Georg-Eckert-Institut BS78
Lesebuch
für
himiwversche Volksschulen.
Don
Heinrich Friedrich Flügge,
p11et)xcr am ©emina
für ¡nforn;vä: ^ G:.".
Hauptlehrer am Seminar zu Hannover.
/-lim-g
¡hwelg
Achte Auslage.
(Slereotyp-Lusgllöe.)
Preis eines Exemplars geb. 8y2, ungeb. 7 Groschen; gegen bare Zahlung in Partteen
von mindestens 2d Stück geb. 8, ungeb. 6y2 Groschen.
Hannover.
Karl M e y e r.
sEntsristsri untsr
ISB! - SB .J'.L—
d. I. verfügen Wir damit, daß in allen den Volksschulen, resp. Volksfchulclassen
Unseres Bezirks, in denen das Bedürfniß eines besonderen Schullesebuches sich
herausgestellt hat, wenn es sich um die Einführung eines neuen Lesebuches handelt,
nur das bereits in 3. Auflage bei Carl Meyer in Hannover erschienene
Lesebuch für hannoversche Volksschulen von Heinrich
eingeführt, und daß auf dessen allmäliche Einführung in den erwähnten Schulen,
resp. Schulclassen auch dann Bedacht genommen werde, wenn in ihnen bereits ein
anderes Lesebuch in Gebrauch ist.
Stade, den 5. December 1859.
1858 erneuern Wir hierdurch die Empfehlung des in der Verlagsbuchhandlung von
Carl Meyer zu Hannover nunmehr in 6. Stereotyp-Auflage erschienenen
Lesebuchs für hannoversche Volksschulen von H. F. Flügge,
Hauptlchrer am Seminar zu Hannover. (3 Thle. in 1 Bd. 356 Seiten.
Parthiepreis 6^ Groschen, das einzelne Exemplar 7 Groschen.)
mit dem Bemerken, daß nach desfallsiger Bestimmung des Königlichen Ministeriums
der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten auf die wünschenswertbe weitere Ver-
breitung dieses das Bedürfniß der Volksschulen unseres Landes vorzugsweise ins
Auge fassenden und anerkannt vortrefflichen Buches seitens der Betheiligten thun-
lichst hinzuwirken sein wird. Wir weisen deshalb sämmtliche Geistliche bezw. Schul-
lehrer Unseres Consistorial-Bezirks an, vorkommenden Falls, namentlich aber, wenn
es sich um die Wahl eines neuen Lesebuchs handelt, vornehmlich die Einführung des
oben genannten in Erwägung zu ziehen und zu befördern.
Aurich, den 31. October 1861.
Friedrich Flügge
Königliches Consistorium.
Königliches C o n s i st o r i u m.
Abtheilung für Volksschulsachen.
Ichaltsveyeichmß.
Erster Theil.
No. Seite.
*1. Der Dater im Himmel . ... 1
*2. Gebet............................ 1
*3. Morgengebet...................... 1
4. Die Sonnenstrahlen............ 1
*5. Tischgebete...................... 2
6. Die neueste Mode........... 2
7. Gute Nacht................. 2
'8. Wiegenlied..................... 3
*9. Abendlied...................... 3
10. Der dich behütet, schläft nicht . 4
'11. Am Abend zu singen............ 4
12. Der Herr ist nahe allen, die ihn
mit Ernst anrufen...........T 4
13. Ich wags, Gott vermags. . . 6
14. Der Wegweiser................. 7
*15. Die Dorfkirchglocke .... 8
16. Der Ruhetag................... 8
17. Kirchengehen säumet nicht . . 9
18. Gedenke des Sabbattages, daß
du ihn heiligest.............10
*19. Die drei großen Feste der Chri-
stenheit........................11
*20. Das Christuskind..............12
*21. Zur heiligen Weihnacht ... 12
22. Tag, Monat, Jahr und Jah-
reszeiten ......................12
23. Die vier Jahres- und Lebens-
zeiten .........................15
*24. Frühlings Ankunft.............16
25. Der Frühling...................16
*26. Der Wanderer.................. 17
27. Die Stimme der Creaturen . . 17
*28. Mailied.......................18
No. Seite.,
*29. Wanderlust.....................18
*30. Abschied.......................19
31. Boten göttlicher Vorsorge . . 19
*32. Gott weiß..................... 20
33. Gott ist die Liebe...........20
34. Im Junius.................21
*35. Lobe den Herrn, meine Seele . 21
*36. Der frohe Wandersmann ... 21
37. Gott grüßt manchen, der ihm
nicht dankt...................22
38. Die gefiederten Lehrmeister . . 22
*39. Schauet die Lilien auf dem
Felde an......................22
*40. Sommerlied.....................23
*41. Gefunden.......................24
42. Du lässest Gras wachsen für
das Vieh......................24
43. Die Wandlung.................25
44. Die Zugvögel........ 25
*45. Die stummen Lehrer...........27
46. Die Infecten.................27
47. Predigt der Garben...........28
48. Ein dankbares Herz...........29
49. Was uns der Herbst predigt. . 30
50. Die Krönung..................31
51. Unerwartet und dennoch er-
wartet .....................34
*52. Der Winter...................34
53. Der Winter....................34
*54. Jesus der Schönste...........35
55. Der Christbaum...............35
56. Das Kirchenjahr.............36
57. Suchet in der Schrift ... 38
IV
J&. Seite.
58. Luther an seinen Sohn Jo-
hannes..........................38
59. Du sollst deinen Vater und
deine Mutter ehren........39
60. Der Landmann..............40
61. Geschwisterliebe..........41
62. Von den mancherlei Ständen . 41
63. Die Obrigkeit.............42
*64. Graf Eberhard im Bart ... 43
*65. Untreue schlägt ihren eignen
Herrn.....................44
66. Herrschaften und Dienstboten . 44
*67. Der fromme Knecht............45
68. Diencrtreue...................46
*69. Die fromme Magd...................47
70. Die Großmutter entläßt ihren
Enkel zur Wanderschaft ... 47
71. Der Ackerbau ist ein göttlich Werk 48
72. Die Kartoffel....................48
73. Vier Regeln für den Hausstand 49
74. Der Hamster......................51
75. Der Maulwurf.....................51
76. Der Sperling.....................52
77. Jugend ist Saatzeit.........53
78. Rom ist nicht in einem Tage
erbaut...........................54
79. Vom Rechnen......................54
80. Nachgeben stillt den Krieg . . 55
81. Wie man dem Nächsten sein
Gut und Nahrung behüten
helfen soll...............56
82. Geiz ist eine Wurzel alles Übels 56
83. Der ungerechte Pfennig ... 57
84. Redlichkeit ist das beste Ein-
kommen . . .....................58
85. Einmal ist keinmal...............58
86. Wenn dich die bösen Buben
locken, so folge ihnen nicht . . 59
87. Die Quecken......................59
88. Wes Brot ich esse, des Lied ich
singe............................60
89. Der Schatz.......................60
90. Gott und genug...................61
*91. Sorget nicht.................... 61
92. Das Land der Zufriedenheit . 61
93. Nimm fürlieb, wie Gott es be-
schert..........................62
J^ä. Seite.
94. Stadtmaus und Feldmaus . . 62
95. Vom Hunde im Wasser ... 62
96. Hoffen und Harren macht man-
chen zum Narren.............63
97. So der Herr will..........63
98. Gott allein die Ehre......64
99. Der König aller Könige ... 65
100. Demüthiget euch unter die ge-
waltige Hand Gottes .... 65
*101. Gottes Zucht.................66
102. Was Gott thut, das ist wohl-
gethan .........................66
103. Den Steuermann darf man
nicht meistern..............67
104. Mein Nächster...............68
105. Selber essen macht fett . ... 68
106. Was mich nicht brennt, das
blase ich nicht.............69
107. Einen fröhlichen Geber hat
Gott lieb...................70
108. Dr. Luthers Wohlthätigkeit . . 71
109. Kranich und Wolf............71
110. Undank ist der Welt Lohn . . 72
111. Untreue.....................73
*112. Freundschaft.................73
113. Der kleine Friedensbote ... 73
114. Der Sklave..................75
115. Überwinde das Böse mit Gutem 76
116. Liebet eure Feinde..........76
117. Wie man in den Wald schreit,
so schreit es wieder heraus . . 76
118. Der Hirtenhnnd..............77
119. Allen Leuten recht gethan ist
eine Kunst, die niemand kann 77
120. Wer lange fragt, geht lange irre 78
121. Christus ist der Weg, die Wahr-
heit und das Leben...............78
122. Wir sind des Herrn.............78
123. Christus ist unsre Gerechtigkeit 79
124. Der Galeerensklave.............79
125. Was das heißt: der Welt ge-
kreuzigt sein....................80
126. Die Welt im Herzen.............80
127. Was ein heiliges Leben sei . . 81
128. Es ist noch Raum da ... . 82
129. Tod und Auferstehung .... 82
*130. Abendgeläut.....................83
JÆ. Seit«.
131. Ruf nach der Heimat.............83
132. Die sieben Schläfer.............83
133. Der Narr........................85
134. Der Wcltlcutc Spruch und der
Christen Spruch..................85
JVJ. Seite.
*135. Begrüßung des himmlischen
Jerusalems....................86
*138. Geistliches Wächterlied .... 87
Zweiter Theil.
Erster Abschnitt. Die Lufterscheinungen...........88
Zweiter Abschnitt. Die Erde.
1. Die Erdkugel...............................................96
2. Verkeilung von Land und Wasser............................98
3. Das Meer................................................. 98
Dritter Abschnitt.
1. Der älteste Zustand unsers Va-
terlandes .....................99
2. Übersicht über unser Vater-
land .................... ... 100
3. Die Lanckhostei Hannover . 104
4. Das Getreide.................104
5. Die Weser....................105
6. Die Stadt Hannover...........107
7. Hameln.......................110
8. Die Sage von der Ausführung
der liamelnfchen Kinder . .111
9. Die Landdrostei Hildesheim 113
10. Das Fürstenthum Hildesheim 113
11. Die Leinpflanze und die Bear-
beitung des Flachses .........113
12. Die Stadt Hildesheim.........117
13. Die Fürstenthümer Göttingen
und Grubenhagen . . . .118
14. Die Eiche....................119
15. Das Eichhörnchen.............120
16. Die Stadt Göttingen..........121
17. Münden.......................123
18. Goslar.......................124
19. Die Grafschaft Hohnstein . .126
20. Der Harz.....................126
Die Beerengänger des Harzes 128
Die Holzhauer des Harzes . . 129
Unser Vaterland.
Die Köhler des Harzes. . . . 130
Die Vogelsteller des Harzes . 131
21. Der Fink......................132
22. Der Fuchs.....................133
23. Der Specht....................136
24. Die Fichte....................137
25. Das Moos......................138
26. Der Berg- und Hüttenbau. . . 139
27. Klausthal und Zellerfeld. ... 140
28. St. Andreasberg...............141
29. Die Landdrostei Lüneburg . 142
30. Die Lüneburger Heide..........143
31. Die Biene.....................146
32. Der Storch....................147
33. Hünengräber. ... .... 149
34. Die Stadt Lüneburg............150
35. Das Kochsalz..................152
36. Celle.........................153
37. Die Hermannsburger Mission . 154
38. Die Landdrostei Stade . . .156
39. Die Torfmoore.................157
40. Die Kiebitzen.................158
41. Stade.........................159
42. Verden........................160
43. Die Marschen an den Mündun-
gen der Weser und der Elbe . . 160
44. Die Landdroftei Anrieh . . . 162
VI
JVS. Seite.
45. Norderney....................164
*46. Auf dem Meere................166
47. Das Pferd......................166
48. Der Dollart....................167
49. Die Landdrostei Osnabrück . 168
50. Papenburg......................169
51. Osnabrück......................169
52. Die Karlssteine im Hohn . . .170
53. Karl der Große und die Sachsen 171
54. Die ersten Herzoge der Sachsen 174
55. Heinrich der Lowe..............175
56. Die Reformation in Kalenberg
und Gottingen........... 178
57. Ernst der Bekenner...........1821
JVo. Seite.
58. Drangsale unserer Vorfahren um
die Zeit des 30jährigen Krieges 185
59. Hannover während des sieben-
jährigen Krieges..............187
60. Der Ausfall von Menin. . . . 189
61. Bedrängnisse durch die Franzo-
sen und Befreiung von ihnen. . 190
*62. Reiters Morgenlicd..........193
63. Soldatenehre...............193
*64. Der gute Kamerad...........194
65. Georg der Dritte...........194
*66. Fürbitte für König u. Vaterland 195
*67. Heil dem Könige............196
68. Deutsche Treue.............196
Dritter Theil.
Erster Abschnitt. Die Länder und Völker der heiligen Schrift.
1. Überblick über das heilige
Land.........................197
2. Das Jordanthal...............199
3. Judäa...................... 201
4. Samaria.....................205
5. Galiläa.....................205
6 Das Land jenseit des Jordans 207
7. Der Libanon.................207
8. Ägypten.....................209
9. Arabien.....................211
10. Das Kameel..................213
11. Die Weltreicheirn Osten (Ba-
bylonien, Assyrien, Medien
und Persien).............214
Die Geschichte dieser Rei-
che..........................214
Land und Bewohner . . .215
12. Syrien...........................217
13. Die Juden seit dem letzten Pro-
pheten..........................218
1. Unter maeedonischer, ägypti-
scher und syrischer Herrschaft 218
2. Herodes und sein Geschlecht 220
3. Zerstörung Jerusalems. . . 221
14. Kleinasien . ....................223
15. Die griechische Halbinsel. , . . 225
16. Rom..............................227
Zweiter Abschnitt. Die ersten Zeiten der Kirche
1. Die Christenverfolgungen . . . 229 3. Konstantin der Große und seine
2. Der Zustand der alten Kir- nächsten Nachfolger 235
che 233 4. Monika und Augustinus . . . 237
Dritter Abschnitt. Deutschland.
239 5. Der Rhein 246
242 *6. Die Lore Lei 248
3. Die Donau 243 7. Das Fichtelgebirge und der
4. Der Schwarzwald und die süd- Böhmerwald 249
deutsche Hochebene ....... 244 8. Das Riesengebirge 250
'S
VII
JV5. Seite.
9. Das Erzgebirge..................251
10. Thüringen...................... 253
•11. Barbarossa im Kiffbänser . . . 255
12. Die Elbe.......................255
13. Die Oder.......................256
14. Die Ostsee.....................257
15. Der östliche Theil der deutschen
Liesebene.......................258
16. Deutschlands Gefahr und Erret-
tung ............................260
17. Wie die deutschen Völker Chri-
sten werden......................263
18. Bonifacius, der Apostel der
JVS. Tritt.
24. Zustände im Mittelalter . . . 277
25. Johann Huß.....................281
26. Luthers Jugend - und Kloster-
leben .........................282
27. Der Anfang der Reformation . 284
28. Luther zu Worms und auf der
Wartburg.......................286
29. Fortgang der Reformation . . 288
30. Die augsburgische Confession . 289
31- Luther in seinem häuslichen Le-
ben und fein Tod...............291
32. Die Schlacht bei Mühlberg und
der Friedensschluß zu Augsburg 292
Deutschen 265 33. Der dreißigjährige Krieg . . . 293
19. Kaiser Karl der Große . . . . 267 34. Deutschlands Knechtung . . . 296
20. Heinrich I 269 35. Gottes Gericht in Rußland . . 298
21. Die Schlacht auf dem Lechfelde 270 36. Die Schlacht bei Leipzig . . . 299
22. Gregor VH. und Heinrich IV. . 271 *37. Eines christlichen Kriegers Mor-
23. Die Kreuzzüge 274 genlied 300
Vierter Abschnitt. Die übrigen Länder der Erde.
1. Die skandinavischen Länder. . 301 15. Indien 323
1. Dänemark 301 16. Der Elefant 325
Island 301 17. Die Kokuspalme 326
2. Norwegen und Schweden . 302 18. China und Japan 327
2. Der Lappländer und das Renn« 19. Afrika 327
thier 304 1. Die Nordküste 329
3. Der Hering 305 2. Die Sahara 329
4. Die Eidergans 307 . 3. Abyssinien
5. Großbritannien und Irland . . 308 4. Das Capland 330
6. Holland und Belgien 310 20. Der Löwe 331
7. Frankreich 310 21. Der Strauß
8. Spanien und Portugal . . . . 311 22. Christoph Columbus 334
9. Italien 313 23. Amerika 337
lo. Rußland 315 24. Die Baumwolle 339
11. Der Bär 316 25. Grönland 340
12. Die Birke 318 26. Der Seehund 342
13. Sibirien 320 27. Der Walfisch 343
14. Der Hund 321 28. Australien 344
Zeittafel 346
vra
VerMchniß -er Lie-eranstilge.
Seite.
Acki, lieber Gott, behüte mich .... 1
Alle Jahre wieder...................12
Aus dem Himmel ferne............... 1
Der alte Barbarossa................255
DerKncchthaterstochenden edeln Herrn 44
Der kühle Maien.....................18
Der Lenz ist angekommen.............16
Der Mai ist gekommen................18
Der Mensch hat nichts so eigen ... 73
Der Blond ist aufgegangen........... 4
Der rauhe Herbst kommt wieder... 27
Der Winter ist ein rechter Mann . . 34
Die fromme Magd von rechtem Stand 47
Die helle Sonn leuckt't jetzt hersür . 1
Du schöne Lilie auf dem Feld ... 22
Ein frommer Knecht zu dieser Frist . 45
Ein Sträußchen am Hute..............17
Ein Vöglein klein, ohne Sorgen . . 61
Erhebt euch von der Erde...........300
Es ist ein Ros entsprungen..........12
Geh aus, mein Herz, und suche Freud 23
Gib unserm König Glücke............195
Glocke, klingst so fröhlich......... 8
Heil unserm König, Heil............196
Seite.
Ich ging im Walde so für mich hin . 24
Ich hatt einen Kameraden..........194
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . 248
Jerusalem, du hochgcbaute Stadt . . 86
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast . . 2
Kommt, Kinder, laßt uns gehen . 83
Liebster Mensch, was mags bedeuten 83
Lobe den Herren, den mächtigen König
der Ehren..........................21
Mit tausend Gaben..................... 2
Morgen müssen wir verreisen ... 19
Morgenroth...........................193
Müde bin ich, geh zur Ruh............. 3
Nun schlaf, mein liebes Kindelein . . 3
O du fröhliche........................11
Schönster Herr Jesu, Herrscher aller
Enden............................35
Speis uns, o Gott, deine Kinder . . 2
Wachet auf! ruft uns die Stimme . 87
Weißt du, wie viel Sterile stehen . . 20
Wem Gott will rechte Gunst erweisen 21
Wenn alles eben käme.................6(1
Wie mit wildem Unverstand . . . .16«
Zu Aachen faßen die Fürsten .... 4l
Erster Theil.
l: Der Vater tm Himmel.
1. Aus dem Himmel ferne.
Wo die Englein sind.
Schaut doch Gott so gerne
Her auf jedes Kind,
2. Höret seine Bitte
Treu bei Tag und Nacht,
Nimmts bei jedem Schritte
Väterlich in acht,
1. Ach, lieber Gott, behüte mich
Und meine Eltern gnädiglich;
Auch mein Geschwister vor Gefahr
Mit deinem starken Arm bewahr.
3.
L. Die helle Sonn leucht't jetzt
herfür;,
Fröhlich vom Schlaf aufstehen wir:
Gott Lob, der uns heint diese Nacht
Behütet vor des Teufels Macht.
2. Herr Christ, den Tag uns auch
behüt
3. Gibt mit Vaterhänden
Ihm sein täglich Brot,
Hilft an allen Enden
Ihm aus aller Noth.
4. Sagts den Kindern allen.
Daß ein Vater ist.
Dem sie Wohlgefallen,
Der sie nie vergißt.
2. Gebet.
2. Und alle, die uns sind verwandt.
Beschütz durch deine rechte Hand.
Behüte mich vor aller Sünd:
Hilf, daß ich werd ein frommes Kind.
Vor Sünd und Schand durch deine
Güt!
Laß deine lieben Engelein
Unsre Hüter und Wächter sein!
3. Laß unser Werk gerathen wohl,
Was ein jeder ausrichten soll.
Daß unsre Arbeit, Müh und Fleiß
Gereich zu deinem Lob und Preis.
3. Morgengebet.
4. Die Sonnenstrahlen.
Die Sonne war aufgegangen und stand mit ihrer schonen
glànzenden Scheibe am Himmel. Da schiette sie ihre Strahlen aus,
unt die Schlàfer in dem aanzen Lande zu wecken. Da kam ein
Tirchi zur Lerche. Sie schmpste aus ihrem Reste, flog in die Lust
hinaus und sang: Viri Uri li, schon ists in ber Fruh. — Der zweite
strahl kam.zu dem Hàschen und weckte es aus. Das rieb stch die
1
2
Augen nicht lange, sondem sprang aus dem Walde auf die Wiese
und suchte sich zartes Gras und saftige Kräuter zu seinem Frühstück.
— Und ein dritter Strahl kam an das Hühnerhaus. Da rief der
Hahn: Kikeriki! und die Hühner flogen von ihrer Stange herab
und gackerten in dem Hofe und suchten sich Futter und legten Eier
in das Nest. — Und ein vierter Strahl kam an den Taubenschlag
zu den Täubchen. Die riefen: Nuckediku, die Thür ist noch zu.
Und als die Thür aufgemacht war. da flogen sie alle in das Feld
und liefen über den Erbsenacker und lasen'sich die runden Körner-
auf. — Und ein fünfter Strahl kam zu dem Bienchen. Das kroch
aus seinem Korbe hervor und wischte sich die Flügel ab und summte
dann über die Blumen und den blühenden Baum hin und trug
den Honig zu Hause. — Da kam der letzte Strahl an das Bett
des Faulenzers und wollte ihn wecken. Allein er stand nicht auf,
sondern legte sich auf die andere Seite, während alle anderen
arbeiteten.
5. Tischgebete.
1. Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, Bis wir endlich zu den Frommen
Und segne, was du bescheret hast. An die Himmelstafel kommen.
2. Speis uns, o Gott, deine Kinder;
Tröste die betrübten Sünder;
Sprich den Segen zu den Gaben,
Die wir jetzt hier vor uns haben.
Daß sie uns zu diesem Leben
Stärke, Kraft und Nahrung geben:
3. Mit tausend Gaben
Will Gott uns laben;
Aber eins weiß ich.
Das bet ich fleißig:
Abba, der auch mein Vater heißt,
Abba, gib mir den heiligen Geist.
6. Die neueste Mode.
Ein Bauersmann war am Markttage zur Stadt gekommen
und in ein Gasthaus gegangen, um dort das Mittagsbrot zu essen.
Er wurde in das Speisezimmer an einen Tisch gewiesen, an wel-
chem schon eine zahlreiche Gesellschaft saß. Ehe der Landmann sich
setzte, faltete er seine Hände, neigte sein Haupt und betete leise für
sich. Noch hatte er nicht geendet, als er von seinem Nachbar zur
Linken mit den Worten unterbrochen wurde: Setz er sich; das ist ja
eine längst vergessene alte Mode, bei Tisch zu beten. — So, erwi-
derte der Bauer, da sind meine Schweine nach der neuesten Mode:
die fressen auch, und beten nicht.
7. Gute Nacht.
Es war Herbst; das Laub siel, von den Bäumen und rauschte
schon unter dem Fußtritt des Wanderers. Da war eine alte Bett-
lerin auf ihren Krücken ins nächste Dörflein gepilgert und hatte sich
dort etwas frisches Stroh gebettelt, um es unter ihr Bettzeug zu
legen und wärmer und weicher zu schlafen. Sie konnte es nicht
anders fortschaffen, als indem sie es an eine ihrer Krücken band
und so langsam über den gefrorenen Boden fortschleifte. Ein
3
Knäblein kam desselbigen Weges gegangen, ist der alten Frau nahe
gekommen und hat sich höchlich verwundert über die Art, wie die alte
Frau das Stroh fortschaffte. Und kamen dem Knäblein allerlei Ge-
danken, böse und gute, und einer der bösen Einfalle hieß so: „Wie,
wenn du jetzt lerse hinanschlichest und Plötzlich auf das Stroh
sprängest? Die Alte würde schön aufs Angesicht fallen, und du
sprängest rasch in den Hohlweg hinab, ehe sie wieder ausstände."
Daheim aber stand unterdes die liebe Mutter des Knäbleins und
dachte ihrer vielen Kinder und des einen Vaters aller, und hat wohl,
wie sie eine rechte Beterin war, damals Absonderlich gebetet; denn
dem Kinde kam bald ein gar guter Gedanke und ward also zur That.
Denn fröhlich trat das Knäblein zur alten Bettlerin, grüßte sie unb
sprach: „Annalene, wir gehen eines Weges, und euer Stroh kann ich
besser tragen als ihr"; und schnell, ehe die Frau Ja oder Nein sagen
I konnte, war der Strick durchschnitten und das Stroh aufgeladen, und
der Knabe schritt rascher, als die Frau krücken konnte, und trug das
Stroh bis in ihre Hütte und legte es auf ihr Lager, und die Äpfel und
Nüsse aus seinen Taschen dazu und den Groschen auch, der zu Bilder-
bogen bestimmt war; und die Bettlerin schlief auf dem Stroh gar
aut in der Nacht, welche folgte, und das Knäblein schlief gut auf
seinem Kissen und träumte nichts Böses. Wer hat aber von bell
beiden am besten geschlafen?
6lut (Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.
8. Wiegenlied.
1. Nun schlaf, mein liebes Kindelein,
Und thu dein Äuglein zu;
Denn Gott der will dein Vater sein,
Drum schlaf in guter Ruh.
2. Dein Vater ist der liebe Gott
Und wills auch ewig sein.
Der Leib und Seel dir geben hat
Wohl durch die Eltern dein.
3. Er schenkt' dir seinen lieben Sohn,
Den schenkt' er in den Tod;
Der kam auf Erd von: Himmelsthron,
Half dir aus aller Noth.
4. Er schickt dir seine Engelein
Zu Hütern Tag und Nacht,
Daß sie bei deiner Wiege sein
Und halten gute Wacht.
6. Dem Vater und der Mutter dein
Befiehlt er dich mit Fleiß,
Daß sie dein treue Pfleger sein,
Ziehn dich zu Gottes Preis.
3. Der hcilge Geist der segne dich,
Bewahr dich allezeit;
Sein hcilger Nam behüte dich,
Schütz dich vor allem Leid.
7. So nimm du recht an Gnade zu.
An Alter und Verstand,
Und halte deine Kindesruh
In Jesu Schooß und Hand.
9. Abendlied.
^ 1. Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe beide Augen zu.
Vater, laß die Augen dein
Uber meinem Bette sein.
2. Hab ich Unrecht heut gethan.
Sieh es, lieber Gott, nicht an;
Mache du durch Jesu Blut
Gnädig allen Schaden gut.
1*
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3. Nasse Augen trockne du.
Kranke Herzen heile zu.
Alle Kindlein, bloß und arm,
Bette du sie weich und warm.
4. Alle, die uns sind verwandt,
Herr, laß ruhn in deiner Hand;
Alle Menschen, groß und klein.
Sollen dir befohlen sein.
10. Der dich behütet, schläft nicht.
Thomas Platter, der spater ein berühmter und belehrter Mann
wurde, war in seiner Jugend ein armes Hirtenbüblem. Einst war
ihm eine Ziege verloren gegangen, und während er sie in dem wilden
Gebirge suchte, brach die Nacht ein. In der Dunkelheit blieb er in
einem Dornstrauche hangen, und wie er sich auch bemühte, er konnte
sich nicht mehr losmachen. Ermüdet von der Angst und der An-
strengung schlief er endlich ein. Als er am Morgen sich die Augen
auswischte, sah er sich am Rande eines tiefen Abgrunds liegen. Einen
einzigen Schritt weiter, und er wckre hinabgestürzt und zerschmettert.
Aber der Engel des Herrn hatte ihn vor dem Tode bewahrt.
11. Am A§end zu singen.
1. Der Mond ist aufgegangen;
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget.
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
2. Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
3. Seht ihr den Mond dort stehen ?
Er ist nur halb zu sehen.
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen.
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
4. Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder,
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste,
Und kommen weiter von dem Ziel.
5. Gott, laß uns dein Heil scharten,
Auf nichts Vergänglichs trauen.
Nicht Eitelkeit uns freun.
Laß uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein.
6. Wollst endlich sonder Gräuren
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod;
Und wenn du uns genommen.
Laß uns in Himmel kommen.
Du unser Herr und unser Gott!
7. So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen
Und unsern kranken Nachbar auch.
die ihn mit Ernst anrufen.
12. Der Herr ist nahe allen,
Äu Anfang des -vorigen Jahrhunderts wollte eine Gesellschaft
wn acht Studenten aus Halle und Jena durch den Thüringerwald
weisen. Ein eingetretenes Regenwetter nöthigte sie, den Vormittag
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über bei dem Wirte zu bleiben, bei welchem sie übernachtet hatten.
Um Mittag wollten sie weiter reisen; aber der Wirt und der gerade
anwesende Stadtschreiber des Ortes ermahnten sie dringend, doch
lieber bis zum folgenden Morgen zu warten; denn in einem halben
Tage könnten sie nur bis in die Mitte des Waldes kommen. Dort
gebe es zwar etliche Wirtshäuser; aber dieselben seien sehr verrufen
und ständen in dem Verdachte, daß schon mehrere Mordthaten in ihnen
geschehen seien.
Die jungen Leute aber, die nach damaliger Sitte mit Seiten-
gewehren versehen waren und dazu einen leichten, guten Muth hatten,
lachten der Gefahr und traten dennoch die Reise in den Wald an,
indem sie meinten, das Raubgesindel müsse sich eher vor ihnen, als sie
sich vor ihm fürchten.
Als sie nun bis gegen AbeüL gelaufen waren, kamen sie an
eine Thalschlucht, in deren TieseKein einsames Wirtshaus stand.
Dort beschlossen sie zu übernachten^-weil ^>ie Nacht schon anbrach.
Als sie aber in das Haus einträte^ jmb die Wirtsleute sie so ganz
besonders anblickten, auch der HundA den einer von ihnen mit sich
führte, nicht über die Schwelle wollte, sondern winselnd und scheu
vor der Thür umherlief, faßte sie ein Schaudern, und sie waren so
ziemlich still, bis das Abendessen kam, wo sie dann unter-jugend-
lichen Gesprächen das Grauen wieder vergaßen. In der Mitte des
Zimmers stand- eine dicke hölzerne Säule, welche vom Boden bis
zur Decke hinausragte und diese zu stützen schien. Um diese Säule
herum ordnete jetzt die Hausmagd das Nachtlager von Stroh für die
jungen Reisenden, und zwar so, daß die Kopfkissen, die sie auf die
Lehnen der umgestürzten Stühle gelegt hatte, gerade an die 'Säule
zu liegen kamen. Die jungen Leute wunderten sich über diese selt-
same Einrichtung des Nachtlagers und fragten die Magd nach der
Ursache. Die aber antwortete scherzend, es geschehe deshalb, damit
die jungen Herren mit Händen und Füßen hübsch weit und bequem
auseinander lägen und bei Nacht keinen Streit anfangen könnten.
Darob lachten die Jünglinge, und weil sie von dem schlechten Wege
ermüdet waren, beschlossen'sie, sich zur Ruhe zu legen. Vorher aber
verriegelten fte_ die Thür und Nahmen ihre guten Waffen zur Hand.
Allein sie griffen auch noch zu einer andern Waffe, zu der Waffe
des Gebets; denn damals schämte man sich noch nicht, weder zu
Hause, noch aus den Reisen, des lauten, gemeinsamen Gebets am
Morgen und bei Tische und des Abends vor dem Schlafengehen;
selbst die Fuhrleute jener Zeit legten sich nie schlafen, ohne daß sie
zuvor ein Gebet gesprochen hatten. Die Jünglinge beteten daher mit
einander noch das Abendgebet aus Arnds Paradiesgärtlein und dann
das Lied:>
Herr! es ist von meinem Leben
Wiederum ein Tag dahin;
Lehre mich nun Achtung geben.
Ob ich frommer worden bin.
Zeige mir auch selber an,'
So ich was nicht recht gethan.
Und hilf mir in meinen Sachen
Ein gesegnet Ende machen.
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Da sie beim Beten dieses Liedes an den 5. Vers kamen:
Steure selbst den bösen Leuten,
Die im Finstern Arges thun.
Wollen sie sich gleich bereiten,
Uns zu schaden, wenn wir ruhn.
So zerstöre du den Nach,
Und verhindre selbst die That;
Wend auch alles andre Schrecken.
Das der Satan kann erwecken.
faßte manchen ein Schauer, aber auch ein Gefühl des festen Vertrauens
auf Gott. So, mit den Waffen in der Hand und im Herzen, legten
sie sich nun nieder.
Aber einen unter ihnen ließ eine unerklärliche Angst nicht schlafen.
Ihm ging es, wie dem Hunde, den sie bei sich hatten, welcher durchaus
keine Ruhe hatte, sondern immer an der Seite seines Herrn umherlief
und winselte. Endlich wurde die Unruhe bei dem jungen Reisenden
so groß, daß er eilig vom Lager aufsprang und nicht abließ, seine
Gefährten zu rütteln und zu schütteln, bis er sie endlich zum Aufstehen
bewogen hatte. Da saßen sie nun beim Schimmer eines Lichtes, das
sie wieder angesteckt hatten, schweigend und halb schlafend um den
Tisch. Auf einmal geschah ein furchtbarer Schlag. Von der Decke
war eine schwere Maschine, die vorher wie ein Kranz oben die Säule
umgeben hatte, herabgestürzt und hatte die Lehnen der umgekehrten
Stühle, auf denen vorhin die Köpfe der Reisenden ruhten, in Splitter
zermalmt. Diese sprangen erschrocken vom Tisch auf und stellten sich
mit gezückten Degen an die Thür hin in Erwartung dessen, was nun
geschehen werde. Wirklich hörten sie alsbald von der Treppe herunter
Stimmen und eilige Fußtritte. Der Riegel der Thür wird von
außen zurückgezogen; dieselbe geht auf, und der Wirt mit zwei Ge-
sellen tritt ein in der Meinung, hier nur noch Leichname anzutreffen.
Die acht Jünglinge aber empfangen die Mörder mit so kräftigen
Streichen ihrer Waffen, daß der eine zu Boden sinkt, die beiden andern
aber stark verwundet fliehen. Die jungen Kämpfer verrammeln nun
die Thür und erwarten in beständiger Furcht eines neuen und ver-
stärkten Angriffs den Morgen. Bei Tagesanbruch, nachdem die Nacht
vollends ohne weitern Schrecken vorübergegangen war, machen sie sich,
eng an einander geschlossen und die Waffen rn der Rechten, auf den
Weg, und die Furcht beflügelt ihre Schritte so, daß sie schon vor zehn
Uhr im nächsten meiningenschen Orte sind, wo sie den Vorfall den Ge-
richten anzeigen.
So hat das Gebet zum Herrn ihnen geholfen, und der starke
Gott, den sie darum anflehten, hat den Rath der Bosheit, der ihnen
den Tod zudachte, zerstört und die ruchlose That verhindert.
13. Ich wags, Gott vcrmags.
- 3m dreißigjährigen Kriege sank in einem Treffen wider die
Kaiserlichen ein schwedischer Fähnrich vom Pferde. Da nahm der
Trompeter ihm die Fahne ab, die in die Hand der Feinde gekom-
men wäre, und jagte mit ihr davon mitten durch den feindlichen
Haufen. Aufs heftigste von den nachsetzenden Kaiserlichen verfolgt,
kam er auf der Flucht eine Anhöhe hinan. Diese fiel aber an der
7
andern Seite so steil ab, daß es unmöglich war, hinabzuklettern,
und unten floß ein tiefer Waldstrom. Die Feinde wußten das und
kamen mit höhnenden! Triumphgeschrei heran. Da besinnt sich der
Trompeter kurz und ruft: Hilf mir, mein Gott! spornt sein Pferd,
setzt mitten in den Strom hinein und arbeitet sich unverletzt hin-
durch an das jenseitige Ufer. Die Feinde stehen starr vor Stau-
nen; dann begnügen sie sich, ihm ihre Schüsse nachzusenden, denn
den Sprung wollte ihm keiner nachthun. Der Schwede aber, als
er das Ufer hin angekommen war, wandte sein Pferd, schwenkte mit
der einen Hand die gerettete Fahne, mit der andern setzte er die
Trompete an den Mund und schmetterte ihnen laut, daß Wald und
Ufer erklangen, die Melodie des Liedes hinüber: Ein feste Burg ist
unser Gott/
14. Der Wegweiser.
Ein alter Pfarrer machte in seinem Wagen den Weg von
Osnabrück nach Quakenbrück, und weil zwar nicht viel hohe Berge, aber
dafür desto mehr kleine Lerglein zu passieren sind, die Sandkörner,
wirds Abend, ehe Quakenbrück erreicht ist. Der Weg ist längst ver-
loren, der Nebel immer dichter, und wenn Quakenbrück seinen Namen
von den Fröschen bekommen hat, weiß der Leser auch, daß die
Frösche nicht in der Luft umherfliegen und in den Büschen ihre Nester
bauen, sondern denkt an die Sümpfe, in welche dort bald die Pferde,
bald der Wagen unserer Reisenden leichter hineingerathcn, als man
hinauskommen kann. Und weil niemand nah und weit ist, den
man hätte fragen können, wie weit es noch sei bis zur Stadt, oder
ob der Knecht den Pferden sein Haar oder sein Hott zurufen müsse
— einer aber ist dagewesen, ganz weit und ganz nahe—, steigt der
Pfarrer aus und der Knecht ab, und jener spricht: „Höre, Franz,
wir wollen es dem einen sagen", und betete also: „Lieber Herr, du
hast Israel in die Wüste, in der Wüste und aus der Wüste geführt,
des Tages mit einer Wolkensäule und des Nachts mit einer Feuer-
säule; hast dem David gesagt Psalm 32, 8: ,Jch will dich unter-
weisen und dir den Weg zeigen, den du wandeln sollst; ich will dich
mit meinen Augen leitew; hast Wege allerwegen und auch von
Osnabrück nach Quakenbrück, und zwar für Pfarrer und Knecht und
Wagen und Pferde. Die Sümpfe gehören den Fröschen; die Erde
aber hast du den Menschenkindern gegeben: nun, so hilf uns auch auf
den rechten Weg. Amen!« Und der Herr erhörte das Gebet; aber
sein Amen lautete also:
Weg hast du allerwegen.
An Mitteln fehlt dirs nicht;
Dein Thun ist lauter Segen,
Dein Gang ist lauter Licht;
Dein Werk kann niemand hindern;
Dein Arbeit kann nicht ruhn.
Wenn du, was deinen Kindern
Ersprießlich ist, willst thun.
Denn als die beiden Beter ihre Häupter wieder bedeckten, horch,
so singen die Frösche nimmer, die nur ein Lied und eine Melodie
haben; aber ein Knabe, der spät seine Herde heimtrieb, sang diesen
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Vers mit Heller Stimme, und der Pfarrer rief: „Franz, nun ist uns
geholfen; geh hin und frage den Sänger." Und das andere kann sich
der Le-,er hinzudenken, nur das eine nicht, daß Franz, als die Stadt
und der Gasthof erreicht war, den Wagentritt mit den Worten herab-
ließ: Herr, ick hewwe et säten: dat Bäen baat. (Herr, ich habe es ge-
sehen: das Beten hilft.)
Rot und arbeit, Gott hilft allezeit. Wo Menschenhand zu
kurz ist, ist Gottes Hand noch lang genug. Morgenfegen und
Abendlegen ist Tagessegen auf allen Wegen. Geradezu gibt
gute Renner.
15. Die Dorfkirchglocke.
1. Glocke, klingst so fröhlich.
Wenn der Hochzeitreihen
Zu der Kirche geht.
Glocke, klingst so heilig.
Wenn am Sonntagmorgen
Od der Acker steht.
2. Glocke, klingst so tröstlich,
Rufest du am Abend,
Daß es Betzeit sei.
Glocke, klingst so traurig.
Rufest du: Das bittre
Scheiden ist vorbei.
3. Sprich, wie kannst du klagen?
Wie kannst du dich freuen?
Bist ein todt Metall;
Aber unsre Leiden,
Aber unsre Freuden
Die verstehst du all.
4. Gott hat Wunderbares,
Was wir nicht begreifen,
Glock, in dich gelegt.
Muß das Herz versinken.
So kannst du ihm helfen,
Wenns der Sturm bewegt.
16. Der Ruhetag.
Äls die Kinder Israel zurückgekehrt waren aus dem Lande der
Verbannung in das Land der Verheißung, da lebte an den Grenzen
des Landes Mesopotamien ein Israelit, Namens Boni, ein Levit und
weiser Mann, sammt Weib und Kindern.
Und der Engel des Herrn trat zu ihm in Gestalt eines Boten des
Königs Arthasastha und sprach: Mache dich auf, du und dein Weib
und deine Kinder und deute Knechte und Mägde, und ziehet hin in
das Land eurer Väter, auf daß du deinem Volke rathest, und helfest
die Stadt und das Land weislich einrichten. Da antwortete Boni
und sprach: Der König, mein Herr, wolle meinen Dank gnädiglich an-
sehen; aber wie soll ich mit Weib und Kind die Wüste durchwandern
und bin des Weges nicht kundig? Der Bote aber sprach: Mache dich
auf, und lerne dem König vertrauen!
Darauf zog Vom aus, wie ihm der Engel des Herrn geboten
hatte, in der Frühe des Morgens. Aber Boni zweifelte und sprach:
Was will das werden? Und' sie zogen durch die Wüste gegen Abend.
Als sie nun sechs Meilen gewandert und sehr müde waren, siehe, da
stand an dem Wege ein Gezelt, und ein Mann trat heraus und
sprach zu Boni und seinem Volke: Hier rastet! Da ruheten sie und
erquickten ihre Seelen. Und Boni sprach: Das ist des Herrn Güte,
daß wir uns hier erquicken. Aber wer wird uns nun ferner unseres
Weges geleiten?
Da trat der Mann herzu und zeigte Boni beides, den Weg und
die Abwege, und zeichnete sie ihm sechs Meilen weit auf ein Blatt;
darauf sprach er: Nun ziehet hin in Frieden!
Da zog Boni weiter mit seinem Gesinde auf dem Pfade, der
ihm bezeichnet war, und sie ertrugen mit Geduld das Ungemach des
Weges; denn sie gedachten des Trostes, den ste empfangen hatten.
Und als sie sechs Meilen zurückgelegt hatten, erhob sich von neuem
ein Gezelt. Hier fanden sie wieder einen Diener des Königs, der
tröstete sie und zeigte ihnen von neuem den Weg, und die Abwege,
welche sie meiden sollten.
Also geschah es immerfort achtzig Tagereisen, und als sie solche
vollendet hatten, gelangten Boni und die Seinen in das Land der
Verheißung. Und Boni erkannte, daß der Engel des Herrn ihn geführt
hatte.
Des Menschen Leben ist eine Pilgrimschaft: sechs Meilen sind
sechs Tage; aber der siebente ist ein Ruhetag, da steht des Herrn Gezelt
ihm offen, daß er seines Wandels gedenke und dem Herrn vertraue.
Der Ruchlose achtet des Gezeltes nicht, und sein Weg verliert sich in
der Wüste; aber der Weise findet Erquickung und gelangt in das Land
der Verheißung.
Welt; ist Welt; Geld ist Geld; wohl dem, der Gottes Wort
behält. Wie man lieft in der Bibel, so steht auf dem Haufe
der Giebel. So wenig du das Meer ausschöpfen kannst mit
deiner Hand, so wenig die Bibel mit deinem Verstand. Je
mehr der Brunnen gebraucht wird, desto mehr gibt er Wasser.
17. Kirchengehen säumet nicht.
Cs sind einmal zween Schuster gewesen, von denen hatte der
eine ein Weib und viele Kinder, der andere aber nur ein Weib und
kein Kind. Der nun die vielen Kinder gehabt, war fromm, ist gern
zur Kirche gegangen und hat die Predigt fleißig gehört; alsdann hat
er frisch auf sein Handwerk gearbeitet, und ist ihm glücklich gegangen
in seiner Nahrung, also daß er reich geworden. Der andere hingegen,
welcher keine Kinder gehabt, ist stets über der Arbeit gelegen und hat
sich keine Ruhe und keine gute Stunde gegönnt, also daß er auch
Sonntage und Festtage und heilige Äbende, auch des Nachts nicht ge-
feiert, und doch hat es nirgend mit ihm vorwärts gehen wollen,
sondern er ist zu nichts gekommen als lauter Schulden.
v Da geht er einmal zu dem reichen Meister und fragt: „Bruder,
mü Verlaub, wie geht das zu? Du hast so viele Kinder und bist
so reich und plagst dich lange nicht, wie ich; und ich hingegen
habe keme Kinder, lasse mirs Tag und Nacht sauer werden und
komme doch zu nichts." Der fromme Schuster sagt: „Morgenfrüh
geh nnt nur, < so will ich dir weisen, wo ich meinen Reichthum her
habe.« Da er nun frühmorgens kam, führte er ihn mit sich in die
Krrche, und am andern Tage that er auch also.' Als er aber am
1**
10
dritten Tage ihn wieder mit sich nehmen wollte, sagte der andre,
den Weg zur Kirche wisse er wohl selbst; er habe nur zu wissen
begehrt, wie man reich werde und solche Schätze bekomme, wie er;
das solle er ihm weisen. Da sprach der reiche Schuster: „Hast
du noch nicht gehört, daß der Herr Christus im Evangelium sagt:
Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerech-
tigkeit, so wird euch das andere alles zufallen? Ich weiß keinen
andern Ort, da man beides, den Schatz der Seelen und des leib-
lichen Lebens, erlangen kann, denn in der Kirche." Der arme
Schuster sagte: „Du kannst Recht haben, Bruder!" ging von nun
an gern zur Kirche und hörte fleißig Gottes Wort; so kam er von
seinen Schulden und erlangte auch einen glücklichen Fortgang in seiner
Nahrung.
Plag dich, ringe, sorge, sinn; ohne Gott ist kein Gewinn.
Was der Sonntag erwirbt, schon am Montag verdirbt. Am
Feiertag gesponnen hält nicht. Vorbei an der Kirch und am
Schulhaus geht der kürzeste Weg ins Zuchthaus. Wer mor-
gens Gott nicht dient, dient abends dem Teufel.
18. Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest.
Äm Emmerthal in der Schweiz lebte ein Bauer, der nach Gott
und Menschen nichts fragte und bloß nach dem eigenen Kopfe fah-
ren wollte. An einem Sonntage hatte er viel Korn draußen liegen.
Als er nachmittags an den Bergen die Wolken sah, und die nasse
Brunnenröhre, die ordentlich tropfte, da rief er das Gesinde zusam-
men und sagte: „Nasch hinaus, gehäufelt und gebunden! Es wettert
auf den Abend. Bringen wir tausend Garben trocken ein, so gibts
darnach Wein genug."' Das hörte seine Großmutter: die war achtzig
Jahr alt und ging auf zwei Krücken. Sie kam mühsam daher und
sagte: „Johannes, Johannes, was denkst du doch auch? Solange
ich mich zurückerinnern mag, ward hier am Sonntag nie eine Hand-
voll eingeführt; und meine Großmutter hat mir gesagt, sie wisse auch
nichts darum, und doch sei immer Segen bei der Sache gewesen, und
von Mangel hätte man hier nichts gewußt. Und wenn es noch Noth
am Mann wäre, Johannes, ein nasses Jahr! Aber trocken wars bis
dahin, und trocken wird es wieder werden, und naß werden schadet
dem Korne nichts, und würde es ihm schaden, so hast du zu denken:
,Der Herr, der das Korn gegeben, gibt auch den Regens und wie ers
gibt, hast du es anzunehmen. Johannes, thu es nicht, ich halte dich
dringlich an!"
'Das Gesinde stand umher; die Alten machten ernsthafte Ge-
sichter, die Jungen lachten und sagten unter sich, das Altväterische sei
abgethan, jetzt sei es eine neue Welt. „Großmutter, habt nicht Kum-
mer," sagte der Bauer, „alles muß einmal zum ersten Male geschehen,
und deswegen ists nicht bös. Unserm Herrgott wird das nicht viel
machen, ob wir heute schaffen oder schlafen, und eben so lieb wird
ihm das Korn in der Scheune, als im Regen sein. Was drin ist, ist
drin, man braucht deswegen nicht Kummer zu haben; denn wie es
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morgen sein wird, weiß niemand." — „Johannes, Johannes, drin
und'draußen ist die Sache des Herrn, und Wiehes diesen Abend
sein wird, weißt du nicht; aber das weißt du, daß ich deine Groß-
mutter bin, und dich um Gottes willen anhalte: laß heute dein Korn
draußen. Ich will, wenn du es sonst nicht machen kannst, ein
ganzes Jahr kein Brot mehr essen." — „Mutter," sagte darauf der
Johannes, „deswegen sollt ihr nicht desto weniger Brot haben; aber
eine Zeit ist nicht alle Zeit; es gibt alle Jahre neue Bräuche, und
seine Sache sucht man alle Labe besser zu machen." — „Aber, Jo-
hannes," sagte die Mutter, „die Gebote bleiben die alten, und kein
Pünktlein wird davon vergehen; und hast du dein Korn unter dem
Dache, was hilft es dir, wenn du Schaden leidest an deiner Seele!"
— „Um die kümmert euch nicht, Mutter", sagte Johannes; „und jetzt,
Buben, auf und gebunden, was das Zeug hält; die Zeit wartet
nicht!" —„Johannes, Johannes!" rief die Mutter; aber Johannes
hörte nicht, und während die Mutter betete und weinte, führte Jo-
hannes Garben ein, Fuder um Fuder; mit Flügeln schienen Menschen
und Thiere versehen. Tausend Garben waren unter Dach, als die
ersten Regentropfen sielen; schwer, als wären es Pfundsteine, fielen sie
auf die dürren Schindeln.
„Jetzt, Mutter," sagte Johannes, in die Stube tretend mit seinen
Leuten, „jetzt ists unter Dach, Mutter, und alles ist gut gegangen;
mag es jetzt stürmen, wie es will, und morgen schönes oder böses
Wetter sein; ich Habs unter meinem Dach." — „Johannes, aber über
deinem Dach ist des Herrn Dach", sagte die Mutter feierlich; und als
sie das sagte, ward es hell in der Stube, daß man die Fliegen sah an
der Wand, und ein Donner schmetterte über dem Hause, als ob das-
selbe mit einem Streiche in Millionen Splitter zerschlagen würde.
„Herr Gott, es hat eingeschlagen!" rief der erste, der reden konnte;
alles stürzte zur Thür hinaus.
Das Haus stand in vollen Flammen; aus dem Dache heraus
brannten bereits die eingeführten Garben. Wie stürzte alles durch
einander! Die alte Mutter allein behielt klare Besinnung; sie griff
nach ihren beiden Krücken, sonst nach nichts, suchte die Thür und einen
sichern Platz und betete: „Was hülfs dem Menschen, wenn er die
ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele! Dein
und nicht mein Wille geschehe, o Vater!"
Das Haus brannte ab bis auf den Boden; gerettet wurde nichts
Auf der Brandstätte stand der Bauer und sprach: „Ich Habs unter
meinem Dache! Aber über deinem Dache ist des Herrn Dach, hat die
Mutter gesagt." Und seit dieser Stunde spricht er nichts mehr, als:
„^zch Habs unter meinem Dache! Aber über deinem Dache ist des
Herrn Dach, hat die Mutter gesagt."
19. Die drei großen Feste der Christenheit.
1. O du fröhliche,
O du selige.
Gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren,
Christ ist geboren.
Freue, freue dich, o Christenheit!
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2. D du fröhliche,
D du selige.
Gnadenbringende Osterzeit!
Welt lag in Banden,
Christ ist erstanden.
Freue, freue dich, o Christenheit!
1. Alle Jahre wieder
Kommt das Christuskind
Auf die Erde nieder.
Wo wir Menschen sind;
3. O du fröhliche,
O du selige.
Gnadenbringende PsingstmzcitI
Christ, unser Meister,
Heiligt die Geister.
Freue, freue dich, o Christenheit!
3. Ist auch mir zur Seite
Still und unerkannt.
Daß es treu mich leite
An der lieben Hand.
20. Das Christuskittd.
2. Kehrt mit seinem Segen
Ein in jedes Haus,
Geht auf allen Wegen
Mit uns ein und aus;
4. Sagts den Kindern allen.
Daß ein Vater ist.
Dem sic Wohlgefallen,
Der sie nie vergißt.
21. Zur heiligen Weihnacht.
1. Es ist ein Ros entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten fungen.
Von Iesse kam die Art,
Und hat ein Blümlcin bracht.
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht.
2 Das Nöslein, das ich ineine.
Davon Jesajas sagt.
Hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd.
Aus Gottes cwgem Rath
Hat sie ein Kind geboren
Wohl zu der halben Nacht.
22. Tag, Monat, Jahr und Jahreszeiten.
1. Alle 24 Stunden geht die Sonne einmal auf, einmal
unter, zu mancher Zeit früher, zu mancher später. Durch
ihren Ausgang und Untergang bringt sie uns alle Tage
eine helle Zeit und eine dunkle, Tag und Nacht. Tag und
Nacht sind aber nicht etwa immer 12 Stunden lang. Die
Länge des Tages und der Nacht richten sich nach den vier
Jahreszeiten. Im Winter geht die Sonne zwischen Morgen
und Mittag auf und zwischen Mittag und Abend unter. Sie
steht mittags um 12 Uhr gerade gegen Mittag, aber lange
nicht so hoch am Himmel als im Sommer. Sie beschreibt also
auf ihrer Bahn am Himmel auch nur einen kleinen Kreis-
bogen. Da sind die Nächte viel länger als die Tage; da ifts
kalt draußen und still, öde und leer.
2. Bald wird es etwas wärmer. Eis und Schnee schmel-
zen. Dann geht die Sonne immer weiter gegen Morgen hin
auf und weiter gegen Abend hin unter. Sie steigt bis Mittag
am Hinmel immer höher und macht an jedem Tage einen
größeren Tagebogen. Tn gleichem Maße werden die Tage
immer länger und die Nächte immer kürzer. Endlich geht
sie gerade im Morgen auf und gerade im Abend unter. Dann
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find Tag und Nacht gleich lang; wir haben Tag- und Nacht-
gleiche,' es beginnt der Frühling. Der Saft tritt in die Ge-
wächse; draußen regt sich die Thierwelt, und auch der Mensch
sucht das Freie und genießt die Frühlingsluft.
Z. Die Sonne geht nun über Morgen hinaus nach Mitter-
nacht zu auf und über Abend hinaus nach Mitternacht zu
unter. Sie beschreibt einen immer größeren Tagebogen und
steigt zu Mittag immer höher am Himmel. Die Tage werden
immer länger, die Nächte immer kürzer. Endlich ist der Tag
fast 17 Stunden, die Nacht wenig über 7 Stunden lang. Wenn
die Sonne mittags am höchsten steht, der Tag am längsten und
die Nacht am kürzesten ist, so beginnt der Sommer. Die Hitze
wächst nun zwar noch einige Wochen hindurch; aber die
Tage werden nach und nach immer kürzer und die Nächte
länger. Die Sonne wendet sich wieder. Wir haben die Som-
mer-Sonnenwende gehabt. Die Sonne geht jetzt wieder näher
nach Morgen zu auf und näher nach Abend hin unter. Mittag
um 12 Uhr steht sie jeden Tag wieder niedriger am Himmel,
und ihre Tagebogen werden immer kleiner. Wenn sie zum
zweiten Male wieder gerade im Morgen auf- und im Abend un-
tergeht, wenn daher Tag und Nacht gleich sind, so beginnt der
Herbst. Wir haben dann Tag- und liachtgleiche des Herbstes.
4. Von jetzt an werden die Tage noch immer kürzer
und die Nächte länger. Die Sonne geht wieder über Morgen
nach Mittag zu auf und über Abend nach Mittag zu unter; die
Tagebogen der Sonne werden immer kleiner und ihr Stand am
Himmel um Mittag niedriger. Wenn endlich der kürzeste Tag
und die längste Nacht eingetreten sind, so fängt der Winter an.
Die Sonne wendet sich wieder und erhält von Tag zu Tag
wieder einen hohem Stand. Wir haben dann Winter-Sonnen-
wende. Und nun beginnt der Kreislauf der Zeit von neuem.
5. Die Zeit, in welcher die eben beschriebenen Verände-
rungen mit der Sonne vorgegangen sind, heißt ein Jahr. Jede
der vier Jahreszeiten währt ein Vierteljahr. Man rechnet den
Anfang des Jahres vom Neujahrstage an, welcher ungefähr
10 Tage nach Anfang des Winters fällt. Ein Jahr hat 365
Tage. Vier Wochen und einige Tage darüber machen zusam-
men einen Monat. Der Monat hat seinen Namen vom Monde.
Der Mond ist nicht zu allen Zeiten sichtbar und erscheint nicht
immer in gleicher Gestalt und Größe. Ist er nicht sichtbar, so
haben wir Neumond. Einige Tage darauf erscheint er in
sichelförmiger Gestalt, als ein schmaler, heller, gekrümmter
Streifen. Er wird nun mit jedem Tage größer, und ungefähr
eine Woche nach dem Neumonde erscheint er als eine halbe
Kreisfläche; dann ist das erste Viertel. Darauf wird er mit
jedem Tage noch größer, und wenn wieder ungefähr eine
Woche verflossen ist, so erscheint er als eine ganz helle Kreis-
fläche und geht gerade zu der Zeit auf, wenn die Sonne un-
14
tergeht; dann haben wir Vollmond. Von dieser Zeit an beginnt
er wieder kleiner zu werden. Ungefähr nach einer Woche
erscheint er wieder als eine halbe Kreisfläche, und man sagt:
es ist das letzte Viertel. In den folgenden Tagen wird er
immer kleiner, erscheint wieder in sichelförmiger Gestalt und
wird endlich wieder ganz unsichtbar beim Neumonde.
6. Vom Neumonde bis zum Vollmonde ist zunehmender
Mond; vom Vollmonde bis zum Neumonde ist abnehmender
Mond. Neumond, erstes Viertel, Vollmond und letztes Viertel
heißen die vier Mondwechsel. Die Zeit von einem Neumonde
bis zum nächstfolgenden dauert etwa neunundzwanzig und
einen halben Tag. Einen solchen Zeitabschnitt nennt man einen
Mond oder einen Monat. Die Zeit von einem Mondwechsel
zum andern dauert etwas über 7 Tage und stimmt also mit
einer Woche ziemlich genau überein.
7. Zwölf Monate nach ihrer natürlichen Dauer geben 354
Tage, also 11 Tage weniger, als ein Jahr enthält. Diese 11
Tage vertheilt man nun auf die einzelnen Monate so, daß man-
cher 30, mancher 31 Tage bekommt, einer aber nur 28 oder 29.
Die Monate haben folgende Namen und folgende Dauer:
1) Januar oder Jänner hat 31 Tage,
2) Februar n Hornung ,; , 28 oder 29 Tage,
3) März » Lenzmonat , 31 Tage,
4) April n Ostermonat , , 30 n
5) Mai 71 Wonnemonat „ , 31 71
6) Juni 71 Brachmonat „ 30 71
7) Juli n Heumonat „ , 31 71
8) August n Erntemonat „ , 31 71
9) September 71 Herbstmonat „ 30 71
10) October )i W einmonat „ 31 „
11) November ii Wintermonat „ 30 71
12) December ii Christmonat „ , 31 71
365 Tage,
im Schaltjahr 366 Tage.
Ein Jahr geht vom 1. Januar bis zum 31. December. In
einem Schaltjahre erhält der Februar 29 Tage, und der hinzu-
gefügte Tag heißt der Schalttag. Der Winter geht ungefähr
vom 21. December des einen Jahres bis zum 21. März des
folgenden; der Frühling vom 21. März bis zum 21. Juni; der
Sommer vom 21. Juni bis zum 21. September, und der Herbst
vom 21. September bis zum 21. December.
8. Wir zählen die Jahre von der Geburt unseres Heilan-
des Jesus Christus an. Seit dieser Zeit sind bereits 186 (?)
Jahre verflossen. Als 100 Jahre nach Christi Geburt um waren,
so war das erste Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung vor-
bei. Mit dem Jahre 101 fing das zweite Jahrhundert nach
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Christi Geburt an, mit dem Jahre 201 das dritte u. s. w. Jetzt
leben wir also im neunzehnten Jahrhunderte, weil mit dem Jahre
1800 achtzehn Jahrhunderte nach Christo vergangen waren.
Ungefähr 1500 Jahre vor Christo hat Gott den Juden das Ge-
setz' auf denr Berge Sinai durch Moses gegeben; die heiligen
Propheten, welche Gott der Herr in den folgenden Zeiten er-
weckte, legten das Gesetz aus und weissagten auf Christum,
bis die Zeit erfüllet war. Da sandte Gott seinen Sohn, auf
daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern
das ewige Leben haben. Das ist die frohe Botschaft, das
Evangelium, welches in der christlichen Kirche gepredigt wird
Schon 2000 Jahre vor der Geburt des Heilandes gab Cott der
Herr dem Erzvater Abraham die tröstliche Verheißung: „In
dir sollen gesegnet werden alle Völker der Erde." So gnädig
war der Herr, daß er so lange vorher schon der sündigen
Menschheit den Rathschluß seiner Liebe verkündigte. 400 Jahre
früher hatte er aber in der Sündflut auch schrecklich offen-
bart, daß er ein starker und eifriger Gott, und daß seiner
Heiligkeit der Sünder ein Greuel ist. Als Noah aus der Sünd-
flut gerettet wurde, hatten schon länger.,als 1600 Jahre hin-
durch Menschen auf Erden gewohnt. Uber 1600 Jahre vor
ihm, also 4000 Jahre vor Christi Geburt, schuf Gott Himmel
und Erde, und von da an beginnt die Geschichte des mensch-
lichen Geschlechts. Wir leben also beinahe 6000 Jahre nach
der Schöpfung des ersten Menschen.
23. Die vier Jahres- und Lebenszeiten.
Äie vier Zeiten des Jahres wurden einstmals vor Gott gefor-
dert und einer jeden ihr Name und Zeichen gegeben. Der ersten
wurde gesagt: Du sollst Frühlmg heißen; du sollst den Menschen
frühe wecken zum Gebete und zu der Arbeit, wie auch den Vogel,
seinen Schöpfer zu loben. Du sollst das Vieh nach dem kalten Winter
erquicken und die Erde mit fruchtbarem Thau anfrischen. Dein
Kleid soll sein grün, dem grünen Holze des Lebens zu Ehren. Dein
Amt soll sein, den Menschen täglich zu predigen, daß ihrer nach dem
Trübsalswinter des irdischen Lebens der stets grünende Frühling der
Ewigkeit warte.
Zu der andern Jahreszeit wurde gesagt: Dein Name soll
Sommer heißen, weil du täglich von der Sonne Klarheit mehr und
mehr zeugen sollst, und dein Kleid soll sein von tausend Farben,
zur Erinnerung, daß die Güte des Herrn tausendfältig unter den
Menschen blühe. Dein Amt soll sein, zu predigen, daß'die unsicht-
bare Sonne kräftiger sei in den Herzen der Frommen, als die sichtbare
Sonne in den Gewächsen der Erde, sie zu ihrer Vollkommenheit zu
bringen.
Zu der dritten Jahreszeit wurde gesagt: Dein Name soll
Herbst heißen, weil du den herben Winter ankündigen sollst. Dein
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Kleid soll grau sein zu guter Erinnerung an den greisen Tod. Dein
Amt soll sein, den Menschen täglich zu predigen, wie alles Fleisch Heu,
und alle Herrlichkeit des Menschen wie das Gras auf dem Felde sei,
denn der Geist des Herrn blaset darein. Das schönste Obst, welches
du den Menschen gibst, soll ihnen weisen, daß auch ihre Leiber täglich
faul und mürbe werden.
Zu der vierten Jahreszeit wurde gesagt: Dein Name soll
Winter heißen, weil der Wind dein Herr ist und Ungewitter, Sturm,
Frost und Schnee nach und nach* erregen wird. Dein Kleid soll
schneeweiß sein, dem hinfallenden Alter zum Gedächtnisse. Dein Amt
soll sein, den Menschen täglich zu predigen: Dulde das Böse, hoffe
das Beste; denn nach dem Winter kommt der Sommer, nach Unge-
witter Sonnenschein, nach Trauern Freude, nach der Vergänglichkeit
die Ewigkeit.
24. Frühlings Ankunft.
1. Der Lenz ist angekommen!
Habt ihr ihn nicht vernommen?
Es sagens euch die Vögelein,
Es sagens euch die Blümelein:
Der Lenz ist angekommen.
2. Ihr seht es an den Feldern,
Ihr seht es an den Wäldern;
Per Kuckuk ruft, der Finke schlägt;
Es jubelt, was sich ftoh bewegt:
Der Lenz ist angekommen!
3. Hier Blümlein auf der Heide,
Dort Schaflein auf der Weide.
Ach, seht doch, wie sich alles freut;
Es hat die Welt sich schön erneut:
Der Lenz ist angekommen!
23. Der Frühling.
Was Frühjahr oder der Lenz ist die lieblichste Zeit des Jahres.
Da regt sich überall neues Leben, welches die kalten, starren Fesseln
des Winters zersprengt. Dies geschieht in unserm lieben deutschen
Vaterlande in manchen Jahren "früher, in andern aber später, wie
jeder leicht wahrnehmen kann; die gelehrten Leute aber wollen gern
flir jedes Ding seine bestimmte Zeit und seine bestimmten Grenzen
haben; nach ihnen nimmt der Frühling seinen Anfang, wenn die
Sonne nach der kalten Winterszeit wieder gerade um 6 Uhr des
Morgens aufgeht und Tag und Nacht gleich lang sind. Das ge-
schieht am 21. März. Sein Ende erreicht er bei uns am 21. Juni,
an welchem Tage die Sonne am frühesten auf-, am spätesten unter-
geht, der Tag am längsten, die Nacht am kürzesten im ganzen
Jahre ist.
Um diese Berechnung kümmern aber sowohl Kinder wie er-
wachsene Leute sich wenig. Für sie beginnt der Frühling, wenn die
ersten warmen Sonnenstrahlen die Kälte dauernd vertreiben, die
weiße Schneedecke des Winters zerschmelzen, die starre Eisbrücke
über Flüsse und Seen und Teiche zerbrechen; wenn aus dem Schooße
der Erde die Gräser und Kräutlein, aus dem Stamme der Bäume
und Sträuche die Blüten- und Blattknospen durch den Sonnen-
schein und milden Regen hervorgelockt werden; wenn aus den war-
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tuen Landern die Zugvögel, Staare, Störche und Schwalben wieder
zu uns kehren; wenn die Thiere aus ihren winterlichen Bergungs-
örtern hervorkommen und neues, reges Leben durch Garten, Feld
und Wald in Pflanzen und Thieren/ durch Wachsthum, Bewegung
und Stimme sich kund gibt. Dann tritt auch der Mensch aus seiner
engen Stube heraus, um seiner Arbeit unter Gottes freiem Himmel
nachzugehen, seinen Acker und seinen Garten zu bestellen, oder seine
im Winter gewebte Leinwand zur Bleiche auszubreiten; um sich zu
erfrischen und zu stärken unter dem blauen Himmelszelt in der milden,
reinen Frühlingsluft; um von den Vögeln des Waldes, von Kräutern
und Bäumen, die gen Himmel emporwachsen, Gott loben, preisen und
danken zu lernen. Und die Kinder suchen den Anger, das Feld und
den Wald, um sich zu regen und zu bewegen, um zu springen und zu
singen, um im Garten die Blumen zu pflegen, oder fröhlich über Flüsse
und Bäche und Berge, durch Wälder, Felder und Thäler, durch Dörfer
und Städte mit dem Wanderstabe zu ziehen.
26. Der Wanderer.
1. Ein Sträußchen am Hute, den Stab in der Hand,
Muß ziehen der Wandrer von Lande zu Land.
Er zieht viele Straßen, er sieht manchen Ort;
Doch fort muß er wieder an 'nen anderen Ort.
2. So liebliche Blumen am Wege da stehn.
Muß leider der Wandrer vorüber gehn.
Sie blühen so herrlich, sie winken ihm hin; '
Doch fort muß er wieder, muß werter noch ziehn.
3. Wohl sieht er ein Häuschen am Wege da stehn.
Umkränzet von Blumen und Trauben so schön.
Hier könnts ibm gefallen, er wünscht, es wär sein;
- Doch fort muß er wieder, die Welt aus und ein.
27. Die Stimme der Ereaturen.
Ein Naturforscher erzählt: Ich gedenke noch gem einer Reise,
die ich in früher Jugend in Gesellschaft weiser, guter Männer machte.
Einst, da wir die ganze Nacht gewandert hätten, verweilten wir
gegen Morgen am Rande eines Waldes. Der beginnende Tag weckte
den schlafenden Duft der Frühlingsblumen, den Gesang der Nachti-
gallen, das fröhliche Blöken des Wildes. Da entfernte sich einer
aus unserer Gesellschaft, und wir hörten aus der Ferne die Stimme
des Betenden laut und freudig. Bei seiner Zurückkunft fragte ich
ihn, weshalb er so laut gerufen? Er antwortete: Mein junger
Freund! stehe um dich jenen Morgenschimmer, der sein erwachend
Äuge dankbar gegen Gott aufschlägt; jene Wolken, die wie das
Angesicht eines Betenden glänzend feurig stehn; jene Bäume und
Frühlingsrosen, die ihre Zweige und Blätter dankend gegen Gott
ausbreiten; höre den Gesang der Nachtigal, das fröhliche Blöken
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des Wildes, das Summen der Bienen, und merke auf, wie sie alle
nur Gott nennen, nur Gott preisen. Siehe, auch ich habe mit jenen
zusammen meine dankbare Stimme erhoben, mit ihnen Gott gelobt
und geliebt!
Und ich merkte auf die Worte des weisen, guten Mannes. Seitdem
verstand ich die Flammenschrift der Morgenröthe, das liebliche Wehen
des Windes, den Dust der Blumen und die Stimme des fröhlichen
Thieres. Meine Seele erhob sich oft lobend, liebend mit der Stimme
der Kreaturen, und der Geschöpfe Schöpfer erfüllte, reinigte, heiligte
mein junges Herz.
Geh' auch du hin, mein Kind, lerne die Schöpfung betrachten,
in dem Buch derselben lesen, ihre Sprache verstehen; sie leite dich
zum Vater. Die Welt ist ein Buch voll Zeugnisse, in dem jedes
Wort von Gott spricht; die einzelnen Worte sind die Gestirne am
Himmel, die Berge und Gewässer, die Thiere, die Pflanzen und
Gesteine auf Erden und alles, was in der sichtbaren Welt ist. Sie
zeugen von Gottes Macht und Erbarmen, lehren uns die Vergänglich-
keit unsers Lebens i sieh den alten, unveränderlichen Sternenhimmel;
sieh die alten Gebirge mit ihren urgrauen Felsenhöhen an; sie schauen,
wie vor Jahrtausenden, noch jetzt auf die Ebenen herunter, auf denen
ein Volk das andere schon verdrängte, Städte sich erhoben, blühten,
sanken und jetzt in Trümmern liegen. Und ehe die Berge waren und
die Gestirne glänzten, war er, durch den sie wurden, Gott der Herr,
der da war und ist von Ewigkeit zu Ewigkeit.
28. Mailied.
1. Der kühle Maien,
Der mein Aug und Gemüth
Erquickt durch Gottes Güt,
Soll mich erfreuen.
Die Nachtigal
Läßt ihren Schall
Durch Berg und Thal erklingen;
Was lebt und schwebt.
Die Stimm erhebt.
Will Gottes Lob besingen.
3. Drum laßt uns singen
Zu dieser frohen Zeit
Des Schöpfers Mildigkeit,
Das Herz aufschwingen;
Denn kann auch nur
Die Creatur
Zu solcher Lust gedeihen:
Denkt, wie einmal
Des Himmels Saal
Uns ewig werd erfreuen.
Hinrauschcnd gehn.
Und uns viel Freude machen;
Gras, Laub und Blüt
Sind froh bemüht.
Uns fteundlich anzulachen.
2. Die Sonne blicket
Uns an mit holdem Schein;
Manch kühles Lüstelein
Das Herz erquicket;
Die Bächlein schön
29. Wanderlust.
1. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus;
Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus.
Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
So steht auch mir der Sinn in die weite, werte Welt.
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2. Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott euch behüt;
Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht!
Es gibt so manche Straße, da nimmer ich marschiert;
Es gibt so manchen Wein, den ich nimmer noch probiert.
3. Frisch auf drum, frisch auf im hellen Sonnenstrahl,
Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Thal.
Die Quellen erklingen, die Bäume rauschen all;
Mein Herz ist wie 'ne Lerche und stimmet ein mit Schall.
4. Und abends im Städtlein da kehr ich durstig ein:
Herr Wirt, eine Kanne, eine Kanne blanken Wein!
Ergreife die Fidel, du lustger Spielmann du.
Vom Wandern das Liedel, das sing ich dazu.
5. Und find ich keine Herberg, so lieg ich zur Nacht
Wohl unter blauem Himmel, die Sterne halten Wacht;
Im Winde die Linde die rauscht mich ein genmch.
Es küsset in der Frühe das Morgenroth mich wach.
6. Q Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!
Da wehet Gottes Odem so frisch in der Brust.
Da finget und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:
Wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt!
39. Abschied.
1. Morgen müssen wir verreisen.
Und es muß geschieden sein.
Traurig ziehn wir unsre Straße:
Lebet wohl, ihr Lieben mein.
2. Kommen wir zu jenem Berge,
Schauen wir zurück ins Thal,
Schauen um nach allen Seiten,
Sehn die Stadt zum letzten Mal.
3. Wann der Winter ist vorüber
Und der Frühling zieht ins Feld,
Will ich werden wie ein Vöglein,
Fliegen durch die ganze Welt.
4. Dahin fliegen will ich wieder,
Wo's mir lieb und heimisch war.
Und wenn ich auch heut muß wandern.
Kehr ich heim doch übers Jahr.
5. Übers Jahr, zurZcitderPfingsten,
Komm mit Maien ich zu Haus,
Bringe euch aus weiter Ferne
Einen frischen Blumenstrauß.
31. Boten göttlicher Vorsorge.
Äie Blumen, Kräuter und alle Erdgewächse treten mit an-
brechendem Frühling gleichsam aus ihrer Schlafkammer; sie haben
einen neuen Rock angelegt, und reden durch ihren lieblichen Geruch,
ihre unterschiedliche Gestalt und ihre bunte Farbe mit uns: „O ihr
ungläubigen Menschenkinder, sehet uns an; alle, die ihr Gottes
Wort nicht glauben wollet, sehet uns, seine Werke, an! Wir waren
todt und find nun lebendig worden; wir haben unsern alten Leib
in der Erde verwesen lassen und find neue Geschöpfe worden. So
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lernet nun von uns den alten Menschen aus- und den neuen anzie-
hen; erneuert euch in euerm Schöpfer, welcher euer Ursprung ist und
nach welchem ihr ursprünglich gebildet gewesen. Inzwischen aber
ihr hier auf Erden wallet, sorget nicht für euern Leib; sondern lasset
enern Gott, der uns so herrlich geziert hat und alle Jahre mit
neuem Schmuck ankleidet, hegt, nährt und mehrt, auch für euch
sorgen. Sehet, wir geben euch alle unsere Kräfte, welche wir euch
und nicht uns zu dienen empfangen haben; und alle Blättlern sind
gleich den Zungen, welche Gottes Milde, Güte, unendliche Allmacht
und gnädige Vorsorge verkündigen." Ich höre diesen Feldpredigern
zu; ich glaube ihren stummen Worten und trete alle meine Sorgen
mit Füßen. So gehe ich nun fröhlicher meinen Weg, weil ieh der
väterlichen Vorsorge meines Gottes versichert bin, und verlange
getrost zu sterben, weil ich nicht zweifle, mein Leib werde verklärt
auferstehen und das Verwesliche werde auch in mir anziehen das
Unverwesliche.
32. Gott weiß.
1. Weißt du, wie viel Sterne stehen
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du. wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet.
Daß ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl.
2. Weißt du, wie viel Mücklein
spielen
In der hellen Sonncnglut?
Wie viel Fischlein auch fich kühlen
In der hellen Wasserflut?
Gott der Herr rief sie mit Namen,
Daß sie all ins Leben kamen.
Daß sie nun so fröhlich sind.
3. Weißt du, wie viel Kinder frühe
Stehn aus ihrem Bettlcin auf.
Daß sie ohne Sorg und Mühe
Fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
Seine Lust, sein Wohlgefallen,
Kennt auch dich und hat dich lieb.
33. Gott ist die Liebe.
Ein heidnischer König sprach zu einem berühmten Weltweisen:
Sage mir: was ist Gott? Gib mir einen Tag Bedenkzeit, antwor-
tete' der Weise, so will ich dirs sagen. Als der Tag um war und
der König die Antwort begehrte, sagte der Weise: Gib mir zwei Tage
Bedenkzeit, so will ich dirs sagen. "Als die zwei Tage auch um waren
und der König die Antwort begehrte, sagte der Weise: Gib mir vier
Tage Bedenkzeit, so will ich dirs sagen. Und so fuhr er fort und
gaö keine Antwort, sondern verlangte immer doppelt soviel Bedenkzeit,
als er das letzte Mal sich ausgebeten hatte. Als der König endlich
ungeduldig ward und ihn fragte, was dies Aufschieben bedeute, sagte
der Weltweise: Je mehr ich der Sache nachdenke, desto weniger ver-
stehe ich davon.
Ein Christenkind weiß in einem kurzen Sprüchlein auf des
Königs Frage eine Antwort zu geben, auf die der arme Heide nimmer
gekommen wäre, wenn er sich auch noch hundert Jahre hätte besinnen
dürfen. Das Sprüchlein heißt.Gott ist die Liebe.
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34. Im Innius.
Äber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön; wenn
der Dornstrauch blüht und die Erde mit Gras und Blumen pranget!
So ein Heller Decembertag ist auch wohl schön und dankenswerth;
wenn Berg und Thal in Schnee gekleidet sind und in der Morgen-
stunde dem Wanderer der Bart bereist: aber die Lenzgestalt der
Natur ist doch wunderschön! Und der, Wald hat Blätter, und der
Vogel singt, und die Saat schießt Ähren, und dort hängt die
Wolke mit dem Bogen vom Himmel, und der fruchtbare Regen
rauscht herab —
Wach auf. mein Herz, und singe
Dem Schöpfer aller Dinge!
Es ist, als ob er vorüber wandle, und die Natur habe sein
Kommen von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Wege in ihrem
Feierkleide und frohlocke.
35. Lobe den Herrn, meine Seele!
1. Lobe den Herren, den mächtigen
König der Ehren,
Meine geliebete Seele, das ist mein
Begehren.
Kommet zuhauf,
Psalter und Harfe, wacht auf.
Lasset den Lobgesang hören.
2. Lobe den Herren, der alles so
herrlich regieret.
Der dich auf Adelers Fittichen sicher
geführet.
Der dich erhält.
Wie es dir selber gefällt;
Hast du nicht dieses verspüret?
3. Lobe den Herren, der künstlich
und fein dich bereitet,
Der dir Gesundheit verliehen, dich
freundlich geleitet; .
36. Der frohe
1. Wem Gott will rechte Gunst er-
weisen.
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
2n Flur und Wald und Strom und
Feld.
2. Die Bächlein von den Bergen
springen,
In wie viel Noth
Hat nicht der gnädige Gott
Über dir Flügel gebreitet?
4. Lobe den Herren, der deinen
Stand sichtbar gesegnet.
Der llus dem Himmel mit Strömen
der Liebe geregnet;
Denke daran.
Was der Allmächtige kann.
Der dir mit Liebe begegnet.
5. Lobe den Herren; was in mir
ist, lobe den Namen!
Alles, was Odem hat, lobe mit Abra-
hams Samen!
Er ist dein Licht;
Seele, vergiß es ja nicht;
Lobende, schließe mit Amen!
Wandersmann.
Die Lerchen jubeln hoch vor Lust:
Was sollt ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl und ftischer Brust?
3. Den lieben Gott laß ich nur
walten:
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd und Himmel will erhalten.
Hat auch mein Sach aufs best bestellt.
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37. Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt.
Wenn dich z. B. früh die Sonne zu einem neuen, kräftigen
Leben weckt, so bietet er dir: Guten Morgen. Wenn sich abends
dein Auge zum erquicklichen Schlummer schließt: Gute Nacht. Wenn
du mit gesundem Appetit dich zur Mahlzeit setzest, sagt er: Wohl
bekomms. Wenn du eine Gefahr noch zu rechter Zeit entdeckst, so
sagt er: Nimm dich in acht, junges Ksnd, oder altes Kind, und
kehre lieber wieder um. Wenn du am schönen Maitag im Blumen-
duft und Lerchengesang spazieren gehst, und es ist dir wohl, sagt
er: Sei willkommen in meinem Schtoßgarten. Oder du denkst an
nichts, und es wird dir auf einmal wunderlich im Herzen und naß
in den Augen, und denkst: Ich will doch anders werden, als ich
bin! so sagt er: Merkst du, wer bei dir ist? Oder du gehst an einem
offnen Grabe vorbei, und es schauert dir, so sagt er, gleichviel ob du
lutherisch oder reformiert bist: Gelobt sei Jesus Christ! Also grüßt
Gott manchen, der ihm nicht antwortet und nicht dankt.
38. Die gefiederten Lehrmeister.
Äie Vöglein fliegen vor unsern Augen über, uns zu kleinen
Ehren, daß wir wohl möchten unsere Hütlein vor ihnen abthun
und sagen: Mein lieber Herr Doctor, ich muß ja bekennen, daß
ich die Kunst nicht kann, die du kannst. Du schläfst die Nacht über
in deinem Nestlein ohne Sorge; des Morgens^ fliegst du wieder
aas, bist fröhlich und guter Dinge, setzest dich auf die Bäumlein
und singest, lobest und dankest Gott. Darnach suchest du deine
Nahrung und findest sie. Pfui, was hab ich alter Narr gelernt,
daß ichs nicht auch thue, der Ich doch so viel Ursache dazu habe?
Das Vöglein kann sein Sorgen lassen und hält, sich in solchem wie
ein lebendiger Heiliger und hat dennoch weder Äcker noch Scheunen,
weder Kasten noch Keller. Es finget, lobet Gott, ist fröhlich und
guter Dinge. Denn es weiß, daß es einen hat, der für es sorget,
der heißt: Unser Vater im Himmel. Warum thun wirs denn nicht
auch, die wir den Vortheil haben, daß wir können arbeiten, das
Feld bauen, die Früchte einsammeln, aufschütten und auf die Noth
behalten? Darum sollten wir dies Exempel von den Vöglein nicht
vergessen. Sie sind ohne alle Sorge, fröhlich und guter Dinge.
Und warum sollten sie auch sorgen? Sie haben einen reichen Küchen-
meister und Kellner, der heißt der Vater un Himmel, und hat eine
Küche, die so weit als die Welt ist. Darum so fliegen sie hin, wo
sie wollen, und finden die Küche wohl bestellt.
39. Schauet dîe Lilien auf dem Felde an!
1. Du schöne Lilie auf dem Feld,
Wer hat in solcher Pracht
Dich vor die Augen mir gestellt.
Wer dich so schön gemacht?
2. Wie trägst du ein so weißes Kleid.
Mit goldnem Staub besät,
Daß Salomonis Herrlichkeit
Vor deiner nicht besteht!
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8. Gott hob dich aus der Erde
Grund,
Hat liebend auf dich acht;
Er sendet dir in stiller Stund
Ein Englein bei der Nacht.
4. Er wäscht dein Kleid mit Thau
so rein
Und trocknets in dem Wind
Und bleichet es im Sonnenschein
Und schmückt sein Blumenkind.
> 5. Du schöne Lilie auf dem Feld,
In aller deiner Pracht
Bist du zum Vorbild mir gestellt.
Zum Lehrer mir geinacht.
6. Du schöne Lilie auf dem Feld,
Du kennst den rechten Brauch,
Du denkst, der hohe Herr der Welt
Versorgt sein Blümlein auch.
40. Sommerüed.
1. Geh aus, mein Herz, und suche
Freud
In dieser lieben Sommerzeit
An deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärten Zier,
Und stehe, wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.
2. Die Bäume stehen voller Laub.
Das Erdreich decket seinen Staub
Mit einem grünen Kleide.
Narzissen und die Tulipán
Die ziehen sich viel schöner an
Als Salomonis Seide.
3. Die Lerche schwingt sich in die
Lust,
Das Täublein fleugt aus seiner Kluft
Und macht sich in die Wälder;
Die hochbegabte Nachtigal
Ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Thal und Felder.
4. Die Glucke führt ihr Völklein
aus;
Der Storch baut und bewohnt sein
Haus;
Das Schwälblein speist ihr Jungen;
Der schnelle Hirsch, das leichte Reh
Ist froh und kommt aus seiner Höh
Ins tiefe Gras gesprungen.
5. Die Bächlein rauschen in dem
Sand
Und malen sich und ihren Rand
Mit schattenreichen Mieten;
Die Wiesen liegen hart dabei
Und klingen ganz von Lustgeschrei
Der Schaf und ihrer Hirten.
. 6. Die unvcrdroßne Bienenschar
Fleugt hin und her, sucht hier und dar
Ihr edle Honigspeise;
Des süßen Wemstocks starker Saft
Krigt täglich neue Stärk und Kraft
In seinem schwachen Reise.
7. Der Weizen wächset mit Gewalt:
Darüber jauchzet jung und alt.
Und rühmt die große Güte
Des, der so überflüssig labt.
Und mit so manchem Gut begabt
Das menschliche Gemüthe.
8. Ich selber kann und mag nicht
ruhn;
Des großen Gottes großes Thun
Erweckt mir alle Sinnen:
Ich singe mit, wenn alles singt.
Und lasse, was dem Höchsten klingt.
Aus meinem Herzen rinnen.
9. Ach, denk ich, bist du hie so schön.
Und läßt du's uns so lieblich gehn
Auf dieser armen Erden:
Was will doch wohl nach dieser Welt
Dort kn dem reichen Himmelszelt
Und güldncn Schlosse werden?
10. O wär ich da! O stünd ich schon.
Ach, süßer Gott! vor deinem Thron
Und trüge meine Palmen!
So wollt ich nach der Engel Weif
Erhöhen deines Namens Preis
Mit tausend schönen Psalmen.
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41. Gefunden^
1. Ich ging im Walde so für mich hin,
Und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
2. Im'Schatten sah ich ein Blümchen stehn.
Wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.
3. Ich wollt es brechen, da sagt cs fein:
Soll ich zum Welken gebrochen sein?
4. Ich grubs mit allen den Würzlein aus.
Zum Garten trug ichs am hübschen Haus,
5. Und Pflanzt es wieder am stillen Ort;
Nun zweigt es immer und blüht so fort.
42. Du lässest Gras wachsen für das Vieh.
So sagt der 14. Vers des 104. Psalms. Mancher mächte
sagen: „Was ist das, daß der Psalm von Gras sagt? Ist das
ein so großes Wunder?" O lieber Mensch, das Gras auf dem Felde
ist ein herrlich Geschöpf und große Wohlthat Gottes. Denn wer
wollte sonst so viel tausend Häupter Vieh ernähren? Es müßte ja
das Vieh und Wild verschmachten. Welch Jammer würde werden,
wenn Gott einen einzigen Sommer kein Gras wachsen ließe! Ja
es bezeugt die Erfahrung, wenn manches dürre Jahr einfällt, daß
man meint, es könne das Land so viel Vieh nicht tragen noch weiden;
dennoch muß das Vieh erhalten werden, daß man nicht anders ge-
denken kann, als, was das Vieh des Tages hinweg frißt, das müsse
ja des Nachts wieder wachsen. Denn "auf den Morgen findet es
doch noch etwas wieder und immer neues; daß wohl die Heiden
gesagt haben: Wie viel den langen Tag über das Vieh abfrißt,
so viel ersetzt der kühle Thau in der Nacht wieder. —- Darum
sollen wir die große Güte Gottes bedenken lernen, und daß wir
Gott dem Herrn für das Gras auf dem Felde nicht genugsam dan-
ken können, das doch anzusehn ist für die geringste Creatur Gottes.
Ja die kleinste Wohlthat Gottes ist größer, denn aller Menschen
Dankbarkeit.
Sonst erinnert uns das Gras auf dem Felde auch erstens der
göttlichen Vorsehung: So er denn das Gras auf dem Felde also
bekleidet, vielmehr uns; zweitens unserer Eitelkeit und Nichtigkeit:
Alles Fleisch ist wie Heu, und alle seine Güte wie eine Blume auf
dem Felde; drittens muß das Gras auf dem Felde unser Trost sein:
Erzürne dich nicht über die Übelthäter, und sei nicht neidisch über die
Gottlosen; denn wie das grüne Gras werden sie abgehauen, und wie
das grüne Kraut werden sie verwelken.
Je höher das Gras, je näher die Senfe.
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, 43. Die Wandlung.
Rbelch eine wunderbare Veränderung draußen, wenn der Wind
über die Stoppeln des Hafers fährt! Immer schräger fällt der Son-
nenstrahl auf die Erde; darum wird auch die Luft immer kälter.
Das schöne Blau des Himmels verwandelt sich an manchen Tagen
in ein düsteres Grau. So wird es im Herbste anders dort oben,
und anders wird es auch hier unten in Feld und Wald und Wiese.
Der Wind weht nicht mehr sanft über wogende Saaten, sondern
stürmisch über die mit Spinngeweben überzogenen Stoppeln; der
Wald färbt sich bunt, und mancher Baum wird im Sturme schon
entblättert.
Und still wirds überall, immer stiller. Die summende Biene
verläßt nur selten ihre Wohnung; nur die Drohnen, von den Arbei-
tern aus dem Hause vertrieben, irren umher. Die fleißige Ameise
bezieht ihren unterirdischen Palast; andere Insecten suchen mi Moose,
hinter Baumrinden und unter Baumblättern ein warmes Winter-
quartier; Hamster und Maulwurf begeben sich tief in der Erde in die
warme Schlafkammer; der Frosch wühlt sich in den Schlamm. Die
Vögel, deren Tisch hier im Lande abgedeckt, oder denen der Vrot-
schrank zugeschlossen wird, fliehen vor dem Hunger dahin, wo die
sorgende Liebe im Himmel den Tisch gedeckt hat. Still, als wollten sie
uns durch ihren Abschied nicht betrüben, ziehen sie dahin durch die
Nacht, und nur, wenn sie ani Tage aufgescheucht sind, sieht und hört
man sie.
So ists also anders am Himmel und auf der Erde, als es im
Sommer war; aber es ist immer gar schön. Herbsteszeit ist reiche
Zeit. Auf dem Felde wird fleißig gearbeitet; denn Noggen und
Weizen müssen gesäet werden. Im Obst- und Gemüsegarten wird
fröhlich geerntet; hier besonders „die Lieblingsfrucht der Kinder, die
wohlschmeckende Kartoffel, dort Äpfel, Birnen, Pflaumen, Nüsse und
Trauben.
Dabei gibt es für jung und alt der Freuden viele. Im Gar-
ten blühen die Astern, die Goldruthe und andere Herbstblumen, in
der Heide das rothe Heideröschen und die blaue Gentiane. Der
Jäger geht mit seinem treuen Hunde durch Feld und Wald Füchsen
und Hasen nach; die Knaben fangen den Kramtsvogel in Dohnen,
sammeln Haselnüsse und lassen dabei die Brombeeren sich gut
schmecken. An heitern Tagen treiben sie auf der Wiese oder in den
rauschenden Blättern des Waldes ihr fröhliches Spiel und singen dem
wandernden Vogel nach.
44. Die Zugvögel.
Äle Störche ziehen im Herbst fort, weil sie im Winter keine
Eidechsen, Schlangen, Frösche, Bienen u. dergl. bei uns finden wür-
den und also verhungern müßten. Der rauhe und unfreundliche
Winter gefällt ihnen überhaupt nicht. Außer den Störchen gibt es
aber auch noch viele andere Zugvögel, z. B. die Schwalben, die
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Staare, die Wachteln, die wilden Tauben. Ehe sie fortziehen, ver-
sammeln sie sich in großen Scharen, die Störche auf einer Wiese,
die Schwalben in einem Dorfe, die Staare im Schilf eines Wei-
hers. Ist endlich ihre Zeit gekommen, so treten sie bei günstigem
Winde die Reise an, lassen den traurigen Winter hinter sich und
suchen einen ewigen Frühling auf. Selbst die zahmen Störche wollen
dann nicht bleiben, auch wenn sie Futter genug haben. Unruhig
laufen sie hin und her und schreien ihren fortziehenden Kameraden
den Abschiedsgruß nach. Viele Leute sperren die Wachteln in einen
Käfich. Wenn nun die Wachteln im Oktober ihre Reise antreten,
da will auch die gefangene Wachtel mitziehen. Seh ihr das beste
Getreide und den besten Salat vor: sie verschmäht deine Leckerbissen
und verlangt mit ihren Kameraden zu ziehen. Ihr Verlangen ist so
groß, daß sie die ganze Nacht hindurch in ihrem Gefängniß hin und
her läuft; ja sie fliegt dann mit solcher Gewalt gegen die Decke ihres
Käfichs, daß sie oft besinnungslos niederfällt. Bricht der Tag an, so
wird sie wieder ruhig; aber sie ist dann traurig, müde und schläfrig.
Diese Unruhe dauert dreißig Tage fort. „O, die arme Wachtel!"
hör ich dich ausrufen, „warum läßt man sie nicht mit ihren Ka-
meraden fortziehen?" Ja, liebes Kind, wenn ich eine Wachtel hätte,
und ich sähe ihr Verlangen und ihre Unruhe, so müßte ich sie ziehen
lassen.
Aber wohin ziehen die Vögel? und wer zeigt ihnen den Weg? —
Wenn ich dich auf eine Wiese hinstellen und zu dir sagen würde:
„Mach eine Reise nach Afrika!" — so würdest du mir antworten:
„Ich weiß keinen Weg!" Wenn ich aber mit dir reisen wollte, so
müßten wir viele hundert Stunden weit gehen, bis wir ans Meer
kämen, und dann wären wir noch nicht in Afrika. Wir müßten
ein Schiff besteigen und noch weit übers Meer fahren. Wie wun-
derbar! Die Störche, die Schwalben, die Wachteln, die Nachtigallen
machen im Herbste diese weite Reise nach Afrika, und niemand zeigt
ihnen den Weg. Sie müssen über Wälder, Berge, Flüsse und Seen,
ja zuletzt übers Meer ziehen; und doch verfehlen sie ihren Weg
nicht und kommen alle wohlbehalten in Afrika an, wenn sie auf der
Reise kein Unglück trifft. Die lange Reise beendigt die schnelle
Schwalbe schon in vier bis fünf Wocben. Dabei ruht sie des Nachts
im Schilfrohr der Sümpfe und Teiche, und wenn sie übers Meer
fliegt, setzt sie sich auf die Mastbäume und Segelstangen der Schiffe.
Schlimmer, als den Schwalben, geht es den Wachteln, welche zwar
recht hurtig laufen, aber nicht gut fliegen können. Sie ruhen oft aus,
und wenn sie ans Meer kommen, so fliegen sie von Insel zu Insel,
und zwar immer auf demselben Weae. Wenn sie auf den Inseln an-
kommen, so sind sie vom langen Fluge so müde, daß man sie mit den
Händen fangen kann. Tausende tödtet man und salzt sie ein ; ganze
Flüge fallen ermüdet auf die Schiffe; andere Schwärme wirft der
Sturm ins Meer, daß sie ertrinken müssen. Und doch will keine einzige
Wachtel bei uns bleiben; alle wollen sie nach Afrika ziehen und dort
den Winter zubringen. Wenn aber bei uns der Frühling angeht, dann
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ziehen alle diese Vögel wieder aus Afrika fort, und jede Schwalbe
findet das Dorf, das Haus, ja das Nest wieder, worin fie im vorigen
Jahre gebrütet hat.
Und nun sage mir, wer ist ihr Wegweiser nach Afrika? Wer
sagt ihnen, wann sie wieder fortziehen sollen in ihre Heimat? Wer
zeigt ihnen ihren sichern Weg zu ihrem alten Neste? Du weißt es,
wer der ist, der keines seiner Geschöpfe vergißt, ohne dessen Willen
kein Sperling vom Dache fällt. Sieh, er zeigt ihnen den Weg nach
Aftika und bringt sie wieder in ihre Heimat; er bestimmt ihnen die
Zeit ihrer Reise. Wenn du die Störche, die Schwalben, die Staare,
die Wachteln kommen siehst, dann denk an ihn.
45. Die stummen Lehrer.
1. Der rauhe Herbst kommt wieder;
Jetzt stimm ich meine Lieder
In ihren Trauerton.
Die Sommerlust vergehet.
Nichts in der Welt bestehet:
Der Mensch muß endlich selbst davon.
2. Du, Gott und Herr der Zeiten,
Willst, daß wir uns bereiten
Zu unsrer wahren Ruh;
Stets zeigst du dein Gemüthe,
Schickst uns aus milder Güte
Auch stulnme, stille Lehrer zu.
3. Die Rose läßt sich brechen.
Wird niemals widersprechen
Des Gartenherren Hand;
Der Apfel, zu genießen.
Fällt selbst zu deinen Füßen
Und lässet willig seinen Stand.
4. Und du, Mensch, wolltst nichr
eben
Dich deinem Gott ergeben?
Was ist dein größter Ruhm?
Daß er dich hat erschaffen.
Geziert mit Glaubenswaffen
Zu seinem ewgen Eigenthum.
5. Schickt er denn Kreuz und
Schmerzen,
Nimmt, was uns kommt vorn Herzen:
Er meints doch allzeit gut;
Und sind wir Gottes eigen.
So laßt uns stille schweigen
Zu allein, allem, was er thut.
6. Wer mag der Welt Getümmel
Erwählen für den Himmel?
Hilf, Christe, Gottes Sohn,
Daß wir uns stets gewöhnen.
Uns nur nach dir zu sehnen
Und beinern Heilgen Gnadenthron.
46. Die Znsecten.
Äie Insecten oder Kerbthiere führen diesen Namen, weil der
Körper der meisten mit Einschnitten oder Kerben versehen ist. Sie
haben kein rothes, warmes Blut, sondern statt dessen eine kalte,
nreistentheils gelbliche Feuchtigkeit, und wenigstens sechs gegliederte,
hornartige Füße, viele am Kopfe auch Fühlhörner. Die meisten In-
secten pflanzen sich durch Eier fort; einige wenige bringen auch leben-
dige Junge zur Welt, z. B. die graue Fleischflrege. Keine Klasse der
Thiere ist so zahlreich und so weit verbreitet, als die der Insecten.
Man kennt bei 60000 verschiedene Arten, worunter an 20000 euro-
päische sind. Überall aus der Erdoberfläche, im Wasser, auf und in der
Erde, in der Luft, auf Pflanzen und Thieren leben Insecten. Beinahe
jede Pflanzen- und Thierart wird von besonderen Insecten bewohnt.
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Einige, wie die Bienen und Ameisen, leben in geordneten Gesellschaften;
andere, wie die Heuschrecken, ziehen gefeilte} umher, oft in ungeheuern
Scharen von vielen Millionen; die allermeisten aber gehen ihren Ver-
richtungen einzeln nach.
Die Infecten zeichnen sich, obgleich größtentheils unter die kleinsten
Geschöpfe der Erde gehörig, durch mancherlei Natur-und Kunsttriebe
und Vorgefühl des Künftigen bewundernswürdig aus. Das Netz der
Spinne, das Gewebe mehrerer Raupen, die Zellen der Bienen und
Wespen u. s. w. sind unnachahmliche Kunststücke. Sehr merkwürdig
ist die den meisten eigenthümliche Verwandlung, durch welche ein
und dasselbe Thier zu einem ganz andern wird. Erst ist es z. B.
eine häßliche Raupe, die ungemein gefräßig und schädlich ist, indem
sie eine große Menge von Blättern und Knospen frißt, oder auch
ein häßlicher Wurm, der von Koth lebt. Auf einmal wird die Raupe
krank; sie krümmt und windet sich und muß als Raupe sterben, nach-
dem sie sich vorher noch ihr Sterbekleid gesponnen oder ihren Sarg
zurecht gemacht hat. Da liegt sie oder hängt sie denn lange wie
todt, und die Raupe ist dann wirklich nicht mehr vorhanden. Auf
einmal aber bricht der Frühlingssonnenschein herein; da springt der
Sarg entzwei, und aus dem Grabe geht nun ein ganz anderes Leben
hervor, als. das vorige war: ein schöner, bunter Schmetterling, der all
das Schädliche und Häßliche, was die Raupe hatte, abgelegt hat;
der gar keine Blätter und keinen Koth mehr fressen mag, sondern mit
seiner niedlichen, langen Zunge bloß die Thautröpflein oder auch den
Honigsaft aus den Blüten saugt, sehr oft aber auch gar nichts mehr zu
genießen braucht, weil er in dieser seiner letzten Gestalt nur ganz kurze
Zeit lebt. Sehr viele Infecten machen eine solche Verwandlung durch
und leben hernach als schönes, geflügeltes Insect in der Luft und auf
Bäumen, während sie vorher als Wurm in der Erde, im Wasser, im
Morast und Unrath lebten; doch können sich auch manche Infecten,
z. B. die häßliche Laus, der giftige Scorpion, die Spinne, nicht dazu
entschließen, so zu sterben, und bleiben daher bis ans Ende das, was
sie waren.
Bei einer solchen Verwandlung kann man sich viel denken, und
schon die Alten haben deshalb den Schmetterling und seine Verwand-
lung als ein Sinnbild der Auferstehung betrachtet.
47. Predigt der Garben.
Der heiße Erntetag war vorüber; eine schöne Sommernacht
breitete sich über die schwelgenden Gefilde. Da richtete sich eine Garbe
auf und rief über den Acker hin: „Lasset uns dem Herrn ein Ernte-
dankfest halten unter dem stillen Nachthimmel!" —Und alle Garben
richteten sich auf, und von ihrem Rauschen erwachten die Lerchen und
die Wachteln, die in den Stoppeln umher schlummerten.
Die erste Garbe begann ihre Predigt: „Bringet her dem
Herrn Ehre und Preis! Danket dem Herrn, denn er ist freund-
lich, und seine Güte währet ewiglich! Er läßt seine Sonne auf-
gehen über Böse und Gute. Er läßt regnen über Gerechte und
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Ungerechte. Aller Augen warten auf ihn, und er gibt ihnen ihre
Speise zu seiner Zeit? Jahrtausende sind über die Erde gegangen,
und jedes Jahr hat Ernten gesammelt und Speise bereitet. Immer
noch deckt der Herr seinen Tisch, und Millionen werden gesättigt. Seine
Güte ist alle Morgen neu. Bringet her dem Herrn Ehre und Preis!"
— Da stimmte der Chor der Lerchen ein Danklied an.
Eine andere Garbe redete: „An Gottes Segen ist alles
gelegen! Der Landmann rührt seine thätige Hand, pflügt den
Acker und streut Körner in seine Furchen; aber vom Herrn kommt das
Gedeihen. Viele kalte Nächte und heiße Sommertage liegen zwischen
dem Säen und Ernten. Menschenhand kann die Regenwolken nicht
herbeiführen, noch den Hagel abwehren. Der Herr behütet das Körn-
lein im Schooßecher Erde, behütet die grünende Saat und die reifende
Ähre. Fürchtet euch nicht! Er war mit uns. An Gottes Segen ist
alles gelegen!"
Nun nahm die dritte Garbe das Wort: „Die mit Thränen
säen, w erden mit Freud en ernten! Mit schwerem Herzen
ging ein Sohn aus, zu säen. Der Vater war ihm gestorben, und
daheim weinte die verlassene Mutter; denn die harten Gläubiger
hatten die Scheuern geräumt. Ein mitleidiger Nachbar lieh ihui den
Samen; aber Thränen fielen mit den Körnern in die Furchen. Nun
erntet er hundertfältig; denn der Herr hat seine Ernte gesegnet. Die
mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten; sie gehen hin und
weinen und tragen edeln Samen, und kommen mit Freuden und
bringen ihre Garben!"
Darnach fuhr eine vierte fort zu reden. „Wohlzuthun und
mitzutheilen vergesset nicht; denn solche Opfer gefal-
len Gott wohl. Könnten wir das hineinrufen in die Häuser der
Reichen, die ihre Scheuern jetzt füllen! Könnten wirs dem harther-
zigen Manne zurufen, der gestern die armen Ährenleser von seinem
Acker trieb! — Wen der Herr gesegnet hat, der soll auch seine milde
Hand austhun, daß er gleiche den: redlichen Boas, der an der frommen
Ruch Barmherzigkeit übte. Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset
nicht!" — Und die Wachteln riefen laut hinüber ins Dorf, als wollten
sie die schlafenden Herzen aufwecken.
Also endete die fünfte Garbe: „Was der Mensch säet, das
wird er ernten! Wer kärglich säet, der wird auch kärglich ernten;
und wer da säet im Segen, der wird auch ernten im Segen. Was
wundert ihr euch, daß Unkraut unter dem Weizen stehet? ' Hattet ihr
den Samen gesichtet, ehe ihr ihn ausstreutet? Wer Unkraut säet, wird
Mühe ernten. Wer auf sein Fleisch säet, der wird vom Fleische das
Verderben ernten; wer auf den Geist säet, der wird vom Geiste das
ewige Leben ernten. Was der Mensch säet, das wird er ernten!"
Und alle Garben umher neigten sich und sprachen: „Amen! Amen!"
48. Ein dankbares Herz.
Ein Edelmann in den Niederlanden war durch den Krieg in
große Armuth gerathen und lag an Händen und Füßen lahm'von
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der Gicht in einem Dachstüblein und hatte niemand als eine alte
Ausläuferin, die sich des Tages zwei- oder dreimal nach ihm um-
schaute. Und als er zuletzt auch von seinem alten Rittermantel die
goldenen Spangen, Haken und Schnüre verkaufen mußte, gerieth er
in schwere Sorgen. An demselben Tage noch kam ein unbekannter
Mann an sein Bett, der wie ein Diener eines großen Herrn aussah,
und stumm schien, weil er weder mit einem Worte grüßte, noch aus
eine Frage Antwort gab, sondern jedesmal seinen Finger fest auf
die Lippen drückte, womit er andeuten wollte, daß ihm sein Mund
verschlossen sei. Der hatte ein schneeweißes Damasttuch an den vier
Zipfeln in der Hand und in dem Tuche eine silberne Schüssel, die
er mit der Speise darin auf das Tischlein neben dem Bette stellte,
worauf er wieder ging, ohne zu sagen, woher oder wohin. Der
Edelmann verwunderte sich sehr, noch mehr aber, als der Mann
auch am folgenden Tage und ferner die ganze Woche und endlich
die etlichen Jahre wieder kam, die der Edelmann noch lebte, und
einen Mittag wie den andern eine volle Schüssel brachte und die leere
dagegen holte. Und ist nicht auszusprechen, welch herzliches Verlan-
gen der Edelmann hatte, seinen unbekannten Wohlthäter kennen zu
lernen imd ihm zu danken, so daß er endlich zu dem Diener sprach:
Sagt euerm Herrn, daß mein Ende nahe ist, daß ich aber nicht ruhig
sterben kann, ich habe denn zuvor meinem Wohlthäter die Hand ge-
drückt und mich bedankt. Da nickte der alte Diener beifällig mit
dem Kopfe, und noch denselben Abend erschien der Erzherzog Albrecht
an dem Bette des Edelmanns , der die Hand seines Wohlthäters mit
Dankesthränen benetzte und etliche Stunden darauf fröhlich von hinnen
schied.
Uns Menschenkindern aber ist der Wohlthäter nicht unbekannt,
der uns so viele Jahre her aus seiner Küche eine Schüssel um die
andre zugeschickt, vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben
und unsre Herzen erfüllet hat mit Speise und Freude. Und doch
ist es manch einem zu viel, zu einem Tischgebet seinen Kopfdeckel zu
rücken.
49. Was uns der Herbst predigt.
Was ist doch das Laub der Bäume auf unserm Kirchhofe in
den letzten Wochen gelb geworden! Wie viele Blätter liegen schon
unten und werden vertreten! Und wie es auf unserm Friedhofe
ist, so ist es rings um uns her. — Einem Kranken fährt oft in
feinen letzten Tagen noch einmal eine Nöthe auf die Wangen; ein
Licht flackert noch einmal auf; dann geht es aber mit beiden um
so schneller zu Ende. So stellt sich "auch das Laub am Baume
noch einmal im schönsten Schmucke dar; aber die schönen Farben
sind schon im Sterben. Der Tod lauert dahinter. In kurzem ist
alles Staub und Verwesung. Was will uns der Herr damit sagen?
„Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blühet, wie eine Blume
aus dem Felde. Wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer
da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr." Verstehst du diese
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Svrache Gottes? Nimmst du sie dir auch ernstlich zu Herzen? Gar
selten geschieht das. Du gehst hin durch das Rauschen des Herbst-
windes und durch das falbe und fallende Laub. Selten aber sagst
du dir: „Um mich rauscht auch der Herbstodem; ich bin auch nichts,
denn ein fallend Blatt; ich kann auch morgen fallen." Ein solcher
Gedanke aber soll an dich heran; er soll dir klar werden. Darum
läßt auch die Kirche in der Herbftzeit über d.as Evangelium vom
Jüngling zu Nain predigen. Er ist ein Jüngling, er ist todt. Bist
du ein Jüngling oder eine Jungfrau, so hat der Tod an dich
gleiches Recht; bist du ein Mann oder ein Greis, so hat er noch
größeres Recht. Im Evangelium wird das, so zu sagen, hand-
greiflich gepredigt, was uns in der Natur nur verblümt zu verstehen
gegeben wird.
Aber die Natur weiß von keinem Heilande. Sie hat nur die
Predigt der Vergänglichkeit aller Dinge. Wohl liegt hinter jedem
Winter ein Frühling; aber hinter jedem Frühling liegt auch wieder
ein Winter. Ein Todesüberwinder, der den Tod todte, der aus
dem Tode Leben und unvergängliches Wesen an das Licht bringe,
ist in ihr buntes Buch nicht geschrieben. Wollen wir den haben, so
müssen wir uns zurückwenden zu dem Leichenzuge von Nain. Dem
begegnet er: es ist Christus!
50. Die Krönung.
Will mich nun zufrieden geben.
Fassen mich im stillen Sinn;
All inein Denken, Schnell, Streben,
Meine Lieb und auch mein Leben
Geb ich meinem Freunde hin.
Einst erklingen andre Stunden,
Und das Herz nimmt andern Lauf;
Erd und Heimat ist verschwunden.
In den selgen Liebeswunden
Löset aller Schmerz sich auf.
Äls im Jahre 1764 der Kaiser Joseph zu Frankfurt am Main
mit der goldenen Krone des heiligen römischen Reichs gekrönt wurde,
da krönte der ewige Erwähler einen frommen Pfarrer mit einer
schönen Dornenkrone, und sein seliges Abscheiden lebt noch im Ge-
dächtniß seiner Gemeinde.
Es war der Pfarrer Holzmann ein gar treuer Hirt seiner Ge-
meinde gewesen, einem Dorfe in der Nähe von Frankfurt; man
hatte ihn nicht viel gesehen in der nahen Stadt, und nie bei Spiel
und Tanz, auch nicht einmal in seinen jüngeren Jahren, destomehr
aber an den Krankenbetten seiner Beichtkinder und in den Häusern der
Betrübten.
Als aber Kaiser Joseph sollte von den Neichsfürsten gewählt
und gekrönt werdendem Kaiser, von dem man sich im Reich gar
viel versprach, denn ein guter Ruf von Einsicht und Herrschertugend
und Menschenfreundlichkeit war ihm vorausgegangen, und von allen
Seiten her die Fernen und Nahen in die Kaiserstadt strömten, und
aus dem eigenen Dörflein schier niemand daheim blieb, der nicht
mußte; da ergriff auch der Pfarrer Holzmann seinen Rohrstock, und
sagte zu seinem Weibe: „Gertrud, ich will auch in die Stadt gehen
32
rn Gottes Namen mit den andern allen, die nicht daheim bleiben
können; vielleicht daß mir der Herr den Gang für mich und andere
segnet." Und er bot der treuen Lebensgefährtin die Hand und ging.
Der Weg nach der Krönungsstadt wimmelte von Fußgängern und
Reitern; die Fremden eilten vorüber und beachteten den einzelnen
nicht, die Bekannten aber riefen ihm Grüße zu, sprachen auch wohl ein
Wort mit ihm, und allen gab er freundlich Bescheid, und trug sie in
feinem Herzen; denn das Herz des alten Holznrann war ein gar weites
und reiches, und hatte gar mancher ein Plätzchen darinnen und einen
Betaltar.
Auch heute gedachte er seiner Freunde, die an ihm vorübereilten,
gar herzlich; wie sie ihn geliebt, wie sie ihm wohlgethan zu vielen
Malen, dessen freute er sich vor dem Herrn und war gar fröhlich in
seinem Herzen. Auch des Kaisers, der heute gewählt werden sollte,
gedachte er vor dem Herrn, und bat für ihn uni ein weises und from-
mes Herz, auf daß alle seine Unterthanen ein ruhiges und stilles Leben
führen inöchten in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.
Indem kommt ein Hündchen auf ihn zugelaufen, und er hat sein
nicht acht, denkt bei sich, da es den Schwanz herabhängt, es habe
seinen Herrn verloren. Auch als das Hündchen an ihni hinaufspringt,
kümmert es ihn nicht; er wehrt das Thier mit der Hand von sich und
will weiter gehen. Jetzt fühlt er aber einen tiefen Biß in seinem Beine
und noch einen zweiten, und sieht sein Blut durch die Strümpfe in die
Schuhe fließen; und ein genauerer Blick auf den Hund überzeugt ihn
sogleich, daß der Hund toll sei.
„Barmherziger Gott!" ruft er, „erbarme dich meiner, und führe
es zum guten Ende. Dir sei Leib und Seele befohlen!" Und mit
schnellen Schritten eilt er dem Hunde nach, ereilt ihn, wie er eben an
einer Frau, die des Weges kommt, hinaufspringt, und schlägt ihn mit
seinem Rohrstock nieder.
Aber was nun beginnen? Nach Hause zu den Seinen zog ihn
sein Verlangen; aber die Stadt lag näher, dort verspricht er sich
schnellere Hülfe. Er eilt zu einem Arzte, der ist nicht zu Hause; zu einem
zweiten, auch der ist abwesend. Er klopft an alle Thüren, wo Bader
wohnen, endlich an alle Barbierstuben: niemand hört ihn an, niemand
will ihm helfen; die Kaiserwahl und die Augenlust liegt heute allen
näher am Herzen, als ein Menschenleben.
Indem er nach dem Arzte sucht, stößt ihn die wogende Menge
dahin und dorthin. Er hört die Glocken von allen Türmen läuten,
sie klingen ihm wie Grabgeläute; er sieht den Zug mit dem ge-
wählten Kaiser aus dem Dome nach dem Römerberge ziehen, trotz
der bunten Kleider kommt ihm der Zug wie sein eigener Leichenzug
vor. Jetzt, als der Kaiser sich auf dem Balkon des Römers dem
Volke zeigt, als das Volk sich um die ausgeworfenen Krönungs-
münzen, um den gebratenen Ochsen und um den Haferberg tummelt
und schlägt, da erfaßt seine Hand endlich den ersehnten Arzt, und
er bittet und beschwört ihn, ihm zu helfen. Aber der Arzt vergißt
seiner Pflicht; er tröstet ihn damit, der Hund sei wahrscheinlich gar
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nicht toll gewesen, und er wolle ihm morgen in der Frühe die Wunde
verbinden; heute könne kein Christenmensch ihm zumuthen, daß er
seinen guten Platz verlasse. Denn es sei noch mehr zu sehen, und eine
Kaiserkrönung erlebe man nicht alle Tage.
Da wandte stch der alte Holzmann schweigend aus dem Ge-
tümmel; er sah'wohl, daß die Selbstsucht heute alle in Priester und
Leviten verwandelt habe, die den Geschlagenen am Wege liegen lassen.
Da bei Menschen keine Hülfe zu finden war, so befahl er stch dem
Arzte im Himmel, der da gibt einfältiglich jedermann und rücket es
niemand auf.
Und das Gebet zu dem Helfer in aller Noth und die Stille des
Aprilabends nach dem Getümmel des Krönungstages that ihm so
wohl, daß er getröstet heimkam und Kraft behielt, auch die Seinen zu
trösten. Aber nicht mit Lebenshoffnungen, sondern mit jenen, die der
Herr den Seinen gab: Es ist euch gut, daß ich von euch gehe.
So ließ er wohl am andern Tage das verwundete Bein von
dem Arzte verbinden, so befolgte er genau dessen Vorschriften; aber in
seinem Herzen war es zur Gewißheit geworden: Beschicke dem Haus,
denn du wirst sterben und nicht leben bleiben.
Und so that der alte Holzmann. Noch ein Sonntag, das fühlte
er, war ihm in diesem Leben beschieden; den wollte er noch mit
seiner Gemeinde begehen. Obgleich von großen Schmerzen gequält,
betrat er noch einmal die Kanzel. Von seiner Gemeinde fehlten
beute nur die Kranken und Unmündigen, alt und jung hing an
seinen Lippen; sie fühlten alle, daß ihr Hirte von ihnen Abschied
nehmen wollte.
Und er nahm Abschied. Sein Text war der Abschied Pauli von
den Ältesten von Ephesus. Und als er kam zu der Stelle: Und nuw
liebe Brüder, ich befehle euch Gott und dem Worte seiner Gnade, der
da mächtig ist, euch zu erbauen, und euch zu geben das Erbe unter
allen, die geheiligt werden, — da konnte er nicht weiter reden, denn es
war, wie zu Milet, viel Weinens unter ihnen allen.
Noch ein schweres Stündlein gab es, als der verhängnisvolle
neunte Tag kam und der Pfarrer auch von den Seinen scheiden mußte.
Das that er noch mit frischer Kraft und fröhlicher Hoffnung. Dann'
ging er, stark wie ein Held und geduldig wie ein Lamm, in sein
Studierstübchen, hieß cs von außen verriegeln und verwahren und
wartete auf ein schweres Ende.
Das Ende kam, aber schwer war es nicht. Einen Tag lang hörten
ihn die Seinen von Zeit zu Zeit laut beten und zuletzt immer lauter;
aber kein Geschrei der Wuth, kein Toben und Schlagen ward gehört.
Der Engel des Herrn, der sich um die lagert, so ihn fürchten, und
ihnen aushilft, der muß ihm Kühlung zugewehet haben mit seiner
Palme, die in Eden sprießt. Als man die Thür des Sterbegemachs
öffnete, da fand man ihn auf den Knieen zusammengesunken und die
Hände zum Gebet gefaltet. So hat ihn sein Heiland mit der Huu-
melskrone gekrönt.
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51. Unerwartet und dennoch erwartet.
In dem sächsischen Hohenstein wurde ein Jüngling, der Sohn
eines Bürgers daselbst, bei seiner Arbeit von der ausftürzenden
Wand einer tiefen Sandgrube erschlagen. Schon seit etlichen Tagen
hatte man an dem Jüngling bemerkt, daß er sehr ernst und in sich
gekehrt war. Er hatte immer von Tod und Ewigkeit gesprochen
und mit rechter Sehnsucht die Seligkeit des Himmels gerühmt, da
man Gott preisen werde ohne Aufhören. Heute, am Morgen seines
Todestages, war er früh auf gewesen, hatt'e sehr andächtig und mit
Thränen sein Morgengebet verrichtet und dann das Lied gesungen:
„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende." Die Mutter hatte'ihn
wollen zu Hause behalten von der Arbeit; er aber hatte sich nicht
lassen abwendig machen, mit seinem Vater zu gehen und diesem zu
helfen. Der Vers des Liedes war an ihm eingetroffen: „Es kann
vor Nacht leicht anders werden, als es am frühen Morgen war;
denn weil ich leb auf dieser Erden, leb ich in steter Todsgefahr." Aber
der kluge Jüngling hatte sein Haus zur rechten Zeit und auf die rechte
Weise bestellt.
Heute rotll, morgen tollt. Leböue Oektnlt verliert üeb balll.
52. Der Winter.
1. Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an;
Er scheut nicht süß, noch sauer.
5. Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenns Holz im Ofen knittert.
Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;
2. War je ein Mann gesund wie er?
Er krankt und kränkelt nimmer;
Er trotzt der Kälte, gleich dem Bär.
Und schläft im kalten Zimmer.
6. Wenn Stein und Bein vor Frost
zerbricht.
Und Teich und Seen krachen.
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht.
Dann will er todt sich lachen.
3. Er zieht sein Hemh im Freien an
Und läßts vorher nicht wärmen;
Er spottet über Flüß im Zahn
Und Grimmen in Gedärmen.
7. Sein Schloß von Eis liegt ganz
hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.-
Aus Blumen und aus Vogelfang
Weiß er sich nichts zu machen.
Haßt warmen Trank und Liederklang
Und alle warmen Sachen.
8. Da ist er denn bald dort, bald hier,
Gilt Regiment zu führen;
Und wenn er durchzieht, stehen wir
Und sehn ihn an und frieren.
53. Der Winter.
Still ifts auf dem Felde und im Walde, zu keiner Zeit stiller.
Hier unten fehlen die Sternblümchen, Hie mit ihrem Auge nach oben
schauen; aber von oben her schauen des Himmels Sterne mit einer
Herrlichkeit hernieder auf die Erde,<wie in keiner andern Jahreszeit.
J
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Auch zieht der Vollmond höher als sonst über den Himmel, die winter-
liche Nacht gar freundlich erhellend. Der Laubwald steht kahl; nur
der Nadelwald prangt in seinem grünen Kleide. Wenn aber mitten
im Winter Tannenwald und Laubwald zugleich bekleidet werden;
wenn Gott beiden das glänzend weiße Kleid, mit Diamanten besetzt,
anzieht: dann kann das Auge nimmer sich satt sehen an solcher Pracht.
Eines aber fehlt: des Vöglems Lied. Nur das Geschrei des Spechtes
unterbricht zuweilen die tiefe Stille des Waldes. Lauter ists in der
Nähe der menschlichen Wohnungen, wohin zu dem alten wohlbekann-
ten Gaste, dem Sperling, die Haubenlerche, die Schneeammer, der
Zaunkönig, die Nebelkrähe und andere Vögel sich gesellen und um ein
Stücklein Brot bitten.
Wohl belustigt sich die Jugend für etliche Stunden auf dem
Eise oder beim Thauwetter im Schnee; aber die rechten Freuden
bietet der Winter doch im Hause. Während der Sommer die Glieder
des Hauses oft sehr zerstreut, werden sie im Winter gesammelt. Und
das ist sehr grit. Wie traulich ist so ein Winterabend! Da setzen die
Glieder der Familie um den Herd oder in der warmen Stube, jeglicher
bei seiner Arbeit. Man erzählt sich dabei Geschichten, oder einer liest
etwas vor aus einem guten Buche, oder man singt ein Abendlied, am
liebsten ein Lied vom heiligen Christ.
54. Jesus der Schönste.
1. Schönster Herr Jesu, o Herrscher
aller Enden,
Gottes und Marien Sohn:
Dich will ich lieben, dich will ich ehren,
Du meiner Seelen Freud und Krön.
2. Schön sind die Felder, noch schö-
ner sind die Wälder
In der schönen Frühlingszeit:
Jesus ist schöner, Jesus ist reiner.
Der unser traurig Herz erfreut.
3. Schön leucht't die Sonne, noch
schöner leucht't der Monden
Und die Sternlein allzumal:
Jesus leucht't schöner, Jesus leucht't
reiner.
Als all die Engel im Himmelssaal.
4. All die Schönheit Himmels und
der Erden
Ist gegen ihn nur ein Schein.
Keiner auf Erden kann uns lieber
werden,
Als der schönste Jesus mein!
5. Jesus ist wahrhaftig hoch von
uns geliebet,
Jesus ist wahrhaftig hoch gebenedeit!
Jesu, wir bitten dich, sei uns gnädig
Bis an unsre letzte Zeit!
55. Der Christbaum.
Wenn der heilige Abend vor Weihnacht hereinbricht und die
Nacht sich über unsere Muren lagert, erglänzen in unsern Häusern viele
tausend Lichter. Die Christbäume werden angezündet, und ihre Kerzen
ergießen ihr glänzendes Licht in die Nacht, die draußen ist.
Weißt du, was der Baum mit seinen Lichtern und Gaben der
Christenheit predigt? Das Weihnachtsfest fällt mitten in den Winter.
Die Erde hat ihr Leichentuch angezogen; das Leben auf ihr ist
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erstarrt; entlaubt stehen die Bäume, und der Wintersturm hat längst
die Blumen des Feldes mit seinem eistgen Hauche getödtet. Der
Christbaum aber ist grün, und sein Grün verkündet dir Leben.
Gott der Herr hatte einst im Paradiese zwei Bäume gepflanzt,
den Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses und den Baum des
Lebens, und von dem ersten gesagt: „Esset nicht davon!" Aber Eva
schaute an, daß von dem Baume gut zu essen wäre, und lieblich an-
zusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte. Und da
sie aß, brachte sie den Tod über sich und ihre Kinder und ward sammt
ihrem Manne aus dem Paradiese gestoßen. Von dem Baume des
Lebens aber mitten im Garten durften beide nicht essen. Der Christ-
baum nut seinen grünen Nadeln soll uns an den Baum des Lebens
erinnern, der nun der Menschheit geschenkt ist. Er deutet auf den, der
Mensch wurde, da die Zeit erfüllet war, und von dem Johannes
zeuget: „In ihm war das Leben." Er kam in eine Welt, welche im
Tode lag, wie die Erde zur Winterzeit. Grün ist die Farbe der Hoff-
nung. Wenn du den grünen Christbaum ansiehst, so sollst du fröhlich
in Hoffnung sein, da du dich rühmen darfst der zukünftigen Herrlichkeit,
welche an uns geoffenbaret werden soll.
Von dem Christbaume strahlen Lichter hinaus in das Dunkel der
Nacht. Das soll dich erinnern an das Wort des Propheten Jesaias:
„Das Volk, so im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht, und über
die da wohnen im finstern Lande, scheinet es hell." Du sollst an den
denken, der von sich sprach: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir
nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsterniß, sondern wird das
Licht des Lebens haben."
Die Geschenke aber, die Vater und Mutter unter den Christ-
baum legen, sollen dich erinnern an die Liebe Gottes, von der ge-
schrieben stehet: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen em-
gebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren
werden, sondern das ewige Leben haben."
56. Das Kirchenjahr.
Äas Kirchenjahr beginnt mit dem ersten Advent und endigt mit
dem letzten Sonntage nach dem Feste der Dreieinigkeit. Es zerfällt in
zwei Halsten: die Festzeit und die Trinitatiszeit. Jene enthält drei
Festkreise, den Weihnachts-, Oster- und Pfingstkreis.
Der Weih nachts fest kreis liegt um das Weihnachtsfest herum.
Die Vorbereitungszeit auf Weihnacht sind die vier Adventssonntage.
Advent heißt Ankunft: der Herr kommt, und die Christenheit bereitet
sich auf seine Ankunft. Sie singt:
Wie soll ich dich empfangen.
Und wie begegn' ich dir?
Der 25. December bringt das Weihnachtsfest, das Fest der
Geburt Christi. Da lobsingt die Christenheit: „Ehre sei Gott in der
Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."
Für Nachfeier von Weihnacht gehört zunächst der Sonntag nach
Weihnacht; er ist der Gedächtnißtag des ersten Märtyrers, Stephanus.
Acht Tage nach Weihnacht feiern wir das Fest der Beschneidung
Christi; es ist zugleich der Anfang des bürgerlichen Jahres und wird
daber auch Neujahrsfest genannt. Der Sonntag nach Neujahr heißt
das Epiphanienfest oder das Fest der Erscheinung Christi; es erinnert
daran, daß auch die Heiden in dem Lichte Christi wandeln sollen,
weshalb an diesem Tage die Kirchencollecte für die Heidenmission ge-
schieht. Die nächsten Sonntage heißen Sonntage nach dem Feste
der Erscheinung Christi. Sie alle erinnern daran, wie der Herr seine
Herrlichkeit offenbart hat. Ihre Zahl ist alljährlich verschieden, se
nachdem Ostern früh oder spät eintritt.
Der zweite Festkreis umschließt das Osterfest. Die Vor-
feier von Ostern beginnt neun Wochen vor dem Feste. Die ersten
drei Sonntage derselben heißen: Septuagesimä, Sexagesimä und
Quinquagesimä, d. i. der 70., 60. und 50. Tag*). Die folgenden
Sonntage, welche alle in der Fastenzeit liegen, heißen Fastensonntage.
Es sind ihrer sechs. Der fünfte Fastensonntag ist zugleich das Fest
der Verkündigung Mariä**). Die Woche vor Ostern heißt die stille
Woche; sie hat zwei Festtage, den grünen Donnerstag, an welchem
der Heiland das heilige Abendmahl eingesetzt hat,-und den stillen
Freitag, den Todestag Jesu. Das Osterfest wird am Sonntage nach
dem ersten Frühlingsvollmonde gefeiert und fällt daher in die Zeit
vom 22. März bis zum 25. April. An demselben jubelt die Christen-
heit: „Der,Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein
Stachel? Hölle, wo ist dein'Sieg?" Die Nachfeier des Osterfestes
sind die 40 Tage der Freude, da der Herr sich seinen Jüngern lebendig
zeigte durch mancherlei Erweisungen. Die sechs Sonntage bis zuin
Pfingstfeste heißen die Sonntage nach Ostern***), deren erster auch
der weiße Sonntag genannt wird, weil in der alten Kirche die zu
Ostern getauften Christen bis zu diesem Sonntage ihre weißen Tauf-
kleider trugen. Heutzutage geschieht bei uns an diesem Sonntage die
Confirmation.
Am Donnerstag nach dem fünften Sonntage nach Ostern wird
das Himmelfahrtsfest gefeiert. Mit ihm beginnt die Vorfeier von
Pfingsten. Die neun Tage von Himmelfahrt bis Pfingsten sind die
heilige Wartezeit auf den heiligen Geist. Das Pfingstfest wird
*) Der letzte Sonntag heißt auch Estomihi nach Ps.7I,3: Sei mir ein
starker Fels. Dieser Vers wurde vor alters in der Kirche an diesem Sonntage gesungen.
**) Auch die Fastensonntage staben von den Bibelstücken, welche an denselben
gesungen wurden, lateinische Namen: der erste steißt Jnvocavit nach Ps. 91, 15:
Er hat mich angerufen; der zweite Reminiscere nach Ps. 25, 6: Gedenke,
Herr, an deine Barmherzigkeit; der dritte Oculi nach Ps. 25, 15: Meine Augen
sehen stets zum Herrn; der vierte Latare nach Jes. 66, 10: Freuet euch mit
Jerusalem; der fünstc Judica nach Ps. 43, 1: Nichte mich. Gott, und der sechste
Palm arum nach Mtth. 21, 8.
***) Sie sühren auch die lateinischen Namen Quasimodogeniti nach 1. Petri
2,2 : Seid begierig nach der vernünftigen, lautern Mäch als die jetzt geborenen
Kindlein; Misericordias Domini nach Ps. 33, 5: Ich will singen von der
Gnade des Herrn; Jubilate nach Ps.66,2: Jauchzet Gott, alle Lande; Can.
late nach Ps. 98,1 : Singet dem Herrn ein neues Lied; Rogate nach Mtth. 7, 7:
Bittet, so wird euch gegeben; Exaudi nach Ps. 27, 7: Herr/hore meine Stimme.
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sieben Wochen nach Ostern gefeiert. Es ist das Fest der Ausgießung
des heiligen Geistes. Seine Nachfeier ist das Trinitatisfest oder das
Fest der heiligen Dreieinigkeit, acht Tage nach Pfingsten.
Mit dem Trinitatisfeste beginnt, die Trinitatis zeit; alle
Sonntage derselben werden von dem Trinitatisfeste an gezählt und
heißen der erste, zweite u. s. w. Sonntag nach dem Feste der Drei-
einigkeit. Es sind ihrer, je nachdem Ostern früh oder spät fällt,
22 bis 27.
Auf den 2. Februar fällt das Fest der Darstellung Jesu im
Tempel, auf den 24. Juni das Fest Johannis des Täufers, auf den
2. Juli das Fest der Heimsuchung Mariä und auf den 29. Sep-
tember das Michaelis- oder Engelfest, welches zugleich Erntedankfest
ist; jedes von diesen Festen wird an dem ihm zunächst folgenden
Sonntage gefeiert. Am 20. Sonntage nach dem Feste der Drereinig-
keit feiern wir das Reformationsfest. Außer allen diesen Feiertagen
haben wir noch zwei Buß- und Bettage, den einen am dritten
Mittwoch nach Michaelis, den andern am Mittwoch vor dem vierten
Adventssonntage. An vielen Orten wird auch alljährlich ein Hagel-
feierb ettag gehalten.
Für die meisten dieser Feiertage sind Epistel- und Evangelien-
abschnitte verordnet, über welche in der Kirche gepredigt wird.
Sie sollen uns anleiten, alle Jahre aufs neue das Leben unsers
Erlösers mit zu durchleben. Wo Christenleute das Wort Gottes lieb
haben, pflegt man die Epistel und das Evangelium am Abend vor
dem Feiertage zu lesen. Zu unsrer Väter Zeit gab es der alten und
jungen Leute nicht wenige, welche diese Abschnitte größtentheils aus-
wendig wußten.
57. Suchet in der Schrift.
Wer das Evangelium hat und es hören und lesen kann, der
danke Gott von Herzen dafür und gebrauche des Wortes Gottes
fleißig, weil er es hat.
Ein jeder Christ soll die heilige Schrift fleißig lesen, sonderlich
aber des Morgens, ehe die Sorgen um das zeitliche Gut in das Herz
fallen. Denn wer die Schrift aufthut, der geht in einen Lustgarten
hinein, in welchem allerlei liebliche und wohlriechende Rosen, Lilien
und Nelken stehen, wie kein anderer Garten sie hat. Das sind die
Sprüchlein der heiligen Schrift, von denen das allergeringste theurer zu
achten ist, denn das feinste Gold.
58. Luther an seinen Sohn Johannes.
Gnade und Friede in Christo, mein herzliebes Söhnlein! Ich
sehe gar gern, daß du wohl lernest und fleißig betest. Thue also,
mein Söhnchen, und fahre fort. Wenn ich heim komme, will ich
dir einen schönen Jahrmarkt mitbringen. Ich weiß einen hübschen,
lustigen Garten, da gehen viele Kinder innen, haben güldene Röck-
lein an, und lesen schöne Äpfel auf unter den Bäumen, und Birnen,
Kirschen, Spillinge und Pflaumen, singen, springen und sind ftöhlich,
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haben auch schöne kleine Pferdlein mit güldenen Zäumen und sil-
bernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist, wes
die Kinder wären. Da sprach er: „Es sind die Kinder, die gern
beten, lernen und fromm sind." Da sprach ich: „Lieber Mann, ich
habe auch ein Sohnchen, heißt Hänschen Luther; dürste „der nicht
auch in den Garten kommen, daß er auch solche schöne Apfel und
Birnen essen möchte und solche feine Pferdlein reiten und mit diesen
Kindern spielen?" Da sprach der Mann: „Wenn er gern betet, ler-
net und fromm ist, so soll er in den Garten kommen, Lippus und
Jost auch, und wenn sie alle zusammen kommen, so werden sie auch
Pfeifen, Pauken, Lauten und allerlei Saitenspiel haben, auch tanzen
und mit kleinen Armbrüsten schießen." Und er zeigte mir dort eine
feine Wiese im Garten, zum Tanzen zugerichtet, da hingen eitel gül-
dene Pfeifen, Pauken und silberne Armbrüste; aber es war noch früh,
daß die Kinder noch nicht gegessen hatten, darum konnte ich des Tanzes
nicht erharren und sprach zu dem Manne: „Ach, lieber Herr! ich will
flugs hingehen und das alles meinem lieben Söhnlein Hänschen
schreiben, daß er ja fleißig bete, wohl lerne und fromm sei, auf daß er
auch in diesen Garten komme; aber er hat eine Muhme Lene, die muß
er mitbringen." Da sprach der Mann: „Es soll so sein; gehe hin,
und schreibe ihm also."
Darum, liebes Söhnlein Hänschen, lerne und bete ja getrost,
und sage es Lippus und Josten auch, daß sie auch lernen und beten,
so werdet ihr mit einander in den Garten kommen. Hiermit sei dem
allmächtigen Gott befohlen.
59. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
Zu Tespe im Lüneburgischen lebte ein achtzigjähriger armer
Mann, Georg Bergmann, mit seiner noch einige Jahre älteren Frau
in elender Hütte. Diese und ein kleiner Garten war alles, was er
erhalten konnte. Mancherlei Unglücksfälle hatten ihn in diese Armuth
gestürzt, obschon er mit allem Fleiß und aller Sparsamkeit sein Brot
zu erwerben und zu bewahren gesucht hatte. Das Alter hatte ihm
fast das Augenlicht genommen und seine Frau ganz blöde gemacht.
Da entstand Feuer zu Tespe, und in wenigen Augenblicken war die
Hütte mit der ganzen kleinen Habe dieser betagten Eheleute ein.Raub
desselben geworden. Kaum hörte Dorothea, ihre einzige Tochter, die,
um ihr Brot sich zu erwerben, in der Ferne dienen mußte, von dem
Unglücke ihrer Eltern, so bat sie um die Entlassung aus ihrem Dienste,
welche ihr,wegen ihrer Brauchbarkeit nur ungern gewährt wurde,
und eilte ihrer Heimat zu. Sie fand ihre alten Eltern jämmerlich
in einer Scheuer liegen. Sogleich sorgte sie, daß sie in ein Haus
gebracht wurden, und versprach für sie zu zahlen. Durch Fleiß und
Sparsamkeit hatte sie sich etwas Geld und Kleidungsstücke erworben;
davon wurden einstweilen die dringendsten Bedürfnisse befriedigt.
Allein bald war dieser geringe Vorrath verzehrt. Da wandte sie
mit der äußersten Anstrengung jeden Augenblick, den sie von der
Pflege ihrer Eltern erübrigen konnte, zur Arbeit an, und mit Gottes
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Hülfe gelang es ihr, soviel zu verdienen, daß sie den Hunger der-
selben stillen konnte. Um aber den Kranken dann und wann etwas
Weißbrot oder andere Erquickungen zu verschaffen, veräußerte sie alles,
was sie einigermaßen entbehren konnte; selbst ihre Schuhe und
Strümpfe verkaufte sie und ging barfuß. Bald wurde jedoch die
Armuth der Abgebrannten und die kindliche Liebe der Tochter bekannt.
Es wurden öffentliche Sammlungen veranstaltet; die Landesregierung
gewährte eine Unterstützung, und so kamen solche Beiträge zusammen,
daß ein neues, freundliches Haus, mit den nöthigen Bedürfnissen
versehen, dieser bedrängten Familie als Eigenthum übergeben werden
konnte. Ergreifend war es, die greisen Eltern mit schwacher, stam-
melnder Zunge Gott danken und preisen zu hören. Die Tochter be-
schloß, ihre Eltern bis zu deren Tode nicht zu verlassen. Kurze Zeit
erst war das neue Haus bezogen worden, da erkrankten die Eltern
an der Ruhr, die in der Umgegend viele hinraffte. Auch jetzt wich
Dorothea nicht von ihrem Bette, vergaß die eigene Gefahr und Pflegte
die Sterbenden mit aller Treue und Geduld. An dem Tage aber, als
die Leichen der geliebten Eltern zur Erde bestattet wurden, ward sie
von der nemlichen Krankheit befallen. Nach einigen schmerzvollen
Wochen unterlag auch sie derselben, um jenseits denLohn ihrer kind-
lichen Liebe zu ernten.
Illternlegen ist Gottessegen.
60. Der Landmann.
Ein König ritt einst spazieren und erblickte eimn alten Bauern,
der neben der Straße fröhlich singend seinen Acker pflügte. „Du
mußts gut haben, Alter," sagte der König, „gehört der Acker dir,
auf dem du so fleißig arbeitest?" „Nein, Herr," antwortete der Bauer,
welcher den König nicht kannte, „so reich bin ich nicht; ich Pflüge
um Lohn." „Wie viel verdienst du da täglich?" fragte der König
weiter. „Acht Groschen!" antwortete der "Bauer. „Das ist nicht
viel," sagte der König, „kannst du denn damit auskommen?" „Aus-
kommen?" erwiderte der Bauer, „das muß noch weiter reichen." „Wie
so das?" Der Bauer lächelte und sagte: „Nun, wenn ihr es gerade
wissen wollt: zwei Groschen sind zum Auskommen für mich und mein
Weib; mit zweien bezahle ich alte Schulden, zwei leihe ich aus und
zwei verschenke ich um Gottes willen." „Das ist ein Räthsel," er-
widerte der König, „das kann ich nicht lösen." „Nun", entgegnete der
Bauer, „so will ichs thun. Ich habe zu Hause noch zwei alte Eltern,
die haben mich einst ernährt, als ich schwach war; nun sie schwach
sind, muß ich sie ernähren; das ist die Schuld, die ich zu zahlen habe,
und darauf wende ich täglich zwei Groschen. Das dritte Paar
Groschen, die ich ausleihe, wende ich auf meine Kinder, damit sie
etwas Gutes lernen und christlich unterwiesen werden; das soll mir
und meinem Weibe einst zu gute kommen, wenn wir alt sind. Mit
den beiden letzten Groschen erhalte ich zwei kränkliche Schwestern, die
ich gerade nicht zu versorgen hätte; diese verschenke ich also um Gottes
willen."
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Der König, welchem die Antwort sehr wohl gefiel, sagte: „Brav,
Alter, nun will ich dir auch etwas zu rathen geben. Hast du mich
schon einmal gesehen?" „Niemals," sagte der Bauer. „Ehe fünf
Minuten vergehen, sollst du mich funfzigmal sehen und alle sunfzig
meinesgleichen in der Tasche heimtragen." „Das ist ein Räthsel,"
sagte der Bauer, „das kann ich nicht lösen." „Nun, so will ichs
thun," erwiderte der König, griff in die Tasche und zählte ihm sunfzig
nagelneue Goldstücke in die Hand, auf deren jedem sein Bildniß ge-
prägt war, und sagte zu dein erstaunten Bauern, der nicht wußte, wie
ihm geschah: „Die Münze ist gut, denn sie kommt dir von unserm
Herrgott, und ich bin sein Zahlmeister."
Liebe hat ein gut Gedächtniß. Undank ist der Welt Lohn.
61. Geschwisterliebe.
Eine sehr reiche Ernte sollte vor Jahren bei Halberstadt ein-
gebracht werden; aber es fehlte an hinreichenden Arbeitern. Des-
halb zogen aus der Nachbarschaft viele Landleute, als ihre eigene
geringe Ernte vorbei war, dahin, um sich etwas zu verdienen. So
kamen zu dem Herrn eines Dorfes zwei kräftige Burschen, boten ihre
Dienste auf vier Wochen an und verlangten dafür fünfzehn Thaler.
„Warum denn gerade fünfzehn Thaler?" fragte jener Herr; „hier
zu Lande giebt man nicht so viel. Und überdies werdet ihr ja doch
wohl auch die freie Kost noch haben wollen?" „Ja!" antworteten
die Burschen; „allein wir brauchen geradesoviel, wollen aber dafür
treu und tüchtig arbeiten! Unser Bruder, welcher ein Handwerker
ist, möchte gern Meister werden und braucht dazu fünfzehn Thaler.
Unsere Ernte war so schlecht, daß unser Vater selbst um Tagelohu
arbeiten muß; darum wollen wir unserm Bruder die fünfzehn Thaler
verdienen!" „Nun, ich werde sehen, wie ihr arbeitet, und hiernach
werde ich den Lohn bestimmen!" sprach der Herr, und die Bauerburschen
waren damit zufrieden.
Des Morgens waren sie nun die ersten und des Abends die
letzten auf dem Felde. Kamen fie nach Haus zurück, so verrichteten fie
auch wohl, wenn andere schon schliefen, noch allerlei nöthige Arbeit
im Hofe. Als nun die vier Wochen zu Ende waren, ließ sie jener
Herr rufen, zählte ihnen fünfzehn Thaler hin und sprach: „Hier ist
das verlangte Geld für euern Bruder! Und hier" — er legte ein
Zehnthalerstück bei — „habt ihr noch etwas für euern alten Vater!
Sagt ihm, daß ich ihm Glück wünsche zu so wackerm Söhnen, und
daß er immer zu mir kommen möge, wenn ich ihm mit irgend etwas
dienen könne!"
