Georg-Eckert-Institut
1 074 989 6
BS78
Lesebuch
für die
evangelischen Volksschulen
Württembergs.
Preis am Verlagsort ungebunden..........................30 kr.
» » „ gebunden in Lcderrücken. . . . 42 kr.
Stuttgart.
Druck und Verlag von Eduard Hallbergcr.
1860.
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Inhalt.
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‘JttO.
1. An meinen Sohn Johannes, von Claudius . . .
V
I. Bilder aus der Naturkunde.
Sein
!
2. Das Gold. Nach Schubert und Lenz...................................... . 4
3. Das Eisen...............................................................* 6
4. Brennbare Mineralien. Nach Curtman........................................... 8
5. Die Getreidearten............................................................10
G. Der Weinstock. Nach Sartorius Lebeusspiegel ...... 12
„7, Der Weinbau in Württemberg. Nach Volz und Memminger ... 14
8. Das erste und zweite Kartoffelgericht. Wilberg . . . 4, . ... 18
9. Hanf und Flachs. Nach Curtman .......................................... 19
10. Deutsche Handelöpslanzen .................................................. 20
11. Einkehr. Uhland.............................................................22
12. Von den Giftpflanzen! Nach dem Berliner Lesebuch von Otto Schulz . 23
13. Wider das Branntweintrinken. Nach dem Kalender für Zeit und Ewig-
keit 1845 28
14. Das isländische Moos. Schubert . ...................................... 31
15. Der Zucker.........................*................................... 32
16. Der Kaffee..................................,....................... . 34
17. Die Palmen. Nach Dritter und Grube . ^................................. 36
18. Von großen Baumen. Nach Jnbitz und Nuffegger.............................. 39
19. Die Pflanzen und das Licht. Aus Lüben und Stackes Lesebuch ... 41
20. lieber die Verbreitung der Pflanzen. Hebel...............f.............42
21. Die Spinnen. Hebel .................................................... 45
22. Der Flußkrebs. Nach Masius................................. .. . . . . 47
23. Der Seidenspinner...........................................................48
24. Der Maikäfer. Lüben ........................................................ 50
25. Die Bienen. Nach Hendrie Eonscience....................................... 52
26. Die Biene. Scriver. Gottholds zufällige Andachten . 57
27. Die Flußjungser. Lüben.......................................' . 58
28. Die Verwandlung der Insekten. Stach Schuvcrl . . 59
29. Die Schlangen.........................1................................... 60
30. Die Königsschlange. Museum des Wundervollen................................63
31. Die Eidechsen. Stach Hebel ................................................. 66
i
IV
Nro. Seit«
32. .Der Hahn und die Henne. Scheitlin, Thierseelenk,mde..................69
33. Der Kukuk. Nach Eckermanns Gespräche mit Göthe........................71
34. Der Storch. Nach Scheitlius Thierseelenkuude.................................
35. Die Schwalbe. Nach Masius....................................................
36. Betrachtung über ein Vogelnest. Hebel ............................... 79
37. Der Maulwurf. Hebel..................................................... gt
38. Der Hamster. Schubert......................................................
39. Der Biber. Nach Bingley......................................................
40. Der Fuchs. Deutsches Lesebuch von Hiecke........................ 86
41. Trau, schau, wem? Sebastian Frank, f 1545 ........................ 88
42. Der Wolf.....................................................................
43. Der Königstiger. Nach Martins Naturgeschichte.............................90
44. Die Löweujagd. Barths Jugcndblätter...................................... 92
45. Zärtlichkeit eines Bären. Nach Lenz...................................... 9g
46. Das Reh. Curtman ............................................................
47. Das Nennthier. Th. Mügge ....................................... 98
48. DaS Kamecl. N. Meyer......................................................99
49. Der Elephant. Lenz................................................. 10t
50. Das Pferd................................................................104
51^ Eine Laudstraßenbetrachtung. Karl Schmidliu..............................107
52. Die seufzende Kreatur. Dann...............................................109
53. Wie ein Hund sein Brod theilt mit einem Kinde. Braudauers Lesebuch 110
54. Der kleine Friedensbote. Karl Stöber.....................................112
55. Walfischfaug. Martins Naturgeschichte................ •...............114
56. - Der Häring. Nach Gude ................................................ 116
57. Der Instinkt der Thiere. Schubert, Spiegel der Natur.....................118
58. Die Luft.................................................................120
59. Das Wasser.....................•....................................... 122
60. Dünste, Nebel, Wolken; Regen, Schnee, Thau, Reif....................124
61. Die Wolken im Dienste Gottes. Scriver.................................125
62. Mancherlei Regen. Nach Hebel..................... .... 126
63. Belehrung über das Wetterglas. Hebel..................................129
64. Die Winde................................................................131
65. Das Gewitter. G. Schwab........................................ .133
66. Die Wärme.............................................................134
67. Holz und Kohle...........................................................135
68. Der Herd und das Feuer...................................................138
69. Das Licht und die Farben*»»..............................................139
70. Der Regenbogen. Scriver. Schiller . . - - ?..................Hl
71. Die kleinen Fensterchen. Castelli.....................................142
72. Das Nordlicht. Nach F. A. W. Zimmermann, die Erde.....................143
73. Die Töne.................................................................14b
74. Lob der Tonkunst. Luther.................................................146
75. Von der Mannigfaltigkeit der Töne........................................147
76. Die Eisenbahn............................................................148
77. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Luther......................löO
V
Nro.
Seite
II. Bilder aus der Länder- und Weltkunde.
78. Die Hochebene von Oberschwaben. Nach L. Völter.....................151
79. Die Alb. Nach L. Böller............................................153
80. Das Ebenen- und Hügelland von Niederschwabe» und Franken. Nach
ES L. Böller.................................................................157
81. Der Schwarzwald. Nach L. Böller......................................161
82. Der Bodensee. Nach Grube ............................................164
83. Das Salzbergwerk Wilhelmsglück...........................................167
84. Fahrt durch das Salzbergwerk bei Hallein. Redenbachcrs christliches
Allerlei................................................................. 170
85. Die Alpen. Nach Gittermaun.............................................. 173
86. Das Alpenhorn. Redenbacher.............................................. 178
87. Ein Beispiel von Gottes Hülfe in der Noth. Potsdamer Lesebuch . . 179
88. Die Mönche auf dem St. Bernhardsberg. Nach Bormann .... 180
89. Die Gebirge Deutschlands. Nach Curtman .................................182
90. Die deutschen Flüsse. Nach Curtman.................................185
91. Susauna Reisacher. Redenbacher...........................................188
92. Claudius an Andreas......................................................194
93. Das deutsche Land. Nach Schreiber, Müller, Luden..................191
94. Der Hausstand ist die Grundlage des Staates. Luther................195
95. Vom Dienen. Jeremias Gotthelf............................................190
96. Die fromme Magd. Ringwaldt.....................................\\. i gg
97. Meister Hämmerlein. Schlez...................................X . 198
98. Segen und Unsegen eines Hauses. Pestalozzi...............................199
99. Die feuerspeienden Berge. Nach Jnbitz . .................................201
100. Der Vesuv. "Göthe................t....................................203
101. Das Erdbeben zu Lissabon im Jahr 1755 ................................... 204
102. Europa .................................................................. 206
103. Städte Europas............................................................210
104. Asten. Nach Grube........................................................ 213
105. Palästina. Groß..............................•........................216
106. Jerusalem. Nach Hackländcr ...............................................221
107. Afrika. Nach Grube...........................-........................222
108. Der Sklave. Potsdamer Lesebuch............................................225
109. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Nach Schacht .... 226
110. Das Meer. Nach Zschokke...................................................230
111. Heldeumuth. Sterns drittes Lesebuch.......................................233
112. Gestalt und Bildung der Erdoberfläche. Nach Schubert und Nisters
Lesebuch..................................................................234
113. Allgemeine Betrachtung über das Weltgebände (die Erde und die Sonne)
Hebel ....................................................................239
114. Morgenlied. Schiller................................................... 245
115. Der Mond. Hebel ........................................................246
116. Fixsterne, Planeten und Comcten. Hebel 248
VI
%'ie. Seite
III. Bilder aus Geschichte und Menschenleben.
117. Die Egypler. Nach C. L. Noth.......................................251
118. Die Spartaner. Nach Roth und Becker................................255
119. Die Athener und die griechische Sprache...........................257
120. Sokrates. Nach Roth und Becker ........................................258
121. Die Spiele der alten Griechen. Nach Barth und Becker . . . 260
122. Alexander der Große. Nach Dittmar, Barth und Roth.................262
123. Die Eömer. Nach Eoth und dem Gütersloher Jugendfreund . . . 264
124. Nom ist nicht in einem Tag erbaut worden. Hebel...................267
125. Die letzten Jahrhunderte des jüdischen Reiches. Nach Barth .... 267
126. Die Zerstörung Jerusalems. Nach Pfregner und Curtman .... 269
127. Die alten Deutschen. Gütersloher Jugendfreund, Müller.............273
128. Die deutsche Treue. Luthers Tischreden..................... . . 277
129. Hermann, der Befreier Deutschlands. Kohlrausch....................278
130. Leben der Christen in den ersten Jahrhunderten. W. Leipoldt . . . 281
131. Johannes und der Jüngling. Tholuk nach Clemens von Alexandrien 283
132. Maria und Martha. Heinrich Müller.................................285
133. Von den Ostereiern. Redenbacher...................................286
134. Verfolgungen der Christen. Nach Zahns Denkwürdigkeiten und den
auserlesenen Historien der Kirchengeschichte.......................287
135. Die Märtyrer.......................................................... 289
136. Sinnsprüche.......................................................289
137. Völkerwanderung. Nach Leipoldt und Kappe . ............................290
138. Augustinus, der Kirchenvater......................................292
139. Muhammed. Nach Leipoldt...........................................295
140. Die Einführung des Christenthums in Deutschland. Nach Nud. v. Rau-
mer und Leipoldt........................................................298
141. Sinnsprüche von Luther............................................302
142. Kaiser Karl der Große. Nach Fortmann, Becker, Barth und Rudolph
v. Raumer...............................................................303
143. Pabst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV. Nach Leipoldt .... 307
144. Die Kreuzzüge.....................................................311
145. Kaiser Friedrich I., genannt der Rothbart. Nach Heinrich Groß . . • 314
146. Schwäbische Kunde. Uhland.........................................322
147. Die Waldenser. Nach Leipoldt, Barth und Möhrlen (Buch der Wahr-
heitszeugen) ...........................................................323
148. Die besten Mauern. Karl Erüneisen.................................328
149. Graf Eberhard der Rauschebart. Uhlaud....................323
150. Die Trübsale der Vorzeit. Nach Barth, Geschichte von Württemberg . 336
151. Sinnsprüche............................................................340
152. Die Rache. Uhlaud...................................................340
153. Johannes Huß. Claudius.................................................340
154. Das Pulver.............................................................345
155. Die Buchdrncknknust. Nach Kappe........................................346
vn
Nr». _ Seite
156. Württemberg unter den Grasen.......................... .... .147
157. Herzog Eberhard' der ältere, oder Eberhard im Bart. Barth, wüttemb.
Geschichte.............................................................349
158. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Hebel..............................351
159. Graf Eberhards Weissdorn. Uhland....................................351
IGO. Der reichste Fürst. Justinus Kerner..............................352
161. Der Münsing er Vertrag. Barth, würtlcmb. Geschichte.................352
162. Columbus, der Entdecker von Amerika. Nach Kappe und Abel Lurkhardt 353
163. Das Ei des Columbus. Fr. Förster...............................356
164. Luthers Jugcndjahre. Nach Mathesius.................................357
165. Luther im Kloster. Nach Mathesius...................................360
166. Anfang der Reformation. Nach Haupt..................................361
167. Luther in Worms. Marheinekes Nesormalionsgeschichie ............363
168. Luthers Rückkehr nach Wittenberg. Gütersloher Jugendfreund . . . 367
169. Die Uebergabe des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses. Marheiueke . 368
170. Herzog Ulrichs Rückkehr in sein Vaterland. Karl Wolff...............369
171. Luther am Sterbebette seines Töchterleius Magdalena. Sartorius. —
Lebensspiegel III...................................................371
172. Luther in Noth und Tod. Gütersloher Jugendfreund....................372
173. Luther über die Bibel ...................................................375
174. Glaube. Luther......................................................375
175. Das Reich muß uns doch bleiben. Koch, Kirchenlied...................376
176. Prinz Christophs Flucht. Nach J. G. Hauff; Gustav Schwab . 377
177. 5perzog Christoph von Württemberg...................................379
178. Johannes Brenz, der Reformator Württembergs. Nach Barth . . . 382
179. Die Reformation in Hohenlohe. Nach Braun: die neue Erde 1841 . . 385
180. Gustav Adolph und der dreißigjährige Krieg..........................386
181. Konrad Widerhold. Nach Barth und Völter.............................392
182. Der betende Handwerksgeselle. Christenbote 1850 394
183. Das Hallische Waisenhaus. A. H. Franke ................395
184. Das that ich für dick)! Was thust du für mich? Wölbling .... 398
185. Die württcmbergische Tabea. Nach Rieger.............................399
186. Des Herrn Hülfe. Schubert, AltcS und Neues..........................401
187. Denksprüche.........................................................403
188. Joh. Jacob Moser auf Hohentwiel. Fach Ledderhose, Leben Mosers 404
189. Friedrich II., König von Preußen. Nach Friedrich Haupt..............407
190. Friedrich II. und General Ziethen. Eylert, Leben Friedrich Wilhelms III. 410
191. Seltene Uueigenuntzigkeit...........................................411
192. Der brave Soldat. Schanmanns Lesebuch...............................412
193. Ein guter Sohn. Pustkiichen-Glanzow .....................................413
194. Die französische Revolution. Nach Haupt und Barlh...................414
195. Warnung vor Aufruhr. Luther.........................................418
196. Napoleon. Nach Haupt................................................419
.197. Wie ein österreichischer Bauer re. Stern...........................426
198. Unglück der Stadt Leiden. Hebel.....................................426
199. Der Commandant in Hersfeld. Hebe!.................................... . 428
VIII
9Jro. Seite
200. Der Schneider in Pensa. Hebel.............................................429
201. Herr Charles. Hebel..........................................................
202. Die sonderbare Mauer. Chr. Schinid........................................437
203. Schlacht bei- Leipzig. Nach Kohlrausch....................................438
204. Die Schlacht bei Waterloo. Varnhagen von Ense.........................441
205. Oberlin. Schubert....................................................... 448
206. Die Jahre 1816 und 1817. L. Voller..................................... . 453
207. Lied eines Armen. Uhland..................................................454
208. Sparsamkeit. Heinrich Müller..............................................454
209. Führe uns nicht in Versuchung. Karl Schmidliu.............................455
210. Denksprüche...............................................................456
211. Pfarrer Flattich. Schubert................................................457
212. Haushaltungssorgen. Luther................................................459
213. Die Bibelgesellschaften. Nach Sartorius ......................459
214. Die Mission. Nach W. Hoffmann ............................................464
215. Stand der Missionsarbeit im Jahr 1848. Nach W. Hoffmann . . . 469
1. Zeistafel für die allgemeine Geschichte.............................474
2. Zeittafel für die Geschichte Württembergs.............................484
3. Reihe der württembergischen Regenten..................................491
4. Statistische Angaben über Württemberg.................. - - 492
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1. An meinen Sohü Johannes 1799.
Gold und Silber habe ich
ich aber habe, gebe ich
nicht; was
Lieber Johannes!
Aie Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß,
den man nicht wieder kommt. Ich kann dich nicht mitnehmen, und
lasse dich in einer Welt zurück, wo guter Rath nicht überflüssig ist.
Niemand ist weise von Mutterleib an; Zeit und Erfahrung lehren
hier und fegen die Tenne.
Ich habe die Welt länger gesehen, als du. Es ist nicht Alles
Gold, lieber Sohn, was glänzt, und ich habe manchen Stern vom
Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen
sehen.
Darum will ich dir einigen Rath geben und dir sagen, was ich
funden habe und was die Zeit mich gelehret hat.
Es ist Nichts groß, was nicht gut ist, und ist Nichts wahr, was
nicht bestehet.
Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von
ungefähr in dem schlechten Rock umher.
Alle Dinge mit und neben ihm gehen dahin, einer fremden Will-
kür und Macht unterworfen; er ist sich selbst anvertraut und trägt
sein Leben in seiner Hand.
Und es ist nicht für ihn gleichgültig, ob er rechts oder links
gehe.
Laß dir nicht weiß machen, daß er sich rathen könne und selbst
seiüLN Weg wisse.
s Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare siehet er
nicht und kennet sie yicht.
Spare dir denn vergebliche Mühe, und thue dir kein Leid, und
besinne dich dein.
Halte dich zu gut, Böses zu thun.
Hänge dein Herz an kein vergängliches Ding.
Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, Ueber Sohn, sondern
7.M müssen uns nach ihr richten. .
t! LÄüuch 'a"' i
2
Was du sehen kannst, das siehe und brauche deine Augen; und
über das Unsichtbare und Ewige halte dich an Gottes Wort.
Bleibe dem Glauben der Väter getreu, und Haffe, die darüber
nur leer Geschwätz treiben.
Scheue Niemand so viel, als dich selbst. Inwendig in uns
wohnet der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr
gelegen ist, als an dem Beifall der ganzen Welt und an ihrer Weis-
heit. Nimm es dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu thun;
und was du sinnest und vorhast, schlag zuvor an deine Stirne und
frage ihn um Rath. jsEr spricht anfangs nur leise und stammelt wie
ein unschuldig Kind; doch, wenn du seine Unschuld ehrest, löset er
gemach seine Zunge und wird vernehmlicher sprechen^/
Lerne gern von Andern, und wo von Weisheit, Menschenglück,
Licht, Freiheit, Tugend rc. geredet wird, da höre fleißig zu. Doch
traue nicht flugs und allerdings; denn die Wolken haben nicht alle
Wasser, und-es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, daß sie
die Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden.
Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die Sache nicht, daß
man davon reden kann und davon redet. Worte sind nnr Worte;
und wo sie gar leicht und behende dahin fahren, da sei auf deiner
Hut; denn die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben,
gehen langsameren Schrittes.
^Erwarte Nichts vom Treiben und von den Treibern, und wo
Geräusch auf der Gasse ist, da gehe fürbaß.
Wenn dich Jemand will Weisheit lehren, so siehe in sein An-
gesicht. Dünket er sich noch, und sei er noch so berühmt, laß ihn
und gehe seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann
er auch nicht geben. Und der ist nicht frei, der da will thun können,
was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er thun
soll. Und der ist nicht weise, der sich dünket, daß er wisse, sondern
der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die
Sache des Dünkels genesen ist.
Wenn es dir um Weisheit zu thun ist, so suche sie, und nichts
das Deine, und brich deinen Willen und erwarte geduldig die Folgen»;
-----Denke öftHU'heilige Dinge, und sei gewiß, daß es nicht ohne
Vortheil für dich abgehe und der Sauerteig den ganzen Telg durch-
säure. , .
Es ist leicht zu verachten, Sohn; und verstehen ist viel besser» y
Lehre nicht Andere, bis du selbst gelehrt bist.
Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und laß dich
gern ihretwegen hassen;Aoch wisse, daß deine Sache nicht die Sache
der Wahrheit ist, und hüte, daß sie nicht ineinander fließen, sonst
hast du deinen Lohn dahin?/
Thue das Gute vor dich hin, und bekümmere dich nicht, was
daraus werden wird.
Molle nur einerlei, und das wolle von Herzen^
Sorge für deinen Leib, doch nicht so, als wenn er deine Seele
wäre.
Gehorche der Obrigkeit, und laß die Andern über sie streiten.
Sei rechtschaffen gegen Jedermann, doch vertraue dich schwerlich.
Mische dich nicht in fremde Dinge- aber die deinigen thue mit
Fleiß.
Schmeichle Niemand, und laß dir nicht schmeicheln.
Ehre einen Jeden nach seinem Stande, und laß ihn sich schämen,
wenn ers nicht verdient.
Werde Niemand Nichts schuldig; doch sei zuvorkommend, als ob
Alle deine Gläubiger wären.
Wolle nicht immer großmüthig sein, aber gerecht sei immer.
Mache Niemand graue Haare, doch wenn du Recht thust, hast
du um die Haare nicht zu sorgen.
Mißtraue dem Geberdenspiel, und geberde dich schlecht und recht.
Hilf und gib gerne, wenn du hast, und dünke dir darum nicht
mehr; und wenn du nicht hast, so habe den Trunk kalten Wassers
zur Hand, und dünke dir darum nicht weniger.
Sage nicht Alles, was du weißt; aber wisse immer, was du
sagest. , ...
Häuae dich an keinen Großen/
Sitze nicht, wo die Spötter sitzen, denn sie sind die elendesten
unter allen Kreaturen.
Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und
gehe ihnen nach. Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im Herzen
hat, ist wie die Sonne, die da scheinet und wärmt, wenn sie auch
nicht redet.
Thue, was des Lohnes werth ist, und begehre kein-en.
' Wenn du Noth hast, so klage sie dir und keinem Andern.
Habe immer etwas Gutes im Sinn.
Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu, und be-
Me mich nicht.
4
Stehe deiner Mutter bei, und ehre fie, so lange sie lebt, und
begrabe sie neben mir.
Und sinne täglich nach über Tod und Leben, ob du es finden
möchtest, und habe einen freudigen Muth; und gehe nicht aus der
Welt, ohne deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christen-
thuins^durch irgend Etwas öffentlich bezeugt zu haben.
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j [ ¿1-, 9 / rs'/f [f/ U 1/7 V
2. Das Gold.
^Das Gold hat wohl Mancher noch nicht viel anders gesehen,
als an den vergoldeten Gegenständen in den Kirchen, er weiß^aber
'darum doch so gut, wie ein Anderer, daß es gelb aussteht^M?gilt
für das edelste Metall wegen seiner schönen Farbe, seines schönen
Glanzes und weil es sich mit Leichtigkeit zu jeder Form verarbeiten
läßt. Mag es ferner Jahre lang in der Luft, im Wasser, im Schmutze
aller Art liegen, es ändert sich nicht, verliert weder die Farbe, noch
den Glanz, noch den Werth. Daß die Seltenheit seinen Preis er-
höht, versteht sich von selbst; allein es würde doch, wenn es noch so
gemein würde, immer wegen der genannten Eigenschaften einen hohen
Werth behalten. Es ist sehr schwer, etwas über neunzehnmal schwerer,
als das Wasser. Reines Gold ist weicher als Silber, aber härter
als Zinn, und läßt sich, ohne einen Ton zu geben, mit dem Messer
schneiden. Damit es härter wird und zu Münzen, zu Schmuck rc.
benützt werden kann, wird es gewöhnlich mit andern Metallen, vor-
nemlich mit Kupfer oder Silber, versetzt oder legirt. 'Mäher kommt
es, daß man von verschiedenkaratigem Golde spricht. Man nennt
nemlich eine Mark CU Pfund) reines Gold eine feine Mark. Diese
theilt man in 24 Karat. Man gibt dann nur den Goldgehalt an.
Hat also verarbeitetes Gold z. B. vierzehn Karat reines Gold und
zehn Karat Zusatz, so nennt man es vierzehnkaratig u. s. w^ Auch
durch Hämmern wird es etwas härter, aber nie sehr elastisch. //Von
allen festen Dingen ist es das dehnbarste. Man schlägt es
dünnen Blättchen, daß -8^,000 zusammen erst die Dicke eines^olls
haben.^/,^o ckaun^W^ ^inim,DM^, chdr^sch-«ich^Virt'großer-W^- _
- ausdehnen, daß sich ein Reiter mit samt dem
Pferd damit übergolden ließe.
gU In unserm deutschen Vaterlande hat man sonst auch Gold aus
dem Flußsande gewaschen. Es war aber niemals sehr viel darin, .
und in manchen Gegenden gehörte schon viel dazu, wenn einer den
ganzen Tag über für einen Groschen Gold herauswaschen wollte.
Damals war aber Alles noch so wohlfeil, daß von einem Groschen
eine ganze Familie einen ganzen Tag erhalten werden konnte. Jetzt
aber ist das anders, und da ist es sicherer, sein Brod auf eine andere
J Art im Schweiß feineL^AngeßchlL^u..essend
In manchen Gegenden von Afrika, Südamerika, Kalifornien und
Australien ist das freilich anders. Dort findet man nicht nur Körn-
lein Goldes, sondern auch Klümpchen und manchmal große Klumpen.
"Ich möchte aber deßwegen doch nicht dort sein, wo so vieles Gold
und Silber gegraben wird. Denn wenn ich mich auch vor den
Schlangen, vor den wilden Thieren und Menschen nicht fürchte, so
ist es doch da, wo am meisten Gold gefunden wird, öfters fo theuer,
daß man für ein solches Stück Brod, das bei uns einen Kreuzer
kostet, wohl dreißig bezahlen muß, und das haben auch die armen
Bergleute erfahren, die einmal vor etlichen Jahren wegen des großen
Tagelohns, den sie dort haben sollten, nach Amerika gingen. Sie
konnten ihren Frauen und Kindern gar kein Geld herausschicken, wie
fie gehofft hatten, und konnten sich für das viele Geld, das sie dort
bekamen, kaum satt an Brod essen. Auch sind die Leute dort sehr
faul und verschwenderisch und sonst schlimm, so daß sie bei all ihrem
Golde meistens viel weniger glücklich sind als wir, und öfters auch
ärmer. So wurde doch auch der reiche König von Spanien, Philipp
der Zweite, der fast alle Jahre ganze Schiffe mit Gold und Silber
beladen aus Südamerika, das damals sein war, bekommen hatte, am
Ende so arm, daß er durch Geistliche von Haus zu Haus Beisteuern
für sich sammeln ließ. Denn es kommt doch überhaupt nicht auf die
vielen Einnahmen, sondern auf Gottes Segen und auf Fleiß an,
' wenn man als ehrlicher Mann leben und auskommen will. Ich mei-
nestheils muß wohl sagen, daß mir ein gutes Gewissen viel tausend-
mal lieber wäre, als alle Berge in der Welt, wenn sie von Gold
wären.________
Bei uns glaubt manchmal auch einer, wenn er beim Pflügen
oder sonst wo ein Stücklein Schwefelkies oder Kupferkies findet, er
habe Gold gefunden. Ein solcher Fund ist aber meistens keinen
Pfennig werth, obgleich der Stein fast eben so gelb aussieht und auch
fast so glänzt wie Gold. Denn es ist nicht Alles Gold, was glanzt.
6
f
3. Das Eisen.
Das Gold ist in früheren Zeiten der König der Metalle genannt
worden; und noch jetzt wird es wegen seiner Seltenheit, wegen seiner
Farbe und seines unveränderlichen Glanzes unter allen Metallen
am meisten geschätzt. Wo Goldlager aufgedeckt werden, wie in Kali-
fornien oder Australien, dahin bewegt sich ein mächtiger Strom
von geld- und gewinnsüchtigen Menschen. Das Gold liegt dort
rein in der Gebirgsart, und es bedarf meist keiner großen Mühe,
um es aus seiner Lagerstätte zu Tag^ ru fordern. Weniger geachtet
wird-vuu^dew MListewdas^NM.^ Es sist gemein, von graulicher
Farbe, und seine Oberfläche wird an der Lust matt oder rostig. Es
liegt nicht als reines Metall in der Erde, sondern es muß erst müh-
sam aus seinen Erzen ausgezogen werden. Aber für die Länder selbst
ist Eisenreichthum heilsamer als Goldreichthum. Dieser verderbt die
Bewohner, indem er sie an Ueppigkeit und Genußsucht gewöhnt; wo
aber ein Land viel Eisenerze aus seinen Bergen zu Tage fördert, da
wird die Bevölkerung durch Arbeit und Fleiß genügsamer und
wohlhabender. Das Gold beherrscht die Gemüther der Menschen;
das Eisen dient ihnen als nützlichstes Werkzeug in allen Arten der
menschlichen Thätigkeit. Der Pflug und die andern Geräthschaften,
welche zum Anbau der Felder nothwendig sind, die Werkzeuge, welche
in den Gewerben benützt werden, die Messer, die Gabeln und viele
andere Gegenstände des täglichen Gebrauches bedürfen zu ihrer Her-
stellung des Eisens und verdanken diesem ihre wichtigsten Eigen-
schaften. In großem Maßstabe wird ferner das Eisen für die neuen
Verkehrsmittel, für Eisenbahnen und Dampfschiffe benützt; die Schie-
nen bestehen ganz, die Lokomotiven zum größten Theile aus Eisen.
Aber in allen diesen Fällen wird nicht ganz reines Eisen angewendet,
sondern dieses Metall erhält seine werthvollsten Eigenschaften erst durch
eine eigenthümliche Verbindung mit Kohle.
Wenn das Eisen aus der Mündung eines Hochofens als eine
glühende Masse herausströmt, so ist es mit einer ziemlich großen
Menge Kohle verbunden; diese gibt ihm die größere Schmelzbarkeit,
welche bewirk!, daß das Eisen in Formen gegossen, daß es zu Kü-
chengeschirren, zu Oefen u. s. w. verwendet werden kann. Aber für
andere Zwecke taugt dieses schwarzgraue Gußeisen nicht. Es ist sehr
spröd; es würde unter dem Hammer zerspringen und ließe sich nicht
zu scharfen Werkzeugen verarbeiten. Darum nimmt man dem Eisen
7
wieder durch eine neue Verarbeitung den größten Theil derjenigen
Kohle, welche sich beim Ausschmelzen der Erze mit ihm verbunden
hatte. Man bereitet aus dem Gußeisen das Stabeisen oder Schmiede-
eisen. Dieses ist sehr schwer schmelzbar, aber es wird in der Hitze
weicher und laßt sich mit dem Hammer bearbeiten. In den Schmiede-
werkstätten wird es auf mannigfache Weise verarbeitet. Aber zu
schneidenden Werkzeugen ist das Schmiedeeisen zu weich. Zu diesen
verwendet man den Stahl. Er enthält weniger Kohle als das Guß-
eisen, mehr als das Schmiedeeisen, darum ist er weniger spröd als
das erste, aber härter als das zweite. So gibt der verschiedene Ge-
halt an Kohle jeder Art von Eisen die Eigenschaften, welche für be-
■ j» sondere Zwecke der menschlichen Thätigkeit nothwendig sind, Wenn
man hienach sagen muß, daß kaum ein Gewerbe, kaum eine Arbeit
des täglichen Lebens zu denken ist, welche nicht durch das Eisen
auf eigenthümliche Weise unterstützt oder durch jenes Metall erst
möglich gemacht würde, so kann auf der andern Seite kein
Zweifel sein, daß der größere Theil aller derjenigen Körper, die
wir an der Erdoberfläche unterscheiden, größere oder kleinere Mengen
von Euen in sich enthält. Die bräunliche oder röthliche Farbe,
welche der Boden unserer Felder und Weinberge zeigt, rührt von
dem Eisen her, das jener Boden in kleinen Mengen einschließt. Noch
wichtiger erscheint dieses Metall, wenn wir in Anschlag bringen, daß
es im Blute des Menschen immer in sehr kleiner Menge vorkommt,
ja daß sein Vorhandensein zur richtigen Beschaffenheit des Blutes
nothwendig ist. Unter allen Metalleiz ist sicher das Eisen zugleich
das verbreitetste und das wichtigste. Zu diesen Eigenschaften des
Eisens kommt noch eine weitere hinzu, welche uns als besonders
räthselhaft mit Bewunderung erfüllen muß. Die Magnetnadel richtet
ununterbrochen ihr eines Ende nach Norden, ihr anderes nach Süden,
und doch ist sie nichts anderes, als ein stählerner Stab, welcher an
einem fertigen Magnet längere Zeit in bestimmter Richtung gerieben
wurde. Die Magnetnadel zieht für sich das Eisen an, und auf gleiche
Weise wird sie, so lange sie frei schwebt, von den beiden Polen der
Erde angezogen. Diese geheimnißvolle magnetische Kraft kommt dem
Eisen bei weitem mehr, als irgend einem andern Körper zu. Sie
wirkt nicht bloß, wenn Körper einander berühren, sondern ans kleinere
oder größere Entfernungen zieht der Magnet und wird er gezogen.
Wir müssen zugestehen, daß ohne das Eisen die magnetische Kraft
uns nie mit Sicherheit bekannt geworden wäre.
Wer möchte behaupten, das Gold sei werthvoller als das Eisen,
da jenes zwar das Auge ergötzt und als seltener Besitz hoch geachtet
wird, dieses aber Künsten, Gewerben und dem täglichen Leben un-
entbehrlich ist, am Baue unseres Körpers einen wesentlichen Antheil
1. Wenn wir nichts als Holz zur Feuerung hätten, so würden
manche Gegenden bald von den Menschen verlassen werden müssen.
Allein der weise Schöpfer hat noch für anderes Bren. material ge-
sorgt und unter der Erde aufbewahrt, woran sich die Menschen wohl
noch viele tausend Jahre wärmen können, das sind die Steinkohlen,
die Braunkohlen und der Torf. Vordem kannte man dieselben
wenig oder nicht, aber die Noth hat sie schätzen gelehrt. Für manche
Verrichtungen taugt selbst das beste Holz nicht so gut, als die Feue-
rung mit Steinkohlen, weil diese eine weit stärkere Hitze geben als
Holz. Für andere Zwecke ist der langsam glimmende Torf und die
ebenso ausdauernde Braunkohle vorzuziehen. Jedenfalls s/llen die-
jenigen, welchen es niemals an einem guten Herd- und Osenfeuer
mangelt, mag es nun aus 'dem Pflanzenreich oder aus dem Mineral-
reich stammen, der göttlichen Vorsehung für die Befriedigung eines
der ersten Lebensbedürfnisse in unserem kälteren Klima dankbar sein.
2. Die Steinkohlen werden gleich den Metallen durch Berg-
bau zu Tage gefördert. Glücklicher Weise sind aber ihre Lager ge-
waltiger, als die der Silber- und Kupfererze, sonst würde die saure
Arbeit der Bergleute nicht belohnt werden. So groß auch der Werth
der Steinkohlen wegen ihrer bedeutenden Brennkraft ist, so läßt sich
doch-nicht leugnen, daß sich mit ihrem Gebrauche manche Unbequem-
lichkeit verbindet. Ihre schwarze Farbe macht nicht nur die Berg-
leute den Schornsteinfegern gleich, sondern färbt auch in drr Küche
und am Ofen ab, Dazu ist die schwärzliche Asche äußerst fein, fliegt
bei dem geringsten Luftzuge im Hause umher und färbt Wände >und
Möbel schwarz. Und obendrein ist diese Asche nicht einmal brauchbar,
nicht als Dünger, noch viel weniger zu Lauge. In England, wo
fast nichts als Steinkohlen gebrannt werden, sehen ganze Städte von
dem Dampfe und Staube derselben geschwärzt aus Und der Geruch,
welcher den in der Kohle enthaltenen Schwefel verräth, soll zwar
nicht ungesund sein, gehört aber gewiß auch nicht zu den Aunehmlich-
4. Brennbare Mineralien.
fetten. Daneben erscheint es als unbedeutend, daß das Steinkohlen-
feuer sehr gern erlischt, und daß es besonderer Vorrichtungen oder
großer Aufmerksamkeit bedarf, um nicht plötzlich nach der stärksten
Glut todte Kohlen vor sich liegen zu sehen. Wenn aber ein Stein-
kohlenlager in Brand geräth, so gelingt es selten, die Glut zu
löschen. Oft wüthet sie Jahre lang unter der Erde fort. Die Stein-
kohlen sind aus ungeheuern Wäldern entstanden, welche durch eine
Umwälzung der Erdoberfläche umgewandelt und verkohlt wurden.
