurden sonst
die Könige gekrönt; in ihren Gewölben sind viele von ihnen be-
graben, unter andern der große Gustav Wasa. Auch der be-
rühmte Naturforscher Lin ne hat in ihr seine Grabstätte gefun-
den. Den botanischen Garten, dem er einst vorstand, kann man
nicht ohne Ehrfurcht betreten. Upsala"hat die berühmteste Uni-
versität des Reichs. Gerade nördlich von dieser Stadt finden
wir, nicht weit von der See,
Dannemora und Oesterbye, beide eine Viertelstunde von
einander. Hier sind die größten Eisenwerke des eisenreichen Lan-
des. „Ich kam," sagt ein Reisender, „in der dämmernden Mit-
ternacht nach Oesterbye. Natur und Mensch ruhten in tiefer
Stille; aber durch diese hallten stark und seltsam die taktmäßig
abgemessenen Hammcrschläge nach, und bald sah ich das ewige
Feuerndes Schmelzofens in rothen Flammen durch die düstere
Nacht glühen. Der berühmte Eisenbruch ist auch durch seine
schöne Lage interessant. Ein großes, ansehnliches Herrenhaus liegt
frei und abgesondert von den übrigen Gebäuden deö Werks. Ein
hübscher Garten, prächtige, hohe Baumgänge, an der einen Seite
ein See, bilden die herrlichen Umgebungen dieser schönen Ge-
bäude. Zwei Schmelzöfen und zwei Stangeneiscnschmieden verur-
sachen viel Leben und unaufhörliche Thätigkeit. Am meisten in-
teressirte mich der Schmelzofen. Gleich kleinen Vuleanen bewah-
ren diese kegelförmigen Gebäude, welche die Größe und Höhe bc,
deutender Häuser haben, in ihrem Schooße ein unaufhörlich
siedendes Feuermeer. Wenn ein solcher Ofen, dessen Mauern 6 —
8 Ellen dick lind, fertig gebaut ist, so wird er mit einer ungeheu-
ren Masse Holzkohlen vom Boden bis zürn fünften Theile seiner
Höhe angefüllt. Nachdem die Kohlen angezündet sind, stopft man
die Mündung sorgsam zu, und läßt sie so während 14 Tage
langsam brennen, ehe man dem Feuer Zug giebd, und anfängt,
wechselswclse mit Schichten von neuen Kohlen und Eisenerz den
408
Das Königreich Schweden,
Ofen zu füllen. Die ungeheuren Blasebälge werden, sobald man
anfängt mit Erz zu füllen, in Bewegung gesetzt, und sie ver-
stärken die Hitze bis zu dem Grade, der erforderlich ist, das Erz
fließend zu machen. Mehrere Wochen gehen darüber hin, ehe der
Ofen den stärksten Grad von Hitze erreicht, und das Eisen anfängt,
sich durch die Schmelzung vom Steine zu trennen. Das geschmol-
zene Eisen, das sich nach und nach im untersten Theile des Ofens
sammelt, rinnt von La durch den sogenannten Formbehälter, der
von außen mit Lehm zugestopft, und vermittelst einer eisernen
Stange alle 24 Stunden ein oder zwei Mal geöffnet wird, her-
aus auf den Heerd des Ofens, wo die glühenden Strome in den
dazu eingerichteten Rinnen im Sande aufgenommen werden, in
welchem das Eisen sich zu großen Klumpen formt, oder zu Ofen-
platten, runden Oefen oder zu andern Eisenwaaren gegossen wird.
Man erschrickt beinahe über die Leichtheit, mit welcher die Arbei-
ter den furchtbar knisternden und prasselnden Feuerstrom behan-
deln, dessen fließende Flammen sich ruhig im nassen Sande ver-
lieren, und in verschiedenen Rinnen sich theilen müssen. Das im
Schmelzofen gegossene Gußeisen, welches im Sande zu großen,
unebenen Klumpen geformt wird, kann in diesem Zustande
nicht gehämmert werden, sondern cs muß von Neuem in einer
Esse geschmolzen werden, und das nun geschmolzene Eisen kommt
hierauf, während es noch glühend ist, unter den Hammer, wo-
durch cs zu verschiedenen Arten von Stangeneisen gebildet wird."
DaS Eisenerz, das in Oesterbye geschmolzen wird, wird in dem
benachbarten Dannemora aus der Erde gefördert. Bei uns
holt man durch enge tiefe Gruben, die man Schachte nennt, das
Erz tief aus der Erde, aber in Schweden, wo ganze Berge aus
Eisenerz bestehen, hat man das nicht nöthig, sondern man haut von
den Bergen den Eisenstein gleich los, und so arbeitet man immer
tiefer und tiefer, bis zuletzt eine ungeheureKluft entsteht. Ein ge-
lehrter Reisender *) erzählt von seiner Ueberraschung, als er diese
Kluft zum ersten Male gesehen habe. „Der Weg führte mich durch
einen Nadelwald. Alles flach, keine Anhöhe, die einen Bergbau
vermuthen läßt. Der Wald öffnet sich; vor mir einzeln zerstreute
Häuser und dazwischen eine Menge von Pferde-Gaipcln (Win-
den , die durch Pferde in Bewegung gesetzt werden). Plötzlich
befinde ich mich am Rande der furchtbaren, mit schwarzen, senk-
rechten Wänden abstürzenden Kluft. Ich blicke hinab in die
schauerliche, nur hin und wieder von Schneemassen aufgehellte
Tiefe, deren Felsengrund 2— 300 Fuß unter meinem Stand-
punkte liegt, und erkenne hier und dort an den Seitenwänden der
schwarzen Gruft die noch schwärzeren Eingänge zu labprinthischen
*) Professor Hausmann in Göttingcn.
Das Königreich Schweden.
409
Hohlen, bewacht von langen, spitzen Eiszapfen. Aus einigen die-
ser Höhlungen lodert die Flamme des Kienholzes hervor, sich
krümmend und windend an dem harten Gestein, um es zu er-
weichen. Die Tiefe ist nicht öde, sondern von Menschen be-
lebt, die an scheinbarer Größe und an Fleiß Ameisen ähnlich,
dort in jener Vertiefung, hier etwas höher herauf an diesen Spros-
sen, von überhängenden Felsenmassen bedroht, mit saurem Schweiße
Eisen in Eisen treiben. Rings um mich her knarren die Roß-
künste, ächzen die langen Feldgestänge, und dazwischen ertönt aus
ferner Tiefe das seltsame schwache Geräusch der Hunderte von Häm-
mern, wie Las Gepicke einer großen Anzahl von Uhren in einer Uhr-
macherwerkstätte. Nun richte ich meinen Blick in die Höhe, und
betrachte die unzähligen Pferdewinden . welche den ganzen Schlund
umgeben, Tonnen in ihn versenken, und diese mit schwerem Erz
gefüllt wieder auS ihm empor ziehn. Eine lange Zeit wurden meine
Blicke von demselben Standpunkte durch die mannigfaltigsten Erschei-
nungen angezogen. Darauf aber leitete mich mein Verlangen, die
unermeßliche Grube und daS Leben und Treiben in ihr von allen
Seiten zu betrachten, an ihrem Rande umher, an welchem jeder
Standpunkt nur neue Merkwürdigkeit vorführte. So brachte ich
den größten Theil des Vormittags im staunendem Anschauen und
in stiller Bewunderung des ungeheuren Schatzes zu, den die Na-
tur hier niedergelegt hat. Gegen halb 12 Uhr befand ich mich
in einem Gaipel auf einer Bühne, die von weit über den Ab-
grund hervorragenden Nüstbäumen getragen wurde. In einem
hölzernen Thurme mir zur Linken schlägt die Glocke zweimal, und
nun verändert sich die Scene plötzlich. Die vielen Tonnen, welche
zuvor mit Erz gefüllt aus der Tiefe zurückkehrten, tragen jetzt eine
lebendige Last. Männer, Weiber und Kinder lasten sich, je drei
auf dem schmalen Rande der Tonne stehend und mit einer Hand
an der Kette sich haltend, welche die Tonne mit dem Seile ver-
bindet, munter an den senkrechten Wänden in die Höhe treiben,
ohne die Gefahr zu scheuen, in der sie schweben. Bald erfolgt
eine Todtenstille in der Gruft, welche beinahe eine Viertelstunde
anhält und unangenehm absticht gegen das rege Leben, welches sie
zuvor erfüllte. Zetzt schlägt die Thurmglocke zwölf, und gleich
darauf ertönt aus der Tiefe ein dumpfes Geschrei, welches jedem
lebenden Wesen, das etwa noch in der Grube sich bestnden könnte
die nahe bevorstehende Explosion der nunmehr völlig zugcrüsteten
Batterie warnend ankündigt. Es erfolgt noch einmal eine gänz-
liche Stille; dann aber bricht plötzlich der fürchterlichste, lange wi-
derhallende Donner aus der Tiefe hervor. Mehrere Minuten
lang wird die ganze Umgebung des weiten Schlundes wie durch
ein Erdbeben unaufhörlich erschüttert. Aus den schwarzen Dampf-
wolken fliegen Erzstücke auf, die zum Theil bedeutend über den
Rand der Grube geschleudert werden, und den mehrstcn Schlä-
410
Das Königreich Schweden.
gen folgt ein krachendes Geräusch von den einstürzenden Felsmas-
sen nach. Die Größe und Furchtbarkeit dieses Schauspiels über-
steigt alle Vorstellung." Ein andrer Reisender*), der im Som-
mer da war, erzählt dasselbe, und fährt fort: „Ohne Furcht oder
Aengstljchkeit zu fühlen, und mich darauf stützend, daß ich nie am
Schwindel gelitten hatte, nahm ich keinen Anstand, den gefährli-
chen Platz, welchen die Bergleute verließen, wieder einzunehmen.
Von einem Manne begleitet, fuhr ich so, stehend, oder richtiger
über dem Abgrunde schwebend, in die sogenannte Erdgrube hin-
unter. Ich wagte sogar meinen Blick um mich herum und in
die Tiefe zu werfen, und fand den Anblick furchtbar schön. Durch
große, gewölbte Ocffnungen in der Klippe sah ich in Len Abgrund der
anstoßenden Grube hinunter. Eine recht wilde, chaotische Form
nahm diese unterirdische Welt an, je tiefer ich hinunter kam und
je enger die Schlucht wurde. Alle Vegetation verschwand; eine
recht winterliche, kalte Luft empfing mich, nachdem ich vor we-
nigen Minuten die brennende Mittagshitze verlaffen hatte. Schnee
und Eis lag in den Klüften, in welche die Strahlen der Sonne
nicht reichen konnten, und in der Tiefe hatten die Bergleute ein
Feuer angezündet, an dem sie sich wärmten. So wie Dannemora
einige Meilen nördlich von Upsala liegt, so finden wir in etwa
gleicher Entfernung von Upsala in westlicher Richtung das Städtchen
Sala, wohin wir durch eine flache, mit Korn reichlich be-
baute Gegend reisen. Nahe bei Sala liegen die reichen Silber-
bergmerke, deren erste Auffindung in die grauste Vorzeit reicht.
Das Silber wird nicht bei Tage, sondern rief in dunkeln Schachten
im Innern der Erde gefunden, in einer Tiefe, die der doppelten
und dreifachen Höhe unsrer Stadtthürme gleich kommt. Jener
Reisende befuhr einen solchen Schacht, nachdem er sich mit seinen
Reisegefährten in Bergmannskleider gehüllt hatte. „Unter vielem
Lachen über unseren Anzug wanderten mir zur Grube. Aber —•
der Augenblick, um herunter zu fahren, war da; mit Scherzen
und Lachen war es aus; schweigender Ernst ward unsere Stim-
mung, als wir am Rande der Grube, deren von Rauch erfüllte
Ocffnung uns der leibhafte Niedergang zum Tartarus zu seyn
schien, in die Tonne stiegen. Wir beide wurden in diestlbe ge-
packt, sammt dem Steiger, der eine loderne Kienfackel trug. Drei
eiserne Ketten befestigten die Tonne an einem Seile. Auf den
Ruf des Steigers setzte sich das Spiel in Bewegung, und wir
glitten mit gleichmäßiger Fahrt, den steilen Felswänden vorbei, hin-
unter. Der Rauch, der sich an der Oeffnung in dicker Masse
sammelt, wird unmerklich, wenn man tiefer in die Grube nieder-
kommt, und wir fuhren auf diese Weise, auf dem Rande der
*) Der Däne Molbech.
Das Königreich Schweden.
411
Tonne zwischen den Ketren sitzend, recht bequem und ohne Stö-
rung hinunter. Der schwache Schein des Tageslichts verschwand
bald, und wir schwebten über der schreckhaften Tiefe in einer voll-
kommenen Nacht, welche dieselbe unserem Auge entzog. Nur
nahe um uns verbreitete die beständig geschwenkte Fackel eine ma-
gische Beleuchtung, und der Felsen, dem wir bisweilen so nahe
kamen, Laß wir ihn mit der Hand berühren konnten, zeigte sich
uns hier und da in einem wundersamen Halbdunkel." Bei einer
solchen Fahrt ist es Gebrauch, einen Gesang anzustimmen, der
das Feierliche der Fahrt erhöht, aber wohlthätig auf das Ge,
müth einwirkt, und die Gedanken von der Gefahr, in welcher
man schwebt, abzieht. „Zuweilen fiel ein Funkenregen von der
geschüttelten Fackel in den Abgrund hinab, und da war es, als
wenn goldene Sterne in die schwarze Tiefe gesäet würden. Auf
der Hälfte der Fahrt begegneten wir einer andern Tonne, in wel-
cher zwei Bergleute, mit der Fackel und lautem Zurufe grüßend,
uns nahe vorbeifuhren; es war eine rasche Offenbarung aus der
Unterwelt, die wir in einem Augenblicke aus Len Augen verloren,
die unS aber die Geschwindigkeit unsrer Fahrt noch mehr versinnlichte.
Jetzt zeigte sich uns ein andres Licht; cs war ein Scitengang,
dem wir vorbeifuhren. Wir sahen das stets brennende Feuer, das
den Arbeitern Licht und Wärme giebt; wir sahen einzelne Berg-
leute, arbeitend mit ihrem lodernden Span in der Hand, und
in der tiefsten Stille hallte der laute Klang ihrer Hammerschläge
wieder. Nun erreichte uns der Laut des Masters, daS durch eine
kleine Oeffnung aus einer durchbohrten Felswand herausfloß, und
sich auf dem Boden der Grube in Ablaufsrinnen sammelte.
Hier endlich landeten wir in einem hohen und geräumigen, von
dem brennenden Feuer schwach erleuchteten Gewölbe. Bergleute
empfingen uns; mit einem leisen Stoße setzte die Tonne auf dem
Boden nieder, wir stiegen aus; Jeder nahm eine Fackel in die
Hand, und so traten wir, den Steiger an der Spitze, unsere
unterirdische Reise an. Seine leitende Fackel führte uns Senkun-
gen vorbei, deren grauenvolle Tiefe sich zu unsrer Seite öffnete,
wie des Todes finstere Abgründe; über hölzerne Brücken, wo das
unterirdflche Master wie ein teilender Felsbach unter unsern Fü-
ßen rann; darauf hinein in die trocknen, lauen, hohen Felsge-
wölbe, wo ewig dieselbe Luft weht, wo nie Winterkälte oder
Sommerhitze wahrgenommen werden; durch diese labyrinthischen
Gänge, die in mannigfaltigen Windungen sich in das Gebirge er-
streclen; zu den Stellen, wo mit brausendem Gepolter die Pum-
penzüge das Wasser auS der Grube ziehen; Alles dies macht eine
wunderbare und unbeschreibliche Wirkung unter diesen verschlosse-
nen Gewölben, wo jeder Laut gedämpft wird, und wo selbst die
menschliche Stimme ganz verändert erscheint. Nicht leicht kann
ich die wunderbare, nie vorher gefühlte Stimmung beschreiben, in
412
Das Königreich Schweden.
welche ich verletzt wurde, als ich eine ganze Stunde lang im
Schooße der Erde, in dieser Tiefe der Finsterniß, wo nie ein
Sonnenstrahl leuchtete, umherwandcrte. Es kam mir vor, als
wenn das ganze Erdcnlcben vor meinen Gedanken verschwunden
wäre; ich fühlte mich gleichsam lebend begraben, und doch äng-
stigte mich das Gefühl nicht; denn ich athmete leicht zwischen dich-
ten Felsenwanden; ja selbst im Schooße der Erde stieg Ahnung
der Ewigkeit in meiner Seele auf, und leuchtete da klarer noch,
als die Fackeln in den schwarzen Höhlen. Aber je länger wir
wanderten, desto ernster wurde diese Stimmung. Nicht ohne
Grauen gingen wir an der Stelle vorbei, wo vor einigen Jahren
ein Fremder, der sich unachtsam zu nahe an den Rand eines Ab-
grunds gewagt hatte, hinabgestürzt, und zerschmettert herausgezo-
gen worden war. Als wir so unter der gewölbten Felsendecke in
einem der Gänge des Labyrinths wanderten, erscholl plötzlich durch
den Berg unter unsern Füßen ein fernes Krachen, und das ge-
dämpfte Poltern eines langsam rollenden Donners. Es war der
Knall einer Mine, die in dem Berge gesprengt wurde. Wir tra-
fen mehrere-ordentliche Fahrwege, auf denen das Erz von den
verschiedenen Stellen, wo man es aus den tiefern Schachten her-
auswindet, auf Karren, die von Pferden gezogen werden, zu dem
Hauptcingange der Schachten gebracht wird. Wir kamen auch zu
der Stelle, wo eins dieser Pferde, die mehrere Jahre schon un-
ter der Erde zugebracht hatten, eine Winde zog, durch welche Ar-
beiter sowohl als Erztonnen aus einem tiefern Schachte heraufge-
bracht werden. Wir sahen den in die Felsenwand gebauten Stall,
wo dieses Pferd seine Futterkrippe hatte und ausruhte. Nach ei-
ner Wanderung von einer Stunde kamen wir zu der Grotte zu-
rück, von welcher wir ausgewandert waren, und bestiegen wieder
unsere Tonne. Ein lauter Ruf aus der Tiefe der Grube gab
das Zeichen, uns in die Höhe zu ziehen. Bei diesem Auffahren
wird man oft in Todesangst gesetzt, wenn man der Sache nicht
gewohnt ist. Das Seil gleitet nämlich bei dem Aufwinden leicht
von seiner zuerst angenommenen Lage ab, und dies macht, daß
die Tonne plötzlich um einige Fuß niederschießt. Wer das nicht
weiß, denkt, das Seil reiße, und erschrickt natürlich ganz entsetz-
lich. Bald standen wir wieder auf dem Rande der Grube in
der Abenddämmerung, und Alles, waS wir hier sahen, kam uns
viel fremder und wunderbarer vor, als ehe wir niederfuhren."
Wenn wir nun von Sala in nordwestlicher Richtung
weiter in das Innere des Landes reisen, so kommen wir in
den Theil von Svealand, der Datarne heißt, ein bergiges
Land, das je weiter nach Westen, desto höher ansteigt und
desto wilder wird, voll Waldungen, Seen und Moraste. Das
Hauptthal wird von dem majestätischen Strome der Dal-Elf
Das Königreich Schweden.
413
durchflossen. Sie setzt viele Seen, die sich in den vertieften
und erweiterten Thälern gebildet haben, in Verbindung, win-
det sich in unzähligen Krümmungen, und stürzt laut brausend,
und viele Wasserfalle bildend, den niedrigeren Gegenden zu.
In Dalarne wohnen die Dalkarlar (Tholkerle), ein kräf-
tiger, treuherziger, derber Menschenschlag, tapfer, ausdauernd,
frciheitlicbend und zuverlässig. Wer sollte nicht aus der Ge-
schichte wissen, wie Gustav Wasa allein unter ihnen eine Zu-
flucht fand, und mit ihrer Hülfe den Danenkönig Christian
II. vertrieb *)? Die erste Stadt, die wir besuchen, ist die
Bergstadt
Falun. Professor Hausmann besuchte das Land im Winter
zu Schlitten, und konnte den Weg abkürzen, indem er über die zuge-
frorenen Seen fuhr. „Unvergleichlich schön war die Fahrt auf der
unermeßlichen, mit blitzendem Schnee krystallen bedeckten Eisfläche,
über deren blendend weißer Decke ein reiner, hochblauer Himmel
sich wölbte. Mit unglaublicher Schnelle glitt ich fort, und bald
zeigten sich mir am Horizonte die dicken Rauchwolken der Schmelz-
öfen von Falun. Sie wurden immer deutlicher, immer dunkler.
Nun zogen sich die Ufer des Sees mehr zusammen; Thürme und
Häuser wurden daran kenntlich; der Weg wendete sich plötzlich,
und nun erblickte ich dicht vor mir die seltsame, in dicken Schwe-
felnebel gehüllte Stadt mit ihren niedrigen, von den Dämpfen
braun verkohlten Häusern." Hier wird das beste Kupfer nicht
nur in Schweden, sondern überhaupt auf der Erde gefunden, und
zwar wird cs, wie das Eisen in Dannemora, aus einem tiefen,
weiten Erdschlunde geholt. „Ich eilte," sagt Hausmann, „die
berühmte Pinge (Kluft) zu sehen. Nach einer Viertelstunde
langte ich am Rande der ungeheuren Gruft an, deren Anblick
meine größten Erwartungen weit übertraf. Lange mußte ich un-
verwandt in diese weite, finstere Tiefe schauen, an deren senkrech-
ten Wänden hier und da noch die Spuren der ehemaligen Gru-
bengebäude sichtbar find, durch deren Einsturz sie gebildet wurde,
und in deren Grunde die Eingänge zu den weit tieferen, jetzt im
Betriebe stehenden Gruben sich zeigen." — Die Stadt ist regelmäßig
gebaut, lange und breite Straßen werden von andern rechtwinklig
durchschnitten. Aber dennoch hat sie ein sehr düsteres An-
sehen, weil alle Häuser durch den beständigen Schwcfeldampf
braun gefärbt lind. Dabei sind sie niedrig, von Holz, und ent-
weder auswendig mit Brettern beschlagen, oder die Balken liegen
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.
Th. 3., S. 141 —149.
414
Das Königreich Schweden.
gar nur ganz roh über einander, und sind an den Enden in einr
ander gefugt. Außer Bergleuten und geschwärzten Hüttenarbeir
tern sieht man nur wenig andere Leute. Die Pinge ist dadurch
entstanden, daß mehrere benachbarte Gruben einstürzten, und nun
einen einzigen großen Schlund bildeten. Zkr Anblick macht einen
schauerlichen Eindruck. An der einen Seite führt eine breite
Treppe hinab; unten steigt man dann nach und nach immer ticr
fer, und nur in die größten Tiefen läßt man sich in hölzernen
Eimern hinab. Der Boden der Kluft bildet eine Masse von un-
geheuren Schutthaufen.
Bald hinter Falun kommt man nach dem Orte, wo
Gustav Wasa durch die Vcrrätherei eines falschen Freun-
des, des Arend Petcrson, beinahe gefangen worden wä-
re *). Das Haus steht noch. „Wir stiegen," sagt ein
englischer Reisender, „eine Wendeltreppe hinauf, und betra-
ten das Schlafzimmer, in welchem Gustav verborgen gewesen
war. Das Bette, in welchem er geschlafen hat, besteht aus
einer Matratze von Stroh in einer schlechten hölzernen Bett-
stelle, die aber jetzt mit einem kostbaren Vorhänge behängt
ist." Um sich ganz in jene Zeit versetzen zu können, steht
man hier die ganze Figur Gustavs in voller Rüstung, auch
einige Dalkarler, wie sie sich damals kleideten. Nicht weit
von diesem Orte liegt
Rattwick, wo Gustav den ersten Versuch machte, die
Bauern zum Aufstande zu bewegen, was ihm aber nur kalb ge-
lang **). Dann kommen wir, immer in nordwestlicher Richtung
hinreisend, nach
Mora, wo Gustav durch eine feurige Rede die Dauern zur
Begeisterung entflammte ***).
Ein deutliches Bild von dieser Provinz giebt uns Hof-
rath Hausmann durch die Erzählung seiner Reise: „Am 22.
März früh traten wir bei heiterer Witterung und bedeutender
Kalte unsere Reise von Falun durch Dalarne an. Ein zwei-
sitziger Schlitten nahm uns und unsern Mundvorrath auf, so
daß wir auf 2 Wochen Lebensmittel hatten. Wir flogen
über die lange Eisfläche eines nahe bei Falun gelegenen Sees
*) S. nietn Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th- 3., S. 146.
**) Ebcnd. S. 147.
***) Ebcnd. S. 147 u- 143.
Das Königreich Schweden.
415
hm, und sahen von der Stadt bald nichts weiter, als den
dicken, in einer hohen Rauchsäule sich erhebenden Schwefel-
nebel. Bald wandten wir uns zum steil ansteigenden, in
dichte Fichten - und Kieferwaldung gehüllten Gebirge, dessen
Schwarzgrüir gegen den blendenden, von der Morgensonne be-
leuchteten Schnee auffallend abstach. Hoch herab schallte uns
das Sonntagsgeläute einer Kirche entgegen, und als wir das
Wirthshaus erreichten, wurde unser Schlitten von der zur
Kirche versammelten Menge umzingelt, in welcher nur kraft-
volle Körper und muntre Gesichter sich uns darstellten. Im-
mer höher führt der Weg ins Waldgebirge hinein." Aber
plötzlich ist die Gegend verändert; man fährt in ein sanftes
Thal hinab, und man hat eine hügelige, mit Waldung und
Ackerland erfüllte Gegend vor sich. Ein ziemlich großer See
breitet sich hier aus, an dessen Ufern sich freundliche Dörfer
erheben. In dieser Gegend liegen auch, nahe am Sec,
Rättwick und Mora. „Hinter Mora verliert die Gegend
bald ihre Lieblichkeit; man kommt in immer dichtere Waldun-
gen. Berge thürmcn sich zu beiden Seiten der Straße auf;
die steilen Abhänge rücken immer näher zusammen. Kaum
hat der Weg Raum genug, sich längs des linken klfers der
in der Felscntiefe rauschenden Dalelf fortzuwinden. Nun hat
alle Anmuth der Gegend ein Ende. Mcnfchenwohnungen wer-
den sehr selten. Kommt ja einmal hinter der Waldung eine
Hütte zum Vorschein, so sticht sie traurig ab gegen die net-
ten Wohnungen an jenem See. Grützebrei, mit Wasser, sel-
ten mit etwas Milch gekocht, ist ihnen ein Leckerbissen. Ha-
ferbrot, so dünn wie ein Blatt starken Papiers, und so un-
schmackhaft wie getrockneter Mehlkleister, dazu kleine, getrock-
nete und darauf am Feuer etwas gebratene Strömlinge, wel-
che in den Teig eingewickelt werden, sind die gewöhnliche
Nahrung, und nicht selten tritt hier bei mangelndem Korne die
Nothwendigkeit ein, das Mehl mit einem starken Zusatze von
zermalmter Kiefernrinde zu versetzen, so daß das Gebäcke kaum
noch eine Spur vom Brotgcschmacke behält. Kein Wunder,
daß der Mensch bei so schlechter Nahrung ein hinfälliges, krank-
haftes Ansehen bekömmt." Um so größer ist die Ucberra-
schung, wenn man aus der rauhen Wildniß, ergriffen von
416
Das Königreich Schweden.
den Bildern der Armuth und des Hungers plötzlich heraus-
tritt, und eine freundliche Colonie vor sich sicht, deren Aeu-
siercs schon den Geschmack der schönen, hier verfertigten Ar-
beiten verräth. Es ist das Städtchen
Elfdalen, in dessen Umgegend ein herrlicher Porphyr ge-
funden wird. Darum hat man hier eine Porphyr-Schleiferei an-
gelegt. Der schön geaderte und harte Stein wird aus den Fel-
sen erst in rohen Formen losgehauen, dann in Platten zersägt,
geschliffen, gedreht, polirt u. s. w. Aus dieser Anstalt gehen Ar-
beiten von hoher Vollendung hervor: Vasen und Uhren von allen
möglichen Formen, Tischplatten, Reibsteine, Untersätze, Säulen,
Leuchter, Schreibzeuge, Mörser, Messergriffe, Butterdosen, Ta-
backsdoscn, Salzfässer, Stockknöpfe, Papierhalter, und wer weiß
was alles.
Von hier an wird die Reise über die Kjölen immer be-
schwerlicher, am meisten im Winter. Die gebahnte Straße
hört endlich ganz auf; durch Nadelholzwaldung führt der stei-
nige Weg immer höher, und die Dalclf rauscht links im tie-
fen Felsengrunde. Wenn man endlich die Höhe der Kjölen
erreicht hat, so befindet man sich auf einem Gebirgsrücken,
der mit Morästen und Waldungen bedeckt ist, und aus dem
sich hier und da einzelne Felfcnfpitzen erheben. Hier muß man
den nur für gebahnte Straßen eingerichteten Schlitten zurück-
lassen, und sich eines Vauernschlittens bedienen. Ein
solcher besteht aus einem aus Brettern zusammengeschlagenen,
langen und schmalen, sargförmigen Kasten, der auf dem ge-
wöhnlichen Untergestelle ruht, und auf beiden Seiten mit star-
ken vorragenden Bügeln versehen ist, um das leichte umwer-
fen des schmalen Fuhrzeugs zu verhüten. Auf jedem Schlit-
ten sitzt oder liegt nur eine Person; es werden weiche Lager
aus Fellen darin bereitet, und wärmende Decken aus Wolfs-
und Bärenfellen darüber gelegt; ein Pferd ist davor gespannt.
Vorn auf dem Schlitten sitzt der Führer. Hier und da sicht
man in der Wildniß einzelne Sennhütten liegen zum Zufluchts-
ort für die, welche hier von ungestümem Wetter überfallen wer-
den. Auch kommen hier oft Spuren von Elenthieren
und Baren vor. Die Bauern, die von Schweden nach
Norwegen und umgekehrt über das Gebirge ziehen, bedienen
sich dazu zweier Arten von Schneeschuhen. Müssen sie steil
bergan steigen, so binden sie sich unter die Füße die Tryggs.
Das Königreich Schweden.
417
Diese sind aus Kork wie ein Gitter geflochten, etwa so groß
wie die Näder eines Kinderwagens, rund, und werden unter
die Füße gebunden. Sie verhindern das Einsinken in den
Schnee, aber wer nicht sehr geübt ist, kommt mit ihnen nur sehr
langsam fort. Geht cs bergab, so binden sie sich die Skids
unter die Füße. Das sind schmale, aber sehr lange Bretter
aus elastischem Birkenholze (etwa 3 Finger breit, aber von
mehr als Mannslange); hinten sind sie gerade abgestumpft,
aber vorn etwas nach oben gebogen. Unten sind sie meist
mit rauhem Felle belegt, und zwar so, daß der Strich der
Haare nach hinten geht; dadurch wird das Hcrabglciten er-
leichtert, und das Zurückgleiten verhindert. In der Mitte
haben sie einen Bügel, durch den man den Fuß steckt. Zu-
gleich hat der Schneeschuhläufer einen Stab, der unten mit
einer eisernen Spitze, und einige Zoll darüber mit einem klei-
nen Reife von Horn versehen ist, so daß er nicht tiefer in
den Schnee dringen kann als bis an die Hornscheibe. Mit
diesen Skids bewegen sich die Bauern, besonders bei hartem
Schnee, mit unglaublicher Geschwindigkeit, und fahren mit
ihnen eben sowohl auf ebenem als auf abschüssigem Boden.
Auf der Hohe fanden die Reisenden ein einsames Dorf,
und wurden von der Familie des Pfarrers sehr gastfreundlich
aufgenommen. „Wie groß war, als wir zum Mittagsmahle
gerufen wurden, mein Erstaunen, als ich statt einer einfachen,
ländlichen Mahlzeit, wie ich sie in einer fo entlegenen Gegend,
zumal bei einem unangemeldetem Besuche, nicht anders erwar-
ten konnte, einen mit vielen Gerichten stark besetzten Tisch fand,
und dabei mit Punsch bewirthet wurde. Welch eine Bewir-
thung im hohen Norden, in einem entlegenen, kümmerlichen
Dorfe! Unter den Gerichten befand sich auch ein mächtiger
Eleubraten, den ich dort zum ersten Male kostete, aber bei
weitem nicht so wohlschmeckend fand, als Rennthierbraten,
der ebenfalls zu den gewöhnlichen Speisen in jenen Gegenden
gehört." Auf der Gränze zwischen Schweden und Norwegen
genossen die Reisenden noch das herrliche Schauspiel des Un-
tergangs der Sonne. „Schöner hat sich mir nie dies Schau-
spiel dargestellt, als an jenem Abend. Die große, feurige
Scheibe senkte sich gerade hinter einem tiefen und scharfen Ein-
st össeltö Geographie II. 27
418
Das Königreich Schweden.
schnitte der vor uns sich erhebenden hohen Gebirge. Die große
Fläche bis zu diesen trug die reinste Schneedecke, und der blen-
dend weiße Mantel, der die Gebirgshöhen einhüllte, stellte die
spitzigen Pyramiden, die sonderbar gezackten, jäh abstürzenden
Gipfel in den schärfsten Umrissen dar. Die Strahlen der sin-
kenden Sonne vergoldeten die Kanten und Spitzen diefcr ho-
hen Schncegipfel. So wie die Sonncnfcheibe verschwand,
verwandelte sich der Geldschein in einen rosenfarbenen Saum,
der dann allmählig erblaßte. Bald brach das blitzende Licht
einzelner Sterne durch: das dunkle Blau des Himmelsgewöl-
bes und die großen Schncekolosse stellten sich mit noch be-
stimmteren Umrissen als zuvor auf dem azurnen Himmclsgrunde
dar. Lange fuhr ich, aufrecht in meinem Schlitten sitzend,
im Anschauen dieser großen nordischen Alpcnnatur vertieft. Ich
genoß zum ersten Mal ihren lange ersehnten Anblick in ihrer
Nähe. Jetzt, nachdem mir auch die Anschauung der Schwei-
zeralpcn zu Theil geworden ist, muß ich bekennen, daß sich
das Ansehen der nordischen mit den letzteren durchaus nicht
vergleichen läßt. Der Eindruck von Größe, den man von den
südlichen Alpen empfängt, wenn man sich in ihrer Nähe be-
findet, muß natürlicher Weise den bei weitem übertreffen, wel-
chen jene Gebirge auf den Beobachter machen können. Auch
die Formen der nordischen Alpen sind von denen im Süden
sehr verschieden. Man kann sich von jenen einen ungefähren
Begriff machen, wenn man sich die höheren Schnecgipfel der
südlichen Alpen abgeschnitten, und unmittelbar auf eine Grund-
ebene gesetzt denkt."
3. N o r r l a n d.
Je weiter man von Svealand nach Norrland hinauf
reist, desto stärker tritt die nordische wilde und rauhe Natur
hervor. ' Sobald wir, von Stockholm kommend und längs
der Ostküste Schwedens hinfahrend, über die Gränze Nord-
lands fahren, finden wir die letzten Obstbäume; weiter nach
Norden kommen sie nicht leicht mehr fort. Ins Innere des
rauhen Landes pflegt man nicht leicht zu reisen, und trifft
auch nur eine schwache Bevölkerung da an. Wir reisen da-
Das Königreich Schweden.
419
her längs der Küste des bottnischen Meerbusens hinauf. An-
fangs sind die Wälder noch nicht sehr lang; die Dörfer und
Kirchen liegen ziemlich dicht. „Eine edle, einfache Kirche,"
sagt von Buch, „ auf einem Hügel im Thal spiegelte sich im
hellen, ruhigen Wasser; auf Wegen und Fußsteigen von den
Höhen wogten die Menschen der Kirche zu. Plötzlich erhob
sich das hohe, festliche Glockengeläute aus dcmThale. Schnel-
ler nun zogen die Menschen auf den Fußsteigen hin ; die Grup-
pen auf den Straßen entwickelten sich; das ganze Thal war
bewegt, und feierlich stieg der Schall hoch in die Berge hin-
auf. Wie groß und erhebend ist die Natur!" Die Straße
folgt nun den Windungen der Küste; überall erscheint das Land
anfangs wohlhabend; denn die Einwohner sind fleißig und ar-
beitsam. Aber bald wird cs öder und menschenleerer. Flache
Gegenden und Wälder wechseln mit einander ab, dann und
wann Felsen, oder eine Aussicht auf einen der vielen Meer-
busen, die ins Land hineinbringen. Endlich erreicht man am
nördlichsten Ende des bottnischen Meerbusens die Stadt
Tornea. Als Stadt ist sie elend. Zwar besteht sie aus
vielen Straßen, und alle durchschneiden sich in rechten Winkeln;
aber sie sind nicht gepflastert, mit Gras bewachsen, sehr todt, wer-
den selten von Wagen befahren, und sehen durchaus dorfmaßig
aus. Wirklich werden sic auch von den Einwohnern zur Vieh-
weide benutzt, und man pflegt scherzweise zu versichern, daß der
Hkugcwinn auf dem Marktplatze zu den Einkünften des Bürger-
meisters gehörte. Die meisten Häuser sind niedrige Hütten, die
weit aus einander liegen, weil jede einen Garten neben sich hat.
Leben ist nur am Ufer, da wo die Schiffe landen; in den Stra-
ßen verhallt es sehr bald. Dennoch leben die Einwohner recht
vergnügt, und unterhalten sich auf ihre Art: des Morgens kom-
men sie bei dem Apotheker zusammen, des Mittags im Wirths-
hause, Nachmittags sprechen sie wieder der Liqueurflasche des Apo-
thekers zu, und am Abend fließt der Punsch stromweisc auf dem
Kaffeehause. Da Tornea nahe am Polarkreise liegt, so geht die
Sonne in den kürzesten Wintertagen des Mittags erst auf, und
nach wenigen Minuten wieder unter; dagegen kann man sic in
den längsten Sommernächten von einer Anhöhe bei der Stadt
sogar um Mitternacht leuchten sehen. Das Klima ist hier nicht
so kalt, als man nach der nördlichen Lage glauben sollte. Zm
September ist es hier wie bei uns im Oktober; die Bäume haben
noch ihr Laub, die Sonne scheint um Mittag warm, und nur
des Nachts zeigt sich gelinder Frost.
27 *
420
DaS Königreich Schweden.
Fetzt reisen wir nach dem äußersten Norden von Schwe-
den hinauf, um auch dies Land kennen zu lernen. Die Men-
schen, die diese Gegenden, in Schweden sowohl als in Nor-
wegen, bewohnen, sind außer wenigen Schweden die Finnen
und die Lappen.
Die Finnen werden auch O. uäner genannt. Sie
wohnen nicht nur im eigentlichen Finnland, das zum russi-
schen Reiche gehört, sondern haben sich auch über den Norden
von Schweden und Norwegen verbreitet. Sie sind Christen,
reden ihre eigene Sprache, und haben ihre eigenen Sitten.
Ihre Hauser sind alle nach einer Art gebaut. Eine große
Stube, aus Balken gebaut, reicht bis unter das Dach. An
der einen Seite steht ein gewaltiger Ofen, ohne Schornstein,
der den größten Theil der Wand einnimmt. Der Rauch aus
demselben erhebt sich bis unter das Dach, steigt dann an den
Wanden nieder, und zieht in das Freie durch einige viereckige
Löcher an den übrigen Wänden. Diese Oeffnungen werden,
wenn das Feuer ausgebrannt ist, durch Schieber geschlossen,
und nun erst wird cs warm. Die Finnen sind kluge, ar-
beitsame Leute, die meist Feldbau treiben, so wenig dieser in
den nördlichen Gegenden auch abwirft; auch mit Schifffahrt
und Fischfang beschäftigen sie sich.
Die Lappen führen diesen Namen bloß in Schweden;
in Norwegen werden sie allgemein Finnen, und diese O-uänec
genannt. Sie selbst nennen sich, wie schon gesagt, Same.
Es sind häßliche, meist kleine, träge, und unreinliche Men-
schen, die daher sehr verachtet, und dem Trünke sehr ergeben
sind. Wir werden in Norwegen noch einmal auf sie zurück-
kommen. Sie leben entweder vom Fischfang, und dann ha-
ben sie ihre Hütten am Meercsgestade, oder von ihren Nenn-
thierheerden. Hat eine Familie der Ren nt hier lappen
wenigstens 300 dieser Thiere, so kann sie sich davon erhalten.
Sie schlachten so viele derselben, als sie zur Nahrung und
zur Kleidung bedürfen; denn aus dem Felle machen sie sich
nicht nur Kleider, sondern auch Schuhe und Stiefeln, und
decken damit ihre Zelte, unter denen sie leben. Sie ziehen
nämlich auf den Bergen umher. Im Winter sind jie in ih-
ren festen Wohnungen, die gewöhnlich um eine Kirche herum-
stehen; hier haben sie ihre besten Sachen auch den Sommer
über. Sobald es Frühjahr wird, treiben sie die Nennthicre
- Das Königreich Schweden.
421
md) dem Strande, lassen sie sich hier recht satt in Mccrwas-
scr trinken, und ziehen nun mit ihnen in die ihnen so lieben
Berge, nach und nach immer höher, je nachdem der Schnee
schmilzt. Hier leben sie nach ihrer Art recht glücklich. Alle
Mittage und Abende kocht man Ncnnthicrfleisch in großen ei-
sernen Kesseln. Sobald cs gekocht ist, wird cs vom Hausherrn
mit den Fingern auseinander gerissen, und Jedem sein Stück
gegeben. Begierig greift Jeder danach, und zerreißt es mit
Fingern und Zähnen noch weiter. Unterdessen wird die Fleisch-
brühe im Kessel mit dicker Nennthiermilch zusammcngcquirlt,
und Roggen - oder Hafermehl hineingethan. Dies Gericht
wird dann mit derselben Gier verzehrt. Im Winter haben sie
außerdem auch Schneehühner, Aucrhahne und andere wilde
Vögel; auch schießen sic wohl einmal einen Baren. Ferner
essen sie gefrorne Milch. Sie setzen nämlich im Herbste die
Milch dem Froste aus, und so bleibt sie Monate lang frisch.
Wenn dann ein Fremder in ihre Gammc (Hütte) kommt, so
setzen sie ein gefrorncs Milchstück ans Feuer. Mit einem Löf-
fel schabt dann der Gast so viel, als aufthaut, herunter, und
was er übrig läßt, wird für andere Gäste wieder in der Kälte
verwahrt. Weit elender leben die Fischlappen. Im Som-
mer essen sie frische Fische, und trinken mit großem Woblgc-
fallen das Wasser, in denen jene gekocht sind. Im Winter
dagegen haben sie nichts als getrocknete Fische, und Suppen,
die aus Wasser, Fichtcnrinde und Nennthiertalg bestehen. Ihre
Hütten bestehen aus Stangen, die in einen Kreis herumge-
stellt und nach oben zusammengebogen sind, doch so, daß oben
eine große Ocffnung für den Rauch bleibt. Die Stangen
sind mit Rennthicrfcllen, oft aber auch nur mit Grasstücken
belegt, so daß die Luft überall durchpfcift. Während die
Männer im Freien ihre Arbeit verrichten, sitzen die Weiber
und Mädchen in dem engen Raume beisammen, und sticken
die Kragen auf den Röcken der Männer, oder weben wollene
Bänder. Jedem ist sein Platz genau zugemessen; die Töchter
dürfen nicht nach der Mutterseite kommen, und die Mutter
kommt nur zufällig einmal nach der Seite jener.
, 6
Wir reifen nun den Fluß Tornea aufwärts, nach
Norden. Schon nach 5 Meilen erblicken wir eine sonderbare
422
Das Königreich Schweden.
Tracht der finnischen Bauern. Sie tragen nämlich lange,
schwarze Talare, vom Halse bis zu den Füßen zugeknöpft,
eine schwefelgelbe Schärpe um den Leib, und ein kleines
schwarzes Käppchen auf dem Kopfe, so daß man lauter Geist-
liche zu sehen glaubt. Besonders feierlich sieht es aus, wenn
diese Leute Sonntags nach einer Kirche ziehen, und sich von
den verschiedenen Höhen durch die Thaler hinbcwegen. Un-
endlich mächtig und groß ist der Eindruck, den dieser Anblick,
noch mehr die Töne der durch die Wälder und Seen dieser
einsamen Gegenden hallenden Kirchcnglocken ans das Gemüth des
Reisenden hervorbringen. Nirgends wird das Herz mit
größererGewalt zu dem Schöpfer hingezogen, als
in der Einsamkeit einer großen, wilden Natur.
In diesen nördlichen Gegenden kommen Garten - und
Küchengewächse nur schwer fort. Doch werden die Erbsen
noch zuweilen reif; auch gelbe Rüben, Kartoffeln und Mccr-
rcttige kommen vor, aber nur am Flusse hin; denn landein-
wärts ist nichts als ein ungeheurer, gränzenloser Wald, der
nur hier und da von kleinen Seen unterbrochen wird. Desto
angenehmer sind die freundlichen Dörfer, die man an dem
Flusse dann und wann antrifft, und die von eingezäunten
Kornfeldern und großen Heuhaufen im Sommer umgeben sind,
so daß man sich mitten nach Deutschland versetzt glaubt.