62. Von den mancherlei Ständen.
können nicht alle Fürsten, Grafen, Prediger, Edelleute
Bürger, Männer, Frauen, Herren, Knechte sein; sondern es müssen
mancherlei Stände untereinander gehen, und ein jeglicher hat genug
zu thun in seinem Stande. Alle sollen und können wir nicht oben
oder unten sitzen. Und muß der Unterschied sein, von Gott also
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geordnet, daß, der in höherem Stande ist, auch höher sitze, denn die
andern; und soll ja nicht sein, daß sich ein Graf über den Fürsten, der
Knecht über den Herrn setze. Also muß auch ein Unterschied sein unter
andern Ständen, Bürgern, Bauern u. s. w.
Darum hat unter den Christen niemand zu klagen, daß er arm
oder geringes Standes sei. Lieber, hast du nicht so viel als ein
König oder Landesherr, goldene Krone, Gewalt, Gut, Ehre, so hast
du doch denselben Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, densel-
ben Christum, Taufe, und sein ganzes Himmelreich: wie St. Paulus
von den Christen sagt, daß sie nichts inne haben und doch alles
haben; denn alles ist euer, spricht er 1. Kor. 3, 22. 23, ihr aber seid
Christi, Christus aber ist Gottes. Darum bist du unter diesem Herrn
reich und selig genug, daß auch kein Kaiser mehr kann haben, weder
du. Allein, bleib in deinem Stande und sei zufrieden, du sitzest oben-
oder untenan.
Obwohl die Personen in großen und geringen Ständen vor
Gott gleich sind und alles einerlei haben, einen Herrn, einen Glau-
ben, eine Taufe u. s. w., so lautets doch und gilt auch nichts, daß
der Ackerknecht hinter dem Pfluge oder eine Dienstmagd im Hause
wollte herfahren und sagen zu Herren und Frauen: „Ich bin vor
Gott so edel und so gut, wie du; darum darf ich dir nicht Unter-
than .sein, noch gehorchen." Wie es jetzt leider auch gar überhand
genommen, daß auch die untern Stände die obern wollen überpochen,
als die Knechte und Mägde ihre Hausherren und Frauen, mit allem
Muthwillen, sonderlich wo sie sehen, daß man ihrer bedarf. Das
stehet auch keinem Christen zu; denn es ist auch eben wider Christi
Regel und Lehre.
Ein jeder Stand hat feinen Frieden und seine Last.
63. Die Obrigkeit.
Es muß Obrigkeit in der Welt sein, damit Recht und Ord-
nung Erhalten werde. Denn was meinst du, würde aus einem Lande
werden, wo keine Obrigkeit wäre? Sie würden sich allesammt
die Hälse brechen, und wer den andern vermöchte, der träte ihn mit
Füßen. Obrigkeit ist eine göttliche Ordnung. Und durch diese gött-
liche Ordnung erhält Gott zeitlichen Frieden und alles, was unter der
Sonne geschieht. Wo die Obrigkeit aufgehoben wird, so werden die
ärgsten Buben regieren, die nicht werth sind, daß sie die Schüssel
sollten waschen. Ein guter Fürst ist nicht mit Geld zu bezahlen, und
ist nicht genug dafür zu danken. Und Summa, nach dem Evangelio
ist auf Erden kein besser Kleinod, kein größerer Schatz, kein reicher
Almosen, kein schöner Stift, kein feiner Gut, denn christliche Obrigkeit,
die das Recht schaffet und hält den Gottesfürchtigen und steuert
den Gottlosen, die den elenden Waisen und Witwen zum Recht hilft
und ihre Sache fördert, die da schützt und schirmt wider Frevel und
Gewalt, und Frieden schafft. Was kann in diesem Lehen Edleres
und Herrlicheres sein, denn daß man fromme Obrigkeit habe, und
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daß auch die Unterthanen ihre Fürsten und Regenten lieb und werth
halten? Wo es also zugehet, da ist wahrhaft das rechte Paradies,
und hat Gott daselbst verheißen, seinen Segen zu geben. Wenn
aber die Obrigkeit blind und böse und das Volk auch böse und un-
bändig ist und sich nicht will zwingen und regieren lassen, da muß alles
Unglück sein.
. Die Unterthanen sollen fleißig für die Obrigkeit beten, auf daß
Gott sie nicht irren noch fallen lasse, sondern daß er ihr Herz also
regiere, daß sie ihr Amt recht ausführe und ausrichte. Denn ob
wir gleich aller Güter von Gott die Fülle haben überkommen, so
können wir doch dessclbigen keins behalten, noch sicher und fröhlich
brauchen, wo er uns nicht ein beständig, friedlich Regiment gäbe.
— Unterthanen sollen ferner ihren Fürsten den schuldigen Gehorsam
leisten und treulich dienen: dann werden sie einen gnädigen Gott,
ein friedsam Herz und einen Herrn haben, der sie segnet. Sie sollen
ihnen Steuer und Zoll geben als den Engeln des Friedens, die
uns schützen und für uns wachen. Oder meinst du, daß man dir
umsonst dazu dienen müsse, daß du in dieser oder jener Stadt
wohnest, des Friedens, Rathhauses und der Kirche ohne deine Un-
kosten brauchst? Kostet es denn nichts, Leute und Städte in Friede
und Ordnung zu erhalten, davon du doch auch Ruhe und Gebrauch
hast? — Wenn du Mängel siehst an der Obrigkeit, so rase und
tobe nicht dawider, wie der gemeine Pöbel zu thun pflegt, sondern
lerne, daß du sie geduldig leidest und zu gute halten könnest; son-
derlich, so die, welche regieren, fromme Leute sind, nicht mit Willen
Unrecht thun, sondern gern allem Schaden rathen wollten, und es
doch nirgend fortbringen könnten. Derselbigen sollen wir schonen,
nicht schelten, noch verfolgen. Kannst du zu deinen Lastern stille
schweigen und sie zudecken', warum siehst du nicht auch durch die
Finger, wenn du der Regenten Laster siehst; so du doch solches von
wegen Gottes Gebots schuldig bist? Durchleset alle Historien, so
werdet ihr finden, daß alle Regenten einen Mangel gehabt haben.
Es ist hier keiner, der nicht oftmals Unrecht gethan hätte. Auch ist
es kein Wunder, daß die Leute in der Landregierung irren und Un-
recht thun; denn es ist ja in diesem Leben kein schwerer Werk, denn
Land und Leute regieren. Siehe deine Haushaltung recht an, ob
dein Weib, Kind, Knecht, Magd alles so ausrichten, wie du es ihnen
zu thun recht befohlen hast. Summa, Unrecht leiden verderbt nie-
manden an der Seelen, ja es bessert die Seelen ob es wohl ab-
nimmt dem Leib und Gut; aber Unrecht thun, das verderbt die
Seele, ob es gleich aller Welt Gut zutrüge.
64. Graf Eberhard im Bart.
1. Zu Aachen saßen die Fürsten beim Mahle froh geschart.
Und rühmten ihre Lande ein jeder nach seiner Art;
Der Markgraf seine Quellen, der Pfalzgraf seinen Wein,
Der Böhme seine Gruben mit Gold und Edelgestein.
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2 Graf Eberhard saß schweigend. „Nun, Würtemberg, sagt an.
Was man von eucrm Lande wohl Köstlichs sagen kann!"
„Von köstlichen Brunnen und Weinen," Graf Eberhard begann,
„Von Gold und Edelsteinen ich nicht viel rühmen kann.
3. Doch war ich einst verirret im dicksten Wald allein.
Und unterm Sternenhimmel schlief ich ermattet ein.
Da war es mir im Traume, als ob ich gestorben wär;
Es brannten die Trauerlampen in der Todtengruft uncher.
4. Und Männer standen und Frauen tief trauernd um meine Bahr,
Und weinten stille Thränen, daß ich gestorben war.
Da fiel aufs Herz mir nieder ein Tropfen heiß und groß, —
Und ich erwacht, — und ruhte in eines Bauern Schooß.
5. Vom Holzhau wollt er gehen spät abends heimatwärts.
Und mein Nachtlager wurde ein würtembergisch Herz."
Die Fürsten saßen und horchten verwundert des Grafen Mär,
Und ließen höchlich leben des Würtembergcrs Ehr.
65. Untreue schlägt ihren eignen Herrn.
l. Der Knecht hat erstochen den
edeln Herrn;
Der Knecht wär selber der Ritter gern.
4. Und als er sprengen will über
die Brück,
DastutzetdasNoß und bäumtsich zurück.
2. Er hat ihn erstochen im dunkeln
Hain
Und den Leib versenket im tiefen Rhein.
5. Und als er die güldnen Sporen
ihm gab.
Da schleuderts ihn wild in den Strom
hinab.
3. Hat angeleget die Rüstung blank.
Auf des Herren Roß sich geschwungen
frank.
6. Mit Arm, mit Fuß er rudert
und ringt;
Der schwere Panzer ihn niederzwingt,
66. Herrschaften und Dienstboten.
knechte und Mägde sollen zusehen, daß sie ihren Herren und
Frauen nicht allein gehorsam seien, sondern sie auch in Ehren hal-
ten, wie ihre Väter und Mütter, nicht aus Zwang und Widerwillen,
sondern mit Lust und Freuden, weil es Gottes Gebot ist und ihm
wohlgefällt. In solchem Stande können sie ein recht fröhliches Ge-
wissen haben und lauter güldene Werke thun, die besser sind, als
alle eingebildete Heiligkeit. Welch ein edler Beruf, in welchem du
die Zusage hast, daß dirs zu allem Guten gedeihen, dir darin wohl-
gehen soll! Du hast da alles Gut, Schutz und Schirm unter dem
Herrn, ein fröhliches Gewissen, einen gnädigen Gott, der dirs. hun-
dertfältig vergelten will, und bist in deinem Stande gar hoch und
groß, wenn du nur fromm und gehorsam bist. Wo aber nicht, so
haft du eitel Ungnade und Zorn von Gott, keinen Frieden im Her-
zen. darnach allerlei Plage und Unglück. Bedenke, daß Gott mit
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dir redet und Gehorsam fordert. Gehorchst du ihm, so bist du ihm ein
liebes Kind; verachtest du es aber, so hast du Jammer, Schande und
Herzeleid zum Lohn.
Mancher Knecht und manche Magd hat einen guten Diest bei ehr-
lichen, frommen Leuten, die nicht gern Unzucht und Leichtfertigkeit an
den Ihren sehen oder leiden wollen. Aber da kommt nun hier einer
und da einer und spricht: „Wie lässest du dich so einsperren und so
hart halten? Du könntest es wohl besser haben, könntest an einem Orte
sein, da du mehr Lust hättest, nicht so hart arbeiten müßtest und bessere
Tage hättest." Mit solchen Worten ist ein guter, einfältiger Mensch
bald beredet, denkt nicht, daß mans übel mit ihm meine, ja hält solche
honigsüße Mäuler für gute Freunde, so ste doch die ärgsten Feinde
sind. Denn einem jungen Menschen ist nichts schädlicher, denn so man
ihm seinen Willen läßt und nicht immerdar anhält und treibt zur Zucht
und Arbeit.
Es ist wahrlich im Hausregimente eine große, treffliche Gabe, wo
man einen getreuen Knecht oder Magd haben mag. — Die Herren
sollen sich gegen ihre Knechte nicht als Tyrannen stellen; denn es ist
unmöglich, daß ein Knecht oder Magd nicht zuweilen etwas versehe,
zu wenig oder zu viel thue. Darum muß man einem frommen Knechte
viel zu gute halten. Denn so die Knechte ihren Herren Gehorsam
und Ehrerbietung zu leisten schuldig sind, so sind auch wiederum die
Herren den Knechten schuldig, Güte und Gelindigkeit zu beweisen.
Eph. 6, 9.
67. Der fromme Knecht.
1. Ein frommer Knecht zu dieser Frist
Ein Wunderthier auf Erden ist.
Er fürchtet Gott, und glaubet frei.
Daß er im Dienst des Höchsten sei.
Deshalb hat er vor Gott stets Scheu,
Ist seinem lieben Herrn getreu.
Und lebt, so lang er hier muß wallen,
Zum Nutzen ihm und Wohlgefallen.
3. Er saufet sich auch niemals voll,
Bedenket seine Worte wohl;
Man hört nie, daß er schilt und flucht.
Denn er halt stets auf Ehr und Zucht.
Dazu ist er auch fein verschwiegen
Und mag die Herrschaft nie belügen.
Er nimmt fürlieb mit Speis und Trank,
Empfängt den Lohn mit warmem Dank.
2. Er thut die Arbeit ohn Geheiß
Mit Ernst und einem solchen Fleiß,
Als ob die Sachen seines Herrn
In allen Punkten seine wär'n.
Zum Fleiße treibt an jedem Ort
Er auch die andern Knechte fort.
Und gibt der Herrschaft gleich Bericht,
Wo Schad und Unrecht ihr geschicht.
Treue bat Lrot, Untrere
durchs ganze Land. Ehrlich >
4. Ein solcher Knecht und ftommer
Held,
Der seine Arbeit wohl bestellt
Und auf den Herrn wohl Achtung gibt.
Wird allenthalben sehr geliebt.
Ein jeder ist ihm wohlgeneigt.
Ihm Fördrung, Gunst und Ehr erzeigt
Mit Worten, Werken und mit Gaben,
So daß er nie darf Mangel haben.
hat Hoth. Treue Hand geht
rührt am längsten.
40
68. Dienertreue.
Ein reicher Herr in Polen fuhr zur Winterzeit in einem Schlitten
nach dem Städtlein Ostrowo, nur von seinem Knecht Jakob beglei-
tet, der dem Schlitten vorreiten mußte. Ehe sie die Stadt erreichten,
mußten sie zuvor durch einen langen, einsamen Wald, und es war
bereits Abend. Der Knecht schlug daher dem Herrn vor, in einer
Herberge, die am Eingänge des Waldes lag, zu übernachten; denn
im Walde seien viele Wölfe, und die Unthiere seien wegen des
harten Winters gar grimmig. Der Herr war aber einer von den
wunderlichen, von denen, die einen guten Rath, wenn er von einem
Knechte kommt, nicht annehmen mögen. Er fuhr ihn an und schrie:
er werde wohl des Reitens überdrüssig sein; aber er werde nichts
darnach fragen, sie müßten noch nach Ostrowo, es möge gehen, wie
es wolle. Und so gings vorwärts, was die Pferde laufen konnten.
Kaum aber sind sie eine Strecke im Walde, so hört der Herr hinter
sich ein lautes Heulen, und als er sich umwendet, sieht er die Wölfe
in Rudeln hinter dem Schlitten daherjagen und die vordersten schon
ganz nahe. „Jakob, Jakob!" ruft er, „die Wölfe, die Wölfe!"
Der treue Jakob erwidert kein Wort, sondern läßt ruhig den Herrn
vorausfahren, reitet zwischen dem Schlitten und den Wölfen, zieht
seine Pistolen und schießt von Zeit zu Zeit unter sie. Damit schreckt
er eine Weile die Bestien. Endlich aber hat er kein Pulver mehr,
und als sie nun an den Schlitten heranstürzen, sagt er: „Herr, ich
muß meinen armen Braunen opfern und sehen, daß ich zu euch auf
den Schlitten komme, sonst ist alles verloren." — „Thue, wie du
willst", sagte der Herr, und im Augenblick war der Jakob vom
Pferde und auf den Schlitten gesprungen und hielt sein Pferd am
Zaum fest, bis die Wölfe herankamen, dann überließ ers Ihnen zur
Beute. Es schien, als sollten sie dadurch einen Vorsprung gewinnen;
aber nicht lange, so war ein Theil der Wölfe wieder heulend hinter
ihnen her, und einige schickten sich an, in den Schlitten zuspringen,
und der Edelmann gab sich nun verloren. Da sagte Jakob: „Herr,
nun will ich in Gottes Namen auch das letzte noch für euch thun.
Dort sind schon die Lichter von Ostrowo, und ihr könnt das Städt-
lein erreichen, wenn ich nur auf ein paar Minuten die Bestien euch
vom Halse halte. Sorgt für mein Weib und meine Kinder; lebt
wohl, und denkt manchmal an den armen Jakob!" Damit zog er
den Säbel, sprang aus dem Schlitten und stürzte sich mitten unter
die Wölfe. Diese stutzten, fielen ihn aber dann wüthend an und
übermannten ihn endlich. Sein Herr aber war mittlerweile unver-
sehrt entkommen. Schnell nahm er Leute mit sich und eilte in den
Wald zurück. Aber er fand nichts mehr, als die Gebeine seines
treuen Knechtes; die sammelte er und ließ sie begraben. Das Weib
und die Kinder aber versorgte er väterlich und wurde allen seinen
Dienern ein freundlicher, gütiger Herr, beklagte es auch oft mit Thrä-
nen, daß er nicht ohne bittere Reue an seinen treuen Knecht gedenken
konnte.
47
69. Die fromme Magd.
1. Die fromme Magd von rechtem
Stand
Geht ihrer Frauen fein zur Hand,
Hält Schüssel, Tisch und Teller weiß
Zu ihrem und der Frauen Preis.
3. Sie ist stets munter, hurtig, frisch.
Vollbringet ihr Geschäfte risch.
Und hälts der Frauen wohl zu gut.
Wenn sie um Schaden reden thut.
2. Sie tragt und bringt nicht neue
Mär,
Geht still in ihrer Arbeit her,
Ist treu und eines keuschen Muths
Und thut den Kindern alles Guts.
4. Sie hat dazu ein fein Gebärd,
Hält'alles sauber an dem Herd,
Verwahrt das Feuer und das Licht,
Und schlummert in der Kirche nicht.
76. Die Großmutter entläßt ihren Enkel zur Wanderschaft.
Äie Großmutter führte ihren lieben Jakob, als sie gegessen
hatten-, in die Kammer, in welcher an der Wand die Felleisen hin-
gen; auf dem Tische stand das neue, drum herum lag, was ein-
gepackt werden sollte. Als alte Frau Meisterin und viel erfahren
in solchen Dingen, packte sie das Felleisen, damit er lerne, wie der
Platz am besten benutzt, die Kleider am meisten geschont, die Last
am leichtesten getragen werde. Als es gepackt und zugeschnallt
war, legte sie die Hand auf dasselbe und sprach: „Sieh, liebes
Kind, dort an der Wand hangen drei Felleisen; deine Väter trugen
sie mit Ehren durch die Welt, brachten mit Ehren sie heim und be-
wahrten sie in Ehren zum Gedenken für Kinder und Kindeskinder.
Sieh, hier ist dein Felleisen, das vierte soll es werden in der Reihe;
dort steckt in der Wand bereits die Schraube, an welcher es hangen
soll. Wahre nun dasselbe in Ehren und bringe es heim, wie deine
Väter, zum Gedenken deiner Kinder und Kindeskinder. So lange
du ein Felleisen trägst, bist du ein ehrenwerther Geselle; trägst du die
Trümmer deiner Habe in einem Tuche umher, dann bist du ein Vaga-
bund und Bettler, und vor solchem Zustande möge Gott dich bewahren.
Was deine Väter vor diesem Zustande bewahrte, das möge auch
dich davor bewahren. Vergiß des Morgens und des Abends das
Beten nicht; schaffe sechs Tage im Schweiße dein Brot, den siebenten
aber heilige deinem Schöpfer. So du Arbeit findest, verschmähe
sie nicht; ein Geselle, der Arbeit verschmäht, ist wie ein Bettler, der
Brot neben die Straße wirft. Die kleinste Arbeit schaffe, als sei
sie dein Meisterstück, rasch und gut; ehre den Meister und die
Meisterin; meide Spiel und Trunk; sorge, daß, wo du gewesen,
du wieder hindarfst, daß nie Flüche dich verfolgen, der Segen
frommer Menschen dein Geleite ist." — So sprach langsam und in
Absätzen die Großmutter; das Herz des jungen Gesellen ward guter
Vorsätze voll. Darauf faltete die Großmutter die Hände und betete:
„Auch du, mein Herr und mein Gott, sei mit meinem Kinde auf
allen seinen Wegen und Stegen; drücke du am Abend ihm die
Augen zu, am Morgen wecke ou es wieder; in deine Hände befehle
ich es mit Leib und Seele. Führe uns wieder zusammen, o Herr, *
*
48
mein Gott, wenn nicht auf Erden, doch im Himmelreich und dann in
alle Ewigkeit. Amen."
Als die Töne des Gebets verklungen waren in ihrem H^M,
küßte die Großmutter ihren Enkel, und ihre Stimme bebte, als sie
zu ihm sagte: „Gute Nacht, liebes Kind; vergiß Gott nicht und auch
mich nicht, so sehen wir uns einmal wieder, hier oder dort." Jakob
aber weinte laut, und wie ein liebes, gutes Kind hing er am Halse der
Großmutter.
71. Der Ackerbau ist ein göttlich Werk.
Äckerban ist ein göttlich Werk, das Gott befohlen/hat, und
der Bauern Arbeit ist die fröhlichste und voller Hoffnung; denn
Pflügen, Säen, Pflanzen, Pfropfen, Abmähen, DrescherWbolzhauen,
das hat alles große Hoffnung. O wie selig wären die BarMr, wenn
sie ihr Gutes erkenneten!
Große Herren und Fürsten haben große, wichtige Sachen und
Händel zu verrichten, müssen deshalb mehr Sorge und Gefahr haben;
aber Bauern haben dagegen gute Tage, sind sicher und sorgen nicht viel,
noch kümmern sie sich um Staatshändel.
Wenn ein Bauer die Fährlichkeit und Mühe eines Fürsten wüßte,
er würde Gott danken, daß er ein Bauer ist und in dem seligsten
und sichersten Stande; aber sie sehen und erkennen ihr Glückend
Wohlfahrt nicht, sehen nur aus den äußerlichen Schmuck und Gepränge
der Fürsten, als: daß sie hübsch gekleidet sind, mit goldenen Ketten
behängen, haben große Schlösser und Häuser, leben herrlich, sind reich
und gewaltig; sie sehen aber mcht die große Sorge und Gefahr, darin
Fürsten leben wie in einem Feuer, da em Bauer hinterm Ofen liegt,
brät Birnen und ist sicher.
72. Die Kartoffel.
Dieses nützliche Gewächs kam erst vor etlichen hundert Jah-
ren aus Amerika zu uns. Und zwar zuerst nach Italien, dann
nach England, wo übrigens die Kartoffeln anfangs nur als Selten-
heit in einzelnen Gärten gebaut wurden. Denn fast hätte sie der
Freund von Franz Drake, dem dieser aus Amerika Kartoffeln zur
Aussaat schickte, und dazu schrieb, die Frucht dieses Gewächses sei
so trefflich und nahrhaft, daß er ihren Anbau für sein Vaterland
für höchst nützlich halte, aus seinem Garten wieder herausreißen
und wegwerfen lassen. Denn er dachte, Franz Drake habe mit dem
Worte Frucht die Samenknollen gemeint, die oben am Kraute
hangen. Da es nun Herbst war, und die Samenknollen waren
gelb, lud er eine Menge vornehmer Herren zu einem Gastmahle
ein, wobei es hoch herging. Am Ende kam auch eine zugedeckte
Schüssel, und der Hausherr stand auf und hielt eine schöne Rede
an die Gäste, worin er diesen sagte, er habe hier die Ehw, ihnen
eine Frucht mitzutheilen, wozu er den Samen von seinem Freunde,
dem berühmten Drake, mit der Versicherung erhalten hätte, daß ihr
Anbau für England höchst wichtig werden könne. Die Herren koste-
49
ten nun die Frucht, die in Butter gebacken und mit Zucker und
Zimmt bestreut war; aber ste schmeckte abscheulich, und es war nur
schade um den Zucker. Darauf urtheilten alle, die Fmcht könne
für Amerika gut sein, aber in England werde ste nicht reif. Da
ließ denn der Gutsherr einige Zeit nachher die Kartoffelgewächse
herausreißen und wollte sie wegwerfen lassen. Aber eines Morgens
im Herbste ging er durch seinen Garten und sah in der Asche eines
Feuers, das sich der Gärtner angemacht hatte, schwarze, runde Knol-
len liegen. Er zertrat einen, und sieh, der duftete so lieblich, wie
eine gebratene Kartoffel. Er fragte den Gärtner, was das für
Knollen wären? und der sagte ihm, daß ste unten an der Wurzel
des fremden amerikanischen Gewächses gehangen hätten. Nun ging
dem Herrn das rechte Licht auf. Er ließ die Knollen sammeln, zu-
bereiten und lud dann die vornehmen Herren wieder zu Gaste, wo-
bei er wohl wieder eine Rede gehalten haben mag, von welcher
der Inhalt der gewesen sein wird: daß der Mensch, wenn er bloß nach
dem urtheilt, was an der Oberfläche ist, und nicht auch tiefer gräbt,
manchmal gar sehr irren kann.
73. Vier Regeln für den Hausstand.
1. Äete und arbeite! Bete! heißts zuerst. Das ist der
Morgensegen und der Tagessegen und der Abendsegen. Wo das
Gebet das Tagewerk beginnt, fortsetzt und endet, da hilft Gott
arbeiten. Es geht frisch und freudig von der Hand mrd gibt em
ordentlich Stück. Da ist das „Arbeite!" keine Last und Bürde,
sondern eine Lust und Würde. So lege ich das Sprüchlein aus:
„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott." Und das Sprichwort: „Hand-
werk hat einen goldenen Boden", sagt mir auch nicht: es bringt
Geld ein; sondern der goldene Boden ist die wahre Frömmigkeit
des Herzens, auf dem das Handwerk ruhen muß; dann aber nährt es
seinen Mann und die ganze Haushaltung mit.
Das Beten allein thuts nicht; aber das Arbeiten ohne Beten thuts
gar nicht, denn dem fehlt der Segen Gottes. Drum beides zusammen
und nie getrennt, das ist das Rechte und Echte. Die Alten wußten
recht gut aus Erfahrung, warum sie das Morgengebet „Morgen-
segen" und das Abendgebet „Abendsegen" nannten. Probiers nur ein-
mal recht. Du lernst dann auch, warum es so heißt.
2. Halt zu Rath früh und spat, so jeder etwas
übrig hat! Das reicht dem ersten die Hand, und wächst aus ihm
heraus wie der Keim aus dem Samen. Was man mit Gebet und
Arbeit ehrlich und treu erworben hat, das bleibt dann im Hause und
wandert nicht mit Saus und Braus ins Wirtshaus oder mit Seuf-
zen ins Leihhaus.
3. Klein, und rein! Klein, das will sagen: einfach, be-
scheiden, demüthig. Rein, das will sagen: frei von Unrecht und
ohne Schulden. Am Hochmuth und am Borgen gehen gar viele
zu Grunde. Sie wollen Herren sein, sich dienen lassen, aber nicht
dienen. -Das Borgen ist ein Unglück; leider ists nicht gut zu ver-
3
50
meiden, wenigstens nicht immer und überall. Gar zu leicht ge-
wöhnt man sich daran. „Hol; im Wald und Schulden wachsen
alle Tage," sagt ein liederlich Sprichwort. Laßt ihr das Holz
wachsen; das ist ein Segen Gottes, Wenns wächst. Aber eure Schul-
den laßt nicht wachsen; denn sie'machen euch bankerott. Anfangen
ohne Schulden ist ein großer Segen; fortsetzen ohne Schulden ist ein
noch arößerer; endigen ohne Schulden ist der größte. Aber ich habe
auch Leute gekannt, die mit Schulden ansingen', und das wurde auch
zum Segen; denn sie strebten, dieselben zu bezahlen, weil sie die Qual
der Schulden fühlten, und hüteten sich vor neuen.
4. Behalte die Freude im Hause! Das klingt seltsam,
und doch ists gar viel werth. Es ist keine Freude erquickender, als
die, an welcher Frau und Kinder theilnehmen. Auch der Handwerks-
mann und der treue Arbeiter soll und muß seinen fröhlichen Tag ein-
mal haben, aber nur keinen blauen Montag. Wenn man am Sonn-
tag in der Kirche gewesen ist, gebetet und in Gottes Wort gelesen hat,
so ist der Nachmittag nicht entweiht, wenn der Hausvater sich mit
Frau und Kindern eine unschuldige Freude gönnt im Hause oder durch
einen Gang ins Freie. Geht er aber allein ins Wirtshaus, so trägt
er die Freude aus dem Hause fort.
Morgenstunde hat Gold im Munde. Abends wird der
Faule fleißig. Aufschub ist ein Tagedieb. Ein schlafender
Fuchs fängt kein Huhn. Wenn die Gelegenheit grüßt, muß
man ihr danken. Man muß das Eisen schmieden, wenn es
warm ist. Eine Stunde Verzug bringt oft ein Jahr Aufschub.
Müßiggang ist aller Laster Anfang. Nach der Arbeit ist gut
ruhen. Der lange Tag hat auch seinen Abend. Gut Ding
will Weile haben. Eile mit Weile. Alles zu seiner Zeit. Was
deines Amts nicht ist, da laß deinen Vorwitz
Ordnung hilft haushalten. Spare in der Zeit, so hast du
in der Noth. Mancher sucht einen Pfennig und verbrennt drei
Lichte dabei. Junges Blut, spar dein Gut; Armuth im Alter
wehe thut. Man kann auch einen Brunnen ausschöpfen. Junge
Schlemmer, alte Bettler. Hunger ist der beste Koch. Man ißt,
um zu leben, und lebt nicht, um zu essen. Die Kart und die
Kanne machen zum armen Manne. Ein Spiel Karten ist des
Teufels Gebetbuch. Der schlimmste Tag ist der blaue Montag.
Viel zehren und gasten leert Beutel und Kasten. Sammt und
Seide löschen das Feuer auf dem Herde aus. Rein und ganz,
des Armen Glanz. Rein ist besser, als fein. Man kann am
Neste sehen, was für ein Vogel darin ist. Den Vogel kennt
man an den Federn.
Borgen macht Sorgen. Schulden essen mit aus der Schüssel.
LIausfriede ist Hausfreude. Wo Eintracht den Tisch deckt,
sitzt der liebe Gott mit zu Tische. Friede ernährt, Unfriede
verzehrt. Es ist etwas Großes, Gottes Wort und ein Stück
Brot haben. Wer wohl sitzt, lasse das Rücken.
51
74. Der Hamster.
Der Hamster, der besonders in Mitteldeutschland lebt, ist ein
rechtes Bild des Geizes. Den ganzen Sommer und Anfang des
Herbstes durch schleppt er in seinen Backentaschen Getreide zusam-
men in seinen künstlichen Bau hinein, ist dabei so geizig und hart-
herzig, unverträglich und boshaft gegen seinesgleichen, daß nicht
einmal sein eigenes Weibchen in seinen Bau hinein darf, sondern
seinen eigenen haben muß, und daß, wo sich zwei Hamster begegnen,
sie sich meist so lange beißen, bis der eine todt ist, der dann vom
andern aufgefressen wird. Selbst das Weibchen jagt seine Jungen
nach drei Wochen, da sie noch ganz klein sind, aus seiner Höhle
hinaus, und benimmt sich dann, wo es ihnen begegnet, als ihre
ärgste Feindin. Und recht sonderbar ist es: im südlichen Rußland
und in Sibirien gibt es ein Thier, das zum Geschlechte des Iltis
gehört; dieses beißt den Hamster todt, und trägt wohl zehn solcher
Geizhälse in seinen Bau hinein, der noch dazu ein Hamsterbau ist,
aus welchem es den Hamster vertrieben hat. So wird der harther-
zige Geiz in feiner eigenen Manier durch einen fremden Geiz bestraft,
und ein Stärkerer tragt sich die selber als Vorrath ein, die ihr gan-
zes Leben nichts thaten, als Vorräthe sammeln, wovon sie niemand
etwas mittheilen. Im Gothaischen hat man zuweilen in einem
Jahre wohl 27000 Hamster erlegt. Man gräbt ihre Baue gar gern
auf, weil sich darin ein Vorrath des besten, auserlesensten Getrei-
des von wohl 60 Pfund findet. Jede Sorte liegt da rein von der
andern abgesondert, wie bei geldlustigen Leuten die Pfennige, Gro-
schen und Thaler besonders sortiert liegen.^ Übrigens, um doch auch
einen guten Zug vom Hamster anzuführen, fript er auch nebenbei
Maikäfer und Heuschrecken, wodurch er doch auch einigen Nutzen
stiftet.
75. Der Maulwurf.
Unter allen Thieren, die ihre Jungen säugen, ist der Maul-
wurf das einzige, das seiner Nahrung allein in dunkeln Gängen
unter der Erde nachgeht. — „Und an dem einen ists zu viel," wird
mancher sagen, der an seine Felder und Wiesen denkt, wie sie mit
Maulwurfshügeln bedeckt sind, wie der Boden zerwühlt und durch-
löchert wird, wie die Gewächse oben absterben, wenn das heimtückische
Thier unten an den Wurzeln weidet.
Wahr ist es und nicht zu leugnen, daß er durch seine unter-
irdischen Gänge hin und wieder den Boden durchwühlt und ihm
etwas von seiner Festigkeit raubt. Wahr ist ferner, daß durch
die herausgestoßenen Grundhaufen viel. fruchtbares Land bedeckt,
und die darunter liegenden Keime im Wachsthum gehindert, ja er-
stickt werden können. Dafür ist jedoch in einer fleißigen Hand der
Rechen gut. Aber wer hats gesehen, daß der Maulwurf die Wur-
zeln abfrißt? Wer kanns bezeugen? Nun, man sagt so: „Wo die
Wurzeln abgenagt sind und die Pflanzen sterben, wird man auch
3*
52
Maulwürfe finden, und wo keine Maulwürfe sind, geschieht das
auch nicht; folglich thuts der Maulwurf." — Der das sagt, ist ver-
muthlich der nemliche, der einmal so behauptet hat: „Wenn im Früh-
ling die Frösche zeitig quaken, so schlägt auch das Laub bei Zeiten
aus; wenn aber die Frösche lange nicht quaken wollen, so will auch
das Laub lange nicht kommen; folglich quaken die Frösche das Laub
heraus." — Seht doch, wie man sich irren kann! Denn nicht der
Maulwurf frißt die Wurzeln ab, sondern die Engerlinge, die unter
der Erde sind, aus welchen hernach die Maikäfer und anderes Un-
geziefer kommen. Der Maulwurf dagegen frißt die Engerlinge und
reinigt den Boden von diesen Feinden. Es ist also begreiflich, daß
der Maulwurf immer da ist, wo das Gras und die Pflanzen krank
sind und absterben, weil die Engerlinge da sind, denen er nachgeht,
und die er verfolgt.
Alle Säuge'thiere, welche von Pflanzennahrung leben, haben in
jeder Kinnlade, oben und unten, nur zwei scharfe Vorderzähne und
gar keine Eckzühne, sondern eine Lücke bis zu den Stockzähnen.
Alle Raubthiere aber, welche andere Thiere fangen und fressen,
haben sechs und mehr spitze Vorderzähne, dann Eckzähne auf beiden
Seiten, und hinter diesen zahlreiche Stockzähne. Der Maulwurf
hat in der oberen Kinnlade sechs und in der unteren acht spitze
Vorderzähne und hinter denselben Eckzähne auf allen vier Seiten,
und daraus folgt: er ist kein Thier, das an Pflanzen nagt, sondern
ein kleines Raubthier, das andere Thiere frißt.
Wer also den Maulwurf ausrotten will, thut sich selbst den
größten Schaden und den Engerlingen den größten Gefallen. Da
sönnen sie alsdann ohne Gefahr die Wiesen und Felder verwüsten,
können wachsen und gedeihen, und im Frühling kommt alsdann
der Maikäfer, frißt die Bäume kahl wie Besenreis und bringt zur Ver-
geltung auch Kuckuks Dank und Lohn.
76. Der Sperling.
Der Sperling gehört zu den Gassenbuben unter den Vögeln.
An ihm ist nichts von Sauberkeit und Nettigkeit; nichts von dem
lieblichen Wesen der Taube, nichts von dem süßen Sange der Lerche
oder Nachtigal: es ist auch nichts an ihm, was zu loben wäre;
alles verräth seinen niedern Sinn. Von Zucht und Ehrgefühl weiß
er nichts; kein Eigenthum ist ihm heilig; alle Augenblicke hat er
Händel mit seinen Kameraden und dabei gibt es ein Geschrei, daß
man es im ganzen Dorfe hört; er ist flink und verschmitzt.
In seinem dicken, röthlichbraunen Kopfe stehen ein Paar rohe,
freche Augen, denen man sogleich ansieht, daß er sich um keinen
Menschen bekümmert, und daß es ihm einerlei ist, was man von
ihm denkt. Hierzu paßt sein plumper Schnabel, sein freches Geschrei,
seine untersetzte Gestalt, wie sein Anzug. Es kümmert ihn nicht,
was er anhat; Eitelkeit und Putzsucht kann man ihm nicht vor-
werfen. Sein Kleid ist grob und grau; man kann nicht leicht
Schmutzflecke darauf sehen, und er treibt sich damit auf dem Miste,
53
im Kothe, in Pfützen und auf dem Felde umher. Er gibt sich nicht
die geringste Mühe, anständig zu sprechen, sondern schreit in den Tag
hinein, wie es ihm in die Kehle kommt.
Der Nestbau macht ihm keine Sorge. Er vertreibt die Schwal-
ben aus dem ihrigen. Muß er sich aber selber ein Nest bauen, so
kann er alles brauchen: Lumpen, Papierstreifen, Strohhälmchen, Fe-
dern und Fäden.
Überall, wo es was zu fressen und zu naschen gibt, bat er
seine Augen. Er benimmt sich, als ob die Kirschen für ihn allein
gewachsen wären. Fangen sie zu reifen an, so holt er sich zur
Probe davon. Sind sie erst reif, so kennt er vom frühesten Morgen
bis zum spätesten Abend keine andere Beschäftigung, als Kirschen
zu essen. Auch junge Erbsen nascht er gern. — Drei Vierteljahre
lebt er in Überfluß. Im Garten und auf dem Felde führt er seine
Stehlereien aus, und die Erntezeit bringt er ganz auf dem Felde zu,
wo er haufenweise von Garbe zu Garbe schwirrt. Ist das Feld leer,
so zieht er sich in die Straßen der Städte und die Höfe und Ställe
des Landmanns zurück. Kälte und Hunger dringen auf ihn ein. Da
sitzt er geduckt, die Federn ringsum aufgeblasen, den Kopf zwischen die
Schultern gezogen; oder er hockt in geschützten Winkeln, sucht einen
Schornstein, um den Strahl der Wintersonne oder den Hauch des Herd-
feuers aufzufangen. Doch weiß er sich auch Nahrung zu verschaffen.
Hält ein Fuhrmann mit seinen Pferden vor einem Wirtshause und
der Hausknecht bringt den Futtertrog, so ist auch der Spatz schon da
und holt sich sein Theil Hafer oder Brot. Werden die Hühner gefüt-
tert, so läßt er gewiß nicht auf sich warten; jagt man ihn weg, so fliegt
er kaum einen Schritt beiseits, und man merkt ihm nicht die geringste
Verlegenheit an. Kaum hat man den Rücken gewandt, so ist er wie-
der da und läßt sichs gut schmecken. So folgt er auch dem Drescher in
die Scheune und dem Knechte auf den Futterboden. Vom Reisen ist er
kein Freund; er bleibt lieber im Winter daheim und denkt: „Ich kann
mir ja mit Stehlen helfen." Ist das nicht arg? Werdet nicht wie die
Spatzen!
77. Jugend ist Saatzeit.
Äugend ist Saatzeit! Ohne Garben mußt du darben! Wie
gehts, wenn du ins Alter trittst und hast keinen Nothpfennig? Da
gehts, wie in der Fabel, wo die Grille im Winter zur Ameise
kommt und sagt: „Gib mir was zu essen!" Die Ameise fragt sie.
„Was hast du denn im Sommer gethan?" „Gepfiffen," sagt die
Grille, und die Ameise sagt darauf: „Hast du im Sommer, wo ich
arbeitete, gepfiffen, so magst du im Winter tclnzen." Und gab ihr
nichts. Verstanden, Lieber?
Morgens fängt der Tag an. Jung gewohnt, alt gethan.
Wem die Augen in der Jugend ausgestochen sind, der sieht
sein Lebtage nichts mehr. Wohl begonnen ist halb gewonnen.
Wer viel anfängt, endet wenig. Wer den Kern eisen will, muß
die Nuß knacken. Arbeit hat bittere Wurzel, aber süße Frucht.
54
Wie mans treibt, so gehts. Des Morgens sieht man, ob der
Tag will schön werden. Wer früh ausgeht, kommt früh heim.
Was ein guter Hake werden will, krümmt sich bei Zeiten.
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Zeit
bringt Rosen. Wie man sich bettet, so schläft man. Wie die
Arbeit, so der Lohn. Wie die Aussaat, so die Ernte. Grauer
Morgen, schöner Tag. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Lust
und Liebe zum Dinge macht Müh und Arbeit geringe. Im
Fluge wachsen die Schwingen. Anfang ist kein Meisterstück.
Übung macht den Meister.
78. Rom ist nicht in einem Tage erbaut.
Äas will sagen: wichtige Geschäfte und große Werke lassen
sich selten kurz abthun und wollen zu ihrer guten Ausführung
besonnene Weile haben. Mit diesem Sprichwort entschuldigen sich
aber viele fahrlässige und träge Menschen, welche ihr Geschäft nicht
treiben und vollenden mögen, und schon müde sind, ehe sie recht
anfangen. Mit dem Rom ist es aber eigentlich so zugegangen:
es haben viele fleißige Hände viele Tage lang vom frühen Morgen
bis zum späten Abend unverdrossen daran gearbeitet, und nicht abge-
lassen, bis es fertig war. So ist Rom entstanden. Was du zu thun
hast: machs auch so.
79. Vom Rechnen.
Cs ist im Leben oft nützlich und nothwendig, daß man recht
genau rechne, und mancher wäre ein behaltener Mann, wenn er
nur ein wenig sorgfältiger gerechnet hätte. Wer z. B. ein Haus
baut, der soll überschlagen, wieviel es ihm kosten wird, und ob er
auch die Mittel habe, den Bau hinauszuführen; und wer auf Reisen
ist, soll seinen Vorrath an Gelde oft zählen, damit er nicht im An-
sang zuviel ausgebe und dafür späterhin Noth leiden müsse. Auch
im gewöhnlichen Leben soll man zuweilen nachrechnen, wieviel diese
oder jene Ausgabe im Jahre beträgt, und die entbehrlichen Ausga-
ben beschränken, damit es nicht nachher an dem Nothwendigen fehle.
Gibst du z. B. alle Tage nur einen Groschen unnöthig aus, so macht
es in der Woche schon sieben Groschen, in einem Monat von 30 Tagen
macht es einen Thaler und in einem Jahre volle 12 Thaler, ohne die
Groschen, die noch auf die längeren Monate fallen.
Oder auch so. Du stehst alle Tage um 6 Uhr des Morgens auf
und gehst um 10 Uhr zu Bette, und arbeitest dabei täglich 10 Stunden,
denn 6 Stunden nimmst du zum Essen, zur Ruhe und zu deiner Er-
holung. Dein Nachbar aber steht täglich um 4 Uhr des Morgens aus
und geht eine Stunde später zu Bette und arbeitet täglich 3 Stunden
mehr als du. Nun rechne einmal aus, wieviel das im Jahre betragen
wird , und wieviel länger dein Nachbar gelebt hat, wenn er auch dem
Taufscheine nach mit dir gleich alt ist.
Aber es ist doch nicht gut, daß man überall und immer nach
der größten Strenge rechne; denn es gibt auch Fälle, wo das Rech-
55
nen zu nichts Hilst, und wo man besser thut, auch fünf gerade sein
zu lassen. Wenn du den Armen gibst oder deinem Bruder leihest,
so brauchst du nicht eben zu berechnen, wie viel du mit dem Gelde
sonst wohl hättest erwerben können, oder wie viel es Zinsen brächte
in einem Jahre oder in zweien. Und wenn du mit andern zu theilen
hast, und sie wollen dir geben, was billig ist, so mußt du auch nicht
haarscharf berechnen, daß dir noch etliche Thaler oder Groschen mehr
zukommen; das ist ja auch etwas werth, daß du die Sache in der Güte
beendest und nicht nöthig hast, erst mit deinen Freunden zum Richter
zu gehen.
80. Nachgeben stillt den Krieg.
IWi Wanderer in Arabien lagerten sich im Walde an einer kla-
ren Quelle, ihr einfaches Mittagsmahl zu verzehren. Da gesellt sich zu
ihnen ein Fremder und bittet: „Laßt mich theilnehmen an euerm
Mahle; denn ich habe wohl Geldes genug bei mir, aber doch keine
Speise." Die beiden Wanderer sind es zufrieden, und der eine langt
aus seiner Reisetasche drei kleine Brote, der andere aber langt deren
fünf hervor; die drei verzehren die acht Brote, und der eine so viel wie
der andre. Nach der Mahlzeit aber zog der Fremde seines Weges und
ließ den beiden acht Goldstücke zurück.
„Acht Brote," sagte der eine, „und acht Goldstücke; das gibt
ja eine leichte Rechnung. Du hattest drei Brote: da nimm deine
drei Goldstücke. Ich hatte fünf Brote; für mich also bleiben fünf
Goldstücke." „Nein," sagte der andre, „deine Rechnung trügt: der
Fremde hat nicht unsre Brote bezahlen, er hat uns für unsre Freund-
lichkeit wiederum erfreuen wollen. Mein Wille war nicht schlechter,
als der deine; laß uns redlich theilen, und begnüge dich mit vier
Goldstücken."
Wie es denn zukommen Pflegt, wenn man anfängt, das Recht
und Unrecht abzuwägen, so ging es auch hier; die Gemüther erhitzten
sich im Streite, und sie gingen zum Kadi (so nennt man dort zu Lande
die Richter); der sollte den Ausspruch nach aller Strenge des Rechtes
thun.
„Ich rathe euch," sagte der Kadi, „daß ihr wie Brüder theilet."
„Nein," riefen die beiden, „wir wollen einen Richterspruch nach stren-
gem Rechte."
„Nun gut, ihr sollt ihn haben," versetzte der Kadi. „Nicht
wahr? ihr hattet acht Brote?" „Ja, Herr, acht." „Ihr drei aßet
von jeglichem gleich viel?" „Ja, Herr, von jeglichem Brote aß
jeglicher ein Drcktheil." „Also aß jeglicher von euch acht Drittheile
von den Broten?" „So ist es," erwiderten die beiden. „Nun
sage, du hattest drei Brote, das sind ja wohl neun Drittheile?"
„Ja freilich." „Acht Drittheile hast du selber gegessen, und der
Fremde hat von deinem Dorrathe nur das Drittheü eines Brotes
gegessen?" „So scheint es," sagte der Befragte ein wenig kleinlaut.
„Woher sind denn die übrigen Drittheile gekommen, die der Fremde
verzehrt hat?" „Ich denke, von dem Verrath meines Gefährten."
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»Nun, so bekommst du, der die drei Brote hatte, nicht mehr als
ein Goldstück, und die sieben übrigen nimmt der, der die fünf Brote
batte."
Die beiden Wanderer sahen sich betroffen an; aber der die
sieben Goldstücke empfangen sollte, reichte dem andern vier Gold-
stücke dar. „Das sei ferne von mir," sagte er, „daß ich um ein
Goldstück mehr oder weniger meinen Bruder kränken sollte. Du
hattest doch wohl Recht, als du sagtest: Der Fremde hat nicht
unsre Brote bezahlen, sondern uns erfreuen wollen, wie wir ihn
erfreut hatten."
So zogen sie fort ihres Weges und theilten auch ferner Brot und
Geld, wie Gefahr und Freude.
81. Wie man dem Nächsten sein Gut und Nahrung behüten
helfen soll.
Im siebenjährigen Kriege ward einst ein Rittmeister ausgeschickt,
um Futter für die Pferde zu suchen. In einem einsamen Thäte,
wo man keinen Menschen, sondern nur Buschwerk erblickte, ward er
endlich einer armseligen Hütte ansichtig, und als er anpochte, trat
ein alter Mann mit eisgrauem Kopfe heraus. „Zeigt mir ein Feld,
Alter, wo meine Leute Futter holen können", redete er ihn an. „Mit
allem Willen", antwortete der Bauer und ging ihnen als Wegweiser
voran.
Nach einer Viertelstunde etwa trafen sie ein schönes Gerstenfeld.
„So, hier ist, was wir suchen", sagte der Rittmeister. „Geduldet
euch noch ein wenig", erwiderte der Bauer und ging vorüber. Sie
folgten ihm und kämen endlich bei einem anderen Gerstenfelde an,
das weit weniger gut stand, als das erste. Nachdem die Reiter
das Getreide abgemäht und auf die Pferde gebunden hatten und
wieder weiter reiten wollten, sagte der Rittmeister: „Ihr habt uns
ganz unnöthigerweise weiter reiten lassen, Alter; das erste Feld war
besser als dieses." — „Kann wohl sein," versetzte der Alte, „aber
es war nicht das meinige."
82. Geiz ist eine Wurzel alles Übels.
Äie Jahre 1779, 80 ujjb 81 waren Wasser- und Hungerjahre.
Damals lebte in den Odergegenden ein Mann, des Feld war
Höhenland und hatte gut getragen. Und sein Feld war groß,
so daß er eine gewaltige Masse Roggen in der Scheuer und endlich
aus dem Boden hatte. Hoch waren die Preise schon im Herbste.
Mit dem Winter und dem Frühjahr stiegen ste immer höher. Man-
cher Handelsmann klopfte an die Thür "des Reichen; mancher Hand-
werker bettelte, er möchte ihm doch für gutes Geld ein Scheffelchen
ablassen. Alle aber wurden abgewiesen mit der Antwort: „Ich habe
mir einen Satz gemacht; der Boden wird nicht eher geöffnet, bis
der Scheffel acht Thaler kostet. Dabei bleibe ich!" Und zum Zei-
chen hatte er an die Bodenthür eine große, schwarze 8 mit Kohle
gemalt. Der Winter verging, der Mai kam heran; aber die Preise
57
waren hoch gestiegen; denn die gewaltigen Fluten hatten großen
Schaden gethan. An: 7. Mai kam ein armer Leinweber,- ein ehr-
licher Meister aus dem Orte. Sein Gesicht sah vor Hunger und
Grämen selber aus, wie graue Leinwand. Er zahlte ihm, damit der
reiche Mann Geld sähe, für einen halben Scheffel 3 Thaler 22 Groschen
auf den Tisch. Die 22 Groschen bestanden aus Dreiern, Sechsern
und Groschen; denn der Mann hatte alles zusammengesucht. Aber
der Bauer sprach: „Euer Aufzählen hilft euch nicht; der Scheffel kostet
8 Thaler; das ist mein Satz. Eher thue ich meinen Boden nicht auf.
Und denn muß es ordentlich Courant sein." Des Bauern Söhnchen,
ein Bürschchen von 10 Jahren, zupfte den Alten am Nock: „Vater,
gebts ihm doch!"
Aber der Vater prägte ihm mit einem Rippenstoß andere Grund-
sätze ms Herz. Der Weber mußte sein Geld zusammenstreichen und
heimwandern. Den 8. Mai in der Abenddämmerung kanr die Zei-
tung an. Einen Blick hinein, und der Bauer fand, was er finden
wollte: „Roggen 8 Thaler." Da zitterten ihm die Glieder vor
Freude. Er nahm ein Licht, ging auf den Boden und wollte über-
sehen, wie viel er wohl verfahren könne, und überschlagen, wie groß
ferne Einnahme wäre. Indem er so durch die Haufen und gefüllten
Säcke hinschreitet, strauchelt er an einem umgefallenen, fällt selber, das
Licht fliegt ihnr aus der Hand und in einen Haufen Stroh, der daneben
liegt. Ehe er sich aber aufraffen konnte, steht das Stroh in hellen
Flammen. Ehe an Hülfe zu denken ist, hat das Feuer Dachstuhl und
Dielen ergriffen. Um Mitternacht an demselben Tage, wo der Scheffel
Roggen 8 Thaler galt, wo er auf seinen Satz gekommen war und
seinen Boden geöffnet hatte, stand er am Schutthaufen seines ganzen
Gutes als ein armer Mann. —
Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne, und
nähme doch Schaden an seiner Seele? Matth. 16, 26.
Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich, ich sage euch: ein
Reicher wird schwerlich ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich
euch: es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß
ein Reicher ins Reich Gottes komme, Matth. 19, 23. 24.
83. Der ungerechte Pfennig.
Ein alter Bauersmann sitzt abends vor dem Herde und bespricht
sich mit den Seinigen, als der Sohn schweigend hinzutritt. „Ei, Wil-
helm, schon wieder da? Guten Abend! und wie geht dirs?" „O,"
sagt der Sohn mit sehr gedehnter Stimme, „o, es — es geht schon so
ziemlich." „Sohn," spricht der Vater, „was ists? Hast doch kein
Unglück mit dem Schimmel gehabt auf dem Kohlenberge?" „Nein,
Vater, das wohl nicht, aber—" „Was denn aber, sag, was ists?"
"Ja," spricht er, „ich habe meinen Geldbeutel verloren!" — „Wie viel
war darin?" „Sieben Thaler, und welche Groschen!" „Wilhelm,"
sagt der Vater, „das sind die Armenkohlen! Ich Habs dir genug ge-
sagt, als du dich rühmtest, sieben Thaler an den Kohlen, die du für
die Armen fahren mußtest, und die aus freiwilligen Beiträgen bezahlt
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Wurden, verdient zu haben, weil du das schlechteste Zeug für sie gekauft
hattest und dir theuer bezahlen ließest. Hast manchen mit den Kohlen
dein Lebetage betrogen; aber unser Herrgott ist dir doch überlegen, den
kannst du mcht betrügen, und er hat dir den Beutel aus der Tasche ge-
zogen. Bessere dich!"
Unrecht Gut gedeihet nicht. Der ungerechte Pfennig ver-
zehrt den gerechten Thaler. Wie gewonnen, so zerronnen.
Unrecht Gut kommt nicht an den dritten Erben. Böser Han-
del, wo der eine lacht und der andere weint.
84. Redlichkeit ist das beste Einkommen.
Äem Spitzenhändler Jakob Häuser fiel es einst schwer aufs
Herz: „Du hast bisher bei deinen Preisen immer eine etwas höhere
Summe angesetzt, 'als die war, für welche du die Ware lassen konntest
und auch wirklich ließest, wenn Leute da waren, die das Handeln
verstanden. War das auch recht? Ein Christ soll nicht lügen noch
betrügen; das war aber beides. Wohlan, mein Gott, es soll nicht
mehr geschehen!" Er kommt nach Cassel zur Messe. Gleich am
ersten Tage kommen viele Leute, die seine Ware besehen, nach dem
Preise fragen und dann handeln wollen. Da er aber erklärt, das sei
wirklich der äußerste Preis, so verkauft er an diesem Tage nicht eine
Elle. Abends im Wirtshaus kann er vor Traurigkeit nicht essen.
„Das ist also", denkt er, „der Lohn christlicher Treue. So ist dirs
doch nicht gegangen, als du, wie man sagt, bei der Welt wärest."
Dann fand er sich aber doch wieder zurecht und schlief ruhig ein.
Aber es ging an den beiden folgenden Tagen wieder ebenso. Abends,
wenn die andern Kaufleute fröhlich waren, aß Häuser sein Stückchen
trocken Brot heimlich und mit Seufzen. Noch war aber Hoffnung
auf eine Käuferin, die gewöhnlich nicht handelte. Endlich, am vierten
Tage, kommt die Landgräsin und zuerst an Jakobs Bude. Diesem
klopft das Herz hoch vor Freude und Erwartung. Sie sucht aus, will
aber auch etwas abhandeln. Der arme Jakob muß erklären, er könne
keinen Heller zurückgehen, und sie geht schweigend hinweg zu den
andern Spitzenhändlern. Sie bemerkt aber bald, daß diese viel
theurer sind "und die Spitzen schlechter, spricht das aus gegen ihre
Damen und kehrt zur ersten Bude zurück. Hier kaust sie dann reichlich
und lobt laut den ehrlichen Mann. Alle Damen des Hofes und der
Stadt wollen nun auch bei Jakob kaufen; am Abend hat er auch
nicht eine Viertelelle mehr. „Konnte ich," erzählt er, „an den ersten
drei Abenden vor Kummer und Sorge nicht essen, so konnte ich es
nun vor Freude nicht. Meine Seele war voll Lobes und Dankes
gegen Gott."
85. Einmal ist keinmal.
Äies ist das erlogenste und schlimmste unter allen Sprichwörtern,
und wer es gemacht hat, der war ein schlechter Rechenmeister, oder ein
boshafter. Einmal ist wenigstens einmal, und daran läßt sich nichts
abmarkten. Wer einmal gestohlen hat, der kann sein Leben lang
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nimmer mit Wahrheit und mit frohem Herzen sagen: „Gott Lob! ich
habe mich nie an fremdem Gute vergriffen." Und wenn der Dieb
erhascht und gehängt wird, alsdann ist einmal nicht keinmal. Aber
das ist noch mcht alles, sondern man kann meistens und mit Wahrheit
sagen: Einmal ist zehnmal und hundert- und tausendmal. Denn Wer-
das Böse einmal angefangen hat, der setzt es gemeiniglich auch foU.
Wer A gesagt hat, der sagt auch gern V, und alsdann tritt zuletzt ein
anderes Sprichwort ein: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis
er bricht.
86. Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht.
„Was würden denn meine Kameraden sagen, wollt ich den
Sonderling spielen und nicht mehr mitmachen?" sprach ein junger
Taugenichts zu seinem würdigen Seelsorger, Pfarrer Boos, der ihn
dringend zur Buße ermahnte. Boos antwortete: „Wenn dich die
gottlosen Buben um der Gottseligkeit willen verachten oder verspotten,
so ist das gerade so viel, als wenn Leute, die Kröpfe haben, diejenigen
verachten und verspotten, welche keine Kröpfe haben. Ist dir aber der
Beifall liederlicher Gesellen lieber, als die Ehre bei Gott: wie willst du
denn einmal selig werden?"
Daß viele irre gehen, macht den Weg nicht richtig. Licht
bleibt Licht, siehts gleich der Blinde nicht. Kranken Augen
thut das Licht weh. Welt ist Welt; wer sich dran hängt, der
fällt. Wer Gottes nur halb ist, ist ganz des Teufels. Wer sich
in Gefahr begibt, kommt darin um. Wer die Pfützen nicht
riechen mag, wird nicht hineinfallen. Gleich und gleich gesellt
sich gern. Besser Scheu, denn Reu. Was Sünd ist zu thun,
ist Schande zu reden. Wo Rauch aufgeht, muß Feuer sein.
Wo keine Scham ist, ist auch keine Ehre. Wer sich seiner
Sünden rühmt, der sündigt doppelt. Trunken gesündigt, nüch-
tern gebüßt. Gelegenheit macht Diebe. Anschauen macht
Gedanken. Feuer fängt mit Funken an. Aus kleinen Funken
kann ein großes Feuer werden. Kind, wirft du roth, so warnt
dich Gott. Besser allein, denn in böser Gemein. Was sich
auf der Gasse zuerst an die Füße hängt, ist der Koth. Wer
einen Aal fangen will, macht das Wasser trübe. Womit einer
umgeht, das hängt ihm an. Wer Pech angreift, besudelt sich.
Das schlechteste Rad knarrt am meisten. Es gibt viele Ha-
bichte, die wie Tauben aussehen. Süßer Gesang hat manchen
Vogel betrogen. Von lauteren Brunnen fließen lautere Wasser.
Wo der Teufel das Kreuz voran trägt, da geh nicht nach.
87. Die Quecken.
Fünf Quecken, die der Gättner ausgätete und über den Zaun
warf, gingen hin und kamen an einen Acker und sprachen zum
Herrn desselben: „Wir sind unschuldig vertriebene Leute; erbarme
dich doch unser und laß uns wohnen an dem äußersten Saume
deines Feldstückes, da kein Weizenhalm mehr steht." Und der Mensch
erbarmte sich ihrer Blöße und gab ihnen ein Plätzlein am Grenz-
steine neben dem Raine und freuete sich seines guten Werks. Aber
die Quecken liefen allmählich unter dem Boden fort und fort und
nahmen den ganzen Acker ein von unten bis oben hinaus. Und
etliche Monden darauf, als der Herr die Sichel hinschickte, fand sie
nichts als dünne und verkümmerte Ähren. Denn die fremden Quecken
hatten den Acker ausgesogen; und denselbigen Menschen reuete es,
so viel er Haare auf jeinem Haupte hatte, daß er an ihnen Barm-
herzigkeit gethan.
Wer Ohren hat zu hören, der höre!
^.U8 anderer Thorheit lerne Klugheit. Die Sünde kehrt
lachend ein und weinend aus. Die Reue ist ein hinkender
Bote; sie kommt langsam, ah er gewiß. Wenns Maß voll ist,
läufts über. Gottes Mühle mahlt langsam, aber sie mahlt klein.
Was du thust, so bedenke das Ende.
88. Wes Brot ich esse, des Lied ich singe.
dessen Brot issest du? Gottes oder der Welt? Eigentlich
magst du essen, wo du willst, mit Gottes Kindern oder mit den
Kindern der Welt: Gottes Brot issest du auf jeden Fall. Er Hat
den fruchtbaren Keim in das Samenkorn gelegt; er befruchtet die
Erde mit Thau und Regen; er hüllt sie den Winter über in den
warmen weißen Rock; er läßt zu rechter Zeit die Sonne wieder
scheinen. Nur der schnödeste Undank übersieht es, daß wir Gottes
Brot allezeit essen. Darum sollten wir auch sein Lied allezeit singen,
sein Lob verkündigen und ihm mit Herzen und Werken für seine Wohl-
thaten danken.
„Ihr seid theuer erkauft," sagt der Apostel, „werdet nicht der
Menschen Knechte." Euer Geld, eure Kenntnisse, eure Kräfte mögt
ihr den Menschen widmen und euch unter einander dienen mit den
mancherlei Gaben Gottes; aber das Herz gehört Gott und euerm
Heiland, der euch zu seinem Eigenthum erworben hat.
89. Der Schatz.
Ein reicher Herr aus der Nähe von Stockholm ging auf seinen
Gütern spazieren und traf einen armen Tagelöhner aus dem Ge-
birge an. Er ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein und fragte ihn:
„Weißt du, wem das Gut dort am See gehört?" „Nein," sagte der
Tagelöhner. „Es gehört mir. Und jenes dort am Walde und das
Schloß auf dem Berge, weißt du, wes sie sind?" „Nein." „Die sind
auch mein. Ja alles, was du hier ringsum sehen kannst, ist mein."
Der Arme stand einen Augenblick still, drückte den Spaten in die
Erde, nahm die Mütze ab, zeigte gen Himmel und sprach: „Ist der da
oben auch dein?"
Reich ist, wer einen gnädigen Gott hat. Viel Schätze,
viel Netze. Geld verloren, etwas verloren; Ehre verloren, viel
verloren; Gott verloren, alles verloren.
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90. Gott und genug.
Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel
und Erde, Ps. 73, 25.
Du hast aber Gott, wenn du Christum hast, und Christum hast
du, wenn du an ihn glaubst, ihn als deinen Herrn und Heiland er-
kennst, von ihm dich leiten und führen lässest; wenn er dein ganzes
Herz erfüllt, so daß du mit dem Apostel sagen darfst: Ich lebe, aber
doch nicht'ich, sondern Christus lebet in mir.
Wer das sagen kann, dem gehört die ganze Welt; es muß durch
Gottes Fügung alles dazu dienen, den Christen zu erfreuen, zu trösten,
zu fördern auf dem Wege zum ewigen Leben.
Die Welt erkennt freilich diesen Reichthum nicht an, weil er sich
auf der gemeinen Krämerwage nicht wägen und mit dem gewöhnlichen
Maßstabe nicht messen läßt. Aber was liegt daran, was die Welt
sagt! Der Wahlspruch des Christen ist:
Arm vor der Welt und reich in Gott.
91. Sorget nicht!
1. Ein Vöglein klein, ohne Sorgen,
Fröhlich Abend und Morgen,
Fleugt hin und her mit Singen in
den Wäldern,
Und läßt Gott walten, der es kann
erhalten.
2. Es kann nicht pflügen noch säen,
Weder ernten noch mähen.
Und lebt doch in Freuden ohne Be-
schweren,
Und läßt Gott walten, der es kann
ernähren.
3. All Feiß ohn Gottes Gaben,
All Arbeit, Schinden und Schaben
Nach kleinem Gewinn, das schaffet
lange Schmerzen.
Der schwebet oben, der Gott traut von
Herzen.
92. Das Land der Zufriedenheit.
Barbara, eine Dienstmagd in Basel, hatte das Buch gelesen:
„das Land der Zufriedenheit." Sie bildete sich ein, dieses Land
finde sich irgendwo in der Welt, und beschloß, dorthin auszuwandern.
Sie kündigte ihrer Herrschaft den Dienst auf. Dieser wollte es durch-
aus nicht gelingen, sie von ihrem Gedanken abzubringen.
Da kam einst der Pfarrer. Der grüßte die Barbara mit
folgenden Worten: „Nun, Bärbel, das freut mich doch recht, daß
ihr ins Land der Zufriedenheit wollt; das ist recht wacker von euch."
Bärbel sreuete sich hoch, endlich einmal eine Person zu treffen, die
in diesem Sinne mit ihr sprach. „Aber," fuhr der Pfarrer fort,
„wißt ihr auch, wo dieses Land der Zufriedenheit ist?" „Ja,"
erwidette sie, „das ist eben mein Kreuz, daß ich das nicht weiß,
und es mir niemand sagen kann." „Nun, ihr meint vielleicht, es
liege in Frankreich oder Spanien^ oder gar in Amerika. Aber so
weit hat man nicht dahin; es liegt ganz in der Nähe." „Wo denn?"
„Hier in der Stadt Basel, hier in diesem Hause könnt ihr in das
Land kommen. Aber fteilich, wenn ihr in demselben wohnen wollt,
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müßt ihr euem alten Plunder, den Stolz, die Hoffahrt, den Geiz
Neid u. s. w. wegschaffen und lauter neue Habseligkeiten anschaffen:
Glaube, Liebe, Sanftmuth, Demuth; die könnt ihr aber alle umsonst
haben bei unserm Herrn Jesu Christo.« So sprach der Pfarrer, und
stin Wort fand Eingang bei der angefochtenen Seele, daß sie erklärte:
„Nun, Herr Pfarrer, ich will ihrem Rathe folgen."
93. Nimm fürlieb, wie Gott es beschert.
Äer Kaiser Rudolf von Habsburg lag vor einer festen Stadt.
Als nun im Heere Mangel an Fleisch und hernach auch an Brot
eintrat und das Kriegsvolk hart darüber klagte, ging er auf die
Rübenäcker, welche vor der Stadt waren, zog Rüben auf und aß die,
zeigte sie seinen Kriegern und sprach: Weil wir die noch haben können,
sterben wir weder Hungers noch Durstes. Darum brauchet des und
wartet geduldig, bis Besseres kommt.
94. Stadtmaus und Feldmaus.
Eine Stadtmaus ging spazieren und kam zu einer Feldmaus.
Die that ihr gütlich mit Eicheln, Gerste, Nüssen, und womit sie
konnte. Aber die Stadtmaus sprach: „Du bist eine arme Maus;
was willst du hier in Armuth leben? Komm mit mir; ich will dir
und mir genug schaffen von allerlei köstlicher Speise!" Die Feldmaus
zog mit ihr hin in ein herrlich, schön Haus, darin die Stadtmaus
wohnte, und gingen in die Speisekammer. Da war vollauf von
Brot, Fleisch, Speck, Würsten, Käse u. s. w. Da sprach die Stadt-
maus: „Nun iß und sei guter Dinge; solcher Speise hab ich täglich
überflüssig."
Indes kommt der Kellner und klirrt mit den Schlüsseln an der
Thür; die Mäuse erschrecken und laufen davon. Die Stadtmaus
findet bald ihr Loch; aber die Feldmaus weiß nirgend hin, läuft die
Wand auf und ab, und bringt kaum ihr Leben davon.
Da nun der Kellner wieder hinaus ist, spricht die Stadtmaus:
„Es hat nun keine Noth; laß uns guter Dinge sein." Die Feld-
maus antwortete ^Du hast gut sagen; du wußtest dein Loch fein
zu treffen, dieweil bin ich schier vor Angst gestorben. Ich will dir
sagen, was die Meinung ist: Bleib du eine reiche Stadtmaus und
friß Würste und Speck; ich will ein armes Feldmäuslein bleiben
und meine Eicheln essen. Du bist keinen Augenblick sicher vor dem
Kellner, vor den Katzen, vor so vielen Mausefallen, und ist dir das
ganze Haus feind; solches alles bin ich frei und sicher in meinem
armen Feldlöchlein."
95. Vom Hunde im Wasser.
Es lief ein Hund durch einen Wasserstrom und hatte ein
Stück Fleisch im Munde. Als er aber den Schemen vom Fleisch im
Wasser sieht, wähnt er, es wäre auch Fleisch, und schnappt gierig dar-
nach. Da er aber das Maul aufthat, entfiel ihm das Stück Fleisch,
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und das Wasser führte es weg. Also verlor er beide, das Fleisch und
den Schemen.
Man soll sich begnügen lassen an dem, das Gott gibt. Wer zu
viel haben will, der behält zuletzt nichts. Mancher verliert das Ge-
wisse über dem Ungewissen.
96. Hoffen und Harren macht manchen zum Narren.
Rein! wers nicht vorher ist, wirds nicht durch Hoffen und
Harren. Aber freilich, wenn du auf das große Los in der Lotterie,
auf ein reiches Erbe von Amsterdam oder von Amerika, auf einen
Gewinn am grünen Tische zu Nenndorf oder zu Pyrmont, auf ein
Schiff, das mit Wind und Wellen kämpft auf dem weiten Ocean,
kurz auf irgend etwas unter dem Monde deine ganze und einzige Hoff-
nung setzest, so bist du thöricht genug, und wenn nun dein Hoffen
und Harren vergeblich ist, und du hast indessen die Hände in den
Schooß gelegt, so kann es geschehen, daß dein Verstand vollends zu
Grunde geht.
Wer aber seine Hoffnung setzt auf den lebendigen Gott, der
Himmel und Erde gemacht hat; wer alles für Schaden achtet gegen die
überschwengliche Erkenntniß Christi Jesu, seines Herrn; wer alles
daran setzt und dahin gibt, um Christum zu gewinnen und in ihm er-
funden zu werden: der wird kein Narr werden in seinem Hoffen und
Harren. Seine Hoffnung wird nicht zu Schanden werden.
Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut. Vergeblich ist all
Müh und Kunst, wo Gott nicht gibt sein Hüls und Gunst,
Welt, wie du wisst, Gott ist mein Schild. Ich wags, Gott
vermags. Mir genügt, was Gott fügt. Gott rechnet anders,
als die Menschen. Gottes Rechnung fehlet nicht.
97. So der Herr will.
Ein Bauer ging über Feld auf einen Markt. Unterwegs be-
gegnete ihm ein Bekannter und fragte ihn, wohin er gehe. Der Bauer
antwortete: „Ich gehe auf den Markt und kaufe mir ein Paar Ochsen."
„So der Herr will!" setzte jener wohlmeinend hinzu. Der Bauer
erwidertedreist: „Das habe ich nicht nöthig; ich habe mein Geld für
die Ochsen in der Tasche."
Es war schon ziemlich spät und des Tags über tiefer Schnee
gefallen. Der Bauer verfehlte den Weg, wurde von einem Unbe-
kannten noch weiter irre geführt und endlich gar seiner Barschaft
beraubt. — Nach emigen Tagen kehrte der Bekannte im Bauern-
höfe ein und fragte nach den neuen Ochsen. Der Bauer antwortet,
ihm ganz kleinlaut: „Freund, du hattest Recht; ich muß gottesfürch-
tiger werden."
Jak. 4, 15: Ihr solltet sagen: So der Herr will und wir leben,
wollen wir dies oder das thun.
Menschengedicht wird allzeit zunicht. Alles mit Gott.
Mit Gott ddn Anfang, sonst gehts den Krebsgang. Was man
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mit Gott anfängt, das führt man mit Gott hinaus. Mit Gott
fang an, mit Gott hör auf5 das ist der beste Lebenslauf.
98. Gott allein die Ehre!
Ein Dachdecker arbeitete hoch oben auf der Spike eines Kirch-
turms. Da riß das Seil, mit dem er sich am Knopfe befestigt hatte,
und er fiel vom Turm herab auf das Kirchendach. Hier wollte er sich
halten; aber er rollte vom Dache hinab in einen Lindenbaum. Hier
wollte er sich wieder halten; aber die Äste brachen, und so fiel er von
Alt zu Ast und endlich herab auf das Pflaster. Die Leute hatten mit
einem Geschrei des Entsetzens ihn fallen sehen, rannten herbei und
meinten ihn zerschmettert zu finden; aber der Dachdecker lebte und war
ganz unversehrt und rieb sich die Augen, — denn er wußte gar nicht,
wie ihm geschehen war.
Mittlerweile mehrte sich der Menschenhaufe um ihn, und jeder
ließ sich die Geschichte erzählen, und endlich rief ein Wirt, der auch
hinzugetreten war: „Das ist doch zu wunderbar! Der Tag muß
gefeiert werden; kommt mit in mein Haus, der Mann muß fichs heute
einmal wohl sein lassen!" Gesagt, gethan. Zwei nahmen den Dach-
decker in die Mitte, die andern folgten, und im Triumph gings ins
Wirtshaus, wo gezecht, gelärmt und Vivat gerufen wurde bis 'in die
späte Nacht. Der Dachdecker wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen, auf fremde Kosten sich gütlich zuthun, aß ugd trank und hörte
dabei nicht auf, immer wieder von neuem die Geschichte seines
wunderbaren Sturzes zu erzählen. Des lieben Gottes, der seinen
Engeln über ihm Befehl gethan, gedachte er dabei mit keiner Silbe;
vielmehr erzählte er den Hergang also als sei das nicht Gottes Be-
schirmung, sondern eine vclondere Geschicklichkeit und Besonnenheit
von ihm selber gewelen, zuerst auf das Dach, dann auf den Linden-
baum und dann ganz allmählich von Ast zu Äst bis herunter auf das
Pflaster zu fallen; und zuletzt vermaß er sich sogar, wenn sich etwas
Erkleckliches damit verdienen ließe, wolle er eigens das ganze Kunst-
stück noch einmal machen.
Von dem vielen Reden und Trinken ward er endlich müde
und legte sich auf die Ofenbank und schlief ein. Als die letzten
Gäste eben das Wirtshaus verlassen wollten, bemerkten sie, daß er
allerlei ängstliche Gebärden mache und ein banges Stöhnen ausstoße.
Er fuhr mit den Händen in der Luft umher, als ob er sich an etwas
halten wollte; dann schrak er wieder heftig zusammen. Es war
offenbar, daß er den Fall noch einmal durchträumte, den er am
Vormittag gethan hatte, und die Gäste fanden eine große Belusti-
gung dann, seine seltsamen Bewegungen anzuschauen, besonders da
sie bemerkten, daß er jeden Augenblick von der Bank herunterfallen
müsse. Endlich machte er wieder eine Bewegung und fiel wirklich
unter schallendem Gelächter der Anwesenden von der Bank herab
in die Stube. Sie erwarteten ihn nun aufwachen zu sehen; aber
er blieb liegen, ohne ein Glied zu rühren, und als sie hinzutraten
und ihn anfaßten, war er — todt! — Er hatte vergessen, dem die
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Ehre zu geben, der ihn am Morgen unversehrt den Sturz in die Tiefe
hatte thun lassen; so hat er sich am Abend von einer Bank herab zu
Tode..gefallen.
Ubcrrnuth thut niemals gut. Hochmuth kommt vor dem
Fall. Sicherheit ist des Unglücks erste Ursache. Je höher
der Baum, je schwerer sein Fall. Je höher gestiegen, je tiefer
gefallen. Wer unter Glottes Hand sich nicht biegen will, muß
darunter brechen. Gott sorgt dafür, daß die Bäume nicht in
den Himmel wachsen.
99. Der König aller Könige.
Äanut, ein großer König, war Beherrscher von England und
Dänemark, und seine Schiffe fuhren auf den nördlichen Bteeren hin
und her. Es begab sich aber eines Tages, daß er lustwandelte am
User des Meeres und seine Hofleute mit ihm. Da thaten Schmeichler
ihren Mund auf und priesen ihn als den König der Könige und den
Herrn des Meeres wie des Landes. Aber der König ergrimmte in
seinem Herzen ob diesen Worten; denn er fürchtete den Herrn, und es
war solches ein Greuel in seinen Augen. Und er schwieg.
Über ein Kleines breitete er seinen Mantel hart an das Ufer aus,
setzte sich darauf und sprach zum Meer: „Das Land, daraus ich sitze,
rst mein, und ich bin dein Herr; darum sage ich dir: bleib, wo du bist,
und nahe dich nicht zu meinem Platze!" Es war aber um die Zeit der
Flut, da er solches that. Da dies die Hofleute sahen, gedachten sie bei
sich selbst: „Der König, unser Herr, ist zum Narren geworden," und
lachten sein in ihrem Herzen. Das Meer aber gehorchte der Stimme
des Königs nicht und wuchs höher und höher, bis daß es seine Füße
netzte. Da stand der König auf und sprach: „Ihr Schmeichler, wo ist
nun meine Macht? Sehesida, wie sein mir das Meer gehorcht hat!
So gehet nun hin und wisset, daß der, welcher den Himmel und die
Erde und das Meer und alles, was darinnen ist, gemacht hat, derselbe
ist der König aller Könige und der Herr aller Herren; ich aber bin wie
seiner Knechte einer!"
190. Demüthiget euch unter die gewaltige Hand Gottes.
Ein Edelmann zog mit seinem Weibe und zween Söhnen auf
ein Schloß, welches an einem See lag. Der Edelmann hatte sonst
keine Kinder, ohne diese beiden Söhne; an Gut aber war er sehr
reich. Um die Erntezeit, da Knechte und Mägde zu Felde waren,
und niemand daheim blieb, als Vater und Mutter und die beiden
Söhne, wollten diese beiden sich kühlen im schönen klaren Wasser,
und der Vater sah ihnen vom Hause herab zu. Da gerieth der
eine in eine Tiefe, sank und ertrank, und weil das Wasser lauter
und hell war, konnte der Vater sehen, wie er sich gegen den Tod
wehrte. Der andere Bruder will ihm zu Hülfe kommen, und da
er hinzu eilt, sieht ihn der Vater gleichfalls jämmerlich ertrinken,
und war kein Mensch vorhanden, der den beiden Söhnen hätte Hülfe
leisten können.
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Zwei Stunden lang weint der Vater, wäscht sich dann und
verbirgt seine Bekümmerniß, so gut er vermag, geht zu seinem Weibe
und spricht: „Sage mir, liebes Weib, womit wolltest du einen
trösten, wenn du sähest, daß er wollte der köstlichen Dinge eines
beweinen, da man doch dasselbe weder durch Reichthum, noch Rath,
noch aller Freunde und Verwandten Hülse möchte wieder bekommen?"
Die Heldin antwortete: „Ich wollte ihm rathen, daß er seinen
Willen dem göttlichen mit Ehrerbietung solle unterwerfen und also
mit Geduld und Mäßigkeit dasselbe dulden und tragen, weil Gottes
Wille kein Warum? hat und allezeit ein gnädiger Wille ist." Da
fängt er abermals heftig an zu weinen und sagt: „Der Herr Jesus
gebe dir dieselbe Gnade, deren ich jetzt hoch bedürftig bin, denn
unsre beiden Söhne sind eben vor meinen Augen ertrunken!" Die
Heldin fühlte wohl ihre Schwachheit, denn sie fiel in eine schwere
Ohnmacht; darnach aber sprach sie: „Der Herr hats gegeben, der Herr
hats genommen; der Name des Herrn sei gelobt!"
101. Gottes Zucht.
1. Wenn alles eben käme.
Wie du gewollt es hast.
Und Gott dir gar nichts nähme
Und gab dir keine Last:
Wie wärs da um dein Sterben,
Du Menschenkind, bestellt?
Du müßtest gar verderben.
So lieb wär dir die Welt!
2. Nun fällt — eins nach dem an-
dern —
Manch süßes Band dir ab.
Und heiter kannst du wandern
Gen Himmel durch das Grab;
Dein Zagen ist gebrochen.
Und deine Seele hofft. —
Dies ward schon oft gesprochen.
Doch spricht mans nie zu oft.
102. Was Gott thut, das ist wohlgethan.
Im Morgenlande kam ein frommer Mann des Abends vor
eine Stadt, deren Thore bereits verschlossen waren. Niemand wollte
sie ihm öffnen; hungrig und durstig mußte er unter freiem Himmel
übernachten. Er sprach: „Was Gott schickt, das ist gut," und legte
sich nieder. Neben ihm stand sein Esel und zu seiner Seite eine
brennende Laterne um der Unsicherheit willen in derselben Gegend.
Ein Sturni kam und löschte das Licht aus. „Was Gott schickt,"
sprach er, „das ist gut," und schlief ein im Finstern. Da schlich ein
Löwe daher und zerriß den Esel; den schlafenden Mann aber sah er
nicht wegen der Dunkelheit. „Ich wußte es," sagte dieser, als er auf-
wachte, „was Gott schickt, das ist gut!" und ging auf das Stadtthor
zu. Es war nun offen; als er aber hineinkam, war die ganze Stadt
leer; Räuber waren in der Nacht hineingefallen, hatten die Einwohner
weggeführt oder getödtet; er war allein glücklich der Gefahr entronnen.
„Nun wahrlich!" sprach er, „es ist alles, alles gut, was Gott schickt,
und wo wir etwas davon am Abend nicht begreifen, dürfen wir nur
geduldig den Morgen abwarten/der wird alles hell machen!" —
Welcher Morgen, mein Kind?
67
Wunderlich führt Gott in die Welt, durch die Welt und aus
der Welt. —
Mein Vater, führ mich immerdar
Nur selig, wenn auch wunderbar. —
Den Weg zu wählen gebürt dem Fuhrmann.
103. Den Steuermann darf man nicht meistern.
Ein Geistlicher in einem Seestädtchen fuhr auf einem kleinen
Schifflein vom Ufer nach der gegenüberliegenden Insel. Am Hinter-
theil des Schiffes stand der Steuermann; vorn saßen zwei Matrosen,
Vater und Sohn, und handhabten die Ruder. „Ihr seid heute wieder
traurig, Jack," sagte der Geistliche zu dem Vater. „Freilich," ant-
wortete der Matrose, „der Winter ist vor der Thür, und wie wirds
werden mit meinen fünf Kindern? Ich bin den ganzen Tag voller
Sorge!" „Das sollt ihr aber nicht sein, denn der Heiland sagt:
Sorget nicht!" „Den Spruch versteh ich nimmer und nimmer; also
soll ich mich jetzt auf die faule Haut legen, von meinen paaf ersparten
Groschen mir "einige gute Tage machen, und es darauf ankommen
lassen, ob der liebe Gott etwas beschert für Weib und Kind, oder ob sie
hungern und frieren müssen?"
„Das nicht, aber — holla, Jack! was ist denn das?" rief
plötzlich der Geistliche, „wir fahren eben durch die Klippen, und ihr
schaut euch nicht einmal um darnach? Thut eure Schuldigkeit!"
„Ei," sagte der Matrose gleichgültig, „das ist Sache des Steuer-
manns." „Thut eure Schuldigkeit, Jack! sag ich noch einmal, und
dämmert nicht so vor euch hin; seht ihr denn die Klippen nicht? Wir
gehen zu Grunde, wenn ihrs so leichtsinnig mit eurer Arbeit nehmt."
„Schuldigkeit thun — leichtsinnig nehmen?" erwiderte der Matrose,
„Herr, wie kommt ihr mir vor? Arbeit ich nicht aus Leibeskräften?
Soll ich vielleicht mit steuern helfen?" „Freilich, freilich," sagte der
Geistliche, „damit es glücklich vorwärts geht." „Ach, das wäre ja
eine unnütze Geschichte, Herr. Jeder thut eben das Seine, dann wird
schon alles recht werden; der Steuermann steuert, und ich führe das
Ruder. So ists Schiffsbrauch!"
„Nun, nehmts nur nicht übel, Jack!" erwiderte lächelnd der
Geistliche, „im Reich Gottes ists eben auch so Brauch. Das Ar-
beiten ist eure Sache; das thut aus Leibeskräften, und seht dabei
nicht rechts und nicht links! Die.Sorge aber, daß ihr bei eurer
Arbeit zu Grunde gehen und nicht vorwärts kommen möchtet, die
erspart euch, und laßt sie dem, der am Steuer sitzt, und von dem
geschrieben steht: Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt
ftrr euch."
Wer Gott verehrt, bleibt unversehrt. Gott läßt seine Uhr
nicht von Menschen stellen, aber sie geht richtig. Nach oben
schau, auf Gott vertrau; nach Wolken wird der Himmel blau.
Morgens grau, wird der Himmel blau. Nach Regen kommt
Sonnenschein. Leichter trägt, wer Geduld zur Bürde legt.
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104. Mein Nächster.
In dem Badeorte Schwalbach war im Jahre 1839 ein öster-
reichischer Officier angekommen, um gegen seine alten Leiden dort
Heilung zu suchen. Aber die Hauseigenthümer mochten ihn nicht gern
aufnehmen, denn er sah aus wie eine Leiche, und kein Wirt hat gern
einen Sterbenden in Quartier, weils leicht Schaden abseüt und um
Kundschaft bringt. Als der Kranke aus dem Wagen, in welchen! er
langsames Schrittes angefahren kam, herausgehoben wurde, erklärte
der Wirt zum blauen Lamm, vor dessen Hause der Kutscher hielt: er
bedaure, kein Zimmer mehr zu haben. Der Mann bat, zeigte seine
volle Börse, wollte doppelt zahlen, — alles umsonst. Da tritt ein Be-
wohner desselben Wirtshauses an den Wagen und spricht zum Wirte:
„Der Mann dort ist inein naher Verwandter und soll hier bleiben; ich
theile mein Zimmer mit ihm; er schläft in meinem Bette, und ich liege
auf dem Kanapee." Dagegen darf der Wirt nichts sagen, und der
Kranke, halb bewußtlos, wird ins Bett gebracht.
Als er erwacht, fragt er den Samariter, der sein Zimruer mit
ihm getheilt: „Aber sie sagten vorher, sie seien mein Verwandter;
wie heißen sie denn?" „Thut nichts," erwiderte der Samariter. „Ich
diene dem Herrn Jesu; der lehrt mich, wer mein Nächster ist; und
mein Nächster ist mein Bruder. Was gehts sie an, wie ich heiße;
ich frage nicht, wie sie heißen, sondern wo ich helfen kann." —Der
Kranke schläft ein und schließt seine Augen so schnell, daß nur eine
Thräne noch Raum hat, eben durchzuschlüpfen, und noch halb zer-
drückt wird. Die ersten Gläser des heilsamen Wassers von Schwal-
bach mußte der Kranke im Bette trinken, die ersten Bäder im Zimmer
nehmen. Der Samariter ist sein Bademeister und Wärter und hat
viel Trinkgeld bekommen, denn der Officier bessert sich von Tag zu
Tag, und in die Gläser und in die Bäder goß sein Wärter noch be-
sondere Heilkräfte, denn er verkündigte ihm dabei Jesum Christum,
den Heiland aller Sünder. Und als zehn Tage um waren oder zwölf,
saß der Kranke an der Quelle, oder stieg allein hinab in die Bäder;
und als vier Wochen um waren, war er geheilt, geheilt an Leib und
Seele, und das Wort des Samariters: „Der Mann dort ist mein naher
Verwandter," war zur vollen Wahrheit geworden, denn er war sein
Bruder in Christo.
Unter der Samaritergeschichte im Evangelium aber steht: So
gehe denn hin und thue desgleichen.
Frommer Mann hilft, wo er kann. Wie der Acker, so
das Getreide; wie die Wiese, so die Weide; wie der Herr, so
der Knecht; wie der Kriegsmann, so das Gefecht. Wie der
Baum, so die Frucht. Gemalte Blumen riechen nicht. Willig
Herz macht leichte Füße.
105. Selber essen macht fett.
Ist es dir so ums Fettwerden zu thun? Ach, das Pförtlein
ist so enge, das zum Leben führt, daß Leute, die nur sich alles auf-
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laben non Essen und Trinken, von Hab und Gut, mit ihrer Last nicht
hindurchkommen können. Wie kannst du dich auch nur freuen über
deinen Überfluß an Essen und Trinken, so lange mben dir so viele sind,
die hungern und dürsten! Nicht zum Selberessen, sondern zum Mit-
theilen hat dir Gott so vieles gegeben, und wird dich einst darum zu
finden wissen, wenn du kein treuer Haushalter bist über die mancherlei
Gaben, die er dir zur Verwaltung anvertrauet hat. Weißt du, was
der Herr sagt zu denen zu seiner Linken? „Gehet hin von mir, ihr
Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen
Engeln. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht ge-
speiset; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränket; ich
bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherberget; ich bin
nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank und ge-
fangen gewesen, und ihr habt mich nicht besuchet. Wahrlich, ich sage
euch: was ihr nicht gethan habt einem unter diesen Geringsten, das
habt ihr mir auch nicht gethan."
Und weißt du auch, wie es dem reichen Manne ging, der alle
Tage herrlich und in Freuden lebte und den armen Lazarus vor seiner
Thür Hm^er leiden ließ?
Also iß selber und mache dich fett, wenn du dein Theil in diesem
Leben dahinnehmen willst, wenn du zu dem großen Haufen gehören
willst, der sich um Himmel oder Hölle nichts bekümmert, sondern das
Liedlein des Leichtsinns anstimmt: Lasset uns essen und trinken, denn
morgen sind wir todt.
Glaubst du aber einen Himmel und möchtest gern nach des
Lebens heißen Wochentagen den ewigen Sabbat feiern mit den Se-
ligen, so gedenke des Wortes im Propheten Jesaias: „Brich dem
Hungrigen dein Brot, und die, so im Elend sind, führe ins Haus;
so du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entziehe dich nicht von
deinem Fleisch! Alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die
Morgenröthe, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine
Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn
wird dich zu sich nehmen."
Arme Leute bringen einen Gruß vom lieben Gott mit.
Schelten steht nicht wohl, wo man helfen soll.
106. Was mich nicht brennt, das blase ich nicht.
Wie mancher hat schon gesagt: „Was mich nicht brennt, das
blaseich nicht!" und ist vorübergegangen, wo er hätte helfen sollen.
Das ist so ein Sprüchlein, womit sich die Geizigen, Hartherzigen und
andere Leute dieser Art beruhigen, wenn der Geist nicht willig und
das Fleisch schwach ist. So dachten auch der Priester und Levit, als sie
den Armen in seinem Blute liegen ließen und sich aus dem Staube
machten. Dachte auch der Samariter so? Dachte auch der brave
Christoph Kollheim in einem Dörslein bei Duderstadt so? Der war
ein blutarmer Schelm und ein Witwer dazu, und hatte drei Kinder,
die gar oft sagten: „Vater, wie sind wir so hungrig!" Das hört ein
Vater gern, wenn er Brot genug hat und noch etwas dazu; aber wie
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schneidet das ins Herz, wenn keins daist! Und just so gings dem
armen Kollheim oft genug. Das Betteln verstand er nicht; aber er
verstand Schuhe zu flicken, Kochlöffel zu schnitzen und Besen zu binden
und solcher kleinen Künste mehr, was er auch so fleißig that, daß er
sich kümmerlich mit seinen Kindlein durchbrachte; — aber es kam doch
mancher „lange Tag.
Der Kollheim hatte einen recht guten Freund, der hieß Volk-
mann, war auch ein Witwer, wie er, und hatte sieben unerzogene
Kinder. „Gleich und gleich gesellt sich gern," heißts im Sprichwort
und „das Unglück ist der beste Leim." Der Dolkmann und seine
Kinder hatten auch der Fasttage so viele, daß sie schier die schwere
Kunst bald gelernt hätten, wenn nicht das Lehrgeld gar zu schwer
wäre. Beide Leidensbrüder waren ein Herz und eine Seele. Da
sagte einmal der Volkmann zu seinem Busenfreunde Kollheim: „Ich
ziehe nach Lauterberg ins Hannoversche; dort ist mehr Verdienst."
Gesagt, gethan — und der Hausrath kostete nicht viel Fracht. Der
Kollheim wünscht ihm alles, was ihm heilbringend sein kann; aber
der Arme fands in Lauterberg nicht, — denn er erkrankte und starb,
und die hungernden Kindlein schickten die von Lauterberg hin, wo
sie hergekommen. Die Bauern im Dorfe dachten: „Was mich nicht
brennt, das blase ich nicht!" und ließen die hungernden Waisen
laufen. Dachte auch der blutarme Kollheim so? Nein, der nahm
die sieben Waisen seines Freundes in seine kleine Hütte zu seinen
drei Kindern, sah mit einer heißen Thräne gen Himmel und seufzte:
„Herr, der du mit wenigen Broten Tausende gespeist hast, hilf, und
verlaß mich nicht!" — Wenn die Noth am größten, ist Gott am
nächsten! — denn das, was Kollheim gethan, wurde der preußischen
Regierung in Erfurt bekannt, und diese sandte ihm 40 Thaler zur
ersten Hülfe; auch sandte ihm ein frommer Mann heimlich 10 Tha-
ler. Und als es der fromme Preußenkönig Friedrich Wilhelm III.
hörte, so sandte dieser dem guten Kollheim ein Kapitälchen, daß er
sich konnte ein Feldgütchen kaufen; eins der Volkmannschen Kinder
aber kam ins Waisenhaus nach Halle, welches der ftomme Franke
gestiftet hat, der nicht sagte: „Was mich nicht brennt, das blase
ich nicht!"
Saget auch ihr nie so, wenn ihr hadern höret, wenn ihr Zeugen
fauler Geschwätze, sündhafter Flüche, schändlicher Handlungen oder
menschliches Jammers seid! Das brennt euch wohl, und wenn ihr
nicht blaset — wie stehts dann um euer Gewissen?
E8 geht dich auch an, wenn des Nachbars Haus brennt.
107. Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.
Niemand kann so arm sein, daß er nicht einem andern Armen
ein Almosen reichen und Barmherzigkeit an ihm thun könnte, und
die christliche Liebe ist allzeit reich und erfinderisch, es mangelt ihr
nimmer an Mitteln. Wenn sie nichts anderes hat, holt sie dem
Kranken einen Trunk frisches Wassers, oder geht aus und bittet sür
ihn bei andern, oder macht ihm sein Bette, oder bindet ihm in der
71
Sonnenhitze einen Wedel von grünen Reisern und weht ihm damit
ein kühles Lüftlein an.
Eine arme Witwe, deren Kinder selber in theurer Zeit das Brot
vor den Thüren suchten, hatte eine Henne und nährte sie mit den
Brocken,, welche ihr und ihren Kindern übrig blieben. Aber nicht
wenige von den Eiern, welche ihr das Huhn legte, kochte sie für
einen kranken und verlassenen Menschen in ihrer Nachbarschaft und
brachte sie ihm bald abends und bald morgens auf einem kleinen
Porzellanteller und legte Petersilienkraut herum, dap sie appetitlich
aussahen, als wären es Ostereier.
Ein frommer Mann hat gesagt: Hilf und gib gern, wenn du
hast, und dünke dich darum nicht mehr; und wenn du nicht hast,
so habe den Trunk kaltes Wassers zur Hand, und dünke dich darum
nicht weniger.
108. vr. Luthers Wohlthätigkeit.
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach
vr. Luther einst um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen
Thaler in seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geld-
stücke wurden damals Ioachimsthaler genannt nach der Stadt Ioa-
chimsthal am Erzgebirge, wo sie geprägt wurden; davon heißen sie
heutzutage Thaler. Als Luther nun angesprochen ward, bedachte er
sich kurz, griff fröhlich nach dem Thaler mit den Worten: „Jochen,
heraus, der Herr Christus ist da," und gab ihn dem armen Manne.
Einmal kam zum vr. Luther ein armer Student, der nach
Hause reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther
um eine Gabe; der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und
wurde sehr betrübt, daß er nichts zu geben hatte? Wie er so traurig
in der Stube umhersah, erblickte er einen schönen silbernen Becher,
den er von seinem Kurfürsten zum Geschenk erhalten hatte. Da
lief er mit fröhlichem Blick hinzu, ergriff das Kleinod und reichte
es dem Studenten, indem er sprach: „Ich brauche keinen silbernen
Becher." Und als der Student sich weigerte, ihn anzunehmen, drückte
Luther den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen und sprach:
„Da, nimm ihn, trag ihn zum Goldschmid, und was du dafür
lösest, das behalt." ' ,
109. Kranich und Wolf.
Äa der Wolf einmal ein Schaf gierig fraß, blieb ihm ein
Bein im Halse überzwerch stecken, daran er große Noth und Angst
hatte, und er erbot sich, großen Lohn und Geschenke zu geben, wer
ihm hülfe. _ Da kam der Kranich und stieß seinen langen Kragen
dem Wolf in den Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber
den verheißenen Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch
Lohn haben? Danke Gott, daß ich dir den Hals nicht abgebissen
habe; du solltest mir schenken, daß du lebendig aus meinem Rachen
gekommen bist."
72
Wer den Leuten in der Well will wohlthun, der muß erwarten,
Undank zu verdienen. Die Welt lohnt nicht anders, denn mit Un-
dank, wie man spricht: Undank ist der Welt Lohn.
110. Undank ist der Welt Lohn.
Eine große Schlange fiel in eine Höhle und schrie jämmerlich.
Ein Bauer kommt zum Loche und fragt, was da sei. Sie bittet,
er wolle ihr heraushelfen. Nein, sagt der Mann, an bösen Thieren
ist nichts Gutes zu verdienen. Die Schlange hält an und verspricht
ihm bei ihrem Gott, der einmal durch sie geredet, den besten Lohn,
den die Welt pflegt zu geben. Gaben und große Verheißung be-
thören auch die Weisen. Der Bauer hilft dem bösen und listigen
Thiere heraus; darauf will die Schlange ihn zum Lohn dafür fressen.
Hab ich das um dich verdient? ist das deiner Zusage gemäß? sagt der
Bauer. Ich bin zweizüngig, antwortet die Schlange; die Welt lohnt
nicht anders.
Als der Bauer in Ängsten steht, sagt die Schlange: Da du
mir nicht glauben willst, so wollen wirs aus die nächsten zwei an-
kommen lassen, die uns begegnen; was sie in dieser Sache urtheilen,
das soll uns beiden recht sein. Bald kommt ein altes Pferd; dem
legen sie die Sache vor. Der Schiedsmann spricht: Ich habe mei-
nem Kärrner fünfzehn Jahr gedient; morgen will er mich schinden
lassen; die Welt lohnt nicht anders. Darauf kommt ein alter Hund
daher; den fragen sie auch. Er spricht: Ich habe zehn Jahr lang
Tag und Nacht meinem Junker jagen und viele Füchse und Hasen
fangen helfen; jetzt hat er seinem Weidmann befohlen, er solle mich
todt schießen; das ist der Welt Lohn. Dem Bauern wird bang zu
Muthe. Indem trabt ein Füchslein daher; dem legt der Bauer seine
Sache auch vor und verheißt ihm alle seine Hühner/wenn er ihm voll
dem bösen Thiere helfe. Der Fuchs unterwindet sich des Handels und
beredet die Schlange, sie wolle ihm die Höhle zeigen und was ihre
Gefahr und des Bauern Dienst gewesen sei. Man kommt zum Loch.
Der Fuchs fährt hinein; die Schlange folgt nach und zeigt ihm alle
Gelegenheit; indes wischt der Fuchs heraus, und ehe sich die Schlange
umwendet, wälzt der Bauer auf Verabredung mit dem Fuchse einen
großen Stein vor das Loch.
Als der Bauer erledigt ist, fordert der Fuchs, er solle ihm aus
den Abend das Hühnerhaus offen lassen. Der Bauer kommt heim
und erzählt seiner Frau alles, was ihm begegnet und was er dem
Fuchse schuldig geworden ist. Die Bäuerin sagt, Hühner und Gänse
seien ihr; er habe nichts zu vergeben. Der Bauer will seinen Worten
nachkommen und läßt dem Fuchse das Hühnerloch offen. Da die
Frau das gewahr wird, wartet sie mit dem Knechte die Nacht auf
den Fuchs. Als der in gutem Vertrauen geschlichen kommt, ver-
rennen sie ihm das Loch und bleuen auf ihn zu, bis sie ihn ergrei-
fen. Ach, sagt der Fuchs, ist denn das recht und der Welt höchster
Lohn, so bestätige ich armer Schalk heute dies Weltrecht mit meinem
Leben und Balg.
73
111. Untreue.
Eine Maus wäre gern über ein Wasser gewesen, konnte aber
nicht und bat darum einen Frosch um Rath und Hülfe. Der Frosch
war ein Schalk und sprach jus Maus: Bmde deinen Fuß an mei-
nen Fuß, so will ich schwimmen und dich hinüber ziehen. Da sie
nun aufs Wasser kamen, tauchte der Frosch unter und wollte die
Maus ertränken. Indem aber die Maus sich wehrt und arbeitet,
fleugt ein Habicht daher und erhascht die Maus, zeucht den Frosch mit
heraus und frißt sie beide.
Sieh dich vor, mit wem du handelst. Die Welt ist falsch und
Untreue voll; denn welcher Freund es dem andern vermag, der steckt
ihn in den Sack. Doch schlägt Untreue allzeit ihren eignen Herrn, wie
dem Frosch hier geschieht.
112. Freundschaft.
1. Der Mensch hat nichts so eigen.
So wohl steht nichts ihm an.
Als daß er Treu erzeigen
Und Freundschaft halten kann;
Wenn er mit seinesgleichen
Soll treten in ein Band,
Verspricht sich, nicht zu weichen.
Mit Herzen, Mund und Hand.
2. Die Ned ist uns gegeben.
Damit wir nicht allein
Für uns nur sollen leben
Und fern von Menschen sein.
Wir sollen uns befragen
Und sehn auf guten Rath,
Das Leid einander klagen.
Das uns betroffen hat.
3. Gott stehet mir vor allen.
Die meine Seele liebt;
Dann soll mir auch gefallen.
Wer mir sich herzlich gibt.
Mit diesen Bundsgesellen
Verlach ich Pein und Notb,
Geh auf den Grund der Höllen
Und breche durch den Tod.
113. Der kleine Friedensbote.
Ein Gerber und ein Bäcker waren Nachbarn, und die gelbe
und weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber
ein Kind geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe, und
wenn der Bäcker in seinem großen Obstgarten an die Stelle eines aus-
gedienten Invaliden einen Rekruten bedurfte, ging der Gerber in seine
schöne Baumschule und hob den schönsten Mann aus, den er darin
hatte. Zu Ostern, Martini und am heiligen Abend kam die Bäckerin
immer, welche keine Kinder hatte, einen großen Korb unter dem Arme,
zu den Nachbarsleuten hinüber und theilte unter die kleinen Pathen aus.
Je mehr sich die Kindlein über die reichen Spenden freuten, desto näher
rückten einander die Herzen der beiden Weiber, und es schien, als ob
„sie einander immer gut bleiben würden.
Aber ihre Männer hatten ein jeglicher einen Hund, der Gerber
l Iagdliebhaber einen großen, braunen Feldmann, und der Bäcker
^nen kleinen, schneeweißen Mordax. Beide meinten, die besten und
schönsten Thiere in ihrem Geschlechte zu haben. Und da geschah
es denn eines Tages, daß Mordar ein Kalbsknöchlein gegen den
4
74
Feldmann behauptete. Denn er hatte wahrscheinlich vergessen, daß
es nicht aut sei, einem großen Herrn etwas abzuschlagen. Vom
Knurren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner
grünen Bank vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein
mit zermalmten! Genick vor ihm, und der Feldmann lief mit dem
eroberten Knochen und mit eingezogenem Schweif davon. Sehr er-
grimmt und entrüstet warf der Bäcker dem Hunde einen gewaltigen
Stein nach. Aber was halfs? Der Stein flog nicht dem Hunde
an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das Fenster, mitten auf
den Tisch, an dem er gerade die Zeitung las. Ohne zu fragen,
woher der Schuß gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten
Fensterflügel auf und sing an zu schimpfen. Der Nachbar in der
weißen Schürze und mit den aufgestülpten Hemdärmeln blieb nichts
schuldig; Kinder und Leute liefen zusammen. Der Bäcker verließ
den Kampfplatz zuerst, aber nur, um seinen Nachbar bei Gericht zu
belangen. Die Sonne ging über dem Zorn der beiden Männer
unter, und den Tag darauf wurden sie vor Gericht geladen. Der
Gerber wurde verurtheilt, den todtgebissenen Mordax mit einem
Reichsthaler zu büßen. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten
Fensterflügel und das Loch in der Zeitung nicht viel weniger bezah-
len und sich mit seinem Widerpart in die angelaufenen Sporteln
theilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große
Kluft befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog' kein
freundliches Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so
nahm die Nachbarin ihren Weg rechts, und ebenso mieden die Män-
ner einander.
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten,
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch,
um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade
herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner
Helm, der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute,
rief sogleich: „Mutter, einen Groschen! ich hole das Brot." Dann
wandte er sich in seiner kindlichen Eilfertigkeit an den Vater und
sagte: „Heut aber lauf ich nicht lange umher, und wenn es beim
Thorbäcker kein Brot gibt, geh ich wieder einmal zu dem Herrn
Pathen hinüber." Der Gerber, der vielleicht die anklopfende Gna-
denhand des Herrn spürte, sagte nicht Ja und nicht Nein darauf
und ließ den Knaben ziehen, ^m ersten Brotladen hatten aber die
Wecken schon alle ihre Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum
Thor herein, laut singend, wie es manchmal lebhafte Kinder mit
ihren Gedanken zu thun pflegen, daß es die, ganze Gasse hören
konnte: „Heut geh ich zum Herrn Pathen! heut geh ich zum Herrn
Pathen!" Ungehalten über den argen Schreihals wollte sein Vak
ter ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster aus-
bringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Hause hinein,
und'— kehrte nach einigen Augenblicken als Friedensbote wieder
zurück. Er hatte einen geschenkten Kringel in der Hand und rief.
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über die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr Pathe
läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald wieder
kommen."
Noch an dem Nemlichen Abend wechselten die Nachbarsleute
einige freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die
weiße und die gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisam-
men; am dritten zeigten die Weiber einander die Leinwand, zu der
sie in den drei bösen Jahren oft mit ihren Thränen über den un-
seligen Zwist den Faden genetzt hatten.
Und es.war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt
hatte. Denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet
schnell in ein Nervenfieber und aus diesem nach wenigen lichten
Augenblicken in den Todesschlummer. — Gott gebe ihm eine fröhliche
Urständ!
Eintracht unter Nachbarn ist Vorspann den Berg hinauf.
Hart gegen hart nimmer gut ward. Man kann nicht Feuer
mit Feuer löschen. Glute Antwort stillt den Zorn. Nachgeben
stillt den Krieg.,, Ein gutes Wort findet einen guten - Ort.
Man muß nicht 01 ins Feuer gießen. Reden ist eine Kunst,
Schweigen ist auch eine Kunst. Kehre zuerst vor deiner Thür.
Mancher hat draußen hundert Augen und daheim kaum eins.
Wenn man die Scheltworte auslegt, werden sie ärger. Aus
kleinem Wort kommt großer Schade. Was bitter und trüb,
trägt alles die Lieb.
114. Der Sklave.
Ein Negersklave in Ostindien hatte sich durch sein christliches
Betragen das Zutrauen seines Herrn erworben. Als dieser einst
neue Sklaven brauchte, nahm er ihn mit auf den Sklavenmarkt und
befahl ihm, solche auszusuchen, die er für die besten hielte. Der
Sklave hatte sie ausgesucht, da sah er noch einen alten, abgelebten
Mann. „Mafia" (Herr), sprach er, „den müßt ihr noch in den
Kauf haben." „Warum?" fragte der Herr. „O Mafia," antwortete
der Neger, „ihr müßt ihn haben!" Der Sklavenhändler, der wohl
ohnehin an dem Alten nicht viel zu verdienen wußte, willigte ein.
Nicht lange nachher wurde der alte Mann sehr krank. Der fromme
Neger pflegte 'ihn mit großer Aufmerksamkeit, so daß es seinem
Herrn unmöglich^ entgehen konnte. „Was hast du mit dem alten
Mann," fragte sein Herr, „du bist so zärtlich besorgt für ihn; ist er
vielleicht dein Vater?" „Nein, Mafia," sagte der Sklave, „er ist mein
Väter nicht." „Oder einer deiner Verwandten?" „Nein, Mafia,
er ist kein Verwandter von mir." „Wer denn? dein Freund?"
„Nein, Mafia, er ist auch nicht mein Freund!" „Und was denn?"
fragte der Herr. „Er ist mein Feind, Mafia! Dieser Mann hat
mich, als ich noch ein kleines Kind war, von meinem Vater und
meiner Mutter weggerissen und in die Sklaverei verkauft. Und im
Worte Gottes hab ich gelesen: So deinen Feind hungert, so speise
ihn; dürstet ihn, so tränke ihn!"
4
76
115. Überwinde das Böse mit Gutem.
^stetes) der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden
von den Preußen geschlagen wurden, bat ein auf den Tod ver-
wundeter Schwede einen vorübergehenden preußischen Soldaten
flehentlich um einen Trunk. „Den sollst du haben, Kamerad," sagte
dieser; während er aber die Flasche losmachte, ergriff der tückische
Schwede eine neben ihm liegende Pistole und feuerte sie unver-
sehens auf den gutmüthigen Preußen ab, fehlte ihn aber. „Es
war gut gezielt," s^gte dieser, „denn die Kugel pfiff mir just am Ohre
vorbei; aber böse wars gemeint, und ich kann dich deswegen nicht
ungestraft lassen. Sieh, diese Flasche ist voll gutes Weines,' und du
hättest sie ganz bekommen; jetzt aber bekommst du sie nur halb." —
Damit that der Preuße einen tüchtigen Trunk aus derselben, gab sie
dann dem Schweden und ging ruhig davon.
Diebs ist wie der Thau: sie fällt auf Rosen und Nesseln.
f\
116. Liebet eure Feinde.
Älbrecht, Herzog in Österreich, hatte einen Krieg mit denen
von Basel. Nun geschah es, daß 1356 die Stadt Basel durch ein
Erdbeben und Feuer hart beschädigt wurde, so daß em Theil der
Mauern und viele Häuser zusammenstürzten, als er gerade mit seinem
Volke davor lag. Da reizten ihn seine Kriegsräthe, jetzt solle er
die Stadt mit Sturm angreifen, so könne er sie leicht unter seine
Gewalt bringen. Aber der christliche Fürst gab eine gar lobwürdige
Antwort und sagte: „Ei, davor behüte mich Gott, daß ich die hoch-
betrübte Stadt noch mehr betrüben sollte! Wo bliebe dann Christi
Befehl: Liebet eure Feinde; thut wohl denen, die euch beleidigen?"
— Alsbald sandte er 400 starke Bauern vom Schwarzwalde hin,
uuterhuelt sie auf seine Kosten, ließ sie die verfallene Gasse aufräu-
men^ half den Baselern auf alle Weise zur Aufbauung und sprach:
„Wenn sie nun sich wiederum verwahret haben und lassen sich nicht
recht an/dnnn wollen wir uns herumschlagen, daß das Feuer heraus-
* fahren soll." Die Baseler jedoch, durch solch christliches Bezeigen
» gcküh^L schlossen alsobald einen billigen Frieden. Das war Böses
mit lMem überwunden.
Zornes Ausgang ist der Reue Anfang. Wer im Zorn
handelt, geht im Sturm unter Segel. Haß und Neid macht
die Hölle weit. Friede ernährt, Unfriede verzehrt. Man bläst
so lange in die Asche, bis einem die Funken ins Gesicht stie-
ben. Gute Sache befiehlt Gott die Rache. Ein magerer Ver-
gleich ist besser, als ein fetter Proceß.
117. Wie man in den Wald schreit, so schreit es wieder heraus.
Man braucht nur z. B. an einem Markt- oder Feiertag an eiser
Schenke vorüberzugehen, um zu hören, wie Fluch mit Fluch, Schelt-
wort mit Scheltwort vergolten wird; und meistens schreit es noch
ärger aus dem Walde heraus, als man hineingeschrieen hat; auf
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ein Scheltwort kommen drei und vier, die noch schlimmer sind, als
das erste. / _ r
„Es soll Ficht, liebe Brüder, also sein. Vergeltet mcht Böses
mit Bösem, /och Scheltwort mit Scheltwort. Christus hat uns ein
Vorbild gel/sen, daß wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen, der
nicht wiede/schalt, da er gescholten ward, und nicht dräuete, da er
litt." /
Dagegen, wenn dir aus dem Buch des Lebens ein Wort des
Segens ündie Ohren tönt, wenn der Herr dich in deinem Leben
grüßt mit allerlei Erweisungen seiner Liebe und Freundlichkeit, oder
wenn an einem heitern Frühlingstage die Vögel unter dem Himmel
den Herrn, ihren Schöpfer, loben: dann soll dein Herz ein helles Echo
sein, und dein Mund soll überfließen von dem Lobe deines himmlischen
Vaters:
Schallet deine Lieb hernieder,
Soll dir meine schallen wieder;
Wenn du rufst: Ich liebe dich!
Ruft mein Herz: Dich liebe ich!
118. Der Hirtenhund.
Ein alter Hirtenhund, der seines Herrn Vieh treulich bewachte,
geht abends heinr. Da klaffen ihn die Polsterhündlein auf der Gasse
all. Er trabt vor sich hin und sieht sich nicht um. Als, er vor die
Fleischbank kommt, fragt ihn ein Fleischerhund, wie er das Gebell lei-
den könne, und warum er nicht einen beim Kamm nehme. Nein, sagt
der Hirtenhund, es zwackt und beißt mich keiner, und ich muß meine
Zähne für die Wölfe haben.
119. Allen Leuten recht gethan ist eine Kunst, die niemand kann.
Eewiß niemand! Denn ehe du dich dessen versiehst, hast du
die Eitelkeit, den Hochmuth, die Eigenliebe, den Eigennutz, die Un-
geduld deiner Nebenmenschen verletzt und gereizt. Was die einen
loben, werden die andern tadeln; was die einen bewundern, werden
die andern verachten; was dir von der einen Seite Liebe erwirbt,
wird dir von einer andern Seite Haß und Verfolgung zuziehen.
Was folgt daraus? Daß wir uns um der Menschen Urtheil
gar nichts bekümmern? Doch nicht! Denn es gibt wenigstens ein-
zelne unter der großen Menge, deren Urtheil, deren Liebe und Ach-
tung, Beifall und Zufriedenheit dir nicht gleichgültig sein darf; und
selbst die Schwachen, deren Urtheil uns nicht leiten und unser Han-
deln nicht bestimmen darf, sollen wir wenigstens schonen. „Seid nicht
ärgerlich, weder den Juden noch den Griechen, noch der Gemeinde
" ottes. Gleichwie ich mich jedermann in allerlei gefällig mache, und
che nicht, was mir, sondern was vielen frommet, daß sie selig wer-
den." 1. Kor. 10, 32. 33.
Aber es muß Maß und Ziel in allen Dingen sein, und wer
es in der Welt jedermann recht machen, nach aller Menschen Urtheil
U
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sich richten wollte, der würde zu einem Rohr, das der Wind hin und
her weht. Darum lasset uns thun, was recht ist vor Gott und unserm
Gewissen, und uns nicht darüber grämen, wenn die Welt uns ver-
dammt. „So euch die Welt hasset, so wisset, daß sie mich vor euch
gehasset hat." Ioh. 15, 18.
120. Wer lange fragt, geht lange irre.
Es kommt nur darauf an, bei wem und nach was du fragst.
Willst du eine Freude, die bald verrauscht; willst du Schätze, welcbe
Motten und Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen;
willst du schmeichelndes Lob und Ehre; willst du die neuesten Mo-
den in Kleidern und Gerathen, und endlich, wenn dein Leben sick
zu Ende neigt, eine späte Reue, die zu keiner Bekehrung führt, ein
verzagendes Herz und ein nagendes Gewissen: so gehe hin zur Welt.
Zu diesem Ziele kann sie dir den sichersten Weg zeigen, denn sie wan-
delt ihn selbst.
Willst du aber einen Schatz, der nicht veraltet; Güter, die nicht
verschwinden; Freunde, die dich nicht verlassen; einen Frieden im
Innern, der me aufhört; - einen heitern Lebensabend, ein ruhiges
Ende und eine selige Auferstehung: dann frage den Herrn, der mit
Recht von sich sagen durfte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und
das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich." Wer es
umkehren wollte und bei der Welt nach dem Wege des Lebens fragen
oder im Worte Gottes den Weg zum flüchtigen Erdenglücke suchen,
der-würde freilich irre gehen.
Also ziemt es dem Christen, daß er, das ewige Ziel im Auge,
festes Trittes einheraehe auf der Bahn des Lebens, unbekümmert um
das Gelächter der Thoren und den Haß der Verkehrten, und mit Assaph
spreche: Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel
und Erde.
121. Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Älso müssen wir den Herrn Christum lernen ansehen, nicht als
der uns nütze sei allein mit seiner Lehre und Exempel und mm von
uns hinweg sei, wie andere Heilige; sondern er ist die rechte Straße,
daraus man gehet und fähret von diesem Leben in jenes. Welcher
Gang fängt sich an in der Taufe, und so der Glaube da ist, fährt der
Mensch immer fort auf derselben Straße, bis er ganz hindurchkommt
durch den Tod.
Halte dich durch den Glauben an Christum, so fängst du recht
an; bleibe an ihm, so bist du selig. Also kommst du aus dem
Tode ins Leben, aus der Sünde und Verdammniß zur Unschuld und
Gerechtigkeit, aus dem Jammer und Herzeleid zur ewigen Freude und
Seligkeit.
122. Wir sind des Herrn.
Dr. Luther ward einstmals von seinem Wirte angesprochen,
er solle ihm statt des Tischgeldes einen Spruch zum Gedächtniß an
79
die Wand schreiben. Da stieg er auf die Dank und schrieb St. Pauli
Worte Röm. 14, 8: Wir sind des Herrn, und sprang herab und
sprach: Wir sind des Herrn Christi Eigenthum, er wird das Seine
wohl bewahren; und wir Christen sind auch Herren über Tod, Sünde
und Teufel, die sollen keine Macht an uns finden.
123. Christus ist unsere Gerechtigkeit.
3m fernen Indien lebte ein angesehener heidnischer Mann,
den mit einem Mal eine große innere Unruhe seiner Sünden wegen
ergriff. Er ging zu seinem Götzenpriester, sich einen Trost zu holen,
und der sprach: „Gehe hin und wasche dich in dem heiligen Fluß
Ganges!" Er that es; aber seine Angst wollte sich nicht verlieren.
Da rieth ihm der Götzenpriester, er solle eine Wallfahrt thun 150
Stunden weit nach einem fernen Götzentempel. Er thats; aber er-
brachte den Fluch der Sünde auch von da wieder mit zurück. Fle-
hentlich bat er den Priester wieder, er möge ihm helfen von seiner
Pein. „Gut," sagte dieser, „dir soll geholfen werden. Nimm dir
zehn starke eiserne Nägel, die schlag dir durch deine Sandalen; dann
nimm einen schweren Block auf die Schultern, achte nicht deines
Blutes und deiner Schmerzen, und gehe damit einen Weg von
fünfzig Stunden!" Der Mann that es, achtete nicht seines Blutes
und seiner Schmerzen, von Stunde zu Stunde hoffend, Frieden zu
finden. Nachdem er sich aber zwanzig Stunden durch die Wüste
geschleppt hatte, konnte er nicht mehr weiter; in einem Dorfe sank
er nieder und meinte zu sterben. Da sannnelte sich in seiner Nähe
ein großer Haufe Menschen, und ein fremder Mann sing an, zu
dem Volke zu reden. Es war ein Missionar, der von Jesu redete,
als dem Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, und dessen
Blut rein mache von aller Sünde. Da horchte der arme Heide
auf; die Worte des fremden Friedensboten sielen auf sein Herz, wie
ein Regen auf das dürre Erdreich. Laut rief er durch das Volk:
„Der ists, der mir helfen kann; der ists, den ich suche; an den will ich
glauben!" und ließ sich unterweisen und taufen. Dann kehrte er heim
und hatte Ruhe gefunden für seine Seele.
Cllrikti Llut und Gerechtigkeit, da8 ist mein Schmuck und
Ehrenkleid; damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum
Himmel werd eingehn.
124. Der Galeerensklave.
(¡Ein Fürst ging einmal auf ein Galeerenschiff, um die Gefan-
genen zu sehen, die auf demselben wegen ihrer Verbrechen in Ketten
geschmiedet arbeiteten. Es jammerte ihn ihre schwere Strafe, und
er nahm sich vor, wenigstens einem von ihnen die Freiheit zu schenken.
Er wollte aber erst untersuchen, welcher unter ihnen der würdigste
wäre. Deswegen fragte er einen nach dem andern, warum er hier sei.
Da ging nun das Klagen und Lamentieren an. Jeder sagte, er sei
eigentlich der ehrlichste und unschuldigste Mensch von der Welt; böse
Menschen hätten ihn bei der Obrigkeit verleumdet, und so sei er an
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diesen Ort gekommen. Jeder bat, der Fürst möge stch seiner erbar-
men und ihm die Freiheit schenken.
Endlich kam der Fürst auch zu einem noch ganz jungen Ge-
fangenen und fragte ihn: „Was hast du denn gethan, daß man
dich hierher gebracht hat?" „Gnädiger Herr," antwortete er, „ich
bin ein gottloser Bube gewesen. Ich bin meinem Vater und
meiner Mutter nicht gefolgt, bin ihnen davon gelaufen, habe ein
liederliches Leben geführt, gestohlen und betrogen; ich müßte ein
paar Stunden Zeit haben, wenn ich alle die bösen Streiche erzählen
wollte, die ich mein Leben lang begangen habe. Endlich ist mir
mein Recht geworden, und gern will ich meine Strafe leiden, denn
ich weiß, dap ich sie verdient habe." — Der Fürst wußte wohl, daß
sie alle ihre Strafe verdient hatten; aber er sagte lächelnd: „Wie
kommt denn ein so abscheulicher Mensch unter diese achtbare Gesell-
schaft? Geschwind nehmt ihm die Ketten ab und jagt ihn augenblick-
lich hinaus, damit er nicht etwa gar diese ehrlichen Leute auch noch
verführe!" Sogleich wurde er von seinen Ketten erlöst und in Freiheit
gesetzt.
125. Was das heißt: der Welt gekreuzigt sein.
vorzeiten hat ein Jüngling einen Altvater gefragt, was dock-
das heiße: der Welt gekreuzigt sein. „Geh hinaus", sagte der Alte,
„auf den Kirchhof, rufe den Todten und sprich: Kommet heraus;
es ist liebliche Maienzeit, der Himmel ist blau, und die Vögel sin-
gen!" Der Jüngling ging hin, und als er zurückkam, sprach der
Altvater: „Was,haben sie geantwortet?" „Nichts", sagte der Jüng-
ling. „Geh wieder hin," gebot der Alte, „rufe den Todten und
sprich: Es steht ein Wetter am Himmel; machet euch auf und'eilet,
daß ihr unter Dach kommet, denn es wird bald losbrechen!" Als der
Jüngling wiederkehrte, fragte jener wieder: „Was haben sie geant-
wortet?" „Nichts", sagte der Jüngling. „So geh wieder hin und
lobe sie, und wenn sie nicht hören, dann schilt sie." „Ach, mein Vater,"
sagte der Jüngling, „das wird auch vergeblich sein; sie werden mir
auf beides wieder nichts antworten." Da sagte der Alte: „Siehe,
mein Sohn, nach der Welt Lust und Traurigkeit, Locken und Dräuen,
Loben und Schelten gerade so wenig fragen als die Todten, das heißt:
der Welt gekreuzigt sein."
Vögel, die hoch fliegen, werden nicht gefangen. Wer auf-
wärts will, muß aufwärts blicken.
126. Die Wett im Herzen.
In alten Zeiten lebte ein Mann, der war sehr aufbrausend
und schnell zum Zorn, und wenn er zornig gewesen, gereute es ihn
wieder. Da dachte er: „Das kommt von den bösen Menschen;
ließen mich die in Frieden, so würd ich auch wohl sanftmüthig sein.
Ich will lieber fortgehen in den Wald und ein Einsiedler werden;
da werd ich keinen mehr hören und sehen und werde mich nicht
mehr erzürnen." So geht er fort in den Wald, sucht sich einen
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Ort, wo ein Brunnen vom Felsen herabrinnt, und will sich da eine
Hütte bauen. Über der Arbeit wirds ihm warm, und er trägt seinen
Krug zum Brunnen und stellt ihn unter, daß er voll werde. Der Krug
aber fällt um, und er muß ihn zum zweiten Mal unterstellen. Nach
einer Weile fällt der Krug abermals, und der Einsiedler, statt ihn
wieder aufzustellen, wird so zornig, daß er ihn nimmt und am Felsen
in tausend Stücke zerschlägt. Als er nun den Henkel in der Hand hat
und die Scherben auf dem Boden liegen sieht, kommt er auf einmal
wieder zu sich, erschrickt und spricht zu sich selbst: „O ich Thor, ich
dachte, daß der Zorn in mich hineinkommt; nun sehe ich, daß er aus
mir herauskommt; darum will ich kein Einsiedler mehr sein, sondern
wieder zu meinen Brüdern gehen, daß sie mir guten Rath geben und
mir beten helfen, mein eigen Herz zu bessern."
'War dem Wasser wehren will, muß die Quelle stopfen.
Feuer hört nicht auf zu brennen, man thue denn die Kohlen
weg. Wessen das Herz ist angefüllt, davon es sprudelt und
überquillt.
127. Was ein heiliges Leben sei.
Selbstgemachter, absonderlicher Heiligkeit, wie die Römisch-Ka-
tholischen lehren wider Gottes Wort, bedarfs nicht, wie das die
alten Väter in der Geschichte St. Antonii darthun. St. Antonius
begehrte von Gott zu wissen, wie hoch er durch sein heiliges, stren-
ges Leben, das er in der Wüste geführt, bei Gott gekommen sei,
und was er verdient habe. Da ward ihm im Traum der Bescheid
gegeben, er solle in eines Schusters Haus zu Alexandria nahe beim
Stadtthor gehen, da werde er solches erfahren. Da er nun hin-
kommt, fragt er den Hausvater, was sein Thun und Leben sei, die-
weil er ein so heiliger Mann sein solle. Da erzählt ihm der Schuster,
was er glaube und was sein Werk und Thun sei; nemlich, wenn
er aufstehe, so danke er Gott für alle geistlichen und leiblichen Wohl-
thaten, und sonderlich dafür, daß er seinen Sohn der Welt gegeben
und den heiligen Geist in der Gläubigen Herzen sende, sie zu er-
leuchten und zu heilmen; daß er auch darnach Gott den Herrn bitte,
daß er ihm seine Sünde um seines Sohnes Jesu Christi willen
gnädiglich vergeben und die ganze christliche Gemeinde, auch sein
Weib, Kind und Gesinde schützen und erhalten, ja daß auch der
Sohn Gottes unser Fürbitter bei dem ewigen Vater sein wolle. Wenn
er solches gethan, so gebe er sich alsdann in solchem Glauben und
Zuversicht zu Gott von wegen des Mittlers zufrieden und gehe dar-
nach fröhlich an seine Arbeit, ziehe auch sein Weib, Kind und Gesinde,
so viel als ihm möglich, zur Gottesfurcht und zu allem Guten. Da
sprach St. Antonius: „Ist das alles? Führest du denn nicht ein
strenger Leben, als dieses?" „Meinst du denn," sprach der Schuster
zu St. Antonio, „daß dies Leben nicht strenge genug sei, daß ich
täglich mit schwerer Arbeit mich, mein Weib, Kind und Gesinde er-
nährm. und vielerlei Kreuz und Noth in meinem Hause, auch viele
Beschwerden meiner bürgerlichen Pflicht wegen tragen und leiden muß?
4**
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Meinst du, es sei nicht ein strenges Leben, dies alles recht zu leiden
und durch Glauben, Anrufung Gottes und Geduld zu ertragen?" Da
ging Antonius von ihm und merkte, daß ihn Gott dadurch ermahnt
habe, daß er hinfort nicht mehr seinen Mönchsstand anderer Leute
Leben vorziehen solle, und nicht meinen, daß er vor Gott wohlgefälliger
sei, als sie mit ihrem Thun.
128. Es ist noch Raum da.
Äs geschah am andern Sonntag nach Trinitatis, da man pre-
digt vom großen Abendmahl, daß zu Schwabach zwei Landsknechte
sitzen und hören der Predigt zu. Als sie nun vernehmen, wie die
Armen und Krüppel und Lahmen geladen worden und für die Bettler
auch noch Raum gewesen, wird dem einen sein Herz bewegt, und er
sagt zu seinem Gesellen: „Walt Gott, lieber Bruder mein, wenn wir
zu Felde müssen und der Tod die Trommel dazu schlügt, daß wir als-
dann auch zur Tafel Christi und seiner Heiligen angenommen werden.
Wir sind auch von den Landstraßen und Zäunen her, erbarms Gott!
und rechte Bettler!" und deutete damit auf das elende Leben, das die
Landsknechte führen mußten, wenn kein Krieg war, und sie nicht stehlen
wollten.
Als sie nun aus der Kirche gehen, hören sie großes Geschrei
und die Trommel schlagen durch die Gassen. Die Feinde waren un-
versehens herangerückt und wollten das Städtlein überfallen. Da
muß der arme Landsknecht auch mit, setzt seinen Helm auf, nimmt
seinen Spieß und zieht mit seinem Fähnlein der Trommel nach, wird
aber alsbald tödtlich verwundet. Als nun die Feinde geschlagen sind,
will sein Kamerad nach ihm sehen. Da sitzt er an einem Baume, lebt
noch und hat die Augen gen Himmel gerichtet. Da aber der andere
ihn fragt, wie es steht, sagt er: „Bruder, es ist noch Raum da!" und
ist damit selig entschlafen.
129. Tod und Auferstehung.
Wir müssen hinfort eine neue Lehre lernen vom Tode und
Grabe: wenn wir sterben, daß es nicht todt oder gestorben heißt,
sondem auf den zukünftigen Sommer ausgesäet, und der Kirchhof
nicht ein Kirchhof, sondern ein Gottesacker voll lebendiger Körnlein,
die da heißen Gottes Körnlein, die sollen wieder hervorgrünen und
wachsen, schöner, denn ein Mensch begreifen kann. Denn Gott ist
ein solcher Ackermann, und du bist sein Körnlein, das er in die
Erde wirft. Er ist aber viel ein besserer und größerer Ackermann,
denn ein Bauer auf dem Felde, und hat viel köstlicheren und
reicheren Samen. Das sind wir Menschen, so viel unser auf Erden
kommen, von Adam an bis an den jüngsten Tag; dieselben streut
er um sich in die Erde, wie er sie ergreift, Weib, Mann, groß, klein,
jung, alt, reich und arm. Denn es ist ihm einer, wie der andere,
und die ganze Welt nicht anders, denn wie dem Landmann das
Tuch voll Samen. Darum wenn er die Leute sterben läßt, das
heißt er in das Tuch gegriffen und eine Handvoll um sich gestreut.
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auf daß solcher Same wieder viel herrlicher und schöner hervvrblühe.
Wenn ich also sehe meinen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Kind
oder Freund in den Gottesacker begraben und daselbst liegen, muß ich
als Christ nicht sagen: „Da liegt ein Todter," sondern: „Da liegt
mein lieber Vater, Mutter u. s. w. und ich heute oder morgen auch
bei ihnen. Was sind sie? Körnlein, die bald sollen keimen, wachsen,
unsterblich und unverweslich, viel schöner, denn die grüne Saat auf
dem Felde, wenn es Sommer wird."
130. Abendgeläut.
t. Liebster Mensch, was mags be-
deuten.
Dieses späte Glockenläuten?
Es bedeutet abcrmal
Meines Lebens Ziel und Zahl.
2. Dieser Tag hat abgenommen.
Bald wird auch der Tod Herkommen;
Drum, o Mensch, so schicke dich.
Daß du sterbest seliglich!
131. Ruf nach der Heimat.
1. Kommt, Kinder, laßt uns gehen:
Der AbeiH kommt herbei;
Es ist gefährlich stehen
In dieser Wüstenei!
Kommt, stärket euern Muth,
Zur Ewigkeit zu wandern.
Von einer Kraft zur andern;
Es ist das Ende gut!
2. Es soll uns nicht gereuen
Der schmale Pilgökpfad;
Wir kennen ja den Treuen,
Der uns gerufen hat.
Kommt, folgt und trauet dem;
Ein jeder sein Gesichte'
Mit ganzer Wendung richte
Steif nach Jerusalem.
3. Schmückt euer Herz aufs beste.
Sonst weder Leib noch Haus;
Wir sind hier fremde Gäste
Und ziehen bald hinaus.
Gemach bringt Ungemach;
Ein Pilger muß sich schicken.
Sich dulden und sich bücken
Den kurzen Pilgertag.
4. Es wird nicht lang mehr währen.
Halt noch ein wenig aus!
Es wird nicht lang mehr währen.
So kommen wir nach Haus.
Da wird man ewig ruhn.
Wann wir mit allen Frommen
Daheim beim Vater kommen;
Wie wohl! wie wool wirds thun!
5. Drauf wollen wirs denn wagen,
Es ist wohl Wagens werth.
Und gründlich dem absagen.
Was aufhält und beschwert.
Welt, du bist uns zu klein;
Wir sind des Himmels Erben,
Gehn durch das bittre Sterben
Ins selge Leben ein.
132. Die sieben Schläfer.
fürchte nicht, daß dir die Zeit allzulange werden wird, bis
der große Tag des Herrn anbricht. Wenn man schläft, geht einem
ja die Zeit fort, man weiß nicht, wo sie hinkommt. Das haben
uns die Väter vorgebildet in dem, was sie erzählen von den sieben
Schläfern. Das waren sieben Jünglinge zu Ephesus, die, als der
Kaiser Decius die Christen aufs grausamste verfolgte und die Stadt
mit Morden erfüllte, in d-ie Höhle emes nahen Berges flohen und
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daselbst voll Bangens sich verborgen hielten, bis sie endlich alle vor
übergroßer Traurigkeit entschliefen. Der Kaiser Decius, da er etwas
davon sagen hörte, ließ einen großen Stein vor die Höhle wälzen;
sie aber schliefen und merkten davon nichts.
Nach 196 Jahren, da mittlerweile das römische Reich christlich
geworden, wollte ein Bürger daselbst sich ein Haus bauen und ließ
den Stein hinwegnehmen. Da nun der erste Sonnenstrahl in die
Höhle fällt, wachen die sieben Schläfer auf und berathen sich, und
weil sie sehr hungert, soll einer mit Namen Jamblichus heimlich in
die Stadt gehen, Brot zu kaufen. Da er herauskommt und sich
umsieht, ob kein Verfolger wahrzunehmen, reibt er sich die Augen;
denn es kommt ihm die Gegend ganz anders vor; die Leute gehen
auf der Straße und den Feldern ruhig ihrer Arbeit nach, und er
meint noch zu träumen. Er kommt an das Thor, sieht ein großes
Crucifix über demselben, erschrickt und will nicht hinein, geht vor ein
anderes, allda findet er desgleichen, dazu auf den Türmen sieht er
das Kreuz glänzen. Er geht wieder zum ersten Thor, geht hinein
unter die Brotbänke, — es hat sich alles geändert, und in einem
Tempel nebenan hört er singen: „Herr Gott, dich loben wir." Der
Bäcker schaut sein Geld an, Mills nicht nehmen und sagt: das könne
er nicht brauchen. Der Jüngling spricht: „Es hat ja gestern noch
gegolten!" Während er davon geht und immer noch §n träumen
meint, geht der Bäcker heimlich zu dem Statthalter, zeigt ihm das
alte Geld und sagt, es Habs ihm ein fremder Mensch gegeben, und
der müsse einen Schatz gefunden haben. Der Statthalter schickt die
Stadtknechte nach ihm aus, und da ihn diese greifen, denkt der Jüng-
ling, nun schleppe man ihn vor Decius. Der Statthalter fragt, wer
er sei, und woher er das Geld habe? Er nennt seine Eltern, aber
niemand will etwas von ihnen wissen; er nennt seines Vaters Haus,
aber darin wohnen andere Leute. Da sie nicht wissen, was sie von
dem Handel denken sollen, faßt sich der Jüngling ein Herz und fragt
nach dem Kaiser Decius. „Decius?" sprechen sie, „der Christen
Teufel? Was ists mit dem? Unser Kaiser heißt Theodosius, den
Gott segnen wolle durch Christum!" — „Sprecht leise," erwidert
der Jüngling; „wie dürft ihr heute den Namen nennen, um des-
willen gestern die Bluthunde hinter uns her waren? Wer seid ihr,
und wer sind die Leute, die vorhin im Tempel der Diana das ,Herr
Gott, dich loben wir^ gesungen haben?" —- Nun kommt man der
Sache aus den Grund. Unter den Leuten von Ephesus ging noch
wohl die Sage von den sieben Jünglingen, die der Kaiser Decius
rn der Zeit der Trübsal sollte irgendwo vermauert haben, und sie
nannten ihre Namen, denn sie waren nicht vergessen worden. Da
der Jüngling seinen und seiner Brüder Namen hörte, und wie Ephesus
nun christlich geworden, und wie Gott der Herr es ihnen gegeben, daß
sie die Zeit der Trübsal verschlafen hatten, hob er seine Stimme auf
und weinte laut, ging in die Höhle zurück zu seinen Gefährten, und
das ganze Volk geleitete ihn und brachte die sieben Jünglinge mit
großem Triumph in die Stadt. Diese, nachdem sie am Abend noch
einmal mit einander Gott gedankt hatten, legten sie sich zur Ruhe, sind
aber nicht mehr aufgewacht, sondern am Morgen fand man sie sanft
' und selig entschlafen. ,
Sieh, liebes Christenherz, eben so kurz wird uns die Zeit dün-
ken, wenn wir im Grabe wieder aufwachen, wenn das Licht des
jüngsten Tages in unser Schlafkämmerlein fällt und wir merken,
daß die Rechte des Herrn den Sieg behalten, und das „Herr Gott,
dich loben wir" singen hören im Reiche der Herrlichkeit. Da wird
alles wahr werden, was geschrieben steht Pf. 126: „Wenn der Herr
die Gefangenen Zions erlösen wird, so' werden wir sein, wie die
Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge
voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: ,Der
Herr hat Großes an ihnen gethan/ Der Herr hat Großes an uns
gethan; des sind wir fröhlich!"
133. Der Narr.
Ein vornehmer Herr in England hatte einen kurzweiligen Men-
schen als seinen Hofnarren bei sich und gab ihm einen possierlich
geschnitzten Stab mit dem Befehl, denselben so lange zu tragen, bis
er einen fände, der närrischer als er selber wäre. Fände er einen
solchen, dann solle er diesem den Stab zu tragen geben. Was
geschieht? Etliche Jahre hernach wird der Herr todkrank. Der al-
berne Mensch kommt auch zu ihm vor das Bett; der Herr zeigt ihm
seinen gefährlichen Zustand an und sagt, daß er wohl bald werde
fort müssen. Der gute Narr fängt an zu weinen und fragt: „Wo
willst du denn hin?" „In eine andre Welt," antwortet der Herr.
„Wann kommst du denn wieder?" sprach der Narr, „kommst du
nicht in einem Monat wieder?" „Nein!" sprach der Herr. „Wann
denn? vielleicht übers Jahr?" „Ach nein!" „Nun, nach wie vielen
Jahren denn?" „Ach, nimmermehr, nimmermehr!" ,,Nimmermehr?
Was hast du denn für Anstalt gemacht und für Zurüstung, daß du
so lange dort bleiben kannst?" „Gar keine," sagte der Herr. „Gar
keine?" versetzte der Narr. „Du willst auf ewig weg und in eine
andere Welt ziehen und nimmermehr wiederkommen, und hast nicht
darauf gedacht, wie du Vorbereitung und Zurüstung machen wollest?
Ei, so nimm du meinen Stecken, nimm ihn, nimm ihn immerhin;
denn ein solcher Narr bin ich nie gewesen!"
Munich, wie du glaubst, so liebst du, und wie du liebst, so
lebst du, und wie du lebst, so stirbst du, und wie du stirbst, so
bleibst du. Leben ist eine Kunst; Sterben ist auch eine Kunst.
Wer sein eigner Lehrmeister sein will, hat einen Narren zum
Schüler. Gedächtniß des Todes sündigt nicht. Die Sterben
für Gewinn achten, sind schwer zu erschrecken.
134. Der Weltleute Spruch und der Christen Spruch.
Älso steht und muß stehen des Menschen Herz, so es ohne
Christum ist, daß es immerdar hanget und zappelt in ewigem Zweifel,
Schrecken und Zagen, wenn es des Todes gedenket, daß es nicht
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weiß, wo aus, wollte gern dem Tod^ und der Hölle entfliehen und
weiß nicht wie, gleichwie der Spruch heißt:
Ich lebe, und weiß nicht, wie lange;
Ich sterbe, und weiß nicht, wann;
Ich fahre, und weiß nicht, wohin:
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.
Ein Christ aber muß seiner Sache gewiß sein, und weil er
Christum hat, so hat er alles, daß er billig alle Tage soll in
Sprüngen gehen und wohl wissen, wo er hinfahren und bleiben
soll. Darum soll er den Spruch nur getrost umkehren und sagen:
Ich lebe, und weiß wohl, wie lange;
Ich sterbe, und weiß wohl, wie und wann;
Ich fahre, und weiß, Gott Lob! wohin:
Mich wundert, daß ich noch traurig bin.
135. Begrüßung des himmlischen Jerusalems.
1. Jerusalem, du hochgcbautc Stadt:
Wollt Gott, ich wär in dir!
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen
hat.
Und ist nicht mehr bei mir.
Weit über Berg und Thäte,
Weit über blaches Feld
Schwingt cs stch über alle.
Und eilt aus dieser Welt.
4. O Ehrenburg, sei nun gegrüßet
mir:
Thu auf der Gnaden Pfort!
Wie große Zeit hat mich verlangt nach
dir.
Eh ich bin kommen fort
Aus jenem bösen Leben,
Aus jener Nichtigkeit,
Und mir Gott hat gegeben
Das Erb der Ewigkeit.
2. O schöner Tag, und noch viel
schönre Stund:
Wann wirst du kommen schier?
Da ich mit Lust, mit freiem Frcuden-
MUttd
Die Seele geb von mir
In Gottes treue Hände
Zum auserwählten Pfand,
Daß ste mit Heil anlände
In jenem Vaterland.
5. Was für ein Volk, was für ein
edle Schar
Kommt dori gezogen schon?
Was in der Welt von Auserwählten
war.
Seh ich; die beste Krön,
Die Jesus mir, der Herre,
Entgegen hat gesandt.
Da ich noch war so ferne
In meinem Thränenland.
3. Im Augenblick wird ste erheben
sich
Bis an das Firmament,
Wenn ste verläßt so sanft, so wun-
derlich
Die Stätt der Element;
Fährt auf Eliä Wagen,
Mit cngelischer Schar,
Die sie in Händen tragen.
Umgeben ganz und gar.
6. Propheten groß und Patriarchen
hoch.
Auch Christen insgemein.
Die weiland dort trugen des Kreuzes
Joch
Und der Tyrannen Pein,
Schau ich in Ehren schweben,
In Freiheit überall.
Mit Klarheit hell umgeben.
Mit sonnenlichtem Strahl
7. Wenn dann zuletzt ich angelan-
get bin
Im schönen Paradcis:
Von höchster Freud erfüllet wird der
Sinn,
Der Mund von Lob und Preis;
Das Halleluja reine
Singt man in Heiligkeit,
Das Hosianna feine
Ohn End in Ewigkeit.
136. Geistlich
1. Wachet auf! ruft uns die Stimme
Der Wächter sehr hoch auf der Zinne:
Wach auf, du Stadt Jerusalem!
Mitternacht heißt diese Stunde.
Sie rufen uns mit Hellene Munde:
Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohlauf, der Bräutgam kommt!
Steht auf, die Lampen nehmt!
Halleluja!
Macht euch bereit
Zu der Hochzeit:
Ihr müsset ihm entgegen gehn.
2. Zion hört die Wächter singen;
Das Herz thut ihr vor Freuden sprin-
' gen:
Sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommt vom Himmel präch-
tig.
Von Gnaden stark, von Wahrheit
mächtig:
8. Mit Jubelklang, mit Instrumen-
ten schön.
Auf Chören ohne Zahl,
Daß von dem Klang und von dem
süßen Ton
Erbebt der Freudensaal:
Mit hunderttausend Zungen,
Mit Stimmen noch viel mehr.
Wie von Anfang gesungen
Das Himmelische Heer.
s Wächterlied.
Ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.
Nun komm, du werthe Krön,
Herr Jesu, Gottes Sohn!
Hosianna!