3. Auch die Braunkohlen sind durch versunkene Wälder ent-
standen, nur in jüngerer Zeit als die Steinkohlen. Denn es finden
sich in ihren Lagern noch ganze Stämme mit Aesten, Blättern und
Früchten, deren Gestalt sich deutlich erkennen läßt. Auch sind die
Braunkohlen bisweilen noch so holzähnlich, daß man glaubt, es seien
alte, abgebrannte Scheite. Merkwürdig ist, daß in Gegenden, wo
starke Braunkohlenlager sind, meistens auch mineralische Wasser ge-
funden werden, z. B. in Hessen und Nassau. Um sehr heftiges Feuer
zu erzeugen, fehlt es den meisten Braunkohlen au Brennkraft, auch
gilt ihr Geruch noch für widerlicher als der der Steinkohlen, deß-
wegen werden sie auch minder weit verführt, vielmehr meistens nur
in der nächsten Umgebung verbraucht.
4. Aehnlich verhält es sich mit dem Torf, wenigstens in den
Gegenden, wo es nicht gänzlich an Holz fehlt. In Holland freilich,
wo man von keinem andern Feuerungsmittel weiß, wird der Torf
zu Schiffe oft weit versendet. Er ist unter den genannten Brenn-
stoffen der einzige, der sich noch immer forterzengt und den man
geradezu zu dem Pflanzenreiche rechnen könnte; denn er besteht aus
einem dichten Filze von Wurzeln, der mit erdigen Theilen vermischt
ist. Diese Wurzeln erzeugen sich in Mooren (Sümpfen) mit solcher
Schnelligkeit, daß man nach zehn bis zwölf Jahren eine ausgestochene
Torfwiese aufs neue benützen kann. Dadurch wird die Torfgräberei
an manchen Orten sehr einträglich. Die Arbeit in den Abzugsgräben,
wie in den Torflagern selbst, ist zwar sehr beschwerlich, da die Leute
im Wasser oder Sumpf stehen müssen, allein sie dauert auch nur die
wärmsten Monate des Jahrs hindurch. Die ausgestochenen Platten
müssen auf Haufen gesetzt und getrocknet werden. Die weniger feste
Masse muß man sogar vorher gleich Lehm in Formen drücken. Merk-
würdig ist dabei, ^aß die besten Stücke am meisten zusammenschrumpfen,
so daß also nicht die größesten, sondern die kleinsten Torfplatten am
me.st-n Hitz« 9eben. £ 'Dj/b ;
10
% Von den übrigen brennbaren Mineralien ist der Schwefel
am bekanntesten. Seine Farbe hat zu dem Ausdrucke schwefelgelb
Veranlassung gegeben. Er brennt an der Luft mit bläulicher Flamme.
Dabei entwickelt sich eine Luft, welche uns am Athmen hindert und
zum Husten nöthigt. Auch der Geruch ist unangenehm. Durch die
scharfriechende Luftart, welche sich beim Brennen des Schwefels ent-
wickelt, werden wollene Kleider gereinigt, aber auch Thiere, z. B.
Bienen und Wespen, getödtet. Selbst Menschen können darin er-
sticken. Da aber das Feuer die nemliche Luft zum Brennen bedarf,
wie der Mensch zum Athmen, so läßt sich auch eine helle Flamme
durch Schwefeldampf löschen. Brennt es in einem Schornsteine, so
kann man durch eine darunter gesetzte Kohlenpfanne mit Schwefel
den Brand ersticken. Auch die Eigenschaft des Schwefels, daß er
langsam, aber sicher fortbrennt, hat man benützt, indem man durch
Schwefelfäden Pulverminen anzündet und noch Zeit behält, sich zu
retten. So geschieht es in Steinbrüchen und Bergwerken. Der
Schwefel wird meistens aus der Erde gegraben, besonders häufig in
Sicilien und im sächsischen Erzgebirg. Sonst sammelt man ihn auch
aus manchen Quellen, wo er sich am Rande ansetzt. Solche Wasser
werden gemeiniglich als Gesundbrunnen gebraucht.
u
5. Die Getreidearten.
Von den wichtigsten unserer Hausthiere, vom Hund, vom Pferd und
vom Rindvieh, weiß bis jetzt Niemand die ursprüngliche Heimat anzu-
geben. Wo man jene Thiere trifft, da finden sie sich nicht im wilden Zu-
stande, sondern entweder zahm oder verwildert. Ganz ähnlich verhält es
sich mit unsern wichtigsten Getreidearten. Die Heimat des Weizens,
des Dinkels, des Roggens, des Hafers und der Gerste ist völlig un-
bekannt, und nirgends finden sich wi.ldwachsende Exemplare jener
PsianzenTI Diese nützlichen Gewächse sind aufs innigste mit dem
Leben des Menschen verknüpft; sie trKkn nur mit ihm zusammen auf,
und keine menschliche Geschichte odör Erinnerung reicht zurück bis zu
den Zeiten, wo die Getreidearten zuerst dem Menschen als die vor-
trefflichsten Nahrungsmittel geschenkt wurden. Allerdings gilt dies
nur von den cgeuanntE Getreidearten, welche vorzüglich in Europa
benützt werden. Die Heimat von Reis und Welschkorn ist bekannt;
jener stammt aus Ostindien, dieses aus dem wärmeren Amerika. Aber
auch Reis und Welschkorn sind schon zu undenklichen Zeiten von den
V-' - r»
11
Eingebornen angebaut worden und haben sich seither durch Kultur
über alle Welttheile verbreitet. Wenn man annehmen darf, daß
Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste, Hafer und Reis ursprünglich nur
der alten Welt, das Welschkorn nur der neuen Welt angehörten, so
haben die verschiedenen Welttheile jetzt ihre Getreidearten ausgetauscht.
Aber jede ist noch an besondere Verhältnisse des Klimas, an Wärme
f) oder Kälte, Feuchtigkeit oder Trockenheit gebunden/- In den wärme-.
""reu Gegenden der gemäßigten Zone gedeihen Weizen und Dinkel
am besten; sie sind nahe mit einander verwandt und gehören zu
einer Pflanzengattung. Beide haben eine lange Aehre mit dichtste-
henden, an der gemeinsamen Spindel anliegenden Aehrchen; meist
fehlen ihnen die Grannen. Beim Weizen sind die Früchte nackt und
die Spindel zäh; der Dinkel hat beschälte^Früchte und eine zerbrech-
liche Spindel. Nördlicher gedeihh noch^der Roggen; seine Aehre ist
der des Weizens und Dinkels ähnlich; «kber die Aehrchen tragen immer
lange Grannen. Am meisten gegen die Pole hin kommt Gerste und
Hafer fort. Ju der Aehre der Gerste stehen die Aehrchen nicht ein-
zeln, wie bei Dinkel, Weizen und Roggen, sondern zu drei auf beV
gemeinsamen Spindel und laufen in lange Grannen aus. Die kurz-
gegrannten, hängenden Aehrchen des Hafers sind nicht dichtgedrängt
und zu einer cylindrischen Aehre verbunden, sondern jedes wird von
einem Stielchen getragen und alle zusammen bilden einen lockeren
Blüthenstand, eine sogenannte Rispe. Welschkorn und Reis lieben
sehr warme und feuchte Gegenden. Der Reis insbesondere bedarf
zu seinem Gedeihen sehr nassen Boden und wird zum Theil in den
gereinigten Schlamm natürlicher Sümpfe gesäet. In der gemäßigten
Zone kommen Reis und Welschkorn wohl fort; aber ihr Ertrag ist
hier ein weit geringerer, als in den Gegenden der heißen Zone.
Vor allem wirh von den Getreidearten das reife Korn benützt.
Jedermann weiß, wie dieses in den Mühlen zu Mehl verarbeitet wird.
Das beste, zum Brode tauglichste Mehl liefern die Getreidearten der
gemäßigten Gegenden, Weizen, Dinkel und Roggen. Auch die reisen
Körner von Gerste und Hafer, von Reis und Welschkorn werden ge-
mahlen. Aber ihr Mehl paßt weniger zur Brodbereitung; darum
werden sowohl das Mehl als die ganzen Körner auf mancherlei andere
Weise zur Nahrung verwendet. Wo indeß Getreide gebaut wird, da
liefert es den Menscheiss ein höchst wichtiges Nahrungsmittel. Es
bedarf Hu seinem Gedeihen der menschlichen Pflege, und diese beschränkt
sich nicht üuf wenige Wochen oder Tage, sondern zieht sich fort durch
12
•y
die ganze Dauer eines Jahres. Darum bindet auch der Getreidebau
allein die Völker an feste Wohnsitze. Der Jäger bedarf ein weites
Gebiet, auf welchem er die lebenden Thiere als Beute erjagt. Der
Nomade führt die Hausthiere mit sich, deren Fleisch und Milch er
genießt, er sucht im Wandern paffende Weiden für seine Heerden.
Der Ackerbauer aber bleibt in fester Verbindung mit dem Boden, auS
welchem unter sorgsamer Pflege ihm seine Nahrung erwächst.
Der Halm des Getreides dient grün oder getrocknet zum Futter
für die Hausthiere. In den Gewerben wird das Stroh mannigfach
verwendet. Endlich gewähren die Körner nicht bloß reichliche Nah-
rung, sondern sie werden auch in den verschiedensten Ländern in Gäh--
rung versetzt und liefern dann stärkere oder schwächere geistige Getränke.
So ist die Hauptsache im Bier der gegohrene Absud des Malzes,
d. h. der gekeimten Gerste. So werden aus unserem Getreide, wie
aus Reis und Welschkorn, branntweinartige Getränke gewonnen. Auf
diese Weise werden die Getreidearten Vielen zum schlimmsten Gifte;
aber in rechtem Maße genossen, sind die geistigen Getränke im
Stande, den Körper des Menschen zu stärken und seine Seele zu
ermuntern.
So tief greifen die Getreidearten in unser ganzes Leben ein.
Und doch sind sie nichts anderes, als Grasarten, ähnlich den Wiesen-
gräsern, an welchen wir nur den Halm, nicht aber das Korn schätzen.
Im Getreide wird das Korn der Gräser mächtig entwickelt. Dieses
Korn ist dem Menschen zur Nahrung und zur Erquickung gegeben; es
fesselt den Herumschweifenden an feste Wohnsitze und höhere Gesittung.
6. Her' Weinstock.
Der Herbst ist die Erntezeit des Weinstocks, dessen Früchte,
die edlen Trauben, dem Menschen weniger ein nothwendiges
Nahrungsmittel, sondern mehr einen erquickenden, erfreuenden
Genuss verschaffen, ihm eine Stärkung für seine leidende Ge-
sundheit gewähren sollen; dehn der Wein erquicket den Men-
schen das Leben, so man ihn mässiglich geniesst, und er erfreuet
des Menschen Herz. Gewiss hast du die Frucht schon als
frische Traube genossen, vielleicht sie auch in ihrem ausge-
pressten Saft als Wein, oder in ihrem getrockneten Zustand
als Rosinen kennen gelernt und dich ihres Genusses gefreut.
Das Vaterland des edlen Weinstocks ist uns, wie das Vater-
land der meisten Getreidearten und anderer Nutzpflanzen, nicht
mit Bestimmtheit bekannt. Mit ziemliches Gewissheit setzt man
es aber nach dem Morgenlande, nach Asien, in die Gegenden
zwischen dem schwarzen Meer und dem kaspischen. In den
Wäldern von Mingrelien und Imeretieri (am Kaukasus) bildet die
Weinrebe die. Königin der Bäume. Ihr Stamm, erreicht dort die
Dicke von drei bis sechs Fuss und steigt bis zum Gipfel der
höchsten Bäume hinan, dieselben ganz umschlingend und ver-
bindend. Und dennoch findet in diesen Gegenden kein eigent-
licher Weinbau statt, der Ueberstuss an guten Trauben ist aber
so gross, dass selbst der arme Landmann nicht alle Trauben
erntet, welche sich in seinem Bereich finden, sondern sie dem
Winter überlässt, und öfters noch kurz vor Ostern die Trauben
des vorigen Jahres vom Baume schlägt. Wohl möchte man
darum glauben, dass eine Pflanze dort zu Hause ist, wo sie
ohne Hinzuthun der pflanzenden Hand des Menschen die schön-
sten und schmackhaftesten Früchte liefert.
Auch in Palästina gedeiht der Weinstock vortrefflich, und
was die heilige Schrift von den grossen Trauben Kanaans er-
zählt (4 Mos. 13, 24.), das bestätigen auch neuere Reisende.
So schreibt z. B. Missionär Schultz vom Fusse des Libanon:
„Wir genossen das Abendes^pp unjtpr eipem grossen Weinstock,
dessen Stamm ungefähr «ftflirrn btt/ Fuss im Durchmc^ßer^atte.
Er bedeckte mit seinen Reben eine Hütte, mehr als funfzig-fusa
breit und ebenso lang. Hiebei erinnerte ich mich des Spruchs:
Ein Jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum
wohnen ohne Scheu (Mich. 4, 4.). Die Trauben an diesen Wein-
stöcken sind so gross, dass sie zehn bis zwölf Pfund wiegen,
und ihre Beeren haben die Grösse unserer kleinen Pflaumen.
Man^schneidet eine solche Traube ab, legt sie auf ein Brett von
•Biterthalb-Elfen breit und drei Esten lang, setzt sich um die
Traube herum, und Jeder isst davon, so viel er will. Hie und
da finden sich Trauben, die bis zwanzig Pfund wiegen, an deren
einer nothwendig ihrer Zwei miteinander tragen müssen, wenn
sie unverletzt fortgebracht werden soll. “
Jetzt ist der Weinstock über einen grossen Theil der Erde
verbreitet, wo nur die für das Reifen seiner Früchte und seines
Holzes nothwendige Sommer- und Herbstwärme gefunden wird.
In den heissesten Ländern gedeiht er nicht, weil es ihm dort
an der gleichfalls nöthigen Winterkälte fehlt. Besonders grosse
14
Verbreitung hat sein Anbau in Europa gefunden, wo er im Su-
den des grossen mitteleuropäischen Gebirgszuges fast überall
stattfindet; auch in unserem deutschen Vaterlande wird er nicht
unbedeutend betrieben. Besonders zeichnen sich Frankreich und
Oesterreich, und hier vorzüglich Ungarn, durch die Güte und Menge
ihres gewonnenen Weines aus. Durch den Anbau haben sich
eine Menge Abarten des Weinstocks gebildet,
denen, oft dicht bei einander liegenden Orten ganz verschiedene
Weinsorten gibt, so dass die Zahl der Weinsorten viel grösser
als die der Weinstockabarten ist. Im Allgemeinen sind die in
wärmeren Gegenden gewachsenen Weinsorten süsser und feuri-
ger, die in kälteren gewonnenen herber, aber duftiger. Wein-
stöcke zur Erziehung von Trauben zum Verspeisen werden auch
noch in Memel und ^Tilsit (an der nordöstlichen Grenze von
Preussen) gezogen. ^ Der Werth des in Europa gezogenen und
gewonnenen? "Weines lässt sich auf mehr als 1200 Millionen
Thaler annehmen, da über hundert und zwanzig Millionen Eimer
Wein in Europa jährlich gekeltert werden , von denen jeder
Eimer Wein im Durchschnitt wenigstens zehn Thaler werth ist.
Weder der Zucker- noch Kaifeebau, noch der Theebau der Chi-
nesen gewähren einen so grossen Ertrag.
Trinke nicht mehr Wasser, sondern brauche ein wenig
Weines dazu, um deines Magens willen und dass du oft krank
" bist. 1 Tim. 5, 23. Trink deinen Wein mit gutem Muth.
Pred. 9, 7. Aber wehe denen, die des Morgens früh auf sind,
des Kausens sich zu besteissigen und sitzen bis in die Nacht,
dass sie der Wein erhitzet. Jes. 5, 11. Denn der Wein macht
böse Leute, und wer Wein und Oel liebt, wird nicht reich.
Sprichw. 21, 17. Wehe denen, so Helden sind, Wein zu
saufen. Jes. 5, 22.
7. Der Weinbau in Württemberg.
Der Weinbau zieht sich an vier Stellen vom Rhein aufwärts in
das Innere von Württemberg, nemlich durch den Main und die Tauber
Mergentheim, wo sich in einer Höhe von 600—1080
Meeresfläche 7500 Morgen Weinberge befinden; sodann
g^en zweihügdcp^zähfep^- kann-r das Merkwürdigste hiebei ist
aber, dass ein und dieselbe Weinstockabart von zwei verschie-
15
durch den Neckar und seine Einflüsse von Norden her bis tief in die
Mitte des Landes, wo die Alb und der Schwarzwald dem Weinbau
Grenzen setzen; diese Weinbauflache zieht sich von 432 —1650 Fuß
aufwärts und umfaßt 74,000 Morgen; ferner durch die 'Salza,
Kraich, Alb in einer Höhe von 700 —1200 Fuß mit etwa 1100
Morgen; endlich vom Bodensee bis Weingarten von 1300 bis 1730
Fuß mit 2300 Morgen. Man kann also die ganze dem Weinbau
angehörige Bodenfläche in Württemberg in runder Summe zu 85,000
Morgen annehmen.
Die Geschichte des Weinbaus in Deutschland geht bis in das
dritte Jahrhundert nach Christus zurück; namentlich weiß man, daß
Kaiser Probus ums Jahr 280 den verabschiedeten fremden Soldaten
die Erlaubniß ertheilt hat, am Rhein und an der Mosel Weinberge
anzulegen.
Auch die Schwaben scheinen von den Römern den Weinbau ge-
lernt zu haben, wofür manche auf den Weinbau und die Weinberei-
tung bezügliche Ausdrücke sprechen, die in der römischen Sprache ihre
Wurzel haben*).
Besondere Verdienste um den Weinbau in Deutschland erwarben
sich die Glaubensboten und später die Klöster, die schon wegen der
Feier des Abendmahls den Wein nicht entbehren konnten.
So wurde nach der Sage die Altenburger Kirche bei Cannstatt
von dem heiligen Urban gegründet, der die Gäste, welche zu dieser
Kirche wallfahrteten, auch in der Behandlung des Weinstocks unter-
richtet haben soll. „Hieran haben viele Menschen guten Gefallen
gefunden, und wo ein sonnenreicher Berg sich erhob, der im Frühjahr
am ehesten von Schnee befreit war, da seien Reben gepflanzt worden,
besonders an den südlichen Höhen von Cannstatt bis Eßlingen."
Karl der Große, der überhaupt um die Landwirthschaft große
Verdienste sich erworben hat, widmete dem Weinbau eine besondere
Aufmerksamkeit, und die Sage nennt ihn z. B. als den Gründer
der Jngelheimer oder Rüdesheimer Weinberge am Rhein.
Aus den Zeiten der Karolinger hat man denn auch die ersten
urkundlichen Nachrichten über den Weinbau in Schwaben; so z. B.
von Brackenheim, Schwaigern, Marbach, Pleidelsheim, Murr, Stein-
heim li. s. w., später von Bottwar, Dürrenzimmern, Metterzimmern
/2
*) Anni. Z. B. Wein (vivum), Leira (lora), Torkel—Kelter (torcular), Bracke»
(brachium) u. st.
und Frauenzimmern; noch später im elften und zwölften Jahrhundert
von Bothnang, Wahlheim, Beinstein, Asberg u. s. w.
Weitere Fortschritte machte der Weinbau unter den Hohenstaufen;
die Hofgüter waren, wie bei Karl, zugleich Musterwirthschaften, die
Weinberge Musterweinberge.
Barbarossa ließ in Schwaben Obst- und Weingärten anlegen
und sowohl er, als Friedrich U. beschützten die Weinberge durch strenge
Gesetze.
Allmählich wurde der Weinbau ein Hauptnahrungszweig für
Württemberg, und die Neckarweine, wie die württembergischen Weine
im Allgemeinen genannt wurden, erfreuten sich im fünfzehnten, sech-
zehnten und siebenzehnten Jahrhundert eines ganz besonderen Rufs.
Sie waren selbst am kaiserlichen .Hof in^Wien^ sehr^beliebt^Kaiser
Maximilian schrieb 1565 an den Herzog Christoph, daß sie von ihm
„gar unsers Munds und Trunks ausbündig gut befunden worden",
und wieder 1568, daß „er sich zu seinem eigenen Mundgetränke
immer keines andern als derselben gebrauche." Selbst die Gemahlin
Kaiser Ferdinands I., die doch eine ungarische Prinzessin war, schrieb
1527 an den württembergischen Statthalter in Stuttgart, daß sie den
Neckarwein dermaßen gewohnt, daß es ihr ganz „wider und schwär
wär, ander Wein zu trinkhen", und er sie daher wieder mit guten
Neckarweinen „in die Kindpeth" ^ersMn-Me.
Noch im achtzehnten Jahrhundert wurden auf Bestellung mehrere
Sendungen von Neckarwein nach England an den Herzog von Marl-
borough gemacht, der im Jahr 1704 mit dem Prinz Eugen von Sa-
voyen und Ludwig von Baden denselben im Lamm zu Großheppach
selber kennen gelernt hatte.
Auffallend ist, daß unter die vorzüglichen Gewächse auch Weine
von solchen Orten gezählt wurden, die eine weniger gute Lage hassen;
aber es waren rothe Weine, die aus Clevnertrauben daselbst erzeugt
wurden. Außerdem werden als die gewöhnlichen Rebsorten genannt:
die Traminer, Veltliner, Gutedel und Muskateller, also lauter edle
Sorten. Wie auf den Samen, so scheint auch auf die Bereitung
des Weins mehr Sorgfalt verwendet worden zu sein, als später.
Herzog Friedrich I. schickte dem Herzog Heinrich Julius von Braun-
schweig 1597 zwei Faß rothen Claretwein, in der Gegend von Stutt-
gart gewachsen und „uff Burgundi Art zugerichtet". #
-'"~S)er Weinbau hatte in Württemberg ehemals eine viel größere
Ausdehnung als gegenwärtig; es wurde in Gegenden Wein gebaut,
\
welche gar nicht dazu geeignet waren, und wo deßwegen der Weinbau
längst wieder aufgegeben ist, so z. B. bei Herrenberg, Horb, Sulz,
Balingen, Urach, Gmünd und in vielen andern Gegenden. Auch in
Ulm und Söflingen wurde früher Wein gebaut.
Völlig aufgegeben wurde der Weinbau im Donauthal und Na-
goldthal. Abgenommen hat er am meisten im obern Neckarthal, im
Jagst- und Kocherthal. In Biberach, Gaildorf, Rottweil, Tettnang,
Nürtingen und andern Orten wurde der Weinbau wegen des rauheren
Klimas, ungeschützter Lage, wegen der Frühlings - und Herbstfröste,
wegen vieler Fehljahre und geringen Ertrags theils ganz ausgegeben,
theils wesentlich beschränkt.
Am verderblichsten wirkte auf den Weinbau der dreißigjährige
Krieg. In ihm wurde eine Menge der besten Weinberge zerstört und
später mit unpassenderen, geringeren und vornemlich mit vielerlei
Trauben durch einander bepflanzt. So war nach jenem Kriege um
die Stadt Heilbronn her im Umkreise von drei Stunden kein einziger
Rebstock, ja auch kein einziger Obstbaum mehr zu finden. In den
Kriegsjahren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts über-
schwemmten das Land fremde Kriegsvölker, welche im Genusse der
Weine nicht wählig waren. Daher sah man mehr auf die Menge
als auf die Güte des Weins.
Nachdem die Negierung schon seit der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts auf Verbesserung des Weinbaus hingewirkt, war es beson-
ders die Regierung des Königs Wilhelm, welche, wie der ge-
samten Landwirthschaft, so auch der Hebung des Weinbaus ihre be-
sondere Fürsorge zuwendete.
Die königlichen Weinberge, mit den edelsten Reben bestockt und
nach den bewährtesten Grundsätzen behandelt, wurden die Muster-
weinberge für das ganze Land. Der höhere Preis des in den hof-
kammerlichen Weinbergen verkauften Weines reizte auch den gegen
Neuerungen mißtrauischen Weiugärtner zur Nachahmung, während
vorurteilsfreie Gutsbesitzer sich schneller zu Verbesserungen entschlossen.
Zur Emporbringung des vaterländischen Weinbaus bildeten sich
zu Stuttgart in neuerer Zeit zwei Gesellschaften, deren Wirksamkeit
sich über das ganze Land erstteckt, nemlich die Gesellschaft für die
Verbesserung des Weins im Jahr 1824 und der Weinbauverein im
Jahr 1^28. Beide Gesellschaften haben schon viel Gutes gestiftet,
namentlich hat die Anlegung von Musterweinbergen in den besseren
Lagen des Landes an manchen Orten auch einzelne Weingärtner
Letzbuch. 2
18
| von Profession veranlaßt, die schlechteren Nebsorten ihrer Weinberge
nach und nach durch edlere Weinstöcke zu ersetzen. Und das ist löb-
|j lich; denn man soll zwar nicht auf alles Neue losfahren, als wäre
I nur dieses gut, aber mau soll auch nicht so am altgewohnten Her-
kommen hängen, als wäre dieses immer das beste, sondern Rath
annehmen und zum.guten Alten das, gute Neue thun.
' 'fish/-
8. Mas erste rmd"jWfltr KarrsMMcht.
Franz Drake hatte einen Freund in England, welchem er von
Amerika aus Kartoffeln zur Aussaat uach Europa schickte, wobei er
ihm schrieb, die Frucht dieses Gewächses sei so trefflich und so nahr-
haft, daß er ihren Anbau für sein Laterland für höchst nützlich halte;
schrieb aber sonst nicht ein Wort über Beschaffenheit und Eigenschaft der
Kartoffel, über Pflanzung, Wartung und Einerntung derselben, wie denn
Drake überhaupt ein Mann karg von Worten, keck, rasch und kräftig von
Thaten war. Aber der Freund des Drake wollte die amerikanische Pflanze
aus seinem Garten wieder herausreißen und wegwerfen lassen. Und daS
kam durch ein Mißverständniß, wie denn oft Mißverständnisse schuld
sind, daß manches Gute nicht zu Stande kommt. Der Freund dachte
nemlich, Franz Drake habe mit dem Worte „Frucht" die Samen-
knollen gemeint, die am Kartoffelkraute hängen. Da es nun Herbst
war, und die Knollen schön gelb geworden, lud der Mann eine Menge
vornehmer Herren zu einem Gastmahle ein, wo es hoch herging. Am
Ende kam auch eine zugedeckte Schüssel. Und der Hausherr stand
auf, brachte einen Toast aus, und hielt darauf eine schöne Rede an
die Gäste, in welcher er sagte, er habe hier die Ehre, seinen werthen
Gästen eine Frucht vorzusetzen, zu welcher er den Samen von seinem
Freunde, dem berühmten Seefahrer Franz Drake, erhalten hätte, mit
der Versicherung, daß ihr Anbau für England höchst wichtig werden
könne. Und alle Gäste standen auf, stießen an mit den Glasern,
ließen den Seehandel hoch leben und den Wein sich recht gut schmecken.
Die Herren aus dem Parlamente kosteten nun die Frucht, die m
Butter gebacken, und da der Koch keinen Geschmack hatte hineinbrin-
gen können, mit Zucker und Zimmet u. s. w. bestreut war. Aber die
Frucht schmeckte abscheulich, und es war schade um den Zucker und
das Gewürz und um den leckern Wein, der getrunken wurde, um die
Kartoffeläpfel hinunterzubringen. Darauf urtheilten alle weisen Herren
am Tische, die Frucht könne wohl recht gut für Amerika sein, aber
19
in England werde sie nicht reif. Und der Wirth traute den Gästen,
denn er glaubte, es seien Herren aus dem Parlamente, die viel Ver-
stand haben und Alles recht genau kennen müßten, und was sie sagten,
sei richtig und wahr. Und da ließ denn der Gutsbesitzer einige Zeit
nachher die Kartvffelsträucher herausreißen und wollte sie wegwerfen
lassen. Aber eines Morgens im Herbste ging er einmal durch seinen
Garten und sah in der Asche eines Feuers, das der Gärtner sich
angemacht hatte, schwarze, runde Knollen liegen. Er zertrat ein
solches Ding, und stehe, es war inwendig ein schönes, weißes Mehl;
und da er das Ding in die Hand nahm, duftete es ihm so lieblich
entgegen, wie eine gebratene Kartoffel. Der Herr fragte den Gärt-
ner, was für Knollen das wären. Und der Gärtner antwortete und
sagte ihm, daß sie unten an der Wurzel des fremden, amerikanischen
Gewächses gehangen hätten. Nun ging dem Herrn erst das rechte Licht
auf, wie es oft zu gehen pflegt, daß man z. B. klüger ist, wenn man
vom Rathhause kommt, als wenn man hinausgeht, und daß nach der
That der kluge Rath kommt. Kurz, der Herr merkte, was sein Freund
Franz Drake gemeint hatte, und lernte, daß bei der Kartoffel Wurzel,
Same und Frucht beisammen sind. Er ließ die Knollen sammeln,
zubereiten, und lud dann die Parlamentsherren wieder zu Gaste. Gewiß
wurde wieder mancher Toast ausgebracht. Wahrscheinlich wurde wie-
der eine Rede gehalten, und der Inhalt derselben wird wohl gewesen
sein, daß der Mensch, wenn er bloß nach dem urtheilt, was so eben
an und auf der Oberfläche ist, und nicht auch tiefer gräbt, bisweilen
gar sehr irren könne. Und so ist es denn auch!
9. Hanf und Flachs.
Diese beiden Gewächse, welche in Deutschland fast allenthalben
angebaut werden, verdanken ihre Verbreitung weder ihrer Blüthe,
noch ihren Früchten, sondern ihrem Stengel. Dieser enthält nemlich
Schalem befrerfffind, -biegsame FadLü geben, die sich spinnen lassen.
Welchen unendlichen Nutzen diese gewähren, kann sich Jeder selbst aus-
zählen, wenn er cmMe Waaren des Seilers, an die Fäden von dem
Pechdrathe des Schusters bis zu dem Zwirn der Nätherin, an die
Leinwand von dem groben Packtuche bis zu dem feinsten Battist
denkt. Zwar hat man in neuerer Zeit die ausländische Baumwolle
vielfach an die Stelle des Flachses gesetzt, aber das feinste und dauec-
2*
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haftefte Gewebe bleibt immer die Leinwand. Der Hanf hat den Vor-
zug größerer Festigkeit und Dauerhaftigkeit, aber Feinheit und Schön-
heit bleibt auf der Seite der flächsenen (leinenen) Gespinstes Und
wie viele Personen finden Arbiit und Verdienst bei der Behandlung
dieser beiden Gewächse! Der Bauer, welcher pflügt und säet, die
Weiber, welche die WinterMnde durch Spinnen und Haspeln kürzen,
im Herbste brechen, schwingen und hecheln, im Sommer das gefertigte
Tuch bleichen, die Weber, welche spulen, zetteln und weben, die
Färber, welche dem Garn oder der Leinwand eine andere Farbe geben:
Alle haben ihren Vortheil von dem Anbau dieser Pflanzen, den Seiler
gar nicht gerechnet. Dazu kommt, daß Hanf und Flachs öligen Sa-
men bringen, welcher sich mannigfach benützen läßt, der Hanf mehr
als Futter für im Käfig gehaltene Vögel, der Lein aber zu Oel,
welches wegen seiner Trockenheit zu Firniß und Oelfarbe unter allen
am brauchbarsten ist.
So groß die Aehnlichkeit in der Behandlung des Hanfes und
Flachses ist, so ungleich find sich die Pflanzen selbst. An dem Hanf
ist Alles größer und gröber, mannshohe Stengel, dickere, runde Sa-
menkörner, widriger Geruch, unschöne Blüthe; an dem Flachs ist dies
alles anders. Dennoch erträgt der letztere mehr Kälte und kommt
in geringerem Boden fort. Der beste Lein kommt aus Rußland, der
beste Hanf aus Italien.
10. Deutsche Sar-elspstan)en,
f In dem Pflanzenreiche hat Gott für viele lebendige Geschöpfe
und besonders für den Menschen einen Segen niedergelegt, dessen
Größe noch nicht völlig erkannt und ermessen ist. Die Pflanzen die-
nen für Menschen und Thiere zur Nahrung, zur Labung und Erfri-
schung in kranken und gesunden Tagen, zur Heilung innerer und
äußerer Schäden, zur Wohnung, Kleidung und Erwärmung, zu einer
Menge von Geräthschasten und zum Betriebe verschiedener Gewerbe.