O
Endlich gelangen wir an den Punkt, wo der Tornea
und Muonio zusammenfließen. Der Muonio kommt von Nor-
den her. Links aber stürzt sich aus einem finstern Walde der
o ,’JJ
große Torncafluß ungestüm hervor, und nimmt den kleineren
Muonio in sich auf. Dieser Punkt bildet eine überraschende,
reiche, lebendige Landschaft, die finstern bewaldeten Berge, die
nackten Felsen, das Brausen des Stromes, die breite Fläche
des langsam und stolz herankommenden Muonio, und dann
das große Gebäude einer Sagemühle nebst einigen Wohnge-
bäuden. Zm Sommer und bis in den Herbst hinein sind die
Schlünde voll einer reichen Pflanzenwelt. Auf den Höhen und
Abhangen sieht man Männer und Frauen beschäftigt, die Ernte
zu sammeln, und in der Ferne steigen die Dampfsäulen der
Hüttcngcbäude in die reine Luft.
Das Königreich Schweden.
423
Die Reise am Muonio aufwärts bietet einen seltenen
und erhabenen Anblick dar, den Wasserfall Eianpaika. Das
Brausen des Falls hört man schon lange vorher , che man
ihn erreicht. Hören wir einen Reisenden, der ihn auf einem
Boote befuhr. „Anfangs gleitet der Strom ruhig dahin.
Dann folgen einige Falle, die zwar nicht hoch sind, aber den
Strom schon unruhig machen. Nun sieigcn zu beiden Seiten
Felsen auf, und Spitzen heben sich aus dem Grunde hervor.
Das aufgeregte Wasser drangt sich jetzt enge zwischen den nahe
gegenüberstehenden Felsen. Die Wellen bäumen sich, schäu-
men, stürzen über einander. Sie fassen das Boot, und sto-
ßen cs mit undenkbarer Schnelligkeit in den Abgrund herunter.
Fürchterlich tobend schlagen sie darüber brausend zusammen;
Himmel, Felsen und Wald ist verschwunden, überall ist nur
Schaum und Gebrüll. In einem Stoß schleudert die Wel-
le das Boot gegen den Fels; aber mit starker Hand
lenkt es der kühne Steuermann schneller noch als die Wel-
le von einer Seite zur andern, und im nächsten Augen-
blicke schwebt es schon wiegend auf den wieder beruhigten
Wogen. Wenige Schritte weiter ist der Strom wieder ein
schöner Landsee, fast ohne Bewegung. Ohne Gleichen kühn
war der erste Schiffer, der diesen mächtigen Fall befuhr, und
auch noch jetzt vertraut man sich nur erfahrenen Leuten zu
dieser Tartarusfahrl. Fürchterlich sind die zwei Menschen vorn
im Boot. Ihr stierer Blick, die schrecklich hervortretenden Augen
suchen jeden Gedanken des Steuermanns zu fassen,, ob sie nun
schneller, nun langsamer fortrudern sollen. Ihre eigene Er-
haltung hängt davon ab, daß sic des Steuermanns Gedanken
richtig errathen. Jeder Muskel ist in der höchsten Spannung,
und nur die Arme sind in Bewegung."
Weiter den Strom aufwärts hören die Tannen auf;
man sieht nur Fichten- und Kiefernwälder, und nur hier und
da kommen einige Wohnungen vor. Die Menschen in dieser
Einöde treiben einen einträglichen Lachsfang. „Sie setzten sich,"
erzählt ein Reisender, „mit Fcuerbranden in ihre Boote, und
schwammen die ganze Nacht auf dem Flusse, um Lachse zu
stechen. Höchst malerisch ist die Figur des Stechers, der vorn
im Boote, ganz vom Feuer erleuchtet, unbeweglich steht, den
424
Das Königreich Schweden.
tödtenden Dreizack im Anschlag, Blick und Aufmerksamkeit un-
erschütterlich auf die Wasserfläche und den ankommenden Lachs
gerichtet. Uebcrall schwebten auf der heiteren, klaren Wasser-
fläche die großen, glänzenden Feuer umher. Sie durchkreuzten
sich in allen Richtungen, und immer nur allein zeigte sich
vorn die unbewegliche Figur mit dem fürchterlichen Dreizack,
als würden die Feuer durch unbekannte Mächte getrieben.
Plötzlich, wie ein Blitz, ist in die Figur ein elektrischer Fun-
ken gefahren. In einem Nu fährt der Dreizack mit gewalti-
ger Macht in das Wasser, und der gefangene Lachs windet
sich jetzt krampfhaft die Widerhaken nur noch tiefer in den.
Kopf. Der Lachs wird nämlich durch den Glanz des Feuers
angelockt; er ahnt keine Gefahr, und hebt sich langsam nach
der Oberfläche herauf."
Wir sind nun die Küste von Norrland hinaufgcreist, bis
in den äußersten Norden von Schweden. Außerdem ist noch
ein langer Landesstcich bis nach dem Kjölengebirge, längs der
norwegischen Gränze. Dieses Land ist das eigentliche
Lappland. Es besteht aus mehreren langen Thälern,
die durch Bergreihen gebildet werden, welche von den Kjölen
ausgehen, und sich nach dem bottnischcn Busen hinziehen.
Alle diese Thäler werden von Flüssen durchströmt, an denen
die Zelte der Lappen stehen. Sobald cs Sommer wird, ziehen
diese immer höher in die Berge hinauf. Um die Lebensart die-
ses Volks besser kennen zu lernen, wollen wir einen Reisen-
den sprechen lassen, der einige Scenen unter ihnen erlebte.
„Hundcgebell verrieth uns die Nähe einer Nennthierheerde und
die Hütte einer Lappenfamilie. Wir eilten ihr zu; denn der
Regen rieth uns ernstlich für die Nacht eine Bedeckung zu su-
chen. Wir fanden die Gamme sehr bald am Fuße eines Ber-
ges. Man nahm uns auf, aber nicht freundlich. Wo Tan-
nen und Fichten und Birken nicht mehr gedeihen, da entwickelt
sich auch im Menschen nicht mehr eine schönere Natur. Seine
besseren Gefühle gehen unter im Kampf mit Bedürfniß und
Klima. So wie im Orient ein Geschenk den Besuch ankün-
digt, so besänftigt hier im Norden das Glas Branntwein die
feindlichen Gemüther. Dann erst wird dem Fremden der erste
Platz eingeräumt, im Hintergründe des Zeltes, der schmalen
Das Königreich Schweden.
425
Thüre gegenüber. Der ganze Raum hat höchstens 4 Schritt
im Durchmesser. Das Feuer oder der Rauch auf dem Heerde
in der Mitte verhindert den Zug von der Thüre, und deswe-
gen ist dieser hintere Raum der Sitz des Herrn oder der Frau
von der Heerde. Die Kinder sitzen ihnen zunächst; die Knechte
der Thüre am nächsten. Verlangt ein Fremder den Eingang,
so befiehlt ihm die lappische Höflichkeit, sich noch innerhalb
oder gar noch vor der halbgeöffneten Thüre auf den Hacken
zu setzen. Der Hausherr fragt ihn dann nach der Ursache
des Kommens, und ist die Erzählung genügend, so bittet er
endlich den Fremden, näher zu treten. Dann ist er ein Glied
der Familie. Man räumt ihm nun einen Familienplatz ein,
und bewirthet ihn mit Ncnnthiermilch und Fleisch. Es that
uns wohl, diese Nacht unter einem Dache zu seyn; der Sturm
raste fürchterlich, und der Regen schlug gegen die Bedeckung
der Gamme." Diese Bedeckung würde aber Regen und Wind
nicht genug abhalten, würde nicht immer ein großes Stück
Segeltuch noch über die äußere Bekleidung auf der Seite, von
welcher der Wind kommt, gezogen. „Die inneren Sitze be-
stehen aus weichen Nennthierfcllen und aus weißwollcnen De-
cken. Alle Glieder der Familie sind selten in der Gamme zu
gleicher Zeit versammelt, wozu der Raum kaum hinreichen
würde. Die Rennthierheerde verlangt immer die Gegenwart
Einiger, auch in der Nacht, selbst in so stürmischen und gräß-
lichen Nächten, als wir hier aushielten. Männer und Kin-
der, Frauen und Mädchen, keiner ausgenommen, wechseln
2—3 Mal des Tages in diesem Geschäft, und Jeder zieht
mit mehreren Hunden aus, die ihm eigenthümlich gehören,
und die nur seinen Worten allein folgen. Daher ist cs nicht
selten, daß 8, 10, 12 Hunde zugleich in der Gamme über
die Köpfe der Ruhenden wegsteigen, um für sich selbst be-
queme Nuhestcllen zu suchen. Sie bedürfen freilich der Ruhe;
denn so lange sie draußen mit dem Herrn die Heerde bewa-
chen, sind sie in fortdauernder Bewegung. Auf ihnen beruht
das Heil und die Sicherheit dieser Heerde. Nur durch sie
werden sie auf bestimmten Plätzen zusammengehalten, oder,
wenn es nöthig ist, nach andern geführt. Nur durch sie
treibt man die Wölfe, die fürchterlichsten Feinde der Lappen,
c
426
Das Königreich Schweden.
von den Nennthieren zurück. Das furchtsame Thier läuft er-
schrocken Ln der Wildniß umher, wenn sich der Wolf nähert;
die Hunde hingegen bellen und klaffen die Heerde zusammen,
und so wagt der Wolf nicht leicht einen Angriff. Kommt der
Hund nun ermüdet in die Gamme zurück, so wird der Lappe
auch immer willig sein Ncnnthicrfleisch und seine Suppe mit
dem Hunde theilen, aber schwerlich mit Vater und Bruder.
Es ist ein neuer und schöner Anblick, wenn sich des Abends
die Heerde des Melkens wegen um die Gamme versammelt.
Auf allen Hügeln bis fernhin ist plötzlich alles voll Leben und
Bewegung. Die geschäftigen Hunde klaffen überall, und brin-
gen den Haufen naher und näher, und die Rcnnthiere sprin-
gen und laufen, stehen und springen aufs neue in unbeschreib-
licher Mannigfaltigkeit der Bewegungen. Wenn das fressende
Thier, durch den Hund erschreckt, den Kopf hebt, und das
große, stolze Geweih nun hoch in der Luft steht, wie schön
und wie herrlich! Und wenn die Gestalt nun über den Boden
hin lauft, wie schwebend und leicht! Man hört nie den Fuß auf
dem Boden, sondern nur das ewige Knistern in den Kniekeh-
len, ein sonderbares und weit hörbares Geräusch, von so vie-
len Nennthieren zugleich. Und wenn dann alle 3 — 400 end-
lich die Gamme erreicht haben, sie nun stehen oder sich ruhen,
oder vertraulich eins zu dem andern hinlaufen, die Geweihe
gegen einander versuchen, oder in Gruppen ein Moosfeld um-
geben; wenn dann die Mädchen mit den hölzernen Milchge-
fäßen von Thier zu Thier eilen, der Bruder oder der Diener
bastene Schlingen um die Geweihe des von dem Mädchen be-
zeichneten Thieres wirft, und es zu ihr heranzieht, das Thier
sich sträubt, und der Schlinge nicht folgen will, das Mäd-
chen lacht, sich der Anstrengung des Bruders freut, und das
Thier muthwillig wieder entschlüpfen laßt, damit cs der Bru-
der noch einmal fange; Vater und Mutter indessen schon man-
che Gefäße gefüllt haben, und den Muthwillen schelten, der
die ganze Heerde erschrecke: — wer möchte dann nicht an
Jakob und Laban, Lea und Rahel denken? Wenn die Heerde
sich endlich rings um die Gamme gelagert hat, so viele Hun-
derte zugleich', so glaubt man ein ganzes Lager zu sehen, und
Das Königreich Schweden.
427
in der Mitte den ordnenden und beschützenden Geist des Feld-
herrn."
„Am andern Tage erreichten wir eine andere Gamme.
Die Heerde gehörte meinem Führer Matthes Sara; er sollte
unsere müden Nennthicre hier mit frischen vertauschen. Die
Heerde war aber jetzt weit entfernt, und konnte nicht eher als
gegen Abend erwartet werden. Da traten wir in die Gamme
ein. Der erwachsene Sohn war darin; allein er erhob sich
nicht, bewillkommnete uns nicht, und Niemand hatte wohl
geahnt, daß er den Vater in vielen Tagen nicht gesehen hatte.
Gegen Abend ging er zur Heerde mit dem jüngeren Bruder,
und die Töchter kamen zurück. Warum kam die Heerde nicht
auch? Warum sollte sic nicht wie gewöhnlich bei der Gamme
gemolken werden? Die Weiber meinten, sie sey zu entfernt.
Dev Sohn hatte die gebrauchten Rennthiere mitgenommen;
aber er sandte die neuen nicht. Die Nacht verging. Auch
am Morgen waren noch keine Rennthiere gekommen. „So
werde ich sic selbst suchen!" sagte Sara. Die Weiber be-
stimmten ihm den Ort,'wo sie weideten. Er lief den ganzen
Tag, und kam ermüdet und athemlos >am Abend zurück, ohne
nur ein einziges Nennthiec gesehen zu haben; denn Frau und
Kinder hatten ihn nach der falschen Seite gewiesen, und wäh-
rend seines Suchens die Heerde weit nach der entgegengesetz-
ten Seite getrieben. Sie blieb auch diesen Abend weg wie
den vorigen; noch weniger erschienen die bestellten Rennthiere
am folgenden Morgen. Alle Ermahnungen, alles Schelten
des Vaters war fruchtlos. Endlich siegte -— der Branntwein.
Die Mutter widerstand dem Eindruck des Branntweins nicht.
Ein Gefühl von Dankbarkeit bewog sie, spät am Abend der eben
wiedergekommenen Tochter ein Wort ins Ohr zu reden, und
nach wenigen Minuten verkündigte das Knistern der Thiere und
das Bellen der Hunde die so heiß 'gewünschte Ankunft der
Heerde."
Besser war die Aufnahme in einer andern, entfernteren
Gamme. „Der Hausvater, ein reicher Lappe, kam lins
freundlich entgegen, führte uns selbst in die Gamme, setzte
den Kessel aufs Feuer, und kochte für Matthes Rennthicrfleisch
in reichlicher Menge, that Milch und Mehl in die Fleisch-
428
Das Königreich Schweden.
suppe, und reichte sic ihm. Mir brachte die Tochter Milch,
die sie eben erst in einer zinnernen Flasche von der entfernten
Heerde geholt hatte, und sie bat mit freundlichem Ernste, daß
sie ganz ausgeleert werden sollte." Ganz anders war die
Aufnahme bald darauf in der folgenden Gamme, zu der die
Reisenden kamen. „Wir sahen uns, als wir eine Höhe er-
stiegen hatten, plötzlich von Nennthieren umringt. So weit
das Auge reichen konnte, war alles in Bewegung, und un-
aufhörlich schallte nahe und fern das Blaffen der Hunde.
„Das ist meines Brudcrssohncs Heerde!" sagte Matthes
selbstgefällig. „Das ist ein reicher Mann; er hat wohl an
1000 Rennthiere. Da giebt es alle Tage Rcnnthierfleisch im
Uebcrftuß. Wir wollen in seiner Gamme die Nacht bleiben;
denn nirgends könnten wir bester seyn." Als wir zur Gamme
kamen, trat der Besitzer heraus. „Lieber Matthes," sagte
er, „ich kann euch nicht aufnehmen. Vor einigen Stunden
sind zwei fremde Lappen gekommen, und alle übrige Plätze in
der Gamme besetzt." Wir gingen also weiter. Nach einer
halben Stunde sagte mir Matthes: „ es war doch nicht gut
gethan von Niels, uns den Platz in seiner Gamme zu ver-
weigern." — ,, Aber konnte er denn anders, wenn wirklich
schon Fremde die Plätze der Gamme eingenommen hatten?" —
„Wohl," erwiederte Matthes lebhaft; „wo Platz im Herzen
ist, da findet er sich auch leicht in der Gamme."
Städte giebt es im ganzen Lapplande nicht, nicht einmal
Dörfer wie bei uns. Die einzelnen Thäler heißen Lapp mar-
ken, und werden'nach den Flüssen, von denen sie durchströmt
werden, benannt.
Der König von Schweden besitzt noch:
1. Das Königreich Norwegen;
2. Die kleine Insel Barthclemy in Wcstindicn.
DuS Königreich Norwegen. 429
Das Königreich Norwegen.
„Sey gcgrüßct, gesegnetes Land, mit deinen lichten Sommern, deinen
heitern Wintern, mit deinen majestätischen Bergen, deinen lieblichen
Thälern, deinen stillen Seen, deinen fruchtbaren Feldern und Auen
— Land, wo zwar nicht Milch und Honig fließen, aber ein freies
Volk, im Schweiße seines Angesichts sein Brot ißt! Sey gcgrüßct, du
Volk voll Einfalt unb; Treue, voll Biedersinn und Menschlichkeit,
voll Muth, Kraft und Tapferkeit, voll Gastfreundschaft, voll Liebe
für Vaterland, Ordnung, Häuslichkeit und stille Ländlichkeit, voll
Milde und Frömmigkeit — sey dreimal gcgrüßct!"
Norwegen nimmt die westlichste Hälfte der skandinavi-
schen Halbinsel ein, ist unten breiter, und wird nach Norden
zu schmäler. Ganz im Norden lagert es sich über Schweden
hin, und reicht bis an die russische Gränze. Fast die Hälfte
seiner Länge gehört der kalten Zone an.
Boden: Im Allgemeinen ist Boden und Klima wie in
Schweden. Die Kjölen laufen auf der Gränze beider Kö-
nigreiche hin, und von ihnen ziehen sich einzelne Zweige über
das ganze Land hin, das daher fast überall felsig und rauh
ist. Aber eben darum findet man auch überall eine gewisse
Erhabenheit der Natur, reizende und wilde Gebirgsgegenden.
Der Mittelpunkt des Gebirges ist bei Nöraas, nahe an der
schwedischen Gränze. In der Nähe dieses Orts ist auch der
höchste Berg dieses Gebirges, der Sneehättan. Er steht
aber nicht, wie die hohen Berge anderer Gebirge, als eine
einzelne Felsmaffe da, sondern die Höhe des Kjölengebirgcs
bietet eine große, wellenförmige, mit Schnee bedeckte Verg-
ebene dar, aus der sich einzelne Kuppen erheben. Eine solche
Kuppe in Pyramidengestalt ist auch der Sneehättan, der Mont-
blanc des Nordens, aber freilich von weit geringerer Höhe
als dieser Niese Italiens. Die Küsten sind von dem Meere
zerrissen und ausgespült, überall felsig, und oft treten schmale
Meeresarme zwischen schroffen Felsmaucrn tief in das Land
hinein. Vor den Küsten liegen zahlreiche Klippen, die selten
von Menschen, aber stark von Seevögeln bewohnt sind. Grö-
ßere Inseln liegen vor den nördlichen Küsten. Hier zieht sich
eine lange Inselgruppe in südwestlicher Richtung immer weiter
vom Ufer weg ins Meer hinein, die Lofoden genannt.
Gewässer: Die Landseen, deren es auch hier sehr
viele giebt, sind nicht so groß wie die in Schweden; daher
430
Das Königreich Norwegen.
wir auch keinen nennen wollen. Der Meerbusen giebt cs auch
eine Menge. Einer der bekanntesten ist der Sv in esu nd,
der tin Süden die Gränze zwischen Schweden und Norwegen
bezeichnet. Weit tieferund breiter ist der Christianssund,
der an der Südküste von Süden nach Norden in das Land
hineinbringt bis nach der Stadt Christiania.
Sehr große Ströme können wegen der schmalen Beschaf-
fenheit des Landes hier nicht vorkommen. Die beiden Haupt-
stüste sind der Glommen und der Drammen. Der
Glommen entspringt in der Gegend von Nöraas, und stießt
in südlicher Richtung, bis er sich in das Meer ergießt zwi-
schen dem Svinesund und Christianssund. Er ist wohl so
breit als der Rhein, und bildet einen herrlichen Wasserfall,
einen der größten Norwegens, den Sarpen. Man hört
das Brausen des mächtig herabstürzenden Wassers oft mehrere
Stunden weit. Endlich erblickt man den dreifachen Sturz des
zwischen Felsen eingeengten, dennoch aber breiten Stroms.
Triumphirend über die sich ihm entgegengestellten Felsen, stürzt
er sich über sie schäumend und tosend hinab. „ Man
wird von Grausen erfüllt, wenn man unten im Felsenthale
steht, und nun die drei Stürze mit einem Male zu sich herab
kommen sicht, die dann eins zu seyn scheinen. Au beiden
Seiten der Fälle sind eine Menge Säge - und Mahlmühlcn
angelegt." Der Drammcn entspringt viel südlicher; er
kommt aus der Mitte des südlichen Norwegens. Sein Lauf
ist also weit kürzer. Dennoch ist er ein großer Strom, und
sucht an Pracht überall seines Gleichen. Cr stürzt sich west-
lich von Christiania in den Christianssund.
Zwar nicht im Lande; aber unfern der Küste, befindet
sich der Strudel Malström. Ein eigentlicher Strudel ist er
zwar nicht, sondern eine heftige Strömung zwischen zweien
der südlichen Lofoden. Das Meer drängt sich hier bei der
Fluth dorthin, bei der Ebbe hierhin, und diese Strömung ist
oft so stark, daß die Schisse in große Gefahr kommen. Doch
ist diese nur dann vorhanden, wenn der Nordwestwind dem
durch die Ebbe zurücktretenden Strome entgegenbläst. Dann
kämpfen Wellen mit Wetten; sie steigen thurmhoch über
einander, drehen sich in Wirbeln, und ziehen Fische und
Das Königreich Norwegen.
431
Boote, die sich ihnen nähern, in den Abgrund hinab.
Man hört dann das Brausen und Toben viele Meilen weit.
Aber im Sommer wird der Malström gar nicht gefürchtet,
und Schiffe und Boote fahren mit vollen Segeln lustig dar-
über hin.
Klima: Auch dies ist wie in Schweden. Die Som-
mer sind kurz aber heiß, und die Winter lang, aber, die ho-
hen Gegenden abgerechnet, nicht besonders kalt, sondern hei-
ter, die Kälte sehr wohl zu ertragen. Daß die Länge der
Jahrszeiten hier sehr verschieden ist, nach der nördlicheren oder
südlicheren Lage, wiffen wir schon von Schweden her. Im
Winter sind die Stürme, besonders in den nördlichen Gegen-
den, häufig und fürchterlich. Sie stürzen die Bäume nieder,
und es gewährt einen traurigen und fürchterlichen Anblick,
wenn diese wie ein Verhau nach allen Richtungen wild durch-
einander liegen.
Produkte: Auch hier sind die wichtigsten Erzeugnisse
des Landes Eisen, Kupfer und Waldungen. Die
hohen Tannen, die in den südlichen Theilen wachsen, werden
zum Bauen der Schiffe benutzt; es werden zahllose Gefäße
aus Holz gemacht; Theer, Pech und Kohlen gebrannt; die
Birkenrinde wird zum Decken der Hütten benutzt, und aus
dem Holze der Birke werden Schneeschuhe gemacht. Die Kü-
sten liefern viele und schöne Fische, und die schmackhaftesten
Lachse gehen die Flüsse weit hinauf. Im Eismeere giebt cs
auch viele Wall fische, die in dem Meerbusen, welcher
zwischen den Lofoden und der Küste sich befindet, sich in Men-
ge aufhalten. Es ist ein herrlicher Anblick, wenn diese gro-
ßen Niesen darin herum spielen, und mit zischendem Geräusch
ihre glänzenden Wasserstrahlen in die Luft steigen lassen. Sie
fahren mit Blitzesschnelle unter dem Wasser fort, erheben sich
wieder über die ruhige Oberstäche, und schleudern an weit
entfernten Orten ihre Springbrunnen hoch in die Höhe. Man
sieht sie bei ruhigem Wetter auf allen Seiten; setzen sich aber
die Wellen nur wenig in Bewegung, so verschwinden sie alle,
und erscheinen nicht wieder. Das Vergnügen, sic von einem
Boote aus so herumfahren zu sehen, ist jedoch nicht ohne Ge-
fahr. Sie halten zuweilen ein kleines Boot für ihres gleichen.
432 Das Königreich Norwegen.
schwimmen darauf zu, tauchen unter, und heben cs in die
Höhe, oder werfen es gar um. Vor mehreren Zähren wurde
ein solches Fischerboot auf solche Art in die Höhe gehoben,
und als cs auf die Oberfläche des Wassers zurücksank, so
ging cs durch den heftigen Stoß sogleich aus einander, und
die Fischer wurden nur mit Mühe gerettet.
Sehr einträglich ist für die Küstenbewohner der Fang der
zahllosen Seevögel, welche die hohen Klippen der Küsten-
gcgcnden bewohnen, und in solcher Menge sich hier aufhalten,
daß die Klippen im eigentlichsten Sinne mit ihnen bedeckt sind.
Zeder solcher Felsen pflegt seinen Eigenthümer zu haben, der
allein das Recht hat, auf ihm Eier und Vögel zu sammeln.
Kommt derselbe, um Eier zu holen, so bleiben die Vögel, die
ihn gut kennen, ruhig; denn sie wissen schon, daß man ih-
nen nur die überflüssigen Eier nimmt, und allemal eins im
Neste liegen laßt. Kommt man an sein Nest, so fliegt der
Vogel eine kurze Strecke fort, sicht dem Ausnchmcn ruhig zu,
und kommt wieder, wenn man weiter geht. Wenn aber
fremde Schiffer eine solche Insel überfallen, und alle Eier
rauben, so erhebt sich plötzlich die ganze Schaar, viele Tau-
sende zugleich, und erfüllen die Luft mit ihrem fürchterlichen
Klaggeschrei. Sind die Räuber weg, so fallen sie wieder auf
ihre Nester, und können sich lange nicht erholen. Werden sie
mehrmals hinter einander so beraubt; so verlassen sie die un-
wirthliche Insel ganz, und ziehen nach einer anderen, entfern-
teren Klippe. Manchen Arten dieser Vögel stellt man wegen
ihrer Eier, anderen wegen ihrer Federn nach. Die eine Art,
die man Papagcitaucher nennt, ist besonders merkwürdig. Sie
sitzen haufenweise in kleinen Fclsklüften. Der Jäger ergreift
den vordersten mit einem Haken, und zieht ihn damit hervor,
oder, ist die Kluft tief, so schickt er einen Hund hinein, der
den vordersten packt, der nächste Vogel beißt dem ersten in den
Schwanz, der dritte wieder dem zweiten, und so fort bis zum
letzten, so daß der Jäger die ganze Reihe mit einem Zuge
fängt.
Zu den in Norwegen einheimischen Thieren gehören auch
die Adler. Sie greifen nicht nur Lämmer, sondern sogar
Ochsen an, welche sie auf eine recht sinnreiche Weise bekam-
Das Königreich Norwegen. 433
pfen. Der Adler nämlich stürzt stch in die Wellen, erhebt
sich, ganz durchnäßt, und wälzt sich auf dem Sande des
Ufers, bis die Flügel ganz damit bedeckt sind. Dann erhebt
er sich wieder in die Luft, und schwebt über dem Ochsen, den
er sich ausersehen hat. Er läßt sich zu ihm herab, schwingt
dicht über ihm die Flügel, schleudert ihm damit Sand und
Sternchen in die Augen, und macht das Thier durch die
Schläge mit seinen Flügeln vollends verwirrt. Verblendet
läuft cs wie toll herum, und fällt entweder ermattet zu Bo-
den, oder stürzt im Laufe von den Klippen herunter. Ruhig
zerhackt dann der Adler den todten oder halbtodtcn Ochsen.
Auch die Wölfe machen den Einwohnern viel zu schaffen.
Am gefährlichsten sind sic im Winter, wo sie bis nach den
menschlichen Wohnungen kommen. Daher machen die Bauern
um ihre Wohnungen eine Einzäunung, so hoch, daß der Wolf
nicht darüber springen kann. Durchkriechen wird er nie; denn
er kann nicht leiden, wenn ihm etwas über dem Kopfe hängt,
und hält sich daher auch in dichten und strauchreichen Wäldern
nicht gern auf. Am liebsten sind ste im Winter auf dem
freien Eise; hier kann man ste oft zu Dutzenden sehen, um
auf ihren Raub zu lauern. Kommt ein einzelner Schlitten,
so traben sie von beiden Seiten nebenher, und setzen die Rei-
senden in nicht geringen Schrecken. Indessen kann man sich
durch ein sehr einfaches Mittel helfen. Man befestigt an dem
Hinteren Theile des Schlittens einen Strick, so lang als mög-
lich, der frei herabhängt und dem Schlitten nachschleift. Die
kleinen Unebenheiten des Wegs heben ihn unaufhörlich in die
Höhe, und drehen ihn in ewigen Schlangcnwindungen fort;
dadurch werden die Wölfe in Furcht gefetzt. Sie wagen kei-
nen Angriff, und aus Scheu vor dem unaufhörlich tanzenden
Ungeheuer bleiben sie in gehöriger Entfernung. Daß cs auch
Bären, Luchse und Elcnthiere hier giebt, haben wir schon bei
Schweden gesagt.
Einwohner: Auch hier sind zweierlei Einwohner:
Norweger, die deutschen Ursprungs sind, und in den nördli-
chen Gegenden Lappen, hier Finnen genannt. Die Norwe-
ger oder Normänner sind groß, stark, von kräftigem
Wüchse, thätig, kühn, von einfachen Sitten, treu und bieder,
Nösseltè Geographie II. 28
434
Das Königreich Norwegen.
voll Vaterlandsliebe und voll Stolz auf ihr Vaterland. Sie
bekennen sich zur Lehre der lutherischen Kirche, und reden eine
Sprache, die mit der dänischen und schwedischen verwandt ist.
Die Bewohner der Seestädte sind natürlich verdorbener als die
des inneren Landes. „Aber diesen unverdorbenen Bewohnern
des herrlichen Landes darf man getrost in aller Hinsicht ver-
trauen, und braucht nie eine Maßregel zu ergreifen, welche
die Vorsicht auf Neiscn in den meisten südlicheren Ländern nur
zu dringend gebietet. Der einfach lebende Normann kennt
viele von den Lastern, welche der Süden erzeugt, kaum dem
Namen nach." Ucbcrall wird der Fremde mit der liebens-
würdigsten Gastfreiheit aufgenommen. Die Treuherzigkeit der
Frauen ist weit einnehmender als die erlernte und gezierte Höf-
lichkeit, die man so oft bei unsern Frauen und Mädchen fin-
det. Die Wörter Madame und Demoiselle nimmt man hier
nicht in den Mund, sondern gebraucht das treuherzige Frue
für Vcrhcirathete, und Jom frue für Unverheirathete. Die-
ser Gebrauch ist in allen drei nordischen Ländern: Dänemark,
Norwegen und Schweden. Die Töchter des Adels und an-
drer angesehenen Familien nennt man in Dänemark Fröken
(Fräulein); aber Demoiselle genannt zu werden, würde jedes
anständige Mädchen für eine Beleidigung halten.
Das Leben in Norwegen ist im Allgemeinen einfach,
aber recht behaglich; denn man sicht mehr auf Bequemlichkeit
als auf Glanz. Selbst der Landmann befindet sich hier viel
besser als in Schweden. Die Wohnungen sind weder präch-
tig noch sehr geräumig, aber zweckmäßig und sehr bequem.
Nirgends sieht man unnützen Hausrath, und man schafft
die Geräthschaften deswegen nicht weg, weil sie aus der Mode
gekommen sind. Sie sind dauerhaft, nett und von inländi-
schen Holzarten gemacht. Nur in einem Artikel treiben die
Frauen einen bedeutenden Luxus: in Betten und leinenem Zeucht
Selbst in kleinen Haushaltungen ist die Menge und der Reichthum
der Betten sehr groß, was freilich wegen der großen Gast-
freundschaft auch nöthig ist. Noch mehr als in Schweden
findet man hier Reinlichkeit und Ordnung in den Hausern;
sie erstrecken sich bis in die verborgensten Winkel, auf dem
Lande wie in der Stadt. In der Kleidung macht der Nor-
DaS Königreich Norwegen. 435
mann wenig Aufwand; mehr in dem, was zum Essen und
Trinken gehört. Die Tafel wird sehr stark und mit den man-
nigfaltigsten Speisen besetzt, zumal wenn ein Gast da ist. Die
Art der Mahlzeit weicht von der unsrigen nicht so ab wie in
Schweden. Man hat weiches Brot wie bei uns, und schickt
der Mahlzeit nicht wie in Schweden so viele kleine Vorge-
richte vorauf. Selten fehlt wildes Geflügel: Aucrhähne,
Birk- und Haselhühner; dagegen fehlen unsere Hasen- und
Rehbraten fast ganz. Dann und wann kommen wohl auch
Elen - und Nennthicrbraten vor. Zu den größten Leckerbissen
aber gehören — geräucherte Bärenschinken, die eine große
Aehnlichkeit im Geschmack mit geräucherten Gänsebrüsten haben.
Krons- (Preußel-) Beeren, mit einem Gusse von Sahne ver-
sehen, fehlen zum Braten selten. Kaffee- und Theegesellschaf-
ten werden oft und mit vielem Luxus gegeben. Man pflegt
beide Getränke zugleich aufzutischen; selbst des Morgens ist
das der Fall. Die Normänner sind überhaupt sehr gesellig,
und selbst die große Entfernung, welche Freunde trennt, hält
sie nicht ab, einander oft zu besuchen. Das Reisen ist hier
sehr leicht; im Sommer fährt man mit einer Kärra, einem
leichten Wagen, und im Winter, tüchtig verpackt, mit einem
Schlitten. Nur dann, wenn der Schnee schon schmilzt oder
geschmolzen, und der Boden noch nicht trocken und fest genug
ist, hat das Reisen seine Beschwerden und Gefahren. Eine
hier eigenthümliche Gefahr entsteht aus dem sogenannten Tel-
legröd. Die Erde friert nämlich im Winter wohl einige El-
len tief. Thauet sie im Frühjahre auf, so dauert cs lange,
ehe die Wärme den Frost ganz aus der Erde zieht. Auf
der Oberflache ist der Winter schon ganz vorbei; die Erde ist
getrocknet und fest, aber die untere Rinde ist noch gefroren.
Das in der Mitte aufgethaute Erdreich kann also nicht trocken
werden, weil die Feuchtigkeit nicht tiefer eindringen kann. Ehe
es sich die Pferde und die Reisenden versehen, befinden sie
sich auf einer solchen Stelle. Die feste Rinde schwankt unter
ihren Füßen weit umher, biegt sich, und hebt sich wieder ela-
stisch empor, als wenn man sich auf einem Schiffe befände.
Der Wagen tanzt, die Pferde erschrecken; plötzlich bricht die
Rinde ein; Pferde und Wagen sinken mehrere Fuß tief in
28 *
436
Das Königreich Norwegen.
den Boden, und man muß sehr froh seyn, wenn man ohne
großen Schaden davon kommt. Der gewöhnliche Abschieds-
gruß für Abreisende ist daher im Frühjahre in Norwegen:
„Möge Sie der Himmel vor Tellegröd bewahren!"
Ackerbau wird wegen der nördlichen Lage des Landes
nur wenig in Norwegen getrieben, und nur in den südlichsten
Gegenden. Oft mißräth das Getreide ganz, und dann ist
große Noth, wenn man nicht Geld genug hat, sich fremdes
Korn zu kaufen. Die Armen nehmen auch wohl zur Baum-
rinde ihre Zuflucht; aber theils mag solches Brot schlecht
schmecken und ungesund seyn, theils macht die Zubereitung
derselben viele Mühe. Wenn nämlich die jungen Fichten ge-
fällt sind, so schält man die Rande ab, nimmt von ihr nur
den innersten, weichen und weißen Theil, hängt sie viele Tage
zum Trocknen in die Luft, dörrt sie auf Oefen, zerschlägt sie
mit großen Kolben auf hölzernen Blöcken, und stößt sie in
hölzernen Gefäßen so klein als möglich. Diese Masse wird
noch auf der Mühle zu feinem Mehle zermahlen, das man
mit Hexet (Siede) oder mit einigem Saamen von Moosen
vermischt, und daraus backt man Brote von der Dicke eines
Fingers. Sie sollen aber selbst für den unverwöhntcn Ge-
schmack der Bauern eine bittere Speise seyn, und wer sich
den Winter über davon genährt hat, ist im Frühjahre matt
und kraftlos, und fühlt ein Stechen und Brennen auf der
Brust.
Weit einträglicher ist die Fischerei, die daher auch
sehr viel Hände beschäftigt, und der Normann ist ein geschick-
ter und kühner Seefahrer. Schon die Kleidung der Fischer
in den nördlichen Gegenden ist originell. Sie tragen alle erd-
braune Kittel, die überall geschlossen, und nur auf der Brust
offen sind. An diesem Schlitz laufen zu beiden Seiten kleine
blaue Rabatten herunter. Dazu gehören große weiße Schif-
ferhoscn, eine rothe wollene Mütze und darüber ein Filzhut.
Die Beschäftigung des Fischfangs ist übrigens voll Beschwer-
den und Gefahren. Die Strömungen oder die Stürme wer-
fen oft die Schiffe an die Klippen und zerschmettern sie, oder
Mast und Taue werden vom Sturm zerrissen, und die Fischer
müssen froh seyn, wenn sie, nach Verlust von Zeit und Aus-
Das Königreich Norwegen.
437
rüstungskosten, nur noch das nackte Leben retten. Alle Jahre
segeln zur Zeit des Fischfanges im Februar und März gegen
4000 Schiffe nach den Lofoden, wo eine ungeheure Menge
von Fischen gefunden wird. Die hier versammelten Menschen
kann man auf mehr als 20,000 berechnen. Jedes Boot
fangt 3000 —10,000 Fische. Man denke, welche Unzahl da-
durch herauskommt, und doch fehlt es in keinem Jahre an
neuen Fischen.
Fabriken giebt es hier nur sehr wenige, weil der ge-
meine Mann sich das, was er gebraucht, selbst macht. Wis-
senschaften und Künste werden sehr geschätzt, und Bildung ist
ziemlich allgemein verbreitet.
Die andere Gattung von Einwohnern sind die Lappen,
die man hier allgemein Finnen nennt. Von ihren Eigenthüm-
lichkeiten haben wir schon bei Schweden gesprochen. Sie sind
von den Normannen: sehr verachtet, und will man gegen Je-
manden seine tiefe Verachtung ausdrücken, so sagt man: „Ich
achte ihn nicht mehr als einen Finnen!" und oft hört man
sagen: „Ein Finne ist nicht mehr werth als ein Hund!"
Das rührt theils her von der tiefen Unwissenheit dieses Volks,
dem fast alle Cultur fremd ist, theils von der rasenden Wuth
der Lappen, sich in Branntwein zu betrinken. Sobald diese
Leute nur das Geringste verdient haben, so gehen sie zum
nächsten Kaufmann, und betrinken sich, so daß sie ohne Be-
sinnung vor den Thüren herumliegen, oder halb sinnlos nach
Hause taumeln. In der Regel vertrinken sie mehr als sie
haben, und lassen ihre Schuld in das Buch des Kaufmanns
schreiben, so daß sie immer in den Händen dieses Mannes
bleiben; denn sie sind viel zu sorglos, um sich aus dieser Ab-
hängigkeit durch Abzahlung zu reißen, sondern machen neue
Schulden, bis sie dem Kaufmanne alle ihre Grundstücke über-
lassen müssen, und höchstens als Pächter darauf bleiben, so
daß diese Kaufleute eine rechte Plage für das arme Volk sind.
Ein Reisender erzählt: „Während meines Aufenthalts in Rör-
aas hatte ich das Vergnügen, ein paar Lappländer mit ihren
Rennthieren zu sehen. Die Lappen lassen sich zuweilen in Ndraas
sehen, um hier gegen ihre Producte: Nennthierhäute, Nenn-
thierkäsc u. dergl., andere Waaren, zumal Salz, Branntwein
438
Das Königreich Norwegen.
und Taback einzutauschen. Sie kamen in ihren mit Nennthieren
bespannten, kahnähnlichen Schlitten, in welchen sie mit dem
größeren Theile des Körpers unter darüber befestigten Fellen
ausgestreckt liegen, und in denen sie auf eine sehr geschickte
Weise durch die Lage ihres Körpers das Gleichgewicht zu er-
halten verstehen, an. Bald darauf geriethen sie durch Brannt-
wein, den sie sich zu verschaffen wußten, in einen so hohen
Grad von Trunkenheit, daß nichts mit ihnen anzufangen war.
In diesem Zustande blieben sie bis zur Abfahrt. Von dem
eingetauschten Branntwein sollen sie selten etwas mit in ihre
Hcimath bringen."
Das Nennthier, das ihr Eins und Alles ist, leistet
ihnen zwar auf dem Schnee große Dienste, steht aber als
Zugvieh dem Pferde weit nach. Es ist ein schwaches und zu-
gleich tückisches Thier, welches mit großer Kunst und Vorsicht
behandelt werden muß. Nur in der ersten Viertelstunde zieht
es den Schlitten mit außerordentlicher Geschwindigkeit, aber
dann laßt es nach, und lauft weit langsamer als ein Pferd.
Im Sommer werden die armen Thiere von den Mücken ent-
setzlich gequält. Diese Insecten erheben sich wie Wolken vom
Boden, und fallen über Menschen und Vieh mit einer wahren
Blutgier her. Man pflegt daher auch wohl große Nauchfeuer
zwischen den Nennthieren und Kühen anzumachen, um die Mü-
cken zu verscheuchen, und die Thiere laufen manchmal gerade
ins Feuer hinein, um sich nur vor den Stichen der Insecten
zu retten.
Daß Norwegen mit Schweden einen König habe, ist
schon gesagt worden. Aber es hat seine eigene Verfassung.
Das Volk wird vertreten durch eine Versammlung, die der
S t o r t h i n g (großes Gericht) heißt. Cr besteht aus zwei Kam-
mern: dem Lagthing (Oberhause) und dem Odelsthing
(Unterhause). Der Storthing hat das Recht, Gesetze vorzuschla-
gen. Unterschreibt der König einen solchen Gesetzvorschlag nicht,
so bleibt er zwar liegen; wird derselbe aber bei der nächst zweiten
Versammlung des Storthing wieder vom Storthing genehmigt,
so wird er ein Gesetz, auch ohne daß der König ihn genehmigt.
Der König kann auch Gesetze vorschlagen; aber cs hängt vom
Storthing ab, ob dieser den Vorschlag genehmigen will. Alle
DaS Königreich Norwegen.
439
drei Fahre wird ein neuer Storthing ausgeschrieben. Inden,
Jesuiten und Mönche dürfen sich in Norwegen gar nicht auf-
hatten ; auch hat der Adel nicht die geringsten Vorrechte.
Alle Abgaben hängen nur allein von der Bestimmung des
Storthings ab.
Man theilt das Land ein in die vier Stiftsämter: Chri-
stiania, Christians fand, Bergen und Drontheim,
und in das Nord land, dessen nördlichster Theil Fi »mar-
ke n heißt.
1. Stiftsamt Christiania.
Darunter versteht man den südöstlichen Theil des König-
reichs, der von derSüdküste bis nach Nöraas längs der schwe-
dischen Gränze sich hinaufzieht, aber nicht westlich bis an das
Meer reicht. Wenn man von Schweden aus kommt, und
an dem südlichsten Ende in Norwegen eintritt, so kommt
man über den Sv ine fund, der hier die Gränze macht.
Sogleich bemerkt man den auffallenden Unterschied beider Län-
der. In Norwegen bemerkt man eine reichere Fülle des Pstan-
zcnwuchses, malerisch mit Bäumen umgebene Bauerhäuscr über
einen wellenförmig, trefflich angebauten Boden hingestreut, ei-
nen Anstand der Einwohner, der von Zufriedenheit und Wohl-
stand zeugt, und nette, anständige Kleidungen. Die erste
Stadt, auf die wir dicht an der Gränze stoßen, ist
Friedrichshall oder Fr ied rich s h ald. Sie ist klein
und unbedeutend. Aber an ihrer Ostscite erhebt sich ein steiler
Fels, auf welchem das Schloß Friedrichsstein liegt. Dies
belagerte Karl XII. im Fahre 1718, als er unerwartet seinen
Tod fand *).
Auf dem Wege von hier bis nach der Hauptstadt Norwegens
Christiania kommen wir zuerst über den Glommen, und dann
fahren wir längs dem Christianssund hinauf, Berg auf und
Berg ab, durch lauter Tannenwald, quer durch wunderschöne
Thäler, über einen so schönen Rasenteppich hin, als wenn
man in England wäre. An der Mündung des Glommen em-
*) S. mein Lehrb.