Wir folgen all
Zum Freudcnsaal,
Und halten mit das Abendmahl.
3. Gloria sei dir gesungen
Mit Menschen- und englischen Zungen,
Mit Harfen und mit Cymbeln schön.
Von zwölf Perlen sind die Pforten
An deiner Stadt; wir sind Genossen
Der Engel hoch vor deinem Thron.
Kein Aug hat je gespürt.
Kein Ohr hat je gehört
Solche Freude;
Drum jauchzen wir.
Und singen dir
Das Halleluja für und für.
Zweiter Theil.
Erster Abschnitt.
Die Lufterschemungen.
1. Der Wasserdunst. Daß das Wasser verdunstet, lehrt uns
die Erfahrung. Wenn man Wasser in einem Gefäße der freien Luft
aussetzt, so wird man bald gewahr, daß es sich merklich vermindert.
. Wenn der Erdboden nach einem Regengüsse auch noch so stark durch-
näßt ist, so wird er doch bald wieder trocken. Ein Stück Eis, das
man bei strenger Kälte im Freien aufhängt, verliert nach und nach
einen Theil seines Gewichtes. Dies alles sind Beweise für die Ver-
dunstung des Wassers.
Wenn nun das Wasser auf der Erde fortwährend verdunstet, so
nmß die Luft beständig mrt Wasserdünsten angefüllt sein.
Eine gewisse Menge von Wasserdunst kann die Luft in sich auf-
nehmen, ohne daß man ihr irgend eine Feuchtigkeit anmerkt; wie viel
jedoch, das hängt von der-jedesmaligen Wärme der Luft ab. Wird
diese Wärme durch irgend einen Umstand plötzlich vermindert, so
schlägt ein Theil des Wasserdunstes sich nieder, d. h. der Wasserdunst
wird wieder zu Wasser, und die Luft, die vorhin trocken war, er-
scheint uns feucht und immer feuchter, je mehr sich der Wasserdunst
niederschlägt.
Kommt die Luft nur an einzelnen Stellen mit einem kalten Körper
in Berührung, so setzt sie an diesen einen Theil ihres Wasserdunstes ab,
ohne daß sonst eine merkliche Veränderung in ihr vorgeht.
2. Der Thau. Was sind das für Helle Tropfen, die man im
Sommer des Morgens an allen Grashalmen wahrnimmt, und die
im Sonnenlichte glänzen, als wären sie die köstlichsten Edelsteine? —
Das ist der Thau, den die Pflanze während der Nacht gleichsam
aus der Luft saugt, der Wasserdunst, den die Luft an die Pflanze nur
deshalb absetzt, weil der Erdboden und vornehmlich die Pflanze viel
kälter als die Lust ist. Wer des Abends nach einem warmen Tage
nach Hause zurückkehrt, dem erregt der Abendthau ein Gefühl von
Feuchtigkeit, das ihm gar nicht behaglich ist, und wenn sein Weg
durch eme Wiese oder durch ein Kornfeld führt, so wird ers an den
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Kleidern und an den Schuhen gewahr, wie reichlich sich der Thau schon
auf die Pflanzen gelagert hat.
Der sogenannte Honig- und Mehlthau hat mit jenem Thau
nicht das mindeste zu schaffen; er kommt nicht aus der Lust, wie
der Thau und der Regen, sondern erzeugt sich auf der Pflanze selbst,
auf der er gefunden wird. Der Honigthau ist ein klebriger Saft,
den die Pflanze selbst ausschwitzt, und der vielleicht noch durch
mancherlei Insecten vermehrt wird. Auch erzeugen sich vornehmlich
in jener klebrigen Masse unzählige Insecten, die wie ein mehlreicher
Staub alle Blätter bedecken, und die eben deshalb Mehlthau
genannt werden.
Große Ähnlichkeit mit dem Thau hat das Beschlagen und
Gefrieren der Fenster und die Erscheinung, die man das Ausschla-
gen der Wände nennt. In der warmen Stubenluft schwebt zu
jeder Zeit eine Menge von Wasserdunst; da nun, wo die Stuben-
luft mit den kalten Fensterscheiben in Berührung kommt, schlägt
sich der Wasserdunst nieder und bedeckt die Fensterscheiben mit einer
thauähnlichen Feuchtigkeit. Ist die Kälte sehr bedeutend, so gefriert
der niedergeschlagene Wasserdunst und bildet oft gar anmuthige
Blumen und Blätter. Am leichtesten und stärksten beschlagen bie
Fenster in den Schlafstuben, weil da die Stubenlust am meisten
mit Dünsten erfüllt ist; in einem unbewohnten Zimmer beschlagen die
Fenster nur wenig.
Das Beschlagen der Wände erfolgt meistentheils nach einem
strengen Winter, wenn die Frühlings wärme zuerst in die Zimmer
dringt. Die Mauern der Gebäude überziehen sich mit einer weißen,
reifartigen Rinde, und man meint, das sei die Kälte, die aus dm
Mauern hervordringe. Das ist aber eine unrichtige Vorstellung;
denn jene reifähnliche Rinde kommt nicht aus dem Innern der Wände;
sie ist der Wasserdunst, der an die Mauern sich ansetzt und durch die
Kälte derselben in Eis oder Reif verwandelt wird.
3. Der Nebel. Wenn der Wasserdunst, der in der Luft schwebt,
wieder in den tropfbarflüssigen Zustand übergeht, so verwandelt er
sich zuerst in Nebel und Wolken. Der Nebel besteht aus einer
Menge sehr kleiner Wasserbläschen, die frei in der Lust schweben,
und deren Schwere daher äußerst gering sein nmß. Nebel entsteht,
wenn die Ausdünstungen der untern Luftschicht in eine kältere Luft-
schicht aufsteigen und hier verdichtet werden. Der Dampf, der au
einem kalten'Frühlings - oder Herbstmorgen über Flüssen und Seen
oder Sümpfen liegt oder an einzelnen Stellen der Wälder, vornehm-
lich nach einem Gewitter aufsteigt, ist nichts anders als ein Nebel,
der aus dem verdunstenden Wasser entsteht. Von größerer Aus-
dehnung sind die Frühlings- und Herbstnebel, die sich fast regelmäßig
vor Sonnenaufgang einstellen und erst im Verlauf des Vormittags sich
wieder verlieren. Es ist bekannt, daß auf das Fallen solcher'Nebel
sich gewöhnlich heiteres Wetter einstellt. Auf das Steigen des Nebels
folgt meist trüber Himmel und bald darauf Regen. In den kalten
90
Gegenden, besonders aber in den Ländern am Meer, entstehen oft auch
mitten im Sommer sehr starke Nebel.
An sich besteht der Nebel aus reinem Wasser und ist daher auch
der Gesundheit nicht nachtheilig. Ost aber sind ihm noch fremde Be-
standtheile beigemischt, die sich schon durch seinen widrigen, oft schwefel-
artigen Geruch verrathen. Solche Nebel sind ungesund für Menschen
und Tbicre, und selbst auf die Pflanzen äußern sie einen nachtheiligen
Einfluß.
Woher der trockene Nebel, der sogenannte Höhenrauch, entstehen
mag, darüber sind die Naturforscher nicht einig. Etliche halten ihn
für den Rauch, welcher bei den großen Moorbränden aufsteigt; andere
meinen, er entstehe, wenn ein Gewitter nicht zum Ausbruche kommt,
sondern sich zersetzt.
4. Die Wolken. Was der Nebel in den unteren Luftschichten,
das sind die Wolken in den oberen. Wolken, die auf der Oberfläche
der Erde liegen, heißen Nebel, und Nebel, der in den höheren Luft-
schichten schwebt, nennen wir Wolken.
Die Höhe der Wolken ist sehr ungleich. Einige stehen vielleicht
kaum 1000 Fuß hoch über der Oberfläche der Erde, und in den
Gebirgsgegenden trifft es sich oft, daß man beim Hinaufsteigen mitten
durch eine Wolke hindurchgehen muß. Die Gewitterwolkeisshaben in
der Regel keine bedeutende Höhe. Auf dem Brocken z. B. sieht man
zuweilen ein Gewitter zu seinen Füßen, während auf der Spitze des
Berges Sonnenschein und heiterer Himmel ist. Dagegen erheben sich
die höchsten Wolken gewiß 30000 Fuß über die Erde; eine genaue
Messung ist bis jetzt noch nicht möglich gewesen.
Die Naturforscher haben unter anderm ihre Aufmerksamkeit auch
auf die Gestalt der Wolken gerichtet und unterscheiden Federwolken,
Haufenwolken und Schichtwolken. Die Federwolken bilden sich in den
höchsten Luftschichten und haben ihren Namen von ihrer Ähnlichkeit
mit einer Flaumfeder oder einem Flöckchell Wolle. Die Haufenwolken,
deren untere Fläche meist gerade und deren obere Fläche gewölbt ist,
bilden sich in den heißen Sommertagen aus einer Menge kleinerer
Wolken und verlieren sich gewöhnlich bei abnehmender Hitze. Die
Schichtwolken bilden sich in den unteren Schichten der Luft und gleichen
oft einer Mauer oder einem fernen Gebirge.
Die sogenannten Schäfchen oder Lämmerwolken, die kleinen
runden, oft regelmäßig geordneten Wölkchen, die hoch am Himmel
einen gar lieblichen Anblick gewähren, gelten allgemein als Anzeichen
einer warmen und heitern Witterung.
5. Der Regen. Wenn die Dunstbläschen der Wolken sich in
tropfbarflüssiges Wasser verwandeln, so fallen sie als Regen zur
Erde herab. Die Regentropfen nehmen immer die Gestalt einer
Kugel an; auch Vas Wasser, das man aus einer beträchtlichen Höhe
herabgießt, fällt in Kugelgestalt zur Erde. Die Größe der Regen-
tropfen ist sehr verschieden; die größesten fallen bei einem Gewitter-
regen, und diese sollen zuweilen einen Viertelzoll dick sein. Je dichter
die Regentropfen fallen, desto leichter vereinigen sich mehrere Tropfen,
91
und so ist es natürlich, daß bei einem Gewitter auch stärkere Tropfen
fallen.
Die Regentropfen fallen selten in senkrechter, sondern meist in
schräger Richtung zur Erde; das kommt theils vom Winde, theils aber
auch von der Bewegung der Wolken her. Der Wind, der die Regen-
wolken immer seitwärts treibt, vermindert auch wohl die Schnelligkeit,
mit der ste herabfallen.
Man theilt den Regen nach mancherlei Rücksichten ein. Sieht
man auf die Größe der Tropfen, so unterscheidet man außer dem
gewöhnlichen, mäßigen Regen noch Staub- und Platzregen. Der
Staubregen besteht aus gar feinen Tropfen und fällt aus einer
ruhigen Wolkenschicht und bei ruhiger Lust fast unmerklich zur Erde.
Der Platz- oder Gußregen unterscheidet sich von dem gewöhnlichen
Regen durch die Größe und Menge der Tropfen und durch die
Heftigkeit, mit der sie zur Erde fallen. Ein Platzregen von einer-
halben Stunde gibt oft eine unglaubliche Menge Wassers. Zuweilen
geht er sogar in einen Wolkenbruch über, bei dem der Regen nicht
tropfenweise, sondern stromweise in zusammenhängenden Massen
herabfällt. Der Platzregen kommt gewöhnlich nach und bei einem
Gewitter.
In Rücksicht auf den Raum, über den sich der Regen verbrei-
tet, unterscheidet man Strichregen und Landregen. Der Strichregen
trifft meist nur einen kleinen Strich Landes und tritt am häufigsten
bei Gewitterluft ein. Der Landregen erstreckt sich über einen größe-
ren Raum, oft über eine Strecke von hundert Quadratmeilen; auch
hält er zuweilen mehrere Tage hintereinander an. Ein mäßiger
Regen, der bei gleichförmig bedecktem Himmel und bei völliger
Windstille eintritt, geht sehr oft in einen anhaltenden Landregen
über.
Es gibt Länder auf der Erde, wo es fast garnicht regnet, z. B.
Ägypten und Persien. In Ägypten müssen die Überschwemmungen
des Nils, und in Persien muß ein reichlicher Thau die Stelle des
Regens ersetzen. In den Ländern zwischen den Wendekreisen gibt
es nur zwei Jahreszeiten, eine nasse und eine trockene. Die Regenzeit,
welche dort mehrere Wochen anhält, vertritt die Stelle des Winters
nur insofern, als sie das Land befeuchtet und abkühlt; sie fällt aber
gerade in den Zeitpunkt, wo die Sonne am höchsten steht, und wird
daher sehr uneigentlich Winter genannt.
6. Der Schnee. Der Schnee entsteht, wenn die Wassertheilchen
einer Wolke gefrieren; aber es müssen bei der Bildung des Schnees
noch andere Ursachen mitwirken. Die Schneeflocken sind sehr reget--
mäßig gebildet. Sechs Strahlen oder Nadeln von Eis laufen von
einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte nach verschiedenen Richtungen
aus und bilden gleichsam das Gerüst eines sechseckigen Sternes; jeder
Hauptstrahl ist mit kleineren Nadeln besetzt, die dem Ganzen ein gesie-
dertes Ansehen geben.
Der Schnee ist dem Landmann aus einem doppelten Grunde
willkommen. Er dient, wie der Regen, zur Befruchtung des Lan-
\
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' des, und er schützt zugleich die Gewächse gegen den Winterfrost. Der
Schnee ist auch ein Mittel zur Wiederherstellung erfrorener Glieder,
und selbst erftorenes Obst thaut wieder auf, wenn es eine Zeit lang
mit Schnee bedeckt wird.
Zur Wiederbelebung erfrorener Menschen ist das Eingraben in
Schnee eines der wirksamsten Mittel. Der Schnee, sagt man, zieht
den Frost aus den Gliedern; es ist aber wohl die langsame und gleich-
förmige Erwärmung, was diese Wirkung hervorbringt, denn der Schnee
wehrt die äußere Luft ab und hält die geringe Wärme, die er dem
Erfrorenen mittheilt, zusammen.
Dies alles wissen auch die Leute in den kalten Ländern gar
wohl und wenden den Schnee als das nächste und beste Frostmittel
an. Wenn ein Fremder in St. Petersburg bei strenger Kälte über
die Straße geht und Nase und Ohren ihm weiß werden, so merkt
ein Petersburger sogleich, daß dem Manne die Glieder erfroren
sind; er fährt ihm ohne Umstände mit einer Hand voll Schnee über
die Nase und hält ihn an, die erfrorenen Glieder mit Schnee zu
reiben.
Seltsam erging es einem Edelmann in der Nähe von Braunsch-
weig, der im Jahr 1754 an einem kalten Wintertage reifete. Er
bemerkte auf einmal, daß sein Diener, der hinten auf dem Wagen
stehen sollte, sich verloren hatte; er kehrte sogleich um und fand ihn
auf dem Wege liegend, aber völlig erstarrt von der grimmigen Kalle.
Alle Wiederbelebungsversuche waren fruchtlos, und so blieb denn nichts
übrig, als den Todten mit Schnee zu bedecken; der Edelmann wollte
ihn bei der Rückreise aufheben und beerdigen lassen. Wie verwunderte
er sich aber, als er den Menschen nicht mehr fand, wo er ihn hingelegt
hatte. Anfangs glaubte er, die Wölfe hätten ihn gefressen; aber im
nächsten Dorfe fand er ihn lebendig und wohlbehalten. Man konnte
nur so viel von ihm erfragen, daß er unter dem Schnee sehr gut geschla-
fen und nur einige Mühe gehabt habe, sich von der Schneedecke wieder
zu befreien.
7. Der Hagel und der Reis. Die Eiskörner, welche bei
einem Gewitter aus der Luft herabfallen, nennt man Hagel oder
Schlossen. Gewöhnlich sind die Wolken, welche mit Hagel drohen,
an ihrem aschfarbigen Ansehen zu erkennen; auch hört man vor dem
Ausbruch eines Hagelwetters in der Luft ein heftiges Rauschen. Wie
der Hagel sich bildet, das wissen wir nicht; merkwürdig aber ist es, daß
er nur bei einem Gewitter und äußerst selten zur Nachtzeit fällt. Es
scheint, daß zur Bildung des Hagels nicht bloß Gewitterstoff, sondern
auch Sonnenlicht erforderlich ist.
Die Größe und Schwere der einzelnen Hagelkörner ist bekannt-
lich sehr verschieden. Die kleinsten haben die Größe gewöhnlicher
Schrotkörner, mit denen der Jäger Hasen und kleineres Wild schießt;
die großen haben den Umfang einer Walnuß oder eines Hühnereies.
Zuweilen fallen bei einem Hagelwetter auch sehr schwere Eisklumpen
aus der Luft herab; da muß man wohl annehmen, daß sich während
des Fallend mehrere Schlossen zusammengeballt haben.
93
Die verheerenden Wirkungen des Hagels sind bekannt genug.
Ein Hagelschlag, der nur wenige Minuten anhält, kann schon in der
kurzen Zeit große Getreidefelder gänzlich verwüsten, und der Land-
mann thut sehr wohl, wenn er seine Kornfelder gegen Hagelschlag
wie seine Gebäude gegen Feuersgefahr versichern läßt. Nur muß
einer, der versichert'hat, nicht meinen, er habe nun Gottes nicht
nöthig und das Gebot, Gott anzurufen und ihm zu danken, gelte
ihm nicht.
Die sogenannten Graupen, die am häufigsten in den Frühlings-
monaten fallen, sind nicht etwa kleinere Schlossen, sondern nur zusam-
mengefrorene Schneeflocken; auch fallen sie häufig, während es gleich-
zeitig schneit oder regnet.
Das Glatteis ist nichts als gefrorener Regen; es entsteht, wenn
zur Winterszeit Thauwetter eintritt, und die Luft viel wärmer ist als
der Erdboden. Die Regentropfen kommen darin aus einer wärmeren
Luftschicht in eine kältere und gefrieren zu Eis, sobald sie den Erdboden
berühren.
Wie das Glatteis gefrorener Regen, so ist der Reif gefrorener
Thau zu nennen; der sogenannte Rauhreif, den man bei strenger Kälte
an der Bedeckung der Menschen und Thiere wahrnimmt, entsteht von
den Ausdünstungen des Körpers, die sogleich, wie sie hervortreten, in
kleine Eisstücke übergehen.
8. Das Gewitter. Die meisten Gewitter ereignen sich im
Sommer und zwar häufiger des Nachmittags und gegen Abend,
als am Vormittag oder des Morgens. In der Regel geht dem
Gewitter eine schwüle, drückende Hitze bei wolkenfreiem Himmel vor-
aus. Nicht nur Menschen, sondern auch Thiere und Pflanzen er-
schlaffen. Personen von reizbaren Nerven empfinden eine ganz
eigene Bangigkeit, die erst mit dein Ausbruch des Gewitters und
mit dem Beginn des heftigen Regens verschwindet. Während jener
drückenden Hitze bilden sich zuerst tief am Horizont ganz einfache Wol-
ken, die sich immer mehr und mehr auftürmen; durch ihre eigenthüm-
liche Beleuchtung und ihre blaugelbe Farbe kündigen sie sich uns schon
als Gewitterwolken an. Man sieht nicht, daß die Gewitterwolken sich
durch das Heranziehen anderer Wolken verstärken; es sieht aus, als
ob die Vergrößerung aus dem Innern der Wolke hervorgehe. Auch ihre
Bewegung' folgt nicht immer dem herrschenden Winde, sondern oft
einem andern, der in der Wolke selbst erzeugt wird; nicht selten vereini-
gen sich daher zwei Gewitterwolken, die von entgegengesetzten Richtun-
gen herkommen.
Während jener Auftürmung der Wolken herrscht meist völlige
Windstille; aber es zeigen sich hier und da schon Blitze, auch hört
man in weiter Ferne den Donner rollen. Je langsamer die Bil-
dung des Gewitters vor sich geht, desto heftiger pflegt nachmals
sein Ausbruch zu sein. Nach einigen heftigen Blitzen und Donner-
Sen erfolgt gewöhnlich ein reichlicher Regen. Zuerst fallen nur
ne Tropfen; sie vermehren sich aber mit reißender Schnelligkeit.
Nach jeglichem Blitzschläge nimmt die Heftigkeit des Regens sichtbar
94
zu; es ist, ob mit jeder Entladung des Gewitterstoffes auch eine
Menge von Regen erzeugt würde. Ist Hagel mit dem Gewitter ver-
bunden, so fällt er gewöhnlich schon im Anfang, oft allein und oft auch
nüt Regen vermischt.
Alan will bemerkt haben, daß die Gewitter in jedem Jahre
eine gewisse Richtung beobachten; in dem einen Jahre z. V. kom-
men die meisten aus Südosten, in einem andern aus Südwesten,
im dritten aus Westen u. s. w. Die Richtung des ersten Gewitters
entscheidet auch die Richtung der meisten andern im nemlichen
Sommer.
Ein Gewitter hält oft mehrere Stunden an, oder es kehrt,
nachdem es am Nachmittage ausgetobt hatte, zuweilen des Abends
oder in der Nacht zurück. Es scheint auch, daß das Gewitter sich
von Ort zu Ort fortpflanzt und an jedem Orte so lange wüthet,
als der vorhandene Gewitterftoff es zuläßt. Die heftigsten Gewitter
sind die, welche sich anderwärts gebildet haben und schon in voller
Thätigkeit zu uns heranziehen. Große Gewitter dieser Art durch-
ziehen zuweilen einen Raum von mehreren Meilen in der Breite
und von 50 bis 100 Meilen in der Lange. Die meisten Gewitter
gehen nach einer Stunde oder noch früher vorüber. Das Gewölk
verzieht sich und nimmt die gewöhnliche Farbe der Wolken an; die
Strahlen der Sonne brechen dann wieder hervor und bilden, wenn
es der Sonne gegenüber noch regnet, den prachtvollen Regenbogen.
Die ganze Natur ist nach einem Gewitter wie neu belebt. Die
Luft hat'sich abgekühlt; die Blätter der Pflanzen erheben sich und
prangen in frischem Grün; die Blumen aber mit ihren Regentropfen
sehen aus, wie erschrockene Kinder, denen die hellen Thränen noch in
den Augen stehen.
Was bei der Bildung eines Gewitters eigentlich vorgeht, das
hat bis jetzt noch niemand vollständig aufgeklärt; aber es ist doch
vielerlei, was wir von der Natur eines Gewitters mit Sicherheit
wissen.
Ein Nordamerikaner mit Namen Franklin hat durch vielfältige
Versuche auf das überzeugendste dargcthan, daß der Blitz einerlei ist
mit dem wunderbaren Stoffe, den man Electricität nennt, und den
man durch künstliche Maschinen hervorbringen und untersuchen kann.
Wenn z. B. eine Glasscheibe vermittelst einer Kurbel gedreht wird
und beim Drehen sich an einem mit Harz und Quecksilber bestreue-
ten Leder reibt, so entsteht an der Scheibe ein Knistern wie von
aussprühenden Funken, und man hat eine Vorrichtung ersonnen,
vermittelst deren diese Funken gesammelt werden können.^ Aus den
Beobachtungen über die Electricität weiß man nun, daß der Blitz
unter den Gegenständen, die er treffen könnte, einen merkwürdigen
Unterschied macht. Im allgemeinen trifft er gern hohe und einzeln
stehende Gegenstände; am liebsten aber nimmt er seinen Weg durch
Metalle und nasses Holz und vermeidet dagegen Glas und alle
harzigen Körper. Darauf gründet sich die Erfindung der Blitzableiter,
durch welche man ein Gebäude vor den Wirkungen des Blitzes zu
95
sichern sucht. Oben auf dem Dache des Hauses stehen eine oder
mehrere spitze Stangen von vergoldetem Kupfer oder Eisen, die
etliche Fuß yoch wie Saugspitzen in die Lust hineinragen. _ Jene
Spitzen stehen in Verbindung mit andern Metallstangen, die quer
über das Dach und an den Seitenwänden des Hauses bis an den
Erdboden gehen. Trifft nun der Blitz ein solches Haus, so folgt er
der Leitung der Metallstangen und fährt ohne Beschädigung des
Hauses in die Erde hinab. Weil die Vorrichtung zu kostbar ist, so
findet man sie an wenigen Häusern. Im ganzen geschieht es nur
selten, daß der Blitz ein Gebäude anzündet, oder daß Menschen vom
Blitz erschlagen werden, sie müßten es denn selber daraus anlegen.
Wer von einem Gewitter im Freien überrascht wird, sucht oft Schutz
unter freistehenden Bäumen und bedenkt nicht, daß er hier sich der
Gefahr erst recht aussetzt. Ein freistehender Baum wird am ersten
von einem Blitzstrahl getroffen.
9. Das Wetterleuchten, welches häufig nach einem Gewitter,
aber auch sonst wohl am späten Abende eintritt, halten viele für ein
entferntes Gewitter, andere für eine stille Entladung des Gewitterstoffs,
die von einem wirklichen Gewitter noch verschieden sei. Die Landleute
gebrauchen dann den Ausdruck: „Das Wetter kühlt sich ab", und in
der That tritt nach dem Wetterleuchten, wie nach jedem Gewitter, eine
merkliche Abkühlung der Luft ein.
10. Das Wettcrlicht, oder, wie es auch heißt, das St. Elms-
feuer, ist ein electrischer Funke, der sich nach einem Gewitter
häufig an den Spitzen der Mastbäume zeigt und bei den Schiffern
als Vorbedeutung heiteres Wetters gilt. Man sieht es auch zuweilen
an den Spitzender Türme, wie an den Gewehren der Soldaten,
und selbst anöden Gliedern des menschlichen Leibes will man es bemerkt
haben.
11. Auch das Nordlicht rechnen manche Naturforscher zu den
gewitterhasten Erscheinungen, obwohl andere seine Entstehung auf
andere Weffe erklärt haben. Man beobachtet es, wie schon der Name
anzeigt, am häufigsten in den nördlichen Gegenden der Erde; aber auch
bei uns ist es zuweilen wahrzunehmen. Ein farbiges Kreisstück erhebt
sich am nördlichen Himmel, sendet von Zeit zu Zeit glänzende Strah-
lenbündel oder Feuergarben in die Höhe, die sich zuletzt in dem Schei-
telpunkt des Beobachters vereinigen. Am häufigsten erscheinen Nord-
lichter um die Zeit, wo Tag und Nacht gleich sind.
12. Der Regenbogen ist siebenfarbig. Die Farben sind von
unten nach oben: violett, dunkelblau, hellblau, grün, gelb, rothgelb
und roth. Er läßt sich jedesmal sehen, so oft der Sonne gegen-
über eine große Regenwand steht, eine Wolke von weitem Umfang,
aus der es fortwährend regnet. Schon wenn die Sonne auf ein
Glas mit Wasser- scheint, sieht man an dem Glase die Farben des
Regenbogens; kann man aber vor einen ruhigen Wafferfall hin-
treten, so daß man dabei die Sonne im Rücken hat, so zeigt sich
ein ganzes Stück eines Regenbogens in dem herabstürzenden Wasser.
Der Regenbogen ist desto höher, je tiefer die Sonne steht, desto
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niedriger, je höher der Stand der Sonne ist. Darum sehen wir
die größten Regenbogen des Morgens und des Abends; am Mittag
steht uns im Sommer die Sonne zu hoch, als daß uns ein Regen-
bogen sichtbar werden könnte. Daher sieht man den Regenbogen am
nördlichen Himmel äußerst selten; am südlichen Himmel aber sieht man
ihn niemals, weil die Sonne bei uns nie aus der Nordseite des Him-
mels steht.
Was bedeutet denn aber der Regenbogen? Oder steht er nur
dazu in den Wolken, damit der Mensch sich 'der großen Farbenpracht
erfreue? Er hat eine schöne Bedeutung: er steht da als ein sichtbares
Zeichen der Gnade und Herrlichkeit unsers Gottes, der in jedem Regen-
bogen uns die Versicherung erneuert, daß seine Gnade ewig ist. 1. Mos.
9, 12—16.
Zweiter Abschnitt.
Die Grde.
I. Die Erdkugel.
Die meisten Sterne, welche wir am Himmel erblicken, sind
Fixsterne. Sie haben ihr eigenes Licht. Unsre Sonne gehört
zu ihnen. Um die Sonne bewegen sich die Planeten. Zu
ihnen gehört unsre Erde. Alle Planeten empfangen ihr Licht
von der Sonne. Der Mond bewegt sich um die Erde; er ist
ein Nebenplanet. Außer den genannten Arten von Sternen
gibt es noch Kometen; sie werden uns nur zuweilen sichtbar.
Die Erde ist eine Kugel. Sie bewegt sich in 24 Stunden
einmal um sich selbst, wodurch Pag' und Nacht entstehen. Diese
Bewegung geht von Westen nach Osten, weshalb die Sterne
sich von Osten nach Westen zu bewegen scheinen. In einem
Jahre bewegt sich die Erde um die Sonne.
Bei der Umdrehung der Erde um sich selbst bleiben zwei
Punkte auf ihrer Oberfläche unbewegt: der Nordpol und
der Südpol. Eine gerade Linie, von einem Pol zum andern
gedacht, heißt die Erdaxe. Denkt man sich die Erdaxe nach
beiden Richtungen hin bis zum Himmelsgewölbe verlängert, so
trifft man den Nord- und den Südpol des Himmels, die auch
ihre Stellung zu uns nicht ändern. In der Nähe des Nord-
pols am Himmel steht der nördliche Polarstern.
Um die Lage eines jeden Ortes auf der Erde genau an-
geben zu können, denkt man sich die Oberfläche derselben
durch Linien eingetheilt. Derjenige Kreis, den man sich von
beiden Polen gleichweit entfernt um die Erde denkt, heißt der
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Äquator oder Gleicher, weil er die Erde in zwei Hälften
theilt: die nördliche und die südliche Halbkugel. Er
wird, wie jeder Kreis, in 360 Grad getheilt. Jeder ist 15 Mei-
len lang; der Umfang der Erde beträgt also 5400 Meilen.
Linien, welche man sich von einem Pol zum andern durch
diese..360 Theilungspunkte gezogen denkt, heißen Meridiane;
alle Örter unter einem Meridian haben zu gleicher Zeit Mittag.
Der von Ferro ist der erste; er theilt die Erde in die östliche
und westliche Halbkugel. Jeder Meridian wird in 180 Grad
getheilt, von welchen 90 auf der nördlichen und 90 auf der süd-
lichen. Halbkugel liegen. Kreise, welche man sich parallel mit
dem Äquator gezogen denkt, heißen Breitenkreise. Zu
ihnen gehören die Wende- und die Polarkreise. Zwischen
den Wendekreisen liegt die heiße Zone; jeden Ort in der-
selben treffen die Sonnenstrahlen zweimal im Jahre senkrecht,
weshalb diese Zone sehr heiß ist. Da sind die größten, saft-
reichsten und würzigsten Pflanzen; da ist die Heimat der
Palme, des Kaffees und Zuckers; aber es fehlt der saftige,
dichte Rasen außer der Regenzeit. Die Thiere sind prächtig
an Farbe, aber die Vögel haben unangenehme Stimmen; die
meisten, stärksten und gefährlichsten Raubthiere und die giftig-
sten Schlangen hausen in der heißen Zone. Zwischen den
Wendekreisen und den Polarkreisen liegen die gemäßigten
Zonen, in deren nördlicher wir wohnen. Hier fallen die
Sonnenstrahlen das ganze Jahr, schräg, und zwar desto mehr,
je weiter ein Ort vom Äquator entfernt ist. In der Nähe der
Wendekreise sind diese Zonen noch sehr warm; daher gedeihen
der Ölbaum, Pomeranzen, Citronen, Kastanien, Lorbeeren und
Mirten, Weizen und Reis. Die Theile, welche von der heißen
Zone weiter entfernt liegen, haben große dichte Wälder von
Eichen und Buchen, an deren Stelle allmählich Nadelwälder
treten; hier gibt es schöne Wiesen, und Äcker mit Weizen,
Roggen, Gerste und Hafer. Die Raubthiere der gemäßigten
Zone: Bär, Wolf, Fuchs, Luchs und Marder sind .nicht so wild,
wie die Raubthiere der heißen Zone; sie verschwinden in Eu-
ropa immer mehr, wie die wildlebenden Thiere überhaupt.
Dagegen gibt es viele nützliche europäische Hausthiere, und
die Wälder sind belebt von Singvögeln. Innerhalb der Polar-
kreise liegen die kalten Zonen. Da die Sonnenstrahlen
daselbst sehr schräg fallen, so ists recht kalt. Die Pflanzen sind
klein und unansehnlich, aber das Moos hat hier recht feine
Heimat und überzieht große Breiten. Die kalten Zonen haben
vorzugsweise Wasserthiere und wenige Arten von Landthieren;
unter den letzten befinden sich aber geschätzte Pelzthiere. Von
Hausthieren begleiten nur Hund und Rennthier den Menschen
auch in die kältesten Striche. An den Küsten finden sich zahl-
reiche dicht befiederte Seevögel.
5
98
2. Verkeilung von Land und Wasser.
Richt ganz ein Drittel der Erdoberfläche besteht aus Land.
Davon liegt der größte Theil auf der östlichen Halbkugel. Er heißt
die alte Welt, weil er von alters her bekannt gewesen ist, und bildet die
drei Erdtheile Europa, Asien und Afrika. Auf der westlichen Halb-
kugel liegt Amerika. Die zahlreichen Inseln Australiens breiten sich
über kleide Halbkugeln hin aus. Vergleicht man das Land auf der
nördlichen Halbkugel mit dem auf der südlichen, so findet man, daß bei
weitem der größte Theil, drei Viertel, auf jener Kegen.
Die einzelnen Landmassen sind durch Meere von einander ge-
fchiedk'U Zwischen der Ostküste der alten Welt und der Westküste
Amerikas liegt der große oder stille Ocean; zwischen der Westküste
der alten Welt und der Ostküste Amerikas der atlantische Ocean,
von welchem ein großer Busen, das Mittelmeer, Europas Südküste
von der Nordküste Afrikas scheidet; innerhalb der Polarkreise sind
die beiden Eismeere, das nördliche und das südliche, und zwischen
der Südküste Asiens und dem südlichen Polarkreise ist der indische
Ocean.
3. Das Meer.
Wenn das Meer völlig ruhig ist, so bietet es eine vollkommene
Spiegelfläche dar; sobald aber der Wind sich erhebt, wird es in
Bewegung gesetzt, und es entstehen Wellen. Diese erreichen oft die
Höhe eines Zimmers, und bei einem Sturm brausen sie einher wie
kleine Berge. Die Stürme sind den Seeleuten sehr gefäyrlich.
Auf den Meeren in der Nähe der Pole trifft man selbst im
Sommer viel Eis an; oft ist das Meer so voll von Eisstücken, daß
man kaum mit einem Schiffe durchkommen kann. Schwimmt das
Eis umher, so nennt man es Treibeis. Viele Eisstücke erheben sick-
hoch in die Luft; man nennt sie Eisberge. Wenn der Wind zwei
Eisberge zusammentreibt, so zerstoßen sie einander unter gewaltigem
Krachen. Kommt ein Schiff zwischen dieselben, so wird es zer-
trümmert.
Der Boden des Meeres ist wie das feste Land ein Wechsel von
Berg, Thal und Ebene, mit vielen Pflanzen bedeckt und ernährt eine
reiche und große Thierwelt.
Eine dem Meerwasser eigenthümliche Bewegung ist die Ebbe
und Flut. Sie besteht darin, daß das Wasser alle 12 Stunden einmal
steigt (Flut) und einmal fällt (Ebbe), was von der Anziehungskraft des
Mondes herrühren soll.
Einzelne Meerestheile haben noch besondere Strömungen. Die
merkwürdigste Strömung ist die zwischen den Wendekreisen. Sie
geht von Osten nach Westen und rührt von der Bewegung der Erde
um sich selbst her^ Da nemlich das Waffer dieser schnellen Bewegung
nicht so rasch folgen kann, so entsteht eine Strömung in entgegen-
gesetzter Richtung.
WH
99
Dritter Abschnitt.
Unser Vaterland.
1. Der älteste Zustand unsers Vaterlandes.
früher sah es in unserm Vaterlande gar anders aus als jetzt.
Städte und Dörfer gab es noch nicht; wo jetzt Felder sind, war
Wildniß und dichter Wald, von breiten Flüssen durchschnitten, und
in den Niederungen waren große Sümpfe. In den finstern Wäl-
dern hausten der' starke Ur, dessen Hörner als Trinkgefäße gebraucht
wurden, und das Elenthier, der Wolf und der Bär; im Kampfe mit
ihnen erprobten unsre Väter freudig ihre Kraft. Auf den Triften
aber, die dem Sonnenlichte offen standen, weideten wilde Pferde in
hohem Grase.
Die Luft war rauh und feucht, aber dem kräftigen Volke gefiels
hier doch. Es gehörte zu dem großen deutschen Stamme der Sach-
sen. Das Sachsenland geht, soweit plattdeutsch gesprochen wird,
denn das Plattdeutsch ist die uralte Muttersprache der Sachsen.
Ihren Namen sollen sie von ihrer Waffe, einen: langen, gekrümmten
Messer haben, welches sie an der Seite trugen und das Sachs genannt
wurde. Drei große Stämme waren es, welche das Sachsenvolk
bildeten: der östliche hieß die Ostfalen, der westliche die Westfalen;
zwischen beiden wohnten an beiden Ufern der Weser die Engern.
Jene beiden Stämme sollen ihren Namen Falen von ihrem hell-
oder weißgelben Haar haben, denn hell- oder weißgelb wird noch
heute fahl genannt. Die Sachsen waren ein wildes, trotziges,
hartnäckiges Volk, von unbiegsamem Muthe, hielten gewaltig fest
an dem Alten, und dabei ging ihnen die Freiheit über'alles. Von
Leibe waren ste groß, meist sieben Fuß hoch, stark und schön. Ihre
Hautfarbe war weiß und rein; ihr Haar floß in reicher Fülle um
ihren Nacken. Aus den.großen, blauen, feurigen Augen leuchtete
Muth und Freiheitsstolz. Frühzeitig wurde die Leibeskraft gestählt;
das neugeborne Kind wurde in kaltes Wasser getaucht, das heran-
gewachsene durch Leibesübung abgehärtet. Der Knabe ging mit
dem Vater auf die Jagd, oder er warf sich bei Sturm und Kälte in
den Strom und rang mit den Wellen. Der Mann überließ die
Sorge für Haus, Hof und Feld denjenigen Familiengliedern, die zum
Waffentragen untauglich waren; er selber zog auf die Jagd und in
dcn Krieg. Außer dem Sachs trug er im Kriege lange Spieße, Boaen
und Pfeile.
Jeder Hausvater baute sich fern von den andern, an einer
Quelle oder an einem Bache, aus gewaltigen Baumstämmen sein
schlichtes Haus und umgab den Hofraum mit Pfahlwerk. Um den
herum lag Acker, Weide und Wald. Das war sein und der Seini-
gen Eigenthum, und er waltete nach alter Sitte darin als Priester,
5*
100
Richter und Fürst. Auf dem Acker wurde etwas Getreide, Obst und
Gemüse gezogen; im «übrigen bestand die Nahrung aus Wild, geron-
nener Milch und einem aus Gerste bereiteten Getränk.
Das ganze Sachsenland war in zwölf Theile getheilt, deren
jedem em Edler vorstand, Gericht zu halten. Die gemeinsamen
Berathungen wurden in Markloh, d. i. Grenzhain gehalten; der
Ort lag in der Wesergegend, wahrscheinlich imHoyaschen, vielleicht
bei dem jetzigen Dorfe Lohe bei Nienburg. Dorthin kamen aus
jedem der zwölf Kreise zur Berathung ein Edeling, ein Freiling und
einer aus der Mitte der Leute, d. i. der Hörigen; zusammen waren
ihrer also 36 Männer.
Verständig im Rath, tapfer im Kriege, züchtig von Sitten, gast-
frei, treu und redlich waren unsre Väter, wie man noch heute von
einem redlichen Manne sagt: Das ist ein alter Deutscher. Gute
Sitten vermochten bei ihnen mehr, als anderswo gute Gesetze.
Doch sie waren Heiden. Denen hat Gott freilich sein Gesetz
ins Herz geschrieben, und unsre Väter verstanden dasselbe besser
und gehorchten ihm treuer, als viele andre heidnische Völker. Den-
noch aber gingen sie in der Irre und dienten statt des Schöpfers
dem Geschöpfe. Ihren Götzen opferten sie auch Menschen, die sie
auf blutigen Steinaltären schlachteten, und daneben waren sie dem
Saufen und Spielen ergeben. Gott aber hatte ihrer nicht vergessen;
bald nachdem die Zeit erfüllet war, ließ er ihnen das Licht des
Evangeliums aufgehen.
— 2. fbcrsicbt über unser Vaterland.
1. Lage und Größe. Unser Vaterland liegt im nördlichen
Theile von Deutschland. Zu seinen Nachbarländern gehören
Preußen im Osten, unser Vetternland Braunschweig im Osten
und Süden, Kurbelten im Süden, Holland im Westen und Olden-
burg im Norden. Es nimmt den 16. Theil von Deutschland
(ÖßS'/j Quadratmeilen) ein.
Seiner Lage nach zerfällt es in drei größere Stücke: Ost-
hannover zwischen der Elbe und Oldenburg, Westhannover
zwischen Oldenburg und Holland, und Südhannover, welches
durch ein schmales Stück Braunschweigs von Osthannover ge-
trennt ist.
2. Boden. Der fünfte Theil des Königreichs, nemlich das
ganze Südhannover nebst dem.^südlichen Theile von Ost- und
Westhannover, ist gebirgig. Hier liegt der erz- und wald-
reiche Harz, der Solling, der Deister und der Süntel mit
ihren waldreichen Höhen. Vom Fuße dieser Gebirge hinab
dehnt sich zu den Fluten der Nordsee hin das Flachland ans,
welches den größten Theil (4/ö) des Landes umfaßt. Das
Flachland ist hin und wieder von Hügelketten durchzogen,
sinkt aber im Norden so tief herab, daß es durch hohe Dämme
gegen die Wogen der Nordsee geschützt werden muß. Es ilt
meist sandig. Große Strecken sind mit Heide bewachsen; an
101
andern Stellen befinden sich große Moore, in welchen Torf
gegraben wird. Was das Bergland schmückt, nemlich die
anmuthigen Hügel und die reichen Thäler, von lieblichen
Bächen und Flüssen durchrauscht, wellige Getreideauen neben
luftigem Wiesengrün, vor allem die frische Bergluft und der
schöne heitere Himmel, das fehlt hier; selbst die Flüsse schlei-
chen geräuschlos fort. Doch finden sich auch im Tieflande
stellenweise große Waldungen, namentlich nach der Elbe zu,
und an den Flüssen ist fetter Marschboden mit reichen Triften
und Getreideauen.
Unser Vaterland ist also nicht überall fruchtbar, doch fast
überall angebaut, wo das nur möglich gewesen ist. Der am
wenigsten ergiebige Ackerboden findet sich in den Heidethälern,
die durch Bäche und Flüsse noch hinreichend befruchtet wer-
den, um den fleißigen Bauer zu ernähren. Fruchtbarer find
die Thalauen und unteren Abhänge des Berglandes. Den
fruchtbarsten Boden aber haben die Marschen; sie liegen an den
Unterläufen der Flüsse und sind zuweilen zwei Stunden breit.
3. Luft und Witterung. Die Luft ist fast überall mild und
gesund. Auf dem Harze ist es wohl acht Monate winterlich, und
selbst im Sommer sind die Nächte und Morgen oft empfindlich
kalt, weshalb der Harzer fast das ganze Jahr hindurch einheizt.
Der Frühling verschwindet daselbst beinahe aus der Reihe der
Jahreszeiten, und der lufthelle Herbst ist sehr kurz. Dagegen
haben die niederen Berggegenden und das Tiefland einen län-
geren Frühling und eine schöne Herbstzeit; freilich dauert auch
hier die kalte Zeit des Jahres immer noch etwas länger als
die warme. In den Sandgegenden ist die Luft häufig trocken;
die Trockenheit wird jedoch gemildert durch häufigeren Regen,
und in den nördlichen Gegenden auch durch die feuchten See-
winde, welche oft mit großer Heftigkeit wehen.
4. Gewässer. Hannover hat drei größere Flüsse: an der
Ostgrenze die Elbe, inmitten des Landes die Weser und in
Westhannover die Ems. Da der Boden von Süden gen Norden
zur Nordsee hin sich senkt, so müssen sie in nördlicher Rich-
tung sich in die Nordsee ergießen. Der größte von ihnen ist
die Elbe. Sie kommt zu uns aus Preußen. Zwischen ihr
und der Weser zieht sich die Lüneburger Heide mit ihren
Höhenzügen hin und scheidet so die Gebiete dieser beiden
Flüsse von einander. Die Weser tritt aus Kurhessen in unser
Land. Sie entsteht aus der Fulda und Werra, welche sich bei
Münden vereinigen, fließt dann an den Wesergebirgen entlang,
und wässert darauf das Tiefland Hannovers. Durch das Osna-
brücker Bergland von der Weser geschieden durchfließt die
Ems Westhannover und mündet bei Emden in den Dollart.
Diese drei Hauptflüsse nehmen eine Menge von Nebenflüssen auf,
welche theils auf den Gebirgen entspringen, theils von den
Höhenzügen und aus den Mooren der Ebene kommen und die
t
102
Fruchtbarkeit des Bodens erhöhen. So wasserreich, wie vor
mehreren Jahrhunderten, find die Flüsse Hannovers nicht mehr,
was seinen Grund in der Abnahme der Waldungen und dem
Entwässern der Moore hat.
Kleine Seen finden sich in großer Menge in den Küssen-
gegenden ; zAvei größere sind der Dümmersee bei Diepholz und
das Steinhudermeer an der Grenze von Bückeburg.
5. Erzeugnisse. Die meisten Bewohner Hannovers, nemlich
zwei Drittel derselben, leben auf dem Lande in Dörfern und
treiben Ackerbau und Viehzucht. In den Bergthälern und an
den Flußufern sind die Ernten, wenn Gott Regen und frucht-
bare Zeiten gibt, so reichlich, daß die Bauern nicht allein
ihren Lebensbedarf gewinnen, sondern noch viel verkaufen
können; da hat denn auch der Städter und der Harzer, welcher
nicht viel Ackerbau treiben kann, zu essen. Am meisten wer-
den Korn und Kartoffeln gebaut, der Weizen auf fettem Boden,
der Roggen als Hauptfrucht und nächst ihm die Gerste beson-
ders in den südlichen Gegenden, Hafer und Buchweizen beson-
ders in den Sandflächen. Kartoffeln, Hülsenfrüchte und Ge-
müse werden fast überall angebaut; Flachs besonders in den
südlichen Gegenden, namentlich im Hildesheimschen, und zwar
viel mehr, als im Lande verbraucht wird, so daß jährlich für
zwei Millionen Thaler roh oder als Leinen und Garn ausge-
führt wird. Auch Rapps wird viel gebaut, Zuckerrunkelrüben
zur Bereitung von Zucker, und Cichorien. Der Obstbau wird
fast durchs ganze Land gepflegt, doch im Süden und in den
.Marschländern am meisten.
Die trefflichen Weiden an den Flüssen und Bächen laden
zur Viehzucht ein. Das ganze Land hat gegen 800000 Stück
Rindvieh; das beste liefert der nördliche Theil von Westhan-
nover, das Fürstenthum Ostfriesland, von wo auch viel Butter
und Käse ausgeführt 'wird. Auch die Harzkäse sind berühmt.
Die Pferdezucht wird ebenfalls stark betrieben; man schätzt
die Anzahl sämmtlicher Pferde auf 200000 Stück; Ostfriesland
führt jährlich etwa 3000, das ganze Königreich gegen 10000
Stück aus. Am Harze werden auch Esel und Maulthiere ge-
halten , weil sie wegen ihres sichern Schrittes besonders nütz-
lich für Berggegenden sind. Die Zahl der Schafe beträgt, die
Heidschnucken eingerechnet, nahe an 2 Millionen. Der Schweine
finden sich etwa so viel wie des Rindviehs. Ziegen gibt es
gegen 100000 Stück; sie werden meist nur in den Berggegen-
den gehalten, weil sie im Futter sehr wähleriich sind und durch
Benagen junger Bäume und Pflanzen leicht schaden. Die Gänse-
zucht hat bedeutend abgenommen, namentlich in den südlichen
Gegenden, weil durch die Gemeinheitstheilungen die großen
Triften weggefallen sind; nur in den Moorgegenden sind noch
große Herden von Gänsen anzutreffen. Die Bienenzucht wird
in der Heide stark betrieben.
103
Auf den Gebirgen zumal, aber auch in der Ebene von
Osthannover gibt es herrliche Waldungen, die eine Zierde und
ein Reichthum unsers Landes find und sorgfältig gepflegt wer-
den. Auf den oberen Theilen der Gebirge wachsen vorzüglich
Tannen; Eichen und Buchen an den Abhängen der Gebirge,
wie in der Ebene auf besserem Boden, während hier dagegen
auf sandigem Boden die Fichte am meisten gezogen wird.
Auf Bruchboden gedeihen noch die Erle und die Birke. Die
Wälder sind aber nicht allein des Holzes wegen von Bedeu-
tung; sie werden auch sonst nutzbar: ihr Laub wird theilweise
als Streu gebraucht, das Gras als Weide, die Eicheln zur
Mästung der Schweine und das Buch zur Bereitung von Ol.
Außerdem hegen unsere Wälder Wachholder-, Krons- und vor
allem die Heidelbeeren; von den letzten allein zieht der nörd-
liche Theil von Osthannover (Lüneburg und Stade) einen jähr-
lichen Gewinn von 120000 Thalern und das ganze Königreich
von 145000 Thalern.
In den Flüssen gibts viele Fische; an den Küsten des Mee-
res und auf den Inseln in der Nordsee leben viele Familien
von Fischfang. Die Wälder haben noch viel Wild, worunter
Hirsche, Rehe und wilde Schweine sind.
Der Harz ist reich an Metallen und die übrigen Gebirge
an Steinkohlen, deren jährlich 3 Millionen Balgen gewonnen
werden, und an Sandstein. Auch Kalk gibt es an den Ge-
birgen wie in der Ebene. Die Salzwerke liefern jährlich an
350000 Centner Salz.
Aus den Torfmooren gewinnt man jährlich über 300000
Fuder Torf, das Fuder zu 2000 Stück.
Einer solchen Fülle von Erzeugnissen, wie manches andere
Land sie hat, kann unser Land sich nicht rühmen. Auch an
Naturschönheiten steht es wohl andern Ländern nach; indes
fehlen sie ihm nicht ganz, besonders im Süden nicht, wo es
schöne Berge und Thäler gibt. Und zuletzt kommt es doch
nur auf ein offenes Auge und ein Herz voll Einfalt und Frie-
den an, so findet man auch die weniger geschmückten Gegen-
den unsers Landes schön, die Heideflächen mit ihrem braunen
Heidekraut, ihren Fichtenwäldern und Heidschnuckenherden.
Was uns ein Land und einen Ort recht lieb macht, sind mehr
als alles andere die Menschen darin, welche uns verwandt oder
sonst lieb geworden sind.
Auch sehr groß ist unser Land nicht; dagegen hat es einen
Vorzug, dessen sich nicht jedes Land rühmen kann: es haftet
kein unrechtes Gut daran.
6. Bewohner. Hannover hat 1820000 Bewohner. Sie ge-
hören größtentheils zu dem alten Volksstamme der Sachsen;
an der Nordseeküste wohnen Friesen und in dem sogenannten
Wendlande an der Elbe Wenden. Die südlichen Landestheile
find am dichtesten bewohnt; da kann man von freiliegenden
104
Bergeshßhen aus oft mit einem Blicke 20 bis 30 Ortschaften
übersehen.
Die meisten Einwohner bekennen sich zur lutherischen
Kirche: unter 18 Christen gehören 15 zur lutherischen, 1 zur
reformierten und 2 zur römischen Kirche.
Die Mundart, welche von den meisten Dorfbewohnern ge-
sprochen wird, ist die niedersächsische oder das Plattdeutsch.
Den letzten Namen hat sie daher, daß sie von alters her auf
dem platten Lande, d. i. in der Ebene gesprochen wird. Die
übrigen Einwohner reden hochdeutsch. Im Wendlande spra-
chen vor 100 Jahren noch ganze Ortschaften wendisch; jetzt
ist die wendische Sprache in unserm Lande ganz ausgestorben.
Früher ist auch im Plattdeutschen gepredigt und gelehrt; seit
anderthalbhundert Jahren aber ist das nicht mehr geschehen.
7. Eintheilung. Hannover wird in sechs Landdrosteien und
die Berghauptmannschaft Klausthal getheilt. Ziemlich in der
Mitte von Osten gen Westen liegt die Landdrostei Hannover,
südöstlich von ihr die Landdrostei Hildesheim; nordöstlich von
jener und nördlich von dieser die Landdrostei Lüneburg; von
dieser nördlich die Landdrostei Stade; den südlichen Theil von
Westhannover bildet die Landdrostei Osnabrück, und den nörd-
lichen die Landdrostei Aurich.
3. Die Laudrirostei Haimover,
Ihr südlicher Theil ist das Fürstenthum Kalenberg, zu
welchem auch die beiden alleinliegenden Stücke Bodenwerder
und Polle an der Weser gehören. Nordwestlich von Kalenberg
liegen die Grafschaften Hoya und Diepholz.
Der südliche Theil Kalenbergs ist gebirgig. Die Hauptge-
birge sind Deister und Süntel; an diese schließen sich der Oster-
wald und die Lauensteiner Berge. Der nördliche Theil des
Fürstenthums ist eben, wie auch Hoya und Diepholz. Die vielen
von den Gebirgen und aus den Mooren kommenden Bäche
stießen in die Weser, die Aller und die in diese mündende
Leine. An diesen Flüssen ist stellenweise schon Marschboden,
während in andern Ufergegenden fruchtbarer Kleiboden sich
findet. Im Norden ist der bebaute Boden größtentheils Geest-
land, eine Mischung aus Lehm und Sand, und sandiger Heide-
boden, der aber auch vielfach angebaut ist.
Kalenberg ist ein altes Stammland unsers Fürstenhauses
Hoya und Diepholz hatten früher die Grafen von Hoya und
Diepholz zu Landesherren. Als jene 1583 und diese 1585
ausstarben, fielen die Grafschaften an unser Fürstenhaus.
4. Das Getreide.
1. Das Getreide sollte den Völkern des Erdkreises Speise lie-
fern; daher nimmt es sürüeb säst mit jedem Boden. Außerordentlich
ist seine Fruchtbarkeit; denn m manchen Gegenden bringen einzelne
105
Arten zweibundertfältige Frucht. Selbst der Winterkälte vermag das
zarte Blatt unter der Schneedecke zu widerstehen, und unter den Fuß-
tritten der Menschen wie der Thiere zerreißt es nicht leicht; ist es nie-
dergetreten, so richtet es sich wieder auf.
Unter allen Getreidearten hat sich die Gerste am weitesten aus-
gebreitet. Sie ist dem Menschen gefolgt nach dem kalten Norden;
sie gedeiht auch in dem heißen Süden. In den winterlichen Fluren
Lapplands, wo man den Obstbaum und die Eiche vergebens sucht,
harret die Gerste treulich aus und bietet das tägliche Brot zu dem
Fleisch der Fische und zu der Milch des Rennthieres. Gerste und
Hafer bilden auch die Hauptkost der Bewohner von Norwegen,
Schweden und Schottland. In Norddeutschland wird der Roggen
am meisten angebaut. Gerste wird hier besonders zur Bereitung
des Bieres und Hafer meist als Pferdefutter benutzt. Weiter nach
Süden gedeiht besonders der Weizen. Jenseit der Alpen wachsen
Getreidearten, die nicht über dieses hohe Gebirge in unser Vaterland
haben wandern mögen; das sind der Neis und der Mais. — So
steht vom äußersten Norden bis zum warmen Süden der Mensch
erwartungsvoll vor den Halmen der Getreidefelder, um den Segen
derselben in Empfang zu nehmen.
2. So wenig.Ärten des Getreides es auch gibt, so hat dasselbe
doch der Verwandten mehr, als andere Pflanzen. Es gehört nemlich
zu der großen Familie der Gräser, die mehrere tausend Familienglie-
der zählt. Das niedrige Gras der Alpen, wie das breitblättrige
Schilf der heißen Zone, das an Höhe manchen unserer Bäume nichts
nachgibt, sind Vettern vom Getreide. Aber während das Alpengras
wie unser Getreide einfach und schmucklos mit seinen drei Staub-
fäden dasteht, strahlt in jenen Gegenden, wo der Zimmt und die
Muskate wächst, der große Blütenbüschel mancher Graspflanze mit
brennenden Farben, schwillt der Stengel von Saft, färbt sich das
breite Blatt mit dunkelm, sammt-schillerndem Grün. Der dünne
Halm unserer Wiesengräser, der sich nur wenig über den Boden er-
hebt und die feine Blütenrispe beim leisesten Windhauche hin und
her wiegt, wird in der heißen Zone zum knotenreichen Bambusrohr,
und dieser Halm ist so groß und fest, daß er nicht nur zu Spazierstöcken,
sondern auch zum Hausbau benutzt wird. Dennoch schafft das Gras
unserer Wiesen durch seine Nahrung für die Herden mehr Nutzen, als
jene stolzen Gräser.
5. Die Weser.
1. fflie Weser ist freilich nicht der größte Fluß Hannovers, denn
die Elbe ist größer als die Weser; aber jene ist recht eigentlich ein
hannoverscher Fluß, da sie erst in unserm Lande ihren Namen er-
hält, den größten Theil ihres Laufes aus hannoverschem Gebiete hat
und ihre meisten Nebenflüsse aus diesem empfängt. Ihre Quellflüsse
sind die Werra und Fulda. Jener ist der längste und kommt vom
Thüringerwalde; dieser entspringt auf dem Rhöngebirge.
Sie durchfließt anfangs in engen, dann in breiten Thälern
106
zunächst die sogenannten Wesergebirge, indem sie ihren Lauf am
Fuße des Bramwaldes, des Sollings und Ihts nimmt, und geht
auf preußischem Gebiete durch die westfälische Pforte. Alle diese
Gegenden, wo die Weser sich zwischen den Bergreihen hindurchzieht,
gehören zu den schönsten in Deutschland. Die Berge sind zwar meist
nicht hoch und haben nicht den Schmuck der Weinreben; aber sie sind
ans ihren Spitzen oder an ihren Abhängen mit prächtigen Laubwäl-
dern gekrönt, und in den offenen Th algrunden liegen freundliche, wohl-
habende Dörfer, welche von den frischesten Wiesen und von reicher
Saaten umgrünt sind.
Etliche Meilen nördlich von der westfälischen Pforte tritt die
Weser in der Ebene abermals auf hannoverschen Boden. Nachdem
sie hier von der rechten Seite die wasserreiche Aller aufgenommen hat,
fließt sie bei Bremen vorbei, scheidet darauf Hannover und Oldenburg,
während dessen sie links die Hunte aufnimmt, und mündet bei Bre-
merhafen. Von Hoya an ist sie auf beiden Seiten eingedeicht. Zuwei-
len aber steigen die Frühlingsfluten dennoch hoch über die Ufer, setzen
dann die flachen Ufergegenden weithin unter Wasser und richten große
Verheerungen an.
In alten Zeiten verstanden die Leute die Kunst noch nicht, den
Fluß durch Dämme in seinen Ufern festzuhalten; daher hat er in den
Thalebenen oft seinen Lauf verändert, wovon noch sichtbare Spuren
vorhanden sind, und was man auch daran erkennen kann, daß hin
und wieder Thalstrecken in der Ebene den Namen „die alte We-
ser" führen. Erst der Fleiß der spätern Anwohner hat manche
Brüche und Sumpfgegenden an den Ufern in fruchtbare Felder ver-
wandelt.
Der Strom ist im Unterlaufe zuweilen durch kleine Werder,
d. h. Inseln und Halbinseln getheilt; früher sind solche auch in seinem
Mittelläufe gewesen und haben einzelnen Örtern den Namen gegeben,
so hat z. B. Vodenwerder seinen Namen davon.
2. Im Alterthum wurde die Weser nur des Fischfangs wegen
befahren; denn unsere alten Vorfahren trieben noch keine Schiffahrt
zum Zweck des Handels, und fremde Völker kamen auch noch.nicht
mit ihren Handelsschiffen auf die Weser, da unsere Väter in Über-
fluß selber besaßen, was sie bedurften. Fruchtbare Felder, zahlreiche
Herden, dichte wildreiche Wälder und der fischreiche Fluß gaben
ihnen, was sie an Nahrung und Kleidung nöthig hatten; dazu war
die Kunst, Salz aus der Sole zü sieden, in den ältesten Zeiten
bekannt und geübt. Der Fischfang beschäftigte namentlich eine
Menge von Leuten, seit die Sachsen Christen geworden waren und
ihnen nun von der Kirche verboten war, in den Fasten andere
Fleischspeisen zu genießen. Ungeachtet des starken Verbrauchs von
Fischen kam der Lachs in dichten Scharen die Weser hinauf bis
in die Fulda, so daß im Jahre 1443 in Cassel 798 Stück tn einem
Zuge gefangen wurden. Der Biber, der im Alterthum nicht bloß
an der Weser, sondern auch an einigen Nebenflüssen derselben wohnte.
107
ist wohl erst vor zwei Jahrhunderten ganz verschwunden, und die Fisch-
otter hat man noch in neueren Zeiten hin und wieder bemerkt.
In den Thalebenen, welche die Weser durchschlängelt, war schon
zu den^Zeiten Karls des Großen (vor 1000 Jahren) ein reges Le-
ben. Überall fanden sich Höfe mit freien Bewohnern, umgeben von
den Wohnungen der Hörigen. Schloffen die Hörigen, um geschützt zu
sein, sich an den Güterhof, so entstanden Dörfer, Flecken und Städte.
Besonders war das Thal bewohnt, und erst später drangen Ansiedler
in die nahen Waldungen, und machten hier durch Ausroden so viel
Land urbar, wie ein kleiner Hof nöthig hatte; daher kommen die Orts-
namen, welche sich auf Rode endigen.
Heutzutage ist die Weser eine bedeutende Wasserstraße für den
Handel; doch ist die Ober- und Mittelweser im Sommer wegen des
niedrigen Wasserstandes oft Monate lang nicht zu befahren. Sonst
geht die Schiffahrt bis Münden, durch die Aller bis Celle und mittelst
der Aller und Leine bis Hannover hinauf.
6. Die Stadt Hannover.
1. Unser Land trägt seinen Namen von seiner Hauptstadt Han-
nover, und diese ist wahrscheinlich von dem hohen und abschüssigen
Ufer der Leine benannt, an welchem sie liegt. Sie ist einige Stun-
den nordwärts vom Deister entfernt, da wo das Vergland in die
Ebene übergeht.
Vor der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts wird sie nicht
genannt; aber zur Zeit Heinrichs des Löwen war sie schon ein ansehn-
licher Ort. Sie stand damals unter der Botmäßigkeit der Grafen von
Roden, deren festes Schloß Lauenrode sich in dem Theile der Stadt
erhob, der jetzt „auf dem Berge" genannt wird. Die Erbauung der
gräflichen Burg wurde Anlaß, daß die Neustadt entstand, da die Die-
nerschaft der Grafen sich um die Burg herum anbauete.
Hannover gehört zu den Städten, in welchen die Reformation
früh Eingang gefunden hat. Schon 1524 wurden etliche Lieder
Luthers in der Stadt bekannt. Einige Bürger fingen Luthers
Schriften zu lesen an; das war dem Rathe nicht lieb, 'und er ver-
bot es bei schwerer Strafe. Dennoch unterblieb das Lesen nicht,
und als 1529 Luthers Katechismus erschien, gewann die evangelische
Lehre noch mehr Freunde. Der Rath aber war derselben nach wie
vor feind. Auf Bitten desselben erschien 1532 Herzog Erich der
Altere von Kalenberg und Göttingen in der Stadt. Freilich war
der Herzog der römischen Kirche zugethan und blieb es lebensläng-
lich; aber er hatte auch seine evangelischen Unterthanen lieb. Es
wurde den Bürgern gestattet, fromme und gelehrte Prediger zu
wählen, die Gottes Wort ohne Zuthat menschlicher Lehre verkün-
digten; ferner wurde ihnen gestattet, die Bibel zu lesen und öffent-
lich Kirchenlieder zu singen. Bald darnach drang die lutherische
Gemeinde auf evangelische Einrichtung des Gottesdienstes und be-
gehrte namentlich, daß die heilige Taufe in deutscher Sprache ge-
108
sch eh en solle. DaZ wollte der Rath nicht bewilligen; so brach Wie-
demm Zwietracht aus. Abermals kam der Herzog heran, um Eini-
gung herzustellen; aber seine Bemühung blieb vergebens. In gro-
ßer Entrüstung ritt er von dannen. Da verließ der Magistrat die
Stadt; die Mönche und die römisch-katholischen Geistlichen folgten
ihm und zogen nach Hildesheim. Nun richtete der Generalsuperin-
tendet Urban Regius aus Celle in Hannover eine gute evangelische
Ordnung ein, nach welcher künftig das Wort Gottes gelehrt und die
heiligen Sacramente verwaltet werden sollten. Im Jahre 1534 ver-
söhnte sich Herzog Erich auf Zureden seiner frommen evangelischen
Gemahlin Elisabeth wieder mit der Stadt.
Der dreißigjährige Krieg brachte auch über Hannover viel Elend,
obgleich die Stadt durch ihre Festungswerke gegen Verwüstung ge-
schützt war. Die Dörfer umher wurden von den Feinden geplündert
und verbrannt und alle Gartenhäuser vor der Stadt niedergerissen.
Da flüchteten viele Leute aus der Umgegend in die Stadt, um den
Drangsalen des Krieges zu entgehen. Nun nahmen in derselben
Theuerung, Hunger und Seuchen überhand; kaum der dritte Theil der
Einwohner blieb am Leben.
Seck 1640 wurde Hannover fürstliche Residenz; Herzog Georg
von Kalenberg und Güttingen war der erste Fürst, welcher hier seinen
Sitz nahm. Seitdem blühre sie schnell auf, und auch als Kurfürst
Georg I. 1714 nach England zog, um den dortigen Königsthron zu
besteigen, verminderte sich der Wohlstand der Stadt nicht.- Ungleich
schneller aber, als in allen früheren Zeiten, wuchs sie an, seit
1837 die Verbindung unsers Vaterlandes mit England aufhörte
und nun König Ernst August seinen Sitz in Hannover nahm.
Unter dessen Regierung und unter der unsers lieben Königs Georg V.,
der seinem Vater 1851 folgte, ist sie so emporgeblüht, daß sie sich
anderen großen und schönen Königsstädten an die Seite stellen
kann. Um den Bahnhof herum ist em ganz neuer, großer Stadttheil
entstanden, der von Jahr zu Jahr mehr anwächst. Auch im Innern
ist und wird viel gebaut; die krummen Gassen regeln und erweitern
sich; überall hat sie ein bequemes Pflaster, und manches prachtvolle
Gebäude erhebt sich. Seit 1824 hat sie eine Gasbeleuchtung; eine
vortreffliche Wasserleitung reinigt und erfrischt sämmtliche Straßen
durch fließendes Wasser. Ihre Einwohnerzahl beläuft sich mit Ein-
schluß der Vorstädte auf 60000; sie hat sich in den letzten 20 Jahren
fast verdoppelt.
2. Die Stadt gewährt einen prachtvollen Anblick, wenn man
von Süden her auf der Heerstraße, welche über den Deister führt,
sich ihr bis auf eine Entfernung von anderthalb Stunden genähert
hat. Da sieht man die große Zahl von meist hohen und schönen
Häusern eins an das andere gereiht sich in der Ebene ausdehnen.
Vier Kirchtürme ragen aus der Häusermenge empor. Am meisten
von ihnen fällt der 306 Fuß hohe Marktturm ins Auge mit seiner
großen Kirche (ehemals Jakobi- und Georgiikirche genannt), dre vor
etlichen Jahren innen erneuert ist; östlich von ihr erblickt man den
109
Ägidien- und westlich den schlanken Kreuzkirchenturm, während m
dem südlichen Theile der Stadt sich der Neuftädter Kirchturm erhebt.
Unter den Wohngebäuden ragt vor allen andern das prachtvolle
Schloß des Königs hervor. Nicht weit von ihm erhebt sich die
Waterloosäule. Sie ist den hannoverschen Kriegern zu Ehren er-
baut, welche 1815 in der Schlacht bei Waterloo in Belgien im
Kampfe gegen die Franzosen gefallen sind. Eine bequeme steinerne
Wendeltreppe von 190 Stufen führt innen hinauf auf die 160 Fuß
hohe Säule und wird oft erstiegen, weil man von oben aus eine
herrliche Aussicht nach allen Himmelsgegenden hin hat. Jenseit der
Stadt, nach Nordosten zu, steht man eine Laubwaldung sich aus-
dehnen, welche die Eilenriede heißt. Sie hat etliche Stunden im
Umfang; Spaziergänge schlingen sich durch dieselbe, welche von den
Bewohnern Hannovers viel benutzt werden. Gen Westen sieht man
eine fast V2 Stunde lange, hohe Lindenallee hervorragen aus einer
Umgebung von Bäumen und allerlei Buschwerk, aus denen hie und
da schloßähnliche Häuser mit ihren weißen Zinnen und niedliche
Sommerhäuser hervorschimmern; unter jenen treten besonders die
königlichen Schlösser Welsenschloß und im Georgengarten hervor.
Am Ende der Allee liegt Herrenhausen mit dem königlichen Schlosse
und zwei großen königlichen Gärten, in deren einen: das Mausoleum,
die Grabstätte unsers Königshauses, sich befindet. Im Vordergründe
der Stadt erblickt man den Vorort Linden, der sich unmittelbar an die
Stadt schließt, mit seinem 150 Fuß hoch über die Ebene sich erhebenden
Kalkberge, von dessen Gipfel aus man fünf Städte, über fünfzig
Dörfer und bei heiterem. Wetter sogar den 14 Meilen entfernten
Brocken erblicken kann. Östlich, südlich und westlich von der Stadt
dehnen sich weite hügelige Kornfelder aus, und an der Leine windet
sich frisches Wiesengrün hin.
Die Wohnungen in der nächsten Umgebung der Stadt bilden die
sogenannten Gartengemeinden, deren Bewohner sich meist mit Garten-
bau beschäftigen. Das ist ein einträgliches Geschäft, da die Garten-
früchte in der Stadt leicht verkauft werden können.
Außer den schon erwähnten vier Stadtkirchen hat Hannover
noch fünf Kirchen: die Schloßkirche, die Garnisonkirche, die Garten-
gemeindekirche vor dem Ägidienthore, die Christkirche und die Lin-
dener Kirche. Auch die reformierte und die römisch-katholische Ge-
meinde der Stadt haben jede eine Kirche.
Wie überall in großen Städten wohnt auch in Hannover
großer Reichthum und bittere Armuth, oft nahe bei einander. Der
Herr hat den Reichen und den Armen gemacht; dieser soll nicht un-
zufrieden und mißgünstig sein, und jener soll nicht vergessen wohl-
zuthun und mitzutheilen; alle beide aber sollen die rechte Freude und
den Frieden der Seele nicht in der Lust und dem Gute dieser Erde
suchen, sondem darin, daß sie ihrer Seligkeit gewiß sind. Und zu
dieser Gewißheit kann jeder kommen, der will; den Weg dazu weisen
das Wort Gottes und die Predigt unserer Kirche klar und hell.
110
7. Hameln.
1. ^Wahrscheinlich schon zu den Zeiten Karls des Großen wurde
da, wo jetzt die Stadt Hameln liegt, ein Stift mit einer großen
Kirche gegründet, welches Bonifacius, dem Apostel der Deutschen, zu
Ehren das Stift des heiligen Bonifacius genannt wurde. Um das
Stift herum lagen einzelne kleine Ortschaften. Ihre Bewohner waren
in den unruhigen Zeiten, die unter den Nachfolgern Karls kamen,
selten sicher vor Plünderung und Brand; denn in jenen Zeiten that
jedermann, was ihn recht däuchte. Weil nun geistliche Stiftungen am
ersten mit Anfeindungen verschont blieben, so baueten die Bewohner
jener Dörfer sich in der Nähe des Stifts an. So entstand die Stadt
Hameln.- Ihren Namen hat sie von der Hamel, einem kleinen Flusse,
der sich in die Weser ergießt. Sie liegt in einem etwa eine halbe
Stunde breiten, fruchtbaren Thale, das von reich bewaldeten Bergen
eingeschlossen ist.
2. Bis vor 600 Jahren stand sie unter der Botmäßigkeit des
Stiftes zu Fulda in Kurhessen, welches Bonssacius durch einen seiner
Schüler hatte anlegen lassen. Der Abt Heinrich von Fulda verkaufte
seine Rechte an den Bischof Wedekind von Minden; damit waren
die Stiftsherren und die Einwohner von Hameln aber nicht zufrieden
und widersetzten sich ihrem neuen Schutzherrn. Dieser wollte sie sich
mit Waffengewalt unterwerfen; da zogen die jungen Bürger den
Scharen des Bischofs entgegen auf der Straße nach Münder. In der
Nähe der Stadt Münder lag dazumal ein Dorf, Sedemünder ge-
nannt; an dessen Stelle steht jetzt eine Papiermühle, die noch heute den
Namen Sedemünder führt; vor etlichen Jahren bezeichnete auch noch
ein Stück Mauerwerk, der alte Turm genannt, die Stätte, wo früher
das Dorf lag. Da entspann sich ein'heißer Kampf, in welchem die
Bürgersöhne tapfer stritten, aber dennoch unterlagen. Keiner wandte
sich zur Flucht; viele wurden gelobtet; dre Mehrzahl aber wurde in die
Gefangenschaft nach Minden geführt, und die Stadt war ihrer jungen
Vertheidiger beraubt.
Sie hat im dreißigjährigen Kriege viel gelitten. Ihre Einwohner
hatten sich früh zur evangelischen Lehre bekannt; schon 1540 hatte der
Rath der Stadt den lutherischen Pastor Rudolf Möller aus Hannover
nach Hameln berufen. Im dreißigjährigen Kriege nun hatte die
Stadt den König Christian von Dänemark, der den Evangelischen
zu Hülfe gezogen war, aufnehmen müssen. Das nahm Tilly, der
feindliche Heerführer, übel, und drohte die Stadt zu stürmen. Der
König war abgezogen, und die emene Kraft der Bürger war zu schwach,
den Feinden zu widerstehen. . Sie übergaben ihm daher die Stadt.
Tilly zog zwar bald weiter, ließ aber eine Besatzung zurück, welche
den Bürgern zu großer Plage wurde; dazu hatten diese in 9 Jahren
bloß an Kriegssteuern und Brandschatzungen 189000 Thaler abgeben
müssen; es war ihnen fast nichts mehr geblieben, als das arme, viel-
geplagte Leben.
Wiederum kamen schwere Tage über die Stadt während des
111
siebenjährigen Krieges. Bei demselben war Preußen mit England
wider Österreich und Frankreich verbündet, und da zu jener Zeit
unsere Fürsten Könige von England waren, io wurde auch Hanno-
ver mit in den Krieg gezogen. Da wurde am 26. Juli 1757 die
Schlacht bei Hastenbeck geschlagen, frühmorgens, als kaum der Tag
angebrochen war; die Bürger von Hameln hatten stch unterdes zu
einer Betstunde versammelt, um Sieg für die Waffen ihrer Brüder
von Gott zu erbitten. Diese wurden freilich auf dem linken Flügel
zurückgetrieben, siegten aber bald wieder, und der französische Feld-
herr ertheilte schon Befehl zum Rückzüge. Der Herzog von Cum-
berland aber, welcher unsre Truppen befehligte, hatte wohl das
anfängliche Weichen, aber nicht das darauf folgende Vorschreiten
seiner Krieger wahrgenommen; er zog sich vor den Besiegten zurück
und befahl, die Stadt zu übergeben. Nun zogen die Franzosen ein;
die Nikolaikirche wurde zum Lazaret für verwundete Franzosen ein-
gerichtet; aus der Marktkirche wurden die Stühle und Bänke gebro-
chen, aus welchen der Magistrat Bettstellen verfertigen lassen mußte.
Dazu erpreßte der Feind Gelder und fütterte die letzten Feldfrüchte ab.
Die schönen Wälder, welche der Stadt gehörten, wurden während des
Krieges von Freunden und Feinden so verwüstet, daß man den Verlust
auf 77000 Thaler schätzte.
Traurige Zeiten kamen wieder im letzten Kriege über die Stadt.
Als die Franzosen 1803 unser Vaterland besetzten, bekam auch
Hameln französische Einquartierung, welche übermüthig darin
hausete. Da in der schönen Münsterkirche gerade ein Gewölbe aus-
gebessert wurde und deshalb kein Gottesdienst gehalten werden
konnte, machten die Feinde ein Magazin und einen Pferdestall
daraus; außerdem legten sie der Stadt große Brandschatzungen auf
und schleiften die Festung; nur drei Türme sind noch von den
zwanzig starken Festungstürmen, welche einst die Stadt umgaben,
zu sehen.
3. Die Stadt hat 6500 Einwohner, welche sich von Ackerbau,
Handel und Gewerbe nähren... Sie ist umgeben von zahlreichen
Gärten mit Sommerhäusern. Über die Weser führt eine prachtvolle
Kettenbrücke, welche 60000 Thaler gekostet hat. Jenseit der Stadt
liegt der Klüt, ein hoher Berg, von welchem aus man eine prachtvolle
Aussicht in das Weserthal und weithin über die Züge des Süntels
hat. Deshalb wird er viel besucht, obwohl er wegen seiner Steilheit
nur mit Mühe zu besteigen ist. Vor 100 Jahren wurde er mit starken
Festungswerken versehen, die aber ebenfalls von den Franzosen zer-
stört sind.
8. Nie 8age von der Ausführung der Ilamelnschen Kinder.
Im Jahre 1284 wurden die Einwohner von Hameln von
einer ungewöhnlichen Anzahl Ratten und Mäuse geplagt. Alle
Mittel, sie zu vertreiben, waren vergebens. Da erschien plötz-
lich ein unbekannter, abenteuerlich gekleideter Mann, welcher
sich erbot, gegen eine Summe Geldes die schädlichen Gäste
112
zu vertilgen. Freudig versprach man ihm die nicht unbedeu-
tende Summe. Lächelnd zog nun der Fremde eine Sackpfeife
hervor, spielte auf derselben ein Lied und durchzog sämmtliche
Straßen der Stadt. Alsbald krochen die Ratten und Mäuse
aus ihren Schlupfwinkeln hervor, sammelten sich hinter dem
Pfeifer und liefen ihm nach, so daß von ihrer Zahl die Straße
bald bedeckt ward. Sodann ging er zum Thore nach Lachem
und Arzen hinaus und führte sie an die Weser. Unaufhaltsam
folgten ihm die Thiere in das Wasser, in welchem sie ertranken.
Als die Bürger von Hameln sich auf eine so leichte Weise
befreit sahen, gereute sie ihr Versprechen, und unter der Be-
schuldigung der Zauberei weigerten sie sich, den bedungenen
Lohn auszuzählen. Da beschloß der Rattenfänger, schwere
Rache an der Stadt zu üben.
Kurze Zeit' nachher, am Johannistage, als die Einwohner
von Hameln des Festtages wegen fast alle zur Kirche gegan-
gen waren, erschien er unerwartet wieder in der Stadt. Er
war als Jäger gekleidet. Ein breiter Hirschfänger war an
seinen Leib gegürtet; von dem feuerrothen Hute nickten lange
Hahnenfedern hernieder, und aus seinen grauen Augen schoß
ein höhnisches Lächeln hervor, während feine Mienen Fröhlich-
keit und muntere Laune heuchelten. Wiederum begann er
auf seiner Pfeife ein Liedchen zu spielen, von dem alle Kin-
der, Knaben wie Mädchen, so angezogen wurden, daß sie ihm
folgten. Bald hatte sich eine Schar von 130 Kindern um ihn
versammelt. Er stellt sich an die Spitze und zieht langsam mit
ihnen zum Osterthore hinaus nach dem vor der Stadt beloge-
nen Köppelberge. Auf fein (Jeheiß öffnet sich der Berg. Der
Rattenfänger geht voran. Jubelnd folgen ihm die Kinder, und
als das letzte hinein war, schloß sich der Berg.
Diesen Vorfall hatte eine Kindermagd, welche dem Zuge
neugierig von weitem gefolgt war, mit angesehen. Sie eilte
bestürzt nach Hameln zurück und meldete, was geschehen
war. Auch zwei Kinder waren zurückgeblieben; aber das
eine wurde sofort stumm, das andere blind. Sie bezeichneten
durch Worte und Gebärden die schreckliche Begebenheit.
Sofort liefen die Bürger an die Stelle, wo die Kinder ver-
schwunden waren; aber als die jammernd herbeieilenden Eltern
an den Köppelberg kamen, fanden sie nur eine kleine, einer
verfallenen Grube ähnliche Vertiefung, und wehklagend zogen
sie zur Stadt zurück.
Noch jetzt findet man in Hameln in der Mauer eines Hau-
ses an der Bungenlosenstraße, durch welche die Kinder zum
Osterthore hinausgeführt wurden, die Geschichte bildlich dar-
gestellt. Auch bewahrt folgender Vers die Begebenheit auf:
Im Jahr M.C.C.LXXXIV na Christi gebort
to Hameln worden utgevort
113
hundert und XXXIII Kinder dasülveft geborn
dorch einen Piper under den Koppen verlorn.
Die Sage erzählt, daß um dieselbe Zeit, als die Kinder
in Hameln verschwunden sind, in Siebenbürgen Kinder er-
schienen seien, welche eine dort unbekannte Sprache geredet
hätten, und es wird behauptet, daß diese die aus Hameln ent-
führten Kinder gewesen seien. Die noch jetzt in Siebenbür-
gen befindliche deutsche Colonie soll von ihnen abstammen.
9. Die Landdrostei llildesheim.
Zur Landdrostei Hildesheim gehören vier Provinzen, die
aus drei größeren, von einander geschiedenen Landestheilen
bestehen. Den nördlichen Theil der Landdrostei bildet das
Fürstenthum Hildesheim. Durch braunschweigisches Gebiet von
ihm getrennt liegt südlich das Fürstenthum Göttingen, an wel-
ches sich gen Osten das Fürstenthum Grubenhagen schließt.
Östlich von Grubenhagen, durch preußisches Gebiet von dem-
selben getrennt, liegt die Grafschaft Hohnstein. Außerdem
gehört noch das von den übrigen Theilen wiederum gesonderte
Amt Elbingerode zur Landdrostei Hildesheim.
10. Das Fürstenihum Hildesheim.
Das Fürstenthum Hildesheim wurde früher von dem
Bischöfe zu Hildesheim regiert; es gehört zu unserm Lande
seit 1813. Sein Boden dacht sich von Süden nach Norden zu
ab. Zwischen der Leine, die das Fürstenthum im Westen eine
Strecke weit begrenzt, und der Innerste, welche auf dem
Harze entspringt und von der rechten Seite in die Leine
fließt, liegt Bergland; jenseit der Innerste geht dasselbe in
Hügelland und dieses dann bald in Sandebene über. Die
größte Fruchtbarkeit hat der mittlere Landstrich; da besteht
die obere Bodenschicht aus einer fetten, hin und wieder
schwärzlichen Erde, oft zwei Fuß tiei Das Uferland der
Innerste dagegen leidet von dem Kiese, den der Fluß vom
Harze mitführt; an den Ufern der Ocker, welche vom Harze
kommt und die Ostgrenze bildet, ist mitunter steiniger Boden,
und die Ufer der Fuse, welche den nördlichen Theil durch-
fließt, haben Moorgrund. Die Wiesen an der Innerste und
Fuse sind daher nicht so gut, wie die an der Leine.
Da das Fürstenthum zu den fruchtbarsten Provinzen unsers
Landes gehört, so ist es sehr bevölkert. Die Einwohner trei-
ben meist Ackerbau und ziehen namentlich viel Flachs.
11. Die Leinpflanze und die Bearbeitung des Flachses.
1. Än vielen Gegenden unsers Königreichs steht der Leinbau
an Wichtigkeit dem Getreidebaue gleich. Er bildet eine ergiebige
Quelle des Wohlstandes in den Landdrosteibezirken Hildesheim,
Hannover, Lüneburg und Osnabrück. Die Bearbeitung der Pflanze
114
hört aber nicht wie beim Kornbau mit der Ernte auf, sondern dann
erst beginnt dieselbe recht eigentlich, und es bedarf mancher Arbeiten,
ehe b< v Weber den gewonnenen Faden künstlich verwirken und daraus
die nützliche Leinwand bereiten kann.
Man bauet vorzugsweise zwei Arten des Flachses, den gemeinen
Lein, auch Dreschlein, Schließlein oder rheinischer Lein genannt, und
den Klang- oder Springlein, den man im Lüneburgischen Keinskerlein
heißt. Die erste Art hat längere, dünnere Stengel, kleinere Blumen,
und Knoten, welche auch bei völliger Reife geschlossen bleiben, während
die der letzten Art, die größere Blüten und Kapseln und kürzere,
aber stärkere ästige Stengel hat, leicht mit einem schwachen Klange
oder Knistern aufspringen und den Samen umherstreuen. Der Flachs
jener Art ist fester und länger; dieser dagegen liefert feinere und
reichere Fäden.
Den Leinsamen unterscheidet man nach den Orten, wo er gewach-
sen oder von wo er verschickt ist, z. V. Rigaer, Seeländer.
Die Leinpflanze liebt weder einen ganz schweren und bindenden
Boden, noch den ganz leichten und dürren Sandboden. Ein großer
Borzug dieser Pflanze ist es, daß sie sich selbst für saure Wiesen und
den mit einer Grasdecke überzogenen Moorboden eignet und denselben
verbessert.
Nach der Verschiedenheit der Aussaat unterscheidet man den
Lein in Frühlein, Mittellein und Spätlein; der erste wird von
Mitte des April, der andere von Mitte des Mai an, der letzte gegen
Johannis gesäet. Diese Zeit richtet sich nach dem übrigen Acker-
baubetriebe des Landmanns; denn da der Flachs viele Arbeit
erfordert, so muß er es so einrichten, daß er bei der Reife des Leins
nicht durch andere, dringendere Beschäftigungen abgehalten ist. Auch
während des Wachsthums darf der Fleiß nicht ruhen; denn vielerlei
Unkraut wuchert zwischen der nützlichen Pflanze, die außerdem von
den Erdflöhen und der Maulwurfsgrille oder dem Redderwurm be-
droht wird. Auch Krankheiten, wie der Sonnenbrand, welcher die
Pflanze vor der Reife verdorren macht, vernichten oft den größten
Theil der Ernte.
2. Elf bis dreizehn Wochen nach der Aussaat ist der Flachs
reif. Jetzt kommt es darauf an, ob man Samen ernten will oder
nicht. Wer einen ganz feinen Bast gewinnen will, muß den Flachs
ziehen (raufen), bevor der Same sich vollkommen ausgebildet hat; wer
Saatlein ernten will, muß die Körner fast zu völliger Reife gedeihen
lassen. Die Knoten werden mit einem eisernen Kamme von den
Stengeln getrennt und zum Trocknen ausgelegt, und die Stengel dann
weiter verarbeitet.
Man unterscheidet an den Stengeln der Leinpflanze zwei Haupt-
theile: die holzige Röhre oder den Kern, und den mit einem feinen
Häutchen bekleideten Bast oder den eigentlichen Flachs, welcher den
holzigen Kern als eine aus Fasern bestehende Hülle umgibt. Im
natürlichen Zustande sitzen die Fasern des Bastes nicht nur am Holze
fest, sondern sind auch unter sich selbst mittelst einer grünen oder
115
gelbbräunlichen Masse innig zusammengehalten, welche hauptsächlich
aus dein sogenannten Kleber besteht und schwer zu entfernen ist, da sie
durch Eintrocknen verhärtet.
Auf gewöhnlichem Wege durch Drücken, Reiben, Schlagen und
dergleichen gelingt die Trennung der Fasern nur mit großem Zeitver-
luste und nachdem viele Fasern zerrissen sind. Man zerstört daher den
Kleber durch die Gährung, welche den Namen Rotte oder Röste führt.
(Rotte kommt von rotten, verfaulen, her.)
Diese Gährung kann entweder rasch durch Einweichen der Pflanze
im Wasser, oder langsam durch den gemeinschaftlichen Einfluß der Lust
und des Thaues oder Regens vollzogen werden. Das erste Verfahren
heißt Wasserröste, das letzte Land-, Luft- oder Thauröste.
Reines, weiches Wasser ist ein Haupterforderniß einer guten
Wasserröste. Eisenhaltiges Wasser macht den Flachs fleckig und
schwärzlich. Man richtet Gruben von 5 bis 6 Fuß Tiefe her, füllt
dieselben mit Wasser und stellt die in Bündel vereinigten Stengel
mit den Wurzelenden nach unten in das Wasser; dies geschieht theils,
damit der Flachs nicht die Erde berühre, wodurch er eine dunkle Farbe
erhält, theils weil die Tiefe des Wassers immer kühler ist als die
Oberfläche; nur eine gleichmäßige Wärme befördert eine gleichmäßige
Röste. Aufsteigende Blasen zeigen die eingetretene Gährung an; der
Flachs schwillt aus, wirft die ihn niederhaltenden Steine ab, und muß
immer wieder gehörig unter Wasser gebracht werden, weil er sonst
sofort verdirbt. Sobald das Blasenwerfen aufhört, muß man oft
nachsehen, mn das Überrösten, das heißt das Faulen der Fasern zu
verhüten. Die Wasserröste ist vollbracht, wenn einige aus dem Bündel
gezogenen Stengel knacken, wenn der Bast und besonders die grünliche
Farbe desselben beim Durchziehen des Stengels zwischen den Fingern
sich rein ablösend vorausschiebt, und wenn der Bast sich vom Holze
trennt oder auch nur die Stengel bersten, sobald man mit den Wurzel-
enden einiger an den Spitzen gefaßter Stengel mehrere Male aufs
Wasser geschlagen hat.
Um die Thauröste vorzunehmen, streut man die Stengel dünn
auf Rasenplätzen aus und setzt sie der Einwirkung des Thaues und
Regens aus, dem man selbst durch Begießen nachhisst; der Flachs muß
dabei oft umgewendet werden. Trockniß schadet dem Flachse sehr; die
Sonnenstrahlen färben ihn nachtheilig und verwandeln den Kleber
leicht in eine harzige Masse. Die Vollendung der Thauröste erkennt
man daran, daß bei trockenen Leinstengeln durch Zerknicken und Reiben
zwischen den Fingern die glänzenden Fasern sich leicht zertheilen und
vom Holze ablösen.
Nach der Röste wird der Flachs entweder an der Sonne oder im
Backofen getrocknet. Beim Dörren im Ofen sott man mit dem Feuer
vorsichtig umgehen; manches Dorf ist schon dabei abgebrannt. Nach
dem Dörren kann der Flachs hingelegt oder gleich weiter verarbeitet
werden, wie die Zeit es erlaubt.
Die jetzt folgende Arbeit beschäftigt sich mit der Trennung des
Bastes oder der Fasern von den holzartigen Theilen.
116
Zuerst wird der Flachs gebokt (geschlagen). Dies wird zuweilen
durch Bokemühlen verrichtet, in der Regel aber mittelst eines Hand-
schlägels vorgenommen. Man nimmt kleine Bunde, klopft dieselben
unter öfterm Umwenden platt und schlägt dabei möglichst die Wur-
zeln ab. Hierdurch wird der Flachs biegsam gemacht. "
Dann wird er gebrakt. Hierunter versteht man das Brechen,
Emknicken der Halme, wodurch die holzigen Theile sich in Stückchen
theilen. In der Regel bedient man sich dazu der Handbreche. Sie
darf nicht zu scharf sein, damit die Fasern nicht zerschnitten werden.
Nach der Breche wird der Flachs geschwungen. Das Schwing-
brett wird theils gerade, theils etwas überhangend aufgestellt; letzteres
ist vortheilhafter, weil dadurch die unteren Enden des Flachses besser
getroffen werden. Der Flachs wird in die linke Hand genommen,
zuerst mit den Wurzelenden durch den Einschnitt des Schwingbrettes
gehalten und mit der Schwinge so lange unter häufigem Umwenden
geschlagen, bis die holzigen Theile größtenteils ausgefallen find.
Dann wird das Wurzelende in die Hand genommen und dasselbe
Verfahren an den oberen Theilen der Stengel wiederholt.
Da diese Arbeit den Flachs nicht genügend reinigt, so wird er
hinterher mit dem Ribbemesser geribbt, das heißt über ein auf dem
Ribbeblocke ruhendes steifes Leder unter dem stumpfen Ribbemesser
durchgezogen, damit die Hede, welche beim Hecheln gewonnen wird,
nicht zu unrein ausfalle.
Dann wird er gehechelt. Die Hechel ist ein Brett, auf dem eine
Menge Drahtstifte aufrecht zusammenstehen. Die Arbeiterin schlägt
den Flachs um den Finger, damit nicht Fasern unter die Hede ge-
rissen werden, und zieht ihn wiederholt durch die Hechel. Dadurch
trennen sich die feineren, längeren Fasern, der eigentliche Flachs, von
den kürzeren, unreineren, welche in der Hechel hangen bleiben und die
Hede abgeben.
Die Hede wird ohne alle weitere Bearbeitung zu Stricken und
dergleichen gedreht, oder kann durch Kämmen, eine Wiederholung des
Hechelns mittelst eines eisernen Kammes, zum Spinnen tauglich ge-
macht werden.
3. Der Flachs wird dann gesponnen. Beim Spinnen kommt es
auf die Güte des Flachses, auf die Güte des Geräthes selbst und auf
die Geschicklichkeit der Spinnerin an, welchen Werth das Garn und
mithin das aus dem Garne gewonnene Gewebe haben soll.
Die Leinwand wird dann gebleicht, falls dieselbe nicht als grobe
Leinwand zu Segeltüchern, Kitteln und dergleichen verbraucht werden
oder durch Färben eine andere Farbe erhalten soll. Zum Bleichen der
Leinwand dienen auch Linnenleggen, welche an mehreren Orten des
Königreichs errichtet sind.
Die gröbsten Sorten der leinenen Gewebe heißen Packtuch,
Sacktuch, Segeltuch, die mittleren Leinwand, die feinsten Battist.
Drillich ist ein aus Leinwand (oder Baumwolle) fester und halt-
barer gewebtes (geköpertes) Zeug. Damast heißt jedes Gewelle, in
welches beim Weben Blumen und andere Zeichnungen gebracht find.
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4. Es haben also viele Leute von der Leinpflanze Beschäftigung:
der Bauer, welcher Pflügt und säet; die Frauen, welche spinnen und
haspeln, im Herbste brechen, schwingen und hecheln, das Linnenzeug
im Sommer bleichen; die Weber, welche spulen und weben; die Färber,
welche Garn und Leinwand färben.
Die Leinkörnchen sind gleichfalls sehr nützlich. Es wird das
Leinöl aus ihnen geschlagen, welches zu Firniß und Farbe benutzt
wird.
Der Hanf wird behandelt wie der Flachs; er gibt stärkere Fasern,
die vorzugsweise zu Segeltuch, Bindfaden, Seilen, Zwirn und Spritzen-
schläuchen verarbeitet werden.
12. Die Stadt Hildesheim.
1. Äaiser Karl der Große kam im Jahre 780 in die schöne Ge-
gend, wo jetzt Elze liegt; er fand an derselben besonderes Wohlgefallen
und beschloß, dort eine Hofburg zu erbauen und daselbst zu Zeiten
seinen Aufenthalt zu nehmen. Bald siedelten sich Leute hier an, und
das veranlaßte ihn, eine Kirche zu Ehren der Apostel Paulus und
Petrus zu erbauen, welche eine der ältesten Kirchen des Sachsenlandes
ist. Bald darauf erhob er Elze zu einem Bisthum. Sein Sohn
Ludwig der Fromme verleg-te den Bischofssitz von Elze nach Hildes-
heim. Die Veranlassung dazu wird folgendermaßen erzählt.
Ludwig war einst auf der Jagd un Walde Hils, von welchem
Hildesheim' den Namen haben soll. Sein Kaplan hielt aus des
Kaisers Befehl hier mitten im Walde Gottesdienst und hängte dabei
ein Gefäß mit Reliquien, d. i. Überbleibseln von sogenannten Heiligen,
an einen Baum. Darnach zog er mit den andern von dannen und
vergaß das Gefäß. Als er sich dessen erinnerte, kehrte er zurück, fand
es nun aber so fest mit dem Baume verbunden, daß er es nicht lösen
konnte. Auch der Kaiser kam herbei und suchte es zu lösen, aber ver-
geblich; da flehte er Gott um die Deutung dieses Wunders an, und
eine Stimme vom Himmel gebot ihm, hier eine Kirche zu erbauen,
soweit Schnee fallen werde. Darauf fiel mitten im Sommer Schnee;
der Kaiser that, wie ihm geboteu war, und versetzte den Bischof von
Elze sammt den dortigen Stiftsherren nach Hildesheim. Im Dome
zu Hildesheim befindet sich eine alte Kapelle, die soll die Kirche sein,
welche Ludwig erbaut hat. An derselben steht ein Rosenstock, der nach
einer andern Sage jenes Reliquiengefäß mit seinen Zweigen um-
klammert haben soll. Als der Dom im 11. Jahrhundert abgebrannt
war und Bischof Hezüo ihn von neuem aufbaute, prächtiger denn
zuvor, umgab er die Wurzeln des Rosenstocks mit einem Gewölbe.
Jetzt ist nur noch der Wurzelstock da, aus dem aber ein Schößling steht,
der schon wieder eine Krone bildet, die 25 Fuß hoch und 30 Fuß breit
ist; sein Stamm hat einen halben Fuß im Ümfang. Die Zweige des
Busches sind an der Wand ausgebreitet und mittelst eines eisernen
Geländers befestigt.
2. Schon 50 Jahre nach der Gründung der Kirche war der Ort
so angewachsen, daß auch die zweite Kirche, welche unterdes gebaut
118
war, nicht mehr ausreichte; daher baute Bischof Alfried einen Dom
von solcher Größe, daß die ganze Gemeinde in demselben Platz
hatte, und der berühmte Bischof Bernward schmückte ihn mit allerlei
kunstreichen Sachen aus. Bischof Bernward lebte ums Jahr 1000;
er war ein frommer und gelehrter Herr. In früheren Jahren war
er Erzieher des Kaisers Otto III. gewesen; bei diesem wie auch bei
dessen Nachfolger stand er in großem Ansehen, blieb aber dennoch
ein so demüthiger Mann, daß er wie der geringste Mönch lebte und
auch des Nachts mit den Klosterbrüdern zu dem gemeinsamen Gebete
aufstand. Den Armen war er ein freundlicher Vater, und denen,
die bei ihm Recht suchten, ein gerechter Richter. Zu seiner Erholung
malte er oder bildete künstliche Altar- und Kirchengeräthe, mit welchen
er dann seine Kirche schmückte. — Immer mehr wuchs die Stadt
heran und wurde besonders reich und mächtig, als ste zu der Hansa
gehörte. Seit dem dreißigjährigen Kriege begann sie zu sinken, wie
manche Stadt unsers Landes.
3. Sie hat jetzt 16000 Einwohner. Viele alte Häuser geben
durch die kunstreichen Stein- und Schnitzarbeiten, welche man an
ihnen erblickt, Zeugniß von dem Reichthum ihrer früheren Bewohner.
Unter den wohlthätigen Anstalten sind besonders die Taubftummen-
und die Irrenanstalt öemerkenswerth. Die letzte befindet sich in dem
alten, von dem Bischof Bernward erbauten" Michaeliskloster, das
mit seiner Kirche auf einem der höchsten Punkte der Stadt liegt.
Man hat von da aus einen schönen Blick in die große Ebene, welche
sich nördlich von der Stadt ausbreitet, ^ind die hier noch sehr frucht-
bar ist, und nach den andern Seiten hin erblickt man waldreiche
Berge, in deren wasserreichen Thälern grasreiche Wiesen und ergiebige
Felder liegen.
In der Nähe der Stadt befinden sich große Salzlager. Zwei
Stunden von ihr entfernt bricht bei Salzdetfurt eine mächtige Salz-
quelle zu Tage; dann finden sich abermals Salzquellen bei Salz-
gitter; bei Salzderhelden gehen sie durch das Leinethal und zeigen
sich auf der andern Seite der Leine nochmal bei Salzhemmendorf im
Kalenbergischen.
13. feie Mfstenthünier Göttingen und Grubenhageu,
Der Boden in den Fürstenthümern Göttingen und Gru-
benhagen ist überall gebirgig. Aus dem Thale der Leine,
welche Göttingen in der Richtung von Süden nach Norden
durchfließt, steigt man gen Westen den Solling hinan, der dann
weiterhin zum Weser thale abfällt. Er ist meist mit Laubholz
bedeckt. Sein Sandsteinboden liefert außer Eisen und Torf
vielen guten Sandstein, der weit und breit verfahren wird,
besonders auf der Weser.
Östlich vom Leinethale wandert man über Bergzüge zum
Thale der Ruhme, die durch das Wasser der vom Harze kom-
menden Oder verstärkt von der rechten Seite in die Leine
119
mündet Jenseit der Oder steigt man die unteren Abhänge
des Harzes hinan.
Recht fruchtbarer Boden findet lieh im Weier- und Leine-
thale, wie auch an den Ufern der übrigen, kleineren Flüsse;
auf den Höhen des Sollings aber ist der Boden steinig und
mager und lohnt oft kaum den Anbau. Ebenso ist der Boden
an den Höhen im Grubenhagenschen nicht gut zum Anbau
geeignet, da sich über dem Felsgrunde nur eine dünne Erd-
schicht findet, und selbst diese wird sammt dem darauf gebau-
ten Korn durch das beim Regen stark herabströmende Wasser
oft mit weggeschwemmt. In den schmaleren Thalgründen ist
zwar eine starke Schicht guter Erde; jedoch geht der Boden
oft in Bruchland über, weil die Thonlage, welche sich unter
dem fruchtbaren Boden befindet, die Feuchtigkeit nicht leicht
eindringen läßt.
14. Die Eiche.
1. Äie Eiche ist der stattlichste und kräftigste Baum unserer
Laubholzwälder. Tief in die Erde schlägt ste ihre starken, knorrigen
Wurzeln. Unerschütterlich fest steht sie in Sturm und Ungewittern.
Ihre vielen kräftigen Äste reckt ste wie riesige Arme schirmend aus.
Der müde Wanderer eilt ihr freudig zu; in ihrem Schatten findet
er süße Ruh. Hoch in den Zweigen singen die Vögel ihm das
Schlummerlied. Ihren Stamm können mehrere Männer kaum um-
fassen. Er erreicht einen Umfang von 30 Fuß. Unzählbare schön-
geschweifte Blätter bilden seine große grüne Krone. Grüne Bluten-
kätzchen und röthliche Spitzchen hangen im Frühjahr dazwischen, und
im Herbst viele niedliche Eicheln, die in Näpfchen sitzen. Ihre dicke
rissige Rinde bietet die Eiche dem Moose als Nahrung dar.
2. Und welche Menge von Thieren Pflegt die königliche Eiche!
Schnecken kriechen langsam empor, um von dem frischen Laube zu
speisen. Unten lauert die Blindschleiche auf sie, um sie zu verspei-
sen, wenn sie gesättigt herabsteigen. Kleine Gallwespen laufen auf
den Blättern hin und her und bohren mit ihrem feinen Stachel ein
kleines Loch hinein. Ein einziges Ei kommt dann ins grüne Blatt;
der Saft strömt hinzu, und ein runder Gallapfel bildet sich. In
den Galläpfeln leben die Würmchen, die aus den Eiern kriechen, bis
sie groß genug sind und wieder kleine Gallwespen werden. Eine
Menge verschiedener Raupen zehren von dem Laube und puppen
sich am Eichenstamme ein; schöne Eichenschmetterlinge kriechen aus
ihnen hervor. Maikäfer schmausen hier; Hirschkäfer zerreißen mit
ihrem zackigen Geweih die ;ungen Zweige und genießen ihren Saft.
Der Laubfrosch verbirgt sich zwischen den grünen Blättern; der
Specht kommt und klopft an den Stamm und zieht die fliehenden
Würmer ans Tageslicht. Sind die Eicheln reif, so halten Nuß-
und Eichelheber mit schönen blauen Flügelfedern ihre Ernte. Eich-
hörnchen bauen zwischen den breiten Zweigen ihr Haus und sam-
mein ihren Wintervorrath. Die Holztaube hat nicht weit davon
120
ihr Nest. Der Marder späht nach Eiern; der Kuckuk sucht nach
Raupen, und die Eule umschwebt zur Nachtzeit den Stamm und
forscht nach einem Vöglein. Auf dem höchsten Wipfel hat der Adler
seinen Horst und bringt seinen Jungen Rebhühner und Kaninchen
zur Speise.
3-„Auch den Menschen erweist sich die Eiche gar nützlich.
Ihren Überfluß an dürren Ästen wirft sie den armen Leuten herab.
Mit den Eicheln werden die Schweine gemästet; auch kocht man wohl
Kaffee von ihnen. Der Apotheker sucht die Galläpfel auf den Blättern,
macht schwarze Dinte daraus und braucht sie auch zur Arzenei. Die
Rinde schält man nach Ausbruch der Blätter ab. Sie wird getrocknet
und gemahlen, heißt dann Lohe und dient zum Gerben des Leders.
Das Holz bekommt der Zimmermann. Er schlägt mächtige Eichen-
pfähle in den sumpfigen Boden und baut darauf das hohe schöne
Haus. Am Meeresufer zimmert er aus Eichenholz große Schiffe; die
fahren in ferne Länder und bringen Kaffee und Zucker, Thee und andre
Waren nach Hause.
Die Eiche ist ein Sinnbild der Stärke. Bei Festlichkeiten werden
aus ihren Blättern Kränze gewunden zum Schmuck des Festes.
4. Die -Eiche ist erst nach 200 Jahren ausgewachsen und wird
über 500 Jahre alt. So ein Baum kann also viel erleben und hält
manchen Sturm aus. Endlich aber zerschmettert auch ihn ein Blitz-
strahl, oder ein heftiger Windsturm bricht den stolzen Baum, der sich
nicht beugen will, wenn er nicht schon früher von der Menschenhand
gefällt worden ist. Klein war sein Ursprung. Vor Hunderten von
Jahren wurde eine kleine Eichel in den Boden gesenkt. Ein Bäum- '
chen wuchs daraus empor, das man ohne Mühe mit der Hand hätte
ausreißen können. Durch seine Wurzeln sog es die Feuchtigkeit des
Erdbodens ein, seine Blätter tranken den Thau und den Regen des
Himmels, und so wuchs es empor zu einem mächtigen Baume, den der
Sturm nicht zu entwurzeln vermag.
15. Das Eichhörnchen.
Äie Eichhörnchen sind sehr munter^, artige Thierchen, in steter
Bewegung, springen ungemein behend von Baum zu Baum, klettern
an den Ästen auf und nieder und putzen sich wie die Affen. Wenn
sie etwas fressen, so setzen sie sich auf die Hinterbeine, schlagen den
Schwanz auf den Rücken, halten ihr Futter in den beiden Vorder-
händchen und beißen stückweise davon herunter, wobei sie die Schalen,
oder was ihnen sonst nicht gut schmeckt, immer zu Boden fallen
lassen. Ihre liebste Nahrung sind alle Gattungen von Kernen : Buch-
eckern, Eicheln, Fichtensame, Nüsse, aber auch süßes Obst. Sie lassen
sich leicht zähmen und machen durch ihre lustigen Bewegungen vie"
Spaß; aber des Beißens wegen iss ihnen nicht immer zu trauen.
Man muß sie an Ketten legen oder in Käfiche sperren, weil sie alles
zernagen. In den Wäldern machen sie auf den Bäumen oder in
Baumhöhlen mehrere Nester, wovon sie aber nur eins benutzen; nur
bei Gefahr machen sie von einem andern Gebrauch. Sie benutzen
121
auch manchmal ein altes Elsternest. Sie bekommen drei vis sieben
blinde Junge, die nach vier Wochen schon mit den Alten umber-
klettern können. Im Winter sind sie meist in ihren Nestern ver-
steckt, schlafen aber nicht. Im Herbst legen sie für den Winter einen
großen Dorrath von Nüssen, Bucheckern u. dergl. an, die sie sorg-
fältig verbergen. In harten Wintern aber reicht dieser Vorrath nicht
aus, und dann geht es ihnen schlimm; sie müssen frieren und hun-
gern, und man findet viele todt.
16. Die Stadt Göttingen.
1. Äöttingen liegt in dem südlichsten Theile unsers Vaterlan-
des, im fruchtbaren Leinethale, westlich und östlich von Bergen um-
geben. Sie hat 11000 Bewohner. Die nächste Umgebung der Stadt
bilden zahlreiche, Gärten; in weiterer Umgebung liegen schöne Wiesen
und fruchtbare Äcker.
2. Schon im 10. Jahrhundert wird des Ortes Erwähnung
gethan. In der Nähe desselben lag die kaiserliche Burg Grona.
Im 13. und 14. Jahrhundert sah Göttingen glänzende Tage; da-
mals wohnte auf dem fürstlichen Schlosse zu Göttingen Herzog
Albrecht, Herr von Göttingen und später auch von Braunschweig.
Fünfzig Jahr später ward sie abermals fürstliche Residenz; da wohnte
Herzog Otto der Quade hier, ein ritterlicher Herr, der aber den
ausblühenden Städten grollte. Göttingen war damals ein Haupt-
platz in dem Handel zwischen dem Norden und Süden Deutschlands
und dadurch zu Macht und Reichthum herangewachsen; Otto hielt
auf dem Schlosse Bollruz, das auf dem jetzigen Burgplan lag, seinen
prächtigen Hof und stellte vielfach Ritterfeste an, zu denen sich viele
vornehme Herren und Frauen einfanden. Später verlegte er aus
Unmuth gegen die Bürger seinen Wohnsitz nach Hardegsen, und von
da an lag er mit Göttingen oft in Fehde, bis ihn das Älter beschlich,
da Streitlust und Übermuth ausgetobt hatten und Sehnsucht nach
Ruhe den Müden erfaßte; nun war er versöhnlich und nachgiebig ge-
worden, wie zuvor nie.
Die Stadtobngkeit bestand damals aus 12 Gliedern. Am
Mittwoch nach Michaelis war alljährlich Rathswahl. Dann begab
sich der Rath, nachdem er zuvor in der Iohanniskirche dem Gottes-
dienst beigewohnt hatte, zum Rathhause, ließ es sorgfältig verschlie-
ßen, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand die Bera-
thung belausche, gab jeder seine Stimme ab. Dann wurde das
Rathmannsmahl gehalten, und nachdem der Diener die letzte Schüssel
aufgetragen hatte, wurde die Vürgerglocke angezogen, der Rath trat
zur Laube hinaus und verkündigte durch seinen Schreiber der ver-
sammelten Gemeinde die Namen der neuen Rathsherren. Dann ließ
der Schultheiß diese schwören, dem Landesherrn und der Stadt treu
dienen zu wollen.
Die Bürgerschaft hielt auf Zucht und Ehre; niemand, der seine
Ehre nicht bewahrt hatte, wurde in die Gilde aufgenommen.
Kurz vor der Reformation, im Jahre 1516, wurde Deutschland
6
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von einer Pest heimgesucht; da starben in Göttingen, wie auch in
den Städten Nordheim und Braunschweig, in wenigen Monaten
ein Drittel der Einwohner. In dieser Zeit suchte man noch bei
den Heiligen Hülfe. So zogen dazumal die von Einbeck, wohl
300 Mann stark, gen Pöhlde, holten von dort das Heiligthum
St. Fabian und Sebastian nach ihrer Stadt und brachten es dann
wieder zurück.
3. Durch die Reformation wurde das anders. Schon im
Jahr 1523 fing die lutherische Lehre an, im Fürftenthum Göttingen
bekannt zu werden. Wenn auch noch der Predigt des Evangeliums
gewehrt wurde, so wußten die Bürger fich dagegen Luthers Lieder
und seine Übersetzung des Psalters zu verschaffen, und kürzten sich
in ihren Werkstätten die Zeit durch das Singen der Lieder Luthers,
und das thaten namentlich die Wollenweber. In den Dörfern Grone
und Rosdorf lehrten schon evangelische Prediger, und die Bürger
von Göttingen schlichen fich verstohlen hinaus zu deren Predigten,
trotz der Strafe, die ihnen gedroht war. Da kam 1529 aus dem
Lüneburgischen Friedrich Hübenthal, ein feiner Prediger in grobem
Rock, und hielt auf dem Kirchhofe von St. Georg die erste evange-
lische Predigt. Seine Anhänger schickten etliche Männer zu Simon
Gieseler, einem vornehmen Manne, der in der ganzen Stadt hoch
angesehen war, und ließen ihn um Rath fragen, ob sie den Prediger
behalten sollten. Er lag gerade schwer krank. Lange schwieg er
und bedachte sich tief; dann erhob er sein Haupt und sprach- „Was
die Bürger jetzt vorhaben, werden sie vollbringen und mögen darum
getrost fortfahren; ich aber will Leib und Leben daran setzen." Nun
bestellten sie Hübenthal zu ihrem Prediger und baten den Rath, er
möge ihnen eine Kirche zum Gottesdienste gewähren. Der Rath
aber war unzufrieden, gab eine harte Antwort und sann auf Strafe.
Da sammelten sich die evangelischen Bürger, wohl 300 an der Zahl,
und besprachen sich, wie das Evangelium vor den Widersachern zu
schirmen sein möchte. Die weisesten Bürger wurden zusammenge-
rufen, um ihre Meinung zu sagen. Unter ihnen war auch Henning
Hohof, ein verständiger Gotdschmid. Als zu diesem die Botschaft
kam, sprach er zu seiner Hausfrau: „Was dünkt dich zu solcher
Sache?" Sie erwiderte: „Thue es um Gottes willen; es wird doch
und kann nicht anders sein." Worauf er sagte: „Ja, liebe Anna,
wenn es aber dazu käme, daß ich einst vor diesem unserm Hause
vorüber einen andern Weg zum Leineberge (der Richtstätte) gehen
müßte, was wolltest du dann thun?" „Wohlan. Henning," ant-
wortete sie, „es wäre doch besser, wir stürben um dieser Ursache wegen,
denn Schande und Laster halben." Da sann Henning nicht länger
und ging aufs Rathhaus.
Mit Mühe erhielten die Männer Gehör beim Rath; ihrer Bitte,
dem Evangelium freien Lauf zu lassen, ward keine Gewährung.
Endlich aber sah sich der Rath dennoch nachzugeben genöthigt und
bat mit der Gemeinde den Landgrafen Philipp von Hessen, ihnen
feine, stille, fromme und gelehrte Prediger zu senden, und vom Palm-
123
sonntage 1531 an wurde nach einer evangelischen Ordnung, welche
Luther gut geheißen hatte, der Gottesdienst gehalten.
Während des dreißigjährigen Krieges, im Jahr 1626, kam
Tilly auch vor Göttingen. Er hatte eben Münden schändlich ver-
wüstet; nun forderte er die Bürger auf, sich zu ergeben, sonst solle
es ihnen am gänzlichen Verderben nicht fehlen; er werde Göttingen
thun, wie er Münden gethan habe. Sie schlugen seine Forderung
ab. Da beschoß er die Stadt fast unausgesetzt über einen Monat.
In der Stadt entstand eine Seuche, an der täglich 50 bis 60 Men-
schen starben. Das Schlachtvieh kam um aus Mangel an Futter;
kaum daß das von den Dächern genommene Stroh zur Sättigung
der Pferde ausreichte. Brandkugeln äscherten einen Theil der Häuser
ein; die Mauer lag stellenweise niedergeschmettert; die beständigen
Wachtdienste erschöpften Soldaten und Bürger. Da übergab sich die
Stadt nach sechswöchiger Belagerung. Tilly ließ sich 17000 Thaler
zahlen und zog dann weiter.
4. Im Jahre 1734 errichtete Georg II. in Göttingen eine
hohe Schule, welche 1737 eröffnet wurde. Dahin kamen bald Stu-
denten aus allen Ländern Europas, und der Ruf der hohen Schule
breitete sich weit aus. Mit ihr ist eine Sternwarte verbunden, ein
Pflanzengarten, eine Bibliothek von 300000 Bänden, und ein
Museum, welches allerlei seltene und merkwürdige Naturerzeugniffe,
Münzen, Gemälde, Geräthschaften und Waffen wilder Völker u. dgl.
enthält.
5. Die Umgegend von Göttingen ist schön. Besonders sehens-
wert!) ist die Plesse, eine Burg aus grauer Vorzeit, die etwa eine
Stunde von Göttingen aus einem hohen, steilen Bergkopfe im Leine-
thale liegt. Ihre Mauern sind durchlöchert; zwei graue Türme von
beträchtlicher Höhe ragen majestätisch über die Mauern empor. Man
trifft wohl nicht leicht eine Burgruine, die einen so großartigen Ein-
druck macht. Don welcher Seite man auch komme: überall verkün-
digt der erste Anblick den einstigen Wohnsitz eines mächtigen Ge-
schlechts, das von dieser Feste aus bald Segen über die Gegend ver-
breitet, bald sie mit Mord, Brand und Raub verwüstet hat.
17. Münden.
Än der südlichen Grenze unsers Königreichs liegt die Stadt
Münden, einst fürstliche Residenz. Fulda und Werra fließen hier
zusammen und bilden die Weser. Die Umgebungen der Stadt ge-
hören zu den schönsten in unserm Lande. In nächster Umgebung
sind viele Gärten mit lieblichen Lusthäusern, und in weiterer Um-
gebung erheben sich nach allen Seiten Berge. Der Ort lädt durch
seine Lage zur Schiffahrt ein, und diese wird auch, wie Handel,
Flachsbau und Weberei, vielfach betrieben. Münden hatte sich früh
zu hoher Blüte erhoben, welche aber durch die Schrecken des dreißig-
lährigen Krieges zerstört wurde. Der König Christian IV. von
Dänemark hatte nemlich Besatzung in die Stadt gelegt; daher er-
schien Tilly vor den Thoren der Stadt und forderte sie zur Über-
6*
124
gäbe auf. Da aber der dänische Befehlshaber erklärte, er werde
von der Vertheidigung der Stadt nicht lassen, so lange ihm das
Leben bleibe, so gaben die Rathsherren den Boten Tili'ys abschlägi-
gen Bescheid. Da bestürmte Tilly die Stadt 8 Tage lang, und
am dritten Pfingsttage 1626 nahm er ste ein. Nun wurde kein
Alter und kein Geschlecht verschont. Ein Graf Egon von Fürsten-
berg, der neben Tilly zu Roß vor dem Thore hielt, ermunterte seine
Soldaten, die Ketzer und rebellischen Hunde, wie er die Einwohner
Mündens nannte, niederzustoßen. Es hätte dieser Aufforderung bei
den blutdürstigen Söldnern nicht bedurft. Von 2500 Kriegern und
Bürgern der Stadt entrannen kaum 20 dein Tode. Der größte Theil
der Erschlagenen und mit ihnen viele Schwerverwundete wurden auf
Tillys Befehl in die Weser geworfen. Der Schaden, welchen die Stadt
an Geld und Gut erlitten hatte, wurde auf 300000 Thaler berechnet.
Noch hundert Jahre später begingen die Bewohner Mündens den drit-
ten Pfingsttag als einen Klage- und Trauertag.
18. Goslar.
1. „Äs war an einem Frühlingstage," schreibt ein Besucher
des Harzes, „als ich auf einmal in eine große Ebene gelangte, die
sich vor mir sanft niederwärts verlor und an einer Reihe mittel-
mäßiger Berge endigte. Die Gegend war mit langen Alleen von
Eichen und Birken durchzogen, lachend und frisch. An den Abhängen
weideten zahlreiche Herden; die Bergrücken kränzte ein dichter Tannen-
wald. Als ich mich langsam dem Gebirge näherte, vernahm ich die
sanfte Musik einer Menge Glocken, mit welcher die Rinderherden
versehen waren, die am Fuße des Berges weideten. Es hatte die
Nacht durch geregnet; jetzt schien die Sonne warm: eine dicke
Dampfwolke entschwebte dem Tannenhaine und würzte den Luftkreis
mit frischem Wohlgeruch. Der nächtliche starke Regen hatte das Harz
der Tannen aufgeweicht, und die Sonnenstrahlen erhitzten dasselbe zu
auflösender Gährung. Der ganze Wald glich einem angezündeten
Rauch fasse.
Wenige Schritte weiter tauchte vor meinen Blicken eine getürmte,
mit Schiefer gedeckte Stadt auf; lang hingedehnt, von einer Mauer
umfaßt, machte sie in ihrer schwarzen Bedachung den Eindruck eines
geräumigen, mit riesigen Leichensteinen besetzten Kirchhofs und er-
füllte mich mit unbeschreiblicher Wehmuth. Keine so wundersame,
einzige, ihrer Lage widersprechende Stadt hatte ich bisher noch ge- .
sehen. Es war mir, als wandelte ich dem Grabe einer großen, be-
rühmten Vergangenheit zu; Erinnerungen an längst entschwundene
Tage erstanden vor meiner Seele."
Goslar, die einst so blühende, weit geehrte Stadt, in welcher
Heinrich I. einen Palast erbauete, von wo aus Otto I. Deutsihland
regierte, die Kaiser Konrad II. durch eine Mauer und der hier ge-
borene Heinrich IV. durch 128 Türme gegen die Raubschlösser des
Harzes schützte; das gewerbthätige Goslar, dessen Glocken und Ka-
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noneit weithin verlangt wurden, und dem Urkunden den stolzen Bei-
namen der reichsten Stadt Sachsens beilegten: es ist jetzt eine stille,
arme, menschenleere Stadt, welcher von dem großen Reichthume und
Glanze früherer Zeiten nichts geblieben ist, als die schöne Lage in einer
reizenden Gegend.
2. Die Einrichtung fester Waffenplätze, wodurch Heinrich I.
den verheerenden Einfällen fremder Räuberhorden ein Ziel setzte,
gab im Anfange des zehnten Jahrhunderts Anlaß zur Entstehung
von Goslar. Bald entwickelten sich Künste und Gewerbe unter dem
Schutze der festen Mauern. Unter Otto I. 968 und hauptsächlich
unter Heinrich II. 1016 kamen Bergleute aus Franken, welche sich
auf dem höher gelegenen Theile der Stadt, der noch heute den
Namen Frankenberg trägt, ansiedelten und den Bergbau im Ram-
melsberge einrichteten. 1016 schenkte Kaiser Heinrich II. den Ram-
melsberg mit Vorbehalt der Oberherrlichkeit und des Zehntens an
die Stadt. Dadurch gerieth dieselbe schnell in großen Wohlstand.
Sie hieß damals die königliche Stadt, und den 1051 eingeweihten
Dom nannte man die Neichskirche.
Auf dem Reichstage zu Mainz 1235 wurde der dem Kaiser
zustehende Zehnten des Rammelsberges an den Enkel Heinrichs des
Löwen, Otto das Kind, abgetreten; von dieser Zeit an empsingen
die Herzoge von Braunschweig den zehnten Theil aller Erze; die
übrigen neun Zehntel bearbeitete die Stadt selbst in ihren Hütten.
Im Jahre 1288 äscherte eine Feuersbrunst den kaiserlichen Pa-
last bis auf einen Flügel, das jetzige Kaiserhaus, ein. Empfind-
licher war der Verlust, den der Einsturz mehrerer Gruben im Jahre
13!0 verursachte. Vierhundert der darin arbeitenden Bürger wur-
den verschüttet und die Bergwerke von dem eingedrungenen Wasser
ersäuft und für längere Zeit unbrauchbar gemacht. Ein andrer
Einsturz im Jahre 1376 kostete abermals über hundert Bergleuten
das Leben.
Von dieser Zeit an begann man, die ausgehauenen Räume
durch Schrotwerke von Eichenholz zu schützen. Das Eichenholz ver-
härtet sich von dem Vitriolwasser, welches dasselbe durchdringt, und
das Salz, das sich in den Zwischenräumen bildet, füllt diese aus und
gibt einen ziemlich festen Schutz. Gegenwärtig mauert man zur Siche-
rung des Grubengebäudes Pfeiler auf, oder man läßt auch wohl Erz-
pfeiler stehen.
Vielerlei Herbes und Gutes erging im Laufe der Jahrhunderte
über die Stadt. Die unruhigen Zustande, in denen das deutsche
Reich beständig schwankte, Kriege und Brandschatzungen, Pest, Hun-
gersnöthe und die Elemente rüttelten beständig an dein Wohlstände
der Stadt, die oft nahe daran war, zu verderben. Namentlich war-
fen große Feuersbrünste häufig die ansehnlichsten Theile ihrer Ge-
bäude in Schutt und Asche. Im Jahre 1728 wurden 186 Wohn-
häuser, Neben- und Hintergebäude ungerechnet, durch Feuer ver-
heert, und auch die kurz zuvor neuverzierte Stephanskirche mit ihren
zwer Türmen und neun Glocken wurde ein Raub der Flammen.
123
1780 kam eine neue Feuersbrunst, die ohne die Hinter- und Seiten-
gebäude 218 Wohnhäuser in Asche legte. Daneben beeinträchtigte
die größere Ausdehnung des Bergbaues an anderen Orten den
Gewinn, welchen die Stadt aus ihren Gruben zog, und ein wichti-
ger, einträglicher Gewerbezweig, die Bierbrauerei, ging fast ganz
verloren. Die Gose von Goslar gehörte früher zu den geschätztesten
Bieren und wurde weithin verfahren, während sie gegenwärtig nur
noch am Orte selbst bekannt und minder gut ist.
Bis zum Jahre 1801 blieb Goslar freie Reichsstadt. Die
Veränderungen, welche die französischen Kriege hervorriefen, theilten
Goslar dem preußischen Gebiete zu. Die Besitznahme erfolgte im
Jahre 1802. Bei der Anordnung der gegenwärtigen Staatenein-
theilung durch den Wiener Kongreß von 1814 und 1815 wurde
Goslar mit dem Stifte Hildesheim an Hannover getauscht und 1816
dem Königreiche einverleibt.
3. Goslar ist eine fleißige Stadt von etwa 8000 Bewohnern.
Sie hat wie alle Harzstädte enge, verbauete Straßen, krumme Gäß-
chen, Gärten hinter und neben deg Häusern. Sonst führten sechs,
jetzt vier Thore zur Stadt, von denen das breite Thor wegen seiner
dicken, festen Zwinger, Türine und alterthümlichen Umwallung das
merkwürdigste ist. Bon den 185 Festungstürinen früherer Zeit sind
nur noch zwei sehenswerth, namentlich der dunkle, riesige Zwinger
mit seinen 20 Fuß dicken Fensternischen. Die breite Straße ist die
bedeutendste. Mitten in der Stadt am Markte liegt die Kaiserworth,
ein der Kaufmannsgilde zugehöriges Gasthaus. Das Gebäude fesselt
sogleich die ganze Aufmerksamkeit; von sieben Bogen getragen zieren
acht Standbilder in Lebensgröße die breite Vorderseite; es sind die
Bildnisse der Kaiser, welche sich um Goslar verdient gemacht haben.
Über den Bildsäulen erhebt sich ein schlanker Turm mit dem vergoldeten
Reichsadler.
!9. Ule Grafschaft llohnsteiii.
Getrennt von den übrigen Theilen des Königreichs, um-
geben von preußischem und braunschweigischem Gebiete liegt
am südöstlichen Unterharze die zur Landdrostei Hildesheim
gehörende Grafschaft Hohnstein, von der ein Theil dem Grafen
Stolberg, jedoch unter hannoverscher Landeshoheit, gehört.
Die Burg Hohnstein, deren Überreste die größte Ruinen-
masse des Harzes sind, gab dem Ländchen den Namen. Es
ist sehr gebirgig und voll Wald; nur ein Theil desselben eignet
sich zum Ackerbau; doch hat es bedeutende Viehzucht. Die
Hauptörter sind das Städtchen Neustadt unter dem Hohnstein
und der Flecken Ilfeld.
20. Der Harz.
1. Äer Harz (d. h. Waldgebirge) erhebt sich in der Richtung
von Südost nach Nordwest zwhchen Elbe und Weser. Gegen Nor-
den setzt das Gebirge scharf ab, während es nach den übrigen Him-
127
melsgegenden hin mit Hügeln und Vorbergen umgeben ist. Es
besteht aus Steinmaffen, die allerlei nutzbare Erze einschließen, welche
schon vor Jahrhunderten entdeckt und fleißig gesucht wurden. Jetzt
haben alle diejenigen Länder Antheil an diesen Schätzen, in deren Ge-
biete der Harz liegt. Hannover besitzt den größten Theil desselben,
nemlich etwas über ein Drittel, Braunschweig fast ein Drittel, und in
das übrige Drittel theilen sich Preußen und Anhalt-Bernburg so, daß
das erste %, das letzte % davon besitzt.
Der höchste Punkt ist der Brocken oder Blocksberg. Er liegt
auf preußischem Gebiete und ist 3500 Fuß hoch. Der westlich von
ihm liegende Theil ist der Oberharz; er gehört unserm Königreiche
an und ist höher, als der vom Brocken östlich liegende Unterharz,
welcher zu Braunschweig und Preußen gehört. Der Oberharz bildet
eine Hochebene, welche von mehreren tiefen, wilden Thälern in den
verschiedensten Richtungen durchschnitten ist. Auf seinen Höhen liegt
das Brockenfeld, eine sumpfige, moorige, zwei Stunden lange und
anderthalb Stunden breite Bergfläche, 2400 Fuß über dem Meere,
das größte Wassermagazin des Harzes, dessen trügerische Moosdecke
schwammartig Regen, Schnee und Nebel gierig einsaugt und nach
allen Winden hin als Quellwasser wieder versendet, sodann die Hoch-
ebene von Klausthal, deren Umfang etwa vier Meilen ist und welche
reiche Gruben enthält.
2. Die Lage des Harzes und seine Höhe bringen ein rauhes
Klima und im ganzen eine kalte, nebelige Witterung mit sich. Je
tiefer man steigt, desto mehr verliert sich dies. In den Thälern
wogen Kornfelder und grünen Laubhölzer, während die nahe gelege-
nen Gebirgszüge nur von Wiesenmatten bedeckt oder durch Fichten
beschattet sind.
Gewöhnlich mit Ausgang Octobers rauschen schon die kalten
Regen mit Hagelschauern; dicke Nebel wechseln mit Schneegestöber,
und der Winter hebt an. Der Sturm häuft die Schneemaffen oft
zu 20 Fuß Höhe, bedeckt damit Berg und Thal und verschüttet die
Waldung. Der lange Frost türmt ungeheure Eisberge auf, und
die stechende Kälte härtet die vielen Bäche und Flüsse zu eiserner
Festigkeit. Wenn dann auch im Frühjahre die Sonne bereits hoch
steht und warm leuchtet und im Flachlande alles in Grün und
Blüte steht, so erkältet noch das zögemde Schmelzen der riesigen
Schneemassen den lauen, belebenden Frühlingsodem, und die dichten,
großen, feuchten Nadelwaldungen athmen noch immer kalte Winter-
luft aus. Aber sobald endlich Ausgang Mais die eisigen Dämme
im Hochgebirge gebrochen und die dicken Schneemaffen der Waldun-
gen von dem durchdringenden Sonnenstrahle geschmolzen sind, tritt
plötzlich starke Wärme ein, und ohne daß die Anmuth des allmählich
schaffenden Frühlings bemerklich gewesen wäre, schreitet der Sommer
mit seinem üppigsten Pflanzenwuchse rasch herein. Es ist eine herr-
liche Zeit, wenn der Sommer in den Harz zieht; die Kraniche, die
Amseln, die Schnepfen sind seine Vorboten; sie kommen über Nacht
angezogen, und auf einmal lebt der Wald von buntem, singendem
m
Gefieder: der Schnee der höchsten Berge schwindet; die geschwolle-
nen Flusse brausen in Iugendkraft dahin, und die Bäche tanzen über
die Felsen zum Thale hinab; an den Bergen, auf den Hügeln, in
den Gründen keimt und sprießt und grünt es mit unglaublicher
Schnelligkeit; die Wiesen werden ein bunter Teppich, und die Anhöhen
dw auf die kahlen Felsen kleiden sich mit zahllosen Blumen.
Aber ebenso schnell verschwindet auch der Sommer wieder vor
den Schritten des rasch andrängenden Winters. Die angenehme
Zwischenzeit des Herbstes ist dem Harze ebenso fremd, wie der hei-
tere Lenz. — Der Sommer bringt einzelne sehr heiße Tage; im gan-
zen ist er aber doch auch nur kurz und unbeständig, und selbst der
heißeste Tag endigt in der Regel in einen frischen, empfindlich kühlen
Abend. Deshalb erlischt denn auch im Oberharze nirgend das Feuer
un wärmenden Ofen; das ganze Jahr hindurch wird eingeheizt, und
ber warmem Sommerwetter das Fenster der heißen Stube öffnen, das
'.st ein Ruhm des Oberharzers.
3. Er kann es sich erlauben, denn nächst den Metallen bilden
die großen Waldungen den Reichthum des Harzes. Hannover besitzt
aus dem Harze eine Gesammtzahl von 170000 Morgen Waldungen,
von denen 100000 Morgen Fichten-, und das übrige meist Eichen-
und Buchenwaldungen sind, welche Bau-, Brenn-, Schacht-, Dielen-,
Kohlen-, Schindel- und anderes Nutzholz liefern.
Die Gruben und Hütten verzehren den beträchtlichsten Theil dieser
Menge; aber auch die Harzköhlerei ist berühmt, sowie die Schindelbe-
reimng und die Sägemühlen. Daneben wird viel Holzgeschirr gemacht,
und durch den Vogelfang zieht der Harzer aus seinen Wäldern noch
manchen kleinen Gewinn, den die Waldsrüchte (Kronsbeeren u. s. w.),
der Same von Waldbäumen, Feuerschwämme und besonders Heilkräu-
ter sehr ansehnlich fördern.
Die Harzwiesen und die davon abhängende bedeutende Viehzucht
sind berühmt; rnan rechnet durchschnittlich 400 Stück Rinder aus
die Quadratmeile. Auch die Ziege findet auf dem Harze eine
gedeihliche Stätte; dagegen ist die Schafzucht minder erheblich und
die Pferdezucht unbedeutend. Bienenzucht findet man nur am Un-
rerharze. Der Ackerbau dient der Viehzucht zur Unterstützung; aber
es wird bei weitem nicht so viel Korn gewonnen, als der Harz ver-
braucht.
Der zparz hat große mineralische Schätze. Hannover gewinnt
aus seinen Gruben etwas Gold, viel Silber, Blei, Glätte und
Kupfer.
Die üerrengänger des Hm-zes.
Der Tag ist im Erwachen. Hier und dort wird es schon leben-
dig m den Häusern. Auf dem Herde knistert das Feuer, und aus
dem Schornstein des rothen Ziegeldaches steigt der Rauch in die
Morgendämmerung. Die Kinder rüsten sich zu^einem Gange in
die Berge. Der Kaffee ist getrunken, ein großes Stück Schwarzbrot
in einen Korb gelegt, und nun gehen die Knaben und Mädchen
thalauf, um Beeren in den Bergen zum Verkauf zu sammeln.
In dem nahen Walde können sie die Körbe noch nicht füllen;
denn nur Moos und Farnkraut grünen im Schatten der Tannen,
und keinerlei Frucht reift hier für den Menschen. Weiter zieht die
suchende Schar, bis sich der Wald lichtet. Hier, wo die Tannen
erst vor wenig Jahren weggeschlagen wurden, hat der wärmende
Strahl der Sonne alsbald ein neues Leben entwickelt. Das Moos
ist verschwunden, und seine Stelle hat die Erdbeere eingenommen.
Sie breitet sich dicht an der Erde aus großen Plätzen aus und
bietet ihre scharlachrothe Frucht auf dunkelgrünen Blättern dar. —
Zwischen den Klippen, wo einst die Tanne emporwuchs, schwankt
jetzt der Himbeerstrauch mit silberfarbigem Blatte, und neben ihm
erhebt sich stolz der Fingerhut mit hohem Stengel und purpurnen
Blüten, die in langer Reihe, Glocke an Glocke, bis zur Spitze des
Stengels hinaufsteigen und ihn unter ihrer Last biegen. Noch manche
Blüte und manches Kraut hat von der umgewandelten Stätte rasch
Besitz genommen, auch manch Thierlein den lichten Platz aufgesucht.
Neckische Eidechsen sonnen sich mit ihren klugen Augen auf den
erwärmten Steinen; zirpende Grillen fliegen von Klippe zu Klippe;
bunte Schmetterlinge flattern von Blume zu Blume, und ein Heer
von Käfern kriecht an den Grashalmen auf und ab. Hierher zieht
die Schar der Beerenleser, steigt zwischen den Klippen nach den
Himbeeren, sucht an dem Boden nach den Erdbeeren und füllt die
Körbe. So thun sie manches Jahr, bis von neuem ein junger
Tannenwald emporwächst und all das bunte Leben unter seinem
dunkeln Schatten wieder begrabt. Die Grille hört auf zu musicie-
ren, der Käfer zu klettern; die Erdbeere blüht nicht mehr; die Lieder
sind verstummt, bis nach aber hundert Jahren der Wald unter den
Schlägen der Axt wieder zusammenstürzt.
Die Holzhauer des Hartes.
1. Die Beerengänger sind die ersten, welche am frühen Morgen
unter Gesang in den Wald ziehen. Ihnen folgen die Holzhauer.
Die sorgliche Frau hat vorher den Kober des Mannes mit Brot und
Zubrot gefüllt; denn erst am Abend kehrt derselbe von seiner sauern
Waldarbeit zurück. Den Lederkober an der Seite geht er in festem
Schritt still und ernst dem Walde zu.
Bald krachen die Bäume lmks und rechts. Die Axt fällt
schallend auf den spaltenden Keil, und die Säge fährt schreiend
durch den gefüllten Baum. Nackte, von der Runde entblößte
Stämme liegen umher. Ihre Zweige sind in Bündel zusammen-
gebunden; dre Rinde ist in Haufen zusammengestellt. Große Leiter-
wagen halten an den Bergen, um die zerstücktew Bäume zu holen.
Klappernd fahren sie den steilen Weg hinunter. Zwischen den
Speichen^ der Räder hat man Tannenäste befestigt, um den raschen
Laus des Wagens zu hemmen. Bei jeder Drehung des Rades
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springen die Äste von Speiche zu Speiche, und weit in den stillen
Wald hinein schallt ihr Geklapper.
2. So wandern Eiche, Buche und Tanne, wenn ste alt gewor-
den sind,., zu den Wohnungen der Menschen. Auf dem Herde und
in den Ofen prasselt ihr Holz als wärmende Flamme; auf den
Dächern liegt es als schützende Schindel; die Stube versieht es
mit Möbeln. Zu kurzen Stäbchen zerstückt wandert die Tanne in
kleinen Bündeln als Streichholz nach Dorf und Stadt; zu Klam-
mern, Kellen und Quirlen verarbeitet wird sie von Haus zu Haus
zum Verkauf ausgeboten. Auf dem Schiffe segelt sie als starker
Blast mit flatternden Segeln durch das Meer, und auf dem Wagen
führt sie, zu Fässern und Tonnen geformt, über den Rücken hoher
Gebirge. — Die Stätte aber, wo die Bäume gestanden haben,
trauert. Die grüne Moosdecke ist verschwunden; weiß und bleich
ragen die Felsstücke wie Leichensteine überall aus der Erde hervor.
Aber schon ist für ein nachwachsendes Geschlecht gesorgt. Da, wo
ehedem ein Wald stand, ist ein Garten angelegt, in welchem aus
Samenkörnern junge Stämmchen gezogen werden. Haben diese eine
Höhe von einem Fuß erreicht, so werden sie verpflanzt.
Die Köhler des Harxes.
1. Überall in den Harzwäldern finden sich Meiler, in denen
die Kohlen gebrannt werden. Im Innern der Meiler brennen Holz-
stöße, welche mit vieler Kunst aufgetürmt und mit einer Decke von
Zweigen und Erde umhüllt sind, daß das Ganze eine große, hohe
Halbkugel bildet. In der Decke sind Löcher angebracht, aus..denen
der Rauch in die Höhe steigt. Durch das Schließen und Öffnen
dieser Löcher wird das unsichtbar fortbrennende Feuer in regelmäßi-
gem Zuge erhalten. Nach wochenlangem Brennen stürzt der Berg
zusammen; das Holz aber ist alsdann in eine glänzende Kohle ver-
wandelt und wird nun nach den Hochöfen der Eisenhütten und nach
den Werkstätten der Schmiedemeister gefahren. Die Leute, welche
das Meilergeschäft betreiben, heißen Köhler. Das Leben derselben ist
ähnlich dem der Sennhirten. Ist der Schnee in den Bergen geschmol-
zen, so ziehen sie mit ihren zweiräderigen Kohlenkarren fort von
Weib und Kind und kehren erst kurz vor Anbruch des Winters wieder
heim. Sie sind unter allen Harzbewohnern diejenigen, welche am
längsten im Walde verweilen.
2. Der Köhlermeifter hat, wie der Sennhirt, seine Handbuben,
die ihn bei der Arbeit unterstützen. Auch Glocken klingen beständig
um ihn; es sind die Glocken seiner Pferde, die das Holz auf Schlit-
ten über Moos und Gras aus dem Walde herbeischaffen. Dieje-
nigen seiner Leute, welche den Schlitten zu laden und das Holz
zum Meiler zu fahren haben, heißen Schlittner. Die erste Arbeit,
welche nach der Ankunft im Walde vorgenommen wird, ist der Auf-
bau einer Hütte, welche ste die Köthe nennen. Sie ist einfach genug
und bald gemacht. Junge Tannenstämme werden mit den Spitzen
Zusammengestellt und alsdann mit Baumrinde ganz überkleidet.
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Eine einzige Öffnung vertritt Thür und Fenster. In der Mitte ist
die Feuerstelle, über welcher an einem eisemen Haken ein Kessel
hängt. In die Zeltstangen sind Pflöcke geschlagen ; an diese werden
Beutel mit Salz, Zwiebeln und dergleichen, so wie auch Kleidungs-
stücke gehängt. Einige hölzerne Kisten, Laden genannt, nehmen
Brot, Kartoffeln, Wurst, Mehl und dergleichen auf. Die Lagerstätte
besteht aus breiten Bänken, von dünnen Baumzweigen zusammen-
gefügt, auf denen Moos und Moossäcke statt der Federbetten liegen.
Jede Woche, gewöhnlich Mittwochs oder Sonnabends, kommen die
Frauen der Köhler, um die nothwendigsten Lebensmittel zu bringen.
Abends wird die beliebte Scheibensuppe gekocht. Man schneidet nem-
lich Brotscheiben in einen Napf, gießt kochendes Wasser darauf,
thut etwas Butter, viel Salz und Kümmel daran, «nd die Suppe
ist fertig. Ist einer von der Gesellschaft noch im Walde beschäftigt,
so wird ihm ein Zeichen durch einen hölzernen Hammer gegeben,
mit welchem auf ein glattes Buchenbrett geschlagen wird, das
zwischen zwei Stricken in der Schwebe hängt. Weit in den Wald
hinein dringt der Ruf dieser Tischglocke. Beim Essen fährt zuerst
der Köhlermeister mit seinem hölzernen Löffel in die Schüssel; dann
kommt der Schlittner und dann erst der Lehrjunge. Legt der Meister
seinen Löffel zur Seite, so thun es die andern auch. Der Junge
reinigt darauf den Napf und die Löffel, trägt Holz für die Nacht zur
Feuerstätte und begibt sich mit den übngen zur Ruhe, wenn die Abend-
lieder der Drossel verklungen sind.
Die Vogelsteller des Harles.
1. Am frühen Morgen zieht der Vogelsteller, die Leimruthen in
der Hand, die Lockvögel mi Bauer, in den Wald, um Gefangene zu
machen. Wo ein Busch sich findet, da setzt er ein Bauer mit einem
Vogel hin; fehlt es an Gebüsch, so steckt er einen buschigen Zweig
in die Erde. An den äußersten Spitzen der Zweige befestigt er die
mitgenommenen Leimruthen, und dann legt er sich in der Nähe auf
die Lauer. Die Lockvögel fangen sogleich an zu singen. In den Tan-
nen widerhallt der Gesang, und immer näher rücken die freien Sänger.
Da setzt sich ein sorgloser Vogel auf die Leimruthe. Er wollte mit dem
unbekannten Sänger um die Wette jubeln; aber das Lied erstickt ihm
in der Brust. Der Vogelsteller springt herbei und steckt ihn ohne Er-
barmen in einen bereit stehenden Käfich. So wird ein Vogel nach dem
andern auf die Leimruthe gelockt, bis die Sonne hoch am Himmel
steht. Dann wird es still im Walde; der Vogelsteller kehrt zufrieden in
seine Hütte zurück.
