62 Schlange, die ihn also anredete: „Guter Wanderer, er¬ barme dich meiner in dieser drückenden Gefangenschaft. Ich werde des Hungertodes sterben, wenn du den schweren Stein nicht fortwälzest. Schon viele Tage habe ich durch diese Ritzen gelauscht, ob Nicht irgend ein barmherziges Wesen herzukäme und mich erlösete. Sei du der Bote meiner Freiheit und der Retter meines Lebens; ich will dir eben so treu lohnen, wie ihr Menschen die größten Wohlthaten zu belohnen pfleget." Der gutherzige Bauer, welcher die schmerzliche und trostlose Lage der Schlange so lebendig fühlte, als wenn er selbst unter dem Felsen eingekerkert wäre wurde durch die Bitten und das ge¬ heimnißvolle Versprechen der goldig glänzenden Schlange so sehr bewegt, daß er alle Furcht vor dem gefährlichen Thiere verlor und den Stein sogleich von der Oeffnung entfernte. Aber kaum war die Schlange in Freiheit ge¬ setzt, da bäumte sie sich schrecklich empor und öffnete den hungrigen Rachen, um den Bauer zu verschlingen. „Holla!" rief der Bauer, indem er dem zischenden Ungeheuer nach der Seite auswich; „ist das der Lohn für die größte Wohlthat, welche dir erwiesen werden konnte?" „Aller¬ dings," erwiderte die Schlange, „denn Undank ist der Welt Lohn, und ich versprach dir, daß ich dir so lohnen würde, wie die Welt es zu thun pflege." „Das ist freilich wol wahr," entgegnete der Bauer; „auch ich habe oft Undank für meine redlichsten Bemühungen eingeärntet; aber ich habe doch noch niemals gehört, daß Jemand den Retter seines Lebens zur Entgeltung getödtet habe." Solche feine Unterscheidungen," antwortete die Schlange, „kann ich nicht annehmen; Wohlthat ist Wohlthat, und der Welt Dank ist Undank; ich habe lange genug Hunger gelitten. Was hilft mir die Freiheit, wenn ich mich der süßesten Speise enthalten soll, und nickt emmal meinen Hunger stillen darf?" „All mein Vieh steht dir zu Gebote," fiel rasch der Bauer ein; „gehe mit mir, und du kannst dir nehmen, wozu du Lust hast." In diesem Augenblicke sprang ein Fuchs herbei, welcher die letzten Worte des Bauers gehört hatte. „Laß dich nicht erweichen, edle Schlange," rief er hastig; ich sehe, ihr habt Streit, und ich weiß im voraus, daß der Mensch Unrecht hat." „Gewiß!" sagte die Schlange; „sei du un-