Th. 3., S. 256.
der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2tc Ausg.,
440
Das Königreich Norwegen.
pfangt uns ein fürchterliches Geklapper von mehr als 20 Sa-
gemühlen. Das Rauschen des fallenden Wassers, das Krei-
schen der Sagen, dazu das Pochen eines großen Eisenwerks
und das Brausen der ungeheuren Blasebälge machen ein so
betäubendes Geräusch, daß man sein eigenes Wort nicht hö-
ren kann. Hier sehen wir die beiden Producte bei einander,
die dem südlichen Norwegen seinen Reichthum geben: Bretter
und Eisen. Endlich erreichen wir den letzten Berg vor
Christiania. Welch ein Anblick empfängt uns hier! Wir
glauben uns plötzlich in den Suden Europa's versetzt, an die Ufer
deS Genfcrfees. Zu unsern Füßen liegt die Stadt, wie sie sich
mit ihren stündlichen Häusern, ihren Gärten und Gartengebäuden
um die Spitze des Meerbusens herum zicbt. Zn demselben eine
Menge kleiner Inseln, mit Waldung, Wiesen und Wohnungen
bedeckt. Im Hintergründe amphitheatralisch aufsteigende Gebirge,
deren graue Formen in den Horizont hinausragen. Dies alles ist
belebt von unzähligen Schiffen, die theils an der Stadt, theils
an den kleinen Inseln liegen, theils ab- und zufahren. Man
würde Genf und den schönen See zu sehen glauben, gäben nicht
die Inselchen und die vielen Schiffe Christiania einen Reiz, der
dem Genfersee fehlt. Kommt man obendrein an einem der schö-
nen Morgen oder Abende an, die hier so häufig sind, so macht
die Herrlichkeit der Landschaft einen unbeschreiblichen Eindruck auf
das Gemüth des Reisenden. In der Stadt, die etwa 25,000
Einwohner zählt, sehen wir zwar keine ansehnlichen Prachtgebäu-
dc, aber die Häuser sind sauber, zwei Stockwerk hoch, dieStra-
ßen breit und schnurgerade, und nur die Brunnen, die sich auf
allen Kreuzwegen finden, fallen sonderbar auf. Besonders lieblich
aber sind die Gärten und Landhäuser, die wir rings herum auf
allen Hügeln und an den Gestaden des Meerbusens sehen. Mau
vergißt hier ganz, daß man sich in einem nördlichen Lande befin-
det, und wirb an das Vaterland der Orangen und Citronen ge-
mahnt. Die Stadt hat eine Universität, die einzige des Landes.
Das Hauptgewerbe aber ist Handel. Wegen der vielen Fremden
ist daher auch der gesellige Ton anders als im übrigen Norwegen.
Besonders fällt die Vernachlässigung des weiblichen Geschlechts
unangenehm auf. Es ist fast bloß auf die häusliche Wirthschaft
beschränkt. Zu den Schmäusen werden in der Regel nur die
Männer geladen, und sieht man sie in Gesellschaften, so sitzen
sie still neben einander, mit ihren Arbeiten beschäftigt, und nä-
hern sich den spielenden, und in Tabacksrauch gehüllten Männern
nur dann, wenn sie das Abendessen herumtragen. Daher fehlt
die eigentlich bildende und wohlthuende Geselligkeit, wo Männer
und Weiber gemischt erscheinen, und wodurch jene an Anstand,
Das Königreich Norwegens 441
diese aber an Kenntnissen und Ideen gewinnen \ hier fast ganz.
Dagegen sind die Einwohner auch hier ungemein gastfrei. Das
größte Leben ist hier im Winter, wenn der Sund mit glattem Eise
oder Schnee bedeckt ist. Dann fährt alles zu Schlitten. Die
Landleute bringen ihre Producte auf einem hinter sich her gezo-
genen Schlitten nach der Stadt. Auf dem Sunde fahren die
jungen Leute mit ihren Rennschlitten um die Wette, und selbst
Damen sieht man, das Gesicht von den schönsten Farben der Ger
sundheit belebt, auf einem Schlitten, den sie selbst fahren, Mor-
gcnbesuche abstatten. Ganz besonders häuslich und wirthlich sind
hier, wie überall in Norwegen, die Hausfrauen. Denn da eS
keine regelmäßigen Markttage giebt, so müssen sich die Familien
im Herbste für den ganzen langen Winter mit Vorräthen verser
hen. Alle ihre Gedanken richten sich daher, freilich zum Schaden
ihres Geistes, auf diese zwar wichtigen, doch kleinlichen Sorgen,
und der freie Austausch der Gedanken und Empsindnngcn zwischen
Mann und Frau fällt daher hier weg, wo die Frauen nur von
der Wirthschaft sprechen können. Wird eingeschlachtet, Seife ge-
kocht, werden Lichter gegossen, so legen die vornehmsten Damen
Hand an, und das ist brav. Nur ist zu bedauern, daß nicht
zugleich auch der Geist angebaut wird.
2. Stiftsamt Christiansand
nimmt den südwestlichen Theil des Landes ein. Die Haupt-
stadt ist
Christi an fand, ein gar freundlicher Ort. Die Straßen
sind groß, breit und höchst regelmäßig, aber statt des Pflasters
in der Mitte mit tiefem Sande bedeckt. Die Häuser stehen nur
einzeln, durch große Gärten getrennt, und darum sind die Strar
ßen fast endlos; aber sie sind sehr nett und freundlich. Der Hafen
der Stadt ist der Zufluchtsort für alle die Schiffe, welche im Katte-
gat von Stürmen überfallen werden, und Masten, Steuer, Segel
und Taue verloren haben. Daher leben die Einwohner meist vom
Verkauf dieser Gegenstände, und selten wird es hier leer von be-
schädigten Schiffen. Auch werden auf den hiesigen Werften sehr
viele Schiffe gebaut.
3. Stiftsamt Bergen
liegt nördlich vom vorigen, und westlich vom Stiftsamt Chri-
stiania, also längs des Westküste. Die Hauptstadt
Bergen ist die größte Stadt des Königreichs, etwas grö-
ßer als Christiania. Die Nettigkeit der Häuser, die fast alle
442
DaS Königreich Norwegen.
weiß angestrichen sind, wogegen die rothen Ziegeldächer gut abste-
chen, fällt selbst in Norwegen auf, wo doch alle Städte reinlich
zu seyn pflegen. Besonders hübsch nehmen sich die schön aufge,
putzten Vorhänge hinter den klaren Krystallscheiben aus. Auf den
Straßen ist wegen des sehr starken Handels ein reger Verkehr, be-
sonders von Engländern. Eine auffallende Erscheinung sind die
vor allen Thüren stehenden, meist zierlich bemalten Tonnen, in
denen die Hauseigenthümer für den Fall einer Feuersbrunft im,
mer Waffer halten müffen. An allen Häusern steht auch der Na,
me der Bewohner, oft mit Blumen verziert, mit Gold auf Glas
gemalt. Es soll in Norwegen keine Stadt geben, wo es so viel
regnete wie hier. Daher sieht man auch Keinen ohne Regens
schirm vor das Thor gehen. Hier wird das Klima überhaupt
schon rauher. Der Sommer sängt hier eigentlich erst im Juli
an. Im Mittelalter, zur Zeit der Hansa, war Bergen ein
Hauptcomptoir dieses mächtigen Bundes, und gewiß viel größer
als jetzt *).
4. Stiftsamt Drontheim
liegt nördlich von den Stiftsämtern Bergen und Chrkstiam'a.
Die erste Stadt, auf die wir stoßen, wenn wir von Christia-
nia kommen, ist die wichtige Bergstadt
Roraas, nahe an der schwedischen Gränze, ganz im Ge,
birge. Hier sind die wichtigsten Kupfcrgruben Norwegens, und
alles lebt hier für den Bergbau und von demselben. Man sieht
nichts als Bergleute oder Hüttenbeamte. Besonders erfreulich ist die
Einfachheit, Sittenreinheit und Religiosität, die man an diesem
abgeschiedenen Orte viel mehr findet, als in den Seestädten.
Während die Männer ihren Berufsgeschäften nachgehen, beschäfti-
gen sich die Frauen und Töchter mit den häuslichen Arbeiten, zu de-
nen ganz besonders auch die Weberei wollener Zeuche gehört. Luxus
findet man hier gar nicht; nur aufs Essen und Trinken wird, wie
überall im Norden, viel gewendet. Nordwestlich von Nöraas liegt
die Hauptstadt des Stiftsamtes,
Drontheim, an einem tief ins Land gehenden Meeresarm,
in einer reizenden Lage, fast wie Christiania. Die Häuser sind
zwar alle von Holz, aber doch sehen sie sehr hübsch aus, weil
die Einwohner die Außenseite der Bretterwände auf irgend eine
Weise verzieren. Die Stadt hat die schönste Kirche Norwegens,
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, ^2te Ausg.,
Th. 2., S. 130. Auch meine Geschichte der Deutschen für höhere Töch-
terschulen, Th. 1., S. 421.
Das Königreich Norwegen.
443
einen großen alten ehrwürdigen Dom, der in früheren Zeiten ein
berühmter Wallfahrtsort war. Sie ist aus einem grünlichen
Topfstein und aus Marmor erbaut, eine seltene Erscheinung des ho-
hen Nordens. Die Stadt treibt vielen Handel mit dem Kupfer von
Röraas und mit Fischen. Besonders berühmt ist die Treuherzig-
keit und Gastfreiheit der Einwohner, selbst unter den gastfreien
Norwegern. Nicht weit von Drontheim liegt der kleine Ort
Värdals, wegen seiner schönen, weichen Handschuhe be-
rühmt, die besten, die man irgendwo bekommt.
5. Nordland
ist ein langes, schmales Küstenland, das sich zwischen dem
Meere und den Kjölcn nach Norden bis zu der nördlichsten
Gränze Schwedens hinaufzieht. Hier erst fängt Finmarken an.
Das Land ist sehr wenig bewohnt; man kann lange reisen,
ehe man auf einen bewohnten Ort stößt. Hier kommen Fin-
nen (Lappen) und Quäner schon viel vor. Von Städten kann
hier nicht die Rede seyn; denn das, was man hier eine
Stadt nennt, würde bei uns kaum ein Dorf genannt wer-
den. Rennthicrzucht und Fischerei sind hier fast die einzigen
Nahrungszweige. Hierher gehört die Inselgruppe der Lo so-
ben. Vom Lande aus gesehen, erscheinen sie wie eine
hohe, schneebedeckte Gebirgskette, die sich in die Weite
des Meeres verliert; denn sie enthalten mit die höchsten
Berge Norwegens. Daß besonders bei der 2nsel Vaage reiche
Fischerei getrieben wird, ist schon oben gesagt worden. Die
meisten Familien des Nordlandes leben ganz einzeln für sich.
Wo zwischen den kahlen Bergen irgend ein grasreicher Fleck
gefunden wird, da baut sich eine Familie ihre Hütte. So
wohnen sie oft mehrere Meilen von einander entfernt, und
der langdauernde Winter hebt jede Verbindung unter ihnen
auf, so daß sie ganz auf sich selbst beschränkt sind. Dadurch
entsteht aber ein fester, selbstständiger, freiheitsliebender Cha-
rakter; ihre Begriffe von Glückseligkeit beschränken sich bloß
auf häuslichen Frieden und Wohlstand. Wer wollte diese
einfachen Naturmenschen bei aller ihrer Beschränktheit nicht
glücklich preisen?
444 > Das Königreich Norwegen.
6. Fin marken
ist der allernördlichste Theil Norwegens, der sich über Schwe-
den hinlagcrt. Hier wohnen meist nur Finnen (Lappen) in
großer Armuth. In den kältesten Wintermonaten sieht man
hier keine Sonne mehr; selbst Mittags ist nur Dämmerung.
Dafür steht aber auch in den Sommermonaten die Sonne
selbst Nachts über dem Horizonte. Der Hauptort ist
Altengaard, unter dem man sich freilich keine unsrer
Städte denken darf, nur aus einigen Häusern bestehend, aber in
einer reizenden Lage, mitten in einem Fichtenwalde, durch den
viele schöne Gänge gehauen sind, so daß man sich in den Bcrtir
ner Thiergarten versetzt glaubt, und sieht man hinab nach dem
tiefen Meerbusen, an dem es liegt, wo sich im Sommer eine
Menge Schiffe aufhalten, die Fische holen und Kaufmanuswaar
ren zum Umtausch bringen, so glaubt man eine italienische Ge-
gend zu sehen oder einen Schweizersce vor sich zu haben. So
hat auch im hohen Norden die Natur im Sommer ihre großen
Reize. Hier ist der nördlichste Korn bau der Erde. Noch
nördlicher liegt
Hammerfest. Die ganze Stadt, die nördlichste der Erde,
besteht aus — 9 Häusern, also gewiß eine der kleinsten, wo
nicht die allerkleinste. Im Sommer kommen russische Schiffe
hierher, und tauschen gegen ihre Produete Fische ein. Die Lage
ist so rauh, daß bei plötzlichen einbrechenden Stürmen und bei
Schneegestöber die geringste Entfernung von den Wohnungen
schon lebensgefährlich ist, und Leute, die aus dem 1 Viertelstunde
entfernten Busche Holz holten, das Leben eingebüßt haben.
Endlich erreichen wir die nördlichste Spitze von Norwe-
gen, ja von ganz Europa:
Die Insel Mageröe, auf welcher sich das Nord ca p
befindet. Welche wilde, rauhe Gegend! Wie langdaucrnd ist
hier der Winter! Wie schnell vorübergehend der Sommer!
Erst im Juni thaut oft der Schnee weg, im August erst
schwinden die letzten Schnceflccke, und nun öffnen sich alle
Blumen dieses nördlichen Klima's. Die Mücken sind dann
sogleich da, und in solcher Menge, daß man sich gar nicht
vor ihnen zu schützen weiß. Wenn man auch mit Birken-
reifern wedelt, so kann man doch nicht hindern, daß sie sich
ins Gesicht setzen, und man schluckt mit jedem Athemzuge ei-
nige hinunter. Die Farbe der Mützen und Kleider wird durch
sie unkenntlich, weil eine neben und über der andern sitzt, und
Das Königreich Norwegen.
445
nur durch dicke Rauchwolken kann man sich einigermaßen vor
ihnen retten. Die Winter sind zwar kalt, aber das Schlimmste
sind die winterlichen Stürme. Ihre Wuth ist über alle Be-
schreibung. 'Wie rasend stürzen sie vom Meere her. Alles
ge rath dann in Bewegung; kein Laut, keine menschliche
Stimme ist vor dem Brüllen des Sturmes hörbar. In
dumpfer Erwartung sucht man sich mit doppelten Kleidern
und mit Pelzen gegen die Kälte zu verwahren; nur mit dem
Wenigen, was man in der Nähe hat, kann man sich den
Hunger vertreiben: denn aus dem Hause kann dann Niemand
gehen; kein Feuer brennt, und nur mit Mühe erhält sich
das zitternde Haus. Wer sich heraus wagte, wäre in Ge-
fahr, in die brausende See geschleudert zu werden. Die ein-
zigen wilden vierfüßigen Thiere sind hier wilde Rennthiere und
Hermeline. Bären und Wölfe, die sonst in Finmarken
sehr häufig sind, kommen wegen der Breite des Wassers
nicht auf die Insel. Kühe und Schafe hält sich jeder Einwoh-
ner. Auf eine merkwürdige Art verschafft man sich während
des Winters das Futter für diese Thiere. Die. Einwohner
kennen nämlich die Stellen am Abhange der Felsen, wo auf
der dünnen Erdschichte Gras zu wachsen pfiegt. . Da dies
nun auch im Winter unter der Schneedecke fortwächst, so
gräbt man mitten im Winter den Schnee auf, und zieht das hohe
frische Gras hervor. Aber diese Arbeit ist nicht ohne Ge-
fahr, da diese Plätze unter den steilsten Felsen zu seyn pfle-
gen, von denen bei der geringsten Bewegung der Luft Lauwi-
nen herabstürzen können. So schickte einst ein Lappe seine
beiden Söhne, kleine Knaben, anderthalb Meilen weit nach
solcher Stelle hinaus, Gras zu holen. Sie kratzen den
Schnee auf, füflen ihre Netze mit Gras, und eilen zurück.
Aber auf dem Heimwege stürzt eine Lauwine herab und be-
gräbt beide. Ihr vorausgelaufener Hund sicht sich um. Und
da er die Kinder nicht mehr sieht, eilt er zurück, und scharrt
so lange in dem Schneehaufen, bis er den einen Knaben er-
reicht, der sich nun durch Hülfe des Hundes herausarbeitet.
Jetzt sucht der Gerettete seinen Bruder, aber an einer un-
rechten Stelle. Der Hund wird durch seinen Instinkt richti-
ger geleitet; er findet die rechte Stelle, scharrt unaufhörlich
446
Das Königreich Norwegen.
fort, und kommt endlich bis zu dem Kinde, das auf dem
Bauche liegt, und nicht vermögend ist, sich selbst zu helfen.
Ein dortiger Einwohner hatte einmal seinen ganzen Wintcr-
vorrath verfüttert, und wußte sich nicht anders zu helfen,
als daß er seine Schafe ins Freie trieb, und da überwin-
tern ließ. Und siehe! sie erfroren und verhungerten nicht, son-
dern kamen im Frühjahre wohlgenährt zurück: denn sie hatten
das fette Gras aus einer haushohen Schneedecke hervorgescharrt.
So nährt Gott jedes Thier; und er sollte den Menschen, der
das Seinige thut, verhungern laffen?
Die nördlichste Spitze der Insel bildet also das be-
rühmte Nordcap. Schroff ragt der Felsen in die See hin-
ein. Mit Mühe kann man ihn von der Seite erklettern;
oben ist er platt. „Kaum läßt sich das Gefühl der Einsam-
keit und Verlassenheit ausdrücken," sagt ein Reisender, „das
mich hier oben befiel, wo entfernt von menschlicher Theil-
nahme und Hülfeleistung, nur das Gebraust des von Westen
heranbringenden Weltmeers und einzelne Laute der Seevögel
verriethen, daß das Leben in der stummen Wüste noch nicht
ganz erloschen sey." Blickt man nach dem Innern der In-
sel, so sieht man meilenweit nichts als die ungeheuersten Fel-
sentrümmer wild durch einander liegen, ein grauenhaftes Bild
der Zerstörung, Felsen auf Felsen.
Oestlich von Mageröe ist die Insel
Wardöe, merkwürdig, weil sie die nördlichste Festung
der Erde enthält. Auf dieser unwirthbaren Insel wird in ei-
ner kleinen Festung eine norwegische Besatzung unterhalten.
Wie einsam mögen sich diese Unglücklichen fühlen, die oben-
drein mehrere Jahre da zubringen müssen, ehe sie abgelöst
werden, selbst im Sommer sind hier manche Tage sehr kalt,
und der Winter ist so streng, daß er alle Gemeinschaft un-
terbricht, oft sogar von einem Haust zum andern. Die Luft
dringt durch die bestverwahrten Fenster. Die Festung wird
Wardöehuus genannt.
447
—
DaS Königreich Preußen.
Das Königreich Preußen.
Von den preußischen Besitzungen in Deutschland haben
wir oben (im ersten Theile) geredet. Hier haben wir die
drei preußischen Provinzen nachzuholen, die außer Deutschland
liegen: Ostpreußen, Westpreußcn und Posen.
Boden: Es ist ein durchaus ebenes Land, und nicht
zu zweifeln, daß es sonst mit Meerwasser bedeckt war. Da-
her ist es auch zum Theil sandig; doch ist der Boden meist frucht-
bar, und wegen der schwachen Abdachung nach der Ostsee
sehr wasserreich. Besonders in dem südöstlichen Theile giebt
cs viele, zum Theil große Seen. Hier ist auch der Boden
noch mit großen Waldungen bedeckt. Am bedeutendsten ist
die sogenannte Johannisburger-Wildniß, ein fast 12 Meilen
langer Wald.
Klima: Die nördlichere Lage, die Seen und Wal-
dungen machen die Luft etwas rauher als in Deutschland;
indessen wird die Kälte auch durch die Nähe der See gemil-
dert, so daß der Unterschied zwischen Norddeutschland und
Preußen nicht bedeutend ist. In den Gegenden an der See
ist die Luft feucht; Nebel und Stürme kommen oft vor.
Gewässer: Die Ostsee bildet an der preußischen Küste
drei Meerbusen.
1. Das cu rische Haff. Es ist das nördlichste und
größte, und wird durch eine sehr lange und schmale sandige
Landzunge, die cu rische Nehrung, von der See getrennt.
Der Eingang zum Haff ist bei der Stadt Memel.
2. Das frische Haff. Es liegt südwestlich vom vorigen,
und wird durch die frische Nehrung von dem Meere ge-
schieden. Der Eingang zu diesem Haff ist bei der Festung
Pillau.
3. Das putziger Wiek oder Pautzker-Wiek, west-
lich vom vorigen. Es ist das kleinste, und nach dem Meere
zu offener als die beiden Haffe. Es wird gebildet durch die
Landzunge von Hela. So heißt das Fischerdorf, das
sich auf der Spitze der Landzunge befindet.
Unter den vielen Landseen ist der bedeutendste der Spir-
dingsce in Ostpreußen.
448
DaS Königreich Preußen.
Der Hauptfluß ist die Weichsel. Sie kommt aus dem
österreichischen Schlesien, stießt in einem halben Bogen durch
Polen, und entläßt in Westpreußen einen Seitenarm, die
Nogat, nach dem frischen Haff. Der Hauptstrom aber
seht seinen nördlichen Lauf fort, und geht unweit Danzig bei
Wcichselmünde in die Ostsee.
Die übrigen Flüsse sind nur Küsten- oder Nebenflüsse. Von
der Weichsel östlich ist
1. Die Passarge. Sie stießt von Süden nach Norden
nicht weit von Braunsberg ins frische Haff.
2. Der Pregel. Er entsteht aus drei Flüßchen, die
sich bei Insterburg vereinigen, und fallt bald hinter Königsberg ins
frische Haff, nachdem er links die Alte aufgenommen hat.
3. Die Memel oder der Niemen kommt aus Rußland,
und fallt ins curische Haff.
Westlich von der Weichsel, in der Provinz Posen, ist
4. Die Wartha. Sie kommt aus Polen, und eilt der
Oder zu, in welche sie bei Küstrin fallt. Sie nimmt
rechts (nördlich) die Netze auf. Diese Netze ist durch den
Bromberger Canal mit dem Flüßchen Brahe verbun-
den, das links in die Weichsel geht, und dadurch ist also
eine Verbindung zwischen der Weichsel und Oder bewirkt
worden. Wie? kann auf der Karte leicht nachgesehen werden.
Producte: Außer dem den ebenen Gegenden eigenen
Getreide, das von hier viel nach den nördlichen Landern
Europas ausgeführt wird, ist Preußen besonders reich an
Holz, daS in großer Menge zu Stabholz geschnitten wird,
aus dem die Engländer ihre Fässer und Tonnen machen. An
F- i sch e n ist großer Ueberstuß. Ein diesem Lande fast eigen-
thümliches Product ist der Bernstein, von dem wir schon
bei Pommern gesprochen haben. Der meiste wird in Kö-
nigsberg und Danzig verarbeitet. Von wilden Thieren ist
hier auch der Biber zu merken, der noch hier und da in
den menschenleeren Gegenden von Ostpreußen, an den Seen,
gefunden wird. Auch Luchse, Wölfe, sogar Clcnthiere kom-
men da vor.
Einwohner: Die meisten sind Deutsche mit deutscher
Sprache, ein sehr biederer Schlag Menschen, besonders in
Das Königreich Preußen.
449
Ostpreußen, wo man eine Herzlichkeit und Gemüthlichkeit fin-
dit, die man in Deutschland oft schmerzlich vermißt. Im süd-
östlichen Theile von Ostpreußen leben noch viele Lithauer, die
ihre eigene Sprache und ihre eigenen Sitten haben, und in
der Bildung hinter den deutschen Bewohnern sehr zurückstehen.
In dem südlichen Theile von Westpreußen und besonders in
Posen sind meist Polen, mit polnischer Sprache, auch in
der Cultur mit den Deutschen nicht zu vergleichen. Die
meisten deutschen Einwohner bekennen sich zur lutherischen, die
Polen zur katholischen Kirche. Durch gute Schulen ist für
die Bildung gesorgt, und sie nimmt von Jahr zu Jahr mehr
zu. Auch hier sind die Provinzen, wie in den übrigen Lan-
dern des preußischen Staates, in Regierungsbezirke getheilt.
1. Die Provinz Ostpreußen.
Wir gehen die Städte von Westen nach Osten durch.
Hart an der Gränze von Westpreußen, am frischen Haffe,
liegt das Städtchen
Frauenburg. Der Ort erinnert uns an den berühmten
Astronomen Nicolaus Kopernikus, der hier als Kanonikus
1543 starb*). Wir besuchen in der Domkirche sein Grabmal.
Auch steht hier noch die große Wasserkunst, die er anlegte, und
die in einem alten Thurme befindlich ist, der die Stadt mit
Wasser versieht. — Am Eingänge des frischen Haffes liegt
Pi l lau, ein freundliches Fischer - und Schiffcrstädtchen,
und nahe dabei eine kleine Festung. Die großen Seeschiffe, die
nach Königsberg Waaren bringen, werden hier zum Theil ausgcr
laden, weil sie sonst nicht bis zu jener Stadt gelangen können.
Auch wohnen hier viele Lootsen, die den ankommenden Schiffen
entgegen fahren, und sie in den Hafen führen. Die Halbinsel,
auf welcher Pillau liegt, wird das preußische Paradies
genannt. Wirklich ist auch die Gegend hier recht angenehm, be-
sonders in dem herrlichen Buchenwalde, der von den Königsber-
gern fleißig besucht wird.
Königsberg ist der Sitz der Landescollegien und also die
Hauptstadt des Landes, am Pregel, eine halbe Meile von deffen
Mündung ins Haff. Sie hat etwa 70,060 Einwohner, und ist
zwar nicht schön, sondern etwas altmodisch gebaut, doch ist sie
m^^chichte der Deutschen für höhere Töchterschulen Th. 2.,
S.^ 158, wo mehr über ihn gesagt ist.
Nösselts Geographie II. 29
450
Das Königreich Preußen.
freundlich. Am schlechtesten ist die Altstadt; der L oben ich t,
ein anderer Stadttheil, liegt an und auf einem ziemlich steilen
Berge. Am schönsten gebaut ist der Kneip Hof auf einer Insel
des Pregel und die Neustadt. Dazu kommt noch, außer vie/
len Vorstädten, das königliche Schloß, die Friedrichs bürg,
auf einem Berge, mit Wällen und Graben umgeben. Vor dem
Schlöffe steht eine Bildsäule Friedrichs I, der hier gekrönt
wurde, von Bronze. Das schönste Gebäude der Stadt ist aber
wohl daß Schauspielhaus. In Königsberg ist eine Universität.
Die meiste Nahrung verschafft den Einwohnern der Handel. Ne/
ben der Stadt sind Schifföwerfte, auch lange Reihen von Spei/
chern zur Aufnabme der Kaufmannswaaren. Schön ist der An/
blick der vielen Seeschiffe, die an den Kaien vor Anker liegen.
Südlich von dieser Stadt ist
Preußisch-Ei lau, ein unbedeutender Ort, aber berühmt
wegen der hier 1807 gelieferten blutigen Schlacht zwischen Napo/
Icon einer/ und Alexander und Friedrich Wilhelm III. anderseits,
in welcher beide Theile fürchterlichen Verlust erlitten, so daß der
Sieg unentschieden blieb*). Oestlich von da liegt das Städtchen
Fried land an der Alle, auch durch eine Schlacht be-
rühmt, in welcher die Russen von Napoleon 1807 eine Nieder/
läge erlitten**). Gerade nördlich von Friedland, hoch oben,
jenseits des curischen Haffes, ist
Memel, an der Einfahrt ins Haff, in einer öden trauri/
gen Gegend. Die Stadt hat einen kleinen Hafen, und einen
lebhaften Handel, am meisten mit Holz nach England. Spazier/
gänge giebt cs hier nicht, und die Einwohner müssen sich
mit der Lindenstraße begnügen, die mit 4 Reihen Linden bepflanzt
ist, und von ihnen fleißig besucht wird. Dafür sind aber die
Fische hier ganz köstlich.
Tilsit liegt südlich von Memel, ein freundliches Städtchen
am Niemen, bekannt durch den Frieden, den nach der Nieder/
läge bei Friedland Alexander I. und Friedrich Wilhelm HI.
mit Napoleon 1807 schloffen***). Südlich von Tilsit liegt, in
gleicher Breite mit Königsberg,
Insterburg, da, wo der Pregel seinen Namen erhält.
Oestlich davon
Gumbinnen, eine kleine Stadt, der Sitz einer Re,
gierung.
*) S. meine Gesch. der Deutschen für Töchterschulen, Th.2., S. 559.
Auch mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te
Ausg., Th. 3., S. 401.
**) S. ebendaselbst Th. 2., S- 561 und mein Lehrb. der Weltge-
schichte für Töchterschulen, 2te Ausg., Th. 3., S. 401.
***) S. ebendaselbst Th. 2., S. 561. und mein Lehrb. der Weltge-
schichte für Töchterschulen, 2te Ausg., Th. 3., S. 40.1.
Das Königreich Preußen. 451
2. Die Provinz Westpreußen.
Wir bereisen die Städte von Norden nach Süden.
Nahe am Ausflüsse der Weichsel finden wir die wichtige
Seestadt
Danzig, die Hauptstadt von Westpreußen', eine ansehnliche
Stadt von fast 60,000 Einwohnern. Sie ist eine starke Fe-
stung, alterthümlich gebaut, und treibt einen sehr wichtigen See-
handel , besonders nach England und nach dem Norden. In der
neuern Zeit hat sie durch Belagerungen und andere Unglücksfäl-
le sehr gelitten; auch ist der Handel nicht mehr in dem Flor
wie ehedem; doch immer noch so ansehnlich, daß sie zu den er-
sten Handelsstädten des preußischen Staats gehört. Berühmt ist
der sogenannte Danziger Lachs, das ist der hier bereitete Brannt-
wein, dessen sonst berühmtester Verfertiger das Zeichen eineß
Lachses über seinem Hause hatte. Eine gute Meile westlich ist
Kloster Oliva, einst eine reiche Abtei, wohin ein herrli-
cher Baumgang führt. Nahe dabei ist der Hauptvergnügungsort
der Danziger, der Karlsberg, von dem man eine herrliche
Aussicht über die See genießt. Der Hafen von Danzig heißt
Neufahrwasser, ein Städtchen an der Mündung der
Weichsel. Gegenüber liegt die kleine Festung
Weichselmünde. — Von Danzig südöstlich ist
Elbing in einer sehr fruchtbaren, aber sumpfigen Nie-
derung, die ganz von Kanälen und Graben durchschnitten ist.
Die Stadt hat lebhaften Schiffbau und Scehandel. Denn ob
sie gleich weder an der See noch an einem Strome liegt, so ist
doch das Flüßchen, an dem sie liegt, breit und tief genug für
kleine Seeschiffe. Südwestlich davon liegt
Marienburg (nicht zu verwechseln mit einem Städtchen
gleiches Namens in Liefland), an der Nogat. Das Städtchen
hat eine Merkwürdigkeit: Das alte Schloß der deutschen Ordens-
ritter, deren Hauptstadt Marienburg war*). Dies alte, ehr-
würdige Ordenshaus ist erst seit einigen Jahren vom Schutte ge-
reinigt und wieder unter Dach gebracht worden, so daß man jetzt
die langen Gänge, die ungeheuern Hallen und die himmelanstre-
benden Pfeiler bewundern kann. In einer Nische an der Ordens-
kirche steht eine riesenmäßige Bildsäule der Maria mit dem Je-
suskinde aus Stein - und Glasmosaik gemacht, die beim Scheine
der Sonne weithin leuchtet. Auch sind die herrlichen, erst ganz
neuerlich gemalten Fensterscheiben bemerkenswerth. — Gehen wir
*) S. meine Geschichte der Deutschen für Töchterschulen, Th. 1.,
S. 335. Auch meine Weltgeschichte für Töchterschulen, Th. 2., S. 105.
29 *
452
Das Königreich Preußen.
von hier südwärts, die Nogat aufwärts, und dann die Weichsel
entlang, so finden wir
M ari en we rd er, eine halbe Meile vom Strome entfernt. Sie
ist der Sitz einer Negierung, schlecht gebaut und unbedeutend.
Nahe bei der Stadt ist die fruchtbare, aber in neuerer Zeit oft
überschwemmte marienwerdersche Niederung. Die Weichsel
weiter aufwärts gehend, kommen wir nach
Graudenz. Hier unterscheiden wir die Stadt und die eine
Viertelstunde davon entfernte Festung. Skadt s Graudenz ist ein
unbedeutender Ort ohne Merkwürdigkeit; Festung Graudenz liegt
auf einem Berge, hat keine Häuser, sondern die Garnison wohnt
in den Kasematten, und der Platz ist sehr stark befestigt. —
Südwestlich, auch an der Weichsel, liegt
Culm (wo haben wir schon ein Culm gehabt? S. Th. 1«,
S. 133), auf einer Anhohe, hat ein Cadettenhaus. Endlich
Thorn, wieder an der Weichsel, eine gutgebaute und befe-
stigte Stadt. In der Domkirche finden wir ein Denkmal auf
NicolauS Kopernikus, der hier geboren wurde. Auch dürfen
wir den trefflichen Thorner Pfefferkuchen, der weit und breit ver-
schickt wird, nicht vergessen. Er ist sehr dick, stark gewürzt, und
hält fich daher Jahre lang.
3. Die Provinz Posen
ist elne völlige, höchst langweilige Ebene; daher beschleu-
nigen wir auch hier unsere Durchreise. Giebt es auch
hier und da trostlose Landstriche, so sind doch die meisten Ge-
genden gutes Ackerland, am meisten die Ufer der Weichsel,
der Netze und vder Wartha. In wenigen Landern wird so
viel Tuch gewebt als hier. Wir nennen die Städte nach
ihrer Lage von Norden nach Süden.
Bromberg liegt in einer öden, sandigen Gegend an der
Brahe und am Anfange des Brombergcr Canals, und ist der
Sitz einer Negierung, aber sonst ziemlich unbedeutend. Südli-
cher liegt
Gnesen, eine kleine, alte, schlechtgebaute Stadt. Sie hat
eine Domkirche, die sonst als die vornehmste von ganz Polen bei
trachtet wurde. Hier zeigt man auch das Grab des heil. Adal-
bert, welcher von den heitnischcii Preußen, die er bekehren wollte,
enthauptet wurde und von den katholischen Polen als ein vorzüglicher
Heiliger verehrt, auch der Apostel der Preußen genannt wird.
Posen an der Wartha, eine ziemlich gutgebaute Stadt, ist
die Hauptstadt der ganzen Provinz, also auch Sitz einer Negie-
rung. Auch residirt hier der königliche Statthalter, der Fürst
Das Königreich Polen.
453
Radziwil, und da dieser einen kleinen Hof bildet, so halten sich
hier viele reiche Polen auf, welche die Stadt recht lebhaft, aber
auch sehr theuer machen. Alle Jahre wird hier zu Johannis eine
große Messe gehalten.
An der schlesischen Gränze liegen drei, durch Tuchwebe-
reien ausgezeichnete Städte:
Fraustadt,
Lissa, zum Unterschiede von Lissa bei Breslau, Polnisch-
Lissa genannt, und
Na wiez (Nawitsch). Alle drei Oerter haben fast nur Tuch-
macher und Juden zu Einwohnern.
Das Königreich Polen.
Wieder ein Land, über welches wir schneller hinwegeilcn
können, weil es wenig Merkwürdigkeiten darbietet, und die
Natur besonders arm an Schönheiten ist.
Boden. Polen ist ein meist ebenes, fruchtbares Land.
Nur im Süden, in dem Bogen, welchen die Weichsel bildet,
ist es bergig. Man nennt dies Gebirge das sendomirsche
Gebirge; doch sind die Berge nicht bedeutend, und ohne
besondere Schönheit. Der Boden ist theils zum Getreidebau
benutzt, theils noch mit großen Waldungen bedeckt.
Klima. Im Allgemeinen wie in Norddeutschland, doch
wegen der großen Wälder noch rauher, und die Winter noch
anhaltender.
Gewässer. An Seen fehlt cs auch hier nicht, aber
keiner zeichnet sich durch Größe oder romantische Gegend aus.
Der Hauptfluß ist
die Weichsel, die das Land in einem großen Bogen
durchfließt, und dann nach Nordwesten strömt. Sie nimmt
rechts auf den
Bug, der die Narew mitbringt, und bei der Festung
Modlin in die Weichsel fallt.
Die Wartha, die am scndomirschen Gebirge entspringt,
fließt, wie schon bei Preußen gesagt ist, der Oder zu.
454
Das Königreich Polen.
Produkte: Polen ist ein reiches Kornland. Auch an
Holz ist Ueberfluß. Die polnischen Pferde sind klein und
unansehlich, aber dauerhaft.
Einwohner: Die Polen sind ein ftavischer Stamm,
und sprechen eine eigene Sprache, die wohlklingend, aber für
unsere Organe schwer auszusprechen ist. Sie sind lebhaft,
geistreich, kräftig, meist schön gewachsen und gewandt, mit
vielen Anlagen; aber diese werden durch Schuld der Negie-
rung und aus Mangel an guten Schulen nicht genug ausge-
bildet. Der gemeine Pole lebt Ln tiefer Unwissenheit und
Niedrigkeit, ist gegen seine Obern sclavisch gehorsam, aber so
ungebildet, daß der Ausdruck: polnischer Bauer bei uns zum
Sprichwort geworden ist. Es giebt nichts Elenderes als ein
polnisches Dorf. Die Hüttön sind klein, mit Stroh gedeckt,
unreinlich, und Menschen und Vieh leben in einem und dem-
selben Behältniß. Der vornehme Pole dagegen ist stolz auf
sein Vaterland, leichtsinnig, dem Vergnügen ergeben, liebt
Aufwand und Glanz; aber dabei sehr gastfrei, herzlich und
seinen Freunden von ganzer Seele ergeben. Die Erziehung
ist schlecht, weit sie fast ganz in den Handen unwissender
Franzosen und Französinnen ist, die in ihrem Vaterlande kein
Fortkommen fanden. Sehr allgemein wird Liebe zum Trunk
gefunden. Vorzüglich geistreich und liebenswürdig sind die
polnischen Damen. Ihre Bildung ist zwar sehr oberflächlich
und ganz französisch; aber sie haben ungemeinen Liebreiz, und
werden von den Männern mit großer Galanterie behandelt.
Auf den Schlössern der reichen Polen herrscht auf der einen
Seite große Pracht; aber auf der andern 'findet man auch
viel Armseligkeit, Unordnung und Schmutz. Der Umgangs-
ton ist leicht, frei und gewandt, wie man ihn in Frankreich
findet. Hätte die polnische Nation die Gelegenheit zur Aus-
bildung, die wir Deutsche haben, so würde sie sich bald sehr
auszeichnen.
An Fabriken fehlt es hier noch sehr, und was in neue-
ster Zeit dafür geschehen ist, ist von Deutschen ausgegangen.
Für Volksbildung ist fast noch gar nichts gethan. Die vor-
nehmen Stände haben zwar in Warschau eine Universität und
Dag Königreich Polen.
455
in mehreren Städten Gelehrtcnschulen; aber diese leisten lange
nicht das, was die unsrigen leisten.
König von Polen ist der jedesmalige russische Kaiser.
Doch hat Polen seine eigene Verfassung, und wird von einem
Statthalter — jetzt Großfürst Constantin — regiert. Der
König ist nicht ganz unabhängig, sondern ungefähr so, wie
die Könige von England und Frankreich eingeschränkt. Was
in England das Parlament und in Frankreich die beiden Kam-
mern sind, das ist hier der Landtags der auch aus 2
Kammern besteht: 1. dem Senat und 2. den Landbotcn undDe-
putirten. Jene ernennt der König; diese werden von der
Versammlung des Adels und den Gemeinden auf 6 Jahre
gewählt. Das Land ist eingetheilt in Wojewodschaften.
Wenn man durch Polen reist, muß man sich so ein-
richten, als wollte man eine Wüste durchreisen. Man kommt
durch Gegenden, wo man meilenweit kein Dorf sieht, durch
Wälder, wo man kein Haus erblickt, und erreicht man end-
lich ein Dorf, so ist das Wirthshaus voll trunkener Bauern
und so voll Ungeziefer und Schmutz, daß man im Wagen
bleiben muß. Lebensmittel aber und Bequemlichkeiten findet
man nicht, man müßte mit grobem Brote und Branntwein
zufrieden seyn wollen. Selbst in den kleinen Städten ist es
nicht viel besser. Hier sind schmutzige Juden die Wirthe, und
jede Art von Unreinlichkeit ist zu Hause. Wollen wir aber bei
dem Gutsherrn einsprechen, und seine Gastfreiheit in Anspruch
nehmen, so nimmt er uns wohl auf, und setzt uns Wein
und Speisen in Menge vor, aber Betten hat er für uns
nicht, weil auch die reichsten Polen deren nur so viel haben,
als sie selbst gebrauchen, und jeder Gast sie mitzubringen
pflegt. An Verbesserungen von Landstraßen, oder gar an
Kunststraßen, wird wenig gedacht. Ein Reisender, der durch
das Innere von Polen nach Warschau reiste, sagt davon:
„In meinem Leben habe ich keinen an interessanten Gegenstän-
den so ganz leeren und öden Weg angetroffen, als diesen.
Auf der ganzen langen Reise ist nicht ein einziger Gegenstand,
der den Reisenden auch nur auf einen Augenblick anziehen
könnte. Der größte Theil des Weges war fast durchgchends
flaches Land, und dieses war größtcntheils mit ungeheueren
456
Das Königreich Polen.
Strecken finsterer Wälder bewachsen. Auch wo der Horizont
etwas offener war, wurde er allemal wieder von Wäldern
bekränzt. Wo hier und da eine Lücke zwischen den Wäldern
war, sahen wir etwas Viehweide, und an einigen Plätzen
schlechten Getreidebau. Wenn ich nicht selbst diese Reise ge-
macht hätte, so hätte ich mir nie einen Begriff von einer so
ganz öden und traurigen Landschaft machen können. Eine
todte Stille und Einsamkeit herrschte auf der ganzen weiten
Strecke; nur wenige Spuren eines bewohnten, und noch
wenigere eines cultivirten Landes kamen zum Vorschein. Auf
dem ganzen langen Wege von 45 Meilen trafen wir nicht
mehr als 2 Kutschen und etwa ein Dutzend Karren an. Auch
die Mcnschenwohnungen waren sehr dünn auf diesem Flecke
Landes. Einige wenige zerstreute Dörfer, deren Hauser alle
von Holz find, liegen in großen Entfennmgen eins von dem
andern, und ihr elendes Aussehen stimmt mit dem wüsten
Zustande der um sie her liegenden Landschaft genau zusam-
men. In diesen Haufen von zerstreuten Hütten befinden sich
elende sogenannte Wirthshäuser, welche den Juden zugehören,
aber nicht die mindeste Einrichtung zu einiger Bequemlichkeit
haben. Eier und Milch waren die größten Leckerbissen, die
wir aber nicht allenthalben erhalten konnten. Statt der Bet-
ten hatten wir Stroh auf den Boden ausgebreitet, und schätzten
uns noch glücklich, wenn wir es nur frisch bekommen konn-
ten. So wenig verwöhnt wir auch sind, so befanden wir
uns doch in diesem Lande des Jammers in großer Verlegen-
heit. Wir fanden es für besser, hier auch während der Nacht
unsere Reise unausgesetzt fortzusetzen, als uns dem ekelhaf-
ten Ungemach auszusetzen, das wir in diesen Scheunen voll
Unflath und Elends ausstehen mußten, und wir können mit
gutem Grunde hoffen, daß uns das Dunkel der Nacht nichts
anders entzogen habe, als die Ansicht finstrer Wälder, unbe-
deutender Kornfelder und unglücklicher Menschen. Die Einge-
bornen dieses Landes waren ärmer, niedergeschlagener und
elender als irgend ein Volk, das wir auf unsern Reisen an-
getroffen haben. Wo wir auf unserem Wege anhielten, dräng-
ten sie sich schaarenwcise um uns her, und bettelten mit den
niederträchtigsten Gebehrden um Almosen. Die Straßen ver-
457
- • v
DaS Königreich Polen.
ricthcn so wenig Spuren menschlichen Fleißes als das Land,
durch welches sie führten. Wo sie sandig waren, ging es
noch am besten; in andern Gegenden waren sie kaum zu be-
fahren, und auf sumpfigen Gründen sind sie mit Baumäftcn
und Knitteln belegt, die ohne Ordnung über die Oberfläche
hingeworfen sind."
Zuerst besuchen wir die bedeutendsten Städte auf der
linken Seite der Weichsel.
Kali sch liegt nahe an der schlesischen Gränze. Merkwür-
digkeiten hat sie nicht.
Czenstochau, südöstlich von der vorigen, auch nicht weit
von der schlesischen Gränze. Die Stadt ist klein und elend. Aber
eine Viertelstunde davon liegt auf einem Berge ein berühmtes
Kloster, daS ein für die katholischen Polen unschätzbares Heilig-
thum enthält. Es ist ein sehr altes, aber häßliches Marienbild,
von dem die Leute glauben, daß es Wunder thue. Daher wall-
fahrtet man weit und breit dahin, und es vergeht kein Tag, wo *
nicht Schaaren singender Wallfahrer herbeigezogen kommen.
Wenn wir von da östlich zur Weichsel gehen, so finden
wir an diesem Strome folgende Oerter:
Pulawy (gleich oberhalb der Mündung des Wieprz). Hier
residirt einer der reichsten Polen, der Fürst Czartorinski. Sein
Schloß ist ein wahrhaft königliches Gebäude, und sein Garten
eben so geschmackvoll als prächtig, so daß man erstaunt, im In-
nern von Polen eine Anlage zu finden, die England, Frankreich'
und Italien zur Zierde gereichen würde. — Fahren wir von da
die Weichsel abwärts, so kommen wir nach
Warschau, der großen und schönen Hauptstadt Polens.
