394 182. Der betende Handwerksgeselle. Es sind etwa zwei hundert Jahre, daß ein junger Weißgerber der Luther¬ stadt , Wittenberg in Sachsen, zuwanderte. Der jammervolle dreißigjährige Krieg, der von 1618 bis 1648 in Deutschland wüthete, war beendigt; die Menschen bauten sich wieder auf dem Schutt der verbrannten Städte und Dörfer an, pflügten und säeten wieder aus den Feldern, die so lange Jahre hindurch vom Huf der Rosse zertreten und mit Blut und Leichen gedüngt wor¬ den waren; nur die Gewerbe erholten sich langsamer, weil Noth und Elend überall in deutschen Landen waren. So hatte auch unser Weißgerbergeselle schon lange Zeit wandern müssen, ohne Arbeit finden zu könne». Er war rechtschaffener Leute Kind und hatte von ihnen beten und arbeiten gelernt; aber jetzt war er weit heruntergekommen. In der Tasche hatte er nur noch einige Pfennige, das Felleisen war leer, die Kleidung zerrissen, die Schuhe waren durchgelaufen, die Füße wund, der Magen hungrig. Müde und matt zog er so auf der Straße daher, als die Abendsonne eben die letzten Strahlen auf die Thürme in Wittenberg warf. Wollte Gott, dachte er, daß ich in dieser Stadt doch auch endlich Arbeit fände und einige Zeit ruhen dürfte! Weil er aber gewohnt war, seine Wege dem Herrn zu befehlen, fühlte er bei diesem Wunsch einen innerlichen Antrieb zum Gebet; er schaute aber umher, ob er von Niemand bemerkt werde. Und da er sich allein sah, knieete er unter einen Baum nieder und betete inständig, Gott wolle sich seiner Noth erbarmen, ihm in dieser Stadt einen ehrlichen Verdienst zuwenden und ihn von seiner müh¬ seligen Wanderung Ruhe finden lassen. Nachdem er so gebetet, ging er ge¬ trosten Muths vollends nach Wittenberg hinein und in die Herberge seines Handwerks. Er hörte dort von einem Weißgerber, der einen Gesellen begehre, und ging noch am nemlichen Abend zu dem Meister, weil er müßig herumlaufen für Sünde gehalten hätte. Hier fand er eine freundliche Aufnahme. Dank¬ bar pries nun der fromme Jüngling diese gnädige Erhörung seines Gebets und versah sein Geschäft mit treuem Fleiß und Geschick; auch seinen Wandel führte er in Rechtschaffenheit und Gottesfurcht; in der Kirche war er so oft zu sehen, als Andere im Wirthshaus. Bei seinem Meister wurde es ihm auch wohl, da Gottesfurcht und Ordnung im Hause herrschte. Mit Gebet wurde der Tag angefangen und beschlossen, auch jede Mahlzeit; Abends wurde in der Bibel, auch in Luthers Postille gelesen, und nicht nur am Sonntag, sondern auch während der Woche die Kirche besucht. Da nun der Meister seine Treue, Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit hinlänglich erprobt hatte, so gab er ihm seine Tochter zur Frau und trat ihm Haus und Gewerbe ab. Dies machte aber den jungen Meister nicht übermüthig, sondern er blieb in der Demuth, V int Gebet, in Gottes Wort, und darnach richtete er auch seinen Wandel ein, so daß er die allgemeine Achtung und Vertrauen sich erwarb und am Ende selbst in den Rath der Stadt erwählt wurde. Zugleich segnete ihn Gott, daß er einer der begütertsten Bürger wurde. Dies Glück betrachtete er aber nicht als Lohn seiner Arbeit, sondern als gnädigen Segen Gottes, den er oft rühmte. Wenn er Abends unter den Seinigen von des Tages Arbeit ruhte, so konnte er manchmal erzählen, wie er arm und fast nackt in die Stadt gekommen sei und vor dem Thor gebetet habe. „Sehet", sagte er dann, „Gott hat ja mein