Der größte Theil dieses Segens geht durch die Hände des Land-
mannes, der die nöthigen und nützlichen Pflanzen, welche nicht wild
wachsen, dagit, und was er vom Ertrag seines Feldes entbehren kann,
zu seinem und Anderer Nutzen verkauft. Obst, Most und Wein, die ver-
schiedenen Getreidearten und Küchengewächse, Kartoffel und Welschkorn
(Mais), Kraut und Rüben, Hanf und Flachs, Reps und Mohn, Klee
und Gras und wie vieles Andere noch wird so bei uns gebaut und
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in den Handel gebracht.^ Aber auch solche Gewächse werden gepflanzt,
von welchen der, der sie pflanzt, keinen andern Gebrauch macht, als
daß erst sie an Gewerbtreibende verkauft und dadurch einen schöner
Lohn für seine Mühe und einen reichlichen Zins von seinem Ackei
empfängt. Mehr als bei uns ist das in andern Welttheilen bei
Fall, aus welchen wir für gutes Geld Zucker und Kaffee, Thee, Ge-
würze, Arzneimittel, Baumwolle und vieles Andere beziehen. Aber
auch in Europa und insbesondere in unserem deutschen Vaterlande
ist der Boden so ergiebig, daß neben dem, was die zahlreiche Be-
völkerung an Nahrungsmitteln und Kleidungsstoffen bedarf, noch hin
und wieder Manches für den Handel gebaut werden kann. Und ob-
wohl die Gewächse der wärmeren Gegenden bei uns gewöhnlich im
Freien nicht gedeihen, gibt es doch noch viele, für welche unser Klima
ganz angemessen ist und welche einen schönen Ertrag gewähren. In
der neuesten Zeit sind durch den erleichterten Verkehr mit andern
Ländern die landwirthschaftlichen und gewerblichen Verhältnisse in
Deutschland vermehrt, Lust und Muth zu Unternehmungen geweckt
und besonders durch die Fürsorge des Königs Wilhelm die Land-
wirthschaft und der Betrieb der Gewerbe in Württemberg so gehoben
worden, daß man auch bei uns Manches zu pflanzen beginnt, was
unseren Voreltern fremd gewesen und nur aus andern Ländern zu
uns gebracht worden ist. Wie vieles Geld wird jetzt in manchen
Gegenden aus den Zuckerrüb en erlöst, welche in die Zuckerfabriken
geliefert werden! Wie einträglich ist in den meisten Jahren der Bau
des Hopfens, den unsere Bierbrauer früher, um das Bier damit
gewürziger, stärker und haltbarer zu machen, von ferne her beziehen
mußten! In manchen Gegenden des südlichen Deutschlands baut
man jetzt mit gutem Erfolge die Tabaks pflanze, deren Heimat
das mittlere Amerika ist, und verkauft ihre getrockneten Blätter an
die Tabakssabriken, wo sie durch eine Art vou Gährung von ihren
schädlichen Eia^schasten befreit und zum Rauchen und Schnupfen zube-
reitet werden. Man pflanzt da und dort den weißen Maulbeerbaum,
dsssen, Blätter* Ne beste Nahrung für die Seidenwürmer und.
sucht damit die Seidezucht bei uns einheimisch zu machen^ Die
Weber-Karden, deren reife Blüthenköpfe zum Kardätschen (Rau-
hen, Auskratzen) des Tuches gebraucht werden, wurden früher aus
^üblicheren Ländern bezogen; jetzt gedeihen sie bei uns unter ver-
ständiger Behandlung so, daß wir bald keine ausländischen mehr
nöthig haben werden. Anch ffüv manche Faabpslanzew ist unser
Boden und Klima ganz geeignet. Mehrere wachsen sogar wild bei
uns, und wenn sie in gutem Boden gebaut werden, gewähren sie
einen schönen Ertrag. Unter diese gehört der Wau, eine Reseden-
art, dessen sämtliche Theile eine schöne gelbe Farbe enthalten; er ist
bisher häufiger in Frankreich als in Deutschland gebaut worden; daß
er aber bei uns wohl gedeihen kann, sieht man schon daran, daß er
auch an Rainen und Wegen bei uns üppig wächst. Dasselbe gilt
von der Färberdistel, welche zu den gebräuchlichsten und besten
gelbfärbenden Kräutern gehört; sie wächst in unsern Wäldern häufig
wild, wird aber in einigen Gegenden Deutschlands mit Fleiß gebaut
und gedeiht recht gut in einem feuchten, tief umgebrochenen, mit Ruß
und Asche gedüngten Wiesengrnude. In früherer Zeit wurde auch
der Waid in Deutschland gebaut, dessen Kraut ein vortreffliches Blau
gibt; er ist aber durch den Indigo, der aus beiden Indien zu uns
gebracht wird, allmählich verdrängt worden. Dagegen könnte der
Krapp bei uns noch mehr angebaut werden, dessen Wurzeln eine
sehr dauerhafte rothe Farbe geben, womit, wie man sagt, auch das
schöne rothe türkische Garn gefärbt ist und dessen Kraut auch für das
Vieh ein gutes Futter gewährt. Ebenso nützlich ist der Saflor, der
hin und wieder in Oesterreich, in Thüringen und am Rhein gepflanzt
wird; denn nicht nur geben seine Blüthen eine schöne gelbe oder
rothe Farbe, sondern auch seine getrockneten Blätter sind ein Winter-
futter für die Schafe und seine harten Stengel können zur Feuerung
benützt werden.
Wer sieht nicht, daß wir in einem gesegneten Lande leben, das
uns noch Vieles, was wir von außen kommen lassen zu müssen meinten,
geben kann, wenn wir nur mit Umsicht und Treue die Mittel und
Kräfte benützen, die uns zu Gebot stehen, und des Segens Gottes,
an dem Alles gelegen ist, theilhaftig bleiben^
11. Einkehr.
/
%
Bei einem Wirthe, wundermild,
Da war ich jüngst zu Gaste;
Ein goldner Apfel war sein Schild
An einem langen Aste.
Es war der gute Apfelbaum,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohl genähret.
23
5
r
Es kamen in sein grünes Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste,
Sie sprangen frei und hielten Schmaus
Und sangen auf das beste.
Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
Auf weichen grünen Matten;
Der Wirth, er deckte selbst mich zu
Mit seinem kühlen Schatten.
Nun fragt ich nach der Schuldigkeit,
Da schüttelt' er den Wipfel.
Gesegnet sei er allezeit,
Bon der Wurzel bis zum Gipfel!
12. Von den Giftpflanzen.
/ Gift nennen wir im gewöhnlichen Leben alle äußeren Stoffe,
/welche eine heftige und verderbliche Wirkung auf den menschlichen
oder thierischen Körper hervorbringen. Giftige Erzeugniffe gibt es
in allen drei Naturreichen. Wer hätte nicht schon von giftigen
Schlangen gehört, z. B. der Klapperschlange, deren Biß oft in
wenigen Minuten tödtet?
Doch, gottlob, in unserm Vaterlande sind böse Gäste dieser
Art nicht häufig.
Das Mineralreich liefert den schrecklichen Arsenik), doch der
wird in der Regel in den Apotheken wohl verwahrt. Aber das
. Pflanzenreich hat sein Gift so offen ausgestellt, in Gärten, auf
j Wiesen, in Wäldern, daß eine Belehrung und Warnung der Un-
kundigen gar noth thut. Starben doch vor wenigen Jahren wieder
in Berlin drei Kinder, wM sie von einer Wurzel des Wafferschier-
Aieser Wasserschierling ist eine der ge-
tänzen; -er^mirv-Äuch Parzenkraut oder giftiger Wüthe-
rich-gena««t. Seine Wurzel hat einige Aehnlichkeit mit Sellerie oder
auch mit Pastinak, und unverständige und naschhafte Kinder haben
sie oft dafür gegessen und sind, wenn nicht schleunige Hülse kam,
jämmerlich gestorben. Eigentlich ist es so schwer nicht, den Wasser-
schierling von andern Gewächsen zu unterscheiden. Er wächst am
häufigsten an Gräben und Teichen und auf bemoostem Sumpfboden,
und schon dieser Standort macht die Pflanze verdächtig. Aber das
sicherste Kennzeichen ist der eigenthümliche Bau der Wurzel. Sie ist
24
zum Theil hohl und durch Querwände in mehrere Fächer geschieden;
vornemlich aber in diesen Fächern befindet sich der schädliche, schnetl-
tödtende Saft der Pflanze. Wer die 'Wurzel der Länge nach durch-
schneidet, wird an diesen Fächern sogleich den Wasserschierling erken-
nen. Die alten Griechen haben den Schierlingssaft zur Hinrichtung
von Verbrechern benützt, z. B. bei dem edel» Sokrates (s. Nr. 120).
Den gefleckten Schierling, den- man auch Wuth sch rerttng
und Tollkerbel nennt, unterscheidet man leicht an den rothbraunen
Flecken auf dem Steilgel und an den Aesten. Aber dies Kennzeichen
fehlt zuweilen, und da muß man auf andere Kennzeichen achten.
Die Blätter z. B. sind gezahnt, und die Zähne sehen an den
Spitzen wie versengt aus. Wenn ihr etwa die Blätter zwischen den
Fingern zerreibet, so geben sie einen eigenthümlichen widrigen Geruch
von sich, an dem ihr die Pflanze leicht unterscheiden könnet. Wer
darauf nicht achtet, verwechselt sie leicht mit Kerbel oder mit
Petersilie.
Die meiste Aehnlichkeit mit der Petersilie hat die dritte Gattung
des Schierlings, welche man Gleiße oder Hundspetersilie
(Hundspeterling> nennt. Daher sind Verwechslungen der beiden
Pflanzen sehr häufig, und eine verständige Hausfrau sollte sich
darum bekümmern, wie sich beide von einander unterscheiden. Blühet
die Pflanze, so ist die Gestalt und Lage tz.er drei Deckblätlchen an
den Dolden ein untrügliches Merkmal. Am sichersten aber und zu
jeder Zeit unterscheidet man sie an den Blättern; denn diese sind
aus der untern Fläche glänzend, und wenn man sie zerreibt, haben
sie einen unangenehmen Geruch, beinahe wie Knoblauch.
Eine der gefährlichsten Giftpflanzen ist die Tollkirsche oder
TntfeLErfche <Teufelsbeere)i die auch den schön klingenden Namen
Belladonna führt. Die Aerzte gebrauchen sie häufig als Arzneimittel.
I Die Pflanze wird drei sechs Fufss hoch; die gabeligen Aeste, wie
auch die Blattstiele, die Blüthenstiele und Kelche haben feine, flau-
mige Haare, die Blätter sind eiförmig und ganzrandig, die Blüthen
schmutzig grünlichgelb mit bräunlichen Adern, am Saum purpur-
braun ins Violette. Den Unkundigen verlockt am leichtesten die
Frucht, die bei völliger Reife einer schwarzen Kirsche sehr ähnlich
steht. Kleine Gaben der Belladonna bewirken schon Flimmern vor
den Augen, Trockenheit und Spannung im Hals, größere verur-
sachen heftigen Schwindel, Betäubung, Raserei, Krämpfe in der
Luftröhre und im Schlund, Zuckungen und zuletzt den Tod.
Das schwarze Bilsenkraut, auch Zankkraut, Rachekraut,
ZigeMkerkbaut, Teufetsmige, Hüfiuvvgif^, Schlafkvartt, Tollkraut ge-
mrüttt,-ckst besonders kenntlich an den -klebrigen Haaren, mit welchen
Stengel und Blatter bedeckt sind, und an den schmutzig gelben
Blüthen, die mit einem purpurröthlichen Adernetz überzogen und am
Grunde purpurviolett sind. Man findet es vom Mai bis zum Au-
gust auf Schutthaufen und an Wegen, an Hecken und Zäunen. Es
verräth schon durch seinen widerlichen Geruch und die traurige,
schmutzig gelbe Farbe, daß man nicht viel Gutes von ihm zu
erwarten hat. Zwar ordentlich angewendet ists eine wirksame Arz-
nei, welche Schmerzen und Krämpfe stillen und Schlaf machen soll;
aber unvorsichtig genossen äußert jeder Theil dieser Pflanze, vornem-
lich aber die Wurzel und der Same, gefährliche Wirkungen. Unter
die Cichorienwurzeln, welche man in einem Kloster zum Abendessen
bereitet hatte, waren zufällig einige Wurzeln der schwarzen Bilse
gerathen. Alle Mönche, welche von der Speise gegessen hatten,
fielen in gefährliche Zustände. Der eine glaubte, er klettere einen
Baum hinan und kroch doch nur an dem Ofen seiner Zelle umher;
ein anderer hielt die Buchstaben seines Gebetbuchs für lebendige,
hin und her laufende Ameisen; fast Alle klagten über Trockenheit im
Mund, heftigen Durst und Schwindel.
Der Stechapfel, Krötrmn'rtdr kmd"Sta
"mch- ^mwart^l ist noch viel schlimmer als das Bilsenkraut. Das
Bilsenkraut sagt es einem schon durch seine Farbe, daß es kein sehr
umgängliches Kraut sei; aber dieser häßliche Stechapfel hat eine so
schöne weiße Blüthe, daß man sie von fern für eine Lilie halten '
könnte. Die Fruchtkapsel ist mit Stacheln bedeckt, fast wie bei der
Roßkastanie, und inwendig liegen die kleinen schwarzen Körner,
deren Genuß Zuckungen, Zittern und Wahnsinn erzeugte Dennoch
hat sich der Mensch auch aus diesem giftigen Gewächs ein Heilmittel
gegen Raserei, fallende Sucht und heftiges Zucken der Glieder be-
reiten gelernt. Der Stechapfel wächst an Wegen, auf Schutthau-
fen und auf angebautem Land. Man sagt, die Zigeuner, haben ihn
aus dem Morgentauen mns ^
Manche GiftpM^en^ sind^ etwaig weniger gefährlich, gewähren
sogar manchen Nutzen, wollen aber doch mit Vorsicht behandelt sein.
Der rothe Fing er Hut z. B., der aus sonnigen Hügeln und in
gebirgigen Waldgegenden wild wächst und in den Gärten häufig
als Zierpflanze gezogen wird, hat giftige Blätter, welche gerieben
26
unangenehm riechen, bitter und scharf schmecken und sehr betäubend
sind. Dem blauen Eisenhut (kurzhelmigen Sturmhut oder Wolfs-
wurzel), der um seiner schönen, dunkel veilchenblauen, manchmal
weißen und violett gesäumten Blumen willen als Zierpflanze in den
Gärten gehalten wird, sagt man nach, daß in den Alpengegenden,
wo er sehr häufig wächst und die Bienen ihm viel zufliegen, der
Honig giftige Eigenschaften bekomme; am giftigsten scheint aber an
ihm die Wurzel und der Same zu sein. Der Nieswurz, auch
Läusekraut genannt, weil der Absud der Pflanze als Waschmittel zur
Vertilgung der Läuse oder anderen Ungeziefers bei Pferden, beim
Rindvieh u. s. w. gebraucht wird, wächst häufig auf Hügeln und
Bergen und hat vom Februar bis zum Mai gelblich grüne, meistens
purpurroth gesäumte Blüthen; die schwarze, inwendig weiße Wurzel
riecht unangenehm, schmeckt bitter und scharf und bewirkt heftiges
Niesen, Abführen, Erbrechen und selbst den Tod. Die Frucht des
Spindelbaums oder Pfaffenhütchens erregt ebenfalls Erbrechen;
sie ist eine viereckige rothe Kapsel, einem Cardinalshut vergleichbar,
welche in vier Fächer aufspringt, in, deren jedem ein weißer, von
einer safrangelben oder orangerothen Haut umhüllter Same sich be-
findet. Der Seidelbast oder Kellerhals hat im März oder April
lieblich duftende, rosenrothe oder pfirsichrothe Blüthen; die Rinde aber
hat einen so scharfen Saft, daß sie auf der Haut starke Blasen zieht; eben-
so scharf ist der Saft der Beeren. Die Blätter und der Saft des giftigen
Hahnenfußes bringen äußerlich Jucken und Brennen, innerlich hef-
tige Schmerzen, Krämpfe und Irrereden hervor. Die Blüthen des
scharfe n Hahnenfußes wirken wie ein Spanischfliegeupflaster,
von den Landleuten wird er auch zuweilen als Mittel gegen das
Zahnweh gebraucht. Die Herbstzeitlose blüht im Herbst, wenn
alles Gras abgemäht ist, zu Tausenden auf den Wiesen; die Samen,
welche erst im folgenden Frühjahr aus der Erde herauskommen,
haben eine sehr schädliche Wirkung, ebenso auch die Blumen, und
am meisten die Zwiebel. Bei dem schwarzen Nachtschatten,
dessen Blüthen große Aehnlichkeit mit den Kartoffelblüthen haben,
und bei dem kletternden Nachtschatten sind es hauptsächlich
die Beeren, welche eine schädliche, in Menge genossen, tödtliche
Wirkung haben.
Zu den minder gefährlichen rechneten wir diese Giftpflanzen,
nicht als ob nicht deren Genuß höchst schädlich und unter Umständen
sogar tödtlich sein könnte, sondern weil sie eben keine Aehnlichkeit
27
mit genießbaren Pflanzen haben und deßhalb auch nicht so leicht mit
diesen verwechselt werden. Bei dem schwarzen Nachtschatten ist noch
zu bemerken, daß er mit der Kartoffel zu demselben Geschlechte ge-
hört. Es geht also unter den Pflanzen wie unter den Menschen,
wo man auch in derselben Familie sehr ungleiche Bruder und Vet-
tern findet. Der eine ist wohlthätig, freundlich und mild wie die
nährende Kartoffel, der andere heftig, unfreundlich und tückisch wie
Nachtschatten.
Auch die Schmerzen, welche unsere Brennnessel verursacht,
rühren von einem Gifte her, das aus den steifen Haaren in die
Wunde spritzt. Wie heftig dieses Gift ist, läßt sich daraus abneh-
men, daß bei unsern Nesseln das Gift, das in die Wunde kommt,
nicht einmal den 150,000ften Theil eines Grans beträgt. In Ostin-
dien aber wächst eine Nessel, die so gefährliche Wunden verursacht, daß oft
nur das Abnehmen des verletzten Gliedes gegen den Tod schützen kann.
Ebenso ist unser scheinbar unschuldiger Buchsbaum, der in die
Familie der Wolfsmilch gehört, so schädlich, daß in einer Gegend
Persiens, wo er sehr verbreitet ist, keine Kameele gehalten werden
können, weil man sie am Genuß dieser ihnen tödtlichen Pflanze nicht
zu hindern vermag.
é) Noch einer Giftpflanze muß ich hier gedenken, die vorzüglich
deßhalb so gefährlich ist, weil sie sich ungebeten und oft unbemerkt
unter das Getreide mischt; ich meine den betäubenden Lolch, der
auch Taumellolch und Schwindelhaber genannt wird. Er ist an
seinen Halmen, seinen Blättern und Blüthen leicht genug zu erken-
nen; aber wer schafft ihn aus dem Getreide heraus, unter dem er
zuweilen in großer Menge vorkommt? Da ist kein anderes. Mittel,
als daß man das Korn, in welchem Lolch in größerer Menge vor-
kommt, mehr als einmal mit der Worfschaufel umwerfe; denn weil
das Tollkorn, der Same des betäubenden Lolchs, viel leichter ist,
als das gesunde Korn, so fliegt es beim Worfeln nie so weit vor,
als dieses, sondern bleibt unter der Spreu, die höchstens zum
Futter für die Thiere gebraucht wird. Brod von Getreide, in wel-
chem sich Lolch in großer Menge befindet, ist der Gesundheit sehr
nachtheilig; unverzeihlich aber ist es, wenn Brauer und Brenner
absichtlich Taumellolch zu ihrem Bier und zum Branntwein mischen,
\ um dadurch ihre Getränke noch berauschender zu machen.
28
13. Midew-dns KrirmrtwE- und nllos ^-nio^ Errukrir.
)r^ Wenn sich einer henkt, oder erschießt, oder ins Wasser stürzt, so
I ist das etwas gar Schanderhaftes, und die Leute fürchten sich vor solch
| einer Mordleiche und dem Ort, wo der Mord geschehen ist. Denn es
' ist doch eine schwere Sache, das fühlt Jeder, mit einer Todsünde,
unzeitig und gegen Gottes Erlaubniß den Leib ins Grab und die
Seele vor das Gericht Hinüberstürzen. Nun aber sagt mir einmal,
was ist ärger, wenn sich einer selber tödtet mit einem Schuß, mit
einem raschen Schnitt, oder wenn einer durch jahrelanges Sündigen,
durch viele hundert, trotz aller Warnungen und besserer Eindrücke
wiederholte Sünden, nicht aus Angst oder Noth, sondern aus Muth-
willen sich selber umbringt? Das thut aber jeder Trunkenbold, jeder
Schnapssäufer. Darum glaube und behaupte ich, ein jeder solcher
ist ein Selbstmörder, und seine Schuld und Verdammniß ist wohl
so schwer, als wenn sich einer einen schnellen Tod angethan hat.
Sagt vielleicht einer: „was ich trinke, will nicht viel heißen", so
antworte ich drauf: wenn eine leichtsinnige Mücke um das Licht
herumfliegt, so denkt sie, das Licht gibt hell und warm, und es ist
ergötzlich für mich, drum herum zu geigen, und ich weiß ja schon,
was ich zu thun habe ; item, sie schwärmt fünfmal oder siebenmal her-
um, auf einmal summt und winselt es ganz fein aus dem Tisch un-
ten am Leuchter, und man thut der halb verbrannten Mücke noch
einen Liebesdienst, wenn man sie schnell todt macht. Gerade so ist
der Trunkenbold, der Schnapssäufer die Mücke; Wein, oder Bier,
oder Schnaps ist sein Licht. Er süpfelt Tag für Tag, weniger als
gestern kann er heute nicht trinken, lieber aber ein wenig mehr, und
so lockt ihn Schnaps oder Wein rc. Morgens und Abends, und reizt
und lockt den einen in Müßiggang und Verschwendung, den andern in
bittern Hauszank und stachlichtes Hauskreuz, Viele in Verbrechen und
Gefängniß, Viele in Krankheit und Blödsinn, Viele nach Zwiefalten
ins Irrenhaus, Viele in Armut und Grab, Alle in Sünden und
{ schweren Tod. Und wenn du auch mäßig Schnaps trinkst, so bohrst
/ du langsam am Leben und trinkst sachte und sänstiglich den Tod in
dich hinein; zugleich aber schreibst du dir eine lange Schuldrechnung
auf das Gewisseu wegen des schlechten Beispiels, das du Säufern
gibst. Denn wenn jeder ehrenhafte Mann sagen würde: Schnaps-
trinken ist eine Sünde, und würde es eben darum bleiben lassen,
so würde Mancher, der noch nicht so gefesselt ist, zuerst im Gewissen
29
unruhig werden und zuletzt den Vorsatz fassen, es aufzugeben. Nun
will ich aber dem Schnaps noch ernstlicher die Ehre abschneiden und
seine Bosheiten und Lasterthaten aufdecken. 1) Von Schnapssäufern
erben sich oft Krankheiten und Siechthum auf ihre Kinder fort; diese
leiden an Kraft, oder Gesundheit, oder Verstand, oder Allem zu-
sammen Noth. 2) Der Schnaps macht auch Arme, schuldige und
unschuldige. Nicht nur der Trinker, auch seine Frau und Kinder und
Alle, die ihm geliehen haben, kommen um das Ihre, Staat und Ge-
meinde können ihre Abgaben nicht von ihm ziehen, und müssen deß-
wegen auf andere, ordentliche, fleißige Leute die Last legen; Manchen
muß endlich die Gemeinde, weil er. Nichts mehr hat, ernähren und
für seine Kinder sorgen. 3) Schnapsliebhaber meinen, ihr Getränk
frische sie auf und stärke sie; ich aber sage: das ist erlogen, er löscht
den Durst nicht, sondern macht Durst; er sättigt nicht, denn er hat
keine nährenden Theile; der Schnaps zehrt an den Kräften, macht
matt, zitterig und kraftlos. Wenn einer das hitzige Fieber hat, so
schlägt er auch mit Kraft um sich, daß ein paar stärkere Leute ihn
nicht bändigen können; hintennach liegt der Mensch todesmatt da.
So macht auch der Schnaps ein künstliches Fieber, in dem man sich
stark vorkommt, zehrt aber die Lebenskräfte nur um so schneller auf,
je öfter der Mensch wieder Schnaps nachschüttet, um Leib und Seele
besser in Gang zu bringen. 4) Der Schnaps stiftet Unfrieden. Wo
hört man so oft Geschrei, Fluchen, grobes, wildes Schimpfen und
Dreinschlagen, als unter Trinkern? Wo härmt sich ein Weib bitterer
ab, wo nagt es in ihr unerträglicher, als wo der Mann ein Trinker
ist? 5) Der Schnaps nimmt Gedächtniß und Verstand; die feinsten
Nerven, welche die Seele zum Denken braucht, wie die Augen zum
Sehen, werden mehr und mehr abgeschwächt und lahm; das Gehirn
wird erweicht, der Trinker ist unfähig zum vernünftigen Denken und
zu einem ernstlichen Entschluß. Man hat schon in zwei großen Irren-
häusern Rechnung geführt und gefunden: in dem einen sind von 781
Irren mehr als die Hälfte durch das Trinken wahnsinnig worden;
in dem andern ist nur ein einziges Viertel durch andere Ursachen um
den Verstand gekommen, drei Viertel aber durch das Trinken.
6) Der Schnaps macht früh alt, macht früh krank, macht früh todt.
Wenn der Müller das Wasser so heftig auf seine Räder richtet, daß
sie im allerschnellsten Laus umgejagt werden, so geht zwar Alles ge-
schwinder, und es rasselt ganz lebhaft und lustig. Das ist aber auch
das sicherste Mittel, das Mühlwerk recht bald unbrauchbar zu machen
r~
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J und gänzlich zu verderben. So ist es gerade mit dem menschlichen
j Leib. Je mehr und öfter einer hitziges Getränk zu sich nimmt, desto
schneller und heftiger wird das Geblüt im Leib herumgejagt (greif
nur an deinen Puls, du wirst es inne werden), desto mehr werden
die Eingeweide und Nerven aufgestört und gehetzt, und desto schneller
wird das kunstreiche Maschinenwerk des Leibes innerlich zu Grund
gerichtet und zum Stillstand im Tod gebracht. Hitzige Getränke sind
die besten Jagdhunde des Todes, sie hetzen ihm die Menschen schaaren-
weis in sein Netz und machen sie ihm schußgerecht. Wie die Cholera,
dieses schwarze Krokodil, so viele Menschen hinweggerafft hat, hat
man in manchen Gegenden gefunden, daß von hundert Menschen, die
an ihr starben, über siebzig Schnapsliebhaber gewesen sind. 7) Der
Schnaps zerstört Religion und Sittlichkeit und ist der Wegbereiter
jeder Sünde. Ist noch ein Fünklein von Religion in einem Winkel
des Herzkammerleins, so ist der Schnaps das rechte Wasser, um es
vollends auszulöschen. Wer dem Trunk ergeben ist, der mag nicht
mehr beten, er mag das Wort Gottes nicht mehr lesen oder anhören;
wenn andere Menschen in der Kirche sind, so ist er oft im Wirths-
haus. Wie werden die Kinder an Leib und Seele verderbt, verwüstet
wie die jungen Reben durch Hagelwetter! 8) Der Schnaps stürzt
endlich in die Hölle! Lies, was Gal. 6, 7. steht: irret euch nicht,
Gott läßt sich nicht spotten! Was der Mensch säet, das wird er ern-
ten; wer auf sein Fleisch säet, der wird vom Fleisch das Verderben
ernten; wer aber aus den Geist säet, der wird von dem Geist das
ewige Leben ernten. 1 Kor. 6, 10: die Trunkenbolde werden
das Reich Gottes nicht ererben! Darum lasset ein Wort mit euch re-
den: in Amerika haben jetzt schon gegen drei Millionen Menlchen das
feierliche Gelöbniß abgelegt, sie wollen keinen Schnaps mehr trinken,
und halten es; ebenso haben in dem armen Irland mehr als eine
Million das gleiche beschworen. Sollte einer nicht auch können, was
Millionen können? Freilich kann es ein Jeder, dem es ein Ernst ist,
das Auge, das ihn ärgert, auszureißen, damit nicht der ganze Leib
in die Hölle geworfen werde (Matth. 5, 29 rc.), und der sich aufs
• Bitten legt, damit es ihm gegeben und geholfen werde (Matth. 7, 7.);
fi denn will einer ernstlich, so will Gott zweimal, er will, daß Niemand
f verloren werde!
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14. Was ist,indische Moos.
% Die Flechten überziehen in gar mannigfaltiger Gestalt und
Farbe, bald schön citronengelb, bald schwefelgelb, bald grün, bald grau
und schwarz, Baumrinden, alte Bretterwände, Felsen und Mauern
und find ans ihrer Oberfläche mit kleinen Schüsselchen, Knöpfchen,
Schildchen u. s. w. bedeckt, aus denen, so wie aus den Rissen der
Oberfläche selbst ein Staub ausgesondert wird, aus dem neue Flech-
ten entstehen. Darunter gibt es sehr nützlich^ wie die Lackmus-
schildflechte. aus der man einen Lack zum Blaufärben bereitet; vor
allen aber das isländische Moos, welches wohl eines der nützlichsten
.Gewächse in der Welt ist. j Es wächst in den ärmsten, nördlichsten
" Ländern, wie Island, Lappland, sehr häufig und auch hin und
wieder in unsern deutschen Gebirgswaldungen und auf dürren Heide-
plätzen. Die Blätterlappen, die ziemlich gerade in die Höhe stehen,
sind steif, doch biegsam, nach unten breiter, nach oben in schmale
Aestchen zertheilt, die sich in noch kleineren mit zwei Spitzen enden.
Die innere Fläche ist hohl, grün und zugleich ins Röthliche fallend,
glatt; außen sind sie weißlich oder grünlich gelb. Am bittern Ge-
schmacke, der sehr stark ist, erkennt man aber das isländische Moos
am besten./ In Auszehrungen und Brustkrankheiten ist es ein vor-
zügliches Mittel, das oft noch Rettung verschafft. In Krain mästet
man Schweine damit; magere Pferde und Ochsen, so wie manche
kranke Schafe werden, wenn man sie isländisches Moos fressen läßt,
ganz seist davon. Die Isländer schätzen es fast so hoch als Mehl,
. indem sie Brod davon backen, oder es mit Milch gekocht genießen.
Jenes arme Volk könnte in seinem so wenig hervorbringenden Lande
kaum leben ohne das isländische Moos, das dort alle nackten Felsen
überzieht, wo sonst kein anderes Kraut wachsen könnte, und mit
Recht von dem dortigen Landmanne höHer geachtet wird, als alle
Bäume und-Kräuter seines Landes/ Aenn im Anfang, ehe Island
von^Wanzen bewohnt war, die Meereswellen, so wie sie es jetzt
daselbst noch öfters thun, von einer fernen Küstengegend einen edlen
Baum, z. B einen guten Obstbanm und aus seiner Rinde das un-
scheinbare isländische Moos, an die Jnselküsten getrieben hätten,
und beide hätten reden können, da würde wohl der Baum groß-
sprecherisch zum kleinen Moos gesagt haben: „Da komm ich nun,
geführt von den Wellen des Oceans, als ein künftiger Wohlthäter
an diese Insel, und bald werden meine schönen Blüthen und meine
32
herrlichen Früchte von Allen, die da wohnen, Lob und Verehrung
empfahen. Aber was willst du elendes, verächtliches Moos? Dich
wird man wegwerfen und mit Füßen treten!" Das arme, kleine
Moos hätte sich dann geschämt und geschwiegen. Aber siehe, nach
wenig Jahren hätte die Sache schon ganz anders ausgesehen. Denn
der schöne Baum, den die Einwohner von Island vielleicht mit
Jubel in die Erde gepflanzt hatten, kam dort nicht fort, während
das von ihnen gar nicht beachtete Moos, das sich ungemein schnell
vermehrt, genügsam sich über alle dürren Felsen hinwegzog und
nun den Tausenden, die dort wohnen, ihr täglich Brod gab./
15. Der Zucker.
/Der Zucker gehört zu den mancherlei köstlichen Erzeugniffen
des Pflanzenreichs. Er findet sich fast in allen Pflanzen, bald im
Keime, bald im Stengel und Blatt, bald in der Blüthe und Frucht,
ja auch in der Wurzel. Unter allen Pflanzen aber enthält das
Zuckerrohr-, die Zucker- oder Runkelrübe und der Zuckerahorn den
meisten Zuckerstoff, aus welchem man die ungeheure Menge Zuckers
bereitet, welche jährlich verbraucht wird und sich in Europa allein
nahezu auf 1000 Millionen Pfund beläuft.
% Am bequemsten ist die Bereitung des Zuckers aus dem Zucker-
ahorn, einem Baume, der in manchen Gegenden von Nordamerika
häufig vorkommt. Man zapft ihm nemlich im Frühjahr den Zucker-
saft ab, indem man ein Loch in den Stamm bohrt und in dasselbe
ein Röhrchen steckt, durch welches er in ein Gefäß fließt. Der Saft
wird nachher eingekocht, geläutert und getrocknet. Aber der so
gewonnene Zucker reicht bei weitem nicht einmal für Nordamerika aus.
j. Den meisten Zucker verdanken wir dem Zuckerrohr, einer
großen, saftigen Grasart, unserer Welschkornpflanze ähnlich. Bei
einer Dicke von ein bis zwei Zoll erreicht es oft eine Höhe von acht
bis zwölf Fuß. Es wächst in Ostindien und Westindien und andern
heißen Ländern und ist für diese von größter Wichtigkeit. Ehe die
Pflanzen zur Blüthe kommen, werden die Stengel entblättert und in
eigens dazu eingerichteten Mühlen (Zuckermühlen) ausgepreßt. Hun-
dert Pfund Rohr geben etwa zehn Pfund Zuckersaft. Dieser geht
sehr schnell in Gährung über und muß deßwegen sogleich abgedampft
werden. Durch dieses Abdampfen erhält man den Rohzucker, welcher
aus kleinen, feuchten Körnchen besteht und eine gelbliche oder bräunliche
Farbe hat. Sein Geschmack ist noch nicht rein, und er muß deß-
halb noch geläutert oder, wie man sagt, raffinirt werden. Diese
Läuterung, welche auch in Europa vorgenommen werden kann, ge-
schieht aus folgende Weise. Man gießt so viel reines Wasser zu
dem Rohzucker, als zu seiner Auslösung nöthig ist, und kocht diesen
Saft dann längere Zeit mit Beinschwarz oder Blutkohle- welche die
Eigenschaft hat, jeden Nebengeschmack und jede Farbe zu zerstören,
die von Pflanzen- oder thierischen Stoffen herrühren. Hierauf läßt
man den so behandelten Zucker durch dichte Filze laufen, in welchen
der größte Theil der noch darin enthaltenen Unreinigkeiten zurück-
bleibt. Was nicht zurückgehalten worden ist, entfernt man bei dem
nun vorzunehmenden Abdampfen mittelst eines Zusatzes von Blut.
Dieses zieht beim Gerinnen alles Unreine an sich, schwimmt auf der
Oberfläche der Zuckerauflösung und kann leicht wieder entfernt wer-
den. Ist das Abdampfen beendigt, so wird die dick gewordene
Masse in große thönerne Hutformen gegossen und wohl umgerührt.
Die offene Spitze der Hüte ist abwärts gekehrt und mit einem rei-
nen Lappen verstopft. Oeffnet man das Loch, so fließt der Syrup,
der noch mit dem Zucker vermischt war, durch dieses heraus, und der
reine Zucker wird allmählich trocken und fest.
¿f. Auf ähnliche Weise wird der Zucker aus unserer einheimischen
Zuckerrübe bereitet. Man machte den ersten Versuch damit in
Frankreich, als Napoleon dem Festlande Europas allen Verkehr mit
England verbot, um den Handel dieses Landes zu vernichten. Im
Jahr 1810 waren in Frankreich schon zweihundert Rübenzucker-
fabriken, welche jährlich zwei Millionen Pfund Zucker lieferten.
Der Absatz dieses Zuckers verminderte sich zwar, als der westindische
Zucker wieder eingeführt werden durfte; in der späteren Zeit aber hat
die Bereitung desselben mittelst Verbesserung in der Fabrikation und
weil man ihn mit dem Ackerbau in Verbindung gesetzt hat, in
Frankreich außerordentlich zugenommen, und auch in Deutschland sieht
man jetzt nicht selten, auch in unserm württembergischen Vaterlande
Fabriken, in denen der Rübenzucker bereitet wird. ^dirch sie wird
dem Landmann eine gute Gelegenheit zum Gelderlöse bereitet, denn
im Jahr 1852 hat z. B. allein die in Stuttgart errichtete Rüben-
zuckersabrik 200,000 Centner Rüben, den Centner zu dreißig Kreu-
zer, gekauft; und es wird damit eine große Summe Geldes im
Lande zurückbehalten, welche sonst für den westindischen Zucker ins
Í Ausland gehen und von da nimmer zurückkommen würde. ^
Lesebuch.