Sie liegt auf dem linken Ufer der Weichsel, und ist die Resi-
denz des kaiserlichen Statthalters, des Großfürsten Constantin.
Sie hat einen sehr großen Umfang; denn die Vorstädte sind sehr
weitläufig gebaut. Die Zahl der Einwohner kann sich auf
140,000 belaufen. Den schönen Eindruck, den andere Haupt-
städte auf den ankommenden Reisenden zu machen pflegen, macht
sie nicht; denn hier sieht man Armuth und Reichthum dicht neben
einander; hier ein Marmorpallast, und daneben vielleicht eine
Reihe elender Hütten, mit Schindeln gedeckt. Die Straßen
sind breit, aber zum Theil schlecht gepflastert; die Palläste des
reichen Adels, der sich hier im Winter aufzuhalten pflegt, pracht-
voll und zahlreich; die Kirchen groß und glänzend; aber der
größte Theil der Häuser besteht, besonders in den Vorstädten,
aus schlechten Hütten. Unter den Pallästen besehen wir vor allen
das königliche Schloß, und den sächsischen Pallast.
i
' 1
458
DaS Königreich Polen.
Auch hat Warschau die einzige Universität des Landes. Jenseits
der Weichsel liegt, durch eine Brücke verbunden,
Praga, das als eine Vorstadt von Warschau betrachtet
werden kann. Wer denkt dabei nicht an die fürchterliche Erstürr
mung dieser unglücklichen Stadt durch Suwarow?*)
Um einen Begriff zu geben von den schönen Landsitzen
und dem Aufwand des reichen Adels, so wollen wir einen
Reisenden hören, der von der Fürstin Czartorinska zu einem
ländlichen Feste auf einem ihrer Landsitze in der Nahe von
Warschau eingeladen wurde. Der dahin führende Wald war
nach Art eines englischen Parks ausgehauen. Mitten darin
liegt auf einer Anhöhe das Haus, das einer Bauernhütte
gleicht. Es besteht, wie alle Bauernhütten, aus über einander
gelegten Balken, und ist mit Stroh gedeckt. Hier wohnen
der Fürst und die Fürstin, und rings herum sind ähnliche
Hütten für ihre Kinder und Bedienten, von denen jede eine
besondere Umzäunung und einen kleinen Garten hat, so daß
man ein kleines Dorf zu sehen glaubt. Andere Gebäude,
Pavillons, Sommerhäuser, ländliche Schuppen, Ruinen sind
durch. die ganze Gegend zerstreut, und romantische Brücken,
die unordentlich aus Baumstämmen und krummen Aesten zu-
sammengelegt sind, erhöhen das Ländliche der ganzen Um-
gebung. „Nach unsrer Ankunft traten wir in die vornehmste
Hütte, in welcher die Fürstin schon zu unserm Empfange be-
reit war. Statt der gewöhnlichen Einrichtung einer Baucrn-
hütte fanden wir zu unserem Erstaunen alle Arten von Pracht-
stücken, die Reichthum und Geschmack nur zusammenbringen
können. Alle Gemächer waren aufs herrlichste verziert; das
Badezimmer war mit viereckigen Stücken Porzellan ausgelegt,
die wenigstens 9000 Ducaten gekostet hatten. Von da gin-
gen wir in die übrigen Hütten, in denen die Kinder wohnen.
Jede derselben ist auf eine besondere Art, alle aber gleich
schön verziert. Auswendig erinnerte alles an die Wohnung
einer glücklichen Bauernfamilie; inwendig aber war alles
Pracht und Geschmack. Jetzt gingen wir eine Weite in dem
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, LH. 3.,
S. 309, 2te Ausg.
DaS Königreich Polen. 459
englischen Garten herum. Endlich versammelte sich die Ge-
sellschaft in einem türkischen Zelte, das nahe bei den Ställen
aufgeschlagen war, welche wie ein verfallenes Amphitheater
aussahen. Es gehörte einst dem Großvezier, und war im
letzten Kriege erbeutet worden. Als es ganz dunkel geworden
war, machte uns die Fürstin den Vorschlag, zurückzukehren.
In dieser Absicht führte sie uns durch das Haus auf eine
kleine Anhöhe, wo wir plötzlich mit einer sehr schönen Be-
leuchtung überrascht wurden. Eine ländliche Brücke, die über
eine breite Wassermasse gebaut war, erschien mit einigen
Tausend brennenden Lampen von verschiedenen Farben geziert.
Der Widerschein dieser beleuchteten Brücke aus dem Wasser
war so stark, daß er das Auge täuschte, und man einen
schimmernden Zirkel in der Luft glaubte hängen zu sehen.
Die Wirkung dieses Anblicks war über alle Beschreibung
schön, und wurde durch die Dunkelheit des im Hintergründe
stehenden Waldes noch um vieles erhoben. Während wir
dieses glänzende Schauspiel bewunderten, ließ sich in einer klei-
nen Entfernung eine Gesellschaft von Musikanten hören, und
unterhielt uns mit einem trefflichen Concert. Von diesem be-
zaubernden Fleck wurden wir über die beleuchtete Brücke in
einen bedeckten Pavillon geführt, der von allen Seiten offen
war, und dessen Pfeiler mit Blumenkränzen verziert waren.
Hier fanden wir ein kaltes Abendessen, und setzten uns zur
Tafel, die mit den schmackhaftesten Speisen, mit den kostbar-
sten Weinen und allen Arten von Früchten besetzt war, die
man durch Natur und Kunst hatte anschaffen können. Der
Abend war schön, der ganze Auftritt malerisch, die Tafel
niedlich. Als wir aufgestanden waren, glaubte ich, das
Schauspiel würde nun zu Ende seyn; aber ich wurde auf
eine sehr angenehme Art getauscht. Der ganze Garten wurde
jetzt plötzlich beleuchtet, und nun wurden wir von einer neuen
Musik aus Blase-Instrumenten überrascht, die von hier und
da in dem Garten vertheilten Leuten gespielt wurden. Wir
gingen über die Brücke in die Hütte zurück, wo die beiden
ältesten Töchter der Fürstin, in griechischer Kleidung, einen
polnischen und einen Kosackentanz aufführten. Erft um 2 uhr
in der Nacht nahmen wir Abschied." Dergleichen Feste sind
460
Die Republik Krakau.
bei dem reichen polnischen Adel nicht selten, und lasten für
den Augenblick das Elend, in dem das gemeine Volk lebt,
vergessen.
Fahren wir die Weichsel noch etwas weiter hinab, so
finden wir die kleine Festung
Modlin, da, wo die Narew in die Weichsel fällt.
In dem Theile von Polen, der auf der rechten Sekte
der Weichsel liegt, merken wir uns nur eine Stadt:
Lublin, eine schlechtgebaute Mittelstadt.
Schon aus der kleinen Anzahl bedeutender Städte kön-
nen wir sehen, daß Polen ein wenig cultivirtes Land sey.
Die Republik Krakau.
Da, wo Schlesien, Polen und Gallizien zusammenstoßen,
liegt dieses kleine Landchcn, an der Weichsel. Der Boden
ist wie in Polen: eben, ziemlich schlecht angebaut, die Dörfer
höchst armselig, die Straßen schlecht. Die Einwohner sind größ-
tentheils Polen; hier und da auch Deutsche und Juden. Die
Negierung führt ein Senat, an dessen Spitze ein Präsident
steht, der alle 3 Jahre wechselt. Die Republik steht Gunter
dem Schutze Rußlands, Oesterreichs und Preußens. Die
Hauptstadt ist
Krakau, auf dem linken (nördlichen) Ufer der Weichsel,
sonst die Haupt- und Residenzstadt von Polen, eine ziemlich
große, aber todte Stadt. Aus der Ferne nimmt sie sich wegen
ihrer vielen Thürme recht gut aus, aber das Innere entspricht
der Erwartung nicht; denn die Straßen sind meist eng und krumm,
und die Gebäude alt und zum Theil verfallen. Sie hat eine
Universität. Auf einer Anhöhe in der Stadt, nahe an der
Weichsel, liegt das alte, jetzt meist verfallene, Nesidenzschloß
der polnischen Könige, von wo man über die weite Ebene, in
welcher die Stadt liegt, eine hübsche Aussicht hat. Hier steht
auch die alte Domkirche, in der sich die Särge der meisten Kö-
nige von Polen befinden.
Das Königreich Gallizien und Lodomerien
461
Die Königreiche Gallizien und Lodome-
rien, Ungarn, Dalmatien, und das
Großfürstenthum Siebenbürgen.
Wir haben oben Th. 1., S. 144 gesagt, daß der östrei-
chische Kaiser außer seinen deutschen Ländern nach besitze:
1. Das Königreich Gallizien und Lodomerien mit der Bu-
kowina.
2. Das Königreich Ungarn mit Croatien und Slavonien.
3. Das Großfürstenthum Siebenbürgen.
4. Das Königreich Dalmatien.
5. Das lombardisch-venetianische Königreich.
Das letzte haben wir bereits zu Anfange dieses Theils
S. 11 bei Italien abgehandelt; cs bleiben uns also noch
Nro. 1 — 4 übrig.
I. Das Königreich Gallizien und iodome-
rien mit der Bukowina.
Boden: Die ganze Südgränze wird durch die Kar-
pathen gebildet, die das Land von Ungarn scheiden. Sie
sind ein rauhes, an romantischen Gegenden reiches, unten be-
waldetes, in hohe Spitzen ausgehendes Gebirge, das sich aber
nicht bis über die Gränze des ewigen Schnees erhebt. Nörd-
lich von den Karpathen wird das Land ganz eben, und ist
im Ganzen wie Polen beschaffen, zu dem es ja auch ehemals
gehört hat.
Klima: Wie im nördlichen Deutschland.
Flüsse: Die Weichsel fließt an der polnischen Gränze
hin. Etwa in der Mitte des Landes entspringt der Dniestr,
der dem schwarzen Meere zufließt. Im südöstlichen Theile
entspringen auf den Karpathen die Flüsse Sereth und
Pruth, die nach der Donau gehen.
Producte: Außer denen, die Polen hatte, besonders
viel Steinsalz, von dem es hier große reiche Lager giebt.
Einwohner: Größtentheils Polen, mit polnischer
Sprache. Sie bekennen sich zur katholischen Kirche. Außer-
462 Das Königreich Gallizien und Lodomerien.
dem viele Deutsche und Juden. Die Sitten sind hier ganz
so wie in Polen.
Der südöstliche Theil heißt die Bukowina.
Lemberg ist die Hauptstadt des Landes, mit etwa 60,000
Einwohnern, unter denen sehr viele Juden sind; denn die Stadt
treibt yach Rußland, Polen und der Türkei einen ausgebrei-
teten Handel. Nördlich davon ist
Brody, hart an der russischen Gränze, eine sehr wichtige
Handelsstadt, voll reicher Kaufleute und handelthätiger Juden.
Als Stadt ist sie elend; aber es geht hier eine Hauptstraße, nach
Rußland durch. — Ganz im Westen, nahe bei Krakau, liegt
Wieliczka, eine zwar unbedeutende Stadt, aber wegen der
reichen Salzwerke berühmt. Man steigt in die Gruben entweder
auf einer hohen Treppe, oder auf Leitern hinab, oder man wird
hinuntergewunden. Ist man unten angelangt, so geht man noch
eine weite Strecke immer mehr abwärts, manchmal durch Gänge,
die so breit sind, daß 3 Wagen bequem neben einander fahren
können, manchmal auf Treppen, die in den Salzstein gehauen,
und so breit und bequem sind, wie in Pallasten. Jeder, der
hier arbeitet oder sich umsieht, trägt ein Grubenlicht, und sind
bei einer feierlichen Gelegenheit viele Wandkerzen angezündet, so
strahlen alle Wände, als wenn sie mit Diamanten, Rubinen und
Sapphircn bedeckt waren. Je tiefer man kommt, desto besser
und reiner wirb das Salz. Einen sonderbaren Eindruck macht
es, wenn man in diesen unterirdischen Räumen das Knallen von
Peitschen, das Geräusch von Pferden, das Rufen der Fuhrleute
hört, und endlich einen Wagen erblickt, der die großen, losger
schlagencn Salzstücke nach den Orten führt, von wo sie in die
Höhe gewunden werden. Diese Pferde haben unten ihre in Salz
gehauenen Ställe, so daß sie nicht wieder ans Tageslicht kom-
men. Die kleineren Salzstücke werden in Körbe gepackt, und von
Pferden auf einem in die Runde gehauenen Gang bis auf die
Oberwelt getragen. Das Merkwürdigste ist, daß unten mitten in
den Salzlagern ejyrie Quelle süßen Wassers entspringt. Auch finr
det man unten eine Capelle ganz in Salz gehauen, in welcher der
Altar, das Crucifix, die Betschemel, die Heiligenbilder, kurz alles
aus Salzstein gemacht sind. Man weiß mit Bestimmtheit, daß
diese Gruben schon vor 600 Jahren bearbeitet wurden, und ob-
gleich Jahr aus Jahr ein so viel Salz herausgefördcrt wird, daß
900 Arbeiter vollauf damit zu thun haben, so ist man doch noch
nicht an die äußersten Enden und in die äußerste Tiefe gekommen,
so daß diese großen Salzlager unerschöpflich zu seyn scheinen.
Von dem beständigen Loöhauen der Salzstücke sind große Kam-
mern und Säle entstanden. In einigen ruht die Decke auf hohen
Salzsäulen, die man stehen gelassen hat. Manche Säle sind so
Die Königreich Ungarn.
463
hoch und groß, daß man bei dem Kerzenschein daS Ende nicht
absieht, und sie unendlich erscheinen. Daß die Arbeiter hier un-
ten wohnen, und es Kinder gäbe, die noch nie ans Tageslicht
gekommen wären, ist nicht gegründet; denn jene werden alle 8
Stunden abgelöst, und haben ihre Wohnungen oben. Aber un-
ten ist es so trocken, daß sie recht gut da wohnen könnten. Das
Salz sieht meist grau aus. Um es zur Verspeisung zu gebrau-
chen, braucht man es nur zu Pulver zu zerstoßen. Auch werden
allerhand Kunstsachen: Tabacks - und Zuckerbüchsen, Bücherbc-
schwerer, Leuchter u. dgl. daraus gemacht.
II. Das Königreich Ungarn mit Croatien
und Slavonien.
1. Das eigentliche Ungarn.
Boden: Die Nordgränze, gegen Gallizien, wird durch
die Karpathen gebildet. Von da senkt sich das Land zur
Donau herab; die Vorberge verlieren sich allmählig, und
gehen in eine weite Ebene über, die sich über den größten
Theil von Ungarn hinlagert. Hier ist das Land sehr fruchtbar,
aber nicht überall gut angebaut, weil man noch weite Gefilde
den großen Viehheerdcn zu Weideplätzen überläßt.
Klima: Die Luft auf den Bergen ist natürlich rauh,
aber schon an den Abhängen desselben wird sie sehr milde,
weil die Gebirgswand die Nordwinde abhält. Je weiter nach
Süden, desto wärmer, und in den südlichen morastigen Ge-
genden ist daher die Luft im Sommer sehr schwül und un-
gesund.
Gewässer: Im westlichen Theile befinden fich zwei
große Seen. Der nördlichere ist der Neusiedler-See,
der südlichere der Plattensee. Jedes große Wasserbecken
bietet einen schönen, erhabenen Anblick dar; besonders auch
diese beiden Seen. Zwar finden wir hier nicht die hohen
Felswände, durch welche die Seen in der Schweiz so roman-
tisch sind; aber sie sind von sanften Hügeln umgeben, die mit^
Weinreben bedeckt sind, und freundliche Städte und Dörfer
ziehen sich an ihren Ufern hin.
Der Hauptftuß ist die Donau, die von Oestreich in
östlicher Richtung in düs Land tritt, sich dann nach Süden
464
Das Königreich Ungarn
senkt, und hier wieder eine östliche Richtung annimmt, bis
sie nach der Türkei übergeht. Auf der linken (nördlichen)
Seite nimmt sie auf: 1. die March oder Mo rama an der
östreichischen Gränze; 2. die große Theiß, die sich erst nahe
an der türkischen Gränze mit ihr vereinigt. Auf der rechten
Seite: 1. die Naab; 2. die Drau auf der Gränze von
Croatien und Slavonien.
Producte: Ungarn ist ein sehr reiches Land. Es
bringt mehr Getreide hervor, als die Einwohner verbrau-
chen können. Ein Hauptproduct ist der Wein, den man in
Ober- und in Nieder-Ungar theilt; jener wird wegen seines
Feuers und seiner Süßigkeit mehr noch als dieser geschätzt.
Besonders schön und groß sind die Weintrauben. Wenn sie
bei der Weinlese abgeschnitten sind, werden sie in große Bot-
tiche geworfen, deren Boden Löcher haben. Der süßeste Saft
läuft hier von selbst aus, und tröpfelt in die darunter gesetz-
ten Gefäße. Dies ist der sogannte Exlract, der zuckersüß ist,
und den man dazu gebraucht, den herben Wein süß zu ma-
chen. Die berühmtesten Weine sind der Tokayer, der aber
nur in die Keller des Kaisers kommt; der O eden bürg er und
Rüster. Diese beiden wachsen am Neusiedlcrsce. Auch der
Ofener, der roth und sehr wohlfeil ist, aber einen herben
Geschmack hat. Obst hat Ungarn in solcher Menge, daß cs
viel davon ausführt; gebackene Pflaumen, Aepfel und Birnen,
Kastanien, Nüsse, Mandeln werden viel ins Ausland ge-
schickt, und auch nach Deutschland gebracht. Ferner ist das
Land sehr reich an Rindvieh und an Schweinen, und
versieht damit die übrigen östreichischen Länder.
Einwohner: Der Hauptstamm besteht aus den Ungern
oder Magiare» (das gia wie ein weiches dsch ausgespro-
chen). Sie sind vor fast 1000 Jahren aus den Gegenden
des Kaukasus hier eingewandert. Ihre frühere Wildheit *)
haben sie längst ganz abgelegt, und sind ein treuherziges, bie-
deres und gebildetes Volk. Sie sind theils dem katholischen,
theils dem evangelischen Glauben ergeben, und reden ihre eigene
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
LH. 2., S.40.
Das Königreich Ungarn.
465
Sprache; doch verstehen und reden die Vornehmeren auch die ka-
tcinische Sprache. Außer ihnen sind auch Slaven, Deutsche,
Juden, Wlachcn und Zigeuner im Lande. Diese lehtern sind
schmuhiggelbe, häßliche Menschen, die nur zum Theil ansäs-
sig sind; ein großer Theil von ihnen zieht im Lande herum,
und lebt von Bettelei, Wahrsagern und Dieberei. Die Un-
gcrn beschäftigen sich fast durchgehcnds entweder mit Ackerbau,
oder Weinbau, oder Viehwirthschaft, und überlassen die andern
Beschäftigungen: Handwerke, Handel u. s. w., den übrigen im
Lande wohnenden Nationen. Der Adel ist zahlreich und reich.
Es giebt Magnaten, die jährlich 1 Million und darüber ein-
nehmen. Sie haben eine recht schöne Nationaltracht, die un-
srer Husarcnuniform ähnelt. Fabriken sind nicht sehr in Auf-
nahme; dagegen werden die Wissenschaften geschätzt, und kön-
nen es die Ungern darin auch nicht mit den Deutschen auf-
nehmen, so gehören sie doch zu den gebildetsten Nationen.
Eine Linie, die von Norden nach Süden ungefähr in der
Mitte gezogen ist, und an der untern Theiß hinablauft, theilt
Ungarn in Nieder - und Oberungarn. Jenes liegt west-
lich, dieses östlich.
In Nieder Ungarn merken wir folgende Städte,
und ^zwar zuerst auf dem rechten Donauufer:
Oedenburg und Rust, beide am Neusiedlersee, in einer
sehr freundlichen Gegend, von Weinbergen umgeben.
Naab am Zusammenfluß der Naab und der Donau.
Ofen an der Donau, die Hauptstadt des Königreichs und
die Residenz des Palatins (kaiserlichen Statthalters). Sie hat
etwa 30,000 Einwohner und liegt in einer reizenden Gegend, von
weinreichen Hügeln umgeben. Der Palatinus wohnt in dem präch-
tigen königlichen Schlosse, in welchem auch die Krone verwahrt
wird, auf welche die Ungern einen großen Werth legen. Hinter
dem Schlosse ist ein großer und herrlicher Garten, der sich bis auß
die Höhe hinaufzieht; denn auf einem Felsen über der Stadt liegt
die Festung, von der man eine köstliche Aussicht hat über die Häu-
sermasse, über den breiten, reißenden Strom, über die gleich jen-
seits liegende Stadt Pesth, und über die schönbebaute, garten-
und weinreiche Gegend. Daß der hier herum wachsende Wein
stark ausgeführt wird, ist schon gesagt worden. Ofen ist'zwar
nicht eigentlich schön gebaut; denn die Straßen sind meist schmal,
und die Häuser weder prächtig noch zierlich; aber mitunter Pal-
läste der Neichen, und seine größte Zierde ist seine herrliche Lage.
Nösselts Geographie II. 30
466
DaS Königreich Ungarn.
„Innig ergreifend ist," sagt ein Augenzeuge, „der Anblick, den
man von einzelnen Stellen des östlichen Walles genießt. Die
herrlichsten Gegenstände werden hier dem Freunde der Natur, der
ländlichen Ruhe und schöner Aussichten die Originale zu Matthis-
sons und Ticdge's Poesien liefern. Wer nicht selbst die Aussicht
genossen hat, für Len sind alle Farben zu matt, um ihn von dem
immer wechselnden Schauspiele von Gegenden, von Feldern und
Gärten, von Waldungen und Weingärten, von Ebenen, Bergen,
Thälern, und dann hauptsächlich von dem mächtigen Gewirre städ-
tischer Thätigkeit, welches sich tief unter uns dem Auge darbietet,
auch nur eine dunkle Vorstellung zu machen." Auch ist Ofen ein
Badeort.
Auf dem linken Donauufcr finden wir folgende Städte:
Pesth. Sobald wir über die Schiffbrücke bei Ofen gegan-
gen sind, befinden wir uns in Pesth, einer noch einmal so gro-
ßen, und sehr schön gebauten Stadt, die eine bedeutende Univer-
sität besitzt. Sie treibt die Donau hinab einen sehr ansehnlichen
Handel, und liegt in einer herrlichen Gegend. Besonders anmu-
hig sind die nahe liegenden Donauinseln, die zu Gartenanlagen'
benutzt sind.
Fahren wir an dem Strome aufwärts, so kommen wir,
bei Naab vorbei, nach
Preßburg, auch in einer schönen Gegend am Donaustrom,
über den hier eine fiiegende Brücke führt. Die Stadt ist unge-
fähr eben so groß als Ofen, aber bei weitem schöner gebaut;
sic ist die schönste Stadt des Landes. Daß hier 180-5 ein Frieden
zwischen Frankreich und Oestreich geschlossen sey, ist aus der Ge-
schichte bekannt *). — Oestlich davon liegen
Kremnitz und Schemnitz, am Fuße der Karpathen. Bei-
de sind Bergstädte, und haben reiche und tiefe Gold- und Silber-
bergwerke. In Kremnitz ist auch eine Münze, in welcher die be-
kannten kremnitzer Dueaten geprägt werden, die man so oft in
den Sparbüchsen der Kinder bei uns sieht. Sie haben auf der
einen Seite des Gepräges das Bild der Maria mit dem Jesus-
kinde.
In Oberungarn find folgende Städte zu merken:
Munkats (spr. Munkatsch), im nordöstlichen Theile am
Abhange der Karpathen, eine Festung auf einem hohen, steilen
Felsen, in welcher Staatsgefangene aufbewahrt werden. Süd-
westlich davon ist das bekannte
Tokay. Dieser Flecken liegt zwischen einer weiten Hügel-
reihe, die einen herrlichen Wein liefert, der wegen seiner Süßig-
*) S. mein Lchrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 3., S. 399.
Die Königreiche Croatien und Slavonien. 467
feit und seines Feuers berühmt ist. Der beste Tokayer, der auf
dem Hügel Honigseim wachst, kommt nur in den Keller des Kai,
fers; aber in der Nähe sind auck andere Weinberge, die gleich,
falls trefflichen Wein liefern.
Debreezin (spr. Debbertschin) von Tokay südlich, in ei,
ner weiten unabsehbaren Ebene, auf welcher die Viehhändler oft
viele Tausend Stück Vieh auf der Weide haben. Die Stadt ist
nach Pesth die größte in Ungarn. Es wird hier viele und be,
rühmte Seife gemacht, und zwar aus Natron (mineralischem
Laugensalze), das man in den nahen Sümpfen findet, und auS
einer leichten weißen Erde, die man nur zu gewissen Zeiten vor
Sonnenaufgang sammelt.
Der südöstlichste Theil von Ungarn wird das Banat
genannt.
2. Das Königreich Croatien.
Es reicht von der Drau bis an das adriatische Meer,
und wird in der Mitte von der Sau durchflossen. Aus dem
benachbarten Jllyrien streichen die julischen Alpen her-
über, und heißen hier die dinarischen Alpen; doch wer-
den sie gewöhnlicher das Wellebit (im Süden) und das
große und kleine Capella-Gebirge (im Norden) ge-
nannt. Die Einwohner sind Slaven, und werden Croaten
genannt. Sie sprechen eine slavische Sprache, die mit dem
Böhmischen verwandt ist. Es sind kräftige, lebhafte, zum
Zorn geneigte, aber ungebildete Menschen, ohne wissenschaftli-
che Cultur, und ohne Neigung für Fabriken und Handwerke.
Die Regierung führt ein kaiserlicher Statthalter, der hier Ban
genannt wird.
Agram ist die Hauptstadt. Hier wohnt der Ban.
Carlstadt. Von hier sind zwei herrliche Kunststraßen über
das Gebirge geführt. Die eine heißt die K ar o l i n er, S tr a ße,
und führt über das Gebirge nack Buccari an der Seeküste.
Sie hat zum Theil durch Felsen gesprengt, und auf Brücken von
einem Felsen zum andern geführt werden müssen. Die andere ist
die Zosephiner-Straße, die nach Zengh, auch an der
Küste, geführt worden ist.
3. Das Königreich Slavonien
liegt zwischen der Drau und Sau, und wird in der Mitte von
einer waldigen Bergkette durchzogen, an deren Abhängen herr-
30*
468
DaS Königreich Dalmatien.
liche Fruchtgärtcn sind, die besonders viele Pflaumen liefern.
Die Einwohner sind gleichfalls Slaven, und werden hier Il-
lyrier genannt. Von wissenschaftlicher Cultur ist hier so we-
nig als bei den Croate» die Rede. Ihre Sprache ist eine
slavische Mundart. Der Hauptort heißt
Esset an der Drau. '
Zwischen dem östreichischen und türkischen Staate zieht
sich ein schmaler Strich hin, längs Croatie» und Slavonien,
der die Militärgränze genannt wird. Die Einwohner,
sämmtlich Slaven, sind halb Soldaten, halb Bauern. Sie
sind nämlich in Regimenter vertheilt, haben ihre Offiziere und
Waffen, und sind verpflichtet, im Frieden darauf zu sehen,
daß das benachbarte türkische Raubgesindel nicht über die Gränze
komme, im Kriege aber Soldatendicnste zu thun. Im Frie-
den erhalten sie keinen Sold, aber Ländereien ohne Abgaben.
Sonderbar sieht cs aus, hier die Bauern mit Flinte und Sä-
bel hinter dem Pfluge hergehen zu sehen. Hier liegt die
Stadt
Semlin an der Donau, beim Einflüsse der Sau in die
Donau, ein wichtiger Handelsplatz. Denn über diese Stadt geht
die Hauptstraße, die von Constantinopcl nach Wien führt. Da-
her ist ein großer Verkehr. Gegenüber liegt die türkische Stadt
Belgrad. Alle Personen und Waaren, die von da kommen, müs-
sen hier erst Contumaz halten. Es ist vor dem Thore von Sem-
lin ein großer Platz, auf dem ein beständiger Markt gehalten
wird, indem die türkischen und östreichischen Kaufleute hier ihre
Waaren umtauschen.
HI. Das Königreich Dalmatien.
Dies ist ein schmales Küstenland, daß sich von der Küste
von Croaticn südöstlich am adriatischen Meere hinzieht, und
aus dem festen Lande und vielen Inseln besteht. Das Land
ist sehr gebirgig. Die dinarischcn Alpen (das Wellebit) durch-
ziehen es. Die Einwohner heißen Morlachen und Hai-
duken, sind rohe, ungebildete und räuberische, aber tapfere
Menschen, und leben in großer Dürftigkeit. Luft und Pro-
dukte sind wie auf der andern Seite des adriatischen Meeres,
in Italien, die Gegenden schön und wild romantisch, werden
469
DaS Großfürstenthum Siebenbürgen.
aber wegen der räuberischen Wildheit der Haiduken selten von
Fremden besucht. Die vornehmsten Städte sind:
Zara, Spalatro, Nagusa und Cattaro, alles Seer
städte mit Häfen.
IV. Das Großfürstenthum Siebenbürgen.
Die Karpathen breiten sich über das ganze Land aus,
und erreichen hier eine so bedeutende Höhe, daß einige Spi-
tzen über die Linie des ewigen Schnees hinausragen. Daher
sind die höheren Gegenden rauh, und selbst in den Thälern,
wo es gewöhnlich sehr heiß ist, wechselt die Hitze oft mit
kalten Nachten ab. Siebenbürgen ist ein reiches Land. Es
enthält viel Gold, selbst in den Flüssen, aus deren Sande
man es wäscht. An Steinsalz ist ein solcher Ueberfluß, daß
nicht alles verbraucht werden kann. In den Thälern wächst ein
unvergleichlich schönes Obst: Kirschen, Aepfel, Birnen, Pftaumcn
von den verschiedensten Sorten, alles spottwohlfeil, Mandeln,
Nüsse und Kastanien, von denen cs ganze Wälder giebt. Beson-
ders findet man hier auch eine zahllose Menge von Bienenstöcken.
Die Einwohner sind meist Ungarn, Szekler (sprich
Secklcr), Sachsen und Wlachen. Die Szekler scheinen
die ältesten Bewohner zu seyn, ein roher, kriegerischer Menschen-
schlag. Die Sachsen wohnen schon seit alten Zeiten hier, und
haben ihre plattdeutsche Sprache noch immer behalten. Die
Bildung der Einwohner ist wie in Ungarn. Die Religion ist
verschieden; die Sachsen sind lutherisch, die Ungarn und Szek-
ler reformirt, die Wlachen griechisch.
Klausenburg ist die Hauptstadt. Sie liegt am Fuße des
Gebirges in einem schönen Thale, auf einem Felsen daneben das
Schloß. Sie ist eine Mittelstadt. — Südwestlich davon liegt
die Bergstadt
Zlatna, von dem der berühmte schlesische Dichter Ovitz eins
seiner Gedichte: „Zlatna oder von der Ruhe des Gemüths" bei
nannt hat *).
Hermannstadt und
*) Martin Opitz von Bobcrfcld, geboren in Bunzlau, war kurze Zeit
Professor in Weißcnburg in Siebenbürgen, steht an der Spitze der ersten
schlesischen Dichterschule, und starb 1639 in Danzig.
470
Die europäische Türkei.
Kronstadt, beide im südlichen Theile, am Fuße des hohen
Gebirges. Kronstadt ist die größte Stadt des Landes, sonst ohne
besondere Merkwürdigkeit.
Die europäische Türkei.
Unverkennbar in den kleinsten Resten,
Ja, das bist du, Land, wo Pindar sang,
Wo bei Götter- und bei Freudenfesten
Kunst und Weisheit um die Palme rang.
Was Vernunft in ihren schwersten Siegen,
Phantasie in ihren kühnsten Flügen,
Was der reichste Genius ersann,
Das gehörte, Griechenland, dir an!
Erst suchen wir die Bestandtheile derselben auf der Land-
karte auf: 1. Nomanien oder Rum - Ili. 2. Bulga-
rien. 3. Servien. 4. Bosnien. 5. Albanien.
6. Makedonien. 7. Thessalien oder Jans ah. 8.
Livadien (Hellas). 9. Morca. 10. Die Inseln. 11.
Die Wallach ei. 12. Die Moldau.
Boden: Die Fortsetzungen der Karpathen ziehen sich
an der Nordgränze der Wallachei und durch die Moldau hin.
Südlich von diesem Gebirge kommt die Donau-Ebene, die
von Westen nach Osten bis zum schwarzen Meere hinläuft.
Von ihr südlich ist das ganze Land voll Bergzüge und Thä-
ler. Der Hauptstamm ist der Hämus, von den Türken
Balkan genannt. Er ist eine Fortsetzung der dinarischen Al-
pen, die wir oben bei Croatien und Dalmatien genannt ha-
ben , und zieht sich von Bosnien an der Südgränze Scrviens
und Bulgariens hin, und endet erst am schwarzen Meere.
Von dieser Hauptkctte ziehen sich viele Zweige südlich durch
das ganze Land, und setzen sogar nach den Inseln über. Hier
ist der Boden besonders vulcanisch. Erdbeben sind nicht selten;
viele Inseln tragen die unverkennbarsten Spuren an sich, daß
sie durch unterirdisches Feuer entstanden sind, und auf einigen
sind noch Vulcane thätig. Der größte Theil der Türkei ist
Die europäische Türkei.
471
sehr fruchtbar, aber lange nicht so angebaut, als es gesche-
hen könnte, wenn die Negierung besser, und die Einwohner
thätiger wären.
Klima: Die Luft ist nicht so warm, als man nach
der südlichen Lage glauben sollte, durch Schuld der Gebirge.
Nördlich vom Hämus sind zwar die Sommer heiß, aber die
Winter gewöhnlich streng, und besonders im Hämus selbst viel
Schnee. Die Wege sind dann fast unfahrbar, und erst im
April und Mai tritt der Sommer ein. Weit angenehmer ist
es im Süden des Hämus, der die Nordwinde aufhält. Zwar
kommen auch hier im Winter noch rauhe Tage vor, aber die
Thäler sind im Sommer sehr warm, oft drückend heiß, so
daß das Gras versengt wird. Selten fällt hier Schnee, we-
nigstens bleibt er nicht liegen. Am herrlichsten ist die Luft
auf den Inseln, die zum Theil wirklich paradiesisch sind.
Gewässer: Zuerst die Meere, Meerengen und Meer-
busen, die das Land umgeben. Wir fangen mit der nordwest-
lichen Küste an. Wir kommen aus dem adriatischen
Meere, und fahren durch die Meerenge von Otranto
ins ionische Meer. Hier finden wir zwei Meerbusen, die
beide von Westen nach Osten ins Land hinein laufen: 1. der
Meerb usen von Arta zwischen den Inseln Paxo und
Santa Maura. Etwas südlicher 2. der Meerbusen von
Lepanto oder von Korinth, der Insel Cefalonia gegen-
über. Ec geht tief ins Land hinein, und endigt am Isthmus,
an der Landenge, welche das feste Land mit der Halbinsel
Morca verbindet. Wir fahren um Morca herum, und kom-
men nun kn den Archipel, bei den Türken das weiße
Meer genannt. Der bedeutendste Meerbusen ist hier der von
Salonichi. Dann fahren wir durch die Meerenge der
Dardanellen, durch das Meer von Marmora und
durch den Bosphorus oder die Straße von Eonstan-
tinopel nach dem schwarzen Meere.
Der Hauptftuß ist die Donau, die
auf der rechten Seite, an der östreichischen Gränze,
die Sau aufnimmt, welche rechts die Drina mit-
bringt . und
den Timok;
!
472
Die europäische Türkei.
auf der linken Seite:
die Sireth, die aus Gallizicn kommt, und
der Pruth, der die Gränze gegen Rußland macht.
Die übrigen Flüffe sind Küstenflüsse. Der größte darunter ist
die Maritza in Nomanien.
Producte: Das Land bringt, selbst bei dem schlech-
ten Anbau, viele Früchte hervor; außer den gewöhnlichen Ge-
treidcarten auch Mais und Reis. An Baumwolle ist beson-
ders Makedonien sehr reich. Südfrüchte, besonders schöner
Wein, Rosinen und Korinthen, wachsen fast überall in Menge.
Unter den Mineralien ist besonders der Meerschaum, ein Art
von Talk, zu merken.
Einwohner: Hierbei müssen wir uns mehr aufhalten,
weil sie sich von den übrigen Europäern in Sitten, Kleidung und
Charakter ganz unterscheiden. Das herrschende Volk sind die
Türken, schön gewachsene, wohlgebildete Menschen, mit leb-
haften Augen und stolzem, gebieterischem Wesen. So lebhaft
sie sind, wenn sie durch irgend eine Leidenschaft in Bewegung
gesetzt werden, so träge sind sie, wenn das nicht der Fall ist.
Stundenlang können sie auf einem Flecke sitzen, mit nichts als
mit Rauchen beschäftigt. Sie besitzen dabei einen großen Stolz,
halten sich für das erste Volk der Erde, und glauben nament-
lich weit über den übrigen Europäern zu stehen, denen sie den
Namen der Ungläubigen geben. In Wissenschaften und Kün-
sten sind sie sehr unerfahren, aber sic pflegen vielen natürlichen
Verstand zu haben. Ihr Herr heißt Sultan. Ihm gehört
das Leben, das Glück und das Eigenthum aller seiner Unter-
thanen. Er braucht nur zu winken, und den bezeichneten
Opfern wird der Kopf abgeschlagen. Zugleich ist er der Erbe
jeder Familie. ,, Stirbt ein Vater, so geht das Vermögen nur
dann, wenn der Sultan es erlaubt, auf die Kinder über.
Wer die Ehre hat, mit ihm sprechen zu dürfen, muß sehr
schnell gehen, weil langsamer Gang ein Zeichen der Hoheit
ist, und viele Ceremonien beobachten; selbst der erste Minister
muß dreimal das Knie beugen. In der Regel ißt er ganz allein,
selten mit feinen Kindern und Frauen. Jeden Freitag ist ihm
eine heilige Pflicht, in die Moskee (Tempel) zu gehen; sonst
kommt er selten aus seinem Pallaste. Hat er gerade keine
Die europäische Türkei.
473
Staatsgeschäfte, die er meist seinen Ministern überlaßt, so
sitzt er mit kreuzweis untergeschlagenen Beinen auf und zwi-
schen Polstern, raucht aus einer gewaltig langen Pfeife Ta-
back, und sicht den Tanzen seiner Sklaven oder Sklavinnen
zu, oder laßt sie Musik machen. Wenn er nach der Mahl-
zeit Ruhe gehalten hat, trinkt er auch wohl in einem seiner
Gartenhäuser (Kiosk) Kaffee, oder angelt Fische, oder geht
in seinen Gärten am Ufer des Meeres spatzieren. Seine Woh-
nung hat ec im Serai (Serail) in Constantinopel. Dieses
große Gebäude, oder vielmehr die vielen dazu gehörigen Häu-
ser machen einen besonderen Stadtthcil von Constantinopel aus.
Das Serai liegt auf einer großen dreieckigen Landspitze am
Meere, und ist durch eine hohe und lange Mauer vom fe-
sten Lande geschieden. In dieser Mauer ist ein sehr hohes
Thor, das die hohe Pforte genannt wird. Der Umfang
des Serai beträgt | Meilen, und enthält außer den vielen
Gebäuden 3 Höfe und viele Gärten, in deren Mitte das ei-
gentliche Wohngebäude des Großhcrrn steht. Von der See
aus gewährt es einen herrlichen Anblick durch seine schlanken
Thürme (Minarets), seine Dome mit ihren vergoldeten Blei-
dächern, und den hohen Cypreffen und Cedcrn seiner Gärten.
An der hohen Pforte sieht man gewöhnlich auf großen Prä-
sentirtellern die blutigen Köpfe derer liegen, die der Sultgn
hat hinrichten lassen, oder sie sind auf der Mauer aufgesteckt.
In den ersten Hof, der mit Platanen bepflanzt ist, darf Je-
der gehen, darf aber nicht laut sprechen. In den zweiten
Hof, der mit Gras bedeckt ist, darf Keiner, den Sultan aus-
genommen, reiten; überhaupt läßt die am Thore aufgestellte
Wache nur diejenigen hinein, die dahin bcschieden sind. Die
Mauern, die den dritten Hof umgeben, sind außerordentlich
hoch, damit die Uneingeweihten nichts, was darin ist, von au-
ßen sehen können. Man sicht nur die Spitzen der Dome,
auf denen sich vergoldete Halbmonde befinden. Kein Fremder
darf hinein; doch hat man über die innere Einrichtung man-
ches erfahren. In fast allen Zimmern und Sälen befinden
sich Springbrunnen. Die Verzierungen bestehen weder in Ge-
mälden, noch Kupferstichen, noch Bildsäulen; sondern die Wände
und Decken sind mit Arabesken und Blumen bemalt, meist
Carton zu NöM's Gv-ographle U.; S. 473 — 476 zu cassiren.
474
Die europäische Türkei.
Gold auf blauem Grunde. Alle Gebäude enden sich oben in
vergoldete Dome. Am schönsten sind die Kioske des Sultans,
die schöne Spiegel, Kronleuchter und Brunnen mit dem klar-
sten Wasser enthalten. Am merkwürdigsten ist aber der Ha-
rem, der Aufenthalt der Frauen und Sklavinnen des Sul-
tans. Cr befindet sich im Innersten des Serai, und ist von
dichten Bäumen und hohen Mauern umgeben, damit Niemand
hineinsehen könne; denn die Morgenländer hatten es für eine
große Schande, wenn man auch nur das Gesicht ihrer Frauen
sieht. Bewaffnete Wächter stehen hier Wache, und würden
Jeden, der sich zu nähern wagte, gleich in Stücken hauen;
nicht einmal die Frauen der fremden Gesandten dürfen hinein.
Doch weiß man, daß selbst die Zimmer der ersten Sultanin-
nen nicht prächtig sind, und daß einige Schreibtische, große
krystallene Kronleuchter, Spiegclwände, Sophas längs den
Wänden und einige Blumenvasen die einzigen Verzierungen
ausmachen. Die geringeren Frauen befinden sich in einem
ungeheuren Saale, der in viele Abtheilungen getheilt ist, und
in welchem sich oft mehrere Hundert befinden. Der Sulta-
ninnen (Kadinnen) giebt es nur wenige; jede hat ihren
besonderen Pavillon und ihren Garten, und sie kommen selten
zusammen. Ihr Leben ist das einförmigste, das man sich den-
ken kann. Die Sklavinnen (Odalisken) dagegen leben
zusammen, und haben also mehr Unterhaltung. Diese unglück-
lichen eingeschlossenen Geschöpfe bringen ihre Zeit hin, so gut
sie können. Sie kleiden sich des Tags mehrmals um, besu-
chen einander, üben sich im Tanzen und in der Musik; die
Kadinnen bringen stundenlang in träger Ruhe auf dem Sopha
liegend zu, und lassen ihre Dienerinnen vor sich tanzen. Auch
ergehen sie sich wohl in ihren, zwischen hohen Mauern einge-
schlossenen Gärten. Ihr Geist erhalt dabei freilich keine Ent-
wickelung, und daher fühlen sie auch ihren unglücklichen Zu-
stand nicht so sehr. Die geachtetsten unter den Frauen des
Sultans sind die, welche Söhne haben; die Mutter des älte-
sten Sohnes ist die vornehmste unter allen. Sobald ihr
Sohn den Thron bestiegen hat, so bekommt sie den Namen
Sultanin Valideh (Kaiserin Mutter), und genießt hohe
Auszeichnung. Sie allein hat das Recht ihrem Sohne seine
Die europäische Türkei.
475
Frauen auszuwählen. Schlimmer haben es die andern Ka-
dinnen und die Odaliskcn des verstorbenen Sultans; sie wer-
den in das alte Serai gebracht, und hier lebenslänglich
eingesperrt. Der Sultan hat einen sehr zahlreichen Hofstaat,
und jeder Hofbeamte seine eigene Tracht, so giebt es einen
Turbanträger, einen Schwertträger, einen Stuhlträgcr, einen
Schlüsselträgcr, einen Waschbeckenträger, einen Mundschenk,
einen Tischzeugbewahrer des Sultans u. s. w.
Unter den Staatsbeamten ist der vornehmste der Groß-
Vezier. Er ist sowohl der erste Minister als der erste
General; aber seine Gewalt ist sehr unsicher; denn bei der
geringsten Unzufriedenheit des Sultans wird ihm sein Amt wie-
der genommen, und er kann dann froh seyn, wenn er nur
verwiesen wird, oder ein untergeordnetes Amt bekommt, und
nicht gar sein Leben verliert. Der Oberbefehlshaber der Flotte
heißt Kapudan-Pascha, und alle hohe Staatsbeamten zu-
sammengenommen bilden den Divan (Versammlung), wel-
chem der Sultan gewöhnlich hinter einem Vorhänge beiwohnt.
Ueber die Provinzen setzt der Sultan Statthalter, die Pa-
scha's heißen, und zum Zeichen ihrer Würde eine Stange
mit zwei Noßschweifen vor sich hertragen lassen. Sie können
in ihren Provinzen frei schalten und walten, wenn sie nur
dem Sultan den nöthigen Tribut geben, und gehen mit dem
Leben und Vermögen der Unterthanen eben so um, als wie
der Sultan. Sie müßten sehr große Ungercchtigketen begehen,
wenn dieser davon Kenntniß nehmen, und sie deshalb absetzen
sollte. Vertraut ihnen der Sultan den Oberbefehl über ein
Heer an, so heißen die Seraskiers. Erhält ein Pascha
die Erlaubniß, drei Noßschweife vor sich hertragen zu lassen,
so heißt er Bcglerbeg.
