107 9. Das Jlsethal.* Je tiefer wir vom Brocken hinabstiegen, desto lieblicher rauschte das unterirdische Gewässer; nur hier und da, unter Gestein und Gestrüppe, blickte es hervor und schien heimlich zu lauschen, ob es ans Licht treten dürfe, und endlich kam eine kleine Welle ent¬ schlossen hervorgesprungen. Nun zeigte sich die gewöhnliche Erschei¬ nung: Ein Kühner macht den Anfang, und der große Troß der Zagenden wird plötzlich, zu seinem Erstaunen, von Muth ergriffen und eilt, sich mit jenem Ersten zu vereinigen. Eine Menge anderer Quellen hüpften jetzt hastig aus ihrem Versteck, verbanden sich mit den zuerst hervorgesprungenen, und bald bildeten sie zusammen ein schon bedeutendes Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und in wunderlichen Windungen das Bergthal hinabrauscht. Das ist nun die Ilse, die liebliche, süße Ilse! Sie zieht sich durch das gesegnete Jlsethal, an dessen beiden Seiten sich die Berge allmälig höher er¬ heben, und diese sind bis zu ihrem Fuße meistens mit Buchen, Eichen und gewöhnlichem Blattgesträuche bewachsen, nicht mehr mit Tannen und anderem Nadelholz. Denn jene Blätterholzart ist vor¬ herrschend auf dem Unterharze, wie man die Ostseite des Berges nennt, im Gegensatz zur Westseite desselben, die der Oberharz heißt und wirklich viel höher ist und also auch viel geeigneter zum Ge¬ deihen der Nadelhölzer. Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit und Anmuth die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild empor¬ zischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Steinspalten, wie aus tollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mäd¬ chen. Ja! die Sage ist wahr: die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinabläuft. Wie blinkt im Sonnen¬ schein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im Winde ihre silbernen Busenbänder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen stehen dabei, gleich ernsten Vätern, die verstohlen lächelnd dem Muthwillen des lieblichen Kindes zusehen; die weißen Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt und doch zugleich ängst¬ lich über die gewagten Sprünge; der stolze Eichbaum schaut drein, wie ein verdrießlicher Oheim, der das schöne Wetter bezahlen soll; die Vöglein in den Lüften jubeln ihren Beifall; die Blumen am Ufer flüstern zärtlich: »O nimm uns mit, nimm uns mit, lieb' Schwesterchen!« H. Heine.