3
34
16. Der Kaffee.
/Wollen wir den schönen immergrünen Baum, der das ganze
Jahr mit Blüthen und Blättern gesegnet ist und den weltberühmten
Samen liefert, den wir Kaffee nennen, in seiner natürlichen Freiheit
sehen, so müssen wir über Egypten (oder von den Küsten des rothen
Meeres aus) in das nordöstliche Afrika eindringen. Zwar wächst
die feinste Sorte des Kaffees, welche in den Handel kommt, in dem
glücklichen Arabien, aber dennoch ist dieses Land nicht die ursprüng-
liche Heimat desselben. Kaffeegärten und Kaffeefelder gibt es wohl
hier und anderwärts, wollten wir aber in Kaffeewäldern lustwandeln,
so müßten wir ins alte Mohrenland, nach Aethiopien und Abessy-
nien, nach dem nordöstlichen Theil des afrikanischen Hochlandes,
wandern.
Dort wächst der echte Kaffee wild. Man bezeichnet in Habesch
(Abessynien) besonders die Landschaften Narea und Kassa als die
wahre Kaffeeheimat, von welch letzterer der Name herrühren soll.
^Gewiß ist jedenfalls, daß er in Arabien der sorgfältigsten Pflege bedarf;
daß er aber sehr frühe in dieses Land eingeführt wurde, ist um
seiner Lage willen leicht anzunehmen. Der Handelsweg, auf welchem
die Aethiopier und Abessynier ihre Landesprodnkte ausführten,
ging seit uralten Zeiten nicht landwärts, westlich oder nördlich,
sondern östlich, hinab an den Küsten des rothen Meeres, von da
hinüber nach Arabien und dann erst hinauf nach Egypten und Klein-
asien bis Griechenland. Diesen Zug nahm auch der Kaffee. Weil
nun aber die Araber bald auch an diesem Trank Aethiopiens Ge-
schmack fanden, so verpflanzten sie auch den Baum, welcher die
Samen dazu lieferte, frühe schon in ihr Land, in welchem er, so
nahe der ursprünglichen Heimat, so wohl gedieh und bald so allgemein
verbreitet wurde, daß die Europäer lange gar nicht zu der Ver-
muthung kamen, er sei ein äthiopisches GewaM/£ //&
2.Der Kaffeebaum kann ckus—vierzig hoch werden;
man schneidet aber häufig in den Pflanzungen die üppigsten Schöß-
linge weg, so daß er nur etwa FuH hoch wird und die Früchte
um so leichter zu pflücken find. So hoch pflanzt man ihn z. B. in
Brasilien; in Andren Gegenden, z. B. in Westindien, wird er
sogar nur vin-bts-sechs» Fußhoch gehalten; die Araber aber lassen ihm
den freien Wuchs. Diese Bäumchen haben eine gerade, schlanke
Gestalt und gleichen darin vielleicht am meisten dem Psaffenhütleinö-
35
* bäum in unsern Wäldern. Den Stamm bedeckt eine feine, rissige
Rinde, und die Krone bilden zahlreiche, ausgebreitete Aeste, ähnlich
einem Apfelbaum. Die immergrünen, lederartigen Blätter stehen
einander gegenüber, find länglich-eirund, zugespitzt, nicht gezahnt
und nicht glatt, sondern wellig, etwa wie die Blätter der Pomeranzen.
Sie werden in Java und Sumatra für den täglichen Gebrauch als
Thee benützt, und da dieser dem chinesischen (grünen) Thee sehr
ähnlich sein soll, ist es möglich, daß man auch bei uns bald statt
des letzteren den wohlfeileren Kaffeethee trinken wird.
Die Káeblüthe ist lieblich duftend, von schneeweißer Farbe
./und -feit-jett' lang. Vier bis sieben Blüthen sitzen auf kurzen
Stielchen in den Blattachseln gedrängt beisammen und umgeben wie
in einem Quirl den Stengel.
Die Kaffeefrucht bildet eine eirunde, fast kugelige, etwa einen halben
Zoll lange, sehr kurz gestielte Beere mit einem weichen, süßen Fleische;
sie hat somit die Größe einer kleinen Kirsche und wechselt die Farbe
mit zunehmender Reise vom Grünen ins Rothe und Violette. Die
Kaffeebeere ist zweifächerig, und in jedem Fache sitzt ein Same
(Bohne). Dieser ist von einer papierartigen Haut umgeben, welche
zuvor entfernt wird, ehe die Samen in den Handel kommen. Da
man stets Blüthen, unreife und reife Früchte auf den Bäumen fin-
det, so kann man eigentlich von einer bestimmten Erntezeit nicht
reden; doch kann man zwei Hauptblüthezeiten bemerken, im Früh-
und SpätMr, nach welcher Zeit die Fruchtansätze je nach vier Mo-
nate:; zur Meise kommen.
sNach der Lese werden die Früchte auf Matten oder Steinplatten/
in der Sonne getrocknet, wodurch die fleischige Hülle so spröde wird,
daß sie, mittelst hölzerner oder steinerner Walzen gequetscht, abspringt.
Die enthülsten Samen werden gewaschen und getrocknet. In einer
Art Stampfmühle werden dann die dünnen papierartigen Hüllen los-
getrennt, durch Sieben und Schwingen entfernt, und die so völlig
gereinigten Samen an der Luft oder in geheizten Stuben vollkommen
getrocknet.
t Nach dem Zeugniß arabischer Schriftsteller war es in Aethiopien
seit undenklichen Zeiten Gebrauch, aus dem Kaffeebaum ein Getränk
zu bereiten. Von da kam das Kaffeetrinken nach Arabien. In Per-
sien ist es schon ums Jahr 857 gewöhnlich gewesen. Ein in Con-
ftantinopel wohnender Venetianer verpflanzte es von da in seine
Vaterstadt und errichtete daselbst 1645 das erste Kaffeehaus; ein
3 *
36
solches wurde auch in London 1652 und in Paris 1672 eingerichtet.
Auch Deutschland blieb nicht lange zurück; 1679 errichtete ein eng-
lischer Kaufmann das erste Kaffeehaus in Hamburg, und mit dem
Ende des siebzehnten und dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
verbreitete sich der Kaffeegenuß in Holland, Frankreich, Deutschland
und den übrigen Ländern Europas immer allgemeiner, und obwohl
der Kaffee anfangs theils nur der Gesundheit wegen, theils nur von
den Reichen getrunken wurde ^denn anfänglich bezahlte man ein
Pfund Bohnen mit hunder/ W Franken—oder-sechzig bis
siebzig Gulden), so wurde er doch schon nach Verlauf eines Jahr-
hunderts und besonders, nachdem seine Kultur in Amerika betrieben
worden, zum beliebten Volksgetränke. Jetzt ist der Axhrauch des
Kaffees so groß, daß durchschnittlich in jedem Jahr 480 Millionen
Pfund in den Handel kommen, wovon Amerika den größeren Theil
liefert, fas -meiste aber-,- n omlich-ungefächr-400"MMouen-Pftmd-, -iu
17. Wie Walmen.
^Die Palmen zeichnen sich ebenso durch ihren schlanken und kräf-
tigen Wuchs, als durch den großen Nutzen, welchen sie den Menschen
gewähren, vor allen Bäumen aus. Sie sind in den heißen Gegen-
den der Erde, vornemlich im südlichen Asien, einheimisch. Um ihrer
Schönheit und ihres Nutzens willen wurden sie auch in das gelobte
Land verpflanzt, wo sie besonders in dem tiefen, warmen Jordanthale
und in der Nahe des todten Meeres gediehen, weßhalb die dort ge-
legene Stadt. Jericho häufig die Palmensiadt genannt wurde. 5 Mos.
34, 3. jRichter 1, 16. 3, 13. 2 Chron. 28, 15. Wegen ihrer
Schönheit wurden die gefiederten Blätter (Zweige) der Palmen zu
den Laubhütten benützt. 3 Mos. 23, 40. Neh. 8, 15. Die Gestalt
der Palmen gehörte zu den herrlichen Verzierungen des Tempels.
1 Kön. 6, 32 ff. 7, 36. Sie galten als ein Bild des Segens und
der Kraft, Ps. 92, 13. Sir. 24, 18. 50, 14. und ihre Zweige'
wurden bei Festen als Zeichen der Ehre, des Siegs und der höchsten
Freude getragen. Joh. 12,13. (veral. Offenb. Joh. 7^? 9.) ,1 Makk. ^
13, 37. 51. 2 Makk. 10, 7. 14, j)
^^Disse-in^Pabaftlna-gopflanztcn Palmen find die Dattelpalmen,
welche noch häwfiger in Arabien, Persien, Egypten rc. wachsen und
den Einwohnern dieser Länder zu mannigfachem Nutzen gereichen.
Wie elend würden die Araber und Mauren sein in ihren heißen, sau-
37
digen, waldlosen, wüsten Ländern, wenn sie die Dattelpalme nicht
hätten! So aber ist von der Vorsehung auch hier gesorgt; von
zwei Dattelbäumen kann eine Familie fast ein ganzes Jahr leben.
Die Früchte, welche in großen Büscheln beisammen wachsen, sind so
gedrängt, daß oft zweihundert an einem einzigen Büschel sitzen. Die
Größe der Datteln gleicht der unserer Zwetschgen; in dem zuckerartig
süßen und saftigen Fleische steckt ein harter, länglichter Kern. Man
ißt die Datteln frisch und getrocknet, roh und eingemacht und auf
alle mögliche Weise zubereitet. Der ausgepreßte Saft gibt einen
köstlichen Syrup, wie Honig so süß, und in diesen werden von den
reichen Arabern wieder die Datteln eingemacht. Die Armen behelfen
sich oft mit den schon ausgepreßten Früchten, mit welchen man auch
Kameele und Pferde füttert. Ist der Baum jung, so gewährt sein
Mark eine wohlschmeckende Speise; bei älteren Bäumen steckt dieser
Leckerbissen nur noch im Gipfel des Stammes. Die zarten, noch
nicht entfalteten Blätter werden als Palmkohl gekocht oder als Palm-
käse zu Confect eingemacht. Aus dem Saft wird wie bei unsern
Birken der Palmwein gemacht. Aus den Dattelkernen preßt man
Oel, und mahlt daraus auch ein Mehl zum Futter für das Vieh.
Die Bewohner von Hedschas legen die Kerne zwei Tage lang ins
Wasser, wo sie weich werden, und geben sie dann den Kameelen,
Schafen und Kühen anstatt der Gerste, und die Thiere sollen sehr
fett von dieser Nahrung werden.
J. Ebenso groß oder noch größer ist der Segen, der in der^o k o s^-
palm^ niedergelegt ist, welche mit ihrem schlanken,
-deri -Fuß hohen Stamme und ihrem wiegenden grünen Blättergewölbe
der reizendste Schmuck einer Landschaft ist. Ihr ursprüngliches Vater-
land ist der Südosten von Asien. Nach der indischen Volkssage dient
dieser Baum zu neun und neunzig Dingen; das Hundertseiner Nutz-
anwendungen voll zu machen, können die Menschen nicht aufsinden.
lDer Stamm, zwar porös und schlank, ist jedoch fest und gibt Balken,
Latten und Maste für Hütten und für Schiffe; seine Rinde ist nackt
mit Narben, an welchen die Blätter saßen. Die hohlen Palmstämme
dienen zu Wasserrinnen; aus den Wurzeln flicht man Körbe und
Wannen, das Netzgewebe an jeder Blattwurzel wird zu Kinderwiegen
und Packleinwand verbraucht. Die Fasern der Rinde wie der Nuß-
schale geben Stricke und Tauwerk. Das Laub ist das Hauptsutter
der zahmen Elephanten. Das Herz der Blattkrone wiegt an zwanzig
bis dreißig Pfund, ist so trefflich, wie junger Kohl, eine Delikatesse
38
für jede Tafel, es ist der Palmkohl oder das Palmhirn, mit dessen
Abschneiden der Baum abstirbt. Die Krone besteht aus einem Dutzend
mächtiger Blätter; jedes einzelne Blatt zwei bis drei Fuß breit,
zwölf bis vierzehn Fuß lang, einer großen Feder gleich, dient zum
Dachdecken, zu Sonnenschirmen, zu Flechtwerk, zu Körben, zu Papier
zum Schreiben oder Einritzen mit Griffeln, gedreht zu leuchtenden
Fackeln, verbrannt zu Bereitung von Asche und trefflicher Seife.
Die grünen Blätter dienten in der patriarchalischen Zeit dem Luxus
der vornehmen Hindus zu frischem Tafeltuch, und die Speisen wurden
in geflochtenen Blättern aufgetragen, die man zu jeder Tafel wieder
erneute. Jung sind die Blätter durchscheinend und geben Laternen.
Die starken Blattrkhpen werden zu Fischreusen, Stöcken und Besen
verbraucht. Die gleichzeitigen Blüthen und Früchte haben die man-
nigfaltigste Anwendung und sind als Nahrung und Trank unschätzbar.
Die Nüsse sind kopfgroß, eiförmig, dreikantig, mit dicker Faserschale;
noch grün und unreif werden sie zu den mannigfaltigsten Lieblings-
speisen- für die indische Küche zugerichtet und die gute Hausfrau,
sagt das Sprichwort, weiß dem Mann den ganzen Monat hindurch
jeden Tag ein anderes Lieblingsgericht daraus zu bereiten. Dann
ist der Saft der vollgefüllten grünen Nuß der labendste, kühlendste
Trank. ^Die reife Nuß gibt den weißen, süßen, festen Mandel-
kern, groß wie ein Straußenei, aber hohl, und darin die schmack-
hafteste Kokosmilch^ Selbst noch ranzig, was sie leicht wird, dient
die Nuß zu allersei Gebrauch, zumal mit Kalk gemengt dient sie dazu,
den Schiffsboden vor Wurmfraß zu bewahren. Das starke Oel, rein,
süß und geschmacklos, w^L-Mandelöl, wenn frisch ausgepreßt, dienten
vielerlei, znM^Salben von Haut und Haar, auch zum Küchenbacken,
zum Brennen; auch für Kunst und Gewerbe, zu Seife und Licht ist
es sehr brauchbare Der ausgepreßte Kern gibt noch das beste Vieh-
futter und düngt den Acker; der reife, aber getrocknete Kern wird in
Magazinen zur Nahrung aufbewahrt und damit ein wichtiger Handel
getrieben. Die harte Kokosschale ist bei den roheren Stämmen fast
das einzige Trinkgefäß; polirt wird sie bei den Vornehmen und in
China oft in Gold gefaßt und dient zu Schmuckschalen. Der unent-
falteten Blüthe, noch in der Scheide, zapft man durch Einschnitte
den Saft ab, welchen man Palmwein nennt, von allen Palmarten
ist der Saft der Kokospalme der beste. Frisch abgezogen ist er küh-
id, labend, heilsam; nach kurzer Zeit gährt er und wird berauschend,
ch längerer Zeit, etwa in vier und zwanzig Stunden schon gährend,
39
¡gibt er den besten Weinessig, deftillirt den besten indischen Arrak, ge-
lkocht viel Zucker. Kein Theil der Kokospalme scheint unbenutzt zn
bleiben; selbst das Holz des alten Kokosbaumes zn Pulver gerieben
und mit dem Saft der Hülle der unreifen Nuß zu einem Teige ge-
mengt, in Kokosschalen gekocht und auf dem Feuer geröstet, wird zu
j einer Speise bereitet^)
So gehören also diese Pflanzen zu den köstlichsten Geschenken,
welche der Schöpfer den Völkern der heißen Zone gegeben hat. Wer
sollte bei der Betrachtung derselben sich nicht gedrungen fühlen, die
unendliche Güte Gottes zu bewundern, welche in einen einzigen Baum
solch reichen Segen legt, und mit dem heiligen Dichter auszurufen:
1 Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist! Wohl dem, der
auf ihn trauet! Pf. 34, 9. \
i«-"" Bei Neuenstadt am Kocher steht eine Linde, an welcher Jeder-
mann eine Freude hat, wer sie sieht; fährt man mit einer Schnur
um den Stamm, so findet man, daß dieser Riese von Baum sechs
und dreißig Schuh im Umfang mißt; vor Alter ist aber jetzt der
Stamm so zerrissen und vertheilt, daß man meint, es seien mehrere
Bäume, nicht bloß einer; geht man außen an den Aesten umher, wo
diese aufhören, so findet man, daß sie 400 Schuh im Umkreis haben.
Diese Linde war aber schon vor mehr als 600 Jahren berühmt wegen
ihrer Größe; in einer alten Urkunde vom Jahr 1229 heißt es: die
neue Stadt sei hinauf an die Heerstraße an den großen Baum
gebaut worden. Im Jahr 1408 heißt es in einer Chronik: vor dem
Thor eine Linde staht, die sieben und sechzig Säulen hat. Auch
Herzog Christoph sorgte für die große Linde; er ließ ihre vielen und
großen Aeste durch steinerne und hölzerne Säulen stützen, weil der
Baum die Last sonst nicht mehr hätte tragen können, und da mußte
man in allem nicht weniger als hundert und fünfzehn Säulen machen.
Das ist ein ehrwürdiger Baum, auf dessen jungen Zweiglein die
Vögel vielleicht noch unsern heidnischen Voreltern vorgepfiffen haben;
denn er ist wohl schon über 1000 Jahre alt!
Viel jünger wird auch die prachtvolle Eiche uicht sein, welche
etliche Stunden oberhalb Tübingen im Wald bei Nehren steht. Der
Wetterstrahl hat ihr schon etlichemal hart zugesetzt; trotzdem hebt sie
ihr Haupt noch hoch empor über die andern Bäume und sieht wie
18.
40
jfine Königin ernst und würdevoll auf fie herab. Vor etwa zehn
fahren ließ sich einmal aus dem Bauche des Riesenbaumes heraus
am Hellen Morgen ein Gesang vernehmen vom alten Kaiser Bar-
barossa, wie er im unterirdischen Schloß sitze und einst in Pracht
wieder hervorkommen werde, das deutsche Reich herrlich aufzurichten.
Das klang so tief und geheimnißvoll wie von Geisterstimmen. Doch
siehe, der Gesang schweigt, da regt sich Etwas, ein Menschenkopf
streckt sich zur Eiche heraus; ein ganzer Mann erscheint. Jsts gar
der alte Barbarossa selber? — Nein; es ist — daß ich es kurz sage
— ein reisender Lehrer, und hinter ihm kommen noch achtzehn seiner
Zöglinge zum Vorschein, lauter schmucke, halbgewachsene Bürschlein,
alle aus dem Baum heraus. Und diese neunzehn Menschenkinder haben
also alle mit einander in dem Inwendigen dieser Eiche Platz neben
einander gehabt, und haben darin nicht bloß stehen und schnaufen
können, sondern auch ein Lied mit einander singen! Da stellt euch
einmal vor, wie groß der Baum sein mag!
Noch ein merkwürdigerer Baum wächst, und zwar sehr häufig,
in den heißen Ländern Afrikas, Adansonie oder Affenbrodbaum ge-
nannt. Mißt man den Baum am Boden, so hat er beinahe neunzig
Fuß im Umkreis und dreißig im Durchmesser. Der Baum wird nur
etwa vierzig Fuß hoch und theilt sich dann in mehrere Stämme, von
denen die größten Aeste wagrecht wegstehen und so stark sind, wie
bei uns die mächtigsten Wellbäume. Aus diesen Aesten schlafen die
Neger ausgestreckt im Schatten unter einem währen Laubdach. Sieht
man einen solchen Riesenbaum mit seinen schweren, zur Erde gebeug-
ten Aesten, so meint man einen ganzen Wald zu sehen. Und wenn
schon unsere Aepfel- und Birnbäume so schön sind in der Blüthe,
wie majestätisch und prachtvoll müssen erst solche Riesenbäume dann
sein! Ihre Blüthen sind weiß, schön und groß; sie öffnen sich, so-
bald die Morgenröthe am Himmel erscheint, und schließen sich wieder,
wie die Sonne untergeht. Der Same ist mit einer leichten Wolle
umgeben, an der ihn der Wind fassen und umherstreuen kann. Die
Frucht enthält ein Mark, das in Zuckerwasser gethan, ein liebliches
Getränke gibt, aber auch frisch gegessen, schmeckt es gut, und wie es
scheint, sind auch die vielen Affen jener Gegenden darnach sehr lüstern,
»weil der Baum Affenbrodbaum heißt. Die Blätter sind gefingert,
j'fünf Zoll lang und geben eine treffliche Arznei. Die Krone dieser
Bäume hat oft hundert und fünfzig Fuß im Umfang, die ganze Höhe
^beträgt etwa siebzig Fuß, unsere höchsten Tannen und Eichen sind
41
v'V I G» '
also größer, weil diese auch hundert bis hundert und zwanzig
Fuß hoch werden, dagegen die Wurzeln des Affenbrodbaumes senken
sich bis auf hundert Fuß tief in den Boden hinab. Er setzt jedes
Jahr wahrscheinlich mehrere Ringe an, nicht bloß einen einzigen, wie
die unsern; bei einzelnen kann man 4— 5000 solcher Ringe zählen;
dieser Baum muß also sehr alt werden. Sein Holz ist weiß und
leicht und fault gern, so daß ihn endlich ein Windstoß umwerfen
kann. In den hohlen Stämmen wohnen ganze große Negerfamilien,
auch begraben sie ihre Todten darin. So gibt also dieser Baum den Ne-
gern Nahrung, Wohnung und Grab. Unter dem Schutz ihrer Laub-
dächer werden auch viele kleinere Gewächse erhalten, die sonst in der
Sonnenglut verschmachten müßten; darunter flüchten sich auch die
Thiere und schlafen ruhig, und in den Zweigen singen und hüpfen
die Vögel, auf den Blättern brütet die Sonne ganze Schwärme von
Insekten aus. Ein solcher Baum ist also fast eine Welt für sich.
Vielleicht der größte Baum auf der Erde ist aber ein Feigen-
baum in Indien, von dem die Reisenden erzählen, daß er mit allen
seinen Aesten 2000 Fuß im Umkreis hat, und daß ein Heer von
7000 Mann unter ihm im Schatten stehen könnte. Wahrscheinlich
ist das der nemliche Baum, den schon vor mehr als 2100 Jahren
ein Begleiter des macedonischen Königs Alexander des Großen ge-
sehen hat. Wie viel tausend Menschen haben an diesem Baum schon
die Augen geweidet, die nun im Graffstiegen! A ,
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19. Die IlstanM und das Licht.
* LJ
Die Pflanze bedarf zu ihrem Leben des Lichtes. Das Licht gibt
den Pflanzen vorzugsweise die Mannigfaltigkeit und die reine Aus-
bildung ihrer Farben und ihres Glanzes. Sie bekommen am Licht
erst kräftiges, selbständiges Leben. Ohne Licht werden sie wohl
größer, aber bleiben geschmack-, färb- und geruchlos. Sie kehren sich
daher dem Lichte zu. Kartoffelpflanzen, die in einem Keller aus-
schlagen, kriechen von entfernten Punkten, viele Ellen weit, auf dem
Boden nach der Seite zu, wo ein Lichtloch ist, und ranken sich, als
ob sie den Weg wüßten, an der Mauer hinauf, um die Oeffnung zu
erreichen, wo sie des Lichtes genießen können. Die Sonnenblumen
und eine Menge anderer Blumen richten sich nach der Bewegung der
Sonne am Himmel und drehen sich nach ihr hin. Abends, wenn
man von der Morgenseite aus eine blumenreiche Wiese tritt, sieht
42
man wenige, vielleicht keine Blumen, weil alle der Sonne zugewendet
sind; von der Abendseite prangt dann Alles voller Blüthen.
Die meisten Blumen öffnen sich bei Tag und zwar zu bestimm-
ten Stunden- manche aber erst des Nachts, da die meisten sich schließen.
Die meisten öffnen sich des Morgens früh, sobald die Sonne erscheint.
Es gibt aber auch, die sich erst öffnen, wenn die Sonne schon eine oder
mehrere Stunden geschienen hat. Und da dies ziemlich regelmäßig ge-
schieht, hat man darauf die sogenannte Blumennhr oder Pflanzenuhr ge-
gründet, bei der man, wann die Blumen gewisser Pflanzen sich öffnen,
sehen kann, welche Stunde des Tages es ist. So öffnen sich Morgens drei
bis fünf Uhr der Bocksbart oder die wilde Haberwurzel mit gelben
Blüthen auf unseren Wiesen; vier bis fünf Uhr die Cichorie oder ge-
meine Wegwarte mit blauen Blumen, die rothe Taglilie und das
kleine Habichtskraut; fünf bis sechs Uhr die Zaunwinde mit weißen
und rothgesäumten Blumen, die Butterblume und der Löwenzahn mit
gelben Blumen; sechs bis acht Uhr die Schweindistel (Gänsedistel)
mit gelben Blumen auf den Aeckern, der Lattich, die weiße Seerose
und der Herbstlöwenzahn; acht bis neun Uhr der Gauchheil mit den
niedlichen blauen oder schön rothen Blüthen auf unsern Feldern; neun
bis zehn Uhr die gelbe Ringelblume; zehn bis elf Uhr die gelbe Tag-
lilie, der Portulak und die weißblühende Vogelmilch; elf bis zwölf
Uhr die Tigerlilie mit den prachtvollen rothen und gefleckten Blumen;
Abends fünf Uhr die Gartenjalappe oder Wunderblume mit roth-
gelben, weißen oder bunten Blüthen; sechs bis neun Uhr die groß-
blumige (gelbe) Fackeldistel und der traurige Kranichschnabel (Pelar-
gouium) mit blaßgelben und dunkelroth gefleckten Blumen, die gelb-
blühende Nachtkerze, das Leimkraut und die Nacht-Zaserblnme mit außen
rothen oder gelben und innen weißen Blüthen, und zehn Uhr erst die
purpurrothe Winde.
Eine solche Blumenuhr könnte fast Jedermann leicht sich selbst ma-
chen, sofern diese Pflanzen insgesamt entweder im Freien bei uns wachsen,
oder leicht zu haben und in Töpfen zu pflanzen sind. Doch versteht
es sich von selbst, daß sie nur eine Ergötzlichkeit ist, und daß man
sich auf eine gute Wand- oder Taschenuhr immer besser verlassen kann,
als auf die Blumenuhr^
20. Ueber die Verbreitung der Distanzen.
1 Man kann sich nicht genug über die Menge und Mannigfaltigkeit der
Pflanzen verwundern, mit welchen der liebe (Sott alle Jahre die Erde bekleidet. In
C .
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dem kleinen Raum, den das Auge auf einmal überschauen kann, welch eine Vielfach-
heit der Gestalten, welch ein Spiel der Farben, welche Fülle in der Wcrkstätte der
reichsten Kraft und der unerforschlichen Weisheit! Nicht weniger muß man sich
wundern über die Geschwindigkeit, mit welcher der liebe Gott jede leere Stelle auf
öden Feldern, verlassenen Wegen, kahlen Felsen, Mauern und Dächern, wo nur eine
Hand voll fruchtbarer Erde hingefallen ist, ansäet und mit Gras, Kräutern, Stauden
und Buschwerk besetzt. Das sieht man oft und achtets nicht, eben weil man es von
Kindheit an so oft sieht; die größte Weisheit verrathet sich in der einfachen und
natürlichen Einrichtung der Dinge, und man erkennt sie nicht, eben weil Alles so
einfach und natürlich ist.
2. Die meisten Pflanzen haben eine wunderbare Vermehrungskraft, wie jeder
aufmerksame Landwirth wohl weiß. Tausend Samenkörner von einer einzigen
Pflanze, so lange sie lebt, ist zwar schon viel gesagt, nicht jede tragts, aber cs ist
auch noch lange nicht das Höchste. Man hat schon an einer einzigen Tabakspflanze
40,000 Körnlein gezählt, die sie in einem Jahr zur Reise brachte. Man schätzt
einer Eiche, daß sie 500 Jahre leben könne. Aber wenn wir uns nun vorstellen,
daß sie in dieser langen Zeit nur fünfzigmal Früchte trage, und jedesmal in ihren
weit verbreiteten Aesten und Zweigen nur 500 Eicheln, so liefert sie doch 25,000,
wovon jede die Anlage hat, wieder ein solcher Baum zu werden. Gesetzt, daß dieses
geschehe, und es geschehe bei jeder von diesen wieder, so hätte sich die einzige Eiche
in der zweiten Abstammung schon zu einem Walde von 625 Millionen Bäumen
vermehrt. Wie viel aber eine Million oder tausendmal tausend sei, glaubt man zu
wissen, und doch erkennt cs nicht Jeder. Denn wenn ihr ein einziges Jahr lang
vom 1. Januar bis 31. Dezember alle Tage 1000 Striche an eine große Wand schreibet,
so habt ihr am Ende des Jahres noch keine Million, sondern erst 365,000 Striche,
und das zweite Jahr noch keine Million, sondern erst 730,000 Striche, und erst am
26. Sept. des dritten Jahrs würdet ihr zu Ende kommen. Aber unser Eichenwald
hätte 625 solcher Millionen. Und so wäre es bei jeder andern Art von Pflanzen
nach Verhältniß in noch viel kürzerer Zeit, ohne an die zahlreiche Vermehrung durch
Augen, Wurzelsprossen und Knollen zu gedenken. Wenn man sich also einmal über
diese große Kraft in der Natur gewundert hat, so hat man sich über den großen
> Reichthum an Pflanzen aller Art nicht mehr zu verwundern. Obgleich viele 1000
Körner und Körnlein alle Jahr von Menschen und Thieren verbraucht werden, viele
1000 im Boden ersticken, oder im Aufkeimen durch ungünstige Witterung und andere
Zufälle wieder zu Grunde gehen, so bleibt doch Jahr aus, Jahr ein, ein freudiger
und unzerstörbarer Ucberfluß vorhanden. Auf der ganzen weiten Erde fehlt es nir-
gends an Gesäme, überall nur an Platz und Raum.
3. Aber wenn jeder reife Kern, der sich von seiner Mutterpflanze ablöst, unter
ihr zur Erde fiele und liegen bliebe; alle lägen auf einander, keiner könnte gedeihen,
und wo vorher keine Pflanze war, käme doch keine hin. Das hat der liebe Gott vor
uns bedacht und nicht auf unsern guten Rath gewartet. Denn einige Körner, wenn
sie reif sind, fliegen selbst durch eine verborgene Kraft weit auseinander; die meisten
sind klein und leicht und werden durch jede Bewegung der Luft davon getragen;
manche find noch mit kleinen Fedcrlein besetzt, wie der Löwenzahn (Kettenblume),
Kinder blasen sie zum Vergnügen auseinander, und thun damit der Natur auch einen
kleinen Dienst, ohne es zu wissen; andere gehen in zarte, breite Flügel aus, wie die
Samenkörner von Nadelholzbäumen. Wenn die Sturmwinde wehen, wenn die Wir-
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belwinde, die im Sommer vor den Gewittern hergehen. Alles von der Erde auf-
wühlen und in die Hohe führen, dann säet der liebe Gott aus und ist mit einer
Wohlthat beschäftigt, während wir uns fürchten, oder gar klagen und zürnen; dann
fliegen und schwimmen und wogen eine Menge von unsichtbaren Keimen in der be-
wegten Lust herum und fallen nieder weit und breit, und der nachfolgende Staub
bedeckt sie. Bald kommt der Regen und befeuchtet ihn, und so wirds auf Flur und
Feld, auf Berg und Thal, auf First und Halden auch wahr, daß etliches auf dem
Wege von den Nögeln des Himmels gefressen wird, etliches unter den Dornen zu
Grund geht, etliches auf trockenem Felsengrund in der Sonnenhitze erstirbt, etliches
aber gut Land findet und hundertfältige Frucht bringt. Weiter find manche Kerne
für den Wind zu groß und zu schwer, aber sie find rund und glatt, rollen auf der
Erde weiter und werden durch jeden leichten Stoß von Menschen oder Thieren fort-
geschoben. Andere sind mit umgebogenen Spitzen oder Häklein versehen; sie hängen
sich an das Fell der Thiere oder an die Kleider der Menschen au, werden fortge-
tragen und an einem andern Ort wieder weggestreist, oder abgelesen und ausgesäet,
und der es thut, weiß es nicht oder denkt nicht daran. Viele Körner gehen unverdaut
und unzerstört durch den Magen und die Gedärme der Thiere, denen sie zur Nahrung die-
' uen sollen und werden an einem andern Ort wieder abgesetzt. So haben wir ohne
Zweifel durch Strichvögel schon manche Pflanze aus fremden Gegenden bekommen,
die jetzt bei uns daheim ist und guten Nutzen bringt. So gehen auf hohen Ge-
mäuern und Thürmen Tannen, Kirschbäume und andere auf, wo gewiß kein Mensch
den Kern hingetragen hat. Noch andere fallen von den überhangenden Zweigen ins
Wasser, oder sie werden durch den Wind und Ueberschwemmungen in die Ströme
fortgerissen und weiter geführt, und an andern Orten durch neue Ueberschwemmungen
wieder auf dem Lande abgesetzt. Ja einige schwimmen auch wohl auf den Strömen
bis ins Meer, erreichen das jenseitige Gestade und Heimen sich alsdann in einer
landfremden Erde ein. Es find da und dort schon Pflanzm als Unkraut aufgegangen,
von denen man wohl wissen kann, daß der Same dazu auf diese Art über das Meer
gekommen sei. Also müssen alle Kräfte und Elemente die wohlthätigen Absichten des
Schöpfers befördern, Schnee und Regen, Blitz und Hagel, Sturm und Winde, die
seine Befehle ausrichten. (Psalm 148, 8.)
I—' 2. Aber das ist ja eben die Plage des Landmanns! Daher kommt also das
§ viele Unkraut im Gartengelände und auf den Ackerfurchen, das der schönen, gerei-
ünigten Saat Raum und Nahrung stiehlt, so viel Mühe macht und doch mit aller
Geduld und Sorgfalt nicht vertilgt werden kann! Die Sache ist nicht so schlimm,
wie sie scheint. Denn zum ersten," so ist der Mensch nicht allein auf der Erde da.
Viele tausend Thiere aller Art von mancherlei Natur und Bedürfnissen wollen auch
genährt sein und warten auf ihre Speise zu seiner Zeit. Manche davon sind uns
unentbehrlich, und wir Wissens wohl; manche schaffen uns großen Nutzen, und wir
Wissens nicht; und es muß doch wahr bleiben, woran wir uns selber so oft erinnern,
daß sich eine milde Hand aufthut und sättiget Alles, was da lebet, mit Wohlgefallen.
Zum andern, so hat doch der Mensch auch schon von manchem Kräutlein Nutzen
gezogen, das er nicht selber gesäet und gepflanzet, nicht im Frühlingsfrost gedeckt
und in der Sommerhitze begossen hat. Und eine einzige unscheinbare und verachtete
Pflanze, deren Kraft dir oder deinen Kindern oder nur deinem Vieh eine Wunde
theilt, einen Schmerz venreibt oder gar das Leben rettet, bezahlt die Mühe und den
-Schaden reichlich, den tausend andere verursachen. Aber wer stellt den Menschen
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zufrieden? Wenn die Natur nicht so wäre, wie sie ist, wenn wir Baldrian und
Wchlgemuth, Ehrenpreis und Augentrost, und alle Pflanzen in Feld und Wald, die
uns in gesunden und kranken Tagen zu mancherlei Zwecken nützlich und nöthig sind,
selber ansäen, warten und pflegen müßten, wie würden wir alsdann erst klagen
über des viel bedürftigen Lebens Mühen und Sorgen!