Daß die Türken sich zur muhamedanischcn Religion beken-
nen, ist bekannt, eben so, daß sie den Glauben haben, daß
alle ihre Schicksale unabänderlich bestimmt sind. Daher gehen
sie mit der größten Kaltblütigkeit in jede Todesgefahr. „Soll
ich sterben," sagt der Türke, „so werde ich es eben so gut,
wenn ich in meinem Hause bleibe, als wenn ich mich in das
Schlachtengewühl stürze." Alle, welche den Koran, d. i. das
476
Die europäische Türkei.
Buch, welches die Gebete Muhamcdö enthalt, studirt haben,
heißen Ulema's (Schriftgelehrte), und stehen in hohem An-
sehen. Der erste unter ihnen ist der Mufti von Eonstanti-
nopel. Ec hat so vieles Ansehen als der Groß-Vezier, und
in wichtigen Fallen läßt stch der Sultan von ihm ein Gut-
achten (Fetva) geben, das vom Volke als etwas Heiliges
betrachtet wird. Die muhamedanischen Gotteshäuser heißen
Moskcen; die größten werden Dschamie genannt. Auf
ihnen sind hohe, schmale Thürme (Minarets), manchmal
mehrere, die oben einen Kranz haben, von welchem die
Muezzins (Ausrufer) hcrabrufen, wenn die Stunde des
Gebets erschienen ist; denn Glocken giebt es im Morgenlande
nicht. Vor den Moskcen stehen allemal Springbrunnen, in
denen sich die Türken waschen, ehe sie zum Gebete gehen. Die
Namen der gewöhnlichen Geistlichen sind folgende: die Scheiks
sind die geistlichen Redner. Sic predigen in den Moskcen aus
dem Gedächtnisse; die Imams haben die gewöhnlichen kirch-
lichen Verrichtungen, halten die täglichen Gebete, besorgen die
Gebrauche bei Hochzeiten und Beerdigungen u. dcrgl. Es giebt
auch bei den Türken Arten von Mönchsorden; der berühmteste
ist der der Derwische. Diese Leute sind religiöse Schwär-
mer und Müssiggänger, die im Lande herumziehen, allerhand
sonderbare Gebräuche bei ihren Gebeten haben, und vom Bet-
teln leben. Einige setzen sich in einem Kreis dicht an einan-
der, und bewegen nach dem Tacte Kopf und Leib hin und
her; andere thun dies stehend, indem sie sich dabei bei den
Händen fassen. Bei ihrem Gebete machen sie die widernatür-
lichsten Bewegungen, z. B. einer legt seine Arme dem An-
dern auf die Schultern; dann gehen alle mit abgemessenen
Schritten im Saale herum, indem sie mit den Füßen stam-
pfen, schrecklich heulen, und so wild herumspringen, daß ih-
nen die Schweißtropfen vor der Stirn stehen. Zuletzt gera-
then sie in eine Art von Wuth. Sie machen mehrere kurze
Säbel und andere eiserne Werkzeuge glühend; der Obere theilt
diese unter die Wüthendsten von ihnen aus, welche die glü-
henden Eisen mit der Zunge berühren, zwischen die Zähne neh-
men, und endlich im Munde auslöschen. Andere durchbohren
sich damit verschiedene Theile des Körpers, ohne das Gesicht
Die europäische Türkei.
477
zu verziehen. Der Schelk besucht dann die Verwundeten,
sagt Gebete darüber her, und verspricht ihnen Heilung. Das
nennen diese Leute Gottesdienst! Das Sonderbarste aber ist
der Tanz der Derwische. Nachdem sie mit mancherlei Cere-
monien dreimal im Saale umhergegangen sind, werfen sie ihre
Mäntel weg, und drehen sich im Kreise herum, indem sie ihre
Arme in gleicher Höhe mit den Schultern halten. Jeden Au-
genblick wird die Bewegung schneller, und doch halten sie wohl
20 Minuten damit aus, stoßen auch mit den Armen weder
an die Wand noch an die Nachbarn. Ucbrigens sind die
Derwische eben so unwissend als abergläubisch, und die, wel-
che im Lande umherziehen, wahre Landstreicher. Eine andere
Art von Mönchen sind die Ca len der, die den Grundsatz
haben, sich das Leben so leicht als möglich zu machen, und
sich auf den Kaffeehäusern und in den Schenkstubcn umher-
trciben.
Zu den Vorschriften, denen sich kein Türke entziehen darf,
gehören die häufigen Abwaschungen. Jeder muß sich wö-
chentlich 2 — 4 Mal baden; daher giebt es hier der warmen
Bäder so viele. Das Waschen der Hände, der Arme und
des Gesichts kommt täglich mehrere Mal vor, und haben sie
kein Wasser, so reiben sie sich wenigstens die Hände in Staub
und Sand ab. Das Waschen ist bei ihnen nicht bloß eine
Pflicht der Reinlichkeit, sondern der Religion. Auch häufiges
Beten ist ihnen vorgeschrieben. Alle 24 Stunden müssen sie
5 Mal beten. Zu der bestimmten Stunde ruft der Muezzin von
der Höhe des Minaret mit lauter, wohlklingender Stimme:
„Gott ist der Allerhöchste! Außer ihm ist kein Gott! Muhamed
ist sein Prophet! Kommt zum Gebet! Kommt zum Tempel des
Heils! Groß ist Gott! Es giebt keinen Gott außer Gott!"
Diese Worte, von der Höhe herabgerufen, besonders wenn
es ringsum still ist, machen einen erhabenen Eindruck. So-
gleich verläßt jeder Türke seine Beschäftigung, und eilt ent-
weder nach der nächsten Moskee, oder ec verrichtet sein Ge-
bet an dem Orte, wo er sich befindet; Keiner wagt sich die-
ser Pflicht zu entziehen. Kommt man nach der Moskee, so
läßt man seine Schuhe draußen stehen, und setzt sich oder
kniet auf die Matten nieder, mit denen der Boden bedeckt ist;
478
Die europäische Türkei.
denn Stühle oder Bänke giebt es hier nicht. Zu den Haupt-
festen gehört das Fasten im Monde Namazan. Sobald der
Mond sich in diesem Monate zeigt, beginnt das Fasten, und
währt täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, wo
kein Erwachsener das geringste essen darf. Aber sobald die
Sonne untergegangen ist, fängt das Essen an; man wandert
vergnügt in den Straßen umher; überall sieht man bunte
Lampen brennen, besonders in den Moskeen und auf den
Gallerien der Minarets. Alle Kaffeehäuser und Buden sind
offen, und man erquickt sich hier an Kaffee, Scherbct, Pa-
steten und Zuckerwcrk. Bei reichen Leuten ist die Tafel für
jeden, der kommen will, gedeckt. Gegen Morgen hält man
die große, reichliche Hauptmahlzeit, dann legt man sich auf
die Ruhebetten nieder, und steht, wenn nicht dringende Ge-
schäfte es erfordern, den ganzen Tag nicht auf. Zst der Na-
mazan vorüber, so folgt das Bcyramsfest, das drei Tage
dauert, während welcher sich jeder bloß der Freude überläßt.
Man umarmt sich, versöhnt sich mit seinen Feinden, macht
einander Geschenke, überall sieht man vor den Thüren Divans
und Tafeln stehen, zu denen man die Freunde einladet; Seil-
tänzer, Luftspringcr und Possenreißer machen ihre Künste, kurz
Jeder thut, was ihm am meisten Freude macht.
Den Türken ist der Genuß des Weins und Brannt-
weins verboten; doch nehmen cs die meisten damit nicht ge-
nau. Auch dürfen sie mehrere Thiere, Schweine, Schildkrö-
ten, Krebse u. a. nicht essen. Dafür trinken sie desto mehr
Kaffee. Ueberall sicht man Kaffeehäuser, wo Müssiggänger den
ganzen Tag zubringen, um Taback zu rauchen, Dame oder
Schach zu spielen, Mährchen erzählen zu hören, oder den
Sprüngen der Lustigmacher zuzusehen. Macht man Besuche,
so wird man vor allem mit Kaffee bewirthet. Die Taffe
steht immer in einer andern von Kupfer, Silber oder Gold,
damit man sich die Finger nicht verbrennt. Der Kaffee wird
ohne Zucker und Sahne getrunken, aber Zuckerzeug dazu ge-
gessen. Das Tabackrauchen ist in der Türkei allgemein; die
Röhre bestehen aus wohlriechenden Hölzern, sind mit Gold,
Elfenbein und Steinen geziert, und haben Spitzen von Koral-
len oder gelbem Ambra, die Köpfe aber sind von einer zierlich
Die europäische Türkei. 479
gearbeiteten rothen Erde. Manche haben auch wohl die persi-
sche Pfeife, die aus einem viele Ellen langen biegsamen Rohre
besieht, und durch eine Krystallkugel geht, die mit Rosenwas-
ser gefüllt isi. Die Pfeife wird den ganzen Tag nicht weg-
gelegt; sie haben sie auf Spatziergängen, auf Reisen bei sich,
und reiche Leute pflegen einen besondern Diener zu haben, der
ihnen die Pfeife und alles, was zum Stopfen und Anzünden
gehört, immer nachtragt. Auch darf es bei vornehmen Tür-
ken nie an Wohlgerüchen fehlen. In den Zimmern wird flei-
ßig geräuchert, und die Frauen, welche Taback rauchen, kauen
außer der Zeit ein wohlriechendes Gummi.
Die Hcirathen werden dort ganz anders geschlossen als
bei uns. Nicht die jungen Leute selbst sind cs, welche die
Wahl bestimmen, sondern die Eltern. Die Mädchen werden
daher oft schon im 3ten, 4ten Jahre verlobt, und erhalten
im 12rcn oder 14tcn die eheliche Einsegnung; denn dort sind
sie viel früher als bei uns erwachsen. Die Eltern unterzeich-
nen den Ehevertrag vor dem Richter, und dann erst bekommen
die Verlobten sich zu sehen. Eine religiöse Weihe findet bei
ihnen nicht statt, sondern es isi ein bürgerlicher Vertrag, in
welchem die Mitgäbe genau bestimmt wird. Die Hochzeiten
werden mit möglichster Pracht gefeiert, aber der Bräutigam
hat seine besonderen Gäste, und die Braut hat die ihrigen
auch, und beide bekommen sich nicht zu sehen. Wenn die
Schmauserei vorüber ist, so wird die Braut in einen Schleier
gehüllt, in einen vergitterten Wagen gesetzt, und so in das
Haus ihres Mannes geführt. Vor dem Wagen trägt man
ausgeputzte Bäume her, und Musikanten und Possenreißer be-
lustigen das Volk. Hinterher tragen mehrere Pferde die Aus-
stattung, und Verwandte und Freunde folgen hinterdrein. In
der Regel hat jeder Mann nur eine Frau, weil mehrere zu
unterhalten eine kostbare Sache ist. Reiche Leute haben auch
wohl 2 — 4. Mehr sind eigentlich nicht erlaubt; will er da-
her mehr haben, so heißen sie nicht seine Frauen, sondern die
Sklavinnen seiner Weiber.
2st ein Türke gestorben, so wird er rein gewaschen,
Kopf und Bart werden mit wohlriechenden Kräutern bedeckt,
der Leichnam in ein weißes Tuch gehüllt, und in einen Sarg
480
Die europäische Türkei.
gelegt. Vier Männer tragen diesen so schnell als möglich auf
den Totenacker; Freunde und Verwandte laufen, ohne Klagen
und Thränen hinterdrein. Auch Trauerkleider sind nicht üblich.
Der Leichnam wird augenblicklich nackt ins Grab gesenkt, der
Grabhügel mit Gras bedeckt, und der Geistliche ruft den Tod-
ten dreimal bei seinem und bei seiner Mutter Namen. Die
Begräbnißplätze sind vor der Stadt, und bilden einen liebli-
chen Spatziergang. Sie sind mit Cyprcssen und andern im-
mer grünen Bäumen bepflanzt. Auf die Gräber pflanzt man
Myrthen oder Buchsbäume, und Reiche verschönern sie auch
wohl mit kleinen Marmorsäulen, auf denen ein Turban von
Stein befestigt wird. Auf den Säulen stehen kurze Aufschrif-
ten , z. B.: „ Diese Welt ist vergänglich; für mich ist sie
es heute, für dich morgen." Da diese Platze meist am Ab-
hange der Hügel sich erheben, so gewähren sie auch in der
Ferne einen freundlichen Anblick.
Die Kleidung der Türken ist ganz morgenländisch. Die
Kopfhaare werden glatt abgeschoren; nur ein kleiner Büschel
bleibt auf dem Scheitel stehen. Die Zahl der Barbiere ist daher
sehr groß; einige gehen in den Häusern herum, andere haben
Buden, in denen sie das Geschäft verrichten. Alle Türken
tragen Knebelbärte, die meisten auch Bärte, und halten große
Stücke darauf; sie kämmen, waschen und falben sie fleißig,
und die geringste Verunglimpfung desselben wird als eine große
Beleidigung betrachtet. Den Kopf bedecken sie mit einem ro-
then wollenen Käppchen, und darüber tragen sie den Turban.
Das Haupt aus Ehrerbietung zu entblößen, ist nicht Sitte,
und selbst vor dem Sultan erscheint man mit bedecktem Kopfe.
Großen Luxus trieben sie bisher mit den kostbaren indischen
Shawls, die sie sich um den Turban wickelten, oder auch
als Gürtel trugen; aber der jetzige Sultan hat das verboten,
und nur noch den Frauen erlaubt. Die Kleidung der Tür-
ken iist nach den Ständen verschieden, im Allgemeinen sich
aber gleich. Die nähere Beschreibung übergehen wir, weil
wir sie aus vielen Abbildungen als ziemlich bekannt vorausse-
tzen. Die Kleidung der Frauen unterscheidet sich wenig von
der der Männer; nur pressen sie den Körper mehr mit dem
Leibchen, das sie tragen, zusammen. Gehen sie aus, so ha-
Die europäische Türkei.
481
ben sie noch einen weiten Rock von feinem Tuche an, in wel-
chen sie sich ganz* hüllen. Darüber und über den Kopf
werfen sie noch einen Schleier von weißem Musselin, so daß
nur die Augen sichtbar sind. Mit bloßem Gesicht sich sehen
zu lassen, würde höchst unschicklich seyn. Bei reichen Frauen
machen Diamanten den Hauptreichthum aus; sie sind als Arm-
bänder, Ohrringe, Reiherbüsche gefaßt, oder um das Leib-
chen gesetzt. Selbst der Turban pflegt mit Perlen und Stei-
nen besetzt zu seyn. Nur die Frauen des Sultans und eini-
ger reichen Männer sind beständig in die Harems verschlossen.
Die Frauen aus den Mittelständen haben mehr Freiheit,, und
können täglich ausgehen; nur müssen sie immer eine Sklavin,
oder eine Anverwandte, oder sonst eine Frau mitnehmen. Sie
gehen sogar spatzicren, aber der Schleier darf nie weggenom-
men werden. Sonderbar ist der Anblick für einen Fremden,
der den freien Verkehr zwischen Männern und Frauen im übri-
gen Europa gewohnt ist, wie in der Türkei nie sich beide Ge-
schlechter unter einander mischen. Selbst auf Spahiergängen
sieht man hier einen Haufen Männer gravitätisch Taback rau-
chen, und dort eine Gesellschaft verschleierter Frauen auf dem
Rasen liegen, ohne daß Einer um den Andern sich beküm-
merte. Wie ganz anders ist das bei uns!
Eine große Plage der Türkei ist die Pest. Das Be-
nehmen der verschiedenen Nationen ist dabei sehr abweichend.
Während die in Constantinopel wohnenden Fremden sich ängst-
lich einschließen, wenigstens Jedem vorsichtig aus dem Wege
gehen, oder gar die Stadt verlassen, bleiben die Türken in
ernster Ruhe, weil sie auf die unabänderlichen Beschlüsse der
Vorsehung vertrauen, und daher jede Gefahr mit der größten
Gleichgültigkeit betrachten. In wie fern ist ihr Glauben
wahr? In wie fern irrig? — Diese Gleichgültigkeit macht
nun auch, daß sie gar keine Vorsicht gebrauchen, der Krank-
heit Einhalt zu thun und ihre Fortschritte aufzuhalten. So
ist der Türke in jeder Lage des Lebens. Es hat etwas Ehr-
würdiges, zu sehen, mit welcher Fassung er jedes Leiden er-
trägt. Verliert er seine Gesundheit, kommt er um sein Ver-
mögen, sterben ihm seine liebsten Angehörigen, oder wird er
zum Tode verurthcilt, so hört man ihn nie murren oder kla-
Nösscltö Geographie II. ZI
482
Die europäische Türkei.
bcn, weil das unmännlich, vergeblich, ja frevelhaft sey, und
bedauert man ihn, so antwortet er ruhig: „Gott hat es so
gewollt." Ob dies Betragen nicht achtungswerthcr und ver-
nünftiger ist, als das fassungslose Jammern, das man bei
uns, besonders bei dem weiblichen Geschlechte, so oft fin-
det? —
So wie die Türken in allen Wissenschaften sehr unwis-
send sind, so sind sie es auch in der Arzneikundc, und doch
verlangt jeder Kranke, daß ihm der Arzt für den Erfolg des
Mittels siche, das er ihm verschreibt. Wird aber der Kranke
danach kränker, so hat der Arzt einen schlimmen Stand, und
oft muß er noch viel Geld geben, um nur die Familie des
Kranken zu beruhigen. Und wären die Aerzte auch noch so
geschickt, so würden doch die Frauen nur wenig Nutzen da-
von haben, da jene nur in den äußersten Nothfällen in die
Harems gelassen werden. Sclbsi wenn die Frauen in den letz-
ten Zügen liegen, dürfen die Aerzte sie nur durch einen Vor-
hang von Gaze sehen, hinter dem die Kranke ihre Hand zum
Pulsfühlen darreicht.
Die Kaufleute in der Türkei haben ihre Waaren nicht
wie die unsrigen in einzelnen Gewölben hier und da feil, son-
dern alle Buden, die einerlei Waaren enthalten, stehen in ei-
ner doppelten Reihe neben einander, und sind fest gemauert.
Eine solche Straße voll Buden nennt man einen Bazar,
und es giebt Bazars für alle Arten von Waaren: für Edel-
steine, Tuche, Daumwollenwaarcn, Scidenzeuche u. a. Au-
ßerdem sieht man an den Straßenecken Leute sitzen, welche
Pfannkuchen, Pasteten, Kräuterconfect und andere Eßwaaren
verkaufen. Andere gehen umher, und bieten kühlende Getränke
an, die aus Wasser und Melonen- oder Pfirsichen-, Erd-
beer-, Ananas - oder anderem Obftsafte bereitet sind. Noch
gewöhnlicher ist der Sorbet, den man aus Weintrauben,
Aprikosen, Honig und andern Dingen macht, wozu man noch
einige Tropfen Nosenwasser und etwas Schnee thut. Ebenso
verkauft man auf den Straßen saure, geronnene Milch mit
Zucker, auch wohl mit Erdbeeren vermischt. Die Verkäufer
tragen auf dem Kopfe ein rundes hölzernes Gefäß voll kleiner
Schaalen und unter dem Arme einen Dreifuß. Auf dcnsel-
Die europäische Türkei.
483
ben stellen ste ihren Tisch. Die Landleute, die des Morgens
auf den Straßen Butter und Früchte verkaufen, tragen diese
Sachen in zwei kleinen Körben, die sie an den Enden eines
Stocks, den sie über den Nacken legen, tragen.
Die Hauser der Türken sind ziemlich auf gleiche Weise
eingerichtet. In der Mitte ist ein großer Saal. Die an der
einen Seite daran stoßenden Gemächer bewohnt der Hausherr,
die an der andern Seite seine Frauen und Kinder. Das Zim-
mergeräthe ist ganz einfach. Spiegel sind selten; Gemälde
und Bildsäulen fehlen ganz. Die Wände sind gewöhnlich mit
einer glänzenden Oelfarbe angestrichen, die Decken getäfelt.
Rings an den Wänden sind breite und niedrige Sophas mit
vielen Polstern, um Haupt, Schulter und Arme daran zu le-
gen. Meist sind sie mit weißseidenen Stoffen überzogen und
mit herabhängenden O.uasten geziert. Die Lebensart der Tür-
ken von Stande ist folgende: Mit Tagesanbruch verrichten sie
ihr Gebet; dann frühstücken sie; zu Mittage halten sie eine
ordentliche Mahlzeit und effen einiges Obst; um 5 Uhr essen
sie wieder etwas, und nach Sonnenuntergang speisen sie zu
Abend. Ein türkisches Frühstück schildert ein Reisender folgen-
dermaßen: „Man reichte uns sogleich Pfeifen und Kaffee;
hierauf gab man uns eine herrliche Zubereitung von Milch,
Kuchen mit Zucker, die noch glühend heiß waren, und ver-
schiedene Arten von Melonen. Zu Ende des Frühstücks wurde
noch einmal Kaffee herumgegeben, und von nun an brachte
man uns, bis wir von unserm Wirthe Abschied nahmen, ab-
wechselnd Pfeifen und Sorbet. Der Mittagstisch ist die Haupt-
mahlzeit, und Manche effen außer dieser Zeit den ganzen Tag
nichts weiter. Während der Mahlzeit wird weder' getrunken
noch gesprochen, als 2 — 3 Mal die Worte: „Gelobt sey
Gott!" Das Brot, das man ißt, ist ungesäuert, das ge-
wöhnlichste Fleisch Schöpsenfleisch. Honig, Zucker und Ge-
würze werden viel gebraucht. Der gemeine Mann begnügt
sich mit Reis, Weizen, Graupen, Erbsen und Linsen. DaS
Lieblingsgericht aller Türken ist Pillau, der aus Reis oder
Weizengraupen besteht, und im Wasser gekocht wird; dann
wird Butter daran gethan. Dies Gericht findet man im gan-
zen Morgenlande. Um den Pillau noch nahrhafter zu machen,
31 *
484
Die europäische Türke!.
thut man Fleischbrühe, Geflügel oder Schöpsenfleisch dazu.
Die Tische sind nicht so hochbeinig wie bei uns, sondern mehr
einem großen runden Präscntirtellcr ähnlich; denn er erhebt sich
nur wenige Zoll von der Erde, und hat einen niedrigen Rand.
Vor jedem Gast liegt ein plattes Brot in Gestalt eines Eier-
kuchens , und zwei Löffel. Ein Gericht wird nach dem an-
dern aufgetragen. Ist cs flüssiger Natur, so bedient man sich
der Löffel; wo nicht, so ißt man mit den Fingern. Daher
wird das Fleisch in kleine Stücke geschnitten aufgetragen. Nur
das Geflügel wird ganz vorgesetzt; der Hausherr zerreißt es
mit den Fingern, und legt jedem Gaste ein Stück davon vor.
Erst nach der Mahlzeit trinkt man Sorbet und Bier, das
man aus Hirse braut, bisweilen auch wohl Wein, doch nur
insgeheim. Kaffee trinkt man den ganzen Tag. Daß die
ganze Famile zusammcneffe, wie bei uns, ist dort unerhört.
Der Mann ißt gewöhnlich allein, und wieder die Frau mit
den Kindern. Der Sultan ißt zu keiner bestimmten Stunde,
sondern sobald er Appetit hat. Er sitzt mit untergeschlagenen
Beinen auf einem Polster oder Teppich, hat eine große Ser-
viette auf dem Schooße liegen; eine andere hangt ihm über
den linken Arm, um sich abzuwischen; vor ihm ist der nie-
drige silberne Tisch. Neben ihm liegen mehrere Sorten deli-
cater Brötchen von Weizenmehl, mit Ziegenmilch eingerührt.
Der Haushofmeister kostet die Gerichte, ehe er sie auftragt,
und der Beamte, der sie auf den Tisch setzt, verrichtet dies
Geschäft kniend. Beim Essen gebraucht der Sultan weder Ga-
bel noch Messer. Junge Tauben, Hühner, Schöpsenfleisch, ge-
kocht und gebraten, sind die Hauptgerichte, und werden mit
den Fingern zerrissen; daß Pillau nicht fehlen darf, versteht
sich von selbst. Pasteten und Eingemachtes wird zum Nach-
tisch gegessen, Obst und Käse nur zum Vesperbrot. Er ißt
in der Regel allein; Stumme und Possenreißer umgeben ihn;
aber auch die letzteren dürfen kein Word reden, sondern müs-
sen ihn nur durch Gebehrden und Gesichterschncidcn ergötzen.
Ist er besonders gnädig, so wirft er ihnen, wie wir den
Hunden, ein Stück Brot hin, das sie begierig unter sich thei-
len. Sein gewöhnliches Getränk ist Sorbet mit Gefrorenem,
das man aus dem Safte mehrerer Früchte, besonders von
Die europäische Türkei.
485
Citronen bereitet, und mit Zucker vermischt. So ist ungefähr
auch die Mahlzeit jedes Türken von Stande.
Da der Genuß des Weines den Muhamedanern unter-
sagt ist, und sie sich doch gern berauschen, so genießen viele
von ihnen das Opium, was aber bei den Türken für ein La-
ster, wie bei uns der Trunk, gehalten wird. Die Menschen,
die sich diesem Laster ergeben, heißen hier Teriaki. Man
findet ihrer täglich mehrere vor den Buden, in denen das
Opium verkauft wird. Ihre Gesichter sind blaß und hager,
und alle ihre Muskeln befinden sich in einer sichtlichen Ab-
spannung. Viele haben eiternde Beulen an der Stirne, am
Halse oder im Nacken, andere leiden an krampfhaften Verzu-
ckungen, noch andere sind an einem Arme oder einem Beine
gelähmt. Zu ihrer Entschuldigung sagen sie, das Opium ver-
sehe sie in eine sanfte, freudige Schwärmerei, in einen Zu-
stand des Entzückens, der alles nur erdenkliche Glück weit
hinter sich lasse.
Das größte Glück für den Türken ist träge Ruhe des
Geistes und des Körpers. Daher pflegen nur jungt' Leute
körperliche Uebungen anzustellen. Diese reiten gern, und üben
sich in Kricgsspielen. Das gewöhnlichste Spiel derselben ist
das Djerid, d. i. das Werfen mit dem Spieß. Sie üben
sich im vollen Jagen mit dem Spieß nach einem Ziele zu
werfen, und zeigen dabei eine..staunenswürdige Gewandtheit,
die man bei unsern Reitern nie sieht. Auch mit der Pistole
und dem Bogen zu schießen, sind sie ungemein geschickt. Die
Frauen halten sich für die Beraubung ihrer Freiheit durch
Spiele in dem Harem schadlos, lassen auch wohl zuweilen
Tänzerinnen kommen, die sehr geschickte Sprünge machen, auch
wohl chinesische Schattenspiele aufführen oder eine magische
Laterne mitbringen. Kartenspiele sind bei den Türken nicht
üblich, aber das Schach- und Damenspiel, und selten wird
dabei Um Geld gespielt. Sie spielen selten ein Instrument,
und sind doch leidenschaftliche Freunde der Musik; sie unter-
halten daher oft Musiker, und bezahlen sie sehr freigebig.
Die lärmende türkische Musik ist ja auch bei uns bekannt; je
größer das Getöse, desto lieber ist es ihnen. Doch lieben sie
diese Musik nur im Freien; die Musik in den Zimmern da-
486
Die europäische Türkei.
gegen ist sehr sanft, eintönig und melancholisch. In einem
Winkel kauern die Musiker, wahrend die Zuhörer in tiefem
Schweigen Taback rauchen.
Außer den eigentlichen Türken giebt es noch viele an-
dere Einwohner in der Türkei.
1. Die Griechen. Sie sind Nachkommen der alten Grie-
chen, und wohnen meist in Morea, in Livadien und auf den
Inseln, und werden jetzt nur noch wenig als Handelsleute in
andern Gegenden gefunden, weil die Türken sie hassen und
verachten. Sie sind munter, thätig und kräftig, aber auch
sehr habsüchtig, leichtsinnig und unzuverlässig, alles Folgen
des großen Druckes, unter welchem sie so lange gestanden
haben. Von besonderer Schönheit sind die Frauen, am mei-
sten auf den Inseln. Nur ist ihre Tracht ihrer Schönheit
nicht günstig. Die Vornehmen tragen ein weites, weißes,
seidenes Kleid mit vielen herablaufenden Falten, und darüber
eine Art Jacke ohne Aermel, die einem kurzen Mannsfracke
ziemlich ähnlich sieht. Auf dem Kopfe haben sie ein weißes
oder rothes Käppchen mit einer schwarzen O.uaste. Junge
Mädchen haben Blumen in die Haare geflochten. Auch die
Schönsten werden durch diese Kleidung verunstaltet. Das
Volk hat schöne Anlagen, und wird es sich nur erst ganz ruhig
dem Gefühle der Freiheit überlassen können, so wird es diese
Anlagen gewiß bald entwickeln. Sie haben ihre eigene Spra-
che, die mit dem Altgriechischen große Aehnlichkeit hat. Sie
bekennen sich zu der griechisch-christlichen Religion.
2. Albaner oder Ar na Uten. Sie wohnen in Alba-
nien, haben ihre eigene Sprache, und sind ein tapferes, mun-
teres Volk. Ihre Tracht ist sehr malerisch. Auf dem Kopfe
haben sie ein rothes Käppchen, die Brust ist nackt, ein brei-
ter Gürtel, in dem Dolch und Pistolen stecken, hält das
weite, kurze Gewand fest, und selten sieht man sie unbe-
waffnet.
3. Slaven wohnen besonders im nordwestlichen Theile,
in Bosnien, Servien, Bulgarien, und reden verschiedene sla-
vische Mundarten.
4. Wlachen sind die Bewohner der Moldau und Walla-
chei, und haben ihre eigene Sprache.
Die europäische Türkei.
487
5. Armenier. Sie sind eigentlich in Armenien in Asien
zu Hause, werden aber auch in allen Provinzen der europäi-
schen Türkei als thätige Handelsleute gefunden.
6. Juden leben überall zerstreut, meist vom Handel, und
stehen bei den Türken in der tiefsten Verachtung. Sie sind
zum Theil sehr reich, suchen aber ihren Reichthum unter dem
äußeren Scheine der Armuth zu verstecken, weil sie, wie Kei-
ner, ihres Vermögens nicht sicher sind.
7. Franken. So nennt man hier alle christliche Euro-
päer: Deutsche, Franzosen, Engländer, Italiener u. s. w.
^Christen und Juden haben in der Türkei freie Religions-
Übung, müssen aber dafür eine Abgabe bezahlen. Ucbcrhaupt
sind die Türken duldsam, aber sie verachten alle Andersden-
kende, und nennen sie Ungläubige, sich selbst aber Moslemin,
d. i. Gläubige.
1. Romanien oder Rum-Ili.
Nördlich ist das Land vom Hämus, südlich vom Meer
von Marmora und dem nördlichen Archipel, östlich vom schwar-
zen Meere, und westlich von Maccdonien eingeschlossen. Ein
schönes Land, voll Reisfelder, mit einem sanften Klima, und
herrlichen Thälern und Hügelreihen. Hier liegt an den herr-
lichen Ufern des Bosphorus die große, unvergleichliche Haupt-
stadt des türkischen Reichs,
Constantinopel, von den Türken Stambul genannt,
die wohl über 700,000 Einwohner zählt. Außer der eigentlichen
Stadt gehören dazu mehrere kleinere Städte, die als Vorstädte
betrachtet werden können. Die ansehnlichsten darunter sind Pera
und Ga lata, die neben einander liegen, und fast nur von Fran-
ken bewohnt sind. Hier glaubt man sich in einer unsrer Städte
zu befinden. Die Häuser sind wie die unsrigen gebaut, und auf
den Straßen sieht man viele europäisch gekleidete Menschen. Doch
sind die Häuser meist klein und schlecht, bis auf die Wohnungen
der reichen Kaufleute und der fremden Gesandten. Ferner Topr
Ha na (Kanonenmagazin). Hier ist die große Stückgießerei;
davon der Name. Fanal wird fast nur von Griechen und Ar-
meniern bewohnt. Hass im Pasch i ist der Sitz aller auf das
Secweien sich beziehenden Anstalten. Hier finden wir dieSchiffs-
werfte, die Zeughäuser, die Magazine, den Pallast des Kapudan.'
Pascha u. s. w. Alle Reifende stimmen darin überein, daß die
488
Die europäische Türkei.
Lage Constantinopels so überaus reizend sey, daß sie selbst die von
Neapel und Palermo weit übertreffe. „Die Ansicht ist so unend-
lich mannigfaltig, so unbeschreiblich erhaben," sagt ein Reisender,
den wir hier besonders sprechen lasten*), „daß es unmöglich ist,
das in die Seele aufgenommene Bild seinem völligen Inhalte nach
wiederzugeben. D wer die Natur in ihrer ganzen Prachtfülle und
unnennbaren Glorie anstaunen will, der komme nach dem thraci-
schen Bosphorus. O wie verschwenderisch ist hier die Natur mit
allen Schönheiten, die ihr zu Gebote standen! wie erscheint da
alles, was Menschenhand und Kunst schuf, in einem so kleinli-
chen, erbärmlichen Lichte! Alle Schönheiten des glücklichen Sü-
dens siehst du da auf einem einzigen Punkte vereinigt, und Him-
mel, Meer und Erde treffen da gleichsam zusammen, um gemein-
schaftlich ein Paradies zu bilden. Es war ein Tag, so schön,
wie er nur im Elysium seyn kann, als unser Schiff in den be-
rühmten Kanal einlenkte, der hier die Gränze von Europa und
Asien bezeichnet. Zm Sonnenglanz verklärt erschien die ganze
Gegend; ihr goldenes Licht strahlte in tausend Farbenmischungen
zurück auf das verblendete Auge. Himmel und Meer lagen in
Silberschimmer, und von den herrlichen Küsten beider Erdtheile
wehten balsamische Düfte herüber. Die Luft war so lieblich
mild, durchsäusclt von der Kühle des Wassers, der ganze Dunst-
kreis so erquickend, die schnell auf beiden Seiten vorüberfliegenden
Gestade entfalteten sich so unaussprechlich reizend, daß es uns
vorkam, als wandelten wir im Garten Eben, und die Phantasie
den Verstand fast überredete, es sey dies der Eingang zu irgend
einer Feenstadt. Eine halbe Tagereise ging es so fort, immer
zwischen Nomanicn und Klein-Asien hin. Eine Ansicht verdrängte
die andere, eine Schönheit trat an die Stelle der anderen. Hier
erschienen die Ruinen von Schlössern und Vesten, dort Dörfchen
zwischen den dunkeln Zweigen der Cyprcssen und Wallnußbäume.
Hier fuhren wir unter den drohenden Kanonen stark besetzter Bat-
terien, dort neben orientalischen Pallästen und kaiserlichen Lustpa-
villons (KioSken) vorbei. Hier traten Reihen von Bergen und
Hügeln hervor, ihre'Gipfel mit Wäldchen von morgcnländischen
Gewächsen gekrönt, die jetzt in den reichen Farben des Sommers
prangten, und sich ununterbrochen ins Thal herabsenktcn; dort
sah man reizende Landparthien, mit allem Reichthum des Fleißes
und des Lupus geschmückt. Dort erhob sich ein steiler Gipfel;
aber seinen Höhen entfließt der reinste Nektar, und die Purpur-
trauben der Weinstöcke, welche sich zwischen dem bräunlichen Laube
rötheten, hingen in üppigen Kränzen von den Zweigen des Fei-
genbaums und der schlanken Kirschbäume herab, während Wiesen
*) Murhard in seinem Gemälde von Constantinopel. Er kam vom
chwarzen Meere her nach der Stadt.
Die europäische Türkei.
489
von einem Grün, wie ich es selten irgendwo gesehen hatte, die
Ufer des Meercsstroms bedeckten, der rauschend seine schäumenden
Wogen an den Klippen der Gestade brach, und hier und dort in
einem bald kleineren bald größeren Meerbusen die nahe liegenden
Gefilde zurückspiegelte. Je mehr wir uns nun der großen Kaiser-
stadt näherten, desto mannigfaltiger wurden die Gegenstände, die
das Auge fesselten, desto lebhafter wurde es rings um uns her/
um. Schon glitten Barken und Schiffe aller Art unaufhörlich
über der in den goldenen Strahlen der Sonne gebadeten gekräu-
selten Fläche hin; schon hörte man hin und wieder das Hurrah-
rufen der Schiffleute, und das vielfältige Geläute der schwimmen-
den Meerespalläste; schon erblickte man die nahen europäischen und
asiatischen Gestade mit zahllosen Menschengruppen besäet. Es war
zu viel auf ein Mal, und dennoch war das Vornehmste, das
Größte noch zurück; dennoch sollte alles dies nur ein schwaches
Vorspiel zu dem unnennbar erhabenen Schauspiele seyn, Las sich
nun nach und nach und auf ein Mal ganz meinen Blicken dar-
stellte. Der Kanal war zu Ende, und gegen Süden eröffnete
sich eine Aussicht ins Unendliche des Meeres von Marmora. Da
erschien plötzlich die unermeßliche Hauptstadt mit ihrem prachtvol-
len Amphitheater (denn die Stadt liegt an und auf 7 Hügeln)
und ihrem Hafen, und setzte Lurch Las Imposante des Eindrucks,
den sie auf mich machte, durch Las Majestätische ihrer Lage und
durch ihren unabsehbaren Umfang selbst die gegenüberliegende Halb-
insel und das links auf seinen Hügeln in so himmlischer Herrlich-
keit prunkende Skutari in Schatten."
„Als wir an dem Kai der Halbinsel anlangten, die, von
Constantinopel durch einen Meeresarm (den Hafen der Stadt)
getrennt, die Stadt der Franken, Pera und Galata, in sich
schließt, umringte uns ein Schwarm von Lastträgern, um unser
Gepäck an Ort und Stelle zu bringen *). Wir folgten ihnen nach
Pera. Der Weg führte lange bergan, und die Sonne trat eben
in das Glutmeer des Mittagskreises, als wir das Ziel unsrer
Wünsche erreichten. Nichts von dem Allen, was mir auf den
ungleichen bevölkerten Straßen aufstieß, wo wir immer kämpfend,
bald siegend, bald besiegt, durch ein Meer von Menschen uns
drängen mußten; alles war mir wie ein Traum; meine Sinne
waren verblendet und betäubt von den Eindrücken einer übergro-
ßen Zahl neuer Gegenstände und ungewohnter Scenen. Aber
welche Freude, nachdem man so lange unter Orientalen zugebracht
hat, nun auf einmal sich wieder mitten unter europäischen Ge-
*) Die eigentliche Stadt Constantinopel nämlich bildet ein Dreieck.
Nördlich wird sie vom Hafen begranzt, der von Osten nach Westen ins
Land hineintritt. Nördlich vom Hafen liegt die Halbinsel, auf welcher
Pera und Galata sich befinden. '
490
Die europäische Türkei.
stalten (in Pera) zu finden. Es ist, als wenn inan bisher in
einer fremdartigen Welt herumgeirrt wäre, und nun urplötzlich
wieder in die scinige zurück versetzt würde. Kaum trat ich in die
erste Straße von Pera, und schon erblickte ich überall europäische
Trachten."
Alle andere europäische Hauptstädte haben so viel mit einan,
der gemein, daß das, wodurch sie sich von einander unterscheiden,
in wenigen Tagen oder Wochen herausgefunden ist. Ganz anders
ist der Fall mit Constanlinopel. ,,Sie ist einzig in ihrer Art,
und es drückt sich in der Seele eine solche Fluth neuer unbekann-
ter Bilder ab, daß man alle geistige Kräfte zusammen nehmen
muß, um sich in diesem Labyrinthe nicht gänzlich zu verlieren.
Kaum war ich in den unvergleichlichen Kanal eingeschifft, kaum
sah ich die hohen Thürme des Serai's und der Stadt und die
spiegelhelle Fläche des die Küsten bespielenden Meeres vor mir,
kaum goffen alle nahe und ferne Gestade Europa's und Asiens ih-
ren strahlenden Glanz auf das entzückte Auge , als ich mir geste-
hen mußte, daß alle Bilder von Constanlinopel, die sich bis da/
hin in meiner Seele abgedrückt vorfanden, ganz unrichtig und
falsch gewesen wären."
„Gleich den Abend nach meiner Ankunft in Pera bestieg ich
den Balcón in einem Hinterhause eines Gebäudes, von dem aus
man die göttlichste Aussicht auf die Umgebungen des Boephorus
hat. In flammendem Golde schwamm das Abendlicht der Sonne,
und die fluchenden Gewässer des Kanals strahlten den Glanz des um-
wölbenden Himmels wider. Der Dunstkreis hatte die heitere Farbe,
die diesem Klima eigen ist, und hinter den Wipfeln der entfernten
Baume im Westen funkelte die dein Horizonte zueilende Sonne.
Nicht minder groß und erhaben war die Ansicht nach Osten und
Süden. Wie prächtig zeigte sich nicht der sanft bewegte Spiegel
des weißen Meeres (des Meers von Marmora), dessen Grän-
zen in unerreichbaren Nebelfernen dem Auge entschwanden! Aehn/
liche Eindrücke macht auf jeden Menschen der Anblick der offen-
baren See. Das immer belebte Eleincnt verändert unaufhörlich
den Schauplatz; das sanfte Schaukeln der Wellen beschleicht uns
mit einem sehnenden Gefühle, für das die Sprache zu arm ist.
Ueppiger kann kaum eine Landschaft, mannigfaltiger kaum ein
Anblick seyn, als von dieser Höhe herab. Dicht unter mir ein
immerwährendes, unendliches Gewühl von Menschen und Thieren,
in größeren und minderen Fernen Berge und Gewässer, Felsen
und Inseln, Vorgebirge und Wäldchen, Thäler und Hügel, Fel-
sen und fruchtbare Fluren. Auf der einen Seite schweift mein
Blick bei unabsehbaren Straßen und Häuserhaufen vorüber, und
aus ihnen steigt wie aus einer unermeßlichen Gruft ein dumpfer
Donner von Lachen, Weinen, Stöhnen, Jammern, Aechzen,
Flehen und jubelnden Tönen von den Gestaden des Kanals empor,
Die europäische Türkei.
491
und schlägt im wilden Sturme ans Ohr. Auf der andern Seite
sah ich die weite See mit ihren hinschwebenden Segeln und glän-
zenden Rudern in den Abendstrahlen schimmern, während an den
reichen Ufern die sich weit hin streckenden Thäler und blauen Ber-
ge noch in der Pracht des untergehenden Tages glühten. Vor-
züglich aber reizte meine Aufmerksamkeit die Menge der Gottes-
äcker, die sich, mit Steinen und Bäumen wie übersäet, nicht
nur auf den Anhöhen der Südseite der Hauptstadt und hinter
Skutari in fast unendlichen Strecken hinzuziehen schienen, sondern
auch Pera fast von allen Seiten umgaben. „Gewiß sind dies die
Orte," fragte ich meinen Begleiter, „wo beim Schimmer des
Vollmonds gemüthlich Franken die Kühle der Nacht genießen, wo
die vereinigten Gegenstände des Todes und der Religion jedes Ge-
fühl erheben, und die Seele zu einer sanften Schwermuth stim-
men?" — ,, Keineswegs !" gab man mir zur Antwort. „Die
Franken in Pera können sich nach Sonnenuntergang nicht mehr
nach diesen einsamen Orten wagen. Nächtliche Spatziergänge, so
lieblich sie auch in diesem Klima sind, bleiben ihnen fremd. Schon
mancher unsrer Brüder fand in diesen stillen Hainen seinen Tod;
denn sobald die Schatten der Nacht die Landschaft umfloren,
schwärmen an diesen friedlichen Stätten der Verblichenen räuberi-
sche Türken umher, und ihre Meffer sind der Schrecken der Chri-
sten." Im Nu stieg der Gedanke in meiner Seele auf, wie un-
glücklich die Menschheit, selbst am schönsten Orte der Erde, im
Zustande der Barbarei sey. Doch schon war die Sonne hinter
dem Horizont herab, und allmählig erschien der Himmel in aller
Unermeßlichkcit von wandelnden Welten durchirrt. Neue Eindrü-
cke fesselten meinen Geist, und gern stieg er von den trüben Ge-
danken des Menschenelends zur Betrachtung der erhabenen Natur
hinan. Ich genoß noch eine Weile das laue Fächeln der von den
nahen Gestaden sich erhebenden Meerlüftchen, und sah, wie der
Lichte Nebel in Len höheren Gegenden des Himmeldomes zerrann,
und die gleich Diamanten blitzenden Sterne doppelt groß durch
den Erdschleier erschienen."