2. Aber nicht nur Leimruthen, auch Netze werden angewandt,
um die Vögel des Waldes einzusanaen. Man spannt sie in Rahmen
und befestigt diese so an einem großen, offenen Kasten, daß sie von
zwei Seiten wie ein getheilter Deckel auf den an der Erde stehenden
Kasten fallen können. Eine solche Vorrichtung heißt ein Vogelherd.
Soll der Fang beginnen, so werden die Netzdeckel in die Höhe geklappt.
Eine Schnur zum Zuziehen geht nach einem Häuschen, in welchem
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der Vogelsteller sitzt. Auf dem Boden des Kastens laufen Vögel
umher, angeschirrt und angezäumt, so daß sie nicht entweichen können.
Die Lockvögel dagegen sind in der Nähe des Herdes in Verstecken
vertheilt und rufen in den Wald hinein. Sobald Vögel in den Ka-
sten geflogen sind, zieht der Vogelsteller die Fallihüren zu, und es ist
um die Freiheit der arglosen Thiere geschehen. — Die Vogelherde des
Harzes haben einen alren und hohen Ruf. Saß doch Herzog Heinrich
an emem Vogelherde des Harzes, als ihm die Krone von Deutschland
angeboten wurde.
3. Den Kramtsvögeln, Weindrosseln u. s. w. stellt man ihres
wohlschmeckenden Fleisches wegen nach, und zwar mittelst Schlingen.
Dres geschieht im Herbste. Die Schlingen sind aus Pferdehaaren
gedreht und an emem hölzernen Bügel befestigt, der die Gestalt eines
Steigbügels hat. Jeder Bügel hat drei bis vier Schlingen und außer-
dem noch als Lockspeise die Frucht der Ebereschen. Ein gabelförmiger
Tannenzweig, den man mannshoch an dem Aste eines Baumes auf-
hängt, hält ihn, und es sind auf diese Weise oft in einem einzigen
Jagdreviere an 2000 Tannen mit Bügeln versehen. Täglich wird
nachgesehen, und man holt aus einem einzigen Reviere an manchem
Tage'200 bis 250 Vögel.
4. Ein großer Theil dieser Vögel kommt auf die Märkte der
benachbarten Städte zum Verkauf. Auch die eingefangenen Singvögel
bleiben nur zum kleinsten Theile im Harz. In kleine Bauer eingesperrt
wandern sie auf dem Rücken der Händler in die weite Welt. Man
sieht in den Straßen der Städte oft vierzig, fünfzig solcher Bauer
neben und über einander zum Verkaufe aufgetürmt. Da flattert der
Stieglitz neben dem Dompfaffen, der Zeisig neben dem Hänflinge;
vergebens mühen sie sich ab, zwischen den Tannenstäbchen des Gefäng-
nisses hindurch zu brechen. Wohl singen sie noch; aber ihre Lieder
tönen nicht mehr so froh, und ihr Gefieder bleicht schon nach wenigen
Jahren.
21. -Der Fink.
Der Buch- oder Edelfink hat die Größe eines Haussperlings;
sein Unterleib ist braunroth, der Oberrücken mehr grau, und zwei
werße Querbinden ziehen sich über die Flügel und die Seitenränder
des Schwanzes. Sein Nest, dem auch das des Stieglitzes und
des wüden Kanarienvogels sehr ähnlich ist, baut er tassenförmig von
Moos, Flechten, Spinngewebe, so daß es die Farbe des Baumstam-
mes erhält, auf welchem es in einer Astgabel steht; inwendig ist
es mit Federn und Haaren gefüttert. Es enthält drei bis fünf hell
bläulichgrüne, dunkelbraun gefleckte Eier, die vierzehn Tage gebrütet
werden. Ist das Nest bald fertig, so dreht sich der Vogel mit sei-
nem Brüstchen gewaltig darin herum, damit es recht hübsch rund
wird; dann aber ist es auch so schön glatt, daß es ein Hutmacher
nicht besser machen könnte. Das Männchen bringt rm Schnabel
die Materialien zum Nestplatz herbei, während das Weibchen baut.
Hat jenes genug herbeigebracht, so singt es diesem zur Ergötzlichkeit
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ein Liedchen, bis es wieder frische Zuthat haben muß. Während
des Brütens nähert sich das Männchen seiner Gefährtin und läßt
ein leises Gezwitscher hören, um zu fragen, ob die Reihe noch nicht
an ihm sei. Wenn das Weibchen schweigt, macht das Männchen
noch einen kleinen Ausflug; wenn es aber durch ein leises Geschrei
antwortet, nimmt das Männchen den Platz desselben ein. Der Fink
hat nicht bloß sein einsilbiges: „pink, pink" und „irrr" oder „trief;"
er singt gar unmuthige und mannigfache Weisen. Wenn einmal von
Zeit zu Zeit unter den Finken ein rechtes Genie aufsteht und eine neue
Melodie aufbringt, so pfeifen ihm die andern Finken alle nach, und
seine Weise wird eine Zeit lang Mode.
Unter den übrigen Dögeln vom Finkengeschlechte sind der Kana-
rienvogel, der Hänfling in seinem graubraunen, am Halse gelblichen
Kleide und der buntfarbige Stieglitz die besten Sänger.
22. Der Fuchs.
1. Äer Regen verzieht; der Wald schüttelt die lauen Tropfen
aus dem Haupt, und von der Heide steigt es erfrischend und wür-
zig in die Abendluft. In allen Schlupfwinkeln regt sichs. Die
Mücken beginnen ihre Tänze; die Ameisen kriechen hervor; der Fink
schmettert aus dem Buchenwipfel herab, und der Fuchs lauscht dort
zwischen den Wurzeln einer alten Eiche. Er „windet." Alles ist sicher.
Mit einem Satze ist Reineke vor der Thür. Das Ohr ist scharf her-
ausgespitzt, ist gemacht, die über ihm auf Bäumen schlummernde
Beute zu erspüren; das leiseste Geräusch, das Zittern eines Blattes,
das Zucken des träumenden Vogels hört er. Die Rase ist fein und
langgestreckt. An dem Auge erkennt man sogleich das nächtliche Raub-
thier; cs spielt aus grau in grün, liegt halb in der Höhle versteckt, am
Tage zur senkrechten Spalte verengert. Der Mund spaltet sich weit,
denn der Fuchs ist ein Räuber; ein sparsamer Bart stellt sich in langen,
zurückstrebenden Spitzen um die Oberlippe. Diese Lippen sind feinge-
schnitten und geschlossen; öffnen sie sich aber, dann blicken scharf und
grimm die Zacken des Gebisses, die nichts Lebendes entrinnen lassen,
oder es knistert ein heiseres, hustenartiges Bellen hervor. Den schlan-
ken, hangenden Leib tragen schnelle Füße fast spurlos über den Boden,
und stattlich schmückt ihn die buschige Schleppe. Die Brust ist weiß;
sein Pelz schimmert roth und goldig; daher ist er Fuchs geheißen, d. i.
der Feuerfarbene.
So schleicht, streicht und kreucht der Schlaue dahin, er schmiegt
und biegt sich, ist vorsichtig, geduldig, ausdauernd, behend, allezeit
entschlossen: ein Meister über hundert Künste.
Er scheint den Abend in süßem Nichtsthun vertreiben zu wollen.
Inzwischen kommen ein paar junge Füchslein neben ihm zum Vor-
schein. Klugforschend äugeln sie umher, legen sich in die Sonne und
beginnen allerhand Kurzweil. Da tritt auch die Mutter heraus.
2. Der alte Fuchs macht sich auf; allein er eilt mit Weile.
Gelagen schlendert er, den Schweif vornehm schleppend, durch Busch
und Kraut, immer querfeldein. Er mag sich gern in Riedgras,
134
Korn und Hag verlieren, wo bunte Blumen blühen und muntere
Vögel singen. Er kommt in den Wald. Nun schleicht er leiser, vor-
sichtiger. Der Abend haucht kühl aus Halm und Blatt. Die Bäume
hehen ihre Wipfel regungslos in die Stille; nur die Dogelkehlen sind
noch laut. Die Drossel lockt mit Hellem Ton; die Meise schlüpft, ihr
Liedchen schrillend, von Busch zu Busch; der Waldschreiner Specht hackt
und hämmert am Eichenstumpf; dazwischen kreischt der Hetzer. Reineke
ist am Rande der Waldwiese angekommen. Er lauscht. Die Blumen
neigen ihre Kelche; da und dort summt noch ein Biene, oder ein schwer
gepanzerter Käfer schweift behaglich brummend in geschwungenen Bo-
gen dahin.
Jetzt knackt es in den Zweigen. Der Fuchs spitzt das Ohr: ein
Pfeifen läßt sich hören. Da tritt das Reh heraus, das Haupt keck em-
porgerichtet, die Augen nach allen Seiten rollend. Wieder pfeift es,
und -in schlankem Sprunge ist das Kälbchen der Alten zur Seite. In
den drolligsten Sätzen tändelt es um die Mutter, ein Blatt, ein Kraut
wie im Fluge abstreifend und dann sich niederwerfend zum Saugen.
Die Mutter leckt ihm kosend den Nacken. Plötzlich hebt die Ricke den
Kopf. Ihre Augen funkeln; ein Zittern fliegt über die Flanken;
sie macht ein paar Sprünge und stampft zornig mit den Läufen.
Es ist klar: sie hat den Räuber gewittert. Der hat sich leises Fußes
herangestohlen, sacht, sacht, das Kitzlein unverrückt im Auge. Es
gilt aber euren kühnen Griff. Die Alte- hat ihm soeben den Weg
verrannt. Doch Reineke läßt sich nicht irren; er thut, als sei er in
tiefen Gedanken. Träumerisch sinnend starrt er ins Blaue. Keine
Miene verräth, daß er der Beute ansichtig geworden. Er verschwin-
det, um in weiten Bogen von einer andern Seite den Angriff zu
versuchen. Allein die wachsame Alte drängt sich dicht an das Junge;
denn sie kennt des Laurers Arglist. Dort streift er vorbei. Die Ricke
pfeift wieder, und der Fuchs schaut aus, als schrecke er plötzlich
zusammen. Doch er ist inzwischen dem Ziele seiner Wünsche nah
und näher gekommen. Der Augenblick ist günstig und Verstellung
nicht mehr nöthig. Reineke duckt sich nieder; wie eine Katze schmiegt
er sich an den Boden; der Schwanz zuckt, die Augen starren wildgie-
rig auf das bebende Thier; er weist die mörderischen Zähne, hebt
leise Fuß und Kopf zu Sprung und Biß — ein Satz — da stürzt
sich die Mutter schnaubend auf den Räuber los, mit den Füßen ihn
zerstampfend. Das Kälbchen ist gerettet. Reineke kehrt hinkend und
zorngrimmig heim.
3. Im Sommer ist des Fuchses goldene Zeit. Da zieht es
ihn ins Feld. Dort lagern Hasen und Kaninchen, Rebhuhn, Wachtel
und Lerche, kleine Leutchen ohne Wehr und Waffen, die ein fried-
liches Leben führen. Ach, es wird ihnen übel ergehen! Der Ver-
schlagene versteht zu passen und zu fassen. Umsonst'sind ihre kleinen
Künste; er mordet bei Tag und Nacht, und seine Brut wird dreist
und feist. Wenn er sich gütlich gethan hat, so winkt ihm auf son-
niger Heide das Bienenhaus. Er springt hinan und leckt die wür-
zigen Tropfen, und mag ihn das ganze Jmmenheer zürnend um-
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schwärmen: er lacht ihres Stachels, lädt sie sich auf den Pelz, wälzt
sich am Boden, zerdrückt sie, frißt sie, und am Ende müssen sie ihm
die süße Labe überlassen. Oder er schleicht zum Garten, wo aus dem
Laube rothwangige Birnen und schwarze Kirschen locken, versucht im
Weinberg die Traube, oder er lauert am Bach auf Fisch und Krebs.
Aber die goldenen Tage sind bald vorüber. Die Felder stehen
kahl, der Wald entlaubt; auch die letzten Wandervögel sind davon-
gezogen; rauhe Stürme brausen über die Öde. Der Fuchs liegt
in seiner Zelle; denn es gibt wenig zu jagen, und die gesammelten
Vorräthe schützen ihn zunächst noch vor Mangel. Es ist eine triste,
langweilige Zeit. Er macht Sprungübungen und horcht wachsam
den Schüssen der Jagd, die dumpfwarnend in sein Lager hinunter-
dröhnen. Indessen drängt der Winter immer ungestümer heran.
Bald liegt alles erstarrt unter der weißen Decke; Seen und Bäche
gefrieren tief hinab; die Bäume krachen, vom Frost zerspalten; das
Wild ächzt hungrig in den dichtesten Gründen, und Nabe, Krähe
und Sperling haben längst die Straßen der Städte und Dörfer
gesucht. Reineke darf das nicht. Er streicht lungernd hinter einem
Bauerngehöft umher. Aber es läßt sich keine Feder spüren. Die
Noth treibt ihn dem Walde zu. Mit einem Mal hebt er die Nase.
Seine Augen blitzen. Ein lieblicher Duft weht ihm entgegen. Ha,
was ist das? — Siehe da — mitten in der Wildniß ein süßge-
bratenes Stück Fleisch. Ohne Zögern ist es verschlungen. Reineke
fühlt seine Lebensgeister neu erregt; seine Augen werden wacker,
und wie von unsichtbaren Banden gezogen trabt er fürbaß. Und
wahrlich! da liegt ein zweites Stück. Reineke steht still, Überraschung
und Argwohn in den Zügen. Wer ist der unbekannte Spender?
Er umschleicht auf scheue,: Sohlen die Stelle, steht wieder still, legt
sich, horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf, um
wieder niederzukauern. Nirgend ein Laut, nur die alten Föhren
knarren; nirgend eine Spur, als die flüchtigen Zeichen, die des
Windes Finger in den Schnee geschrieben. Er betrachtet den Bissen
noch einmal: „Wär es eine Falle? — Die Menschenkinder sind voll
Args! — Schon mancher Edle fiel durch ihre List! — Aber nein
— hinweg mit solchen Gedanken!" und im Nu ist auch der zweite
Brocken hinab.
O Reineke! Reineke! du bist verloren: — denn dort liegt noch
ein dritter Bissen. Stier blickt er hin auf die Lockung. Doch der-
innere Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Und wieder um-
kreist der Fuchs das leckere Mahl; wieder legt er sich, duckt die
Ohren vorwärts, rückwärts, spitzt sie. Und wieder ist alles stumm;
nur die Föhren knarren noch immer unverdrossen. Der Fuchs fängt
an zu klügeln; aber je länger er hinschaut aus den Bissen, desto
wirrer wird sein Blick. Es flimmert ihm vor den Augen; der Duft
betäubt ihn; er kann nicht los, er muß — und gält es sein Leben —
er muß hinzu. In einem wilden Satze springt er darauf los — da,
krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne zusammen.
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor
Wuth; aber es ist sticht Zeit zur Klage, denn Gefahr droht im Ver-
züge: es gilt eine kühne That. Er beißt sich den zerschmetterten Fuß
ab und eilt von dannen.
23. Der Specht.
Äer Specht ist der Holzhacker und Zimmermann der Vögel.
Vier Brüder sind es, die alle das gleiche Handwerk treiben. Der
größte heißt von seinem schwarzen Rocke der Schwarzspecht. Er hat
ein feuerrothes Käppchen auf dem Kopfe. Der zweite hat auch eine
rothe Kappe, aber ein schön grünes Kleid; er heißt daher der Grün-
specht. Die beiden andern sind schwarz und weiß, als sei ihr Kleid
aus Flicken und Flecken zusammengesetzt; einer davon ist größer, der
andere kleiner.
Kaum graut der Tag, so geht es an die Arbeit; wo die ältesten
und stärksten Bäume sind, im dichten, finstern Walde, da ist^ seine
Werkstatt. Mitten am Stamme klammert er sich an der rauhen
Rinde fest. Zwei von seinen Zehen hält er nach vorn und zwei
nach hinten. Die Nägel an denselben sind ihm von großem Vor-
theil. Sein Schwanz ist ziemlich kurz, und die Federn, die denselben
bilden, sind steif und hart, denn er muß ihn zugleich als Stühlchen,
auf dem er auf der Borke des Baumes fest ruht, benutzen. Sein
fester Schnabel ist seine Axt; daher ist er ganz ähnlich einem Keile,
wie ihn der Holzhauer in den Baumstamm schlägt; nur ist er vorn
zugespitzt. Da pickt er denn nun durch die Borke und zieht die
Käfermaden hervor, die in ihr wohnen. Diese leben manchmal zu
Hunderten in einem Stamme und zernagen ihn so, daß die Äste
absterben und die Knospen verwelken. Der Obstgärtner und der
Forstmann sehen diese verborgenen Borkenkäfer nicht eher, bis sie
am Absterben des Baumes den Schaden erkennen; dann ist es aber
zu spät. Da kommt ihnen nun der Specht zu Hülfe. Sein kräf-
tiger Schnabel spaltet das mürbe Holz, und fingerlange Splitter
fliegen umher. Plötzlich läuft der Specht auf die andere Seite des
Stammes; hier beguckt er genau jedes Ritzchen. Warum? Meint
er vielleicht, das Loch gehe schon durch den Baum? Nein; die
Würmer erschraken vor dem Pochen und Hacken und flohen auf die
andere Seite des Baumes; die will er jetzt dort herausholen. Seine
Zunge ist lang und dünn, dabei hart und spitz, wie eine Nadel;
damit fährt er in die Wurmlöcher hinein und holt die Maden her-
aus, die er um so besser fassen kann, da die Zunge wie ein Pfeil
mit vielen kleinen Widerhaken versehen ist. Die großen, tiefen
Löcher, die der Specht in die Bäume einhaut, kommen andern klei-
nen Vögeln sehr zu statten. Meisen und Staare benutzen sie als
Wohnungen. So ist der Specht recht eigentlich der Vögel Zimmer-
mann. Er hackt auch für sein eigenes Nest ein wohl zwei Spannen
langes Loch schräg in den Baum, und nachdem er alle Späne vor-
sichtig vom Baume hinweggetragen hat, damit kein böser Bube
merke, daß er da sein Nest habe, legt das Weibchen auf Holzspäne
oder Wurmmehl zwei schöne weiße Eier.
24. Die Fichte.
1. Wo der dürre Sandboden des Heidelandes keinen andem
Baum mehr duldet, wo jedem andern die Kraft ausgeht, zum Walde
sich zu vereinen; da ist die Kieferfichte noch frisch und fröhlich zur
Hand, dem Menschen eine Wohnstätte zu bereiten, dem Reh eine
Heimat, dem Vogel einen Lustwald. Und wo die Berge zu den
Wolken aufsteigen, wo auf schroffer Felswand die Gemse zurück-
schreckt vor der schwindelnden Höhe; da klettert die Tannenfichte
muthig und kühn hinauf, ihr grünes Leben in die steinige und kalte
Wildniß zu tragen und dein Adler einen Horst zu bilden für seine
Jungen. Selbst noch da, wo die heftigen Stürme in den oberen
Luftregionen der höchsten Berge keinem Baume einen Standort
mehr gönnen, wo die schneidende Kälte alle Pflanzenkeime erstickt,
da streckt und beugt sich noch die Krummholz-Kiefer und bietet allein
Sturm und Wetter Trotz.
2. Kein anderes Baumgeschlecht bildet ferner so zahlreiche Wäl-
der, wie das der Fichte. Ohne die Fichtenwälder mit ihrem uner-
schöpflichen Holzvorrath wäre das nördliche Klima kaum zu bewohnen.
Von den Stämmen der Fichte bauen die Menschen ihre Häuser; mit
ihren Brettern umkleiden sie die Wände, erwärmen sie den kalten
Fußboden; aus ihrem Holz drechseln sie ihre Hausgerüthe, verfertigen
sie Tische, Stühle und Bänke. Es ist das Holz der Fichte, womit sie
ihre Öfen heizen und ihr Essen kochen, und es ist der Saft desselben
Baumes, woraus sie das Terpentinöl bereiten, und das Pech, ohne
welches kein Kahn den Fluß befahren, kein Schiff in See stechen
könnte. Wohl liefert die Eiche die festen und starken Rippen des
Schiffes; aber die Tanne pflanzt den Mastbaum darauf, der die
gewaltigen Segel trägt und hoch und stolz das Wimpel sehen läßt.
Und wie den turmhohen Mast, so liefert derselbe Baum das kleine
Zündhölzchen, an welchem der entzündliche Phosphor das Feuer
bringt. Das Fichtenholz ist auf den Häusern die deckende Schindel,
in den Häusern der tragende Balken; das Fichtenholz ist in der Hand
der Hausfrau der Eimer, das Sieb, die Kelle. Frage den Küfer, den
Drechsler, den Tischler, den Zimmermann, den Bauern und Bürger,
den Handwerker und den Künstler: sie alle werden dir den köstlichen
Fichtenbaum loben und preisen.
Das schöne hellgrüne, schattenreiche Laub ist dem Fichtengeschlechte
vom Schöpfer versagt. Der harzige Saft, welcher der Kälte so wacker
Widerstand leistet, erhält die zusammengeschrumpften Nadelblätter
immer grün. In diesem harzigen Safte liegt ein so stärkender Bal-
sam, daß die Fichtennadeln wie die besten Arzneipflanzen heilsame
Kräuterbäder geben. Kein Laübholz hat solches Harz.
_ 3. Auch im Wachsthum ist das Nadelholz ein ganz anderes
We>en als das Laübholz. Letzteres wächst das ganze Jahr hindurch;
doch die Fichte macht ihre Arbeit auf einmal in einem kräftigen
Ruck ab, denn ihre Augen treiben im Frühjahr einen Schößling
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empor, den man leicht an seiner hellgrünen Farbe erkennen kann,
und hören dann für das übrige Jahr zu wachsen auf. Sie benutzen
aber diese Zeit, das weiche, grüne Holz in festes, weißes zu ver-
wandeln, den innern Splint von dem ihn umgebenden Baste zu scheiden
und um beide eine feste Rinde zu legen. Noch hat dasselbe die merk-
würdige Eigenschaft, daß die Äste in Quirlen rund um ihren Stamm
herum stehen.
4. Das Fichtengeschlecht begreift nicht weniger als 30 Arten in
sich. Um aber diese bequemer übersehen zu können, hat man sie in 5
Familien eingetheilt, nemlich nach der Art und Weise, wie die Nadeln
an ihre Zweige geheftet sind. Die Nadeln stehen entweder
1) einfach auf beiden Seiten, wie die Zähne an einem Kamm. —
Erste Familie: die Edeltanne; oder
2) rund um den Zweig herum.— Zweite Familie: die Roth -
tanne; oder
3) es stehen immer zwei Nadeln in einer Scheide beisammen. —
Dritte Familie: die Kiefer (Föhre); oder
4) es sind fünf Nadeln in einer Scheide vereinigt. — Vierte
Familie: die Weymuthstiefer; oder
5) es sind viele Nadeln zu einem Büschel vereinigt. — Fünfte
Familie: die Lärche.
25. Das Moos.
Ruten am Waldesboden lebt ein winziges Geschlecht, beschei-
den und harmlos: das Moos. Seine Pflänzchen sind die Zwerge
der Pflanzenwelt. Die größten davon sind nicht länger, als em
Finger; viele sind nicht größer, als ein Nadelknopf. Wie zierlich
überziehen sie den Grund des Waldes! Hier wölben sie dichte Pol-
ster von dunkelgrüner Farbe. Diese tragen lange, goldgelbe Fäden
mit Knöpfen und goldgelben Kronen darauf. Dort bilden gelblich-
grüne Pflänzchen mit vielen Ästen weiche Ruhekissen. Mehr als
100 verschiedene Arten von Moosen leben still in Wald und Sumpf
an Stämmen und Felsenwänden, an Mauern und auf Dächern.
Wie schwach ist doch ein solch kleines Pflänzchen! Sein Stengel,
von schöngeformten Blättchen dicht umhüllt, ist kaum so stark, wie
ein Fädchen Zwirn. Der liebe Gott hat aber immer große Gesell-
schaften, tausend und aber tausend solcher Pflänzchen neben einan-
der wachsen lassen. Diese kleinen Zwerglein richten in Gesellschaft
gar manches aus.
Wenn im rauhen Herbst die Bäume ihre gelben Blätter ver-
lieren, dann ist das Moos am schönsten grün und wächst am besten.
Es fängt die Eicheln, Bucheckern und Nüsse auf und umhüllt sie
weich und warm. Es kriecht an den Stämmen empor und ist ein
marines Winterkleid für sie. Die tausend Käferchen des Sommers
suchen sich Verstecke, wenn der rauhe Winter kommt. Wohin sollen
sie ziehen? Sie kriechen ins warme, weiche Mooslager und schlafen
da den ganzen langen Winter hindurch. Hier liegen runde Häuf-
chen Spinneneier, dort ähnliche von Schmetterlingen. Hier hat eine
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Raupe ihr Winterlager ausgesucht; dort ruht zusammengerollt eine
Blindschleiche. Jetzt thaut der Schnee. Das Moos hält noch lange
das Wasser fest und reicht jedem sein Tröpfchen: der Eichel, der
Haselnuß, den Samenkörnchen von der Flockenblume und vom Ver-
gißmeinnicht. Sie keimen, und das Moos schützt die zarten Sprossen
vor dem kalten Märzhauch. Die Pflänzchen komuren nun allent-
halben hervor; die Käfer kriechen heraus; die Schnecken schlüpfen
ans Tageslicht, und aus den Puppen kommen schöne Schmetter-
linge. Aus fernen Ländern kehren Rothkehlchen und Nachtigallen
wieder und beginnen ihre Nester zu bauen. Sie tragen Reiser in den
neubelaubten Busch und flechten ste in einander. Nun fehlt es noch an
einem weichen Bettchen für die Eier und die künftigen jungen Vögel.
Da fliegen die Alten zum weichen Moos und füttern ihre Nester
damit. Bald kommt auch der Hase und das Reh. Sie suchen ein
sicheres und trauliches Versteck, wo sie ihre Jungen pflegen können.
Für sie breitet sich das Moos als weicher Teppich aus, auf dem sie
alle ein schönes Lager haben.
Neben dem Walde ist ein Sumpf. Darüber bildet das Torf-
moos eine dichte, weiße und rothe Decke. Nach oben wächst das
Torfmoos unaufhörlich weiter; nach unten stirbt es ab und bildet
Torf. Den stechen dann die Torfgräber aus, trocknen ihn und ver-
kaufen ihn als Feuerungsmittel. Dann heizt das Torfmoos beni
Menschen die Stuben und hilft ihm das Essen kochen.
26. Der Berg- und Hüttenbau.
1. Der Berg- und Hüttenbau wird von den Bergleuten betrie-
ben, von denen einige die Mineralien unter der Erde aufsuchen und
zu Tage fördern (Grubenbau), andere über der Erde die weitere Zu-
bereitung und Reinigung derselben befördern (Hüttenbau). Die Erze,
welche die Metalle enthalten, findet man in den Gebirgen der Erde,
welche man wieder in Gang- oder Urgebirge und Flötzgebirge ein-
theilt. Gänge nennt man mehr oder weniger senkrecht gehende Schich-
ten oder Lagen der mineralischen Körper in den Gebirgen. Flöhe
heißen die horizontal über einander liegenden Schichten in einigen
Gebirgen, welche durch gewaltsame Bewegungen des Wassers ent-
standen sein müssen. Die Ganggebirge sind die vorzüglichsten Behälter
der Erze. In den Erzen liegen die Metalle theils gediegen, d. i. in
ihrem vollkommenen metallischen Zustande, oder vererzt, mit andern
Mineralien vermischt, oder verkalkt, d. i. ihres brennbaren Wesens
beraubt. Nur die unedeln Metalle, Eisen, Kupfer, Blei, Zinn, können
in Kalk verwandelt werden.
2. Wenn die Bergleute einen Erzgang entdeckt haben, so wird
er nach allen Richtungen verfolgt und das Erz herausgeschafft,
wodurch oft große und tiefe Gruben entstehen. Dann ' werden
Schachte, d. i. senkrechte Öffnungen angelegt, durch welche man
bequemer in die Grube gelangen und bte Erze aus ihnen heraus-
bringen kann. Horizontallaufende Gänge werden Stollen genannt.
Sie dienen theils zur Ableitung des unterirdischen Wassers, theils zur
140
Beförderung des Lustzuges in den Bergwerken, theils zur Verbin-
dung der Gänge. Das in der Tiefe gewonnene Erz wird in Ton-
nen durch Winden, welche in dem Schachte angebracht sind, in bis
Höhe gewunden.
3. Das Metall so rein als möglich aus den Erzen heraus-
zubringen und von beigemischten anderen Mineralien zu trennen,
ist das Geschäft der Hütten. Man schlägt zuerst das Erz mit Häm-
mern in kleine Stücke, man pocht es und läßt es durch Maschinen,
die von Wasser getrieben werden (Pochwerke), zu Pulver machen.
Dann erfolgt das Waschen der Erze in abschüssig liegenden Kasten,
wodurch die unbrauchbaren, leichten Theile von Erde und Stein
abgeschwemmt werden. Vor oder nach dem Pochen geschieht das
Rösten in der Absicht, die Schwefel- und Arseniktheile, womit viele
Erze vermischt sind, auszuscheiden und zugleich diese mürber und
zum Schmelzen geschickter zu machen. Das Rösten geschieht, indem
man wechselweise eine Schicht Erz und eine Schicht Kohle legt und
das Ganze anzündet. Einige Erze bedürfen des Röstens. Zuletzt
erfolgt das Schmelzen der Erze; zur Beförderung desselben müssen
einigen Erzen, die sehr schwer in Fluß zu bringen sind, noch andere
Dinge beigemischt werden. — Dies ist die allgemeine Behandlung
der Metalle, die aber bei verschiedenen Gattungen manche Abünde-
rtmg leidet.
27. Klausthal und Zellerfeld.
1. Clausthal und das daneben liegende Zellerfeld sehen aus
der Ferne wie eine Stadt aus. Nur der kleine Zellbach scheidet
sie; wo die Häuser der einen aufhören, beginnen die der andern.
Und dennoch war die eine schon längst da, ehe man an die andre
dachte. Klausthal wird em volles Jahrhundert später namhaft
gemacht als Zellerfeld, und doch zählt ersteres fast neuntausend
Einwohner, während Zellerfeld kaum halb so viel hat. Fast drei-
hundert Häuser wurden den 15. September 1844 ein Raub der
Flammen. Spärlich bewässert wird die Stadt durch die rm nahen
Bürenbruche entspringende Innerste; aber sie ist reich an schönen
klaren Brunnen, und für den Wasserbedarf des Bergwerks hat man
1733—34 in einer Entfernung von fast zwei Stunden den Gerlach-
bach abgesperrt und durch das Sperberhager Thal einen 200 Ruthen
langen, 50 Fuß hohen und 60 Fuß breiten Damm gezogen, über
welchen man den wasserreichen Gerlachbach in den langen Graben
und nach Klausthal leitete.
Es wehet eine reine, frische Luft über diesen reinlichen Städten.
Klausthal ist die Hauptstadt des Harzes und der Sitz der Berg-
hauptmannschaft. Es hat eine Schule für das Berg- und Forst-
wesen.
2. Die Zahl der Bergleute, welche sich am Sonnabend aus
dem Zehnten, d. i. dem Rathhause, versammeln, um die spärliche
Löhnung für die mühsame Wochenarbeit in Empfang zu nehmen.
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beläuft sich auf mehr als 2000 Grubenarbeiter und über 1000 beim
Pochwerke beschäftigte Menschen.
Am Montagmorgen um vier Uhr haben die Bergleute Gebet
vor dem Einfahren. Solche Vergmaunsandacht hat etwas tief Er-
greifendes, diese schwarzen Männer mit den bleichen, ernsten Gesich-
tern, mit der heiseren, tief gedämpften Stimme singen und beten
zu hören, und wenn dann der Steiger beim flimmernden Gruben-
lichte den Frühpsalm spricht! Ach, es ist eine gefährliche Fahrt, und
wohl manchmal kehrt der eine oder der andre nicht wieder, oder ein
Bruck begräbt wohl gar eine ganze Schar! Nach der Andacht folgt
das Frühstück, dann Zurichtung zum Einfahren, um sechs Uhr die
Einfahrt selbst. Die Anweisung zum Bohren wird ertheilt; dann
bohrt der Bergmann bis elf Uhr. Wenn der Untersteiger geschlossen
hat, so weist er die erste Nebenschicht an, das heißt, er gibt beliebige
Arbeiten auf, die bis vier Uhr vollendet sein müssen; dann kommt
die zweite Nebenschicht, welche bis sieben Uhr währt. Jetzt wird
zu Tage gefahren, nach zwölfstündiger Arbeit, oft wohl aus einer
Tiefe von tausend Fuß. Die Tage von Dienstag bis Freitag ver-
laufen auf dieselbe Weise. Am Sonnabend sind Posen (Bussen)
zu machen, die gewöhnlich in Arbeiten außerhalb der Grube beste-
hen und vielleicht schon niorgens neun Uhr beendigt sind. Für
sämmtliche Arbeiten empfängt der Vollhäuer, das heißt der eine
Familie ernährende Bergmann, etwa zwei Thaler zehn Groschen,
von dem er noch das Büchsengeld für die Knappschaftskasse abtra-
gen muß.
3. Besondere Beachtung verdienen die großartigen Wasserlei-
tungen; die bewundernswertheste Anlage ist der tiefe Georgsstollen.
Als" nervlich die zunehmende ungeheure Tiefe der meisten Gruben
die Gefahr und die Macht der Grundwasser immer größer, die He-
bung der Gewässer durch Pumpwerke immer ruißlicher und kostspie-
liger und zuletzt ganz unmöglich machte, kam der damalige Berghaupt-
mann von Reden auf den kühnen Gedanken, einen drei Stunden
langen Stollen mitten durch das Gebirge herauf zu den Gruben
treiben und den Grubenwassern einen natürlichen Abzugskana!
zu verschaffen. 1777 geschah der erste Angriff bei Grund, und 1799
am 5. September verkündete Kanonendonner, daß das Riesenweri
vollendet sei.
28. St. Andreasberg.
1. Äie Bergstadt St. Andreasberg, offen und ohne Thore wie
ihre sechs Schwestern, liegt auf einer kahlen Bergfläche. In langen
krummen Linien ziehen sich die kleinen, grauen, einförmigen Häuser
in dichtgedrängten Reihen hin; die Schlucht, in welche sich die Stadt
hinabsenkt, versteckt das Rathhaus und die übrigen ansehnlichen Ge-
bäude der Stadt, welche aus einem üppigen grünen Wiesenteppich
aufzusteigen scheint. Aber diese Wiesenpracht ist das Werk mensch-
liches Fleißes; seiner trefflichen Rinderherden willen pflegt sie der
unermüdliche Harzer bis zu dieser kräftigen Ergiebigkeit. Auf eine
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andre Weise vertreibt er die Ode im Innern seines Städtchens: aus
seinen Hütten tönen Waldgesänge, und die gelben Kanarienvögel
schmettern dazwischen ihr einstudiertes Lied; denn nirgend am Harze
wird die allen Bergleuten gemeinsame Liebhaberei für Vogelsang
und Vogelzucht so eifrig betrieben wie in Andreasberg. Auch wird
manche Hand durch Spitzenklöppeln in Bewegung gesetzt. Einzeln
im Felde oder auf der Höhe sieht man die Taggebäüde und die
Gaipel oder Schutzhütten der Gruben, und weiter abwärts schaut
aus den Berghängen die Silberhütte hervor, in deren beiden Hoch-
öfen bereits ein großer Reichthum verschmolzen ist. •
2. Im Jahre 1520 schürften hier zuerst Bergleute aus Ioachims-
thal; die erste fündig gemachte Zeche nannten sie Andreaskreuz, weil sie
zwei übereinandergesetzte Gänge trafen, von denen man in christlicher
Bergmannssprache sagt: sie kreuzen sich. Der allmählich entstehende
Ort wurde der ersten Grube zu Ehren Andreasberg geheißen; er be-
schäftigt jetzt an tausend Menschen am Bergbau. Unter allen Harz-
gruben liefern die hiesigen die reichhaltigsten Silbererze, so daß einige
im Centner 100 — 136 Mark feines Silber enthalten und des-
halb in verschlossenen Tonnen zu Tage gefördert werden. Merkwürdig
ist die große Tiefe, in welche sich hier die Erzgänge erstrecken; der
Samson soll gar 2277 Fuß tief sein. Die Längenerstreckung beträgt
gewöhnlich nicht über 300 Lachter. Früher waren die Gruben noch
silberreicher, und man fand nicht selten gediegene Stufen.
Eine halbe Stunde entfernt liegt die 1640 errichtete Silberhütte,
in welcher die Erze entsilbert werden. Weiterhin befindet sich die
1788 errichtete Steinrenner Eisenhütte, welche wöchentlich im Durch-
schnitt 240 Centner Roheisen liefert.- Die ganze Gegend ringsum
glänzt im seltsamsten Roth, womit der feine eisenhaltige Staub alles
belegt.
Andreasberg bezieht das zum Betriebe erforderliche Wasser aus
der großartigen, zwei Stunden entfernten Oderteichanlage.
28. Nie Landdrostei Lüneburg.
Die Landdrostei Lüneburg enthält das Fürstenthum Lüne-
burg. Mitten durch dasselbe zieht sich ein Landrücken hin,
der sich nach Nordwest bis in die Landdrostei Stade fortsetzt.
Das ist die Lüneburger Heide. Sie senkt sich nach Nordost
zur Elbe und nach Südwest zur Aller hinab und sendet diesen
beiden Flüssen die Bäche und Flüsse, welche auf ihr entsprin-
gen. Ihre höchsten Stellen liegen in der Nähe von Soltau und
lind gegen 500 Fuß hoch. Die Elbe scheidet hier unser Land
von Preußen, Meklenburg, Lauenburg, Hamburg und Holstein.
Sie nimmt auf dieser Strecke die aus Brandenburg kommende
Jetzel, die Ilmenau, an der Lüneburg liegt, die Schwinge und
die Oste auf. In ihrem Bette liegen mehrere Inseln, unter
andern auch die hannoversche Insel Wilhelmsburg. Die Elbe
ist an ihrer Mündung fast drei Meilen breit, hat aber viele
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Sandbänke, welche die Einfahrt beschwerlich, ja gefährlich
machen.
Der südliche Theil Lüneburgs wird>#von der Aller durch-
flossen, welche in ihre rechte Seite die Orze, in ihre linke die
Ocker, Eule und Leine aufnimmt.
Der Boden Lüneburgs ist Sand, Geest und an den Flüssen
schönes Marschland. Die Fruchtbarkeit des Geestbodens wird
an manchen Stellen gehindert durch den sogenannten Ortstein,
ein eisenhaltiges Mineral, das oft nur zwei bis drei Zoll tief
mit Erde bedeckt ist.
Die Hauptfrüchte sind Roggen und Buchweizen; auch
wird häufig Hafer und etwas Gerste gebaut, in den Elbmar-
schen aber viel Weizen. Flachs wird ebenfalls viel gebaut,
besonders bei Ulzen, im Wendlande und an der Aller und der
Leine. Waldungen sind in beträchtlicher Ausdehnung vorhan-
den; zu ihnen gehören der Süsing, die*Raubkammer und die
Göhrde. Die Heidschnucken- und Bienenzucht sind von Be-
deutung; auch die Pferdezucht ist in einigen Gegenden vor-
züglich. Die Flüsse sind reich an Fischen; in den Heidflüssen
finden sich auch Forellen. In der Ilmenau findet man Perlen-
muscheln, die oft große und schöne Perlen enthalten. Metalle
hat Lüneburg nicht, wohl aber Salz, Kalk und viel Torf.
30. Die Lüneburger Heide.
1. Zwischen dm tiefen Flußthälern der Elbe und der Aller
breitet sich in der Richtung von Südosten nach Nordwesten ein
Höhenzug aus; das ist die Lüneburger Heide. Da ihr Abfall gen
Norden 'steiler ist als gen Süden, so erscheint sie dem Wanderer,
der von Norden kommt, als ein ausgedehnter blauer Gebirgsstreif,
aus welchem die Flüsse ziemlich schnell in tiefen Thälern ihm ent-
gegenkommen; nähert er sich ihr aber von Süden, so sieht er nichts
als eine endlose Ebene vor sich, deren Flüsse sich langsam durch
einen breiten Rand von Sümpfen und Mooren zur Aller herab-
winden. Auf der Höhe sind Quellen und Moore; an den Ab-
hängen aber quillt überall das Wasser der meist klaren Heidbäche.
Der Boden der Heide ist größtentheils grober Sand. Ist er
eisenhaltig, was man an seiner röthlichen Farbe erkennen kann, so
bildet sich beim Regen der Raseneisenstein (Ortstein), der dem An-
bau des Bodens hinderlich ist. Wo dagegen dem Sande nur etwas
Mergel, Lehm oder Kieselerde beigemischt ist, um ihn zu binden und
das Wasser zu halten, da entsteht Pflanzenwuchs. Der dürftigste
Pflanzenwuchs ist in den Niederungen östlich von der Aller; da
sind Sümpfe, oder es ist der Boden durch Kiesgeröll und Rasen-
eisenstein unfruchtbar geworden; doch findet der Wanderer auch hier
sich nicht selten erfreut durch Rudel von Kiefern, deren rauschende
Wipfel in der einsamen Landschaft ihn an die Gebirgsebenen 'des
Oberharzes erinnern könnten. An den höheren Abhängen dagegen
und besonders am Nordabhange gedeiht neben der Föhre die Tanne
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trefflich; auch finden sich da schöne Wälder von Birken, Eichen und
Buchen.
2. Schon daraus ist zu sehen, daß die Heide nicht so reizlos
ist, wie mancher meint. Freilich ist es hier einsamer, als in den
meisten Gegenden Deutschlands. Straßen durchschneiden die Heide
nicht viel; die bedeutendste ist die Eisenbahn, welche von der Bahn
zwischen Hannover und Braunschweig von Lehrte aus über Celle
nach Lüneburg und Harburg geht, fast in gerader Richtung. Geht sie
schon durch einsame Gegenden, wie viel mehr denn die Nebenwege.
Zuweilen muß man mehrere Stunden wandern, ehe man ein Dorf
trifft; verirrt sich aber ein Wanderer in der Heide, so kann er lange
wandern, ehe er aus eine bewohnte Stätte trifft. Ist es Sommer,
so hat er einen heißen Gang. Kein Lüftchen regt sich; nur Wespen
und Bienen summen uin die violetten Heideblüten; ringsum ist
nichts zu hören als der Specht, der gegen die Stämme hämmert,
oder der eigne Fußtritt, der auf den glatten Kiefernadeln glitscht;
man horcht, wenn ein Lüftchen die Kieferwipfel wiegt, wenn die
ausgedörrten rothen Stämme knarren und ein Eichhörnchen von Ast
zu Ast raschelt. Die Zunge klebt am Gaumen, und man beißt in
die frischen würzigen Kiefernadeln, doch ohne Erquickung zu finden.
Wie aber erst im Spätherbst und im Winter, wemr, das sparsame
Laubholz sein grünes Kleid abgeworfen hat und der Sturm die
braunen Blätter über die Heide fegt! Freilich ist ein klarer, frischer
Wmtertag auch in den Heiden schön; da strecken aus der weiten,
weißen Schneedecke die Kiefern ihre dunkelgrünen Äste und Wipfel
empor. Aber es ist nickt immer klar; das Himmelslicht ist oft von
düstern Schneewolken gedämpft; kalt und naß riefelts herab, und
Stürme jagen die Wolken. Dann ists in den Heiden schauerlich;
und wen der Schneesturm treibt, und er hat den Weg verloren und
sucht vergeblich nach einem Obdach, der kann sich freuen, wenn die
Nackt ihn nicht ereilt. — Dennoch aber, die Erde ist überall des
Herrn, und er hat auch der Heide ihre Schönheit und Lieblichkeit
gegeben. Wenn man die weite Ebene im Morgenlichte erglänzen
sieht, oder wenn die Abendsonne das braune Heidekraut und hier
und da eine Birkengruppe auf einem Hügel mit goldigem Glanze
färbt und in weiter Ferne ein dunkler Föhrenwald'auftaucht, so er-
fahrt man es, daß auch die Heide ihren Schmuck von Gott erhal-
ten bat.
3. Daher haben auch die Bewohner der Heide ihre Heimat
ebenso lieb, ww die Bergbewohner die ihre, und ohne dringende
Veranlassung verkauft niemand sein Haus und Ackergut. Viel
Reichthum ist freilich bei ihnen nicht zu Haufe, aber auch nicht bittere
Noth. Sonntäglick eilen sie emzeln und in Scharen froh und
heiter zur Kircke, manche halbestunden- und stundenweit. Nicht überall
eignet sich die Heide zum Anbau; daher ist sie nicht allerwärts gleich
stark bewohnt. Während in der fetten Elbmarsch 7000 Bewohner
auf emer Quadratmeile leben, finden sich in den Heidegegenden nur
etliche tausend, im Amte Ebstorf gar nur 325 darauf. Der Anbau
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der Heide schreitet von Jahr zu Jahr vor. Die Dörfer liegen meist
an einem Flüßchen, im Schatten prächtiger Eichen, welche großen-
theils bei feierlichen Anlässen, z. B. bei Hochzeiten gepflanzt find.
Die Häuser sind in altsächsischer Art gebaut: Wohnung für die
Menschen, Stallung für das Vieh, Scheuer und Dresch'diele sind
unter einem Dach, welches von Stroh oder Schilf gemacht ist.
Über dem Giebel stehen zwei Pferdeköpfe, das alte sächsische Wahr-
zeichen. Die Wände bestehen oft aus Granitblöcken, welche auf
einander gelegt und deren Fugen mit Moos verzwickt sind. Nicht
bloß Pferde, sondern auch Kühe ziehen Wagen und Pflug. Weizen
kann der Boden nicht tragen, wohl aber Roggen, Gerste und Hafer;
vor allem aber wird der röthlichweiß blühende Buchweizen gebaut,
aus welchem Mehl und Grütze bereitet werden. Auch Kartoffeln
werden reichlich gepflanzt, und die Gegend um Ülzen baut viel
Flachs und Hanf.
Fast überall werden große Herden von Schnucken gehalten.
Deren gibt es zwei Arten, die weiße und die braune und jchwarze.
Die weißen Schnucken bedürfen des Graswuchses und können daher
nur gehalten werden, wo das Wasser grünen Wiesenwuchs erzeugt.
Die braunen und schwarzen dagegen haben in der Heide so recht
ihre Heimat.. Sie nähren sich von dem Heidekraut und werden
selbst im Winter rns Freie getrieben, um ihre Nahrung aus dem
Schnee zu scharren. Liegt der Schnee zu hoch, so werden sie im
Stalle mit Heide gefüttert; übrigens ist der Stall ihnen fast so
lästig wie den Gemsen. Heide zur Streu bekonunt ihnen besser als
Stroh. Der Pelz der Schnucken ist leicht, mehr haarig als wollig.
Die erste Schur gibt 1 bis 1 % Pfund, die zweite etwa y2 Pfund
Wolle; das Pfund ist durchschnittlich 4 Groschen werth. Aus der
Sommer- und Lammwolle werden Strümpfe, Fausthandschuhe und
Hüte gemacht, aus der Winterwolle Beiderwand und Heidnianchester.
Im Jahre 1853 hatten die Landschaften Lüneburg, Bremen und
Verden 459000 Schnucken und daneben 280000 gewöhnliche und
51000 veredelte Schafe.
4. Neben der Schafzucht wird besonders Bienenzucht getrie-
ben. Die eben genannten Landschaften haben über 120000 Stöcke.
Nicht selten hat ein Imker zwei bis drei Lagden, jede von 40 Kör-
ben; daraus löst er in guten Jahren leicht etliche hundert Thaler.
Mehlthau und anhaltende Dürre schaden den Bienen. Auch Wind
und Nässe können sie nicht vertragen; daher werden die Reihen der
Stöcke und die Öffnungen wo möglich nach Südosten gerichtet und
außer dem Immenzaun noch durch lebendiges Buschwerk geschützt.
Im Frühjahr zieht der Imker mit seinen Stöcken in die Elbniede-
rungen und dahin, wo Rapps und Hederich die Felder goldgelb
färben und die Obstbaumblüte gute Weide gewährt. „Sankt Vit
(15. Juni) is der Immen Tit"; da geht es in die unscheinbare, aber
sehr süße Buchweizenblüte. Um Jakobi dagegen hat die Heide ihre
Glöckchen ausgehängt; nun werden die Bienen dahin geschafft. Im
September ist die Flucht beendet. Dann sucht der Imker die Leib-
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immen, die Stammstöcke, aus und wählt dazu Körbe von 30 bis 40
Pfund, welche 15 Pfund Honig enthalten. Wer drei Lagden be-
sitzt, läßt eine überwintern und tödtet zwei. Honigte die Heide gut,
so hat ein Stock im Herbste 30 bis 40 Pfund; so hatte in dem
Honigjahr 1819 ein Imker aus 90 Stöcken 140 Pfund Wachs und
9 Tonnen Honig, jede zu drei Centnern, gewonnen. Jetzt werden
jährlich im Durchschnitt 3000 Centner Wachs gewonnen, wovon die
Hälfte in die Wachsbleiche zu Celle kommt; die andre Hälfte geht
ins Ausland. Der Honig wird nur zum kleineren Theile von den
Heidebewohnern selber verbraucht; meist geht er nach Braunschweig,
Hamburg und Bremen.
5. Wild hält sich in der Heide nicht so viel auf als auf den
Gebirgen; auch ist das Hochwild der Heide kleiner als das der Ge-
birge. Der Hase liebt nicht trockene Kost, wie die Heide sie bietet,
und ist daher selten; Schnepfen und Drosseln aber sind zahlreich.
Aus den Erd-, Heidel- und Kronsbeeren wird ein ansehnlicher Ge-
winn gezogen; allein nach Bremen gehen für 150O0 Thaler. Wach-
holderbeeren werden gegen 50000 Centner ausgeführt. Sogar das
Einsammeln der Ameiseneier für die Nachtigallen und andre Sing-
vögel ist eine Nahrungsquelle der Heidleute.
31. Die Biene.
1. >Jn einem Bienenstöcke befinden sich drei Arten von Bienen.
Die eine Art sind die Arbeitsbienen, deren in großen Körben 18000
und mehr sein können. Diese sind fast das ganze Jahr hindurch mit
Emsammeln von Honig und Wachs, mit Bauen von Waben, mit
Pflege der Nachkommenschaft, mit Reinigung des Stockes u. s. w. be-
schäftigt. Sie sind kleiner als die andern, haben an den Hinterfüßen
einen kleinen Behälter, den sogenannten Korb, in welchem sie den
Blumenstaub eintragen, und führen einen Stachel, dessen sie sich zürn
Kampfe gegen einander, so wie zur Vertheidigung gegen Menschen
bedienen. Der Stich desselben ist darum so schmerzhaft und verur-
sacht eine Geschwulst, weil durch ihn ein Gift, das diese Bienen bei
sich tragen, in die Wunde gebracht wird.
Die zweite Art von Bienen find die Männchen oder Drohnen,
von denen man etwa 1000 in einem jährigen Korbe zählt. Sie
sind merklich größer als die Arbeiter, haben einen dicken Kopf, einen
schwärzlichen, haarigen Körper und keinen Stachel. Sie arbeiten nicht;
darum werden sie auch alle nach drei oder vier Monaten durch die
Stiche der Arbeiter getödtet.
Von der dritten Art befindet sich in jedem Korbe nur eine einzige
Biene; man nennt sie die Königin, weil sie Len Stock zu beherrschen
scheint. Sie ist jedoch nichts anderes als eine Mutter, die in zwanzig
Tagen mehr als zehntausend Eier legt. An Gestalt gleicht sie den
Arbeitern; aber ihr Hinterleib ist viel länger und wird von den Mü-
geln nur zur Hälfte bedeckt. Sie wird überall von den Drohnen be-
gleitet und von den andern versorgt und bewacht.
2. Die Arbeitsbienen tragen Blumenstaub, Honig und Wachs
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in den Korb. Wenn sich die Biene in einer Blume herumtummelt,
so bleibt zwischen den Haaren, mit welchen fast ihr ganzer Leib be-
deckt ist, der Blütenstaub hangen, so daß sie dadurch beinahe unkennt-
lich wird. Sie bürstet ihn dann mit ihren vorderen und mittleren
Füßen rückwärts in die an den Hinterfüßen befindlichen Körbchen in
der Form von dicken, länglichen Ballen, welche man Höschen nennt,
und welche bisweilen so groß wie ein Pfefferkorn werden. Dieser
Blütenstaub, den die Arbeiter so in den Korb, bringen, dient haupt-
sächlich zur Nahrung der Jungen. Den Honig aber, der ihre Haupt-
nahrung ist, sammelt sie aus den Honigdrüsen der Blumen, indem
sie ihn mit dem Rüssel einschlürft, verschluckt und im Magen nach
Hause trägt, in welchem Falle sie ohne Höschen ankommt. Im
Korbe läßt eine Biene einen bis zwei Tropfen Honig aus dem
Munde in die Zelle fallen; dann kommt eine andere und thut das-
selbe, und so geht es fort, bis die Zelle voll ist. Das Wachs aber,
das sie zum Bauen der Waben brauchen, bereiten sie aus dem ein-
gesogenen Safte folgendermaßen. Wenn eine Wachsarbeiterin in
den Korb gekommen ist, bleibt sie lange still sitzen. In ihrem Kör-
per geht indes eine Verarbeitung und Scheidung der Stoffe vor,
die sie zu sich genommen hat; nach einiger Zeit schwitzt sie zwischen
den Ringen ihres Unterbauches eine Flüssigkeit aus, die daran kleben
bleibt und sich bald in eben so vielen dünnen, weißen Gürteln zeigt.
Die Biene löst endlich diese halbkreisartigen Theile von ihrem Kör-
per ab, bringt sie zu wiederholten Malen zwischen ihre Kinnbacken,
knetet sie mehrmals und legt sie auf den Platz nieder, wo die Honig-
waben gebaut werden müssen. Dies ist das echte Wachs. Die
Zellen sind sechseckig; jede derselben fügt sich an sechs andere, und
so geht kein Platz verloren. In jedem Korbe sind einige tausend Zel-
len. Jede mit Vorrath gefüllte Zelle wird dmch einen Deckel von
Wachs verschlossen; nur diejenigen, welche die Nahrung für die zu
Hause bleibenden Bienen enthalten, bleiben offen. Ändere Zellen
dienen zu Nestern für die Jungen.
32. Der Storch.
1. Alit den ersten lauen Märzwinden kommt der Storch in
sein Dorf zurück. Er wird wie ein treuer, langvermißter Freund
begrüßt mit Ruf und Lied.
Der Storch hat die Nähe der Menschen gern. Sorglos und
zuthulich spaziert er im Hof und Garten des' Landmanns einher.
Auf den Dächern und Giebeln ragt sein Nest; denn eines Hochsitzes
bedarf er, um sich frei umschauen zu können in dem Umkreise seiner
Wiesen, Wälder und Sümpfe.
Auf dem hohen Stelzfuß wiegt er den stattlichen Körper; sein
Kleid ist weiß und schwarzgesäumt, sein Schwanz kurz und stumpf,
der Hals schlank und straff. Sein braunes Auge blickt hell und
ehrbar aus schwarzen Ringen; sein Schnabel, der zugleich seine
Waffe ist, ist lang. Gang und Haltung sind steif und feierlich. Er
läßt nichts hören, als ein weithin schallendes Geklapper, welches er
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durch Zusammenschlagen seiner beiden beweglichen Kiefer hervor-
bringt. — Stolz und schweigend stelzt er durch Feldkanäle und
Wiejen; mit jedem Schritt hebt er im Tact den Fuß hoch hinauf,
während Kopf und Hals beständig nicken. Gewahrt er den fetten,
zappelnden Frosch, so schleudert er den spitzen Schnabel schnell vor-
wärts und spießt den Frosch, um ihn in seinem Kropfschlunde zu
verbergen. Seine Jagd ist gemächlich, geräuschlos und doch emstg.
Nichts unterbricht sietes sei denn, daß ein Neugieriger ihm allzü-
nah komme, oder daß ihm etwas Ungewöhnliches ausstoße. Dann
steht er still; das eine Bein zieht stch dicht unter den Bauch hinan
und umklammert das andere; der Hals reckt stch forschend in die
Höhe. In dieser Stellung beharrt er minutenlang regungslos, bis
er stch überzeugt hat, dap er ungefährdet weiter ziehen kann, oder
daß weise Vorsicht die Flucht gebietet. Der mächtige Körper hat
Mühe, sich zu erheben. Er macht ein paar ungeschickte Sprünge;
einige schwere Flügelschläge erfolgen; die Füße strecken sich nach
hinten: aber kaum erhebt er sich über den Boden. Da mit einem
Rucke schwingt er stch auf, und nun zeigt er in herrlichen Schwin-
gungen seinen schönen Flug. Oft schwimmt er lange Strecken ohne
Stoß und Schlag dahin; endlich gleitet er in schiefen Schraubenlinien
zu seinem Neste nieder, wo ihn die hungrige Brut mit Klappern freu-
dig begrüßt.
2. Der Storch ist ein vorsichtiger, sorgsamer Hausvater. Er
zieht wohl zwei Wochen vor dem Weibchen voraus und kehrt bei
uns ein, um Rundschau zu halten. Wenn er die alte, übermooste
Dachfirst mit dem verlassenen Neste wiedergefunden und die Gegend
umher erkundet hat, so verschwindet er, um bald darauf mit seinem
Weibchen wiederzukommen. Dann bessern sie das schadhaft gewor-
dene Nest aus, oder beginnen den Neubau. Sein Wirt hat ihm
als Fundament zum Neste ein Wagen- oder Pflugrad untergelegt
und dies sorgsam mit ringsum eingeschlagenen Pfählen vor Sturm
gesichert. Mit Rasenstückchen, Ressholz, Dornen und dergleichen
baut dann der Storch das Nest noch vollends aus. Erscheint ein
fremder Storch als Eindringling, so vertheidigt er sein Nest. Schon
von weitem hat er den Feind erspäht; in sausendem Flug, stürzt er
seinem Neste zu, um Haus und Weib zu schirmen, dt hat es
erreicht; dicht hinter ihm ist aber der Feind. Der Storch duckt sich
nieder und richtet zischend den Schnabelspieß empor; zugleich schwingt
er die Flügel zum Hiebe. Die Kämpfer bohren einander die Schnä-
bel in Hals und Brust; wüthend schwingen sie sich auf; die Flügel
prasseln krachend wider einander; wildes Geklapper erfüllt die Luft.
Ein tiefer Stich verwundet den einen; er flieht, und der andre ver-
folgt ihn; sie verschwinden in der Weite. Aber der Kampf ist nicht
zu Ende; nach wenig Augenblicken entbrennt er abermals. Die
Kämpfer suchen einander den Vorsprung abzugewinnen; sie nähern
sich abwehrend und andringend von neuem dem Neste. Da beginnt
die Störchin zu klappern, gleich als wollte sie den Mann zur Aus-
dauer ermuntern. Dieser vernimmt den Ruf. Noch ein paar wuch-
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tige Streiche schwirren durch die Luft; noch einmal fahren die
Schnäbel zusammen, uud der Gegner stürzt zu Boden. Haus und
Hof sind gesichert. — Sonst ist der Storch ein duldsames Thier; er
läßt es ruhig geschehen, daß Schwalben und Sperlinge sich unter
seinem Neste ansiedeln.
Das Weibchen legt zwei bis fünf Eier. Männchen und Weib-
chen theilen sich in das Geschäft des Brütens. Während eines brü-
tet, leistet das andere treulich Gesellschaft. Steif und fest steht der
Storch, wenn er nicht gerade nach Nahrung ausgeflogen ist, aus
der Dachfirst mit angezogenem Schnabel und aufgehobenem Beine,
wie eine Schildwache vor großer Herren Thüren.
Der Storch ist ein reinlicher Vogel; er badet sich fleißig, und
sein Schnabel ersetzt ihm Kamm und Bürste.
3. Wenn im Hochsommer die Triften versengen und Teiche
und Sümpfe austrocknen, dann sucht der Storch das. Innere der
Laubwälder mit ihren Quellen, Brüchen und Wiesen; und wenn
endlich mit dem eintretenden Herbste auch hier die Thiere, von denen
er sich nährt, in Höhlen und Schlupfwinkel sich verbergen, daun
rüstet er sich zur Reise nach Süden. Diese erfolgt meist plötzlich
und in geordneten Zügen. In ununterbrochenem Fluge, zuweilen
in Heeren von zwei- bis dreitausend, ziehen sie nach Ägypten, wo
sie in der frösch- und schlangenreichen Niederung des Nils einen
günstigen Aufenthaltsort finden. Doch vergißt er auch unter den
Palmen und Pyramiden das deutsche Dorf und seine Linden nicht,
uud wenn die Glühhitze des beginnenden Sommers von dem wol-
kenlosen Himmel Ägyptens niederstrahlt, dann kehrt er zurück in den
aufgrünenden Frühling unsers Vaterlandes.
33. Hünengräber.
1. Häufig im Lüneburgischen, auch im benachbarten Bremen-
schen und an andern Orten unsers Königreichs, wo die Umwandlung
des Bodens durch regen Anbau sie nicht vernichtete, trifft man auf
sogenannte Hünengräber oder Hünenbetten. Es sind dies mächtige
Erdhügel, welche gemeiniglich für die Grabstätten von Hünen aus-
gegeben werden. Unter Hünen versteht man große und sehr starke
Menschen; der Ausdruck ist sprichwörtlich gängig und unterscheidet
den Hünen vom Niesen durch die Beilegung von ungewöhnlicher
Kraft. Allerlei Geschichten weiß man zu erzählen von diesen fabel-
haften Menschen, sei es von ihrer Länge oder ihrer großen Gewalt.
Sie warfen mit Felsen wie mit Nüssen umher, schüttelten sich efn
drückendes Sandkörnchen aus dem Schuhe, das dann von den klei-
nen Menschenkindern als ungeheurer Granitblock angestaunt wird,
und dergleichen Wunderdinge thaten sie mehr.
2. Was aber wirklich daran ist, hat die Untersuchung solcher
Grabhügel längst gelehrt. Sie waren die Begräbnisstätten unserer
Vorfahren, welche in freundlichen Thälern, an weitblickenden Hügeln,
an den Ufem der Gewässer die Asche eines verehrten Todten in den
Schooß der Erde niederlegten und Erdhügel über dem eingesenkten
150
Staube errichteten. Selten liegen die Trauer- und Ehrenmale allein;
oft in großer Zahl vereint sind sie auf einem weiten Raume hinge-
lagert, zuweilen auch nur paarweise und dann ungleich an Höhe
und Umfang; der größere Hügel war vielleicht für den männlichen,
der kleinere für den weiblichen Theil einer Heldenfamilie bestimmt.
Ursprünglich mögen sie wohl eine höhere, kegelförmige Gestalt gehabt
haben; im Verlauf der Zeiten sind sie durch den Einfluß des Wetters
und ihre eigene Schwere eingesunken. Jetzt haben alle diese Hügel
die Form einer Halbkugel und erheben sich gleich einer Kuppel in
10 — 16 Fuß Höhe und 100 — 300 Fuß im Umfange über der
Erdoberfläche. Auf den Heiden bestehen sie noch aus ihrer Urerde,
bald mit weichem Moos, bald mit der blühenden schwarzgrünen
Heide überzogen. Zuweilen erhebt sich auch wohl eine mächtige
Buche oder Eiche über diesen gewaltigen Todtenhügeln. Die Regie-
rung hat diese Überreste alter Zeit vor der muthwilligen Zerstörung
geschützt, indem sie dieselben unter ihren Schutz stellte.
3. Solcher Hünengräber findet man am Harze bei dem Dorfe
Schwiegershausen im Amt Osterode in einer Wiese mehrere neben
einander liegen; sieben andere liegen bei Catlenburg in einem Ge-
hölze. Auch in manchen Ortsnamen tritt uns die Erinnerung an
die Hünen entgegen. So liegt bei dem Dorfe Güntersen.,im Amte
Uslar ein Berg, der den Namen Hüneburg führt. Über dem
Dorfe Hoherode im Amte Göttingen erhebt sich ein Berg, der eine
weite Aussicht nach dem Harze und Eichsfelde hin darbietet, der
Hünenstollen genannt; auf demselben sind drei Hünengräber, quer
durchlaufende, grabenähnliche Vertiefungen, die von Menschenhand
herzurühren scheinen. Andere sogenannte Hünengräber befinden sich
bei der Plesse.
Auch Hünensteine, mächtige, auf freiem Felde oder auf Bergen
liegende Felsstücke, kommen an verschiedenen Orten vor; einer der
bekanntesten ist der Hünenstein bei Steina im Amte Herzberg.
Die Lüneburger Heide allein zählt über vierhundert Erdhügel
und über hundert Steingräber; die Landdrostei Stade enthält über
dreihiurdert, Hannover nicht sehr viel weniger Denkmale beider Arten;
in Osnabrück hingegen sind fast nur Steingräber — etwas über
hundert — erhalten.
Besonders ausgezeichnet durch die Menge der vorkommenden
Hünengräber sind die User der Ilmenau, wo sich im Amte Medin-
gen allein gegen anderthalbhundert erhalten haben.
34. Die Stadt Lüneburg.
1. Än der nordöstlichen Senkung der Lüneburger Heide, etliche
Stunden von der Elbe entfernt, an „der Ilmenau liegt die Stadt
Lüneburg mit 13000 Einwohnern. Über der freundlichen hügeligen
Umgebung der Stadt könnte man vergessen, daß sie in der Heide
liegt. Wegen der Bauart ihrer Häuser macht sie den Eindruck einer
alten Stadt, wie sich denn ihr Anfang auch aus den Zeiten Karls
des Großen herschreibt. Dieser schlug auf einem seiner Sachsenzüge
151
795 sein Laaer in der Nähe von Bardewik auf, an einem Orte,
welcher Lium hieß. Hier, wo die Grenze zwischen Sachsen und
Wenden war, baute Hermann Billung auf einem Kalkfelsen (dem
jetzigen Kalkberge) zur Bewachung der Grenze das Schloß Lüne-
burg, welches seine und seiner Nachkommen Residenz und Todten-
grust und das Hoflager der älteren Lüneburger Welfen wurde. Die
Äauern dieses Bergschlosses umzogen auch das Kloster St. Michae-
lis, und um das Schloß herum entstand durch allmählichen Anbau
die Stadt Lüneburg. Sie wurde bald reich durch ihre Salz-
quellen, welche im zehnten Jahrhundert durch eine Satt entdeckt
wurden; dieselbe hatte sich in einer Pfütze gewälzt, und als sie wie-
der trocken geworden war, bemerkte man zwischen ihren Borsten
Salz. Die Stadt war wegen ihrer Lage an der schiffbaren Ilmenau
sehr geeignet zu Handel, besonders mit Hamburg und der in alter
Zeit sehr bedeutenden Handelsstadt Lübeck. Der Hauptweg des
Handels zwischen Süddeutschland und den nördlichen Ländern ging
von Braunschweig und Lübeck über Lüneburg; hier wurden die über
Lübeck kommenden Waaren vom Schisse aus- und auf Wagen ge-
laden, die von Braunschweig kommenden aber zu Schiffe auf der
Ilmenau weiter geführt. Ihr Salz wurde auf der Elbe und Havel
nach Brandenburg, auf der Weser und Fulda bis Hessen verfahren;
mehr Salz aber setzte die Stadt nach Mekleuburg, Norwegen und
Lieffand ab. So kam es, daß sie schon im elften Jahrhundert „eine
überaus große Stadt" genannt werden konnte. Im Jahr 1013
wurde ein Theil der Stadt, das sogenannte Meer, durch einen Erd-
fall verschlungen. Als das benachbarte Bardewik zerstört war, fiel
auch dessen Handel Lüneburg zu. Ein alter Geschichtschreiber sagt
von ihr: Lüneburg ist das Haupt in dem Lande Lüneburg und hat
von Gott einen schönen Born in der Sülze.
Die Burg auf dem Kalkberge ward im vierzehnten Jahrhun-
derte von den Einwohnern Lüneburgs zerstört; an deren Stelle bau-
ten sie für ihren Landesherrn inmitten der Stadt ein Schloß, welches
bis 1694 stand, in welchem Jahre Georg Wilhelm das noch jetzt
stehende Fürstenhaus baute. Wie aber anderwärts, so hatte auch
hier mit dem Reichthunr Üppigkeit überhand genommen, wogegen
der Rath der Stadt Gesetze erließ. Dageaen schonten auch die Bür-
ger ihren Seckel nicht, wenn der Landesherr zu ihnen ein ritt oder
sich nach dem nahen Jagdschlösse zur Göhrde begab.
2. Als die Reformation im Lande Lüneburg begann, war der
Rath der Stadt ihr sehr entgegen. In Bardewik und Lüne waren
schon evangelische Prediger, und viele Bürger zogen Sonntags dort-
hin, Gottes reines Wort zu hören. Der Rath drohte und ließ gegen
die Zeit des Gottesdienstes die Thore verschließen. Aber bei den
Bürgern wurde das Verlangen nach Kirchenverbesserung nur um so
größer, und in den Fasten 1530, als ein Mönch gegen die Marti-
ner, wie er Luthers Anhänger nannte, predigte, stimmte die Ge-
meinde das Lied an: Ach Gott, vom Himmel sieh darein. Da rief
der Mönch laut: „Schweigt, schweigt, ich will euch vom Glauben
152
predigen.« Sie aber achteten des nickt, so daß er den Previgtstuhl
verlassen mußte. Im Frühjahr 1531 sandte Herzog Ernst den
Generalsuperintendenten Regius nach Lüneburg; der entwarf eine
Kirchenordnung für die Stadt. Auf seinen Wunsch ließ der Rath
die Priester und Mönche auf das Rathhaus kommen. Hier setzte
ihnen Regius die evangelische Lehre auseinander und fragte sie dann:
»Liebe Herren, ihr habt meine Worte gehört; was dünkt euch: sind
sie recht oder unrecht?" Als keiner darauf antwortete, sagte der
evangelische Prediger Heinrich Lampe aus Lüneburg: „Was dünkt
euch, ihr Herren, von des Doctors Predigen? Ist es eine teuflische
Lehre, wie ihr gesagt habt, oder was sprecht ihr nun?" Dem er-
widerten sie, er möge für sie alle antworten, worauf Lampe fort-
fuhr: „Liebe Herren, hier steht ein Häuflein ungelehrter Priester, die
nichts zu erwidern wissen." Da hörte man ein Lachen im Rath,
und dieser befahl den Priestern und Mönchen, fortan zu schweigen
ulid keine unnütze Rede gegen die Prediger hören zu lassen, da sie
diese doch nicht zu widerlegen vermöchten. Seitdem ist Lüneburg
evangelisch gewesen.
3. Lüneburg hat schöne Kirchen, von denen vier durch hohe
Türme geziert sind. Die Iohanniskirche ist die älteste und ihr Turm
der höchste der Stadt. Außer Nürnberg und Regensburg sieht keine
Stadt Deutschlands so alterthümlich aus wie Lüneburg. Goslar
und Braunschweig kommen ihr darin nicht gleich. Fünf Sechstel
der Stadt sind uralt. Alle Bürgerhäuser sind mit Giebel, Zinnen
urid Erkeril ausgestattet.
35. Das Kochsalz.
Das Salz unterscheidet sich von andern Mineralien dadurch,
daß es sich im Wasser auflöst und demselben seinen Geschmack mit-
theilt. Der Salpeter, der Alaun, der Vitriol und das Kochsalz ge-
hören zu den Salzen.
Unser Kochsalz ist Quellsalz. Es gibt aber auch Steinsalz,
welches in Schachten aus den Gebirgen gehallen wird, und Seesalz,
welches nian aus Seewasser gewinnt. So finden sich z. B. an den
Küsten des todten Meeres dicke Salzstücke.
Da im Innern der Erde große Salzlager sind, so sind die Was-
ser der Tiefe in der Nähe dieser Salzlager von Salz durchdrungen.
So entstehen die Solen. Ist die Sole sehr salzhaltig, wie das die
Lüneburger ist, so wird sie sogleich in große Pfannen geleitet. Dort
verdunstet das Wasser über "dem starken Feuer, und zuletzt schießt
das Salz in Kristallen an. Es wird dann aus den Pfannen gethan,
gedörrt und endlich versandt. — Hat die Sole nicht viel Salz, so
leitet rnan sie vorher erst auf hohe Gradierwerke. Dort läßt inan
dieselbe an warmen, luststillen Tagen durch das aufgeschichtete Reisich
herabtröpfeln; Sonne und Lust verdunsten auf diesem Wege, den
das Wasser machen muß, einen großen Theil desselben und arbeiten
so dem Feuer vor. Man nennt dies: die Sole wird gradiert, d. i.
gesteigert, weil ihr Salzgehalt dadurch zunimmt.
153
Salzboden ist sehr unfruchtbar; daher wird in der heiligen
Schrift das Salz als Sinnbild der Verwüstung gebraucht, Richt. 9,
45. Salz ist aber auch das Bild des Witzes, der Besonnenheit
und verständigen Rede, weil es bei aller Speise die Würze ist und
dabei auf das zu wenig oder zu viel gar viel ankommt, Hiob 6, 6.
Marc. 9, 49. 50. Kol. 4, 6. Wie bei uns von einem, der in
Herrendiensten steht, der landläufige Ausdruck ist: eines Herrn Brot
essen, so sagt der Morgenländer, weil das Sak für den Menschen
fast unentbehrlich ist: mit eines Herrn Salz salzen. Es ist ein ur-
alter Brauch, mit einander zum Zeichen der Gastfreundschaft Brot
und Salz zu essen; daher wird das Salz als Zeichen unverbrüch-
licher Treue angesehen und ein fester Bund ein Salzbund genannt,
2. Chron. 13, 5.
36. Celle.
1. Äas alte Celle soll an der Stelle des jetzigen Dorfes Alten-
celle gelegen haben. Herzog Otto der Strenge hatte daselbst ein
Schloß; als dieses abgebrannt war, befahl er, neue Anbauer sollten
sich an der Stelle, wo die jetzige Stadt liegt, niederlassen, und
1292 baute er an diesem Orte sein Schloß wieder auf; so entstand
Celle. Das dortige Schloß ließ Herzog Heinrich, der Vater von
Ernst dem Bekenner, seit 1485 neu aufbauen. Es ist von 1369
bis 1705 die Residenz der lüneburgischen Herzoge gewesen. Beson-
ders sehenswertst ist die Schloßkapelle, welche reich ist an Bildhauer-
und Bildschnitzerarbeit. — Herzog Ernst der Bekenner hatte sich früh
der evangelischen Lehre zugewandt. So geschah es, daß Celle früh
evangelisch wurde: schon 1525 nahmen Magistrat und Bürgerschaft
die lutherische Lehre an. — Im Jahre 1711 wurde in Celle das
Oberappellationsgericht, das höchste Gericht unsers Landes, errichtet.
Celle wurde deswegen zum Sitz desselben ausersehen, weil es in
der Mitte des Landes und der Residenz nahe lag, weil Rämne für
das Gericht schon vorhanden, auch Wohnungen für die Richter leicht
zu haben waren, und endlich, weil der Stadt ein Ersatz dafür
gegeben werden sollte, daß sie aufgehört hatte, fürstliche Residenz
zu sein.
2. Jetzt hat die Stadt 13000 Einwohner, von welchen aber
über die Hälfte auf die Vorstädte Westercelle, Hehlen und Blumen--
lage kommen. Ihre Umgebung ist nicht so freundlich wie die manch
andrer Stadt unsers Vaterlandes; die weißröthlichen Blüten der
Buchweizenfelder, das niedrige Korn, die sumpfigen Grasflecke und
der eisenhaltige Sand verkünden die Nähe von Heide und Moor.
Die Stadt aber hat ein freundliches Aussehen, was seinen Grund
besonders darin hat, daß die Häuser der Vorstädte, namentlich in
Westercelle, von Gärten umgeben und die Straßen derselben mit
Lindenalleen bepflanzt sind. Unter den Gebäuden der Stadt zeichnet
sich vor allen das Schloß aus; es erhebt sich auf einer Erhöhung
dicht neben der Stadt und ist mit Wall und Graben versehen.
Die Stadtkirche hat unter ihrem Altar die herzogliche ©ruft; in der-
154
selben stehen 20 Särge fürstlicher Personen. An dieser Kirche ist
Johann Arnd, der Verfasser des „wahren Christenthums", von 1611
bis 1621 Prediger gewesen; Herzog Georg hatte ihn nach Celle als
Generalsuperintendenten berufen. Arnds Bildniß hangt auf der
Bibliothek der Kirche.
Die Stadt ist nicht ohne Leben. Das kommt theils durch ihre
Lage; sie liegt nemlich an der Aller, welche von hier an schiffbar
ist, nachdem sie ihr Wasser durch Aufnahme der Fase vermehrt
hat, und zugleich führt die Eisenbahn, welche von Hannover und
Braunschweig nach Harburg geht, an Celle vorbei. Theils aber
kommt es auch dadurch, daß Celle der Sitz zweier Oberbehörden
ist: des schon genannten Oberappellationsgerichtes und eines Ober-
gerichtes. -- Die Stadt gilt für den Ort, wo das Hochdeutsch am
reinsten gesprochen wird.
37. Die Hermannsburger Mission.
1. Eehet hin in alle Welt, und prediget das Evangelium
aller Creatur! so sprach der Herr zu seinen Jüngern, und sie gingen
hin. Sein Befehl gilt auch heute noch, und gilt so lange, wie' es
Völker auf Erden gibt, denen die frohe Botschaft von Christo noch
unbekannt geblieben ist; und wer ein rechter Christ ist und von
Herzen betet: „Dein Reich komme", der wird gern mithelfen an
dem heiligen Werke der Mission.
2. Seit 1849 haben wir in unserm Vaterlande eine Missions-
anstalt, welche der Pastor Harms zu Hermannsburg im Lüneburgi-
schen gestiftet hat. Im Glauben an den Herrn hat er das Werk
angefangen, und Gott hat ihn reichlich dabei gesegnet und ihm über
Bitten und Verstehen gegeben. Aus der lutherischen Christenheit
von nah und fern sind ihm Gaben zugekommen, sogar aus den
Niederlanden, Rußland und Amerika; einzelne Landleute haben hun-
dert, dreihundert, fünfhundert Thaler geschenkt, einer sogar einen
ganzen Ackerhof in Hermannsburg und sich selber sammt seiner Frau
in den Missionsdienst begeben; Kinder und arme Leute haben ihre
ersparten Pfennige zusammengethan, und sind daraus Thaler gewor-
den. Am fleißigsten ist die Gemeinde Hermannsburg im Geben
gewesen. Da ist wohl gesagt worden: „Aber die Leute müssen ja
endlich dabei verarmen!" Keineswegs; es gibt keinen Bettler im
Dorfe, und außer den Missionsgaben werden noch jährlich über
400 Thaler für auswärtige Fcuersbrünste, Bibelgesellschaften und
dergleichen zusammengebracht.
Die Missionsanstalt besteht aus einem Missionshause und drei
Nebengebäuden, 20 Morgen Acker, Wiesen und Gartenland; dazu
kommt noch jener Missionshof, welcher der Anstalt geschenkt ist.
In dem Missionshause wohnen die jungen Leute, welche Missionare
werden wollen, sammt ihrem Lehrer. Wenn die tägliche Unterrichts-
zeit verflossen ist, so, ziehen sie auf den Acker und in den Garten,
um dvrt zu lernen, was der Apostel sagt: „Christen sollen mit stil-
155
lern Wesen arbeiten und ihr eigen Brot essen." Je nach vier
Jahren werden sie ausgesandt zu den Heiden. Ein eigenes Mis-
sionsschiff. welches Pastor Harms für 19000 Thaler hat bauen und
ausrüsten lassen, bringt sie zu ihnen. Es trägt den Namen jener
Mohrenkönigm Kandaze, deren Kämmerer Philippus als den Erst-
ling aus den Heiden taufte; denn zu den Mohren oder Negern in
Afrika trägt es die Missionare.
3. An der Ostküste von Afrika, etliche Meilen landeinwärts,
südlich von Abyssinien, wohnt ein Negervolk, welches die Gallas
heißt. Es hat einige Ähnlichkeit mit unsern heidnischen Vorfahren;
zu ihm dachte Harms daher seine Missionare zu senden. Michaelis
1853 zogen die ersten acht Missionare aus, sammt acht Colonisten,
welche Ackerbau und Hanàerke àstanden. Nach einer Fahrt von
80 Tagen gingen sie in Capstadt vor Anker; dann schifften sie nach
der Insel Mombas an der Ostküste, von wo sie zu den Gallas zu
gehen hofften. Aber die Muhamedaner, welche die Ostküste beherr-
schen, wehrten ihnen, das Festland zu betreten. Das war ihnen
gar traurig. Auf den Rath eines erfahrenen Missionars schifften
sie wieder zurück nach Port Natal; hier wollten sie sich hei den
Kaffern und Zulus so lange niederlassen, bis der Herr ihnen eine
Thür in Ostafrika aufthun würde.
Beide Völker wohnen auf dem Caplande. Dieses war ehenrals
in den Händen der Holländer; daher haben viele holländische Bau-
ern sich dort niedergelassen. Jetzt besitzen es die Engländer. Die
Kaffern sind schwarzbraun von Farbe, haben einen schönen, starken,
ebenmäßigen Leib, eine hohe Stirn, wie die Europäer, aber ihre
Backenknochen stehen stark hervor, und ihre Lippen sind wulstig, wie
bei den Negern. Aus ihren dunkeln, großen Augen funkelt Feuer
und Muth. Sie sind stolz, gastfrei und tapfer, haben aber, seit sie
mit den Europäern verkehren, Rachsucht und Falschheit angenommen.
Ihre Nahrung ist Milch und Fleisch; auch treiben sie etwas Acker-
und Gartenbau. Große Herden von Rindvieh sind ihr Hauptreich-
thum. Sie gehen meist nackt, putzen sich aber gern mit Korallen
und Metallringen. Ihre Wohnungen sind Hütten, wie Backöfen
gestaltet; man muß durch einen niedrigen Eingang hineinkriechen.
Sie werden mit leichter Mühe abgebrochen, wenn ein anderer Wei-
deplatz aufgesucht werden soll. Ein Haufe von zusammenliegenden
Hütten heißt ein Kraal; mehrere Kraale stehen unter einem Häupt-
linge. — Unter den Sünden, welchen sie außer dem Götzendienste
ergeben sind, werden besonders Vielweiberei und Zauberei genannt.
— Es wohnen ihrer auf Natal an 120000.
Dort ließen sich die Missionare nieder. Sie kauften von der
englischen Regierung einen Landstrich von mehreren tausend Morgen,
welcher über 4000 Thaler kostete. Er ist fruchtbar, wasserreich und
hat gesunde Luft. Obst und Korn gedeihen trefflich, und das Gras
wird 3 bis 4 Fuß hoch. Holz gibts freilich wenig; das Bauholz
muß stundenweit hergeholt werden. M^n braucht nicht wett zu
wandern, so erblickt man Löwen, Nashörner^ Elefanten, Affen und
156
Strauße. —- Da haben die Missionare jetzt ein großes Wohnhaus
und Schuppen gebaut. Was sie an Nahrung bedürfen: Getreide,
besonders Mais und Buchweizen, Kartoffeln und Gartenfrüchte, zie-
hen sie schon selber. Ochsen, Wagen, Pflüge und Eggen haben sie
angeschafft, und eine ziemliche Anzahl Kaffem stehen bei ihnen in
Dienst. — Neben den Arbeiten des Bauens und Ackerns machten
sich die Missionare fleißig an das Erlernen der Kaffernsprache. Noch
ehe sie dieselbe sprechen konnten, meldeten sich vier Kapern zum Un-
terricht: em Ehepaar und des Mannes Schwester und der Frau
Bruder. Diese vier konnten holländisch sprechen, und da das Platt-
deutsch, welches die Missionare von Haus aus verstehen, dem Hol-
ländischen verwandt ist, so gings mit dem Unterricht gut fort. Das
kleine Kind der Eheleute wurde bald getauft; der Mann fiel wieder
ab, die andern drei aber blieben treu, und nachdem sie im Evange-
lium genügend unterwiesen waren, empfingen auch sie die Taufe.
Die Frau ist seitdem selig entschlafen; an ihrem Sterbetage aber
wurden abermals drei Heidenkinder getauft, und für die vier Kinder,
welche jetzt in der Colonie waren, wurde eine Schule eingerichtet, in
welcher nun die Kinder unsrer Landsleute und die Kinder der christ-
lichen Kaffem unterrichtet werden. — Pfingsten 1856 zogen wiederum
15 (Monisten von Hermannsburg dorthin und Michaelis 1857 aber-
mals 12 Missionare und mehr als doppelt so viel Colonisten, Frauen
und Kinder. — Bis zum Jahre 1859 sind gegen 100 Personen von
Hermannsburg aus nach Afrika gezogen, gegen 50 Heiden getauft
und 8 Missionsstationen in der Umgegend errichtet worden. — Die
ganze Missionscolonie in Afrika steht unter der Leitung des ehemali-.
gen Missionars Hardeland, der 1859 als Superintendent nach Afrika
gesandt worden ist.
4. Michaelis 1857 wurden 24 Zöglinge wieder in das Mis-
sionshaus aufgenommen. Dasselbe hat jetzt eme eigne Druckerei, zu
welcher 2000 Thaler geschenkt worden sind. In der wird das Her-
mannsburger Missionsblatt gedruckt.
38. Die Landdrostei Stade.
Sie liegt nordwestlich von Lüneburg und besteht aus den
beiden Herzogthümern Bremen und Verden und aus dem von
Bremen umschlossenen Lande Hadeln. Weser und Elbe be-
frenzen die beiden Herzogtümer; die Gebiete der beiden
'lüsse sind durch die nördliche Senkung der Lüneburger Heide
von einander geschieden. Verden hat Geestboden, wenig Moor
und noch weniger Marsch, welche an der Aller liegt; von
Bremen ist % Marsch; sie befindet sich an der Weser und der
Elbe. Am Elbufer liegt das Alteland, nördlich von demsel-
ben das Land Kehdingen, und an der Wesermündung das
Land Wursten. Der fette Schlamm, welcher die Marsch frucht-
bar macht, ist in den Elbgegenden iy2 bis 7 Fuß, in der
Wefergegend oft kaum y2Fuß tief; die Wesermarschen eignen
157
sich daher heiser zur Viehzucht, als zum Ackerhau. Einen
froßen Raum von Bremen nimmt das Moorland ein. Vor
undert Jahren war das Teufelsmoor mit seinen 90000 s^DIor-
gen eine unzugängliche Wüstenei, nur von Sumpfvögeln und
Fröschen bewohnt. Da wurde 1766 ein großer Kanal durch
dasselbe gezogen, welcher in die Oste mündet; dieser diente
zur Entwässerung des Moores und zur Verschiffung des ge-
wonnenen Torfes. Seitdem mehrte sich der Anbau; in den
Jahren von 1782 bis 1820 allein wurden 31 neue Moordörfer
angelegt, und 1831 zählte man in beiden Herzogthümern
deren 91. Wo sonst keines Menschen Fuß hindringen konnte,
laufen jezt fahrbare Straßen und schiffbare Kanäle.
Die Luft ist ziemlich rauh und an der Küste oft nebelig
und stürmisch.
39. Die Torfmoore.
1. In früheren Zeiten, als die Ebene noch mit Waldungen
bedeckt war, brauchten ihre Bewohner nicht sparsam umzugehen mit
dem Brennholze. Wenn es in den Herbsttagen draußen zu stürmen
begann und der Wind kalt durch die Heiden fuhr, oder wenn im
Wmter ein scharfer Frost den Boden hart und die Flüsse fest machte,
ließ man stch das nicht groß anfechten. Die Wälder lieferten.Holz
genug, und wer es brauchte, holte es sich und feuerte die Öfen,
daß sie fast barsten. Heutzutage ist das Holz theuer geworden, und
ein armer Mann kann es kaum noch kaufen. Da ist es denn ein
sonderlicher Segen Gottes, daß man Brennmaterial auch aus der
Erde gewinnen kann; und mancher, der das theure Holz nicht bezahlen
kann, heizt seinen Ofen mit Torf.
2. Mit dem Torfe aber geht es so zu. In niedrigen Ge-
genden bilden sich von dem Grundwasser und von dem Regen Lachen
und Sümpfe; denn das Wasser bleibt stehen, da es keinen Abfluß
hat. Auf einem solchen Sumpfe entwickeln sich, wenn die Tiefe
nicht zu gering ist, kleine Pflanzen. Sie schwimmen theils auf dem
Wasser umher, theils wurzeln sie am Rande des Sumpfes, theils
leben sie als Schmarotzer auf größern Wassergewächsen. Sie ver-
mehren stch außerordentlich rasch, leben nicht lange und vermodern
schnell. Ihr Moder bildet mit den Körpem der kleinen Wasserthiere,
die auf ihnen leben, die erste oder unterste Schlammlage. In dieser
wurzeln dann, indem sie jedes Jahr an Dicke zunimmt, größere
Wasserpflanzen der verschiedensten Art. Alle diese Pflanzen wachsen
in sehr großer Menge neben und mit einander; an die Stelle der
abgestorbenen treten neue Pflanzen, deren vermodernde Theile zur
Vergrößerung der Schlammlage dienen. Es kommt auch vor, daß
stch die Oberfläche des Wassers mit schwimmenden Gewächsen be-
deckt, mit den eigentlichen Torf- oder Sumpfmoosen. Da sich diese
schnell vermehren, so bilden ste bald eine Decke, in der wieder an-
dere Pflanzen wurzeln. Diese Pflanzen senden alljährlich nach oben
neue Triebe, während ihr unterer Theil abstirbt und die Wurzeln
158
sich verfilzen. So wird die Decke nach und nach dicker und legt
sich endlich fest; doch wird sie anfangs noch vom Waffer gehoben.
Zu den vorigen Pflanzen gesellen sich nun wieder andere Moose.
Sie verstärken durch üppigen Wuchs und die Verschlingung ihrer kräf-
tigen Wurzeln die Decke immer mehr, die sich wie ein weicher
Schwamm niederbeugt, wenn man darauf tritt. Nach und nach wird
sie fester und dicker und senkt sich immer tiefer ins Wasser, bis sie end-
lich den Boden erreicht und fest aufliegt. Darüber bilden sich dann mit
der Zeit auf ähnliche Art andere Lagen.
3. In der Regel unterscheidet man drei Schichten von Torf.
Die oberste Decke liefert den Stecbtorf; sie erscheint noch als ein
verfilztes Gewebe der torfbildenden Pflanzen. Der darunter liegende
Moortorf zeigt eine dunkelbraune Farbe, enthält auch noch Pflan-
zentbeile in sich und ist manchmal so weich, daß er in Formen ge-
preßt und getrocknet werden muß. Die unterste Schicht des Moores
gibt den Pechtorf, der aus einem dunkelschwarzen, dicken Schlamme
besteht. Ist das Moor tief, so zieht man Gräben, um das Sumpf-
wasser abzuleiten, und beginnt den Stich. — In solchen Torfstichen
sieht man die Decke geöffnet, und schwarzes Waffer quillt hervor, auf
dessen Spiegel selbst das Sonnenbild matt und bleifarben erscheint.
Kein Fisch kann in solchen; See leben, und kein Kahn befährt ihn.
40. Die Kiebitzen
sind Vögel, so groß wie die Feldtauben, und zeigen im Fluge bald ihre
fchwarzgrünen Mäntel und bald ihre weißen Unterkleider. Sie schreien
in einem fort, wie sie beißen, und gehen dem Wurmsana nach, fressen
aber auch Land- und Wafferschnecken, Käfer und andere Infecten, und
gehören daher zu den nützlichen Thieren. Ihre Eier, welche sie schon im
April legen, sind wie Muskatellerbirnen gestaltet, gelblichgrün und mit
grauen Punkten und braunschwarzen Flecken überstreuet. Sie werden
als Leckerbissen theuer bezahlt und daher fleißig gesucht. Sie sind aber
nicht leicht zu finden. Die älteren, vorsichtig gewordenen Hennen
legen die ihrigen auf feuchte Wiesen und in die daran grenzenden
Saatfelder. Die jüngeren und unerfahrenen scharren sich auf dem
Ried ein Grüblein, und die Eier liegen offen darin, wie auf einem
Teller; aber oft kann man vor Sumpf nicht zu ihnen kommen, oder
steigt über sie hin, ohne sie wahrzunehmen, weil sie mit dem Riedgras
fast einerlei Farbe haben. Und wenn die Bruthennen sehen, dass ein
Mensch ihrem Neste zu nahe kommt, so erheben sie sich von den Eiern
und streichen langsam und niedrig in einer Seitenrichtung vor ihm hin.
Dazwischen auch stellen sie sich flügel-- und lendenlahm und machen cs
den Sommervögeln nach, die sich gerade am öftesten setzen, wenn sie
den Schmetterlingsfänger recht an der Nase herum führen wollen.
Mit kleineren Feinden machen sie einen kürzeren Proceß. Der junge
Hase und das Wachtelhündlein werden so lange mit Schnabelhieben
tractiert, bis sie genug haben und das Fersengeld bezahlen. — Die Jun-
gen, die aus den Eiern kommen, werden von den Alten unter dem Bin-
sengras versteckt und mit dem Besten gefüttert, was sie finden können.
159
Die Kiebitzen sind immer fröhlich, sie mögen fliegen oder Äufen,
sich ätzen oder'baden, und der Hirtenknabe auf dem Ried sieht leine
Lust an ihnen, zumal sie sich nicht verstecken, sondern ihr Wesen und
ihre Kurzweil vor jedermanns Augen haben. Der Hamster aber
ärgerte sich einmal darüber, daß ihm die Galle überlief, und sprach
zu' dem Kiebitz, der etliche Schritte vor seiner Höhle einen Bock-
sprung machte: „Wie kann man doch den ganzen Tag io lustig
sein!" Der Kiebitz antwortete: „Das ist sehr begreiflich. Wir |inb
mit dem täglichen Brote zufrieden; wir sorgen mcht für den andern
Tag; wir haben weder Keller noch Speicher, und nichts, wonach dre
Diebe gelüstet."
41. Stade.
Änweit der Elbe liegt an den Ufern der Schwinge und auf
der Grenze der Elbmarsch und des Geestlandes die Stadt Stade,
der Sitz der gleichnamigen Landdrostei. Sie gehört zu den ältesten
Wehrstätten unsers Landes und war in der Vorzeit die Residenz des
uralten Geschlechts des Grafen von Stade. Die Festungswerke der
Stadt wurden gegen Ende des vorigen Jahrhunderts geschleift, sind
jedoch 1814 wieder hergestellt.
Stade ist außer Harburg und Geestemünde der einzige Ort in
Osthannover, welcher für die Schiffahrt Wichtigkeit hat. Äußer grö-
ßeren Seeschiffen gibt es eine Menge kleinerer Küstenfahrzeuge, wel-
che mit Bremen, Hamburg u. s. w. verkehren. Hin und wieder
wird auch wohl ein Schiff zum Walfischfang ausgerüstet. Freilich
leidet die Schwinge wie das ganze Stromgebiet der Unterelbe an
Versandung und Verschlammung, weshalb schon 1766 ein Kanalbau
erforderlich wurde, ohne welchen die Schiffahrt von der Elbe nach
Stade vielleicht ganz aufgehört haben würde. Dennoch aber ist der
kleine Fluß von großer Wichtigkeit für die Elbschiffahrt. Bei Ein-
tritt des Winters suchen häufig Schiffe bei ihr Schutz, und die Rhede
vor ihr, welche vor Südwest- und Nordwestwinden schützt, wird nicht
selten zum Ankern benutzt. Wie Stade der Grenzpunkt zwischen
Marsch und Geest ist, so bildet die Mündung der Schwinge die
Scheidelinie zwischen dem Süß- und Seewasser. Hier ist die Eis-
grenze, selten bildet sich tiefer abwärts auf der Elbe eine feste Eis-
decke. Die größeren Seeschiffe Pflegen daher hier zu lichten.
Die Luft ist wie am ganzen Gestade der Elbmündung und des
Meeres feucht und rauh. Man heizt in den Häusern volle 6 Monate
des Jahres ein. Dennoch ist die Gegend gesund, da die frische See-
luft freien Zutritt hat und die aus den nahen Moorgegenden auf-
steigenden Dünste entfernt.
Die Stadt hat eine freundliche Lage. Der sogenannte schwarze
Berg neben der Stadt, den früher öde Heide bedeckte, ist jetzt mit
jungem, kräftigem Nadelholze bepflanzt und bietet eine malerische
Aussicht dar. Von dem freundlichen Vergnügungsorte Hohewedel
sieht man die Schwinge sich durch saftiges Wiesengrün nach der
Stadt schlängeln und sich weiterhin in die Elbe ergießen, an deren
160
jenseitigem Strande die Blankeneser Berge in bläulicher Färbung
die Ferne begrenzen; oder die Türme Hamburgs ziehen den Blick
an sich; oder das Auge ruht auf dem reichen Altenlande mit seinen
Kirchen und Turmspitzen, die aus weiten, dichten Kirschgärten im
Abendgolde hervorleuchten, ein freundliches Wahrzeichen für den
kühnen Schisser, der über das stürmische Meer aus fernen Ländern
wiederkehrt und vom hohen Mast herab der lieben alten Heimat den
frohen Gruß entgegenruft.
42. Verden.
3m Herzogthume Verden hat sich nur eine einzige Stadt zu
einiger Bedeutung erhoben; es ist Verden an der Aller, welches
gegenwärtig 5700 Einwohner zählt, die von Speditionshandel, der
damit^verknüpften Schiffahrt, von Viehzucht und Ackerbau leben.
Die Stadt ist älter als Bremen. Die Umgegend, wo sie liegt,
war von den ältesten Zeiten her wegen der vortheilhaften Lage
am Zusammenflüsse der Aller und Weser bewohnt.
Das wichtigste Denkmal Verdens ist der Dom, der zu den groß-
artigsten und bewundernswerthesten Gotteshäusern im Norden unsers
Vaterlandes zu rechnen ist. Das gegenwärtige Gebäude ist im fünfzehn-
ten Jahrhunderte vollendet und befindet sich auf der Stätte der ur-
sprünglichen Kirche, die theils gewaltsamen Zerstörungen, welche dieser
Gegend häufig von den Wenden bereitet wurden, theils der geringen
Dauerhaftigkeit der ersten Anlage unterlegen ist. Obgleich von Quader-
ffeinen, einem in dieser Gegend kostbaren Baue, aufgeführt, wäre
jedoch auch der jetzige Dom dem Einsturze unterlegen, wenn nicht
unsre Regierung 1828 die nöthigen Ausbesserungen, welche dem
Dome eine noch lange Dauer versprechen, unternommen hätte. In
der Vorhalle des Doms befindet sich der aus Eichenholz geschnitzte
Bischofsstuhl, welcher ehemals neben dem Altare stand, ein Meister-
stück, dessen Alter wahrscheinlich dem der Kirche fast gleich kommt.
43. Die Marschen an den Mündungen der Weser und der Elbe.
1. Äle Ströme führen, besonders bei Überschwemmungen, fettes
Erdreich aus dem Innern des Landes mit sich; dieses wird von
dem Meere an die Küste geworfen und dort zu Inseln und fetten
Schlammbänken aufgehäuft. So sind die Marschen entstanden, von
deren grünem Saume die ganze Nordseeküste Deutschlands um-
zogen ist.
Die Marschen sind flach und scheiden sich dadurch scharf von
dem übrigen, älteren festen Lande, das ihnen zum Anhaltspunkte
dient, wie der Knochenbau dem Fleische. Die Marschbewohner
nennen jenes Hügelland die Geest oder Gast, und der Ünterschied
von Geest und Marsch wird von ihnen immer besprochen, ja einem
rechten Märscher zerfällt fast die ganze Welt in Geest und Marsch.
Die Marsch ist sehr, die Geest minder ftuchtbar; jene ist kahl und
völlig waldlos, diese stellenweise bewaldet. Jene zeigt nirgend Sand
und Heide, sondern Acker an Acker, Wiese an Wiese; diese ist heidig,
161
sandig und nur stellenweise bebaut. Die Marsch ist von Deichen
und schnurgeraden Kanälen durchzogen, ohne Quellen und Flüsse;
die Geest hat Quellen, Bäche und Flüsse.
2. Die weiten Wiesenfluren in der Marsch steht man in der
Nähe und Feme mit Herden weidender Rinder bedeckt; von den
entlegenen Weiden schimmern die bunten Rücken der Kühe und
Ochsen noch wie Wiesenblümchen herüber. Wie die Viehherden, so
erblickt man auch die Wohnungen der Leute weit und breit zerstreut.
Sie liegen auf oft künstlich errichteten Hügeln von 10 bis 12 Fuß
Höhe, die Wurten, auch Warfen, Warten, Worthen genannt werden,
und die den Bewohnern und allen ihren Habseligkeitcn als Zufluchts-
orte bei großen Überschwemmungen dienen. Wie Burgen ragen diese
Hügelwohnungen aus dem Grasmeere hervor. Auf diese Wurten wird
alles mit hinaufgezogen, was die Feuchtigkeit der Wiesengründe
nicht verträgt, namentlich der Gemüsegarten. An ihren Abhängen
werden Kohl und Rüben gebaut; im Sommer sind sie von dem
in Blüte stehenden Senfsamen gelb gefärbt. Auch steht hier und
da ein Baum auf dem Gipfel des Hügels neben dem Hause. Sonst
ist in der Marsch nirgend ein Busch oder Baum zu erblicken.
3. Überall ziehen sich Deiche an der Küste hin, welche das
Land gegen die Meeresfluten schützen. Sie haben an manchen
Stellen unten eine Breite von 160 Fuß und eine Höhe von 30 Fuß
und sind mit Sihlen versehen. Die Sihle sind Löcher, durch welche
das Wasser aus dem Lande zum Meere abfließt. Sie sind mit
Thüren verschlossen, welche bei der Ebbe sich von selber aufthun,
bei der Flut aber von dem anschwellenden Meerwasser wieder ge-
schlossen werden. Weil die Deiche erhaben und daher trockener sind
als das tiefliegende Land, so fährt man gern auf ihrem Rücken
hin, und daher bilden sich auf ihnen Wege; doch erlaubt man nicht
überall, auf den Deichen zu fahren, weil die Wagen ihnen schaden.
Um alle Marschwiesen und Marschücker sind tiefe Gräben ge-
zogen, urn das Wasser aufzunehmen und abzuführen. Im Sommer
sino sie zmn Theil trocken und voll Vieh, das darin grast.
4. Auf der Grenze zwischen dem Meere und dem Festlande
liegen größere und kleinere Sandbänke, welche Watten genannt
werden. Sind sie ganz öde und kahl, so heißen sie rohe Watten.
Andre sind mit solchen Pflanzen bewachsen, welche es vertragen
können, zweimal täglich vom Meer bespült zu werden. Solche
Pflanzen nennt man Queller. Wo Salzwasser seltener erscheint,
wächst schon schilfartiges Gras. Da endlich, wo größere Striche
der Watten so hoch mit Schlickgrund bedeckt sind, daß sie vor den
meisten Fluten geschützt daliegen, entstehen schöne, große Wiesen,
und diese Wiesen benutzt der Mensch dann zur Viehhütung, wie
auf dem Festlande. Es gibt deren, die sich 2 bis 3 Stunden weit
über die Watten hin erstrecken; andre aber sind ganz klein und
liegen zur Ebbezeit wie grüne Teppiche auf den Watten, während
sie bei der Flutzeit wie grüne Inseln im Wasser zu schwimmen
scheinen. Liegen sie weit draußen im Watt, so wird dort das Gras
162
bloß gemäht und dann in Schiffen heimgeholt; sind sie aber der
Küste nah, so wird das Vieh vom Festlande aus über das Watt
dahin getrieben, um das Gras abzuweiden.
Die niedrigsten und ödesten Wattbänke werden Sande, Gründe
oder Platten genannt. Oft sind ihre Benennungen die Namen
früherer Dörfer und Landstriche, welche einst hier blüheten und von
den Fluten zerstört wurden.
44. viv Landdroftei Aurich.
1. Die Landdrostei Aurich wird von dem Fürstenthum
Ostfriesland gebildet.
Ostfriesland hat dreierlei Boden: im Innern ist Hochmoor;
dieses ist im Osten, Süden und Westen von Sand umgeben,
und an der Küste liegt Marschland. Das Hochmoor tomrat
aus Oldenburg und gebt nach Nordwesten in einer Breite von
3 bis 4 Meilen. Es nimmt den vierten Theil von Ostfriesland
ein, ist aber nicht zusammenhangend, sondern durch schmale
Streifen Sandbodens und durch Flüsse zertheilt. Der Grund
des Moorbodens ist Sand; über diesem erhebt er sich in un-
gleicher Höhe von einem bis zehn Fuß. Man nennt ihn Hoch-
moor, weil er gewöhnlich höher ist als der umliegende feste
Boden. Oben ist der Moorboden gelbbraun oder grau und
sehr locker; je weiter nach der Tiefe, desto fester und dunkler
wird er. Darnach theilt man ihn in drei Arten. Die oberste
Lage ist zum Brennen untauglich, aber gut zum Buchweizen-
bau. Die folgende Lage ist etwas fester und wird, zu Torf
gestochen, bei Ziegeleien und Kalkbrennereien gebraucht,
weshalb man ihn Zieglertors nennt. Zuletzt kommt schwarze,
feste Erde, welche den Hagetorf liefert. Der Anblick des
Moores ist traurig und öde. Hier sieht man nicht das lustige
Gewühl arbeitender Landleute und hört nicht das behagliche
Brüllen wohlgenährter Rinder; nur der klagende Ton des ein-
samen Moorhuhnes trifft zuweilen das Ohr. Stundenlang wan-
dert man umher, ohne einen Baum oder Strauch anzutreffen,
noch weniger eine menschliche Gestalt; düsteres Heidekraut,
bleiche Binsen und Gräser, vermischt mit grauem Moose, starren
einen an. Dennoch sind diese Moore ein wohlthätiges Ge-
schenk Gottes für ein Land, das kein Holz besitzt; sie liefern
ihm das nöthige Brennmaterial. Ist aber der Torf davon ab-
gestochen, so hat man einen Boden gewonnen, der zum Acker-
bau recht tauglich ist. Wo wächst der Buchweizen schöner,
als auf dem Hochmoor? Auch Roggen, Hafer und Kartoffeln
gedeihen, und lohnen oft die Mühe nicht kärglich. Freilich
ist diese Benutzung nur zeitweise: der Anbauer muß sein Feld,
nachdem er es sechs bis acht Jahre bebaut hat, 20 bis 30
Jahre ruhen lassen, während welcher Zeit er sich ein neues
sucht. Hierzu ist aber auch Raum genug; es fehlt weniger an
Feld, als an Menschen zum Anbau desselben. Manche Strecke
163
des Hochmoors läßt sich aber auch zu bleibendem Anbau
bringen.
Der Sandsirich ist % bis % Meilen breit. Davon ist ein
beträchtlicher Theil Geestboden, der, je näher der Küste zu,
desto besser wird. Er ist wellenförmig, auf manchen Strecken
noch wüste und mit Heide bewachsen, welche kleinen Heid-
schafen zur Weide dient. Niedrige Anhöhen, etliche Fuß
hoch, erheben sich, an deren Fuße die Geestdörfer liegen.
Koggen gedeiht auf diesem Boden am besten, Hafer geräth
auch, Gerste aber nur selten, und Weizen wird so gut wie gar
nicht gebaut.
Die Marsch an der Küste umgibt den Sandboden und ist
1 bis 4 Stunden breit. Auch sie ist nicht ganz eben: kleine
Anhöhen, Warfen genannt, erheben sich häufig 3 bis 10 Fuß
hoch. Einige sind so klein, daß kaum ein Haus darauf stehen
kann; andere dienen ganzen Dörfern zum Sitz; selbst die
Stadt Emden liegt auf einem solchen Warf. Die meisten fin-
den sich an der Ems und sind wahrscheinlich durch die Gewalt
des Wassers gebildet worden. Mitten in der Marsch erheben
sich mitunter sandige Höhen, größer als Warfen; der Sand ist
gewöhnlich mit Lehm vermischt, weshalb sie sehr fruchtbar
sind. Doch gibt es mitten unter dem fettesten Marschboden
auch Strecken von sogenanntem Knickboden, der des Anbaues
Vo11Tr» werth ist; er ist ein feuchter, dichter, saurer Boden, grau,
bläulich oder röthlich.
Gegen die Meeresflut ist die Küste durch Deiche geschützt,
welche bis 20 Fuß hoch, unten 80 bis 100 und oben 8 bis 12
Fuß dick sind. Nach der Landseite laufen sie etwas steil, nach
der Seeseite aber viel flacher ab.
2. Der Hauptfluß Ostfrieslands ist die schon genannte
Ems. Sie kommt vom Teutoburger Walde. Sie nimmt von
der rechten Seite bei Meppen die Hase und bei Leer die
Leda auf und mündet bei Emden in den Dollart. In ihrem
unteren Laufe sind ihre Ufer auf beiden Seiten mit Dämmen
eingefaßt. Auf dem Moore und in der Heide entspringen viele
kleine Bäche, die sammt den Kanälen Deepen, d. i. Tiefen
genannt werden. Sie befruchten den magern Sand etwas,
wodurch brauchbares Wiesenland entsteht, das zuweilen eine
Viertelstunde breit ist. Es macht einen erfreulichen Eindruck,
wenn nach stundenlangem Durchwandern öder Flächen das
Auge sich an dem frischen Grün dieser Strecken erholen kann.
3. Die niedrige Lage des Landes und die Nähe des
Meeres bewirken, daß die Luft dick und feucht ist. Frühling
und Sommer treten erst spät ein; der erste ist oft nur im Ka-
lender zu finden. Da herrschen Ostwinde und kalte Witterung,
oder rauhe Westwinde, die Nässe bringen; Mai und Juni find
gewöhnlich trocken; im Juli und August ist viel Regen und
daneben Hitze. Der Nachsommer bis Ende Septembers ist die
164
angenehmste Jahreszeit. Linde wehen die Lüfte, und freund-
lich, nicht mehr heiß, scheint die Sonne; freier athmen Mensch
und Thier. Auch im October kommen noch viele schöne
Tage. Mitte Novembers wird die Witterung rauh und kalt;
aber der Februar ist schon ziemlich gelinde wieder. — Die
Feuchtigkeit der Luft hat dem Lande herrlich grünende Wie-
sen gegeben; daher eignet es sich vorzüglich zur Rindvieh-
zucht. Nebel und Stürme sind häufig. Indes erfreuen die
Einwohner sich einer guten Gesundheit, da die Seewinde die
Luft reinigen.
4. Da, wo die Küste endigt, fängt das Watt an, zur Flut-
zeit ein See, den die Schiffe befahren, bei niedrigem Wasser
eine trockne Fläche von etlichen Stunden Breite. Es ist am
Fuße der Deiche oft begrünt, weiter entfernt Seeschlamm,
Schlick genannt, mit sehr feinem Sand vermischt, und geht nach
und nach in grobem Seesand über. An das Watt grenzen
die Inseln, sieben an der Zahl, wovon sechs zu Hannover ge-
hören, Sie ziehen sich eine bis zwei Stunden von der Küste
entfernt von Osten nach Westen. Borkum ist die größte,
% Stunde breit, iy2 Stunde lang; die übrigen sind länger,
aber weniger breit. Sie bestehen' nur aus einer zwei- bis
dreifachen Reihe von Sandhügeln (Dünen), die sich 20 bis
50 Fuß erheben, theils kahl, theils mit Strandhafer bewachsen,
und oft von seltsamer Gestalt; nur an der Südseite setzt sich
ein wenig Schlamm an, da sind sie mit spärlichem Grase be-
wachsen, das weniger. Kühen und Schafen zur Weide dient.
Nur Borkum hat etwas Marschland. Dennoch sind alle Inseln
bewohnt; die Bewohner nähren sich von Fischfang und Schif-
fahrt. Viele Arme sind unter ihnen, besonders Witwen, was
eine Folge der Beschäftigung der Männer ist. Ehedem waren
die Inseln weit größer; Borkum war früher dreißigmal so groß.
Unaufhörlich reißen die Meereswogen an ihnen, und sie werden
vielleicht einst gänzlich verschwinden, gleichwie die weiter
östlich gelegenen, von denen keine Spur mehr übrig ist. Sie
dienen jetzt aber noch der Küste zur Schutzmauer, indem sie
die Gewalt der Meeresfluten brechen; daher wird auch fort-
während für ihre Erhaltung gesorgt, namentlich durch Befäung
der Dünen mit Strandhafer. Auch dem Seefahrer gewähren
sie bei Stürmen einen sichern Zufluchtsort.
45. Norderney.
1. Norderney ist die bevölkertste und Wegen ihres besuchten
Seebades die merkwürdigste der Inseln Ostsrieslands. Man kann
dieselbe zu Wasser und auch zu Lande erreichen. Während der Ebbe-
zeit nemlich läuft das Wasser so bedeutend ab, daß die 1% Mei-
len breite Strecke zwischen der Insel und der Küste, das sogenannte
Watt, auf der am höchsten liegenden Stelle fast ganz trocken gelegt
wird und die Badegäste zu Wagen und zu Pferde, auch, wenn sie
165
nasse Füße nicht scheuen, zu Fuß auf die Insel gelangen. Während
der Flutzeit muß man das Watt zu Schiffe passieren.
Die Insel hat einen Umfang von drei Stunden. Der Strand
dacht sich allmählich in die See ab, besonders auf der West- und
Nordwestseite, und zeigt einen völlig ebenen, dichten Sandboden.
Don der Inselseite her wird der Strand von einer Dünenkette
begrenzt, welche die ganze Insel, an manchen Stellen in vierfacher
Reihe, wie ein Gürtel umgibt und sie gegen die Wuth der Wogen
und der Winde schützt.
Nur ein kleiner Theil der Insel, die gegen die häufig wehenden
Nord- und Ostwinde geschützte West- und Südwestseite derselben,
gestattet den Anbau einiger Gartengewächse und bietet den Einwoh-
nern dürftige Weide für ihre wenigen Kühe und Schafe. Elsen, Pap-
peln und Weiden, welche man angepflanzt hat, gedeihen nur bis zu
einer gewissen Höhe; jeder Sprößling, der weiter als 12 bis 15 Fuß
über die Erde hervorragt, stirbt ab.
Mehrere Arten von Seevögeln, besonders Möven, Seeschwalben,
Strandläufer, Beccassinen, Berg- und wilde Enten, Kaninchen in gro-
ßer Anzahl gewähren den Iagdfreunden das Vergnügen einer eigen-
thümlichen und seltenen Jagd. Von den Meerbewohnern sind es
hauptsächlich die Delphine, Seehunde, viele Fischarten, Medusen, See-
igel, Seesterne und verschiedene Muschelthiere, die sich am Strande
und in der Nähe der Insel aufhalten.
An süßem Wasser fehlt es Norderney nicht; dasselbe ist weich und
etwas gelblich, aber ohne alle schädliche Beimischung. — Das Klima
ist gesund.
2. Die Bewohner der Insel, etwa 800 an der Zahl, leben alle
in dem einzigen Dorfe Norderney. Die Häuser desselben stehen abge-
sondert; in den Straßen laufen sehr bequeme Fußwege von rothen
Backsteinen hin. Fast ein jedes Haus ist von einem Gärtchen umge-
ben, welches von einer niedrigen Befriedigung eingeschlossen wird. —
Zum Schutze gegen die Wellen, welche durch Nordweststürme herange-
trieben werden und mitunter einen großen Theil der Insel überfluten,
hat unsre Regierung eine lange Mauer auf dem nordwestlichen Gestade
aufführen lassen.
Die Bewohner der Insel leben von Schiffahrt und Fischerei.
Während der Badezeit gewähren ihnen das Vermieten ihrer Wohnun-
gen, die Bedienung der Fremden und manche andere Beschäftigungen
einen ansehnlichen Verdienst. Sie sind einfache, treuherzige Menschen. §
Dreist kann der Fremde seine Habe bei offenem Fenster lregen lassen;
er braucht nicht besorgt zu sein, wenn er an den Thüren der Stuben
und des Hauses keine Schlösser findet.
3. Norderney kann mit Recht das vornehmste und glänzendste
Seebad der Nordsee genannt werden. Die Regierung verwendet
viel zur Verbesserung und Verschönerung der Badeanstalt, und jähr-
lich steigt die Zahl der Besucher. Mit dem l. Juli beginnt die
Badezeit und endet mit Ende Septembers. Man badet nur einmal
100
täglich, zur Zeit der steigenden Flut, weil daun der Wellenschlag das
Bad am kräftigsten macht.
Schön ist 'die Aussicht von den Dünen über das endlos ausge-
breitete Meer. Brandungen brechen sich jederzeit, auch bei schwachem
Winde, in einiger Entfernung vom Ufer; beim Sturme aber steigen
sie zu fürchterlicher Höhe und spritzen ihr Wasser, im Schaum aufgelöst,
bis zum Gipfel der Höhen.
46. Auf dem Meere.
1. Wie mit wildem Unverstand
Wellen sich bewegen!
Nirgend Rettung, nirgend Land
Vor des Sturmwinds Schlägen!
Einer ist, der in der Nacht,
Einer ist, der uns bewacht:
Christ Kyrie!
Komm zu uns auf die See!
2. Einst, in meiner letzten Noth,
Laß mich nicht versinken!
Sollt ich von dem bittern Tod
Well auf Welle trinken:
Reiche mir dann liebentbrannt,
Herr, Herr, deine Gluubenshand!
Christ Kyrie!
Komm gu uns auf die See!
3. Nach dem Sturme kabren wir
Sicher durch die Wellen,
Lassen, großer Schöpfer, dir
Unser Lob erschallen,
Loben dich mit Herz und Mund.
Loben dich zu jeder Stund.
Christ Kyrie!
Ja dir gehorcht die See!
47. Das Pferd.
Äein anderes Thier scheint unter der Pflege des Menschen so
viel gewonnen zu haben wie das Pferd. Seine schöne Gestalt, seine
Stärke, Schnelligkeit, sein Muth und seine Kühnheit, die Schärfe
seiner Sinne, fein Gedächtniß und Ortssinn, seine Gelehrigkeit, Folg-
samkeit, Treue und Anhänglichkeit machen es zu einem angenehmen
Gefährten des Menschen.
Es lebt, die Polarländer abgerechnet, jetzt in allen Gegenden
der Erde. In Arabien, wo die schönsten und edelsten Rosse sind, ist
es ein so beliebtes Hausthier, daß es in die Zelte und Zimmer
hineinkommt und wie ein Hausfreund betrachtet und gehalten wird.
Amerika und Neuholland hatten vor ihrer Entdeckung durch die
Europäer keine Pferde; die ersten spanischen Reiter jagten daher
den Amerikanern einen ungeheuern Schrecken ein, indem drese Mann
und Pferd ursprünglich für ein Geschöpf hielten. Nach der Erobe-
rung Anrerikas hat es sich dort aber so vermehrt, daß man ganze
Herden verwilderte Pferde antrifft. Dergleichen gibt es auch in der
Mongolei und Tartarei und im südlichen Rußland. Sie werden mit
Schlingen gefangen.
Das Pferd ist wohl das schönste vierfüßige Thier: wie aus Erz
gegossen, so fest steht es da, und dennoch schlank wie ein Reh.
Sicher ist sein Gang; stolz trägt es sein Haupt; klug und mild blickt
es uns an mit dem runden, großen Auge, das im Dunkel mit grünem
Scheine leuchtet. Mit dem spitzen Ohr lauscht es aufmerksam. Die
vorstehende, freie Brust zeugt von seinem Muthe; schlank und glatt
167
ist der Nacken, und um den gebogenen Hals siattert die lange Mähne.
Fest, behende und leicht sind die Beine; die festen, ungespaltenen Hufe
stampfen ungeduldig den Boden; der volle, glänzende Schweif fließt
zur Ferse hinab.
Wie ein Sturmwind fliegt es mit seinem Herrn über den weiten
Plan; bei Nacht und int Dunkel trägt es ihn sorgsam und sicher auf
schmalem Pfade an Abgründen vorbei. Mit dem Krieger zieht es
gegen den Feind ; es beißt schäumend in die Zügel, schüttelt die Mähne,
scharrt den Boden, schnaubt und wiehert vor Kampflust. Da schmet-
tern die Trompeten, und muthig stürzt es in den Kampf. Ist sein Füh-
rer gefallen, und es kommt vorüber an dessen Leiche, so senkt es trau-
ernd das Haupt. — Ein wüthiges Pferdepaar, welches in gleichem
schritt, gehorsam dem Wort des Führers und der Bewegung des Zü-
gels mit dem glänzenden Wagen dahineilt, ist ein schöner Anblick.
Aber gleich schön und erfreulich ist es, wenn das Ackerpferd den Pflug
oder den Erntewagen zieht.
Die Haare der Mähne gebraucht man zum Polstern, die des
Schweifes zu Violinbogen und Haarsieben, auch webt man Zeuge zu
Stuhl- und Sofaüberzügen, Mützen u. dergl. daraus. Mit den kurzen
Haaren stopft man Sättel, Kissen, Matratzen, Stühle u. s. w. Dre
Haut gibt gutes Leder. Die Vorderzähne dienen zum Glätten; dre
Backenzähne werden von Drechslern verarbeitet; die starken Sehnen
am Fuße kaufen Sattler und Orgelbauer; die Hufe verarbeitet der
Horndrechsler.
48. Der Dollart.
Äas Amt Weener bildet das sogenannte Reiderland. Man
hält es für den schönsten und besten Theil Ostfrieslands. Das
Reiderland ist sonst viel größer gewesen. Weihnacht 1277 aber
wurde es von einer gewaltigen Flut heimgesucht, einer der schwec-
sten, die miser Vaterland betroffen haben. Die Wogen rissen ganze
Strecken des Deiches weg. So erlangte das Meer freien Zutritt zum
Lande; durch wiederholte Stürme aufgeregt, grub es immer tiefere
Öffnungen. Zwistigkeiten waren Ursache, daß dem Übel nicht gleich
im Anfange mit vereinten Kräften gesteuert wurde, und hernach war
es zu spat geworden. Was noch gebessert wurde, vernichteten die
Fluten von 1278, 1280 und 1287 wieder. So drang das Meer imnier
tiefer herein und verschlang ein Dorf nach dem andern, bis es endlich
gelang, dem Wasser durch neue Dämme ein Ziel zu setzen. So ist der
Dollart entstanden.
Es muß ein herrlicher, stark bevölkerter Landstrich gewesen sein,
der hier untergegangen ist; das kann man an der großen Anzahl
von Örtern sehen, die darauf gestanden haben. Man zählt deren
an 50, und darunter 33 Kirchörter. Der ansehnlichste Ort war
Torum, eine kleine Stadt, wo 8 Goldschmiede wohnten; das Kloster
Palmar hatte 190 Mönche. Torum hielt sich am längsten; noch
1507 stand es; endlich ging es auch unter, man weiß nicht wann?
aber noch im siebzehnten Jahrhundert konnte man die Fundamente
168
der Häuser daselbst erkennen und fand zuweilen noch ein Fäßchen
mit Geld.
An der Mündung der Ems in den Dollart liegt Emden.
Die Stadt hat 12000 Einwohner, welche viel Schiffahrt mW Handel
treiben.
49. Die Lamhlrostei Osnabrück.
Sie bildet den südlichen Theil von Westhannover. Der
Haupttheil derselben ist das Fürstenthum Osnabrück; -westlich
von ihm liegt die Grafschaft langen, von dieser westlich der
Kreis Emsbühren, von diesem westlich die Grafschaft Bentheim,
und nördlich von den letzten drei Landschaften liegt das Her-
zogthum Aremberg-Meppen, in dessen nördlichem Theile die
Moorcolonie Papenburg sich befindet.
Von diesen Landschaften ist das Fürstenthum Osnabrück
die fruchtbarste. Sie hat im südlichen Theile Gebirgsboden,
der sich in dem Kappel- und dem Iburger Gebirge am höch-
sten erhebt; ihr nördlicher Theil dagegen ist eben. In diesem
finden sich freilich auch Moore, doch nicht in beträchtlicher
Ausdehnung. Bei der Menge kleiner Flüsse, unter welchen
die Haie und die Hunte die namhaftesten sind, gibt es viele
Wiesen und Weiden, die jedoch nicht so gut sind, wie in den
übrigen Gebirgsgegenden von Hannover. Im Süden sind gute
Waldungen; die am wenigsten fruchtbaren Sandstriche des
Landes sind in neuerer Zeit meist zu Nadelholzanlagen umge-
schaffen.
Die übrigen Landschaften sind eben; nur im südlichen
Theile von Bentheim treten noch einmal Berge mit Quader-
sandstein auf. Diese Gegenden werden bewässert durch die
Ems, welche gen Norden fließt und von der rechten Seite die
Hase aufnimmt, und durch die nach Holland gehende Vecht.
Nicht einmal überall an den Flüssen ist der Boden fruchtbar;
so finden sich in Lingen an den Emsufern viele öde Sanddünen,
welche durch die Ausspülungen des Flusses fortwährend ver-
mehrt werden und oft 30 bis 40 Fuß hoch sind. Der Sand ist
fein und daher beweglich; heftige Westwinde treiben ihn mor-
genwärts gegen das noch fruchtbare Land, welches durch ihn
verderbt wird. Eine große Kette von nackten Sandhügeln ist
ferner in Meppen; sie heißt der Hämling. Andre ausgedehnte
Sandstriche sind mit Heide bedeckt; neben ihnen breiten sich
weite Torfmoore aus, worunter das größte, das Bourtanger
Moor, die ganze Westgrenze von Meppen einnimmt Wegen
des Mangels an Quellen und Bächen ist auch Mangel an Wie-
sen; nur Bentheim hat reichlichere Bewässerung. Waldungen
fehlen in diesen Landschaften ganz. Wegen ihrer geringen
Fruchtbarkeit kann nur ganz nothdürftig Ackerbau getrieben
werden; zu andern Erwerbszweigen ist auch nicht viel Ge-
169
legenheit, und deshalb ist die Einwohnerzahl nur gering. An-
ders ist es in Osnabrücks da wird viel Getreide und Flachs
gebaut.
50. Papenburg.
Dapenburg, eine große blühende Colonie von fast 6U00 Ein-
wohnern, war 1675 noch ein wüster, unwirtbarer Sumpf. Außer
einer alten verfallenen Burg und einigen elenden Wohnungen gab
es daselbst keine Spur menschlicher Betriebsamkeit. Damals ent-
schloß sich ein Freiherr von Landsberg - Beelen, den ungeheuern
Morast nach dem Vorbilde der Holländer zu einer Torfcolonie zu
benutzen, und so den Anfang zur Bebauung der niederdeutschen
Torfmoore zu machen. Zu dem Ende wurde ein schiffbarer Kanal
von der nicht weit entfernten Ems hierhergezogen und nach und
nach in den Morast hinein fortgesetzt. Es fanden sich bald immer
mehr Colonisten, die sich an dem Ufer desselben anbaueten; die alte
Burg wurde geschleift und eine Kirche daraus gebauet. Man ver-
mehrte und verlängerte die schiffbaren Kanäle, bis die Colonie all-
mählich den Umfang und die Gestalt erreichte, worin wir sie jetzt
erblicken. Der Hauptkanal ist drei Stunden lang, 24 Fuß breit
und läuft bis in die Nähe eines großen Sees, der ihm einen Theil
des nöthigen Wassers liefert. Von ihm führt ein Sihl durch den
Deich in die Ems; alles Wasser der Torfkanäle und alle Schiffe
der Colonie müssen durch seine Pforten passieren, die sich der Ebbe
und Flut wegen alle 24 Stunden nur viermal öffnen. — Aus
diesem Hauptkanale hat man zur Gewinnung des Torfs mehrere
andere ansehnliche Kanäle durch das Moor geführt. Die Länge
aller papenburgischen Kanäle zusammen beträgt drei und eine
halbe Meile.
Auf beiden Seiten der Kanäle stehen die Wohnhäuser, alle nur
ein Stockwerk hoch. Niemand darf seine Wohnung ganz nahe an
das Ufer bauen, sondern muß wenigstens den zu einern Fahrwege
erforderlichen Raum offen lassen. Die Häuser stehen auch nicht
dicht neben einander, sondern durch eine bald größere, bald' gerin-
gere Entfernung getrennt, und bei denselben befinden sich anmuthige
Baumpflanzungen.
Das vorzüglichste Gewerbe der Papenburger ist die Torfgräbe-
rei und der damit verbundene Torfhandel, so wie der Anbau des
abgegrabenen Bodens, welchen sie mit Getreide, Gemüse, Obstbäu-
men und Kartoffeln bepflanzen, oder als Wiesen und Weiden benutzen.
Auch treiben sie Seeschiffahrt, Schiffsbau, Muschelkalkbrennerei; über-
haupt sind sie höchst thätige Leute, und manche von ihnen besitzen
ein ansehnliches Vermögen.
51. Osnabrück.
1. Äarl der Große hatte den sächsischen Heerbann in zwei
Schlachten aufs Haupt geschlagen. Die eine derselben war am
Osninggebirge in der Nähe des jetzigen Detmold, die andere an'
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ben Ufern der Hase, wo noch heute zwei große Feldebenen die
Namen Karlsfeld und Wittekindsfeld führen. 'Wittekind war über-
wunden und hatte das Christenthum angenommen. Da legte Karl
hier auf der Stätte seines Sieges das erste Bisthum an.
Zwischen Osning und Süntel durchströmt die Hase ein geräu-
miges, fruchtbares Thal, durch welches die Hauptstraße vom Nieder-
rhein zur Elbe lief. Hier, wo ein großer Sammelplatz der sächsischen
Stämme war, inmitten der Hünenringe und Opferaltäre gründete
Karl der Große den Dom von Osnabrück, dessen Bau 783 begann.
Die Gegend zwischen Ems und Hunte wurde der neuen Kirche als
Sprengel zugethan.
Der Dom besteht aus dreißig Gewölben, ruht auf achtzehn
starken Pfeilern und enthält drei lange Bogengänge nebst einem
erhabenen Hochaltar. Viele Nebenaltäre und Seitenkapellen sind
durch die Kirche vertheilt; zwei hohe Türme, die in späterer Zeit
entstanden sind, schmücken sie, und über dem Hochaltar erhebt sich
ein kleiner weißer Turm. Im Jahre 1100 brannte der Dom ab,
und der Bischof verlegte seinen Sitz nach dem nahen Iburg; doch
scheint das Mauerwerk unversehrt geblieben zu sein, denn nach sechs
Jahren war der Neubau vollendet. Als im vorigen Jahrhunderte
das Innere des Doms mit schönen Gipsmörtelarbeiten bekleidet
wurde, erkannte man unter dem abgeschlagenen Mörtel noch die
Spuren des Brandes. Die vortrefflichen altdeutschen Steinmetzar-
beiten, welche den Eingang vom Domhofe in das Münster zierten,
waren vom Zahn der Zeit verwittert und fast gänzlich zerstört. In
der neuern Zeit hat man diese Thüreinfassungen durch neue Stein-
bildnerei ersetzt. Von außen wohlerhalten, im Innern reich ge-
schmückt steht nun dieses ehrwürdige alte Gebäude, das bereits in
ein früheres Jahrtausend reicht.
2. Um den Dom herum siedelten sich immer mehr Leute an,
und so entstand die Stadt, welche jetzt über 14000 Einwohner hat.
1803 kam sie sammt dem Fürstenthum an unser Land.
In dem Rathhause ist der Friedenssaal, in welchem mehrfache
Friedensverhandlungen geführt wurden, als der westfälische Friede
geschlossen werden sollte.
In Osnabrück wird ein wichtiger Handel mit Leinwand be-
trieben, den die dortigen Linnenleggen sehr fördern. Auch gibt es
daselbst Fabriken für Wollwaren. In der Nähe sind Papierinühlen,
Kalk- und Steinkohlenbrüche. Die Steinkohlen aus dem Piesberge-
sind wegen ihrer großen Heizkraft sehr berühmt.
52. Die Karlssteine im Hohn.
Rmblühet von brauner Heide oder beschattet von alten Eichen,
oft auch umdüstert von dunkeln Föhren, oder einsam im Moore ge-
legen finden sich Denkmale der grauesten Vorzeit, welche Jahrtausen-
den trotzten. Während die Erdhügel, die unsere Vorfahren ihren
geliebten Todten errichteten, von der Pflugschar des fleißigen Land-
manns im Osnabrückscken geebnet sind, haben sich die gewaltigen
171
Steinblöcke unverrückt erhalten; fern von den Wohnungen der Men-
schen liegen sie auf öder Stätte; nur zuweilen sieht man einen
Schäfer in seinem weißen Mantel, umgeben von seiner Heerde still
sinnend auf riesigen Felssteinen sitzen, oder einen Jäger seinen Weg
zu den Denkmalen der altdeutschen Dorwelt nehmen. Verklungen
sind die Erinnerungen an die Helden, vergessen der Name der Ge-
feierten, deren Andenken unter den Granitblöcken schlummert. Nur
hin und wieder hat sich eine Sage an diese Denkmale geknüpft
So erzählt die Sage von den Steinen im Hohn:
Als Karl eines Tages aus seinem Hoflager zu Osnabrück mit
zahlreichem Iagdgefolge zu den Waldhöhen ritt, welche nördlich die
Hase umgeben, begegnete er Wittekind, und die beiden Heerführer
ritten lange mit einander; der eine freucte sich des noch immer grü-
nenden Eichwaldes, der andre sah mit Stolz auf die Stellen, wo
er sich bereits erhellte und Klösier und Kirchen in die gebrochenen
Lichtungen aufnahm. Karl wendete sich an Wittekind und bat ihn,
das Christenthum anzunehmen. Aber der Sachsenfürst deutete auf
die Runensteine und Opferaltäre, welche die christlichen Anlagen
Sen, und pries seine Götter. Und im Gespräch über ihren
en ritten die beiden Fürsten über die Waldeshöhe von Harste
und kamen in die Waldschlucht vom Hohn. Dort, bei dem großen
Hünenringe, trennte sich ihr Weg. Karl bat noch einmal und berief
sich auf die hohe Wunderkraft seines Glaubens.
„Nun wohl denn!" sagte Wittekind; „wenn dein Glaube so
mächtig ist, ei, so schlage mit der Haselgerte, die du in der Hand
führst, diesen großen Runenstein durch, damit ich glaube!"
Karl besann sich nicht; er drückte dem Roste, das sich vor dem
gewaltigen Granitblocke scheuete, die goldenen Sporen in die Weichen
und hieb voll gläubiger Hoffnung mit der Gerte auf den Stein.
Siehe! der Stein siel auseinander! Der Glaube hatte Wunder
gethan, und bald darauf ließ sich der Sachsenherzog zu Belm, un-
weit Osnabrück, taufen.
53. Karl der Große und die Sachsen.
1. früher, als zu unsern Vätern, war das Evangelium zu
den Franken gekommen; diese hatten schon seit dem Jahre 496
christliche Könige. Sie waren Nachbaren der Sachsen und hatten
von diesen durch Einfälle in ihr Land viel zu leiden. So waren
die Sachsen einst ins Frankenland gefallen und hatten mehr als
30 Kirchen vernichtet. Da bekriegte sie der Frankcnkönig Pipin bis
in die Wesergegenden und gewährte ihnen nur unter der Bedingung
Frieden, daß sie dem Predigen und Taufen der fränkischen Pnester
nicht wehren wollten. Aber was half es? Sie rissen sich wieder
los und machten neue Raubzüge ins fränkische Reich, plünderten,
mordeten und zerstörten die Kirchen. Dabei geschah es, daß sie nach
ihrer Gewohnheit nach jedem Raubzuge eine Anzahl Gefangener
auslosten, welche sie ihrem Götzen Wodan opferten; die übrigen
vertheilten sie als Sklaven unter sich.
3*
172
Die Franken aber hatten um das Jahr 770 einen mächtigen
König bekommen, der hieß Karl und war der Sohn von Pipin.
Er war von großer Kraft des Leibes und der Seele, besonnen und
fest, ernst und fromm. Dem ging die Noth seiner Unterthanen zu
Herzen; auch gedachte er, alle deutschen Völker zu einem Reiche
und einem Glauben zu vereinigen. Daher beschloß er, die heid-
nischen Sachsen zu bekriegen und ihnen zugleich das Evangelium
zu bringen. Dazu gebrauchte er aber über 30 Jahre, denn die
Sachsen wehrten sied hartnäckig. Hatte er ste in einer Gegend
bezwungen, so zogen Edle und Freie aus nach noch unbezwunge-
nen Gegenden ihres Landes; dort zogen kriegslustige Gefährten
ihres Volkes ihnen zu; dann fielen ste in nächster Zeit wieder in
die von Kgrl eroberte Gegend ein, fanden Hülfe bei ihren dort
zurückgebliebenen Landsleuten, und Karl mußte sie aufs neue be-
kämpfen.
2. Der Krieg begann im Jahre 772. Karl zog mit einem
Frankenheere durch Westfalen in das Land der Engern. Die West-
falen unterwarfen stch, und Missionare fingen an, bei ihnen Kirchen
zu bauen. Zwei Jahre später aber, als Karl in Italien war, stan-
den sie wieder auf, streiften ins Frankenland hinein und zerstörten
Kirchen und Altäre. Bald war Karl wieder da, drang über die
Weser bis an die Ocker und zwang West- und Ostfalen zur Unter-
werfung. Sie mußten ihm Treue geloben und Geiseln stellen, d. i.
Kinder angesehener Männer ihm übergeben, die er in fränkische
Klöster sandte, wo sie im Christenthum unterwiesen wurden. Aber
im folgenden Jahr brachen die Sachsen wieder los. Da kam Karl
zum dritten Mal, mit größerem Heere denn zuvor, und brachte ste
zur Unterwerfung. Ihr tapferer Anführer Wittekind flüchtete nach
Dänemark. Viele Sachsen kamen zu Karl gen Paderborn, ließen sich
taufen und gelobten Freiheit und Eigenthum verlieren zu wollen,
wenn ste stch noch einmal vom Christenthum abwenden und Karl
die Treue brechen würden.
Karl glaubte die Sachsen nun für immer besiegt und zog ruhig
in einen Krieg gegen die Mauren in Spanien. Da kehrte Witte-
kind zurück, sammelte seine alten Kampfgenossen, zog wie im Sturm
bis an den Rhein und zerstörte auf seinem Wege Kirchen und Klö-
ster. Karl eilte herbei, schlug die Ost- und Westfalen, drang bis
an die Elbe vor und bauete Festungen, um die Unterworfenen im
Zaume zu halten. Scharen von Sachsen suchten dadurch Rettung
vor dem Tode, daß sie sich taufen ließen. An die Stelle der bis-
herigen Gaurichter, welche von den Sachsen frei gewählt worden
waren, sehte Karl sächsische Edle als Grafen ein, Recht zu sprechen
und Abgaben zu erheben. Da brach der Groll der Sachsen aber-
mals aus. Karl hatte ein Frankenheer gegen die Slaven geschickt,
welche über die Elbe her in sein Land eingebrochen waren; diesem
Heere sollten auf seinen Befehl auch Sachsen sich anschließen. Sie
stellten sich ein, aber am Süntel fielen Ostfalen und Engern über
die Franken her und vernichteten das ganze Heer. Eine Gegend
173
auf dem Süntel nicht weit von der Stadt Münder wird das Dach-
telfeld genannt; sie soll den Namen daher haben, daß dort die
Sachsen den Franken Dachteln, d. i. Ohrfeigen gegeben haben.
Nun aber ward Karl ingrimmig; auch mochte er wohl meinen,
nur ein furchtbares Strafgericht könne die Sachsen einschüchtern.
Er verheerte ihr Land ohne Schonung und zwang sie zur Auslie-
ferung derjenigen, welche seine entschiedensten Widersacher waren.
Diese, 4500 an der Zahl, ließ Karl bei Verden hinrichten. Das
hatten diejenigen schwerlich erwartet, welche sie ihm ausgeliefert
hatten. Aufs höchste erbittert standen sie jetzt aufs neue auf und
lieferten Karl im Jahre 783 zwei blutige Schlachten, die erste bei
Detmold, die zweite im Osnabrückschen an der Hase; in der letzten
wurden sie aber besiegt, und damit waren die Westfalen unterwor-
fen. Im folgenden Jahre machte Karl einen Verheerungszug gegen
die Ostfalen und im darauf folgenden gegen die Engern. Da baten
die Sachsen um Frieden. Sie gelobten ernstliche Unterwerfung und
ließen sich von nun an Predigt, Taufe und Kirchenbau mehr gefallen,
so daß selbst Wittekind sich taufen ließ; das war im Jahre 785.
Seine Bekehrung erzählt die Sage auf folgende Art. Wittckind
schlich sich, um seinen Gegner Karl doch einmal in der Nähe zu
sehen, m Vettlertracht ins königliche Lager. Dort ging er in die
Kirche des Lagers; da sah er den mächtigen König im Gebete aus
seinen Knieen liegen. Als Karl aus der Kirche kam, drängte sich
Wittekind unter den Haufen Bettler, die vor der Kirche standen und
die Hand dem Könige entgegenstreckten, um eine Gabe zu empfan-
gen. Auch Wittekind streckte seine Hand aus; aber der Blick seines
Auges, seine stolze Haltung und ein gekrümmter Finger an der
ausgestreckten Hand machten den König aufmerksam. Du bist nicht
der, der du scheinen willst, sprach Karl zu ihm. Ich bin ein Fürst,
wie du; ich bin der Herzog der Sachsen, antwortete unerschrocken
Wittekind. Da nahm ihn der König mit sich und unterredete sich
lange mit ihm über das Christenthum und die Gebräuche, welche
Wiüekind in der Kirche gesehen hatte, und dieser erklärte sich bereit,
die Taufe zu empfangen. Man sagt, vor seiner Taufe habe &r
ein schwarzes Roß in seinem Wappen geführt und nach der Taufe
dasselbe in ein weißes verwandelt. Daher soll in dem hannover-
schen und dem braunschweigischen Landeswappen das weiße Roß
kommen.
3. Freilich trat auch jetzt noch nicht volle Ruhe ein. Die
Westfalen und Engern zügelte Karl durch fränkische Besatzungen;
die Ostfalen aber griffen abermals zum Schwert, als Karl ihnen die
Verpflichtung auflegte, ihm zu einem Kriege gegen die Avaren jen-
seit der Donau zu folgen. Da versetzte Karl die streitbaren Männer
aus der Gegend von Lüneburg und später auch die aus der Ge-
gend der Niederweser und von der Elbmündung in fränkische Land-
schaften und brachte in die menschenleeren Gegenden wiederum
Franken und Wenden als Anbauer. Dann versprach er den Sachsen,
ihnen ihre alten Gesetze zu lassen und sie ganz seinen Franken als
174
deren leibliche Brüder gleich zu stellen. Das geschah im Jahr 803,
und von der Zeit an fügten sich die Sachsen seiner Herrschaft. Sie
nahmen das Evangelium an, lieferten den Geistlichen den Zehnten,
ließen sich Bischöfe und Grafen geben und folgten dem Könige in den
Krieg.
Karl gründete im Sachsenlande acht Visthümer, nemlich zu
Osnabrück, Minden, Verden, Bremen, Paderborn, Elze, Münster
und Halberstadt. Von diesen Orten aus wurden die neuen Ge-
meinden gepflegt, und aus den Missionsschulen dieser Bisthümer
gingen die Prediger des Evangeliums auch in die noch heidnischen
Gegenden des Sachsenlandes. Durch ganz besonderen Eifer in der
Missionsarbeit zeichneten sich Willehad und Liudger aus, welche
mit unermüdlicher Treue, starkenr Glauben und großer Aufopfe-
rung arbeiteten, und deren Arbeit vom Herrn recht gesegnet wurde.
Willehad wurde zuletzt Bischof von Bremen und Liudger Bischof von
Münster.
54. Die ersten Herzoge der Sachsen.
1. An der Oftgrenze von Sachsen wohnten zu den Zeiten
Karls des Großen Zweige von dem großen Volke der Slaven. Sie
waren Heiden und voll Begier nach dem Lande der Sachsen. Die
hatten an ihnen daher eine gefährliche Nachbarschaft und mußten
manchen harten Kanrpf mit ihnen bestehen. Dazu kamen die heid-
nischen Normannen, tapfere, thatendurstige Männer aus den Ländern
Dänemark, Norwegen und Schweden, unter ihren Seekönigen oft
in die Mündungen der Weser und Elbe. landeten, wo sie Beute
hofften, erschlugen die Männer und führten die Weiber und Kinder
gefangen weg oder ließen sich schweres Lösegeld für dieselben zahlen;
daneben verheerten sie die Kirchen in ihrem Groll gegen das Christen-
thum. So liefen sie einst mit 600 Schiffen in die Elbe ein und ver-
wüsteten den von Ludwig deur Frommen gegründeten Bischofssitz
Hamburg bis auf den Grund.