2. Die Spinnen.
Die Spinne ist ein verachtetes Thier, viele Menschen fürchten
sich sogar davor, und doch ist sie auch ein merkwürdiges Geschöpf,
und hat in der Welt ihren Nutzen. Z. B. die Spinne hat nicht
zwei Augen, sondern acht. Mancher wird dabei denken, da sei es
keine Kunst, daß ste die Mücken, die an ihren Fäden hangen bleiben,
so geschwind erblickt und zu erhaschen weiß. Allein, das machts
nicht aus. Denn eine Fliege hat nach den Untersuchungen der Na-
turkundigen viele hundert Angen und nimmt doch das Netz nicht
genug in Acht und ihre Feindin, die groß genug darin sitzt. Was
folgt daraus? Es gehören nicht nur Augen, sondern auch Verstand
und Geschick dazu, wenn man glücklich durch die Welt kommen und
in keine verborgenen Fallstricke gerathen will. Wie fein ist ein
Faden, den eine Spinne in der größten Geschwindigkeit von einer
Wand bis zur andern zu ziehen weiß. Und doch versichern die Na-
turkundigen, daß ein solcher Faden, den man kaum mit bloßen Augen
sieht, wohl sechstausendfach zusammengesetzt sein könne. Das bringen
sie aber so heraus. Die Spinne hat an ihrem Körper nicht nur
eine, sondern sechs Drüsen, aus welchen zu gleicher Zeit Fäden her-
vorgehen. Aber jede von diesen Drüsen hat wohl tausend feine
Oeffnungen, von welchen keine umsonst da sein wird. Wenn also
jedesmal aus allen diesen Oeffnungen ein solcher Faden herausgeht,
so ist an der Zahl sechstausend nichts auszusetzen, und da kann man
wohl begreifen, daß ein solcher Faden, obgleich so fein, doch auch so
fest sein könne, daß das Thier mit der größten Sicherheit daran auf-
und absteigen kann, und sich in Sturm und Wetter darauf verlassen
kann. Muß man nicht über die Kunst und Geschicklichkeit dieser
Thiere erstaunen, wenn man ihnen bei ihrer stillen und unverdrosse-
nen Arbeit zuschaut, und an den großen und weisen Schöpfer denken,
der für Alles sorgt und solche Wunder in einem so kleinen und un-
scheinbaren Körper zu verbergen weiß?
-ADas mag Alles gut sein, denkt wohl Mancher, wenn sie nur
nicht giftig wären, und läuft davon oder zertritt sie, wo er eine
findet. Aber wer sagt denn, daß unsere Spinnen giftig seien? Noch
kein Mensch ist in unsern Gegenden von einer Spinne vergiftet
worden.
j. Auch sonst thun diese Thierlein, die nur sür Erhaltung ihres
eigenen Lebens besorgt sind, keinem Menschen etwas zu Leide. Im
Gegentheil leisten fie in der Natur einen großen Nutzen, den man
aber, wie es oft geschieht, nicht hoch anschlägt, weil jede einzelne
wenig dazu beizutragen scheint. Es ist das Geringste, daß sie hie
und da einer Stubenfliege den Garaus machen. Für diese wäre
noch ein anderer Rath. Aber sie verzehren auch jährlich und täglich
eine große Menge anderer sehr kleiner Mücklein, die uns durch ihre
Menge erstaunlich beschwerlich und schädlich würden und gegen welche
man sich nicht erwehren könnte, wenn sie überhand nähmen. Sind
nicht manchmal ganze Ackerfurchen mit Spinngeweben überzogen und
glänzen im Morgenthau? Wie manches Mücklein geht da zu Grunde!
& Ein Gefangener machte einst in seinem einsamen Zimmer eine
Spinne so zahm, daß sie seine Stimme kannte und allemal kam,
wenn er sie lockte und Etwas für fie hatte. Sie verkürzte ihm an
einem Orte, wo kein Freund zu ihm kommen konnte, manche traurige
Stunde. Aber als der Kerkermeister es merkte, brachte er sie ums
Leben. Was ist verabscheuungswürdiger, ein solches Thier, das doch
noch einem Unglücklichen einiges Vergnügen machen kann, oder ein
solcher Mensch, der dem Unglücklichen auch dieses Vergnügen miß-
gönnt und zerstört?
, Ein anderer Gefangener, der sonst Nichts zu thun wußte, gab
lange Zeit auf die Spinnen Acht, er merkte, daß fie auch Wetter-
propheten seien. Bald ließen sie sich sehen und arbeiteten, bald nicht.
Einmal spinnen fie träge, ein andermal hurtig, einmal näher zusam-
men, ein andermal weiter auseinander, so oder so, und endlich konnte
er daran erkennen, was für Wetter kommt, Sturm, Regen, oder
Sonnenschein, anhaltend.oder veränderlich. Also auch dazu sind sie
gut, und wenn sich Jemand verwundet hat und findet geschwind ein
Spinnengewebe, das er aus die blutende Wunde legen kann, so ist
er doch auch froh darüber. Wenn es rein ist, so kann es Blut und
Schmerzen stillen; wenn es aber voller Staub ist, so schmerzt es noch
mehr, weil der unreine Staub in die Wunde kommt.
4 Daß es mancherlei Thiere dieser Gattung gebe, sieht man schon
in der Verschiedenheit ihres Gewebes in der freien Luft, an Fenster-
scheiben, in den Winkeln, aus den Feldern, da und dort. Manche
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spinnen gar nicht, sondern springen nach ihrer Beute. Im Früh-
jahr, und noch viel mehr im trockenen, warmen Nachsommer steht
man oft gar viele weiße Fäden in der Luft herumfliegen. Alle
Bäume hängen manchmal voll, und die Hüte der Wanderer auf den
Straßen werden davon überzogen. Man konnte lange nicht errathen,
wo diese Fäden und Flocken herkamen, und machte stch allerlei wun-
derliche Vorstellungen davon. Jetzt weiß man gewiß, daß es.lauter
Gespinst ist von unzählig viel kleinen schwarzen Spinnen, welche
deßwegen Spinnen des fliegenden Sommers genannt werden. Da
steht man wieder, wie viel auch durch kleine Kräfte ausgerichtet wer-
den kann, wenn nur Viele das Nemliche thun.
Ein anderes merkwürdiges Thier dieser Art lebt im südlichen
Amerika und heißt Buschspinne. Diese nimmt nicht mit Stubenflie-
gen und Mücklein vorlieb. Nein, einer gewissen Art von Vögeln,
den Colibri geht fie nach, greift ste an und zwingt ste, tödtet sie und
saugt ihnen das Blut und die Eier aus. Worüber soll man stch
am meisten verwundern, über die große Spinne oder über die klei-
nen Vögel?
22. Per Flußkrebs.
//.Das Fleisch des Krebses ist eine beliebte Speise, und schon das
Kind weiß, wer das ist: schwarz in die Küche und roth auf den
Tisch. Am User der Bäche und Flüsse, wo Erlen und abgestorbene
Stämme ihr Wurzelnetz in den Schlamm flechten, in tiefen Höhlen
hauset der Krebs. Er ist immer im Harnisch, schwerbewaffnet bis an
die Zähne. Sturmhaube und Küraß aus einem Stück, aber sieben-
fach zusammengesetzt der kunstvolle Ringpanzer seines Hinterleibs, der
sich in eine flossenähnliche Verbrämung endigt. Unter diesem Schild-
dach regen stch fünf, ja zehn Paar krabbelnder Füße, die wuchtige
Kriegsmaschine mühsam fortschiebend. Vorn drohet ein feinzähniges
Scherenpaar: der Fuß hat sich in eine Faust verwandelt, die freilich
nur aus Daumen und Kleinfinger besteht, aber dennoch ein tüchtiger
Packan ist. Neben dem Nasenstachel aber strecken sich die langen,
drathähnlichen Fühler hervor, und auf feinen Stielchen drehen sich
die schwarzen Kugeln der Augen. Im Innern endlich birgt er einen
Stein, fast anzusehen wie ein weißes Auge, der in früheren Zeiten
als Heilmittel gebraucht wurde.
^2.So brütet er in schwerer Ruhe, aus der nur die Nacht ihn
hervorzieht. Da entwickelt er dann sein Schwimmtalent, mancher
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Frosch, manches schlafende Fischchen wird ihm zur Beute, sogar die
Schnecke in ihrer rollenden Festung ist vor seinem Griffe nicht sicher.
Aber lieber noch als an das lebendige Gethier macht er sich über
das verwesende; oft findet man ihn schaarenweise in den modernden
Resten eines Hechts. Die Krebse fallen wohl auch über einander selbst
her, ein plumpes Ringen, Zerren und Kneifen ohne Grimm und
ohne Leidenschaft, ohne List und ohne Heldenmuth. Es ist allein die
Freßgier, welche die träge Waffe treibt. Doch bei aller Stumpfheit
und Freßgier zeigt die Krebsmutter einen Zug elterlichen Sinnes.
Denn sie trägt nicht bloß ihre Eier, sondern zum Theil auch ihre eben
ausgeschlüpften Jungen mit sich herum.
^Der.Krebs ist langlebig, schwer zu todten; selbst der Schärfe
des Essigs und des Weingeistes widersteht seine Wassernatur noch
stundenlang. Ein Alter von zwei Jahrzehnten erreicht er wohl
drunten in seinem Element, und er darf schon einen Fuß, eine Schere
missen, ohne sich krank zu fühlen; weiß er doch, daß sie ihm wie-
der wachsen. Gefangen wird er bei Tag und Nachts bei Lichterschein;
aber wenn man ihn fangen will, muß man ihn tapfer greifen. Faßt
man ihn furchtsam, nicht an beiden Scheren, sondern etwa bei einer,
so gibt er kühlen Herzens diese daran und flüchtet rückwärts in sein
Versteck. Der ungelenke Körper ist auf einmal elastisch geworden,
mit der Kraft einer Sprungfeder krümmt sich der breite Ruderschwanz
unter die Brust und schlägt das Wasser so lebhaft, daß der Rückzug
in schnellem Schusse erfolgt. . Oft aber gräbt und stemmt sich der
Angegriffene auch unantastbar in den Schlamm. Eine Art der Land-
krabben legt sogar, wenn sie überfallen wird, die rechte Schere, die.
viel größer ist als der ganze Körper, quer vor den Eingang, so daß
kein Feind nahen kann.
23. Per Seidenspinner.
/Der Seidenspinner ist ein Nachtschmetterling, ungefähr einen
Zoll lang und mit ausgespannten Flügeln zwei Zoll breit. Er hat
gelblichweiße Flügel mit drei blaßbraunen Streifen und kammartige
Fühlhörner. Das Weibchen legt in einigen Tagen 300 — 500 Eier,
die so groß sind, wie Hirsekörner. Durch eine Wärme von achtzehn
bis zwanzig Graden werden diese Eier in sechs bis acht Tagen aus-
J gebrütet. ^ Die kleinen Räupchen, die erst weiß sind, dann braun
werden und zuletzt einen schwarzen Kopf bekommen, wachsen schnell.
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Sie sind sehr gefräßig, wie alle andere Raupen, rühren aber nichts
an, als die Blätter des weißen Maulbeerbaums, wenigstens will ihnen
nichts Anderes recht schmecken und zusagen. Sie häuten sich vier- bis
fünfmal, und zwar beinahe jede Woche einmal. So lebt und frißt
nun diese Raupe sechs bis sieben Wochen lang. Fünf bis acht Tage
nach der letzten Häutung fängt sie endlich an, sich einzuspinnen, was
sie vorher dadurch zu erkenne« gibt, daß sie nicht mehr frißt, sondern
mit Fäden im Munde und mit aufgerichtetem Halse unruhig umher-
läuft, um einen Ort zu suchen, an dem sie die Fäden befestigen kann.
Hat die Raupe endlich diesen Ort, nemlich dürre Ruthen von Birken-
oder anderen Reisern, gefunden, so klebt sie zwei sehr feine Tröpfchen
eines klebrigen Saftes an die Ruthen an, bewegt den Kopf hin und
her und bringt so zwei sehr dünne Fäden aus den Oeffnungen heraus,
die sie geschickt mit den beiden Vorderfüßen zu einem Faden zu ver-
binden weiß. Zuerst spinnt sie ein weitläufiges, verworrenes und
durchsichtiges Gewebe, aus welchem Floretseide kardätscht wird. Den
zweiten Tag zieht sie die Fäden um sich herum und bildet den eigent-
lichen Kokon (d. h. Seidenhäuschen), in dessen Mitte sie sich befindet.
Ein solcher Kokon, der ziemlich die Größe und die Gestalt eines klei-
nen Taubeneies hat, besteht aus einem einzigen Doppelfaden, der
900—1200 Fuß lang ist./ Dies ist nun unsere Seide, die man nicht
erst zu spinnen braucht, wie den Flachs oder die Baumwolle, denn
das hat ja die Raupe schon gethan. Man darf nur zehn §is zwölf
Kokons miteinander abhaspeln und sie zwirnen. Läßt man aber der
Puppe, die sich im Innern befindet, Zeit, sich in einen Schmetterling
zu verwandeln, wozu sie vierzehn bis zwanzig Tage braucht, so durch-
bricht der Schmetterling seine Hülle, und der durchlöcherte Kokon kann
dann nicht mehr abgewunden und benützt werden. Um diesen Scha-
den zu verhüten, schiebt man die Kokons in einen mäßig heißen Back-
ofen, wo die Puppen ersticken, oder man wirft sie in siedendes Wasser.
Ui Das Vaterland der Seidenraupen ist China und Ostindien.
Dort leben sie auch wild auf Maulbeerbäumen, die ganz mit Kokons
behängen sind. Im Jahr 551 w. Chr. brachten zwei Mönche den
Seidenspinner mit nach Europa, indem sie dieMer desselben in ihren
hohlen Stöcken aufbewahrten. Kleider von Seide waren in den
alten Zeiten sehr kostbar. Von einem deutschen Kaiser wird erzählt,
daß er seiner Gemahlin ihre Bitte um ein seidenes Kleid abgeschlagen
habe, weil es ihm zu theuer war. selbst -nr
^Deittschlaud- -immer Zwar
Lesebuch.
4
/!
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uns nur in Zimmern betrieben werden und erfordert während der
Häutung der Raupen viele Mühe und Sorgfalt. Wer sich aber diese
nicht verdrießen laßt und fleißig Maulbeerbäume oder auch nur Maul-
beerhecken Pflanzt, um reichlich Futter für die Raupen zu haben, dem
wird seine Mühe auch reichlich durch den Ertrag von Seide belohnt,
die überall Käufer findet, und die bis jetzt für große Summen Gel-
des größtentheils vom Auslande bezogen worden ist.
24. Der Maikäser.
^Die Obstbäume haben wir eigentlich nur für uns gepflanzt.
Die Maikäfer thun aber, als waren sie ihretwegen da; denn in man-
chen Jahren finden sie sich so häufig auf ihnen ein, daß die Zweige
sich von der Last beugen. Dann geht es den Bäumen schlecht; was
an weichem Laube sich vorfindet, wird unbarmherzig abgefressen. Noch
ehe acht Ta-ge vergangen sind, stehen ausgedehnte Obstanlagen ent-
laubt da und haben ein winterliches Ansehen; denn die Bäume ver-
lieren ja mit den Blättern diejenigen Werkzeuge, die ihnen zum Leben
so nothwendig sind, als den Menschen die Lungen, und müssen alle
ihre Säfte zur Hervorbringung neuer Blätter verwenden.
% Haben sich die Maikäfer acht bis vierzehn Tage dem Vergnügen,
umherzuschwärmen und Laub zu fressen, hingegeben, so graben sich die
Weibchen, die man leicht an den kleinen Fühlhörnern erkennt, einige
Zoll tief in die Erde und legen dort an zwei bis drei verschiedenen
Orten zwölf bis dreißig Eier. Bald darauf sterben sie. Nach vier
bis sechs Wochen entstehen aus den Eiern kleine wurmartige Thier-
chen, Larven oder Engerlinge genannt, die sechs Beine und kräftige J
Kinnbacken haben.
/.Ihre Nahrung besteht meistens in zarten Wurzeln. Wie die
Alten, so sind auch sie äußerst gefräßig; und um sichs bei ihren ^
Mahlzeiten recht bequem zu machen, legen sie sich auf den Rücken,
fangen anU Wurzelspitzchen an zu fressen und fahren damit so weit
fort, als es ihnen schmeckt, und sie ohne große Unbequemlichkeit mit *
dem Kopfe hinaufreichen können. Im Herbst gehen sie tiefer in die
Erde, machen sich eine recht glatte Höhle und schlummern darin, bis
die Frühlingssonne den Boden wieder erwärmt und die Pflanzen zum
Wachsthum antreibt.
^Mittlerweile ist ihnen ihr Kleid zu enge geworden, und sie sollten
ein neues, weiteres haben; dafür ist auch ohne ihr Zuthun zum vor-
aus gesorgt von dem, der auch die Lilien des Feldes kleidet; das alte
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Kleid platzt von selber, und unter demselben ist schon ein neues ge-
wachsen. Der Engerling, welcher diese Verwandlung tief unter der
Erde abgewartet hat, steigt in verjüngter Gestalt in die Höhe und
fällt mit Begier über die Pflanzenwurzeln her.
>Die Pflanzen leiden in Kölge dieser Gefräßigkeit natürlich sehr,
hängen traurig die Köpfe uno verwelken ganz, wenn der Regen lange
auf sich warten läßt. Darum ist der Landmann den Engerlingen
eben so wenig hold, wie der Gärtner den Maikäfern; er vertilgt sie,
wo er nur kann, und sieht es recht gern, wenn die Saatkrähe im
Frühjahr hinter dem Pfluge hergehi und alle auffrißt, die sich in der
Furche blicken lassen.
(y So treiben nun die Engerlinge ihr Wesen drei bis vier Jahre
lang in der Erde. Zu Ende desleàn^^mmers steigen sie tiefer
als jemals in dieselbe hinab, áfs. mi■ Slaftertitf, machen sich noch
einmal eine recht hübsche, ovale Höhle und harren dann darin der
Veränderungen, die noch mit ihnen vorgehen sollen. Diese lassen
auch nicht lange auf sich warten. Nach einer kurzen Ruhe von eini-
gen Tagen wird die Haut nochmals abgestreift; aber diesmal geht
nicht ein Engerling daraus hervor, sondern eine Puppe, ein Geschöpf
das weder Larve noch Käfer ist, indeß doch mit letzterem die meiste
Aehnlichkeit hat.
j Beine und Fühler sind an den Leib gezogen und zur Fortbe-
wegung untauglich; ebenso bleibt das sonst so gefräßige Maul in
vollkommener Ruhe. Nach vier bis sechs Wochen wird auch diese
Hülle wieder gesprengt, und es erscheint nun endlich der vollkommene
Käser. Rumpf und Glieder find anfangs ganz weich und blaß, er-
härten aber bald und bekommen dabei ihre gewöhnliche dunkle Farbe.
Vom Februar an arbeiten sich die Käfer höher hinauf, besonders an
frostfreien Tagen, kommen jedoch nicht eher zum Vorschein, als bis
der Tisch für sie gedeckt ist, was Ende Aprils oder Anfang Mais
der Fall zu sein pflegt. Einzelne, die nicht so tief gelegen haben
mögen, arbeiten sich auch früher, bei auffallend gelindem Wetter selbst
mitten im Winter bis zur Oberfläche. Aus Mangel an Nahrung
und Maienwärme kommen sie natürlich um.
3 Das beste Mittel, die schädlichen Maikäfer zu vertilgen, besteht darin,
sie des Morgens, wo sie gewöhnlich vom Thau ganz erstarrt sind, von
den Bäumen zu schütteln und in Gruben mit heißem Wasser zu tödten.
Jung und Alt, Arm und Reich sollten sich bei dieser nützlichen
Arbeit betheiligeu.
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25. Die Dienen.
Die Bienen sind unter allen Insekten, vielleicht unter allen Thieren
diejenigen, welche unsere Bewunderung am meisten verdienen. Sie ver-
dienen sie niHt bloß wegen des großen Nutzens, welchen sie uns gewäh-
ren, sondern auch wegen ihrer sinnreichen Handlungen und häuslichen
Tugenden. Ihr Haushalt ist ein glänzendes Vorbild von gegenseitiger
Zuneigung, von Aufopferung für das gemeinsame Wohl, von Haß deS
Müßigganges, von Gehorsam gegen den Fürsten, von Sparsamkeit, von
unaufhörlicher Aufmerksamkeit und Sorge für den Vortheil aller Glieder
der Familie.
In einem Bienenstöcke befinden sich drei Arten von Bienen;
zuerst die Arbeitsbienen, deren in großen Körben 18,000 und mehr
sein können. Diese sind fast das ganze Jahr hindurch mit Einsammeln
von Honig und Wachs, mit Bauen von Waben, mit Pflege der Nachkom-
menschaft, mit Reinigung des Stockes u. s. w. beschäftigt. Sie sind klei-
ner als die anderen, haben an den Hinterfüßen einen kleinen Behälter,
den sogenannten Korb, in welchem sie den Blumenstaub eintragen, und
haben einen Stachel, deffen sie sich zum Kampfe und Morde unter einander
so wie zum Angriff und zur Vertheidigung gegen Feinde bedienen. Der
Stich desselben ist darum so schmerzhaft und verursacht eine Geschwulst, weil
durch ihn ein ganz klein wenig Gift, das diese Bienen bei sich tragen,
in die Wunde gebracht wird. Die zweite Art von Bienen sind die Männ-
chen oder Drohnen, von denen man etwa 1000 in einem jährigen ,
Korbe zählt. Sie sind merklich größer, als die Arbeiter, haben einen dicken
Kopf, einen schwärzlichen, haarigen Körper und keinen Stachel. Sie arbei-
ten nichts und sind zu nichts nütze, als zur Vermehrung des Geschlechts.
Darum werden sie auch alle nach drei oder vier Monaten durch die Stiche
der Arbeiter getödtet. Von der dritten Art befindet sich in jedem Korbe
nur eine einzige Biene; man nennt sie die Königin, weil sie in diesem
Staate zu herrschen scheint und der Gegenstand der allgemeinen Verehrung
ist. Sie ist jedoch nichts anderes als eine Mutter, die in der Zeit ihrer
größten Fruchtbarkeit in zwanzig Tagen mehr als zehn Tausend Eier legen
kann. Sie ist dünner als die Drohnen und gleicht an Gestalt den Arbei-
tern ; aber ihr Hinterleib ist viel länger und wird von den Flügeln nur
zur Hälfte bedeckt. Sie wird überall von den Drohnen begleitet und von
den andern Bienen geliebr, versorgt und bewacht.
^ Die Arbeitsbienen tragen Blumenstaub, Honig und Wachs
in den Korb. Wenn sich die Biene in einer Blume herumtummelt, so
bleibt zwischen den Haaren, mit welchen fast ihr ganzer Leib bedeckt ist,
der Blüthenstaub hängen, so daß sie dadurch fast unkenntlich
wird. Sie bürstet ihn dann mit ihren vorderen und mittleren Füßen rück-
wärts in die an den Hinterfüßen befindlichen Körbchen in der Form von
dicken, länglichten Ballen, welche man Höschen nennt und welche bisweilen
so groß wie ein Pfefferkorn werden. Dieser Blüthenstaub, den sie so in
den Korb bringen, dient hauptsächlich zur Nahrung der Jungen. Den
Honig aber, der ihre Hauptnahrung ist, sammeln sie aus den Honig-
drüsen oder Honigbehältern der Blumen, indem sie ihn mit dem Rüffel
einschlürfen, verschlucken und im Magen nach Hause tragen, in welchem
Falle sie ohne Höschen ankommen. Im Korbe läßt eine Biene einen bis
zwei Tropfen Honig aus dem Munde in eine Zelle fallen, dann kommt
eine andere und thut das Gleiche, und so geht es fort, bis die Zelle voll
ist. Das Wachs aber, das sie zum Bauen der Waben brauchen, bereiten
sie aus dem Honig, den sie eingesogen und heimgetragen haben. Wenn
eine Wachsarbeiterin in den Korb gekommen ist, bleibt sie lange stille
sitzen, wie Jemand, der vom Esten müde ist. In ihrem Körper geht in-
deffen eine Verarbeitung und Scheidung der Stoffe vor, die sie zu sich
genommen hat; nach einiger Zeit schwitzt sie zwischen den Ringen ihres
Unterbauchs eine Flüssigkeit aus, die daran kleben bleibt tmd sich bald in
eben so vielen dünnen, weißen Gürteln zeigt. Die Biene löst endlich
diese halbkreisartigen Theile von ihrem Körper ab, bringt sie zu wiederhol-
ten Malen zwischen ihre Kinnbacken, knetet sie mehrmals und legt sie aus
den Platz nieder, wo die Honigwaben gebaut werden müffen. Dies ist
das echte Wachs, das in ihrem eigenen Körper gekocht aus besondern Drü-
sen an dem Unterbauche zum Vorschein kommt.
/s Wenn ein Bienenschwarm in einen neuen Korb kommt, so
beginnen, so bald die Bienen etwas ausgeruht haben, alsbald viele den Korb zu
reinigen und allen Schmutz hinaus zu werfen; eine größere Anzahl Arbeiter
fliegt hinaus, um das sogenannte Vorwachs oder Stopfwachs zu suchen.
Dies ist ein brauner, harziger Stoff, welchen sie aus den Pappeln, Weiden,
Eichen und wilden Kastanien finden. Bei ihrer Zurückkunft stehen andere
Bienen bereit, ihnen das Vorwachs abzunehmen und sie auf neue Beute
ausgehen zu lasten. Das geknetete und bearbeitete Harz wird dazu gebraucht,
alle Riffe und Unebenheiten des Korbes zu verstopfen oder zu ebnen. Ist
dieses geschehen, so sind die Bienen darauf bedacht, ihre Zellen zu bauen.
Während die einen ausgingen, das Verwachs zu holen, folgten ihnen die
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andern durch das Feld, um Honig etnzusaugen. Nun sind sie schon lange
zurück, und an den Ringen ihres Bauches klebt das gekochte Wachs. Eine
von ihnen hängt sich an die Decke des Korbs, bringt das Wachs aus ihrem
Körper in den Mund, knetet es mehrmals und hängt es endlich an die
Decke des Korbes; eine zweite folgt ihr und hundert andere kommen, ihr
Wachs gleichfalls auf demselben Platze anzukleben. Der gesammelte Stoff
hängt auf diese Weise oben in dem Korbe als der Anfang einer schmalen,
ntederhängenden Mauer. So bald Wachs genug an der Decke des Korbes
hängt, um die weitere Arbeit beginnen zu können, kommen unzählige
Bienen, welche sich darauf niedersetzen und die regelmäßigen Zellen bauen.
J Das Innere eines Bienenkorbs ist mit senkrechten Wänden an-
gefüllt, an deren beiden Seiten die Zellen in liegender Richtung fest an-
einander gebaut sind. Die Wände mit den Zellen heißt man Waben. Diese
sind immer so weit von einander entfernt, daß zwei Bienen dazwischen
gehen können. Die Zellen haben merkwürdiger Weise eine Form, welche
die einzige ist, um in einem gewissen Raume die größte Zahl von Zellen
zu bauen; sie sind sechseckig und jede derselben fügt sich an sechs andere
an, und so geht kein Platz, der so groß als ein Stecknadelkopf wäre, ver-
loren. Von diesen Zellen sind in jedem Korbe einige Tausende. Sie sind
alle bestimmt, zum Neste oder zur Wiege der Jungen zu dienen; doch
werden auch manche als Fässer benützt, in welche die Honigbienen ihren
Honig ausströmen, um den Zuhausebleibenden Nahrung zu bieten. Diese
Zellen, welche zum Aufbewahrungsplatze für die tägliche Nahrung dienen,
sind immer offen; jede Biene holt daraus ihre Nahrung, wenn sie Hun-
ger hat. Uebrigens sind sie immer damit beschäftigt, einen großen Vorrath
von Honig und Blumenstaub für den Winter zu sammeln. Diese häufen
sie in den Zellen an der Decke des Korbes auf und siegeln, um den Vor-
rath vor Unreinigkeiten und vor dem Ausströmen zu bewahren, jede ge-
füllte Zelle mit einem wächsernen Deckel zu. Die gefüllten Waben aber
macht sich der Mensch zu eigen; den Honig nimmt er heraus, um ihn als
Leckerei oder als Heilmittel zu gebrauchen, die Wabe selbst, die Scheibe
und die Zellen sind das gemeine, gelbe Wachs, das, wenn es gebleicht
wird, eine hellere weiße Farbe erhält. In einem guten Stocke können im
Spätjahre wohl zwanzig Pfund Honig und zwei Pfund Wachs sein.
So bald einige Zellen im Korbe fertig, ja selbst wenn sie nur halb
ausgebaut sind, kommt die Königin herbei. Sie legt in jede leere Zelle
ein Ei, aus welchem am dritten Tage ein kleiner, weißer Wurm geboren
wird. Einige Bienen halten treue Wacht bei jeder Zelle und liegen, den
Kopf über den Rand gebeugt, da, um den Wurm zu beobachten und ihm
55
etwas Drei zu geben, wenn er Hunger hat. Die Nahrung der Würmer
besteht aus Vlumenstaub und Honig, welchen die Bienen in ihrem Magen
zweckmäßig kochen und nach dem Alter der Jungen zu bereiten wissen. In
den ersten Tagen seines Lebens erhält der Wurm einen dünnen und bei-
nahe geschmacklosen Brei; nach und nach wird sein Essen kräftiger und
nahrhafter; der Brei der ältesten Würmer ist beinahe so süß als der Honig
selbst. Am fünften Tage nach der Geburt muß sich der Wurm ein Ge-
häuschen spinnen, üm seine Verwandlung darin vorgehen zu lassen. Die
Bienen schließen seine Zelle, indem sie einen wächsernen Deckel darauf legen.
Der Wurm spinnt sich in ein seidenes Schlafkleid und verwandelt sich zu-
erst in ein Püppchen; sieben oder acht Tage darauf beißt er sein Kleid in
Stücke und kommt mit Flügeln und ganz wie die andern Bienen aus-
sehend aus der Zelle. Die Neulinge werden nun von einer großen An-
zahl Bienen umringt; die eine bietet ihnen Essen an, die andere trocknet
ihren Körper ab, viele streicheln sie und helfen ihnen beim Loslösen ihrer
steifen Glieder. Indessen kriechen andere in die verlassene Zelle, reinigen
sie und bereiten sie damit zur Aufnahme eines andern Eies. Die junge
Biene fliegt den andern Tag um Honig aus und nimmt an der gemein-
schaftlichen Arbeit ebenso Theil, als wäre sie schon seit langer Zeit auf
der Welt.
/' Im ersten Jahre legt die Königin nur solche Eier, aus welchen
Arbeitsbienen entstehen; im zweiten Jahre aber, wenn der Korb für die
große Anzahl Arbeitsbienen zu eng wird, legt sie auch einige Drohnen -
Eier. So bald die Arbeiter dies merken, bauen sie rasch eine andere
Art von Zellen, damit die Königin auch einige Eier hineinlege, aus wel-
chen junge Königinnen kommen. Diese neuen Zellen sind von ganz
anderer Form, als die übrigen; während die andern quer und regelmäßig
gegen einander an der Scheibe stehen, hängen die königlichen Zellen ab-
wärts und sind an den Waben selbst befestigt; ihre Außenseite ist rauh,
dick und unregelmäßig. Die Königin legt in jede ein Ei, aus welchem
eine Königin hervorkommt; aber sie trifft die Vorsorge, zwischen dem Legen
jedes königlichen Eies zwei Tage verlaufen zu lassen. Dies ist durchaus
nothwendig, denn nie können zwei Königinnen in einem Korbe sein, ohne
daß sie einander zu tobten suchen, und es darf daher keine zweite geboren
werden, ehe die erste Zeit gehabt hat, den Korb zu verlassen.
i Die königlichen Würmer empfangen einen Brei, der ganz von
der Nahrung der übrigen Würmer verschieden ist; er ist nemlich weit
süßer und kräftiger. So lange die königlichen Jungen in ihren Gehäusen
eingeschlossen sind, um ihre Verwandlung vor sich gehen zu lassen, bleibt
56
Alles im Korbe auf dem gewohnten Fuße. Aber kaum beginnt die junge
Königin ihr Gehäuse zu durchnagen und durch ihren Gesang hören zu
lasten, daß sie bereit sei zu erscheinen, so geräth der ganze Staat in Aufruhr.
Einige Arbeiter mauern den Ausgang der königlichen Wiege zu und lasten nur
eine kleine Oeffnung darin, um der Gefangenen Futter geben zu können. In-
zwischen läuft die alte Königin wie rasend in dem Korbe umherz durch Neid
und Eifersucht wahnsinnig geworden, versucht sie die königlichen Jungen
zu tödten. Sie steckt ihren Stachel mit Wuth mehrmals in die Wände
der Zellen und es glückt ihr bisweilen, eines der gehaßten Kinder zu tödten;
dennoch aber erreicht sie ihr Ziel nicht, denn es sind der Jungen zu viele.
Nach andern fruchtlosen Versuchen wiederholt die tolle Königin ihr rasendes
Laufen über die Waben; alle Bienen folgen ihr mit Ungestüm; die Ver-
wirrung, der Auslauf wachst, bis die Hitze im Korbe unerträglich wird.
Plötzlich eilt die Königin nach dem Ausgang des Korbes und verläßt die
alte Heimat mit einem Gefolge von einigen Tausend Bienen. Diese er-
füllen die Luft wie eine Wolke und stürzen nicht lange darauf mit der
Königin auf den Zweig eines Baums oder auf einen andern Gegenstand.
Wenn man einen solchen Schwarm nicht bald samt der Königin in
einen andern Korb bringt, so sendet er einige Kundschafter aus, um im
nächsten Walde einen hohlen Baum oder einen ähnlichen Wohnplatz zu
suchen. Kurz darauf zieht der ganze Schwarm nach dem neuen Vaterlande.
Haben viele Einwohner den Korb verlassen, so sind doch noch mehr
darin geblieben; ihre Zahl wird überdies jeden Augenblick durch die Ar-
beitsbienen vermehrt, welche aus dem Felde heimkehren und bei dem Schwär-
men nicht zugegen gewesen waren.
So bald die alte Königin den Korb verlassen hat, öffnen die Ar-
beiter das Gefängniß der jungen Königin. Diese ist kaum aus ihrer Zelle
gekrochen, so überfällt sie eine ähnliche Wuth; auch sie versucht die andern
königlichen Kinder zu erstechen; sie wird jedoch von den Arbeitsbienen, so
oft sie jenen nahen will, zurückgehalten. Dies dauert so lange, bis eine
andere junge Königin in ihrer Zelle zu singen beginnt. Dieser Ton
bringt die ältere zur Raserei; sie irrt in dem Korb herum und verur-
sacht dieselbe Unordnung, wie die erste. Endlich verläßt sie gleichfalls die
väterliche Wohnung mit einigen Tausend Genosten.