,, Am andern Morgen zwang mich die Neugier, nach einge-
nommenem Frühstücke mich ins Fenster zu legen, um die vorüber-
gehenden .Menschengestalten zu beobachten. Es war noch früh am
Tage, und doch schon war alles hier in so reger Thätigkeit. Wäh-
rend um diese Stunde der größte Theil der Menschen ruhig zu Bette
liegt, ist im Morgenlande schon alles auf den Beinen, um die
milde Kühle des Frühmorgens zu genießen, und mancherlei Ge-
schäfte zu beendigen, ehe die Gluth der Sonnenstrahlen alle
Räume füllt. Die Verschiedenheit der Nationen geben mancher-
lei Stoff zu Betrachtungen. Die nervige Gelenksamkeit der Ita-
liener, die immer muntere und fröhliche Laune der Franzosen, die
plumpe Schwere der Deutschen, die auch mitten im Frieden krie-
492
Die europäische Türkei.
s,erischcn Gesichter der Ungarn und Polen, die starken Körper der
Bulgaren, Servier und Bosnier, der originelle Gang der Eng-
länder, die verschiedenen Trachten der Slavonier, Dalmatier,
Albanesen, die kaufmännische Betriebsamkeit der Armenier, Juden
und Griechen, die Gravität und komische Würde der Türken —
bildeten Len souderbastcn Contrast. DieSeeleute verschiedener Na-
tionen, die sich mild durchkreuzten, und mit verschwenderischer
Hand die Beutel leerten, die eine Reihe mühseliger Schifffahrten
und kühn überstandener Gefahren ihnen gefüllt hatten, und Schaa-
ren türkischer .Krieger, die mit stolzer Miene Platz gebieten und
mit ihren schimmernden Waffen sich durch die dichten Menschen-
haufen Platz machten, vollendeten Las Buntscheckige des Ganzen.
Ich wagte mich endlich hinaus in das Gewühl, das eben noch Lurch
eine Menge lasttragender Pferde, Esel und Büffel vermehrt wurde.
Eine Reihe, mir Bauholz beladener Kameele brachte nicht wenig
Verwirrung in die Menschenhaufen, und der erste Anblick dieser
langhalsigen Geschöpfe machte einen seltsamen Eindruck auf mich."
Pera ist eine Welt im Kleinen für sich, und hier ein ganz
verschiedenes Leben als im eigentlichen Constantinopel. Im Som-
mer find die meisten, oder alle Gesandte in dem herrlich gelege-
nen Bujuckdereh in ihren Landhäusern. Dann ist Pera zwar
nicht todt, aber die Zirkel der höheren, feineren Welt fallen dann
weg. Wenn aber der Herbst wiederkehrt, so eilt alles nach der
Stadt zurück. „Und wie geht es nun hier zu in der großen Welt
von Pera ? " wird man fragen. — So wie unter gleichen Um-
ständen überall in Europa. Eiu Tag rauscht dahin in daS Meer
der Vergangenheit nach dem andern unter Vergnügungen und Zer-
streuungen, und die Welt scheint sich da mit Courierpferden durch
das Leben zu treiben. Der Geist findet in diesen Zirkeln freilich
wenig Nahrung, und noch weit weniger das Herz; allein wo
giebt es ein größeres Feld für stille Beobachtung der menschlichen
Thorheiten? Der, dessen Herz von Natur einfach
und sanft ist, der sich eines edeln Gefühls mehr
als alles adeligen Schimmers freut, der nach dem
Beifalle deö eigenen Gewissens stärker strebt als
nach den Lobsprüchen der feinen — nur überver-
fein erten Zirkel, der schickt sich freilich nicht in die
Sphäre der per a er großen Welt. Sein reines stil-
les Herz wird sich einsam finden mitten in den Um-
gebungen dieser glänzenden Kreise, und sich eines
mitleidigen Lächelns nicht erwehren können über
die Wichtigkeit, mit welcher die unbedeutendsten
Gegenstände hier behandelt werden." Du sichst hier
eben die glatten, geschliffenen, freundschaftlich thuenden, lächeln-
den, artigen Menschen, mit runden, weißen und rothen Gesichtern,
mit Augen ohne Feuer und klingenden Stimmen ohne Ausdruck,
Die europäische Türkei.
493
den sie durch schnelles Reden zu ersetzen suchen, wie an unsern eu-
ropäischen Höfen. Du kannst an diesen Orten sogenannte Ele-
gants in Menge bemerken, die einen großen Theil ihrer Zeit in
den Putzzimmern zubringen, immer zwischen dcn^ Damen sitzen,
und Witzeleien und Anspielungen machen, die sie Feinheit nennen.
Deinem Auge werden hier solche Leutchen nicht entgehen, die
in den Gesellschaften gut angeschrieben sind, und deren Geschick-
lichkeit besonders darin besteht, daß sie recht vorzüglich tanzen,
fertig Clavier spielen, ein geschmackvolles Stickmuster zeichnen, und
über alles in der Welt plappern, oder mit Kennermiene abspre-
chen können. Doch wirst du auch finden, daß man hier unter
den höheren Ständen manche alberne Vorurtheile abgelegt hat,
die ihnen im Vaterlande so fest anzukleben pflegen. Wie überall,
so gewährt der Mittelstand auch hier dem Menschenfreund die am
meisten erfreuliche Ansicht. Hier ist überall ein angenehmer, un-
gezwungener Ton und eine sittliche Fröhlichkeit verbreitet. „Hier
erfreut sich alles eines schönen veredelten Lebensgenusses; jeder nä-
hert sich dem andern, ohne sich mit Steifheit und Zwangsetiguette
zu quälen. Die Abende bringt man da oft in einem Gartenhaine
zu; da man sich aber zeitig versammelt, so trennt man sich auch
zeitig wieder, und der frühe Morgen lockt schon jeden wieder an
seine Geschäfte und Arbeiten. Darin bilden Pera und Constanti-
nopcl einen wahren Contrast mit London, Paris und Hamburg,
wo man sich kaum den Betten entreißt, wenn die Sonne schon
viele Grade über dem Horizonte steht."
Auch in Gal ata wohnen viele Franken; doch hat da alles
schon mehr eine orientalische Farbe. Sie liegen beide neben ein-
ander, von Constantinopel durch den Hafen getrennt. Die Gas-
sen in Galata sind enger und sich durchschlingcnder, und die Häu-
ser ohne alle Einförmigkeit und Ordnung neben und durch einan-
der gebaut. Die Straßen gehen bergauf und bergab, und außer
den Wohnungen der Franken findet man hier auch schon Türken
wohnen.
Hören wir die Beschreibung unseres Reisenden von der West-
seite von Pera. „Prächtig war der Morgen; eben stieg die
Sonne hinter des Meeres Horizonte empor; die Luft war äther-
rein, und von Zeit zu Zeit ward sie lieblich von leisen Seewin-
den durchsäuselt. Zm Rosenantlitz strahlte alles um uns her, und
aus der ganzen Pflanzenwelt schien ein angenehm belebender Duft
durch die ganze Atmosphäre geströmt zu seyn So entzückend ist
nie der kommende Tag in unserem Norddeutschlande; so erfreu-
lich und das Herz sogleich so unwiderstehlich ergreifend stellt er
sich nur am thracischen BosphoruS dar. Wir waren bald auf der
abhängigen Ebene, die, mit muselmännischen Grabsteinen und Ey-
pressen bedeckt, sich an der ganzen Westseite von Pera hinzieht.
Reizender und mannigfaltiger ist kaum eine Aussicht denkbar als
die, welche sich hier von allen Seiten dem Auge darbietet. Wie
494
Die europäische Türkei.
einförmig erschienen da die von den Deutschen so hoch gepriesenen
Ansichten von Cassel und Dresden? Was sind dagegen die sonst
so malerischen Rhein - und Donaugegenden, die Ansichten von
Wien und Ofen? Ganz versunken in den Prachtanblick der wei-
ten uns umgebenden Natur, setzten wir uns neben einem wohl-
verzierten Leichensteine nieder, und auf weiches Moos und unter
Cypressen gelagert überschauten wir die große elysäische Fläche, die
unter zahllosen Abwechselungen vor uns ausgebreitet lag. Am
Fuße der unter endlosen Mannigfaltigkeiten sich bis zum Meere
hinziehenden grünen Bergftäche erhob sich südwärts das Serar
des Kapudan-Pascha; die vergoldeten Dächer und Gipfel,
die purpurnen Flaggen und scharlachnen Fahnen auf demselben
gaben ihm das Ansehen eines Feenschlosies. Pappeln und Ch-
pressen und so viele andere Bäume, die diesem bezaubernden Kli-
ma eigen sind, streckten stolz ihre Häupter um das Gebäude des
ersten Admirals der Muselmänner empor. DaS Arsenal
mit seinen mannigfaltigen reichen Magazinen und Schiffswerften
zog sich um dasselbe heruin. In tiefer Versenkung strömte das
Meer im blühenden Kranze der untern Gestade. Aus seinem
hellschimmernden Busen erhoben sich am nördlichen Ende anmu-
thige Inselgruppen, deren üppiges Dunkelgrün von der Wasserflä-
che zurückgeworfen wurde. Jenseit des Hafens thronte in un-
nennbarer Majestätsfülle auf ihrem ungleichen Boden die große
Hauptstadt mit ihren zahllosen Minarets und Dschamien, mit ih-
ren Gebäuden und Pallästen, mit ihren Gärten und Bädern,
mit ihren ungezählten Straßen und Plätzen. Welch eine unüber-
sehbare Häuserwelt! Berge und Hügel voll Palläste, und Thäler
mit Menschenwohnungen angefüllt stehen da, umschattet von ho-
hen laubreichen Bäumen, wie in einem großen unendlichen Gar-
ten. Anhöhen streben über Anhöhen, Häusermassen über Häuser-
massen empor, so weit das Auge reicht, und hinter dem südlichen
Horizonte sehen Thurmgipfel und Baumwipfel empor, und verkündi-
gen noch eine andere, für das Auge verborgen liegende neue Welt.
Es ist ein Anblick ohne Gleichen. Wer ihn nicht selbst genoß,
wirk) nie die ganze Prachtfülle desselben empfinden." '
Jetzt nähern wir uns dem Hafen der Stadt, wo das größte
Menschengewühl ist. „Sobald man bis zum Kai gelangt ist, be-
findet man sich beinahe in einer völligen Verblendung; die Sinne
schwinden bei der endlosen Menge immer neuer Gegenstände. Man
muß die Augen zudrücken, um die Fluth von Ansichten dem Ge-
dächtnisse einzuprägen, und der Phantasie zur Verarbeitung hin-
zugeben. Schon von fern wird das Ohr durch den wilden Lärm
im Hafen wie betäubt. Tritt man aber auf den Kai, so weiß
man nicht, ob man hier oder dort hin will; man ist kaum seiner
eigenen Entschließungen Herr. Hier ist eine beständige Fluth der
Gehenden und Kommenden. Tausend Stimmen erheben sich vor
Die europäische Türkei.
495
imd hinter mir; Geschrei und Getose von allen Seiten. Ein
Chaos von wilden unverständlichen Worten; dort arbeitende, hier
streitende Menschengruppen. Rechts ein tobender Haufen der auf-
gehaltenen, ungeduldigen Schiffleute! Links ein barbarisches Ru-
fen der ankommenden und abgehenden Gondelierer, die sich kühn
und geschickt mit ihren kleinen, bunten Tschaiken (Kähnen) einen
Weg durch das Gedränge bahnen. Hier lasten Zimmerleute die
wiederholten Schläge ihrer schweren Aexte in der Luft erschallen;
dort scheint die Werkstätte der Cyklopen zu seyn, aus welcher die
Flamme hoch zum Himmel emporsteigt. Hier die gewaltigen Stim-
men der Zankenden, dort ein ungebildeter Matrosengesang, und
mitten unter diesem die Signale mit dem Schiffsgeläure, das
Pfeifen und der Schall der Schifferglocken. Hier die lärmenden
Bauarbeiten an den Schiffen, dort das verworrene Zurufen der
Matrosen, welche die Anker werfen oder lichten. Kaum hatten
wir den Boden des Kai's betreten, als mir uns schon von Hunderten
von Muselmännern umringt sahen. Alle waren Gondelierer, alle
beeiferten sich, ihre Tschaiken uns anzubieten, alle uns zu bere-
den, nur schnell und ohne Bedenken einzusteigen. Sehr oft bleibt
es nicht bei dem bloßen Rufen; sie fassen wohl gar die, welche
sich dem Hafen nähern, bei den Kleidern an, und machen Miene,
als wollten sie dieselben mit Gewalt in ihr Boot ziehen. Sie
können sich nicht einbilden, daß man bloß darum dem Meere zu-
gehe, um die malerische Aussicht auf seine Fläche und die gegen-
überstehenden Gestade zu genießen. Sobald man aber einen aus
ihrer Mitte zum Ruderer gewählt hat, treten die übrigen zurück.
Jener beeifert sich nun, seine Passagiere durch das Mcnschenge-
tümmel zu seinem Boote zu führen. Wir bestiegen eine Tschaike,
und waren froh, nachdem wir uns durch die Menge von großen
und kleinen Schiffen durchgearbeitet hatten. Bald hatten wir die
Mitte des Kanals gewonnen, und ruderten nun hastig der Rhede
von Constantinopel zu. Unbeschreiblich ist der Anblick, der hier
von allen Seiten die Augen fesselt, einzig in der Welt. Der
Hafen ist gedrängt voll von Schiffen allerlei Bestimmung, Art,
Namens und Baues. Sanft erblickt man sie von den Wogen ge-
schaukelt. Die größeren, welche in langen Reihen vor Anker lie-
gen oder stolz mit fliegenden bunten Flaggen dahin segeln, bilden
eine ungeheure Wasserstadt. Die zahlreichen Masten derselben glei-
chen einem Walde. Alle Räume zwischen diesen großen schwims
menden Pallästen sind mit kleineren Fahrzeugen, Gondeln, Scha-
luppen, Booten, Tschaiken mit und ohne Segel bedeckt, die sich
alle Augenblicke durchkreuzen, ohne sich im größten Gedränge zu
berühren. Ich erkundigte mich bei einem dieser türkischen Ruderer
nach der Zahl der zwischen der Stadt und den Vorstädten beschäf-
tigten Gondeln; er gab sie zu 70,000 an. Das scheint übertrie-
ben ; aber 4.0,000 mögen es wohl seyn. Nun denke man sich ei-
496
Die europäische Türkei.
neu Meerbusen, dessen Umfang sich mehrere Stunden erstreckt,
vnd auf dessen einander gegenüber liegenden Gestaden alles lebhaft
und thätig ist, voll von hin und her nach allen Himmelsgegenden
auf den Meereswogen schnell fortgleitenden Tschaiken, deren man-
nigfaltiger Bau und morgcnlänLische Verzierungen allein schon
die Aufmerksamkeit des Fremden reizen. Man Lenke sich die na-
menlosen, grell in die Augen fallenden bunten Kostüme und Trach-
ten der Orientalen, mit denen diese Schiffchen ohne Zahl vor
unsern Blicken wegeilen. Siehe! wie sie sich auf tausendfältige
Weise durchkreuzen, eins das andere noch an Gelenksamkeit und
Geschwindigkeit übertrifft, eines hinter dem andern zurückbleibt,
dieses jenem voreilt. Siehe! wie in jedem Momente tausend Ru-
der die glatte Wasserfläche durchschneiden, bei jedem Schlage der-
selben das Meer schäumend emporspritzt, und die östliche Sonne
jeden in die Höhe sich erhebenden Wasserstrahl vergoldet; wie von
allen Seiten die beiden Ufer mit allen ihren Gebäuden und Men-
schen wie in krystallenen Spiegeln abgebildet erscheinen. Man Lenke
sich diesen Hafen an Len meisten Orten nur etwas über eine Vier-
telstunde breit, so daß man in der Mitte deflelben alles zu un-
terscheiden vermag, was auf beiden reizenden Gestaden vor sich
geht. Man denke sich das unaufhörliche Getümmel auf und längs
dem Meere, daö betäubende Getöse von allen Seiten, die bestän-
dige Lebhaftigkeit und Thätigkeit, welche selbst mitten auf dem
Wasser mit der auf dem Lande zu wetteifern scheint, die ewige
Veränderung der Scenen und Gruppen, die tausendfältig verschie-
denen Ansichten und Erscheinungen: so hat man nur einige Theile
des großen, unendlichen, jeden Augenblick wechselnden Gemäldes
des Hafens von Constantinopel; aber die Wirklichkeit
übertrifft millionenmal jede mögliche Darstellung."
,, Allenthalben, wohin ich schaue, sind unzählige Gegenstände,
die in buntem Gemisch vor meinen Blicken vorübergehen, dort
dem Auge entschwinden, hier durch neue ersetzt werden. Alles ist
in einem unaufhörlichen Wechsel, in beständiger Umwandlung, und
dennoch bleibt das Ganze immer das nämliche. Ich richte meine
Augen nach Osten (wo der Hafen sich öffnet); sie schweiften den
beiden Gestaden nach, die mit Cypressen gekrönt oder mit Neihen
von Häusern auf reizenden Anhöhen und Pallästen nach orientalischem
Geschmacke bepflanzt sind. Zn weiter Ferne seheich das schäumende
Meer sich an den felsigen Ufern von Klein-Asien brechen, und
Skutari mit seinen zahllosen Dschamien und Minarets, auf
seinen Hügeln thronend, im goldenen Strahlenglanz gebadet.
Schiffchen gleiten wie schwarze Pünktchen hin und her in den
Fluthen des Meers. Weiterhin erblickt man auf den aufgewühl-
ten Wogen einige Fahrzeuge sich schaukeln, die halb in dem Azur
des Himmels schweben. Zn größerer Nähe sieht man die ge-
spannten Segel von Schiffen aus Süden und Norden, welche
Die europäische Türkei.
497
oben bei dem majestätischen Serai in den Kanal einlenken, und
sich fertig machen, die Stadt durch den Donner der Kanonen zu
begrüßen. Ich blicke nach der Westseite hin, da wo der Hafen
sich in einem Halbmond zu krümmen scheint. So weit mein Auge
reicht, sehe ich Schiffe und Schiffe, sehe nur, wie zahllose Schaa-
rcn von Tschaiken um die Linienschiffe und größeren Fahrzeuge
gleich Mücken um Elephanten herumtanzen. Dort gewahre ich
von weitem eine Menge Fischerboote heransegeln; andere haben
schon am Ufer angelegt, und die Fische werden von rüstigen Mu-
selmännern ans Land getragen; hier erwartet sie die Schaar der
Fischverkäufer, und nimmt ihnen die Last ab unter lautem Ge-
schrei. An den zunächst liegenden Küsten sind Schaluppen befe-
stigt, frische Lebensmittel an Bord zu holen; andere stoßen vom
Lande ab. Hier schiffen kleine Gesellschaften aus Pera, den schö-
nen Sommertag auf dem Wasser zu genießen und sich an der
Anmuth der Gestade zu weiden, ehe die Sonne dem Zenith nä-
her kommt. Dort schwimmen türkische Flaggen herbei, rückkeh-
rende Freunde auf den größeren Fahrzeugen am Bord zu bewill-
kommnen. Hier landen Markt- und Postschiffe von entfernten
europäischen und asiatischen Vorstädten; dort kommt eben eine
Karavane von Kameelen, Mauleseln und Pferden aus dem In-
nern von Asien zu Schiffe angesegelt, welche bis an den Bospho-
rus ihre Reise zu Lande zurückgelegt hatte. Hier eilt ein Paket-
boot des Kapudan-Pascha mit bewaffneten Türken davon, um
auf den Inseln des Archipels von den christlichen Einwohnern den
Tribut zu erpressen. Dort wirft ein Schiff Anker, mit fliegen-
der Flagge, seine Masten und Segel hoch in die Luft hinstreckend;
es hat eine Welt von Wasser durchschwomnien; es kommt aus
Nordamerika; der längst ersehnte Hafen ist erreicht; unterIauch-
zen und Frohlocken der Matrosen donnern die Kanonen."
„Aber zunächst um mich ist das Gedränge der Schiffe, die
Menge der Gegenstände noch weit größer; denn allmählig nähern
wir uns der Rhede der Hauptstadt. Die blauen Fluchen des
Meeres sind so klar, daß man den Tanz zahlloser Fische in
den Tiefen bemerkt. Nahe um die Tschaike herum erheben
sich ohne Scheu die Delphine, welche schnell und kühn ihre
Häupter aus dem Wasser emporstrecken, aber in dem Augen-
blicke wieder untersinken und verschwinden; ein seltsames Schau-
spiel, besonders für das daran nicht gewöhnte Auge des Nordlän-
ders. Man ist wegen der weißen Farbe dieser Seethiere anfangs
geneigt, sie für Menschen anzusehen. Dazu kommen noch zahllose
Schwärme von Eisvögeln, die theils in langen Reihen auf dem
Meere hinfliegen, theils sorglos und unbekümmert zwischen den
Fahrzeugen hin und her schwimmen. Zur Rechten segelt mir eine
prächtige lange Gondel, von goldenem Schnitzwerk strahlend; in
ihr sitzt ein Schwarzer mit untergeschlagenen Beinen auf einem
Nösselts Geographie II. 32
498
Die europäische Türkei.
reich staffirten Polster. Es ist ein vornehmer Diener des Serai;
ein schneeweißer, mit Perlen verzierter Turban hebt die dunkle
Farbe seines Gesichts; ein köstlicher Zobelpelz hängt um seine
Schultern, und ein von Edelgesteinen blitzender Dolch prangt in
seinem Gürtel. Zwölf Ruderer in scharlachenen Jacken beflügeln
den Lauf des Fahrzeuges; mit der Schnelligkeit des Windes durch-
schneidet es die Ebene des Kanals. Zur Linken rudert mir ein
breites Boot voll BostandschiS *). Sie kommen vom Sommer-
aufenthalte des Sultans, und haben vermuthlich einen Befehl in
die Stadt zu bringen; denn aus ihrer Mitte ragt ein stolzer Mu-
selmann hervor mit einem schwarzen Barte. Ins Kreuz und in
die Quere schwärmt eine Menge Gondeln mit Türken, die einan-
der theils höflich mit der Hand aufs Herz und einer geringen
Verbeugung begrüßen, theils stolz bei einander vorüberfahren, ohne
sich um etwas mehr zn bekümmern als um die langen Tabacks-
pfeifen, aus denen sie den lieblichen Duft einsaugen. Endlich
fällt noch das Auge auf eine Gruppe türkischer Frauen, welche
mit ihren grünen Talaren und weißen Schleiern einen Kreis in
einer Gondel bilden, und in der Frühe des Tages eine Spatzier-
fahrr machen, um die duftige Kühle der Morgenstunden zu be-
nutzen.^
„Indessen sind wir vor der Rhede von Conftantinopel an-
gelangt, wir sind in Conftantinopel selbst. Da ist kein Plätz-
chen , wo nicht ein Fahrzeug steht, kein Ort am Ufer, wo man
anlanden könnte. Das Gedränge an der Küste, das Getümmel,
das Getöse, alles steigt hier bis zum höchsten Gipfel. Wie da
alles wimmelt, wühlt, lebt, durcheinander webt an den Ufern
und auf den unabsehbaren Reihen von Schiffen und Barken!
Wie da alles in immerwährender Bewegung ist, wogt, rauscht,
rudert, segelt, ruft, schreit! Wie da mitten im Getümmel die
weißen und bunten Turbane hervorgucken zwischen den schwarzen
und grauen Hüten der europäischen Seeleute! Wie da in jedem
Augenblicke dutzendweise die Schiffe ankommen und forteilen. Hier
siehst du Schaaren von langsanr einherschreitenden Trägern, ge-
krümmt unter dem Gewichte der Ballen, mit denen sie ein segel-
fertiges Schiff befrachten. Weiterhin stimmen die Matrosen, zur
Abfahrt bereit, einen hellen Jubelgesang an, hängen oben an den
Spitzen der Masten oder an den Strickleitern, und bringen das
Takelwerk in Ordnung. Dort bahnen sich schwer beladene Ka-
meele und Pferde einen Weg mitten durch die Menge, um ihre
Lasten dicht am Kai niederzulegen, wo sie von den Schiffleuten
auf größere und kleinere Barken gebracht und versandt werden.
Hier ziehen schwarze Büffel Schleifen mit Holz von den Gestaden
*) Es sind Diener des Sultans, die seine Schlösser bewachen, seine
Gärten bebauen, und seine Tschaike rudern. Sie haben ihre eigene Tracht.
Die europäische Türkei.
499
IN die Stadt, welches vor kurzem erst ZU Wüster ankam. Auf
einer andern Ecke sind hundert Hände beschäftigt, Marmorsteine
auszuladen, die von den Inseln des weißen Meers gebracht wor-
den sind. Dort siehst du ganze Boote mit Zucker- und Master:
melonen, mit Baumfrüchten des Orients und Oecidents; hier
kommt ein Fahrzeug mit Reiß an; hier bringt ein türkisches Schiff
asiatische, 'dort ein ragusaisches europäische Waaren. Siehe wie
die türkischen Soldaten, welche die Aufsicht über den Zoll haben,
mit langen Stäben herbeieilen, sich durch das Menschengewühl
drängen, und ihre gebieterischen Stimmen erschallen lasten, die
selbst die wilden Meeresbändiger in Schrecken und Furcht setzen!
Mit der Tschaike ans Land zu kommen, war keine Möglichkeit.
Man mußte sich begnügen, das Fahrzeug an ein anderes festzu-
binden, und wir stiegen so über ein Dutzend Schiffe weg, bis wir
an das letzte kamen, von dem uns ein Sprung an das Land ver-
setzte. Von fern hatte das Getümmel am Kai groß, unüberseh-
bar geschienen; aber unendlich stärker war es in der Wirklichkeit.
Da ist kein Ort, wo sich eine Lücke in dem Menschenhaufen zeig:
te; man wird mehr schwebend in der Luft getragen, als von der
Erde; kaum ist ein Stückchen Raum erkämpft worden, so geht
cS schon wieder verloren. Die aus dem Innern der Stadt Kom-
mendenden drängen die andern immer wieder zum Meere hin, und
die eben aus den Schiffen Gestiegenen wenden alle Kräfte an,
ihre Anstrengungen zu Überwinden. Zwischen beiden steht ein
neutraler Haufen, der aus denen besteht, die ihr Beruf nöthigt,
beständig in der Nähe des Wassers zu bleiben. Es sind dieBoots-
kuechte, Gondclierer, Schiffsarbeiter, Aus- und Einlader. Er
bemüht sich das Gleichgewicht zwischen den Kämpfern wieder her-
zustellen. Ginge alles ruhig und still her, so wäre noch auszu-
kommen ; aber hier gellt uns ein Geschrei in die Ohren, dort
schallt ein Getöse durch alle Lüfte, hier ein donnerndes Rufen,
dort Töne des Gezänks. Was Wunder, wenn der einfache Deut-
sche bei solchen Umständen einem Betrunkenen gl'eicht?"
„Endlich ist es uns gelungen, uns durch die Menge einen
Weg zu bahnen. Wir haben den gefährlichen Kai im Rücken.
Siehe! welche Staubwolken erheben sich vor unsern Blicken! wie
ist alles da in einen düstern Nebel gehüllt! Welch ein Gewühl
vor uns! Welch raujendfällige Bewegungen überall, wohin wir
sehen! Ist etwa der Pöbel im Aufruhr, oder geht hier eine Hin-
richtung vor sich, oder ist es eine Feuersbrunst, die Verzweiflung
und Entsetzen unter einen wilden Volkshaufen bringt? — Ach
nein! es ist nichts, als der Eingang in eine der volkreichsten Stra-
ßen, welche vomHafen zum Bazar führt; wie jetzt, so ist es immer
hier. So findet man, betäubt von dem tobenden Hafenlärm,
trunken von dem bunten Gewimmel auf dem Kanal, keinen Ru-
hepunkt in den menschenreichen Straßen der Stadt."
, 32 *
500
Die europäische Türkei.
„Ich stürze mich nun mitten in den Straßentumult. Vor
mir liegt eine lange, weite Strecke; da ist Kopf an Kopf, und
von nahen und fernen Gegenden rauscht mir ein betäubender Volks-
lärm entgegen. Rechts und links eröffnen sich Querwege, welche
in ganze Labyrinthe von Gaffen führen; auch von daher Getöse
an allen Ecken. Jede große Stadt ist der Lärm - und Tummel-
platz losen Gesindels aller Art; aber Constantinopel steht hierin noch
auf einer weit höheren Stufe als Paris und London und selbst
Neapel. Wie aufgewühlte Wogen eines stürmischen Meeres, so
braust es mir in die Ohren, und es bietet sich nirgends innerhalb
des ganzen Gesichtskreises ein Plätzchen dar, wo man der Gefahr
entrinnen könnte. Welche Fluthen von Menschen wälzen sich hier
auf und ab! Welch ein Donnergebrüll stürzt da mitten aus ei-
ner dichten, schwarzen Pöbelwolke! Man denke nicht, daß dieser
betäubende Lärm nur in den der großen Rhede zunächst liegenden
Straßen statt habe; nein! von welcher Seite man auch die
Stadt betreten mag, immer kommt man zu einem gleichgroßen
Gewühlt, wie tausend nie vorhergesehene Gegenstände das Auge
fesseln, tausend Stimmen das Ohr umschallen. Man mag noch
so sehr vorher bei sich erwogen haben, daß eine so entfernte, un-
ter einem andern Klima liegende, von einem uns so ungleichen
Volke bewohnte Stadt sich von unsern deutschen Städten ganz
unterscheiden müsse: dennoch übersteigt die Wirklichkeit tausendmal
alle Erwartung, und man erblickt sich in einer völlig unbekannten
Sphäre, in welcher man alle vorher so sorgfältig gebildete Be-
griffe nach und nach aufzugeben genöthigt ist. Kaum merkt man
es unter dem Gewühl, daß cs bergan geht, und doch steigen wir
immer höher. Wie viele Gassen und Gäßchen sind zwischen uns
und dem Hafen! Welch ein Anblick von hier auf die tiefer lie-
genden Quartiere der Stadt! Man sollte denken, es wären Tage
erforderlich, um sich aus diesen zahllosen Zrrgängen heraus-
zuwinden. Aber eben diese Ungleichheit des Bodens, diese Unre-
gelmäßigkeit der Straßen, diese tausend einander durchkreuzenden
Wege, diese von der unsrigen so heterogene Bauart, diese so ver-
schiedenen Häusergcstalten, die nirgends so mannigfaltig sind wie
hier, wo jeder seiner Phantasie folgen kann, diese zahlreichen im-
mer grünenden Gärten mitten innerhalb dieser unübersehbaren
Welt von Wohnungen und Pallästen, diese hohen Mauern und
bunten Hütten, selbst dieses Durcheinanderschlingen der namenlo-
sen Gassen und Gäßchen giebt einem Spatziergange durch Con-
stantinopel etwas Romantisches, das man in unsern Städten
nicht findet. Allein selbst das Gewühl auf den Straßen ist von
ganz anderer Beschaffenheit als bei uns. Kutschen und Wagen,
wie die unsrigen, giebt es in der türkischen Hauptstadt nickt.
Alle Mannspersonen reiten hier, aber nicht wie unsere jungen
Europäer im starken Trabe, sondern gravitätisch langsam, so daß
Die europäische Türkei.
501
Niemand gefährdet wird. Zn welche Gasse man auch treten mag,
überall sieht man sich von orientalischen Menschenhaufen umringt,
erblickt man Gesichter, die uns ganz fremd scheinen. Gebrauche,
die man anstaunt, Trachten, die man nie vorher sah. Alles dies
bringt einen solchen Wirrwarr ins Gemüth , daß man alle Kräfte
aufbieten muß, die hier doch so nöthige Aufmerksamkeit zu behal-
ten. Unternimmt der Fremde das Geringste, das gegen die Sit-
ten des Landes streitet, so kann er in große Ungelegenheiten kom-
men. Schon der Anzug und besonders die Kopfbedeckung der Eu-
ropäer ist den Morgenländern ein Greuel. Bei dem geringsten,
unschuldigsten Fehltritt ist er gleich von Hunderten umringt, die
ein Vergnügen daran finden, ihn zu necken und zu beleidigen.
Keiner nimmt sich seiner an; ja selbst wenn er ermordet würde,
wer würde nach ihm fragen?"
„Mehr als zehn Gassen hatte ich an der Hand meines Füh-
rers durchwandert. Kein Ort war wie der andere; aber alle wa-
ren sich doch in dem Punkte gleich, daß orientalischer Geschmack
überall vorwaltete. Ansehnliche, zum Theil prächtige Gebäude
standen neben schmutzigen Hütten, und weitläuftige Straßen führ-
ten in enge Schlupfwinkel. Die meisten Häuser hatten nur 2
Stockwerke; einige waren von Holz und Lehm aufgeführt, und
mit größtentheils rother Oelfarbe übertüncht; andere hingegen aus
Sand und Kalk, und noch andere aus Marmor und Quadern
zusammengesetzt. Oben waren häufig Balcons und Terrassen zu
sehen; doch hatte ein großer Theil der Wohnungen, besonders
der niedrigeren Klassen Dächer nach ungarischer und deutscher Art,
aber von der mannigfaltigsten Form. Den größten Schmuck aber
geben der weitläuftigen Stadt die vielen öffentlichen Gebäude, be-
sonders die Dschamien mit der Menge von Minarets und Thür-
men , welche auf freien Plätzen stehen und mit Höfen und Bäu-
men umringt sind. Neben und über diesen erheben sich dann un-
absehbare Häuserreihen, bald hoch, bald niedrig, bald von dieser
bald von jener Bauart, und das Auge ruht auf der einen Seite
auf dem wohlthätigen Grün der hinter ihnen hervorguckenden Gar-
ten, auf der andern auf schönen, mit asiatischer Fülle überschmück-
ten Fanden von Marmorpallästen. Da die Dächer so vieler Häu-
ser stach sind, so hat man den, einem deutschen Auge fremden
Anblick, daß man Personen auf ihnen lustwandeln sieht. Nichts
ist gewöhnlicher, als bei schönem Wetter die Türken oben auf den
Gipfeln ihrer Wohnungen zu erblicken, wo sie Kaffee trinken und
ihre Pfeifen rauchen. Wenn dann das im tiefern Bette strömen-
de Meer ruhig im Nosenschimmer zu wallen anfängt, und die duf-
tige Dämmerung von den Küsten zur Stadt aufsteigt, dann fül-
len sich die Dächer und Gallerien auch mit verschleierten Frauen,
so wie die Männer während des Tages oben waren. Nur die
Herren des Harems finden sich oben bei den Frauen und Töchtern ein,
502
Die europäische Türkei.
und dürfen an dem in diesem Himmelsstrich so süßen Genuß des
kühlen Abends Theil nehmen. Oft sieht man auch noch auf die.'
sen flachen Dächern Pavillons errichtet; es sind Häuschen in der
Luft. Hier hat man meist die hinreißendste Aussicht von der
Welt. Man schaut von da aus tief in die zahllosen Straßen wie
in einen Hohlweg hinab, und wohnt so gleichsam auf der Hohe
eines Berges mitten in einer unermeßlichen Stadt."
„Wir setzen unsern Weg fort, und gelangen in eine Straße,
in welcher mehrere Quergassen zusammenstoßen. Neue zahlreiche
Menschenhaufen umgeben uns mit wilden Blicken, mit ausdrucks-
vollen Mienen. Gefahren von allen Seiten: hier heulende Hunde,
dort drohende Muselmänner; hier sich hoch bäumende Stoffe, dort
schäumende Kameele. Eben bin ich einem Troß von Menschen
ausgewichen, der gleich einer Fluth sich mir entgegenwälzte, um
sich im Hafen einzuschiffen. Nun kommt mir eine ganze Reihe
von Trägern entgegen, die gleich Lastchieren mehrere Centner schwere
Ballen auf dem Rücken tragen; denn hier bedient man sich der
Schubkarren nicht wie bei uns. Eine erstaunliche Menge von
Menschen lebt in Constantinopel von dieser Handthierung; alle sind
von starkem Körperbau, und scheinen an Kräften mit den Pfer-
den zu wetteifern. Hier vertritt mir ein insolenter Eselstreiber den
Weg; dort schreit ein Mann hinter mir mit lauter Stimme und
nackten Armen: „Sorbet! Sorbet!" Hier drängt mich ein Zug
von Soldaten, welche die Patrouille machen, mitten in den
Schmutz der Gaffen; dort stoßt mir ein Kuchenträger auf, mit
einem breiten, hölzernen Brette auf dem Kopfe und einer Art
von Tisch in der Hand. Sobald ihm jemand einen Wink giebt,
setzt er sein Gestelle mit hohen Füßen mitten in die Straße nie-
der, nimmt das Brett vom Kopfe, und stellt es auf seinen Tisch,
damit der Käufer sich aussuchen könne. Zehn Schritte weiter be-
gegnet mir ein Leichenzug. Oft wird der Sarg niedergesetzt; aber
dann trägt man ihn wieder eine weite Strecke in schnellem Laufe
fort. Indessen wird von den Minarets gerufen; überall eilen
Haufen von Muselmännern in das Kreuz und die Quere bei mir
vorüber, um daS Gebet in der Dfchamie nicht zu versäumen.
Zugleich hört man das geräuschvolle Schlagen auf einem Eisen
vor einer griechischen Kirche, welches die Griechen zum Gottes-
dienste einladet. Das Gewühl der Fußgänger kann nur mit dem
Gewimmel der Reiter und Lastthiere, der Pferde und Maulesel,
Büffel und Kamcele verglichen werden, das alle noch übrige Räu-
me anfüllt. Zugvieh giebt es wenig in Constantinopel; fast alles
wird von Thieren auf dem Rücken getragen. Dazu kommen noch
die vielen vornehmen Türken, die uns jedesmal aufstoßen, wenn
wir die Straßen durchwandern, und die nie ohne Gefolge und
Aufzug cinhergehen. Sie sind allezeit zu Pferde, und die ,Die-
nerschaft geht oder reitet immer mit morgenläudischem Prunke
Die europäische Türkei.
503
vorher oder umgicbt ihren Herrn. Nun endlich die vielen Kara-
vanen aus allen Gegenden von Europa und Asien, die fast täglich
eintreffen oder abgehen, und oft aus Hunderten und Tausenden
von Menschen und Thieren bestehen; die unzähligen bürgerlichen
und religiösen Züge und Feierlichkeiten, die Schaaren von Weibern
und zahllosen Hunden, die namenlosen Haufen von Käufern und
Verkäufern, von Handwerkern und Polizeiaufsehern. Es gehört
für den Neuling viel Geistesgegenwart dazu, um sich aus den aus
tausend Schlünden drohenden Gefahren herauszuwickeln."
„Mein Freund führte mich in einen Han*) von außeror/
deutlichem Umfang. Es war das große Gebäude, in welchem die
fremden Kaufleute hauptsächlich ihre Niederlagen haben. Unge-
heure Gewölbe, dicke, undurchdringliche Mauern und eiserne Thü-
ren schützen vor Einbruch. Aber das Gedränge war schon auf
der Straße, die zum Hauptthore des Hauses führte, so groß,
Laß ich oft um mehrere Schritte zurückgestoßen wurde. Endlich
gelang es uns, das Thor zu erreichen, und wir befanden uns
bald auf einem großen geräumigen Platze, der dem Han zum
Hofe dient. Hier konnte man erst die Größe dieses unermeßlichen
Waarenlagers überschauen. Der viereckige Platz war auf allen
Seiten mit dem tiefgehenden Gebäude umgeben. Die Höhe des-
selben gab den höchsten italienischen Pallästen nichts nach, und
rund um den Hof liefen steinerne Gallerten, durch die man in die
Gewölbe kommen konnte. Alles war hier in reger Thätigkeit, und
die Begierde nach Gewinn war hier auf tausend Gesichtern abge-
bildet, die uns in bunter Mannigfaltigkeit, ohne uns eines Blicks
zu würdigen, von allen Seiten umschwirrten. Durch die Menge
der Arbeiter, Aus - und Einlader, Träger und Kaufleute war
kaum durchzukommen.^
„Mein Freund führte mich nun zu dem großen Bazar.
Man muß hundertmal in demselben gewesen seyn, um die ganze
Pracht desselben überschaut zu haben, wo alles in unnennbarer
Fülle aufgehäuft ist, was Morgen - und Abendländer unter tau-
send Gestalten und Formen hervorbringen. Welch ein unendliches
Labyrinth von Gängen und Reihen von Gewölben! Welche unab-
sehbare Straßen voll Waaren, die wie Jrrgänge neben einander
herlaufen und sich durchkreuzen! Welch ein erstaunliches Gewühl
von Käufern und Verkäufern! Dieser Bazar besteht seinem Haupte
theile nach aus langen steinernen Gebäuden ohne Stockwerke in
Gestalt langer Gänge und Colonnaden. Oben sind sie gewölbt,
mit Holz oder Stein, oder mit Laubzweigen oder Neben gedeckt.
Durch oben angebrachte Löcher oder Fenster fallt das Licht hinein
*) Dies sind große Kaufhäuser, in denen niemand wohnt, wo aber
die Kaufleute ihre Comptoir- und Niederlagen haben. Weiber dürfen
nie hinein.
504
Die europäische Türkei.
Auf den beiden Seiten befinden sich nun Buden ebenfalls von
Stein oder von Holz. Vier fast unabsehbare gewölbte Straßen
dieser Art enthalten die kostbarsten Waaren. Der Bazar in Con-
stantinopel ist eine Welt an und für sich. Wir wagen uns mit-
ten in das Gewühl. Ungeachtet der Tag anfängt heiß zu wer-
den, erhalten doch die gewölbten Dächer eine liebliche Kühle.
Aber je tiefer man hineinkommt, desto schwüler wird es nun.
Allenthalben ist Kauf und Verkauf; ein allgemeines Getöse schallt
uns entgegen, dazwischen die Stimmen der Bietenden und Kau-
fenden. Schaue dich um! Welch ein Ueberfluß, welch eine Pracht
von unzähligen Dingen umgiebt dich! Siehe! Da ist Bude an
Bude, Gewölbe an Gewölbe in unabsehbaren Reihen und Stra-
ßen. Doch tritt nun näher zu den Kanfmannsgewölbcn; durch-
laufe sie mit schnellen Schritten. Alles genau in Augenschein zu
nehmen, dazu würden kaum mehrere Tage hinreichen. Was nur
immerhin die kühne Phantasie des Morgcnländers erträumen mag,
ist hier in reichlichem Maaße aufgehäuft, nicht etwa in einem Ge-
wölbe, nein in Dutzenden von Gewölben. Zm ganzen Oriente ist
cs allgemeine Sitte, daß Buden von einerlei Waaren und Pro-
ducten ihre Stellen neben einander haben; daher findet man auf
dem Bazar besondere Straßen und Reihen von Läden für jeden
besondern Zweig der Handlung Hier ist zehnfach das Palais
royal. Ich komme in die Straße der Iuwelcnhändler. Ein Reich-
thum von Millionen liegt um uns her ausgebreitet. Siehe!
wie die Brillanten in langen Reihen blitzen, wie die Rubinen,
Smaragde, Topase durch ihren farbigen Schimmer die Augen
auf sich ziehen. Dort hängen ganze Kasten mit Ringen von
unermeßlichem Werthe; hier Ohr- und Nasengchänge, eines schö-
ner als das andere. Dort sichst du Gürtel, Kaftans, weibliche
Turbans, Federn, Kopfputze mit Edelsteinen; hier Blumen, Dol-
che, Pistolen, Pferdegehänge und Gezäume, prunkend vom Glanze
der Brillanten und Rosetten. Ich gehe weiter, und trete in das
Quartier der Gold- und Silberarbciter. Welch eine neue Fülle
von schimmernden Gegenständen funkelt mir ins Auge? Staunend
bewundere ich die Geschicklichkeit der Orientalen in diesem Fache.
Alles ist zwar nach morgenländischem Geschmacke; aber diese Fein-
heit in den unzähligen Zierrathen gefällt auch dem Abendländer.
Nicht fern davon fallen uns zugleich die schönen Arbeiten in Stahl
und Bronce, die unzerstörbaren Klingen von Damaskus und Kairo
ins Gesicht. Ich gelange in einen andern Gang; das Zu - und
Abströmen der Menschenmenge ist La ohne Ende; aber das Ge-
töse derselben wird noch durch den hellklingenden Schall der Me-
talle übertroffen. Hier sind die Wechselbuden und nichts wie Wechr
selbuden. Unaufhörlich wird La auf allen Ecken Geld gezählt,
und der Klang der auf die Tische fallenden Gold- und Silber-
stücke tönt laut durch alle Räume. Welche Leidenschaften auf den
Die europäische Türkei.
505
meisten Gesichtern! Weiterbin erblicke ich Straßen von Gewöl-
ben mit den feinsten Zeuchen, Tüchern und Stoffen. Welche un-
geheure Magazine von europäischen und asiatischen Waaren! Hier
siehst du Gold - und Silberstoffe von Aleppo und Kairo, dort
Broeate von Luvn, hier mit Perlen und Seide gestickte Shawls
aus Persien und Hindostan, dort Muffeline aller Art aus Eng-
land; hier seine baumwollene Mäntel ans Tunis, dort Lcincwand
aus Schlesien und Holland; hier aus Seide und Baumwolle gewirkte
Zeuche aus Prusa (in Kleinasien), dort Damaste aus Venedig ; hier
europäischen Sammet, dort Teppiche auS Aegypten und Mesopota-
mien ; hier goldene und silberne Borten aus der Provenee u. s. w. Ich
dränge mich durch das Volksgewühl, und befinde urich endlich in
dem Quartiere der Pelzhändler und Kürschner. Ein nicht zu be-
rechnender Vorrath von russischen und sibirischen Waaren liegt
hier beisammen; denn alle Morgenländer tragen mehr oder weni-
ger Pelzwerk. Hier siehst du Pelze für einen König und für ri*
ncn Bauer, für Männer und Weiber, für Reiche und Arme,
Zobel, schwarze Füchse, Hermelin u. s. w., und Millionen wür-
den nicht hinreichen, dieses ungeheure Pelzmagazin zu bezahlen. Wir
wenden uns seitwärts; hier bieten die Zuckerbäcker und Süßigkeitskrär
mer ihre unzähligen Leckerbissen feil; ohne Unterlaß sind ihre Bu-
den von Menschen umringt. Eine neue Straße umfängt mich,
in welcher die Gcwürzkrämer ihr Panier aufgesteckt haben. Ein an-
genehm stärkender Dust kommt mir schon von fern entgegen; denn
hier sind die Vorrathskammern der köstlichsten Producte, welche
Zndien, Arabien und Amerika so reichlich hervorbringen. Außer-
dem trifft man da hunderterlei Waaren, die bei uns die Spezerei-
händler feil haben: Sago, Datteln, Reiß, Rosinen, Salz und
dergl. m. Weiterhin hören die Gewölbe von Stein auf, und der
Boden ist ungepflastert. Ein neuer Anblick bietet sich uns dar;
aber die Geruchsnerven leiden in diesen Quartieren; denn hier ha-
ben die Fleischer ihre Stellen, und weiterhin ist der Fischmarkt.