Nun hatten die Sachsen freilich Grafen seit den Zeiten Karls
des Großen; aber deren Macht war zu gering, als daß sie die
Ihrigen hätten genügend schützen können. Daher setzte der König
Ludwig der Deutsche 852 einen sächsischen Edeln, den Grafen
Ludolf, zum Herzog von Sachsen ein. Der hatte nun für Frieden
zu sorgen, Gericht zu halten, das Heer zu führen und die Güter
zu verwalten, welche der König in Sachsen besaß. Sein Sohn
Bruno, der ihm folgte, soll Braunschweig erbaut haben, wie denn
der Name Braunfchweig bedeutet: Brunos Wik, d. i. Wohnung.
Er fand seinen Tod im Kriege gegen die Normannen, und nun
setzte der König Brunos Bruder Otto zum Herzog ein. Auch er
vertheidigte sein Land mit kräftiger Hand, und als Karls des Gro-
ßen Geschlecht in Deutschland ausgestorben war, sollte er deutscher
König werden. Aber er war hochbetagt und sein Haar gebleicht;
sein Verlangen ging nicht nach größerer Macht. Auf seinen Rath
wählten die Deutschen den Frankenherzog Konrad zum König. Nach
175
Ottos Tode wurde sein Sohn Heinrich Herzog von Sachsen und
sieben Jahre darauf, nach Konrads Tode, zum König von Deutsch-
land gewählt.
2. Dessen Sohn, Kaiser Otto I., hatte den Krieg gegen den
widerspenstigen Herzog Boleslav von Böhmen Hermann Billung
übertragen, einem tapfern Sachsen, der im jetzigen Lüneburgischen
große Güter besaß. Dieser führte den Krieg glücklich zu Ende, und
zur Belohnung dafür ernannte ihn Otto zum Sachsenherzog. Seine
Nachkommen folgten ihm in dieser Würde und hüteten tapfer die
Grenze gegen Normannen und Slaven. Der letzte Billung, Herzog
Magnus, starb 1106. Seine älteste Tochter, Wulfhilde, war mit
dem Baiernherzoge Heinrich dem Schwarzen vermählt, welcher aus
dem in Süddeutschland reichbegüterten edeln Hause der Welfen
stammte. Sie brachte ihm einen Theil der sächsischen Besitzungen
als Heirathsgut zu. Sein Sohn Heinrich der Stolze heirathete die
Tochter des Kaisers Lothar, der auch aus sächsischem Geschlechte
war, und damit fielen zum zweiten Mal sächsische Güter an das
Haus der Welfen, so daß Heinrich der Stolze jetzt den größten Theil
der sächsischen Erbgüter besaß. Dazu belehnte sein Schwiegervater.
Kaiser Lothar, ihn mit dem Herzogsantte in Sachsen, und Heinrich
war nun der mächtigste Fürst Deutschlands geworden.
Aus diesem edeln Geschlechte der Welsen stammt unser Königs-
haus, wie auch das herzogliche Haus von Braunschweig und das
jetzige englische Königshaus.
55. Heinrich der Löwe.
1. Äls Heinrich der Stolze 1139 starb, hinterließ er seinem
kaum 10jährigen Sohne Heinrich außer manchen kleineren Besitzungen
die Herzogthümer Baiern und Sachsen. Aber wie immer die edel-
sten Menschen am meisten Feinde haben, so hatte auch der fürstliche
Knabe eine Menge derselben, die, den unmündigen Knaben verach-
tend, unaufhörlich seine Lande mit Krieg überzogen. Doch in Baiern
fanden sie an seinem Oheim Welf VI. einen furchtlosen Rächer, und
das getreue Sachsenvolk scharte sich um seine Mutter Gertrud und
seine Großmutter, die Kaiserin Richenza, Lothars Gemahlin.
Im 18. Jahre (1147) ergriff der ritterliche Jüngling selbst das
Schwert, vor dem seine Feinde bald zurückwichen. Dann unternahm
er einen Kreuzzug gegen die heidnischen Wenden, die in fortwähren-
den Raub- und Plünderungszügen seine Unterthanen beunruhigten.
Sein ganzes Trachten war fortan darauf gerichtet, diese heidnischen
Feinde zu Christen und damit zu Freunden zu machen. Aber nicht
durch das Schwert, sondern durch das Wort Gottes wollte er sie
bekehren. Einst hatte er ihren Fürsten Niclot zu sich kommen lassen,
und bat ihn, Christ zu werden. Der Wendenfürft aber sagte: Der
Gott im Himmel sei dein Gott, du aber sei unser Gott, eines an-
dern bedürfen wir nicht; bete du ihn an, so wollen wir dich anbeten.
Da ergrimmte der Sachsenherzog und verwies dem Wenden mit
strengen Worten solche Gotteslästerung.
176
Seinem Kaiser war Heinrich mit aller Treue ergeben, und wohl
nie haben zwei Fürsten einander mehr geliebt, als Heinrich und Fried-
rich Barbarossa. Einst, 1155, waren beide mit Heeresmacht nach
Italien gezogen und hatten dort einige aufrührerische Städte gezüch-
tigt. Vor Rom stand ihr Lager. Da versuchten mitten im Frieden
die Römer einen treulosen Überfall. Herzog Heinrich war der erste,
der ihnen mit Schild und Schwert und gefolgt von seinen treuen
Sachsen entgegentrat. Bald waren die fliehenden Römerhaufen in
den Tiberstrom gejagt.. Und nicht nur vereitelte er durch sein ritter-
liches Streiten den Überfall des Heeres, es gelang ihm auch, im
Kampf auf der Tiberbrücke das Leben seines Kaisers zu retten, den
der Streithengst aus dem Sattel geschleudert hatte. Des dankte der
Kaiser dem Herzog, nahm ihm den Helm vom wunden Haupte und
wischte ihm mit seiner Hand das Blut aus dem Antlitze.
Die Feinde des Welfen brüteten aber um so mehr Rache, je-
mehr ihn sein kaiserlicher Freund liebte. Als dieser nun wieder im
Jahre 1166 in Italien war, und man glaubte, er werde nie aus
dem Kriege heimkehren, schlossen der Markgraf Albrecht von Bran-
denburg, der Landgraf Ludwig von Thüringen und mehrere andere
Fürsten, Bischöfe und Erzbischöfe einen Bund, von allen Seiten her
des Welfen Land mit Krieg zu überziehen. Als Heinrich von die-
sem Anschlage seiner Feinde hörte, ließ er ihnen zum Hohn zu
Braunschweig einen ehernen Löwen aufrichten, der noch heute steht,
mm Zeichen, daß er seinen Feinden wie ein Löwe begegnen werde.
Bon der Zeit an nannte man ihn Heinrich den Löwen.
Als so der Herr zu allem Glück gab, was Heinrich that, be-
schloß er durch eine Pilgerfahrt nach dem heiligen Grabe dem ein
Opfer zu bringen, der ihn so wunderbar erhöht und in Gefahren
behütet hatte. 1172 trat er seine Pilgerfahrt an. Überall, wohin
er kam, ehrte man den tapfern Welfen mit köstlichen Geschenken.
Selbst die Muhamedaner suchten seine Freundschaft. So schenkte
ihm ein Sultan in Kleinasien 30 Pferde mit Goldsätteln, nebst
vielen andern kostbaren Geschenken. Ein anderer geleitete ihn mit
500 Reitern durch die Wüste. Vom Kaiser in Konstantinopel brachte
er reiche Gaben an Gold und köstlichen Gewändern heim. Ein
Jahr nach seiner Abreise kehrte er zu großem Jubel seines Sachsen-
volkes zurück.
2. Manches war für den heimgekehrten Fürsten zu richten und
zu schlichten; deshalb konnte er seinen kaiserlichen Freund, als dieser
wiederum die treulosen Italiener mit Waffengewalt zu zwingen ge-
nöthigt war, nicht begleiten. Dem Kaiser aber wollte es ohne den
mächtigen Löwen nicht gelingen. Er reifte deshalb selbst über die
Alpen zu ihm, und bat ihn flehentlich, ihm zu helfen. Der Löwe
war auch bereit, mit Geld und Gut zu helfen; aber selber mit-
ziehen, sagte er, könne er nicht. »Dich hat", erwiderte der Kaiser,
»Gott über alle andern Fürsten durch Reichthum und Ehre erhoben,
also, daß des Kaisers Macht allein auf dir beruht. Darum ist es
billig, daß du mit uns ziehest, den andern zum Beispiele und zum
177
Trost.* Aber Heinrich blieb unerbittlich. Da warf sich der Kaiser
ihm zu Füßen. Alle andern erbleichten; Heinrich beugte sich tief
ergriffen zum Kaiser und hob ihn auf. Da sprach die Kaiserin:
„Stehe auf, Herr, und gedenke dieser Stunde, wie Gott ihrer geden-
ken wird."
Und der Herr hat ihrer gedacht. Der sonst so fromme Heinrich
hatte sich diesmal gegen seinen Kaiser und Freund durch seine Hart-
näckigkeit versündigt, und die Strafe kam bald. 1180 am 13. Januar
ward vom Kaiser und von den Fürsten die Reichsacht über den Löwen
gesprochen. Bis auf wenige Getreue verließen ihn alle Freunde, und
seine Feinde fielen von allen Seiten über sein Land her. So sind Got-
tes Gerichte; Heinrich hatte seine Pflicht gegen den Kaiser verleugnet
und ihn in der Noth verlassen; nun fielen seine Freunde von rhm
selber ab.
Da entschloß er sich, beim Kaiser Gnade zu suchen. Er war
in Stade; von da ritt er durch die Heide gen Lüneburg, wo der
Kaiser war. Dieser begegnete ihm unterwegs, und Heinrich erreichte
so viel von ihm, daß seine Angelegenheit von einem Fürstentage
entschieden werden solle. Dahin kam auch Heinrich; gebeugt, ver-
lassen warf er sich vor dem Kaiser nieder. Dem drang der Kammer
über den gebrochenen Freund an die Seele; weinend hob er Hein-
rich auf, küßte ihn und bat ihn, nicht zu verzagen, sondern sich in
den Spruch des Gerichts zu fügen, denn nur dadurch könnten die
Fürsten zu Milde bewogen werden. Das Gericht aber entschied, er
solle sieben Jahr das Reich verlassen. Ihm blieben nur die Stamm-
güter. Lüneburg und Braunschweig. Mit gebeugtem Herzen mußte
der Löwe versprechen, auf sieben Jahr das Land zu meiden. Er
begab sich zu seinem Schwiegervater, dem Könige von England. Da-
mals hätte er gewiß nicht gedacht, daß seine Nachkommen dort Kronen
tragen würden, wo er jetzt als Verbannter im Unglück aufgenommen
wurde. Aber Gottes Wege sind wunderbar; er erhöhet und ernie-
drigt nach seiner Weisheit. Seinem Schwiegervater gelang es, durch
den Papst den deutschen Kaiser zu bewegen, daß er nach drei Jahren
den Löwen heimries. Da entgalten seine Feinde schwer, was sie an
ihm mißhandelt hatten; noch mehr aber mußten seine eidbrüchigen ♦
ehemaligen Freunde seinen mächtigen Arm fühlen. Ein großer Theil
seiner Besitzungen war freilich vom Kaiser für immer an Heinrichs
Feinde gegeben; doch rettete der graue Löwe für seine Söhne den größ-
ten Theü seines lieben Sachsenlandes, das deren Nachkommen noch
heute besitzen.
3. Seitdem saß Heinrich einsam und kummerschwer auf seiner
Burg zu Braunschweig. Seine Gemahlin war längst gestorben; der
Schmerz über die Trübsale ihres Hauses hatte ihr Herz gebrochen.
Keiner seiner Söhne war um ihn. Da war seine Seele erfaßt von
Sehnsucht nach oben; was ihm vom Leben noch blieb, gehörte dem
Umgänge mit Gott. Er schmückte den von ihm erbauten großen
Dom mtt Bildwerken und kunstreichen Fenstem. Auch sah man ihn
noch vor der Burg zu Gericht sitzen, die Beschwerden seiner Bürger
8**
178
anhören und den Bittenden Almosen reichen. Wenn Sorge oder des
Alters Schwäche den Schlaf von ihm scheuchte, saß er, oft die langen
Winternächte hindurch, am Kamin und ließ sich Sagen oder Erzählun-
gen der Geschichtsschreiber vorlesen.
Seit dcrn Ostertage 1195 nahmen seine Leibeskräfte rasch ab;
er wußte, daß sein Ende nahe, und sah ihm mit Ergebung entgegen.
Am Tage vor Jakobi zündete ein Wetterschlag das Dachgebälk'des
Domes. Als die Flamme an die Kammer des Sterbenden leckte,
blickte der lebensmüde Welfe fest nach oben. Nur eins wünschte
er noch: seinem geliebten Freunde, Bischof Isfried zu Natzeburg, zu
beichten und seinem Sohne Heinrich, dem Pfalzgrafen am Rhein, ins
Auge zu sehen; seine beiden andern Söhne, Otto und Wilhelm, waren
als Bürgen für ihren Oheim, König Richard von England, beim
Kaiser. Nach jenen beiden eilten Boten fort. Am 6. August, einem
Sonntage, verschied er unter Gebet in den Arnren Jsfrieds. Es war
während der vier letzten Tage des Todeskampses keine Klage über-
feine Lippen gekommen. Sein letztes Wolt blieb: Gott sei mir Sün-
der gnädig.
4. Sein Sohn Otto wurde später deutscher Kaiser. Otto starb
kinderlos, und da auch sein Bruder Heinrich keine Söhne hinterließ,
so wurde der Sohn ihres Bruders Wilhelm, Otto, der Erbe aller
welfischen Besitzungen und der Stammhalter des Welsenhauses. Weil
er beim Tode seines Vaters erst neun Jahr alt war, wurde er Otto
das Kind genannt. Seine Länder erhob Kaiser Friedrich II. zu
einem Herzogthum unter dem Namen Braunschweig-Lüneburg. Otto
hinterließ vier Söhne. Die beiden jüngsten wählten den geistlichen
Stand. Die beiden andern, Albrecht und Johann, regierten anfangs
gemeinschaftlich; aber im Jahre 1267 theilten sie die ererbten Länder
durch das Los. Herzog Johann erhielt die Länder Lünebura und
Celle und die Stadt Hannover, und Albrecht bekam die Länder
Braunschweig, Kalenberg, Göttingen, das Land vor dem Harze und
das Eichsfeld; mehrere Theile regierten sie gemeinschaftlich. So
entstanden die braunschweig-lüneburgische und die braunschweig-
- wolfenbüttelsche Linie. Sehr oft gingen nachher noch verschiedene
Theilungen vor. Die braunschweig-wolfenbüttelsche Linie starb 1634
aus. Da bekam der Enkel von Ernst dem Bekenner, August, Wol-
fenbüttel und ward Stifter des herzoglich braunschweigischen Hauses.
(Vergl. Nr. 57, 4.)
56. Die Reformation in Kalenberg nnd Göttingen.
1. Jur Zeit der Reformation tvar Herzog Erich der Ältere
Herr in Kalenberg und Göttingen. Er blieb sein Lebm lang der
römischen Kirche zugethan; aber er glaubte, daß auch seine lutheri-
schen Unterthanen vor Gott würden bestehen können, wenn sie dem
Evangelium in Treue dientest und von ehrbarer Zucht nicht ließen,
und darum blieb er bei seinem Vorsatze, ihnen keine Gewalt in
Sachen des Glaubens anzuthun. Auf dem Reichstage zu Worms
179
hatte Luthers Gottvertrauen und starkes, treues Won einen tiefen
Eindruck auf ihn gemacht. Erich sandte ihm einbecksches Bier in
silberner Kanne in seine Herberge. Verwundert fragte Luther, wel-
cher Fürst seiner also in Gnaden gedenke, und als er hörte, daß
ein Papistischer Herr, der selbst zuvor aus der Kanne getrunken, ihm
die Gabe zugeschickt habe, da trank auch er und sprach: „Wie heute
Herzog Erich meiner gedacht hat, also gedenke seiner der Herr Chri-
stus in seinem letzten Kampfe." Der Herzog gedachte in seinem
letzten Ständlein dieser Worte und begehrte von dem ihn bedienenden
Edelknaben Franz von Cramm, daß er ihn mit evangelischem Troste
erquicken möge. «
Seine Gemahlin war Elisabeth, Tochter des Kurfürsten Joa-
chim I. von Brandenburg. Sie war evangelisch geworden, und
Erich ließ seine herzliebe Ilse, wie er sie nannte, gewähren; denn
er wußte, daß sie um ihres Gewissens willen also that. Wo sie
die Reformation förderte, hinderte Erich sie nicht. So kam es, daß
die evangelische Lehre bald in den Fürftenthümern Eingang fand.
In Göttingen, Münden, Nordheim und andern Städten des Für-
stenthums waren schon ftüh evangelische Prediger; Hannover hatte
schon 1524 eine große Anzahl von Anhängern Luthers.
Elisabeth berief 1540 den Prediger Anton Cowinus nach Mün-
den; er sollte die Reformation sicher und ruhig zum Ziele führen.
Geschäftige Diener meldeten dem Herzog, daß Corvinus angekommen
sei. Er erwiderte: „Weil uns die Frau in unserm Glauben nicht
hindert, so wollen auch wir sie in ihrem Glauben ungehindert und
unbetrübt lassen."
2. Nach seinem Tode, der noch im Jahre 1540 erfolgte, führte
Elisabeth die vormundschaftliche Regierung für ihren zwölfjährigen
Sohn Erich den Jüngern und verfolgte nun mit desto größerer
Festigkeit ihr Ziel. Nachdem 1541 auf dem Landtage zu Pattensen
die Landftünde in die Einführung der Reformation gewilligt hatten,
arbeitete Corvinus auf Befehl Elisabeths eine Kirchenordnung aus
und unternahm dann mit andern Herren eine Kirchenvisitation. Die
Mißbräuche, welche sie vorfanden, stellten sie ab. Auch die Klöster
bekamen von der Fürstin eine neue Ordnung. „Mir ist glaubhaft
berichtet," schrieb sie ihnen, „daß ihr euch in das göttliche und
hochwürdige Wort des Herrn, welches wir seit zwei Jahren rein,
lauter und klar zu predigen befohlen, zu schicken wenig geneigt seid.
Nun ist es unser Amt als einer regierenden Fürstin, Gottes Wort
bei unsern Unterthanen überall zu fordern. Darum haben wir für
nöthig erachtet, weil eure Wohlfahrt und Seligkeit uns kümmert,
eine sonderliche Ordnung für euch stellen zu lassen, die ihr mit Treue
auslegen und beobachten wollet."
Sie selber besuchte die Klöster, um zu sehen, ob darin auch
nach der neuen Ordnung gelebt werde, während Corvinus allen
möglichen Fleiß anwandte, das liebe Wort in Schwung zu bringen,
daß es in Pfarrkirchen und Klöstern gehört und angenommen werden
möchte.
180
Elisabeth war eifrig bemüht, in ihrem Sohne einen treuen
christlichen Fürsten heranzuziehen. Er wurde vorfallen Dingen in
der heiligen Schrift unterrichtet; es schien ein fester Grund zu einem
stillen und frommen Fürstenleben in ihm gelegt. Als sie ihm die
Regierung übergab, schrieb sie eine Unterweisung für ihn nieder,
wie er sich gegen Goft und Menschen als einen ftommen Fürsten
zu beweisen habe. Sie schrieb darin: „Ich begehre und bitte von
dir mit höchstem Fleiß und mütterlicher Treue, du wollest vor allen
Dingen dir Gottes Wort befohlen sein lassen; denn ein wahrer
Gottesdienst besteht darin, daß man des Herrn Wort wisse und thue.
Seinen Willen aber kann man nicht erkennen, ohne daß man sein
Wort gern hört; das muß in allen Sachen unser Lehrmeister sein;
das fasse im Glauben und bringe es ernstlich ins Werk. — Wenn
wir Christen sein wollen, so will sich auch gebüren, daß unsre Liebe
gegen den Nächsten so groß sei, daß wir keinen Bettler unter uns
dulden. Deshalb, mein Sohn, schließ dein Herz den Armen nim-
mer zu; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb, und er hat dich
als einen Schaffner über seine Güter gesetzt. — Es will dir auch
gebüren, in deinem fürstlichen Amte wacker zu sein, damit alle Ge-
richte mit tüchtigen und erfahrenen Leuten bestellt werden und der
Arme sowohl wie der Reiche ein göttlich gleichmäßig Recht habe.
Denn es ist gar ein arm elend Ding, wo kein Recht im Lande ist;
und was die weltlichen Herren in diesem Falle versäumen, wird
Gott mit großem Ernst aus ihren Händen fordern, wett solch Gericht
und Recht nicht ihr, sondern des Herrn ist. — Laß zwischen dir
und Gott den höchsten Bund sein, und begib dich sonst in keine Eini-
gung, denn sie wird selten gehalten; und kämst du hinein, so würde
man von dir wohl Treue fordern, aber gegen dich sie in Vergessenheit
stellen. Wenn du aber mit Gott wohl stehest, so kannst du Teufel
und Menschen trotzen. Ist er deine feste Burg, so werden deine Feinde
weidlich anlaufen."
3. So hatte Erich Gelegenheit genug gehabt, den rechten Weg
kii erkennen, und Mahnung genug, ihn zu gehen; aber er wandelte
ihn nicht. Im Jahre 1546 zog er auf den Reichstag nach Regens-
burg. Vorher noch hatte die treue Mutter mit ihm das heilige
Abendmahl gefeiert, und der Prediger hatte ihn dabei ernstlich er-
mahnt, bei dem Evangelium beständiglich zu verharren. Damals
schwur Erich, alles, was er zwischen Wamms und Busen habe, für
die Wahrheit der evangelischen Lehre dran setzen zu wollen. In Re-
gensburg aber ließ er sich durch papistische Fürsten verführen, seinen
Glauben zu verleugnen.
Nun bewies er sich bald unfreundlich gegen seine evangelischen
Unterthanen; ja im November 1549 ließ er sogar Corvinus und
den Prediger Hoiker zu Pattensen überfallen und nach der Burg
Kalenberg abführen. Die Herzogin Elisabeth schrieb einen ernsten
Mahnbrief an ihren Sohn und bat ihn, die Gefangenen loszugeben.
„Meine nrütterliche Bitte," schrieb sie, „von der ich nicht lassen kann,
bleibt: stehe ab von deinem Vorhaben um deiner Seele Heil, um
181
deiner Ehre und Wohlfahrt willen; bedenke, daß des Herrn Zorn
auf deinem Hause drücken wird, wenn du die Diener der Kirche, die
den Heiland predigten und die Wächter unsrer Seelen waren, die
Haus und Hof verließen, um deinem armen, verführten Volke Gottes
Wort zu verkündigen, in Schmach und Kummer stürzest. In mütter-
licher Treue beschwöre ich dich: jage Christum nicht aus dein Lande,
betrübe den heiligen Geist nicht, damit er nicht von dir lasse und
meine Thränen dir nicht zum ewigen Unheil gereichen." Und in
einem Briefe an Corvinus suchte sie die Gefangenen aufzurichten
mit Trost. „Wir ermahnen euch," schrieb sie, „nach dem Beispiele
Christi getrost und beständig euer Leiden zu tragen und als die
Berufenen dessen auszuharren, für den ihr Verfolgung leidet. Gott
sei es geklagt, daß euch solches von unserm Fleisch und Blut wider-
fahren soll! Ihr aber, wanket nicht, sondern seid beherzt; streitet
ritterlich im Bekenntniß des reinen Glaubens; haltet an im Gebet;
hoffet auf den starken Netter, und seid versichert, daß wir alle christ-
lichen Mittel und Wege für eure Erledigung suchen werden." Der
Brief kam aber nicht m Corvinus Hände; ihr Sohn ließ ihn dem
Boten abnehmen. Auch daß sie sich bei ihm für die Gefangenen
verwandt hatte, war vergeblich. So saß denn Corvinus einsam,
ohne Zuspruch von Freunden.- Nur zuweilen kam der Pfarrer Dede-
kind von Neustadt am Rübenberge, um seinen gefangenen Freund
aufzusuchen und Zwiesprache mit ihm vor dem Fenster zu halten.
Auch an andern Orten verfolgte Erich die evangelischen Prediger.
Den Superintendenten Mörlin vertrieb er aus Göttmgen; die beiden
Prediger von Dransfeld verließen um seiner Drohungen willen die
Stadt. Die beiden gefangenen Prediger auf Kalenberg aber wur-
den bis Ende 1552 im Gefängniß gehalten; dann entließ er sie aus
ernstliches Zureden des evangelischen Markgrafen Albrecht von Bran-
denburg und das Flehen der Mutter. Corvinus langte in den
ersten Tagen des Jahres 1553 krank in Hannover an. Seines Lei-
bes Kraft war durch die lange Haft gebrochen. Drei Monate später
starb er. Prediger trugen die Leiche nach der Kirche von St. Georg
(der Marktkirche). Beim Anschlagen der Glocken fuhr Erich aus
und fragte, was das Geläute bedeute, und als er hörte, daß man
Corvinus begrabe, gingen ihm die Augen über, und er schloß sich
in seine Kammer ein. Ob er der Tage gedachte, da er, ein harm-
loser Knabe, an den Lippen des entschlafenen Lehrers hing, der ihm
das Wort des Lebens sagte? Er hatte dem Verkündiger des gött-
lichen Worts mit dem Lohne der Welt gelohnt, das Wort aus sei-
nem Herzen gerissen, den Muttersegen in Fluch gewandelt.
4. Uber dem Evangelium in den Landen Kalenberg und Göt-
tingen wachte aber der Herr. Um der Unterthanen Beihülfe wider
seine Feinde zu erlangen, versprach Erich 1553 auf einem Landtage in
Hannover, Gottes Wort hinfort ohne Hinderung lehren zu lassen. Zu-
gleich stellte er, da er in die Ferne zu ziehen gedachte, seine Mutter
an die Spitze der Regierung. Nun wurden die vertriebenen Prediger
wieder eingesetzt, und die Kirche befestigte und baute sich immer meyr.
182
Elisabeth starb am 25. Mai 1558 im Frieden Gottes, aber
mit Gram über das wüste Leben ihres Sohnes. Dieser hatte die
treue Mutter tief bekümmert, die fromme Gemahlin verlassen. So
trieb er sich meist, ohne Liebe zur Heimat, in fremden Ländern, in
Spanien, Frankreich, den Niederlanden und Italien umher und
mühte sich in wüstem, rastlosem Treiben ab, um die Stimme im
Innern zu übertäuben, die an Eid und fürstliche Gelübde, an Gott
und Menschen mahnte. So suchte er in der Fremde, was er in der
Heimat verschmähte, bis ihn in Italien der Tod am 5. November
1584 ereilte. Um eitler Lust willen hatte er die verlassen, welche
Gott ihm ans Herz gelegt hatte; nun endete er ohne Trost von
Gott und Menschen in fremden Landen.
57. Ernst der Bekenner.
1. Zu den Glaubenshelden der Reformationszeit gehört auch
Ernst der Bekenner, Herzog von Lüneburg. Sein Vater, Herzog
Heinrich der Mittlere, war kein frommer Mann; dagegen hatte
Ernst eine summte Mutter, Margaretha, die Schwester von Kurfürst
Friedrich dem Weisen. Er war geboren am 27. Junius 1497 in
dem später zum Schulhause umgewandelten Fürstenhofe zu Ülzen.
Unter den Augen seiner Mutter wuchs er in Zucht und ehrbarer
Sitte auf und kam dann, noch ein zarter Knabe, an den Hof seines
Oheims, des Kurfürsten Friedrich. Von hier ging er unter der
Aufsicht Spalatins 1512 auf die Universität zu Wittenberg. Dort
horchte er mit Hingebung auf die Lehre Luthers, und die Worte
dieses Mannes Gottes erfüllten seine ganze Seele. Nach fast sechs-
jährigem Aufenthalte zu Wittenberg ging er auf Befehl seines
Vaters nach Paris; denn man meinte damals, die rechte Bildung
könne nur an dem französischen Hofe erlernt werden. Im Jahre
1520 aber wurde er zurückgerufen, um in Gemeinschaft mit seinem
älteren Bruder Otto die Regierung des Herzogthums Lüneburg zu
übernehmen, da sein Vater sich derselben begeben hatte. Otto trat
im Jahre 1527 von der Negierung ganz zurück.
2. Schon im dritten Jahre seiner Regierung begann Ernst
nun, dem Evangelium im Lüneburgischen eine Heimat zu bereiten.
Bereits um Ostern 1524 bestand eine lutherische Gemeinde zu Celle;
von hier aus breitete sich die reine Lehre bald über die nächste Um-
gegend aus. Die Einwohner von Burgdorf waren ihr schon seit
1526 ergeben. Somit war nächst dem Kurfürsten von Sachsen
Herzog Ernst der erste deutsche Fürst, welcher in den Kirchen seines
Landes die lutherische Lehre predigen ließ. Mit freudigem und ge-
trostem Muthe griff er das Werk an, und ließ nicht eher nach, bis
er das Ziel errungen hatte.
- Da der Kaiser Karl V. den Evangelischen drohte, schlossen
Kurfürst Johann von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen
1526 ein Schutzbündniß mit einander, und der Kurfürst lud auch
die niederdeutschen Fürsten zu diesem Bunde ein. Da zogen noch
desselben Jahres Herzog Ernst und sein achtzehnjähriger Bruder
183
Franz in Gemeinschaft des Herzogs Philipp von Grubenhagen gen
Magdeburg und traten dem Bündniß bei. Im folgenden Jahre
versammelte Ernst die Landstände zu einem Landtage nach Scharne-
beck; dort wurde beschlossen, die evangelische Lehre im Herzogthum
Lüneburg mit allen Kräften zu fördern. Als er dann noch im
Sommer dieses Jahres mit Dr. Luther in Torgau zusammentraf,
verabredete er mit demselben, wie die Kirche des Landes Lüneburg
am besten eingerichtet werden möge. Damals war es, daß auf die
Klage des Herzogs über die überhandnehmende Trunksucht an den
Höfen und unter den Edelleuten Dr. Luther sagte: „Da solltet ihr
Fürsten und Herren redlich dazu thun!" worauf Ernst erwiderte:
Freilich, lieber Doctor, thun wir dazu, sonst wäre sie längst ab-
gekommen.
Nach seiner Rückkehr erließ der Herzog eine Kirchenordnung,
nach welcher es mit der Lehre und dem Gottesdienste gehalten wer-
den sollte. Während ftüher nur selten gepredigt wurde und die
Predigt meist aus Legenden und erfundenen Wundererzählungen
bestand, wurde jetzt allsonntäglich das Evangeliuur gepredigt. Bald
fand auch die lutherische Lehre überall Eingang. Nur etliche Klöster
und der Rath von Lüneburg widerstanden. Ernst besuchte die Klöster
und suchte die Mönche und Nonnen mit freundlichen Belehrungen
und Vorstellungen zu bewegen, den evangelischen Glauben anzu-
nehmen; wo er aber auch dann kein Gehör fand, verfuhr er mit
Nachdruck. So schrieb er den Nonnen im Kloster Ebstorf: „Weil
ich vor Gott und meinem Gewissen nicht verantworten konnte, daß
ihr in der Verhärtung eurer Herzen, andern zürn Ärgerniß, das selig-
machende Wort des Evangeliums hintansetztet, sandte ich euch einen
Prediger und meine gedruckte Vermahnung. Ihr aber habt beide
verworfen. Darum gebiete ich euch ernstlich, das Sacrament nach
der Einsetzung Gottes zu genießen und der Lehre des Predigers
mit Geist und Herz zu folgen, damit ihr nicht spüren möget, daß
Gott und meiner Seele Seligkeit mir zu theuer ist, um eure un-
leidliche Verachtung christliches Verständnisses ferner zu dulden. Also
gebietet es mein fürstliches Amt, und mein Sinn steht nicht dahin,
euch euers Unterhalts zu berauben, sondern in allen ehrbaren und
christlichen Dingen euch gnädig und gewillt zu sein."
3. Mitten in diesen Sorgen und Mühen für die Verbreitung
des Evangeliums mußte Ernst sein Land verlassen, um zum Reichs-
tag gen Augsburg zu ziehen. Dort unterschrieb er das augsburgische
Glaubensbekenntmß, und als der Kaiser drohete, schwankte Emst
keinen Augenblick, ob er seinen Glauben oder die Welt verleugnen
wolle. Darum hieß man den treuen Herrn den Bekenner.
Don Augsburg brachte Ernst einen treuen und gelehrten Mann
mit, der ihm die Kirche ordnen helfen sollte, den Magister Urban
Regius. Er war früher ein Mönch; da hatte ihn das Wort Lu-
thers ergriffen; jetzt hatte Ernst ihn zum Generalsuperintendenten
des lüneburgischen Landes ernannt. Ernst hatte ihn herzlich lieb:
als Regius nach zwei Jahren wieder einen Ruf nach Äugsburg er-
184
hielt, hörte Ernst dies mit tiefer Bewegung, hob seine Finger zu
den Augen und sprach: „Weiß ich doch nicht, ob ich lieber ern
Auge missen will, oder meinen Doctor; denn der Augen hab ich
zwei, aber nur einen Regius." Und dann zu diesem sich wen-
dend: „Lieber Urban, bleibt bei uns. Ihr könnt wohl jemand fin-
den, der euch mehr Geld gibt als ich, aber keinen, der euerm Pre-
digen lieber zuhöre."
Urban Regius half dem Herzog auch die Stadt Lüneburg und
das Michaeliskloster daselbst reformieren. An die dortigen Mönche
schrieb der Herzog: „Wenn wir euch fremd und eurer borgen un-
beladen wären, so ließen wirs fahren und uns wenig anfechten;
wer verdürbe, der verdürbe. Aber uns treibt ein göttlich Amt, ein
väterlich Herz und treue Liebe, euch vor Gefahr und Verderb zu
warnen, wahren und wehren. Wir haben Christum zum Mittler
und Fürsprecher zwischen uns und dem himmlischen Vater; ihr aber
nehmt Amt und Ehre Christo und gebts einem andern. Mit Glau-
ben dringen wir gen Himmel, ihr mit Werken. Auf bloße Barm-
herzigkeit haben wir uns verlassen, ihr auf Verdienst. Einigkeit,
Zucht und Liebe war unser Klosterwesen; euer sieht wenig auf diese
Dinge, sucht nur Ceremonieen und treibt Gesänge ohne Geist und
Frucht. Mit Furcht und Zittem handelten wir das Sacrament; ihr
mit Vermessenheit und Trunkenheit, nicht ohne öffentlich Ärgerniß,
Laster und Schande. Entsetzet ihr euch vor dem Angesicht des Herrn
nicht? Erschrecket ihr nicht vor seinem Gericht, seinem Zorn, seiner
schweren Strafe? Kehret wieder, liebe Kinder, und bessert euer
Wesen im Licht des Heîrn, so lange ihr das Licht haben könnt,
damit euch nichts Ärgeres widerfahre."
Ernst wurde in seiner Thätigkeit oft gestärkt durch die kräftigen
Briefe, welche Di-. Luther an ihn richtete. Es lebte in ihm eme
schaffende Liebe zu Gott und seinem Worte, Eifer im Bestrafen der
Bosheit, Geduld im Ertragen bitterer Kränkungen; keine Mühe war
ihm zu schwer, wenn es den Frieden des Landes galt. Den Muth
zum Arbeiten und Ertragen holte er sich durch Gebet. Regelmäßig
las er in der heiligen Schrift und den Büchern Luthers. Wer ihn
im häuslichen Kreise bei seiner Gemahlin und den Kindern sah,
glaubte sich in eine Kirche versetzt. Jedes in seiner Nähe gesprochene
unsittliche Wort bestrafte er. Gegen Greise bezeigte er sich ehrer-
bietig, gegen Gebrechliche mitleidig, gegen Darbende barmherzig.
Sein treuer geistlicher Rathgeber Urban Regius war 1541 ge-
storben; für dessen Witwe und Kinder trug der Herzog noch freund-
liche Fürsorge in dankbarem Andenken an ihn. Am 11. Januar
1546, also kurz vor dem Tode seines Lehrers und Freundes Luther,
schloß Herzog Ernst das Auge.
4. Ernst der Bekenner ist der Stammvater unsers Königs-
Hauses und des braunschweigischen Herzoashauses. Sein Urenkel
Ernst August wurde nach dem Ableben seiner Brüder Erbe aller
185
Besitzungen seines Vaters Georg. Er erhielt 1692 die Kurwürde.
Seine Gemahlin Sophie, die Tochter des Kurfürsten von der Pfalz,
hatte wegen ihrer Verwandtschaft mit dem englischen Königshause
Aussicht auf den englischen Thron. Ihr Sohn, Kurfürst Georg,
bestieg denselben 1714 als König Georg I.
58. Drangsale unserer Vorfahren um die Zeit des 30jährigen
Krieges.
1. Eange bevor der dreißigjährige Krieg begann, kam eine
Pest über unser Vaterland. Durch sie wurden 1597 in Braunsch-
weig 7000 Einwohner dahin gerafft, eine fast gleich große Zahl in
Hildesheim, gegen 4000 in Hannover, und während sich in dem
kleineren Ülzen die Zahl der Todten auf 800 belief, trug man in
Göttingen in fünf Monaten 2500 Leichen zum Kirchhofe. In Hil-
desheim starben 1609 abermals 2300, im folgenden Jahre in Ver-
den 4000, und als während der Belagerung Göttingens durch Tilly
der giftige Pesthauch über Dransfeld wehete, starben 700 Menschen
daselbst, so daß man einen halben Tag vor der Thür sitzen konnte,
ohne einen Menschen zu sehen. Im März 1626 brach die Krank-
heit in Hannover aus und wüthete ein volles Jahr; kaum der dritte
Theil der Einwohner fristete sein Leben. Ohne Glockenklang und
Schülersang brachte man die Todten aus der Stadt: so elend wurde
sonst kein bettelnder Mann bestattet. In Goslar wurden des-
selben Jahres 3000 Leichen in die Gruft gesenkt. Das war zu einer
Zeit, als die Werkstuben verödeten, der Handel abnahm, zwischen
Brandstätten und auf zerstampften Saaten der Kriegsmann sein La-
nger aufschlug und die Obersten fremder Kriegsscharen statt des ange-
stammten Landesfürsten ihre herrischen Gebots ausschrieben.
2. Wie jämmerlich der Krieg das Land verheert hatte, sieht man
aus der Klage des Herzogs Friedrich Ulrich von Braunschweig-
Wolfenbüttel und Kalenberg-Göttingen. Er schrieb 1625 an den
Kaiser: „Es sind durch Tilly die wehrlosen Leute in ihren Häusern,
auf Wegen, im Walde und im Felde überfallen und mit Weib und
Kind erbärmlich niedergehauen; Säuglinge haben nicht Schonung
gesunden; man hat die Pfarrer erschlagen, Bewohner der Siechen-
häuser ermordet, Frauen die Zunge ausgerissen oder aufgespalten,
Männern härene Stricke um die Köpfe gewunden und mächtig zu-
gezogen, um durch solche Martern das Geständniß des Dersteckens
von Schätzen zu erzwingen. Ämter und Klöster, Städte, Schlösser,
Flecken und Dörfer sind ausgeplündert, die Kirchen geschändet, die
Altargeräthe gestohlen, Taufsteine und Altarbibeln mit Unflat be-
schmutzt, Bibliotheken verbrannt. Ein Theil meines Fürstenthums,
zwölf Meilen in der Länge, sieben Meilen in der Breite, liegt gänzlich
verheert."
Vom Vartholomäustage bis zum Ende des September 1626
durchzogen Dänen, die doch evangelisch waren, das Fürstentum
Lüneburg von Ulzen bis zur Elbe, schnitten das Korn, schlachteten
das Vieh, schrieben Brandschatzungen aus, ließen hinterdrein die
186
Dörfer in Rauch aufgehen und schossen auf die Bauem wie auf
Hunde. Nach ihnen kamen die Kaiserlichen und nahmen, was sie
konnten. Tilly brachte von 1628 bis 1631 in dem Lande zwischen
Deister und Leine mehr als zwei Millionen Thaler auf. Herzog
Christian von Celle, welcher von diesem Kriege sagte, er sei aus Got-
tes gerechtein Zorn über die Sünden der Zeit entsprossen, schätzte schon
am Schlüsse des Jahres 1628 den Schaden, welchen die fremden
Heere ihm zugefügt hatten, auf mehr als sieben Millionen Thaler,
Friedrich Ulrich aber den seinigen schon im Jahre zuvor auf das
Zehnfache dieser Summe. Das Fürstenthum Kalenberg mußte 1634
allein an Kriegssteuer 18000 Thaler zahlen. Noch in dem Jahre vor
dem Friedensschluß erpreßten die Schweden aus den Dörfern des
Amtes Winsen 18000 Thaler. Die Stadt Lüneburg mußte von 1638
an bis zum zweiten Jahre nach dem Friedensschluß eine halbe Million
Thaler an Kriegssteuern zahlen. Als die Schweden 1636 Lüneburg
besetzten, mußten die Bürger 36000 und das Kloster St. Michaelis
14000 Thaler erlegen, um die Plünderung abzuwenden. Die Stadt
Burgdorf mußte 1632 an den kaiserlichen Kriegsobersten Pappenheim
12000 Thaler zahlen, und dennoch war sie vor der Brandfackel nicht
geschützt. Üizen mußte den Schweden 1635, weil es auf Befehl des
Landesherrn ihnen den Einzug verweigerte, mit 21000 Thalern büßen.
Göttingen berechnete schon 1629 den Schaden, der ihm aus dein
Kriege erwachsen war, auf mehr als eine halbe Million. Bürger und
Bauern zogen in Scharen aus dem Fürstenthum weg, weil ihre Häu-
ser eingeäschert, ihre Pflüge zerbrochen, ihre Saaten zerstampft waren,
und gingen nach dem Eichsfelde, urn als Handarbeiter ihr Leben zu
fristen. Goslar hatte von 1632 bis 1634 über 530000 Thaler Kriegs-
kosten ; mehr als 200 Bürger wanderten 1635 aus Angst und Betrüb-
niß ins Elend.
In den braunschweig-lüneburgischen Fürstenthümern waren
über 200 Städte, Flecken und Dörfer abgebrannt. 1671 fanden
sich in den Ämtern Harste noch 202, Neustadt am Rübenberge 191,
Kalenberg 63, Moringen 49, Lauenstein 31 Ackerstellen, welche seit
dem Kriege wüste lagen. Häufig wies der Kriegsoberft, wenn ein
Amt die Schatzung nicht leisten konnte, den Soldaten einzelne Dörfer
zum Ausplündern an; wer dann seine Habe zu retten suchte, wurde
erschlagen, und das ausgeraubte Haus wurde verbrannt. Im Amte
Burgdorf war die Hälfte aller Hauswirte den Hungertod gestorben
oder vonr Feinde erschlagen. Die Bürger von Nordheim waren
1637 auf 150 Köpfe zusammengeschmolzen; über 300 Häuser standen
herrenlos und wurden von den Nachbarn abgebrochen, die ihr Ge-
bälk zur Feuerung benutzten. In Göttingen waren von 818 Häu-
sern 450 abgerissen, eingefallen, verwüstet und verbrannt. Die Zahl
der Tuchmachermeister war von 400 auf 17 gesunken. Einbeck hatte
noch 20 Jahre nach dem Kriege 94 unbewohnte Häuser und 435
wüste Stätten; Uslar hatte 11 Brandstätten, Springe 12, Patten-
sen 15, Rehburg 25, Wunstorf 46
S. Als der Landmann seine Saat vernichtet, sein Bieh geraubt
187
sah, der Hunger sein täglicher Gast wurde, die Kirche, in welcher
er gebetet, verwüstet, der Pfarrer vertrieben oder erschlagen war
und keine Rettung, kein Ende dieses unsäglichen Jammers sich
zeigte, da faßte ihn Verzweiflung. In den Sümpfen des Drömling
sammelten sich die Bewohner der Umgegend von Fallersleben, über-
fielen die Streifscharen der Feinde und jagten ihnen die Beute ab;
in den Wäldern am Harze rotteten sich bewaffnete Bauern und
Bürger der Bergstädte zusammen und schonten keines katholischen
Söldners, der in ihre Hände fiel. Die übermäßigen Drangsale,
unter welchen sie bis aufs Blut abgemergelt und erschöpft waren,
hatten sie hart gemacht. Im Solling führte 1627 Winkel Stoffel
von Lipsberge einen Haufen von 600 Bauern und verlaufenen Knech-
ten an, mit denen er bis an die Thore von Einbeck streifte. Später,
als man Ruhe gehabt hätte, zur Arbeit nach alter Weise zurückzukeh-
ren, fehlte den Männern der Muth dazu und der Jugend, die unter
den Greueln des Krieges herangewachsen war, die Gewöhnung. Vie-
len behagte ein Wegelagerleben besser als Arbeit, oder sie gingen
betteln, oder schlossen sich an das Kriegsvolk. Es mochte das Land
kaum verwilderter sein, als die Herzen seiner Einwohner. Da dachten
viele, die Stunde sei genahet, in welcher der Herr in seinem Zorn die
Welt vernichten werde.
4. Nach so großen Drangsalen war die Freude groß, als der
Friede geschloffen war. Er wurde geschlossen in den beiden west-
fälischen Städten Münster und Osnabrück und heißt deswegen der
westfälische Friede. Am 24. October 1648 abends 9 Uhr war die
Friedensurkunde zu Münster unterzeichnet. Da hörte man den Sang
„Herr Gott, dich loben wir" aufsteigen; es war groß Frohlocken, und
viele weinten vor Freuden. Mit einem Gefolge von Heerpaukern,
Trompetern und Rathsdienern ritt der Stadtschreiber durch die Haupt-
straßen von Münster und trug die Friedensurkunde auf beiden Hän-
den. Als in Osnabrück der Syndicus von der Rathstreppe herab,
die mit Scharlachtüchern belegt war, die Beendigung des Krieges ver-
kündigt hatte, stimmten die Spielleute vom Manenturm herab die
Melodie „Nun lob, mein Seel, den Herren" an, und bewegtes Herzens
fiel die Gemeinde in das Danklied ein.
Paul Gerhard dichtete zu der Zeit das
Gott Lob, es ist erschollen
Das edle Fried-- und Freudenw'ort,
Daß nunmehr ruhen sollen
Die Spieß und Schwerter und ihr
Mord.
Wohlauf, und ninnn nun wieder
Dein Saitenspiel hervor.
Friedensdanklied.
O Deutschland! singe Lieder
2m hohen, vollen Chor,
Erhebe dein Gemüthe,
Und danke Gott und sprich:
Herr, deine Gnad und Güte
Bleibt dennoch ewiglich!
59. Hannover während des siebenjährigen Krieges.
1. Schwere Bedrängnisse kamen über unser Vaterland während
des siebenjährigen Krieges. König Georg II. hatte mit Friedrich II.
183
von Preußen ein Bündniß wider die Franzosen geschloffen, mit denen
England in Krieg lag. Als die Franzosen nun Miene machten, über
unser Land herzufallen, rüstete Georg ein deutsches Heer von 40000
Mann, worunter 180O0 Hannoveraner waren; die übrigen waren
Braunschweiger, Gothaer, Bückeburger und Preußen. Der König,
welcher den Winter von 1756 auf 1757 in Hannover verlebte, musterte
das Heer im Frühlinge und stellte auf den dringenden Wunsch des Kö-
nigs von Preußen seinen zweiten Sohn, den Herzog von Cumberland,
an die Spitze desselben.
Dieser zog, da die Franzosen sich nahten und schon in Münster
standen, sein Heer bei Hameln zusammen. Da geschah am 26. Julius
1757 die Schlacht bei Hastenbeck, in welcher die Franzosen wider ihr
Vermuthen den Sieg davon trugen, den die Hannoveraner schon in
Händen hatten. Cumberland zog nach Norden bis Bremervörde, und
das Kursürstenthum war dem Feinde preisgegeben.
Nun stellte Georg an die Spitze seines Heeres den Herzog
Ferdinand von Braunschweig, einen" frommen Herrn, ruhig und
furchtlos, menschlich gegen Besiegte und voll Sorgfalt für seine
Krieger. Der jagte die'Feinde bald zum Lande hinaus; in kurzer
Zeit hatte er ihrer 140O0 gefangen genommen. Sie wichen rasch nach
Westfalen; aber Ferdinand gönnte ihnen keine Rast. Dort schlug er
sie; 4000 von ihnen sielen, aber er selber hatte 3000 Todte. „Wünscht
mir kein Glück," sprach er mit Thränen in den Augen zu seinen Offi-
cieren, als er am Abend über das Schlachtfeld ritt, „sondern betrach-
tet die mit Leichen bedeckten Felder; es ist das zehnte Mal, daß ich
diesem Spectakel beiwohne, und gebe Gott, daß es das letzte Mal
sein möge."
1758 und 1759 drangen die Franzosen freilich wiederholt in Süd-
hannover ein. Im Frühjahr des letzten Jahres erlitt Ferdinand in
Hessen eine starke Niederlage, wobei er 2000 Mann verlor; dagegen
schlug er die Feinde am 1. August bei Minden gänzlich in die Flucht;
sie verloren 6000 Mann.
Noch mehrere Male brachen die Franzosen und die mit ihnen ver-
bündeten Sachsen ins Hannoversche ein und brandschatzten, bis am
15. Februar 1763 Friede geschlossen wurde.
2. Die Verheerungen, welche Hannover während dieses Krieges
erlitt, Zerrütteten seinen Wohlstand sehr. Pferde und Wagen, mit
denen der Landmann Kriegsfuhren leisten mußte, wurden selten wie-
der zurückgegeben; die Sommerfrüchte wurden zum Futter für die
Pferde der" Feinde gebraucht, wo sie aber verschont blieben, ließ der
Landmann sie oft unabgeerntet stehen, da sie in seiner Scheuer doch
nicht sein Eigenthum waren, und flüchtete lieber mit seiner werth-
vollsten Habe in die Wälder. Die ausgeplünderten Dörfer wurden
niedergebrannt. Im Jahre 1761 wurden 8000 Bauern und Berg-
leute vom Harz gezwungen, die Mauern und Wälle von Duderstadt
abzutragen ; die Bürger mußten sie obenein beköstigen. Mit Schlau-
heit und Schamlosigkeit verübten die französischen Anführer allerlei
Erpressungen. Zu Osnabrück erpreßte einer derselben 100000 Thaler.
189
und im folgenden Monate ein anderer 400000 Thaler. Ostfriesland
mußte eine halbe Million Thaler an Brandschatzung aufbringen, und
Streifrotten von Husaren wurden beauftragt, sie einzutreiben. Dieje
mißhandelten die Leute, drangen in die Kirchen und raubten die
Altargerüche. So wüst und beutegierig hausten die Franzosen auch
an andern Orten unsers Vaterlandes. Erst nach und nach erholte
es sich von den Wunden, die ihm der Krieg geschlagen hatte.
60. Der Ausfall von Menin.
' 1. Im Königreiche Belgien liegt eine Stadt, die heißt Menin.
Dort haben hannoversche Soldaten im Jahr 1794 in dem Kriege
mit den Franzosen gezeigt, was muthige Tapferkeit vermag. Deutsche
und Engländer mit einander verbündet hatten schon ein Jahr lang
den Franzosen kämpfend gegenübergestanden; jetzt sollte ein neuer
Feldzug beginnen.
Damit das Heer der Verbündeten noch einen Rückhalt mehr
habe, wurde beschlossen, die Stadt Menin zu befestigen. Zum
Befehlshaber dieses Platzes wurde der hannoversche Generalmajor
von Hammerstein ernannt; mit 2100 Mann, worunter 1660 Hanno-
veraner und 400 ausgewanderte Franzosen waren, sollte er ihn
halten, so lange er konnte. Am 26. April stand ein französisches
Heer von 14000 Mann vor der Stadt, welches bald auf 21000
Mann anwuchs. Der Feind beschoß die Stadt; in atíeit Gassen
durchkreuzten sich seine Kugeln; aus manchen Häusern schlug die
Lohe empor: alle Stürme wurden aber tapfer zurückgeschlagen.
Abermals ließ der französische Feldherr sein Heer gegen bie Stadt
vorrücken und forderte Hammerstein zur Übergabe auf. „Ich kenne
meine Pflicht und werde mich nicht ergeben," war die Antwort des
muthigen Greises; denn Übergabe schien ihm schimpflich, und dazu
bedachte er, daß es seiner französischen Schar übel ergehen würde,
wenn sie in die Hände ihrer Landsleute siele. Da verdoppelte der
Feind das Beschießen; immer mehr Häuser geriethen in Brand; das
Pulver war verschossen; die letzten Lebensrnittel la^en unter dem
Schutt der eingeäscherten Häuser begraben, und die Soldaten waren
durch den unausgesetzten Dienst bei Tag und Nacht bis auf den
Tod erschöpft. Aber..auf die Vorstellung etlicher gänzlich ermatteter
Officiere, welche zur Übergabe riechen, erwiderte Hammerstein: „Wir
stehen hier für die Ehre Hannovers." Halten konnte er sich jedoch
nicht länger in der Stadt; so beschloß er, das ungeheure Wagestück
auszuführen, an das er schon vorher gedacht hatte: sich durchzuschlagen.
2. In der Nacht vom 29. auf den 30. April hatte Hammerstein
die Officiere in einem durch die Feuersbrunst erhellten Gebäude ver-
sammelt, das von Kugeln durchlöchert war. Dort ertheilte er ihnen
den Befehl zum Durchschlagen, und die todmüden Männer durch-
drang frischer Muth. Die Compagnieen ordneten sich, und als der
General zu ihnen trat und sagte, daß er sich durchschlagen wolle,
jubelten die Krieger laut auf. Beim Austritt aus dem Thore wur-
den sie von einem lebhaften Feuer empfangen. Da rief Hammer-
190
stein seinen Grenadieren zu: „Wenn ihr mit dem Bajonnett eindringt,
so ist der Sieg unser." Bald entstand ein furchtbares Handgemenge,
Mann gegen Mann. Wo die Officiere gefallen waren, folgten die
Soldaten willig deni Befehle eines vortretenden Unterofsiciers. So
brachen sie sich Bahn. Die ausgewanderten Franzosen, welche wohl
wußten, daß der General um ihres Lebens willen das eigne nicht
geschont hatte, waren bis zu Thränen bewegt.
Die kleine Schar wandte sich zunächst nach Brügge, einer großen
Stadt. Sie verschloß den Ermatteten die Thore. Da sagte Hammer-
stein zu den Abgesandten des Rathes: „Ich bitte nicht um Quartier,
ich nehme es, und wehe dem, der sich widersetzt." Nun ließ man
ihn einziehen.
Der General hatte bei seinem Ausfalle eine Besatzung von 200
Mann und von 30 Kanonieren zurückgelassen;, die widerstanden noch
bis zum folgenden Tage, da sahen sie sich zur Übergabe gezwungen.
61. Bedrängnisse durch die Franzosen und Befreiung von ihnen.
1. Zm Jahre 1803 besetzten die Franzosen aus Haß gegen
England unser Vaterland; damit begann für dasselbe eine Zeit
schweres Druckes. Die französische Besatzung von 35000 Mann
mußte von ihm unterhalten werden; die'Pferde des Landmanns
wurden zu Kriegsfuhren verlangt und nicht wieder zurückgegeben,
die Massen aus den Zeughäusern und Festungen genommen und
nach Frankreich geschleppt (allein 500 Kanonen), die Kunstwerke ge-
raubt und nach Paris gebracht. Der Prachtwagen, in welchem der
französische Kaiser Napoleon zur Krönung fuhr, wurde von acht
aus dein hannoverschen Marstalle geraubten weißen Rossen gezogen.
Auf dem Deister wurden Hirsche gefangen und in den Park des
Kaisers geschickt. Der Schaden, den unser Land in den zwei Jah-
ren, da die Franzosen darin hausten, erlitt, wird auf mehr als
26 Millionen Thaler geschätzt.
Da war große Geduld nöthig, um den fremden Druck zu ertra-
gen. Am schmerzlichsten war den treuen Hannoveranern die Trennung
von ihrem alten, angestammten Fürstenhause. Die Franzosen wun-
derten sich über die Anhänglichkeit an das Regentenhaus; an solche
Treue hätten sie nie geglaubt, denn sie selber hatten sie nicht.
2. Als das hannoversche Heer 1803 aufgelöst wurde, gingen
große Scharen nach England; sie wollten in der geknechteten Heimat
nicht in sorgloser Ruhe ohne Ehre altern. König Georg III. bildete
aus ihnen die deutsche Legion. Sie war auf 6000 Mann berechnet;
aber bald waren der Männer so viele, daß sie schon im Herbst 1807
aus 13000 bestand; eine muthige Schar, voll Eifers, wider Frank-
reich zu kämpfen. Sie ging von Schlacht zu Schlacht; an den Küsten
von Schweden und Pommern landete sie; m Portugal, Spanien und
Frankreich führte sie einen schonungslosen Krieg; vor Gibraltar und
in Italien lernte man ihre Tapferkeit kennen. So erstritt sie unter
fremdem Himmel die Freiheit der Heimat. Als sie nach Beendigung
191
des Krieges heimkehrte, hatten mehr als 6000 Mann, darunter 105
Ofsiciere, den Tod vor dem Feinde gefunden.
3. Zu Anfang des Jahres 1806 besetzte auf den Wunsch Na-
poleons Preußen unser Land. Aber auch unter preußischer Regierung
konnten die Hannoveraner die väterliche Milde ihrer Fürsten nicht
vergessen, und als der Geburtstag Georgs III. kam, feierten ihn die
Bürger von Hannover durch Erleuchtung der Straßen.
Als Napoleon auch mit den Preußen gebrochen und sie 1806 in
der Schlacht bei Jena geschlagen hatte, fiel Hannover wieder in seine
Hände. Nun gründete er 1807 ein neues Königreich, Westfalen, wel-
ches er seinem Bruder Hieronymus gab. Zu diesem schlug er die süd-
östlichen Provinzen Hannovers. 1810 that er auch fast alle übrigen
Theile hinzu, trennte aber noch in demselben Jahre Ostfriesland,
Osnabrück, Hoya, Diepholz, Bremen, Verden und das nördliche Lüne-
burg wieder davon ab und schlug diese Landschaften zum französischen
gleiche. Nun kanren alle bedeutenderen Ämter in die Hände von
Franzosen; die öffentlichen Verhandlungen wurden in französischer
Sprache geführt; heimliche Späher wurden bestellt, die jedes Wort
belauschten, und wer ein mißmuthigcs Wort gesprochen hatte, wan-
derte ins Gefängniß; die jungen Leute wurden ausgehoben, um den
Feinden gegen andre Deutsche zu dienen; die Siege der fremden Be-
drücker mußten mit Orgel und Glockenklang gefeiert werden. So sehr
hatte kein anderes deutsches Land gelitten.
Da wurden die Herzen voll tiefer Trauer; aber sie blieben treu
und voll Hoffnung auf Rettung und auf Herstellung des alten Re-
giments. Und eh man es dachte, stieg rin Osten das Morgenroth der
Freiheit auf.
4. Napoleon hatte sich Europa bis auf die nördlichsten und
östlichen Länder unterworfen. Er war ein Mann, sorglos um Wohl
und Wehe seiner Unterthanen, ohne Scheu vor göttlichem Gebot und
menschlichem Rechte, von heißem Ehrgeiz gehetzt.' Jetzt stürmte er nach
Rußland mit einem Heere, wie Europa es noch nicht gesehen hatte.
Aber als menschlicher Widerstand unmöglich schien, zerstob der wilde
Schwarm vor Gottes Gerichte. Napoleons Heere kamen in Rußland
um; nur wenige kehrten zurück; eilends floh der Kaiser. (Vergl.
Nr. 35 im dritten Abschnitt des dritten Theils.)
Das klang den Ohren der lange Zeit Geknechteten wie ein Mär-
chen; viele wollten es erst nicht glauben, um nicht aufs neue bitter
getäuscht zu werden. Bald aber hörte man sichere Kunde. Am 15.
März 1813 ritten die ersten Kosacken in Lauenburg, das damals zu
Hannover gehörte, ein, und am 21. März begrüßte sie Lüneburg schon.
Das war das Zeichen zu allgemeiner Erhebung. Männer und Jüng-
linge griffen zur Wehr; edle Geschlechter opferten dem Vaterland ihre
Kleinodien und,, ihr Geld, und arme Handarbeiter ihren kärglichen
Wochenlohn. Überall drängte sich die rüstige Jugend heran, und
England sandte ihr Waffen und Kleidung.
Die Knechtschaft war gebrochen; aber im Norden standen noch
französische Soldaten und wollten nicht weichen, denn die kleinen
192
Scharen der Hannoveraner, Russen und Engländer unter dem engli-
schen Marschall Graf Wallmoden-Gimborn waren zu schwach, um
etwas ausrichten zu können. Da hörte Wallmoden, daß ein franzö-
sischer General mit 6000 Mann die Elbe überschritten habe, um den
Weg nach Magdeburg offen zu erhalten. Er setzte sogleich mit 5000
Mann Fußvolks und einer Reiterschar über die Elbe. Bei der Göhrde
im Lüneburgischen, wo die Heidhügel lind aufsteigen, traf er auf den
Feind und griff so tapfer an, daß 2000 Franzosen erschlagen und 1500
gefangen wurden. Das war am 16. September.
Der Hauptkampf aber wurde bei Leipzig ausgekämpft. Dort
hatte Napoleon seine Scharen gesammelt, um wieder zu gewinnen,
was verloren war. An den drei Tagen des 14., 16. und 18. October
ward er gänzlich geschlagen und floh zum Rhein. (Vergl. Nr. 36 im
dritten Abschnitt des dritten Theils.)
Er mußte abdanken und wurde auf die Insel Elba verbannt.
Aber im Frühjahr 1815 entwich er von dort und kehrte nach Frank-
reich zurück. Er mußte aufs neue unschädlich gemacht werden. Das
geschah bei Waterloo, wo Hannoveraner tapfer mitgekämpft haben.
5. Schon im Sommer 1813 befanden sich 7000 Mann der
deutschen Legion und unter dem General von Alten 14000 Hanno-
veraner, die'im Solde Englands standen, in den Niederlanden. Zu
ihnen stießen jetzt 9000 hannoversche Landweyrmänner und die braun-
schweigische Schar unter Herzog Friedrich Wilhelm. Mit ihnen ver-
einigten sich das englische Heer unter Wellington und das preußische
unter Blücher.
Am 12. Iunius 1815 verließ Napoleon Paris und ging zu seinem
über 100000 Mann starken Heere, das den Verbündeten gegenüber-
stand. Am 15. Iunius stürmte er gegen sie an; die Kämpfe dieses
und des folgenden Tages brachten keine Entscheidung, aber große
Verluste; auch der tapfere Herzog von Braunschweig siel, und weinend
trugen seine Krieger die geliebte Leiche fort, daß sie dem Feinde nicht
zur'Beute werde. — Da kam der 18. Iunius heran. Rings um den
Ort Waterloo breitet sich eine weite Ebene aus, die hin und wieder
von sanften Anschwellungen durchzogen ist; sie hatte Wellington sich
zum Schlachtfelde ausersehen.
Es war eine kalte, stürmische Nacht, die dem 18. Iunius vorher-
ging; Blitze zuckten hernieder, und der Regen ergoß sich mit Heftigkeit
auf die hohen Ährenfelder und duldete kein Wachtfeuer. Ringsum
Stille; aller Herzen voll Erwartung. Napoleon stieg um acht Uhr zu
Pferde, um zu sehen, wo die Verbündeten standen. Das wußte er
wohl: wenn er heute nicht siegte, so war er verloren, denn schon nahe-
ten die Heere der Russen und Österreicher.
Um 11 Uhr gab Napoleon seinen Soldaten das Zeichen zum An-
griff. ' — Stürmisch griffen die Franzosen an; aber die Verbün-
deten standen fest. Lange schon hatte Wellington auf die Preußen
gewartet; da tönte sechs Uhr nachmittags das Feuer derselben zu
dem englisch-hannoverschen Heere herüber. Immer heftiger tobte
die Schlacht; die Reihen der Verbündeten wurden dünner, näher der
103
Tod, starrer der Muth. Da nahte der Vortrab des preußischen Heeres
und drang im Sturmlauf vor, und Wellington mit seinem ganzen
Heere brach ein. Die Franzosen wurden zurückgeworfen und nahmen
die Flucht; Napoleon wurde gewaltsam in die Flucht mit fortgerissen.
Die Preußen, welche noch wenig geschwächt waren, und die braunsch-
weigischen Husaren, welche den Tod ihres geliebten Herrn rächen woll-
ten, übernahmen die Verfolgung.
Napoleon wurde auf eine einsame kleine afrikanische Insel,
St. Helena, verbannt und dort von den Engländern bewacht. Deutsch-
land war frei geworden von dem fremden Joche. Den hannoverschen
Kriegern von Waterloo wurde später in der Hauptstadt eine Ehren-
säule errichtet.
62. Reiters Morgenlied.
1. Morgenroth,
Leuchtest mir zum fruhen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
Dann must ich mein Leben lassen,
Jch und mancher Kamerad!
3. Ach, wie bald
Schwindet Schönheit und Gestalt!
Thust du stolz mit deinen Wangen,
Die wie Milch und Purpur prangen?
Ach, die Rosen welken all.'
2. Kaum gedacht.
War der Lust ein End gemacht!
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen.
Morgen in das kühle Grab.
4. Und was ist
Aller Menschen Freud und List?
Unter Kummer, unter Sorgen
Sich bemühn vom frühen Morgen
Bis der Tag vorüber ist.
5. Darum still
Füg ich mich, wie Gott es will!
Nun, so will ich wacker streiten.
Und sollt ich den Tod erleiden.
Stirbt ein braver Reitersmann.
63. Soldatenehre.
Ein wackerer Soldat und Kriegsmann soll für seinen löblichen
und gerechten König und Herrn und für dessen Reich und Ruhm
sterben und aushalten bis in den Tod. — Ein wackerer Soldat so!!
sein Vaterland und sein Volk über alles lieben, und gern seinen letzten
Blutstropfen verspritzen, wenn das liebe Vaterland in Gefahr steht.
— Ein wackerer Soldat soll immer Gott vor Augen haben, und
Gottes Gebote tief ins Herz geschrieben tragen, daß auch keine Gewalt
ihn zwingen könne, wider Gottes Gebote zu thun. — Ein wackerer
Soldat soll die Gerechtigkeit und Freiheit über alles lieben und für
diese freudig das Schwert ziehen; denn ein anderer Krieg gefällt
Gott mcht, der einst von jedem Tropfen unschuldig vergossenes Blutes
Rechenschaft fordern wird. — Ein wackerer Soldat soll nicht prunken
mit der äußeren Ehre, noch sich auf Eitelkeit blähen; sondern die
Treue gegen das Vaterland soll seine Ehre sein, und sein stiller Muth
seine höchste Zierde.
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64. Der gute Kamerad.
1. 2ch hatt einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
2. Eine Kugel kam geflogen:
Gilts mir, oder gilt es dir?
Ihn hat sie weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wärs ein Stück von mir.
3. Will mir die Hand noch reichen.
Dieweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben;
Bleib du im ewgen Leben
Mein guter Kamerad!
65. Georg der Dritte.
1. Georg der Dritte war der Sohn von Friedrich Ludwig,
dem Sohne von Georg II.; seine Mutter war Auguste, die Tochter
des Herzogs Friedrich von Gotha. Wer hätte, als der am 4. Iunius
1738 aeborne Prinz die Nothtaufe bekam, erwarten können, daß der-
selbe sechzig Jahre hindurch die Krone von England tragen werde?
Noch war er nicht ganz 11 Jahr alt, da starb sein Vater. Die
Mutter wachte mit der höchsten Treue über ihn und unterwies ihn
selber in der heiligen Schrift. Er wurde ein Mann, wie sein Ahn-
herr Ernst der Bekenner, demüthig vor Gott, treu gegen sein Volk,
von unverdrossener Thätigkeit. Galt es, einen wichtigen Entschluß
zu fassen, so überlegte er lange; hatte er aber einen entscheidenden
Schritt gethan, so blieb er fest. Von Leibe war er groß und stark;
sein Gesicht war einnehmend und offen.
Es war ein heller, frischer Herbftmorgen des Jahres 1760, und
der Prinz war frühmorgens mit wenigen Begleitern zur Jagd aus-
geritten, als ein Bote auf schweißbedecktem Pferde heransprengte und
ihm den Tod des Königs, seines Großvaters, meldete. Der Prinz
hatte den König wohl verlassen. Tief ergriffen fragte er: „Ist es
gewiß, daß mein guter alter Großvater ausgelebt hat? Vielleicht liegt
er nur in Ohnmacht." „Georg II. ist gewißlich todt," antwortete
der Reiter, „und der Prinz von Wales ist'jetzt Georg III., und Gott
segne Ew. Majestät." Damit stieg der Mann vom Pferde und wollte
niederknieen. Das duldete der König nicht; er zog die Jagdkappe ab
und hielt sie vors Gesicht, um die Thränen zu bergen. „Gott sei seiner
Seele gnädig," rief er aus, und fügte, indem er dem Boten seine Börse
reichte, hinzu: „Nimm das, Mann; es ist alles, was ich habe. Ich
bin jetzt König, und damit liegt der letzte frohe Tag meines Lebens
hinter mir."
Ganz London jubelte dem jungen Herrscher entgegen. Das Volk
hatte ihn recht lieb, denn er liebte es auch, und je medriger jemand
stand, desto freundlicher ließ er sich zu ihm herab.
2. Auf den Wunsch seiner Mutter vermählte er sich im folgen-
den Jahre mit Sophie Charlotte, Prinzessin von Meklenburg. Als
bei der Krönung der Königin das Fürstenpaar zum Tische des Herrn
195
ging, fragte der König dm Erzbischof, ob er nicht vor dem Genusse
des heiligen Abendmahls die Krone ablegen solle. Betroffen über
diese unerwartete Frage sagte der Erzbischof, er wisse keine Verordnung,
die das befehle. „So soll sie von nun an gegeben sein," sprach der
König, nahm die Krone vom Haupte und trat in Demuth zürn Altar.
Während damals an vielen Fürstenhöfen eine große Gottlosig-
keit herrschte, führten Georg und seine Gemahlin ein christliches Leben.
Der König duldete kein unsauberes Wort in seiner Nähe. Mit väter-
licher Sorgfalt erzog er seine Kinder. Sobald er sich um 6 Uhr
erhoben und sein Gebet gesprochen hatte, berief er sie zu sich, fragte
sie nach den Aufgaben ihrer Lehrer und ermahnte sie zur Folgsam-
keit und Treue gegen Gott. Täglich prüfte er sie; in Gegenwart der
Königin mußten sie ihre meisten Arbeiten verrichten. An der könig-
lichen Tafel herrschte die größte Mäßigkeit und eine Einfachheit, wie
bei wenigen vornehmen Leuten. An jedem Abend verrichtete der König
in Gemeinschaft mit der Königin seine Andacht, der auch die Hausbe-
dienten beiwohnen mußten. Die Kirche versäumte er ungern. Er
wollte das lautere Wort des Evangeliums ohne menschliche Bei-
mischung hören; jede Schmeichelei war ihm zuwider. Als ihn einst
ein Prediger in der Predigt mit Lob überschüttet hatte, sagte er zu ihm:
„Ich gehe in die Kirche, um meinen Gott preisen zu hören, nicht aber
mich selbst." Unerkannt besuchte er die Hütten der Armen und half der
Noth ab; niemand hörte davon, nur die Freundin seiner Seele, die
stille, fromme Königin, wußte darum. Ein Nachkomme eines früheren
Königshauses von Großbritannien, der Zeit seines Lebens Georgs
Thron zu stürzen suchte und in Nom lebte, bekam in seinem Mangel
bedeutende Geldsummen. Er ahnete nicht, von wem; Georg wars,
der sie ihm sandte.
Seine deutschen Länder sah er nie, hatte sie aber lieb und war
von ihren Zuständen gut unterrichtet.
3. In seinem Alter versank er oft in eine tiefe Schweruruth,
welche seine Geisteskräfte lähmte. In demselben Jahre, in welchem
er die Jubelfeier seiner fünfzigjährigen Regierung beging (1809),'er-
blindete er für immer; aber keine Klage gegen Gott drang aus seinem
Munde, denn in seiner Seele lebte der Friede Gottes und die Gewiß-
heit seiner Gnade, und sein Herz war voll Dankes gegen Gott. Seit
1811 regierte in seinem Namen sein Sohn, der nachmalige König
Georg IV. Wenn die Nacht, welche auf der Seele des Königs lag,
sich erhellte, so wandte sich sein Blick nach oben, und er sprach zu
seinem Gott. Wer ihn geistliche Lieder mit der Harfe begleiten hörte,
oder ihn belauschte, wenn er knieend zu Gott um Segen für sein Volk
betete, fühlte sich von Schmerz und Andacht ergriffen. Er starb am
29. Januar 1820.
66. Fürbitte für König und Vaterland.
Gib unserm König Glücke;
Laß deine Gnadenblicke
Auf den Gesalbten gehn;
Schütz ihn auf seinem Throne;
Laß Scepter, Reich und Krone
In segensvollcm Glanze stehn.
9 *
67. Herl dem Könige!
1. Heil unserm König, Heil!
Dem Landesvater Heil!
Dem König Heil!
Von Sorgen ungetrübt
Von seinem Volk geliebt
Herrsch er noch lang beglückt.
Dem König Heil!
2 Fern sei. o Gott, sein Ziel,
Daß noch des Guten viel
Durch ihn gescheb.
So herrsch er froh und frei!
Ihr Brüder, bleibt ihm treu.
Und singt vereint ihm Heil:
Dem König Heil!
68. Deutsche Treue.
Än uns Deutschen ist keine Tugend so hoch gerühmt, als daß
man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da
haben Ja — Ja, Nein — Nein lassen sein, wie dessen viel Historien
und Bücher Zeugen sind. Noch haben wir ein Fünklein (Gott woll
es uns erhalten!) von derselben alten Tugend, nemlich, daß wir uns
dennoch ein wenig schämen und nicht gern Lügner heißen, nicht dazu
lachen, wie die Welschen und Griechen. Und obwohl die welsche
und griechische Unart einreißt, so ist gleichwohl noch das übrig bei
uns, daß kein ernster, greulicher Scheltwort jemand hören oder reden
kann, denn so er einen „Lügner" schilt oder gescholten wird.
Und mich dünkt, daß kein schädlicher Laster auf Erden sei, denn
Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen
zertrennt. Denn Lügen und Untreu trennt erstlich die Herzen; wenn
die Herzen getrennt sind, so gehen die Hände auch von einander;
wenn aber die Hände von einander sind, was kann man da thun
oder schaffen? Wo Kaufleute einander yicht Glauben halten, da fällt
der Markt zu Grund. Wenn Bürgermeister, Fürst, König die Treue
nicht hält, da muß die Stadt verderben, Land und Leute untergehen.
Darum ist auch im welschen Lande solch schändlich Trennen, Zwie-
tracht, Unglück. Denn wo Treu und Glauben aufhört, da muß das
Regiment mich ein Ende haben.
Dritter Theil.
Erster Abschnitt.
Die Länder und Völker der heiligen Schrift.
I. Überblick über tlas heilige Land.
1. Südöstlich von uns aus, in einer Entfernung von etwa
150 Meilen liegt das heilige Land. Es führt diesen Namen,
weil es die Stätte der Offenbarungen Gottes ist. Sonst heißt
es auch das gelobte, d. i. das dem Abraham und seinem Samen
verheißene Land. Gott hat es in die Mitte der Länder gesetzt,
Hef. 5, 5, zwischen Morgen- und Abendland. Im Norden und
Osten ist es mit der weiten Länderstrecke Asiens verwachsen,
mit seinem Südwestende grenzt es an die Landenge von Suez;
die wie eine Brücke aus Asien nach Afrika hinüb erführt; feine
Westgrenze ist das mittelländische Meer, jene große Wasser-
straße, auf welcher seit den ältesten Zeiten die Völker Asiens,
Europas und Afrikas sich begegnen. Wie eine Festung liegt
es nach drei Seiten hin abgeschlossen: von Norden her wehrt
der Libanon wie eine gewaltige Mauer den Eingang, und im
Osten und Süden ist es durch die unwirtbare Wüste Syriens
und Arabiens umschirmt. Im schönsten Theile des gemäßigten
Erdstrichs, am Meeresstrand und doch hoch und luftig gelegen,
ist es ein gutes und edles Land, das auch jetzt noch nach
anderthalb tausendjähriger Verwahrlosung in einer Fülle von Er-
zeugnissen prangt und durch Gottes Segen und der Menschen
Fleiß bald wieder ein Land werden könnte, worin Milch und
Honig fließt.
2. Es ist wärmer, als unser Deutschland. Am längsten
Sommertage geht die Sonne um fünf, am kürzesten Wintertage
nm sieben Uhr auf. Für die Winterzeit rechnet man die vier
Monate November, December, Januar und Februar; von da
an bis zum October ist es Sommer. Der Winter beginnt mit
dem Eintritt des Frühregens, welcher die drückende Hitze
mildert, das dürre Land mit frischem Grün bekleidet und das
Feld zum Pflügen und Säen tauglich macht. Sein Ausbleiben
198
ist ein Gericht Gottes über das Land. Nach der Saat, die im
November geschieht, kommen kühlere Regenschauer mit Schnee
und Sturm. Die Bäche fangen wieder an zu fließen; überall
aber saugt der ausgetrocknete Boden den reichlichen Regen
schnell ein. Von der Mitte des December an fällt des Nachts
häufig Schnee, welchen die Mittagssonne wieder wegnimmt;
nur auf den Gipfeln der hohen Berge bleibt er manchmal
etliche Tage liegen. Die felsigen Berge werden schlüpfrig, und
in den Gründen bilden sich Sümpfe. Oft ist es schwül, wenn
die Sonne durch die Wolken bricht und kein Wind geht.
Mit dem Anfange des Februar sieht man alles mit Feldblumen
bedeckt; der Mandelbaum blüht; auch der Pfirsich- und der
Aprikosenbaum stehen in voller Blüte ; die Maulbeere und die
Pomeranze reifen; grünende und blühende Wiesen breiten sieh
aus, und die Seewinde führen über die Küste manch plötz-
liches Regenschauer. Im März fällt der Spatregen, kurze hef-
tige Regenschauer mit Gewittern, manchmal mit Hagel. Alle
Flüsse schwellen an, und der Jordan übersteigt sein enges Bett.
Schon fängt die Feige zu reifen an, und die Palme blüht. In
der Ebene ist dies die lieblichste Zeit des Jahres. Noch vor
Ostern wird das Sommerfeld angesäet, und nach Ostern das
Winterfeld geerntet. Der Himmel ist heiter und blau; feiten
ein Wölkchen am fernen Horizont, und zeigt fichs, so weicht
es bald der aufgehenden Sonne; daher ist der Regen eine Aus-
nahme, aber desto reichlicher fällt Thau. Das starke Schmel-
zen des Schnees auf dem Libanon erfrischt seine Abhänge. Um
Pfingsten ist die erste Ernte (Gerste) im ganzen Lande vorüber
und beginnt die zweite, die Weizenernte. Gleich nach der
Ernte ist die Dreschzeit. Das Winterfeld zu einer Sommer-
ernte wieder zu besäen, ist im gelobten Lande nicht möglich,
weil der Boden nach der Ernte von der Hitze ausgetrocknet
und zum Pflügen zu hart ist ; dagegen kann alles Getreide auf
dem Felde ausgedroschen werden. Die Dreschzeit währt von
der Mitte des Juni bis August. Regen und Gewitter gibt es
jetzt gar nicht. Das Grün des Feldes verdorrt; die Quellen
versiegen. Nur diejenigen Bäche, weiche auf den Hohen ent-
springen, haben noch Wasser; aber selten kommt ein Tropfen
davon bis ins Meer: was nicht zur Bewässerung verwandt wird,
versiegt in dem Kiese des Bettes. Die zweite Ernte wird ge-
droschen und eingebracht. Köstliche Fruchtbäume bringen ihre
kühlenden Früchte zur Reife; in den warmen Thälern und
Ebenen die Dattelpalme, die Maulbeerfeige, der Granatbaum ;
auf den Höhen Feigen, Nußbäume und der noch jetzt häufig
gepflegte Olbaum mit seiner hochgeschätzten Frucht. Der
Weinstock, dessen erste Früchte schon im Juni reif sind, liefert
Trauben von zehn bis zwölf Pfund, und Beeren so groß wie
unsre Pflaumen. Der Landmann hat jetzt die fröhliche Arbeit
des Ein sammeln s der Baumfrüchte und der Weinlese. Alle
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Wasservorräthe sind erschöpft; die Hitze aber hat schon bedeu-
tend nachgelassen, und hin und wieder wird der Boden durch
einen Gewitterregen erfrischt. Dies war die Zeit des Laub-
hüttenfestes in Israel.
3. Schwerlich wird ein anderes Land der Erde auf einem
so kleinen Raume so mannigfaltige Erzeugnisse des Morgen-
und Abendlandes, Früchte der gemäßigten und der heißen
Zone hervorbringen, wie das gelobte Land. Dies kommt von
der wunderbaren Mannigfaltigkeit von Hochgebirgen, Hügel-
land, Hochebenen, Tiefthälern, Küstenebenen, Seen, Schluchten,
Kesselthälern und Breiten, wie sie in keinem andern Lande auf
einem so kleinen Raume zu treffen sind.
An die hochragenden Gebirgshäuoter des Libanon und
Hormon lehnt sich ein höchstens 35 Meilen langes und 20 Mei-
len breites Hochland an, das durch das tiefe Jordanthal in
zwei Theile getheilt ist. Der östliche Theil heißt in der heili-
gen Schrift das Land Gilead, der westliche das Land Kanaan;
dieses enthält die drei Landschaften Galiläa, Samaria und Judäa.
2. Das Jordanthal.
1. Äer Jordan durchströmt das heilige Land von Norden nach
Süden. Er entsteht aus mehreren Quellen am Fuße des Hermon
und fließt zunächst in den See Merom. Der Merom ist im Früh-
linge, wenn auf dem Libanon der Schnee thaut, über drei Stunden
lang und zwei Stunden breit. Im Sommer dagegen ist er ganz
ausgetrocknet. Man bestellt dann in ihm das Feld und erntet Reis.
— Am Südende des Sees tritt der Jordan wieder hervor; sein Lauf
geht in rascher Strömung, und sein getrübtes Wasser klärt sich bald
ab. — Einige Stunden südwärts geht er durch eine fruchtbare Ebene
langsam in den See von Genezareth. Dieser freundliche Land-
see, welcher auch das galiläische Meer oder der See von Liberias
genannt wird, ist drei Meilen lang und bis anderthalb Meilen breit.
Er bildet eine der anmuthiasten Gegenden des heiligen Landes. Der
runde Spiegel seiner dunkelblauen Gewässer blmkt klar und glänzend
zwischen den Bergen hervor. Im Norden und Süden begrenzen ihn
fruchtbare Ebenen; im Osten und Westen dagegen umschließen ihn
schöne Hügel und Berge. Aus ihren Schluchten treten rasche Bäche
hervor und ergießen sich in ihn. Zuweilen bringen plötzlich aus diesen
Bergen hervorspringende Zugwinde und Windwirbel das friedliche
Gewässer in wilden Aufruhr, wie damals, als der Herr auf dem
Schifflein schlief, Luk. 8. Der Reichthum des galiläischen Sees an
Fischen ist sehr groß; sein Wasser ist rein und kühl; Grund und Ufer
sind sandig. An seinen Ufern gedeihen Datteln, Citronen, Pome-
ranzen, Trauben, Melonen und Getreide. Dichter Baumwuchs mit
Buschwerk, Oleanderbäume und Saatfelder umkränzen das nord-
westliche Ufer. Aus den Büschen ertönt das Lied der Drossel und
Nachtigal und aus den Felsenhöhlen von Magdala die Stimme der
wilden Taube.
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In diesem gesegneten Seethale drängte sich sonst eine große
Volksmenge im rührigsten Verkehre. Blühende Städte und Flecken,
wie Kapernaum, Chorazin,Be thsaida,Magdala, Tibe-
rias, sammt ihren reizvollen Gärten, Feldern und Obsthainen um-
gürteten den See. Gegen zwölfhundert Fischer fanden hier ihre
Nahrung; drittehalbhundert Fahrzeuge durchkreuzten den Wasser-
spiegel. Hier erlas sich der Herr mehrere seiner Apostel; hier und
im ganzen Umkreise dieser Gestade predigte er von dem Reiche Got-
tes; hier heilte er viele, die von Krankheit und Seuche geplagt waren.
Aber von Kapernaum, die bis in den Himmel erhoben war, von
Chorazin und Bethsaida. in welchen am meisten seiner Thaten ge-
schehen waren und hatten sich doch-nicht gebessert, ist keine Spur
mehr zu finden. Die Wälder und Weingärten sind von den Hügeln
verschwunden; Palmen-, Feigen- und Olivenbäume stehen nur noch
vereinzelt umher. Dicht am See auf einer schmalen Ebene liegt Tibe-
rias. Heut ist die Stadt klein und unansehnlich und liegt halb in
Trümmern.
2. An dem Südende des Sees beginnt das Iordanthal, wel-
ches sich 25 Stunden weit, bis zum todten Meere hin, absenkt. Zu
beiden Seiten wird es von felsigen Kalkgebirgen begleitet. Die hohen
Wände des Thales halten die Sonnenhitze in ihm zusammen und
wehren den kühlenden Westwinden den Zutritt. Das Wasser des Flus-
ses geht in rascher, aber geräuschloser Strömung. Im Sommer ist der
Fluß seicht; aber im Frühling wächst er an Tiefe und reißender
Schnelle. Seine Ufer sind dicht mit Buschwerk besetzt, mit Weiden,
Pappeln, Schlingpflanzen, reiterhohem Schilfrohr. In diesem Dickicht
Hausen Vögel, Hasen, wilde Schweine, Füchse, Luchse, Leoparden, vor-
mals auch" wohl Löwen. An den Jordan heran tritt die berühmte
Ebene von Jericho, einst geschmückt mit Palmenwäldern, Zucker-
rohr, Rosenhecken und Balsamgärten, heute dürr und öde. Daneben
liegt die Wüste von Jericho, ein rauhes Gewirr von Berg und
Thal, öden Felsenklippen mit grausenhaften Abgründen, Klüften und
Höhlen; der Boden ist verbrannt und ausgedörrt, aschfarbig und
braun und völlig nackt. Hierher versetzt uns das Gleichniß vorn barm-
herzigen Samariter. Vielleicht in dieser Wüste wurde der Herr voin
Teufel versucht.
3. Der Jordan findet sein Ende im todten Meere. Es
wird in der heiligen Schrift Salzmeer genannt. Seine Länge be-
trägt 20 Stunden, seine größte Breite 4 bis 5 Stunden. Zwischen
scharfgeformten, pflanzenleeren, hohen und steilen Kalkbergen liegt
der Wasserspiegel in der todtenstillen Tiefe, über 1300 Fuß niedri-
ger als das Mittelmeer. Das Wasser ist klar, bitter und von sei-
nem Salzgehalt so schwer, daß Menschen kaum darin untertauchen
können. Deshalb wird es auch durch leichte Winde kaum gekräu-
selt, wogegen es durch die heftigen Nordstürme so gewaltig bewegt
wird, daß seine schweren Wogen wie mit Schmiedehämmern antue
Schiffe schlagen. Durch die große Hitze zwischen den steilen Bergcn
verdunstet fortwährend so viel Wasser, wie der Jordan und die
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Bäche ihn: zuführen Von dieser starken Verdunstung entstechen
breite Dampfwolken, die sich zumal vor Sonnenaufgang über dem
See erheben und oft unter furchtbaren Gewittern in Regenströmen
wieder herabstürzen. Allerlei Farbenspiele erscheinen in diesem Nebel,
besonders beim Auf- und Untergange von Sonne und Mond: man
sieht scheinbare Inseln im See, der Wellenschlag leuchtet, die Luft
scheint entflammt, das Wasser ist in Nähe und Ferne verschieden
gefärbt. Große Stücke von Asphalt (Erdharz), aus der Tiefe auf-
getaucht, schwimmen zu Zeiten auf dem See umher. An verschie-
denen Theilen des Ufers bemerkt man fußdicke Salzschollen; Sand-
bänke, Inseln und Ufersteine sind mit einer dicken Salzkruste über-
zogen. Am südwestlichen Gestade zieht sich ein drei Stunden langer
Berg von Steinsalz hin; daneben liegt die zwei Meilen breite Ebene
des Salzthales, 2. Sam. 8, 13; auch erwähnt die heilige Schrift
einer in dieser Gegend befindlichen Salzstadt, Jos. 15, 62. In
den Fluten des Sees läßt sich kein Fisch entdecken, und wo nicht,
wie bei Engeddi, Bäche oder Quellen durch die Schluchten Herein-
strömen, da begrünt auch kein Gebüsch noch Gras die Ufer und
Felsen. Todteustille ruht auf dieser weiten Einöde; stiege nicht da
und dort noch eine Rauchsäule auf aus den Niederlassungen der
Araber, die auf den jenseitigen Bergen Holzkohlen oder Soda bren-
nen, hörte man nicht das Glöckchen der Saumthiere, die mit Salz
oder Asphalt beladen am jähen Felsensteg emporklimmen, so stände
man auf dem Klippenrande des todten Meeres mit der Empfindung
tiefster Verlassenheit.
Als Lot diese Gegend zu seinem Aufenthalte erwählte, war sie
wie ein Garten des Herrn, wie Ägyptenland. Sie hieß das Thal
Siddim und hatte fünf Städte. Äber die Sünden ihrer Bewohner
waren sehr schwer; darum kam Gottes Gericht über sie, und die
wildzersplitterten, aschfarbenen Felsen, die in finsterm Ernste jenes
Todtenreich umgürten, bezeugen: Gott hat die Städte Sodom und
Gomorrha zu Asche gemacht, umgekehrt und verdammt, damit ein
Exempel gesetzt den Gottlosen, die hernach kommen würden,
2. Petr. 2, 6.
3. Judäa.
1. Äußer dem Iordanthale hat das heilige Land noch viele
fruchtbare Ebenen. Die größte von ihnen liegt" an den Ufern des
mittelländischen Meeres und zieht sich vom Gebirge Karmel bis zur
Stadt Gaza in einer Länge von 40 Stunden hin. Ihr nördlicher
Theil heißt die Ebene Saron, ihr südlicher die Ebene Sephela.
Beide berühren sich bei der Küstenstadt Joppe. Diese ist der ge-
wöhnliche Landungsort der abendländischen Pilger; freilich nur noch
ein Flecken von finsterem Aussehen, aber ihre Lage ist sehr schön,
wie denn auch ihr Name „Schönheit" bedeutet. Nach Westen ruht
das Auge auf dem weiten Meer, das blau ist wie der weite Himmel;
in der nächsten Umgebung des Orts erheben sich die grünen und
gelben Wipfel unzähliger Orangenhaine, und in der Ferne gen Osten
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m
erblickt man die blaue Gebirgswand von Judäa. Man sieht hier
allerlei Reisende in fremdartigen Trachten.: Beduinen mit dem weiten
Überwürfe von weißer Wolle; Armenier in langen, roth und weiß
gestreiften Röcken; Juden aus allen Theilen der Welt, ausgezeichnet
durch ihre langen Barte; Türken reiten stolz vorüber, und arme
Familien griechischer Pilger sitzen im Winkel einer Straße und spei-
sen aus hölzerner Schüssel den Reis oder die gekochte Gerste. In
den Gärten gewahrt man offene Hütten oder Zelte, unter welchen
die Einwohner die schönsten Wochen der Frühlings- oder Herbstzeit
zubringen.
Eine sandige Straße zwischen Hecken von Cactus führt durch
die Ebene Sarvn zum Gebirg. Diese Ebene weidet aus ihrer unab-
sehbaren Flüche viele Herden, besonders von Schafen. Während
des Frühlings gewährt sie einen entzückenden Anblick. Pa ist sie
ein Teppich von frischem Grün mit der buntesten Blumenpracht.
Tulpen, weiße und rothe Rosen, weiße und gelbe Lilien, Levkojen
und Immergrün sprossen ohne Pflege in diesem von Gottes Hand
gepflanzten Garten. Später im Jahre verwandelt sich die Ebene
m ein großes, reiches Kornfeld. Ist aber die Ernte eingethan, hat
der glühende Sonnenstrahl die Pflanzen versengt, so erblickt man
nur em nacktes, röthliches Erdreich, auf welchem stellenweise ein
Ölbaum mit seinem bleichen Laube oder eine Terebinthe mit ihrem
unbeweglichen Schatten sich erhebt.
Südlich von ihr liegt die Ebene Sephela, auch ein reiches
Fruchtland, das den Israeliten bestimmt war, aber im Besitze der
Philister blieb.
Man steigt aus der Ebene zum Gebirge Juda durch enge,
gewundene Thäler auf und nieder. Anfangs findet sich noch Holz,
Geißblatt und stachliches Strauchwerk, in welchem Füchse ein siche-
res Versteck finden. Je weiter aber, desto ärmer wird die Pflan-
zenwelt, desto steiniger und enger die Straße. Aschgraue Hügel,
zackige, über einander getürmte Felsblöcke, Dornen und Disteln zwi-
schen den Felsspalten — die ganze Gegend eme traurige Öde. So
gelangt man über Emmaus auf die Höhe. Bald taucht eine mit Öl-
bäumen bekränzte Höhe aus: dies ist der Ölberg. Es erscheinen
hohe Türme, mächtige Kuppeln, breite Mauern, und allmählich
sieht man eine ganze Stadt sich ausbreiten. Sie hat nichts von
Größe, Pracht und Erhabenheit, was sie vor andern morgenländi-
schen Städten auszeichnete; und doch ist etwas Unvergleichliches
in ihr: ein feierlicher Ernst, ein schwermuthsvotler Reiz ist über sie
ausgegossen: es ist Jerusalem, die gefeiertste unter allen Städten
der Erde.
2. Jerusalem. Welche Erinnerungen ruft dieser Name in
einem Chriftenherzen hervor, und welch eine herzerschütternde Sprache
reden diese Hügel, diese Steine, Mauern und Türme! Wer möchte
sie zählen, alle die Thränen, welche über diese Stätten geweint sind;
wer vermöchte zu sagen, wie viel Blut geflossen ist über die Steine
dieser Stadt und wie viel Flammenwogen sich über diese Hügel
203
Wälzten? Im alten Testamente von Gott zur Wohnung erwählt,
wo er Altar und Herd hatte, war sie der Mittelpunkt seines Reiches
in Israel; da sang Assaph von ihr Ps. 50, 2: Aus Zion bricht an
der schöne Glanz Gottes; da zogen zu ihr hinauf auf die hohen
Feste die Haufen der feiernden Israeliten und sangen: Wünschet
Jerusalem Glück: es müsse wohl gehen denen, die dich lieben. Es
müsse Friede sein inwendig in deinen Mauern und Glück in deinen
Palästen, Ps. 122, 6. 7. Aber als er, der verheißene Herr, in Jein
Eigenthum und zu seinem Tempel kam, erkannten sie nicht die Zeit
ihrer Heimsuchung und stießen ihn hinaus. Seit Golgathas großen
Geschichten wird sie nun zertreten von den Heiden.
Um Jerusalem her sind Berge, Ps. 125, 2, und die Stadt
selber ist auf vier Hügeln erbauet, von denen der Zion mit der
-Burg Davids und der Morija mit dem Tempel Jehovas die
wichtigsten stnd. Nach drei Seiten hin ist Jerusalem von schroffen
Thälern umschlossen, im Westen vom Gihon-, im Süden vom
Hinnom-, im Osten vom Josaphatthal; nur die Nordseite
entbehrt einer solchen natürlichen Befestigung. Von der Herrlichkeit
des alten Jerusalems, von der Pracht seines'Tempels, seiner Paläste
und Burgen ist keine Spur mehr vorhanden. Selbst die Hügel und
Thäler der Vorzeit sind verschwunden; die Zerstörungswuth hat die
Hügel geebnet, der seit Jahrtausenden sich häufende Schult hat die
Thäler ausgefüllt.
Auf dem Rücken des Hügels Akra erhebt sich die Kirche des
heiligen Grabes. Türkische Wächter lassen sich von den Christen ein
Eintrittsgeld zahlen. Nach dem Eintritte in das Innere steht man
in einem Vorraume, aus welchem man zur Rechten auf achtzehn
Stufen zur Kapelle des Calvarienberges aufsteigt. Dies ist der
Sage nach der Fels von Golgatha. Die Kirche des heiligen Grabes
bildet ein 50 Fuß hohes und 72 Fuß weites Rundgebäude, über
welchem sich eine Bleikuppel wölbt mit einer großen Öffnung in
ihrem Gipfel, durch welche das Tageslicht hineinströmt. Senkrecht
darunter, also mitten in dem Rundgebäude, steht wie eine kleine Kirche
das heilige Grab. Das Innere desselben besteht aus zwei in Krewe-
selsen gehauenen und mit Marmor bekleideten Gemächern. Durch
eine niedere Thür tritt man in das eine, die sogenannte Engelskapelle;
aus dieser gelangt man in die enge Todtenkammer, in der der Leib
des Herrn gelegen haben soll.
Östlich von der Grabeskirche beginnt der Schmerzensweg, eine
steil abschüssige, enge Straße, auf welcher der Heiland sein Kreuz gen
Golgatha trug. ^ Sie führt zur Burg Antonia, in welcher er vor Pi-
latus stand.., Dicht daneben erhebt sich der Tempelberg. Hier findet
man noch Überreste jener gewaltigen Tempelmauern, welche im jüdi-
schen Kriege zerstört wurden, und von denen nach des Herrn Wort kein
Stein auf dem andern geblieben ist.
" Im Osten der Stadt zieht sich das Thal Josaphat hin.
Zwischen der heiligen Stadt und den Höben des Ölberges gestaltet
es zu einer engen, dunkeln Schlucht. Durch das ganze Thal
204
windet sich über Felsgerölle hinweg der Kidron. Zwei steinerne
Brucken führen über denselben nach dem Ölberg. Die oberwärts
gelegene führt nach Gethsemane.
Der Ölberg überragt alle Berge, welche die heilige Stadt
umschließen. Er hat drei Gipfel, von denen der mittlere der höchste ist.
Heute stehen etwa noch fünfzig Ölbäume auf seinem Abhänge. Auf
diesem Berge weilte der Heiland oft und gern. Bom Gipfel desselben
sah er die Stadt an und weinte über sie, Luk. 19, 41; hier, dem Tem-
pel gegenüber, weissagte er den Untergang der Stadt. Am jenseitigen
Abhange des Berges lag das freundliche Bethanien, wo Martha
und Maria wohnten und der Herr den Lazarus erweckte. — Geht
man von hier aus in das Iosaphatthal zurück, so liegt dem Wanderer
zur Linken der Berg des Ärgernisses, wo der greise Salomo
dem Moloch opferte, 1. Kön. 11, 7. 8. An seinem Abhange, dem
Berge Zion gegenüber, liegt die berühmte Quelle Silo ah, in der sich
der Blinde wusch, den der Herr heilte.
Die Südseite Jerusalems bildet das Thal Ben Hinnom oder
Gehenna. Hier haben die Bürger Jerusalems ihre Kindlein auf den
glühenden Armen Molochs geopfert. Zu Christi Zeiten wurde dieses
Thal für unrein gehalten. Die Leichname von gefallenen Thieren und
von Verbrechern wurden hier verbrannt, wozu ein fortwährendes
Feuer unterhalten ward. Die Höhen, welche dieses Thal begleiten,
nennt man den Berg des bösen Rathes und zeigt daselbst ein
Landhaus des Kaiphas, wo sie Rath hielten, wie sie Jesum mit List
griffen und tödteten. Hier liegt auch der Hakeldama, der Blut-
acker, erkauft von dem Verräthersolde des Judas. Daselbst begräbt
man noch heutiges Tages die Pilger.
Die Umgegend von Jerusalem ist reizlos. Ein trauriges Grau
ist die Farbe der Landschaft. Buschwerk fehlt fast ganz; von den
Fruchtbäumen gedeihet nur der Ölbaum in Überfluß. — Die Ge-
gend ist wie erstorben. Selbst Vögel und Schmetterlinge halten
sich hier nicht auf, da sie keine Nahrung finden; nur den Sperling
trifft man an. —
3. Eine Meile südwärts von Jerusalem liegt Bethlehem,
d. i. Brothaus. Auf einem mäßigen Bergrücken steigt die Stadt
stufenförmig empor. An den Abhängen dieses Bergrückens gedeiht
der Weinstock; Mandel-, Öl- und Feigenbäume überkleiden die
Hügel, und zwischen nackten Felsen schimmern goldene Saatfelder
und grüne, reizende Gründe. Auf diesen Gefilden sammelte Ruth die
Ähren für Naemi; hier sann der jüngste Knabe Isais auf seine Psal-
men, und hier ward den frommen Hirten die Geburt des Heilandes
durch den Engel verkündet.
Einige Stunden südlich von Bethlehem liegt Hebron in reiz-
voller Landschaft, die alte Hauptstadt Kanaans, in welcher schon
Abraham und David wohnten. In der Umgegend gedeiht Obst
aller Art in Menge, vor allem die Traube. Hier ist das berühmte
Traubenthal Eskol zu suchen, wo die israelitischen Kundschafter
205
die Riescnrraube schnitten, welche zween auf einem Stecken tragen
mußten. Südwärts von Hebron bildet das Land eine wellenför-
mige, fruchtbare Hochebene, welche nach drei Seiten von Bergen
umgeben ist, gegen Osten aber in die Wüste Juda sich absenkt. —
Hier liegt Jutta, wo Zacharias und Elisabeth wohnten. Zur
Linken breitet sich der Schauplatz der Irrsale Davids aus, als er
den mörderischen Händen Sauls entwich und in der Heide von
Siph, auf den Höhen von Maon und Karmel sein Wesen hatte,
geächtet, verrathen, gejagt, wie ein Rebhuhn auf den Bergen, und
doch von Gott wunderbar geschützt. — Nach Süden, dem Mittag
Juda zu, beginnt die Wüste, da weder Säen noch Ernten ist.
Städte und Flecken, Bäunre und Getreidefelder verschwinden mehr
unb mehr. Die südlichste Stadt, der Grenzort Palästinas, ist
Ber Saba.
4. Samaria.
Samaria war die mittlere Landschaft des Westjordanlandes.
Das Gebirge Ephraim durchzieht dieselbe. Das Land ist frucht-
bar und quellenreich; doch zeigen sich auch wüste Höhen und felsige
Thalwände mit vielen Schluchten und Klüften. In einer der schönsten
Gegenden des Gebirges lag die Hauptstadt, Samaria, die stolze
Krone von Ephraim. Zwei Jahrhunderte lang war sie der Sitz der
Könige von Israel sammt den Greueln ihrer Laster und Götzendienste,
ein Schauplatz der Propheten, bis der Herr das Volk in die Hand der
Assyrer gab (720). Zwei Stunden südwärts lag Sichem oder Si-
char. Der jetzige Name der Stadt ist Nablus. Sie liegt in einem
Thale, dem sich an Schönheit vielleicht kein anderes in ganz Palästina
vergleichen läßt. Unmittelbar aus dem Thale heben sich in steilen
Felswänden die beiden berühmtesten Gipfel des Gebirges Ephraim
empor: der Ebal im Norden, der Garizim im Süden. Dort
wurde die große Versammlung gehalten, von der Iosua 8, 30 bis 35
erzählt ist.
Von der Höhe des Garizim herab erzählte Jotham dem be-
thörten Volk die schöne Fabel von den Bäumen, die den Dornbusch
zu ihrem Könige wählten, Richt. 9, 7 bis 20. In dem Thäte um
Sichem weideten Jakobs Söhne die Herden; hier verkauften sie
Joseph an die Ismaeliten. Hier begruben die Israeliten 400 Jahr
später die Gebeine des Erzvaters Jakob. Nahe bei der Stadt stand
der Iakobsbrunnen, an welchem Christus das Gespräch mit der
Samariterin hatte, Ioh. 4.
5. Galiläa.
1. Ealiläa liegt am südlichen Abhange des Libanon, nördlich
von Samaria. Es ist ein Wasser- und waldreiches, mit Hügel-
wellen durchzogenes Hochland, welches sich nach dem Mittelmeere
hm allmählich in Niederungen absenkt, südlich steiler in die Ebene
Iesreel, am tiefsten und schroffsten aber gegen den See Genezareth
abfällt. Das Land war früher überaus fruchtbar. Nuß-, Palmen-,
Feigen- und Ölbäume wuchsen in Galiläa in höchster Vollkommen-
heit. Trauben und Feigen hatte man zehn Monate des Jahres
hindurch, andere Früchte das ganze Jahr. Die reine Lust, der
glückliche Himmelsstrich, der vortreffliche Boden brachte alles, was
man Pflanzte, zum Gedeihen. Zur Zeit Christi gab es in Galiläa
204 Städte und Flecken. Die berühmte Handelsstraße, auf welcher
zahlreiche Warenzüge aus dem Innern Asiens nach den phönizischen
Seehäfen gingen, der sogenannte Weg des Meeres Matth. 4, 15,
ging mitten durch Galiläa.
2. Vom Libanon abwärts zieht in südlicher Richtung durch das
ganze galilüische Oberland das Gebirge Naphthali, das zuletzt
als nördliche Wand der Ebene Iesreel in den Bergen von Nazareth
jähe sich endet. Nazareth liegt in einem anmuthigen und frucht-
baren Bergkessel verborgen. Von drei Seiten treten die Berge nahe
heran; die vierte Seite bildet ein liebliches Feigen- und Oliventhal.
Nahe bei der Stadt, unter schattigen Ölbäumen entspringt die schöne
Quelle der Jungfrau, aus welcher vielleicht Maria schöpfte. Zwei
Stunden von Nazareth erhebt sich einsam und von allen Bergen
abgesondert der Tabor, ein schöner, oben abgestumpfter Kegel von
Kalkstein. Seine Abhänge sind mit Waldung bedeckt. Der Gipfel
des Tabor erhebt sich 1000 Fuß hoch über die Ebene und hat bei-
nahe eine halbe Stunde im Umfang. Er ist oft umwölkt; die
Morgennebel hängen sich ihm um das Haupt wie eine flockige Krone.
Wenn aber Wind und Sonne sie zerstreut haben, so öffnet sich auf
dieser Höhe die reizendste Aussicht. Hier soll die Verklärung des
Herrn geschehen sein.
3. Vom Tabor steigt man südwärts in die berühmte Ebene
Iesreel oder Esdrelon. Sie erstreckt sich von Osten nach Westen
acht Stunden lang und ist vier Stunden breit. Zur Zeit Christi
war dieser Landstrich mit vielen volkreichen Flecken und Dörfern be-
deckt. Don Jakobs Zeiten her bis heute ist sie der Tummelplatz der
Nomaden und ihrer Herden gewesen. Aber es sind auf diesen blühen-
den Gefilden auch die entscheidendsten Schlachten geschlagen worden.
Hier gewann z. B. Barak gegen die Kananiter den glorreichen Sieg,
welchen Debora besingt, Richt. 4 und 5, und Josia fiel hier im
Kampfe gegen den König von Ägypten.
Im Osten dieser Ebene, dem Tabor gegenüber, erheben sich
die Berge von Gilboa, wo Saul und seine Söhne den Tod fan-
den. Darum sang David in seinem schönen Klageliede 2. Sam. 1:
„Ihr Berge zu Gilboa, es müsse weder thauen noch regnen auf
euch; denn daselbst ist den Helden ihr Schild abgeschlagen. Wie
sind die Helden so gefallen im Streit! Jonathan ist auf deinen Hö-
hen erschlagen." — Am nordwestlichen Abhange des Gilboa lag
hoch und schön die Königsstadt Iesreel. Hier wohnte Ahab und
sein ränkevolles Weib Jsebel in glänzenden Palästen und daneben
Naboth, dessen unschuldiges Blut sie vergossen um seines Weinber-
ges willen. Durch die Ebene gen Westen strömt der Kison, wel-
cher Baraks großen Sieg über die Kananiter sah und die Leichen
207
bet erschlagenen Feinde zum Meere wälzte, Nich. 5, 21. Durch ein
enges Thal drängt er sich aus der Ebene von Jesreel in die von Acko,
wo die Phönizier wohnten.
4. Südlich von dieser Ebene liegt der Karmel. Auslaufend in
ein steiles Vorgebirge, schaut er weit hin über Land und Meer. Diese
Höhe erstieg der Prophet Elias, nachdem er nach jahrelanger Dürre
einen erquickenden Regen verheißen hatte, 1. Kön. 18. Der Karmel ist
ein fruchtbares und schönes Gebirge. Seinen Fuß umkleiden Lorbeer-
und Obstbäume; oben ragen Fichten und Eichen; der ganze Wald
steht voll der schönsten Blumen. Berühmt ist er noch durch 2000
Höhlen, die den Bewohnern zu Herbergen, zu Stallungen, zu Ver-
stecken auf der Flucht und zu Festungen im Vertheidigungskriege
dienten.
6. Das Land jenseit des Jordans.
Äas Land längs der Ostseite des todten Meeres hieß Mo ab.
Im Süden desselben fließt in steilen Sandsteinufern der Bach Sa-
red, im Norden in tiefem Thal der Arnon. Es ist ein von Ber-
gen besetztes Hochland, von tiefen Bächen durchschnitten, fruchtbar
zum Getreide- und Weinbau, aber ohne alle Waldung. Aus dem
Gebiete von Moab tritt man nach Norden zu über den Arnon in
das Land der Ammonit er. Es gleicht dem der Moabiter.
Hier lag der Nebo, von dem aus Moses nach Kanaan schauete;
aber man weiß nicht, welcher von den Bergen diesen Namen einst
geführt hat. — Weiter nach Norden erhebt sich das schöne Gebirge
Gilead mit seinen dichten Wäldern von Eichen und Fichten. In
den Gründen weiden zahlreiche Gazellen. Der braune Bär streicht
durch das Gehölz, lüstern nach dem Fleisch der weidenden Stiere.
Würzhaste Kräuter sprossen in Menge empor. Hier wohnten mit
ihren Herden die Stämme Nuben und Gad. Der Jabot durch-
strömt in einem tiefen Thal die Landschaft und ergießt seine Gewäs-
ser in den Jordan. An den Ufern dieses Flusses hat Jakob gerun-
gen mit dem Herrn, bis die Morgenröthe anbrach. — Auf den Hö-
hen Gileads, nördlich vom Jabot, schloß Jakob einen Bund mit
Laban, 1. Mos. 31.
Nicht weit vom galiläischen Meere lag Gadara, rings umgeben
von kunstreich geschmückten Grabhöhlen. Eine derselben war es, wo
jener Besessene wohnte, den der Heiland gesund machte, Luk. 8. —
Die nördliche Landschaft, das Land Basan, bildete zur Zeit Christi
das Vierfürstenthum des Philippus. Treffliche Weideplätze wechseln
hier mit Waldungen von schönen, hohen Eichen. Das sind die Eichen
von Basan.
7. Der Libanon.
1. Än der nördlichen Grenze des heiligen Landes liegt der
Libanon. Beschwerliche und gefahrvolle Pfade führen in dies Ge-
birge, bald an schauerlichen Abgründen hin, bald durch finstere
Schluchten, an schäumenden Flüssen entlang, deren Ufer mit Zucker-
208
rohr bepflanzt, oder mit Schlingpflanzen bewachsen sind, die sich
öfter über dem Wasser die Hände reichen und ein grünes Laubdach
überhinspannen. Überall stellt sich neben die wilde Größe und Er-
habenheit des Gebirges die Anmuth des menschlichen Fleißes. Von
tief unten bis nahe an den wellenförmigen Scheitel steigen gemauerte
Abstufungen, mit Reben und Maulbeerbäumen bepflanzt, oft hun-
dertfach über einander empor; zwischen den Abhängen und dem
Felsgerölle strömt das Gewässer in tausendfachen Windungen in die
Tiefe; überall hangen an den Felswänden Klöster und Dörfer wie
Schwalbennester über den Schlünden der Thäler, und die Häuser-
reihen stehen nicht selten so dicht über einander an den Klippen, daß
die platten Dächer der unteren den oberen zur Gasse dienen. Mit
solcher Sparsamkeit ist jeder Schrittbreit des kostbaren Bodens benutzt.
Keine Mühseligkeit in seiner Bebauung, keine Gefahr, welche den
Wohnungen durch die reißende Gewalt der die Felsen unterhöhlenden
Bäche droht, kann den Bewohnern des Libanon ihre Heimat verlei-
den; denn nur hier auf diesem unzugänglichen Gebirge gibt es noch
eine Freiheit, wie man sie im übrigen türkischen Reiche und im ganzen
Morgenlande vergebens sucht. Hinter diesen unerschütterlichen Boll-
werken haben die beiden tapfern Völker, die christlichen Maroniten und
die muhamedanischen Drusen, seit Jahrhunderten ihre Unabhängigkeit
siegreich verfochten.
2. Der Libanon, dessen Name weißer Berg bedeutet, besteht aus
weißlichem Kalkstein, in welchem man auch Muscheln und Versteinerun-
gen von Fischen der Vorzeit findet. Sein Gipfel liegt 10000 Fuß
hoch und ist mit der Schneedecke eines ewigen Winters umgeben, wäh-
rend die engen Schluchten seiner unteren Thäler die Glut der Sommer-
sonne gefangen halten. Daher wächst unten Getreide in Überfluß; in
der Mitte gibt es immergrüne Bäume, Gärten mit den schönsten
Früchten Syriens, eine milde Lust und reiche Bewässerung; oben ist
das unbewohnbare Gebiet der Wolken und des Eises. Darum sangen
arabische Dichter von diesem Berge: er trage auf seinem Haupte den
Winter, auf seinen Schultern den Frühling, in seinem Schooße den
Herbst, der Sommer aber schlummere zu seinen Füßen am Mittelmeer.
— Die heiligen Verfasser des alten Testaments haben ihn vielfach ver-
herrlicht, so daß kein anderes Gebirge, nur den Sinai ausgenommen,
an ehrwürdiger Berühmtheit sich nnt ihm messen kann. 5. Mos. 3,25.
Hosea 14, 6—8.
3. Vor allem sind die Cedern dieses Gebirges in der heiligen
Schrift gepriesen, sie, die der Herr gepflanzt hat, ein Bild der Herr-
lichkeit und Stärke. Die lyrischen Schiffe trugen Masten von Ce-
dern; in Kisten von ihrem festen, wohlriechenden Holze führten die
lyrischen Kaufleute ihre Purpurgewänder, ihre seidenen und gestickten
Tücher ans die Märkte, Ezech. 27, 5. 24; Cedern des Libanon er-
bat sich Salomo von Hiram, dem Könige von Tyrus, für den pracht-
vollen Bau des Tempels zu Jerusalem, 1. Kön. 5. Heutzutage sind
noch etwa 400 Stämme da. An dem westlichen Gehänge des Ge-
birges, nahe an dem höchsten Bergrücken, in einem weiten, keffelför-
209
migen Thale, welches von drei Seiten umschlossen ist und nur nach
der vierten bin einem Waldbache sich öffnet, erheben sich diese stolzen,
weitschattigen Nadelbäuine. Da bei betn langsamen Wüchse der Ce-
der die Dicke einer hundertjährigen nur sehr mäßig ist, jo hat man
berechnet, daß sich unter den vorhandenen noch Bäume aus der Zeit
Salomos befinden müssen. Die siärkste Ceder hat 40 Fuß im Um-
fang; die Zweige der größten find auf 110 Fuß ausgebreitet, und ihre
Höhe, nach dem Schatten berechnet, beträgt 90 Fuß.
4. Im Osten des Libanon steigt der Antjlibanon zu gleicher Höhe
empor. Sein höchster, am südlichen Ende des Gebirges gelegener
Gipfel ist der Hermon, von dessen mit ewigem Eis bedeckter Spitze sich
lange, schmale Gletscherstreifen an den Seiten herabziehen. Tabor und
Hermon jauchzen in deinem Namen! ruft ein Psalmsänger Ps. 89, 13,
indem er den schönsten und den höchsten der Berge des gelobten Lan-
des neben einander stellt; und ein Bild des himmlischen Segens ist
der Thau, der von Hermon herabfällt, Ps. 133, 3.
8. Ägypten.
1. Ägypten ist ein langes, schmales Thal, das sich nach Nor-
den zu senkt und erweitert. In Oberägypten ist es nicht über eine
Meile breit, wovon der Nil selbst über eine halbe Stunde einnimmt;
aber schon in der Mitte hat es eine Breite von zwei bis drei Meilen.
An beiden Seiten ist es von Gebirgen eingeschlossen, durch welche
Schluchten zur Wüste und zum rothen Meere gehen. Die Luft ist
trocken und heiß und der Regen sehr selten. Der Boden wird aber
befruchtet durch die Überschwemmung des Nils. Im Juni, wenn der
Schnee auf den Hochgebirgen schmilzt und heftige Regengüsse auf
ihnen eintreten, fängt der Fluß zu steigen an; Ende Septembers steht
rr am höchsten, dann werden die Dämme durchstochen, und durch
Kanäle leitet man das Wasser durch das ganze Land. Es hat von den
Gebirgen einen fetten Schlamm herunter geführt, der das Land frucht-
bar macht. Sobald sich das Wasser verlaufen hat, im October, wird
der schwarze Boden eilig besäet und angebaut, und wenn bei uns der
Winter beginnt, steht der Pflanzenwuchs dort frisch und kräftig, wie
nur in den schönsten Gegenden des gelobten Landes. Jur Februar
und März ist alles ein wogendes Ährenmeer und die Ernte von Gerste,
Weizen und Reis beginnt. Mit der Ernte aber ist auch die Pracht
Ägyptens dahin. Die immer gleich heiß brennende Sonne, die Ein-
förmigkeit des Bodens, ja selbst des Himmels, der morgens und
abends nicht roth und nachmittags nicht blau ist, sondern immer in
einem weißen, blendenden Lichte glänzt, wird dem Europäer zur schwe-
ren Last. ..
2. Ägypten ist in alten Zeiten eins der mächtigsten und präch-
tigsten Weltreiche gewesen. Schon als Abraham es besuchte zur Zeit
einer Theuerung in Kanaan, war es ein Königreich. Nach Ägyp-
ten verkauften Jakobs Söhne ihren Bruder Joseph, durch den nun
die Familie des Erzvaters dorthin kam, woselbst sie zu einem großen
Volke wuchs. Seitdem aber ein neuer König aufkam, der das Volk
21V
Israel Plagte, bis Gottes Gericht ihn ereilte, ist Ägypten in der heiligen
Schrift ein Bild des Weltreiches, das dem Reiche Gottes feind rst.
In den letzten Zeiten des Reiches Juda herrschte Pharao Necho
über Ägypten; dem stellte stch König Josia von Juda entgegen, als
Necho gen Babel zog, und fand seinen Tod. Necho aber wurde
von Nebukadnezar von Babel geschlagen und sein Land wüste gelegt.
Diese Verwüstung beschreibt Hesekiel Kap. 30 und Jeremias Kap. 46.
Das Jesuskind fand eine Bergungsstätte in Ägypten, als Herodes ihm
nach dem Leben trachtete.
Das Land hat alte Baudenkmäler, denen nichts auf Erden an
die Seite zu fetzen ist. Dahin gehören die ungeheuern Tempel und
Paläste. Deren Wände bestehen aus Sandsteinquadern, die Säulen
aus Sandsteinblöcken und die Decke aus gewaltigen Steinplatten;
kein Balken, kein Nagel, keine Klammer; Stein ist auf Stein gehäuft.
An den Wänden steht in Bildern und Figuren die Geschichte des alten
Ägyptens: seine Schlachten, Siege und Könige. An andern Stellen
stehen Obelisken, d. i. Spitzsänlen, aus einem Stein gehauen, bis
80 Fuß hoch und mit der Geheimschrift der Ägypter (Hieroglyphen)
beschrieben; ferner gewaltige Säulengänge, 40 bis 60 Fuß hoch, eine
einzige Säule oft so breit, daß an hundert Menschen auf dem Knaufe
Platz hätten. In Unterägyptcn befinden sich die Pyramiden, deren
höchste 460 Fuß hoch ist; an einer von ihnen bauten 100000 Menschen
vierzig Jahr. Da die alten Ägypter glaubten, die Seele bleibe nach
dem Tode so lange bei dem Leibe, als er noch nicht verwest sei, so bal-
samierten sie ihre Todten ein und brachten sie dann in die weiten
Todtenkammern, welche sie in die Felsen hinein gehauen hatten.
Auf die Ausschmückung dieser Todtenkammern verwandten sie viel
mehr Pracht, als auf ihre Wohnungen. Da sieht man die Mumien
reihenweise neben und über einander geschichtet, wie sie vor 4000
Jahren hineingelegt wurden, sorgfältig mit Leinwand und Bändern
umwickelt.
3. Kein Volk der alten Zeit hat mehr die Herrlichkeit des un-
vergänglichen Gottes verwandelt in Bilder der vergänglichen Men-
schen und der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Thiere;
allerlei nützlichen und schädlichen Thieren, sammt dem Könige und
dem Nil wurden Opfer gebracht. Früh aber schon kam das Evan-
gelium nach Ägypten; in Alexandria soll der Evangelist Marcus
es gepredigt haben, und von hier.verbreitete es sich unter den Kop-
ten, den Nachkommen der alten Ägypter. Etliche Jahrhunderte be-
standen die Christengemeinden; da kamen im siebten Jahrhundert
Muhameds Anhänger und vernichteten dieselben. Endlich bemäch-
tigten die Türken sich des Landes. Sie besitzen es noch jetzt und
lassen es durch einen Statthalter regieren. So wird das arme Land
ausgesogen, und es ist zum Erbarmen anzusehen, wie es an böse
Leute verkauft und durch Fremde verwüstet ist, Hes. 30, 12. Jetzt
gibt es noch an 30000 christliche Familien, deren Christenthum frei-
lich arg entstellt ist. Sie sind wie Sklaven geachtet, und ihr Pa-
triarch, der zu Kairo wohnt, kann es nicht hindern, daß Armuth,
211
Druck und Verführung immer neuen Abfall zum muhamedanischen
Afterglauben zuwege bringen. Missionare aus der Brüdergemeinde
suchten das christliche Leben der Kopten wieder zu beleben, und auch
jetzt befinden sich in Kairo mehrere Missionare. Sie müssen aber sehr
vorsichtig sein und haben nur wenig Erfolg.
9. Arabien.
1. Ärabien ist eine große Hochebene, an der Küste meist von
Gebirgen umgeben. Das Innere ist zum Theil eine Wüste, sandig,
heiß und einförmig, ohne Regen und Flüsse, ohne Baunl und Gras;
nur wo es von Bergreihen durchzogen ist, finden sich weidereiche Hoch-
gründe. Anders ist es in den Küstengegenden, besonders im Süd-
westen und Westen; da ist Bewässerung, und Gewürze, besonders
Weihrauch und Myrrhen, Datteln, Balsam, Zuckerrohr und Kaffee, der
hier sein Vaterland hat, gedeihen.
Eine Plage des Landes ist der Samum, d. i. Gift, ein heißer
Wind, der in kurz abgesetzten Stößen zuwehen pflegt und Menschen
und Thiere erstickt, wenn nicht schnell Vorsicht gebraucht wird. Man
sieht sein Kommen an der Luft; die (sonne verliert ihren Glanz und
erscheint dunkelroth oder violett, der Himmel sieht graulich oder gelb-
lich aus. Die Araber pflegen sich zum Schutz gegen ihn auf Reisen
und besonders zum Schlafe den Mund oder das ganze Gesicht zu
verhüllen.
Häufig zeigt sich in der heißen Wüste die Luftspiegelung. Sie
besteht darin, daß im Glanz der Mengen- und Abendsonne die täu-
schendsten Bilder von grünen Landschaften mit Flüssen, Seen und
Baumgruppen sich spiegeln, welche den Wanderer irre führen und aufs
schmerzlichste täuschen.
2. Die Araber stammen von Sem ab. Sie theilen sich in
Städte- und Wüstenbewohner; die letzten werden Beduinen, d. i.
Kinder der Wüste genannt und erkennen Iftnael als ihren Stamm-
vater an. Wer in der Wüste leben will, muß wandern; sie woh-
nen daher in Zelten von Kameelshaaren; ein Kreis von Zelten
bildet ein Dorf, in dessen Mitte des Nachts die Herde lagert; Hunde
sind Wächter des Dorfes. ..Jeder Stamm wählt sich seinen Anfüh-
rer, welcher Scheck, d. i. Ältester heißt. Ihr Reichthum besteht in
Herden aus Kameelen, Schafen und Ziegen. Gastfreundschaft und
Muth sind löbliche Eigenschaften, die sie besitzen; mit Stolz blicken
sie auf die Städtebewohner. Den Reisenden plündern sie gern aus
und beziehen mit Wohlgefallen auf sich das Wort, welches Gott
von ihrem Stammvater sagte: Er wird ein wilder Mensch sein;
seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn.
In weiße Mäntel gehüllt durchschweifen sie auf ihren schnellen
Rossen die Wüste, feurig, wie die Luft und der Boden, auf dem
sie leben; abends sitzen sie unter dem klaren Himmel mit seinen
hell flammenden Sternen vor den Zelten und erzählen. So wars
vor alters, so ifts heute; der Boden ist derselbe geblieben und sein
Bewohner auch.
212
3. Arabien ist die Heimat Muhameds, des falschen Pro-
pheten. Er hatte als Kaufmann viele Reisen gemacht. Nun zog er
sich in die Einsamkeit einer Höhle zurück und trat dann mit dem
Vorgeben auf, der Engel Gabriel, der fleißig zu ihm komme, habe
ihn für den Gesandten Gottes erklärt. Alsbald kam er nach Mecka,
wo er früher gewohnt hatte, und sagte zu den Seinigen: Es ist
nur ein Gott, und Muhamed ist sein Prophet. Moses und Chri-
stus sind auch Propheten gewesen, aber ich bin der größte. Um
selig zu werden, braucht ihr nichts zu glauben, als nur dies eine.
Doch müßt ihr dabei zu bestimmten Zeiten beten, müßt fleißig Al-
mosen geben, auch fasten und euch oft waschen; solche gute Werke
sind Gott angenehm und bringen in den Himmel. Das war frei-
lich ein leichter Weg zum Himmel; darum wuchs die Zahl seiner
Anhänger bald. Sie glaubten ihm, wenn er vorgab, er reite des.
Nachts auf einem weißen Pferde in den Himmel, um mit Gott zu
reden, oder wenn er sagte, eine Taube die ihm Erbsen aus dem
Ohre fraß, bringe ihm Botschaft aus dem Hirnmel. Die Wahrheit
aber ist, daß er aus der christlichen und jüdischen Lehre nahm, was
ihm gefiel, es verdrehete rurd damit zusammen brauete, was seine
Willkür und seines Fleisches Gelüst ihm eingab. Seine Lehre ist
in ein Buch gesammelt, welches der Koran heißt. — Widersacher
bewirkten, daß er im Jahre 622 von Mecka fliehen mußte; von
diesem Jahre an zählen seine Anhänger die Jahre. Er ging nach
Medina, mitternachtwärts von Mecka. Von hier zog er mit sei-
nem Haufen nach Mecka und eroberte es. Von nun an breitete er
seine Lehre mit Feuer und Schwert aus. Die Seinigen waren
allezeit unverzagt, denn er hatte sie glauben gelehrt, der Mensch
könne dem, was das Schicksal über ihn verhängt habe, nicht ent-
gehen; für den Glauben aber streiten und die Feinde tobten, sei
der Weg zu den höchsten Freuden des Himmels: wer im Kampfe
für Muhameds Lehre falle, gehe ins Paradies, wo er unter schatti-
gen Bäumen von Jungfrauen bedient werde, und am jüngsten
Tage werden seine Wunden wie Bisam duften und wie Leuchtkäfer
glanzen; in einem großen, schönen Zelte werde er wohnen, und
dreihundert Speisen zugleich werden in goldenen Schüsseln vor ihm
stehen. Solche Gedanken machten den Arabern Muth. — Muha-
meds Nachfolger nannten sich Kalifen (Statthalter des Propheten)
und unterwarfen sich schnell einen großen Theil der Erde. Bald
waren die christlichen Landschaften Asiens und Afrikas von ihnen
erobert; werseinen Glauben nicht verleugnen wollte, wurde erwürgt.
Dann kamen sie von Afrika nach Spanien und Süditalien und dach-
ten überall den Christennamen auszurotten. Da gab Gott einem
tapfern deutschen Helden, Karl Martell, Sieg wider sie; er schlug sie
732 in einer großen Schlacht bei Tours in Frankreich. Heutzutage
sind sie ohnmächtig.
10. Das Kamee!.
Äie Heimat des Kameels ist Arabien, von wo es sich über
andere Länder des Morgenlandes und über Nordafrika verbreitet hat.
Aus seinen Haaren webt der Araber Kleider und Zelttücher; er ge-
braucht cs zum Reiten und Lasttragen und genießt seine Milch und
sein Fleisch.
Die Gestalt des Kameels ist nicht schön. Der dünne Kopf ähnelt
dem Schafskopfe; der Hals ist lang; die Beine sind dünn und lang,
und auf dem Rücken hat es einen Höcker. Die Farbe des Haares ist
schmutziggelb. Der Gang des Thieres ist schwerfällig; es bewegt die
Füße der einen Seite immer zugleich vorwärts.
Der Araber nennt es das Schiff der Wüste, und zur Wande-
rung in der Wüste ist es unentbehrlich. Da wird es mit Wasser-
schläuchen, Reis, Datteln, Hühnern, Zucker, Kaffee, Salz, auch mit
Töpfen, Tellern und Löffeln, mit Zeltstangen und Zeltdecken beladen
und trägt soviel, wie zwei Maulthiere. ' So zieht es mit seinem
Führer durch die Wüste, oft in langer Reihe. Alles im Bau des
Kameels ist auf die Wüste berechnet. An der Brust hat es eine
große Schwiele, vier kleinere an den Vorder- und zwei an den
Hinterfüßen; sie dienen ihm beim Aufstehen und Niederlegen zum
Ausstemmen. Solltees stehend beladen werden, so müßte man eine
kleine Leiter ansetzen, da es sieben Fuß hoch wird. Unter den Fuß-
sohlen befindet sich ein mit dicker Haut überzogener Fleischballen,
der wie ein Kissen den beschwerlichen Gang im Sande erleichtert.
Was aber am wichtigsten ist: das Kameel vermag vier, in der
höchsten Noth auch wohl acht Tage lang zu dursten, da es in einem
Zeltengewebe, welches eine Abtheilung seines Magens bildet, das
verschluckte Wasser auf längere Zeit bewahren kann; aus. diesem
tritt nach dem jedesmaligen Bedürfniß etwas in den Schlund.
Dafür kann es dann aber auch fünfzig, sechzig Pfund Wasser aus
einmal trinken. Wie im Dursten, so ist das Kameel auch im Hun-
gern geschickt. Es frißt gern Disteln, wie der Esel, und allerlei
stachelige Gewächse, wie die Wüste sie hervorbringt; damit es sich
dabei nicht verwunde, ist es mit knorpeligen Lippen und hartem
Zahnfleische versehen. Bei allzukärglicher Nahrung erhält es sich
durch das Fett des Höckers, welches durch feine Saugadern dem Blute
mitgetheilt wird.
Es ist ein geduldiges Lastthier. Soll es beladen werden, so
kniet es gehorsam nieder; auf ein gegebenes Zeichen erhebt es sich.
Nur wenn es zu schwer beladen ist, bleibt es hartnäckig auf dem
Boden liegen, und keine Schläge können es zum Aufstehen bewe-
gen; man muß ihm dann einen Theil seiner Last wieder abnehmen.
Dann aber trägt es sechs bis sieben Centner 20 bis 30 Stunden
in einem Tage. Wird es müde, so singt ihm der Führer ernste
und fröhliche Lieder vor; dann dreht es den Kopf zu ihm hin und
vergißt Last und Ermüdung. An das Reiten auf dem Kameele
muß man sich erst gewöhnen, da das Thier wegen seiner eigen-
thümlichen Gangart bin und her wogt, wie ein Schiff auf der Welle
des Meeres.
Wird es von Durst gequält, so hebt es den Kopf empor,
schnaubt mit den weitgeöffneten Nasenflügeln umher und saugt aus
weiter Ferne den Dunst der Wasserquelle ein, die selbst seinem Herrn
unbekannt ist. Dann eilt es mit solcher Gewalt hinzu, daß keine
Kraft es zurückhalten kann. Sonst wird es aber selten störrig. Nur
durch das Wort lenkt es der Araber, oder durch den Stab, mit
welchem er ihm die Richtung zeigt. So wandert es in gleichmäßig
abgemessenem Schritt, wenn es belastet ist; unbelastet aber eilt es
in flüchtiger Bewegung dahin.
II. Die Weltreiche im Men.
Als die Sündfiut zu Ende ging, ließ sich die Arche Noahs
nieder auf dem Gebirge Ararat. Sein schneebedeckter Gipfel
ragt majestätisch in die Wolken hinein. Um ihn herum liegt
Armenien, ein wald- und weidereiches Gebirgsland, in wel-
ches heutzutage Rußland, Persien und die Türkei sich theilen,
deren Grenzen am Ararat zusammenstoßen. Seit dem vierten
Jahrhundert war es ein christliches Königreich; später wurde
es eine Beute der Türken. Von diesen wurden die Christen
hart bedrückt; daher verließen viele ihr Vaterland, zerstreuten
sich in andere Länder und wurden betriebsame Kaufleute, denn
zum Handel haben die Armenier viel Geschick. Noch aber
sind die christlichen Armenier in ihrem Vaterlande in über-
wiegender Anzahl vorhanden.
Von diesem Lande zogen die Menschen nach der Sünd-
flut herab in die Ebene Sinear. Sie liegt zwischen den aus
Armenien kommenden Flüssen Euphrat und Tigris. Der
erste heißt in der heiligen Schrift Phrat, das Wasser, der große
Fluß; der letzte Hidekel. Beide reißen sich durch schauer-
liche und höchst gefahrvolle Felsschluchten, die an Naturschön-
heiten reich sind, und bilden eine Menge Stromsclmellen und
Wasserfälle; von der Schnelligkeit seines Laufes hat der Tigris
seinen Namen, denn der bedeutet Pfeil. In der Ebene fließen
sie dann langsamer; insbesondere wallt der Euphrat in breiter
Strömung majestätisch dahin. Sie münden in den persischen
Meerbusen, nachdem sie kurz vorher zusammengeflossen sind.
Zwischen diesen Flüssen lag Mesopotamien, d. h. das
Land zwischen den Flüssen; sein unterster (südöstlicher) Theil
hieß Babylonien; östlich vom Tigris und nördlich von Ba-
bylonien lag Assyrien; von diesem Östlich Medien, und
von Medien östlich Persien.
Die Geschichte dieser Reiche.
Die großen Weltreiche im Osten standen dem kleinen
Lande Immanuels gegenüber. Nimrod, ein Enkel Harns, grün-
215
dete das erste Weltreich; Babel war der Anfang seines Rei-
ches, von wo er gegen Assur zog und Ninive gründete, die
nun der Hauptsitz seines Reiches wurde. Die assyrischen Kö-
nige waren seine Nachfolger und wurden zu einer Zuchtruthe
Gottes für Israel. Sie breiteten ihre Herrschaft über Mesopo-
tamien und nach Osten hin über Persien aus. Die Könige,
welche in der Geschichte Israels genannt werden: Phul, Tiglath-
Pileser, Sahnanasser, Sanherib, Assarhaddon, regierten im achten
Jahrhundert vor Christo. Durch 8almanasser wurden die zehn
Stämme weggeführt. Ein König der Meder machte dem assy-
rischen Reiche ein Ende, und sein Sohn Nebukadnezar erhob
Babel zur Hauptstadt seines Reiches. Er zerstörte das Reich
Juda und führte feine Einwohner nach Babylonien. Kaum ein
Vierteljahrhundert nach seinem Tode stürzte der Perserkönig
Kores das babylonische Reich und vereinigte nun Assyrien,
Babylonien, Medien und Persien zu einem Reiche. Er ge-
stattete die Rückkehr der Kinder Juda und die Herstellung
Jerusalems. Unter Serubabel, dem Fürsten, und Josua, dem
Hohenpriester, zogen ihrer 50000 zurück. Einer der Nach-
folger von Kores war Ahasvérus, sonst auch Xerxes genannt,
unter welchem die Geschichte des Buches Ester sich zuge-
tragen hat. Unter dessen Sohn Arthasastha wurde Nehemia
persischer Statthalter in Jerusalem. — Endlich wurde auch dem
persischen Reiche ein Ende gemacht durch Alexander, den
König von Macédonien.
Land und Bewohner.
1. Mesopotamien ist im Norden hügelig und geht erst
allmählich zur Ebene über. Sein Boden ist fruchtbar; aber es
ist dennoch wenig angebaut und bevölkert. Der Sommer ist
heiß und trocken und der Winter gelinde; Wein, Öl und
Maulbeerbäume gedeihen ohne Pflege; alle edle Obstarten
wachsen in Überfluß. Weil aber die türkischen Paschas die
Einwohner gegen die räuberischen Horden aus Arabien und
jenseit des Tigris nicht zu schützen vermögen und ihre Un-
terthanen selber aussaugen, so ist das einst so städtereiche und
dichtbevölkerte Land jetzt völlige Wüste und Weideland der
umherziehenden Araber. Hier lag Har an, wohin Tharah zog,
und von wo Gott den Erzvater Abraham berief. Hier diente
Jakob bei Laban zwanzig Jahre; des Tages verschmachtete
er vor Hitze und des Nachts vor Frost. — Der untere Theil,
B abylonien, hat seinen Namen von seiner Hauptstadt Babel,
die Propheten nennen es Chaldäa. Es ist eine weite, frucht-
bare Ebene, die von den Flüssen nicht selten überschwemmt
wird. Eine Menge Kanäle leiteten ehemals das Wasser auch
nach den weniger wasserreichen Gegenden und sind wohl die
Wasser zu Babel, an welchen die Kinder Juda faßen und wein-
ten, wenn sie an Zion gedachten. Der Boden ist überaus er-
216
giebig. Weizen und Gerste tragen zweihundert- bis dreilnm-
dertfältig; die Hirse wird fast baumartig, und die Dattelpalme
gedeiht vortrefflich. Der Prophet Hefekiel nennt es ein Kauf-
mannsland, Kap. 17, 4; feine Lage bietet die günstigste Ge-
legenheit zu Schiffahrt und Handel. Hier lag Babel am Eu-
phrat, die Stadt der Verwirrung. Sie hatte einen Umfang von
zwölf Meilen und war von 300 Fuß hohen und 87 Fuß dicken
Mauern umgeben, durch welche 100 eherne Thore führten.
Der Euphrat floß in mehreren Armen durch und um die Stadt.
In Babel stand der 600 Fuß hohe Tempel des Götzen Bel.
Jeiäias nennt sie die schönste unter den Königreichen, die herr-
liche Pracht der Chaldäer. Aber: Herunter, Jungfrau, du
Tochter Babel, verkündigte er, setze dich in den Staub, setze
dich auf die Erde, denn die Tochter der Chaldäer hat keinen
Stuhl mehr. Setze dich in die Stille, gehe in die Finsterniß;
denn du sollst nicht mehr heißen Frau über Königreiche.
Jes. 45. 47. Vergl. Jer. 50. 51. Kores eroberte sie, zerstörte
sie aber nicht. Ahasverus zerstörte ihre Tempel und zertrüm-
merte ihre Götzen, und bald gerieth sie in Verfall. Alexander
begann sie herzustellen; schon bauten 10000 Araber daran: aber
plötzlich starb er; Babel wollte nicht heil werden, Jer. 51, 9.
Nur wenige Ruinen zeigen jetzt die Stätte, wo sie gelegen
hat; unter ihnen eine große Backsteinruine, welche von den
Arabern der Nimrodsturin genannt wird und vielleicht der
Überrest des alten Babelturms ist.
2. Assyrien ist ein Berg- und Hügelland, von vielen
Flüssen gewässert, reich an Weizen, Reis, Baumwolle, Obst und
Wein, wie Sanheribs Feldherr es beschreibt, 2. Kön. 18, 32.
Hierher führte Salmanasser die zehn Stämme in die Gefangen-
schaft. Damals lag an den Ufern des Tigris Ninive, die
Hauptstadt Assyriens, drei Tagereisen lang, mit einer Einwohner-
zahl, die sich wohl auf zwei Millionen belaufen hat. Da sie
Buße that, schob Gott das Gericht auf, welches der Prophet
Jona ihr verkündigen mußte. Darnach aber weissagten in
Juda der Prophet Zephanja und unter den Gefangenen Israels
Nahum Ninives Fall, Zeph. 2, 13 — 15. Nah. 3. Heute liegt
sie in Trümmern, in denen die Thiere der Einöde ihr Lager
haben. In dem nördlichen Assyrien muß Ur in Chaldäa,
d. i. in dem ursprünglichen Lande der Chaldäer gelegen haben.
— Die jetzigen Bewohner des Landes heißen Kurden. Sie
leben, theils von Viehzucht, theils von Raub. Unter ihnen woh-
nen Überreste alter Christengemeinden, unter welchen seit 20
Jahren amerikanische Missionare arbeiten, die ihnen die Bibel
übersetzt und Kirchen und Schulen angelegt haben.
3. Medien und Persien. Ein Hochland, ringsum von
Gebirgen eingefaßt, die meist kahl und felsgrau sind. Der
Südrand fällt steil zum persischen und indischen Meere ab; nur
ein schmaler, sandiger Küstenraum ist zwischen dem Gebirge
217
und dem Meere. Unwegsame Pfade führen hinauf aufs Ge-
birge. Von Zeit zu Zeit trifft man dann auf längere und
breitere Thäler, welche den saftigsten Pflanzenwuchs haben.
Die Pfirsiche hat hier ihre Heimat. Das Innere ist eine weite
Hochebene, deren Boden wasserarm und salzig ist; an manchen
Stellen liegt das Salz gar in weißen Krusten auf dem Boden.
Über dem allem spannt sich ein Himmel aus, der, wenige
Wochen im Jahre ausgenommen, immer wolkenlos ilt; daher
ist die Luft so trocken, daß das Eisen nicht rostet und Fleisch
wohl vertrocknet, aber nicht fault. Alle im Wasser lebenden
Thiere fliehen diele Hochebene: keinen Frosch, keine Schnecke
erblickt man. Auch der Pflanzenwuchs ist ärmlich und spär-
lich, namentlich der Baumwuchs; nur in der Regenzeit des
Frühjahres überzieht sich der Boden mit frischem Grün und
den duftendsten Blumen; sonst ist er grau und kahl. In den
Gebirgsthälern aber, wie auch in den muldenartigen Ver-
tiefungen, welche die Hochebene durchziehen, ist es schöner;
da sind prächtige Eichen, Buchen und Kastanien, Granat-,
Citronen- und Ölbäume, und Gärten und Acker find voller
Gemüse und Getreide. — Die alten Meder waren üppige,
weichliche Leute; die alten Perser einfach, tapfere Helden,
von gewaltiger Schnelligkeit auf ihren schlanken Pferden,
welche auf der luftigen Hochebene gut gediehen. Die jetzigen
Bewohner sind theils treulose Muhamedaner, theils Feueranbeter,
In den ersten Jahrhunderten der Kirche waren viele Christen-
gemeinden hier; die Muhamedaner haben sie zertreten; jetzt
leben nur etwa 200000 im Lande. — Im südwestlichen Theile
Persiens lag das 1. Mos. 14, 1 genannte El am mit seiner
Hauptstadt Susa, wo das Schloß war, auf welchem Daniel
das Gesicht von dem makedonischen Reiche empfing.
Im persischen Meere gibt es viele Perlenmuscheln. Sie
werden mit großer Lebensgefahr aus der Tiefe geholt. Die
Perlen befinden sich an der Innenseite der Muscheln. Sie sind
durchsichtige Edelsteine, welche sich aus dem Schweiße der in
den Muscheln lebenden schleimigen Austern verhärten. Die
Preise, welche für große und schöne Perlen bezahlt werden,
sind fast unglaublich. Ein armer Negersklave fand einst eine
von der Größe eines Taubeneies; sie wurde auf 80000 Ducatea
geschätzt. Darum ist ein Mensch, der nach dem Reiche Gottes
trachtet, einem Kaufmanne gleich, der gute Perlen suchte; er
muß alles darum hingeben. — Die Muscheln gehen die be-
kannte Perlmutter.
12. Syrien.
Syrien liegt nördlich vom heiligen Lande um den Liba
non und Antilibanon herum, im Westen vom Mittelmeere, im
Osten von der Euphratwüste begrenzt. Seine Bewohner sind
vielfältig mit den Tsraeliten in Berührung gekommen. David
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218
schlug sie und machte sie sich Unterthan; der König Ahab ver-
lor in einer Schlacht gegen sie sein Leben; Naeman, den
Elisa heilte, war der Feldhauptmann des Königs von Syrien.
Heutzutage ist das Land der Herrschaft der Türken unterwor-
fen, und seine Gefilde liegen öde.