/Oluf diese Weise können vier Schwärme in der Zeit eines Jahres
aus dem Korbe kommen. Die Königin, welche nach dem Auszuge des letz-
ten Schwarmes aus ihrer Zelle kriecht, vertilgt alle übrigen königlichen
Jungen. Kurz daraus beginnt die zurückbleibende Königin Eier zu legen;
dann fallen die Arbeiter aus die unbewaffneten Drohnen, zerstechen sie
57
furchtbar mit ihren Stacheln und ermorden sie alle, ohne einer einzigen
zu schonen; ja so weit geht ihre Mordlust, daß sie wüthend zu den Droh-
nenzellen laufen und alle Eier und Würmer zerdrücken. Nach dieser schauer-
lichen Metzelei werden Ruhe und Friede im Staate hergestellt, jedes nimmt
seine Arbeit wieder auf, und man beginnt hauptsächlich für das Einsammeln
des Wintervorraths zu sorgen.
'Die Bienen haben viele Feinde. Der Bienenwolf dringt in den
Korb und legt seine Eier in die Zellen; es gibt Motten, welche die Dunkel-
heit abwarten und dann ihre Eier auf die Waben legen; ihre Würmer zernagen
die Zellen und können manchmal den ganzen Korb verderben. Ferner
haben sie Vögel, Frösche, Mäuse und Spinnen zu Feinden. Sie wachen
darum Tag und Nacht an den Thoren ihrer Stadt, um den Feind heraus-
zuholen oder zu tobten, wenn er eindringt und bemerkt wird. Sie lösen
einander in dieser Arbeit ab.
Der Nachtschmetterling, welchen man Todtenkopf nennt, ist ein Feind,
der den Bienen großen Schrecken einflößt. Es gibt Jahre, wo man wenige
von diesen Honigräubern sieht, aber es gibt auch Jahre, wo sie in Menge
erscheinen. Wenn dies geschieht, so bauen die Bienen hinter die Pforte
ihrer Stadt eine oder mehr Mauern von Vorwachs und lasten darin kleine
Oeffnungen, wo sie selbst durchgehen können, die jedoch eng genug sind,
um den Todtenkopf aus dem Korbe auszuschließen.
Wenn eine Maus, eine Schnecke oder ein anderes Thier in den Korb
gedrungen ist, fallen die Bienen in Menge auf dastelbe los und tobten
es in wenigen Minuten. Die Leiche ist jedoch zu schwer, um aus dem
Korbe getragen zu werden; sie muß deßhalb innerhalb destelben verfaulen
und würde durch ihre Ausdünstung großen Schaden anrichten. Wodurch
kann diesem Unglück vorgebeugt werden? — Rasch wird etwas Vorwachs
herbeigeschafft, man mauert ein Gewölbe darüber her und schließt die Leiche
auf diese Weise in ein Grab, aus welchem weder Dunst noch Geruch aufstei-
gcn kann. Ist dieses geschehen, so kümmert man sich nicht mehr um die-
sen fremden Gegenstand, welcher liegen bleibt, ohne daß er die Bienen
hindert/)
26. Die Biene.
Gotthold sah eine Biene, dass sie- um ein Gefäss, mit
Honig angefüllt, schwebte, bis sie endlich, vermeinend sich
darauf zu setzen und nach aller Lust sein zu gemessen, hinein
fei und allenthalben mit Honig gerathet umkommen und ver-
derben musste. So gehts, gedachte er, mit der zeitlichen
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Glückseligkeit und mit dem Ueberfluss der Güter, Ehren und
Wollust, welche die Welt, wie Bienen den Honig, begierig sucht.
Eine Biene ist glückselig, so lange sie ihren Honig von Blumen
mit Fleiss zusammenbringt und gemächlich einen Vorrath
sammelt; kommt sie aber zm solcher Menge, wie diese, so weiss
sie sich nicht darein zu schicken, und geräth darüber ins Ver-
derben. Also ist mancher Mensch gottselig, demüthig und
fromm, so lange er im Schiceiss seines Angesichts durch täg-
liche Arbeit und Mühe seine Nahrung suchet; so ihm aber
durch ein sonderlich Glück grosser Reichthum auf einmctt
zufallet, so machet er Stufen daraus, auf welchen er zum Ver-
derben hinabsteiget oder fället. An diesem Honigvögelein habe
ich eine Erklärung dessen, was der Apostel saget: die da
reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke, und
viel thörichter und schädlicher Lüste, welche versenken die
Menschen ins Vei'derben und Verdammniss.
27. Die Flu Jungfer.
1' Vom Mai bis zum Herbst sieht man an den Ufern der Bäche
und Flüsse ein Insekt umher fliegen, das am Kopfe ein Paar mächtig
große, kugelige Augen hat, an der Brust vier lange, schmale, netz-
artig geaderte Flügel von verschiedener Farbe, sechs Beine und einen
auffallend langen, schlanken, zehngliederigen Hinterleib. Das ist die
Flußjungfer oder Wasserjungfer. Ihr Flug ist schwankend und
langsam. Ihre aus Insekten, besonders Mücken bestehende Nahrung
sucht sie im Fluge zu erhaschen.
^Das Weibchen legt eine große Anzahl kleiner, länglicher Eier
ins Wasser. Aus diesen Eiern entstehen in kurzer Zeit Larven, die
dem vollkommenen Thiere sehr ähnlich sind, aber keine Flügel haben
und sich stets im Wasser aufhalten. Sie haben einen gegliederten,
langen, schmalen und geschmeidigen Leib, sechs Beine, am Kopf zwei
Fühlhörner, eine vorstreckbare, zum Fangen der Nahrung eingerichtete
Zange und am Ende des Hinterleibes drei steife Ruderfedern. Ihre
Nahrung besteht in Wasserinsekten. Erblicken sie ein derartiges Thier,
so schleichen sie sich behutsam an dasselbe heran, schnellen ihre Fang-
zähne vor, ergreifen es damit und führen es zum Munde. Sie blei-
ben zehn bis elf Monate im Wasser und häuten sich während dieser
Zeit drei- bis viermal. Bei der letzten. Häutung bekommen sie Flü-
gelscheiden, verwandeln sich aber nicht in Puppen, wie die Larven
V. A
59
-er Käfer und Schmetterlinge, sondern kriechen, wenn die Zeit ihrer
Verwandlung gekommen ist, aus dem Wasser und setzen sich an dem
ersten besten Pflanzenstengel oder Blatte fest. Sobald ihre Haut
trocken ist, platzt sie auf dem Rücken auseinander, und die darin ver-
borgen liegende Wasserjungfer kommt zum Vorschein. Ihre Flügel
sind anfangs ganz kurz und weich, erlangen aber in kurzer Zeit die
zum Fliegen erforderliche Größe und Härte.
28. Die Verwandlung der Insekten.
‘ Die Insekten sind in vielen Eigenschaften gar merkwürdige Thiere,
an denen sich wundervolle Kunsttriebe, Vorausgefühl des Künftigen
und vor allen Dingen eine Verwandlung und gänzliche Umgestaltung
findet, wodurch ein und dasselbe Thier eine ganz andere Gestalt und
Lebensweise gewinnt. Das Letztere ist der Fall bei den geflügelten
Insekten. Erst ist es z. B. eine Raupe, die ungemein gefräßig und
schädlich ist, indem sie eine große Menge von Blättern oder Knospen
frißt, oder auch eine häßliche Made (Wurm), die im Wasser, Schlamm,
Mist und dergl. lebt. Auf einmal wird die Raupe krank; sie krümmt
und windet sich und muß als Raupe sterben, nachdem sie sich noch
selber vorher ihr Sterbekleid gesponnen oder ihren Sarg zurecht ge-
macht hat. In diesem Zustand heißt sie Puppe oder Nymphe. Da
liegt sie. oder hängt sie dann lange wie todt, und die Raupe ist dann
wirklich nicht mehr vorhanden. Auf einmal aber bricht der Früh-
lingssonnenschein herein, da springt der Sarg entzwei, und aus ihm
geht nun ein ganz anderes Leben hervor, als das vorige war; eine
Mücke, eine Imme, ein Käfer oder auch ein schöner, bunter Schmet-
terling, der alles das Schädliche und Häßliche, das an der Raupe
war, abgelegt hat und keine Blätter mehr fressen mag, sondern mit seiner
niedlichen, langen Zunge, allenfalls bloß die Thautröpflein oder auch
den Honigsaft aus den Blüthen saugt, sehr oft aber gar Nichts mehr
zu genießen braucht, weil er sich in dieser seiner letzten Gestalt der
Welt nur kurze Zeit zeigt. Die meisten ungeflügelten Insekten aber,
z. B. die Laus, die Assel und andere, machen eine solche Umwand-
lung aus einem unvollkommenen Zustand in den vollendeteren nicht
durch, sondern kommen gleich aus dem Ei in der Gestalt, die sie
zeitlebens^ behalten.
A,Bei einer solchen Verwandlung kann man sich allerdings viel
denken, und schon die Alten haben daher den Schmetterling und seine
Verwandlung als ein Sinnbild der Unsterblichkeit der Seele betrachtet,
60
welche auch, wenn der Augenblick und die Umwandlung des TodeS
glücklich überstanden ist, in hoher Schönheit und Herrlichkeit hervor-
gehen und aller armen Gebrechen ihres Leibes los, nun ein geistiges
Leben führen wird.
29. Die Schlangen.
/. Noch immer glauben Leute, daß die giftigen Schlangen mit der Zunge
stechen. Allein es ist schon lang außer Zweifel gesetzt, daß sie durch Giftzähne
verwunden, welche in der obern Kinnlade stehen. Diese Zähne sind hohl und
haben an der Spitze eine seine Oeffnung. An der Seite des Kopfes befindet
sich eine Drüse, in welcher das Gift bereitet wird, und wenn das Thier beißt,
so tritt das Gift aus der Drüse in den Zahn und durch die Oeffnung in die
Wunde. Es ist also eine Fabel, daß die Schlangen das Gift, ehe sie in das
Waffer gehen, unter einen Stein ablegen. Wenn ein solches Thier im
Waffer nicht giftig ist, so hat es auch kein Gift außer demselben. An jenen
Zähnen hätte man also wohl ein Kennzeichen, die gefährlichen Thiere dieser
Art von den unschuldigen zu unterscheiden. Aber wie kann man ihnen, so
lange sie leben, in den Mund schauen, und wer wirds thun? Lieber geht
man ihnen zur Sicherheit aus dem Weg, oder schlägt sie todt. Allein so wird
doch auch manches unschädliche und sogar nützliche Thier getödtet. Denn
die Schlangen verzehren viel sogenanntes Ungeziefer und helfen uns also vor-
der schädlichen Menge derselben bewahren. Und ein guter und besonnener
Mensch will doch lieber erhalten, als ohne Zweck und Noth zerstören; lieber
sieben lassen, als todten, wär es auch nur ein Thier im Raube. | Und die
^Schlange, ob sie gleich mit dem Bauche auf der Erde schleicht, ist doch ein
merkwürdiges und wirklich ein schönes Thier. Schon das verdient ja unsere
Aufmerksamkeit, daß dieses Geschöpf ohne Füße, nur durch seine zahlreichen
Muskeln sich so leicht fortbewegen kann. Ihre Gestalt ist so einfach, und doch
fehlt ihnen Nichts, was ihnen zur Erhaltung und zum Genuß des Lebens
nöthig ist. Mit welcher Geschwindigkeit und Gewandtheit gleiten sic in den
mannigfaltigsten Wendungen ihres schlanken Körpers nach allen Richtungen
dahin und ereilen ihre fliehende Beute, oder retten ihr verfolgtes Leben! Mit
welcher leichten Biegsamkeit winden sie sich zwischen und über und unter den
tausend Hinderniffen durch, die ihrem Lauf überall im Wege liegen! Wer
hat über den ganzen Körper hinab Schild an Schild und Schuppe an Schuppe
gereiht und über einander gelegt, daß sie bei jeder Bewegung in der größten.
Geschwindigkeit ausweichen, nachgeben, sich über einander schieben und doch
, den zarten Körper bedecken, und allemal wieder in ihre vorige Lage zurück-
kehren? Wer hat sie mit der Schönheit und Mannigfaltigkeit ihrer Farben
61
7
geziert? Zn Amerika wird eine Schlange mit rothen, schwarz eingefaßten
Flecken und citronengelben Querstreifen wegen ihrer ausnehmenden Schönheit
zum Staat als Halsschmuck getragen oder in die Haare geflochten. Auch
von unsern Schlangen sind manche, zumal wenn sie sich noch nicht lange
gehäutet haben, an Farbe und Zeichnungen schön, wenn man sie nur ohne
Furcht und Abscheu betrachten kann.
'$/ Unter diesen sind übrigens die meisten unschädW, namentlich die
/¿f, ].y
Nattern, welche insgesamt keinen Giftzahn haken. Am geMmckichsten
kommen in Deutschland die Ringelnatter, die glatte und die ^gelbliche Natter
vor.
^Die Ringelnatter erkennt man leicht anden gelben
ten schwarz gesäumten, halbmondförmigen Flecken, deren sie hinter dem Kopse
an jeder Seite einen hat. Die Farbe der ganzen Oberseite des Thiers ist
bläulich oder grünlich oder graubraun oder schwärzlich, die Unterseite schwarz
mit großen weißen Flecken. Diesem sanften, unschuldigen Thiere begegnet
man auf allen Wegen und Stegen, besonders in der Nähe des Wassers, in
welchem sie gerne schwimmt; sonst hält sie sich in Mauern, Zäunen, in Mist
und selbst in Ställen auf, in welche sie auch im August ihre schmutzig weißen
Mer legt, gewöhnlich einige Dutzend an einander klebend, etwas größer als
Taubeneter. Sie liebt die Milch und schleicht sich deßhalb in Keller und
Küchen. Sie geht auch der Wärme nach und findet sich bisweilen auf den
Dörfern in den Betten. Sie droht zwar zischend, wenn man sich ihr nähert,
beißt aber sehr sellen und durchdringt dann kaum die Haut. Ihre Haupt-
nahrung sind Frösche und nächstdem Kröten, Wasiermolche, Eidechsen, Fische.
Sie verschluckt Frösche, die viermal dicker sind als ihr Kopf und arbeitet
mehrere Stunden daran.
^,Die glatte Natter ist oben braun, auf dem Hinterkopfe hat sie einen
großen, dunkelbraunen Fleck, über den Rücken hin zwei Reihen solcher Flecken.
Der Unterleib zieht entweder ins Stahlblaue oder ist röthlich-, gelblich-,
weißlich- und schwarz- oder grau-marmorirt. Sie ist schnell, gewandt und
jähzornig; sie beißt gleich und häkelt sich mit ihren winzigen Zähnchen so
fest, daß sie öfter über acht Minuten hängen bleibt. Ihre Hauptnahrung sind
Eidechsen und Blindschleichen, um welche sie sich wickelt, wie die Riesen-
Nattern nicht thun.
latter, eine der größten in Deutschland, manchmal
£]bis chmif Schuh lang, ist oben ganz einfarbig, bräunllch-graugelb, unten
weißgelb, ohne Flecken. Sie findet sich in den meisten Theilen Deutschlands,
besonders häufig aber bei Schlangenbad im Herzogthum Nassau, welches
seinen Namen davon hat. Hier wird sie häufig von Knaben gefangen und
schlarmen, was andere
^ Die gelbliche Í
ñ weißen), hin-
62
an die Badgäste verkauft. In der Gefangenschaft thut sie anfangs ziemlich
wild,^wird aber bald zahm, ohne jedoch Etwas zu freffen.
Diese Nattern alle sind völlig unschädlich. Ebenso unschädlich sind die
Blindschleichen, welche übrigens richtiger zu den Eidechsen gezählt werden,
mit denen sie, den Mangel der Füße abgerechnet, viele Aehnlichkeit haben.
Sie sind bei uns fast allerwärtS zu Hause und leben hauptsächlich von nackten
Schneckchen und Regenwürmern. Den Menschen thun sie niemals was zu
Leide. „
Dagegen gibt es aber allerdings auch giftige Schlangen in unserm
Vaterlande. Dies sind die Ottern, welche man besonders daran erkennt,
daß ihr Kopf mit zahllosen kleinen Schuppen, wie mit Körnern, bedeckt ist,
während die ungiftigen Schlangen neun größere Tafeln auf dem Kopfe haben,
bei uns besonders die Kreuzotter, viel seltner die Viper. Die Kreuzotter,
auch Kupferschlange oder Feuerotter genannt, ist grau (bald röthlich- bald
bläulich-grau), am Bauche schwarz und hat vom Kopfe an ühe^r^r -ganzen
Rücken ei^^chwarzes Zickzackband. Sie wird selten über zwei-Schuch- lang
und-vm-eu ZW dick. Die Viper, welche ihr fast ganz gleicht, aber etwas
größer wird, unterscheidet sich von ihr dadurch, daß sie keinen Zickzackstrei-
fen , sondern nur große schwarze Flecken auf dem Rücken hat. Man findet
die Ottern, diese gefährlichen Thiere, an sehr vielen Orten, wo niedriges
Gesträuch steht, alte Baumstämme oder Steinmassen sich vorfinden und kein
Mangel an Sonnenschein und Mäusen ist, am häufigsten in den hohen Wald-
gebirgen, auf den Alpen, dem Schwarzwald, dem Thüringer Wald u. s. w.
Im Ganzen zwar sind sie bet uns nicht häufig; doch vergeht selten ein Jahr,
wo nicht da und dort ein Holzmacher oder ein Kind, welches Heidelbeeren,
Preiselbeeren, isländisches Moos, Reisig u. dgl. sucht, gebissen würde.
Mäuse und Maulwürfe müssen hauptsächlich ihre Wohnung graben und werden
dann zum Dank 'dafür vergiftet und gefressen. Wenn die Otter nach einer
Beute oder einem Feinde beißen will, so zieht sie erst den Hals ein und schnellt
dann den Kopf mit großer Geschwindigkeit vor; sie springt aber nicht nach
dem Feinde, verfolgt ihn auch nicht, wenn er Reißaus nimmt. Menschen
widerfährt es am häufigsten, daß sie von Ottern gebissen werden, wenn sie
baarfuß gehen oder beim Beerenpflücken, Moossammeln u. s. w. mit den
Händen dem Boden nahe kommen. Der Biß pflegt sehr verschieden zu sein,
denn er macht mitunter bloß feine Ritzen, oder es trifft nur ein Giftzahn statt
beider, oder es dringen auch beide stechend ein, was am gefährlichsten ist. Bin-
nen fünfzig Minuten kann ein so vergifteter Mensch todt sein. Nach dem
Biffe schwillt die Wunde augenblicklich und wird roth oder blau. Man kann
mit der Hülfe nicht genug eilen; wo möglich muß das Gift sogleich durch einen
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starken Druck mit den Fingern aus der Wunde gedrückt werden; hat -
scharfe Schere zur Hand, so schneide man die Wunde, die kaum überfeine hÄlbe ’
-£rm? tief wird, augenblicklich ans und laste sie recht lange bluten, wasche sie
auch dabei tüchtig aus. Kann man sie nicht so behandeln, so suche man mög-
lichst schnell einen starken Druck aus sie anzubringen, indem man ein Steinchen
und dergl. fest auf den Biß selbst, nicht daneben, bindet und so lange darauf
läßt, bis die Stelle zu Hause ausgeschnitten oder durch Schröpfköpfe ausgesogen
werden kann. So lange der Druck fest auf der Wunde ruht, saugt diese das
Gift nicht ein; man drücke also, wenn sich gar kein anderes Mittel zeigt, we-
nigstens den Daumen so lange darauf, bis zu Hülfe gerufene Leute das Uebrige
besorgen können. So bald als möglich aber muß ein erfahrener Arzt oder
Wundarzt zu Rathe gezogen werden. Dieser wird ohne Zweifel Chlor an-
wenden, das schon in sehr vielen Fällen das einzige Mittel war, welches Ret-
tung^md^MgL-GLnesung bringen konnte.
I Die feurigen Schlangen, von denen das murrende Volk Israel in
I der Wüste (4 Mos. 21, 6. vergl. Joh. 3, 14. 15.) heimgesucht wurde, werden
I für eine Art von Hydern oder giftigen Wasterschlangen gehalten, welche in
Bächen der Wüste leben, und wenn die Bäche vertrocknen, höchst gefährlich
werden. Den Namen Feuerschlange hat dieses Thier entweder von dem bren-
nenden Schmerz, welchen ihr Biß verursacht, was bei anderen giftigen Schlangen
nicht der Fall ist, oder von ihrer Farbe. In den Zeitungen las man z. B. aus
Bassora vom 24. September 1831: „Die Stadt Bagdad wurde von einer un-
erhörten Plage getroffen. Cs hat sich eine ungeheure Menge Schlangen von
fenerrother Farbe gezeigt, deren Biß Raserei und unvermeidlichen Tod bewirkt.
Die ganze Stadt war mit Leichen angefüllt."
30. Die Königsschlange.
* Diese Schlange heißt auch die Abgottsschlange und ist die größte
unter den Schlangen. Sie wird zwanzig bis vierzig Fuß lang, und
dicker als der Leib eines Mannes. Sie bewohnt Ostindien und
Afrika und halt sich meistens ans Bäumen und an Flüssen auf. Die
folgende Nachricht theilt ein holländischer Offizier mit, der sich in
Ceylon aufhielt. „Ich wohnte am Ende der vornehmsten Stadt dieser
Insel und hatte die Aussicht aus einen nahe liegenden Wald. Nicht
weit von meiner Wohnung war ein kleiner Hügel, auf welchem drei
bis vier Palmbäume standen, deren Anblick mir alle Morgen sehr
viel Vergnügen machte. Als ich einstmals des Morgens meine Augen
ans sie gerichtet hatte, schien mir ein dicker Zweig auf denselben aller-
hand wunderliche Bewegungen zu machen; er drehte sich von einer
_-__
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Ri auf die andere, neigte sich auf die Erde herab, hob sich wieder
e Höhe und verlor sich unter den Übrigen Zweigen. Kein Wind
wehete, die Luft war gänzlich still, und ich hatte allerhand Gedanken
über diese Erscheinung, als mich ein Ceylonese besuchte. Ich zeigte
ihm, was mich in Verwunderung fetzte. Er sah nach den Baumen
hin, wurde ganz blaß im Gesicht und wollte vor Schrecken zur Erde
sinken. Er bat mich, daß ich den Augenblick alle meine Thnren und
Fenster verriegeln und verwahren möchte; denn was ich für den Zweig
eines Baumes halte, fei eine ungeheure Schlange, die sich an solchen
Bewegungen belustige und auf die Erde schieße, um Beute zu machen.
Ich erkannte bald, daß er Recht hatte; denn nicht lange darauf
sah ich, daß sie ein kleines Thier auf der Erde haschte und mit sich
unter die Zweige des Baumes nahm. Als ich mich bei dem Ceylo-
nesen näher nach dem Ungeheuer erkundigte, sagte er mir, daß man
es auf der Insel nur allzu wohl kenne, daß es sich sonst gewöhnlich
in der Mitte der Wälder aufhalte, und ans dick bewachsenen Bäumen
auf die vorbeigehenden Menschen und Thiere herabstürze und sie leben-
dig verzehre. ' ' ..—- ...
Wir versammelten uns hierauf zwölf Personen an der Zahl
und Mitten wohlbewaffnet „^nter ein dichtes Gebüsch, wo wir die
Schlange "mit unsern^ Flinten errelchew"tonnten." Als wir-sternum in
der Nähe betrachteten und ihre ungeheure Größe, welche in der
Ferne nicht so bedeutend zu sein schien, wahrnahmen, ergriff uns alle
ein Schauder, und Keiner wagte einen Schuß zu thun, weil man sie
zu verfehlen fürchtete. Alle Ceylonesen, die bei mir waren, gestanden,
daß diese da alle, die sie jemals gesehen hätten, an Größe überträfe. c
Sie war dicker, als der Leib eines magern Menschen, schien aber
nicht fett zu fein, und war im Verhältniß ihrer Dicke sehr lang.
Mit ihrem Schwanz hing sie sich an einen der obersten Zweige des
Baumes, uud mit dem Kopf reichte sie bis ans die Erde. Sie war
außerordentlich geschwind und machte in einem Augenblick tansend
Wendungen mit ihrem Körper. Sie kam herab, wickelte den Schwanz
um den Stamm des Baumes, legte sich der Länge nach auf die Erde,
und in einem Augenblick hatte sie sich wieder unter den Aeften des
Baumes verloren. Mitten unter diesen Luftsprüngen sahen wir, daß
sie sich mit ungemeiner Schnelligkeit zurückzog und sich unter die
1 Zweige still hinlegte. Wir merkten bald die Ursache davon: ein
! kleiner Fuchs, den sie unstreitig gesehen hatte, wollte unter dem Baum
^vorbeigehen; allein die Schlange schoß ans ihn herab und hatte ihn
65
Tin einigen Minuten ausgesogen. Mit einer breiten schwärzlichen
'Zunge leckte sie an seinem Fleische herum und legte sich auf die Erde
gemächlich nieder, doch blieb der Schwanz immer um den Stamm
des Baumes gewickelt.
Wir betrachten sie genau, und als wir uns an ihrem Anblick
satt gesehen hatten, schossen wir ihr nach dem Kopfe, allein ich weiß
nicht, ob sie denselben in dem Augenblick bewegte, oder ob wir nicht
recht sahen, kurz, wir trafen sie nicht, und sie verrieth auch nicht die
geringste Furcht, sondern blieb auf der Erde liegen. Da es Abend
zu werden ansing, so beschlossen wir nach Hause zu gehen und den
andern Tag in größerer Anzahl wieder zu kommen. Die Ceylonesen
sagten, daß, wenn diese Schlange einmal einen Baum zu ihrem Auf-
enthalt erwählt habe, sie denselben nicht so bald wieder verlasse.
Den andern Morgen stellten wir uns wieder hinter dem Ge-
büsche, aber in weit größerer Anzahl ein, und wir trafen die Schlange
noch an demselben Orte an. Sie schien sehr hungrig zu sein, und
wir bekamen bald etwas zu sehen, was uns alle in Erstaunen setzte.
Ein Tiger, der nicht viel kleiner als eine Kuh war, kam unter
den Baum, auf dem sie sich befand. Sogleich vernahmen wir in
den Aesten des Baums ein schreckliches Geräusch. Die Schlange
schoß auf den Tiger herab und siel ihm auf den Rücken, aus welchem
sie ein Stück riß, das größer als ein Menschenkopf war. Der Tiger
brüllte heftig und wollte mit seinem Feinde fortlaufen) allein als die
Schlange dies merkte, wickelte sie sich drei- bis viermal um den Tiger
und zog die Schlingen so fest an, daß er bald in Todesängsten nie-
« derstürzte. Als die Schlange ihn auf diese Art gefesselt hatte, ließ
sie den Rücken fahren, zog sich weiter nach dem Kopf herauf, öffnete
ihren Rachen, so weit sie konnte, und umschloß damit das ganze Ge-
sicht des Tigers, das sie aus eine entsetzliche Art zerfleischte und da-
durch ihm zugleich die Luft benahm. Der Tiger hob sich wieder in
die Höhe, kehrte sich von einer Seite zur andern und brüllte auf
eine schreckliche Weise in dem Rachen der Schlange.
Er war sehr stark und muthig, und ob er die Schlange gleich
nicht los werden konnte, so machte er ihr doch genug zu schaffen.
Bald richtete er sich auf, lies ein paar Schritte fort, fiel aber theils
wegen der Schwere, theils wegen der festgezogenen Schlingen der
, Schlange wieder nieder. Nach einigen Stunden schien er völlig ent-
! frästet und todt zu sein. Die Schlange versuchte durch engeres
! Zusammenziehen ihres um den Körper des Tigers gewickelten Leibes
l—5
66
seine Nippen und Knochen zu zerbrechen; allein es wollte nicht gehen.
Sie machte sich daher von dem Tiger los, wickelte bloß ihren Schwanz
um seinen Hals und schleppte ihn, obschon mit vieler Mühe, nach
dem Baume hin. Jetzt sahen wir recht einleuchtend, wozu ihr der
Baum diene.
Da der Tiger nicht mehr aufrecht stehen konnte, so richtete sie
ihn an dem Stamm des Baumes auf den Füßen in die Höhe.
dies geschehen war, flocht sie sogleich ihren Leib sowohl um den Tiger
als um den Baum und zog sich mit aller Macht zusammen, bis eine
Rippe nach der andern, ein Knochen nach dem andern mit lautem
Krachen zerbrach. Als sie nun mit dem Leib fertig war, machte sie
sich an die Beine, die sie auf gleiche Weise an vier bis fünf Orten
zerbrach. Auch am Hirnschädel versuchte sie ihre Kräfte; nach vielen
vergeblichen Versuchen aber ließ sie davon ab und begab sich unter
die Zweige des Baumes zurück, da ihr der Tiger nicht mehr ent-
laufen konnte.
Den dritten Tag sahen wir hinter dem Gebüsch hervor nichts
mehr vom Tiger als rothes Aas, das ohne Gestalt und mit gelbem
Kleister überzogen war. Es lag in einiger Entfernung vom Baume,
und die Schlange beschäftigte sich damit. Sie schlürfte hierauf erst
den Hirnschädel und alsdann nach und nach den übrigen Körper
hinein. Dies kostete ihr aber nicht wenig Mühe, und es wurde
Abend, ehe sid den Tiger ganz verzehrt hatte.
Den vierten Morgen begleiteten uns viele Weiber und Kinder
dahin, weil, wie sie sagten, nunmehr keine Gefahr mehr zu besorgen
sei. Ich fand, daß dies wirklich der Fall war; denn die Schlange
hatte sich überladen und konnte sich weder zur Wehr setzen, noch
fortlaufen. Bei unserer Annäherung suchte sie sich zwar auf den
( Baum zu schwingen, allein alle ihre Mühe war vergeblich. Die Cey-
I lonesen schlugen sie todt, machten ihr Fleisch, das wie Kalbfleisch aus-
sah, zurecht und verzehrten es mit großem Appetit."
31. Die Eidechsen.
2^. Daß viele Menschen sich vor den Schlangen fürchten, davon
springen oder sie des Lebens berauben, das ist noch wohl begreiflich^
weil man sie für gefährlich hält und im zweifelhaften Falle lieber
eine ungiftige todtschlägt, als von einer giftigen sich beißen läßt.
Aber warum sind viele Leute sogar den Eidechsen feind, diesen un-
schuldigen Thieren, die Niemand beleidigen, Niemand Schaden, viel-
67
mehr dem Landmann nützlich werden, indem sie von allerlei kleinen
Insekten oder sogenanntem Ungeziefer sich nähren? Höchstens können
sie euch ein wenig erschrecken, wenn ihr so in euren stillen Gedanken
dahin wandelt, und auf einmal Etwas im Laube rauscht. Aber wer
ein gutes Gewissen hat, muß sich gewöhnen, nicht vor Allem zu er-
schrecken. Wer ein böses Gewissen hat, dem ist freilich in diesem
Punkte übel rathen.
^^Der Wind im Wald, das Laub am Baum saust ihm Ent-
setzen zu." Nun, alle Leute sind so furchtsam freilich auch nicht, und
im Frühjahr, wenn man wieder ins Feld und ins Grüne geht, und
überall in der mannigfaltigsten Gestalt das frohe Leben hervorwim-
melt und laut wird, bleibt auch wohl ein verständiger Mann einen
Augenblick vor einer Eidechse stehen, betrachtet ihr schönes Gewand,
wenn es schöner als Smaragd an der Sonne schimmert, bewundert
ihre unnachahmliche Geschwindigkeit und sieht mit Vergnügen ihren
unschuldigen Spielen zu. Dann geht er mit guten Gedanken seines
Wegs weiter, riecht an seinem Frühlingsstrauße und kann sich nicht
genug erschauen an den blühenden Bäumen und farbigen Matten ümhe^
^ Gott sorgt auch für diese Thiere. Sie haben nicht genug Warme
in sich, um den Winter über auf dem Boden auszuhalten, auch
würde es ihnen an Nahrung und Gebüsch zum verborgenen Aufent-
halt fehlen. Sie verkriechen sich daher und bringen den Winter im
Schlafe zu. Ohne Kalender wissen sie ihren Monat. Aber wie im
Frühjahr das Volk der kleinen Mücken lebendig wird, und alle Keime
in Gras und alle Knospen in Laub aufgehen, ruft die tiefer dringende
' Frühlingssonne auch dieses Geschöpf aus seinem Schlaf und Winter-
quartier; und wenn es erwacht, ist schon für Alles gesorgt, was zu
seines Lebens Nahrung und Nothdurft gehört. — Bekanntlich haben
nicht alle diese Thiere einerlei Farbe; aber eine Art derselben muß
um ihrer Nahrung willen sich am meisten ans dem dunkeln Gebüsch
heraus ins Grüne wagen. Darum ist auch ihre Farbe grün. In
dieser Farbe wird sie im Grase weder von den Thieren, welchen sie
nachstellt, so leicht entdeckt, noch von dem Storche, der ihr selber aufs
Leben geht.
auch zweierlei Eidechsen im Wasser,-nur-nennt man sie
MdH) Änd diese sind zum Schwimmen eingerichtet. Selbst auf dem
Grunde der klaren Brnnnenquellen findet man sie oft und darf sich
deßwegen vor dem Wasser nicht scheuen. Auch diese, sind nicht giftig
und theilen dem Wasser keine Unreinigkeit mit. M-kmehr loben es
8 *
68
viele Brunnenmeister als ein gutes Zeichen. Solch ein Thierlein in
seiner verschlossenen Brunnenstube hat ein heimliches Leben und We-
sen, steht nie die Sonne auf- und untergehen, erfährt nichts davon,
was die Menschen thun und treiben, weiß nicht, obs noch mehr solche
Brunnenstuben in der Welt gibt, oder ob die seinige die einzige ist,
und ist doch in seinem nassen Elemente des Lebens froh und hat keine
Klage und Langeweile.
An der großen, schwarz- und gelbgefleckten, warzigen und schmutzig-
feuchten Eidechse, die man den Salamander oder Molch*) nennt, hat
Niemand Freude. Noch weniger aber freut es diesen, wenn er einen
Menschen erblickt. Denn selten kommt er unangefochten davon. Er
hält fich nur an dunkeln, feuchten und kühlen, ctud^ modrigen Orten
auf, und das Beste ist, daß man ihn dort sttzen lasse. Wer aber
Lust hat, darf ihn herzhaft in die Hände nehmen. Er thut euch ge-
wiß nichts zu Leide.
Wer sich aber mit Recht vor den Eidechsen fürchten, oder eine
Heldenthat durch die Erlegung derselben vollziehen will, der muß nach
Afrika oder Asten oder AmerikaH^ez.
Das fürchterliche Krokodil, der^LevM^^Hiobs (Kap. 40. 20 fg.),
ist nichts anderes, als eine ^nanM-bis--fttnfzrg--Fuß lange Eidechse.