Uebrigens ist an diesem Orte mehr als irgendwo der Zusammen-
fiuß des gemeinsten Pöbels. Ganze Haufen sitzen da auf der Erde
und sättigen sich; denn man kann Fleisch und Fische hier auch
gebraten und zubereitet kaufen. Zch zog meinen Begleiter in eine
andere Straße hin. Es war derjenige Theil des Bazars, wo die
Schuster ihre Werkstätte haben. Diese Leute sind im Morgen-
lande weit geachteter als bei uns, weil sie dort weit feinere und
künstlichere Arbeiten liefern. Wie fein ist daS Leder! Wie nett
und sauber die Stiche! Wie glänzend die Farben ihrer fertigen
Arbeiten! Hier sind Pantoffeln, Papuschen, Sandalen, Stie-
feln, gelb, roth, blau, schwarz zu Tausenden zu haben. Dieje-
nigen Stücke, welche für die Frauenzimmer bestimmt sind, wer-
den besonders zierlich und kostbar verfertigt. Ich sah manche,
welche mit Perlen und Edelsteinen geschmückt waren, und in Menge
waren die mit Gold und Silber gestickten vorhanden. Nur grüne
506
Die europäische Türkei.
waren auf dem ganzen Markte nicht zu finden; denn diese Farbe
ist bei den Türken heilig, und eS würde als ein Frevel gegen die
Religion betrachtet werden, sich damit die Füße zu bedecken. Nicht
niinder merkwürdig ist das Quartier der Schneider, die wie die
andern Handwerker ganz offen und bei dem Geräusch der um sie
herum schwärmenden Menge mir einer Emsigkeit arbeiten, daß
sie auf nichts, was in ihrer Nähe vorgeht, zu achten scheinen.
Wir setzen unsern Gang nach einer andern Seite fort, und ich
sehe mich auf einmal zwischen den Werkstätten der Seiden t und
Baumwollenspinnereien, welche sich hier auf offener Straße be-
finden. Welche rastlose Thätigkeit herrscht hier überall! Ueber-
Haupt sind die Arbeitsleute in der Türkei bei großer Genügsamkeit
emsiger und fleißiger als bei uns. Tag für Tag setzen sie ihre
Arbeiten fort, und nur während des Bairams erholen sie sich.
Dabei sind ihre Werkzeuge so einfach, so grob und so gering,
daß man sich nicht genug wundern kann, wie sie damit so nied-
liche und künstliche Sachen zu Stande bringen." Auch dadurch
unterscheidet sich ein morgenländischer Bazar von einem europäi-
schen Jahrmärkte, daß bei uns meist, wenigstens oft, Weiber die
Verkäuferinnen sind. So nicht im Morgenlande. Hier sieht
man in den Buden nur Mannspersonen, und sieht man ja einige
verschleierte Frauen Baumwolle und gesponnenes Garn verkaufen,
so sind sie von sehr gemeinem Schlage. Dagegen findet man
wohl türkische Frauen unter den Käuferinnen, theils um sich an
dem Anblick der Waaren zu vergnügen, theils um Einkäufe zu
machen. Jedoch kommen vornehme Türkinnen nicht hierher. —
,, Noch giebt es hier eine große Menge Buden, in denen tau-
send Kleinigkeiten zu haben sind. Man findet hier alles, was
eine prächtige und reinliche Garderobe in wenig Augenblicken fül-
len kann. Aufgetbürmte Reihen von Uhren stehen da neben hun-
dert Kleinigkeiten aus französischen und englischen Manufacturen.
Gefäße von Glas und Krystall aus Venedig und Böhmen schim-
mern hier neben namenlosen Waaren von rothem und gelbem Kor-
duan; Parfümerien findest du hier von allen Ga-tungen, neben
Essenzen, Stücke von Tastet, mit goldenen und silbernen Blumen
bemalt, ans dem für die Frauen Hemden und Beinkleider ver-
fertigt werden, leinene, mit bunter Seide gestickte Tücher, die
man zu Tafelbedeckungcn gebraucht, Löffel aus Ebenholz und Elfen-
bein, Porzellan aus Japan und Paris, und so viele andere Dinge,
denen ich in unserer Sprache nicht einmal Namen zu geben
wüßte. Ist die Sonne untergegangen, so findet man oft eine all-
gemeine Illumination durch Tausende von Laternen und Lampen,
so daß man glauben sollte, es werde ein Volksfest gefeiert. Das
Gedränge und Gewühl ist dann dasselbe wie am Tage, und wir
Deutsche glauben einen aufgeputzten Weihnachtsmarkt zu sehen.
Viele besuchen den Bazar des Abends lieber wegen der lieblichen
Die europäische Türkei.
507
Kühle, um sich und seinen Freunden einen angenehmen Genuß
auch für das Auge zu verschaffen; denn von gesellschaftlichen nächt-
lichen Gastereien, wie in Europa, ist man im Morgenlande kein
Freund. Doch dauert die Erleuchtung des Bazars nicht lange;
denn bald nach Sonnenuntergang verschließen schon die meisten
Kaufleute ihre Gewölbe, und späterhin verliert sich alles."
„Man bilde sich nicht ein, daß in dem großen Constantino/
pcl der Bazar der einzige Ort sey., um den sich aller Handel und
Verkehr dreht; die morgenländischcn Städte haben das eigene,
Laß sie überall einem öffentlichen Markte gleichen, und die meisten
Straßen der Stadt und selbst mehrere Vorstädte kommen einer
beständigen leipziger Messe gleich. Es giebt nämlich hier nicht
nur noch viele kleinere Bazars, sondern jede Vorstadt hat auch
noch ihren eigenen. Besonders lebhaft ist der Verkehr in der
Iudenstadt, die sich vom Hafen bis zum Serai hinzieht, und
voll Buden und Laden ist. Hier sind die Straßen ungemein schmu-
tzig, und die Häuser höchst elend, von denen viele wahre Hütten
und Höhlen sind."
„Nach Tische fuhr ich nach Skutari (Constantinopel ge-
genüber auf der asiatischen Seite). Eine Tschaike war bald ge-
miethet, und wir ruderten der Küste Asiens zu. Ich will nichts
sagen von der Annehmlichkeit einer Fahrt im Hafen; so etwas ist
nur einmal auf der Erde vorhanden. Eben so wenig mag ich et/
was von den Prachtansichten sagen, die auf dieser Fahrt die
Hauptstadt auf der rechten, und die Vorstädte auf der linken Seite
darbieren. Die Spitze von Top/Hana war bald erreicht, und
rechts lag nun dicht vor uns das Serai mit seinen weißen und
orientalisch verzierten Pallästen, die zwischen den anmuthigsten
Wäldchen von C»)preffen einen herrlichen Eindruck machen. Im/
wer mehr entfalteten sich vor uns die mannigfaltigen Parthien
des großen Gemäldes; denn schon konnten wir in der Ferne die
Minarets und Dschamien von Skutari unterscheiden, die halben
Monde blinken sehen, und die gleich Irrgängen sich durchkreuzen-
den Gassen wahrnehmen. Doch näher fesselte ein andrer Gegenstand
mitten im Meere meine Aufmerksamkeit. Am Eingänge des Bos-
phorus vom Meere von Marmorn aus befindet sich auf dicken Fel-
senmassen gebaut ein Thurm mitten in den Fluthen, welcher der
Leander st hur m genannt wird." Denn hier soll Leander beim
Durchschwimmen über den Bosphorus sein Leben verloren haben.
Allein^ bekanntlich geschah es nicht hier, sondern ZO Meilen weiter
gen Süden, in den tobenden Wellen der Dardanellenstraße. In
einer Viertelstunde war die Nhede von Skutari erreicht. „Alles so
lebhaft hier wie in der Hauptstadt selbst; das nämliche Menschenge-
tümmel in den Straßen, der nämliche Lärm von allen Ecken.
Skutari ist zwar nur eine Vorstadt, aber dennoch größer als Leip-
zig mit allen seinen Umgebungen. Der Boden, auf dem sie liegt.
508
Die europäische Türkei.
hat viel Ähnlichkeit mit dem der Hauptstadt. Thäler wechseln
mit Hügeln ab, und coulissenmäßig erheben sich Häuserreihen
und Dschamien über einander, und geben die malerischsten Aus-
sichten. Zwischen den Wohnungen erblickt man in den anmuthig-
sten Gruppen das mannigfaltige Grün hoch emporstrebender
Bäume und Wäldchen, und im Hintergründe erscheinen noch grö-
ßere Anhöhen mit Gebüschen und türkischen Grabsteinen übersäet,
von denen man die ganze tiefer liegende Stadt überschauen kann.
Was die Lage betrifft, so wetteifert Skutari nur mit dem Serai
in der Schönheit; denn ebenso wie dieses und ihm gerade gegen-
über befindet cs sich am Ausgange des Kanals in das Meer von
Marmora. Alle Schiffe von Süden und Norden lenken in seiner
Nähe in den Hafen von Constantinopel ein, und eine Menge
Tschaiken erhalten unaufhörlich die Verbindung mit der Haupt-
stadt. Auf den Anhöhen hinter Skutari aber ist der merkwürdige
Standpunkt, der mir stets unvergeßlich seyn wird. Das gegenüber
liegende Constantinopel mit den Seraisgebäuden erscheint da in seiner
ganzen majestätischen Größe, und eben so prächtig ist die Aussicht
auf die gegenüber liegende Halbinsel, auf welcher Top-Hana,
Galara und Pera liegen. Rechts aber zeigt sich der Kanal in
einer unendlichen Perspective. Nie in meinem ganzen Leben
erinnere ich mich einen Anblick gehabt zu haben, der einen
so erhabenen Eindruck auf mich machte, als der, den man von
diesen Anhöhen hat. Siche! mein Blick schweift auf dem Meere
hin und den schönen Ufern beider Erdtheile enklang. Hier der
strahlende Schimmer LeS zunächst liegenden Theiles des Kanals;
dorr eine Aussicht in den großen lebhaften Hafen der Hauptstadt
hinein, desten Ende man kaum zu ermessen vermag. Hier das Meer
im Kampfe mit dem Thurme Leanders, und im fernen Hinter-
gründe nach Süden hin hervorragende Masten wie auf hohen Ber-
gen, näher aber auf- und absegelnde Schiffe von allen Gattun/
gen und Formen. Hier zwischen und über dem dichten Masten-
walde, der im Hafen theils ruhenden, theils sich bewegenden
Fahrzeuge ragt daö große Constantinopel auf seinen malerischen
Hügeln mit seinen glänzenden Dschamien und zahlreichen Mina-
rets hervor; dort stellen sich auf der andern Seite die von Häu-
sern wimmelnden Höhen der Halbinsel dar. Hinter der Haupt-
stadt und über den Hafen hinaus sind Hügelreihen in bläulichen
Tinten; dort auf beiden Seiten des Kanals, so weit das Auge
reicht, die anmuthigsten Landhäuser und lachende Fluren. Hier
auf beiden Seiten der Vorstadt die weitläuftigen Gärten des
Großherrn; dort eine Menge Sommerpavillons nach orientalischem
Geschmack. Aber auch der Ort, wo wir lustwandelten, war so
reizend, daß ich ihn nicht nach Würde zu schildern vermag. Ge-
gen Morgen umgab uns ein romantisches Hölzchen, das eine
Welt von zwitschernden Vögeln beherbergte. Ein lichtes Gehau
Die europäische Türkei.
509
zeigte gegen Süden in perspektivischer Ferne hinter den äußersten,
vom Sonnenglanze übergoldeten Zweigen den Ausgang nach offe-
nen Fluren. Das wechselnde Grün der verschiedenen Baume war
zauberisch, und die feierliche Stille, die in diesen Gehölzen herrschte,
weckte die Phantasie zu dichterischen Traumen. Indessen neigte
sich gegen Westen die Sonne ihrem Untergange zu. Nun erhielt
die Zaubcrseene ein neues Leben. Ein sanfter Nosenschimmer um-
floß die stille Natur, und die Zinnen der höchsten Gebäude und
die auf der Abendseite liegenden Baumwipfel schwammen in fei-
nem Safranglanz."
Ein andrer Reisender *) erinnerte sich bei dem Anblicke dieser
klassischen Ufer an die großen Begebenheiten, von denen sie zu so
verschiedenen Zeiten Zeugen gewesen waren. „Hier erscholl des
Orpheus Leier, als er mit den Argonauten vorbeifuhr **). Jene
entfernten, in einen lichtblauen Nebel gehüllten Felsen am Meer
von Marmora und dem Hellespont gaben das frohlockende Jauch-
zen der homerischen Helden zurück ***). Ebenda setzte Alexander
der Große mit feinen Macedoniern über, das Perserreich zu über-
wältigen ck). Dort ist die Stelle, wo Terres seine Brücke schlug st).
Jener Hafen ist es, wo Gottfried von Bouillon, Konrad III.
von Deutschland, Ludwig VII. von Frankreich an der Spitze der
italienischen, französischen und deutschen Ritterwelt den asiatischen
Boden berührten sss). Hier führte Muhamed II. seine kampfbe-
gierigen Janitscharen gegen die festen Mauern von Constantino-
pel ssss). Kein Jahrhundert ist vergangen, in dem nicht hier
wichtige Thaten geschahen."
Jener erste Reisende durchwanderte nun Coustantinopel, und
besuchte ein türkisches Kaffeehaus. „An den Wänden saßen mit
untergeschlagenen Beinen auf den Divans eine Menge Muselmän-
ner, ernsthaft und feierlich, als sollte die wichtigste Audienz ge-
geben werden. Mit großem Geräusch schlürften sie das schwarze
Getränk hinunter, und dann griffen sie wieder zu den langen
Pfeifen. Niemand sprach; Jedermann blickte nur vor sich hin,
kaum würden wir beim Eintritte bemerkt. Aber dagegen findest
du auch in dem Kreise von Türken nicht den leisesten Hang zur
Spötterei, die in der großen Welt unter uns so unerschöpflich ist,
keine Klatscherei, keine bitteren Witzeleien, die uns oft das Leben
*) Der Graf Raczynski.
**) S. meine Mythologie für höhere Töchterschulen, S.326.
***) Ebcnd. S. 355.
^ ch) i<S. mein^Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
ckfi) Ebcnd. S. 116.
fff) Ebcnd Th. 2., S. 92 u. 106.
xtif) Ebend. S. 196.
510
Die europäische Türkei.
so mühselig machen. Hier läßt jeder den Andern ruhig seinen
Kaffee trinken, und denkt nicht daran, seinen Nachbaren das Ge-
tränk zu verbittern. Aber nun öffneten sich die Thüren, und cs
traten ein paar Araber herein, die auf die buntscheckigste Weise
gekleidet und mit Federn auf den Turbanen geziert waren. Diese
stellten sich in die Mitte hin, und fingen nun eine so lebhafte
Unterredung unter den mannigfaltigsten Gebehrden an, daß man
glauben konnte, sich in einer Judcnschulc zu befinden. Viele arme
Araber nämlich haben das als eine neue Erwerbsquelle anzusehen
gelernt, daß sie die öffentlichen Versammlungsorte der Türken
besuchen, dort unter einander mancherlei Gespräche mit Lebhaftig-
keit halten, und endlich sich dafür bezahlen lassen. Wir waren
noch nicht weit fortgegangen, als wir eine italienische Dame mit
ihrem Manne antrafen, die sich kaum von einem großen Schre-'
cken erholt zu haben schien. Sie erzählte mir, sie sey in Beglei-
tung ihres Mannes unverschleiert nach der öffentlichen Promenade
der Franken gegangen; da sey ihr ein Türke begegnet, und habe
ihr mit starker Hand eine Ohrfeige gegeben. Dergleichen Beleidi-
gungen müssen sich die fremden Damen hier immer aussetzen.
Man glaube nicht, daß sie sicherer wären, wenn sie in Beglei-
tung von Männern gehen. Gerade das Gegentheil. Bei den
Türken ist es nie üblich, daß der Mann mit seiner Frau, oder
der Vater mit seinen Töchtern, oder der Bruder mit seinen Schwe-
stern öffentlich spatzieren ginge. Bei ihnen sind die Geschlechter
immer getrennt. Noch ungewöhnlicher ist für den Türken die Art,
wie sich die europäischen Frauen kleiden. Sie wundern sich alle-
zeit über ihren Kopfputz, ihre Handschuhe, ihre Taille, ihre
Fußbedeckuugcn, und finden es höchst unanständig, daß sie keine
Beinkleider tragen." So sind die Begriffe von Schicklichkeit und
Unschicklichkeit bei allen Völkern verschieden.
Auffallend ist für jeden Fremden die ungeheure Menge Hunde,
die sich auf allen Gassen finden. Diese Thiere werden von den
Türken als unrein verabscheut, und keins darf in ein Haus kom-
men. Sie sind daher ganz herrenlos, und schlafen auf den Plä-
tzen, Gassen und in den Winkeln der Stadt. Aber eben weil sie
keine Herren haben, scheinen sie sich als die Herren aller Straßen
zu betrachten, und sind unverschämte Thiere. Sie sind bunt ge-
steckt, von der Größe unsrer Fieischerhunde; jeder hat sein beson-
deres Stadtviertel, das er nie verläßt, und das er mit der größten
Kühnheit zu vertheidigen stets bereit ist, und alle seine Brüder aus
der Nachbarschaft würden ihm im Falle eines Angriffs beistehen.
Am Tage schlafen sie größtentheils, und zwar, ungeachtet des
großen Menschcngetümmels, ganz ungestört. Denn wer auf sei-
nem Wege einen Hund liegen sieht, geht sorgfältig um ihn herum,
und hütet sich wohl ihn zu berühren. Selbst Kameelc, Büffel,
Pferde und Esel gebrauchen diese' Vorsicht. Kommt ein Hund in
Die europäische Türkei.
511
das Revier eines andern, so beginnt sogleich ein heftiger Kampf,
bei dem gewöhnlich einer auf dem Platze bleibt. Wovon leben
aber diese Thiere? — Die Muselmänner betrachten Barmherzig-
kcit als eine der ersten Pflichten, und dehnen sie mit Recht auch
auf die Thiere aus. Darum machen sich die Türken ein Vergnü-
gen daraus, alles, was von ihren Tafeln übrig bleibt, den Hun-
den vor die Häuser zu bringen. Ja reiche Leute kaufen besonderes
Fleisch für sie, und lasten es wöchentlich mehrmals unter sie aus-
theilen. Manche haben sogar Vermächtnisse gemacht, nach
welchen auch nach ihrem Tode für die Hunde gesorgt werden
muß- Außerdem haben diese Thiere den Theil der Polizei über-
nommen , der für die Wegschaffung todter Thiere sorgen soll.
Gierig reißen sie sich um das gefallene Vieh, und kaum ist ein
Thier gefallen, so ist es bereits ein Raub der umwohnenden
Hunde geworden. Daher werden sie nicht nur geduldet, sondern
von den Türkeu sogar gegen jeden Angriff geschützt, und ein Ita-
liener, der mehrere derselben vergiftet hatte, wäre vom Volke bei-
nahe zerrissen worden.
Von der strengen Gerechtigkeitspflcge erzählt jener Reisende
mehrere Beispiele. „Man hatte einen Dieb gefangen, der eine gol-
dene Kette gestohlen hatte, und er war zum abschreckenden Beispiele
für Andere eben da, wo er den Diebstahl begangen hatte, im
Bazar aufgehängt worden. Er hing an dem Gewölbe des Gold-
arbeiters, aber so niedrig, daß er mit den Füßen diejenigen fast
berührte, die unter ihm vorübergingen. Ich kann nicht sagen,
welchen schaudererregenden Eindruck dieser Anblick auf mich mach-
te.^ Ein ander Mal sah er den Sultan unerkannt, in der ein-
fachen Kleidung eines asiatischen Türken, nur von zwei Dienern
gefolgt, durch die Straßen reiten, uni die Richtigkeit der Ge-
wichte bei den Bäckern und Fleischern zu prüfen. Der Reisende
folgte ihm von fern, und sah, wie er vor einem Bäckerladen still
hielt, eine Wage herausbringen und jedes Brot wiegen ließ. Nach-
dem er das Gewicht richtig befunden hatte, wandte er sein Pferd,
und kam vor ein anderes Bäckerhaus. So besuchte er mehrere»
Bei dem Letzten verweilte er länger als gewöhnlich. Plötzlich
winkte er seinen beiden Dienern; eS wurde schnell eine hölzerne
Maschine herbeigcbracht, die Beine des Bäckers, dessen Brot zu
leicht befunden war, wurden hineingeschraubt, in die Höhe gehal-
ten, und nun bekam er wohl hundert Schläge mit Gerten auf
die bloßen Fußsohlen. In zehn Minuten war die ganze Sache
abgemacht, und nun ritt der Sultan zu einigen Fleischern.
Der Ressende brachte einen herrlichen Morgen auf dem ho-
hen Thurme der Vorstadt Galata zu, von wo man den größ-
ten Theil von Constantinopel und die ganze Halbinsel, auf der
Pera, Galata und andere Vorstädte liegen, weit und breit nach
allen Himmelsgegenden überschauen kann. „Welch ein Morgen!
i
512
Die europäische Türkei.
Himmel, Erde und Gewässer strömten Leben, Schönheit und Ent-
zücken durch mein ganzes Wesen. Der ganze Dom der oberen
Regionen strahlte von bezauberndem Safranglanze. Das Serai
lag frisch geschmückt in allen Morgenreizen wie ein Garten Edens
jenseit der silbcrblinkendcn Wellen des Meeres; die flüssigen Dia-
manten eines erquickenden ThaueS gossen ihren Glanz über das
feuchte Laub der hohen Eypressen, aus denen die Thürme und Pal-
laste des großen Kaisersitzes sich emporheben. Im blauen Ferndufc
erschien nur halb deutlich wie in einen Nebel gehüllt das amphi-
theatralisch gebaute Skutari. Zu meinen Füßen lagen Galata
und Pera mit allen ihren weitläuftigen Haupt - und Quergassen,
mir allen ihren Klöstern und Gärten ausgebreitet. Welch ein hol-
des Schauspiel gewahrt die erwachende Natur! Aber wie sie sich
hier darstellt, erscheint sie auch nirgends anderswo. Hier auf
dem Thurme von Galata ist einer der erhabendsten Standpunkte.
Das tiefe klare Wasser spiegelte jedes Bild der Landschaft zurück;
die Klippen, die in wilden Formen an den entfernteren Küsten
standen, mit Wäldchen gekrönt, deren rauhes Laub sich oft in
malerischer Ueppigkeit die steilen Stufen hinab ausbreitete, einge-
stürzte Ruinen von Thürmen und Häusern, in denen einst die
schreckliche Glut des Feuers wüthete, auf einer kühnen Fclsenspitze
durch die Bäume schimmernd — alles in das Silberlicht und in
die sanften Schatten der am Horizont allmählig heraufgleirenden
Sonne getaucht — welch ein unbeschreiblicher Anblick! Was das
Herz dabei empflndct, was der Verstand dabei denkt, das kann
nur der sagen, der sich einst hier befand. Ich hielt geblendet die
Hand vor die Augen, und verstummte vor meinem eigenen Ent-
zücken, um desto inniger das große Bild in mich aufzunehmen.
„Ich sah die schönen Schweizergegenden," sagte mein Begleiter,
„die anmuthigen Gefilde von Italien, aber so etwas wie hier
erblickte ich noch nie."
Daß das Leben im Morgenlande ganz anders sey als bei
uns, geht schon aus dem bisher Gesagten hervor. Noch mehr
werden wir es aus folgender Beschreibung eines Tages in Con-
stantinopel sehen. ,, Ich erwache, kaum ist es 4 Uhr Morgens.
Die Aussicht aus meinem Fenster ist unvergleichlich. Hier ist daö
unendliche Meer, der majestätische Kanal, der himmlische Hafen;
dort die ungeheure Stadt mit ihren hohen Gebäuden, Städten
und Städtchen, so weit das Auge reicht. Schon ist die Sonne
Len Meercswellcn entstiegen. In unendlicher Pracht schwebt sie
über den Bergen von Skutari. Die metallenen halben Monde
der Dschamien und des Serais funkeln jetzt in blendendem Silber.
Ganz in den Anblick versunken, lege ich mich ins Fenster, das
nach der Straße hinsieht. Schon ist diese mit Menschen bedeckt;
ober wer konnte die einzelnen Gruppen des Menschengewühls be-
schreiben? Ich eile zum Hafen hin, und nach der Hauptstadt
Die europäische Türkei.
513
hinüber. Unendliche menschenreiche Straßen winden sich um die
Pallaste herum. Wohin ich komme, tonen die Hellen Stimmen
der Muezzins von den Minarets herab, und die Straßen um die
Mosteen sangen an, immer lebendiger zu werden. Muselmänner
mit tausendfältigen Trachten, mit Turbanen von jeder Form und
Farbe, zu Fuß und zu Pferd, mit und ohne Gefolge, füllen alle
Räume an; man eilt in die Tempel. Doch was bedeutet das
laute Geräusch, das mir von verschiedenen Gegenden entgegen
schallt, und Las dem Schlagen von Stäben auf Metall gleicht?
Und siehe, welche Haufen von Griechen und Griechinnen drängen
sich nach diesen Orten hin, aus denen das Getöse kommt!
Dort bemerke ich einen schwarzgekleideten Vornehmen in Begleitung
mehrerer anderer schwarzen Männer, die vor ihm hergehen, und
von denen ihm einer ein Kreuz vorträgt. Sie haben alle lange,
selbst bis an die Nase und die Wangen hinaufgehende Bärte, und
auf ihren Häuptern sehe ich runde Mützen von schwarzem Hutfilz.
Es sind griechische Geistliche, und der Mann, der zuletzt geht, ist
ein Bischof. Jene vielen Griechen eilen insgesammt in die Tem-
pel ihres Glaubens. Jenes Geräusch ist der Ruf zum Gebet;
es muß Len Schall der Glocken ersetzen, und wird von den Dia-
konen vor den Thüren derselben verrichtet. — Und jene Männer
da mit Kleibern von einfacheren Farben und kleinen Mützen, wer
sind sie, und wohin gehen sie so früh? Ihre Physiognomien sind
weder griechisch noch türkisch; aber sie sind eben so wenig euro-
päisch , und die schwarzen Stutzbärte erheben noch die schwarz-
braune Farbe ihrer Gesichter. — Es sind Armenier; auch ihnen
gebietet ihre Religion, schon beim Aufgange der Sonne ihren
Gott in den Tempeln zu loben und zu ehren. Nach Beendigung
des Gottesdienstes ist nun schon im weiten Umfange der Stadt
alles in reger Thätigkeit. Eine Menge Maulthiere und Pferde
wird mit Fässern an den Seiten durch die Straßen getrieben, und
gießen Wasser auf das Pflaster. Ueberall sieht man Bedienten
und Sklaven aus den Thoren und Thüren der Häuser treten,
und Vorhöfe und Fußsteige mit Wasser besprengen. Die Gitter
öffnen sich an den Fenstern, und die Baleonthüren werden aufge-
than. Bereits füllen sich die Dächer und die Zinnen der Pal-
käste hin und wieder mit Taback schmauchenden Muselmännern,
und die Diener der Großen eilen mit Erfrischungen durch die Stra-
ßen. Schon dringt der Schall der zahllosen Handwerker und Ar-
beiter aus den offenen Werkstätten wirbelnd in die Lufträume, und
wird nun durch den alles betäubenden Straßenlärm durchkreuzt.
Die Lastträger und Lastthiere haben ihr Tagewerk angefangen,
und Reihen von Eseln, Pferden, Maulthieren, Büffeln, Kamee-
len drängen sich in wildem Wirrwarr durch das Gewühl. Hier
treibt man Haufen von Kühen, Schafen und Ziegen durch die
Gassen, welche vorsichtig bei den vielen Hundegruppen vorbeieilen.
Nösselt6 Geographie II. 33
».
514
Die europäische Türkei.
Dort kommt ein türkischer Großer geritten; die zahlreiche Die-
nerschaft zieht zu Fuß und zu Pferd in reichen Gewändern und
mir blitzenden Waffen vorher, und gebietet Platz der Menge.
Schon kommen die Gemüse- und Vietualienvcrkäufer in die Stra-
ßen. „Milch! Milch! frisch und warm! — Süßes Wasser! —
Zuckertrank! vortrefflicher Zuckertrank! — Sorbet! Sorbet! —
Blumenkohl! — Artischocken! — Süßes Kraut! — Salat! —
Essig! saurer Essig! — Butter! weiße und gelbe Butter! —
Moldauischer Honig ! weißer und gelber Honig! — Honigtrank !—-
Del! starkes Oel ! — Wachs von der Donau!" So durchtönen
sich die hellschrcicnden Stimmen der Ausrufer, um die sich alles
zum Einkäufe drängt. — Der Neugierigen und Kauflustigen große
Schaar drangt sich zu den Bazars hin, wo schon alle Kaufleute
ihre Plätze eingenommen haben. Bereits sind die Kaffeehäuser
mit müßigen Türken angefüllt, und in den Sorbethäusern kann
nicht genug von dem süßen Getränk eingeschenkt werden. Die Sü-
ßigkeitSverkäufer setzen ihre Trinkschalen aus; schon rauchen die
Kessel der Kaffeeverkäufer; hin und wieder erblickt man ein Feuer,
wo Fische und Lammfleisch zu braten angefangen wird, auch ein-
zelne Gruppen von Arbeitern, die unter freiem Himmel ihr Früh-
stück verzehren. Die Kuchenhändler und Verkäufer von gebackenen
und gebratenen Eßwaaren bringen ihre Gestelle in Ordnung, die
Gewürzkrämer ihre Schachteln, Büchsen und Gläser auf die Bu/
den und auf die Bretter vor den Fenstern; die Fleischer hangen
ihre besten Sorten aus, und die Fischhändler nehmen Wage und
Gewicht zur Hand. Schon haben die zahlreichen Bäcker ihre wei-
ßen und schwarzen Brote in Menge unter das Volk vertheilt,
und die Frauenfiakers, die bunten Gitterwagcn und Kaleschen ihre
gewöhnlichen Plätze eingenommen. Schon sieht man die Patrouil-
len mit schimmernden Waffen durch die Straßen eilen, lauter
bärtige Türken, mit Pistolen und Messern im Gürtel. Indessen
haben auch die Arbeiten längs dem Hafen und in den vielen Ar-
senalen, Magazinen und Schiffswerften ihren Anfang genommen;
die Verdecke der vor Anker liegenden Schiffe sind in voller Reg-
samkeit, und die Schaluppen und Böte werden in Bereitschaft
gesetzt. An den Kreis sammelt sich der Gondelierer zahllose Schaar,
und viele sind schon beschäftigt, die Stricke abzubinden, und mit
den Tschaiken in die See zu stechen. Hier begegne ich bereits eit
nem Haufen Seeleute, die in die Stadt gekommen sind, um am
frühen Morgen Proviant einzukaufen; Andere wandern zum Meere
hin, wo ihre Fahrzeuge schon zur Abfahrt bereit liegen. Dort
schleift man einen todten Düffel aus einer Gasse nach einem freien
Platze; eine Menge hungriger Hunde folgt dem Braten nach,
der ihnen jetzt übergeben werden soll. Bald erschallen nun alle
Straßen von dem vermischten Geschrei unzähliger Ausrufer; denn
zu den Gemüsehändlern sind jetzt noch eine Menge andrer Ver-
Die europäische Türkei. 515
saufet hinzugekommen. Von allen Ecken Hort man: Frühstück
für zwei Parahs! Süßer Kuchen! Kirschtorte! Butterkuchen!
Eis! Eiswasser! Honigbrot! Limonien! Milchkuchen! Käse! Oli-
ven! Pistazicnkuchcn! Nüsse! Feigen! Reiß! Neißkuchen! Zwie-
beln! Wassermelonen! Datteln! Rosinentorte! Eier! Hühner!
Fasanen! Enten! Spargel! Kirschen! Pfirsichen! Pflaumen!
und wer weiß waS alles ausrufen. Wie da alles durch einander
wirbelt und die Stimmen der Verkäufer eine die andere zu über-
schreien sucht mitten im Gewühl der Menschen und Pferde, und
die Käufer von allen Seiten herbeieilen, und Einer dem Andern
zuvorkommen will! Hier gewahre ich eine Anzahl Türkinnen, die
am Kai zusammen eine Gondel dingen, um sich nach der asiati-
schen Küste übersetzen zu lasten, wo die Natur so reich ist an
Reizen, Scenen und Aussichten, wo mitten in den Wildnissen
ein Garten nur in den andern zu führen, ein Wäldchen nur das
andere aufzunehmen scheint, wo ein immerwährendes Grün die
unmuthigen Hügel bedeckt, und Bäche vom reinsten Wasser die
unmuthigen Wiesengründe durchschlängeln. Hier erscheint eine
vornehme Dame in einem verdeckten, wohlverzierten Wagen, mit
einer Bedeckung von Mohren, um einen Sommerpavillon am Ka-
nal zu besuchen; das Vollmacht überall Platz, wo der Zug geht,
und die Schwarzen drohen mit blitzenden Augen Zedem, der nicht
weichen will. Dort fährt die Gattin eines reichen Türken in ihrer
von Goldblech strahlenden Tschaike; weiße und schwarze Sklavin-
nen stehen neben ihr, bereit, jeden ihrer Winke zu befolgen. Vor-
her rudern ihre Sklaven in einem Boote, und rufen schon von
fern allen Gondeln, die ihnen aufstoßen, zu, sich zu entfernen.
So wimmelt es in der Frühe des Morgens schon in allen Stra-
ßen von türkischen Frauen zu Fuß und zu Wagen. Die ärmeren
gehen auch wohl allein, die vornehmeren aber nie ohne Beglei-
tung. Jene kaufen auch wohl, was sie zur Haushaltung bedür-
fen; diese aber höchstens Näschereien oder Putzsachen; denn kein
Türke von Stande duldet, daß seine Frau sich um die Wirthschaft
bekümmere; das geschieht allein Lurch männliche Bedienten. Eine Frau
auf der Straße starr anzusehen, wird für eine große Ungezogenheit
und Beleidigung angesehen. Wer einer Dame begegnet, geht mit
niedergeschlagenen Augen vorüber, und als ein Reisender einst stehen
blieb, und einer vorübcrfahrenden reichen Türkin nachsah, spreng-
ten gleich zwei Mohren herbei, und schwangen ihre blitzenden
Schwerter über seinem Kopfe. In der Regel tragen die Türkin-
nen ein grünes Gewand und gelbe Sandalen, die Griechinnen und
Armenierinnen dagegen braune, blaue oder dunkelrothe Gewän-
der, und rothe oder blaue Sandalen. Ich eile in den Mittel-
punkt der Stadt zurück. Hier hat unterdessen die allgemeine Thä-
tigkeit den höchsten Gipfel erreicht. Im Bazar ist nicht durchzu-
kommen. Dicke Staubwolken erheben sich an allen Ecken. Man
33 *
516
Die europäische Türkei.
eilt von neuem überall, mit Wasser zu sprengen. Von der einen
Seite schreit man mir wild entgegen, daß ich Platz machen soll,
von der andern drückt man mich vorwärts, und in der Mitte der
Straße zieht eine gewaffnete Schaar einher, und stößt alles zu/
rück, was ihr in den Weg tritt. Hier droht ein Kameel mich zu
zertreten, dort bäumt sich ein wildeS Roß hinter mir; hier zürnt
ein aufgebrachter Mohr mit bloßem Messer, der eine Türkin zu
bewachen hat, dort kläfft mich ein großer Hund an, und weist
mir die Zähne, die noch vom Blute eines zerrissenen Aases trie/
sen. Nicht fern von mir entsteht ein Streit; ich sehe im Strahle
der Sonne krumme Messer blitzen. Doch schnell stiegen Solda/
ten herbei; mit den Waffen in der Hand bahnen sie sich einen
Weg Lurch die Menge. Es erfolgt eine schreckliche Pause; denn
hoch blitzen die Mordgewehre, und die Thäter werden ergriffen
und fortgeführt. Unterdessen haben auch die Amtsgeschäfte ihren
Anfang genommen. Der große Divan ist im Serai versammelt,
die Richter sitzen in ihren Gerichtshöfen. Die türkischen Großen
ziehen mit orientalischem Gepränge zu den Versammlungen. Die
Menge ihrer Pferde, von denen viele, mit prächtigen Sattelzeugen
bedeckt, nur zur Schau nachgeführt werden, und ihre zahlreichen
Dienerschaften füllen ganze Straßen an. Auf dem Atmeidan
(große Rennbahn) durchkreuzen sich die rüstigen türkischen Züng/
linge im pfeilschnellen Galopp, und üben sich auf ihren gewand,
ten Nossen im Pfeilschießen und Lanzenwerfen. Jenseit des Ha-
fens auf Top-Hanas Plätzen schallt inzwischen der Donner der
Kanonen in unaufhörlichem Geprassel empor. Das Corps der
türkischen Artilleristen hat seine Uebungen begonnen. *- Am Hafen
erhebt sich plötzlich ein Wald von Mastbäumen, und unter dem
Hurrahgeschrei der Seeleute werden die Anker gelichtet. Stotz
schwimmt mit gespannten Segeln eine ganze Flotte dahin, und die
Gestade sind mit Zuschauern bedeckt, ihren Bewegungen zuzusehen.
Aber jetzt tritt die Sonne in den Zenith, und von neuem ertönt
der Ruf zrzm Gebet von allen Minareis herab, und die Recht/
gläubigen verlassen ihre Arbeiten und Belustigungsörter, und drän-
gen sich wieder nach ihren Gotteshäusern hin. Bestände diese Fröm/
migkeit in achter Religiosität, beschränkte sie sich nicht lediglich
auf leere Ceremonien, wer wollte nicht wünschen, unter den Tür-
ken zu leben? " —
„ Der Mittag ist auch hier die Zeit der Ruhe und des Ge/
nusses für die armern Menschenklassen. Betritt man zu dieser
Stunde die Kais, die Bazars und Plätze, so erblickt man an
allen Orten die Einwohner mit Essen beschäftigt. Das Rasseln
und Geklirre der Eßgeschirre, der Schüsseln, Löffel und Messer
ertönt aus allen Häusern, und mannigfaltige Gerüche verbreiten
sich durch die Lüfte. Aber das milde Klima des Südens macht,
daß alles hier weit einfacher und natürlicher hergeht als bei uns.
Die europäische Türkei.
517
Haufen von Menschen sitzen da ganz frei und öffentlich; die Erde
ist ihr Stuhl, der Himmel ihr Dach; ihr ganzes Mittagsmahl
liegt in einer kleinen hölzernen Schaufel oder in einem irdenen
Gefäße, und statt Messer, Gabel und Löffel bedienen sie sich
der Hände. Vor den Häusern, auf den Fluren, auf den Vorhö/
fen, in den Gärten, auf den Terrassen — überall Menschen und
Gesellschaften beim Essen. Stumm und gravitätisch sieht man
die Türken um die kleinen runden Tischchen Herumsitzen. Munter
und fröhlich halten die Griechen ihr Mahl. Durch die Straßen
schreiten die Hundefütterer, und werfen das Fleisch stückweise den
Thieren vor. Die Mittagshitze hat nun den höchsten Grad er/
reicht, und die meisten Einwohner legen sich Zur Ruhe, während
sich andere noch in voller Thätigkeit befinden. Da siehst du auf
den Schwellen der Häuser, in den Winkeln der Straßen, an den
Kai's, in den am Ufer befindlichen Schiffen und Schiffchen, auf
den Grasplätzen und unter den schattigen Cyprefsen überall Schla/
felibe liegen. Aber was bedeutet das Geläute, das mannigfal,
tige Glockenspiel, das mir aus dem Hafen entgegentönt? Es ist
der Ruf zum Mittagsmahl auf den zahlreichen Schiffen. Siehe,
wie die vielen Matrosen, die sich noch am Ufer befinden, herbei/
eilen, und hastig die Schaluppen besteigen, die sie zu ihren Fahr-
zeugen bringen. Bei den türkischen Großen geht es beim Mit-
tagsmahl mit orientalischer Pracht her. Nicht selten sieht man
50 —100 Schüsseln. Man speist auf chinesischem oder japani-
schem Porzellan; die Messer und Löffel sind mit Gold eingefaßt;
^ber in der Zubereitung der Speisen herrscht doch eine große Ein-
fachheit. Nun kommt auch für diese Menschenklasse die Sieste;
von Vornehmen ist die Stadt wie ausgestorben."
„Endlich ist die Sieste allgemein beendigt. Die Straßen und
die Bazars haben sich wieder mit Menschen gefüllt, und alles ist
wie zuvor in voller Beschäftigung. Die Terrassen und Balcone
werden mir reichen Teppichen geziert, und die Dächer und Gär-
ten nehmen die Spatziergänger wieder in sich auf. Zn zahlloser
Menge traben die Kamcele, Pferde und Esel von neuem durch die
Gassen, und die namenlosen Stimmen der Ausrufer, der Last-
träger und Viehtreiber steigen wieder in unendlichem Gesumse in
die Luft. Längs dem Kanäle hört man von Ferne die Kanonen
donnern; was bedeutet das? — Der Sultan fährt auf dem
Meere spatzieren, und wo er hinkommt, wird er von Len Ufern
Lurch das Geschütz begrüßt."
„Die Berufsgeschäfte des Tages sind nun zu Ende, und
alle Geschäftsleute haben jetzt die Stunden der Erholung und LeS
Vergnügens. Nur der Kaufmann sitzt noch in seinem Gewölbe.
Die Bäder sind gefüllt, und in den Kaffeehäusern ist kaum un-
terzukommen. Alle Spatziergänge in der Nähe und Ferne sind
mit Menschen wie besäet, und der Kanal wimmelt von Schiff/
/
518
Die europäische Türkei.
chen. Hier treiben Tänzer und Gaukler ihr Spiel, dort haben
arabische Improvisatoren einen Kreis um sich her gezogen. Hier
gafft alles neugierig ein Schatten; und Marionettenspiel an, oder
treiben die Taschenspieler und Guckkastenträ'ger ihr Handwerk.
Hier haben die Wahrsager ihre Buden aufgeschlagen, dort lockt
ein Eharlatan das Geld aus der Tasche. Hier macht ein Sprin-
ger Luftspringe zum Entsetzen; dort reizt ein Abentheurer durch
Grausamkeiten an seinem eigenen Körper die allgemeine Aufmerk-
samkeit. Hier läßt ein Zigeuner seine Bären und Affen tanzen,
dort sieht man dem Wettkampfe einiger türkischen Jünglinge zu,
die auf ihren schnellen gewandten Hengsten sich bald bis zur Be/
rührung nahe kommen, dann wieder plötzlich von einander stiegen.
Und so geht cs den ganzen Nachmittag fort."
„Schon ist noch einmal zum Gebete gerufen worden. In/
dessen neigt sich der Tag. Ich stehe auf dem unendlichen be-
lebten Kai. Die Wellen wogen schon zwischen den Sonnen-
flammen. Meer und Himmel sind von der Abendröthe beleuchtet.
Rings um mich her schwimmen Fahrzeuge, und in ihrer Mitte
ein hohes Linienschiff gleich einem Meergott. Von allen Seiten
. umschließt der prächtige Golf das Meer mit Städten, Hainen,
Felsen, Wäldchen; nur gegen Osten blicke ich ins Freie, und da
steigen in blauer Ferne die zauberischen Höhen von Skutari luftig
auf. Müde kehren die Arbeiter von ihrem Tagewerke zurück.
Die Gondelierer lenken zu den Buchten des Kai ein, und fangen
an, ihre Fahrzeuge festzubinden, und die Spatziergänger eilen in
ihre Wohnungen zurück. Im Orient ist es nicht Sitte, den Spät-*
abend im Freien zu genießen oder zu schwärmen. Alles eilt zur
Ruhe zurück, sobald die Dämmerung in die Nacht übergeht. Alle
Wege sind mit Menschen bedeckt, die sich auf dem Rückwege bei
finden. Alle Feste sind zu Ende, und die schönsten Spatziergänge
werden leer. Die Dunkelheit folgt schnell der Dämmerung nach,
weit schneller als in unsern nördlichen Gegenden, und während
die vom Meere aufsteigenden Winde durch die Blätter rauschen,
und die Nachtigallen in den Gärten schlagen, ziehen tausend
Sterne in strahlendem Glanze im Osten über Skutari herauf,
und stehen plötzlich wie eine geheimnißvolle Schrift über der wei/
ten Nacht. Nur unvernehmlich rauscht das Meer aus der Tiefe
zu dem Kai herauf; wie eine stille Todtenfeier wälzen sich die
Wogen durch die verhüllte Natur. Und um mich herum und
hinter mir bewegt sich noch ein Meer von Menschen, und von
den Minarets herab tönen von neuem tausend Stimmen, und
verkündigen das vierte Tagesgebet. Noch höre ich die Stimmen
und den Gesang der Matrosen erschallen, und das Pfeifen der
Schiffscapitaine und das Geläute der Schiffsglocken ruft die zer-
streuten Seeleute zum Abendmahl. Ich wende mich vom Hafen
zur Stadt. Millionen Lichter flammen mir entgegen. Alle Kaf/
' Die europäische Türkei.