Östlich vom Antilibanon liegt Damaskus, eine alte
Stadt, die schon zu Abrahams Zeiten erwähnt wird. Auf dem
Wege nach Damaskus wurde Paulus bekehrt, und die große
Hauptstraße der Stadt, welche eine Stunde lang ist, die da
heißt die richtige, ist ohne Zweifel noch ebendieselbe, wie da-
mals, als Paulus von Ananias getauft wurde. In und außer
der Stadt liegen Gärten von Palmen, Cypressen, Obst- und
Weinpflanzungen, welche von den Flüssen Amana und Phar-
phar gewässert werden. Sie hat 200000 Einwohner, worunter
15000 Christen sind, und ist noch heute eine der namhaftesten
Handelsstädte des Morgenlandes. Auf einer Oase in der Wüste
liegen die berühmten prachtvollen Ruinen von Ta dm or oder
Palmyra, welche von Salomo erbaut wurde und ein sprechen-
des Zeugniß gibt, daß alles eitel ist.
Im nördlichen Theile, unweit der Mündung des Orontes,
lag Antiochia. Jetzt ist sie ein verödeter Ort von 10000 Ein-
wohnern, zur Zeit ihrer Blüte aber hatte sie 700000. Ihre
Lage am Felsenhang, die Umgebungen fruchtbarer .und von
schroffen Felsen umschlossener Thäler und die nahen Vorberge
des Libanon gaben ihr ein reizvolles und prächtiges Ansehen.
Wegen ihrer Lage in der Nähe des Meeres trieb sie viel Han-
del, wodurch ihre Einwohner reich wurden, und stand nach
allen Seiten hin in Verbindung mit den Völkern des Alter-
thums. Daher hatte der Herr sie ausersehen, für die erste Zeit
der Ausgangspunkt des Evangeliums zu den Heiden zu wer-
den; denn von ihr aus machte der Apostel Paulus feine Rei-
sen zur Bekehrung der Heiden.
13. Die Juden feit dem letzten Propheten.
1. Unter makedonischer, Ägyptischer und syrischer Herrschaft.
Ealeachi, der zu den Zeiten Nehemias lebte, hatte geweissagt:
Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg
bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr,
den ihr suchet, und der Engel des Bundes, des ihr begehret. Siehe,
er kommt, spricht der Herr Zebaoth. Kap. 3, 1. Nun verstummte die
Weissagung über 400 Jahr lang.
In dieser Zeit trat an die Stelle des persischen Weltreichs das
Reich Alexanders von Macedonien, von welchem der Prophet
Daniel im achten Kapitel geweissagt hat. In stürmischem Laufe
begann Alexander die Welt zu erobern, und in wenigen Jahren
hatte er Griechenland, Ägypten, Kleinasien und Persien eingenom-
men. Gegen die Juden war er freundlich. Durch ihn wurde
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die griechische Sprache, in welcher später die Bücher des neuen Testa-
ments geschrieben wurden, Weltsprache.
Bald nach Alexanders Tode kam das heilige Land unter
die Oberherrschaft der Könige von Ägypten. Die Juden führ-
ten unter ihnen ein ruhiges Leben. Schon Alexander hatte 10000 Ju-
den in seine Hauptstadt Alexandria in Ägypten versetzt; der erste ägyp-
tische König, unter welchem die Juden standen, verpflanzte ihrer an
100000 nach Ägypten und brauchte sie wegen ihrer erprobten Treue
gern als Besatzung der Festungen. Auch andre Fürsten suchten Juden
in ihre neuen Niederlastungen zu ziehen. So zerstreuten sie sich über
den Erdkreis; allenthalben bauten sie Synagogen (Schulen), in denen
auch die Heiden mit Israels Glauben und Hoffnung bekannt wer-
den konnten. Die Muttersprache der in der Zerstreuung leben-
den Juden wurde bald die griechische Sprache. In diese Sprache
ließ ein ägyptischer König die heiligen Schriften des alten Testaments
übersetzen.
Darnach riß der König von Syrien das heilige Land an sich.
Sein Sohn und Nachfolger ließ den Tempel plündern, um sich
Geld zu verschaffen, 2. Mack. 3, und dessen Nachfolger Antiochus
suchte die Juden mit den grausamsten Martern zu zwingen, ihren
Glauben zu verleugnen und heidnisches Wesen anzunehmen. Er
eroberte Jerusalem; Stadt und Tempel wurden geplündert, die Stadt-
mauern eingerissen, der Tempel geschändet und ein heidnischer Götze
darin angebetet, die heiligen Schriften zerrissen und verbrannt,
1. Mack. 1—6. 2. Mack. 5—9. Das war der Greuel der Verwü-
stung, von welchem der Prophet Daniel Kap. 11, 31 geweissagt
hatte, ein Vorbild noch zukünftiger Verwüstung, Matth. 24, 15.
Viele der Juden waren mit ihrem Herzen und Leben längst von
Gott abgefallen und liefen nun haufenweise zu den Götzenaltärcn,
die überall im Lande von den Heiden aufgerichtet waren, und opfer-
ten, um ihr Leben zu erhalten; die treuen Bekenner aber flüchteten
in Höhlen und Wälder, und wo sie das nicht konnten, erduldeten
sie lieber den schmerzlichsten Tod, als daß sie Gott verleugnet hätten.
Zu ihnen gehörte Eleasar und die Mutter mit den sieben Brüdern,
2. Mack. 6. 7.
Da lebte zu Modin, einer Stadt auf dem Gebirge Juda
zwischen Jerusalem und Joppe, der betagte Priester Mattathias
mit seinen fünf Söhnen. Er weigerte sich, den Götzen zu opfern,
tödtete im Eifer einen Juden, der eben opfern wollte, erschlug den
syrischen Hauptmann, der ihn gefangen nehmen wollte, zerstörte den
Ältar und floh mit den Seinen ins Gebirg. Um ihn sammelte
sich eine Schar treuer Juden. Nun fügten sie durch Streifzüqe im
ganzen Lande den Heiden vielen Schaden zu. Nach des Paters
Tode gelang es dem ältesten Sohne, Judas Mackabi (der Ham-
mer), der freudig und kühn war wie ein junger Löwe, im raschen
Siegerlaufe die Syrer zu verdrängen. Dann reinigte er den Tem-
pel und stellte den Gottesdienst wieder her; zum Andenken daran
wurde das Fest der Tempelweihe eingesetzt? Als Judas von den
10*
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Syrern wieder bedrängt wurde, bat er die Römer um ein Bünd-
niß. Hätte er die Weissagung Daniels verstanden, so hätte er
wissen müssen, daß von den Römern nicht Heil, sondern nur Scha-
den zu erwarten sei, Dan. 7, 7 u. f. Von Judas war auch seit-
dem der Segen Gottes gewichen; das Bündniß mit den Römern
brachte ihm wohl Versprechungen, aber keine Hülfe; er wurde von
den Syrern geschlagen und kam um. An seine Stelle trat sein Bru-
der Jonathan, und auf den folgte der dritte Bruder, Simon,
unter welchem endlich das Volk frei wurde. Das Fürstenthum und
Hohepriesterthum blieb seitdem für eine Weile bei seinem Geschlechte.
Sein Sohn Johannes Hyrkan eroberte Galiläa und Samarla
und zerstörte den Tempel der Samariter, der auf Garizim stand; dann
unterjochte er die Edomiter.
2. Herodes und sein Geschlecht.
Endlich brachten die Römer das Land unter ihre Botmäßig-
keit und setzten im Jahr 40 den Edomiter Herodes zum Könige
von Judäa ein. Er suchte seine Herrschaft mit unmenschlicher Grau-
samkeit zu befestigen. Den Vater und Großvater seiner Frau, die
aus den Mackabäern stammte, ließ er hinrichten, ihren Bruder im
Bade ertränken, endlich sie selber und ihre Mutter und darnach
auch seine beiden Söhne von dieser Gemahlin hinrichten und deren
Freunde und Bekannte erwürgen. Der Kaiser Augustus sagte, es
sei chesser, des Herodes Schwein, als sein Sohn sein, weil die
Schweine, deren Fleisch er nicht aß, vor ihm sicher waren, nicht
aber seine Söhne. Das Volk haßte ihn; um es zu stillen, und
zugleich um zu prunken, bauete er den Tempel mit verschwenderi-
scher Pracht aus. In seinen letzten Lebensjahren wurde unser Herr
geboren; da ließ er die Kinder zu Bethlehem und in ihren Gren-
zen todten. Bald darauf starb er eines schrecklichen Todes; aber
selbst im Sterben hatte er noch Mordgedanken. Daß kein Mensch
um ihn weinen werde, wußte er; die Leute in Jericho, wo erstarb,
warteten mit Ungeduld auf die Botschaft von seinem Tode. Darum
hatte er die Vornehmsten seines Landes zusammengefordert und
befohlen, sie alle in seiner Todesstunde umzubringen, damit er wenig-
stens unter Klagen stürbe. Der Befehl wurde aber nicht vollzogen;
jedermann war vergnügt, als es endlich hieß: Herodes ist an seinen
Ort gefahren.
Räch seinem Tode wurde das Land unter seine Söhne getheilt,
und zwar
1. Archelaus bekam Judäa und Samarla. Er wandelte
in den Fußstapfen seines Vaters. Im zehnten Jahr seiner Regierung
wurde er von seinen Unterthanen in Rom verklagt und von dem Kai-
ser Augustus abgesetzt und in die Verbannung geschickt. Seitdem
wurde sein Land durch römische Landpfleger regiert, die zu Cäsarea
am Mittelmeere wohnten und zu den Festen gen Jerusalem kamen.
Einer von ihnen war Pontius Pilatus.
2. Herodes Antipas wurde Vierfürst in Galiläa. Er ist der.
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welcher Johannes den Täufer tödtete und den Herrn verspottete. Im
Jabr 39 ward er vom Kaiser abgesetzt und verwiesen.
3. Philippus wurde Dierfürft über den nordöstlichen Theil
des Landes jenseit des Jordans. Er starb im Jahr 33 kinderlos.
Außer diesen werden noch zwei Nachkommen des ersten Herodes
in der heiligen Schrift erwähnt. Der eine ist Herodes Agrippa,
ein Sohn von einem der hingerichteten Söhne des ersten Herodes.
Der Kaiser von Rom machte ihn zum König über das Land, welches
sein Oheim Philippus früher besessen hatte, und bei der Verbannung
seines Oheims Antipas bekam er auch dessen Land, ja später auch noch
Judäa und Samaria, so daß er nun Besitzer des ganzen heiligen
Landes war. Er verfolgte die Christen und ließ Iakobus, den Bru-
der des Johannes, todten, Petrus aber wurde aus seinen Händen
errettet. Als er die göttliche Ehre annahm, welche das abgöttische
Volk ihm erwies, schlug Gott ihn, daß er eines schmählichen Todes
starb, Apg. 12. Sein Sohn Agrippa bekam später den nordöst-
lichen Theil des Landes mit dem Königstitel; vor ihm verantwortete
sich der Apostel Paulus, Apg. 26.
3. Zerstörung Jerusalems.
Das übrige Land wurde nun wieder von römischen Landpflegern
verwaltet. Einer von ihnen war Felix, ein habsüchtiger und gewalt-
thätiger Mann. Auf ihn folgte Festus. Der letzte Landpfleger war
Gessius Florus. Er legte dem Volke übermäßige Abgaben auf,
verkaufte das Recht, schloß sogar mit den Räubern Bündnisse und
legte es darauf an, die Juden zur Empörung zu reizen, damit in Rom
aus ihre Anklagen gegen ihn nicht gehört werden möchte. In Jerusa-
lem raubte, brannte und mordete er. Da brach offene Empörung aus;
im ganzen Lande wurde eifrig gerüstet, und Jerusalem glich einem
Kriegslager, wo überall ein wildes Getümmel, nur nicht ein Rufen
zum Herrn gehört wurde.
Der Kaiser Nero schickte nun den Vespasian, einen seiner-
tapfersten Feldherren, und der nahm bald das ganze Land ein. Als
er sich eben anschickte, Jerusalem zu belagern, hatte Nero sich selber
getödtet, und Vespasian, von seinen Soldaten zum Kaiser ausgerufen,
ging nach Rom und überließ seinem Sohne Titus, die Belagerung
der Stadt.
Als Titus die Stadt umzingelte, war gerade zum Osterfest des
Jahres 70 eine große Menge Volks in ihr versammelt. Titus
forderte sie auf, sich zu ergeben, aber vergebens. Während Rotten
in der Stadt gegen einander wütheten, nahm er die äußere Mauer
ein; bald drang er auch durch die mittlere Mauer und forderte
nochmal friedlich zur Übergabe auf; aber plötzlich brachen die Ju-
den mit furchtbarem Geschrei von allen Seiten hervor, schleuderten
aus den Fenstern und von den Dächern Steine und Pfeile auf
die Römer und schlugen sie zurstck. Bald aber mußten sie den Rö-
mern wieder weichen, und diese blieben nun Herren der unteren
Stadt.
222
Jetzt begannen Hunger und Seuchen in der Stadt schrecklich
zu wüthen. Bleich und siech schlichen die Einwohner wie Schatten
umher. Mancher Reiche bot sein ganzes Vermögen für ein Mas;
Weizen. Gierig verschluckte dann der Hungrige sogleich die rohen
Körner, damit ein anderer sie ihm nicht entreiße. Die Frau raffte
dem Manne und dieser dem Weibe den Bissen aus den Zähnen.
Die jüdischen Krieger drangen in die Hauser und raubten, was sie
an Nahrungsmitteln fanden; wurde ihnen Widerstand gethan,
oder fanden sie nichts, so mordeten sie alt und jung. Die Noth stieg
aufs höchste; Greise, rüstige Männer, Frauen und Kinder sanken aus
den Straßen und in den Häusern nieder; die ganze Stadt glich einem
großen Leichenhause; Hunderttausende von Leichen wurden über die
Stadtmauer geworfen. Wer als Gefangener in die Hände der Römer
kam, wurde gekreuzigt.
Nochmal bot Titus Gnade an, wurde aber wieder mit Hohn
zurückgewiesen. Nun schritt er zur Bestürmung des Tempels. Der
zehnte August ward zum Sturm bestimmt; Titus verbot aber, von
dem Feuer Gebrauch zu machen, da er den Tempel gern erhalten
wollte. Dennoch warf ein Soldat Feuer hinein; das zündete schnell,
und vergeblich gebot Titus zu löschen. In wenigen Stunden war
der Tempelberg wie mit einem Flammenstrome übergössen. Von
den Stufen des Tempels strömte das Blut; Sterbende wälzten sich
auf dem Boden umher; viele stürzten sich in die Schwerter der
Römer, andre sprangen in die lodernden Flammen, und der Freuden-
ruf der Sieger mischte sich furchtbar in das betäubende Geschrei der
Überwundenen, in das Sausen der zehrenden Flammen, in das
Krachen der zusammenstürzenden Steine. So fiel das prachtvolle Ge-
bäude, das sie längst vorher zur Mördergrube gemacht hatten, an
demselben Tage, an welchem ungefähr 600 Jahr zuvor der erste Tem-
pel zerstört worden war. Es blieb, wie der Herr geweissagt hatte,
nicht ein Stein auf dem andern.
Die obere Stadt wurde erst nach einigen Wochen^ eingenommen.
Die ganze Stadt wurde der Erde gleich gemacht. Über eine Mil-'
lion Juden waren in diesem Kriege umgekommen, und über 9O00O
wurden als Sklaven verkauft oder zu Kampfspielen verurtheilt. Be;
dem glänzenden Einzuge des Titus in Rom wurden der Schau-
brotlisch, ein Leuchter und ein Gesetzbuch vor ihm her zur Schau
getragen.
Seitdem wird Jerusalem zertreten von den Heiden, bis daß
der Heiden Zeit erfüllet ist. Der abtrünnige Kaiser Julian wollte
den Tempel wieder aufbauen lassen, zum Trotz gegen des Herrn
Wort. Aber seine Worte vergehen nicht: wiederholt brachen Flam-
men hervor und tödteten eine große Zahl von Arbeitern. Das Volk
der Juden aber ist seit der Zerstörung Jerusalems zerstreut in alle
Welt und hat noch bis auf diesen Tag keine Heimat gesunden,
kein Vaterland, keinen Tempel und keine Stadt; denn es hat den,
der gekommen war, es zu erlösen, verstoßen und gekreuzigt und sein
Blut über sich und seine Kinder gebraust. Nun haben seine Fuß-
223
sohlen keine Ruhe; mit bebendem Herzen, verschmachteten Augen
und verdorrter Seele geht es umher, 5. Mose 28, 65.
Schaue an die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst an denen,
die gefallen sind; die Güte aber an dir, sofern du an der Güte bleibst,
sonst wirst du auch abgehauen werden, Röm. 11, 22.
14. Kleinasien.
1. Von Antiochien ging das Evangelium gen Westen. Paulus
und Barnabas, vom heiligen Geiste berufen den Heiden zu predigen,
zogen zuerst über Seleucia nach der Insel Cypern, woher Bar-
nabas war. Sie durchzogen die Insel von Salamis an der Ost-
küste bis nach Pap hos (heutzutage Baffa) an der Westküste; hier
verkündigten sie das Evangelium und bekehrten den Landvogt
Sergius Paulus. Die Insel heißt im alten Testamente Chittim.
Sie ist groß und schön, fruchtbar, von dem angenehmsten und ge-
sundesten Klima und könnte mehrere Millionen Einwohner ernähren,
hat aber nur 50000, unter welchen sich auch einzelne Christen
befinden.
2. Bon Cypern zogen die Apostel nach Kleinasien. Es ist
eine Halbinsel, welche Asien wie eine Hand nach Europa ausstreckt.
Ihre Küsten werden vom Mittelmeere und im Norden vom schwar-
zen Meere bespült. Der Boden ist gebiraig; an der Südküste liegt
der Taurus, dessen Verzweigungen sich durch die ganze Halbinsel
ziehen. Die längste Senkung des Bodens ist nach dem schwarzen
Meere zu, in welches die meisten und stärksten Flüsse gehen. Im
Innern ist der Boden vielfach Steppe, im Sommer dürr, dann
trocknen die Flüsse aus, da es an Wäldern fehlt. Die Küsten aber
haben frischen und kräftigen Pflanzenwuchs und gewähren durch
ihre Laubwälder kühlen Schatten. Sie sind allenthalben felsig und
steil, und ihre vielen Vorgebirge und Buchten bilden treffliche Häfen,
welche zu Schiffahrt und Handel einladen. Der Ölbaum, die Eiche,
der Weinstock, die edelsten Obstarten, kurz, alles, was die wärmeren
Länder Köstliches hervorbringen, gedeiht in Kleinasien aufs beste.
Das schwere zweibuckelige Kameel und die feinhaarige angorische
Ziege, die hier ihre Heimat haben, Pferde, Rindvieh,' Schafe und
Ziegen sind von ausgezeichneter Schönheit. Einst gehörte es zu den
blühendsten Ländern der Erde; prachtvolle und bevölkerte Städte
bekränzten das Meeresgestade; ein lebhafter Handel machte sie reich.
Unter der türkischen Verwaltung ist das Land aber fast zur Wüste
geworden.
Paulus und Barnabas kamen auf ihrem Wege-nach Kleinasien
erst nach Per ge in Pamphylien. Östlich von Perge, an der Küste,
liegt Tarsus in Cilicien, uns werth als die Geburtsstadt des
theuern Apostels Paulus. Von Perge reisten sie nördlich nach
Antiochien in Pisidien und von da östlich in die Landschaft
Lykaonien, in deren Städten Ikonien, Lystra und Derbe Pau-
lus Gemeinden gründete. Don diesen Städten ist Ikonien noch
heute vorhanden. Auf seiner zweiten Reise besuchte er diese Ge-
224
me luden wieder und stärkte sie. Dann zog er weiter nach Phry-
gien, nordwestlich von Lykaonien; da lag Laodicea, jene Ge-
meinde, die lau geworden war, und die der Herr ausgespieen hat
aus seinem Munde, weil sie nicht Buße that, Off. 3, 14. In der
Nähe dieser Stadt lag Kolossä; kurze Zeit nachdem Paulus seinen
Brief an die Gemeinde daselbst geschrieben hatte, wurde sie durch
ein Erdbeben zerstört. Von Phrygien ging der Weg des Apostels
nördlich gen Galatien. Die Landschaft hatte ihren Namen von
Galliern, welche die Alpen entlang weiter und weiter nach Osten
zogen, bis sie sich hier niederließen. An die dortigen Gemeinden
schrieb Paulus Ipäter den Brief an die Galater. Von Galatien
aus wollte er weiter in Asten das Wort Gottes verkündigen; aber
der heilige Geist wehrte es ihm, weil er ihn nach Europa senden
wollte; dahin zog Paulus von Troas in Mysien aus. Nachher
ist er über zwei Jahr zu Ephesus gewesen, von wo das Evan-
gelium weit in die umliegenden Länder ging. Epbesus war einst
eine prächtige Handelsstadt mit dem berühmten Dianentempel, den
127 Marmorsäulen schmückten. Der heilige Johannes Pflegte von
Ephesus aus nach Pauli Tode die Gemeinden in Kleinasien. Jetzt
liegt sie seit langem in Ruinen; Hirten, welche auf ihren Wander-
zügen diese Gegend mit ihren Herden durchstreifen, lehnen ihre Hüt-
ten an die zerbrochenen Mauern. Südlich von Ephesus lag Milet,
wo Paulus den rührenden Abschied von den Ältesten von Ephesus
nahm, als er zum letzten Mal nach Jerusalem zog. Nördlich von
Ephesus liegt noch heutiges Tages an einem von hohen Bergen
umschlossenen Busen Smyrna, jetzt die wichtigste Handelsstadt
Kleinasiens. An der Gemeinde daselbst fand der Herr nichts zu
tadeln; er ermahnte sie nur, getreu zu sein bis in den Tod, Off. 2, 10.
Ihr Leuchter ist stehen geblieben: unter den 120000 Einwohnern
der Stadt besteht die Mehrzahl aus Christen, denen die Türken nicht
zu wehren wagen, das Kreuz öffentlich neben dem Halbmond auf-
zupflanzen. Nördlich von Smyrna liegt Pergamus, von der das
Pergament den Namen trägt, das in alter Zeit hier viel verfertigt
wurde. Sie ist noch jetzt eine ansehnliche Stadt, die unter ihren
Bewohnern viele Christen zählt. Von Pergamus östlich lag Thya-
lira, woher die Lydia m Philippi war, welcher der Herr das
Herz aufihat. Im Süden von ihr lag Sardes in einem unver-
gleichlich schönen Thale. Sie war einst Hauptstadt des reichen Kö-
nigs Krösus, der von Kores überwunden wurde. Ihre größtentheils
unter dem Sande begrabenen Trümmer mit ihren grausenhast vom
Erdbeben zerrissenen Wänden bezeugen es, daß der Herr über sie
gekommen ist wie ein Dieb, Off. 3, 3. In dem Thale, worin sie
lag, stehen jetzt schwarze Gezelte wandernder Hirten zerstreut; aus
dem Palast des Krösus ertönt die Pfeife des Kanieeltreibers und
aus dem Gemäuer der alten Christenkirche der Gesang der einsamen
Steindrossel. Wandert man von hier nach Osten, so gelangt man
nach Philadelphia. Unter den Stürmen, welche durch verheerende
Völker über diese Gegenden gebracht sind, ist sie bewahrt geblieben;
‘2*25
freilich jetzt eine Türkenstadt, leben dennoch gegen fünfzig christliche
Familien hier. Aus der altchristlichen Zeit finden sich einige noch in
Gebrauch stehende kleinere Kirchen.
Ehemals war das ganze Land voll blühender Christengemeinden,
die nun längst dem Andränge der Araber und der Türken erlegen
sind; wo einst das Kreuz stand, steht jetzt der Halbmond mit seinem
lügnerischen Scheine. Die heutigen Christen sind nur geduldet und
nie ganz sicher vor dem Schlachtschwerte der Muhamedaner. Weil
sie nicht Buße gethan, so ist der Herr über diese Gemeinden
gekommen und hat ihre Leuchter weggestoßen von ihren Stätten,
Off. 2, 5.
3. An der Westküste liegt unter den vielen schönen Inseln
auch Patmos, ein kleines Felseneiland, von lauter Christen be-
wohnt, welchen die Reisenden ein gutes Zeugniß geben. Hierher
war Johannes vom Kaiser Domitian verbannt und empfing an des
Herrn Tage die Offenbarung. Noch heute wird die Höhle gezeigt,
in welcher er wohnte; sie ist von einer Kirche umschlossen. An der
Südwestküste Kleinasiens liegt die Insel Rhodus, d. i. die Rose,
mit schönen ^ Bergen und Thälern. Lange war sie als Sitz des
Johanniterordens eine wehrhafte Warte gegen die Türken; als diese
zur Zeit der Reformation nach mannhafter Wehr der todestreuen
Ritter sie einnahmen, zog der Orden nach Malta. Noch weiter
hinaus im Meer, nach Südosten, liegt die Insel Kreta, jetzt Kan-
dia, d. i. die Weiße, von ihrem weißen Kreideboden so genannt.
Auf solchem Boden wächst ein guter Wein; man findet daher hier
viele Weinstöcke, deren Trauben unter sorgfältiger Pflege bis zwei
Fuß lang und selbst bis Frankreich und England zu Schisse gebracht
werden. Den eigentlichen Reichthum der Insel macht jedoch der
Ölbaum aus. Titus, der Schüler des Apostels Paulus, war Bischof
von Kreta, als der Apostel den Brief an ihn schrieb.
15. Die griechische Halbinsel.
1. Wie mag dem heiligen Paulus zu Muthe gewesen sein,
da er auf seiner zweiten Reise zu den Heiden gen Troas gekommen
war! Der heilige Geist hatte ihm gewehrt, jetzt das Wort in Asien
zu reden; nun sieht er das weite Meer mit'seinen vielen Inseln
vor sich liegen, und jenseits liegt Europa, alles bewohnt von Nach-
kommen Iaphets, die an dem Segen Sems Antheil haben sollten.
Da wird ihm vor die Augen getreten sein jenes Wort an Abra-
ham: „In deinem Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet
werden"; er wird der sehnsuchtsvollen Psalme Davids und Ässaphs
gedacht haben, welche die fernsten Könige und Völker anreden, als
wären sie gegenwärtig, und sie auf den Gott Israels Hinweisen;
seine Seele wird die hoffnungsreichen Verheißungen des Propheten
Iesaias betrachtet haben, der in die herrliche, selige Zukunft Israels
so oft die Iaphetssöhne aus den weiten Inselländern einschließt.
Da erscheint ihm ein Gesicht bei der Nacht, ein Mann aus Mace-
donien, der bittet ihn: „Komm hernieder in Makedonien, und hilf
10**
uns." Alsobald ist er gewiß, daß ihn der Herr dahin bemfen hat.
und macht sich auf den Weg' nach Macedonien, und so kommt das
Evangelium nach Europa.
2. Die griechische Halbinsel ist die östlichste von den drei Halb-
inseln Europas, welche gen Süden ins Mittelmeer gehen. Im Nor-
den durchzieht dieselbe längs der Donau ein hohes Gebirge, der
Balkan oder Hämus genannt; von diesem erstrecken sich Ausläufer
gen Süden durch die ganze Halbinsel. Da gibt es manch schönen
Berg, liebliche Thäler mit klaren Flüssen und fruchtbare Ebenen,
und über Land und Meer wölbt sich ein heiterer, tiefblauer Himmel.
Bon drei Seiten dringt das Meer vielfältig in kleinen Busen ins
Land, und wegen der Meeresluft, die tief in die Thäler eindringt,
wegen der hohen Lage der Landschaften, und weil der Schnee auf
den hohen Berggipfeln weit in das Jahr hinein liegen bleibt, ist
die Luft nicht heiß, sondern herrlich und mild. Selbst der Winter-
tritt so nrild in den Thälern auf, daß in den südlich gelegenen fast
ewiger Frühling herrscht. Der Norden hat in seinen Thälern Ge-
treide; die südlichen Thäler und Höhen, von duftigen Blumen und
ehemals auch von herrlichen Waldungen geschmückt, geben Wein, Öl
und Südfrüchte. In diesen gesegneten Gefilden blüheten in alten
Zeiten schon Staaten, welche später das gewaltige Nömerreich in
sich aufnahm.
Fast in der Mitte des Landes liegt Macedonien; von da
aus hatte etliche Jahrhunderte vor der Geburt des Herrn Alexander-
feinen Siegeszug nach Asien unternommen; jetzt kam der Apostel
von Asten aus dahin. In Philippi blieb er etliche Tage; eine
Christengemeinde entstand, zu welcher die Lydia und der Kerkermei-
ster mit ihren ganzen Häusern gehörten, und welche seine Freude
und Krone wurde. Heutzutage ist der Ort-ein geringes Dorf. Bon
Philippi zog er gen Thessalonich, damals und noch jetzt eine der
wichtigsten Städte Macedoniens, und von da nach Beröa, fünf
Meilen von Thessalonich. Da in Beröa ein Pöbelauflauf erregt
wurde, ging der Apostel weiter, setzte sich aufs Schiff und kam
nach Athen in Griechenland. Die Stadt liegt in einer Ebene,
ein Theil von ihr auf und zwischen Hügeln. Sie mochte in der
blühendsten Zeit wohl an 150000 Einwohner haben und war eine
glänzende und berühmte Stadt. Die Leute zu Athen waren reich
begabt von Gott, und viele hatten es in weltlicher Weisheit und
Kunst hoch gebracht; Gott aber erkannten, sie so wenig, wie die
andem Heiden, und hatten allerlei Götzen Tempel und Altäre auf-
gerichtet. Da zieht Paulus ein. Während er auf die Ankunft sei-
ner Gefährten wartet, wandert er voll heiliges Eifers und brün-
stiger Liebe in den Straßen Athens umher. Was an Gebäuden
und Gebilden schön ist, entgeht seinem Blicke nicht; aber er sieht
es mit einem Christenauge an. Das konnte sich nicht erfreuen an
dem, was durch Götzendienst und Lüste zum Greuel geworden war.
In Athen lernte er recht wahrnehmen: „Da sie sich für weise hiel-
ten, sind sie zu Narren worden", und er ergrimmte, als er die
227
Menge von Tempeln, Altären und Bildern deS Götzendienstes sah,
und wie das leichtfertige Volk diesem Dienste sinnlos nachlief. Das
Evangelium von Jesu und von der Auferstehung war den Weisen
der Stadt eine Thorheit, und das leichtfertige Volk war nur darauf
gerichtet, etwas Neues zu hören. Nur wenige bekehrten sich, und
der Apostel zog bald weiter gen Korinth. Diese Stadt lag auf
einer schmalen Landenge zwischen zwei Meerbusen und eignete sich
daher recht zum Handel. Durch Handel war sie reich geworden.
Die Gemeinde, welche Paulus daselbst gründete, hatte vom Herrn
reiche Erkenntniß und Wundergaben bekommen; sie bekümmerte den
Apostel aber oft durch ihren Zwiespalt und unheiligen Sinn. — Die
Stadt ist jetzt durch ein Erdbeben fast ganz zerstört. In ihrer Nähe
ist viel Weinbau; die Korinthen haben ihren Namen daher. — Dieser
südliche Theil der griechischen Halbinsel war früher in den Händen der
Türken; um das Jahr 1830 hat er sich aber von deren schändlichem
Regimente losgerissen und bildet jetzt das Königreich Griechenland;
es ist so groß wie das Königreich Hannover.
3. Das übrige Land, ehemals überall christlich, seufzt noch
unter der rohen Gewalt der Türken. Diese nahmen 1453 Konstan-
tinopel ein und stürzten damit das griechische Kaiserthum. Seitdem
haben sie die Christenheit oft in Schrecken versetzt und würden das
auch heute noch thun, wenn sie nur könnten. Damals beteten unsre
Väter: Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, und steur des Papsts
und Türken Mord. Konstantinopel, früher Byzanz, wurde von
Konstantin dem Großen zur Residenz erwählt und prächtig ausge-
baut^ seitdem führt sie den jetzigen Namen. Die Türken nennen sie
Stambul. Sie hat enge, schmutzige Straßen und meist hölzerne Häu-
ser; ihre Lage aber, am Meere, nur eine Stunde von der Küste Asiens
entfernt, ist sehr schön. Das merkwürdigste Gebäude ist die herrliche
Sophienkirche, welche Kaiser Justinian Christo, der göttlichen Weis-
heit, zu Ehren erbaute; sie ist ein türkisches Bethaus geworden und
wartet, daß anstatt des Halbmonds auf ihrer Kuppel das Kreuz wie-
der aufgerichtet werde.
16. Rom.
Äls der heilige Paulus über zwei Jahr lang in Ephesus ge-
wesen war und nun das Evangelium in den Ländern von Kleinasien
und Griechenland genug befestigt hatte, schickte er sich an, gen Jeru-
salem zu ziehen, und sprach: Wenn ich daselbst gewesen bin, muß ich
auch Rom sehen, Apg. 19, 21. Und bald darnach schrieb er von
Korinth aus den Brief an die Gemeinde zu Rom, in welchem er seine
Hoffnung aussprach, durch den Willen Gottes zu ihnen zu kommen,
Röm. 15, 32. Nach Rom ging also jetzt sein Verlangen; denn diese
Stadt war die Hauptstadt des großen Römerreiches, des vierten
Weltreiches, von welchem der Prophet Daniel geweissagt hat.
Etliche Jahrhunderte lang hatte das römische Reich jetzt schon
bestanden. Sein Ursprung war die Stadt Nom. Von hier aus
hatte es sich in immer größere Fernen hinein erweitert; ein ermatte-
228
tes Volk nach dem andern war von ihm bezwungen und unter seine
Herrschaft genommen worden mit Gewalt und Trug; das Joch war
eisern, welches es den besiegten Völkern auslegte. Aber seine Zeit war
auch gekommen ; es ging mtt chm jetzt schon stark bergab, und Gott im
Himmel hatte ein Königreich aufgerichtet, das alle Weltreiche verstören
sollte, während es ewig bleiben wird. — Die meisten römischen
Kaiser, von wilden Kriegsrotten ein- und abgesetzt, waren träge,
boshaft, argwöhnisch und an die Sünde verkauft. Eigentlich wurde
Rom von Soldaten regiert; diese boten oft auch den Kaiserthron
um Geld feil, ermordeten die ihnen mißliebigen Herrscher und dann
jederzeit auch deren Anhang, so daß oft das' Blut in Strömen floß.
In 120 Jahren herrschten nach einander 36 Kaiser; von ihnen wur-
den 27 ermordet. Dabei wurde das römische Volk immer ver-
worfener; es jagte nur nach Üppigkeit und schwelgerischer Lust und
trachtete nur, den gegenwärtigen Tag zu genießen, da die irdische
Zukunft ganz unsicher war und von einer himmlischen die Heiden keine
Gewißheit hatten.
In dieses früh alternde Reich hinein hatte der Herr nun das
Evangelium gesetzt, damit gerettet werde, was sich retten lassen
wollte. In Rom selber, der stärksten Feste des Götzendienstes, be-
stand eine Christengemeinde. Wie das Evangelium so bald den
Weg von Jerusalem nach Rom zurückgelegt haben mag? Wahr-
scheinlich sind es von jenen Ausländern aus Rom etliche gewesen, die
den edeln Samen des göttlichen Worts dorthin getragen haben,
Apg. 2, 10'. Als Paulus an die Gemeinde schrieb, stand sie schon als
eine helle Leuchte mitten in der heidnischen Finsterniß da, alö. eine
Stadt auf dem Berge; der Apostel rühmt, daß man von ihrem Glau-
ben in aller Welt sage.
Dorthin zog nun der heilige Paulus, freilich als ein Gebundener,
aber dennoch konnte er dort das Evangelium mit aller Freudigkeit
unverboten predigen. Freilich mußte er nachher an demselben Orte
sein Leben um des Zeugnisses willen von Christo dargeben, und an
drittehalb Jahrhunderte lang hat Rom das Blut der Märtyrer ver-
aoffen; aber es ist dennoch das Reich unsers Gottes und seines
Christus geworden
229
Zweiter Abschnitt.
Die ersten Zeiten der Kirche.
1. Die Christenverfolgungen.
1. ñer Herr hatte zu seinen Jüngern gesagt: „Wäret ihr von
der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von
der Welt seid, sondern ich habe euch von der Welt erwählt, so hasset
euch die Welt." So geschah es denn auch. Anfangs wurden die
Christen von den Juden verfolgt, wie davon die Apostelgeschichte
erzählt. Nach der Zerstörung Jerusalems wütheten besonders die
Heiden gegen die Christen mit furchtbaren Martern. Sie wurden
durchs Schwert getödtet, mit Feuer verbrannt, von wilden Thieren
zerrissen, in Flüssen ersäuft, in siedendes Öl oder Pech gesenkt, mit
Pech bestrichen und dann angezündet, gekreuzigt und zerschlagen;
viele ließ man in dumpfen Kerkern hinschmachten. Da ist wohl
mancher, bei welchem der Same nicht Wurzel hatte, abgefallen und
hat Christum verleugnet; aber die meisten Christen haben ihr Leben
nicht geliebt bis in' den Tod, sondern es willig dargegeben, um
das ewige zu erlangen. Das vergossene Märtyrerblut aber ist der
Same der Kirche geworden; wenn die Heiden die Freudigkeit sahen,
mit der die Christen in den Tod gingen, so staunten sie wohl und
dachten: Deren Glaube muß der wahrhafte sein.
Die heidnischen Verfolgungen begann der Kaiser Nero im Jahr
64. Er ließ die Stadt Rom anzünden; das gab einen furchtbare!!
Brand. Als das Volk darüber unmuths wurde, gab er vor, die
Christen hätten es gethan. Nun wurden sie ergriffen und gekreuzigt,
den Hunden vorgeworfen, mit brennbaren Stoffen bestrichen und
nachts angezündet. Damals priesen auch die beiden großen Apostel
Paulus und Petrus den Herrn mit ihrem Tode.
2. Unter dem Kaiser Trajan erlitt Ignatius im Jahre 116
den Märtyrertod. Er war Bischof zu Antiochien. Der Kaiser war
auf der Rückkehr von einem Kriegszuge gen Antiochien gekommen.
Als Ignatius sich unverhohlen für einen Christen bekannte, verur-
theilte Tkajan ihn, daß er nach Rom gebracht und zur Belustigung
des Volkes den wilden Thieren vorgeworfen werde. Seine Reise
nach Rom glich einem Triumphzuge, dessen Ziel die Pforten der
himmlischen Stadt sind. In Begleitung von zehn Soldaten, an
deren einen er geschmiedet war, bestieg er das Schiff, gesegnet von
den Thränen und Gebeten seiner Gemeinde. In Smyrna mußte
das Schiff mehrere Monate weilen; er erhielt (Älaubniß, den dor-
tigen Bischof Polykarpus zu besuchen. Beide waren Schüler des
Apostels Johannes gewesen, und wer da weiß, was die Liebe Christi
m den Herzen wirkt, mag sich eine Dorstelluug von dieser Zusam-
menkunft machen. Don allen Seiten kamen Abgeordnete der um-
230
herliegenden Gemeinden, um den Märtyrer auf seinem Todesgange
zu grüßen, seine letzten Ermahnungen zu hören und an seinem Glau-
bensmuthe sich zu stärken zu den Leiden, die auch ihrer warteten.
An die Gemeinde zu Rom, welche sich erboten hatte, seine Befrei-
ung zu bewirken, schrieb er: „Herrlich ists, unterzugehen der Welt
zu Gott hin, damit ich aufgehe zu seiner Anschauung. Laßt mich
die Speise der Thiere werden. Gottes Korn bin ich; durch die
Zähne der wilden Thiere will ich gemahlen werden, damit ich als
reines Brot Christi erfunden werde. — Meine Liebe ist gekreuzigt;
es ist in mir kein Feuer dieser Welt, aber Wasser des Lebens, und
es ruft mir zu im Innern: Komm zum Vater." Mit solcher Todes-
freudigkeit eilte er seinem Ziele zu. Das Schiff segelte nach Troas;
dort empfingen ihn abermals Abgeordnete der umliegenden Ge-
meinden, und er ermahnte, tröstete und stärkte ihre Seelen. Nun
aings über Macedonien nach Italien. Je näher er kam, desto mehr
freute er sich, bald abzuscheiden und bei Christo zu sein. Die
römischen Brüder, welche ihm entgegen kamen, baten ihn vergeblich,
sich für ihn verwenden zu dürfen. So kam er denn in Rom an.
Wenige Tage darauf ward er zum Richtplatz geführt; viele Christen
begleiteten ihn. Er betete mit ihnen; seine letzte Bitte war, der
Herr möge der Verfolgung bald ein Ende machen. Dann ward er
den wilden Thieren vorgeworfen; in wenigen Augenblicken hatten
sie ihn verschlungen. Die wenigen Gebeine, welche übrig blieben,
sammelten die Brüder und begruben sie in Antiochien.
3. Unter der Regierung des Kaisers Mare Aurel wurde im
Jahre 165 Justin der Märtyrer aetödtet. Er war zu Sichem in
Samarien geboren. In seiner Seele war ein tiefes Verlangen nach
einer Erkenntniß, die das Herz befriedigt. Er suchte zuerst bei heid-
nischen Weltweisen. Da sein erster Lehrer ihm keine Auskunft von
Gott geben konnte, suchte er einen zweiten auf; dieser aber han-
delte erst mit ihm über eine große Geldsumme als Belohnung für
seinen Unterricht und gab damit zu erkennen, daß ihm Geld mehr
gelte als die Wahrheit, daher ging Justin zu einem dritten. Der
forderte, daß er zuerst Musik, Sternkunde und Rechenkunst gründ-
lich verstehen müsse, ehe er anfangen könne, die Weisheit zu lernen.
Das dauchte ihn aber ein Umweg zu sein, und er ging zu einem
vierten, der ihm einsanre Selbstbetrachtung als den Quell der Wahr-
heit anempfahl. Auf diesem Wege kam er allerdings etwas weiter,
nemlich zu der schmerzvollen Erkenntniß des tiefen Zwiespaltes zwi-
schen dem, was er sein sollte, und dem, was er war; aber die
Lösung und Heilung dieses Zwiespaltes konnte er nicht finden. Da
ging er einst am Meeresstrande wandeln; es begegnete ihm ein
alter ehrwürdiger Christ. Sie kamen bald in ein Gespräch, und Ju-
stin bezeugte ihm sein brünstiges Verlangen nach Erkenntniß Gottes.
Der Christ verwies ihn auf die Schriften der Propheten und sagte
ihm auch etwas vom Evangelium. „Vor allen Dingen aber bete,"
setzte er hinzu, „daß dir die Thore des Lichts aufgethan werden;
denn sie können von keinem gesehen werden, dem es nicht von Gott
231
und seinem Christus gegeben wird." „Er jprach noch vieles von
derselben Art," erzählt Justin, „und dann verließ er mich. Ich habe
ihn nicht wieder gesehen; aber es war ein Feuer in meiner Seele
angezündet worden, und ich fühlte einen starken Zug zu den Pro-
pheten und den Freunden Christi. Ich erwog, was der Alte gesagt
hatte, und am Ende fand ich, daß die heilige Schrift die einzige
wahre Quelle der Weisheit sei." — So hatte er nach langem
Suchen die eine köstliche Perle gefunden, und sein Finden ist ein
Beweis, wie Gott es den: Aufrichtigen gelingen läßt. Nun achtete
er alles für Schaden gegen die überschwengliche Erkenntniß Iesil
Christi und verwandte die ausgezeichneten Gaben, welche er besaß,
ganz zunl Dienste Gottes. Mü den Waffen einer reichen Schrift-
gelehrsamkeit stritt er gegen die, welche die Gläubigen durch falsche
Lehre irren wollten, und die Christen vertheidigte er freimüthig gegen
die ungerechten Beschuldigungen der Heiden. Auch den: Kaiser über«
gab er eine Schutzschrift für die Christen; allein bei diesen: reichte
sein Bekenntniß, daß er ein Christ sei, hin, ihn des Todes schuldig
zu finden. Mit sechs andern Christen wurde er in Nom erst gegei-
ßelt und dann enthauptet.
4. Drei Jahr später wurde unter demselben Kaiser Poly-
karp, Bischof von Smyrna, ein Opfer der Verfolgung. Er war
ein Jünger des Apostels Johannes und hatte von diesem ebenso-
wohl die Liebe, wie den Eifer für die Ehre des Herrn gelernt. Ein
Irrlehrer Marcion, der die göttliche Wahrheit zu verfälschen suchte,
sagte einst zu ihm, als er ihm auf der Straße begegnete: „Poly-
karp, erkenne uns an!" Polykarp antwortete: „Ja, ich erkenne dich,
daß du der Erstgeborne des Satans bist." — Von den Juden er-
hitzt hatte das Volk die Christen zu Smyrna blutig verfolgt, und
der schwache Statthalter gab jedem Verlangen desselben nach, ob-
wohl er für seine Person kein Feind der Christen war. Sie wurden
bis auf die Knochen gegeißelt, den wilden Thieren vorgeworfen oder
auf Scheiterhaufen verbrannt; aber sie bewiesen unter den Martern
eine solche Standhaftigkeit, daß sie auch nicht einen Seufzer hören
ließen. Nur die, welche sich in eigenwilliger, falscher Begeisterung
zum Märtyrertode gedrängt hatten, wurden im Angesicht des Todes
abfällig, und von diesem schwärmerischen Hinzudrängen sagte die
Gemeinde: Nicht also lehrt das Evangelium. Jene Standhaftigkeit
der Märtyrer brachte das Volk in solche Wuth, daß es laut den
Tod des Polykarp verlangte, weil dieser doch der Anstifter solcher
Gottlosigkeit, wie die Herden die Bekennertreue nannten, sei. Als
Polykarp davon erfuhr, wollte er ruhig in der Stadt bleiben; auf
Andringen seiner Gemeinde aber begab er sich auf einen Landsitz.
Hier in der Stille, umgeben von wenigen Freunden, betete er Tag
und Nacht, wie er gewohnt war, zu seinem Herrn; und dieser offen-
barte ihm in einem Gesicht, was ihm bevorstand: ersah, daß sein
Kopfkissen von Feuer verzehrt wurde. Den Sinn wohl verstehend
sprach er zu seinen Freunden: „Ich soll lebendig verbrannt werden."
Bereits war er, durch Verrätherei genöthigt, nach einem andern
232
Landsitz geflohen, als die Häscher ihn entdeckten. Er sprach: „Des
Herrn Wille geschehe", redete freundlich mit seinen Verfolgern und
befahl, ihnen zu essen und zu trinken zu geben; dann erbat er sich
von ihnen nur noch die Gunst, ihm eine Stunde zu ruhigem Gebete
zu gönnen; aber so voll der Gnade Gottes war er, daß er wohl
zwei Stunden lang nicht aufhören konnte zu reden, so daß auch
die Heiden tief bewegt winden. Nun ward er zur Stadt geführt
und unter dem Getümmel des Volks vom Statthalter verhört. Dei
Statthalter sprach: „Bedenke dein hohes Alter; fluche Christo, und
ich lasse dich los." Polykarp aber erwiderte: „Sechsundacktzig
Jahre habe ich ihm gedient, und er hat mir nur Gutes erwiesen:
wie sollte ich ihm fluchen, meinem Herrn und Heilande?" Gern
hätte ihn der Richter gerettet; er wollte zuletzt ihn durch Drohungen
schrecken und foate: „Ich habe wilde Thiere." „Laß sie kommen",
erwiderte der Märtyrer. „Wir haben auch Feuer," sagte ein an-
derer. „Du drohest mit einem Feuer," entgegnete er, „welches nur
einen Augenblick brennt; aber du weißt nichts von dem zukünftigen
Gerichte und dem Feuer der ewigen Strafe, welches für die Gott-
losen aufbehalten ist. Doch warum verziehst du? Thu, was dir
gefällt." Nun ließ der Richter ausrufen: „Polykarp hat bekannt,
daß er ein Christ sei." Das Volk brüllte voll Wuth: „Polykarp zu
den Löwen." Da die Zeit der Festspiele schon vorbei, das Vorwer-
fen vor die wilden Thiere also nicht mehr möglich war, so verur-
teilte der Statthalter ihn zum Feuertode. Schnell war der Schei-
terhaufen zugerichtet, und Polykarp sollte an dm Pfahl gebunden
werden: er ließ es aber nicht zu, sondern blieb mit auf den Rücken
gebundenen Händen frei und unbeweglich am Pfahle stehen und
betete: „Herr, allmächtiger Gott, Vater deines geliebten Sohnes
Jesu Christi, durch den wir zu deiner Erkenntniß gelangt sind, Gott
aller Creatur, ich preise dich, daß du mich gewürdigt hast dieses
Tages und dieser Stunde, theil zu nehmen an der Zahl deiner
Zeugen, an dem Kelche deines Christus; darum preise ich dich, ich
lobe dich, ich erhebe dich durch den ewigen Hohenpriester Jesum
Christum, deinen geliebten Sohn, durch welchen, mit ihm, in dem
heiligen Geiste sei dir Ehre jetzt und in Ewigkeit. Amen." Dann
wurde das Holz angezündet; aber es war, als wollte das Feuer den
treuen Bekenner nickt antasten. Wie ein Segel, das der Wind gefaßt
bat, umgab ihn die Flamme, und sein Leib strahlte wie Gold und
Silber, das im Schmelzofen geläutert wird. Darüber ungeduldig
durchstieß ihn ein Kriegsknecht mit dem Schwerte. — Sein Tod
machte der Verfolgung im Lande ein Ende; denn der Statthalter wollte
von da an nicht wissen, daß noch Christen vorhanden waren.
5. Zu derselben Zeit wurden auch die Christen in Gallien
verfolgt. Unter ihnen war die zarte Sklavin Blandina. Die
ausgesuchtesten Martern, wie Brennen mit glühenden Metallplatten,
Setzen auf glühende eiserne Stühle, fürchterliche Geißelschläcke, Bisse
wilder Thiere, konnten sie nicht zum Widerruf bringen. Sie blieb
dabei: „Ich bin eine Christin, und unter uns wird nichts Böses
233
begangen." Es war, als ob sie auf dies Bekenntniß jedesmal
wieder neue Kraft zur Standhaftigkeit bekäme. Sie wurde endlich
in einem Netze den Hörnern eines Stieres preisgegeben.
6. Dreißig Jahr später starb unter den Märtyrern zu Kar-
thago auch Perpetua, eine junge Frau aus edelm Geschlechte,
die Gattin eines vornehmen Mannes. Sie wurde mit ihrem Säug-
linge ins Gefängniß geworfen; den herzzerreißenden Bitten ihres
Vaters, der sie zum Abfall bewegen wollte, widerstand sie. Nach
einem treuen Bekenntniß vor dem heidnischen Richter ward sie sammt
ihrer Leidensgenossin Felicitas bei einer Thierhetze einer wilden Kuh
vorgeworfen und zuletzt vollends mit dem Schwerte getödtet.
An demselben Orte wurde ein halbes Jahrhundert später der
Bischof Cyprian von Karthago mit andern standhaften Bekennern
getödtet.
Die letzte Verfolgung begann unter dem Kaiser Diocletian.
Sie war so "grausam, wie jemals eine gewesen war. Die Mord-
schwerter wurden zuletzt stumpf und zerbrachen als abgenutzt; die
Henker ermüdeten und mußten sich ablösen: die Christen aber
stimmten dem allmächtigen Gott zu Ehren Lob- und Danklieder an
bis zum letzten Hauch ihres Lebens. Das letzte Blut, das in diesen
Verfolgungen floß, war das von dreißig Bekennen, die im Jahr
310 im gelobten Lande enthauptet wurden.
2. Luttainl «ier alle» lürche.
1. So lange die Apostel lebten, genossen sie vor andern
Gläubigen das höchste Ansehen. Schon früh waren ihnen zur
Seite Diakonen (Helfer) erwählt worden, welchen besonders
die Armen- und Krankenpflege oblag. Zog.Paulus von einem
Orte weg, so verordnete er der Gemeinde Älteste (Presbyter,
Priester) und Aufseher (Bischöfe). Sie hatten das Evan-
gelium zu predigen und die heiligen Sacramente zu verwalten.
Anfangs gab es unter ihnen keinen Unterschied; erst nach der
Apostel Zeiten, als die Gemeinden immer größer wurden, er-
hielt einer von den Ältesten als Oberaufseher einen Vorrang
an Macht und Ansehen; der wurde nun allein mit dem
Bischofsnamen beehrt, während die übrigen Priester genannt
wurden. Alle wurden unter Gebet und Handauflegung in ihr
Amt eingesetzt; so ist es apostolische Ordnung geblieben in
der christlichen Kirche bis auf den heutigen Tag.
2. Kirchen gab es in der ersten Zeit noch nicht. Die
Christen kamen im Tempel und nachher in den Häusern zu-
sammen, wo gerade eine passende Stätte zu finden war, alle
Tage, besonders aber am Sabbat; es wurde aus dem alten
Testamente, später auch aus den Evangelien und den apostolischen
Briefen vorgelesen, woran sich Auslegung und Ermahnung
Ichloß; ferner wurden Psalme und Loblieder gesungen, gebe-
tet und zum Schluß das heilige Abendmahl gefeiert. In den
folgenden Zeiten, als heftige Verfolgungen hereinbrachen,
234
waren es auch wohl Wälder, Höhlen oder Klüfte, wo sie im
Dunkel der Nacht ihren Heiland anbeteten. Doch hatten sie
in den letzten Verfolgungen auch schon hier und da prächtige
Kirchen. Gern versammelten sie sich auch auf den Begräbniß-
stätten der Märtyrer, deren Todestage sie als himmlische Ge-
burtstage feierten.
3. Je weiter das Evangelium sich ausbreitete, desto mehr
entstanden eigenthümliche christliche Feiertage, und die
alten jüdischen Feste wurden vergessen. Bei den Heiden-
christen trat an die Stelle des Sabbats der Sonntag als
Feiertag, denn an diesem war der Herr auferstanden. Als
Freudentag wurde er ausgezeichnet durch stehendes Gebet,
während sonst meist knieend gebetet wurde. Mittwoch und
Freitag wurden später zum Gedächtniß des Leidens Christi
(Verrath und Tod) als Buß-, Bet- und Fasttage begangen bis
drei Uhr nachmittags. Unter den Festen kam zuerst das
Osterfest auf: Pfingsten kam erst im dritten, und Himmel-
fahrt und Weihnacht im vierten Jahrhundert auf, das
letzte zuerst im Abendlande.
4. Das neue Leben der Christen offenbarte sich in einem
gottseligen Wandel, welcher davon Zeugniß gab, wie das
Christenthum nicht sowohl eine neue Lehre, sondern ein neues
Leben ist. Die Liebe trieb sie, den armen Brüdern beizu-
stehen. ^Vie viele ihrer waren in der Gemeinde zu Jerusalem,
die da Acker oder Häuser hatten, die verkauften dieselben
und brachten das Geld des verkauften Guts und legten es zu
der Apostel Füßen, welche jedem nach Bedürfniß davon aus-
theilten. Von Antiochien wurden Paulus und Barnabas gen
Jerusalem gesandt, zur Zeit der Theurung den dortigen
Christen Handreichung zu überbringen, und auf seiner dritten
Reise nahm der Apostel abermals eine Summe Geldes dorthin
mit, die er unter den Heidenchristen gesammelt hatte. In
Liebe fühlten sich die Gemeinden mit einander verbunden;
ihre Gemeinschaft unter einander wurde gepflegt durch Briefe
und durch reisende Christen; diese wurden gastfreundlich be-
herbergt. Paulus hatte ihnen ja gesagt: Hier ist kein Jude
noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein
Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo.
Ein guter Theil der Christenheit bestand zu Anfang aus Skla-
ven und Frauen, denn diese beiden hatten von der Sünde der
Welt am meisten zu leiden; von jenen wurde das Evangelium
zu ihren Herren, von diesen zu ihren Kindern getragen. Die
Kranken wurden sorgsam gepflegt, selbst mit eigner Lebens-
gefahr. Die Heiden, wenn sie solches bemerkten, wunderten
sich darüber aufs höchste und sprachen* „Seht, wie sie einan-
der lieben." Ein christlicher Mann aus jener Zeit schreibt
dazu: „Das fällt den Heiden so auf, wie einer für den andern
zu sterben bereit ist; denn sie sind gewohnt, einander zu haf-
235
fen.“ Die Ehe wurde heilig gehalten; die Kinder wurden von
früh auf von den Müttern zum Gebet angehalten und fleißig
von den Lehrern im Worte Gottes unterrichtet. Als Glieder
Christi enthielten sich die Christen von den heidnischen Sünden;
Öffentliche Lustbarkeiten, Tanz und Schauspiel mieden üe.
Ein Kirchenlehrer schreibt: „Wir, die wir einst der Wollust
dienten, streben jetzt nach Sittenreinheit; die wir einst Geld-
gewinn mehr als alles liebten, theilen jetzt auch das, was wir
besitzen, mit allen und geben jedem Dürftigen; die wir einst
einander haßten und mordeten, lieben uns unter einander und
beten für unsre Feinde. — Die Christen leben im Fleisch,
aber nicht nach dem Fleisch; sie wohnen auf Erden und leben
im Himmel; sie werden von allen verkannt, verfolgt und ver-
dammt, aber sie lieben alle; sie sind arm und machen viele
reich; sie haben an allem Mangel und an allem Überfluß; sie
werden beschimpft und segnen. Mit einem Wort: was in dem
Leibe die Seele ist, das sind in der Welt die Christen.“ Ihr
ganzes Leben stellten sie sich als einen heiligen Kampf vor.
Gebet und Fürbitte begleiteten all ihr Thun. Das Fasten
wurde als eine feine Zucht empfohlen. — Freilich fehlte es
schon gleich im Anfange auch nicht an dem Unkraute unter
dem Weizen, wie davon die Apostelgeschichte erzählt. Die
Fehlenden aber wurden liebevoll ermahnt, grobe Sünder auf
eine Zeitlang vom Genuß des heiligen Abendmahls ausge-
schlossen, und solche, die fortdauernd in Unglauben und Sün-
den beharrten, ganz von der Gemeinde ausgeschlossen. — Wo
die Gläubigen etwas Wichtiges im Leben vorhatten, mußte
auch Christus immer mit dabei fein; die Brautleute nahmen an
ihrem Hochzeitstage mit der Gemeinde das heilige Abendmahl.
Ihre Häuser und Geräthe schmückten sie gern mit christlichen
Sinnbildern; als solche gebrauchten sie den Hirten mit einem
Lamm auf der Schulter, die Taube, den Anker, die Laute,
ein gen ^ Himmel segelndes Schiff, und vor allen das Zeichen
des heiligen Kreuzes, welches sie beim Aufstehen und Schlafen-
gehen an die Stirn zu machen pflegten, um Wachen und
Schlafen, Arbeit und Ruhe dadurch zu weihen. — Als sie in
späteren Zeiten Kirchen bauen durften, begruben sie ihre
Todten rings um die Kirche her und wurden selbst allda be-
graben; denn sie wollten zu allen Zeiten so nahe als möglich
bei dem Heiligthum ihres Herrn fein und hofften am Ta-^e
seiner Zukunft, wann die Posaune zum Auferstehen werde
durch die Gräber schallen, zu ewiger Freude vor ihrem Herrn
zu erwachen.
3. Konstantin der Große und seine nächsten Nachfolger.
1. Nie letzten Christenverfolger waren Diocletian und sein
Schwieger,ohn Galerius. Zu deren Zeiten gebot in Gallien, Bri-
tannien und Spanien der Unterkaiser Konstantias. Er war mild
/
236
und den Christen freundlich, weshalb diese in seinen Ländern ver-
schont blieben. Sein Sohn Konstantin erbte des Vaters Macht und
Heere und auch dessen freundliche Gesinnung gegen die Christen.
Er zog im Jahre 312 gegen seinen heidnischen Gegenkaiser Maxen-
tius zu Felde. Da betete er zum Herrn um Sieg. Es war Nach-
mittag, die Sonne stand hoch am Himmel, der Kaiser war mit
seinem Heere auf dem Marsche; da sah er plötzlich das flammende
Zeichen des Kreuzes unter der Sonne mit der leuchtenden Über-
schrift: In diesem siege. In der Nacht darauf erschien ihm der
Herr im Traum und gebot ihm, dies Kreuz zu seinem Panier zu
nnachen. Er that es, und besiegte unter der Fahne des Kreuzes
seinen heidnischen Gegner, der nochmal die Kraft des Heidenthums
zusammengerafft hatte zum letzten Verzweiflungskampfe. In demsel-
ben Jahre noch erließ er ein allgemeines Duldungsgesetz, wodurch
die Christen Schutz erhielten. Nachdem er im Jahre 323 alleiniger
Herrscher im ganzen römischen Reiche geworden war, bekannte er
sich unverhohlen zum Christenthum. Mit Gewalt wollte er das
Heidenthum nicht ausrotten; doch ließ er mehrere Götzentempel nie-
derreißen, besonders wo der Götzendienst geradezu mit andern argen
Sünden verbunden war. Aus Abneigung gegen Nom, wo das
Heidenthum noch sehr fest saß, verlegte er seinen Wohnsitz nach By-
zanz, welches nach ihm Konstantinopel genannt wurde. Durch Er-
bauung christlicher Kirchen suchte er und noch mehr seine Mutter
Helena das Volk von den Heidentempeln weg und zur Anbetung
Gottes herüber zu bringen. Oft wurden geradezu zwischen den
Marmorsäulen der alten verlassenen Tempel die Mauern der neuen
Christenkirchen aufgeführt. Von nun an wurden Christen zu hohen
Ämtern im Reiche'befördert; kein kaiserlicher Beamter sollte ferner
opfern. Freilich vermehrte sich nun auch die Zahl der Scheinchristen;
viele Glaubenslose wandten den Mantel rasch nach dem Winde,
denn durch ein erheucheltes Christenthum dachten sie bald zu Würden
emporzusteigen.
Obwohl das Christenthum dem Kaiser Herzenssache war, so
hatte es doch keine gänzliche Umwandlung seines Herzens zuwege
gebracht; in seinem Zorne ließ er seinen Sohn auf falsche Beschuldi-
gung hin tödten. Die Bischöfe aber, statt ihn auf seine Sünden
aufmerksam zu machen, schwiegen, entweder, weil die Macht des
Hofes ihre Augen blendete, oder weil ihnen selber schon die Leuchte
des Evangeliums nicht mehr hell genug leuchtete. Kurz vor seinem
Tode ließ er sich taufen und versprach, fortan Gottes heilige Gesetze
zur Richtschnur seines Lebens zu machen. Bald darauf, am ersten
Psingsttage 337, starb er imdemüthigem und freudigem Vertrauen auf
Gottes Erbarmung in Christo.
Seine drei Söhne theilten sich in das Reich. Nach dem Tode
seiner Brüder war Konstantins Herr des ganzen Reichs. Er ließ
die Heidentemp.el ganz schließen und verbot alle Opfer bei Todesstrafe.
2. Als Konstantins starb, erbte sein Vetter Julian die Herr-
schaft. Dieser batte seinen Widerwillen gegen das Christenthum
237
unter dem Scheine von Frömmigkeit zu bergen gewußt; das wahr-
haftige Wesen des Evangeliums kannte er gar nicht. Da er nun
Kaiser geworden war, suchte er dasselbe mit Hinterlist zu unterdrü-
cken und das Heidenthum hoch zu bringen. Er nahm die Kirchen-
güter in Besitz, beförderte die Zerrissenheit der Kirche dadurch, daß
er allerlei Ketzer begünstigte, suchte die christlichen Soldaten durch
Lockungen zur Theilnahme an den Opfern zu gewinnen, verdrängte
die Christen aus den höheren Ämtern und überhäufte sie mit Hohn
und Spott. Dagegen errichtete er Götzentempel; die heidnischen
Priester mußten in köstlichen Kleidern dem Volke von Zucht und
Sitte predigen und sie ermahnen, es den Christen an Barmherzig-
keit gleichzuthun; wer sich wieder zum Götzendienste wandte, bekam
Geld und Ehrenstellen. Es wollte ihm aber alles nicht einschlagen.
So hielt, er in Antiochien ein Götzenfest; aber niemand vom Volke
brachte Ol oder Weihrauch, nur ein einziger Priester kam und brachte
eine Gans zum Opfer, das war alles. ' Da hielt er den Leuten zu
Antiochien ein tüchtige Strafrede; aber die ging in den Wind. —
Da er nichts ausrichtete, ward er nur um so feindseliger gegen die
Christen, und wohl wären bald blutige Verfolgungen ausgebrochen.
Da sah Gott darein; in einem Feldzüge gegen die Perser ward Julian
von einem Pfeil getroffen. Als er die Todeswunde erhielt, soll er
eine Hand voll Bluts aus derselben in die Luft geworfen und in-
grimmig ausgerufen haben: „So hast du doch gesiegt, Galiläer/'
Er hatte 20 Monate regiert und ist der letzte Heidenkaiser Roms
gewesen.
4. Monika und Augustinus.
1. Än der Stadt Tagaste in Afrika lebte um das Jahr 350
eine fromme Jungfrau mit Namen Monika. Durch fleißigen Besuch
der christlichen Versammlungen erlangte sie eine große Festigkeit des
Glaubens und christliche Klarheit und Entschlossenheit. Daß der
Glaube der Sieg ist, welcher die Welt überwindet, bewies sie zuerst
an ihrer heidnischen Schwiegermutter, dann an ihrem heidnischen
Gemahle. Er war der heftigste Mann in Tagaste. Nasch aufflackernd
war sein Wohlwollen, eben so schnell konnte er aufbrausen im furcht-
barsten Zorne. Oft brach er die eheliche Treue, oft übernahm er sich
im Trünke; nie machte ihm Monika Vorwürfe, aber täglich betete
sie zum Heilande, daß er ihres Mannes Seele retten möchte. Nie
trat sie ihm bei seinem Jähzorne mit einem Worte entgegen, nie
vergalt sie ihm die angethanen Kränkungen mit grollendem Still-
schweigen; wenn er tobte, so war ihr zu Muthe, als sollte sie
weinen über sein armes, friedloses, verwildertes Herz. Demüthig
und mit willigem Gehorsam befolgte sie seine Befehle; mit Umsicht
und Ordnungsliebe, rasch und gewandt in allen häuslichen Geschäf-
ten, wußte sie das Ihre zusammenzuhalten. Auf solche Weise, nicht
durch Worte, legte sie in ihrem Hause lebendiges Zeugniß ab von
Christo. Und so ging das Wort an ihr in Erfüllung: „Durch
Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.", Ihre erste Eroberung
238
machte sie an ihrer Schwiegermutter. Ost wurde sie durch schaden-
frohe Geschwätzigkeit der Dienstboten bei ihr verleumdet; aber durch
unausgesetzte Freundlichkeit, Sanstmuth und Dienstsertigkeit gewann
sie das Herz der Schwiegermutter und ihr volles Vertrauen. Bei ihrem
Manne ging es aber langsam; 16 Jahre hatte sie um seine Seele gebe-
tet und geduldet. Erst gewann sie seine Hochachtung; daun zwang ihn
der heilige Geist, daher sein treues, frommes Weib um Verzeihung
bitten mußte, wenn er gegen sie getobt hatte. Ihre stete Klarheit, stille
Sanstmuth und christliche Gelassenheit waren ihm ein Spiegel, in wel-
chem er täglich sein wüstes, ruheloses, heidnisches Wesen schaute. Er
urtheilte immer günstiger über das Christenthum, und endlich ließ er
sich unter die Zahl der christlichen Katechumenen aufnehmen. Nun be-
währte sich auch an ihm das Evangelium als eine Kraft Gottes, selig
zu machen alle, die daran glauben. Welche Freude für Monika! Doch
sie währte nicht lange; denn bald nachdem ihr Gemahl die heil. Taufe
empfangen, rief ihn der Herr zu sich.
2. Monika hatte einen Sohn, Aureliud Augustinus, einen
hochbegabten Jüngling, der aber, einzig und allem getrieben von
Ehrgeiz und der Sucht zu glänzen, von Bekehrung seines Herzens
zu Gott nichts wußte. Im Umgänge mit aufgeblasenen und zucht-
losen Menschen sank er immer tiefer ins Verderben. Monika konnte
nur weinen, warnm und beten. Und als ihr der Kummer um den
verlornen Sohn das Herz brechen wollte, schüttete sie es vor dem
Bischof ihrer Vaterstadt aus. Der sprach das tröstliche Wort: „Weib,
gehe nur hin und fahre fort zu beten. So wahr du lebst, es ist ja
nicht möglich, daß ein Sohn so vieler Thränen verloren gehe!"
Und er hatte wahr gesprochen. Augustinus hatte sich heimlich von sei-
ner bekümmerten Mutter wider ihren Willen fortgerissen, war nach
Rom gegangen, hatte dort vergebens mehr Ruhm und Einkünfte ge-
sucht und sich endlich nach Mailand gewendet. Da erweckte die Pre-
digt des Bischofs Ambrosius in ihm einen Hunger nach der rech-
ten Seelenspeise, der untrüglichen, göttlichen Wahrheit; seine Seele
war so ruhe- und friedeleer, bis sie Ruhe fand in dem Herrn. Er sah,
wie andere dem Genusse des Reichthums entsagten um Gottes willen,
erfuhr, wie gelehrte Männer seinesgleichen, Ungelehrte von hohem
Stande demüthige Christen wurden: da konnte er es nicht länger
aushalten. „Was ist das? Wie geschieht uns?" rief er seinem
Freunde zu, „Ungelehrte reißen das Himmelreich an sich, und wir
mit unserm herzlosen Wissen bleiben dahinten und wälzen uns in
der Sünde?" Glühend ging er in das Gärtchen am Hause, wei-
nend warf er sich unter einem Feigenbäume nieder und rang mit
Gott im heißen Gebete: „Ach, Herr, warum nicht in dieser Stunde
das Ende meiner Schande?" Da hörte er vom Nachbarhause her
eine singende Stimme: „Nimm und lies!" Er entfärbte sich. Eiligst
schlägt er die Schrift auf und liefet Röm. 13, 13. 14. Mehr be-
durfte es nicht. Der Herr hatte sich dies sein Kind erobert. Nun
begann ein neues Leben, und ein Jahr darauf wurde Augustin vom
Bischof Ambrosius getauft. Monika aber, die ihm nach Italien
239
nachgereist war, ging bald, selig in ihrem Gott und hochbeglückt
über die Erhöruna ihres Gebets, ein zu ihres Herrn Freude. —
Als Bischof von Hippo in Afrika wendete Augustinus nun alle seine
Gelehrsamkeit und seine hohen Gaben zur Förderung des Reiches
Gottes an, und bald erkannte die ganze Christenheit in ihm einen
großen, von Gott ausgerüsteten Mann. Er hatte es erfahren im
tiefsten Innern, daß er nur durch Gottes Gnade das geworden, was
er warsdarum bekämpfte er auch den Mönch Pelagius, welcher lehrte,
der Mensch sei schon an sich so gut, daß er keiner Wiedergeburt durch
die göttliche Kraft und Gnade bedürfe. Durch die Gewalt seiner
gewinnenden Sprache und Persönlichkeit ist er der größte der alten
Kirchenlehrer des Abendlandes geworden. Er starb im Jahre 430
nach Chr. — Nach dem Herrn und seinem Knechte Paulus verdankt
Dr. Luther in seinem christlichen Wissen und Glauben keinem mehr,
als diesem Augustinus. Aus seinen Schriften tönten die Klänge von
der freien Gnade Gottes so tröstlich in Luthers zerschlagenen Geist,
daß er der Werkgerechtigkeit den Rücken kehrte und eine Kirche sam-
melte, deren Grund ist: die Gerechtigkeit aus dem Glauben, der durch
die Liebe thätig ist.
Dritter Abschnitt.
Deutschland.
1. Die Alpen.
1. Äie Alpen erstrecken sich von Frankreich und Italien aus
über die Schweiz und einen großen Theil des südlichen Deutsch-
lands in einer Länge von mindestens 120 Meilen. Aus den Thal-
gründen erheben sich die Berge viele tausend Fuß hoch, unter ihnen
der über 14000 Fuß hohe Montblanc; feierlich und still schauen
ihre mit blendend weißem Schnee bedeckten Häupter in die grünen
Alpenthäler herein. In diesen liegen die Gebirgsdörfer mit ihren
hölzernen Häusern, deren Dächer weit über die Wände hervorstehen
und gegen den Sturm mit großen Steinen beschwert sind, und kleine
schmucke Städte, deren Bewohner ihren Unterhalt durch Ackerbau,
Holzschnitzerei, Weben, Einsammeln heilkräftiger Kräuter und saure
Hüttenarbeit erwerben. Auch erblickt man Bergseen, zuweilen Mei-
len lang, mit waldigen Ufern oder mit schönen Obst- und Kastanien-
alleen in der Nähe; Dampf- und Ruderschisse und Kähne durch-
schneiden ihre blauen Fluten; an den Ufern derselben ziehen Ort-
schaften, Weinberge und Landhäuser sich hin. So spiegelt sich Genf,
die größte Stadt der Schweiz, in den Fluten des Genfer Sees, und
240
an der Grenze Deutschlands liegt, vom Rhein durchflossen, der Boden-
see. Die Seen werden gebildet durch eine Menge wilder Bergflüsse,
welche über die Felswände bald wie silberne Bänder, bald wie glän-
zende Wasserbogen oft mehrere hundert Fuß herabfallen.
2. Die Alpenthäler sind unten fleißig angebaut; man kommt
durch Gärten, Acker, Wiesen, freundliche Obstpflanzungen, hier und
da auch durch Weinberge. Dann geht der Weg durch" die Waldun-
gen, welche das Gebirge umgürten. Anfangs sind es kräftige Laub-
hölzer; weiter hinauf erheben sich schlanke Nadelhölzer. Oft glaubt
man in einer großen Einöde voll rauher Felsen und finsterer Tan-
nen zu sein; auf einmal aber wendet sich der Weg, und eine Wiese
mit dem schönsten blumigen Grün und von Rindern belebt öffnet
sich dem Äuge. Dicht daneben erheben sich steile Felswände zu
einer mächtigen Höhe, und hohe Tannen und Fichten blicken wie in
der Lust schwebend von ihnen herab. Je höher, desto mehr ver-
mindert sich der Baumwuchs; zuletzt bleiben nur Beerengesträuch
und die prächtige Alpenrose übrig. Nacktes oder mit Moos bewach-
senes Gestein breitet sich da überall vor den Blicken aus; himmel-
wärts türmen sich senkrechte Felswände zu allen Seiten auf, und
tiefe, schauerliche Risse und Spalten drohen den Wanderer zu ver-
schlingen. Wilde Gießbäche unterbrechen durch ihr lautes Getöse
die lautlose Einsamkeit. Hin und wieder nochmal ein Waldstreifen,
freilich nur von verkrüppelten Kiefern gebildet, und Heidelbeersträuche
auf steinigem Boden. Hier suchen im Sommer Marder und Wiesel
die Eier der Berg- und Schneehühner. Hoch in den Lüften kreist
der Lämmergeier, der auf den unzugänglichsten Felsen horstet und
Gemsen und Ziegen verfolgt. Aus den Löchern kriecht das harm-
lose Murmelthier, um Gras und Alpenkräuter zu suchen; die flüchtige
Gemse aber macht ihre gefährlichen Sprünge über Schluchten und Ab-
gründe, und wird vom kühnen Alpenjäger unter beständiger Lebens-
gefahr verfolgt.
Da oben liegen die höchsten Alpenwiesen mit ihren buntfarbi-
gen, würzigen Kräutern und ihrem feinen Grase. Auf diesen grü-
nen Matten weiden die Sennen und Sennerinnen in den wenigen
Sommermonaten zahlreiche Herden von Rindern, Schafen und Zie-
gen und bereiten Butter und Käse. Ihre Wohnungen sind Hütten,
aus rohein Holz oder aus kunstlos auf einander gelegten Steinen
erbaut; die Ritzen und Fugen sind mit Gras und Moos verstopft.
Das Dach ist mit schweren Steinen gegen die Gewalt des Windes
gesichert. Ganz nahe bei der Sennhütte sind die ebenso kunstlos
erbauten Stallungen, in denen die Herde zur Zeit des Unwetters
sichere Zuflucht findet. Schon im Mai ziehen die Sennen mit den
Ziegen und Schafen auf die Alp; vier Wochen später kommen die
Kühe nach. Solche Auffahrt auf die Alp ist ein allgemeines Fest.
Voran zieht der Senn, mit bunten Bändern reichlich geschmückt;
ihm folgt die größte, kräftigste Kuh mit einer mächtig großen Glocke
am Halse; dann kommt der Handbub, des Sennen Gehülfe, mit
der ganzen Herde, deren Zug der große Stier schließt. Jede Kuh
241
hört auf die Stimme des Sennen und auf die einfachen, lieblichen
Töne des Alpenreigens, den er auf seiner Schalmei bläst. Erlaubt
es die Witterung, fo bleiben die Herden Tag und Nacht im Freien
und werden da gemolken; sobald aber nachtheiliaes Wetter heran-
zieht, treibt sie der Senn den Ställen zu. Die Ziegen, welche sich
dann vorher jedesmal um die Hütte sammeln, dienen ihm dabei
als Wetterverkündiger. Beim Einbruch der Kälte, gewöhnlich im
September, werden die Sennhütten wieder verlassen und die Herden
in die Thäler hinabgetrieben.
3. Wo der Pslanzenwuchs aufhört, liegen die Firnen und
Gletscher. Jene sind ausgedehnte Felder von ewigein Schnee; diese
große Eisfelder, aus halbgeschmolzenem Schnee entstanden. Herr-
iich schimmert im Sonnenglanz das Eis in rother, blauer und grü-
ner Farbe. Bergauf, bergab schreitet man stundenlang fort, wobei
die Fußstapfen oft mit der Axt vorher gehauen werden müssen.
Hier und da erscheinen hohe Kuppeln von Eis, die im Sonnenlicht
wie blankes Silber leuchten. Hohe düstere Felsspitzen, an deren
Wänden der Schnee nicht haftet, ragen jäh empor; sie werden
Hörner genannt. Wenn am Morgen die Sonne die oberen Alpen-
höhen schon bescheint, während unten im Thal noch alles dunkel
ist; oder wenn ihre letzten Strahlen am Abend herüberfallen, und
bas tiefliegende Land schon mit Dämmerung bedeckt ist: dann pran-
gen die hohen Bergspitzen und die schroffen Hörner in purpurnem
Rosenlichte und scheinen roth zu flammm. Das ist das Alpen-
glühen.
Unter den Gletschern sind die Quellörtcr der vielen Alpenbäche,
deren blaues Wasser springend von Abhang zu Abhang sich ergießt.
Hier oben ist auch die Heimat der Lawinen. Manche Gegenden sind
vor allen als Werkstätten derselben bekannt. Man geht an solchen
Stellen behutsam über den thauenden Schnee weg und meidet das
Schießen; denn die geringste Erschütterung könnte größere oder klei-
nere Massen von Schnee lösen uitb eine Lawine veranlassen. Im
Fall wächst diese dann unaufhaltsam und reißt Bäume, ja selbst
Felsblöcke mit sich fort, bis sie sich endlich verheerend mit großem
Gekrach ins Thal stürzt, wo sie ganze Dörfer überschüttet, Seen
ausfüllt, deren Wasser staut und dadurch Überschwemmungen veran-
laßt. Selbst denjenigen Gegenden wird sie gefährlich, die nicht
unmittelbar von ihr berührt werden, indem schon der Luftdruck, den sie
weit um sich her ausübt, Häuser stürzt, Türme und Bäume umwirft
und Menschen und Thiere weit fortschleudert.
Wenn nicht gerade Lawinen krachen^ oder Gletscher reißen, oder
Stürme wüthen, so herrscht auf diesen Höhen eine lautlose Stille.
Die Luft, überall auf den Alpen frisch, ist hier besonders hell und
klar, wenn nicht gerade ein oft plötzlich eintretender Nebel die Ge-
gend umlagert. Eine unermeßlich weite Welt sieht man bei hellem
Wetter vor den Blicken ausgebreitet: zahllose Bergketten, umlagert
von waldigen Dorbergen; weite Schneeselder, aus denen die mit
Eis bedeckten glänzenden Spitzen hoher Granitfelsen hervorragen;
1t
242
tiefe Schluchten neben wunderbar gestalteten Felsgraten; frucht-
bare Alpenweiden, herrliche Seen, blühende Thäler, übersäet mit
Städten und Dörfern; Bäche und Ströme, die im Thal als blaue
Streifen erscheinen.
4. Die Wege in den Alpen sind meist sehr gefährlich. An
schwindelnd steilen Felswänden hin führen die Fußpfade, oft auf
schmalen Brücken über grausig tiefe Abgründe. Hier und da war-
tet des Wanderers ein Hospiz, d. i. ein in früheren Jahrhunderten
zum Dienst der Reisenden und zur Rettung und Verpflegung Ver-
unglückter erbautes Haus. Und zur Andacht wird der Wanderer
gestimmt, wenn er still und in sich gekehrt im schaurigen Thal plötz-
lich eine Kapelle erblickt, die ihn auffordert, sich durch Gebet zu der
gefahrvollen Reife zu bereiten. Während die meisten Einsenkun-
gen der Gebirgskämme so hoch und steil und durch Abgründe und
Gletscher so gefährlich sind, daß sie nur für Menschen oder für den
sichern Tritt der Maulthiere gangbar gemacht werden konnten, sind
über einige Berge Straßen gelegt, z. B. über den St. Gotthard
und über den Simplon.
5. In Tirol, da wo der Rhein zuerst Deutschlands Grenzen
berührt und wo die 12000 Fuß hohe Ortelesfpitze weit nach Ita-
lien und Tirol hineinblickt, werden die Alpen deutsches Gebirge.
Sie ziehen sich von da in einem breiten Hauptzuge bis zum Groß-
glockner; dort theilen sie sich, und allmählich herabsinkende Zweige
mit immer breiter werdenden Thälern gehen gen Nordosten zur Do-
nau und gen Südosten. In diesen Thälern fließen durch Steier-
mark, Kärnthen und Krain die Drau und die Sau, zwei Neben-
flüsse der Donau. Die Ebenen werden zu fruchtreichen Äckern;
Weizen, Mais, Obst, Kastanien und Wein gedeihen. Schon die
nach Süden geöffneten Tiroler Thäler haben milde Lust; darum
wächst hier der Maulbeerbaum, dessen Blätter die Seidenraupen
nähren. An den Bergabhängen weiden zahlreiche Viehherden; doch
auf den Gipfeln und Hörnern gibt es auch hier noch viel Schnee
und Eis.
2. Die Gemse.
Äie Gemse ist in ihrer Gestalt der Ziege sehr ähnlich, nur
hat sie höhere Beine und einen gestreckteren Hals. Ihre hakenför-
migen Hörner stehen aufrecht, sind nach dem Rücken zu gebogen
und erreichen meist eine Länge von zehn Zoll. Der gewöhnliche
Aufenthalt der Gemse sind die höchsten, steilsten und unzugänglich-
sten Bergspitzen der Alpen in der Schweiz. Beim Herannahen des
Winters ziehen sie sich von dort aus Mangel an Nahrung in die
niedrigen, mit Wald bewachsenen Gegenden der Berge herab. Sie
haben sehr dünne Beine, aber außerordentlich starke Muskeln. Bei
der Flucht pflegen sie die Füße mit großer Kraft auf den Boden
zu fetzen und sich dadurch auf eine beträchtliche Entfernung fort-
zuschnellen. Ihr Laufen gleicht demnach mehr einem anhaltenden
Springen. Die Gemsen leben in Herden von selten mehr als zehn
243
Stück. Diese weiden mit einander, ziehen mit einander von einem
Orte zum andern und warnen sich gegenseitig durch ein lautes,
weithintönendes Pfeifen vor Gefahr. Ja sie sollen sogar, wenn sie
auf dem Lagerplatze angekommen sind, ein-e Wache ausstellen, welche
die Ruhenden weckt, sobald ihnen eine Gefahr droht. Sowohl ihres
Fleisches, als ihres Felles wegen werden die Gemsen verfolgt, und
nur der Schnelligkeit ihres Laufes, ihrem feinen Geruch, ihrem
scharfen Gesicht und Gehör verdanken sie zuweilen die Rettung ihres
Lebens. Das Geschäft eines Gemsenjägers ist mit vielen Gefahren
verbunden. Der Jäger muß frei von Furcht und Schwindel sein;
sonst würde er sehr bald von den steilen Felsen, auf welche er bei
Verfolgung der Gemsen geräth, in die tiefen Abgründe hinabstürzen.
Oft umgibt ihn ein so dicker Nebel, daß er nur wenige Schritte vor
sich sehen kann und genöthigt ist, auf Händen und Füßen fortzu-
kriechen. Mancher verliert auf dieser gefahrvollen Jagd sein Leben
oder wird zum Krüppel.
3. Die Donau.
Äie Donau ist der größte Fluß Deutschlands. Sie hat ihre
Quellen auf dem Schwarzwalde im Großherzogthume Baden und
durchfließt zuerst das preußische Fürstenthum Höhenzollern und den
Südtheil des Königreichs Würtemberg bis zu der Bundesfestung
Ulm. Da wird sie schiffbar und tritt in das Königreich Baiern,
welches sie in einem weiten Bo^en durchfließt. Die Stadt Regens-
burg liegt an der nördlichsten Stelle ihres Bettes. Größere sumpfige,
unbewohnte Uferstrecken liegen zwischen den nicht gar häufigen
Städten, und die hohe Lage ihres Flußthales läßt den Weinbau
auf ihren Uferhöhen nicht zu; nur Laubwaldungen sind zu sehen.—
Verstärkt durch den Lech, der von Augsburg, durch die Isar,
die von München, und endlich durch den Inn, der von Tirols
Hauptstadt Innsbruck kommt, bahnt sie sich einen Ausgang durch
die Felswände der Alpen und des Böhmerwaldes bei Passau
und tritt in das schöne Österreich.
Besonders herrlich ist der zwischen Linz und Wien liegende
Theil des Flusses. Unterhalb Linz spaltet er sich häufig in mehrere
Arme und bildet so eine Menge kleiner Inseln. An vielen Stellen
ragen aus dem Wasser Sandbänke hervor. Sind dieselben bewach-
sen, so nennt man sie Auen. Diese mit Linden, Pappeln, Ahorn,
Weiden und allerlei G-ebüsch bestandenen Auen bieten große Weide-
plätze für eine unzählige Menge von Wild dar; die kleineren Arme
zwischen den Sandbänken und Inseln und die Buchten sind gewöhn-
lich mit zahlreichen Wasservögeln bedeckt: mit wilden Enten und
Gänsen, mit Reihern, Kranichen, Kiebitzen, Krähen und Möven.
Herrlich gelegene Dörfer und Schlösser sehen aus den Gebüschen
des Ufers oder der Auen hervor. Zuweilen zieht sich der Fluß
langgestreckt vor den Blicken hin wie eine große Heerstraße; öfter
noch erscheint er auf allen Seiten von Bergen umschlossen. —
Unterhalb des Städtchens Grein ist eine Menge von Stromengen
11*
und Strömungen, Strudel oder Wirbel genannt. Die Berge wer-
den immer höher und schroffer; dichte Wälder werfen ihre Schatten
über den Strom, der bald schwarz und düster dahinströmt, bald
mit weißem Schaum brausend weiterstürzt. Hier und da erheben
sich alte Burgen auf den Felsen. — So fährt man bei vielen
merkwürdigen Städten, Burgen und Schlössern vorbei. Nach neun-
stündiger Fahrt landet das Linzer Dampfschiff bei Wien. Da ist
am Donauhafen ein beständiges Gewimmel von Menschen und
Wagen; man merkt die Nähe einer großen Stadt. Und Wien ist
groß: sie zählt eine halbe Million Einwohner und ist reich an gro-
ßen Palästen. Unter allen Bauwerken tritt die berühmte Stephans-
kirche mit ihrem 420 Fuß hohen Turme besonders hervor als ein
Denkmal altdeutscher Baukunst. „Es gibt nur eine Kaiserstadt, es
gibt nur ein Wien," sagt der heitere Österreicher.
Bei Preß bürg tritt die Donau in Ungarn ein. Auf ihrem
linken Ufer breiten sich die Karpathen aus. Oberhalb der Städte
Ofen und Pesth, die zu beiden Seiten des Flusses einander gegen-
über liegen und durch eine Kettenbrücke verbunden sind, verlaßt sie
ihre bisherige östliche Richtung und wendet sich gen Süden. So
durchfließt sie die großen Ebenen Ungarns, wo der Roßhirt oder der
Schäfer ihre Herden auf unabsehbaren Steppen weiden, und nach-
dem sie das Felsthor bei Orsowa durchbrochen hat, fließt sie in
weitem Bogen durch die Tiefebene der Wallachei, bis sie endlich
nach 400 Meilen langem Laufe sich in das schwarze Meer ergießt.
Das eigentliche Donaureieh ist das Kaiserthum Oster reich;
zwei Drittel seiner Länder sind von der Donau und ihren
Nebenflüßen durchströmt. Obwohl die römische Kirche die
herrschende ist, so hat es doch auch einige Millionen evange-
lische Bewohner. Von seinen Ländern gehören zu Deutsch-
land : Tirol,0 st er reich (das Erzherzogthum), Steiermark,
II ly rien, Böhmen und Mähren. Von seinen außerdeut-
schen Ländern sind besonders bemerke ns werth : im Osten Un-
garn mit seinen theilweise an Getreide sehr reichen Ebenen
und den großen Viehherden in denselben ; Siebenbürgen mit
Wein und Kastanien in seinen warmen Thälern und mit Bären
und Wölfen auf den Gebirgen ; im Süden, jenseit der Alpen,
Venetien.
Zwischen Tirol und der Schweiz liegt am Rhein das
kleinste Fürstenthum Deutschlands, Liechtenstein.
4. Der Schwarzwald und die süddeutsche Hochebene.
1. Äus dem Rbeintheile bei Basel steigt der Schwarzwald
auf und läuft längs des Rheins nach Norden, wo seine Vorberge
zum Neckarthale sich senken. Er führt seinen Namen von dem dun-
kelgrünen Nadelholz, mit welchem Hänge und Kronen reichlich be-
wachsen sind. Der südliche Theil, der obere oder eigentliche Schwarz-
wald, ist rauh, wild und düster; das Hügelland im Osten und
245
Norden dagegen hat ergiebigen Boden auf den sanften Abhängen
und Höhen und wird von den zahlreichen Bewohnern fleißig mit
Korn, Obstbäumen und Neben bebaut. Noch schöner sind die Ge-
genden im Rheinthale, in welches das Gebirge kurz und steil ab-
fällt. Hier verwandelt sich das waldige Gebirge schnell in sanfte
Rebenhügel, und an den Weizen- und Spelzgefilden stehen mächtige
Nuß- und Obstbäume, ja Mandeln und süße Kastanien sieht
man an den unteren Abhängen der Berge, während im Schwarz-
walde selbst die Kirsche erst im September zeitigt und auf mancher
Strecke kaum Hafer, Kartoffeln und Wicken gedeihen. — Die Be-
wohner des Schwarzwaldes fällen Holz zum Verkauf, das die
Bäche hinab zum Rhein und auf diesem weiter nach Holland ge-
flößt wird; ste treiben Viehzucht, bauen Getreide und Kartoffeln und
machen Strohhüte und Holzwaren, vorzüglich Uhren. Man findet
außerdem im Schwarzwalde Hammerwerke, Glashütten, Pottasche-,
Pech-, Terpentin- und Theersiedereien. Die Wohnungen liegen in
wildschönen Thälern zerstreut umher und sind von Holz, mit Strob
oder Schindeln bedeckt.
2. An den Schwarzwald lehnt sich das Hügelland von
Schwaben und Franken. Es liegt auf der linken Seite der
Donau und wird bewässert vom Neckar und Main und ihren
Nebenflüssen, deren Wasser sämmtlich dem Rheine zufließt; nur die
Altmühl macht davon eine Ausnahme, indem sie in die Donau
geht. In Schwaben sind alle Flußthäler steil, eng und tief;
daher hat der Boden mannigfachen Wechsel. Die Luft ist sehr mild
und daher der Pflanzenwuchs reich; nur die Höhen der rauhen
Alp an der Donau machen eine Ausnahme davon. Der Weinftock
an den Hängen der Hügel gibt reichen Ertrag, und in den Thälern
wogen schöne Saaten. Aus den Höhen liegen kleine Dörfer, Kirchen,
Schlösser und Burgen; an den Abhängen wechseln Laubgehölze
und Weinberge mit zahlreichen Winzerhäuschen; am Fuße der Berge
und Hügel liegen wohlhabende, reinliche Dorfschaften inmitten ihrer
von einem Flusse oder Bach durchschlängelten Äcker, Wiesen und
Obstgärten, und im Thale selber alte, turmreiche, meist sehr belebte,
größere und kleinere Städte, unter ihnen Stuttgart, die Haupt-
stadt des Königreichs Würtemb erg. Rebenhügel und höher hinauf
dichte Waldungen umkränzen sie; sie hat mit ihren alterthümlichen
Häusern und neuen, weithin schimmernden Palästen ein stattliches
Aussehen. — Auf dem fränkischen Hügellande ists nicht
überall so anmuthig; hier gibt es oft weite Sandflächen, mit ma-
geren Getreidefeldern oder Kieferwaldungen bedeckt. In solch einer
weiten Ebene liegt die kunst- und gewerbreiche Stadt Nürnberg
mit ihren alterthümlichen Häusern. Die meisten Flußthäler dagegen
sind auch in Franken mild und fruchtbar, so daß Wein, feines Obst
und Gemüse gut gedeihen. — An der rechten Seite der Donau breitet
sich bis zu den Ufern des Inn und der Salza die baiersche Hoch-
ebene aus. Sie ist viel kälter, als die vorigen beiden Landschaften,
weil sie höher liegt; dazu kommt, daß die Alpen den warmen Süd-
24Ö
winden den Zutritt wehren, wogegen die Nord- und Westwinde sich
an dem Gebirge stauen und dann viel Regen absetzen: durch das alles
wird die Luft rauh, feucht und sehr veränderlich. Nur die Nordgegend
ist milder. Sie bietet in einzelnen ihrer Theile große Reize dar: man
findet im Westen und Osten und in den Alpengegenden ungemein lieb-
liche Gefilde. Besonders schön erscheinen die letzten Gegenden, wenn
man von Norden her durch dieselben den Alpen entgegenreist: da tau-
chen am südlichen Horizonte die Niesengipfel der Alpen auf; eine ge-
waltige Felsenmauer baut sich hinter der andern empor, und hochra-
gend über die wundervolle Welt hinaus strecken die Eisriesen ihre
Häupter gen Himmel. Aber im ganzen ist die Hochebene doch ein-
förmig und wenig anmuthig; in den Flußniederungen find häufig
meilenlange sumpfige Strecken, Riede oder Moose genannt, und auf
dem höheren Boden breiten sich weite unfruchtbare Ebenen aus,
oft heidig, oft von Sand und Kalkgrus überlagert. In einer solchen
Ebene liegt die prächtige Königsstadt München an der Isar; in
einer andern die durch die Übergabe der augsburgischen Confession
berübmte Stadt Augsburg am Lech, in deren Umgegend Otto I.
die Ungarn schlug.
5. Der Rhein.
1. Ñus den Gletschern des St. Gotthard in der Schweiz kommt
eine Anzahl Riesel, welche die Quellbäche zweier großen Flüsse bilden;
der eine derselben ist die den Genfer See bildende und an der Küste
von Frankreich in das Mittelmeer mündende Rhone, der andre ist
unser Rhein. In raschem, springendem Laufe durchfließt er in einem
Bogen die Schweiz, verstärkt durch eine Menge wilder Berggewässer,
und bildet dann an der deutschen Grenze den Bodensee, der sieben
Meilen lang und von klarer, grünlicher Farbe ist. Da, wo auf der
Abendseite des Sees die durch den Märtyrertod Hussens bekannte
Stadt Eon stanz liegt, verläßt er den See und fließt dann an
Sch affh au sen vorüber. Unterhalb der Stadt lagert sich eine hohe
Felswand quer durch das Flußbett; über diese stürzt er aus einer Höhe
von sechzig Fuß mit donnerähnlichem, stundenweit hörbarem Rauschen
herab; in stiller Nacht hört man das Donnern des Sturzes wohl fünf
Stunden weit.
2. Nachdem er bis Basel auf der deutschen und schweize-
rischen Grenze geflossen ist, wird er auf 20 Meilen hin Grenzfluß
zwischen Deutschland und Frankreich. Rechts begleitet ihn der düstere
Schwarzwald und weiter abwärts der liebliche Odenwald,
beide durch das Thal des Neckars geschieden; jenseits aber liegen
die Vogesen. Der schmale Streifen Landes von seiner Biegung
an bis zur Mündung des Neckars bildet das Großherzogthum
Baden mit seiner Hauptstadt Karlsruhe; es ist ein an Wein,
Obst und Getreide reiches Land. Das jenseitige Uferland gehört
freilich zu Frankreich; es ist das ursprünglich zu Deutschland gehörige
Elsaß mit der alten freien Reichsstadt Straß bürg, wo das herr-
liche Münster steht; der Franzosenkönig Ludwig XIV. nahm sie
247
bald nach dem dreißigjährigen Kriege mitten im Frieden gewaltsam
weg. Don Karlsruhe an geht aber das deutsche Gebiet über den
Rhein hinaus; dort liegt in der baierschen Pfalz Spei er, wo 1529
der Reichstag gehalten ward. Noch weiter abwärts liegt an der
Neckarmündung die schöne gewerbs- und handelsfleißige badische
Stadt Mannheimund östlich von ihr H e i d e l b e r g. Dann durch-
fließt er einen Theil des Großherzogthums Hessen. Nicht weit
von seinem rechten Ufer, am Fuße des Odenwaldes, liegt dessen
Hauptstadt Darmstadt; am linken Ufer liegen Worms, wo
Dr. Luther 1521 das gute Bekenntniß that, und die Bundesfestung
Mainz, wo Gutenbera die Buchdruckerkunst erfunden hat. Bei
Mainz mündet der Marn, welcher vom Fichtelgebirge kommt und
an welchem die freie Reichsstadt Frankfurt liegt, die ehema-
lige Krönungsstadt der deutschen Kaiser und jetzt der Sitz des Bun-
destages.
3. Bis Mainz hat der Rhein von Basel an nördliche Richtung
gehabt. Jetzt macht er eine Biegung nach Westen, worauf er sich
dann nordwestlich wendet. Bis Bingen fließt er noch in einem
breiten Bette; von da an aber wird er schmaler, weil von beiden
Seiten die Gebirge nahe herantreten: von der linken Seite der
Hunsrück und die Eifel, beide durch das enge, sich hin und her
windende, weinreiche Mosel that getrennt; von der rechten Seite
der Taunus und der Westerwald im Herzogthum Nassau,
das an Heilquellen reich ist, und dessen Hauptstadt Wisbaden
am Abhange des Taunus liegt. Zwischen Taunus und Westerwald
liegt das liebliche Lahnthal. Niedrigere Gebirge begleiten den
Strom auf der rechten Seite bis zur Mündung der Lippe; ander-
linken Seite haben sie schon früher aufgehört. Auf beiden Seiten
des Stromes breitet sich die preußische Rheinprovinz aus, und östlich
von ihr liegt Westfalen. Auf dieser Strecke liegen Koblenz an
der Mündung der Mosel; Bonn gegenüber dem Siebengebirge;
Köln, die alte Stadt mit dem berühmten Dom, ihrem mächtigen
Häusermeere und ihren zahlreichen Schiffen und Schanzen, die
reichste und bevölkertste Handelsstadt am deutschen Niederrhein und
ein Mittelpunkt des Handels, der Eisenbahnen und der Dampf-
schiffahrt. Eine Eisenbahn führt von hier gen Westen nach Aachen,
der uralten Kaiserstadt, wo die deutschen Kaiser bis vor 300 Jah-
ren gekrönt wurden. Weiter abwärts tritt der Rhein in flache
Auen, die er schon öfter durch Überschwemmungen heimgesucht hat.
Zahlreiche und schöne Städte, unter welchen Düsseldorf und
Wesel, begleiten ihn, bis er in Holland hineintritt, wo er an rei-
chen Handelsstädten vorüber in mehreren Armen sich in die Nordsee
ergießt.
4. Das ist der große, grüne, frohe, freie, deutsche Rhein.
Groß, denn er ist nächst der Donau Deutschlands größter Fluß;
seine Nebenflüsse führen rechts und links als natürliche Wasser-
straßen durch lange, enge Felsthore zu reichen, herrlichen Land-
schaften, tief in das innerste Deutschland und Frankreich hinein:
248
er selber aber und seine Ufer sind die große Handels- und Reise-
straße zwischen Norden und Süden, zwischen Holland und der Schweiz,
zwischen England und Italien. Für die Schiffahrt günstig ist er
auch dadurch, daß er stets eine beträchtliche Wassermenge hat, selbst
im Sommer, wo andre Flüsse abnehmen, weil ihm die Gletscher-
massen dann nur um so größere Wassermengen spenden. Schon
oberhalb des Dodensees ist er für Kähne fahrbar. Die Schiffahrt
wird freilich durch den Rheinfall bei Schaffhausen unterbrochen; aber
von Basel an geht sie ohne Unterbrechung fort. Grün ist er, denn
grün sind seine an Wechsel reichen Ufer. Wiesen, Weinberge,
Ackerfelder, Obsthaine und an den Hängen der Berge große Nadel-
und Laubwälder wechseln mit einander. Besonders schön ist das
Thal von Mainz bis Bonn; und wenn auch in der Ebene zwischen
Basel und Mainz hier und da weniger angenehme und ergiebige
Striche sich finden und man mitunter auf sandige, zum Theil mit
Kieferwaldungen bedeckte Gegenden trifft, so ist doch auch dieses
Thal ein gesegnetes und schönes, meist wie ein blühender Garten
zwischen den Gebirgswällen. Und weil das Rheinthal so fruchtbar
ist und zu Handel und Schiffahrt einlädt, begleitet den Strom
zu beiden Seiten eine Menge von Städten, Flecken und Dörfern,
und von alters her stehen an den Ufern und auf den Bergen Schlösser
und Burgen, in denen vorzeiten Kaiser und Könige Hoflager und
Gericht hielten oder Ritter wohnten. Froh ist er, denn frohe, hei-
tere Völker wohnen an seinen Ufern, die Sang und Klang lieben
und üben, und deren Lieder und Sagen an das Große und Herr-
liche erinnern, was an seinen Ufern geschehen ist. Er ist aber auch
der freie, deutsche Rhein, frei, weil er deutsch ist. Freilich haben
die Franzosen uns ein schönes Stück seines Gebietes geraubt; aber
dennoch ist der größte Theil seines Laufes deutsch, ja selbst sein
Oberlauf und seine Mündungen werden von Völkern umwohnt,
deren Länder ursprünglich zu Deutschland gehörten.
Im Rhein- und Wesergebiet liegen außer den schon ge-
nannten Ländern: die Landgrafschaft Hessen -Homb urg,
und in unsrer Nachbarschaft das Kurfürstenthum Hessen-Cassel
mit der Hauptstadt Cassel; das Fürstenthum W a 1 d e c k mit der
Hauptstadt Arolsen, und die lippischen Fürstenthümer Det-
mold und Bücke bürg mit den gleichnamigen Hauptstädten.
6. Lore Lei.
I.Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Daß ich so traurig bin!
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Lust ist kühl, und es dunkelt.
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
2. Die schönste Jungstau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet.
Sie kämmt ihr goldenes Haar;
Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei.
Das hat eine wundersame.
Gewaltige Melodei.
249
3. Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn,
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore Lei gethan.
7. Das Fichtelgebirge und der Böhmerwald.
1. der Mitte Deutschlands, von uns aus gen Süden, liegt
im Königreich Baiern das Fichtelgebirge. Es hat seinen Na-
men von den dichten Nadelholzwaldungen, welche das Gebirge noch
heute bedecken, obgleich der Anbau viele Gegenden in Felder und
Wiesen umgewandelt hat. Aus der Ferne sieht es eher einem
Berge als einem Gebirge ähnlich, wie denn die Anwohner es auch
Fichtelberg nennen. Die Luft auf demselben ist kalt und rauh, denn
es hat sechs Monate Winter mit vielem Schneefall; noch um Jo-
hannis kommen Nachtfröste vor. Breite und warme Thaler fehlen
ihm. Doch ist es stark bewohnt von fleißigen und mäßigen Men-
schen, welche Roggen, Gerste, Hafer und Kartoffeln bauen. Seine
Gewässer gehen nach allen vier Himmelsgegenden.
2. Vom Fichtelgebirge gen Südosten läuft der B ö h m e r w a l d.
Seine höchsten Berge sind steile, nackte Felsen, die Abhänge aber
voll dichter Waldungen, in die zum Theil noch keine Axt gekommen
ist. Der Wanderer, welcher von Baiern nach Böhmen hineingeht,
findet unwegsame, sumpfige Strecken; hohe, mit Tannen bewachsene
Berge; enge, finstere, felsige Schluchten, in welchen reißende Berg-
flüsse dahinrauschen. Auf dem Rücken liegen große Steintrümmer
in wunderlichen Gestalten umher, und auf den breiteren Bergrücken
finden sich Wiesenplätze oder verkrüppelte Fichten und Fuhren. Sehr
sumpfig, schattig und kalt sind die Abhänge nach Böhmen zu, wo
ein fast immerwährender Winter ist und die neue Aussaat oft früher
bestellt wird, als allenthalben geerntet ist, 'der Schnee zuweilen vor
der Ernte fällt und selbst die Kartoffel erst im September blüht.
Doch finden sich auch freundliche Matten und sanfte Thäler. Holz-
arbeit ist der Hauptnahrungszweig der Bewohner; sehr viel Holz wird
zur Donau oder ins Innere Böhmens geflößt. Nächst dem Holze
sind die Weiden von Wichtigkeit. Die Bewohner sind kräftig und
kühn und halten sehr fest an althergebrachten Sitten und Bräuchen.
Der Böhmerwald ist die Westgrenze des böhmischen Landes.
Dieses besteht aus einer Menge von Bergen und Hügellandfchaften,
die meist sehr fruchtbar und anmuthig sind. Seine Hauptstadt ist
Prag, an der Moldau prächtig gelegen. Wer nicht weiß, wie es
in einer katholischen Stadt aussieht, der kann es dort sehen; denn
da gibt es neben den vielen Kirchen und Türmen auch eine Menge
Klöster mit Mönchen und Nonnen. Die Einwohner Böhmens ge-
hören meist zur römischen Kirche; viele aber sind evangelisch. Böh-
men ist das Vaterland von Johann Huß.
41
250
8. Das Riesengebirge.
1. 2Has Riesengebirge macht den höchsten Theil der Sudeten
aus und ist das höchste Gebirge in Mitteldeutschland; seine Höhe
beträgt 4000 Fuß, und die Riesen- oder Schneekoppe ist gar 5000
Fuß hoch. Es ist bewohnt; der Reisende trifft noch in einer Höhe
von 3 — 4000 Fuß einzelne Sennhütten, weidendes Vieh, gras-
mähende Arbeiter, Kräuter- und Moossammler. Dörfer gibt es
allerdings in solcher Höhe nicht, aber viele zerstreute Wohnungen,
Bauden genannt. Man zählt deren wohl an 3000; ihre Bewohner
treiben Rindvieh- und Ziegenzucht. Diese Bauden sind von Holz,
auf einer steinernen Grundlage errichtet, welche über ein Klafter
hoch über den Boden hervorragt. Der Eingang ist durch das über-
hängende Dach vor dem Wetter geschützt; die Wohnstube, mit einem
großen Kachelofen, einigen Tischen und Bänken ausgestattet, ist ge-
räumig; daneben befindet sich eine Kammer, und gegenüber, durch
Hausflur und Küche getrennt, der Stall. Das Dach ist mit Schin-
deln bedeckt und reicht bei den an Bergabhängen stehenden Bauden
an der Hinterseite bis auf den Boden hinab; unter demselben ist
der Futtervorrath und zuweilen die Schlafstelle für einen Theil der
Familie oder der Gäste. Der Reisende findet darin eine gute Herberge.
Im Frühjahr ist das Viehaustreiben, im Sommer die Wande-
rung auf die Waldweide die Freude und Belustigung der Bewohner
dieser einsamen Berghütten und der Dörfer am Fuße des Gebirges.
Um Johannis wird gewöhnlich das Vieh aus den Ställen zu Berge
getrieben. Beim Schalle langer hölzerner Schalmeien, bei fröhlichem
Gesänge und dem Geläut der Glocken, deren jedes Rind eine an
einem verzierten Bügel am Halse trägt, treibt man die blökenden
Herden zwischen Fichten und Tannen zu den Sommerbauden in das
Hochgebirge, welches nur 14 bis 15 Wochen lang von diesen fröh-
lichen Tönen widerhallt. Da wird Butter und Käse viel gemacht
für den eigenen Bedarf und für auswärtigen Absatz.
2. Sämmtliche Abhänge der Gebirge sind dicht bewaldet;
aber hoch oben gedeihen nur noch Knieholz, das strauchartig breite
Striche bedeckt, zwergartige Fichten und Laubhölzer, eine Menge
Gräser und Alpenkräuter, Moose und Flechten; ja viele der höchsten
Gipfel zeigen auf ihrem mit Felsen und Steinblöcken überschütteten
Scheitel kaum noch Spuren des Pflanzenwuchses. Denn in dieser
Höhe ist der Sommer sehr kurz, etwa vier Monate, und die Wärme
gering, daher auch in manchen Jahren in der Sonne abgewendeten
Schluchten der Schnee gar nicht wegschmilzt, und Schneegestöber
selbst inmitten der heißesten Jahreszeit nicht seltene Erscheinungen
sind. Der Übergang aus dem kurzen Sommer in den Winter er-
folgt oft ungewöhnlich schnell. Kaum sind im September einige
Nebel als Vorboten des nahen Winters eingetreten, als auch sofort
Kälte und stürmisches Wetter hereinbricht und ungeheure Schnee-
massen alle Höhen und Thäler des Gebirges erfüllen. Die Woh-
nungen der Bergbewohner werden öfters so hoch überschneit, daß
251
man keine Spur von ihnen entdecken würde, verriethe nicht der
aufsteigende Dampf der Rauchfänge die Stelle, wo ste stehen. So
sind die Bewohner bei einfallenden Schneeftürmen und Windwehen
oft innerhalb weniger Stunden gänzlich eingeschneit. Die Bewoh-
ner der höchsten Bauden sind gewöhnlich Monate lang außer aller
Verbindung mit den Thalbewohnern. Wird eine Wanderung zu
einer benachbarten Baude nothwendig, so müssen die Bewohner
ihren Ausgang entweder durch den Dachgiebel nehmen, oder sich
nach Bergmannsart ihre Wege stollenarüg durch den Schnee an
den Tag arbeiten, und dann ihre beschwerliche Reise mit Hülfe der
Schneereifen, oder bei Glatteis mit Hülfe der Fußeisen fortsetzen.
Des oft klafterhohen Schnees wegen müssen die betretensten Ge-
birgssteige jeden Winter mit Stangen, die gewöhnlich 6 bis 8 Fuß
lang sind und an die man Strohbüschel befestigt, um ste kenntlich
zu machen, ausgesteckt werden.
Die Regengüsse sind oft von der heftigsten Art, und die Ge-
witter toben bisweilen unter Hagelwetter und Wolkenbrüchen aus;
sie überschütten allerdings mehr die Hänge und Thalebenen, treffen
aber auch mit ihren Blitzen selbst die höchsten Berggipfel. Diese
oft unvorhergesehenen, häufig schnell wechselnden Veränderungen
des Wetters sind der Volkssage nach die Launen des gewaltigen
Berggeistes Rübezahl, welcher diese schauerlich großartige Gebirgs-
gegend beherrscht.
9. Das Erzgebirge.
1. Äas Erzgebirge umfaßt den größten und volkreichsten Theil
des Königreichs Sachsen und ist der Sitz des sächsischen Bergbaues,
des Klöppelwesens, zum Theil auch der Baum- und Schafwollen-
weberei und Holzwarenarbeiten. Während man oben klöppelt, spinnt,
webt u. s. w., wird in und unter der Erde geklettert, gehämmert,
gekarrt u. s. w.
Vom Meißner und Leipziger Kreise steigt das Land allmählich
an, erhebt sich wellenförmig in stetem Wechsel von Berg und Thal
bis zu den höchsten Punkten an der böhmischen Grenze. Es ist
reich an Naturschönheiten aller Art, aber auch an Gegenden, wo
nur düstere Wälder und kahle Bergrücken dem Auge sich darstellen,
wo kein Singvogel nistet und nur selten eine Biene summt, wo
keine Rebe prangt, wo selten Korn gedeiht, und wo gewiß viele
sterben, die nie eine Pfirsiche oder Weintraube gesehen, geschweige
denn gekostet haben. Ungeheure Waldungen bedecken besonders die
höheren Gegenden und versorgen einen großen Theil des Leipziger
und Meißner Kreises mit Holz. Auch an Torf und Steinkohlen
ist kein Mangel. Die wellenförmige Gestalt und die felsige Be-
schaffenheit des-Bodens erschweren Feld - und Gartenbau; das
rauhe Klima vereitelt in den höchsten Gegenden nicht selten alle
Anstrengungen des Landmanns. Der beste Segen der Felder sind
Hafer, Lein und Kartoffeln. Diese vertreten meistentheils die Stelle
des Brotes. - Sie geben dem Armen, oft nur mit Salz, seltener
252
mit Butter oder Leinöl, sein Morgen-, Mittag- und Abendbrot.
Gar oft zahlt man sie den Kindern wie Leckerbissen zu, und sich
darin satt offen zu können, ist mancher Familie eine wahre Er-
quickung. — Ohne Getreidezufuhr aus Böhmen und den anstoßen-
den Provinzen würde der arme Erzgebirger oft hungern müssen,
obschon er mit unglaublicher Anstrengung der Erde abzuzwingen
sucht, was sie ihm versagt. Halbe Stunden weit trägt er in Kör-
ben guten Boden und Dünger auf nackte Felsen. Bergabhange
bestellt er, die der Bewohner der Ebene kaum erklettern kann. Gras
mäht er auf Höhen, wo ein Fehltritt ihn verunglücken ließe. Heu
holt er mitten im Sommer auf Schlitten, wo er mit Wagen nicht
fortkommen kann.
2. Der Erzgebirger ist treuherzig im Umgänge, zufrieden und
sehr arbeitsam. Mühsamer wird nirgend der Landbau betrieben,
und frühzeitiger wohl nirgend die Jugend zur Arbeit angehalten,
als im Erzgebirge. Mit dem sechsten Jahre schon hilft das Kind
verdienen, in der Klöppelstube, wie am Spinnrocken und bei der
Hütten arbeit.
Eigen ist ferner dem Erzgebirger, gleich dem Tiroler, das ge-
werbfleißige Wandern in ferne Gegenden und die doch ewig leben-
dige Sehnsucht nach den Bergen und Thälern der Heimat. Den
Strichvögeln gleich ziehen aus manchen Gegenden im Frühjahre
Hunderte mit Bändern, Spitzen, Blechwaren u. s. w. in alle Län-
der deutscher Zunge, von der Schweiz bis Rußland, ja oft nur mit
Axt und Kelle, um anderwärts zu zimmern oder zu mauern. Zum
Winter aber kehrt fast alles heim, um, umnebelt von Hütten- und
Hochöfendampf, nicht selten in verschneiter, ärmlicher Wohnung den
sauer errungenen Verdienst mit Weib und Kind zu verzehren. Kna-
ben von zwölf bis dreizehn Jahren fahren entweder allein, oder als
Gehülfen ihrer Väter mit Karren voll kleiner Handelsartikel in alle
Welt, und manche Familie hat auf diese Art wohl ein halbes
Dutzend Söhne in der Fremde, während die Töchter daheim klöp-
peln, spinnen u. s. w.
3. Dichte Nebel, welche höchstens in der Mittagsstunde wei-
chen, kündigen dem Erzgebirger den Winter an, der ihm gewöhnlich
in der fürchterlichsten Gestalt erscheint. Wochenlang schneit es oft
in einem fort, ja wohl in einer Nacht so, daß man sich in Dör-
fern aus den Häusern schaufeln, bisweilen sogar aus dem Dache
steigen muß, um einen Gang zur Hausthür oder Gucklöcher für die
Fenster der Unterstuben zu schaffen. Ein drei bis sieben Ellen hoher
Schnee ist in strengen Wintern nicht selten; Stürme, die nirgend
fürchterlicher heulen, bilden oft zwanzig bis dreißig Ellen hohe
Windwehen, über welche der Erzgebirger, gleich dem Lappländer,
mit angeschnallten Fußbrettern oder Schneeschuhen leicht hinweg-
gleitct. ' Um Unglück ;u verhüten, werden zwar Signalstangen ge-
)e§t, auch bei starkem Schneewetter dem Wanderer, besonders abends,
durch Glockengeläute oder durch Trompetentöne Zeichen gegeben, in
welcher Richtung er zu waten habe; doch vergeht selten ein Winter,
253
ohne daß Menschen im Schnee umkommen. Desungeachtet heißt
der Erzgebirger den Winter allemal freundlich willkommen; denn
er bringt ihm die Schlittenbahn, welche die Wege ebnet und den
Verkehr fördert. Man fährt nicht, sondern fliegt gleichsam, der Ge-
fahr trotzend, über Berg und Thal, und selbst Kinder gleiten in
Schlitten, meist zwei und zwei, die steilsten Höhen hinab. Über-
haupt ist die Jugend dort weit abgehärteter, als im Niederlande,
und oft, wenn man hier schon nach Pelz und Mantel greift, sprin-
gen dort Kinder unter freiem Himmel barfuß in der dürftigsten Klei-
dung umher. So begleiten sie auch, um eine Gabe bittend, den
Reisenden.
10. Thüringen.
1. Im Süden des Harzes breitet sich das Thüringer Berg-
und Hügelland aus. Das höchste Gebirge desselben ist der Lhü-
ringerwald, der nach Osten hin allmählich, nach Westen zum
Werrathale aber steil abfällt. Seine Luft ist bis weit in den Früh-
ling hinein winterlich. Dennoch leben in seinen Thälern viele Men-
schen, die in den Wäldern ihrer Heimat einen großen Reichthum
haben. Da gibt es Schmelz-, Eisen- und Stahlhütten, Draht-und
Blechhämmer. Vis tief in die Nacht hinein kann man die glut-
rothen Lohen zum Himmel aufsteigen sehen; dazu schlagen die mäch-
tigen Pochwerke ihren einförmigen Tact; der Bach, der sie treibt,
rauscht in Feuerfunken über das arbeitende Rad; aus dem Ofen in
der Hütte fließt das Eisen wie ein rother Strom, oder gewaltige
Hämmer schlagen die Eisenmassen zu Stangen oder Blechen zurecht;
rußige Männer wandeln emsig zwischen den feurigen Massen, schüren
den Ofen, schöpfen das flüssige Eisen, oder bringen mit gewaltigen
Zangen die glutrothen Eisenstücke unter den pochenden Hammer.
Und der schwarze Wald ringsum sieht schweigend zu. Das ist wohl
wunderbar, wie da alles zusammenhilft zum Erwerb des Menschen:
der Eisenstein, der in den Bergen liegt; der Bach, der die Werke
treibt, und das Holz, das die Öfen heizen muß. — Geschickte Ar-
beiter machen aus dem Eisen die blanken Flintenläufe und Messer,
Scheren, Beile, Bohrer und allerlei Geräthe, die weit in die Welt
gehen, und das Holz muß ihnen dabei dienen.
Ferner gibts im Thüringerwalde Glasfabriken, denen auch das
Holz helfen muß; denn das Feuer schmelzt aus Kiesel und Asche das
Glas. Es heizt die Ofen der Porzellanfabriken, in denen viele fleißige
Arbeiter Nahrung finden.
Auch der rußige Köhler, der im Walde in dampfenden Meilern
die Holzkohlen für Eisenhütten und Schmieden bereitet, nährt sich von
dem Holze. Andere zapfen den Nadelhölzern das Harz ab und machen
Pech und Kienruß daraus.
Viele Thürmger schnitzen zur Winterzeit, wenn es im Freien nichts
zu verdienen gibt, Mulden, Stiefelknechte und allerhand Hausgeräth;
andre machen schöne Spielwaren, die auf den Jahrmärkten zu sehen
sind und selbst bis Amerika geschickt werden.
254
Wo die Waldungen gelichtet sind, wächst auch wohl Getreide und
etwas Obst; freilich ist es nicht so gut, wie unten in den warmen Thä-
lem und Ebenen, wo an einzelnen Stellen sogar Wein gebaut wird.
Doch hat der Thüringer seine Kartoffeln, die auf den höchsten Bergen
fortkommen, und auch der Wald gibt manche Frucht, wie Erd-, Hei-
de!- und Kronsbeeren.
Hirsche, Rehe, Hasen und Füchse wohnen in großer Anzahl im
Walde. Hier und da schleicht aber auch wohl eine giftige Kreuzotter
durch das Strauchwerk. Wen sie beißt, der kann den Tod oder eine
schlimme Wunde davon tragen, wenn er nicht schnell Laugensalz oder
Vitriol in die frische Wunde bringt.
Im Sommer ertönt das ganze Land von den Liedern zahlreicher
Singvögel. Im Herbste dürfen die Leute, welche vom Fürsten das
Recht haben, auf den Vogelfang gehen; der ist eine große Lust für
jung und alt und gewahrt einen guten Verdienst.
2. Von den Höhen schauten ehemals viele hohe und starke Bur-
gen kühn und stolz in die Gegend herab. Manche kann man noch
;etzt mit ihren Fenstern und Dächern im Sonnenschein blinken sehen;
aber die meisten stehen trüb und traurig als Ruinen da; ihre glänzen-
den Gemächer sind zerfallen, die Thore mit Schutt und Gesträuch be-
deckt; die Fensterlöcher stehen offen, die Türme sind verwittert. Manche
sind auch ganz von der Erde verschwunden, und Tannen wurzeln auf
ihrem Grunde. Dort wohnten einst mächtige Ritter. Da tönte Sang
und Klang in den hohen Sälen; in den Ställen scharrten die Rosse;
Wasser floß in den Burggräben; Thore und Zugbrücken öffneten und
schlossen sich. — Kehrte der Burgherr abends mit siegreicher Schar
heim, da war Jubel in der Burg. Beim Mahle wurden dann
Geschichten erzählt von dem Kampfe; dabei perlte der Wein in den
Bechern, und die Knaben horchten aufmerksam hinter den Sitzen der
Ritter.
3. Das ist nun alles nicht mehr. Aber Fröhlichkeit, Sang und
Klang sind darum aus diesen Gauen nicht verschwunden, die zu den
schönsten in Deutschland gehören. Wir lagern uns in dem Schatten
einer Eiche und sehen in die gesegnete Ebene hinab. Da winden sich
Bäche und Flüsse in reicher Anzahl durchs Gefilde; an ihren Ufern sind
saftige Wiesen, und weiterhin erblicken wir Saat an Saat, Dörfer und
Städte mit herrlichen Obstwaldungen umgeben. Die Anmuth der
Thäler, die reine Luft und freie Aussicht der Anhöhen, die Großartig-
keit und Lieblichkeit der Landschaften, die Gemüthlichkeit und Gastlich-
keit seiner Bewohner, die Freundlichkeit seiner Städte und Dörfer und
auch wohl die Heilkraft seiner Bäder zieht alljährlich viele Norddeutsche
nach diesem schönen Lande hin.
Am Erzgebirge und im Thüringer Lande, theilweise auch in
der Ebene liegen die sächsischen, reußischen, schwarzburgischen
und anhaltschen Länder. Das größte von ihnen ist das König-
reich Sachsen, freilich nur halb so groß wie Hannover, aber
mit noch etwas mehr Einwohnern. Seine Hauptstadt ist Dr es-
255
den an der Eibe. Weiter abwärts liegt unweit der Elbe
Leipzig. In der Ebene von Leipzig schlug Gustav Adolf
den Tilly, und später
^Bei Leipzig auf dein Plane, o schöne Ehrenschlacht!
Da brachen den Franzosen in Trümmer Glück und Macht.a
Vorn Königreich Sachsen westlich liegen das Großherzog-
thum Sachsen-Weimar-Ei Fe nach, die sächsischen Her-
zogthümer Koburg-Gotha, Meiningen-Hildburghau-
sen und Altenburg und die reußischen Fürstentnümer.
Zwischen ihnen liegen die schwarzburgischen Fürstenthümer
Sondershausen und Rudolstadt, und nordöstlich von die-
sen kleinen Ländern die anhaltschen Herzogthümer Dessau-
Köthen und Bernburg. Alles übrige Land gehört zu der
preußischen Provinz Sachsen. Die Einwohner dieser Länder
sind meist evangelisch.
11. Barbarossa im Kiffhäuftr.
1. Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterirdschen Schlosse
Hält er verzaubert sich.
5. Sein Bart ist nicht von Flachse,
Er ist von Feuersglut,
Ist durch den Tisch gewachsen.
Worauf sein Kinn ausruht.
2. Er ist niemals gestorben,
Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloß verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.
3. Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit,
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr zu seiner Zeit.
4. Der Stuhl ist elfenbeinern,
Darauf der Kaiser sitzt;
Der Tisch ist marmelsteincrn.
Worauf sein Haupt er stützt.
6. Er nickt als wie im Traume,
Sein Aug, halb offen, zwinkt.
Und je nach langem Raume
Er einem Knaben winkt.
7. Er spricht im Schlaf zum Kna-
ben:
Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
Und sieh, ob noch die Raben
Herfliegcn um den Berg.
8. Und wenn die alten Raben
Noch fliegen immerdar.
So muß ich auch noch schlafen
Verzaubert hundert Jahr.
12. Die Elbe.
Äm Kamme des Riesengebirges finden sich große Moos- und
Moorwiesen, welche wie ein Schwamm die Feuchtigkeit der Lust
ansaugen. Solch eine Wiese ist die 4000 Fuß über dem Meeres-
spiegel liegende Elbwiese. Auf ihr sind die Quellen der Elbe. Sie
durchfließt die reichen Fruchtgefilde von Böhmen in einem weiten
Bogen, verstärkt sich durch die von Süden kommende, wasserreiche
Moldau, an der die alte prächtige Hauptstadt Prag mit ihren
vielen Kirchen, Türmen und Klöstern liegt, und nimmt darnach die
vom Fichtelgebirge kommende Eg er auf, worauf sie aus dem Böh-
merlande in das Königreich Sachsen eintritt. Von allen Seiten
‘256
drängen hier Sandsteinfelsen auf sie ein; sie durchbricht dieselben und
eilt durch die sogenannte sächsische Schweiz mit ihren reizenden Ber-
geshöhen zur schönen Königsstadt Dresden. Bei M e i ß e n drängt
sie sich abermals durch Gebirgsmassen hindurch und gelangt dann
unweit Leipzig in die norddeutsche Tiefebene.
Von setzt an sind ihre User flach, und wo sie nicht durch Dämme
begrenzt ist, da ergießt sie im Herbst und Frühjahr häufig ihre Fluten
über die weiten Fluren. Oft durchbricht sie sogar gewaltsam die
Dämme und richtet dann großm Schaden an. Doch hat sie bei den
Überschwemmungen auch manche Sandftrecke mit fruchtbarem Erdreich
überkleidet.
Ihre Wassermenge wird durch die Mulde und die Saale
von der linken Seite und durch die Havel von der rechten Seite ver-
stärkt^ So wird sie stark genug, Schiffe zu tragen. Die Waren gehen
theils durch die Havel in die Spree bis Berlin; theils fahren sie den
Strom hinab. Aus preußischem Gebiete liegen an ihren Ufern die
Städte Wittenberg und Magdeburg.
Nachdem sie das hannoversche Gebiet theils durchflossen, theils
von Preußen, Meklenburg und Lauenburg getrennt und die Ilme-
nau aufgenommen hat, erreicht sie Harburg und gleich darauf
Hamburg, die bedeutendste Handelsstadt Deutschlands, deren größte
Kaufleute ihre Schiffe nach allen Erdtheilen senden. Von hier kom-
men die ausländischen Waren stromaufwärts tiefer in das Land
hinein; die Dampfboote gehen sogar bis Prag. Auch die Eisen-
bahnen, welche die Elbe bald in größerem, bald in geringerem
Abstande bis nach Böhmen hinein begleiten, fördern den Verkehr
erstaunlich. Bei Altona und Glückstadt vorbei fließt sie dann
zwischen Hannover und Holstein in die Nordsee. Vor ihrer Mün-
dung liegt die kleine Insel Helgoland, welche die Engländer
besitzen.
13. Die Oder.
Äm Südostende der Sudeten entspringt die Oder. Sie kommt
als ein schmaler Bach aus einem von finstern Tannenwäldern um-
gebenen Sumpfe. In einem tief eingeschnittenen Thale braust sie
reißend dahin. Bald tritt sie in das Tiefland; ihr Thal wird breit;
träge schleicht sie zwischen Gebüsch und Wiesel hin. Auf beiden Ufern
sind dichte Forsten, von Wiesen und Äckern unterbrochen. Doch ist
der Boden mager und die Ernte dürftig; dafür aber finden sich in
dunkler Tiefe Kohlen und Erze. Der Strom ist seicht und sehr ver-
sandet, daher geht die Schiffahrt langsam; aber der Dampfwagen
führt uns schnell nach Breslau, Schlesiens größter Stadt. Unter-
halb derselben nimmt sie links die Katzbach auf, an der 1813
Blücher die Franzosen schlug. Sie und alle von diesen Gebirgen
kommenden Flüsse schwellen bei Gewittern plötzlich an und werden
dann überaus reißend. Von Breslau an trägt sie Fahrzeuge, die
mit einer Last bis zu tausend Centnern beladen sind. Wald, Ge-
büsch auf Sumpfstrichm und Sandhügel geleiten sie nach Frank-
257
fürt; innerhalb des Stromes liegen Sandinseln in Menge. Unter-
halb der Stadt beginnt bald das sogenannte Oderbruch. Es ist
ein trockengelegter 'Sumpfstrich, durch Dämme gegen Überschwem-
mungen möglichst geschützt: der Boden ist überaus fruchtbar gewor-
den, so daß man nun zahlreiche Meiereien und Dorfschaften erblickt,
die üppigen Wiesenwuchs haben und daher eine ergiebige Viehzucht
treiben. ' Sie mündet endlich bei Stettin in Pommern. Die Stadt
liegt auf beiden Seiten der Oder und ist eine Festung. Der bedeu-^
tende Handel, welchen sie treibt, macht sie sehr belebt.
14. Die Ostsee.
1. Ein Schiff, das von der Nordsee in die Ostsee einfahren
will, kann zwischen drei Eingängen wählen: dem Sund, dem großen
und dem kleinen Belt. Es liegen in der Ostsee viele Inseln, deren
größere mit freundlichen Dörfern und Städten und mit baumreichen
Gefilden geschmückt sind.
Eine der schönsten ist Rügen an der pommerschen Küste,
Stralsund gegenüber. Wer aus den einförmigen Landstrichen
Pommerns kommt, für den muß dies Eiland mit seinem mannig-
fach gestalteten Strande, seinen vielen Buchten, Landengen, Erd-
zungen und Vorgebirgen, mit seinen reichen Saaten, duftigen Hai-
nen und herrlichen Buchenwaldungen, mit seinen Seen, Bächen,
Felsen und Hünengräbern auf grauen Heidstrecken, mit dem erha-
benen Anblick der'See und mit seiner milden Luft einen anziehen-
den Reiz bieten, der noch erhöht wird durch die in den armen
Fischerhütten noch heimischen Sitten alter Einfachheit, Herzlichkeit
und Gastfreundschaft.
2. Die Tiefe der Ostsee beträgt an den meisten Stellen nur
80 bis 100 Fuß. Ihre Küsten sind sehr flach; daher bieten sie viele
gute Badestellen dar. Ebbe und Flut sind in der Ostsee nicht wahr-
nehmbar. Das Wasser ist meergrün, aber klarer und kälter als
das des Oceans, und wegen der vielen ihr zufließenden Gewässer
und des bedeutenden Niederschlages an Regen und Schnee nur halb
so salzig als das der Nordsee; in 1060 Pfund Ostseewasser sind
nur 12 Pfund Salz enthalten. Wegen seines geringen Salzgehaltes
und seiner eingeschlossenen Lage friert es leicht zu. Schon in der
Mitte Decembers schießen an den Küsten breite Ränder von Eis an,
dehnen sich schnell über die schmaleren Buchten und Kanäle aus
und hemmen bis in den April die Schiffahrt zwischen den Häfen.
In strengen Wintern kann inan in Schlitten auf dem Eise von
Finnland nach Schweden fahren. Da umgeben einen denn auf
unabsehbare Fernen hin allerlei wunderlich geformte Eisblöcke, zwi-
schen denen das Auge nichts als Eis und Schnee erblickt. Wäh-
rend der ganzen Reise trifft man kein lebendiges Geschöpf; man
hört in der Todesstille der Eiswüste keinen Laut als das Pfeifen
des Windes, das Rauschen des Schlittens, das Schellengeläute und
den Hufschlag der Pferde. Kommt ein Schneesturm, oder entstehen
258
unter donnerähnlichem Krachen weite Risse und große Spalten in
dem Eise, dann wird die Reise gefährlich.
Erst im Mai vertreibt die Sonne das Eis, und die Schiffahrt
wird frei. Dann spielen die plätschernden Wellen über den weißen
Sand bis an die Dünen und laden den armen Strandfischer wie
den reichen Rheder zur Fahrt ein. Bald schaukeln sich auf der
grünen Flut die kleinen Fischerboote mit ihren rothen und die See-
schiffe mit ihren weißen Segeln, und schnelle Dampfer durchfurchen
die Wogen. Die Wogen der Ostsee sind kurz und gebrochen, was
von den plötzlichen Veränderungen des Windes und von der Un-
gleichmäßigkeit der Tiefe kommt; daher ist die Schiffahrt selten ganz
gefahrlos, besonders wenn ein schwerer Nordost über das Meer braust.
Die Stürme und Klippen, die Eisschollen und Nebel haben ein ab-
gehärtetes und kühnes Schiffervolk erzogen.
3. Das berühmteste Erzeugniß der Ostsee ist der Bernstein,
welchen sie allein in so reichem Maße besitzt. Er wird häufig von
Stürmen an die Küste geworfen; man findet ihn aber auch mehrere
hundert Fuß von der Küste entfernt in der Erde, theils in kleinen
Splittern, theils in großen Stücken von einem Loth bis zu zwanzig
Pfunden, und noch darüber. Er ist ein sehr dünnflüssiges, aber
schnell erhärtendes Baumharz, das einst in großer Menge aus einem
Baume floß, der früher am Strande der Ostsee ganze Wälder bil-
dete; jene Wälder wurden später durch mächtige Fluten zerbrochen
und begraben. Ost finden sich kleine Käfer, Ameisen und Fliegen
in den Stücken, zuweilen ganz unverletzt, so daß sie aussehen, als
ob sie noch lebten. Er wird zu allerlei Kunstsachen verarbeitet, z. B.
zu Dosen, Pfeifenspitzen, Geschmeiden, Knöpfen; auch braucht man
ihn zum Räuchern, besonders im Morgenlande, weshalb er selbst
nach Konstantinopel und Kleinasien geht. Schon in alten Zeiten
kamen die Phönizier an die Küsten der Ostsee und holten Bernstein.
15. Der östliche Theil der deutschen Tiefebene.
1. Äie Elbe scheidet das deutsche Tiefland in zwei Stücke: die
Ebene der Nordsee und die der Ostsee. Jene gehört meist zu Han-
nover, diese meist zu Preußen und ist von jener in mancher Hinsicht
verschieden. Das Tiefland an der Ostsee liegt nicht so niedrig, wie
das an der Nordsee; daher sind dort auch reine Deiche zum Schutz
gegen die Meereswogen nöthig. Der ganze südliche Saum der
Ostsee hat Dünenreihen, und die Häfen sind sehr der Versandung
ausgesetzt. Nicht selten sind die Dünen zu gewaltigen Mauern von
Meeressand angewachsen, an und auf denen außer dürren Schling-
pflanzen nichts als Strandhafer wächst. Aus der Entfernung be-
trachtet scheinen sie freilich grün; aber das ist ein täuschendes Bild,
und ein ungestüm heranbrausender Sturm bedeckt und ertödtet nicht
selten auch jenen geringen Pflanzenwuchs mit neuen Schichten Meer-
sandes, welche auch den Fruchtboden tiefer landeinwärts versanden.
Aus solchen unwirtbaren Dünenketten entflieht alles frischere Leben;
daher sind am Strande in der armseligen Gegend meist nur weit
259
zerstreute Fischerdörfer. Ihren Bewohnem ist die See alles; fast
jeder ist Seemann; die ländlichen Arbeiten liegen meist den Greisen
und Frauen ob. Ein eigenthümlicher Erwerbszweig ist die Bern-
fteinfischerei. An den Flußmündungen dagegen liegen große Han-
delsstädte; so Königsberg am Pregel, Danzig an der Weichsel
und Stettin an der Oder, alle drei im Königreiche Preußen. An
der meklenburgischen Küste liegen Rostock und Wismar, und
noch weiter westlich die alte freie Reichsstadt Lübeck, zur Zeit der
Hansa die bedeutendste Hansastadt, und in Holstein liegt Kiel. Vor
den Mündungen der Flüsse befinden sich sogenannte Haffe, d. h.
Seen von Süßwasser, welche durch schmale, lange Erdzungen, Neh-
rungen genannt, von der See getrennt, oder, wie an der Mündung
der Oder, durch Inseln geschlossen werden. Sie versanden immer
inehr, und bei stürmischem Wetter sind die Schiffe auf ihnen großer
Gefahr ausgesetzt.
2. Zwei lange Höhenzüge streichen durch die Ebene hindurch.
Der nördliche, welcher den Küstenstrich begleitet, ist oft über 15 Mei-
len breit; er setzt sich nördlich von der Elbe auf der Halbinsel Jüt-
land fort. Auf seiner Platte liegt eine große Anzahl kleiner Seen
dicht bei einander. An einem solchen See liegt Schwerin, die
Hauptstadt des Großherzogthums Meklenburg-Schwerin. Obwohl
die meisten dieser Seen flach sind und nicht selten ein trübes Wasser
haben, so geben sie doch dem Lande einen angenehmen Wechsel.
In Holstein sind ihre lachenden Ufer häufig von anmuthigen Hügeln
umkränzt, auf denen Eichen und Buchen stehen. Still und träume-
risch liegt der Spiegel des Wassers; lind geht der Wind durch das
Laub und treibt den Flügel der Windmühle. Unter den Bäumen
grast die Herde, und Hirsch und Reh kommen scheu heran, ihren
Durft zu löschen. Am klaren Himmel ziehen einzelne Wolken hin,
welche ihren blaffen Schatten auf die Landschaft werfen. So ists
an Sonnentagen. Die Umgebungen der Seen haben häufig schönes
Ackerland; aber auch dürre Stellen gibts, wo nur Heide und Nadel-
holz wächst.
Zwischen der nördlichen und der südlichen Landhöhe liegt ein
meist sandiger und sumpfiger und wenig ergiebiger Landstrich, der
nur in den Flußthälern fruchtbar ift. In demselben liegt in einer
weiten Sand ebene Berlin an der Spree, die Hauptstadt'Preußens;
sie hat eine halbe Million Einwohner. In ihrer Nähe liegt die
schöne Stadt Potsdam.
Die südliche Landhöhe zieht sich an dem rechten Ufer der Oder-
hin, geht dann über dieselbe hinweg zur Elbe und setzt sich jenseit
derselben in der Lüneburger Heide fort. Die Flüsse haben steile und
tiefe Ufer, wo sie durch dieselbe hindurchbrechen. Sie hat selten
bessern Fruchtboden. Wo sich Wald findet, besteht derselbe meistens
nur aus Fichten; im übrigen ift er von brauner Heide bekleidet.
Das Thalland aber, welches zwischen ihr und dem südlichen Berg-
lande lie^t, ist ein gut gewässertes, fruchtbares Land.
3. In der ganzen norddeutschen Tiefebene liegen größere und
200
kleinere Blöcke von Granit umhergestreut, welche nach der Meinung
gelehrter Leute bei einer großen Wasserflut auf Eisschollen aus dem
hohen Norden hierher getragen sind.
Via norddeutsche Ebene an der Ostsee umfaßt den größten
Theil des Königreichs Preußen, zu welchem folgende
Provinzen gehören: Schlesien an den Sudeten und am Rie-
sengebirge; nordwestlich von ihm Brandenburg mit Berlin;
südlich von diesem Sachsen und nördlich Pommern; östlich
von Pommern West- und Ostpreußen, und von diesen Land-
schaften südlich Posen, ein Stück des ehemaligen Königreichs
Polen. Die übrigen Provinzen Preußens liegen in Westdeutsch-
land und sind Westfalen und die Rheinprovinz und von
Würtemberg und Baden umschlossen die hohenzollernschen Für-
stenthümer Hechingen und Sigmaringen.
Westlich von Pommern, an unser Vaterland grenzend, liegen
die beiden meklenburgischen Großherzogthümer Schwerin
und Strelitz. Westlich von Schwerin liegen die deutschen
Besitzungen des Königs von Dänemark, die Herzogthümer
Lauenburg und Holstein.
In dem westlichen Theile des norddeutschen Tieflandes
liegt von Hannover umschlossen das Großherzogthum Olden-
burg mit der Hauptstadt gleiches Namens.
Theils im Tieflande, theils auf dem Nordsaume des deutschen
Berglandes liegt an der Grenze Hannovers unser Vetternland
Braun sch we ig. Seine Hauptstadt ist die berühmte Residenz
Heinrichs des Löwen, Braunschweig. In ihrer Nähe liegt
Wolfenbüttel und am Harz das schöne Blankenburg.
16. Deutschlands Gefahr und Errettung.
1. Schon vor der Geburt Christi hatten sich die Römer an den
Ufern des Rheines immer mehr festgesetzt, und seit dem Jahre 12
vor unsers Herrn Geburt machte Drusus der Stiefsohn des Kaisers
Augustus, vier Streifzüge durch Deutschland, deren einer sogar bis
an die Elbe ging. Tiberius, des Drusus Bruder und Nachfolger
im Feldherrnamt, suchte listigerweise unter den deutschen Völkern
Zwietracht zu erregen, den einen durch Erweisung von Ehre, den
andern durch Belohnungen zu gewinnen. Manche ließen sich sogar
verleiten, in römische Dienste zu treten, und wußten sich viel im rö-
mischen Kriegskleide. Es ist nicht rühmlich, daß es dem Tiberius
so gut gelang. Gegen offenbare Gewalt hatten die Deutschen ihre
Freiheit geschützt; aber durch diese langsamen, freundlich scheinenden
Fortschritte der Römer wäre sie beinahe verloren gegangen. Nach
und nach waren in den westfälischen Gegenden mehrere Lagerplätze
von den Römern angelegt und besetzt. Da wohnten sie Sommer
und Winter, brachten dahin ihre Waren und verhandelten sie an
die Deutschen. Diese sollten sich an eine üppige Lebensweise gewöh-
nen, damit sie die römischen Waren nicht mehr entbehren könnten
und weichlich würden. Daneben wollten die Römer den Deutschen
201
ihre Sprache und ihre Gesetze aufdringen, und damit wäre die Un-
terjochung so gut wie vollendet gewesen. Denn wenn ein Volk
die Sprache eines andern angenommen hat, so denkt es auch bald
wie das andre; und hätten die Deutschen nach den römischen Ge-
setzen leben wollen, so würden sie ihre Sitten und Einrichtungen ganz
haben umkehren müssen.
Am weitesten hatte es der römische Statthalter Varus gebracht,
der gegen das Jahr 9 nach Christi Geburt in Deutschland den
Befehl führte. Er hielt schon auf römische Weise Gericht in den
deutschen Gauen, ließ das Recht durch römische Advocaten mit aller
Spitzfindigkeit auslegen, und, was die Deutschen am meisten aus-
brachte, er ließ nach römischer Sitte die Beile mit den Ruthenbün-
deln vor sich hertragen, welche ein Zeichen seines Rechtes über Leben
und Tod und körperliche Züchtigung sein sollten. Eine Züchtigung
aber mit Schlägen wäre dem freien deutschen Manne die entsetz-
lichste Beschimpfung gewesen, und das Recht über sein Leben räumte
er keinem Menschen, sondern allein der Gottheit ein. Dennoch
wurde der Unwille lange Zeit nicht laut, und die Gegenden zwi-
schen dem Rheine und der Weser schienen den Römern so gut wie
völlig Unterthan zu sein; Varus wenigstens nahm dieses für aus-
gemacht an.