Davor muß Jedermann Respekt haben. Oben braun oder schwarzge-
fleckt, unten weißlichgelb.' Durch die schusspige Rückenhaut geht kein
Flintenschuß; am Bauche ist sie weich. In jedem Kiefer des obern
Rachens stehen fünfzig scharfe Zähne. Der Schwanz beträgt mehr
als die Hälfte von der ganzen Länge. Damit wirft es im Wasser
kleine Schisse um und tobtet einen Menschen mit einem Schlage. Es <
lebt im Wasser, z. B. im Nilfluß in Egypten, und geht ans Land,
frißt Fische und andere Thiere, Buben und Mägdlein, auch erwach-
sene Egypter. Schnell wie ein Pfeil geht es in gerader Linie auf
seinen Raub, kann sich aber nur langsam umdrehen. Mit einem
glücklichen Seitensprung ist man außer Gefahr. Das Weibchen legt
hundert häutige Eier, so groß wie die Gänseeier, und verscharrt sie
in den Sand. Die Sonnenwärme brütet sie aus. Die meisten wer-
den aber, ehe es dazu kommt, von einer egyptischen Ratte, dem Ich-
neumon,- gefressen. Auch von Menschen werden sie aufgesucht und
zerstört oder gegessen.
*) Der-Motch- zu kn Et-rchsin- sinken j» ftfH ftiirfr
69
7
In Asien und andern Welttheilen gibt es Eidechsen von ein bis
anderthalb Fuß Länge, die auf Bäumen leben, wie bei uns der Laub-
frosch, und durch Hülse von häutigen Auswüchsen auf beiden Seiten
große Sprünge in die Luft machen und von einem Baum auf den
andern schießen können. Man nennt sie deßwegen fliegende Eidechsen.
Sie sind unschädlich und leben wie andere Eidechsen von Insekten.
32. Per Hahn und die Henne.
/, Welch ein Unterschied ist in der Gestalt und dem Gefieder des Hahns
und der Henne, welch ein Unterschied im Betragen, im Thun und Lassen
Leider! Er ist ein Mann, ein Krieger, ein guter Hausvater, wachsam, stolz,
herrschsüchtig, tapfer, stark, eifersüchtig. Früh am Morgen, wenn noch kein
Tag zu sehen ist, kündigt er ihn durch sein lautes Geschrei an. Dann weckt
er die Hähne der Nachbarschaft, oder diese erwachen auch; einer antwortet die-
sem und andern entfernteren, und so können die Hähne einer großen, langen
Nachbarschafl immer vom ersten bis letzten einander rufen. Die Stimmen sind
alle leicht von einander zu unterscheiden, und aus der Stimme, hell oder tief,
kann man auf ihr Alter schließen. Sie halten anfangs nicht recht Takt und
Ruhezeit im Rufen, dann aber besser, am Ende, wenn sie aufhören wollen,
nimmt die Ordnung wieder ab. Bald wartet einer mit seinem Schrei zu
lange, ein anderer fängt zu früh an. Die Jungen rufen öfter, als die Reihe
an sie kommt. Das Schreien kann über eine halbe Stunde dauern. Dann
erfolgt tiefe Stille und Alles schläft wieder. Dem Tag näher beginnt der
zweite Ruf, manchmal ein dritter. Die Jahreszeit hat darauf Einfluß. Es
ist nicht anders möglich, als daß auch alle Hennen erwachen, jWer hat nicht
schon Hähne mit ihren Nachbarn streiten gesehen, nicht gesehen, wie sie an ein-
ander emporspringen, beißen, mit der Brust an einander fahren, einander mit
den Zehen und Füßen schlagen, zerren, zupfen, entfiedern, blutig ritzen? Der
Kamm schwillt ihnen vor Zorn blutroth auf, ihre Augen funkeln wilden Zorn.
Der schwächere, der sich davonmachen muß und will, kehrt sich wieder um und
schaut den Gegner an, versucht noch einen Anfall, weicht wieder mehrere
Schritte, und kommt vielleicht noch zwei-, dreimal, thut auch als ob er nun
nicht mehr streiten wolle, ihm an der Fortsetzung des Kampfs nichts mehr ge-
legen sei; doch verbirgt er sich etwa vor Scham und Aerger und läßt seine
Flügel herunterhängen, der Sieger aber ist noch stolzer worden, fliegt auf ein
Faß, eine Bank, eine Vrunnensäule, und posaunt seinen Sieg mit lauter Stimme
aus. Es ist außer Zweifel, daß ihn die Hähne der Nachbarschaft (sie haben
ein feines Gehör) hören, verstehen und künftig mehr fürchten. Er kann sich
zum Schrecken dex ganzen Nachbarschaft, wie der Haag auf der Weide
70
machen. Es ist ein eigenes Ding um solchm Kampf. Beinahe jeder Hahn
benimmt sich eigen. Die jungen kämpfen nicht nur lebhafter als die alten,
sondern greifen anders an und vertheidigen sich anders. Junge überwundene
schämen sich weniger als ältere. Oft sind ältere mit ihrem Sieg zufrieden,
zufrieden, das Schlachtfeld behauptet zu haben, und großmüthig lassen sie den
Feind abziehen; jüngere rennen ihm, auf einmal getrieben, zwei-, dreimal nach,
und der fliehende muß noch ein paar Anfälle aushalten. Aller Rückzug ge-
schieht klug, bedächtlich, langsam. Etwa einmal schreit der Sieger schon im
halben Siege hell auf, worüber der andere heftig zornig wird und den neuen
j Angriff mit doppeltem Muthe zurückweist.^ Sie haben verschiedene Stimmen.
* Anders ist die Stimme zum Morgengruß, anders die im Kampfe und nach dem
Sieg, und wenn er seinen Hennen ruft, wenn er scharrend Körner, Würmer
u. s. w. gefunden hat. Ein besserer Mann ist Niemand. Er ruft laut, ruft
lange, ruft immer wieder, wartet, bis sie kommen, und rührt nicht ein Körn-
chen selbst an. Alles läßt er ihnen. Man sieht ihn kaum je selbst fressen.
Findet er nur Einzelnes, Weniges, so genießt er allerdings selber; findet er
aber Mehreres, so ruft er. Er hat vollkommen Recht, denn zu Einzelnem und
Wenigem kann er die vielen Hennen nicht rufen. Ist der gefundene Haufen
groß, so dudert er die Hennen ganz lustig an und ist in ihrem Genusse un-
eigennützig, seelenfroh.^ Die Hennen sind lange nicht so gescheidt, wenigstens
Glicht so listig als der Hahn. Aber zur Erfüllung ihrer Naturpflicht sind sie
gescheidt genug; all ihr Verstand ist Mutterliebe. Nacht und Tag geben sie
nur wenige feine Töne von sich, es sei denn, sie haben ein Ei gelegt; dann
aber thun sie solches der Welt, wie ihr Mann seinen Sieg, laut genug kund.
Der Mutter Sieg ist ihr Kind, ihr Ei ist ihr Kind, dann gackert sie lange, lange.
Nimmt man ihr, wie wir es thun, die Eier immer wieder weg, so legt sie immer
wieder von Tag zu Tag, immer hoffend, man lasse sie ihr. Läßt man sie ihr,
und hat sie einen Haufen beisammen, so fängt sie an zu brüten. Um die Jun-
gen bekümmert sich der Hahn gar nicht, sondern überläßt die Fürsorge und
Erziehung unbedingt der Mutter. Er darf es aber; denn diese sorgt für sie
vollkommen treuen und sorgfältigen Herzens. Wie seine Wachsamkeit sprich-
wörtlich geworden ist, so ihre Mutterliebe. Christus hielts nicht unter seiner
Würde, seine Liebe zu seinem großen Volke mit der Liebe einer Gluckhenne zu
ihrem kleinen Volke zu vergleichen. Das Bild ist eins der lieblichsten, wohl-
thuendsten. Wie sie scharrt, wie sie ruft, wie sie so zart ruft, wie sie den Jun-
gen die Körnchen und Würmchen zerbeißt und vor das Schnäbelchen legt, wie
sorglich sie stets aus sie sieht, wie sie zwischen ihnen steht, und um sie her geht,
wie sie ihnen ruft, wenn Gefahr droht, wenn ein Raubvogel in der Höhe
dräut! Die Jungen verstehen die Mutterstimme wohl und laufen herbei, und
71
sie verbirgt alle unter ihre Flügel und macht sich zum sichernden Schild und
Gewölbe, an welches der Raubschnabel des Thiers, das nicht auf die Erde
kommt, sondern nur im Stoß und Flug eins erhaschen will, vergeblich anprallt,
weil die Federn nachgeben und schützen. Wie unruhig ist sie, wenn er Eins
hat erwischen können! Freilich kann sie nicht weit hinaufzählen und merkt
bald nicht, ob und daß ihr eins entrissen worden. Sie stellt sich für sie auch
gegen Hunde und Menschen. Alle Jungen kennen sie, und sie kennt alle genau.
Wenn mehrere Gluckhennen neben einander weiden, und die eine ruft, so lausen
nur die ihrigen zu ihr; rufen beide aus verschiedenen Seiten, so eilen die Küch-
lein, wenn sie gemischt waren, schnell auseinander. Zwei Gluckhennen in einem
Stalle wehrten sich mit ihren schlechten Waffen gegen einen Marder so furcht-
bar, daß zwar beide todt wurden, der Marder aber ausgehackte Augen hatte,
zrrpickt und bluttriefend war und kaum sich eine Strecke fortschleppen konnte.
* Was vermag nicht die Mutterliebe H Hat die Henne Enteneier ausgebrütet,
' und die jungen Entchen watscheln dem Waffer zu und gehen kühn ihres Wol-
lens und Könnens wohl bewußt hinein, so begreift sie es nicht und weiß nichts
von den Schwimmfüßchen ihrer angenommenen Kinder, obschon sie sie gesehen
hat. Kein Thier versteht des andern Natur. Sie haßt und fürchtet das
Wasser. Aengstlich lauft sie am Ufer hin und her, und warnt sie und ruft
ihnen heraus. Aber es nützt nichts. Es ist ihnen wohl, und das Wohlsein
ist größer als die Achtung vor der Warnung der Erzieherin, in der sie nur
eine Stiefmutter erkennen; wenigstens thun sie solchem Glauben gemäß. All-
mählich jedoch merkt diese, daß ihre Kinder etwas können, das sie nicht kann,
was ja einmal der Fall ist und sein muß, daß sie wieder herauskommen und
ihnen Nichts geschehen sei. Warum dieses aber, weiß und merkt sie auch nicht,
doch kommt sie und thut dann nicht mehr so ängstlich, und geht am Ufer hin
und her und wartet. Die Enten bekümmern sich aber gar bald um sie nicht
mehr und thun, was sie wollen. Ihre wahren Küchlein hingegen scheuen das
Wasser, und ihrer wegen muß sie am Ufer nicht bangen.
^Sie legen und brüten etwa fünf Jahre lang und leben etwa zehn. Der
Hahn ist etwa acht Jahre rüstig und wird doppelt so alt.^
_ 33. Per Kukuk.
fe# gab eine Zeit, wo man die Meinung allgemein verbreitet
fand, der Kukuk sei nur im Sommer ein Kukuk, im Winter aber ein
Raubvogel. Diese Ansicht ist im Volke auch jetzt noch vorhanden.
Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß er, sobald er völlig
ausgewachsen sei, seine eigenen Eltern verschlucke. So gebraucht man
ihn als ein Gleichniß des schändlichsten Undanks^
/.Der Kukuk ist ein höchst räthselhafter Vogel, ¡tiji offenbares Ge-
heimniß, das aber nichts desto weniger schwer zu lösen ist, weil eS
so offenbar ist. Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht
in demselben Falle! Wir stecken in lauter Wundern, und das Letzte
und Beste der Dinge ist uns verschlossen^
Wir wissen dem-Knkuk, daß er nicht selber brütet, sondern
sein Ei in das Nest irgend eines andern Vogels legt. Wir wissen
ferner, daß er eS legt in das Nest der Grasmücke, der gelben Bach-
stelze, des Mönchs, ferner in das Nest der Braunelle, in das Nest
des Rothkehlchens und in das Nest des Zaunkönigs. Auch wisse«
wir gleichfalls, daß diese Vögel Jnsekteuvögel sind und es sein müssen,
weil der Kukuk selber ein Jnsekteuvögel ist und der junge Kukuk vo«
einem Samen fressenden Vogel nicht könnte erzogen werden. Wora«
aber erkennt der Kukuk, daß diese Vögel auch wirklich Jnsektenvögel
sind, da doch alle diese Genannten sowohl in ihrer Gestalt, als in
ihrer Farbe von einander so äußerst abweichen? Und ferner, wie
kommt es, daß der Kukuk sein Ei und sein zartes Junges Nestern
anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Bau und Warme, auf Trocken-
heit und Feuchtigkeit so verschieden sind, wie nur immer möglich?
Das Nest der Grasmücke ist von dürren GraShälmchen und einigen
Pferdehaaren so leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder
Luftzug hindurch weht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber
der junge Kukuk gedeiht darin vortrefflich. Das Nest des Zaun-
königs ist dagegen äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht
und fest gebaut und innen mit allerlei Wollen und Federn sorgfältig
ausgefüttert, so daß kein Lüftchen hindurchdringen kann. Auch ist es
oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein-
und Hinausfliegen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte den-
ken, es müßte in heißen Junltagen in solcher geschlossenen Höhle eine
Hitze zum Ersticken sein. Allein der junge Kukuk gedeiht darin aufs
beste. Und wiederum, wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze!
Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er
baut sein Nest auf feuchten Triften in einem Büschel von Binsen.
Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit Gras-
hälmchen aus, so daß -der junge Kukuk durchaus im Feuchten und
Kühlen gebrütet wird und heranwachsen muß. Und dennoch gedeiht
er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den
im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte,
Abweichungen, die für jeden andern Vogel tödtlich wären, durchaus
73
gleichgültige Dinge find! Und wie weiß der alte Kukuk, daß fie es
find, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nasse und
Kälte sehr empfindlich ist? — Wir stehen hier vor einem Ge-
heimniß.
/,Aber wie bringt der Kukuk sein Ei in das Nest des Zaun-
königs, da es doch nur eine so geringe Oeffnung hat, daß er nicht
hineinkommen und da er fich nicht selber darauf setzen kann? Er
legt es auf irgend eine trockene Stelle und bringt es mit dem Schna-
bel hinein. Auch scheint er nicht bloß bei dem Zaunkönig, sondern
auch bei den übrigen Nestern so zu thun. Denn auch die Nester der
andern Jnsektenvögel, wenn fie auch oben offen find, sind doch so
klein oder so nahe von Zweigen umgeben, daß der große, lang-
schwanzige Kukuk sich nicht darauf setzen könnte. Dies ist sehr wohl
zu denken. Allein wie es kommen mag, daß der Kukuk ein so außer-
ordentlich kleines Ei legt, ja so klein, als wäre es das Ei eines
kleinen Insektenvogels, das ist ein neues Räthsel, das man im Stil-
len bewundert, ohne es lösen zu können. Denn sonst findet allent-
halben in der Natur vom Colibri bis zum Strauß zwischen der
Größe des Eies und der Größe des Vogels ein entschiedenes Ver-
hältniß statt. Das Er des Kukuks aber ist nur ein wenig größer,
als das der Grasmücke, und es darf im Grunde nicht größer sein,
wenn die kleinen Jnsektenvögel es brüten sollen.
^ Wie viele Eier der Kukuk legen mag, darüber läßt fich nichts
mit Bestimmtheit sagen. Der Vogel ist flüchtig, er ist bald hier
und bald dort; man findet von ihm in einem einzigen Nest immer
nur ein einziges Ei. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß,
wo fie hingerathen und wer kann ihm nachkommen! Gesetzt aber, er
legte fünf Eier, und diese würden alle fünf glücklich ausgebrütet und
von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu
bewundern, daß für fünf junge Kukuke wenigstens fünfzig Junge
unserer besten Singvögel geopfert werden. Zunächst nemlich geht
die erste Brut verloren. Denn im Fall auch die Eier des Sing-
vogels neben dem Kukuks-Ei, wie es wohl geschieht, mit ausgebrütet
würden; so haben doch die Eltern über den entstandenen größern
Vogel eine solche Freude und für ihn eine solche Zärtlichkeit, daß fie
nur an ihn denken und ihn füttern, worüber denn ihre eigenen klei-
nen Jungen zu Grunde gehen und aus dem Nest verschwinden. Auch
ist der junge Kukuk immer hungerig und bedarf so viel Nahrung,
als die kleinen Jnsektenvögel nur immer herbeischleppen können. Es
74
dauert sehr lange, ehe er sein vollständiges Gefieder hat und ehe er
fähig ist, das Nest zu verlassen und sich zum Gipfel eines Baums
zu erheben. Ist er aber auch längst ausgeflogen, so verlangt er doch
fortwährend gefüttert zu werden, so daß der ganze Sommer darüber
hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem großen Kinde immer
nachziehen und auch an eine zweite Brut nicht denken. Aus diesem
Grunde geheu denn über einen einzigen jungen Kukuk so viele andere
Vögel verloren.
/^Der junge Kukuk wird übrigens, wenn er ausgeflogen ist, auch
von andern Vögeln gefüttert, die ihn nicht gebrütet haben. So bald
er sein niederes Nest verlassen und einen Sitz etwa in dem Gipfel
einer jungen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören,
welcher sagt, daß er da sei. Nun kommen alle kleinen Vögel der
Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen.
Es kommt die Grasmücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze
fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, der sonst beständig in niederen Hecken
und dichten Gebüschen schlüpft, überwindet seine Natur und erhebt
sich dem geliebten Ankömmling entgegen zum Gipfel der hohen Eichen.
Das Paar aber, das ihn erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer,
während die übrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen herxu-
siiegen.
^Dieses Füttern eines Fremden findet indessen nicht bloß bei den
genannten Vögeln statt, sondern auch bei manchen anderen, ja es
scheint als etwas allgemein Gesetzliches durch die Natur zu gehen
und ist ein Zeugniß der weisen und liebevollen Fürsorge Gottes, der
auch der jungen Raben, die ihn anrufen, sich erbarmt und ihnen ihre
Nahrung giM
34. Wer Storch.
"/Der Storch, der im Süden überwintert, im Sommer bei uns
ist, kennt sein Land, sein Dorf, seinen Kirchthurm und sein altes
Nest wohl. Er kommt zuerst allein, vifitirt das alte Nest, dann
reist er wieder ab und kommt mit seinem Weibchen. Sie bessern
das Nest, das von den Winterstürmen gelitten hat, wieder aus, und
leben nun in treuer Liebe und Frieden mit einander, so daß sie
manche unfriedliche Ehe beschämen. Das Nest ist nur eine rohe
Lage von Reisern u. s. w., die Stimme des Storchs nur ein Klappern
mit dem Schnabel, sein Kopf ist sonderbar geformt, und seine Stirne
hoch, sein Auge nicht ganz ohne Schlauheit, sein Gang ernst, gravid
75
tätisch, sein ganzes Thun still, feierlich, abgemessen, steif. Sein Flug
ist schön, gewöhnlich langsam, feierlich, und nur dann rasch, wenn
er ein besonderes Ziel verfolgt. Es ist, als ob er durch die Lüfte
schwimme. Immer putzen sie sich, als große Freunde der Reinlichkeit,
was um so nöthiger ist, weil sich an ihrem weißen Kleid alle Un-
reinlichkeit um so widriger herausstellt.
^/Mann und Weib brüten gemeinschaftlich; immer bleibt eins zu
Hause, entweder bei den Jungen, oder wenn sie noch keine haben,
das Haus zu bewachen. Ihr scharfes Auge beherrscht die ganze
Gegend. Keiner erlaubt einem andern, sich in derselben ebenfalls
häuslich niederzulassen. Würmer, Insekten, Schnecken, Blindschleichen,
MW/?111 Bienen sind ihm
nicht unangenehm,/aber am liebsten^fino chm doch die Frösche. Diese
sticht Lr-zuerst^mit-soiniM^ch^bel---durch'/''woniFftotts. macht er sie
durch Hineinstoßen in sie zur Flucht untüchtig, denn durch ihre Per-
gamenchaut zu stechen, ist ihm fast unmöglich; junge Vögel will er
auch. Oft klappern Mann und Weib und Junge, plaudern und
unterhalten sich mit einander, besonders klappern letztere, wenn ihnen
Nahrung gebracht wird.
/,Arei Dinge von ihnen sind mehr und minder wunderbar: ihre
Kriege, ihre Gerichte, ihre verständige Art?
Alle Störche einer großen, weiten Gegend, z. B. des Rhein-
thals im Kanton St. Gallen und die über dem Rhein oder in dem
% gegenüberliegenden Vorarlberg erheben sich etwa einmal gegen ein-
ander zu einem blutigen Krieg, der sich nur mit dem Tod oder mit
dem Abzug der einen oder andern aus der Gegend endigt. Eine
Partie muß das Feld räumen. Wahrscheinlich entsteht der Krieg
wegen der Nahrung, die sie einander verkümmern. Dann wird die
ganze Gegend unruhig, und Alles geräth in Aufruhr. Sie halten
auf beiden Seiten des Rheins auf Feldern großen Rath. Es muß
ein Aufgebot ergangen sein. Sie plaudern viel mit einander, ver-
stehen einander. Einige reden besonders viel; es sind die ältesten,
die jungen schweigen. Der Krieg wird beschlossen. Die Vorarlber-
ger in größerer Zahl erheben sich, fahren über den Rhein durch die
Luft einher und wollen die diesseitigen angreifen. Diese haben den
Angriff erwartet, erheben sich nun auch und fliegen ihnen entgegen.
Der Kampf wird in hoher Lust geführt. Die Waffe ist der Schna-
bel. Sie stechen fürchterlich auf einander los. Blutig und zerstochen
ergreifen die Schweizer die Flucht. Die Vorarlberger sind vollkom-
/
a
men Sieger und zerstören die Nester der Geflohenen. Allmählich
jedoch kehren fie wieder zurück. Später entsteht wieder Krieg, worin
die Schweizer siegen.
H Es ist auch wahrgenommen worden, daß die Störche bisweilen
vor ihrer Abreise gen Süden eine große Versammlung halten, einen
Kreis bilden, einer in der Mitte steht, viel geklappert und räsonnirt
wird, und endlich alle auf den in der Mitte losstürzen und ihn
durchbohren. Die Sache ist noch nicht aufgeklärt. Daß sie aber
etwas Außerordentliches thun, ist außer Zweifel.
dritte Ausfallende ist ihre anständige Weise. In See-
städten ziehen sie zwischen den Leuten auf den Straßen herum, stolzi-
ren hin und her, und fordern von Jedem, der ihnen in den Weg
tritt, das Ausweichen. Sie ziehen von Markt zu Markt, von Brun-
nen zu Brunnen, von Miststätten zu Miststätten, und suchen Fische,
Austern u. s. w. Noch mehr: bricht in einem Haus, auf dem sie
ihr Nest haben, eine Feuersbrunst aus, so tragen sie die Jungen,
wenn sie noch nicht fliegen können, auf dem Rücken fort, oder be-
netzen sich in einem Waffer, fliegen wieder in ihr Nest und schütteln
das Wasser von sich, und gelingt es ihnen nicht, die Jungen zu retten,
so breitet die Störchin die Flügel über ihre Jungen, um sie zu schützen,
und erleidet lieber mit ihnen den Feuertod, als daß sie allein davon
flöge, wie man dies noch beim großen Brand in Hamburg sah^
35. Die Schwalbe.
/^Mit dem Storche theilt die Schwalbe Gunst und Haus des
Menschen. Sie ist ein über die ganze alte Welt verbreiteter Zug- ,
vogel und gilt deßhalb noch allgemeiner für den Frühlingsboten.
Ueber Wüsten, Meere und Gletscher findet sie den Weg zu dem alten
Neste und langt vor vielen ihrer beschwingten Reisegefährten an,
obwohl sie weiter fortgezogen war, als alle. Denn bis zu den Ufern
des Senegal (in Afrika) steuert fie hinab. Aber eben darum erfreut
auch ihre Ankunft so sehr. Freilich ist ihre Botschaft nicht immer
untrüglich. Oft schwärmen einzelne Plänkler dem Heere voraus und
werden wohl noch von den letzten Streichen des Winters ereilt.
^Was am meisten von der Schwalbe gefällt und worin gleichsam
ihr ganzes Wesen besteht, das ist ihr Flug. Sie jagt im Fliegen,
trinkt im Fliegen, badet im Fliegen, bisweilen ätzt sie selbst ihre
Jungen im Vorüberflnge. Die Schwalbe ist ein Segler sonder Glei-
chen, wenn auch vielleicht von der Taube an Ausdauer übertroffen.
77
Oder wer hätte nicht schon die Geschwindigkeit und Schnellkraft dieses
Federspiels bewundert? Jetzt im jauchzenden Zickzack durch die Wol-
ken, jetzt im Kernschuß über den See, jetzt wie Buben im krausen
Gewühl einander verfolgend, blitzschnell sich hinabwerfend, wieder
hinaufschwingend, oder beim Nahen des Gewitters in langen, hastigen
Linien lautlos über den Boden streichend und die Mücke, die Wasser-
spinne im Tanz, im Lauf erhaschend; Mmer ist es ein Bild voll
neuer, wechselnder Reize, ein lustiges Labyrinth, dessen Gänge sich
tausendfach durchschlingen und auch das schärfste Auge verwirren. —
Kaum find die Jungen befiedert, so werden sie von den Alten in
diesen Künsten geschult. In einer Straße, zwischen zwei Mauern,
oder wo sonst ein schmaler, sicher begrenzter Luftkanal sich bietet,
beginnen die Uebungen. Anfangs schießt die Schwalbenmutter in
geradem Zuge dahin, die Jungen folgen unsicher, bald aber schnell
und schneller, bis die Lehrmeisterin mit einem Male abbricht und
in Biegungen, Schwenkungen, Kreuzungen die Luft durchschwärmt.
Das junge Volk ist zuversichtlich geworden; ermatten, verirren sich
auch einzelne, so ist doch in drei Abenden die Probe bestanden.
/,Aber wie schön und weise hat sie auch die Hand des Schöpfers
geformt! Der zarte, schlanke Leib mit dem knappen Gefieder, die
langen, spitzigen, sich fast über einander hinaus biegenden Flügel,
der gestreckte, weitgegabelte Schwanz: Alles ist Schnellkraft und
Schwung. Die Füße allein in ihrer unbehülflichen Kürze scheinen
nicht recht dazu zu passen; kaum vermögen sie den Körper zu tragen,
zum Zeichen, daß nicht auf dem Boden, sondern in den Wolken der
Schwalbe Weg und Wiege sei.
^Doch nicht bloß der Flug macht sie zu einem merkwürdigen
Vogel. Das kluge und scharfe Auge, die rastlos zwitschernde, bald
leise klagende, bald lustig aufkreischende Stimme deuten auf ein
eigenthümliches Wesen. Von diesem zeugen neben Anderem folgende
Züge. Eines Tages hatten Knaben aus dem Fenstersimse eines alten
Schlosses, das sie bewohnten, eine Schlinge gelegt, um eine Schwalbe
zu fangen, welche Fliegen jagend die besonnten Scheiben umschwirrte.
Nach einigen Minuten fand sich der arglose Vogel plötzlich gefangen.
Die Schleife hatte einen seiner Füße umschnürt. Er erhob ein
schrilles Geschrei, und bald sammelte sich ein ganzer Schwarm von
Schwalben und versuchte den Gefangenen zu befreien. Aber vergeb-
lich; jeder Versuch, mit der Schlinge davonzufliegen, zog diese nur
enger zusammen und vermehrte noch die Schmerzen des Vogels.
78
Auf einmal schwangen sich die Schwalben alle zugleich in die Höhe,
kreisten in der Lust, stürzten dann herab und pickten mit den Schnä-
beln auf die Schlinge, bis diese endlich zerriß und der befreite
Voael zwitschernd mit seinen Gefährten davonflog.
% Von ihrer rührenden Liebe zu den Jungen wird uns von einem
Seefahrer folgendes Beispiel erzählt. „Als wir bei Kamtschatka vor
Anker lagen, bauete ein Schwalbenpaar ruhig sein Nest nahe bei der
Kajüte. Ungestört von dem Lärm der Arbeiten auf dem Schiffe
brütete das liebende Paar seine Jungen glücklich aus, fütterte sie
mit der zärtlichsten Sorgfalt und zwitscherte ihnen fröhliche Lieder
vor. Da entfernte sich plötzlich ihre friedliche Hütte vom Lande.
Sie schienen darüber in Staunen zu gerathen und umkreisten ängst-
lich das immer weiter eilende Schiff, holten aber doch noch vom
Lande Nahrung für ihre Jungen, bis die Entfernung zu g§oß wurde.
Da begann der Kampf zwischen Selbsterhaltung und Elternliebe.
Lange noch umflogen sie das Schiff, verschwanden dann auf einige
Zeit, kehrten plötzlich wieder, setzten sich zu ihren hungrigen Jungen,
welche ihnen die offenen Schnäbel entgegen streckten und schienen zu
klagen, daß sie keine Nahrung gefunden. Dieses Verschwinden und
Wiederkommen dauerte noch einige Zeit. Endlich blieben sie aus und
nun nahmen sich die Matrosen der Verwaisten an."
^Auch gegen ihre Nachbarn beweisen die Schwalben thätige Liebe.
So sah man, da ein Schwalbennest zerstört worden war, gerade als
das Weibchen Eier legen wollte, zehn bis zwölf Schwalben aus der
Nachbarschaft hinzukommen, die aufs eifrigste ein neues Nest bauten
und es in anderthalb Tagen zu Stande brachten, wozu ein einziges
Paar acht bis zwölf Tage braucht. Ebenso werden, wenn die Elterw
eines Schwalbennestes getödtet sind, die verlassenen Jungen von den
nächftwohnenden Schwalben geätzt.
<y&o ist uns die Schwalbe ein holder, lieber Vogel, dem etwas
zu Leide zu thun Jedermann sich hütet und mit dem wir gerne gast-
lich unser Obdach theilen.
Herbste sieht man die Schwalben sich auf Dächern und an
Seen sammeln und in großen Flügen dahinstreichen. Sie verschwin-
den, kehren zurück, als werde ihnen die Trennung schwer, endlich
brechen sie plötzlich aus.
79
36. Betrachtung über ein Vogelnest.
^Wenn der geneigte Leser ein Finkennest in die Hand nimmt und
betrachtets, was denkt er dazu? Getraut er sich auch, so eins zu
stricken, und zwar mit dem Schnabel und mit den Füßen? Ich
glaubs schwerlich. Ja, ich will zugeben: der Mensch vermag viel.
Ein geschickter Künstler mit zwanzig feinen Instrumenten kann nach
zwanzig mißlungenen Versuchen zuletzt etwas herausbringen, das
einem Finkennest gleich steht, und Alle, die es sehen, können es von
einem wirklichen Nest, das der Vogel gebaut hat, nicht unterschei-
den. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein und meint, er sei
auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viel. Und wenn
ein wahrer Fink, wie du jetzt auch einer zu sein glaubst, dazu käme
und könnte dein Machwerk durchmustern, wie der Zunftherr ein
Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken
und dich mit dem rechten Aug kurios ansehen, und so er menschlich
mit dir reden könnte, würde er sagen: „lieber Mann, das ist kein
Finkennest! Ich mags betrachten, wie ich will, so ifts gar kein Vo-
gelnest. So einfältig und ungeschickt baut kein Vogel. Was gilts,
du Pfuscher hasts selber gemacht?" Das wird zu dem Künstler sa-
gen der Fink.
^MMo ist es mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch
kann kein Spinnengewebe machen. <
Ebenso ist es mit dem Gespinst, worein sich ein Seidenwurm
.so zu sagen zu einem Karmeliter oder Franziskaner einkleidet, wenn
seine Fasten und Reinigung angeht. Ein Mensch kann kein Raupen-
gespinst machen.
Ich will ein Wort mehr sagen. Alle Finkennester in der Welt
sehen einander gleich, vom ersten im Paradies bis znm letzten im
Frühling. Keiner hats vom andern gelernt; jeder kanns selber. Die
Mutter legt ihre Kunst schon in das Ei. Ebenso glle Spinnenge-
webe, ein jedes nach seiner Art; ebenso jede Franziskanerkutte des
Raupengeschlechts in seiner Art. Man weiß es wohl, aber man denkt
nicht darauf
-^,Noch ein Wort mehr. Das erste Nest eines Finken ist so künst-
lich, wie sein letztes. Er lernt es nie besser. Ja, manches Thier-
lein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben und hat nicht
viel Zeit dazu. Es wäre übel daran, wenn es zuerst eine unge-
V .
80
schickte Arbeit machen müßte und denken wollte: für dieses Jahr ists
gut genug, übers Jahr mach ichs besser.
Jt 9tod) ein Wort mehr. Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen
und ohne Tadel. Nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu wenig
daran und nicht zu viel, dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist.
In der ganzen Natur ist kein Lehrbletz, lauter Meisterstücke.
Aber der Mensch, was er zur Geschicklichkeit bringen soll, das
muß er mit vieler Mühe und Zeit lernen, und bis ers kann, be-
kommt er manche Ohrfeige von dem Meister, der selber keiner ist.
Denn kein menschliches Werk ist vollkommen. Hat der geneigte Leser
noch nie eine Uhr gekauft, und wenn er meint, jetzt geht sie am
besten, so blieb sie stehen; oder ein Paar Stiefel, einmal sind sie
zu eng, ein andermal zu weit, oder in den ersten acht Tagen wird
ein Absatz rebellisch und will desertiren.
^/Was sagt der geneigte Leser dazu? Also ist ein Mensch noch
weniger als ein Fink? — Keineswegs!
Denn erstlich, nicht der Vogel baut sein Nest und nicht das
Würmlein baut sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer thut es
durch seine unbegreifliche Allmacht und Weisheit, und der Vogel
muß so zu sagen nur das Schnabelein und die Füßlein und so zu
sagen den Namen dazu hergeben. Deßwegen kann auch jeder Vogel
nur einerlei Nest bauen, wie jeder Baum nur einerlei Blüthen und
Früchte bringt. Deßwegen kann auch der Mensch kein Vogelnest und
keine Spinnengewebe nachmachen. Gottes Werke macht Niemand nach.
Zweitens, wie der ewige Schöpfer an seinem Ort jedem ge-
nannten Geschöpf seine Wohnung bereitet, aber nicht alle auf gleiche.
Art, dem einen so, dem andern anders, wie es nach seinem Zweck
und Bedürfniß recht ist, also hat er dem Menschen etwas von seinem
göttlichen Verstände lassen in die Seele träufeln, daß er ebenfalls
nach seiner eigenen Ueberlegung für mancherlei Zwecke bauen und
hantiren kann, wie er selber glaubt, daß es recht sei. Der Mensch
kann ein Schilderhauslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheuer,
ein Wohnhaus, einen Palast, eine Kirche, jedes nach seiner Weise,
item eine Kirchenuhr, item eine Orgel mit acht und vierzig Registern,
item einen Kalender, was auch etwas heißt. Ein Fink kann nicht
zweierlei Nester bauen, er kann keinen Kalender schreiben, noch viel
weniger drucken.