519
feehäuser sind erleuchtet, und die Schattenspiele und transparen-
ten Schauspiele nehmen in ihnen den Anfang. Auch von den
Dächern schimmern Lichter und Laternen. Denn jetzt halten die
türkischen Damen hier ihre Zusammenkünfte, und können nun un-
verschleiert in die Labyrinthe von Gaffen hinabschauen. Sklavin-
nen bringen ihnen Erfrischungen und Kaffee; Sklaven halten
Wache, damit es niemand wage, diesen jetzt heiligen Ort zu be-
treten, und selbst der Herr des Hauses darf diese nächtlichen Zir-
kel nicht stören, sobald fremde Da/nen sich bei seinen Frauen ein-
gefunden haben. Zwar hat die Stadt keine öffentliche Straßen-
erleuchtung; aber desto ürtiger nehmen sich die vielen kleinen Licht-
chen, Wachsstöcke, Lampen und durchsichtigen Papierlaternen aus,
die vor den Läden aller Victualienhändler, Kaffetiers u. dergl.
angezündet sind."
„Indessen wird es immer später und später. Einsam flim-
mern noch hin und wieder Lichter von den Dächern, und nur die
Badehäuser und Kaffeebuden sind noch mit Menschen gefüllt. Die
reichen Muselmänner haben sich schon in das Innerste ihrer Häu-
ser begeben. Auf den Straßen haben sich die Menscheumassen
bereits längst zerstreut. Um iO Uhr Abends sind alle Orte still
und öde geworden; im Hafen hört man lediglich noch einige Gon/
deln und Schiffchen mit den Wellen kämpfen. Doch plötzlich fährt
in dumpfem Hall der Donner einiger Kanonen in die Lüfte, und
tönt in zehnfachem Echo wider von den Anhöhen. Er verkündigt
die Todesstunde einiger Schlachtopfer. Er tönt von der Ostseite
des Serai her, und ist das gewöhnliche Signal, daß Einige das
Leben verwirkt haben, und daß in diesem Augenblicke ihre Leich/
name aus den Fenstern ins Meer herabgeworfen werden."
Bei der Enge der Gassen und Gäßchen ist es kein Wun-
der, wenn die Feuersbrünste in Constantinopel häufig und sehr
verheerend sind. Gewöhnlich brennen ganze Straßen, manch-
mal Hunderte von Häusern ab. Denn die Löschanstalten sind sehr
elend, und man begnügt sich meist damit, vermittelst langer Stan-
gen und Keulen die benachbarten Häuser einzureißen. Sobald
ein Feuer ausgebrochen ist, eilt der Sultan selbst mit großer Be-
gleitung herbei, und giebt selbst die nöthigen Befehle, denn das
Volk glaubt, daß seine Gegenwart durchaus nöthig sey, um die
Löschung zu Stande zu bringen. Sehr schnell werden die abge-
brannten und niedergerissenen Gebäude durch neue ersetzt. Ja es
giebt Plätze, auf denen man ganze Häuser, fertig gezimmert,
kaufen kann, und der Käufer hat weiter nichts nöthig, als die
Balken und Bretter an Ort und Stelle hinbringen, und hier zu-
sammenschlagen zu lassen.
Außer dem Serai sind unstreitig die merkwürdigsten Gebäude
in Constantinopel die Sophiens Moskee und die D sch amie
Sultan Achmed's. Zcne war ursprünglich eine christliche
520
Die europäische Türkei.
Kirche, die Kaiser Justinian im 6ten Jahrhundert mit unendli/
cher Pracht aufbaute. Beide Gebäude sind mit großen Höfen
umgeben, die stets von Leuten bewacht werden, um zu verhüten,
daß bier nichts Unheiliges geschehe. Nur zu derZcit, wenn kein Got-
tesdienst ist, dürfen Nicht-Muhamedancr eintreten: „Jetzt ward
das Thor Der Djchamie Achmeds geöffnet, und mit einem bangen
Schritt traten wir in das Innere dieses Heiligthums. Kaum
vermag ich den Eindruck zu schildern, den die ganze unendliche Wöl/
düng mit allen ihren mannigfaltigen Merkwürdigkeiten auf mich
machte. Die kühn sich erhebenden Schwibbogen, die von Alter
und Weihrauch geschwärzten Pfeiler, die majestätischen Marmor/
säulen, die zahllosen Nischen, die prächtigen Teppiche, mit denen
der Fußboden belegt ist, und die Menge von Lichtern und Lam-
pen — alles das zusammen reißt das Gemüth mit sich hin.
Schauder und Ehrfurcht ergriffen uns, indem wir in daS zaube-
rische Helldunkel traten, und wir glaubten uns plötzlich in einen
unterirdischen Feenpallast versetzt. Die Lichter standen theils in
krystallenen Kugeln, runden silbernen und goldenen Gefäßen,
Straußeneiern und anderen Behältern, theils warfen sie ihre
Strahlen von den Nischen, Gallerien und Altären herab, und
bildeten die mannigfaltigsten Brechungen. Kronleuchter nach tür-
kischer Art hingen von den gewölbten Decken herab, und erleuch-
teten das Schiff nur sparsam, so daß durch das Helldunkel
alles ein feenartiges Ansehen bekam. Der weite Raum dehnt sich
in der Tiefe noch weiter aus, und man denkt sich den Umfang
des ungeheuren Hohls unermeßlich. Ganz konnten wir das In-
nere des Tempels nicht beschauen, weil wir Stiefeln trugen, und
man uns nicht erlauben wollte, damit über die Teppiche wcgzu-
fchreiten."
Der schönste Spatzierort bei Constantinopel ist der der sü-
ßen Wasser oder Keaghid-Khane. Man fährt auf einer
Tschaike den ganzen langen Hafen hinauf, an 3 Stunden lang,
und steigt an seinem äußersten, schmälsten Ende ans Land. Von
hier geht man längs einem kleinen Fluffc hinauf. Man hat hier
Constantinopel im Rücken, das in dieser Entfernung unbcschreib/
lich reizend erscheint. Rechts liegt uns ein morgenländisches Kaf-
feehaus, mit den herrlichsten Umgebungen geschmückt. „Kaum
könnte man in der ganzen prächtigen Gegend ein Plätzchen auf-
finden, das für die Sinne so namenlose Reize darböte. Wie an-
muthig ist es nicht, ein Meer vor sich zu haben, und doch zu-
gleich neben einem Strome zu sitzen! Und nun noch Rasenteppiche
mit dem weichsten und lieblichsten Grün. Hierher verfügen sich
oft die Harems der osmanischen Großen zu 20 — 80, lasten ihre
schönen türkischen und persischen Teppiche von den Sklaven auf
dem Boden ausbreiten, und laben sich an dem Anblicke des un-
vergleichlichsten Schauspiels, das die Erde aufstellen kann. Man
>
Die europäische Türkei. ^ 521
sah die Diener und Dienerinnen beschäftigt, ihren Gebieterinnen
Kaffee und Sorbet einzuschenken, und Süßigkeiten anzubieten. Das
Innere des Kaffeepavillons war mit Muselmännern, Griechen und
Armeniern angefüllt, und auf einer Nasenbank neben einem
Springbrunnen hatten sich ein paar Franken gelagert. Welch ein
unbeschreiblicher Anblick! Zn der Nähe bezaubernd romantische
Thäler und Hügel, Flüsse und Bäche, Vorstädte und Dörfchen,
Sommerpavillons und Bauerhütten. Zn der Ferne ein Blick ins
Unendliche, den ganzen Hafen entlang bis zum weißen Meere hin,
und auf der ungemcffenen Strecke kein Plätzchen, Las nicht dem
Auge mannigfachen Reiz böte. Längs dem Flusse und dem Mee-
resgestade hin sind schattige Bäume gepflanzt, die den Spatzier-
gänger gegen die Sonnenstrahlen schützen, und zwischen ihnen sin-
den sich überall anmuthige Ruheplätzchen. Kaffee, Taback, und
Schachbretter stehen beständig bereit. Je weiter man an dem
Flusse hinaufgeht, desto enger wird das Thal, und desto reizen-
der die Ufer. Hier sehen wir uns einsam; aber Liese herrliche
Einsamkeit vermehrt noch die Pracht der Landschaft. Wir haben
eben erst das Gewühl des Hafens verlassen; auf einmal ist alles
verschwunden, und ruhig ist das Gemüth wie die Natur, die
uns umgiebt. Alle Spuren von Pallästen ltnd Schiffen sind da-
hin. Alles hat hier eine andere Gestalt angenommen. Ein Pfad
führte uns vom Flusse zu dem kaiserlichen Sommerpallaste, wo
Natur und Kunst gewetteifert haben, diesen Fleck zum Paradies
zu machen. Hier ließ Sultan Acbmed HI. außer dem weitläufti-
gen Schlosse große Gärten und Wasseranlagen nach europäischem
Geschmacke bauen. Er ließ dazu die Gärten von Versailles und
Fontainebleau zum Muster nehmen. Auf der einen Seite mäch-
tige, hoch über den Horizont emporstrebende und ihn endlos be-
kränzende Hügel und Berge, an deren Fuß Flüsse und Bäche
schäumend dahin rauschen; auf der andern Prachrgebäude, Schlös-
ser und Pavillons, neben friedlichen Hütten, die hier und da aus
malerischer Einsamkeit hervorblicken. Hier wälzen sich in der Nähe
auf den Baumwipfeln die goldenen Früchte, bewegt von der küh-
len Seeluft, bald hierhin bald dorthin; bort in der Ferne wer-
den eine Menge Barken sichtbar, die neue Spatziergänger aus der
Hauptstadt bringen. Kurz die Seele des Beschauers verliert sich
gleichsam in den Wundern der hier so verschwenderischen Natur
und Kunst."
Schon oben ist des Ortes Bujuckdereh erwähnt worden,
wo sich die fremden Gesandten den Sommer über aufzuhalten
pflegen. Unter den entfernteren Umgebungen von Constantinopel
wird er als der reizendste beschrieben. Er liegt am Bosporus,
und zwar nördlich von Constantinopel nach dem schwarzen Meere
zu. Man pflegt den Weg zu Wasser dem weit langweiligeren zu
Lande vorzuziehen. „Alles scheint an dem europäischen Gestade
522
Die europäische Türkei.
hier nur eine zusammenhangende Stadt zu seyn, aus der sich
schön verzierte Minarets und lachende Pavillons erheben, während
ans der asiatischen Seite sich dem Auge wieder Landschaften von
ganz anderer Art neben dem üppigsten Waldgrün und den fette/
sten Wicsengründcn längs wohlgebauten Hügeln darbieten. Hier
schienen sich Palläste, Terrassen und Thürme aus der See zu er-
heben: dort spielte lichtes, ätherisches Meergrün. Hier ward daS
Auge vom Silberschimmer eines sich emporhebenden Springbrun-
nens geblendet; dort luden weiche Nasenplätze, neben denen plät-
schernde Wellchen, die sich einen Felsen herabstürzten und dem
Meere zueilten, zur Ruhe ein. Hier steigt ein dunkles Gebüsch
einen Hügel hinan, bis an den Fuß eines felsigen Berges, dessen
Gipfel Weinreben bekränzen; dort bildet das Ufer eine Kette von
Hügeln, auf denen Cypressen, Myrthen, Kastanien, Linden, Ei-
chen, Cedern, Wallnüsse in der buntesten Farbenmischung pran-
gen. Hier ruht das Auge aus den marmornen Säulenhallen, aus
den Gallcricn, Thürmchen und Kuppeln einer entfernten Dschamie,
die im Sonnenstrahle glänzt; dort tritt die Pracht einer neuen
Stadt hervor. Hier zeigt sich ein fruchtbares Thal, mit Gold-
früchten prangend, dort ein Obsthain. Hier führt ein enger Fuß-
pfad an einem Berge durch wilde Rosen und Rosmarinbüsche;
dort leitet ein Weg zu der Quelle eines klaren Wassers und zu
einer natürlichen Grotte. Hier bemerke ich ganze Reihen von
Blumengärten mit Springbrunnen, und mitten in diesem Flor
hundertfältiger Gewächse des Orients und Westens prunkvolle
Kioske. Dort bietet ein langer Kai ein Gewimmel dar, das nur
im Orient und in der Nähe von Constantinopcl so bunt seyn
kann. Alle meine Begleiter stimmten darin überein, daß das Auge
nichts köstlicheres sehen könnte. Nachdem wir so eine Weile gese/
gelt waren, eröffnete sich uns eine neue Ansicht. Die asiatischen
Gestade schienen mit den europäischen in der Ferne zusammenzu-
laufen , und es kam uns vor, als sey der Kanal hier zu Ende
und schließe sich in einer großen Bucht *), Links zeigte sich uns
zugleich auf einmal der Golf von Bujuckdereh und die Stadt, die,
längs dem Meere gebaut und von Bergen und Meergrllnden. von
Wäldern und Gärten umgeben, eine überraschende Ansicht ge-
währte." Ganz Bujuckdereh ist fast nur von Europäern bewohnt.
Die Stadt ist ungefähr wie Pera gebaut, aber noch europäischer,
und im Sommer so mit Menschen angefüllt, daß nicht leicht ein
Bodenkämmerchcn unbewohnt bleibt. Alles ist hier europäisch;
*) Wer erinnert sich hier nicht der alten ^Mythe von den cyaneischcn
oder Jrrfelsen. S. meine Mythologie für höhere Töchterschulen, S.326
und 473.
Die europäische Türkei.
523
selbst in den Gärten sieht man fast nur solche Gewächse, die man
auch bei uns sieht.
Ehe wir Constantinopel ganz verlassen, besehen wir noch die
S i e b e n , T h ü r m e. So nennt man ein altes, großes, zum
Theil verfallenes Schloß am äußersten Südende der eigentlichen
Stadt. Sonst wurden hier die Gesandten derjenigen europäischen
Macht, mit welcher die Türken gerade Krieg hatten, während
desselben eingesperrt. Jetzt aber ist diese Barbarei abgekommen.
Je umständlicher wir von Constantinopel gesprochen ha-
ben, desto kürzer können wir uns bei der Beschreibung der
übrigen Städte fassen. Wenn wir von Constantinopel süd-
westlich durch das Meer von Marmora gefahren sind, so
kommen wir in die
Straße der Dardanellen. Sie hat ihren Na-
men von den beiden alten und den beiden neuen Dardanellcn-
schlösscrn, welche auf der asiatischen und europäischen Seite
erbaut sind, und durch welche den Schiffen der mit der Tür-
kei im Krieg begriffenen Völker die Durchfahrt verwehrt wer-
den kann. Diese Meerenge hieß im Alterthum der Helles-
pont, und hier war es, wo einst der kühne Leander alle
Nächte hinübecschwamm, um seine geliebte Hero zu sehen, bis
er endlich in den Wellen seinen Tod fand *).
*) Man hatte neuerlich die Möglichkeit bezweifelt, die Meerenge
schwimmend zurückzulegen; aber der berühmte englische Dichter Lord
Byron (sprich Beiren), hat durch einen 1810 angestellten Versuch die
Möglichkeit bewiesen. Die Entfernung beider Ufer betragt etwa 2 Mei-
len. Die Strömung ist so stark, daß es Keinem möglich ist, nach einem
bestimmten Punkte gerade hinüber zu schwimmen oder zu segeln! Byron
schwamm ab vom Schlosse Abydos, und landete an dem andern User
volle | Stunden unterwärts, als er gewollt hatte. Er hatte den gan-
zen Weg über ein Boot in der Nähe, das ihn aufnehmen sollte, wenn
ihm die Kräfte ausgingen. Indessen vollendete er den Weg wirklich schwim-
mend. Als er ans Land stieg, war er von der Anstrengung so erschöpft,
daß er das Anerbieten eines türkischen Fischers gern annahm, in seiner
Hütte auszuruhen. . Er fühlte sich hier so ermattet und krank, daß er,
als sein Begleiter, ein englischer Lieutenant, weiter reiste, allein zurück-
bleiben mußte. Der ehrliche Türke ahnte nicht, was sür einen vorneh-
men und reichen Mann er bei sich beherberge; dennoch widmete er ihm
die größte Sorgfalt, und sein Weib pflegte ihn treulich, so daß er nach
fünf Tagen die Küste völlig hergestellt verlassen konnte. Als er sich ein-
schiffen wollte, pab ihm der Türke ein großes Brot, einen Käse, und
einige kleine Stücke Geld mit, bat Gott, daß er ihn schützen möge, und
wünschte ihm eine- glückliche Rückkehr. Byron lehnte die Geschenke nicht
ab. Als er aber nach Abydos zurückkam, schickte er seinen Diener zu dem
Türken mit einer Auswahl von Fischnetzen, einer Vogelflintc, einem Paar
524
Die europäische Türkei.
Nordwestlich von Constantinopel kommen wir nach
Edrench. So heißt die Stadt bei den Türken, wir nen-
nen sie Adrianopel, eine große, ungefähr wie Constantinopel
gebaute Stadt. Auch hier erheben sich überall prachtvolle Mos-
teen mir unzähligen Minarets. Die prächtigste ist die Moskee
Sultan Selims I., welche selbst jene beiden, die wir in
Constantinopel besuchten, an Größe und Pracht übertreffen soll.
Auch hier ist ein solcher Bazar, wie wir ihn in jener Stadt be-
sahen; kurz Edreneh ist Constantinopel im Kleinen. In derselben
Richtung liegt
Fe libo, von uns Philip popel genannt, nicht viel klei-
ner als die vorige, am Fuße des Hämus, in einer reizenden
Gegend.
2. Bulgarien.
Es liegt zwischen dem Hämus und der Donau, also
gleich nördlich von Rum-Zli. Die Einwohner sind größten-
theiils rohe Bulgaren. Als Hauptstadt wird, betrachtet
Triad itza, das bei uns S ophi a, genannt wird, eine
g^oße, sehr weitläuftig gebaute Stadt; denn fast alle Häuser ha-
ben einen Garten, und dies giebt der Stadt ein sehr freundliches,
unmuthiges Ansehen. Berühmter ist
Schumla. In allen Kriegen der Türken gegen Rußland
ist dies der wichtigste Punkt. Denn die Stadt liegt ganz am
steilen nördlichen Abhange des Hämus; steile Felsen überragen
es, und umgeben es in Gestalt eines Hufeisens. Alle diese An-
höhen sind befestigt, so daß es dem Feinde sehr schwer, oder gar
unmöglich werden möchte, sich des Platzes zu bcmeistern. Hier
ist daher immer der Mittelpunkt der türkischen Heere , von wo aus
sie den Feind sicher angreifen können. Von Schumla östlich liegt
am Meere
Varna, auch eine wichtige Festung, mit einem großen
Hafen.
\
Pistolen und 12 Ellen seidenen Zeuches zu Kleidern für seine Frau.
Wer arme Türke war ganz erstaunt, und rief: ,, was für eine frei-
gebige Erwiederung einer That der Menschlichkeit! " Dann beschloß er
den Hellespont zu durchsegeln, und in eigener Person Seiner Herrlichkeit
zu danken. Seine Frau billigte den Plan; kaum aber hatte er den hal-
ben Weg zurückgelegt, als ein Sturm seinen Kahn erfaßte, und der ar-
me Schiffer fand sein Grab in den Wellen. Als Lord Byron diesen Un-
glücksfall hörte, war er sehr betrübt, schickte der Wittwe 50 Dollars
(sprich Dalers), und ließ ihr sagen, er würde immer ihr Freund blei-
ben. Späterhin hat er sie auch noch einmal sehr reichlich beschenkt.
Die europäische Türkei.
' 525
Am Donaustrome liegen zwei bedeutende Festungen, die
den Russen schon oft viel zu schaffen gemacht haben:
Widdin, westlich, und
Silistria, östlich, beide auf dem rechten Ufer.
3. S e r v i e n,
zwischen dem Timok (östlich) und derDrina (westlich). Die
Servier, eine slavische Nation, genießen ihre eigenen Freihei-
ten. Sie haben zwar in ihren Festungen türkische Besatzung,
stehen aber unter einem besonderen Fürsten aus ihrer Nation,
zahlen jährlich einen bestimmten Tribut, und stellen im Kriege
eine Anzahl Soldaten. Wir merken hier nur
Belgrad, am Einflüsse der Sau in die Donau, der östrei-
chischen Stadt S em l in (s. Th. 2., S. 468-) gegenüber, eine
ziemlich große Stadt und bedeutende Festung. Daß hier die große
Straße zwischen Wien und Constantinopel hindurchgehe, und da-
her ein sehr ansehnlicher Durchgangshandel getrieben werde, ist
schon bei Semlin gesagt worden.
4. Bosnien
liegt gleich westlich von Servien, jenseit der Drina. Auch
hier liegt nur eine große Stadt
Boßna Sarai, nicht sonderlich gebaut, mit meist engen,
schmutzigen und ungepflastcrten Straßen.
5. Albanien.
Cs liegt südlich von Servien, längs dem adriatischen
und ionischen Meere. Das Land ist sehr bergig. Zn den
nördlichen Bergen, unweit des Meeres, wohnen die Monte-
negriner, ein rohes, sehr kriegerisches Völkchen. Zwar
stehen sie unter der türkischen Herrschaft, aber sie bekümmern
sich nicht viel darum, und gehorchen mehr ihrem Vladika.
So nennen sie ihren Bischof, der zugleich auch ihr oberster
General ist. Von den Albanern haben wir schon oben ge-
526 Die europäische Türkei.
sprechen. Ansehnliche Städte giebt es hier nicht. Man merke
nur folgende:
Skutari, die Hauptstadt. Südlicher
Janina, an der Meerenge vonOtranto, in einer reizenden
Gegend.
Arta, von welcher der Meerbusen Len Namen führt.
Prevesa, als Handelsstadt und wegen des vielen Verkehrs
mit den ionischen Inseln zu merken.
6. Macedonien
gleich östlich neben Albanien, am Archipel, wieder ein sehr
bergiges Land, dennoch sehr fruchtbar, mild und herrlich.
Unter den Bergen ist der Olymp zu merken, derselbe, den
die alten Griechen als Wohnsitz ihrer Götter dachten. Eine
große Halbinsel geht südlich in drei Landzungen aus. Die
östlichste derselben endigt sich in das Vorgebirge Athos, wo
die persische Flotte im Alterthume, als sie nach Griechenland
segeln wollte, Schiffbruch litt *). Die Griechen nennen den
Berg jetzt den heiligen Berg, darum, weil auf und an
ihm eine Menge Klöster und Zellen sich befinden, in denen
griechische Mönche wohnen, die zum Theil den jungen Grie-
chen, die hierher kommen, um sich zu Geistlichen vorzuberei-
ten, den nöthigen Unterricht ertheilen. Während des Aus-
standes der Griechen gegen die Türken wurden auch diese fried-
lichen Mönche von den letzteren überfallen, viele ermordet
und ihre Wohnungen zerstört. Ob diese wieder aufgebaut sind,
und die frühere Untcrrichtsanstalt wieder eingerichtet ist, wis-
sen wir nicht. Folgende Städte sind zu merken, von Osten
nach Westen:
Filibah, ganz nahe an der Gränze von Num-Jli und
am Meere. Dies ist die Stadt, die im Alterthum Philipp!
hieß, an deren Einwohner der Apostel Paulus den bekannten schö-
nen Brief schrieb. Jetzt ist sie eine elende, verfallene Stadt.
Saloniki, das alteTheffalonkch, dasselbe, an welches Pau-
lus die beiden Briefe schrieb. Sie liegt an dem von ihr benann-
ten Meerbusen, ist recht groß, und treibt nächst Constantinopel
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
LH. 1., S. 111.
Die europäische Türkei.
527
wohl den stärksten Seehandel in der europäischen Türkei. Beson-
ders wird viel maccdonische Baumwolle und Seide ausgeführt.
7. Thessalien oder Janjah
ist das kleine Land, das gleich südlich von Macedonien, und
östlich von der Stadt Arta, am Archipel liegt, wieder ein
herrliches Land. Wenn es nur bester regiert würde! Hier ist
das schöne Thal Tempc, das die alten Griechen für das
reizendste Fleckchen Erde hielten. Cs wird von einem Flusse
durchflossen, und von Felsen eingeschlossen. Allerdings soll cs
recht lieblich seyn, aber doch nicht so unübertrefflich, wie cs
die Alten beschreiben.
Larissa ist die Hauptstadt. Bedeutend ist hier keine Stadt.
i
8. L i v a d i e n.
Dies kleine Land, das sich südlich von Thessalien und
Albanien vom Archipel bis zum ionischen Meere hinzieht, war
im Alterthum das eigentliche Griechenland, oder Hellas,
der Wohnsitz jenes geistreichen griechischen Volks. So merk-
würdig auch das Land darum ist, weil fast jeder Fleck an
das Alterthum und an eine berühmte That der alten Griechen,
oder an eine alte Mythe erinnert, so ist es doch jetzt in
großem Verfalle. Die meisten Bewohner sind auch jetzt Grie-
chen, die aber in großer Armuth leben. Frühcrhin standen
sie unter dem eisernen Drucke der Türken, und in den letzten
Jahren ist das Land, das zum Kriegsschauplatz gehörte, sehr
verwüstet worden. Große Städte sind hier nicht, aber viele
sind merkwürdig als Ueberrcste solcher Städte, die im Alter-
thume glänzten. Wir durchgehen das Ländchcn von Westen
nach Osten.
Missolunghi liegt nahe am Eingänge in den korinthischen
Meerbusen, und ist eine kleine, aber starke Festung. Wer sollte
vergessen haben, mit welcher Tapferkeit die Griechen 1825 und
1826 diese Stadt gegen die Türken vertheidigten, und sich endlich
zum Theil durchschlugen *)?
*) S. mein Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg-,
LH. 3-, S. 432.
Rösselts Geographie II.
34
528
Die europäische Türkei,
Lepanto, nicht weit davon, östlich. Hier ist der Eingang
in den korinthischen Meerbusen, der daher auch der Meerbusen
von Lepanto genannt wird. Hier sind auf beiden Seiten kleine
Schlosser zur Beschützung des Eingangs errichtet, die kleinen
Dardanellen.
Thiva, jetzt ein kleiner, verfallener Ort, einst die große
berühmte Stadt Theben des Alterthums.
A t hi nia, das alte Athen. Auch diese Stadt ist jetzt ver/
fallen; aber überall treten uns große Denkmäler aus dem Alter-
thum an. Wir steigen die Akropolis, die Burg, hinan, und
gehen umher zwischen den herrlichen Trümmern einer berühmten
Vergangenheit. Hier treten wir in das hohe Thor der Propy-
läen*), betrachten das marmorne Parthenon (den Tempel der
Pallas Athene), und bedauern nur, das Werk in seiner Vollkom-
menheit nicht gesehen zu haben. Denn der Zahn der Zeit bat
sehr daran genagt, und noch vor wenigen Jahren ist bei der Be-
lagerung durch die Türken viel verwüstet worden **). Und wie
herrlich ist die Aussicht von dieser Hohe. (Wir verweisen hier
auf das, was wir darüber in der unten bemerkten Stelle unr
srer Weltgeschichte gesagt haben.)
*) S. mein Lehrb. der Weltgeschichte für Töchterschulen, 2te Ausg.,
Th. 1., S. 123 u. 124.
**) Chateaubriand, ein berühmter, noch lebender französischer Staats-
mann und Dichter, besuchte auch Athen, und schildert seinen jetzigen ver-
fallenen Zustand. Die Ruinen, sagt er, haben eine ausnehmend schöne
Farbe, ein Goldgelb, fast wie die Farbe reifer Aehrcn. Aber man denke
sich den ganzen Raum auf der Burg theils nackt und nur mit gelbem
Haidekraute bedeckt, theils von Oelbäumen, Reben oder Gerstenfeldern
durchschnitten. Aus denselben steigen Säulenschäfte und Trümmer von
alten und neuen Gebäuden empor. Hier sieht nian Albaneserinnen Was-
ser schöpfen oder Kleider waschen; dort Bauern, welche Esel, mit Le-
bensmitteln beladen, nach der Stadt treiben. Man denke sich dies Alles:
die Berge, die Trümmer, die Inseln, das Meer, von glänzendem Lichte
beleuchtet. ,,Auf der Höhe der Akropolis sah ich die Sonne hinter den
Bergen emporsteigen; die Raben, welche um die Burg nisten, schwebten
unter uns, und ihr schwarzes, glänzendes Gefieder ward von dem Wider-
schein der Morgensonne rosig beleuchtet. Athen, die Akropolis und die
Trümmer des Parthenon waren mit dem schönsten Psirsichblüthenroth ge-
färbt; das Meer glänzte fern in weißem Lichte, und die Burg von Ko-
rinth glühte in der Morgensonnc wie ein Fels in Purpur und Flammen.
Auf der Stelle, auf der wir standen, hätten wir in den schönen Zeiten
Athens sehen können, wie die Schiffe ausführen, um den Feind zu schlagen,
oder zu den Festen nach Delos zu segeln; wir hätten hören können den
Befallsruf der Bürger bei den Reden des Demosthenes. Aber ach! kein
Ton drang jetzt zu unsern Ohren. Kaum scholl von Zeit zu Zeit das
Geschrei eines knechtischen Pöbels aus jenen Mauern, die einst von der
Stimme eines freien Volkes wiedcrhallten. Ich sagte mir, um mich zu
trösten: Alles vergeht! Alles hat ein Ende in dieser Welt! Wohin sind
die göttlichen Geister, die diesen Tempel errichteten, auf dessen Trüm-
Die europäische Türkei.
529
9. M o r e a,
s
der Peloponnes der alten Griechen. Diese Halbinsel hangt
durch den Isthmus mit dem festen Lande zusammen, und en-
digt sich im Süden in das Vorgebirge Matapan. West-
lich ist das Vorgebirge Malea, das in der griechischen My-
thologie so oft vorkommt'^). Das Land ist fruchtbar, hat
eine schöne, milde Luft, und überall sieht man Pomeranzen-,
Citronen-, Feigen-, Orangen-, Granaten- und andere Baume
mit Goldfrüchten. Nur ist die Halbinsel seit einigen Jahren
durch die Türken und Aegypter so verwüstet, daß Jahre dar-
über hingehen werden, ehe sie sich ganz wieder erholt. Daß
sie jetzt nur von Griechen bewohnt werde, ist schon oben ge-
sagt worden. Sie haben sich durch einen ausdauernden Kampf,
der 1821 begann, endlich die Freiheit errungen. Die Negie-
rung führt ein Senat, an dessen Spitze der Präsident Capo
d'Jstria, ein sehr verständiger und verdienter Mann, steht.
Die Städte sind nicht bedeutend, und während des Kriegs
zum Theil sehr mitgenommen.
Patras liegt Missoluughi gegenüber, also auch am Ein-
gänge des korinthischen Meerbusens. ,
Korinth finden wir südlich vom Isthmus. Von der Pracht
und Schwelgerei des alten Korinths ist jetzt keine Spur mehr.
Die jetzige Stadt ist unbedeutend. Ein Reisender fragte einst ei-
nen Eingebornen: „komme ich bald nach Korinth?" — „Ihr
seyd schon darin," war die Antwort: „Alles muß ein Ende ha-
ben!" — Die Häuser liegen zerstreut, dazwischen leere Räume,
oder Gärten, oder Felder; überall herrscht eine öde Stille. Dicht
dabei aus einem Berge liegt die Festung, die Akropolis. Rui-
nen sieht man genug; aber Alles liegt in Unordnung und Graus
durch einander. Südlich von Korinth kommen wir bei den Trüm-
mern von Mykenä vorbei, wo man noch Agamemnons Grab zeigt,
nach
Argos. Auch dieser Name erinnert uns an das griechische
Alterthum; sein jetziger Zustand enthält nichts Merkwürdiges.
Nicht weit davon ist *)
mern ich jetzt saß? Das Gemälde der Landschaft, die vor mir lag, war
einst von Augen betrachtet worden, die seit 2000 Jahren geschlossen wa-
ren. Auch ich werde vorübergehen; andere Menschen, flüchtig dahin-
schwindend wie ich, werden aus denselben Trümmern dieselben Betrach-
tungen anstellen. Unser Leben und unser Herz ist in Gottes Hand, und
wir wollen ihn also über das Eine wie über das Andere walten lasten.
*) S. meine Mythologie für höhere Töchterschulen, S. 338, 341, 456.
530
Die europäische Türkei.
Napoli di Romania oder Nauplia, an einem tiefen
Meerbusen, eine der bedeutendsten Städte der Halbinsel; sie kann
als Hauptstadt betrachtet werden, da der Präsident hier zu woh-
nen pflegt. Mitten in der Stadt steht ein steiler Felsen, auf
welchem die Burg liegt.
Vor dem Meerbusen von Argos und Nauplia treffen wir
zuerst die Insel Spezzia. An sich ist sie unbedeutend; aber
die Einwohner, lauter Griechen und ausgezeichnete Schiffer,
nahmen lebhaften Antheil an dem Kampfe der Griechen gegen
die Türken.
Nicht weit davon, an der Spitze der großen Landzunge,
an welcher Argos und Nauplia liegen, liegt die Insel Hy-
dra, deren Einwohner, die H y d r io ten, sich im Frciheits-
kampfe gegen die Türken so ausgezeichnet haben. Cs sind
mehrere pyramidenartige Felsen, auf deren Gipfeln Windmüh-
len von sonderbarer Bauart mit 6 — 8 Flügeln stehen. Die
Hydrioten sind treffliche Seeleute, und im Hafen herrscht ein
beständiges Gewimmel von abfahrenden und ankommenden Schif-
fen. Auf den Anhöhen sieht man fast immer Weiber stehen,
die mit dem Wedeln ihrer Shawls und durch Zuruf ihren
Gatten Lebewohl oder Willkommen ausdrücken. Nicht weit
von Hydra, in dem Meerbusen zwischen ihr und Athen, sind
die Inseln
Po ros, A cgi na und Salamis, die in dem letz-
ten Freiheitskriege der Griechen oft genannt wurden. Bei
Salamis war die berühmte Seeschlacht, welche die alten Grie-
chen 480 vor Christus unter des Thcmistokles Leitung über
die Perser gewannen *).
In dem südlichen Theile von Morea sind folgende Städte
zu merken:
Tri p olizz a, nicht weit von Argos und Nauplia, aber
mehr nach der Mitte zu. Sie ist eine neue Stadt, und daher
ganz türkisch gebaut. Die Dächer sind roth angestrichen, und die
vielen Minarets und Kuppeln geben ihr von außen ein feierliches
Ansehen. Aber im Innern ist sie wüste und öde, obgleich eine
der größten Städte der Halbinsel. — In der Mitte des südlst
chen Theiles, nicht sehr weit vom Meere liegt das Städtchen
Misitra (-uu) oder Miftra. Die umliegende Gegend
wurde von den Spartanern im Alterthume bewohnt. Es ist ein
' *) S. m.Lehrb. dcrWeltgesth. f. Töchtersth-, 2teAusg., Th. 1., S.119.
Die europäische Türkei,
L31
bergiges Land, das von einem rohen und räuberischen Menschen-
schlage, den Mainotten, bewohnt wird, die bisher unter ih-
rem eigenen Fürsten standen. Vergebens sucht man hier die Rui-
nen des alten Sparta. Dieses lag eine Meile davon entfernt»
Hier finden wir noch manche Trümmer aus der alten Heldcnzcit;
aber alles ist hier öde; eine einzige Hütte eines Ziegenhirten
steht dabei. In der Mitte, auf einem Hügel, sind die Ruinen
der alten Burg. „Als ich oben war," sagt Chateaubriand, „stieg
die Sonne hinter dem Berge auf. Welches schöne, aber zugleich
welches traurige Schauspiel! Der Eurotas floß einsam unter den
Trümmern. Trümmer überall, und kein Mensch unter den Trüms
mern. Ich stand wie betäubt in Liesen Anblick verloren. Eine
tiefe Stille herrschte um mich. Ich wollte wenigstens das Echo
hier reden lassen, und rief aus allen Kräften: Leonidas! Aus
keinen Trümmern aber hallte der große Namen wieder, und selbst
Sparta schien ihn vergessen zu haben. Ruinen, an welche sich so
herrliche Erinnerungen knüpfen, bezeugen laut die Vergänglichkeit
alles Irdischen."
An der südwestlichen Landzunge des Peloponnes liegen
die Städtchen
Koron und Mo don, die in neuer Zeit auch oft genannt
worden sind. — An der Westküste liegt
Navarin, an einem tiefen Meerbusen. Zn diesem großen
Becken fiel die merkwürdige Seeschlacht 1827 vor, in welcher die
vereinigten englischen, französischen und russischen Escadern die
türkische, darin vor Anker liegende Flotte gänzlich zerstörten. Die
Stadt nimmt sich recht freundlich aus. Sie liegt am Fuße von
Felsen, und zwischen den Häusern stehen Palmen und andere
Bäume.
10. Die Inseln.
O seyd gegrüßt, ihr lieblichen Gefilde
Des Archipels, wo die Natur
Dem Künstler sich enthüllt im schönsten Bilde,
Wo sie ihn lockt auf ihre Spur;
Da, wo sich meerumrauschte milde Felder
Mit goldncn Früchten und mit Wein,
Balsamisch duftend, und des Lorbeers Wälder
In lieblichem Gemische reihn;
Wo Lust und Scherz ein frohes Volk beleben,
Das ruhig sich am Ufer kühlt.
Wo laue Zephyre die Brust umschweben.
Von Silberwellen leis' umspült.
Die Inseln des Archipels gehören nicht alle zu Europa;
die östlichen werden zu Asien gerechnet, und daher hier über-
gangen. Nur zwei, Negropont und Candia, sind groß; die
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532
Die europäische Türkei.
andern zum Theil sehr klein, manche bloße Felsen, alle voll
Spuren von Vulcanen und Erdbeben, die hier nicht selten wü-
then. Die Einwohner sind Griechen, alle vorzügliche See-
leute. Die merkwürdigsten Inseln, von Norden nach Süden,
sind folgende:
1. Negropont, das alle Euböa, die größte Insel des
Archipels. Da, wo sie dem festen Lande am nächsten kommt,
ist eine Brücke geschlagen. Mitten durch die Insel zieht sich
eine Bergkette, die mehrere Monate mit Schnee bedeckt ist.
Die Meerenge zwischen der Insel und Livadien heißt Eu r ip o.
2. Delos, einst dem Apollo geweiht. Da, wo sonst
sein Marmortcmpel sich erhob, und die Lüfte von den Gesän-
gen der Gesandtschaften der griechischen Städte (Theorien)
wicderhallten, herrscht jetzt eine Todtcnstille *). Denn jetzt ist
sie nur von wilden Kaninchen bewohnt, und nur dann und
wann landen in ihrem Haftn griechische Seeräuber.
3. Naxia, sonst Naxos. Wie sie im Alterthume so
reich an Weinreben war, daß man sie dem Bacchus geheiligt
glaubte, so ist sie noch heute überaus fruchtbar an Wein und
allen cdeln Früchten. Ganz nahe ist
4. Pa ros. Sie war im Alterthume durch ihren herrli-
chen Marmor berühmt, aus dem die Griechen ihre Tempel
bauten und ihre Bildsäulen machten. Jetzt ist sie wenig be-
wohnt und unbedeutend. Gegenüber ist das Insclchen
5. Antiparos, wo eine berühmte, schauerliche Höhle
ist. Das Merkwürdigste bei ihr ist, daß man 1000 Fuß
hinabsteigen muß, ehe man in das Höhlengewölbe ge-
langt, und dies Hinabsteigen ist höchst mühsam und gefähr-
lich. Bald steigt man auf einer hohen Leiter, die nur auf
einer schmalen Felskante ruht, bald muß man auf einem
Stege über einen unabsehbaren Abgrund gehen, bald sich gar
an einem Seile in die Tiefe hinablassen.
6. Santorin ist darum merkwürdig, weil sie sichtlich
über einem Vulkane steht, der in großer Thätigkeit sich noch
jetzt befindet. Häufig bebt die ganze Insel, hier und da
*) S. mein Lehrbuch der Mythologie für höhere Töchterschulen,
S. 199.
Die europäische Türkei.
533
bricht Schwcfeldampf aus der Erde; aber das Merkwürdigste
ist, daß zuweilen um sie herum kleine Inseln sich aus dem
Meere erheben, die aber selten bleiben, sondern nach einiger
Zeit wieder versinken. Offenbar werden sie durch die Dampfe
in dem Innern des Vulkan-Heerdes emporgctricben.
Alle diese Inseln, Negropont ausgenommen, werden Cy-
kladen genannt, und gehören zu dem Gebiete der Griechen.
Ca n d ia liegt vor dem Eingänge zum Archipel quer vor.
Sie ist in der Mitte von einer Kette hoher Berge durchzogen,
deren Gipfel mit ewigem Schnee bedeckt sind, und von den
Schiffern weit umher bemerkt werden. In den Thalern und
am Meere ist sie ungemein fruchtbar, und cs weht hier die
lieblichste Luft. Die Einwohner sind Türken und Griechen,
die seit mehreren Jahren in fast beständigem Kampfe lebten.
Lebten die Menschen als Brüder friedlich beisammen, so könnte
dies einer der gesegnetsten Wohnplätze seyn, da die Natur
hier alles gethan hat, den Menschen zu beglücken. Aber so
lange hier Türken herrschen, ist dies nicht zu erwarten.
11. D i e W a l l a ch e i.
Sie liegt zwischen der Donau und Siebenbürgen. Zweige
der Berge von Siebenbürgen ziehen sich durch das Land, das
aber mehr eben als bergig ist, und überaus fruchtbares Acker-
land und reiche Viehweiden enthalt. Daher ist sie eine ergie-
bige Kornkammer, und große Heerden von Rindvieh, Pferden,
Schafen und Schweinen sieht man überall. Die Pferde sind
sehr dauerhaft, und leben bis man sie einfangt, in halb wil-
dem Zustande. Will man sie zahm machen, um sie zu ge-
brauchen, fo werden sie mit Schlingen, die man ihnen über
den Kopf wirft, eingcfangcn, und oft mit großer Mühe an
Gehorsam gewöhnt. Das schöne Land könnte dennoch weit
mehr hervorbringen, wenn es besser regiert würde, und nicht
der vornehme Adel, die Bojaren, die Bauern drückte. An
der Spitze der Regierung stand bisher ein Fürst, Hospodar
genannt, der vom Sultan ernannt wurde. Die Einwohner
sind meist Wlachen, ein slavischer Stamm; sie sind arm,
roh und unwissend. Die Hauptstadt ist
534
Die europäische Türkei.
Vukurest (sprich Bukurescht), eine große, aber dorfmäßig
gebaute Stadt. Die meisten Häuser sind elende, niedrige Hüt-
ten; nur der Hospodar und die Bojaren wohnen in Pallästen.
Da die Straßen ungepflastert sind, so ist im Sommer ein uner-
träglicher Staub, und im Winter ein so tiefer Koth, daß man
oft nicht weiß, wie man über die Straße kommen soll. Um im
Winter nicht ganz zu versinken, sind die Fahrwege in der Mitte
mit Baumstämmen belegt, zwischen denen beim Fahren der Koth
und daS Master emporquellen, und an den Häusern hin liegen auf
einer Erhöhung Bretter für die Fußgänger. — Nordöstlich, hart
an der östlichen Gränze, liegt
Vraila an der Donau, eine starke Festung.
12. D i e Moldau.
Nur die Hälfte dieser nordöstlich von der Wallachei
liegenden Provinz gehört zu der Türkei. Die andere, östliche,
Hälfte ist russisch. Der Pruth macht die Gränze. Nur
nach Siebenbürgen hin ist das Land bergig, sonst stach, sehr
fruchtbar, reich an fetten Viehweiden, aber — schlecht ange-
baut. Denn obgleich viel Korn, noch mehr Wein gewonnen
wird, und eine unzählige Menge trefflicher Pferde, Ochsen
und Schafe ausgeführt werden, so könnte das Land bei flei-
ßiger Benutzung doch noch viel mehr erzeugen. Die meisten
Einwohner sind robc, unwissende Wlachen, die von den rei-
chen Bojarcg sehr gedrückt, und fast wie Leibeigene behan-
delt werden. Auch hier regiert ein unter türkischer Hoheit
stehender Hospodar. Die Hauptstadt ist
Jassy (spr. Jaschi), weit kleiner als Bukarest, aber eben
so elend gebaut, und auch ohne Straßenpflaster und Straßenbe-
leuchtung.
Außer den eben beschriebenen europäischen Besitzungen hat
der Sultan deren auch in Asien und Afrika, die man unter
dem Namen der asiatischen und afrikanischen Türkei
begreift, und die wir zu seiner Zeit beschreiben werden.
Ende des zweiten Thciles.
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