2. Aber so dachte Hermann oder Arminius, ein edler deutscher
Mann, nicht. Das Joch eines fremden Volkes schien ihm unerträg-
lich. Er war eines cheruskischen Fürsten Sohn, von fürstlicher Ge-
sinnung, und an Gestalt und Tapferkeit ein wahrer Held. Er war
als Knabe nach Rom gekommen und hatte die Römer mit ihrer
Staats- und Kriegskunst, sowie mit allen ihren Lastern genau
kennen gelernt. Er kehrte zu seinem Volke zurück, begeisterte mit
seiner Rede die übrigen Fürsten und Anführer desselben, und stiftete
klug und heimlich einen Bund zum Untergange der Feinde. Varus
merkte in seinem Hochmuthe nichts. Um ihn von seinem guten
Lagerplatze weg in gefährlichere Gegenden zu locken, mußte ein ent-
ferntes Volk zum Scheine einen Ausstand machen. Er brach gegen
dasselbe auf. Die mit ihm verbündeten Fürsten entfernten sich,
zogen ihre schon bereit gehaltenen Haufen zusammen, verabredeten
den Angriff, und als die Römer mitten in den Wildnissen des Teuto-
burgerwaldes waren, — der ist ein großer Wald in den Gegenden
der Weser, von Paderborn über Detmold nach Herford und Minden
hin, — brachen die Deutschen von allen Seiten auf sie los. Die
Römer erwarteten keinen Angriff: ohne Ordnung, mit vielem Ge-
päck, sogar mit einem Haufen von Frauen und Kindern zogen sie
in dem rauhen Waldgebirge daher. Der Sturmwind brauste in
den hohen Gipfeln der Eichen, und der Boden war von vielem
Regen ganz durchweicht. Die meisten mochten sich wohl in ihrem
Herzen weit weg aus diesen Wildnissen wünschen. — Da kamen
plötzlich aus dem Dickicht des Waldes, von allen Höhen und aus
allen Schluchten die Scharen der Deutschen, die solche Wege und
solches Wetter gewohnt waren, hervor und schleuderten ihre scharfen
262
Wurfspeere gegen die erschrockenen Römer. Diese ordneten sich, so
gut sie in den unwegsamen Gegenden konnten, nahmen das Gepäck
und den Troß in die Mitte und vertheidigten sich. Aber die Sehnen
der Bogen waren vom Regen erschlafft; auf dem schlüpfrigen Boden
konnten sie in ihren schweren Harnischen keinen festen Fuß fassen.
Viele von ihnen sanken ermattet und verwundet zu Boden. Am
Abend endlich gelang es ihnen, einen Platz zum Lager zu finden
und sich zu verschanzen, so daß sie doch einige Stunden ausruhen
konnten. Am andern Morgen aber mußten sie weiter; ihre einzige
Hoffnung war, sich bis zu ihren festen Schlössern, wo noch Be-
satzung lag, und so weiter bis an den Rhein durchzuschlagen; und
wirklich kamen sie auch in eine etwas freiere, ebnere Gegend, wo
sie geschlossene Reihen bilden und die Angriffe der Deutschen besser
abwehren konnten. Allein das dauerte nicht lange; bald ging ihr
Weg wieder in den schrecklichen Wald. Nun griffen die Deutschen
mit neuer Wuth an, erschlugen eine Menge und jubelten laut, daß
der Römerhaufe immer kleiner und kleiner wurde. Noch einmal
versuchten diese, ein Lager aufzuschlagen und Wall und Graben
auszuwerfen; allein die Deutschen ließen ihnen nicht Zeit dazu.
Mit verdoppelter Anstrengung und hellem Schlachtgesange stürmten
sie von allen Seiten heran; der Feldherr Darus verlor gänzlich den
Muth und stürzte sich, nachdem er schon mehrere Wunden empfan-
gen hatte, selbst in sein Schwert, viele der Anführer desgleichen;
keiner widerstand mehr; die Deutschen hatten nichts weiter zu thun,
als die Ermatteten und Fliehenden niederzumachen oder gefangen
zu nehmen. Nur wenigen einzelnen Römern gelang es, in der
Dunkelheit der Nacht zu entkommen und zu den nächsten festen
Schlössern zu entfliehen, wo ste ihren Landsleuten die Botschaft von
dem Untergange des Varus mit seinem ganzen Heere verkündigten.
Die Deutschen feierten unterdes große Freudenfeste, dankten ihren
Göttern und vertheilten die reiche Beute und die Gefangenen unter
sich. Unter diesen war eine Menge junger vornehmer Römer, die
in allem Überfluß und in Weichlichkeit aufgewachsen waren und in
ihrem Stolze schon geglaubt hatten, daß sie die Herren der Welt
wären; die mußten nun in den rauhen deutschen Wäldern ihr Leben
hinbringen, indem sie die niedrigsten Knechtsdienste verrichteten, das
Vieh hüteten, und vor den Thüren derer standen, die sie früher
verächtliche Barbaren genannt hatten.
Dieser herrliche Sieg, der unserm Vaterlande die Freiheit ge-
rettet hat, war im Herbst des Jahres 9 nach Christi Geburt erfochten >
worden. Hermann begnügte sich aber nicht damit, nur den Varus
geschlagen zu haben; er eroberte und zerstörte auch alle römischen >
Schlösser, die diesseit des Rheines waren, und hörte nicht auf, bis
er an den Ufem des Stromes stand. Weiter ging er nicht; er hatte <
nur den vaterländischen Boden von den fremden Unterjochern be- -
freien wollen. In Rom glaubte man ihn schon auf dem Wege i
nach Italien. Der Kaiser Augustus, der sich sonst wohl zu fassen ;
wußte, verlor dieses Mal alle Besinnung, rannte mit dem Kopfe :
263
gegen die Wand und rief immer aus: „Varus, Varus, gib mir
meine Legionen wieder!" Varus hatte ein ausgesuchtes Heer von
mindestens 40000 Mann gehabt, welches nun wie vom Erdboden
rein weggetilgt war. Einige Monate ließ der Kaiser aus Trauer
Haare und Bart wachsen, und seine deutsche Leibwache, — eine
solche hielt er aus geworbenen Leuten, ihrer Treue und Tapferkeit
wegen, — schickte er weit aus Rom weg, aus Furcht, sie möchte
sich empören. Als er etwas zur Besinnung gekommen war, schickte
er den listigen Tiberius wieder an den Rhein, um die Grenzen zu
bewachen; der fand zu seinem Erstaunen alles ruhig, weil die Deut-
schen bereits, ein jeder nach seiner Heimat, umgekehrt waren.
Hermanns Name wurde von den Nachkommen hochgeehrt und
seine Thaten im ganzen Lande besungen.
17. Wie die deutschen Völker Christen werden.
Rirgend hat das Wort Gottes eine so feste Heimat gefunden,
als bei den Deutschen; nirgend hat ein Volk sich so herzlich hin-
eingelebt und ihm sein gutes Recht gegeben.
Die Deutschen hatten sich im dritten Jahrhundert nach Chr.
zu mehreren großen Völkerbündnissen zusammengethan. Am schwar-
zen Meere wohnten die Gothen, wilde und starke Männer. Unter
diese war schon vor den Tagen Konstantins das Christenthum durch
Kriegsgefangene gekommen. Bald übersetzte einer ihrer Bischöfe ihnen
die Bibel in ihre Sprache.
Um diese Zeit setzte der Herr ganze Scharen deutscher Völker
in Bewegung und sandte sie in die christlichen Landschaften des
römischen Reiches, damit sie dort das Evangelium kennen lernen
sollten. Diese große Bewegung begann im Jahre 375 und dauerte
zweihundert Jahr. Sie wird die Völkerwanderung genannt. Da-
mals zogen die Vandalen und Sueven nach Spanien; von hier
wanderten jene nach Afrika und gründeten am Mittelmeere ein blü-
hendes, aber nur kurzes Reich. Die Burgunder zogen über den
Rhein, Angeln und Sachsen nach Britannien und die Langobarden
über die Alpen nach Italien.
Langsamer ging die Bekehrung derjenigen deutschen Völker vor
sich, welche mehr auf deutschem Boden geblieben waren. An den
Ufern des Rheins vom Bodensee bis Köln wohnten die Aleman-
nen, von dort stromabwärts und zur Seite nach Gallien (Frank-
reich) hinein die Franken. Über die Franken herrschte damals
Klodwig, dessen christliche Gemahlin Klotilde ihn oft anlag, sein
Heidenthum mit dem Christenglauben zu vertauschen. Er war in
einen Krieg gegen die Alemannen gezogen und in einer Schlacht in
große Noth gerathen. Da gedachte er an das Abschiedswort seiner
Gemahlin, welche ihm gerathen hatte, wenigstens in der Noth zum
Herrn zu rufen, und betete zum Herrn: „Ich habe meine Götter
angefleht, aber sie haben keine Macht. Nun wende ich mich zu dir
und verlange an dich zu glauben. Errette mich aus den Händen
meiner Feinde, so will rch mich taufen lassen." Die Schlacht wandte
264
sich, er siegte und ließ sich noch in demselben Jahre (496) mit 3000
seiner Franken taufen. Freilich war sein wilder Heidensinn damit
noch nicht von ihm gewichen: er hatte mehr den Namen als das Herz
verändert und übte nach wie vor dieselbe Treulosigkeit; das hinderte
ihn aber nicht, so viel bei ihm stand, die Ausbreitung der christlichen
Kirche bei seinen Franken und bei den andern ihm unterworfenen Völ-
kern kräftig zu befördern.
Mit Schutzbriefen von ihm versehen ging ein frommer Mönch,
Fridolin aus Irland, zu den Alemannen den Rhein aufwärts bis
Basel. Dort lag eine Insel im Rhein, auf welcher er sich niederließ,
und nun predigte er das Evangelium allen, die sich aus den Wäldern
und Bergen ringsumher herzufanden. Der König schenkte ihm die
Insel, und er baute auf ihr ein Kloster, dessen Mönche nachher sein
Werk fortsetzten.
Fridolin war schon über fünfzig Jahr todt, als wiederum aus
den Klöstern Irlands zwölf Männer sich aufmachten, noch in der
Kraft der Jugend, den Heiden zu predigen. Sie kamen durchs
Frankenreich ins Vogesengebirge, baueten bei den Trümmern einer
alten Burg ein Kloster, predigten , beackerten das umliegende Land
und unterrichteten groß.und klein, so viele ihrer von den Aleman-
nen herzukamen. Nach und nach wurden noch mehr Klöster gestiftet
und mit bekehrten Alemannen bevölkert. Die Ernte war groß; aber
eine böse Königin, welche in jenen Tagen über die Franken herrschte,
vertrieb die Arbeiter nach zwanzigjähriger Mühe. Sie zogen nun
an den Bodensee. Jene Gegend war in früheren Zeiten schon mal
von Christen bewohnt gewesen; aber der wilde Hunnenkönig Attila,
der während der Völkerwanderung nach Deutschland eingebrochen
war, hatte alles Land verwüstet, und nur wenige Spurender frü-
heren Chriftenzeit wurden noch angetroffen. In die von Menschen
verlassenen Einöden waren heidnisihe Alemannen eingerückt, und
diesen predigten die zwölf Missionare nun das Evangelium in den
Trümmern einer christlichen Kirche. Zugleich baueten sie Gärten,
pflanzten Obstbäume, flochten Netze zum Fischfänge und nährten
also sich selbst nebst vielen armen Leuten. Als die böse Königin
der Franken sie auch hier verfolgte, zogen zwei von ihnen, Co-
lumban und Sigbert, noch weiter in die Alpen. Nicht weit
von den Quellen des Rheins, am Gotthardsberg, sammelte Sigbert
eine Gemeinde und gründete ein Kloster; Eolumban aber stieg über
die Berge und predigte den Longobarden. Dort ist er in Frieden
gestorben, nachdem er lange Jahre unter großem Segen gearbeitet
und besonders viele Jünglinge zu Boten des Evangeliums zuge-
richtet hatte.
Ein anderer von den Zwölfen, Gallus, suchte sich einen
Wohnplatz in der Wildniß, welche an den Bodensee grenzte. Man
schilderte ihm die Gefahren, die ihm von wilden Thieren dort dro-
heten; er aber sprach: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns
sein! Der Gott, welcher Daniel aus der Löwengrube befreit hat,
vermag mich auch aus den Klauen der wilden Thiere zu retten/'
265
Spät abends kam er mit seinem Gefährten in eine rauhe, wüste
Gegend in der Nähe eines schäumenden Gebirgsflusses. Dort woll-
ten sie ihr Mahl halten. Gallus warf sich aus die Kniee zum Ge-
bet. Dabei strauchelte er. Sein Gefährte wollte ihm aufhelfen; er
aber sprach: „Laß mich; hier ist meine Ruhestätte; hier will ich
bleiben." Er betete lange und inbrünstig. Dann richtete er ein
Kreuz von einer Haselstaude auf zum Zeichen, daß der Ort dem
Herrn heilig sein solle. Nun baueten sie sich Hütten. Ihre Predigt
bewog viele, sich bei ihnen anzubauen. Aus der Jugend des Vol-
kes erzogen sie Glaubensboten für dasselbe. Darüber war Gallus
95 Jahr alt geworden; da ergriff ihn mitten in einer Predigt, die
er in der Kirche hielt, ein Fieber. Er entschlief ruhig im Herrn
und wurde bei seiner Hütte im Gebirgsthals begraben, und an
derselben Stelle wurde dann später das Kloster St. Gallen gebaut.
Auch am Main predigten Sendboten aus Irland und bekann-
ten Christum im Leben wie im Tode. So war der Schall des
göttlichen Wortes über Berg und Thal durch Wälder und Wild-
nisse zu den Seelen hindurchgedrungen, und die Herzen hatten sich
von den todten Götzen bekehrt zu dem lebendigen Gott.
Da waren unter den deutschen Völkern allein noch übrig die
Friesen an der Nordsee, die Thüringer in Mitteldeuffchland und
zwischen beiden der mächtige Bund der Sachsen. Erst hundert Jahre
später kam auch für diese die Zeit der Berufung.
18. Bonifaerus, -er Apostel der Deutschen.
1. Äas gesegnetste Werkzeug zur Bekehrung der Deutschen
war der Engländer Winfried (d. h. Kampffried, einer, der Frieden
schafft durch Kampf), bei seiner Bischofsweihe vom Papste mit dem
Ehrennamen Bonifaerus (d. h. Wohlthäter) ausgezeichnet; denn ein
Wohlthäter ist er gewesen für seine Zeit in geistlichen und leiblichen
Dingen. Sein Herz war erfüllt mit heißer Sehnsucht, seinen Stamm-
verwandten, den-Friesen an den Küsten der Nordsee, das Evange-
lium zu predigen. Die Friesen hatten sich aber gerade zu dieser
Zeit mit neuem Eifer ihren alten Götzen zugewandt, von denen
sie Schutz erwarteten gegen die Franken, die ihre Unabhängigkeit
bedrohten. Von neuem wurden dem Meeresgotte Menschenopfer
gebracht, die, am Strande ausgesetzt, beim Steigen der Flut von
der Brandung ergriffen und in die Tiefe gezogen wurden. Fast
vergebens waren bisher die Anstrengungen Wilibrords, des Friesen-
missionars, gewesen. Winfried mußte also einen andem Weg suchen.
Er ging zum Papste nach Rom, holte sich bei ihm Rath für
sein schweres Werk und langte im Jahre 718 am nördlichen
Fuße der Alpen an. Da lag Deutschland vor ihm mit seinen
Gauen und Völkern. Wohin sollte er sich wenden? Sein Ge-
schichtsschreiber sagt: „Wie die Biene, die um die Blumen des
Gartens prüfend kreist, bevor sie sich in den auserwählten Kelch
niederläßt, so zog Bonifacius in den verschiedenen Gauen umher,
bis er bei den Nachbarn seines geliebten Sachsenvolkes, bei den
12
266
Thüringern, festen Fuß faßte." Sein Werk nahm guten Fortgang;
der Papst weihte ihn zum Bischof.
2. Gern wandte er sich vom fränkischen Hofe und dessen ver-
weltlichter Geistlichkeit, die den strengen Reformator haßte, und ging
zu den Hessen. Unsere heidnischen Vorfahren verehrten mancherlei
Götzen. In heiligen Hainen und unter Bäumen bluteten denselben
Opfer; Eichen und Linden waren ihnen geheiligt; Freudenfeuer
flammten ihnen auf den Bergen. — Eine solche Eiche von wun-
derbarer Größe stand bei dem Dorfe Geismar in der Nähe von
Fritzlar in Hessen. Diesem alten Baume des Aberglaubens legte
Bonifacius vor dem versammelten Heidenvolke die Axt an die Wur-
zel; seine Genossen halfen ihm zuschlagen, und ein Sturmwind,
vom Herrn gesandt, stürzte den Baum, daß er in vier Stücke zer-
splitterte. Kein Feuer vom Himmel traf den kühnen Missionar, den
die Heidenmenge mit heiliger Furcht anstaunte. An demselben Orte,
mit demselben Holze erbaute Bonifacius ein Bethaus zu Ehren
St. Peters. Die Heiden aber erkannten die Ohnmacht ihrer Götzen
und bekehrten sich. Auf solche Weise kämpfte Bonifacius gegen das
Heidenthum.
3. Der Papst ernannte ihn zum Erzbischof, und unter dem
Schutze desselben entfaltete nun Bonifacius seine Gabe, zu ordnen
und Zucht und Regiment in die deutsche Kirche zu bringen. Baiern
theilte er in die vier bischöflichen Sprengel Salzburg, Freisingen,
Regensburg und Passau; in Thüringen gründete er einen Bischofssitz
zu Erfurt, in Hessen zu Büraburg bei Wetzlar, in Ostsranken zu
Würzburg und Eichstädt. Die gründlichste Reformation bedurfte
die Kirche im Frankenreiche. Falsche und unzüchtige Priester wurden
abgesetzt. Waffen zu tragen, auf die Jagd zu gehen, Falken und
Habichte zur Jagd zu halten ward den Geistlichen verboten. Die
heidnischen Gebrauche, bie sich fortwährend in den christlichen Ge-
meinden fanden, wurden streng verboten; ihre Spuren aber haben
sich dennoch bis auf den heutigen Tag erhalten, z. B. die Faft-
nachtsluftdarkeiten, der Zauber durch Sympathie, durch Gesänge,
Sprüche und Formeln; ferner der Aberglaube, den man an,das
knüpfte, was einem beim Ausgang zuerst begegnete, die Opferfeuer
und vielerlei anderes.
4. Unter den Klöstern, die Bonifacius gründete, wurde beson-
ders das zu Fulda in Hessen wichtig. Sein Schüler Sturm hatte
den Platz dazu aufgesucht. Auf einem Esel reitend durchzog er die
wilden Gegenden und die düstern Wälder, Psalmen und Loblieder
singend. Überfiel ihn die Nacht, so bereitete er unter den weiten
Zweigen der uralten Eichen sein Lager und verwahrte sich und sein
Thier mit Baumstämmen gegen die Angriffe der reißenden Thiere,
dem vertrauend, der alle Haare auf unserm Haupte gezählt hat.
Und der schützte ihn gegen die Anfälle der reißenden Thiere wie
der Menschen. Als er'eines Tages seinen einsamen Weg an den
Ufern des Flusses hinzog, gewahrte er plötzlich eine Schar wilder
Heiden, welche dorn Flusse zuliefen, um sich zu baden. Sie stürzten
267
auf ihn zu und umfingen ihn mit höhnendem Geschrei. Er aber'
wußte, in wessen Hand sein Leben stehe; gefaßt und ruhig trat er
ihnen entgegen, und als er auf ihre Frage, wohin er wolle, ant-
wortete, er ziehe weiter in die Wildniß, so ließen sie ihn ungehin-
dert ziehen. Endlich kam er in eine schöne Gegend; die schien ihm
passend zum Bau eines Klosters. Nun holte er Bonifacius herbei;
auch, der fand den Ort geeignet. Jetzt wurden Bäume ausgerodet,
Kalköfen gebaut, und schon nach Jahresfrist waren hohe Mauern
erbaut. Diese Stiftung, die bereits zu Sturms Zeit 400 Brüder
zählte, ward eine gesegnete Anstalt zur Ausbreitung des Evan-
geliums.
5. Bonifacius war nun hochbetagt und wußte, daß sein
Tod nicht mehr fern sei. Da erwachte in ihm seine Jugendliebe
zu dem Friesenvolke. Nachdem ihm in einem seiner Schüler ein
Nachfolger bestellt war,, fuhr er mit 52 Priestern, Diakonen
Mönchen und Dienern den Rhein hinab. Predigend und tau-
fend gelangte er ins Friesenland. Auf einen bestimmten Tag hatte
er die Neugetausten zur Einsegnung bestellt. Er erwartet sie; aber
bald vernimmt er wildes Geschrei. Eine Schar heidnischer Friesen
kommt, den Feind ihrer Götzen zu ermorden und zu berauben.
Mit Gewalt dringen sie auf seinen Lagerplatz zu. Die Diener des
Bonifacius greifen zu den Waffen; er aber wehrt ihnen: „Lasset
ab, meine Diener, lasset ab vom Streite; die heilige Schrift lehrt
uns ja, Böses nicht mit Bösem, sondern mit Gutem zu vergelten.
Schon lange habe ich mich nach diesem Tage gesehnt- die Zeit
meiner Auslösung steht nun bevor. Seid stark im Herrn; nehmt
geduldig an, was seine Gnade uns schickt. Vertraut ihm; er wird
unsere Seelen retten!" Ähnlich ermahnte er die Priester und Diakonen.
Einer nach dem andern, zuletzt Bonifacius, traten sie heraus aus
dem Gezelt und boten sich dem Mordstahl der Friesen dar. Betend,
ein Evangelienbuch in der Hand, soll Bonifacius den Todesstreich
empfangen haben. Es war am 5. Juni des Jahres 755. Sein
Leichnam ward nach seinem Willen in Fulda beigesetzt, und auf
einem erhabenen Platze vor dem Dome steht, von Erz gegossen,
das Bild des gewaltigen Gottesmannes im langen Mönchsgewand
mit einem von zwei Reffern zusammengebundenen Kreuz in der Hand,
und predigt von dort aus dem lebenden Geschlechte: Sei getreu bis an
den Tod.
19. Kaiser Karl der Große.
1. Im uralten Münster zu Aachen steht ein schlichter Grab-
stein. Daraus sind die Worte zu lesen: „Karl dem Großen."
Der Name dieses Kaisers war vor mehr als 1000 Jahren gepriesen
und gefürchtet von Christen und Heiden bis ins ferne Morgenland,
denn er führte ein siegreiches Schwert und regierte weise. Er be-
herrschte von 768—814 das große Frankenreich, das nach und nach
seine Grenzen über das heutige Frankreich, Deutschland bis zur
12*
268
(Slbe, Holland, die Schweiz, einen Theil von Italien, Spanien und
Ungarn ausgedehnt hatte.
2. In seiner Lebensweise war er ein schlichter Mann. Er
trug ein leinen Wams und eben solche Beinkleider; einen Rock von
einheimischem Tuch, mit einem seidenen Streifen besetzt; Schuhe, die
mit verschiedenfarbigen Bändern an die Füße befestigt waren, und
bisweilen einen kurzen weißen oder grünen Mantel. Aber stets
hing ihm ein großes Schwert mit goldenem Wehrgehäng an der
Seite. Nur an Reichstagen und hohen Festen erschien er mit einer
goldenen, von Diamanten strahlenden Krone auf dem Haupte, an-
gethan mit einem lang herabwallenden Kleide, das mit goldenen
Bienen wie übersäet war. Sonst haßte er ausländische Kleidung.
Mit Unwillen bemerkte er, wie seine Edeln sich in feine, seidene Ge-
wänder kleideten.
Er war ein echt deutscher Mann, maß sieben seiner eigenen
Fußlängen, und seine Gestalt war voll hoher Würde. Seine leben-
digen Augen leuchteten dem Freunde und Hülfefleh enden freundlich,
dein Feinde aber furchtbar. Er war der beste Fechter und Schwim-
mer unter seinen Franken, im Essen und Trinken nüchtern, uner-
müdlich thätig. Sein Schlaf war kurz; selbst des Nachts stand er
wohl von seinem Lager auf, nahm Schreibtafel und Griffel, um
sich in der in seiner Jugend versäumten Schreibkunst zu üben, oder
zu beten. Auch stellte er sich dann ans Fenster und betrachtete
ehrfurchtsvoll und mit Bewunderung den gestirnten Himmel. Früh,
während des Ankleidens schon, schlichtete er Streitigkeiten, und bei
Tische hatte er den Brauch eingeführt, aus guten Büchern vorlesen
zu lassen, vor allem aus einer trefflichen Schrift des heiligen Au-
gustin. Zweimal des Tages' besuchte er die Kirche, am Morgen
und am Abend. Er hatte eine tiefe Ehrfurcht vor dem Worte
Gottes, ließ es oftmals auf Pergament abschreiben und las fleißig
darin. Mit großem Eifer suchte er der christlichen Kirche in seinem
Reiche aufzuhelfen. Er sorgte für tüchtige Bischöfe und Geistliche
und rief berühmte Gelehrte, die es damals besonders in Italien
und England gab, an seinen Hof; an den Bischofssitzen und in
den Klöstern errichtete er Schulen. Seine Hofschule sollte ein Muster
sein für alle andern Schulen im Lande; er besuchte sie und sah zu, ob
die Schüler fleißig waren.
3. Karl der Große gründete viele neue Bisthümer, Kirchen
und Klöster und beschenkte sie reichl'ich. Die von ihm erbaute Kirche
zu Aachen schmückte er mit kaiserlicher Pracht, und hier feierte er
am liebsten die Feste. Damit diese nun begangen würden, wie
sichs gebürt, berief er berühmte Lehrer des Kirchengesanges aus
Italien, daß die Franken von ihnen im Gesänge unterwiesen wür-
den; denn die Stimmen der rauhen deutschen Kehlen glichen dem
Gerumpel eines Lastwagens, der über einen Knüppeldamm fährt.
Auch ließ er Orgeln in den Kirchen aufstellen. Gern unterhielt er
sich mit gelehrten Männern über die Vorzeit, über die Bücher der
heiligen Schrift und über göttliche Dinge. Noch in spätern Jahren
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lernte er fremde Sprachen. Er war zu allem geschickt. Derselbe
Mann, der vielen Völkern Gesetze gab und über ihr Wohl wachte,
der Botschaften empfing aus allen Theilen seines großen Reiches
und gewaltige Kriege führte, der ließ sich auf seinen Gütern die
Rechnungen vorlegen, in denen alles bis auf die Anzahl der Eier
eingetragen sein mußte. Dann überzählte er Einnahme und Aus-
gabe, rechnete seinen Verwaltern nach und machte Bauanschläge,
als wäre er nichts als ein Landmann. Darum nannten ihn seine
Zeitgenossen auch den Großen. Den Gipfel menschlicher Größe er-
stieg er im Jahre 800. Der Papst in Rom hatte ihn zum Schutz-
herrn angenommen; denn er hatte dort die gestörte Ordnung wieder
hergestellt und den Papst in seiner Würde befestigt. Dafür krönte
ihn dieser am Weihnachtstage des Jahres 800 und begrüßte ihn
als römischen Kaiser und Herrn aller Christenheit, und die Kirche
widerhallte von dem freudigen Zurufe des Volkes: „Leben und
Sieg dem von Gott gekrönten, frommen, großen und friedebrin-
genden Kaiser von Rom!" Das war der Ursprung und Anfang
des römischen Kaiserthums deutscher Nation, das 1000 Jahre be-
standen und auf die Geschicke, vieler Völker eingewirkt hat. Karl
aber nannte sich von nun an einen Kaiser von Gottes Gnaden und
achtete stch für einen Schirmherrn der Kirche und Vorsteher der Christen-
heit, dem Gott das Amt gegeben, daß er in Kirche und Reich zum
Rechten sehe.
4. Er starb 72 Jahr alt. Im vollen Kaiserschmucke, mit
Krone und Schwert, ein goldenes Evangelienbuch auf den Knieen,
die goldene Pilgertasche um die Hüften, wurde er, sitzend auf gol-
denem Stuhle, in die Gruft der von ihm gestifteten Marienkirche zu
Aachen Hinabgelaffen. Nach seinem Tode aber lebte sein Name in dm
Sagen und Liedern des Volkes fort, und wollte man einen Kaiser am
höchsten preisen, dann sagte man: „Er hat gewaltet wie Karl der
Große!"
20. Heinrich 1.
1. Our Zeit, als Heinrich I. zum deutschen König gewählt
wurde, war Deutschland ein sehr unglückliches Land. Von Südosten
her jagten häufig auf ihren schnellen Pferden die Ungarn heran, trie-
ben den Bauern das Vieh weg und sengten und plünderten, wohin sie
kamen. Sammelte sich langsam ein Haufe deutscher Krieger wider sie
und fing an, sich in Marsch zu setzen, so waren sie sammt ihrer Beute
bereits wieder fort. — Pon Nordosten her kamen die Wenden und
machten es ebenso. — Das war eine traurige Zeit. Was that da
der weise, bedächtige Heinrich?
2. Zuerst schloß er einen neunjährigen Waffenstillstand mit
den gefährlichen Ungarn. Nun begann im ganzen deutschen Reiche
eine bessere Zeit. Überall fing man an, Häuser zu bauen und hier
und da eine größere Anzahl derselben mit Mauern und Graben zu
umgeben. Solch eine ummauerte Stätte nannte man Stadt oder
Burg; ihre Bewohner hießen Bürger. Aber es war noch leichter,
270
Städte zu bauen, als Bewohner für dieselben zu finden; denn die
Deutschen wohnten lieber auf dem Lande. Sie sagten: „Sollen wir
uns lebendig begraben lassen? Die Städte sind nichts anders als
Gräber."
Da befahl Heinrich, die Leute sollten losen, und je einer aus neun,
den das Los treffe, sollte vom Lande in die Stadt ziehen. Damit sie
das aber um so lieber thun möchten, gab er den Städten viele Vorrechte,
so daß die Bürger hinter ihren Mauern nach und nach viel freier wur-
den, als die Bauern, welche ihren Edelleuten oder Klöstern als Leib-
eigene dienen mußten.
Nun machte sich auch nach und nach das Gewerbe: der eine
sing an, für die übrigen Kleider zumachen, der andere Schuhe; ein
dritter bauete Häuser u. s. f. — mit einem Worte: es entstanden
die verschiedenen Handwerke. Bis dahin hatte jeder sein eigener
Schneider, Scbuster, Maurer u. s. w. sein müssen.
3. Als endlich nach neun Jahren die Ungarn wieder kamen,
und als die Bauern nun ihr Vieh und ihre sonstigen Habseligkeiten
in die ummauerten Städte flüchten konnten, da jubelte alles dem
Städtegründer entgegen und freuete sich des Königs. Nun scharten
sich die Krieger wie ein Mann um den geliebten Heinrich, welcher
sie zur Schlacht mit den Worten entflammte: „Krieger, sehet, dort
glüht der Himmel blutigroth! Eure Habe ists, die auflodert. Was
suchet ihr, wenn ihr umkehret und fliehet? Eure Hütten? Sie liegen in
Asche. Eure Weiber? Sie sind mißhandelt. Euern Gott? Seine
Altäre sind umgestürzt. Krieger, der Tag der Vergeltung ist gekom-
men; seid Männer, und betet zu dem dort oben, der Hülse sendet in
der Stunde der Noth!" — Gott sandte Hülfe; Heinrich schlug die wil-
den Horden bei Merseburg dermaßen aufs Haupt, daß sie während
seiner Lebenszeit nicht wiederkamen.
4. Vorher hatte schon Heinrich auch die Wenden zur Ruhe ge«
bracht. Mitten im Winter nahete er sich ihrer Hauptstadt Brenna-
burg. Sie zagten aber nicht, sondern meinten, durch die weiten
Sümpfe um die Stadt könne das Kriegsheer nicht dringen. Heinrich
kam aber doch, zwar nicht durch die Sümpfe, aber über dieselben, als
sie fest gefroren waren. Die feindliche Stadt wurde genommen; die
Wenden toaren besiegt.
21. Die Schlacht auf dem Lechfelde.
Im Jahre 955 fielen die Ungarn von neuem in Deutschland
ein. Sie drohten übermüthig, daß ihre Rosse die deutschen Ströme
austrinken sollten. Zahlloses Volk (es wird erzählt, daß ihrer
100000 gewesen) tobte gegen Baiern heran und legte sich vor
Augsburg. Da eilte Kaiser Otto I. mit seinem Heere der Stadt zu
Hülfe. Die Ungarn mochten nun nicht länger vor Augsburg bleiben,
sondern zogen bis an den Lech den Deutschen entgegen. Es war
am 9. August 955. Als die Ungarn das deutsche Heer in Schlacht-
ordnung erblickten, schwammen sie voll Ungeduld auf ihren Rossen
durch den Lech ans linke Ufer; dort umringten sie die Schlacht-
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ordnung der Deutschen und warfen sich plötzlich mit wildem Geheul
auf die nächsten Haufen. Diese hielten den Pfeilregen nicht lange
aus und flohen. Als der König diese große Gefahr sah, winkte er
dem Herzog Konrad von Franken. Wie ein gereizter Löwe sprang
dieser den Ungarn entgegen, warf sie zurück, befreite alle Deutschen,
welche sie gefangen hatten, und brachte sie dem König. Am andern
Morgen betete der König inbrünstig zu Gott und gelobte, wenn
Christus ihm die Feinde des Glaubens und des Vaterlandes über-
winden helfe, ein Bisthum in Merseburg zu stiften. Dann las der
Bischof Ulrich dem Heere die Messe und reichte dem rnieenden Könige
den Leib des Herrn. Als sich Otto wieder erhoben, sprach er zu
den Deutschen: „Seht um euch! Zahllos sind die Haufen der
Heiden; aber mit uns ist der mächtigste Helfer, Christus, mit seinen
Scharen. So laßt uns aushalten, und lieber sterben als weichen!
Doch wozu viel Worte? Statt der Zunge rede das Schwert?"
Hoch zu Roß, den Schild am Arm sprengt er jetzt im Glanz der
Morgensonne seinen Deutschen voran. Nun beginnt die Schlacht.
Unwiderstehlich rückt das deutsche Heer, Mann an Mann, gegen die
Ungarn heran. Schon weichen diese auseinander; aber um so heißer
wird ihre Wuth. Viele deutsche Helden müssen sie fühlen. Endlich
werden die Haufen der Ungarn zersprengt. Die Deutschen schreiten
über die, welche noch widerstehen wollen, zermalrnend hinweg. Jetzt
wird die Verwirmng der Ungarn allgemein; ihr Entsetzen wächst;
die weite Ebene wimmelt von Flüchtigen. Heulend sprengen sie in
den Lech; aber der ist gut deutsch und läßt weder Rosse noch Reiter-
los; Leichen füllen das Flußbett; die blutgefärbten Wasser schwellen
über. — So wird das übermüthige Volk vernichtet; nur wenige
entrinnen denr heißen Tag. Noch am Abend zieht Otto mit dem
Bischof Ulrich glorreich in Augsburg ein und dankt dem Herrn für
Deutschlands Befreiung. — Nur sieben Männer von den hundert-
tausend, die gekommen waren, sollen die Botschaft der Niederlage nach
Hause gebracht haben. — Die Ungarn wagten sich seit der Zeit nicht
weiter vor, als bis zu ihrer Grenzfestung, welche die Eisenburg hieß;
diese stand gar trutzig auf einem Felsen am rechten Donauuser, auf der
Stelle, wo nachher das stattliche Kloster Mölk, etwa in der Mitte
zwischen Wien und Linz, erbaut worden ist.
22. Gregor VH. und Heinrich IV.
1. llntet den Bischöfen der alten Christengemeinden erlangten
früh die Bischöfe zu Jerusalem, Anttochien, Alexandrien, Konstanti-
nopel und Rom ein besonderes Ansehen; das des letzten stieg aber
bald am höchsten. Rom war die Hauptstadt der damaligen Welt
und hatte die bedeutendste Gemeinde; dort waren die Gräber der
Apostel Paulus und Petrus; der Bischof zu Rom sah sich als Nach-
folger des Apostels Petrus an, der daselbst, wie man fälschlich vor-
gab, erster Bischof gewesen sein sollte, und wollte deswegen für
den Statthalter Christi auf Erden gehalten werden. Er nannte sich
Papst, d. i. Vater. Durch den Frankenkönig Pipin war er Besitzer
272
des um Nom liegenden Gebietes geworden, und Pipins Sohn Karl
der Große vermehrte diese Schenkung. Seitdem war der Papst zu-
gleich. weltlicher Fürst; sein Land heißt der Kirchenstaat. Nach
der Übereinkunft zwischen Karl und dem Papste sollte diesem jedes-
mal die Kaiserkrönung, jenem aber die Bestätigung des neuen Papstes
xufummcu; beide sollten die Oberhäupter der Christenheit im Abend-
lande sein, der Papst das geistliche und der Kaiser das weltliche. Das
wäre nun schon recht gut gewesen; aber die Sünde auf beiden Seiten
wurde auch hier der Leute Verderben. Auf dem päpstlichen. Stuhle
saß im 10. und 11. Jahrhundert eine Reihe gottloser Leute, schandbar
und der Kirche Gottes zum großen Ärgerniß. Davon war die Folge,
daß der Papst um sein Ansehen kam und die weltlichen Fürsten oft in
die Rechte der Kirche griffen.
2. Da bestieg im Jahre 1073 Gregor VII. den päpstlichen
Stuhl. Er war der Sohn eines Schunds aus Italien. Durch
seine großen Geistesgaben hatte er sich vom einfachen Mönch zum
Rathgeber von vier auf einander folgenden Päpsten und zuletzt zum
Papste emporgeschwungen. Er wollte die Kirche gänzlich unabhän-
gig von aller weltlichen Gewalt machen. Daher verbot er streng
die Simonie, d. i. den Verkauf geistlicher Ämter, wodurch die welt-
lichen Machthaber oft unwissende und unheilige Menschen in den
Kirchendienst gebracht hatten; auch sollte kein..Fürst mehr bei Strafe
des Bannes einen Bischof oder Abt durch Überreichung von Ring
imb Stab in sein geistliches Amt und die damit verbundenen Gra-
fenrechte einsetzen dürfen. Sodann verbot er den Priestern die Ehe;
wer von ihnen verheirathet war, sollte Weib und Kinder entlassen,
oder sein Ämt niederlegen. Das war aber wider Gottes Ordnung.
Endlich erklärte er: „Wie der Mond sein Licht von der Sonne hat,
so sind Kaiser und Könige und Fürsten nur durch den Papst, weil
dieser durch Gott ist; also ist der König dem Papste Unterthan und
ihm Gehorsam schuldig. Wenn die Apostel im Himmel binden und
lösen können, so müssen sie auch auf Erden Fürstenthümer und
eines jeden Güter geben und nehmen können nach Verdienst. Der
Papst aber ist der Nachfolger der Apostel und der Stellvertreter auf
dem Stuhle Petri; er ist der Statthalter Christi und Über allen."
Somit nahm er das Recht in -Anspruch, Kaiser und Könige abzu-
setzen und ihre Unterthanen vom Eide der Treue loszusprechen. Der
Herr aber hatte gesagt: „Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herr-
schen, und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein
unter euch; sondern so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei
euer Diener."
3. Mit diesem gewaltigen Manne nahm der damalige Kaiser
Heinrich IV. den Kampf auf. Heinrich war ein in Sünden aller
Art aufgewachsener Regent, dessen große Fehltritte dem Papste
leichtes Spiel verschafften. Die Sachsen, mit denen er in Streit
laq^ hatten ihn bei dem Papst verklagt. Dieser forderte ihn vor
seinen Richterstuhl, und als Heinrich darauf durch eine Versammlung
deutscher Bischöfe den Papst für abgesetzt erklären ließ, that dieser
m
ihn in den Bann, sprach seine Unterthanen von dem Gehorsam
gegen den Kaiser los und untersagte ihm die Regierung. Da traten
alle Feinde Heinrichs offen gegen ihn auf, und auch diejenigen ver-
ließen ihn, denen er früher Wohlthaten erzeigt hatte. Als endlich
sogar die Fürsten zusammentraten und ihm erklärten, sie würden
einen neuen Kaiser wählen, wenn er nicht binnen Jahresfrist vom
Banne losgesprochen sein würde, wurde er ebenso zaghast, wie er vor-
her übermüthig gewesen war, und entschloß sich, 1077 mitten im
strengsten Winteren aller Stille nach Rom zu ziehen. Seine treue
Gemahlin, die er oft schwer beleidigt hatte, sein dreijähriges Söhnlein
und einige Diener begleiteten ihn. Als er an die Alpen kam, fand
er alle gebahnten Wege von seinen Feinden besetzt, denen daran
gelegen war, daß er im Banne blieb; er mußte daher einen großen
Umweg machen. Da war auf den starren Eisfeldern und Gletscher-
rücken kein Schritt ohne Lebensgefahr. Über verborgene, kaum dem
kühnen Gemsenjäger gangbare Pfade stieg er mühsam hinan. Und
doch war die größte Elle nöthig; denn die Frist, welche ihm die
Fürsten gesetzt hatten, neigte schon ihrem Ende zu. Endlich war die
Höhe des Gebirges erreicht; aber noch größere Mühseligkeiten und
Gefahren bot die andere Seite dar. , Diese war so abschüssig, daß
man keinen festen Fuß fassen konnte. Auf Leben und Tod * mußte
der Versuch gemacht werden. Die Männer krochen aus Händen und
Füßen; die Frauen wurden in Schläuchen von Ochsenhäuten an
Seilen hinabgelassen. An den gefährlichsten Stellen wurden die
Pferde vorangelassen, indem man ihnen die Beine zusammenband
und sie an Stricken hinuntergleiten ließ, wobei mehrere umkamen.
Mit beispielloser Geduld bestand Heinrich alle Mühseligkeiten und
Gefahren der Reise, um sich nur wieder mit dem Papste auszu-
söhnen.
Gregor war bei Heinrichs Ankunft gerade auf seiner Reise zum
Reichstage nach Augsburg begriffen und eben in Oberitalien ange-
langt. Er erschrak, als er hörte, der Kaiser sei im Anzuge; denn
er meinte, Heinrich komme, um sich zu rächen. Und wirklich hätte
Heinrich solches thun können; denn die lombardischen Großen und
Bischöfe kamen ihm frohlockend entgegen, in der Hoffnung, er werde
sie gegen den herrschsüchtigen Gregor anführen. Sie boten ihm ihre
Hülfe an; aber Heinrich wies sie mit den Worten ab: „Ich bm nicht
gekommen zu kämpfen, sondern Buße zu thun."
. Gregor war schnell von seinem Wege abgewichen und ins feste
Schloß Canossa geflohen. Er freute sich nicht wenig, als er hörte,
daß der deutsche König sich als büßender Pilger ihm nahe. Sobald
Heinrich in Canossa anlangte, ließ er den Papst bitten, ihn vom
Bannspruche zu lösen; er wolle sich jeder Vußübung unterziehen, die
der Papst ihm auferlegen werde. Seine Bitte ward ihm gewährt.
Gregor verlangte jedoch, daß Heinrich im Büßerhemd vor ihm er-
scheine. Der König mußte, nur mit einem wollenen Hemde angethan,
mit entblößtem Haupte und barfuß im Schloßhofe auf des Papstes
Enffcheidung harren. Drei Tage lang stand er so, ohne sich durch
12**
274
Speise und Trank zu erquicken. Endlich am vierten Tage ließ der
Papst den Büßenden vor sich kommen und sprach ihn unter der Bedin-
gung vom Banne los, daß er ruhig nach Deutschland gehe und sich
aller königlichen Gewalt entschlage, bis auf einem Reichstage entschie-
den sei, ob er König bleiben solle oder nicht. — Einen so harten Be-
scheid hatte Heinrich doch nicht erwartet. Mit Unwillen und Zorn im
Herzen schied er von Gregor, nach der günstigen Stunde sich sehnend,
wo er sich rächen könnte.
4. Unterdes hatten Heinrichs Feinde in Deutschland den Herzog
Rudolf von Schwaben zum Könige erwählt. Durch das Leiden
männlicher geworden zog Heinrich gegen ihn zu Felde, und in einem
dreijährigen verheerenden Kriege war ganz Deutschland zwischen
dem Kaiser und dem Papste getheilt. Rudolf wurde in der Schlacht
bei Merseburg tödtlich verwundet und verlor seine Hand; da rief er
aus: „Dies ist die Hand, mit welcher ich einst Heinrich, meinem
Herrn, den Eid der Treue geschworen habe." Nachdem der Kaiser
in Deutschland gesiegt hatte, machte er sich auf nach Italien und
belagerte den Papst in der Engelsburg. Dieser floh nach Salerno
und'starb nut den Worten: „Ich. habe die Gerechtigkeit geliebt und
das Unrecht gehaßt; darum sterbe ich in der Verbannung." Seine
beiden Nachfolger erneuerten den Bann, und Heinrich mußte es er-
leben, daß seine Söhne sich gegen ihn empörten. Dem Kummer
erliegend starb er zu Lüttich. Erst nach fünf Jahren löste der Papst
den Bann, und da erst fand die Leiche des unglücklichen Kaisers Ruhe
im Kaisergrabe zu Speier.
So verderbten einander die ersten Mächte der Christenheit, Kaiser
und Papst, die von Gott berufen waren, einander dienend und helfend,
ein jeglicher in seiner Art, die Völker zu weiden. Obschon beide nur
mit Nachtheil aus diesem noch lange dauernden Kampfe hervorgingen,
so war doch der größere Sieg für jetzt bei den Päpsten.
23. Die Kreuzzüge.
1. Änlaß. Schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche,
besonders aber seit Konstantin, trieb der Glaube viele fromme, um
ihr Seelenheil bekümmerte Gemüther zu Wallfahrten nach dem
Grabe des Erlösers. Bald sah man in diesen Wallfahrten ver-
kehrterweise ein besonderes Verdienst, und sie wurden immer häufi-
ger. Als das heilige Land in die Hände der Araber fiel, konnten
die christlichen Pilger noch u'ngekränkt dorthin wallen; denn die
Araber hatten selber Ehrfurcht vor den heiligen Stätten und fanden
ihren Vortheil bei den Wallfahrten der Christen. Im 11. Jahrhun-
dert aber bemächtigten sich die rohen Türken des heiligen Landes; seit-
dem wurden die Pilger unmenschlich behandelt und manche von ihnen
ermordet.
Da kam zum Papste ein Mann, der von einer Reise nach dem
gelobten Lande zurückkehrte; er hieß Peter von Amiens, war früher
ein Krieger gewesen und darnach ein Klausner geworden. Er war
Zeuge gewesen von der Beschimpfung der heiligen Stätten und
275
von der Bedrückung der Pilger durch die Türken, und brachte dem
Papste ein Schreiben des Patriarchen von Jerusalem mit, worin
dieser um Hülfe der Christenheit bat. Der Papst hörte ihn wohl-
wollend an und sandte ihn dann aus, der Christenheit kund zu
thun, was er selber erlebt hatte. Auf einem Maultbier reitend,
barfuß und barhaupt, mit einem Strick umgürtet, das Kreuz in der
Hand durchzog nun der von des langen Weges Mühen abgezehrte
Pilger mit den tiefen Augen und der ergreifenden Rede Italien
und Frankreich, schilderte in Kirchen und auf den Heerstraßen die Be-
drängniß der Christen und die Entweihung der heiligen Orte und
bewegte allen das Herz. Bald drang der Ruf von dem wundersamen
Pilgrim durch die Länder der Christenheit; jeder wollte den heili-
gen Mann hören. Da entstand eine gewaltige Bewegung unter allem
Volk.
Der Papst berief darauf im Herbst 1095 eine Kirchenversamm-
lung nach Clermont in Frankreich. Als er dort unter freiem Him-
mel vor der großen Versammlung von Geistlichen, Herren und
Volk in feuriger Rede von den Leiden der Christen, von des Lan-
des Heiligkeit und von der christlichen Bruderliebe sprach und zuletzt
aufforderte: „Jeder verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf
sich, damit er Christum gewinne!" — da rief die Versammlung
wie mit einem Munde: „Gott will es, Gott will es!" Die Bi-
schöfe baten knieend den Papst, daß sie mitziehen dürften, ebenso
die meisten übrigen aus der Versammlung; der Papst bewilligte es
gern und segnete sie. Alle, die das Gelübde des Zuges gethan
hatten, hefteten ein rothes Kreuz auf ihre rechte Schulter; und so
zogen sie nach dem allem wieder heim, ein jeder zu den Seiniqen,
verkündigten, was sie gehört hatten, und bewogen zur Theilnahme
Stadt und Land. Von allen Seiten, namentlich am Rhein, sam-
melten sich die Kreuzfahrer, während die Fürsten ernstlich rüsteten.
So ward derer, die mitziehen wollten, eine große Zahl. Denn
viele begehrten vor ihrem Abscheiden aus dieser Welt nur das
Land noch zu betreten, wo einst der Heiland wandelte, an dem ihre
Seele hing; sie wollten beten an seinem Grabe und dann gern ster-
ben. Viele wollten sich durch den Kampf gegen die Ungläubigen
um Christi willen das Himmelreich erwerben; manche gingen, um
ihre Sünden zu sühnen; manche suchten Ehre und Heldenruhm,
auch wohl Beute und irdischen Gewinn; auch solche fehlten nicht, die
an dem Zuge theilnahmen, um mannigfachem Drucke in der Heimat
zu entgehen.
2. Der erste Kreuzzug. Im Herbste 1096 nach der Ernte
wollten die Fürsten mit ihren Heeren ausziehen. Allein vielen er-
schien das zu lange; daher brachen schon im Frühjahr zwei unge-
duldige Haufen auf, meist zusammengelaufenes Gesindel. Es erging
ihnen aber sehr übel; ehe sie noch das gelobte Land gesehen hatten,
fanden die meisten von ihnen den Tod. Im August brach dann
der große Hauptzug auf; Gottfried von Bouillon, ein edler, tapferer
und frommer Herzog aus Frankreich, führte ihn. Da er gute
Mannszucht hielt, so kam er glücklich vor Konstantinopel an, wurde
aber von dem dorngen griechischen Kaiser argwöhnisch behandelt.
Bei einer in Kleinasien vorgenommenen Musterung fand man das
ganze Heer auf 10OOOO Mann zu Fuß und eben so viele Ritter
und Reiter angewachsen; die Weiber, Kinder, Mönche und Knechte
mit eingerechnet, betrug die Zahl des Christenheeres gegen 600000.
Unter unsäglichen Mühen, von Hunger und Hitze gequält, von den
Türken verfolgt und von den Griechen mannigfach verrathen zogen
sie durch Kleinasien und erkämpften nach achtmonatlicher Belagerung
Antiochien. Doch noch ein ganzes Jahr lang hatten sie zu leiden,
ehe sie Jerusalem erblickten. Namenlose Wonne ergriff sie, als die
lang ersehnte Stadt endlich vor ihren Blicken lag. Sie jauchzten
und weinten vor Freude, küßten den Boden und wären freilich gern
gleich eingezogen. Aber die Stadt war befestigt und von 6O000
Muhamedanern besetzt, während das große Kreuzheer auf 20O00
Mann zu Fuß und 1500 Reiter zusammengeschmolzen war. Wochen-
lang wurde die Stadt belagert; dabei hatten die Kreuzfahrer bren-
nenden Durst zu leiden, da weit und breit die Brunnen von den
Feinden verschüttet waren. Manche eilten zu den Mauern der Stadt,
um diese wenigstens noch zu küssen, bevor sie im Anblick derselben
verschmachteten.
Endlich wurde die Stadt am 15. Juli 1099 erstürmt. Ein
schreckliches Würgen begann in den Straßen. Weder Greise, noch
Weiber, noch Säuglinge wurden verschont. Als die Eroberer des
Türkenblutes satt waren, traf ihre Mordlust die Juden; sie wurden
in ihre Synagoge zusammengetrieben und mit ihr verbrannt. Die
verborgensten Winkel der Stadt wurden nach Beute durchspäht.
Gottfried nahm weder an diesen blutigen Greueln, noch an dem
Jagen nach Beute Antheil. Sobald der Sieg, entschieden war,
begab er sich, von drei Rittern begleitet, in wollenem Pilgergewand
und mit entblößten Füßen aus der Stadt, wallte um ihre Mauern,
ging durch das Thor, welches gegen den Ölberg liegt, nach der
Kirche des heiligen Grabes und betete. Plötzlich änderte sich
auch das Verhalten der Wallbrüder. Des Würgens müde legten
sie ihre Waffen ab, reinigten sich vom Blut der erschlagenen Türken
und eilten mit entblößten Häuptern und Füßen zu den heiligen
Stätten. Die Stadt, in welcher kurz vorher nur das wilde Geschrei
der Würger und das Gewinsel der Sterbenden gehört wurde, erscholl
jetzt von den Lobgesängen zur Ehre Gottes und von den Gebeten
der zum Grabe des Heilandes Wallenden, und die grausamen
Krieger beugten ihre Kniee, vergossen Thränen der Andacht und
weideten ihre Augen voll heiliger Rührung an dem Anblick der
heiligen Stätten. Viele, die nnt gieriger Habsucht geraubt hatten,
opferten jetzt Gott ihren Raub und brachten ihn als Alinosen den
Alten, Armen und Kranken. Andre bekannten laut ihre Sünden
und gelobten Besserung. Aber so war die Art jener Zeit; also nahe
berübrten sich in den Herzen oft die Werke der Finsterniß und die
Werke des Lichtes.
277
Gottfried wurde zum Könige von Jerusalem erwählt. Allein er wei-
gerte sich beharrlich, da eine Königskrone zu tragen, wo sein Heiland
die Dornenkrone getragen hatte, und begnügte sich damit, Beschützer
des heiligen Grabes zu heißen. Er starb schon nach einem Jahre und
ward in der Kirche des heiligen Grabes zu Jerusalem begraben. Die
Christen betrauerten seinen Tod, und auf sein Grab schrieben sie die
einfachen Worte: „Hier liegt Herzog Gottfried von Bouillon, welcher
dies Land dem Christenthum wieder gewonnen hat; seine Seele ruhe
in Christo. Amen." Selbst bei den Feinden war der christliche Held
vor allen andern Fürsten in hohen Ehren gewesen. Das machte seine
ritterliche Tapferkeit, seine Mäßigung im Schlachtgetümmel, seine Be-
sonnenheit und Milde, die hohe Einfalt seiner Sitten und seine Leut-
seligkeit und Demuth.
3. Opfer und Folgen der Kreuzzüge. In den zwei-
hundert Jahren, während welcher die Kreuzzüge dauerten, sind wohl
an sieben Millionen Menschen ins Morgenland gezogen, und nur
wenige vor: ihnen sahen ihr Vaterland wieder. Sollen doch sogar
im Jahr 1212 gegen 40000 Knaben aus Deutschland und Frank-
reich sich auf den Weg nach dem gelobten Lande gemacht haben,
aber meist umgekommen oder in Sklaverei gerathen sein. Dennoch
aber hatte das stanze Unternehmen keinen Bestand. Das neue
christliche Königreich in Jerusalem erhielt sich nur kümmerlich. Im
Jahre 1291 ging auch die letzte Besitzung, die Stadt Ptolemais,
verloren. Bei allem dem haben die Kreuzzüge aber doch großen
Einfluß geübt. Wie sie aus frischem Glauben hervorgegangen
waren, so belebten sie auch den Glauben wieder und richteten den
Sinn auf höhere Güter. Der Handelsverkehr wurde lebhafter und
machte die Städte reich. Mancher Leibeigene gelangte in den Stand
der freien Bauern, z. B. indem sein Herr, um Geld für die Pilger-
fahrt zu bekommen, sich Abgaben und andre Lasten abkaufen ließ.
Viel Leben ist durch die Kreuzzüge überall geweckt worden, welches
später eine Reformation der ins Verderben gerathenen Kirche herbei-
führen half.
24. Zustände im Mittelalter.
l- I) as. Mönchswesen. Aus dem Morgenlande war
das Mönchswesen in den Tagen des Augustinus auch nach
Europa herübergekommen und hatte in den Augen des
Christenvolks bald hohes Ansehen gewonnen. Denn die Mönche
lebten damals noch sehr einfach; sie thaten mancherlei Hand-
arbeitj schrieben Bücher ab, beteten und fasteten eifrig, und
das Ertödten aller weltlichen und ländlichen Luft, wie die
strengeren es trieben, war etwas Großes. Um die 'Welt zu
überwinden, wollten sie sich aus der Welt zurückziehen; und
um ihr eigenes Fleisch zu überwinden, wollten sie durch Fasten,
Geißeln und Peinigen die Kraft desselben vernichten, damit
dann der siegreiche Geist ohne Störung und Anfechtung seinem
Gült dienen könne. Aber nicht immer ist ihnen das gelungen;
278
manche sind in desto schlimmere Sünden zurückgefallen. Der
Leib muß zu einem gottesfürchtigen Wandel auf Erden wohl
gezähmt und betäubt, aber nicht zermartert, sondern nach
Gebür gewartet werden, damit er wie ein gesunder und star-
ker Knecht rüstig und willig bleibe, seinem Herrn, dem Geiste,
zu dienen.
Je länger, desto mehr wuchs die Zahl der Klöster. Hohe
und Niedrige kamen herzu, des Lebens Last und Lust dort
abzuthun; Verfolgte und Bedrückte fanden dort sichere Zu-
flucht; Fromme suchten noch größere Frömmigkeit; Lern-
begierige suchten Bücher und Unterweisung, Vereinsamte Ge-
meinschaft und Beängstigte Frieden. Von den Klöstern gin-
gen damals die meisten der treuen Glaubensboten aus. In
ihnen waren auch die einzigen Schulen, und mancher tüchtige
Knabe armer Eltern, der sonst wohl zeitlebens mit den Scha-
fen auf dem Anger umhergezogen wäre, ist dort zu einem be-
redten Lehrer oder treuen Bischof der Kirche gebildet worden.
Mönche haben auch besonders in Deutschland die dichten
Wälder ausgerodet und den Boden urbar gemacht, so daß das
Volk durch sie an die milde Lebensweise des geselligeren
Ackerbaues gewöhnt ward. — Da war es denn nicht zu ver-
wundern, wenn die Klöster bald von allen Seiten begabt und
beschenkt wurden, und wenn Fürsten und Herren meinten, sie
könnten sich kein besseres Verdienst um das Himmelreich er-
werben, als wenn sie Klöster baueten. Wer nicht selbst Mönch
sein konnte oder wollte, gab wenigstens Geld und Gut, damit
andre, so meinte man, ausschließlich zu des Herrn Füßen
sitzen und seinem Worte anhangen könnten.
Aber wie der Geist der Welt leicht wieder eine Hinter-
thür findet, wenn die Wachsamkeit versäumt wird, so geschah
es auch hier. Die Handarbeiten kamen durch die reichen
Schenkungen allgemach ab; die Frömmigkeit erkaltete im
Wohlleben; allerlei schnöde Sünden stellten sich mit dem Müßig-
gänge ein; die alte Zucht ward nicht mehr in ihrer Strenge
gehandhabt; Gottesfurcht war größtentheils nur noch dem
äußern Scheine nach vorhanden; die Mönche suchten oft mehr
was des Bauches, als was Gottes ist.
2. Das Bitterthum. Seit Heinrich I. wurde im Kriegs-
wesen der Reiterdienst vorherrschend. Weil dieser mehr Übung
verlangt und größere Kosten verursacht, so zogen sich die
ärmeren Freien auf dem Lande vom Kriegsdienste zurück und
gaben lieber ihren Geldbeitrag zu den Kriegskosten, den so-
genannten Heerschilling.
Wer ein größeres Frei- oder Lehnsgut hatte, so daß er
den Reiterdienst leisten konnte, gehörte zum Stande der Ritter.
Um zur Ritterwürde zu gelangen, mußte der Edelknabe zuerst
den Hofdienst bei einem Fürsten oder einem angesehenen Ritter
erlernen. Zwischen dem 15. und 18. Jahre wurde er dann
279
wehrhaft gemacht und trat in den Stand der Knappen ^ als
solcher lebte er seinem Herrn zu treuem Dienst und begleitete
ihn als lein Schildträger zu Ritterspiel und Kampf. Hatte er
nach siebenjähriger Lehrzeit hinreichend Proben seiner Waffen-
tüchtigkeit und eines christlichen Lebens abgelegt , so durfte
er das Rittergelübde ablegen, den Glauben, Wahrheit und
Recht, Witwen und Waisen, überhaupt die bedrängte Unschuld
vertheidigen zu wollen; dann erhielt er den Ritterschlag, und
nun durfte er an den Turnieren oder ritterlichen Waffenspielen
theilnehmen.
Die Ritter wohnten in ihren meist auf Berggipfeln erbau-
ten festen Burgen. Dort, hinter doppelten Mauern mit Tür-
men und Gräben mit Zugbrücken ergötzten sie sich bei Becher-
klang, Saitenspiel und den Erzählungen abenteuerlicher Ge-
schichten; beim festlichen Turnier tummelten sie das Roß, oder
sie zogen zum blutigen Strauß, während die Ritterfrauen und
Töchter spannen und webten, die Dienerschaft beaufsichtigten,
oder bei den ritterlichen Festlichkeiten schön geschmückt zu-
schauten. Fahrende Sänger zogen von Burg zu Burg un$
sangen von der Ehre deutscher Frauen, von den Reizen des
Frühlings und den Thaten alter Helden; und selbst Kaiser und
Könige ergötzten sich an der fröhlichen Sangeskunst und übten
sie. Unter den zahlreichen Bewohnern einer größeren Burg
waren die nöthigen Handwerker. Sie alle nährten sich von
den Abgaben der Bauern, die auf dem Grund und Boden der
Burg wohnten, und vertheidigten sie vor feindlichen Angrif-
fen, welche von dem ins Weite lugenden Turm wart durch
Stöße ins Horn verkündigt wurden. Manche Burg wurde aber
in gesetzloser Zeit ein Raubnest, mancher Ritter ein Wege-
lagerer, ein Schrecken des friedlichen Landmanns und des
sorglos einherziehenden Kaufmanns, der aus fremdem Lande
feine Waren brachte. Blutige Kämpfe zwischen Rittern und
Fürsten, zwischen Herren und Bürgern durchtobten das Land.
Während der Kreuzzüge entstanden die Ritterorden.
Im Kloster und Hospital Johannis des Täufers zu Jerusalem
bildete sich der Johanniterorden. Da sah man Ritter,
sonst in Eisen und Stahl gehüllt, im friedlichen Ordensgewände
liebreich die Kranken pflegen, die Leidtragenden trösten, die
Verwundeten verbinden, überall Liebe und Demuthüben. Ein
Theil der Ordensbrüder aber führte das Schwert gegen die
Ungläubigen. Sie trugen einen schwarzen Mantel mit weißem
Kreuz. Nach dem Verluste des gelobten Landes setzten sie
sich erst auf Rhodus, dann auf Malta fest, weshalb sie auch
Rhodiser oder Malteser Ritter hießen. Die Tempelherren
mit weißem Mantel und rothem Kreuz hatten außer den drei
Mönchsgelübden der Ehelosigkeit, Armuth und des Gehorsams
3gen die Ungläubigen gelobt.
besuchen und sechzig Vater-
280
unser beten. Bei Tische ward aus geistlichen Büchern vorge-
lesen. Sich mit schönen Kleidern schmücken oder Gold und
Silber an sich tragen, war nicht erlaubt. Zu Brett- und Wür-
felspiel sollte ein Kämpfer Christi keine Zeit verschwenden.
Nur Löwen sollte er jagen dürfen, nicht aber voll eitler Lust
mit Stoßvögeln die Wälder durchstreifen. Durch ihre un-
widerstehliche, todverachtende Tapferkeit wurden sie den Tür-
ken besonders furchtbar. Neben ihnen entstand später der
deutsche Ritterorden mit ähnlichen Gesetzen, wie die
beiden vorigen. Seine Glieder trugen einen weißen Mantel
mit schwarzem Kreuz. Er eroberte sich in fünfzigjährigem
Kampfe gegen die heidnischen Preußen ein eigenes Reich.
Also wußte das Evangelium selbst in diesen Männern die
Schrecken des Krieges zu mildern. Aber auch sie sind wie-
derum dahingefallen, als ihre Zeit vorüber war.
3. Städte. In jenen unruhigen Zeiten waren die Städte
mit ihren engen Straßen und den düstern Giebelhäusern meist
umwallte und betürmte Festungen. Die Handwerker, in Zünfte
vereinigt, die Kaufleute, in Gilden verbunden, scharten sich um
ihre Fähnlein unter Anführung ihrer Oberältesten und verthei-
digten als geübte Armbrustschützen ihre Stadt. Durch Handel
und Handwerk wurden die betriebsamen Bürger reich. Und
bekam die Stadtobrigkeit auch noch das Recht* der Gerichts-
barkeit über ihre Insassen, so bildete eine solche Stadt einen
kleinen selbständigen Staat, der durch den Magistrat und die
vornehmsten Bürger oder durch die Abgeordneten der Innun-
gen regiert wurde. — Im 13. Jahrhundert schlossen Hamburg
und Lübeck ein Bündnis) zum gemeinfapaen Schutz gegen die
Anfälle der Raubritter und Seeräuber. Ihnen traten bald
mehrere Städte Norddeutschlands bei; zur Zeit der höchsten
Blüte bestand diese Verbindung aus 85 Städten. Sie nannten
sich die deutsche Hansa, d. h. Verbindung, hatten eine ge-
meinschaftliche Flotte von 200 Schiffen und ein starkes Land-
heer und wußten ihren Worten Nachdruck zu geben. Drei-
hundert Jahre hielt sich diese Verbindung; als aber ihr Zweck
erreicht, d. h. Sicherheit und Ausbreitung des Handels nach
Wunsch befördert war, trat wieder eine Stadt nach der andern
vom Bunde ab, und so blieben am Ende nur die drei Städte
Hamburg, Bremen und Lübeck übrig, die bis auf den heuti-
gen Tag den Namen der Hansastädte führen.
Die Baukunst wurde durch die große Zunft der Maurer und
Steinmetzen gepflegt; ihre Geheimnisse blieben in der Zunft
erblich. — Vom Anfange des 14. Jahrhunderts an thaten ehr-
same Handwerksmeister sich zur Meistersangerzunft zusammen,
vergnügten sich in Feierabendstunden an kunstgerechten Reime-
reien und hielten am Sonntagnachmittag nach Beendigung des
Gottesdienstes öffentliche Singschulen oder Wettstreite in der
Kirche. Der merkwürdigste Meistersänger war Hans Sachs,
281
Nürnbergs kunstreicher Schuster, der 6048 weltliche und geist-
liche Gedichte machte und begeistert die wittenbergische Nach-
tigal, Luther, besang. Von ihm ist auch Nr. 819 des hanno-
verschen Gesangbuches: Warum betrübst du dich, mein Herz.
25. Johann Huß.
1. Bit Ende des 14. und zu Anfange des 15. Jahrhunderts
lebte zu Prag Johann Huß. Er war 1373 geboren; seine Eltern
waren Landleute auf einen: Dorfe in Böhmen. Gar fleißig und got-
tesfürchtig war er durch hohe Schulen gegangen. Er ward Lehrer an
der Hochschule. Als er Prediger wurde an der Bethlehemskirche (Beth-
lehem aber heißt Haus des Brotes), hat er den hungrigen Seelen das
damals seltene Brot des lautern Gottesworts nicht vorenthalten wollen.
Scharf und freimüthig sprach er über den Aberglauben des Volks und
über die Sünden der Geistlichen. Und wer ihn sah auf seiner Kanzel,
den Mann mit dem bleichen, ernsten Gesichte, und wer sein Leben
kannte, rein und streng wie es war, — der wußte, daß es ihm Ernst
sei. Es steht aber geschrieben: „Des Herrn Wort ist schärfer, denn
ein zweischneidiges Schwert." Wiederum auch spricht der Herr: „Die
Menschen wollen sich meinen Geist nicht strafen lassen, denn sie sind
Fleisch."
Also geschah es, daß viele gegen ihn ergrimmten. Und als er
laut das Verderben der Kirche besprach, den Ablaß auch, und wie das
Gotteswort wieder herrschen solle im Lande; — da brachten sie seine
Sache vor den Papst in Rom. — In Constanz am Bodensee soll sich
Huß vertheidigen. Dort kommt eine große Kirchenversammlung
zusammen, Kaiser, Könige, Fürsten und Herren, Bischöfe, Priester und
Mönche.
2. Dahin begibt sich Huß also. Es war im Jahre 1414. Ver-
sprochen ist ihm sichere Reise hin und zurück, und das schriftlich. Kaum
ist er angekommen, so wird von ihm Widerruf dessen gefordert, was
er gepredigt hat. „Gott ist mein Zeuge, daß ich gern weichen und
widerrufen will, wenn ich etwas Unrechtes gelehrt oder geschrieben habe.
Ich begehre nichts mehr, als daß ich aus göttlicher Schrift gründlicher
und eines besseren möge unterwiesen werden. Wenn sie das thun, bin
ich bereit, alsobald zu widerrufen." Das ist Hussens Antwort. Er
wird ins Gefängniß geworfen.
So führte man ihn denn am 6. Juli 1415 in die Domkirche,
wo alle versammelt waren. Der Kaiser erscheint mit den Reichs-
sürsten und der ganzen Ritterschaft und setzt sich auf seinen Stuhl.
An der einen Seite steht der Kurfürst von der Pfalz mit dem Reichs-
apfel, Burggraf Friedrich von Nürnberg an der anderen. Cardinäle,
Erzbischöfe und Bischöfe, Prälaten und Mönche sind anwesend; auch
eine unzählige Menge Volks hatte sich versammelt. Aller Augen
aber sehen nach dem Prediger aus Prag. Man hat ihn etwas er-
haben gestellt; so kann er von allen gesehen werden. — Als nun
ein Bischof die Kanzel besteigt, die Predigt hält und den Kaiser
282
ermahnt, die Ketzereien zu tilgen, den hier stehenden verstockten Ketzer
zumal, so wirft stch Huß auf seine Kniee und bestehlt sich Gott zum
Sterben. Darauf muß er solche Sätze aus seinen Büchern hören,
die er sich zum Tode geschrieben hat. Und nach dieser Vorlesung,
da es ihm nicht vergönnt ist zureden, wird fortgefahren im Urtheil.
Dieses lautet also: Hussens Schriften sollen verbrannt, er, als ein
öffentlicher, schädlicher Ketzer und böser, halsstarriger Mensch, soll
seines priesterlichen Standes schmählich entsetzt und dem Arm der
weltlichen Obrigkeit übergeben werden. Als er das gehört, betet er
zu Gott: „Ich bitte dich um deiner Barmherzigkeit willen: verzeihe
allen meinen Feinden!"
Jetzt ward das Urtheil vollstreckt. Mit Flüchen riß man ihm
seine Priesterkleidung ab, nannte ihn einen verdammten Judas und
setzte ihm eine papierne Mütze, mit Flammen und Teufeln bemalt,
auf den Kopf, worauf geschrieben stand „Erzketzer". Huß aber sprach:
„Mein Herr hat für mich eine Dornenkrone getragen; darum will
ich Elender gern für ihn die leichtere tragen." Da rief man: „Wir
übergeben deine Seele den höllischen Teufeln!" Er aber sprach:
„Ich empfehle meine Seele in deine Hände, o Herr Christe, mein
Erlöser!"
Als er nun der weltlichen Obrigkeit übergeben war, führte sie
ihn nach dem Richtplatz. Der war auf einer Insel im Rheine. Viel
Volks war nachgefolgt; er durste aber nicht sprechen zu ihm. So
betete er denn und nahm weinend Abschied von den Freunden und
Hütern. Jetzt wurden ihm die Hände auf den Rücken gebunden; der
Leib wurde mit Stricken an einen Pfahl gebunden und der Hals mit
einer Kette angeschmiedet. Holz und Stroh ward bis an seinen Mund
herangelegt.
Der Holzstoß ist angezündet; Flamme und Rauch wirbelt auf.
Huß singt mit heller Stimme: „Christe, du Lamm Gottes, erbarme
dich mein!" Und noch einmal: „Christe, du Lamm Gottes, erbarme
dich mein!" Zum dritten Male will er beginnen. Da treibt der
Wind das Feuer ihm ins Gesicht. Noch bewegt er die Lippen, wohl
zwei Vaterunser lang; dann stirbt er.
26. Luthers Jugend- und Klosterleben.
1. Äm 10. November 1483 ist Martin Luther zu Eisleben am
Harz geboren. Sein Vater Hans Luther war ein ehrlicher Berg-
mann daselbst; seine Muster hieß Margarete geborne Lindemann.
Früher hatten sie in dem Dorfe Möhra bei Schmalkalden gewohnt.
Von Eisleben zogen sie nach Mansfeld, woselbst der Vater auch
Rathsherr wurde und wegen seiner Rechtschaffenheit allen braven
Männern sehr werth war. Die Mutter war eine, ehrsame Frau,
durch Zucht, Gottesfurcht und Gebet ausgezeichnet. Anfangs waren
Luthers Eltern arm; die Mutter hat ihr Holz auf dem Rücken ge-
tragen; nachher aber segnete der milde und reiche Gott des Vaters
Arbeit und bescherte ihm zu Mansfeld zwei Feuer oder Schmelzöfen.
283
Sie erzogen ihre Kinder zur Furcht Gottes und hielten sie zu allem
Guten treulich an.
2. Da Martin zu seinen vernünftigen Jahren kam, ließ ihn
sein Vater mit herzlichem Gebete in die lateinische Schule gehen,
wo er die zehn Gebote, den Kinderglauben, das Vaterunser und
christliche Gesänge fein fleißig und schleunig lernte. Da er in sein
vierzehntes Jahr ging, schickte ihn sein Vater gen Magdeburg in
die Schule, die dazumal sehr berühmt war. Dort hat er, wie man-
ches ehrlichen und wohlhabenden Mannes Kind, sich sein Brot durch
Singen vor den Bürgerhäusern gesucht. Was groß werden soll,
muß' klein angehen; und wenn die Kinder herrlich erzogen werden,
schadet es ihnen ihr Leben lang. — Im folgenden Jahre schickten
seine Eltern ihn in die Schule zu Eisenach, wo seiner Mutter Ver-
wandtschaft war. Dort gewann ihn eine fromme Frau um seines
andächtigen Singens willen lieb und nahm ihn zu sich an ihren
Tisch.
3. Im Jahre 1501 kam er auf die hohe Schule zu Erfurt; dort
studierte er mit großem Fleiße. Ob er wohl von Natur hurtig und fröh-
lich war, sing er doch alle Morgen sein Lernen mit herzlichem Gebete
an; wie denn dies sein Sprüchlein gewesen ist: Fleißig gebetet ist über
die Hälfte studiert.
Einstmals, da er in der Büchersammlung der hohen Schule die
Bücher nach einander besieht, kommt er über eine lateinische Bibel,
die er zuvor nie gesehen. Da vermerkt er mit großem Verwundern,
daß viel mehr darin steht, denn man in den Postillen und auf den
Kanzeln pflegte auszulegen. Als er im alten Testamente sich um-
sieht, kommt er über Samuels und seiner Mutter Hanna Historien;
die durchlieft er eilends mit herzlicher Lust. Und weil ihm das
alles neu war, fängt er von Grund seines Herzens zu wünschen
an, Gott wolle ihm einst auch ein solch Buch bescheren, welcher
Wunsch ihm reichlich ist gewährt worden. — Auf der hohen Schule
fiel Luther einst in eine schwere Krankheit, darüber er sich seines
Lebens gar verzieh. Da besucht ihn ein alter Priester und spricht
ihm tröstlich zu: „Mein Lieber, seid getrost; ihr werdet dieses La-
gers nicht sterben; unser Gott wird noch einen großen Mann aus
euch machen, der viel Leute wieder trösten wird. Denn wen Gott lieb
hat und daraus er etwas Seliges ziehen will, dem legt er zeitlich
das heilige Kreuz auf, in welcher Kreuzschule geduldige Leute viel
lernen."
Im Jahre 1505 begann Luther auf den Wunsch seines Vaters,
die Rechte zu studieren. In demselben Jahre aber noch, da ihm
ein guter Freund erstochen ward und ein großes Gewitter und
heftiger Donnerschlag ihn sehr erschreckte und er sich ernstlich vor
Gottes Zorn und dem jüngsten Gerichte entsetzte, beschloß er, ins
Kloster zu gehen, um dort mit Mönchswerken Gott zu dienen und
die Seligkeü zu erwerben. Daher ging er in das Augustinerkloster
zu Erfurt. Er schrieb dies seinen Eltern; der Vater war aber übel
zuftieden damit.
284
4. Zu Anfang wurde Luther in dem Kloster gar hart gehal-
ten: er mußte mit dem Bettelsack in der Stadt umherlaufen, die
Thür hüten, die Glocken läuten, die Kirche kehren u. s. w.; aber
er war in allen Stücken seinen Oberen gehorsam. Wo er konnte,
las er fleißig in der Bibel. Das sahen die Mönche nicht gern
und sprachen: „Mit Betteln und nicht mit Studieren dient man
den Klöstern." Obwohl er aber Tag und Nacht lernte und betete
und sich dabei mit Wachen und Fasten zermarterte, war er dennoch
stetig betrübt und ohne Trost; denn das merkte er wohl, mit sol-
chem Werkdienst konnte er seine Sünden nicht abverdienen, und
das theure Evangelium von der Bergebung der Sünden um Christi
willen verstand er nicht. Da sandte Gott ihm einen treuen Kloster-
bruder zu, der sprach zu ihm: „Weißt du nicht, daß Gott uns selbst
geboten hat zu glauben, daß uns die Sünden vergeben sind?"
Das war ihm ein tröstliches Wort. Noch mehr aber tröstete ihn
der Zuspruch seines Vorgesetzten Johann von Staupitz. Dieser wies
ihm den Weg der wahren Buße und des Glaubens an den Heiland,
der nicht um gemalter, sondern um wirklicher Sünden willen gestor-
ben sei.
Im Jahre 1508 beförderte Staupitz ihn zum Lehrer an der
hohen Schule zu Wittenberg. Zwei Jahre später sandte ihn sein
Orden nach Rom. Dort glaubte er eitel Heiligkeit zu'finden; aber
als er hinkam, ward er entrüstet über den gotteslästerlichen Leicht-
sinn und die Gottlosigkeit, welche er da sehen mußte. Auf der
ganzen Reise klangen gewaltig in seinem Herzen die Worte der
heiligen Schrift: „Der Gerechte lebt seines Glaubens." So geschieht
es auch sonst wohl, daß ein Bibelwort unaufhörlich im Herzen tönt;
es ist das etwas von dem Zuge, durch welchen der Vater zum
Sohne zieht.
Im Jahre 1512 wurde Luther Doctor (Lehrer) der heiligen Schrift,
nachdem er zuvor mit einem Eide gelobt hatte, daß er die heilige
Schrift sein Leben lang studieren und predigen wolle. Dieses Eides
hat er sich nachher oft getröstet. -
27. Der Anfang der Reformation.
1. Zu der Zeit hatte der Papst befohlen, es sollte in der
Christenheit Ablaß gepredigt werden. Da sandte der Erzbischof von
Mainz eine Anzahl Mönche aus, die solchen Ablaß predigen muß-
ten. Einer von ihnen, Johann Tetzel, kam auch in die Nähe von
Wittenberg. Mit großem Gepränge zog er umher und suchte mit
prahlerischen Worten seine Ware an den Mann zu bringen. Kam
er vor eine Stadt, so ließ er hineinsagen: „Die Gnade Gottes
und des heiligen Vaters ist vor euern Thoren." Dann zogen Bür-
germeister, Rath, Geistliche und Schulkinder und alles Volk hinaus,
holten ihn mit Musik herein, läuteten mit allen Glocken und zogen
feierlich zur Kirche. Dort wurde Tetzel mit Orgelschall empfangen.
Dann richtete er vor dem Altar'sein hohes rothes Kreuz auf und
285
hängte des Papstes Wappen daneben. Hierauf stieg er auf die
Kanzel und predigte von der großen Gnade und Kraft, die der Ablaß
haben solle. Darnach strömte das Volk herbei und kaufte sich für aller-
lei Sünden Vergebung; so kostete ein Meineid neun und ein Mord
acht Ducaten.
2. Auch Leute von Wittenberg liefen zu Tetzel und kauften
Ablaß. Als Luther hinterdrein in der Beichte etliche von ihnen
ermahnte, Buße zu thun, zeigten sie ihm ihre Ablaßzettel und
meinten, Buße sei nicht mehr nöthig. Er aber sprach voll schweres
Ernstes: „Wenn ihr euch nicht bekehret, werdet ihr umkommen."
Da liefen sie erschrocken und ärgerlich zu Tetzel zurück und melde-
ten ihm, wie Luther seine Ablaßbriefe nicht anerkennen wolle.
Darauf fing Tetzel an zu wüthen und zu fluchen und Luther als
einen Erzketzer zu verdammen. Dieser aber predigte unerschrocken
wider den Ablaß und lehrte die Leute, wer Buße thue sein Leben
lang und sich zu Gott von ganzem Herzen bekehre, der empfange
Gnade und Vergebung aller seiner Sünden, die uns der Herr
Christus durch sein Blut erworben habe und aus lauter Gnade anbiete.
Da aber Tetzel und sein Anhang ihr Werk noch vertheidigten,
schlug Luther am 31. October 1517 an die Thür der Schloßkirche zu
Wittenberg 95 Sätze gegen Tetzels Ablaß. Der erste derselben lautete:
„Da unser Herr und Merster Jesus Christus sprach : Thut Buße u. s. w.,
wollte er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine siete
Buße sei." Die Summe aller Sätze aber war: Der Gerechte lebt
nicht aus seinen Werken, viel weniger aus römischem Ablaß, sondern
durch den Glauben an Jesum Christum.
3. Diese Sätze wurden am andern Tage eifrig gelesen und
besprochen von allen, die zur Kirche gingen. Ehe vierzehn Tage
vergingen, waren sie durch ganz Deutschland gelaufen und bald
durch die ganze Christenheit. Was fromme Mönche waren, nahmen
sie mit Freuden an; wie der fromme Or. Fleck vor Freuden auf-
schrie: „Hv ho! der wirds thun; er kommt, auf den wir lange ge-
wartet haben", schrieb auch deswegen einen sehr' tröstlichen Brief an
vr. Luther und ermahnte ihn, er solle getrost fortfahren. Was aber
um guter Tage und um Ehre willen ins Kloster gelaufen war, sing
an auf Luther zu schelten und gegen ihn zu schreiben. Luther aber
war getrostes Muthes und fürchtete nicht des Papstes Zorn; denn
er hatte das Werk im Namen Gottes angefangen. „Güter habe
ich nicht," schrieb er; „Ruhm und Ehre, wenn ich sie anders gehabt
habe, verliert der ohne Unterlaß, der einmal angefangen hat, sie zu
verlieren. Eins bleibt mir noch übrig: der schwache und von stetem
Ungemach ermattete Leib. Wenn sie mir den mit Gewalt oder List
nehmen,^ weil sie meinen, sie thun Gott einen Dienst damit, so
machen siemich vielleicht um eine oder zwei Stunden meines Lebens
ärmer. Ich habe an meinem süßen Erlöser und Mittler, meinem
Herrn Jesus Christus, genug. Ihm will ich singen, so lange ich lebe.
Will aber jemand nicht mit mir singen: was gehet es mich an? so mag
er denn für sich allein heulen."
286
4. Bald würde Luther zur Verantwortung nach Rom gefordert
und ihm, falls er nicht binnen 60 Tagen erscheinen werde, der Bann-
fluch gedroht. Sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise
von Sachsen, welcher mit Luther war, bewirkte aber, daß man ihn
zu Augsburg verhörte. Dorthin zog Luther zu dem päpstlichen Ge-
sandten, dem Cardinal Cajetan. Der empfing ihn erst freundlich
und wollte ihn zum Widerruf bewegen; als Luther aber dabei blieb,
er könne nicht widerrufen, wenn er nicht aus Gotres Wort überführt
werde, daß er falsch gelehrt, sagte der Cardinal: „Geh, und komm
mir nicht wieder unter die Augen, es sei denn, daß du widerrufest."
So ging Luther denn hinweg, und weil seine Freunde böse Anschläge
des Cardinals befürchteten, drangen sie so lange in Luther, bis er zu
Pferde von dannen ritt gen Wittenberg.
Nicht lange darauf that der Papst Luther in den Bann, wo
er nicht binnen 60 Tagen widerrufe, und befahl, seine Schriften zu
verbrennen. Da gerietst der Eifer des Herrn über ihn; er zog am
10. December 1520 vor das Elsterthor zu Wittenberg, ließ em großes
Feuer anzünden und warf in dasselbe des Papstes Gesetze sammt der
Bannschrift, indem er dabei sprach: „Weil du den Heiligen des Herrn
betrübt haft, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer." Nun erst
wußte er sich recht frei, gebunden allein durch das Evangelium, geschie-
den von der römischen Kirche für immer.
28. Luther zu Worms und auf der Wartburg.
1. Äurfürst Friedrich der Weise wünschte, daß Luther sich auf
dem Reichstage zu Worms 1521 vor Kaiser Karl V. und dem
Reiche persönlich verantworte. Er wirkte ihm einen kaiserlichen Ge-
leitsbrief aus; auch wurde ihm ein kaiserlicher Herold gesandt,.der
ihn geleiten sollte. Er machte sich auf den Weg und wurde unter-
wegs überall mit großen Ehren aufgenommen. Als seine Freunde
ihn unterwegs abmahnen wollten, antwortete er: „Und wenn sie
gleich ein Feuer machten, das zwischen Wittenberg und Worms bis
gen Himmel reichte, will ich doch, weil ich gefordert bin, im Na-
men des Herrn erscheinen, Christum bekennen'und denselben walten
lassen." Noch kurz vor der Stadt Worms ward er gewarnt, sich
nicht hineinzubegeben; aber er antwortete: „Wenn so" viele Teufel
zu Worms wären als Ziegel auf den Dächern, dennoch wollt ich
hinein." Am 16. April zog er auf einem offenen Wägelein unter
großem Zulaufe des Volks und unter dem Geleite vieler Edelleute ein.
Seine Femde lagen den Kaiser an, daß er ihm das Geleit nicht halten
möge; aber dieser gab die löbliche Antwort: „Was man zusagt, das
soll man halten."
2. Am folgenden Tage nachmittags 4 Uhr wurde er, um das
Gedränge des versammelten Volks zu' vermeiden, durch heimliche
Gänge auf das Rathhaus geführt. Da saßen in der Reichsver-
sammlung der Kaiser und sein Bruder, König.Ferdinand, die Kur-
fürsten und viele Herzoge, Grafen, Bischöfe, Äbte und andre Herren.
Luthers Bücher lagen auf dem Tische. Er wurde gefragt, ob er sie
287
geschrieben habe, und ob er sie widerrufen wolle. Als ihre Titel ge-
nannt waren, antwortete Luther, sie seien sein; weil aber diese Sache
den Glauben und die Seligkeit betreffe, so bitte er um eine Bedenkzeit.
Diese ward ihm bis zum folgenden Tage gegeben. — Die ganze
Nacht betete er inbrünstig.
Am Donnerstag den 18. April nachmittags 4 Uhr führte der
Herold ihn abermals in die Versammlung. Als er wiederum ge-
fragt wurde, ob er widerrufen wolle, setzte er in einer bescheidenen
und gründlichen Rede auseinander, warum er keine von seinen
Schriften widerrufen möge; und da der kaiserliche Wortführer ein-
fiel und eine runde Antwort verlangte, sagte er herzhaft: „Weil
denn kaiserliche Majestät eine runde Antwort begehrt, so will ich eine
geben, die weder Hörner noch Zähne haben soll: Es sei denn, daß
ich aus Gottes Wort überwiesen werde, daß ich geirrt habe, so kann
und mag ich nicht widerrufen, weil cs nicht gut ist, etwas gegen das
Gewissen zu thun. Hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe
mir. Amen."
Die Versammlung war bewegt, und der Kaiser sagte: „Der
Mönch redet unerschrocken und mit getrostem Muthe." Luther hatte
durch seine unerschrockenen Worte vieler Herzen gewonnen; Fürsten
und Herren besuchten ihn in seiner Herberge. Etliche suchten ihn
auch noch zum Widerruf zu bewegen; aber das war vergeblich, und
als der Erzbischof von Trier ihn fragte, womit doch dieser Sache
könne geholfen werden, antwortete Luther: „Kein besserer Rath ist,
denn den Gamaliel gegeben: Ist dies Werk aus Menschen, so wird
es bald untergehen; ist es aber aus Gott, so werdet ihr es nicht
dämpfen."
Nun ward ihm angezeigt, daß er sich binnen 21 Tagen unter
sicherem Geleit zurückbegeben solle. Nachdem er alle die Seinen,
die sich noch einmal bei ihm einfanden, gesegnet hatte, zog er am
26. April fort.
3. Die Gesandten des Papstes brachten es dahin, daß Luther
nach Ablauf des sichern Geleites in die Reichsacht erklärt wurde,
wonach niemand ihn beherbergen, speisen oder tränken, vielmehr
jedermann, wo er ihn fände, gefangen nehmen und einliefern sollte.
Der weise Kurfürst von Sachsen, dem Luthers Verantwortung auf
dem Reichstage herzlich wohl gefallen hatte, bedachte, wie schwer er
den geächteten Mann werde schützen können; daher beschloß er, ihn
für einige Zeit an einem sichern Ärte aufzuheben. Im Thürinaer-
walde ließ er ihn bei Nachtzeit von fünf bewaffneten Reitern über-
fallen und aus dem Wagen nehmen. Sie setzten ihn alsbald auf
ein Roß und zogen mit ihm davon, während sie seine Begleiter
ungestört weiterziehen ließen. So kamen sie mit ihm auf der
Wartburg bei Eisenach an. Dort wurde er für einen Gefangenen
achalten, Junker Georg angeredet und trug Ritterkleid und Schwert.
Luther ging indessen nicht müssig, sondern studierte fleißig, sing an die
heilige Schrift zu verdeutschen und schrieb viel tröstliche Briefe an seine
Freunde und gute Bücher. An seinen Schriften und Briefen merkten
283
ferne Freunde, daß er noch am Leben sei; sie waren über sein Ver-
schwinden sehr erschrocken gewesen, und viele hatten ihn schon als todt
beweint.
4. Unterdessen waren in Wittenberg allerlei Unordnungen und
Ärgernisse von Schwärmern angerichtet*). Sie störten den Gottes-
dienst, warfen die Bilder aus den Kirchen, zertrümmerten die Altäre
und eiferten gegen die Kindertaufe. Da das Luther hörte, wollte er
nicht länger verborgen bleiben. Es ward ihm auf der Wartburg zu
eng, und eilends wg er wider des guten Kurfürsten Abrathen gen Wit-
tenberg. Hie predigte er die Schwarmgeister bald zur Stadt hinaus,
und so ward der Sturm gestillt.
29. Fortgang der Reformation.
1. Äie Kunde von allen diesen Geschichten breitete sich nun
aus über das deutsche Land und drang an die Höfe der Fürsten,
in die Burgen der Edeln, in die Mauern der Städte und durch
Wälder und Heiden in die entlegensten Hütten, und von vielen be-
trübten und geängsteten Gewissen ward das Evangelium als der
rechte Trost aus Gott, von vielen irre gewordenen als der Weg des
Lebens freudig ergriffen. So geschah es, daß bald der größte Theil
des norddeutschen Landes, sowie fast alte Reichsstädte sich für das
Evangelium entschieden. Das Wort Gottes wurde lauter und rein
gepredigt und das heilige Abendmahl nach Christi Einsetzung ge-
feiert. Freilich fehlte es auch nicht an Leuten, welche die"herrliche
Freiheit emes Christenmenschen fleischlich verstanden; aber durch
Luthers Arbeit wurde die Besserung der Kirche immer weiter ge-
führt. Er hatte dabei treue Gehülfen, unter welchen sein Freund
Philipp Melanchthon war, der ihm fleißig bei der Verdeut-
schung der heiligen Schrift half. Durch die Übersetzung derselben,
durch andre Schriften, durch mündliche Predigt und Lehre, wie
durch die Kirchenlieder, welche Luther dichtete, drang die christliche
Lehre immer weiter ins Volk. Mit großem Eifer sorgte er für
Besserung des Unterrichts in den Schulen. Im Jahre 1529 hielt
er nebst andern christlichen Männern auf Befehl des Kurfürsten eine
Kirchenvisitation in dem sächsischen Lande, um zu sehen, ob es mit
der Lehre, dem Gottesdienste und dem Leben überall wohl bestellt
sei. Dabei hatte er erfahren, wie unwissend die Leute in der christ-
lichen Erkenntniß waren; daher verfaßte er den kleinen Katechismus
zur Unterweisung der Kinder und dazu den großen, ausführlichern.
Nächst der Bibel ist der kleine Katechismus Luthers wohl das beste
Buch der Christenheit; denn er enthält das Evangelium rein und
auch den Einfältigen verständlich. Luther selber sagt von ihm: „Er
ist eine Kinderlehre, die ein jeder Christ zur Noth wissen soll, also
daß, wer solches nicht weiß, nicht könne unter die Christen gezählt
und zu keinem Sacramente gelassen werden. Ein jeder Hausvater
*) Schwärmer sind Leute, welche ihrer Vernunft mit Verachtung des Wertes
Gottes folgen.
289
ist schuldig, daß er zum wenigsten die Woche einmal seine Kinder
und Gesinde verhöre, was sie davon misten llnd lernen, und wo
sie es nicht können, mit Ernst dazu anhalte." Friedrich II., Her-
zog von Schlesien, befahl, daß man ihn mit diesem Büchlein in der
Hand begrabe, und ein Fürst von Anhalt schrieb in seinen Katechismus:
„Nächst der Bibel ist dies mein bestes Buch."
2. Mit der Verbreitung der evangelischen Lehre begannen aber
auch die Verfolgungen ihrer Bekenner; mehrere von ihnen starben den
Tod in den Flammen mit der Freudigkeit der ersten Christen.
Offener Theilnahme erfreute sich die Reformation besonders bei
dem Bruder und Nachfolger Friedrichs des Weisen, dem Kurfürsten
Johann dem Beständigen von Sachsen, bei Herzog Ernst
von Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen und Markgraf
Albrecht von Brandenburg.
30. Die augsburgische Consession.
1. Äer Kaiser hatte 1529 einen Reichstag nach Speier aus-
geschrieben. Dort setzten die Römischen den Beschluß durch, daß es
keinem ferner gestattet werden solle, zu den Lutherischen überzugehen.
Dagegen legten diese eine Protestation, d. i. Einsprache ein, in der sie
erklärten, daß sie bei ihres Herrn und Heilandes Wort, welches sie
ohne Zweifel rein und lauter hätten, verbleiben wollten und aus
redlichen Gründen den Beschluß des Reichstages für nichtig erklären
müßten. Von dieser Protestation hießen die Lutherischen seitdem
Protestanten. Ein Protestant ist also ein solcher, der protestiert
gegen alle Lehre, welche nicht in der heiligen Schrift gegründet ist.
2. Für das folgende Jahr schrieb der Kaiser einen Reichstag
nach Augsburg aus; dort sollte über die lutherische Lehre gütliche
Unterredung gehalten und wegen des Türkenkrieges berathen werden.
Denn die Türken hatten 1453 Konstantinopel erstürmt und bedrohten
seitdem mit ihren wilden Horden die deutschen Lande; Kaiser Karl
aber gedachte sie zu bekriegen, und dazu gebrauchte er die Hülfe
der Evangelischen, daher war er gegen diese milder gesinnt. Zu
diesem Reichstage zog nun auch Kurfürst Johann von Sachsen mit
den drei Gottesgelehrten Philipp Melanchthon, Justus Jonas und
Spalatin. Luther blieb unterwegs auf der Feste Koburg, damit
er den Verhandlungen nahe und doch sicher sei. Hier brachte er
täglich drei Stunden in brünstigem Gebete für das theure Evange-
lium zu, schrieb auch, wenn ihm Trost mangeln wollte, Ps. 118, 17:
„Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herm Werk verkündi-
gen", an alle Wände seines Zimmers und sandte viele tröstliche Briefe
und Mahnungen zur Beständigkeit gen Augsburg. Während der
Kaiser noch verzog, hatte Melanchthon Zeit gehabt, auf des Kur-
fürsten Befehl das Glaubensbekenntniß der Evangelischen aufzusetzen.
Luther hatte es zuvor sehen müssen und hatte es gutgeheißen, und
der Kurfürst von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg,
Herzog Ernst von Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen, Fürst
Wolfgang von Anhalt und die Städte Nürnberg und Reutlingen
13
290
hatten es unterschrieben. Als die Gottesgelehrten gegen den Kur-
fürsten sich erboten, wenn er etwa Bedenken trage, bei ihnen zu
stehen, so wollten ste allein vor den Kaiser treten und sich verant-
worten, erwiderte er: „Das wolle Gott nicht, daß ihr mich aus-
schließet; ich will Christum auch bekennen." Und der alte Fürst
Wolfgang von Anhalt sagte: „Ich habe für meine Herren und
Freunde manchen Ritt gethan; mein Herr Christus verdient auch
wohl, daß ich etwas für ihn thue."
Am 25. Juni nachmittags drei Uhr versammelten sich die
Reichsstände in der Kapelle des Bischofsbofes. Außer den Fürsten
und Abgeordneten ließ der Kaiser niemand zu. Die beiden Kanzler
des Kurfürsten traten in die Mitte des Zimmers, der eine mit dem
lateinischen, der andere mit dem deutschen Text des Bekenntnisses.
Der Kaiser verlangte, der lateinische solle vorgelesen werden; der Kur-
fürst aber sprach: „Da wir in deutschen Landen und unter Deutschen
sind, so hoffen wir, kaiserliche Majestät werde uns auch deutsch reden
lassen." Also las der Kanzler Dr. Beier das Bekenntniß deutsch vor,
und so laut und vernehmlich, daß man auch unten im Hofe, allwo
alles voll Leute war, jedes Wort deutlich verstehen konnte. Die Vor-
lesung bauerte zwei Stunden.
Die Evangelischen fühlten sich gestärkt, daß sie ihren Glauben
frei öffentlich hatten bekennen und ihr Gewissen wahren können.
Auch vielen ihrer Gegner gingen die Augen auf; wie denn z. B.
der Herzog von Baiern sprach, es sei ihm die Sache ganz anders
vorgebracht, als er es nun selber gehört habe. Der Kaiser aber
befahl seinen Gottesgelehrten, das Bekenntniß zu widerlegen. Sie
erklärten, daß sie es wohl aus den Schriften der Väter und dem
päpstlichen Rechte zu widerlegen vermöchten, nicht aber aus der hei-
ligen Schrift, worauf Herzog Georg von Sachsen, ein Hauptfeind
Luthers, entrüstet entgegnete: „Nim, so sitzen ja die Lutherischen
in der Schrift und 'wir daneben." Dennoch wurde eine soge-
nannte Widerlegung aufgesetzt, gegen welche aber Melanchthon in
einer Schrift unser Glaubensbekenntniß siegreich vertheidigte. Der
Kaiser weigerte sich indes, diese Vertheidigung anzunehmen, und sagte
den Evangelischen gar unfreundlich, sie seien genugsam widerlegt,
und wenn sie beharrten, würde er sie aufs schärfste strafen. Die
Evangelischen dagegen beschlossen, sich mit einer deutlichen und ge-
raden' Antwort vernehmen zu lassen. Denn geradezu, sagte der
Kurfürst, macht gute Renner. Es ward also geantwortet: man sei
aus dem Worte Gottes nicht widerlegt; darum wüßte man von
dem klaren Gottesworte nicht abzustehen; darüber möge geschehen
und ergehen, was der gnädige Gotteswille sei.
3. Fürsten und Gottesgelehrte zogen nach Hause zurück; jene
schalteten in ihrem Lande und diese predigten in ihren Gemeinden
wie zuvor. Denn sie waren getrost, ob auch die Sache durch die
Bitterkeit der Widersacher sich fürerst zu großer Trübsal neigen
möchte, daß dennoch Christus auf ihrer Seite sei. Und wenn sie
die vielen Spaltungen und Ärgernisse, zu denen die Verkennung
291
des Evangeliums Anlaß gab, aufrichtig beklagten, so schienen sie
ihnen doch für nichts zu achten gegen den hohen Trost und Frieden,
den die evangelische Lehre nun in viele tausend verstörte Gewissen
brachte. Und' so wuchs die Zahl der Evangelischen von Tage zu
Tage; viele Städte und Länder wurden dem Glauben gehorsam.
31. Luther in seinem häuslichen Leben und fein Tod.
1. 3m Jahre 1525 batte Luther sich verheirathet mit Katha-
rina von Bora. Der Kurfürst hatte ihm das Kloster zu Wittenberg,
in welchem Luther ehemals gewohnt hatte, zu seiner Wohnung ge-
schenkt. Bei allen Kümmernissen, die er um der Kirche willen hatte,
war er ein freundlicher und liebevoller Hausvater. Er erheiterte sich
und die Seinen gern durch Musik, die er sehr liebte, beherbergte gern
in seinem geräumigen Hause, hatte oft zahlreiche und fröhliche Gäste
beim einfachen Mahle und verstand sie durch manch kernhaftes Wort
trefflich zu unterhalten. Den Armen gab er gern, so daß er oft selber
alles Geldes leer war; in die Nähe und in die Ferne ertheilte er Rath.
Bei all seiner Kränklichkeit und der Last von Geschäften, welche auf
ihm lag, wußte er sich frischen Lebensmuth aus seiner freudigen Glau-
benszuversicht zu bewahren.
2. Im Januar 1546 reiste er mit drei Söhnen gen Eisleben;
dorthin hatten die Grafen von Mansfeld den alten vr. Luther ge-
rufen, damit er eine Erbstreitigkeit unter ihnen schlichte. Unterwegs
war er schon sehr schwach; doch predigte er noch viermal in Eis-
leben, erschien auch über Tische recht gesprächig und schrieb an seine
Frau nach Wittenberg tröstende Briefe voll Glaubens. Am 17. Fe-
bruar ward er aber recht krank, so daß er auf seiner Stube bleiben
mußte; er betete viel und sprach zu seinen Freunden: „Ich bin hier
zu Eisleben geboren: wie, wenn ich hier sterben sollte?" Nach
dem Abendessen ward es schlimmer mit ihm; um 10 Uhr legte er
sich zu Bett. Darauf reichte er seinen Söhnen und Freunden die
Hand und sprach: „Betet zu unserm Herrn Gott für sein Evange-
lium, daß es ihm wohl gehe; denn der leidige Papst zürnet härt
mit ihm." Schwer athmend schlief er ein; aber mm 1 Uhr erwachte
er wieder, von Brustbeklemmungen gequält. Nun kamen Ärzte;
auch der Graf Albrecht und dessen Gemahlin erschienen und brachten
stärkende Tropfen. Doch die Brustbeklemmungen wurden immer
heftiger. Seine Freunde meinten, weil er schwitze, werde Gott
Gnade zu seiner Besserung geben; er aber antwortete: „Es ist
kalter Todesschweiß. Ich werde meinen Geist aufgeben; denn die
Krankheit mehret sich." Dann betete er: „O mein himmlischer
Vater, Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi, du Gott alles
Trostes; ich danke dir, daß du mir deinen lieben Sohn Jesum
Christum offenbaret hast, an den ich glaube, den ich gepredigt und
bekannt habe, den ich geliebet und gelobet habe, welchen der leidige
Papst und alle Gottlosen schänden, verfolgen und lästern. Ich bitte
dich, mein Herr Jesu Christe, laß dir meine Seele befohlen sein.
O himmlischer Vater, ob ich schon diesen Leib lassen und aus diesem
13*
292
Leben hinweggerissen werden muß, so weiß ich doch gewiß, daß ich
bei dir ewig bleiben werde und aus deinen Händen mich niemand
reißen kann." Weiter sprach er: „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn
glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."
Und aus dem 68. Psalm: „Wir haben einen Gott des Heiles und
einen Herrn Herrn, der mitten aus dem Tode uns führet.« Dann
betete er dreimal: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöset, du getreuer Gott." Nun ward er still, und
ob man ihn gleich rüttelte, schlug er kein Auge auf. Da rief ihm
Dr. Jonas zu: „Ehrwürdiger Vater, wollt ihr auf die Lehre Jesu,
wie ihr sie gepredigt habt, auch sterben?" Er antwortete mit einem
deutlichen Ja, legte sich auf die rechte Seite und starb so sanft und
ruhig, daß die Umstehenden noch lange meinten, er schlummere. Es
war in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr am 18. Februar 1546,
als Dr. Luther heimging.
Die Nachricht von' seinem Tode verbreitete eine tiefe Trauer
über das ganze Land. Nach dem Willen des Kurfürsten ward der
Sarg mit der theuern Leiche den weiten Weg gen Wittenberg ge-
fahren. Von allen Seiten strömten Begleiter herbei. Wo der
Trauerzug durchkam, wurden die Glocken geläutet. Als man der
Stadt Wittenberg sich näherte, zog die ganze Universität sammt allem
Volk hinaus, ihn einzuholen. Dr. Bugenhagen hielt die Leichen-
predigt. Dann begruben sie die Leiche in der Schloßkirche vor denl
Altar und deckten eine einfache Steinplatte über die Gruft.
3. Und dieser ist der größte Mann gewesen, den Gott erweckt
hat seit den Tagen der seligen Apostel; fest gegründet auf Gottes
Wort und voll himmlischer Kräfte, ein Beweger der Herzen und ein
Meister der Gedanken und der Rede; durch das Schwert des Wortes
Gottes ein Sieger über das Toben der Feinde. Nun war er heim-
gegangen zu seinem Gott und Heilande, dem er so treu gedient
hatte; und hinter ihm zurück blieb eine Welt voll Mühe und Arbeit,
eine Kirche voll Streit und Wehe, und dunkle Wolken zogen heraus
über das deutsche Land zu nahen Ungewittern.
32. Die Schlacht bei Mühlberg und der Friedensschluß zu
Augsburg.
Äald nach Luthers Tode brach schweres Leiden über die Evan-
gelischen herein. Der Kaiser hatte bisher bald mit den Türken,
bald mit den Franzosen zu thun gehabt und war dadurch gehindert
worden, ernstlich gegen die Evangelischen etwas zu unternehmen.
Nun aber hatte er jene nicht mehr zu fürchten und beschloß, diese mit
Gewalt zu unterdrücken. Sie hatten schon 1531 ein Bün-dniß zur
Vertheidigung ihres Glaubens zu Schmalkalden geschloffen. Als sie
die Absicht des Kaisers merkten, rüsteten sie ihre Heere.
Der Herzog Moritz von Sachsen, obwohl evangelisch und ein
Vetter des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, war mit
dem Kaiser im Bunde, denn ihn gelüstete nach seines Vetters Lande.
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Bei Mühlberg traf des Kaisers Heerhaufe auf den des Kurfürsten.
Es war ein Sonutagmorgen, am 24. April 1547, als die Kaiser-
lichen, die diesseit der Elbe standen, über den Fluß setzten; ein ver-
rätherischer Bauer hatte ihnen die Furt gezeigt. Der Kurfürst
wohnte eben dem Gottesdienste in der Kirche bei. Da wurde ihm
gemeldet, die Feinde seien im Anzuge; er wollte stch aber in der
Andacht nicht stören lassen. Nach Beendigung des Gottesdienstes
brach er auf und wollte mit seinem Heere gen Wittenberg eilen.
Aber die Feinde waren rasch hinter ihm her. Die Sachsen wurden
geschlagen. Der Kurfürst selbst, hoch zu Rosse, wehrte sich aufs
tapferste; aber er wurde in die linke Wange gehauen und mußte
sich ergeben. Mit Blut bedeckt wurde er vor den Kaiser geführt;
der behielt ihn gefangen und zog mit ihm vor Wittenberg, wo die
Kurfürstin mit ihren Kindern war. Da der Kurfürst nicht auf des
Kaisers Befehl den Seinigen die Übergabe der Stadt gebieten
wollte, so ward er sogar züm Tode verurtheitt. Er empfing diese
Kunde gerade, als er mit Herzog Ernst von Grubenhagen, seinem
Mitgefangenen, am Schachbrett saß. Ruhig erwiderte er dem Über-
bringer: «Wenn es also bei kaiserlicher Majestät beschlossen ist,
wie ich kaum glauben kann, so soll man mirs fest zu wissen thun,
damit ich zuvor mein Haus bestellen möge." Der Kaiser scheute stch
aber, den Kurfürsten hinrichten zu lassen; doch mußte dieser die Kur-
würde uud einen großen Theil seiner Länder an Moritz abtreten und
des Kaisers Gefangener bleiben.
Da der Kurfürst besiegt war, konnte auch Landgraf Philipp
nicht widerstehen; daher kam er zum Kaiser und that Abbitte.
Moritz, sein Schwiegersohn, und der Kurfürst von Brandenburg
hatten in des Kaisers Namen ihm seine Freiheit verbürgt; dennoch
behielt ihn der Kaiser als Gefangenen, und Moritzens Fürbitte war
vergeblich. Das kränkte diesen tief, und er hätte gern die Flecken
seiner früheren Untreue wieder abgewaschen, zumal da er das Seine
erreicht hatte. Rasch entschloß er sich und rückte nach Süddeutschland,
und wenig fehlte, so hätte er den Kaiser gefangen genommen.
Diesem blieb nichts übrig, als mit Moritz zu unterhandeln. Bald
kehrten die beiden gefangenen Fürsten nach fünfjähriger Abwesenheit
zu ihren erfreuten Völkern heim, und im Jahre 1555 wurde auf
dem Reichstage zu Augsburg ein Friede geschlossen, durch welchen
die Evangelischen Glaubensfreiheit erhielten.
33. Der dreißigjährige Krieg.
1. Was den Evangelischen zu Augsburg versprochen war,
wurde schlecht gehalten. Mit List und Gewalt versuchte man, sie
zur römischen Kirche zurückzuführen, und besonders scheute der Or-
den der Jesuiten kein Mittel, ihnen Schaden zuzufügen. Die Je-
suiten lehrten geradezu, daß Friedensschlüsse, die zum Nachtheil der
römischen Kirche gemacht seien, das Gewissen nicht binden dürften.
Den Evangelischen in Böhmen war vom Kaiser gestattet wor-
den, Kirchen und Schulen zu bauen. Diese Zusage wurde gebrochen.
294
indem auf kaiserlichen Befehl eine Kirche niedergerissen und eme
andre geschlossen wurde. Als die Evangelischen 'sich beim Kaiser
beschwerten, wurden sie hart abgewiesen. Da zogen sie bewaffnet
ins Schloß zu Prag und warfen die kaiserlichen Räthe, die ihnen
feind waren, aus dem Fenster (1618). Das war der Anfang des
Krieges. Den deutschen und böhmischen Thron hatte setzt Ferdi-
nand II. bestiegen, ein eifriger Jesuitenschüler. Er besiegte die
Böhmen, und nun begann ein schreckliches Blutgericht. Sieben
und zwanzig der Vornehmsten wurden hingerichtet; alle evangeli-
schen Prediger und Lehrer wurden vertrieben, und wer seinen Glau-
ben nicht verleugnen wollte, mußte das Land verlassen. An 30000
Familien zogen aus, denn ihr Glaube ging ihnen über Heimat und
Besitz; viele von ihnen verließen ganz arm das Land. Darnach
ist eine tiefe Stille in dem Lande Böhmen geworden, wie die Stille
eines Kirchhofs.
Jetzt nahmen die feindlichen Heere das evangelische Norddeutsch-
land ein. An der Spitze derselben standen die beiden Feldherren
Tilly und Wallenstein. ^Tilly war von Gestalt klein und hager,
die Stirn gerunzelt, das Haar grau und borstig, der Bück finster,
die Nase lang, die Wangen hohl, und am spitzen Kinn trug er
einen starken Knebelbart; aber bei aller Wildheit war er stets nüch-
tern und enthaltsam im Genuß und uneigennützig. Anders Wal-
lenstein. Er stammte von evangelischen Eltern; auf Zureden
der Jesuiten war er katholisch geworden. Seine lange magere Ge-
stalt mit schwarzem, kurzgeschnittenem Haar, rothen Hosen und rothem
Mantel, ledernem Wamms, spanischem Halskragen und dem Hut
mit der rothen Feder, seine geheimnißvolle Miene, sein argwöhni-
scher Blick war unheimlich und grauenerregend. — Wohin sie mit
ihren Heeren kamen, wurden die Felder verwüstet, die Dörfer und
Städte zerstört, Weiber und Kinder mißhandelt, die Männer getod-
tet, Geld und Gut geraubt. Nur die Stadt Stralsund widerstand
dem Wallenstein; obgleich er sich vermaß, und wenn sie mit Ketten
an den Himmel geschlossen wäre, so solle sie herunter, so mußte er
dennoch mit Schanden abziehen, nachdem 12000 Mann vor den
Wällen der Stadt gefallen waren.
Da der Kaiser nun durch seine Heere Herr von ganz Deutsch-
land war, so gab er Befehl, die Evangelischen sollten alle seit 1552
eingezogenen Kirchengüter herausgeben, und den katholischen Fürsten
sollte es freistehen, ihre Unterthanen zur Rückkehr in die römische
Kirche zu zwingen.
2. Da sandte Gott einen Helfer, den König Gustav Adolf
von Schweden. Er war hoch von Wuchs, hatte eine breite, klare
Stirn, eine Adlernase, große, helle Augen und eine wohltönende
Stimme. Obwohl sehr ernst, war er doch freundlich und leutselig.
Ein frommer, evangelischer Sinn verband sich bei ihm mit ritter-
licher Tapferkeit. — Er horte den Nothschrei seiner Glaubensbrüder
in Deutschland und beschloß ihnen beizustehen.
Mit einem wohlgeordneten, gottesfürchtigen Heer von 15000
295
Mann landete er 1630 in Pommern. Als er ans Land getreten
war, fiel er vor seinem Heere auf die Kniee und betete, und als er
darob seinen Officieren die Thränen in den Augen stehen sah, sprach
er zu ihnen: „Weinet nicht, meine Freunde, sondern betet: je mehr
Betens, je mehr Siegens." Täglich ließ er zweimal Betstunde im
Heer halten, damit die Gemüther unter den Greueln des Krieges
des himmlischen Vaters nicht vergessen möchten.
Er suchte zuerst die um des Kaisers willen unschlüssigen Kur-
fürsten von Brandenburg und Sachsen zu bewegen, stch ihm anzu-
schließen. „Ihr Evangelischen," sagte er zu jenem, „werdet am
jüngsten Tage angeklagt werden, daß ihr um des Evangeliums
willen nichts habt thun wollen, und es wird euch auch wohl hier
schon vergolten werden." Darüber war er so lange aufgehalten,
daß er Magdeburg, das von Tilly schwer bedrängt wurde, nicht
mehr helfen konnte. Die Stadt wurde im Mai 1631 erobert und
von Tillys wilden Scharen zu einem Schauplatz furchtbarer Greuel
und unmenschlicher Mordthaten gemacht. Eine Stunde nach Beginn
des Mordend und Plünderns brach eine Feuersbrunst aus, und am
Abend lag die ganze Stadt bis auf den Dom und einige Fischerhütten
in Asche. Von 35000 Einwohnern waren etwa noch 5000 übrig;
alle andern hatten den Tod durch das Schwert, durch qualvolle Mar-
tern oder in den Flammen gefunden. Das ganze evangelische Deutsch-
land war voll Bestürzung über das Elend der Stadt. Tilly aber ward
bald darauf von Gustav Adolf bei Leipzig geschlagen und sein
furchtbares Heer zerstreut. Der Weg nach Süddeutschland stand dem
Könige offen; er verfolgte den Tilly, und beim Übergang über den
Lech empfing dieser die Todeswunde.
Da wandte der Kaiser stch wieder an Wallenstein, den er zuvor
wegen seines herrischen Wesens und wegen der Schandthaten seines
zusammengelaufenen Heeres auf das Andringen der Fürsten hatte
entlassen müssen. Nach langem Zögern verstand sich der stolze
Mann dazu, ein neues Heer zu schaffen und mit demselben gegen
die Schweden zu ziehen. Er brach in das Land des Kurfürsten von
Sachsen. Gustav Adolf wurde vom Kurfürsten zu Hülfe gerufen
und zog eilends herbei. Mit großer Freude ward er empfangen; wo
er erschien, warfen, die Leute sich vor ihm auf die Kniee. Er aber
sprach sein Mißfallen darüber aus, denn nicht ihm, sondern Gott
sollten sie die Ehre geben, und sagte: „Unsre Sachen stehen gut;
aber wie leicht könnte Gott mich und sie empfinden lassen, daß' ich
nichts als ein schwacher und sterblicher Mensch bin."
Bei Lützen traf der König die Kaiserlichen. Der Morgen
des 16. Novembers 1632 brach an; ein dicker Nebel bedeckte das
Gefilde; erwartungsvoll standen die Heere einander gegenüber.
Die Schweden fangen zum Schalle der Pauken und Trompeten
Dr. Luthers Lied: „Ein feste Burg ist unser Gott", und das vom
Könige selbst gedichtete Lied: „Verzage nicht, du Häuflein klein."
Nach 11 Uhr, als die Sonne den Nebel vertrieben hatte, schwang
sich der König nach kurzem Gebete auf sein Roß, stellte sich an die
296
Spitze seines Heeres und rief: „Das walt der liebe Gott! Jesu!
Jesu! bili mir heute streiten zu deines Namens Ehr!" Den Brust-
harnisch hatte er zurückgewiesen mit den Worten: „Gott ist mein
Harnisch!" Die Schweden, vom Könige geführt, dringen vor, feind-
liche Massen ziehen sich zurück, Geschütz wird erbeutet; die Nachricht
davon kommt zum König, er entblößt sein Haupt und dankt Gott
für den Anfang des Sieges. Da wird rhm gemeldet, sein linker
Flügel weiche zurück. Er eilt an der Spitze seiner tapfern Reiter
an den bedrohten Ort, wagt sich zu weit vor und erhält einen
Schuß irr den Arm. Ein zweiter Schuß durchbohrt seinen Rücken,
urrd er fällt entseelt vorn Pferde. Das blutige Pferd, wild daher-
sprengend, verkündet den Schweden den Tod ihres Königs. Den
wollen sie rächen, und mit namenloser Erbitterung greifen sie die
Feinde an. Die Schlacht ist gewonnen, und Wallenstern zieht in
Eile ab.
Gustav Adolfs Leiche wurde nach der Schlacht mit Mühe
gefunden; sie war von andern Leichen bedeckt, entkleidet und von
Blut und Husschläaen entstellt. Auf der Stelle, wo er gefallen ist,
wurde 1838 ein gußeisernes Denkrrral errichtet.
8. Noch große Drangsale aber kamen über unser Vaterland;
der Krieg wüthete mit größerer Grausamkeit fort, denn zuvor. Auch
die schwedischen Truppen verwilderten. Bald war das deutsche
Land eine Beute der Schweden, bald der Kaiserlichen, bald der
Franzosen, die sich eingemischt hatten. Da lag das Land wüste,
die Felder waren verlassen und unbebaut, und wo eine junge Saat
aufschoß, zerstörte ein einziger Durchmarsch den Fleiß eines ganzen
Jahres. Die Städte seufzten unter dem Druck zügelloser Besatzun-
gen. Hunger und Theurung herrschte; pestartige Krankheiten rafften
viele derjenigen Bewohner hinweg, welche das Feuer und das
Schwert bisher verschont hatte. Recht und Gerechtigkeit, Treue und
Glaube ward mit Füßen getreten; denn nur die grausame Willkür
des Soldaten herrschte. Alle Welt seufzte und sehnte sich nach Frie-
den; der wurde endlich im Jahre 1648 zu Münster und Osnabrück
geschlossen. Freilich entriß er Deutschland kostbare Grenzländer,
mit welchen die Schweden und Franzosen für ihre traurigen Mühen
entschädigt wurden; aber selbst diesen harten Frieden begrüßte man
als eine Wohlthat nach solch furchtbarem Kriege.
34. Deutschlands Knechtung.
1. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts tobte
wilder Krieg durch die Länder Europas. Das unruhige Volk der
Franzosen batte ihn durch die sch,nachvolle Empörung gegen seinen
König Ludwig XVI. entzündet. Nachdem es diesen seinen Herrn
gottloser Weise auf dem Schaffst ermordet hatte, gedachte es auch
die Fürsten der Nachbarländer zu entthronen. Da wurden denn
blutige Kriege gegen Frankreich geführt, besonders von England,
Rußland und Österreich. In diesen Käinpfen stand ein mächtiger
Kriegsfürst auf, Napoleon Bonaparte, Sohn eines Advocaten auf
297
der Insel Corsiea. Vom armen Artillerie-Leutnant schwang er
sich durch große Kriegsthaten zum Kaiser der Franzosen auf. Ein
gewaltiger Geist wohnte in diesem Manne; aber er fürchtete weder
Gott noch Menschen. Die Menschen kamen ihm alle so klein und
verächtlich vor; sie schienen ihm nur gut genug, seinen ungeheuern
Plänen zu dienen. Er wollte aber Herr Europas werden, führte
daher in seiner unersättlichen Herrschsucht mit allen europäischen
Fürsten Krieg, mit einem nach dem andern, und besiegte sie alle.
Und Gott der Herr ließ es zu, daß dieser gewaltige Mensch, dem
es am wohlsten war, wenn der Donner der Kanonen ihn umbrüllte,
beinahe zwei Jahrzehende hindurch die Länder Europas, insbeson-
dere unser deutsches Vaterland, mit dem Elend des Krieges bela-
stete. Die Staaten zertheilte er nach seiner Willkür und verschenkte
und vertauschte sie sammt den Völkern wie eine Ware. Er raubte
ihnen die angestammten Fürsten und sehte ihnen Fremdlinge zu
Herrschern. Im deutschen Reiche wurde er bald Herr; denn em
gut Theil deutscher Fürsten mußte mit ihm den Rheinbund schließen.
Der Franzosenkaiser wollte künftig ihr Beschützer sein; von ihrem
Kaiser sagten sie sich daher los und wurden dadurch in ihren Län-
dern scheinbar ganz unabhängige Herren. Ihre Herrschaft bestand
aber nur dem Scheine nach. Ihren Kaiser hatten sie in seinen
Kämpfen mit Napoleon im Stiche gelassen, und so ging das deutsche
Reich 1806 zu Grunde.
2. Ganz Deutschland gerieth in völlige Knechtschaft von den
Franzosen und unter Napoleons Druck. Französische Einquartierung
quälte den Bürger und. Bauer, noch mehr, als sie, die deutschen
Rheinbundstruppen, welche den Fremden halfen. Französische Spione
lauerten auf die Vaterlandsfreunde, welche über die Fremdherrschaft
seufzten und gegen sie rathschlagten. Die deutschen Seehäfen waren
den Engländern verschlossen, damit diese ihre Colonialwaren nicht
los würden; denn dadurch wollte Napoleon sie verderben. Er war
Herr in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland.
Seine Brüder machte er zu Königen und seine Feldherren zu Fürsten,
versteht sich unter seiner Oberherrschaft. 1809 besiegte er Österreich
zum vierten Male und nahm ihm wie früher Länder ab. Kaiser
Franz mußte ihm obenein seine Tochter Marie Luise zur Gemahlin
geben; denn dadurch wollte er in die Reihe der alten, geehrten
Fürstenhäuser treten. Die Rheinbundsstaaten mußten ihre Jugend
in seinem Dienste opfern; er führte sie zur Schlachtbank gegen die
erbitterten Spanier, die er unterjochen wollte; er führte sie hinaus
in Rußlands weite Schneefelder, denn auch dieses wollte er demü-
thigen. Da ging Wehgeschrei durch die Lande. Napoleon aber zog
in stolzer Verblendung aus mit einem Heere von 600000 Mann,
Moskau zu erobern. Er war eine Geißel Gottes, die Völker zu
züchtigen, auf daß sie sich wieder zum Herrn bekehrten, von dem sie
abgefallen waren. Und der wackere deussche Mann, Ernst Moritz
Arndt, hat Recht, wenn er zu damaliger Zeit in einem Büchlein also
zu den Deutschen redet:
13**
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"Und war die Liebe von euch gewichen, und der Haß hatte
die Herzen erfüllt und wußten nichts mehr von Deutschland und
von dem Vaterlande und von der alten deutschen Ehre und Frei-
heit, und ließen der eine von dem andern und gingen ein jeglicher
seinen eigenen Weg, und trachteten nur nach Geld und wie sie
des Tages am besten gebrauchten. -Denn Gott im Himmel wohnt
weit von uns/ sprachen sie, -und was hinter diesem Leben liegt,
ist dunkel/ Darum, weil sie Gott vergaßen, hat sie Gott vergessen.
Weil sie nicht glaubten, darum verzagten sie sogleich und wurden
gegeben in die Hand ihrer Dränger. Also gebar die Sünde das
Unglück, undr der Übermuth brütete die Feigheit aus; und es ge-
schah, wie der Prophet spricht: -Ich will den Erdboden heimsuchen
um seiner Bosheit willen, und die Gottlosen heimsuchen um ihrer
Untugend willen, und des Hochmuths der Stolzen ein Ende machen
und die Hoffahrt der Gewaltigen demüthigen/ Wenn du dich
aber bekehrst und zu Gott wendest, wird er sich zu dir wenden und
das Unglück von dir nehmen und dir ins Herz rufen: Ich habe
dich wider das fremde Volk zur festen, ehernen Mauer gemacht;
ob sie wider dich streiten, sollen sie dir doch nichts anhaben: denn
ich bin bei dir, daß ich dir helfe und dich errette; und will dich
auch retten aus der Hand der Bösen und erlösen aus der Hand
der Tyrannen/'
35. Gottes Gericht in' Rußland.
Rapoleon hatte zu seinem Zuge nach Rußland die besten
Scharen aus allen Ländern Europas gesammelt. Sie waren in
den Waffen wohlgeübt und mit allem Kriegszeuge aufs beste ver-
sehen. Aber Gott setzte dem stolzen Eroberer sein Ziel. Zwar
mußten die Russen nach mehreren tapfern Gefechten das Feld räu-
meil; sie zogen sich tief in das Land hinein nach Moskau, der alten
Hauptstadt,' indem sie alles hinter sich her verheerten. Napoleon
folgte ihnen dorthin; da ereilte ihn die göttliche Gerechtigkeit. Am
14. September 1812 war er siegestrunken in das alte Schloß der
russischen Kaiser, den Kreml, eingezogen; aber schon in der folgen-
den Nacht brachen über seinem Haupte Flammen aus, welche die
ganze Stadt in Asche legten. Die Russen hatten die Stadt selber
angezündet, um ihm das Bleiben zu verleiden. Nun war Napoleon
zum Rückzug genöthigt. Ende Octobers trat er ihn an. Darauf
hatten die Russen gewartet: mit den Schwärmen ihrer Kosacken
verfolgten sie den fliehenden Feind, ließen ihm keine Ruhe weder
bei Tag noch bei Nacht, und wer sich von dem Hauptheere entfernte,
wurde niedergemacht. Da brach Tod und Verderben noch furcht-
barer herein: früher als sonst trat in den öden Steppen Rußlands
ein harter Winter ein. Die fliehenden Scharen/hatten keinen Schutz
gegen seine Strenge; ihre Kleider waren zerrissen; die Füße, halb
entblößt, zitterten auf dem kalten Schnee; die Dörfer und Städte
waren verwüstet; nirgend ein Obdach gegen den furchtbar schnei-
denden Wind; kein Bissen Brot, den Hunger zu stillen. An jedem
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Morgen lagen Haufen Erfrorener um die ausgebrannten Wachtfeuer.
Die ermatteten Krieger konnten sich kaum weiterschleppen; Tausende
blieben zurück und sielen von den Waffen der Russen oder wurden eine
Beute der Wölfe. Als das erschöpfte Heer über die Beresina zog, da
brachen die Brücken, und Tausende fanden in den Fluten ihr Grab. —
Da verließ Napoleon heimlich das Heer und fuhr in einem Schlitten
nach Frankreich. Die Hand des Herrn hatte ihn getroffen. Der hatte
gesagt: Vis hieher, und nicht weiter; hier sollen sich legen deine siolzen
Wellen.
36. Die Schlacht bei Leipzig.
Äus dem Verderben Napoleons in Rußland erkannte das
deutsche Volk, daß Gott nun die Schmach von ihm nehmen und die
Völkergeißel zerbrechen wolle. Da erließ zuerst der König Friedrich
Wilhelm III. von Preußen einen Aufruf an sein Volk, in welchem er
es zu den Waffen forderte. Preußen und Rußland verbündeten sich
gegen.die Franzosen; bald traten England und Schweden und sodann
auch Österreich bei.
Napoleon war nach Dresden gezogen; er zog sein Heer run Leip-
zig zusammen. In verschiedenen Gefechten hatten die Verbündeten
schon vorher gesiegt; jetzt standen sie den Franzosen bei Leipzig gegen-
über, die Österreicher unter Schwarzenberg, die Preußen unter Blücher,
die Russen unter Wittgenstein, die Schweden unter ihrem Kronprinzen,
zusammen 300000 Mann; der Franzosen waren 200000 Mann. Völ-
ker von den fernen Grenzen Asiens und vom mittelländischen und
atlantischen Meere trafen hier zusammen; daher nennt man diese
Schlacht die Völkerschlacht.
Sie begann am 16. Oktober 1813. Die Erde erbebte in weitem
Umkreise von dem Donner der Geschütze, und mit gewaltiger Anstren-
gung und rühmlichem Heldenmuthe wurde auf beiden Seiten gekämpft.
Am Nachmittag schien es, als werde Napoleon siegen; schon ließ er
mit allen Glocken in Leipzig läuten. Aber er triumphierte zu früh;
denn bis zum Abend errang Blücher bei dem Dorfe Möckern die größ-
ten Vortheile. Am Abend beleuchteten acht brennende Dörfer und
Städte das blutige Schlachtfeld: wie Leichenkerzen flackerten die Wacht-
feuer in der weiten Todtenstille. In ernster Erwartung sah alles dem
folgenden Tage entgegen. Der Morgen des 17. Octöbers — er war
ein Sonntag — brach an; doch führte dieser Tag die Heere nicht zu
neuem Kampfe. Napoleon machte Friedensvorschläge, die aber nicht
angenommen wurden.
Da erschien der 18. October, der das fremde Joch mit blutigen
Schlägen zertrümmerte. Napoleon hielt auf einem Hügel, auf wel-
chem eine Windmühle stand, und leitete von da aus die Schlacht. In
nicht gar weiter Entfernung ihm gegenüber weilten auf einem Hügel
Friedrich Wilhelm III. von Preußen und die beiden Kaiser Franz
von Österreich und Alexander von Rußland. Noch deckte ein dichter
Nebel das weite Feld. Als der erste furchtbare Kanonendonner erscholl,
brach die klare Herbstsonne durch und beleuchtete die Walstatt. Heftig
entbiaunte btt Kanrpf; l)ut wurden brennende Dörfer angegriffen
oder umgangen; dort nickte das Fußvolk gegen einander; da sprengten
Reiterregimenter auf den Feind los; das Kreuzfeuer der Artillerie
wüthete. Wahrend der Schlacht gingen auch die sächsischen Truppen,
welche nur gezwungen dem fremden Machthaber gefolgt waren, mit
klingendem Spiel und fliegenden Fahnen zu ihren deutschen Brüdern
über. — Sckon neigte sich der Tag; es war 5 Uhr nachmittags, da
thaten die Fürsten dem Blutvergießen Einhalt. Napoleon war gänz-
lich gescklagen; finster und in sich gekehrt saß er auf dem Windmühlen-
hügel; stumm und düster umstanden seine Generale das Wachtfeuer.
Dann ritt er nach Leipzig zurück. Die drei verbündeten Monarchen
aber, als sie von ihrem Hügel herab an allen Orten ihre siegreichen
Banner hatten daherwehen sehen, da waren sie auf ihre Kniee ge-
sunken und hatten dem Herrn gedankt, dessen Arm der guten Sache den
Sieg gab.
Am 19. October morgens zog der fremde Unterdrücker mit dem
Neste seines geschlagenen Heeres dem Rheine zu. Die verbündeten
Herrscher beschlossen, da sein Hochmuth noch immer nicht erschüttert
war, ihn in Frankreich selbst auszusuchen. Am 31. März 1814 zogen
sie in Paris ein, hinter ihnen ein großer Theil ihrer Armeen mit flie-
genden Fahnen und klingendem Spiel, in schönster kriegerischer Hal-
tung. Das gesinnungslose Volk, welches fur§ zuvor noch den Napoleon
auf den Händen getragen hatte, jauchzte jetzt den Verbündeten als
Errettern von der langen Tyrannei entgegen und empfing sie mit Blu-
menschmuck und allerlei demüthigen Schmeicheleien.
Napoleon mußte abdanken. Die Insel Elba im Mittelmeere
wurde ibm zum Wohnsitz angewiesen.
(Bergt. Nr. 61 des dritten Abschnittes im zweiten Theile.)
37. Eines christlichen Kriegers Morgenlied.
1. Erbebt euch von der Erde,
Ihr Schläfer, aus der Ruh!
Schon wiehern uns die Pferde
Den „Guten Morgen" zu.
Die lieben Waffen glänzen
So hell im Morgenroth;
Man träumt von Sicgeskränzcn,
Man denkt auch an den Tod.
2. Du, reicher Gott, in Gnaden
Schau her vom blauen Zelt:
Du selbst hast uns geladen
In dieses Waffenfeld.
Laß uns vor dir bestehen.
Und gib uns heute Sieg;
Die Christenbanner wehen.
Dein ist, o Herr, der Krieg!
3. Ein Morgen soll noch kommen.
Ein Morgen mild und klar;
Sein harren alle Frommen,
Ihn schaut der Engel Schar.
Bald scheint er sonder Hülle
Aus jeden deutschen Mann:
O brich, du Tag der Fülle,
Du Freihcitstag, brich an!
4. Dann Klang von allen Türmen,
Und Klang aus jeder Brust,
Und Ruhe nach den Stürmen,
Und Lieb und Lebenslust.
Es schallt auf allen Wegen
Dann frohes Siegsgeschrei;
Und wir, ihr wackern Degen,
Wir waren auch dabei!
Vierter Abschnitt.
Die übrigen Länder der Grde.
1. Die skandinavischen Länder.
1. Äänemark. Wenn man aus dem Stadeschen nach Nord-
osten über die Elbe geht, so kommt man in das m Deutschland ge-
hörende Herzogthum Holstein. Dieses nimmt den südlichen Theil der
jütischen Halbinsel ein. Ihr mittlerer Theil ist das Herzogthum
Schleswig; es ist meist von Deutschen bewohnt. Der nördliche
Theü der Halbinsel heißt Jütland; von ihm hat dieselbe ihren Na-
men. Auf der Ostseile der Halbinsel liegt ein fruchtbares, an Korn,
Weide und Wald reiches Hügelland, welchem nach Osten hin sich eine
breite Uferebene vorlagert; nach Westen zu aber grenzt an dasselbe ein
breiter unfruchtbarer Heidestrich, und an der Küste der Nordsee besteht
die Ebene aus Flugsand. Diese Flachküste ist vom Meere vielfältig
zerrissen. Eine Menge kleiner Inseln, die vom Festlande durch das
Meer abgerissen sind, umlagern die Westküste Schleswigs. Weit grö-
ßere Inseln liegen aber an der Ostküste. Die bedeutendsten von ihnen
sind Fünen und Seeland; auf dieser liegt Kopenhagen, die
Hauptstadt von Dänemark. Alle diese Inseln sind sehr fruchtbar.
Um ihre Seen erheben sich grüne, mit prächtigen Buchen und Eichen
und mit riesigen Erlen besetzte Hügel, an deren Fuße sich Wiesen mit
zahlreichen Herden und Ackerfelder ausbreiten. Die Luft aber ist oft
nebelig, feucht und windig. Metalle finden sich nicht, wohl aber
Torf. Viele Bewohner, namentlich an der Küste Jütlands, näh-
ren sich von Fischerei. Die Dänen sind deutsches Ursprungs und
gehören zur lutherischen Kirche. Sie sind ein fleißiges Volk, herz-
lich gegen einander, gegen Fremde aber zurückhaltend. Die Lage
ihres Landes lud zur Schiffahrt ein, und so haben sie von alters
her viel Seehandel getrieben, in früheren Zeiten freilich bedeutend
mehr als jetzt.
Island. Hoch im Norden liegt die Insel Island, welche
auch dem Könige von Dänemark gehört. Sie ist eine der merk-
würdigsten Inseln der Welt; schon ihre Küsten sind, wie der erste
Blick zeigt, so zerrissen und vielzackig, daß sie auf der Karte wie
ein auf allen Seiten zerfetzter Lappen aussieht. Bald strecken sich
seltsam gestaltete Landzungen und Felsklippen weit ins Meer hinaus;
bald drmgt die See in vielförmigen Buchten oder Fiorden tief ins
Land hinein. Betritt man aber das Land selbst, so erblickt man
wenige Stunden landeinwärts mächtige, sonderbar zerrissene Ge-
buasmassen, die ewig mit Schnee und Ees bedeckt sind. Und aus
diesen Gebirgsmassen ragen einzelne finstere Häupter hervor, die
zuweilen wirbelnde Rauch- und Feuersäulm zum nebeligen Himmel
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emporsenden und aus ihrem tobenden Innern Ströme von glü-
hender Lava in die Tiefe hinabquellen lassen. Wer hat nicht gehört
von dem dreispitzigen, feuerspeienden Hekla, der dort wie ein unbe-
zähmbarer Riese über die übrigen Gebirgshäupter emporragt, und
von dem so oft schon die Insel durch verheerende Ausbrüche ver-
wüstet ward? — In den Einöden des niedrigern Berglandes begeg-
net man überall neuen Wundern einer fremdartigen Natur. Da
breitet sich mitten zwischen Schnee- und Eisfeldern ein düsterer See
aus, der, während alles um ihn her von Kälte erstarrt, doch nicht
zufriert, ja wohl zuweilen gerade in den kältesten Tagen wie ein
kochender Kessel dampft. Dort schießt in regelmäßigen Ünterbrechun-
gen aus einem finstern Schlunde ein männsdicker, kochendheißer
Wasserstrahl mehr als haushoch mit furchtbarem Geräusch empor,
und die wieder herabfallenden Wasser fließen als breiter, rauchender
Bach den größeren Strömen zu. Dort dehnt sich Tagereisen weit
eine wilde Einöde aus; kein grünes Kraut, kein Strauch erquickt
das Auge; nichts als Steingeröll und scharfe, zerrissene Lava, in
den tieferen Schluchten Eis- und Schneeschichten, und von den
nahen Gebirgshöhen herab unzählige tückische, gefährliche Gletscher-
bäche, die ihr graues Wasser brausend durch die Wildniß treiben.
Um diese grauenvolle Einöde her liegt ein schmaler Küstenrand,
der allein eines geringen Anbaues fähig ist und den Einwohnern
die äußerst kümmerliche Nothdurft gibt. Da erblickt man, meist
an der Südwestküste, die armseligen Höfe hin und her zerstreut,
selten zu Dorfschaften vereinigt. Um diese ärmlichen Wohnungen
her erblickt man da und dort ein Stück Acker, das etwas Gemüse
oder Kartoffeln trägt; nirgend aber wogt ein Saatfeld oder lacht
ein Obstgarten. An Holz finden sich nur strauchartige Birken.
Auf den Wiesen gehen nur hier und da Herden von Schafen oder
kleinen Rindern; Seevögel und Fische sind aber überall in Menge
vorhanden. Die Felsen sind mit einem braunen Moose überzogen,
dem isländischen, welches zur Speise und bei uns als Arzenei
gebraucht wird. Während der Vater draußen auf dem steinigten
Acker oder bei der Herde ist, oder sein Netz ins Meer wirft, oder
auf einen Seehund lauert, dessen Fell ihm zur Kleidung, dessen
Thran ihm zur Erhellung der langen Winterabende dient, sorgt die
Mutter für die Kruder, oder sitzt am Webstuhl, um die gewonnene
Wolle zu verarbeiten; auf dem Herde knistert das spärliche Feuer,
zu welchem Gott Treibholz herbeisendet und der Insel große Torf-
moore gegeben hat. Bei aller seiner Armuth aber fühlt der Isländer
sich glücklich und sagt: „Island ist das glücklichste Land, das die
Sonne bescheint."
2. Norwegen und Schweden. Noch weiter nördlich von
unserm deutschen Naterlande, als Dänemark, liegen auf der skandi-
navischen Halbinsel die beiden Königreiche Norwegen und Schwe-
den. Diese Halbinsel ist die größte Europas, so groß wie Deutsch-
land; aber dennoch wohnen weit weniger Menschen auf derselben,
denn sie ist wegen ihrer Kälte und felsigen Beschaffenheit auf große
303
Strecken hin unwirtbar. Ein Hochgebirge zieht sich auf ihrer West-
hälfte von Süden nach Norden, das freilich nicht an Höhe, wohl
aber an Großartigkeit mit den Alpen wetteifert und im Süden am
höchsten ist. Es fällt nach Westen steil zum Meere ab; nach Osten
zu dacht es sich allmählich in Stufenlandschaften mit vielen Seen zu
der Küstenebene an der Ostsee ab. Auf seinem Rücken hat es breite
Schnee- und Eisfelder, welche die Wohnungen der Menschen getrennt
halten. Einzelne in ewigem Winter starrende Bergkuppen ragen in
unwandelbarer Pracht und Erhabenheit empor, und die tiefste Einsam-
keit umgibt sie. Daneben und an ihrem Fuße dehnen sich in den
Flußthälern frische Weiden aus. Neben den schäumenden Wasserfällen
wilder Bergströme liegen breite Seen mit ruhigem Spiegel. Die Sen-
kungen der breiten steinigen und öden Rücken des Gebirges bilden die
Wege, auf welchen man dasselbe mit unsäglicher Beschwerde und
großer Gefahr übersteigt.
Wirtlicher ist die Westküste. Sie ist durch zahllose schmale,
tief ins Land dringende Busen (Fjorden) zerschnitten, vor denen
eine Menge kleiner Felseilande liegen. Um sie herum liegen grüne,
von der Seeluft und vielem Regen gewässerte Thäler, in welche
die reißenden Bergströme vom Gebrrge herabfallen. Diese schmalen
Uferebenen haben eine milde Lust, weshalb noch Getreide gebaut
werden kann, und wo der Ackerbau unmöglich ist, nähren sich die
Bewohner von Viehzucht und Fischfang. Da liegen nun Dörfer
und Städte, unter welchen selbst solche sind, die ausgedehnten Han-
del treiben, wie z. B. Bergen in Norwegen. Was das Land
liefert, wird von da ausgeführt: Eisen Mastbäume, Bretter, Balken,
Theer, Pelzwerk, Eiderdunen, getrocknete Fische, Thran und Heringe.
Dagegen bezieht man vom Auslande Getreide, Salz, baumwollene,
leinene und seidene Waren und Glas. — Im Gebirge sind nur
die Thäler bewohnt, und meist wohnen die Norweger zerstreut und
einsam auf ihren weiten Gehöften. Sie haben meilenweit zur
Kirche zu gehen; die Kinder werden meist von ihren Eltern oder
von umherwandernden Lehrern unterrichtet. Wegen seiner weiten
Entfernung von der Stadt muß der Norweger sich feine Wohnung,
Kleidung und seine Geräthschaften selber verfertigen Landsiraßcn
können nicht angelegt werden; die Flüsse sind meistens nicht schiss-
bar, doch werden sie vielfältig auf andre Weise von den Menschen in
Dienst genommen: sie tragen die Baumstämme in die Hauptflüsse
und an die Küsten und setzen die Maschinen der reichen Bergwerke, die
Säge-und Kornmühlen in Bewegung. Im Winter kommen die Be-
wohner mittelst der Schneeschuhe und Schlitten schnell vorwärts.
— Am dichtesten ist Norwegen in der Umgegend der Hauptstadt
Christiania bevölkert.
Schweden hat im Süden viel zum Ackerbau benutzten Boden
und kann darum noch Getreide an Norwegen abgeben; "doch ist der
Ackerbau wegen des felsigen Bodens, den nur eine dünne Erdschicht
bedeckt, beschwerlich. Im Norden hört das fruchtbare Land auf; da
bleibt nur Sumpf und Wald übrig. Der Hauptreichthum des Landes
304
besteht in Holz und in den Metallen, welche die Erde birgt, besonders
in Kupfer und Eisen. Die Hauptstadt des Landes ist Stockholm,
außerordentlich schön gelegen auf den vielen Inseln und an den Ufern
des Mälarsees.
Je weiter man auf der Halbinsel nach Norden wandert, desto
kälter wird cs. Über die Gebirgshöhen fegt ein kalter Wind. Der
Winter wird nach Norden zu immer länger; er dauert 7 bis 9
Monate; Frühling und Herbst gibt es daselbst gar mcht mehr,
denn der Sommer geht unmittelbar aus dem Winter hervor. Hier
geht die Sonne in der Mitte des Sommers gar nicht unter; in der
Tiefe des Winters dagegen gibt es um Mittag nur eine schwache
Dämmerung. Aber solch Klima sagt den wilden Thieren zu, die
dort hausen; denn Bär, Luchs, Vielfras, Fuchs, Wolf, Elenthier
und Rennthier haben hier eine Heimat. Im Süden bestehen die
Wälder bei der größer» Milde der Luft meist aus Buchen und an
den höheren Abhängen aus großen Nadelholzstämmen; weiter nach
Norden bleibt die Tanne fast allein übrig, und auf die Tanne folgen
unermeßliche, am Boden mit weißen Flechten und Moos bedeckte Fich-
tenwälder, und die Birke, die gegen das Eismeer hin fast krautartig
wird, beschließt endlich das Gewachsreich in diesen Gegenden. Hier
steht das Leben still, oder vielmehr: es zieht sich in die Tiefe des Mee-
res, welche eine ganze Welt von Thieren birgt, unter ihnen den mächti-
gen Walfisch.
Die Bewohner beider Länder, mit Ausnahme der im hohen
Norden wohnenden Lappländer, sind von deutscher Abstammung
und gehören der lutherischen Kirche an. Ihre Vorfahren, die Nor-
männer, machten häufig unter ihren Seekönigen weite Seefahrten,
plünderten die fremden Küsten und setzten sich auch zuweilen auf ihnen
für immer fest. Noch heutiges Tages liefert das Land viele tüchtige
Seemänner, die im Kampfe mit Klippen und Wellen stark, gewandt
und kühn geworden sind. Wie ihr Land, obwohl an Naturschönheiteu
reich, wenig Heiteres hat, so ist auch ihr Sinn ernst und tief und dem
Ewigen zugewandt.
2. Der Lappländer und das Rennthier.
Hoch im Norden geht die Sonne im Sommer mehrere Wochen
lang nicht unter; aber im Winter bleibt sie auch eben so lange
unsichtbar. Tanne und Birke schrumpfen zuletzt zu Zwergen zusam-
men, die hinter Klippen und Schluchten Schutz suchen. Endlich hören
sie ganz auf, und nur Heidekraut, Moose und Flechten bleiben noch
zu sehen.
Dort wohnt der Lappländer. Er kann mit seinen breiten Backen-
knochen, der kleinen, platten Nase, den geschlitzten, dunkeln Augen,
dem weiten Munde, der gelblichen Hautfarbe seine mongolische Ab-
kunft nicht verleugnen und'sieht wegen des Rauches seiner Hütte wie
geräuchert aus.
Sein Reichthum ist das Nennthier; ohne dieses könnte er in
Lappland gar nicht leben. Es gehört zum Hirschgeschlecht und hat
305
unter allen Hirsch arten die gedrungenste und kräftigste Gestalt. Sein
Hals ist kurz und fest; sein Huf ist glatt; seine Beine sind aus festen
Knochen zusammengefügt. Der ganze Bau dieses Thieres ist zum
Ertragen von Beschwerden und zum Ziehen von Lasten eingerichtet.
Wie kein anderes Thier weiß es sich auf einem Boden zu ernähren,
der acht Monate des Jahres mit Schnee und Eis bedeckt ist. Moos
ist seine Lieblingsspeise; im Winter scharrt es dasselbe aus dem Schnee
hervor. Vor den Schlitten gespannt durchläuft es mit großer Schnel-
ligkeit weite Wegstrecken. Nur gegen Wärme ist es empfindlich.
Kommt daher die kurze Sommerzeit, so ist der Lappe gezwungen, mit
seinem Rennthiere aus den warmen Thälern auf die Berge zu ziehen,
und selbst da sucht es sich gern ein Schneefeld zum Ruhen aus. So ist
der Bewohner des Nordens von Europa ein Nomade geworden, weil
die Rennthiere, welche ihm Nahrung und Kleidung geben, Nomaden
sind. Virkenstämme bilden das Gerüst, Rennthierfelle die Decken des
Zeltes, in welchem nicht nur Weib, Kind und Gesinde, sondern auch
die Hunde wohnen. Diese treiben jeden Tag die Herden zum
Melken zusammen, und wie der Lappe keine andre Milch kennt,
als die seiner Rennthiere, so kennt er kein anderes Bett, als das
Fell derselben. Wer eine Herde von 1000 Stück besitzt, gilt für
einen reichen Mann.
3. Der Hering.
1. Äbwohl das Meer die Heimat des Herings ist, so kennt ihn
doch bei uns jedes Kind in Dorf und Stadt. Im hohen Norden ist
er ganzen Völkerschaften das tägliche Brot. Seine Menge ist fast
unglaublich. Die einzige Stadt Bergen in Norwegen verschickt
manches Jahr allein 300000 Tonnen Heringe in alle Welt. So dick
und hart stehen oft die sogenannten Heringsberge an den Küsten Nor-
wegens, daß leichte Boote, wenn sie daran gerathen, heftig erschüttert
werden; so sehr werden alle Buchten zu Zeiten von ihm angefüllt,
daß die Leute ihn mit Händen und Eimern aus dem Meere schöpfen,
wenn sie vorher die Buchten durch Netze abgesperrt haben. An der
ganzen Küstenstrecke Norwegens wimmelts von Menschen, wenn dieser
Fisch erscheint. Ist er fortgezogen, so ist auch die Küste, die eben noch
von Menschen und Heringen so bevölkert war, öde und verlassen bis zu
der Zeit, wo er von neuem ankommt. Dann ergreifen die Fischer das
Ruder wieder und stoßen vom Ufer. Mit leeren Kähnen fahren sie
hinaus; zum Sinken voll führen sie dieselben zurück. Und wie auf
dem Meere die Kähne sich hin und her bewegen, oft 300 im Umfange
einer Meile, so bewegen sich auf dem Lande Karren in zahlloser Menge
nach dem Ufer und vom Ufer wieder zurück. Die Kähne bringen
nemlich die Ausbeute, die ihnen das Meer gewährt, ans Ufer; in
Karren wird diese nun weiter geschafft und zunächst in der Nähe des
Strandes .zu Bergen aufgehäuft. Dort nehmen Frauen und Kinder
seine Eingeweide aus, salzen ihn und packen ihn in Tonnen. So wird
er verschickt buiofs alle Welt. Weither kam er gezogen. Da, wo das
306
Meer sich Paläste aus Eis erbaust die im Sonnenscheine vom reinsten
Silber erglänzen; wo es Eisbrücken schlägst die von weißem Marmor
aufgeführt scheinen: von dorther zog er wanderlustig nach dem wär-
meren Süden. Eingesalzen hält er nun seinen Einzug in die Paläste
und Hütten der Wünschen, bei Reichen und Armen, in Städten und
Dörfern.
2. Unter den Fischen ist der Hering am wanderlustigsten. In
großen Heerzügen bricht er auf. Der Hauptzug theilt sich bald in
mehrere Arme. Der westliche trifft schon im Februar in den Buchten
Islands ein. In der Nordsee theilt sich der Schwarm wieder, und
bald wimmelts in allen Buchten, von dem Grunde des Meeres bis
herauf zur Oberfläche, so daß diese von den hervorragenden Rücken
gekräuselt erscheint. Die in dem Gedränge abgeriebenen Schuppen
sehen die Fischer schon aus weiter Ferne blinken; sie verrathen die
Stelle, wo das Netz auszuwerfen ist, das oft hundert Schritt lang
ist und zwischen zwei Schiffen niedergelassen wird. Das Laich wird
von den Heringen nicht selten in einer solchen Menge ins Meer er-
bosten, daß es davon sich trübt und die Netze wie mit einer Rinde
überzieht. Welch eine Summe von Heringseiern hat das Meer
jedes Jahr auszubrüten, da ein einziger dieser Fische 20—25000
Eier legt! Ist die Laichzeit vorbei, so vereinigen sich die nach und
nach angekommenen Züge wieder, gewöhnlich im September, um
nun in einem gedrängten Haufen quer durch den atlantischen Ocean
nach Amerika zu wandern, wo sie auch zu einer bestimmten Zeit
ankommen. Ende Aprils treten sie dann an den Küsten Nordame-
rikas ihre Heimreise wieder an. Aber gewaltig sind die Reihen ge-
lichtet; Millionen sehen die Heimat nicht wieder, und längst würde
das nördliche Eismeer von diesen Bewohnern entvölkert sein, wenn
die in der Fremde gebornen Nachkommen nicht alsbald das Land
ihrer Väter aufsuchten. Auf demselben Wege, den die Alten ein-
schlugen, kommen auch sie an, und bei der geringen Größe, die
sie auf ihrer ersten Wanderung noch haben, entgehen sie meistens
den Nachstellungen ihrer Feinde. Der Mensch ist es aber nicht
allein, der dem Heringe nachstellt; auch das größte aller Thiere, der
Walfisch, macht Jagd auf ihn. Er verfolgt das geängstete Thier,
wenn es die unwirtliche Heimat verläßt, und jagt es in die ge-
wohnten Buchten hinein, als hätte er mit dem Menschen ein Bünd-
niß geschlossen. Sein Riesenleib ist mit kleinen Portionen nicht zu-
frieden, und nicht unbedeutend mag die Zahl der Heringe sein, die sein
Schlund alljährlich verschluckt. So vielen Feinden gegenüber hat
dieser Fisch allein seine ungeheure Vernlehrungskraft. die sein Ge-
schlecht von Jahrhundert zu Jahrhundert erhält, daß es nicht aus-
stirbt, wenn auch Millionen zu Grunde gehen. Sein Fang und
Verkauf beschäftigt in Holland über 200000 Menschen und ver-
schafft diesem Lande jährlich eine Einnahme von mehreren Millionen
Thalern. — Der erste, welcher die Kunst geübt hat, mit Salz diesen
Fisch zu erhalten, soll ein Niederländer mit Namen Beukel gewesen
sein, der im 14. Jahrhundert gelebt hat.
307
4. Die Eidergans.
1. So unwirtbar die Küsten der nördlichsten Länder Europas,
Asiens und Amerikas dem Menschen erscheinen, so lebendig regt und
bewegt sich dort das muntere Geschlecht der Seevögel. Die grauen
Felsen sind ihre Wohnung, und das Meer liefert ihnen Nahrung.
Auf den dunkeln Gewässern des einsamen Meerbusens segelt der
wilde Schwan; auf den Klippen sitzen in großen Schwärmen die
leichtbeschwingten Möven und schreien; der kleine Sturmvogel läßt
sich, nachdem er tagelang unermüdet über den gekräuselten Meeres-
wellen geschwebt hat, in der Mitte des schreienden Volkes nieder,
und die Eidergans oder Eiderente fischt einsam am Fuße der Felsen.
2. Die Eidergans bewohnt Island, Grönland, die Nordküste
Rußlandsund die Westküste Norwegens; bisweilen soll sie auch an
den Felsküsten des südlichen Schwedens brüten. Sie ist größer
als unsre Ente, hat einen dicken Kopf, ist weiß, unten grauschwarz
und hat an der Brust überaus zarte, weiche Federn, welche unter
dem Namen Dunen, Eiderdunen bekannt und sehr geschätzt sind.
Sie kann vortrefflich tauchen und schwiuunen; auch fliegt sie gut,
hält sich dabei aber immer in der Nähe der Küste. Zu ihrem Brüte-
platze wählt sie unzugängliche Felsen und Felsspalten, unbebaute,
wüste Landspitzen und" die kleinen Inseln in den Flußmündungen.
Das Nest baut sie aus Gras und Moos und füttert es mit einein
dichten und tiefen Teppich der trefflichsten Dunen aus, welche sie sich
von der Brust ausrupft. Ein Nest enthält % bis y2 Pfund; das
Pfund kostet zwei Thaler.
3. Das Einsammeln der Eiderdunen geschieht auf zwiefache
Art, wovon die eine so gefährlich ist wie die andere. Einige Männer
fahren mit einem Kahn an den Fuß eines Felsens. Einer von
ihnen sucht durch Hülfe einer Stange, mit welcher seine Kameraden
ihn aufheben, die erste sichere Stelle, ans der er fußen kann. So-
bald er fest auf seinen Beinen steht, läßt er einen Strick hinab, an
welchem ein anderer sich festhält, und hierauf zieht er diesen nach.
Auf diese Art helfen sie einander von einem Absätze auf den andern,
bis sie an die Stellen kommen, wo die Vögel rhre Nester haben.
Ist derjenige, der hinaufgezogen werden soll, allzuschwer, oder kann er
nicht festen Fuß fassen, so geschieht es zuweilen, daß er den andern
mit herunterzieht, und daß sie dann beide umkommen. Geht aber
alles glücklich von statten, so haben sie reiche Beute. Ist die Witte-
rung schön, so verweilen sie ganze Wochen lang auf den Felsen; andere
hingegen, die ihnen täglich ihr Essen zubringen, tragen die gemachte
Beute nach Hause. — Es gibt Felsen, denen von der Meerseite her
nicht beizukommen ist, und doch lockt die Meerseite den Sammler von
Dunen am meisten, weil die Vögel sie am liebsten zum Nestbau wäh-
len. Um an sie zu gelangen, erklettern die Leute erst von der Landseite
her die Spitzen der Felsen; dann wird einer an einem zolldicken
Taue allmählich hinabgelassen. Er hält ein dünnes Seil in der
Hand, durch welches er Zeichen geben kann, wenn er tiefer hinab-
308
gelassen, in die Höhe gezogen werden, oder eine Weile anhalten
will. Das Tau reißt oft große Steine los, denen er durch geschickte
Bewegungen noch wohl ausweichen kann. Eine sehr dicke Mütze
schützt ihn vor den Beschädigungen, die er von kleinen Steinen be-
kommen würde. Nicht selten schwebt er in einer Höhe von 800
Fuß über dem unter seinen Füßen wogenden Meere; das sieht
ftlrchtbar aus. Noch größer aber wird die Gefahr, wenn der listige
Vogel sein Nest unter einem Vorsprunge oder in einer Felsspalte an-
gebracht hat. Er muß sich dann durch Hin- und Herschwenken dem
Orte zu nähern suchen; manchmal muß er, um über Felsspalten zu
gelangen, Stangen auflegen und in einem Korbe zur andern Seite
rutschen.
4. Die Dunen werden theuer verkauft; es gibt kleine Bezirke
in Norwegen, welche jedes Jahr wohl für zwanzig- bis dreißigtausend
Thaler nach Kopenhagen schicken. Die Eier werden wie Hühnereier
verwendet; das Fleisch wird genossen, und aus den Bälgen, welche
als Pelzwerk zugerichtet werden, macht man warme Unterkleider.
Darum wird die Eidergans hoch geschätzt, und in Island ist es streng
verboten, sie zu fangen oder zu todten.
5. Großbritannien und Irland.
Nordwestlich von Deutschland, durch die Nordsee von uns ge-
trennt , liegen im atlantischen Ocean die beiden großen Inseln
Großbritannien (England und Schottland) und Irland
und einige kleine Inselgruppen. Sie haben Gebirge und Ebenen
in mannigfachem Wechsil; namentlich sind in England und Irland
die Gebirge vielfach von Ebenen durchbrochen, weshalb es möglich
gewesen ist, alle Theile dieser Länder durch Heerstraßen, Kanäle und
Eisenbahnen zu verbinden. Die Luft ist meist nebelig, so daß man
in London oft die Laternen den ganzen Tag brennen lassen muß;
der Himmel ist häufig mit Wolken bedeckt. 'Die Seewinde erhalten
die Luft beständig feucht und bringen viel Regen, besonders nach
Irland; daher sind die Wiesen sehr frisch und'saftig. Daneben ist
der Sommer mäßig, der Winter mild; selten gibt es mehr als 20
Frosttage. Das Vieh weidet daher selbst im Winter im Freien.
Am kältesten ist Schottland, ein malerisches, wildes, sagenreiches Ge-
birgsland. Die vielen Flüsse dieser Länder haben keine bedeutende
Länge; sie sind aber wasserreich und an ihren Mündungen breit,
und die Meeresflut dringt weit in sie hinein, was auch zur Förderung
der Schiffahrt gereicht.
Die Ebenen, Thäler und niederen Hügel in England sind sorg-
fältig angebaut, und auf den fetten Wiesengründen grasen Herden
von Pferden und Rindern, auf den Hügeln Schafe und Ziegen.
Große Städte, zahlreiche Dörfer und einzelnliegende Schlösser und
Meierhöfe sind durchhingestreut. Die großen Waldungen sind durch
den Ackerbau verdrängt, doch nirgend findet man ganz baumlose
Gegenden. Wo nur der Schatten erwünscht sein kann, hat der
Engländer Bäume stehen lassen, so daß das Land einem gelichtctcn
809
Haine gleicht. Überall in Park und Wiesen zerstreut mischen sich
Hirsche, Rehe und Kaninchen zutraulich unter das Getümmel der
Rinder und Schafe. Alle Flüsse, Bäche und Meeresufer sind mit
Gärten, Parks und Schlössern umsäumt, und Landsitz reibt sich an
Landsitz. Hier und da sammeln sich die Gewässer zu Teichen und
Seen. An Holz ist sehr fühlbarer Mangel; doch helfen als Brenn-
material die Steinkohlenschätze reichlich aus. Das gute Stammholz
hebt man zum Schiffsbau auf. — In Irland ist der Boden nicht so
reich angebaut, als in England; an manchen Stellen hindern weite
Moräste daran. Schottland hat noch spärlicheren Anbau. Selbst
die Gebirge, ehemals dicht bewaldet, stehen in Schottland meist
kahl, nur mit Gestrüpp und Heide bedeckt; um die malerischen Berg-
seen finden sich dagegen noch schöne Hochwaldungen.
Bei der gropen Einwohnerzahl von 30 Millionen reicht das
Getreide nicht aus, das im Lande selber gebaut wird. Aber der
Boden Englands birgt in seinem Innern unermeßliche Mineral-
schätze: 12/i3 alles Zinnes, die Hülste alles Kupfers und ein Drittel
alles Eisens, was überhaupt in Europa gewonnen wird, wird aus
den englischen Bergwerken gewonnen, und aus seinen gewaltigen
Steinkohlenlagern versorgt es zum Theil noch andre Länder. Wo
die Fundorte der Kohlen und Erze sind, wimmelt es von Hütten-
und Hammerwerken, von Dampfmaschinen und Fabriken, und von
Städten, die aus kleinem Anfange zu großer Bevölkerung und
großem Reichthum gekommen sind. Die hier verfertigten Metalle,
Baumwollen-, Leder- und Seidenwaren werden auf den Eisenbah-
nen, Kanälen und Flüssen durch das ganze Land befördert, in den
Küstenstädten auf Seeschiffe geladen und nach allen Erdtheilen aus-
geführt, wogegen deren Erzeugnisse zurückgebracht werden. So sind
viele Einwohner dieser Länder durch Gewerbfleiß und Handel über-
aus reich geworden; aber daneben gibts auch eine bittere Armuth,
namentlich in den großen Städten, und am meisten in der gewaltigen,
2l4 Millionen Menschen bergenden Hauptstadt London, und neben
der Armuth viel geistliches Elend.
Durch seine Lage ist Großbritannien auf die Schiffahrt ange-
wiesen; sie steht von hier aus nach allen Ländern der Erde hin
offen. Das haben die Engländer zu benutzen verstanden. Sie
haben die stärkste Krieges- und Handelsflotte, und ihre Nieder-
lassungen liegen über die ganze Erde. Aber ihr Verkehr ist auch
der Verbreitung des Evangeliums vielfach zu gute gekommen. Wie
schon in alte,: Zeiten Missionare von diesen Ländern ausgingen
und auch unsern Vätern das Evangelium predigten, so sind auch
bis auf den heutigen Tag viele Missionare von dort aus zu den Heiden
in allen fremden Erdtheilen gegangen, und durch die große englische
Bibelgesellschaft ist die heilige Schrift in unzählige Familien ge-
kommen, die sonst ihrer wohl entbehrt hätten.
310
6. Holland und Belgien.
An der Westgrenze unsers Vaterlandes liegt H oll and. Große
Schönheiten hat es nicht; es ist ohne Wild, Wald und Hain, ohne
Berg, Quell und Gestein; daher ermüdet das Auge des Wanderers
an der großen Einförmigkeit des Bodens. Sehr sauber gehaltene
Städte und Dörfer sind freilich in Menge da; übrigens erblickt
man in den fruchtbaren Gegenden nichts als Felder, Gärten, Wiesen
mit großen Rinderherden, Kanäle mit Schiffen, die gezogen werden,
und Windmühlen; in den unfruchtbaren Gegenden aber find aus-
gedehnte Heiden und Moore. Gegen das Meer ist es von einer
dreifachen Reihe von Dünen geschützt; an manchen Stellen aber
hat dasselbe große Landstriche weggerissen; so gingen z. B. 72
Ortschaften mit 100000 Menschen im Jahre 1421 unter. Langsam
wälzen Rhein und Maas ihr Wasser zum Meere hin. Zur För-
derung der Schiffahrt ist das Land mit einer großen Anzahl von
Kanälen versehen; diese sind hier so häufig, als anderswo die Heer-
straßen. Die Luft ist wegen des Meeres, der Flüsse und Sümpfe
feucht und nebelig, der Himmel meist grau.
Durch seine Lage am Meer fordert es zur Schiffahrt auf.
Uber ein Jahrhundert lang ist es die erste Seemacht der Erde und
der Sitz des Welthandels' gewesen, und aus jener Zeit hat es be-
rühmte Seefahrer und Seehelden aufzuweisen. Auch jetzt noch ist
es ein Handelsstaat mit ansehnlicher Seemacht und mit großen aus-
wärtigen Besitzungen. Die bedeutendste Handelsstadt ist Amsterdam
an einem großen Busen. Die Hauptstadt ist H a a g. Die Einwohner
sind deutsches Stammes und meist reformiert.
Südlich von Holland liegt Belgien. Obwohl im Norden
und Westen eben, ist es doch in dem größeren Theile bergig und
daher viel schöner als Holland. Viele Städte sind durch Handel
und Gewerbfleiß vor alters sehr reich gewesen. Jetzt sind manche
gesunken; doch werden auch heutiges Tages noch Handel, Gewerbe
und Fabriken eifrig betrieben, wobei dem Lande die fast unerschöpf-
lichen Steinkohlen- und Eisenlager seiner Gebirge trefflich zu statten
kommen. Berühmt sind vor allem die Brabanter Spitzen, welche
besonders in der Hauptstadt Brüssel bereitet werden. Die Ein-
wohner sind größtentheils deutsches Ursprungs; die meisten bekennen
sich zur römischen Kirche.
7. Frankreich.
Obwohl Frankreich seinen Namen von einem berühmten deut-
schen Dolksstamme, den Franken, führt, welche einige Jahrhunderte
nach unsers Heilandes Geburt einen großen Theil dieses Landes ein-
nahmen und sich darin festsetzten, so ist dennoch von deutscher Art
dort nichts zu finden. Wie das von den Franken besiegte Volk be-
schaffen war, so sind auch die heutigen Franzosen: flüchtig und
leichtsinnig, veränderlich und immer neuen Dingen nachjagend, über-
müthig, und daneben freilich auch tapfer. Sie erfinden alle Tage
311
neue Moden, die dann leider auch in Deutschland bald nachgeahmt
werden.
Frankreich wird von seinen Bewohnern „das schöne" genannt.
Es hat eine sehr günstige Lage. Im Süden ist es von Spanien
durch die Pyrenäen geschieden, welche nach Frankreich mit kurzen,
schönen, an wilden Waldströmen reichen Thälern abfallen. An
ihrem Fuße liegt ein wasserreiches Tiefland und in diesem die Städte
Toulouse und Bordeaux. Im Süd osten erfüllen zahlreiche
und hohe Arme der Alpen die Landschaft; an ihnen windet die
Rhone in ihrem warmen Thale sich vorbei und geht bei der
großen Seestadt Marseille ins Mittelmeer. Da liegt an den Se-
vennen ein herrliches Südland mit mildem, schönem Klima, wo der
Ölbaum gezogen wird und der Seidenbau gut gedeiht. Aufwärts
im Rhonethal liegt Lyon, seit der alten Zeit der Kirche weit be-
kannt geworden durch die Treue, welche die dortige Christengemeinde
in der Verfolgung bewies; heutzutage sind ihre Seidenwaren, Gold-
und Silberarbeiten berühmt. In dem Gebirgslande westlich vom
Rhonethal haben einst reformierte Christen unter Ludwig XIV. ihren
Glauben gegen ihre Peiniger lange tapfer vertheidigt. Am Rhein
und an den Vogesen liegt das Elsaß mit der Stadt Straßburg,
ehemals zu Deutschland gehörig. Von diesen Landschaften aus
senkt sich der Boden allmählich gen Westen und Norden zum at-
lantischen Meere; die Küste nähert sich im Nordwesten England
bis auf eine Entfernung von vier Meilen. Dieser ganze Boden ist
über Hügel und Flüsse leicht gangbar, weshalb Straßen- und Eisen-
bahnen nach allen Richtungen hin führen. Sie haben ihren Mittel-
punkt in der Hauptstadt Paris an der Seine. Sie ist nächst Lon-
don die größte Stadt Europas, mit einer Million Einwohner und
vielen großen und prächtigen Palästen und glänzenden Kaufläden;
daneben aber gibt es auch ganze Stadttheile mit engen, schmutzigen
Straßen und großer Armuth. — Auf dem Hügellande Frankreichs
und im Süden gedeiht bei dem milden Klima des Landes der Wein
sehr gut und in den meisten Gegenden auch das Getreide; doch
baut Frankreich nicht so viel Korn, wie es gebraucht. In seinen
Bergen hat es große Lager von Eisen und Steinkohlen. Seine
Lage macht es zu Schiffahrt und Handel sehr geeignet. — Von
seinen 36 Millionen Einwohnern gehören die meisten der römischen
Kirche an.
8. Spanien und Portugal.
Südwestlich von Frankreich erstreckt sich, ebenso lang wie breit,
eine Halbinsel in das atlantische und das mittelländische Meer. An
der Westküste derselben liegt das Königreich Portugal; der übrige,
bei weitem größere Theil ist das Königreich Spanien. Kein Land
Europas nähert sich Afrika so sehr w-ie dieses; an'der Straße von
Gibraltar beträgt die Entfernung nur eine Stunde. Keines hat
aber auch eine so große Ähnlichkeit mit Afrika. Die Küsten der'
Halbinsel sind nur wenig vom Meere zerschnitten; weite Busen bil-
312
bet das Meer nirgend. Auch die Oberfläche des Bodens ist mcht sehr
mannigfaltig: große Gebirge scheiden weite ununterbrochene Hoch-
ebenen. An der Grenze Frankreichs liegen die Pyrenäen, welche
zu den höchsten und unzugänglichsten Gebirgen Europas nächst den
Alpen gehören. Die Steinwände des Gebirges sind den größten
Theil des Jahres meist kahl und von den heißen Mittags'winden
und den brennenden Sonnenstrahlen versengt; wo sich Grün findet
auf den Höhen, da besteht es meist aus trockenen Kräutern und
kümmerlichem Gestrüpp. Wenn gleich die höchsten Gipfel beständig
mit Schnee und Eis bedeckt sind, so fehlen doch Gletscher von grö-
ßerer Ausdehnung, und daher mangelt es an Bewässerung. Ge-
witter und Sturmwinde toben in den höheren Gegenden oft mit
unglaublicher Heftigkeit, und auf den Übergängen über das Gebirge
sausen mittags fast beständig die Stürme mit solcher Heftigkeit,
daß die Spanier zu sagen pflegen: „Hier wartet weder der Äater
auf den Sohn, noch der Sohn auf den Vater." Am Fuße der
Pyrenäen aber „liegt die schöne, warme Ebro ebene. Da wachsen
Orangen und Ölbäume, Wein, Weizen, Gerste und in den wasser-
reichen Gegenden Reis; die Fruchtbarkeit ist so groß, daß fast überall
zweimal geerntet werden kann. Die Berge sind gewöhnlich mit
Korkeichen bedeckt, und über den Waldbäumen erheben sich dichte
Gebüsche von Lorbeeren und Mirten, Buchsbaum und Rosmarin.
Die Felder sind häufig von Maulbeerbäumen eingefaßt, an welchen
sich die Rebe hinaufwindet. Gleich schön und fruchtbar ist das
Tiefland im Süden der Halbinsel, inmitten dessen die Stadt Sevilla
mit ihren engen Straßen und morgenländisch gebauten Häusern liegt.
Hier herrscht schon eine fast afrikanische Glut; daher sieht man Haine
von Citronen und Orangen, der Mandelbaum wird von der Wein-
rebe umschlungen. An der Küste liegen Malaga mit seinen vielen
Weingärten, und Cadix taucht mit seinen schneeweißen Häusern im
Glanze der Sonnenstrahlen wie ein Edelstein aus der blauen Mee-
resflut auf. Zwischen beiden Städten liegt der steile Felsen von
Gibraltar, der in den Händen der Engländer ist. Fast noch
schöner als der südliche Theil ist die Ostküste. Hier herrscht wegen
der kühlenden Seewinde ewiger Frühling; Lorbeeren, Maulbeer-
bäume, Feigen, Granaten mt glutrother Blüte und vor allem Wein
wachsen allerorten. Ganz anders aber sieht es auf der Hochebene
aus. Bei Nacht wirds auf ihr recht kühl, weshalb der Spanier
gern den Mantel trägt; bei Tage aber ists sehr heiß. Umsonst
sucht man die lieblichen Thäler und Gärten Italiens oder den deut-
schen Wald mit seiner Frische, seinem goldigen Grün und heiteren
Vogelgesang. Unendliche baumlose, sonnenverbrannte Flächen, ein-
sam und grabesstill, breiten sich vor den Blicken aus. Da blüht
nicht einmal das Heideröslein; nur der wilde Ginsterstrauch
wiegt sich im Winde, und in den Flußthälern ist zuweilen ein klei-
nes Eichen- oder Ulmengehölz zu finden. Auf den unbebauten
Grassteppen dieser Hochebene weidet der Hirt seine Merinoherde;
nachlässig und träumerisch, in ein Schaffell gekleidet, die Lanze
313
in der Hand, hat er sich hingestreckt. Im Winter, wo es hier
schneidend kalt wird, zieht er mit seiner Herde in wärmere Land-
schaften. Wo die Ebene angebaut ist, liefert sie reichlich Weizen
und Mais, des Volkes Hauptnahrung. Mitten in der weiten Ebene,
von allen Küsten gleich weit entfernt, liegt Madrid, die Haupt-
stadt, in der Ferne ringsum von blauen Gebirgen umgeben.
Der Spanier nennt sein Vaterland das Angesicht Europas. Er
hat es so lieb, daß er es äußerst ungern verläßt. Er ist stolz, ernst
und feierlich, gastfrei, und so nüchtern'und mäßig, daß als der ärgste
Schimpfname das Wort Trunkenbold gilt. In den langen Kämpfen
wider die Araber hat er sich als einen tapferen christlichen Helden
bewiesen. — Ehemals war das schöne Land viel reicher als jetzt;
manche Stadt har an Einwohnerzahl sehr abgenommen, und statt
der ehemaligen großen Kriegsflotte hat es nur noch ein paar Kriegs-
schiffe. Philipp II., der sich rühmte: „In meinem Lande geht die
Sonne nie unter", ließ viele Schiffsladungen von Gold und Silber
nach Spanien bringen, und doch wurde er immer ärmer. Die
spanischen Berge-hegen noch jetzt reiche Schätze aber sie liegen un-
bebaut. Auch Portugal ist sehr herunter gekommen. Seine Haupt-
stadt ist Lissabon. * Sie ist eine der am schönsten gelegenen Städte.
Der Portugiese, der freilich sonst gern prahlt, sagt doch hier ohne
Übertreibung im Sprichwort: Wer Lissabon nicht gesehen hat, hat
nichts gesehen. Das Innere der Stadt aber ist nicht erfreulich;
die Straßen sind eng, krumm, schmutzig und voll herrenloser Hunde.
Die Bewohner beider Länder bekennen sich zur römischen Kirche.
Es leben unter ihnen viele Zigeuner, deren liebste Länder die spanische
Halbinsel und Ungarn sind.
9. Italien.
Übersteigt man von Deutschland aus die Alpen, so kommt
man nach Italien, und zwar zunächst in das lombardische
Tiefland, welches vom Po und einer großen Anzahl kleiner
Flüsse, die meist von den Alpen kommen, bewässert wird. Durch
eine Menge von Kanälen wird das Wasser der Flüsse nach allen
Richtungen hin geleitet. Dadurch wird das Land sehr fruchtbar,
so daß man die Wiesen sechsmal des Jahres mähen kann. Ob-
wohl die Sommerglut nicht so stark ist als in Süditalien, so ist
sie doch weit stärker und anhaltender als in Deutschland; doch bläst
oft kühlender Wind von den Alpen herab. Pomeranzen- und Ci-
tronenhaine gibts hier noch nicht, doch schon Ölbäume, und beson-
ders gedeiht der Maulbeerbaum, weshalb die Seidenzucht von vielen
Einwohnern als Erwerbszweig getrieben wird. Edle Kastanien, Fei-
gen, Mandeln und Melonen sind überflüssig da. In den feuchthei-
ßen, ungesunden Sumpfgegenden wird viel Reis gebaut; außerdem
Werzen und Mais. Der Mais keimt, wächst und reift in 50 Tagen
und wird gewöhnlich erst hinter dem Winterweizen her gesäet, so
dap man zweimal erntet. Der Landmann ist meist Pächter oder
nur Arbeiter; das Land gehört reichen Gutsherren. Wiesen und
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314
Felder sind durch Ulmen und Maulbeerbäume umsäumt, an welchen
Weinreben emporranken; so sieht die sonst einförmige Ebene, von
einem Turm aus betrachtet, wie ein lichter Wald aus. — Seit den
Zeiten Karls des Großen haben deutsche Kaiser oft die Alpen über-
schritten, da die Lombardei unter ihrem Scepter stand. Heutzutage
gehörtem großer Theil der Ebene zum Kaiserthum Österreich. Unter
den Städten zeichnen sich Mailand und Venedig aus. Jene
hat einen schönen, aus weißem Marmor gebauten Dom, an welchem
Jahrhunderte lang gebaut ist. Diese ist auf lauter Jnselchen am
adriatischen Meere erbaut; 450 Brücken und Stege verbinden die
einzelnen Stadttheile mit einander. Wagengerassel hört rnan nicht,
denn der Straßen sind nur wenige; dagegen sind die Wasser (La-
gunen) mit Gondeln bedeckt. Dem Reisenden, der sich dieser wun-
dersamen Stadt nähert, kommt es vor, als steige sie mit ihren
Türmen und Marmorpalästen unmittelbar aus den Wogen des Mee-
res empor. Einst war sie die Beherrscherin des Meeres und hat
manchen harten Kampf mit den Türken auszufechten gehabt; in den
Palästen häuften sich damals unermeßliche Reichthümer.
Dom lombardischen Tieflande an ziehen sich die Apenninen
die ganze Halbinjel entlang gen Süden und tauchen nochmal in
der Insel Sicilien auf. Der nördliche Theil dieses Gebirges schließt
sich an die Alpen und umgibt mit seinen nackten Bergen den Busen
von Genua. Der schmale Küstensaum, an welchem die Stadt liegt,
ist vor Nordwinden geschützt und den anprallenden Sonnenstrahlen
ausgesetzt; daher ist er so warm, daß Lorbeerbäume, Aprikosen und
Orangen gedeihen.
Der höchste Zug der Apenninen ist wild, schroff, kalt und nackt,
fast ohne allen Wald, nur mit Kräutern bedeckt und daher nur von
Hirten besucht, die in der Zeit des schwülen Sommers auf den
kühlen Bergstächen ihre Herden weiden. Die niederen Vergzüge
aber haben schöne Wälder von Eichen, Buchen und Ulmen, und die
Thäler wie die Meeresebene sind, namentlich in Süditalien, mit
immergrünen Hainen von Lorbeeren, Cypressen, Mirten, Citronen
und Granaten geschmückt; selbst die schlanke afrikanische Palme wiegt
mancherorten ihren Wipfel in der glutzitternden Luft. Doch gibts
auch sumpfige, ungesunde Gegenden in der Ebene, welche von Men-
schen und Thieren gemieden werden; nur im Winter, wenn sie ge-
froren sind, betritt sie der Hirt mit seiner Herde. — In dürrer
Ebene an der Tiber liegt Rom, von den Römern die ewige Stadt
genannt. Sie ist reich an Denkmalen und Bauwerken aus grauer
Zeit; alle werden überragt von der Peterskirche. Hier wohnt das
Oberhaupt der römischen Kirche, der Papst; das Gebiet umher
heißt der Kirchenstaat. Weiter im Süden liegt Neapel am Ge-
stade des Mittelmeeres, die volkreichste und glanzvollste Stadt Ita-
liens. Ihre Straßen sind beständig von dem Getümmel des lär-
menden ^Volkes erfüllt, das mehr vor, als in den Häusern lebt.
Dicht bei ihr erhebt sich der Vesuv, der bekannte feuerspeiende
Berg, aus dessen Gipfel beständig starke Rauchwolken aufsteigen.
815
Wenn seine Ausbrüche stark sind, werden die Gefilde ringsumher,
die Stadt Neapel, der Busen und die nahen Inseln mit einer dun-
kelrothen Glut wie übergössen, und die Plötzlich aufsteigenden Flam-
men erleuchten wie Blitze auf Augenblicke die ganze Landschaft.
Die ausgeworfene Lava, welche in vielen Armen wie Feuerströme
vom Berge herab in die Ebene sich ergießt, richtet in den Wein-
gärten, Fruchtfeldern und Ortschaften großen Schaden an. Einen
noch höheren Vulkan hat die liebliche Gebirgsinsel Sicilien, welche
nur durch eine schmale, klippenreiche Meerenge von Italien getrennt
ist. Es ist der Ätna. Citronen-, Mandel- und Apfelsinenhaine
umgürten seinen Fuß und tragen das ganze Jahr hindurch Blüten
und Früchte; weiter hinauf steht Wald, endlich nur spärliche Alpen-
kräuter, und sein Gipfel ist fast immer mit Schnee bedeckt. — Süd-
lich von Sicilien liegt die den Engländern gehörende Insel Malta,
ein befestigter Kalksteinfelsen, dessen Bod'en man durch Erde aus
Sicilien für den Anbau von Getreide, Wein, Baumwolle und
Orangen tauglich gemacht hat.
10. Rußland.
Rußland nimmt den ganzen Nordosten Europas ein. Es
hat außerdem ungeheure Länderstrecken in Asien, von denen es durch
den Ural, ein erz- und waldreiches Gebirge, geschieden ist. Sein
Boden ist meist eine weite Ebene, von Hügelketten durchzogen. Seine
vielen Flüsse strömen gen Süden und Südosten ins schwarze und
kaspische Meer, gen Norden und Nordwesten ins weiße Meer und
in die Ostsee. Wegen seiner großen Ausdehnung von Norden nach
Süden hat es große Unterschiede im Küma; es besitzt Landstriche,
die zu den wärmsten, und solche, die zu den kältesten Ländern Eu-
ropas gehören, und auch in seinen mittleren Landschaften wird es
im Sommer sehr warm, im Wmter dagegen sehr kalt. Unsre Ost-
winde, welche im Winter oft schneidend sind, kommen über Ruß-
land. Am wärmsten sind die Steppenländer, welche sich am schwarzen
und kaspischen Meere ausbreiten. Da gedeihen Walnüsse, Granaten,
Feigen, Obst, Kastanien, Öl- und Cyprcssenbäume und der Wein-
stock, und auf den fruchtbaren Strichen prangen gesegnete Weizen-
felder. Doch meist ist der Boden dürr und öde; man erblickt nur
unermeßlich weite Grasfelder, in denen Herden von Rindern, wilden
Pferden und Schafen umherschweifen; alles einsam, selten ein Dorf
oder ein einsames Posthaus. Die Natur schläft hier einen langen Win-
terschlaf. Schmilzt endlich im Frühling der Schnee, so wird der Boden
überall weich; von allen Rücken und in allen Thälern fließt schmutziges
Wasser und ergießt sich mitten durch die Dörfer. Darnach kommt
die angenehmste Zeit für das Leben in der Steppe; das Gras sprießt
Halm an Halm empor und dazwischen große, grobe Kräuter. Noch
gibt es Regen und des Nachts Thau. In der Mitte des Juni
hört beides auf. Dann beginnt die Sommerhitze, die alles versengt
und die Steppe zur Wüste macht; meilenweit kann man wandern,
ehe man eine Quelle findet. — Mittelrußland hat sehr ftuchtbaren
14*
316
Boden, auf welchem besonders Roggen, Lein und Hanf gebaut wird;
auch beginnen hier schon die großen Waldungen, welche weiter nach
Norden sich immer mehr verbreiten. Da liegt Moskau, die alte
Hauptstadt Rußlands. Sie hat fünf Meilen im Umfange. Aus
ihrer Häusermasse erheben sich 300 Kirchen, deren Kuppeln und
Türme vergoldet oder angestrichen sind. Paläste, Hütten, Seen,
Felder und Gürten wechseln mit einander. Sie treibt Handel nach
allen großen Städten der Erde. Eine Eisenbahn verbindet sie mit
Petersburg, der kaiserlichen Residenz. Der sieht man es gleich an,
daß sie eine neue Stadt ist; Peter der Große hat sie zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts erbaut. Sie hat schnurgerade Straßen, 'herr-
liche Paläste und prächtige Kirchen. Wegen ihrer Lage an der
Ostsee eignet sie sich recht zu einer Handelsstadt. Südwestlich von ihr
liegen die deutschen Ostseeprovinzen, in denen viele Deutsche
wohnen und viel Getreide und Flachs gebaut wird. — Die großen
Wälder Rußlands sind theilweise noch Urwälder, in welchen Auer-
ochsen, Elenthiere, Bären, Wölfe, Eber, Hirsche und Rehe hausen.
Je weiter man nach Norden wandert, desto mehr sieht man an die
Stelle der Laubholzwaldungen Nadelholz treten, vielfach mit Birken-
wäldern abwechselnd; nach und nach schrumpfen die Bäume zu
Zwergen zusammen, und endlich erblickt man nur noch traurige und
öde Flüchen mit Moos und Flechten. An manchen Stellen ist der
Boden zu Mooren versumpft, welche die meiste Zeit des Jahres zuge-
froren sind. Rauh und eisig ist die Luft dieser Gegenden. Schon
im Noveniber stürzen gewaltige Schneemaffen vom Himmel. Das
Eis wird oft drei Ellen hick, und kaum vermag sich der Mensch
gegen die grimmige Kälte zu schützen. Schnelle Rennthiere, blau-
graue Füchse, schwarzbraune Zobel, weiße Hermeline und Eisbären
durchstreifen die Schneefelder. Frühling und Herbst sind hier un-
bekannt; auf den plötzlich eintretenden kurzen Sommer folgt bald
wieder der strenge, neunmonatliche Winter.
11. Der Bär.
1. Die verschiedenen größern und kleinern Raubthiere, welche
zum Geschlechte der Bären gezählt werden, zeichnen sich dadurch aus,
daß sie mit der ganzen nackten Fußsohle auftreten, weshalb man
sie auch Sohlenläufer nennt. Sie haben 6 Äorderzähne im Ober-
kiefer und 6 im Unterkiefer, an jeder Seite oben und unten einen
starken, vorstehenden Eckzahn und 5 oder 6 Backenzähne, von denen
die vordem einspikig, die Hintern aber mit breiten, zackigen Kronen
versehen sind. Ihre 5 Zehen stehen gesondert und sind mit gekrümm-
ten Nägeln bewaffnet; ihre Nase ist rüsselartig. Sie sind zum Theil
sehr wild, aber weit träger, plumper und ernster als die übrigen
reißenden Thiere, und ihrer Natur nach düster, mißtrauisch, ungesel-
lig. Die Nase ist so empfindlich, daß ein tüchtiger Schlag darauf
den meisten Thieren dieses Geschlechts sogleich den Tod bringt. Sie
verbergen sich gern in die Erde, graben und wühlen sich mit ihren
Sichelkrallen Höhlen und Baue, und einige von ihnen verbringen
317
die kalte Jahreszeit im Schlafe. Ihre Nahrung besteht sowohl in
Thieren, wie in Pflanzen, Früchten und Wurzeln.
2. Der Landbär ist eben so finster und ungesellig, wie die. meisten
seiner Verwandten, und auch die Trägheit hat er mit diesen gemein.
Da, wo die Natur ganz wild ist, in dicken Wäldern und finstern
Bergschluchten, wohnt er am liebsten. In einer Höhle, die er weich
mit Gras und Laub ausgepolstert hat, bringt er fast den ganzen
Winter mit Schlafen hin, säuft und frißt nur selten. Ist der Som-
mer da, so kommt er abgemagert hervor und schleppt fich brunnnend
und mit den Zähnen knirschend langsam und schwerfällig durch die
finstere Waldung; denn seine breiten Tatzen haben fich gehäutet,
und jeder Schritt thut ihm an den dünnen Sohlen weh. Auch
kehrt er bald genug wieder zurück; es ist ihm nicht wohler, als in
der Einsamkeit seiner Höhle. Selbst mit seinem Weibchen lebt er
nicht viel beisammen; dieses muß sich schon deshalb von ihm abson-
dern, weil er bei gutem Appetit leicht seine Jungen verzehrt. We-
nigstens weiß man das vom brauen Bär. Die Mutter verbirgt
deswegen die Jungen sorgfältig vor diesem und jagt ihn, wenn er
ihr Lager dennoch entdeckt, mit tüchtigen Ohrfeigen weg, wie fie
bei den Bären Mode sind. Denn zürn Kampfe richten sie fich auf
die Hinterbeine und hauen mit ihren Vordertatzen auf den Feind
los. Der schwarze Bär scheint etwas geselliger zu sein als sein
brauner Bruder. Er ist nicht 5 Fuß lang, während der braune
darüber mißt und zuweilen ein Gewicht von mehr als 400 Pfun-
den hat.
3. Zur düstern Gemüthsart des Bären paßt sein Körperbau.
Er ist kurzbeinig und plumpes Leibes und steckt Sommer und Win-
ter in dichtem, zottigem Pelze. Der Hals ist dick, der wolfähnliche
Kops breit, mit platter Stirn und vorgestreckter Schnauze. Das
kleine, schiefe Auge mit dem mißtrauischen Blick ist, wie beim Dachs,
nicht viel werth, auch wird er im Alter leicht blind; aber das auf-
gerichtete, kurze Ohr erspürt von ferne jeden Laut, und die feine
Nase leitet ihn beim Aufsuchen der Nahrung. Gebiß und Klauen
sind kräftig, wie der ganze Körper. Trotz aller Trägheit ist er
muthig und tapfer, dazu im Laufen, wenigstens auf ebenem Wege
und besonders bergan, schnell (bergab wills mit seinen kurzen Vor-
derbeinen nicht recht gehen) und im Klettern und Schwimmen ge-
schickt. Aber bei seiner Dummheit schützen ihn diese Eigenschaften
nicht. Selbst die offene Jagd auf den Bären ist nicht sehr gefähr-
lich und endet fast immer mit seinem Tode, der vielen Arten nicht
zu gedenken, auf die er durch List fich fangen läßt. Bei den letz-
tem wird häufig auf Eigensinn und Jähzorn, die große Gewalt
über ihn haben, gerechnet. So legt man ihm z. B. in Sibirien
und Kamtschatka auf Anhöhen Schlingen, die an schwere Holzklötze
befestigt sind. Geräth er mit dem Kopf in eine solche, so hemmt
der Klotz sein Fortschreiten. Dann sieht er fich brummig um, und
sobald er gewahrt, wo das Hinderniß eigentlich steckt, nimmt er
grimmig das Holz zwischen die Vordertatzen, richtet sich aus und
318
schleuderts den Berg hinunter. Aber es hängt fest an seinem Halse
und zieht ihn mit hinab. Ist die Anhöhe nicht bedeutend, so kommt
er freilich oft mit einigen derben Stößen weg; aber der Bauer, der
die Schlinge gelegt hat, verliert deshalb 'seine Beute doch nicht.
Denn nun wird der Bär erst wüthend, packt den Klotz von neuem,
schleppt ihn den Berg wieder hinauf, wirft ihn mit noch viel grö-
ßerer Gewalt als das erste Mal von sich, und — stürzt abermals
nach. Und ist er auch jetzt noch nicht so beschädigt, daß er nicht wie-
der aufstehen kann, so macht er den Versuch zum dritten Mal; er läßt
einmal nicht von seinem Vorhaben ab, bis er halb oder ganz todt lie-
gen bleibt.
Aber nicht allein der Mensch, sondern auch andere Thiere werden
durch die Dummheit des Büren dessen Meister. Zu seinen gefährlich-
sten Feinden gehört der Wolf, der ihn herdenweise verfolgt, wo er
weiß und kann. Oft gelingt es dem Geängftigten zwar, schnell
einen Baum zu erklettern, wodurch er seinen Feinden entgeht; kann
er dies aber nicht, und ist etwa ein Holz- oder Steinhaufe in der
Nähe, so flüchtet er auf diesen und wäre auch hier wohl sicher,
wenn er ruhig abwartete, bis den umherstehenden Verfolgern die
Geduld ausginge und sie von selber abzögen. Aber er hat ;a Waf-
fen'in der Hand, und die muß er gebrauchen! So nimmt er ein
Stück Holz, einen Stein nach dem andern und kanoniert damit auf
die Wölfe los, bis sein Turm so niedrig wird, daß sie an ihn gelangen
tonnen.
12. Die Birke.
1. Ächön gerundet ist der junge Stamm der Birke, ohne Knor-
ken und Risse; licht und lustig ist die viel verzweigte Krone; dünn und
biegsam sind die herabhangenden Zweige, braun von Farbe und
mit weißen Harzdrüsen besetzt. Tag und Nacht in beständiger Bewe-
gung; die Blätter sind dreieckig, am Rande fein gesägt, glatt auf bei-
den Seiten und nicht zernagt von Raupen und Käfern, die sie durch
ihre Bitterkeit und Härte abwehren. So steht der Baum schmuck und
zierlich da.
2. Von der Wurzel bis zum Gipfel ist nichts an ihm, was nicht
vielfach benutzt würde; ja der Mensch hat diesen Baum mit in
seine Freuden- und Leidenstage hineingezogen. Zu Pfingsten, wenn
der Frühling seinen Triumphzug über den Winter hält, schmückt
man die Stuben mit den Maien des Baumes, nachdem zuvor das
Haus mit Besen von Birkenreisern gekehrt ist. Zum Festmahle
kann die Birke auch Wein auf den Tisch liefern und Zucker in die
Speisen. Beides, den Wein wie den Zucker, spendet der Baum in
dem Safte. Bohrt man zu der Zeit, wo der Winter durch Nacht-
fröste noch zu schaden versucht, ein zwei Zoll tiefes Loch in den
Stamm und steckt in dasselbe eine Röhre, so fließt der Saft in unter-
gesetzte Gefäße und läßt sich dann in Wein und zuckerhaltigen Sirup
verwandeln.
3. In Ländern, welche weit nach Norden liegen, z. B. im nörd-
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lichen Rußland, ist die Birke fast der einzige Waldbaum, welcher
Laub trägt. Dort ist auch die eigentliche Heimat dieses Baumes.
Im Winter und im Sommer bietet er den Bewohnern jener Gegen-
den seine Wohlthaten. Die Dächer der Häuser sind mit Birken-
rinde gedeckt. In den niedrigen Stuben steht ein großer Ösen,
mn welchen ringsherum eine Bank geht. Hier saß den langen
Winter hindurch der Großvater und die Großmutter; sie wärmten
sich an dem mit Birkenholz geheizten Ofen. Wenn aber das Enkel-
chen schrie, dann erfaßte das gebückte Mütterchen einen Strick, der
von der Decke der Stube herabhing und einen von Birkenreisern
geflochtenen Wiegenkorb trug. Das obere Ende des Strickes umschlang
die Spitze eines jungen Birkenstammes, der in wagerechter Richtung
an der "Decke befestigt war. Zog nun das Mütterchen den Strick
abwärts, dann bewegte sich der Korb mit dem Kinde zwischen Decke
und Fußboden auf und nieder. So wiegt die Birke bei diesen Völ-
kern sogar die Kinder groß.
Ist der Vater ein Tischler oder Drechsler, so weiß er aus dem
Holze der Birke, das fester und elastischer ist, als das der Fich-
ten, Linden und Weiden, — Tische, Stühle, Dosen und dergleichen
Sachen zu fertigen. Während er arbeitet, sitzt sein kleinster Sohn
am Boden der Werkstatt und spielt mit den gekräuselten Birken-
spänen, aber die älteren flechten aus dem zähen, lederartigcn Bast
Schuhe, Taschen und Decken. Hat die fleißige Familie ihr Tage-
werk vollbracht und von den birkenen Tellern mit birkenen Löffeln
das Abendessen eingenommen, so legen sie sich zur Ruhe; aber ihre
Betten sind nicht mit Federn gestopft, sondern mit getrockneten Bir-
kenblättern, welche die Kinder im Herbste aus dem Walde holten.
Hat die fleißige Familie der Sachen viele angefertigt, so zieht die
Mutter mit dem Vorrathe in das benachbarte Städtchen zu Markte,
im Winter mit einem Schlitten von Birkenholz, im Sommer mit
einem Wagen von demselben Stoffe. Zu Hause aber zählen die
Kinder Tage und Stunden, bis die Mutter wiederkommt. Das
eine freut sich auf das gelbe Halstuch, das andre auf die rotb-
brauncn Handschuhe, welche die Mutter mitzubringen versprach.
Das wollene Tuch hat der Färber mit einer Abkochung von Birken-
blüttern und Alaun gelb gefärbt; die Handschuhe aber bekommen
ihre Farbe durch Alaun und die Rinde des Baumes. Erkrankt
einmal einer aus der Familie an Gicht und Gliederreißen, so thut
man die im Frühjahr gesammelten Knospen'der Birke in heißes
Wasser und bereitet so dem Kranken ein Bad, das ihm die Schmer-
zen lindert und gewöhnlich auch Heilung verschafft. War aber die
Krankheit zum Tode, so wird dem Geliebten eine Birke aufs Grab
gepflanzt. —
4. In den Wäldern sucht auch das Thier diesen Baum auf. Das
Reh und das Elen lagern sich in seinem Schatten, wenn sie Mit-
tagsruhe halten. Das prächtige Birkhuhn baut sein Nest unter das
schützende Dach seiner Zweige, die den scheuen Vogel mit Nahrung
bewirten, er mag kommen, wann er will. Im Winter reicht der
320
Baum ihm die Knospen, im Sommer die Blüten, im Herbst den
Samen dar. Unter ihrer weißen Rinde läßt die Birke auch das
Würmlein seine Nahrung suchen.
Die Birke wird mit Recht von den Nordländern in Liedern be-
sungen. ♦
13. Sibirien.
Sibirien. der nördliche Theil von Asien, gehört Rußland. Es
umfaßt ein Drittel von Asien und ist größer als Europa; dennoch
aber hat es nur drei Millionen Bewohner, denn es ist größtentheils
ein kaltes, unwirtbares Land. Der Südwesten ist noch am frucht-
barsten; in seinen Flußthälern wird viel Korn gebaut, und auf den
Höhen gibt es Wälder von Tannen, sibirischen Cedern und Ulmen,
der übrige Theil desselben ist aber nur im Frühjahr eine gras- und
kräuterreiche Steppe. Weiter gen Osten liegen die weiten Verzwei-
gungen des Altai mit ihren großen Nadel- und Birkenwäldern,
die aber nach Norden zu nach und nach verkrüppeln. Jenseit des
60. Grades ist gar kein Anbau mehr, und innerhalb des Polar-
kreises breiten sich große mit Moos bedeckte Sümpfe aus, welche
nur im Winter gangbar sind. Den rauhen Nordwinden steht es
offen, aber den erwärmenden Südwinden ist es durch die hohen
Schneegebirge Asiens verschlossen. Der Sommer ist freilich heiß
und bringt Pflanzen und Thiere in Bewegung; aber er ist kurz,
und der lange Wmter mit seinen entsetzlichen Schneeftürmen führt
rasch alles Leben wieder in Nacht und Erstarrung zurück. In solch
einem Lande können auch die vielen und großen Flüsse wenig zur
Befruchtung nützen. Ihr Unterlauf ist ein halbes Jahr zugefroren;
dann staut'das Wasser im Oberlaufe an, tritt aus und bildet eine
Menge natürlicher Kanäle von Fluß zu Fluß. An den Ufern der
Flüsse sind in der Erde große Lager von Thieren, die vor der
Sündflut hier gelebt haben, und daneben große Lager von Wäldern
solcher Bäume, welche jetzt nur in den heißen Ländern wachsen;
alles von den Wassern der Sündflut begraben. — Der Altai ist
reich an Wild, Gold, Silber und anderm Metall. Weiter in der
Mitte und gegen den Norden des Landes beginnt die Jagd nach
den Pelzthieren (Zobeln, Hermelinen, Füchsen und Eichhörnchen); bis
zum äußersten Norden aber folgen den umherschweifenden wilden
Völkern der Hund und das Nennthier.
Die Einwohner Sibiriens sind theils Europäer, die aus Ruß-
land als Beamte oder Kolonisten dorthin gesandt sind, oder als
Verbannte in den Bergwerken bei harter Arbeit ein trostloses Leben
hinzubringen haben; die übrigen aber sind umherschweifende heidnische
Horden, unter denen die Missionare bisher noch nichts ausgerichtet
haben. Städte und Dörfer sind im Süden sparsam zerstreut; auf der
belebtesten Straße von Jrkutzk nach Tomsk sind auf einer Strecke von
210 Meilen nur drei Städtchen.
321
14. Der Hund.
1. Wie kein anderes Thier ist der Hund der Gefährte des
Menschen. Er folgt diesem in die Schneewälder des kalten Nor-
dens, wie in die öden Steppen des heißen Südens; begleitet ihn
in die fruchtbaren Gefilde der Ebenen, wie auf die kahlen Spitzen
hoher Berge; reist mit ihm über den weiten Ocean., und durchstreift
an seiner Seite die dunkeln Urwälder Amerikas. Überall, wo der
Mensch seine Behausung aufgeschlagen hat, ist auch der Hund an-
zutreffen. Er ist der treueste Wächter in Haus und Hof, zeigt den
Dieben und anderem Nachtgesindel seinen scharfen Zahn und ver-
scheucht durch sein Bellen die Gesellen der Finsterniß. Genau kennt
er das Eigenthum seines Herrn, und wehe dem, der es antastet.
Schlimmer noch ergeht es demjenigen, der seinen Herrn selbst anzu-
greifen wagt. Wüthend stürzt sich das treue Thier auf den Angrei-
fer, achtet weder Hieb noch Stich, weder Wunde noch Schmerz; es
ruht nicht, der Feind muß besiegt, sein Herr muß gerettet sein, und
sollte dieser Kampf das Leben kosten. Und bei dem allem ist er
wiederum der geduldigste, vorsichtigste, munterste Gespiele des Kindes.
Er versteht jeden Wink, ja das Augenzucken des Hirten. Auf-
merksam horchend sitzt er zu dessen Füßen, lauscht auf seines Herrn
Befehl, umkreist die Schafherde mit lautem Gebell, zupft hier und
da, doch ohne zu verletzen, ein unfolgsames, unerfahrenes Lämmchen,
das auf sein Bellen nicht hört, und bewacht dann treu und sorg-
fältig die zusammengebrachten Thiere. Er wird in seinem Geschäft
nicht müde und verdrossen; selbst des Nachts, während der Hirte
ruht, bewacht er aufmerksam die ihm anvertraute Herde und schützt
sie vor Dieben und den Angriffen der Raubthiere.
Weder Kälte noch Hitze, weder Hunger noch Durst, weder
Schnee noch Eis, weder Thal noch Höhe achtet er, wenn es gilt,
des Wildes Fährte zu erspüren, den flüchtigen Hirsch zu erreichen,
den im Sumpfe, im Getreidefelde, im Gebüsche versteckten Vogel
aufzuscheuchen. Im schnellsten Laufe, in den flüchtigsten Sprüngen
begriffen braucht er doch nur den Pfiff des Jägers zu hören, und
im Augenblicke steht er an der Seite seines Herrn und erwartet
dessen weitern Befehl.
2. In Sibirien zieht er den Schlitten und vertritt in einigen
Gegenden daselbst sogar die Stelle der Postpferde. Ganz besonders
wichtig ist er als Zugthier für Kamtschatka, diese nordöstliche Halb-
insel Sibiriens, wo die Hunde die einzige Gattung von einheimi-
schen zahmen Thieren ausmachen. Dort sind steile Gebirge und
enge Thäler; dichte, unwegsame Wälder; viele Flüsse; hoher Schnee;
Stürme, welche den Schnee verwehen und gebahnte Wege nicht zu-
lassen: alle diese Umstände würden das Reisen mit Pferden, selbst
wenn sie überflüssig vorhanden wären, im Winter wenigstens verhin-
dern. Die kamtschadalischen Hunde aber laufen leicht über den Schnee
hinweg, ohne einzubrechen. Sie laufen mit solchem Eifer, daß sie sich
oft im Ziehen die Glieder verrenken, und besitzen so viele Kräfte, daß
14**
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vier derselben, die man gewöhnlich vor einen Schlitten spannt, drei
erwachsene Menschen nebst anderthalb Pud (60 Pfund) Gepäck mit
Leichtigkeit fortziehen. Die gewöhnliche Ladung aus vier Hunde be-
trägt fünf bis sechs Pud, und damit legen sie bei schlechtem Wetter
30 bis 40, bei gutem aber 80 bis 100 Werste täglich zurück, deren
7 eine deutsche Meile machen. Die Liebhaberei für Hunde ist dort
so groß, wie anderswo für Pferde, und nicht selten wendet man
beträchtliche Summen auf den Ankauf derselben und auf die Schön-
heit ihres Geschirres. Außer dem Vortheil, daß man mit ihnen in
den unwegsamsten Gegenden und über den tiefsten Schnee fortkom-
men kann, sind sie auch treffliche Wegweiser, die in der größten
Dunkelheit und bei dem fürchterlichsten "Schneegestöber das Ziel der
Fahrt zu finden wissen. Wird der Sturm so heftig, daß man liegen
bleiben muß, wie dies nicht selten geschieht, so legen sich die Hunde
neben ihren Herrn und schützen ihn durch ihre Körperwärme gegen
das Erfrieren. Auch geben sie sichere Anzeige von bevorstehenden
Stürmen, indem sie Höhlen in den Schnee graben und sich darin zu
verbergen suchen.
3. Bon den vielen Krankheiten, welchen der Hund unterworfen
ist, ist die Tollwuth die gefährlichste. Sie entsteht besonders dadurch,
daß man ihn zu lange dursten läßt, oder daß man ihn einem schnel-
len Wechsel von Hitze und Kälte aussetzt. Ein Hund, der von der
Tollwuth befallen ist, sucht die Einsamkeit, sieht traurig aus, bellt
nur sehr abgebrochen, fast heulend, scheut alles Glänzende, besonders
das Wasser, läßt Schwanz und Ohren hangen und streckt die blei-
farbene Zunge weit heraus. Er kennt seinen Herrn nicht mehr,
schnappt wohl gar nach ihm, läuft bald schnell, bald langsam und
taumelnd und wird von allen Hunden gemieden. Ein von seinem
Biß verletzter Mensch ist verloren, wenn nicht schnell Hülfe geschafft
wird. Bis der Arzt kommt, reinige man die Wunde und sorge da-
für, daß die Blutung sortdaure. Um die Wunde zu reinigen, thue
man Salz in warmes Wasser, oder nehme Essig, und wasche damit
die Wunde fleißig aus; will das Bluten aufhören, so mache man,
wenn es möglich ist, kleine Einschnitte in die Wunde, oder lasse
Schröpfköpfe oder Blutegel auf dieselbe setzen.
4. Hinsichtlich der Größe, Gestalt und Farbe der Hunde herrscht
die größte Verschiedenheit. Der gelehrigste und gutmüthigste unter
allen ist der Pudel mit den breiten, hangenden Ohren und den krau-
sen, fast wolligen Haaren. Auch der Spitz kann zu mancherlei Kün-
sten abgerichtet werden; wegen seiner Wachsamkeit und Treue haben
ihn oft die Fuhrleute auf ihren Wagen. Der Dachshund oder
Teckel mit seinen kurzen, krummen Beinen und langen, hangenden
Ohren geht in den Bau der Füchse und Dachse, um dieselben her-
auszutreiben. Der niagere Windhund mit langer, spitzer Schnauze,
kleinen Ohren, schlankem, kurzhaarigem Körper aus dünnen, hohen
Beinen ist eins der schnellsten Thiere. Der Jagd- und der Hühner-
hund sind die treuen Begleiter des Jägers. Der neufundländische
Hund ist groß und stark, hat lange, seidenartige, graue und schwarze
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Haare und eine kleine Schwimmhaut zwischen den Zehen; durch
diese wird er geschickt zur Wasserjagd und zur Rettung von Menschen,
die ins Wasser gefallen sind. Der Schäferhund hat aufrechtstehende
Ohren und steife Haare.
15. Indien.
1. Än der Nordgrenze von Indien liegt das höchste Gebirge
der Erde. Sein Name istHimalaya, d. h. Heimat des Schnees.
An seinem Südfuße breitet sich ein langer ununterbrochener Wald
aus, der in der nassen Jahreszeit sumpfig wird. In diesem hausen
zahlreiche Herden von Elefanten und Nashörnern, welche oft in die
Reisfelder einbrechen und sie verheeren. Auch Füchse Eber, Bären
und anderes Wild lebt hier in Menge. Der Abhang des Gebirges
hat ebenfalls dichte Waldungen von Kastanien, Walnußbüumen, Lor-
beeren, Birken und Nadelhölzern.nebst vielen einheimischen Bäumen
mit köstlich duftenden Rinden, Ölen und den schönsten Holzarten;
alle Laubwälder sind von Papageien nud Singvögeln belebt. Die
Thäler sind schön und fruchtbar, stark bevölkert und gut bebaut,
meist mit Reis und Baumwolle, aber auch mit Korn, Mais,
Zuckerrohr und Reben. Mehrere 1000 Fuß hoch liegen noch Städw.
Auf den höchsten grünen Halden finden sich noch der Wachholder-
strauch, die indische Birke, Alpenrosen und viele Bergkräuter; hier
leben das Moschusthier und das wilde Schaf, und Rebhühner und
Fasanen brüten bis nahe unter die Schneegrenze. Viel höher noch,
als das Pflanzenleben geht, türmen sich die majestätischen silber-
reinen Schneegipfel empor, und zwischen ihnen liegen die ungeheuern
Gletscher und Schneefelder, aus denen die indischen Flüsse kommen;
im Sommer wälzen sich gewaltige Lawinen von ihnen herab. Der
Himmel ist hier meist rein, tief schwarzblau, und die Sterne leuchten
nachts im hellsten Glanze.
Dom Himalaya kommen zwei große Flüsse: der Indus an
der Westgrenze Indiens und der Ganges. Jener fließt mit feinem
Oberlaufe durch das überaus liebliche Gebirgsland Kaschmir, wo-
hin die Sage vieler Völker das Paradies verlegt hat. Später aber
geht er durch ein sandiges, baumloses, dürres und an der Mündung
ungesundes Land. Der Ganges gilt bei den Indem für heilig
und das Baden in seinen Fluten für sündentilgend An seinen
Ufern liegt Benares mit seinen vielen Götzentempeln; die Inder
wallfahrten vielfältig zu dieser Stadt. Der untere Theil der Ganaes-
ebene ist das schwüle Bengalen. Die ganze Ebene ist ein sehr
fruchtbares Land, in dem viel Reis gebaut wird; das Mündunasland
des Ganges aber ist feucht und ungesund, die Heimat der Cholera.
Da liegt Kalkutta, eine große Handelsstadt.
2. Auf der Halbinsel Vorderindien erhebt sich wiederum ein weites
Gebirgsland, auf welchem reizende Hügel mit Waldungen immer-
grüner^ Bäume und wasserreiche Thäler mit wüden Rosen und Jas-
min mit einander wechseln; über dem allem ist eine kühle, trockene Lust.
Ein ewiger Frühling herrscht in diesem gesegneten Erdstriche, zu
324
dem aus den heißen Ebenen in der Sommerzeit die Europäer auf-
steigen, um den tödtlichen Krankheiten Indiens zu entgehen. West-
lich von diesem Gebirgskunde liegt die fruchtbare Küste Malabar
mit de? Stadt Bombay, und östlich die breite sanddürre Küste
Koromandelmit der Stadt Madras. Die regelmäßigen Winde,
welche dm ganzen Sommer hindurch über das indische Meer aus
Südwesten kommen, bringen oft furchtbare Regengüsse auf die West-
küste,^ welche daher einen großen Reichthum an allerlei köstlichen Ge-
wächsen hat; die Ostküste dagegen hat wenig Regen.
Vor der Südspitze liegt die an allerlei schönen Gaben Gottes
reiche Berginsel Ceylo n.
3. Indien ist ein wunderreiches Land. Wo die Luft feucht
S ist, wie z. V. auf Malabar, winken dem Wanderer aus der
stundenlange dunkle Wälder von Kokuspalmen, deren schlanker
Stamm bis 100 Fuß hoch wird, und die eine Krone von langen,
breiten Blättern haben; der Kern und die Milch der Nuß, die Blätter
und die Fasern, alles ist brauchbar. In den trockenen Gegenden
wächst die aus Arabien eingeführte Dattelpalme. Die Sagopalme
und der Brotbaum gewähren reichliche Nahrungsmittel. Muskat-
nüsse, Zimmt, Gewürznelken, Pfeffer, auch Thee und Zucker kommen
aus Indien. Der Reis gewährt eine zwei- bis viermalige Ernte.
Man findet Gräser, deren Halme an 50 Fuß hoch werden (Bambus).
Der Ebenholzbaum Indiens war schon bei den Alten berühmt. —
Reich ist auch die Thierwelt. In den Flüssen lauern Krokodile; in
den Büschen schleichen giftige Schlangen; in den Wäldern hausen
Löwen, Tiger, Panther, Elefanten, Nashörner und eine Menge pracht-
voll gefärbter Bögel. — Die Erde birgt Gold, Diamanten und
andre Edelsteine, und bei Ceylon werden Perlen gefunden.
Die eingebornen Einwohner dieses schönen Landes aber führen
meist ein elendes Leben. Sie find Heiden und ihre Hülfe die
stunimen Götzen. Nun mühen sie fich mit allerlei selbsterfundenem
Götzendienst und mit Quälereien ihrer Leiber ab, um Ruhe für ihre
Seelen zu finden, und ist doch alles umsonst. Dazu kommt aller-
lei Plage und Noth von außen; ihr Land ist in den Händen von
Engländern, welche von dem Gut und der sauern Arbeit der Inder
reich werden wollen. So sind fie durch eigne und fremde Schuld
geistlich und leiblich verkommen, dennoch aber immer noch ein Volk
mit reichen Anlagen. 1705 wurden von Dänemark aus die ersten
lutherischen Missionare zu ihnen gesandt; sie hießen Ziegenbalg
und Plütschau; später zog der treue Schwarz zu ihnen und außer
diesem noch mehrere, und viele Heiden bekehrten sich. Heutzutage
werden vom Leipziger Missionshause fortwährend neue lutherische
Missionare dorthin gesandt. Auch aus andern Ländern, besonders
aus England sind viele Missionare dorthin gezogen, so daß auf 150
Stationen das Evangelium gepredigt wird. Aber noch immer sind es
aus den vielen Millionen erst wenige, die sich bekehrt haben, und
außer den Heiden wohnen viele Muhamedaner da, die noch schwerer
den Eingang in das Reich Gottes finden.
325
16. Der Elefant.
1. Äer Elefant lebt in den heißen Ländern Asiens und Afrikas.
Er ist das größte Landthier; der asiatische wird 14 bis 15 Fuß hoch.
Um einen so schweren Körper zu tragen, bedarf es starker Beine.
Der Hals ist kurz und steif, und das Maul liegt so tief im untern
Theile des Kopfes, daß es ein Theil der Brust zu sein scheint. Da
würde er sich vergebens anstrengen, sein Futter zu ergreifen, wenn
ihm nicht der Rüssel zu Hülfe käme. Dieser ist 6 bis 7 Fuß lang
und kann bis auf 2 Fuß eingezogen werden; er erscheint wie eine
Verlängerung der Nase. Mit dem Rüssel nimmt er seine Speise
zu sich, saugt Wasser auf und spritzt es ins Maul. Er besitzt in
diesem Gliede eine solche Stärke, daß er mit einem Schlage des-
selben den stärksten Tiger zu Boden legt, und daneben kann er mit
demselben Geld vom Boden aufheben, Knoten lösen, Gefäße tragen
u. dgl. m. Zu beiden Seiten des Rüssels stehen zwei große Zähne
hervor; sie geben das schöne Elfenbein. Jeder ist bis 9 Fuß lang
und wiegt an 150 Pfund. Ist er gereizt, so gebraucht er sie als
Waffe.
Zum Aufenthaltsorte nimmt der Elefant der Wildniß am lieb-
sten schattige Thäler, feuchte Gegenden und die Nachbarschaft von
Seen und Flüssen; denn große Hitze ist ihm eben so beschwerlich
wie große Kälte, und Feuchtigkeit ist ihm nöthig, um seine trockne
Haut zu netzen, die sonst leicht rissig wird. Daher begießt er sich
auch gern mit seinem Rüssel. Er lebt in großen Herden in den Wäl-
dern, und verläßt diese nur, um die Reisfelder abzuweiden. Außer
Reis frißt er auch Datteln, Gras und Laub. Sein großer Magen
faßt wohl 100 Pfund Reis auf einmal.
2. Gezähmt leistet er dem Menschen allerlei Dienste. Wegen
seiner hohen Beine kommt er ungeachtet seiner Schwere rasch vor-
wärts, und sein gewöhnlicher Gang gleicht dem Trabe des Pferdes;
daher wird er zum Reiten gebraucht. Er trägt mit Leichtigkeit 28
Menschen auf einem Tragsessel, den man ihm auf den Rücken legt.
Auch als Zugthier wird er gebraucht; einen Vierundzwanzigpfünder,
den 6 Pferde kaum fortbringen, zieht er ohne Mühe. Er trägt
Lasten und hilft sie sich selber mit seinem Rüssel aufladen. Tonnen.
Säcke und Ballen trägt er nicht bloß auf dem Rücken, sondern auch
mit den Hauern und selbst mit den Zähnen. Dabei ist er so be-
hutsam, daß er nie beschädigt, was man ihm anvertraut hat. Sind
viele Sachen aufeinander zu legen, so untersucht er mit dem Rüssel
die unten liegenden, ob sie auch fest liegen. Vom Ufer schafft er große
Tasten ins Boot, ohne sie naß werden zu lassen, und legt sie sanft und
ordentlich nieder. Auch bei Jagden auf wilde Thiere gebraucht man
ihn; die Jäger setzen sich auf seinen Rücken. Ehemals wurde er in
Kriegen gebraucht; dann setzten sich Soldaten in einen Kasten, den er
auf dem Rücken trug. —
Seinem Wärter ist er gehorsam und liebkost ihn. Neckereien
kann er aber nicht ertragen; sie bringen ihn in Wuth, und dann ist er
326
gefährlich; ja auch ohne daß er geneckt worden wäre, geräth er zu-
weilen in Wuth.
„ 17. Die Kokuspalme.
Äberall in der Südsee und in den indischen Gewässern, wo
die Kokuspalme vorkommt, begrüßt sie in mehr oder weniger großen
Massen schon in weiter Ferne die herannahenden Reisenden;
wie Wölkchen erscheinen ihnen über dem flachen Küstenlande die
Wipfel der Kokuspalme, die in der Luft zu schweben scheinen, weil
man den schlanken, dünnen Stamm, der eine Höhe von '50 bis 100
Fuß hat, aus der Ferne nicht sehen kann. In Ostindien liegen in
den ausgedehnten Kokuswaldungen ganze Ortschaften. Der Segen,
den^ Gottes Güte in diesen einzelnen Baum gelegt hat, ist sehr
groß. Der ganze Stamm ist blattlos und nackt; er zeigt nur die
Narben der abgefallenen Blätter; aber oben trägt er eine breite
Krone von ungefähr 12 Blättern, deren jedes 12 bis 14 Fuß lang
und 2 bis 3 Fuß breit ist und wie eine ungeheuer große Feder
aussieht; zwischen den schattigen Schirmblättern sitzen die Blüten,
hangen die großen Nüsse in Form einer Traube. Es hangen ihrer
oft bis 300 auf einem Baume, von denen etliche reif und hart,
andere halb reif sind, während die übrigen erst zu wachsen an-
fangen. Jede ist so groß wie ein Kopf und von eirunder Form;
sie umschließt die Kokusmilch, welche für die Eingebornen bei der
großen Hitze ein erquickender Labetrunk ist. Später verwandelt sich
der Saft in einen Kern der hart ist und mandelartig schmeckt; daraus
bereitet man das Kokusöl, das z. B. bei der Seifenbereitung ge-
braucht werd. Die Schale ist so hart, daß man sie aussägen muß;
von den wilden Völkerstämmen wird sie als Trinkgeschirr gebraucht.
Die Blätter verwendet man zum Dachdecken, wie bei uns das
Stroh, ferner als Sonnenschirme, zu Flechtwerk, zu Körben, ja sogar
als Papier zum Schreiben mit eisernen Griffeln. Das Laub ist das
Hauptfutter der zahmen Elefanten. Aus den Fasern der Rinde,
wie der äußern Nußschale, macht man Stricke und Tauwerk, beson-
ders Ankertaue, da sie dem Hanfe an Festigkeit und Dauer gleich,
aber weit dehnbarer (elastischer) sind; daher sie in den plötzlichen
Stürmen des indischen Meeres mehr nachgeben und weniger reißen.
Die hohlen Baumstämme dienen zu Wasserrinnen; aus den Wur-
zeln flicht man Körbe und Wannen; das Netzgewebe an jeder Blatt-
wurzel wird zu Kinderwiegen und Packleinwand verbraucht. Die
Stämme verwendet man sonst noch zu Balken, Latten und Masten.
— Um so vieler und großer Segnungen willen wird der Baum
sehr geschätzt; bei der Geburt eines Kindes in Ceylon wird ein
Kokus gepflanzt. So ist dieser Baum in der Pflanzenwelt für die
Küsten und Inseln der heißen Zone ein eben so lauter Zeuge der gött-
lichen Güte. wie das Kameel in der Thierwelt für die Wüsten und
Oasen Afrikas und Asiens.
327
18. China und Japan.
China ist ein sehr großes Reich, größer als Europa, und von
300 Millionen Menschen bewohnt. Durch seine Mitte geht eine breite
Sandwüste; sonst ist es voller Gebirge, und an den Küsten sind
Ebenen. Die Flüsse des Landes sind durch zahlreiche Kanäle ver-
bunden. Die Gegenden an den Flüssen sind sehr fruchtbar, aber
übervölkert; daher ist jeder Fleck Landes angebaut. Besonders viel
Reis und Thee wird gebaut und mit dem letzten ein lebhafter Handel
getrieben. Die größte Stadt, Peking, hat zwei Millionen Ein-
wohner, Nanking und Kanton haben jede eine Million.
Die Chinesen sind ein geschicktes Bolk; seit Iahrtaufenden kennen
und benutzen sie die Erfindung des Porzellans, der Buchdruckerkunst
und des Kompasses. Aber trotz ihrer Geschicklichkeit und Gewerb-
thätigkeit sind sie jämmerlich verkommen. Aller Sinn für das Ewige
ist bei ihnen abgestumpft; ihr Sinnen und Denken ist auf irdischen
Genuß gerichtet, und die verworfensten Laster sind bei ihnen zu
Hause. Dabei sind sie aber sehr hochmüthig und mit sich selbst zu-
frieden; sie halten sich für fromme Leute und sind ihrer Meinung
nach klüger als alle andern Völker. Ihr Kaiser nennt sich den Sohn
des Himmels und ist in ihren Augen der Herr der Welt. Seit fast
30 Jahren ist es Missionaren gelungen, ins Land zu dringen, während
sonst kein Fremder hinein durfte; aber die Missionspredigt hat noch so
gut wie gar keine Frucht geschafft.
Noch stärker gegen fremde Völker hatte sich Japan früher abge-
schlossen. Das Innere dieses Insellandes ist von hohen Gebirgen mit
vielen Vulkanen durchzogen. Das Land ist fruchtbar und wohl be-
baut, von Städten und Dörfern überfüllt. Besonders viel Thee wird
gebaut, und in der Erde lagern kostbare Metalle. Das Evangelium
hat hier noch gar nicht Eingang gefunden. Römischen Mission-aren
war es vor 300 Jahren gelungen, fast die Hälfte der Einwohner
zu Christen zu machen; nach 50 Jahren aber brach eine grausame
Christenverfolgung aus, wodurch das Christenthum gänzlich aus-
gerottet wurde.
19. Afrika.
Äfrika ist von ganz anderer Beschaffenheit als Europa. Dieses
hat eine große Anzahl kleinerer und größerer Halbinseln, Meerbusen
und Inseln, weshalb von seinen Küsten und Inseln aus durch bie
Schiffahrt viel Verkehr mit andern Erdtheilen gepflogen werden kann.
Jenes dagegen hat ganz einförmig gestaltete Küsten, da die Meere
nirgend tiefer ins Land hineindringen; auch seiner Inseln sind
wenige. Europa hat einen großen Wechsel in seiner Bodengestalt:
Hoch- und Tiefland, Gebirge und Thäler liegen durch einander ge-
mischt. Afrikas Boden dagegen ist einförmig gestaltet: im Norden
liegt ein großes Gebirgsland, der Atlas mit seinen Verzweigun-
gen; südlich davon ist die weite Wüste, und von dieser südlich ww-
der ein ungeheures, zusammenhangendes Gebirgsland. Europa hat
328
eine große Anzahl von Flühen, welche nach allen Himmelsgegenden
fließen (nur nach Osten nicht) und als weit in die Länder drin-
gende Wasseradern Leben schaffen und die Völker mit einander in
Verkehr bringen. Afrika dagegen hat nur zwei größere Flüsse, auf
denen man weiter in den Erdtheil eindringen kann: den Nil, der
gen Norden fließt, und den Niger an seiner Westküste. Europas
Südländer liegen unter einem warmen Himmelsstrich; seine mitt-
leren Länder haben gemäßigtes Klima mit regelmäßigem Wechsel
aller vier Jahreszeiten; nur seine nördlichsten Gegenden sind vor-
herrschend kalt. Afrika hat durchweg ein sehr heißes Klima; die
Sonnenstrahlen fallen den Leuten fast gerade auf den Kopf. An
dem Nordsaume und auf der Südspitze treten auch Frühling und
Herbst auf, sind aber sehr kurz; bei weitem der größte Theil des
Erdtheils aber hat nur zwei Jahreszeiten, nemlich einen fast zehn-
monatlichen trocknen Sommer, mit ganz wolkenlosem Himmel, wo
auf die glühende Tageshitze empfindlich kalte Nächte folgen, und
eine zwei- bis dreimonatliche Regenzeit. Diese tritt mit dem höch-
sten Stande der Sonne ein. Da ist dann morgens die Luft klar;
von 10 Uhr bis weit in den Nachmittag hinein strömt der Regen
hernieder, und beim Untergang der Sonne ist der Himmel wieder
klar und bleibt es während der Nacht. In der Regenzeit schwellen die
Flüsse erstaunlich an und steigen über ihre Ufer. Die Regenzeit ist
ungesund; doch bringt sie einen prachtvollen Pflanzenwuchs zuwege,
der aber bald wieder der ausdörrenden Hitze erliegt.
Alle diese Umstände machen Afrika schwer zugänglich; daher ist
der größte Theil desselben noch unbekannt. Schon die Alten sagten
sprichwörtlich: „Aus Afrika kommt immer wieder Neues." Die
meisten Reisenden, welche den Erdtheil haben erforschen wollen, sind
vom Klima getödtet und andere von den Eingebornen; die wenigsten
haben ihr Vaterland wieder gesehen.
Große Wälder fehlen in Afrika; doch ist in gut bewässerten
Thälern ein reicher Pflanzenwuchs. Wein, Südfrüchte, Mais, Durra,
Weizen, Gerste gedeihen; besonders aber wachsen in Afrika Palmen,
Gummibäume, Ebenholz, Gewürze und Baumwolle. An Thieren
leben hier die gewaltigsten und wildesten: Löwen, Elefanten, Nas-
hörner, Nilpferde, Hyänen, Affen, Gazellen, Kameele, viele prächtige
Vögel, aber auch Schlangen. Auch werden alle Arten europäischer
Hausthiere gehalten. In manchen Gebirgen steckt viel Gold; auch
anderes Metall gibt es viel, und an der Nordküste sind auch Dia-
manten zu finden.
Ungeachtet Afrika dreimal so groß ist als Europa, hat es
doch nur 150 Millionen Einwohner, während Europa noch hundert
Millionen mehr hat. Im Norden wohnen die hellfarbigen Berbern;
das große südliche Hochland aber ist die Heimat der Neger. Die
Neger sind genußsüchtig und leben nur für heute; was gestern oder
zu ihrer Väter Zeit gewesen ist, kümmert sie nicht, und was morgen
sein wird, auch nicht. Sie stammen von Ham ab, und der Fluch
Noahs hat sich an vielen tausend Negern erfüllt, die von den ge-
329
wissenlosen, unmenschlichen europäischen Sklavenhändlern gefangen
oder gekauft und dann nach Amerika verkauft worden sind, wo andere
Namenchriften durch der Negersklaven saure Arbeit sich zu bereichern
suchen. Mancher aber hat in der Knechtschaft die rechte Freiheit, mit
welcher Christus frei macht, gefunden. — Im Süden wohnen die
Hottentotten und die Koffern und an der Ost- und Nordküste meist
Muhamedaner; an allen Küsten aber finden sich Niederlassungen von
Europäern.
1. Die Nord lüfte. An der Nordküste Afrikas liegt der
Atlas. Er ist reich an Abgründen, hohen Felsen und luftigen Fels-
zacken, aber arm an Wald. Seine Gewässer sind klein und trocknen im
Sommer meist aus. In seinen Schluchten Hausen Löwen und Panther,
und auf den schönen Weideplätzen seiner Thäler gedeihen die europä-
ischen Hausthiere. An. Dattel- und Ölbäumen ist kein Mangel; auch
wird viel Getreide, Südfrüchte, europäisches Obst, Wein, Zuckerrohr
und Baumwolle gebaut. Er ist reich an Erzen; auch- Edelsteine wer-
den gefunden. — Fast der ganze Küstenstrich ist fruchtbar und in
Klima und Pflanzenwuchs Südeuropa ähnlich.
Lange vor Christi Geburt schon blühten hier große Handels-
städte, unter ihnen Karthago. Frühzeitig verbreitete sich das Christen-
thum; Augustin war Bischof einer afrikanischen Gemeinde. Ein
Jahrhundert lang herrschte hier auch einmal ein deutscher Stamm, die
Vandalen, welche aus Spanien herübergekommen waren. Im sieb-
ten Jahrhundert wurde die ganze Küste' von Anhängern des falschen
Propheten, den Arabern, erobert, und die Christengemeinden wurden
zertreten. Später bildeten sich hier Seeräuberstaaten in Tunis,
Tripolis, Fez und Marocko. Sie schleppten viele Christen in die
Sklaverei und in das Gefängniß und mißhandelten sie bis zum
Tode. Jetzt ist ihre Gewalt durch Frankreich gebrochen, welches sich
das Land Algier unterworfen hat.
2. Die Sahara. Die größte und furchtbarste Wüste der Erde
ist die Sahara, d. i. Wüste, % so groß wie ganz Europa. Sie gehört
zu den heißesten Erdstrichen; die Sonnenstrahlen verursachen auf dem
nackten Sandboden eine ungeheure Hitze, die nie, weder durch Regen
noch durch Thau, gekühlt wird; des Nachts aber wird es so kalt, daß
auf den höheren Strichen das Wasser in Gefäßen wohl zu Eis gefriert.
Die östliche Hälfte ist entweder nackter oder mit Steingeröll bedeckter
Felsboden und gleicht einer festen, mit feinem Sand bedeckten Tenne.
Die westliche Hälfte hat meist sehr tiefen lockeren Flugsand und viel
Steinsalz.
Die Araber nennen die Wüste das Meer ohne Wasser. Das
Schiff der Wüste ist das genügsame Kameel. Sie hat auch ihre
Inseln, das sind die Oasen, grüne, quellenreiche, mit Dattelpalmen,
Getreide, Öbst und Wein bewachsene Orte,' gewöhnlich Thäler,
die ringsum von Anhöhen umschlossen sind, welche den Wüstensand
abhalten. Sie sind die Ruheplätze der Karawanen, welche sich dort
von der ermüdenden Wanderung erholen und aufs neue mit Wasser
versehen. Heftige Sandstürme setzen oft die Sandmaffen gleich
330
Meereswogen in Bewegung; die ganze Lust ist dann so von Staub-
Wolken erfüllt, daß man nicht zwei Schritt weit sehen kann, daß
man das Angesicht verhüllen, vom Kameele steigen und sich zur Erde
bücken muß. Furchtbare Hitze und glühender Durst quälen dann
Menschen und Thiere. Ost verschüttet der Sturm ganze Züge; der
Wanderer sieht Gebeine von Menschen und Thieren im Sande bleichen,
die ihn an das traurige Los erinnern, welches jeden treffen kann, der
durch die Wüste wandert.
In der Wüste selber leben nur Strauße und Antilopenherden;
andre Thiere finden sich erst an den grünen Nord- und Südrändern
der Wüste. Die Bewohner der Wüste nennen sich Saharazin, d. i.
Kinder der Wüste. Viehzucht und Raub sind ihre Nahrungsquellen;
ihre Wohnung ist ein Zelt oder eine Lehmhütte.,,
3. Abyssinien. Wenn man von Ägypten den Nil auf-
wärts reist, so kommt man nach Nubien und von da nach Abyssinien,
welche Länder in der heiligen Schrift das Mohrenland genannt
werden. Daher war der Kämmerer, Apostelg. 8. Er wird in sei-
nem Vaterlande nicht verschwiegen haben, was er auf dem Wege
von Jerusalem nach Gaza gefunden hatte. Einige Jahrhunderte
später verkündigten zwei gefangene ägyptische Christen in Abyssinien
das Evangelium, und seitdem hat dort ein christliches Reich bestan-
den. Noch heute ist die alte Bibel vorhanden, wird aber nur von
wenigen verstanden, wie überhaupt die christliche Erkenntniß der
Einwohner gering ist; ihr Gottesdienst besteht fast nur aus äußeren
Gebräuchen. 1826 wurde von Basel aus der Missionar Gobat
dorthin gesandt, welcher ihnen zu einer lebendigeren Erkenntniß verhel-
fen sollte. Er predigte ihnen das Wort Gottes einfach, und das Volk
hörte ihm gern zu. Nach ihm setzten zwar andere das Werk fort; aber
der Groll der Priester verursachte, daß den Missionaren das Predigen
verboten wurde.
Abyssinien ist ein weidereiches Gebirgsland; wegen seiner hohen
Lage ist die Luft angenehm, obwohl es in dem heißen Erdgürtel liegt.
Die Einwohner sind dunkelfarbig. Immer unter freiem Himmel lebend
und von der Bergluft gestärkt, sind sie von kräftigem Leibe. In ihren
ärmlichen Häusern leben Menschen und Thiere bunt durcheinander.
Sie treiben viel Viehzucht und Äckerbau; man erntet dreimal im Jahre.
Der Kaffeebaum gedeiht hier gut. — Seit 70 Jahren sind von Sü-
den her die Gallaneger in das Land gedrungen und haben sich die
eingebogen Fürsten meist unterworfen.
4. Das Cap land. Die Südspitze Afrikas heißt das Cap
der guten Hoffnung; von ihm hat die Südgegend den Namen Cap-
land bekommen. An der Küste liegt die Capftadt, welche von
den Holländern angelegt ist; jetzt aber gehört sie, wie das ganze
Capland, den Engländern. Es ist dort auch eine Gemeinde deut-
scher Lutheraner, deren Prediger von Hannover gesandt wird. In
der Stadt ist ein Zusammenfluß von Menschen aus allen Zungen,
da sie zum Handel sehr günstig gelegen ist. — Die Küstenebene des
Caplandes ist recht fruchtbar; daher wird viel Getreide gebaut.
331
Hat man die Randgebirge überstiegen, so kommt man in eine weite
Ebene, 100 Stunden lang und 20 bis 30 Stunden breit. Im
Sommer ist ihr Thonboden ausgedörrt. Nur in den Rinnen der
Flüsse, die aber auch endlich austrocknen, bleibt noch einiges Grün;
sonst sieht alles aus wie eine Wüste. Sobald aber die Regenzeit ein-
tritt, wird die Ebene voll des frischesten Grases und der schönsten
Blumen. Dann kommen Giraffen und Antilopen von den Gebirgen
und durchwandern sie; die Colonisten führen ihre Schafe und Rin-
der auf die Weide. Nach etlichen Wochen aber welken Gras und Blü-
ten; die Flüsse beginnen auszutrocknen und die Quellen zu versiegen;
die Herden werden wieder in ihre höhere, kühlere Heimat getrieben.
Der Boden springt mit tiefen Rissen auf, und ein dunkler Staub be-
deckt ihn.
Die ursprünglichen Bewohner des Caplandes sind die Koffern
und Hottentotten. Sie haben vor den Colonisten nach dem Norden
zurückweichen müssen; die Kaffern wohnen an der Ostküste. Seit
längerer Zeit predigen evangelische Missionare ihnen das Evangelium;
in etwa 80 Msssionsstationen erbeben sich Kirchen und Schulen.
Wüsteneien werden urbar gemacht, Gärten angelegt, die Felder sorgfäl-
tig bestellt, Häuser gebaut und die Bewohner an christliche Zucht und
Sitte gewöhnt.
Auch auf der waldigen Gebirgsinsel Madagaskar ist das
Evangelium schon verkündigt worden; aber die wilde Wuth der Hei-
den hat die Christen auf alle erdenkliche Weise zu Tode gemartert.
Wenige haben sich in die Schluchten und Einöden geflüchtet und har-
ren des Tages, da der Morgenstern wieder über Madagaskar erglän-
zen wird.
20. Der Löwe.
1. Ü^er Löwe wird wegen seiner Kraft, seines Muthes und
seines prächtigen Gliederbaues der König der Thiere genannt. Seine
Farbe ist gelb. Die Brust ist breit; die Gliedmaßen sind kräftig.
Der Schwanz endigt sich in einen dicken Haarbüschel. Der männ-
liche Löwe hat vom vierten Jahre an eine Mähne, die Kopf, Hals
und Schultern bedeckt; im Zorn sträubt und schüttelt er sie gewal-
tig. Der Kopf des Löwen ist groß, das Gesicht beinahe viereckig,
der Hals stark und die Zunge so stachelig, daß er damit verwun-
den kann. Man sieht ihm Ernst, Stolz, Kühnheit und Kraftgefühl
an; seine Bewegungen sind kraftvoll, leicht und behende, und wenn
er seme Stimme erhebt, so erschrecken die Thiere weit und breit.
Er besitzt eine solche Stärke, daß er einen Ochsen im Maule fort-
trägt und mit einem Schlage seiner Tatze einen Menschen zu Boden
schlagen kann. Sein Gang ist langsam; oberer kann weite Sprünge
machen. Er fällt besonders Rinder, Pferde, Hirsche, Gazellen,
Schafe, wilde Schweine an; an den Menschen wagt er sich in der
Regel nur, wenn er gereizt wird, oder wenn ihn heftiger Hunger
quält. Ehe er angreift, legt er sich in einer Entfernung von 10 öis
12 Fuß nieder, um sich zum Sprunge vorzubereiten; diesen Augen-
332
blick Pflegt der Jäger zu benutzen, ihn auf den Kopf zu schießen.
Entfliehen kann man ihm nicht; denn er läuft so schnell, daß er den
besten Reiter einholt. Läßt er sich mit dem Elefanten, dem Nas-
horn, dem Flußpferde und dem Tiger in einen Kampf ein, so ver-
liert er den Sieg oft. Gewöhnlich geht er des Nachts, wo er fast
besser steht als bei Tage, auf Raub aus. Die Araber verscheuchen
ihn dann von ihren Herden durch Feuer und Schüsse. — Zu seinem
Aufenthalte wählt er gern Ebenen, Thäler und Hügelland, wo es
Buschwerk gibt; auch in baumlosen Steppen findet man ihn, aber nie
in hohen Gebirgen.
Es wird dem Löwen Dankbarkeit nachgerühmt. In der Ge-
schichte der Kreuzzüge liest man, daß ein Ritter einen Löwen von
einer Schlange befreite, die diesen sicher erwürgt haben würde. Der
Löwe begleitete seinen Retter, folgte ihm allenthalben wie ein Hund
nach und zeigte seine Wildheit nur auf Befehl des Ritters. Als
dieser später seine Rückreise nach Europa antrat, wollte kein Schiff
den Löwen mit aufnehmen. Dieser, da er stch von seinem gelieb-
ten Herrn getrennt sah, fing erst'fürchterlich zu brüllen an; dann
stürzte er stch ins Wasser und schwamm dem Schiffe nach. Endlich
verließen ihn seine Kräfte, und er sank unter. — Die Sage erzählt,
daß Herzog Heinrich der Löwe im heiligen Lande einen Löwen im
Kampf mit einer Schlange getroffen habe; er rettete den Löwen,
und dieser begleitete ihn fortan wie ein treuer Hund. Davon fingt ein
Dichter also: '
1. Im Dom zu Vraunschweig ruhet
Der alte Welfe aus;
Heinrich der Löwe ruhet
Nach manchem harten Strauß.
2. Es liegt auf Heinrichs Grabe
Gleichwie auf einem Schild
Ein treuer Todtcnwächter —
Des Löwen ehernes Bild.
3. Der Löwe konnt nicht weichen
Von seines Herzogs Seit,
Von ihm, der aus den Krallen
Des Lindwurms ihn befreit.
4. Sie zogen mit einander
Durch Syriens öden Sand;
Sie zogen mit einander
Nach Braunschweig in das Land.
2. Vormals, als es in den Colonieen am Cap noch mehr
Löwen gab als jetzt, stellte man öfter große gemeinschaftliche Jagden
auf Löwen an. Jetzt geht man selten anders als selbander auf
die Löwenjaad, und recht gute Schützen, die ihres Schusses gewiß
sind und sich darauf verlassen können, daß ihr Gewehr nicht ver-
5. Wo auch der Welse wandelt,
Der Löwe ziehet mit.
Zieht mit ihm wie sein Schatten
Auf jedem Schritt und Tritt.
6. Doch als des Herzogs Auge
In Todesnöthen brach.
Der Löwe still und traurig
Bei seinem Freunde lag.
7. Vergebens fing den Löwen
Man in den Käfich ein;
Er brach die Eisenstäbe,
Beim Herren mußt er sein.
8. Beim Herzog ruht der Löwe,
Hält jeden andern fern;
Doch nach drei Tagen fand man
Ihn todt beim todten Herrn.
333
i
faßt, wagen auch wohl ganz allein die Spur eines Löwen zu ver-
folgen und ihn in seinem Schlupfwinkel aufzusuchen; doch bleibt ein
solches Unternehmen immer gefährlich.
Man fängt den Löwen in Gruben oder Netzen. Die erste
Art ist bei den Mauren in Nordafrika gewöhnlich. Man gräbt eine
tiefe Grube, die mit Röhricht und leichtem Gesträuch dünn über-
deckt wird, und befestigt in der Mitte an einem dünnen Pfahl ein
lebendiges Schaf. Wenn sich der Löwe in einer solchen Grube ge-
fangen sieht, so wird er so blöde, daß die Mauren wohl keck hin-
eingehen, ihm einen Maulkorb aufsetzen, Ketten anlegen und ihn
dann führen wie ein Kind. Die andre Art des Fanges geschieht
bei Nacht; der Löwe wird dann bei Fackelschein in die Netze getrie-
ben. Die Einwohner von Abyssiniem gehen auch zuweilen einzeln
auf die Löwenjagd. Am linken Arm den Schild, den sie dem
anrennenden Löwen vorhalten, bohren sie ihm mit der Rechten das
Schwert in den Hals. *
21. Der Strauß.
Ñer Strauß hat in seiner Lebensart und Gestalt manche Ähn-
lichkeit mit den hühnerartigen Vögeln. In den Sandwüsten Asiens
und Afrikas wird er in Herden angetroffen. Er ist der Riese unter
den Vögeln; denn er wird acht Fuß hoch und anderthalb Eent-
ner schwer. Seine halbnackten Schenkel kommen an Dicke fast den
Schenkeln eines Mannes gleich. Er hat nur zwei Zehen, die eine
langgestreckt, mit einer starken Klaue versehen, die andere kurz und
ohne Klaue. Die Fußsohle ist breit und zum Gang im Sande der
Wüste eingerichtet. An Kopf, Hals und Schnabel ähnelt er der
Gans. Zum Fliegen ist er zu schwer; der Flügelschlag dient ihm
aber zur Beschleunigung des Laufs, in welchem er das beste Reit-
pferd weit hinter sich zurückläßt. Seine Stimme ist ein klagendes
Ächzen. In Südafrika wird er jung gefangen und gezähmt, wo
er dann auf den Bauerhöfen unter denr übrigen Geflügel einher-
schreitet. Mehrere Weibchen bauen miteinander ein Nest in den
Sand, worein sie fünfundzwanzig bis dreißig Eier legen, deren jedes
drei Pfund schwer und von der Größe eines Kinderkopfes ist. Im-
mer liegen etliche Eier um das Nest herum in dem Sande, welche
alsdann den ausgekrochenen Jungen zur ersten Nahrung dienen.
Die Weibchen wechseln den Tag über im Brüten miteinander ab;
des Nachts brütet das Männchen. Man sagt, daß sie in Afrika ihre
Eier in den Mittagsstunden der Sonnenhitze zum Brüten überlas-
sen. Der männliche Strauß ist zärtlich gegen sein Weibchen und
gegen seine Brut. Man hat bemerkt, daß gezähmte Strauße sich
jedesmal zu Tode grämen, wenn ihnen ihr Weibchen umkommt.
So lange das Weibchen brütet, hütet der Mann die Brut; daher
er um diese Zeit ganz mager zu werden pflegt, weil er keine Zeit
hat, seinem Futter nachzugehen. Der männliche Strauß ist es auch,
der die jungen auf die Weide führt, wo sie Körner und Kräuter,
hauptsächlich aber Käfer aufsuchen. Im Buch Hiob steht, er sei
334
unbarmherzig aus Dummheit und aus Furchtsamkeit, Hiob 39, 13 ff.
„Dumm wie ein Strauß" ist eine gewohnte Redensart der Araber.
Am Rande eines der kleinen Sandhügel der Wüste erbaut er sein
Nest. Auf dem Gipfel des Hügels steht er Wache, so lange die
Weibchen brüten. Dadurch wird er ebenso sehr ein Bild der Dumm-
heit als der Wachsamkeit; denn durch sein Wachestehen macht er
es dem streifenden Araber leicht, sein Nest zu entdecken. Dabei ist
er feig. Sobald er von weitem einen Menschen erblickt, hebt er sich
von seinem Hügel mit einer Schnelligkeit, die Roß und Reiter ver-
lacht, da er doch wohl stark genug wäre, sein Nest gegen die An-
griffe der Menschen zu vertheidigen. Selten wagt er zu seinem
Neste zurückzukehren, und häufig werden Nester mit verhungerten
Jungen oder mit faulgewordenen Eiern gefunden. Bei der unge-
meinen Fruchtbarkeit der Straußenweibchen müssen nothwendig eine
Menge Junge und Eier verderben, denn man findet in einem Neste
20, ja 30 Eier. Deswegen sagt der Prophet von der zerstreuten Ein-
wohnerschaft Jerusalems: Die Tochter meines Volks muß unbarm-
herzig sein, wie ein Strauß in der Wüste, Klagt. 4, 3.
Sein Fleisch ist zäh und schwer zu verdauen. Die Araber der
Wüste essen es; den Israeliten war es verboten. Seine Eier sollen
sehr wohlschmeckend sein. Mit den kostbaren Federn wird ein bedeu-
tender Handel getrieben.
22. Christoph Columbus.
1. Äolumbus, der Entdecker Amerikas, ist im Jahr 1435 oder
1436 zu Genua in Italien geboren. Sein Vater war ein armer
Wollkämmer. Mit andern Kindern lernte auch der Sohn des Woll-
kämmers lesen und schreiben; die Züge seiner Handschrift zeichneten
sich bald durch solche Schönheit aus, daß er sich schon als bloßer
Schönschreiber hätte ernähren können. Mit großem Eifer wandte
er sich dem Rechnen und Zeichnen zu. Nachdem er dann eine kurze
Zeit die hohe Schule besucht hatte, ward er Seemann.
Im Jahre 1470 ging er nach Portugal. Er war jetzt 34 Jahr
alt. Seine Gestalt war hoch und wohlgebaut, seine Haltung edel,
die Augen grau und vom Feuer des Muthes strahlend, die Nase
eine Adlernase, das Haar, früher lichtbraun, war durch die Anstren-
gungen des Seelcbens bereits etwas gebleicht. Den Gottesdienst
besuchte er sein ganzes Leben lang fleißig und mit Andacht.
In Portugal verheirathete er sich mit der Tochter eines verstor-
benen berühmten Seemanns. Dessen Karten und Tagebücher kamen
in seine Hände; kein Schatz der Erde hätte ihm größere Freude machen
können. Er nährte sich und die Seinen von dem Verdienst, den ihm
das Zeichnen von Landkarten brachte; eine gute Karte wurde zu der
Zeit wohl mit 100 Ducaten bezahlt.
2. Es gab damals allerlei Sagen von fernen Inseln, welche
westlich von der alten Welt zu finden seien; auch vermuthete man
die Ostküste Asiens nicht fern. Diese Vermuthungen wurden dadurch
verstärkt, daß Seefahrer bearbeitete Holzstücke, fremde Baumstämme,
335
riesige Rohrgewächse, menschliche Leichname von unbekannter Bildung
gesunden hatten, welche durch Seeströme und durch Stürme von
Westen herüber nach den Küsten von Afrika und,, Europa getrieben
waren. Das alles erweckte in Columbus die Überzeugung, daß
die Ostküste Asiens und die vermutheten Inseln nicht fern leren.
Er sprach diese Überzeugung mit solcher Festigkeit aus, als hätte
er das unbekannte Land mck Augen gesehen. Dort werden Völker
wohnen, so dachte er, denen der Name Christi noch gar nicht gepre-
digt ist; auch ihnen muß, wie die Propheten geweissagt haben, das
Licht des Glaubens aufgehen.
Seit sechzig Jahren schon hatten die Portugiesen den Weg
nach dem reichen Indien um die Küste Afrikas herum vergeblich
gesucht. Jetzt ging Columbus zum Könige und erbot sich, dies
Ziel zu erreichen, ohne Afrikas Küste zu umschiffen; er wollte in
gerader Richtung gen Westen segeln. Der König fragte zuvor seine
Gelehrten; denen erschien Columbus mit seinem feierlichen Ernst
und seiner lebendigen Begeisterung als ein Schwärmer. Ja, der
sonst so gerechte und weise König ließ sich verleiten, dem Columbus
seinen Plan zu entlocken, und schickte dann ein Schiff aus, welches
die Fahrt nach Westen machen mußte. Der Versuch mißlang, wie
er es verdient hatte. Nach wenig Tagen kehrte der durch Stürme
entmuthigte Capitän zurück und sagte, nach Westen hin sei nichts
als Meer zu finden. — Auch Genua und Venedig wiesen das An-
erbieten des Columbus ab.
3. Nun ging er nach Spanien. Der Prior eines Klosters nahm
ihn freundlich aus. Beide Männer wurden innige Freunde; denn
sie fühlten sich einig in der Liebe zu Christo und dem Eifer für
Ausbreitung seines Reiches, wie in dem Verlangen nach Erkenntniß.
Der Prior empfahl den Columbus an die Königin Isabella. Die
nahm ihn freilich freundlich auf; aber nach langem Warten ward
er auf die Zukunft vertröstet, denn sein Unternehmen erschien vielen
Personen des Hofes ein abenteuerlich Ding, und dazu war der
König Ferdinand jetzt noch in einem Kriege gegen die Mauren
begriffen.
Schon war Columbus auf dem Wege nach Frankreich; da
besann man sich am spanischen Hofe. Den König lockte die Aus-
sicht, durch Entdeckung neuer Länder seine Macht zu erweitern, und
die Königin freute sich, ein Unternehmen befördern zu können, welches
zur Ausbreitung des Reiches Gottes dienen sollte. Nun wurde ihm
alles gewährt, was er früher gefordert hatte: er wurde zum Vicekönig
aller Länder ernannt, welche er entdecken würde; der zehnte Theil alles
Gewinnes tollte sein sein, und alle diese Vortheile sollten auf seine
Nachkommen sich vererben.
4. Mit einem größeren und zwei kleineren Schiffen und 120 Mann
zing Columbus am 3. August 1492 unter Segel, nachdem er mit
«einer Mannschaft die Nacht zuvor im Gebet zugebracht und das
heilige Abendmahl empfangen hatte. Ein günstiger Wind brachte
ie bald zu den kanarischen Inseln, wo sie sich wegen Ausbesserung
336
eines Schiffes mehrere Wochen aufhalten mußten; dann gings wei-
ter, geradesweges gen Westen. Columbus schlief nur wenige
Stunden; meist stand er Tag und Nacht mit dem Senkblei auf
dem Verdeck. Sein heiterer Muth theilte sich auch der furchtsamen
Mannschaft mit. Als aber die Fahrt in unaufhaltsamer Eile immer
weiter nach Westen fortschritt und ein Tag nach dem andern ver-
ging, ohne daß sich Land zeigte, bemächtigten sich allmählich der
Menge Furcht und Schrecken; die Stille des Meeres erschien ihnen
wie die Stille des Todes, der ihrer mit Sicherheit warte, wenn ihre
Lebensmittel aufgezehrt sein würden; der beständig aus Osten wehende
Wind, so meinten sie, werde die Heimfahrt hindern, wenn sie ein-
mal in das westlich gelegene Vaterland zurückkehren wollten. Täg-
lich wuchs der Anmuth; schon dachten manche daran, den Colum-
bus zur Umkehr zu nöthigen, oder ihn ins Meer zu werfen und
zu Hause zu erzählen, er sei von selber vom Verdecke ins Waffr
gefallen.
Dem Columbus entging diese aufrührerische Gesinnung seiner
Leute nicht; aber er blieb fest und ruhig; in ihm lebte die feste
Überzeugung, Gott habe ihn zu diesem Werke berufen und werde
ihn auch sicher zum Ziele führen. Cs erging ihm nach dem alten
Sprichwort: Wo die Noth am größten, ist Gottes Hülfe am näch-
sten. Als sein Schiffsvolk in voller Empörung gegen ihn begriffen
war, da sah man Äste voll Beeren, ganz frisch vom Baum abge-
rissen, auf dem Meere schwimmen; bald nachher einen Stab, der
von Menschenhand eingekerbt war; Kräuter, die am Ufer der Flüsse
wachsen: es konnte kem Zweifel sein, das Land war ganz nahe.
Nach dem Abendgottesdienste dieses Tages (11. October) hielt Co-
lumbus dem Schiffsvolke eine ernste Ansprache, Gott zu danken
und zu loben. — Alle Seeleute blieben wach; Columbus schaute
unverwandt nach Westen. Gegen 2 Uhr morgens gab ein Kano-
nenschuß das verabredete Zeichen von der Nähe des Landes. Land,
Land! rief jeder; man umarmte sich, laut schluchzend vor Freude,
und auf allen drei Schiffen wurde der alte Lobgesang der Chri-
stenheit: Herr Gott, dich loben wir, angestimmt. Der anbrechende
Morgen zeigte eine Insel, deren Boden überall grünte, und welche
durch ihre Baumpflanzungen einem schönen Garten glich. Die Ein-
wohner der Insel standen scharenweise am Ufer und staunten die
fremden großen Fahrzeuge an. Columbus landete, und richtete ein
Kreuz auf zum Zeichen, daß auch hier der Name Jesu gepredigt
werden sollte. Vor dem Kreuze wurde gebetet, und dann pflanzte
Columbus die königliche Fahne auf. Die Insel nannte er St.
Salvator, d. h. der heilige Erlöser. Jene, die noch vor wenig
Tagen den Columbus als einen Träumer verachteten, drängten sich
jetzt um ihn her, baten ihn um Vergebung und gelobten unver-
brüchliche Treue.
Er entdeckte noch Cuba und Hayti; dann kehrte er nach Spa-
nien zurück und wurde mit hohen Ehren empfangen.
b. Im folgenden Jahr wurde eine Flotte von 17 Schiffen mit
337
1200 Mann ausgerüstet; auch Mönche zogen zur Bekehrung mit.
ferner Handwerker und Ackerbauer; Hausthiere und Sämereien wur-
den mitgenommen. Neue Inseln wurden entdeckt. Columbus hatte
innige Freude, wenn ihm die Indianer beim Aufrichten von Kreuzen
Hülfe leisteten; es war ihm eine Vorbedeutung, wie willig sie sich dem
Evangelium hingeben würden.
Freilich mußte er es selber erleben, wie das harmlose Volk der
entdeckten Länder aus Goldgier zu Grunde gerichtet wurde, dem doch
durch seine Entdeckung Heil widerfahren sollte. Sein Herz blutete ihm
über ihrem Elende. Er fühlte die Sünde der Spanier und konnte sie
doch nicht hindern. Auch hat er für seine Entdeckung wenig Dank
erhalten; von seiner dritten Reise nach dem neuen Lande kam er sogar
wie ein Verbrecher in Fesseln geschlagen zurück. Seine Feinde hatten
ihn beim Könige verdächtigt, als wolle er sich die Herrschaft in den ent»
deckten Ländern anmaßen. Der neue Welttheil bekam den Namen nicht
:on ihm, sondern von einem Seemanne aus Florenz, Amerigo
Vespucci, der eine Beschreibung desselben nach Hause geschickt hatte,
welche später gedruckt wurde.
Columbus starb 1506. Die letzten Worte des siebenzigjährigen
mühebeladenen Erdenpilgers waren: In deine Hände, Herr, befehle
ich meinen Geist.
23. Amerika.
1. Ämerika besteht aus zwei großen Hälften, welche durch eine
Landenge verbunden sind, vor welcher sich eine große Menge der
westindischen Inseln lagert. Es erstreckt sich von Norden gen Süden,
und in dieser Richtung läuft auch das lange Gebirge, welches sich
an seiner Westküste befindet, die Cordiller'en. Südamerikas Küste
ist am einfachsten gegliedert, wie dieses überhaupt in seiner Gestalt
viele Ähnlichkeit mit Afrika hat.
Beide Theile haben im Osten weite Ebenen, durch welche sich
mächtige Flüsse ergießen, wie der Amazonenftrom und der Mis-
sissippi; der Norden hat außerdem ausgedehnte Seen. Im Osten
der Mississippiebene sind große Urwälder; da stehen die Bäume
dicht zusammengedrängt, und unzählige Schlingpflanzen winden sich
von Stamm zu Stamm, von Ast zu Ast. Westlich von ihnen brei-
ten sich die grasreichen Savannen aus, d. h. große, von Urwald
umgebene Wiesenflächen mit acht Fuß hohem, dickem Grase und zer-
streuten Hainen; sie werden von Herden wilder Büffel durchwandert.
Der Anbau dieser Gegenden schreitet immer weiter fort. Auch die
Ebene des Amazonenftroms hat dichte, mächtige Urwälder,
durch welche viele wasserreiche, langsame Flüsse führen; ihr Boden ist
sehr fruchtbar, aber noch dünn bevölkert und wenig angebaut. Nörd-
lich von ihr dagegen, am Orinocco, ist eine Ebene, größer als
Deutschland, ohne Quellen und Bäume. Sie hat in der trockenen
Jahreszeit eine fast afrikanische Hitze; da erblickt man nur verdorrte
Pflanzen; der Boden klafft in weiten Rissen; überall ists still. In dev
Regenzeit dagegen bedeckt sie sich schnell mit dem prächtigsten Gras-
1ü
338
wüchse; dann finden sich die Hirten mit ihren Herden ein, und große
Scharen verwilderter Pferde, Rinder und Esel schwärmen in dem wo-
genden Grasmeer umher.
Amerika ist ein fruchtbarer und reicher Erdtheil; nur der falte
Norden und der felsige Süden find davon ausgenommen. Die Pflan-
zen zeichnen fich durch eine große Mannigfaltigkeit und Fülle aus; fie
find groß und saftreich, besonders in Brasilien, welches darin alle Län-
der der Erde übertrifft. In Amerika wachsen der Cacaobaum, Zucker-
rohr, Mahagoni, Fernambuk (wovon die Brasilienspäne kommen),
Kartoffeln, die von hier nach Europa gekommen find, Taback, Mais,
Baumwolle, Reis, Kaffee und alle europäischen Getreide. — Die
wilden Thiere sind freilich nicht so groß und stark wie in Afrika und
Asien; aber die europäischen Hausthiere gedeihen eben so gut wie bei
uns. Es gibt hier viele prachtvolle Schmetterlinge, aber auch lästige
Insecten, wie die Moskitos, und große gefährliche Schlangen, wie
die Klapper- und Riesenschlange. Die amerikanischen Bögel haben ein
prächtiges Gefieder. — Die Gebirge find reich an allerlei Metallen;
auch gibt es große Steinkohlenlager. Brasilien hat berühmte Dia-
mantgruben.
2. Der Reichthum des Erdtheils hat seit der Entdeckung desseE
ben viele Europäer dorthin gezogen, und mancher ist dort in kurzer
Zeit reich geworden. Noch heutiges Tages ziehen viele dahin. Man-
cher, der auswandert, thäte besser," er beherzigte Ps. 37, 3: „Bleib im
Lande, und nähre dich redlich"; denn dort gibts auch namenlosen Jam-
mer, und manche arme Seele ist darin untergegangen. Und obwohl
die Erde überall des Herrn ist, so ists einem rechtschaffenen deutschen
Gemüthe doch immer am wohlsten in der Heimat, wo es seine Ver-
wandten und Bekannten hat. Wer aber nicht anders kann, der gehe
als redlicher Christ hin, halte seinen Glauben fest und vergesse nicht
seines und seiner Väter Gottes; so wird der Herr auch im fremden
Lande mit ihm sein und seinen Ausgang und Eingang behüten. Die
rechte Heimat hat man in Deutschland auch nicht, sowenig wie in Ame-
rika; die ist droben, da Christus ist.
In den Besitz Südamerikas haben sich Spanier und Portu-
giesen getheilt; diese wohnen in dem östlichen, jene in dem west-
lichen Theile. Die spanischen Gebiete haben sich von Europa los-
gerissen und bestehen letzt aus Freistaaten, deren einer Peru ist.
Die ehemaligen portugiesischen Besitzungen find ein selbständiges
Kaiserthum geworden, welches Brasilien heißt. Im nördlichen
Theile von Südamerika haben die Franzosen, Holländer und Eng-
länder Besitzungen. — Die meisten Einwanderer ziehen nach Nord-
amerika. Dessen bedeutendster Länderstrich sind die nordameri-
kanischen Freistaaten, welche ehemals unter der Herrschaft
Englands standen. Die meisten Einwohner derselben find Europäer
aus fast allen Völkern, besonders Engländer, Deutsche, Franzosen
und Holländer. Die Städte wachsen wegen der vielen Einwanderer
ungemein schnell an; 1783 hatte das Land nur 2y2 Millionen Ein-
wohner, jetzt schon 25 Millionen. Durchschnittlich sollen täglich
339
1000 Einwanderer in den großen Küstenstädten Boston, Neu-Aork,
Philadelphia, Baltimore und Neu-Orleans ankommen. Die Einwan-
derer ziehen dann theils weiter gen Westen, um sich dort als Pflanzer
niederzulassen. Der Pflanzer errichtet zuerst ein Blockhaus von unbe-
hauenen Baumstämmen. Da er Handwerker dort nicht trifft, so muß
er selber Maurer und Zimmermann sein. Seine Nachbarn leisten ihm
Beistand. Dann geht es an die Urbarmachung des Bodens. Auch
dabei ist er auf sich und seine Familie angewiesen; denn Knechte und
Mägde sind nicht so leicht zu haben und würden ein-unerschwingliches
Lohn fordern. Die ersten zwei Jahr muß er daher wie ein Lastthier
arbeiten und allerlei Entbehrungen ertragen, bis gute Ernten und die
Vermehrung der Hausthiere ihn in den Stand setzen, sich gemächlich
einzurichten. Da muß die Axt unermüdlich arbeiten; die abgehauenen
Stämme werden angezündet, und das gelichtete Land wird zur Aus-
saat, besonders von Mais, zugerichtet. — Nirgend auf dem Erdboden
ist ein solch Gemisch von allerlei irrgläubigen Secten wie hier; viele
leben ohne Kirche und Schule und sind daher mitunter ebenso unwis-
send wie Heiden; die Kinder bleiben oft fahre-, ja zuweilen lebenslang
ungetaust.
Zu den nördlichsten Ländern gehört Grönland, ein kaltes Land,
in welchem die Eskimos ihr kümmerliches Leben führen. Sie sind
großenteils Christen; der glaubensmuthige norwegische Pfarrer Hans
Egede hat ihnen zuerst das Evangelium gepredigt.
Die Ureinwohner Amerikas werden Indianer genannt. Sie
sind von den Europäern oft unmenschlich behandelt worden und
jetzt in die nördlichen und westlichen Gegenden zurückgedrängt. Sie
leben in Stämmen von Hunderten bis zu mehreren Tausenden.
Nach ihrer Farbe nennen sie sich „der rothe Mann." Gott hat
ihnen schöne Gaben an Leib und Seele gegeben: scharfe Sinne,
getreues Gedächtniß und lebendiges Gefühl/ und ihr Leben zeigt
manchen Zug davon, daß Gott auch den Heiden sein Gesetz ins
Herz geschrieben hat. Aber es gehen auch Sündengreuel bei rhnen
im Schwange. Seit 200 Jahren wird ihnen das Evangelium gepre-
digt. Am meisten hat der englische Missionar John Elliot unter ihnen
gewirkt, der 44 Jahr lang mit rastlosem Eifer an ihrer Bekehrung
arbeitete.
24. Die Baumwolle.
1. Äs gibt mehrere Arten von Pflanzen, von denen Baumwolle
gewonnen wird; sie sind theils baumartig, theils wachsen sie wie
Sträuche und Stauden. Alle stammen aus den warmen Ländern der
Erde. _ Die Baumwolle wird in der asiatischen und europäischen Türkei,
m Griechenland, Süditalien, Spanien, Ägypten, Indien und China,
ganz besonders aber in Amerika gebaut. In den vereinigten Staaten
Nordamerikas wurde die Ernte im Jahre 1834 auf 376 Millionen
Pfund geschätzt.
2. In Brasilien bauet man sie folgendermaßen. Im Januar
legt man fünf, sechs, ja zwölf Samenkörner in drei bis vier Zoll
15*
340
tiefe Löcher, die fünf bis sechs Fuß von einander entfernt sind.
Schon nach 14 Tagen erscheinen die jungen Pflanzen oberhalb der
Erde und wachsen unglaublich schnell. Sie bekommen gelbe, roth-
gestreifte, den Stockrosen ähnliche Blüten, aus denen sich Samen-
kapseln von oer Größe eines Taubeneis entwickeln. Diese sehen
anfangs grün aus, werden jedoch später braun und springen bei'
völliger Reise aus. Da quillt die zarte Wolle heraus, die bisher
zusammengepreßt war; sie muß daher jetzt schleunig gesammelt wer-
den, wenn sie nicht verloren gehen soll/ Das geschieht zehn Monat
nach der Aussaat. Die Wolle, die im ersten Jahre geerntet wird,
hält man für die beste. Die stärksten Pflanzen liefern im ersten
Jahre 2% Pfund reine Wolle, die schwächsten 10 Loth. Von da
an tragen sie meistens jährlich zweimal. Obwohl sie 20 Jahr alt
werden, benutzt man sie doch gewöhnlich nicht länger als drei oder
vier Jahr; dann beginnen nemlich die Stämme schwächer zu werden,
weshalb man dieselben abhaut und so zur Bildung neuer Tragäste
zwingt.
3. Die gewonnene Wolle enthält Samenkörner; von diesen
und von etwa hineingekommenen Unreinigkeiten wird sie aus Ma-
schinen gesäubert. Sodann wird sie in große Säcke fest eingepackt
und in 'den Handel gebracht. Jährlich werden gegen vier Millio-
nen Centner nach Europa eingeführt und hier, davon zwei Drittel
allein in England, zu Garn gesponnen und dann zu Kattun,
Musselin oder Nesseltuch, Manchester, Strümpfen u. s. w. verar-
beitet. Obgleich das größtentheils mit Hülse von Maschinen ge-
schieht, haben dabei dennoch viele Menschen zu thun. Die Englän-
der führen eine Menge baumwollener Zeuge selbst wieder nach
dem ursprünglichen Vaterlande der Baumwolle, nach Indien und
China, aus. Es ist wahrscheinlich, daß eine größere Anzahl Men-
schen durch Vaumwollenzeuge gekleidet ist, als durch irgend einen
andern Stoff.
25. Grönland.
1. Änter den nördlichen Ländern der Erde ist Grönland das-
jenige, welches am weitesten nach Norden zu bewohnt ist. Es ist säst
doppelt so groß wie Deutschland; seine Einwohnerzahl aber wird nur
aus 25000 geschätzt. Schon lange vor der Entdeckung Amerikas durch
Columbus stand es in Verbindung mit Europa; Normänner hatten
sich dort niedergelassen, und seit dem Anfange des 12. Jahrhunderts
war ein Bisthum daselbst eingerichtet. Im 14. Jahrhundert aber
vernichteten Eskimos die Niederlassungen im Westen, und die Ostküste
war im Lause der Zeit vereiset; daher hörte seit dem 15. Jahrhundert
alle Verbindung Europas mit Grönland aus. Erst seit dem Anfange
des vorigen Jahrhunderts, da Hans Egede und darnach auch Msssio-
nare aus der Gemeinde der Herrnhuter dort das Evangelium predig-
ten, sind von Dänemark aus wieder Niederlassungen an der Westküste
gegründet.
841
Die Einwohner sind theils Christen, theils noch Heiden; jene
wohnen auf der West- und diese auf der Ostküste.
2. Die Westküste ist von vielen Buchten zerschnitten; vor ihr
liegen viele kleine Inseln, die zum Theil bewohnt sind. Den^Vor-
dergrund der Küste bilden meist lose auf einander liegende Stein-
masten, mit grünem Moose überzogen. Dahinter steigen die Berg-
lehnen empor; wo diese vor kalten Winden geschützt sind, ist etwas
kümmerlicher Holzwuchs. Darüber erhebt sich die obere Bergfläche;
sie ist von allem Pflanzenwuchse entblößt und mit Eis und Schnee
bedeckt. In denjenigen Thälern, die kalten Winden ausgesetzt sind,
ziehen sich die Gletscher bis ans Meer; aber auch an andern Stellen
greifen dieselben weit in die Schluchten und Thäler hinein; ihre
Ausdehnung soll jährlich zunehmen.
Im October schon tritt der Winter mit ellentiefem Schnee ein,
und dieser thaut so langsam ab, daß mitten im Juni noch der
größte Theil der Thäler damit angefüllt ist. Da kann von Wacks-
thum nicht viel die Rede sein. Einige Straucharten nick eßbaren
Beeren, darunter Heidelbeeren; Fichten, die dreißig Jahre brauchen,
um eine Höhe von fünf bis sechs Fuß zu erreichen, und Birken,
die mehr strauch- als baumartig aussehen: das ist fast alles. Die
Ernährung des Viehes macht viele Mühe, da man tageweit zur
See fahren muß, um auf den Inseln das für beit langen Winter
nöthige Heu zu gewinnen. Kommt der kurze Sommer mit seinen
langen Tagen, so freut sich der Grönländer und säet und pflanzt
etwas Salat, Kartoffeln, Rüben und Rettiche. Was er sonst noch
gern hat: Grütze, Erbsen, getrocknetes Obst, etwas Getreide, das
wird ihm von Dänemark als Tauschware zugeführt; mehr aber noch
liefert ihm das Meer. Vom Seehunde hat er seine liebste Speise,
das Fleisch, welches getrocknet, den Speck, welcher auch roh ge-
gessen und außerdem zur Erleuchtung der langen Winterabende ge-
braucht wird; das Fell des Seehundes benutzt er zur Anfertigung
seines schmalen, oft an zwanzig Fuß langen, einsitzigen Bootes^ und
auch zur Kleidung. Auch den Eisbären jagt er, am liebsten im
Wasser mit Pfeil und Harpune; das Fleisch desselben gilt für einen
Leckerbissen, und das Fell wird gut bezahlt. Zuweilen wird auch
ein Walroß gefangen. Außer diesen größeren Thieren geben Fische
dem Grönländer einen bedeutenden Theil seiner Nahrung, er sagt
aber: ,,Wir werden nicht satt davon und leiden viel mehr von der
Kälte, wenn wir Fische essen"; daher stellt er am liebsten dein See-
hunde nach. Und damit der beständige Genuß von Fleisch seiner
Gesundheit nicht schade, hat Gott ihm das wohlschmeckende, blut-
reinigende Löffelkraut gegeben, das sich überall üppig hervordrängt,
sobald die Sommersonne das schlafende Erdreich weckt. Unter den
Seevögeln ist ihm besonders die Eidergans nützlich, von deren
Fellen er sich Pelze bereitet. Vom Meere bezieht er sein Holz;
Wind und Wellen treiben ihm zu, was Gott durch Sturm und Flu-
ten in anderen Theilen der Erde für ihn hat fällen lassen. Dies
Treibholz braucht er zur Bedachung seiner Wohnung, deren Wände
342
von Stein sind; außerdem bereitet er daraus das Gerippe seines
Bootes.
3. Die Grönländer können ihre wenigen Bedürfnisse reichlich
befriedigen; zu mancher Zeit ist der Erwerb so leicht, daß ein fleißi-
ger Mann in einem Tage oft mehr verdienen kann, als in Deutsch-
land ein Tagelöhner oder Handwerker in einer ganzen Woche. Der
Mangel an Lebensmitteln tritt bei ihnen gewöhnlich durch eigne
Schuld ein. Sind einmal Fische reichlich zu fangen, so gehen sie
wohl muffig; sitzen, wenn sie ausgefahren sind, statt zu arbeiten,
auf den Klippen, sich an der Sonne erwärmend, und sehen ins
Blaue hinein. — Ihr Leben und ihr ganzer Erwerb ist voller Ge-
fahren. Selten wird ein Btann alt; sie kommen fast alle in ihren
besten Jahren auf der See um. Theils das Treibeis, theils plötz-
liche Windstöße, theils der Seehund selbst, der schnell in die Tiefe
untertaucht, wenn er von der Harpune getroffen ist, vernichten das
zerbrechliche Fahrzeug oder stürzen es um'. Daher gibt es in Grön-
land viele Witwen und Waisen, welche durch den Tod ihrer Ernäh-
rer in bittere Armuth gerathen.
Das Leben der christlichen Grönländer geht seinen stillen Gang
fort. An den Feiertagen kommen sie fleißig zum Gottesdienste, und
zu den heiligen Festen' der Christenheit finden sie sich aus der Nähe
und Ferne auf ihren kleinern und größern Booten ein und scheuen
auch gefährliche Reisen nicht. Nicht selten kommen auch Heiden mit,
hungrig und durstig nach dem lebendigen Gott, lassen sich unter-
weisen und taufen, und zeigen durch ihr ganzes Betragen, daß es
ihnen mit ihrer Bekehrung ein Ernst ist. — Die Kinder gehen nur
im Winter, vom October und November an, zur Schule. Im
Sommer zerstreut sich die ganze Gemeinde, um ihren Erwerb zu
suchen, und kommt erst mit Einbruch des Winters wieder zusammen.
26. Der Seehund.
1. Äer Seehund oder die Robbe ist ein Säugethier, das im
Wasser und auf dem Lande leben kann. Er bellt wie ein Hund,
hat um das Maul einen starken Bart gleich der Katze; nach hinten
zu läuft sein Körper in einen Fischschwanz aus, mit welchem die
Hinterfüße so verwachsen sind, daß sie ein Stück ausmachen. Da
das Meer der eigentliche Wohnort des Seehundes ist, und er nur
ans Land kommt, um sich zu sonnen oder einen Mittagsschlaf zu
halten, so hat Gott ihm alles gegeben, was einem geschickten Tau-
cher und Schwimmer noth ist. Der Körper ist langestreckt, gewöhn-
lich sehr fett; die beiden Vorderfüße sitzen am Kopfe wie zwei
Flossen, und ihre Zehen sind mit einer Schwimmhaut so verbunden,
daß er trefflich mit ihnen rudern kann. Der dicke, glatte Kopf ist
ohne Ohrmuschel, und die kleine Gehöröffnung kann mit einer dün-
nen Haut gegen das Eindringen des Wassers, verschlossen werden.
Der Pelz ist für alle Feuchtigkeit undurchdringlich; die Haare liegen
dicht und fest auf der Haut und sind so glatt, als wären sie mit Ol
bestrichen.
343
Dieser Seehundspelz ist ein werthvolles Geschenk Gottes nicht
bloß für den Seehund, sondern auch für den Menschen. Der See-
hund nemlich wohnt in den kalten Gegenden der Erde; so liefert
er den Grönländern, Eskimos und Kamtschadalen Pelzzeug zu Klei-
dung, ein Dach für die Hütte und Material für das Boot. Sein
Fleisch ist die Hauptnahrung der Eskimos und der Grönländer,
und sein Thran wird zur Erleuchtung gebraucht.
2. Das Fell und das Fett des Seehundes zieht selbst die
südlicher wohnenden Europäer an, so daß ste eigens Schiffe für
den Seehundsfang ausrüsten, die im März oder April ihre Fahrt
zürn nördlichen Eismeere beginnen. Dort halten auf den Eisschollen
ganze Scharen von Seehunden ihre Ruhestunden. Die Robben-
schläger (so nennt man die Leute, welche auf den Fang der See-
hunde ausgehen) bewaffnen sich mit starken Knütteln, die unten
noch mit Eisen beschlagen sind, um mit ihnen die arglosen Schläfer
zu tödten. Die Seehunde schlafen so fest, daß sie den heranschlei-
chenden Menschen selten bemerken, der dann nicht säumt, ihnen den
tödtlichen Schlag zu versehen. Wachen sie aber früher aus und sehen,
daß sie nicht entweichen können, so beißen sie derb darauf los und
werden selbst lebensgefährlich.
Am besten werden die Grönländer mit ihnen fertig, indem sie
sich als Seehunde verkleiden und auf dem Bauche zu der schläfri-
gen Gesellschaft hinankriechen mit jenem schleppenden Gange, der
den Seehunden eigen ist. Die Arme müssen dann dicht an den
Leib gezogen und die Beine durch ein Nachschleppen des Felles ver-
deckt werden. Die Seehunde haben allerlei wunderliche Manieren
und machen seltsame Gebärden, halten zuweilen im Kriechen still,
schwingen sich mit dem Kopfe und Oberleibe hin und her und
zappeln mit den kurzen Vorderfüßen; dies Spiel wissen nun die
Jäger geschickt nachzumachen. Sie erheben sich wie die Thiere,
schwingen sich so plunip wie möglich mit Kopf und Brust hin und
her und zappeln mit den an den Leib gedrückten Händen, als riefen
sie ihre Genossen. Sind sie ihnen endlich nahe genug, so werfen
sie die Maske ab, und für die Robben heißt es dann: Rette sich,
wer kann!
27. Der Walfisch.
1. ^ie Walen sind neben den Robben die Säugethiere der
See. Die leichten Wendungen dieser großen Seethiere, ihr Einher-
hüpfen auf den rollenden Wogen, die Freude, das stille Jauchzen,
womit diese stummen Thiere dem Morgenlüftchen entgegenscherzen
oder im Strahl der Mittagssonne sich spiegeln, ihr blitzschnelles
Verschwinden unter dem Wasser im Augenblick einer Gefahr und
wiederum nach wenigen Minuten ihr Auftauchen zu neuen Spielen:
alles dies inacht den großen und zugleich lieblichen Eindruck, der
Ps. 104, 26 mit den Worten beschrieben wird: Im Meere sind
Walfische, die du gemacht hast, daß sie darinnen scherzen.
Der äußeren Gestalt nach ist der Walfisch den Fischen ähnlich;
344
aber in feinem eigentlichen Vau ist er von denselben ganz verschieden.
Er hat keine Kiemen zum Wasserathmen wie die Fische, sondern
eine Lunge, und athmet Lust wie die Landthiere. Daher kann er
auch nur auf kurze Zeit unter dem Wasser bleiben.
2. Die bekannteste Art der Walen ist der grönländische Wal-
fisch, auf welchen man Jagd macht, um seinen Speck zu Thran und
sein hornartiges Gebiß, das Fischbein, zu gewinnen.
Schon seit mehreren Jahrhunderten bemannen die Völker des
Nordens von Europa jährlich starke, eigens dazu erbaute Schiffe,
welche die gefährliche Fahrt in das mit schwimmenden Eisbergen
übersäete Polarmeer maehen. Im März und April laufen die
Schiffe aus. Jedes ist mit sieben bis acht Booten versehen. Sind
die Walfischfänger im Polarmeere angekommen, so werden die
Boote ausgesetzt und gehörig bemannt. Gewöhnlich hat jedes einen
Steuermann, drei Ruderer und zwei Harpunierer. Sie fahren zwi-
schen den Eisfeldern und Eisbergen hindurch, um 4>en Walfisch auf-
zuspüren. Sobald er sich sehen läßt, rudern sie in seine Nähe. Ein
Harpunierer sucht ihm eine Harpune in den Körper zu werfen. Dies
ist ein schwerer stählerner Pfeil, der mit Widerhaken versehen und
an einem hölzernen Schafte befestigt ist. Sobald der Walfisch sich
verwundet fühlt, fährt er blitzschnell unter das Wasser. Aber er
geht für die Fänger nicht verloren; denn die in seinen Körper ge-
worfene Harpune ist an einem Seile befestigt, welches auf eine Rolle
im Boote gewickelt ist. Taucht der Walfisch auch noch so schnell
unter, das Seil gibt nach, und nach kurzer Zeit kommt er sogar
wieder an die Oberfläche, um Luft zu schöpfen. Unterdes haben
sich mehrere Boote versammelt, und so wie er sich sehen läßt, wird
er mit neuen Würfen empfangen. Nach jedem Wurfe wird er mat-
ter; sein Blut färbt weithin das Meer, und nachdem er das Meer
noch einmal mit seinem Schwänze heftig gepeitscht hat, schwimmt
er todt auf der Oberfläche des Wassers. Die Boote umringen ihn;
man schlingt Taue um den Körper und schleppt ihn zum'Schiffe.
Nun steigen die Walsischfänger auf das Thier, zerhauen es, lösen
den Speck von dem Fleische, bringen ihn in Tonnen auf das Schiff
und brechen die Barten, die das Fischbetn liefern, aus seinem Rachen.
Den Rest überlassen sie den Wellen; bald finden sich die Seemöven
und Eisbären ein und verzehren das Fleisch. Die Eskimos dagegen,
die mit ihrer Nahrung auf so wenige Thiere angewiesen find, benutzen
auch das Fleisch des Walfisches.
28. Australien.
Zwischen der Ostküste Asiens und Afrikas und der Westküste
Amerikas breitet sich der stille Ocean aus. In diesem liegen, meist
auf der südlichen Halbkugel, Hunderte von Inseln, welche den fünften
Erdtheil, Australien, bilden. Nachdem der erste Erdumsegler Ma-
qellan 1519 den Erdtheil entdeckt hatte, erweiterten später nament-
lich die Holländer diese Entdeckungen; aber erst seit 1770 sind durch
den berühmten Seefahrer Cook diese Inseln bekannter geworden.
345
Die nach Amerika zu gelegenen Inseln sind meist von Malayen be-
wohnt. Die Malayen haben braune Farbe, die sich aber auf manchen
Inseln dein Roth, Gelb und Weiß nähert, und sind von hohem,
schlankem Wüchse. Neuholland dagegen, die größte Insel, und die
nordöstlich davon gelegenen Inseln sind meist von den Australnegern
bewohnt; diese haben in ihrer Gestalt viele Ähnlichkeit mit den Ne-
gern, leben in fast thierischem Zustande, gehen meist ganz nackt und
wohnen unter freiem Himmel, in Felsen und Höhlen, oder in elenden
Hütten von Baumrinde.
Neuholland ist die größte Insel der Erde, fast so groß wie
Europa. Ihr Inneres ist noch wenig bekannt. Nur die Ostküste,
welche die Engländer in Besitz genommen haben, ist mehr bekannt.
Dort sind vor einigen Jahren große Goldlager entdeckt, und seitdem
sind viele Europäer dorthin gezogen. Auf Neuholland lebt das
Känguruh, an Größe dem Hirsche, an Gestalt dem Eichhörnchen
ähnlich, mit sehr kurzen Vorder- und dreimal so langen Hinterfüßen.
Die Wälder der Küste sind von düsterem Ansehen, da die Blätter
ohne frische grüne Farbe sind. Europäische Getreide und Hausthiere
gedeihen gut. Die Vögel haben sehr schönes Gefieder, aber wenige
Singvögel gibt es hier.
Einige hundert Meilen weit nach Südosten liegt Neuseeland,
eine Doppeiinsel, mit seinen schönen Ufern, hohen Bergen, dichten
Wäldern, rauschenden Wasserfällen und lieblichen Seen. Die Thal-
gründe sind sehr fruchtbar. Berühmt ist der neuseeländische Flachs,
woraus die Eingebornen Kleider und Stricke verfertigen, die alles
übertreffen, was bei uns aus Hanf bereitet wird. An vierfüßigen
Thieren ist die Insel arm, weshalb es dort für Jäger nichts gibt;
die eingeführten europäischen Thiere aber gedeihen gut. —• Die Ein- .
wohner sind ein schöner Menschenstamm. Ihre Wohnungen find
Hütten, aus Stäben aufgebaut und mit Schilf und Blättern beklei-
det. In Ackerbau und europäischen Künsten haben sie rasch Fort-
schritte gemacht. Die Missionare haben ihnen nicht umsonst gepre-
digt; schon sind mehr als 40000 für das Christenthum gewonnen,
und von England aus ist ihnen ein Bischof gesandt, der Kirchen und
Schulen beaufsichtigt.
Die übrigen Inseln sind meist von kleinem Umfange. Sie
haben eine durch die Seewinde gekühlte und dem Planzenwuchs
sehr zuträgliche Luft. Viele ihrer Bewohner sind bereits Christen
geworden; doch gibts für die Missionare auch in Australien noch
genug zu thun. Die Liebe Christi dringe uns, mit Gaben und
Fürbitte fleißig zu helfen, daß das Reich Gottes zu den Heiden
komme.
346
Zeittafel.
Jahre vor Christi Gehurt.
4000. Schöpfung.
2000. Abraham.
1500. Moses.
1055. David.
975. Theilung des Reiches
Israel.
722. Assyrische Gefangenschaft.
588. Babylonische Gefangen-
schaft.
536. Rückkehr der Juden.
166. Judas Mackabi.
40. Merodes.
Jahre nach Christi Geburt.
9. Sieg der Deutschen im
Teutoburgerwalde.
64—68. Christenverfolgung un-
ter Nero.
70; Zerstörung 'Jerusalems.
312. .Konstantin« Sieg.
622.\Muhamedder falsche
Prophet.
722. Bonifacius in Thüringen
und Helfen.
800. Karl der Große, römischer
Kaiser deutscher Nation.
919. Heinrich I.
1077. Heinrich IV. vor --Gre-
gor VII.
1099. Eroberung Jerusalems
. durch die Kreuzfahrer.
1415. Johann Huß zu Gon stanz.
1483, 10. Nov. Luthers Ge-
burtstag.
1517, 31. Oct. Die 95 Sätze.
1521. Reichstag zu Worms.
1529. Reichstag zu Speier.
1530. Augsburgische Confeslion.
1546, 18. Febr. Luthers To-
destag.
1547. Schlacht bei Mühlberg.
1555. Augsburger Friede.
1618. Beginn des dreißigjähri-
gen Krieges.
1195. Heinrichs des Löwen Tod.
1692. Hannover unter Ernst Au-
gust zum Kurfürstenthum
erhoben.
347
1756. Beginn des siebenjährigen
Krieges,
1789. Ausbruch der französi-
schen Revolution.
1806. Auflösung des deutschen
Reiches.
1813, 16—18. Oct. Schlacht bei
Leipzig.
1815, 18. Juni. Schlacht bei
Waterloo.
1714. Kurfürst Georg besteigt
den englischen Thron.
1727—1760. Georg II., sein
Sohn.
1760-1820. Georg III., Enkel
von Georg II.
1814. Hannover wird zum Kö-
nigreiche erhoben.
1820—1830. Georg IV., Sohn
von Georg III.
1830—1837. Wilhelm IV., Bru-
der von Georg IV.
1837—1851. Ernst August, Bru-
der der vorigen beiden
Könige.
1851. Regierungsanfang unsers
Königs Georg V., des
Sohnes von Ernst August.
/8 6fc.
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