Drittens hat der ewige Schöpfer dem Menschen die Gnade ver-
liehen, daß er in allen seinen Geschäften unten anfangen und sie
81
durch eigenes Nachdenken, durch eigenen Fleiß und Uebung bis nahe
an einige Vollkommenheit hinbringen kann, wenn schon nie ganz.
Das ist seine Ehre und sein Ruhm. Kennst du den Vers, sagte ich
einmal zu einem Bübleiu:
„(Sott, du hast der Freuden Fülle? —"
Das Büblein fuhr fort:
Denn dein Verstand ist Licht. Dein Wille
Ist Wahrbeit und Gerechtigkeit.
Du liebest mil stets gleicher Stärke
Das Gute nur, und deine Werke
Sind Ordnung und Vollkommenheit.
O, bilde mich nach dir!
Sieh, Kind, sagte ich, das gehört auch zu dem schönen Eben-
bild Gottes in seinem ganzen Gehalt, woran der Mensch sein Leben
lang durch Nachdenken, nicht nur durch Lernen und Frömmigkeit,
sondern auch durch Fleiß und Geschicklichkeit in seinem Beruf zu erhau-
sen und zu erwerben hat. Gesetzt, sagte ich, du lernst ein Handwerk, oder
wirft ein Schreiber, oder es kommt einmal an dich, den Kalender zu
drucken, so sollst du dich ebenfalls bemühen, all deinem Werk und
Thun das Siegel der Vollkommenheit zu geben, so daß zuletzt kein
anderer Mensch mehr das Nemliche in seiner Art so gut machen kann,
als du. Du mußt nicht einen Jahrgang schön drucken, den andern
schlecht. Denn Gott liebt mit stets gleicher Stärke das Gute nur.
— Alsdann wartet auch der Freuden Fülle auf dich. Dem Menschen
kann keine reinere Freude werden, als die Vollkommenheit seiner
Werke, wenn Jedermann gestehen und bekennen muß, und er selber
> sagen oder denken kann, sie sind recht. Denn selbst die Fülle der
göttlichen Freude kann nichts anders sein, als die Vollkommenheit
seiner Werke. Da hielt das Büblein die Hände gen Himmel und
sagte: „O bilde mich nach dir —." Aus einem solchen Kind kann
Etwas werden^
37. Der Maulwurf.
Der Maulwurf geht seiner Nahrung allein in dunkeln Gängen
unter der Erde nach.
Und au dem Einen ists zu viel, wird Mancher sagen, der an
seine Felder und Wiesen denkt, wie sie mit Maulwurfshügeln bedeckt
sind, wie der Boden zerwühlt und durchlöchert wird, wie die Ge-
wächse oben absterben, wenn das heimtückische Tbier unten an den
Wurzeln weidet.
Lesebuch :l 6
82
Nun so wollen wir denn Gericht halten über den Missethäter»
Wahr ist es und nicht zu leugnen, daß er durch seine unterir-
dischen Gange hin und wieder den Boden durchwühlt und ihm etwas
von seiner Festigkeit raubt.
Wahr ist es ferner, daß durch die herausgestoßenen Grundhäuf-
chen viel fruchtbares Land bedeckt und die darunter liegenden Keime
im Wachsthum gehindert, ja erstickt werden können. Dafür ist jedoch
in einer fleißigen Hand der Spaten gut.
Aber wer hals gesehen, daß der Maulwurf die Wurzeln ab-
frißt? wer kanns behaupten? Nun man sagt so: wo die Wurzeln
abgenagt sind und die Pflanzen sterben, wird man auch Maulwürfe
finden; und wo keine Maulwürfe sind, geschieht das auch nicht.
Folglich thuts der Maulwurf. Der das sagt, ist vermuthlich derselbe,
der einmal so behauptet hat: wenn im Frühling die Frösche zeitig
quacken, so schlägt auch das Laub bei Zeiten aus. Wenn aber die
Frösche lange nicht quacken wollen, so will auch das Laub nicht kom-
men. Folglich quacken die Frösche das Laub heraus. Seht doch,
wie man sich irren kann!
Aber da kommt ein Advokat des Maulwurfs, ein erfahrener
Landwirth und Naturbeobachter, der sagt so:
„Nicht der Maulwurf frißt die Wurzeln ab, sondern die Quat-
ten oder die Engerlinge, die unter der Erde sind, aus welchen hernach
die Maikäfer und anderes Ungeziefer kommen. Der Maulwurf aber
frißt die Quatten und reinigt den Boden von diesen Feinden."
Jetzt wird es also begreiflich, daß der Maulwurf immer da ist,
wo das Gras oder die Pflanzen krank sind und absterben, weil die.
Quatten da sind, denen er nachgeht und die er verfolgt. Und dann
muß ers gethan haben, was diese anstellen, und bekommt für eine
Wohlthat, die er euch erweisen will, des Henkers Dank.
„Das hat wieder einer in der Stube erfunden, oder aus Bü-
chern gelernt", werdet ihr sagen, „der noch keinen Maulwurf gesehen
hat."
Halt, guter Freund! der das sagt, kennt den Maulwurf besser,
als ihr alle, wie ihr sogleich sehen werdet. Denn ihr könnt zweier-
lei Proben anstellen, ob er die Wahrheit sagt.
Erstlich, wenn ihr dem Maulwurf in den Mund schaut. Denn
alle vierfüßigen oder Säugethiere, welche die Natur zum Nagen an
Pflanzenwerk bestellt hat, haben in jeder Kinnlade oben und unten
nur zwei einzige und zwar scharfe Borderzähne und gar keine Eck-
83 .
zähne, sondern eine Lücke bis zu den Backenzähnen. Alle Raubthiere
aber, welche andere Thiere fangen und fressen, haben sechs und mehr
spitzige Vorderzähne, dann Eckzähne auf beiden Seiten und hinter
diesen zahlreiche Stockzähne. Wenn ihr nun das Gebiß eines Maul-
wurfs betrachtet, so werdet ihr finden, er hat in der obern Kinnlade
sechs und in der untern acht spitzige Vorderzähne, und hinter den-
selben Eckzähne auf allen vier Seiten, und daraus folgt: er ist kein
Thier, das an Pflanzen nagt, sondern ein kleines Raubthier, das
andere Thiere frißt.
Zweitens, wenn ihr einem getödteten Maulwurf den Bauch auf-
schneidet und in den Magen schaut. Denn was er frißt, muß er-
im Magen haben. Nun werdet ihr, wenn ihr die Probe machen
wollt, nie Wurzelfasern oder so Etwas in dem Magen des Maul-
wurfs finden, aber immer die Häute von Engerlingen, Regenwür-
mern und anderem Ungeziefer, das unter der Erde lebt.
Wie siehts jetzt aus?
Wenn ihr also den Maulwurf recht fleißig verfolgt, so thut ihr
euch selbst den größten Schaden und den Engerlingen den größten
Gefallen. Da können sie alsdann ohne Gefahr eure Wiesen und
Felder verwüsten, wachsen und gedeihen, und im Frühjahr kommt
alsdann der Maikäfer und frißt euch die Bäume kahl wie Besenreis.
So siehts aus.
38. Der Hamster.
^ Der Hamster, den schon seine Backentaschen und sein kurz be-
'haarter Schwanz, sowie das schwarze Fell am Bauche, das fuchs-
rothe und dabei weißgefleckte Fell am Rücken vor andern Mäusen
auszeichnen, ist ein rechtes Bild des Geizes. Den ganzen Sommer
und angehenden Herbst durch schleppt er in seinen Backentaschen
Getteide zusammen in seinen künstlichen Bau hinein, den er sich tief
in die Erde angelegt hat, ist dabei so geizig und hartherzig, unver-
träglich und boshaft gegen seines Gleichen, daß nicht einmal sein
eignes Weibchen in seinen Bau hinein darf,, sondern seinen eignen
haben muß, und daß, wo sich zwei Hamster begegnen, sie sich meist
so lange beißen, bis der eine todt ist, der dann von andern aufge-
fressen wird.
E/Selbst das Weibchen jagt seine Jungen nach drei Wochen, wo
sie noch ganz klein sind, aus seiner Höhle hinaus und benimmt sich
dann,. wo sie ihnen begegnet, als ihre ärgste Feindin. Und recht
84
sonderbar ist es, daß es in dem fernen Rußland und Sibirien ein
Thier gibt, welches den Hamster todt beißt, und wohl zehn solcher
Geizhälse in seinen Bau hineinträgt, der noch dazu ein Hamsterbau
ist, woraus es die Hamster vertrieben hat. So wird der hartherzige
Geiz in seiner eigenen Manier durch einen fremden Geiz bestraft, und
ein Stärkerer trägt sich die selber als Vorrath ein, die ihr ganzes
Leben nichts thaten, als Vorräthe sammeln, wovon sie Niemand Et-
was mittheilten. Man hat in manchen Gegenden zuweilen in einem
Jahr wohl 27,000 Hamster erlegt.
/ Man gräbt ihre Baue gern auf, weil sich darin ein Vorrath
des besten, auserlesensten Getreides von wohl sechzig Pfund findet.
Jede Sorte liegt da zuweilen rein von der andern abgesondert, wie
bei geldlustigen Leuten die Dukaten und Thaler, die Zwölfer, die
bei Maikäfer und Heuschrecken, wodurch er doch auch einigen Nutzen
stiftet.
•'s. Der Biber hält sich in den meisten Theilen des nördlichen Asiens und Europas
(in Deutschland am Rhein, an der Weser, an der Elbe und an der Donau) ans;
am häufigsten aber ist er in Nordamerika. Er hat im Großen fast das Aussehen
und die Gestalt einer Wasserratte und kommt an Umfang einem mittelmäßigen Hund
gleich. Seine Farbe ist gewöhnlich graubraun, sein Schwanz nackt, schuppig und
platt, wie ein Ruder. Der Biber ist von Natur sanft und ruhig. Er läßt sich so-
wohl jung als alt einsangen und ziemlich leicht zahmen, und hört dann auf die
Stimme des Menschen. Er hat einen schleppenden und langsamen Gang; im Wasser
hingegen ist er nicht nur im Schwimmen, sondern auch im Untertauchen sehr schnell.
Er hat einen sehr feinen Geruch, und auch die übrigen Sinne sind sehr scharf.
Seine Stimme ist ein dumpfes Winseln, welches manchmal wie ein Gebell lautet.
In Europa bewohnen die Biber die Ufer der Flüsse und Seen und halten sich
in Gruben auf. Die geselligen Biber aber halten sich nicht bloß an süßen, fließen-
den und stehenden Gewässern auf, sondern bauen auch gemeinschaftliche Baue. Wegen
dieser Baue sind sie besonders berühmt worden. Einige Reisende in Nordamerika
wo der Biber gesellig lebt, können die Kunst und Ordnung gar nicht genug rühmen,
die man an solchen Bauten bcinerkt.
jy Die Vorderzähne der Biber find sehr stark und vortrefflich zum Benagen des
Holzes eingerichtet. Sie leben von Blättern und Baumrinden, und wenn sie fressen,
fitzen sie aufrecht und führen das Futter wie die Eichhörnchen nach dem Munde;
den Schwanz haben sie dabei zwischen den Beinen liegen, und er dient ihnen gewisser-
maßen zum Teller. Sie leben in Gesellschafteu von zwei- bis dreihundert beisammen '
und halten sich den ganzen Winter in Wohnungen auf, die sie sechs bis acht Fuß
hoch über der Oberfläche des Wassers errichten. Sie wählen hiezu wo möglich einen
39. Der. Drber.
85
\
Teich, errichten ihre Häuser auf Pfeilern und geben ihnen eine kreisförmige oder
rundliche Gestalt, welche oben zugewölbt ist, weßhalb ihre Baue an der Außen-
seite fast das Aussehen von einer Kuppel haben; inwendig haben fie etwas Aehuliches
mit einem Backofen. Die Anzahl der Häuser beläuft fich im Ganzen von zehn bis
dreißig. Finden sie keinen Teich, wie sie ihn wünschen, so lassen sie sich an einem
Strom nieder, und richten dann den Platz zu ihren Wohnungen mit einer Kunst-
fertigkeit ein, welche großes Erstaunen erregt.
^^Das erste nemlich, was die Biber in diesem Fall anlegen, ist ein Damm,
welchen sie auf folgende Weise bauen: sie legen Pfähle kreuzweis in mehreren Reihen
über einander, weben Baumzweige dazwischen und füllen sie mit Lehm, Sieinen und
Sand aus. Dies alles machen sie so fest, daß, obgleich die Dämme öfters hundert
Fuß lang sind, doch ein Mensch uüt, der größten Sicherheit darüber gehen kann.
Unten sind diese Dämme zehsi bis zwols-Fuß- dick, rxrch obeu^gber werden sie immer
dünner; denn oben an der Spitze sind sie m;rVm Anschreit. Sie haben
von einem Ende zum andern eine gleiche Höhe; nach dem Strom hin sind sie senk-
recht, auf der entgegengesetzten Seite aber schief. Auf diesen Dämmen wächst nun
bald Gras, welches die Erde immer fester macht; auch fassen die Zweige, welche in
den Damm gelegt sind, gewöhnlich Wurzel, und es entsteht so nach und nach eine
Hecke, in welcher selbst Vögel ihre Nester bauen. An diesen Damm werden die
Wohnungen angelehnt und mit der größten Einsicht von Erde, Steinen und Zweigen
erbaut; die vorragenden Spitzen werden glatt abgebissen, und das^Gübaude außen
mit der größten Nettigkeit übertMcht.^ Di^Muiern sind gegen dick, und
der innere Raum beträgt s^chs viL-fivkwn ^»ß im Durchmesser; die Fußböden sind
um so viel höher als die Wasserfläche, als nöthig ist, um nicht überschwemmt zu
werden. Einige Wohnungen haben bloß einen Fußboden, andere aber drei. Ein
Reisender versichert sogar, daß er in Nordamerika in einer Wohnung, die er unter-
suchte, nicht weniger als fünfzehn verschiedene Zellen gefunden habe. Das größere
Holz in ihren Bauen schaffen sie in Flüssen so herbei, daß sie es oberhalb des dazu
ausgewählten Platzes in den Fluß werfen und hinter ihm herschwimmend nach der
beliebigen Stelle leiten. Das kleinere Holz schleppen sie mit den Zähnen fort;
» Schlamm und Steine aber tragen sie in ihren kleinen Vorderpfoten, die sie dicht am
Halste zusammenhalten.
) Die Anzahl der Biber belänst sich in jeder Wohnung von zwei bis zu dreißig.
Sie schlafen auf dem Boden, der mit Moos und Blättern bestreut ist, und jeder
Biber soll seine besondere Stelle haben.
/, Sie bleiben immer in einer Wohnung. Werden sie aber in dieser durch ihre
Feinde beunruhigt, so bauen sie sich eine nene, und dann fangen sie schon im Som-
mer an zu bauen und bringen eine ganze Jahreszeit hin, ehe sie mit der Arbeit
fertig werden und ihre Wohnungen mit Wintcrvorrath versehen. Dieser besteht vor-
züglich in Rinden und zarten Baumzweigcn, die sie nach einer bestimmten Läuge
zerschneiden und unter dem Wasser aus Haufen legen. Die Indianer geben genau auf
die Höhe dieser Hansen Acht, weil sie daraus auf die größere oder geringere Kälte
des kommenden Winters schließen.
7 Jede Liberwohnung hat nur eine Oeffnung; sie befindet fich unter dem Wasser
und ist jedesmal tiefer, als das Wasser im Winter gefriert. Auf diese Art haben
sie Nichts von dem Frost: zu besorgen. Sind ihre Wohnungen völlig fertig, so legen
sie dessen ungeachtet immer noch Werke an, und sie hören nicht eher damit auf. als
7
86
bis das Wasser zugefroren ist; ja fie sitzen sogar, wenn die Kälte nicht gar zu heftig
ist, ihre Arbeit noch einige Nächte hinter einander fort, indem sie in dieser Absicht
immer ein Loch im EiS offen erhalten.
Sommer zerstreuen sie sich aus ihren Wohnungen, laufen von einem Ort
zum andern, und schlafen unter dem Schutz von Gebüschen, welche nahe bei Ge-
wässern find, in Erdhöhlen, die sie sich graben. Beim geringsten Geräusch fliehen
fie ins Wasser, um daselbst einen Zufluchtsort zu suchen; und sie stellen Schildwachen
aus, welche durch ein besonderes Geschrei Nachricht von jeder Gefahr geben. Im
Winter gehen sie niemals weiter, als nach ihren Vorrathshäusern unter dem Wasser;
während^dieser Jahrszeit werden sie daher auch außerordentlich fett.
Wísl&iitx zeigen eine große Anhänglichkeit an einander. Zwei junge Biber,
die man lebendig gefangen hatte, wurden in einer Fabrik eine Zeit lang gefüttert,
und fühlten sich in diesem Zustand recht wohl und wurden sehr fett, bis einer durch
einen Zufall getödtet wurde. Der überlebende fühlte sogleich den Verlust, fraß
nichts mehr und starb bald darauf auch.
Man weiß, daß Biber vollkommen zahm geworden sind. Der Major Noderfort
in Neu-Aork hatte einen zahmen Biber über ein HalbesJahr lang in seinem Hause,
wo er wie ein Hund frei umherlief. Alle Lumpen und weiche Sachen, die er an-
traf, schleppte er in einen Winkel, wo er gewöhnlich schlief, und machte sich ein Bett
daraus. Die Katze im Haus hatte Junge und nahm von diesem Bett Besitz, und
der Biber machte keinen Versuch, sie davon zu verjagen. Wenn die Katze weg-
ging, nahm der Biber oft ein junges Kätzchen, das man am Leben gelassen hatte,
zwischen seine Vorderpfoten und hielt es an seine Brust, um es zu erwärmen. So-
bald die Katze zurückkam, gab er ihr das Kätzlein wieder. Bisweilen murrte er,
that aber Niemand etwas zu Leide; auch versuchte er nicht, Jemand zu beißen.
Im Anfang des Frühlings bringt das Bibcrweibchcn drei bis vier Junge zur
Welt. Dann gehen die Männchen von Zeit zu Zeit schon aus, um frische Nahrung
zu suchen, kehren aber immer nach ihren Wohnungen zurück, bis endlich die Weibchen
nach einigen Monaten ebenfalls mit ihren Jungen die Hütten verlassen; dann zer-
streuen sie sich in der Gegsn^/
Das Biberfleisch wir^uicht nur von den amerikanischen Wilden, sondern auch
von den Europäern in Nordamerika gegessen. Viele finden es unschmackhaft und
fischicht; der Schwanz hingegen soll sehr lecker schmecken.
Am schätzbarsten ist der Biber wegen seines Felles, welches man theils als
Pelzwerk, theils früher auch zu feinen Hüten (Castorhüten) benützte. Die Felle der
europäischen, zerstreut und in Höhlen lebenden Biber taugen wenig; sie sind schmutzig,
und das Haar ist abgestoßen. Die nordamerikanischen Biber dagegen, besonders die
kanadischen, liefern sehr schöne Felle, und zwar in solcher Menge, daß man an der
Hudsonsbai in kurzer Zeit oft schon fünftausend und darüber erhalten hat. Sie
machen einen beträchtlichen Handelszweig äus^
40. Wer Fuchs.
^Der Fuchs, fein, behend und geschmeidig, aber nicht stark, geht
mit Listen um, er wohnt in Gruben, die er sich da aussucht, wo er
ungestört zu hausen hofft; er ersieht sich gern alte Fuchshöhlen oder Lö-
Her des Kaninchens, das er daraus verjagt; diese Gruben führt er
frisch aus, säubert und hält sie sehr reinlich. Bald macht er sich im
Umkreis seiner Wohnung die ganze Gegend auf ziemliche Weite bekannt
und erspäht Flecken, Dörfer, einzelne Häuser, in welchen er Federvieh
wittert. Sachte, fast spurlos schleicht er über den weichen Boden,
ist stets vorsichtig, verständig, geduldig und mißtrauisch. Er unter-
scheidet Wege, wo die Ruhe herrscht, von denen, wo man Lärm hört
und Hundegebell. Er hat dieselbe Neigung nach Raub, die den Wolf
beherrscht, aber er weiß sie zurückzuhalten und gelegenere Augenblicke
abzuwarten; seine Lebensart, sein Geschäft macht ihn verwickelterer
Betrachtungen fähig, als den Wolf. In neuer Lage versteht er im-
mer neue Mittel zu ersinnen und innere Gewohnheit und Lust im
Zaum zu halten; selten läßt er sich hinreißen. Nachdem er sich still
und leise seiner Beute genahet hat, springt er schnell und leicht auf
sie los. Er sammelt sich Nahrung im Vorrath und kriecht damit
zum Baue. Er geht stets, die Nase gegen den Wind, kennt Schlupf-
winkel, Hecken und rettende Auswege, alle Umstände einer früheren
Gefahr hält er seinem Gedächtniß eingeprägt. Neuen Gegenständen
nähert er sich scheu und langsam, jeder Schritt ist ihm verdächtig;
nur mit ihm unbekannter Lockspeise mag er gefangen werden, hat er
sie einmal erfahren, so ist nichts weiter gegen ihn auszurichten. Er
hat Witterung vom Eisen und weiß die Speise geschickt von der Falle,
ohne daß sie ihm schadet, wegzunehmen. Wird das Getreide lang,
so führt er seine Jungen gern hinein./ Ihm ist große Ansharrungs-
^ kraft eigen, in seinem Bau überfallen und belagert steht er lieberden
grausamsten Hunger aus, als daß er hervorkäme, manchmal wochen-
lang, nur Todesnoth zwingt ihn endlich. Mit seinen Nägeln gräbt
er neue Ausgänge, dem Jäger zu entrinnen. Sind die Nachstellun-
gen zu häufig, so entweicht er aus dem Land und findet sich eine
andere Wohnstätte. Auf der Flucht sucht er das engste Dickicht;
merkt er, daß Jäger vor ihm auf dem Anstand sind, so läuft er nicht
an ihnen vorbei^ àd,epn thut Alles, um auszuweichen; oft ist er
über nesin Fuß hohe Mauern gesprungen. Sein Geruch ist
scharf; wo er sonst Wildpret weiß, meidet er Menschen und Dörfer,
so gern er Hühnerfleisch ißt, wegen der größeren Gefahr. Bloß für
ihre Jungen wagen sich Fuchs und Füchsin; heftige Liebe besiegt dann
alle ihre Furcht und Vorsicht. Diese Thiere, von Jugend auf an
Blut gewöhnt, erweisen sich auf das zärtlichste an Weibchen und
Kindern.
88
7
41. Trau, schau, wem.
Ein Fuchs verkündete den Hühnern und Hähnen, die auf
einem Baume sassen, einen ewigen Frieden, der da wäre an-
gestellt mit allen Thieren, also dass fürderhin Wolf und Schaf,
Fuchs und Hühner ewige Freundschaft und Bündniss mit einan-
der haben sollten. Damit hätte er gerne die Hennen vom Baume
geschwätzt. Aber der Hahn sagte: das hör ich gern, und reckte
dabei den Kopf auf. Der Fuchs fragte: was siehst du? Der
Hahn antwortete: ich sehe einen Jäger mit Hunden von ferne.
Der Fuchs sprach: da bleib ich nicht. Antwortet der Hahn:
harre, so wollen wir auch mit dir hinab, wenn wir sehen, dass
die Hunde mit dir Frieden haben. Der Fuchs sagte: ei, er
möchte ihnen noch nicht verkündigt sein; ich fahre dahin.
42. Per Wolf.
/Der Wolf gehört zum Geschlecht der Hunde. Er bewohnt große
Wälder, besonders in Rußland und Polen, ist aber jetzt in Deutsch-
land selten. Die Haare des gemeinen Wolfs sind in der Wurzel
weiß, weiter oben gelb mit schwarzen Ringen und endigen mit einer
schwarzen Spitze. Am Nacken befindet sich eine Art dicker, borstiger
Mähne, welche dem Thier ein wildes Aussehen gibt. Der Pelz ist
rauh und struppig und hat einen eigenthümlichen, höchst unangeneh-
men Geruch. Der Schwanz hängt gerade herab. Die Wölfe gehen
mehr auf den Ballen der Fuße, als auf den Zehen. Sie haben die
Gewohnheit, bei bevorstehender Veränderung des Wetters zu heulen.
Sie schlafen bei Tag; bei Nacht gehen sie auf den Raub aus. Ihr
ganzes Wesen gibt Wachsamkeit, Bosheit verbunden mit Scheu und
Grausamkeit zu erkennen.
S Manchmal greifen Wölfe Pferde vor Schlitten und Wagen an.
Das Pferdefleisch liebt der Wolf ganz besonders. Er greift die
Pferde nie von hinten an; denn er fürchtet ihr Ausschlagen; sondern
er packt sie im Nacken oder an der Gurgel. Rehe, Hirsche, Renn-
thiere werden oft seine Beute. Aas verachtet er nicht, selbst wenn es
schon ganz in Verwesung übergegangen ist. Mit einem Hammel im
Maul vermag er im Galopp davon zu laufen. Er zermalmt mit
seinen harten, blendend weißen Zähnen die stärksten und härtesten
Knochen. Der Schäferhund sträubt das Haar, wenn er einen Wolf
sieht, und geht mit großer Wuth auf ihn los. Siegt der Wolf,
ii ~.' MMW -
89
so frißt er den Hund; siegt der Hund, so läßt er den Wolf unbe-
rührt.
J Wenn die Wölfe aufgejagt werden, so suchen sie in gerader Linie
nach irgend einem Schlupfwinkel zu entkommen, wobei sie oft in einem
Lause 15 —16 Stunden zurücklegen. — Die Wölfe graben nicht
eigene Höhlen, sondern halten sich entweder in verlassenen Bauen
anderer Thiere (der Füchse, Baren, Dachse) auf, oder machen sich in
Felsklüften, überhängenden Ufern, hohlen Bäumen ein Lager, das
immer in den verlassensten und dichtesten Gegenden der Wälder an-
gelegt wird.
¿j In bewohnteren Ländern, wo die Wölfe beständig verfolgt werden,
gehen sie nicht anders aus, als gegen den Wind. Sie treten vor-
sichtig aus dem Walde und wittern rings umher, ob sich nichts Ver-
dächtiges bemerken läßt, ehe sie sich ins freie Feld wagen. Alsdann
schleichen sie unter fortwährendem Schnuppern so dicht als möglich
in der Nähe von Gebüschen hin, um nicht erkannt zu werden. Gehen
mehrere Wölfe zusammen, so bleiben sie immer hinter einander, und
jeder tritt so genau in die Fußstapfen des Vorgängers, daß man
selbst auf weichem Grunde glaubt, es wäre bloß einer dort gegangen.
Sie setzen die Füße so nahe zusammen, daß die beiderseitigen Fuß-
stapfen nur eine Linie bilden.
J23ei dem Einbruch in eine Schasheerde beobachtet der Wolf die
äußerste Vorsicht, um sich nicht zu verrathen. Wird er von dem
Schäferhund verfolgt, so ergreift er die Flucht. Während der Hund
auf der Verfolgung ist, greift aber ein anderer Wolf, der versteckt
war, die Heerde an, eilt mit einem Schaf davon und theilt mit
seinem Gefährten die Beute. Erfahrene Schäfer lassen daher ihren
Hund keinen Wolf verfolgen. Geht der Wolf mit der Beute zurück,
so trägt er den Kopf tief, dreht ein Ohr vorwärts, das andere rück-
wärts, und seine Augen leuchten wie Feuer. Der Wolf tödtet ge-
wöhnlich seinen Raub auf der Stelle und schleppt ihn dann in den
Wald, um ihn gemächlich zu verzehren. Den Menschen verschont der
Wolf, so lange er noch andere Nahrung findet; hat er aber Menscheu-
fleisch gekostet, so soll er aus Menschen, besonders auf Kinder, über
die Maßen erpicht sein.
iDer schwarze Wolf ist stärker und grausamer, als der gemeine
Wolf; er ist vorzüglich in Spanien zu Haus. Den blauen Wolf
findet man, jedoch selten, in Kanada, und den rothen Wolf in Süd-
amerika. Der Goldwolf oder Schakal findet sich in Asien und Afrika.
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43. Der Königstiger.
/' Der Königstiger ist beinahe von der Größe des Löwen, aber schlanker, gestreck-
ter, der Kopf rund, oben rothgelb, unten weiß, mit unregelmäßigen, einfachen Quer-
strcifen. Er ist das fürchterlichste Naubthier, indem er Stärke, Blutdurst und Grau-
samkeit in sich vereint. Seine Heimat ist das südliche Asien, besonders die großen
Wälder Ostindiens in der Nähe von Flüssen, wo er Menschen und Thieren auflauert.
Er klettert auch gut auf Bäume, was der Löwe nicht thut. Ein Engländer ging
in den Wäldern von Ostindien einige Stunden von seiner Station spazieren. Da
sieht er einen Tiger ganz ruhig an sich vorbeitraben, im Gebüsch sich verstecken, und
nachher gegen ihn ankommen. Der Tiger wollte weiter gehen; aber den Engländer
reizte die Jagdlust; er legt aus das Thier an, um ihm den groben Hagel, welchen
er geladen hatte, in den Kopf zu schießen. Der Schuß fehlt und zerschmettert dem
Thiere nur die rechte Tatze; der allzu verwegene Jäger flüchtet sich so schnell, als
er kann, auf einen Baum, aber rasend gemacht durch den Schmerz, folgt ihm der
Tiger trotz seiner verwundeten Tatze, und hätte den Mann, der bei seiner Flucht auf
den Baum sein Gewehr weggeworfen hatte, zerrissen, wäre nicht ein Holzhackcr dazu
gekommen und hätte dem Tiger die Sehnen der Hinterfüße durchgchauen, worauf
^der Tiger zu Boden fiel und unter den Schlägen des Holzhauers verendete. ^Der
Tiger ist das unerschrockenste und verwegenste Raubthier. Englische Truppen waren
einst auf dem Marsch begriffen; plötzlich sprang ein Tiger aus dem Gebüsch hervor,
riß einen Offizier vom Pferd herab und sprang mit ihm dem Gebüsche zu. Besin-
nungslos durch den Schreck und Sturz geworden, erwachte dieser an Händen und
Füßen furchtbar zerfleischt im Dickicht; in dieser furchtbaren Lage ergriff er eine
Pistole, die er im Gürtel trug, und schoß die Kugel dem Tiger durchs Herz. Auf
diese Weise wurde er wunderbar aus den Klauen des kühnsten aller Räuber gerettet.
Mit solcher Wuth fällt der Tiger aber nur den Menschen an, wenn er hungrig ist;
hat er sich dagegen satt gefressen, so ist er feige und greift wenigstens unangefochten
den Menschen nicht an. Die Wunden, welche der gereizte Tiger schlägt, sind meistens
tödtlich, indem sic sehr tief gehen; daß sie aber, wie es das Volk glaubt, giftig seien,
ist nicht wahr. Der männliche Tiger unterscheidet sich dadurch von dem weiblichen,
daß er um die Backen herum eine ganz kurze Mähne hat, die eher einem Bart, als
einer Mähne gleicht. Das Weibchen wirft zwei bis drei Junge, welche sie in
tiefem Gebüsch verborgen hält und mit einer Wuth vertheidigt, der Nichts zu ver-
gleichen ist. Eifersüchtig auf alle Annäherung lagert sie alsdann grimmig auf den
nächsten Wegen und würgt Alles, was ihr entgegenkommt, theils aus Besorgniß für
ihre Jungen, theils um diesen frische Nahrung zu bringen. So ist cs in Ostindien
schon vorgekommen, daß durch eine solche Tigerin ganze Postverbindungen un-
möglich gemacht wurden, weil sie alle Boten zerriß. ^Die beste Art, den Tiger zu
"jagen, geschieht auf eigens dazu abgerichteten Elephanten; denn Pferde sind wegen
ihrer unabwendlichen Scheu vor diesen Thieren hiezu nicht zu gebrauchen. Eine
solche Tigerjagd wird nun folgendermaßen eingerichtet. Tags zuvor sucht man die
Stellen auf, wo die meisten Tiger hausen; meistens find dies die dichten Wälder
und Kaffcepflanznngen, seltener versumpfte und mit Bambusschilf verwachsene Wald-
stellen; der Platz wird umkreist und ringsum Feuer angezündet, damit die Tiger in
der Nacht nicht herausgehen. Nun kommen die Jäger ans Elephanten und umstellen
p
91
in einem größeren Kreise den Jagdplatz; die Treiber aber dringen unter Trommel-
schlag und Paukenlärm in daS Gebüsch ein, bloß bewaffnet mit einem Spieß und
einem kurzen Schwert. Die Tiger, durch den Lärm aufgescheucht, stürzen nun her-
aus und werden von den Kugeln der auf den Elephanten Sitzenden erlegt. Um fie
ganz gründlich auszutretben, steckt man das dürre Gras und Schilf ringsum in
Brand, und dann entsteht ein Jagdgetümmel und oft eine Verwirrung der gräßlichsten
Art. Heulend fahren die Tiger aus dem Walde und suchen von hinten auf die
Elephanten zu springen, und gelingt es den Schützen nicht bald^dxn Tiger zu tödten,
so rennt der von Schmerzen gefolterte Elephant wie rasend von'dannen, wirft sich
nieder, um sich zu wälzen, und bringt dadurch die, welche auf ihm sitzen, in die
größte Gefahr. Gelingt es aber dem Elephanten, den Tiger mit dem Rüffel zu packen,
oder mit den Zähnen zu erreichen, so schleudert er ihn entweder in die Luft, oder
tritt ihn unter seine Füße. Springt ihm der Tiger auf die Stirn, so zerquetscht er
ihn am nächsten Baum. Nur dann ist der Elephant verloren, wenn es dem Tiger
gelingt, ihn am Rüssel zu packen und ihm dieses feine Werkzeug zu zerfleischen. Im
wilden Zustand meiden sich beide Thiere, ihrer gegenseitigen Kraft bewußt.
^f,Jung eingefangen kann der Tiger gezähmt werden, benimmt sich aber nicht mit
jener edlen Selbständigkeit wie der Löwe, sondern ist entweder katzenmäßig schmeich-
lerisch und unterwürfig, oder bös und heimtückisch; auch mit Hunden schließt er zu-
weilen in der Gefangenschaft, wie der Löwe, Freundschaft. Sein Fell wird zu
Pferdedecken, Schlittenzieraten u. dergl. gebraucht. Er ist übrigens in seinem Vater-
land weit häufiger als der Löwe, denn in manchen Gegenden müssen seinetwegen
manchmal ganze Dörfer verlassen werden; und ans amtlichen Berichten von 1819
weiß man, daß in einem kleinen Distrikt vier und achtzig Menschen durch Tiger um-
gekommen find.
J} Ein von der englischen Regierung bet der Landesvermessung in Indien an-
gestellter Beamter erzählt folgende Geschichte aus seinem Leben. Eines Tages war
er mit der Ausmessung eines Landstrichs beschäftigt, den ein Dickicht von Bäumen
und Gesträuchen, Schilf und Gras bedeckte. Da sich in diesem Dickicht eine große
Menge wilder Thiere aufhielt, so hatten die Leute, welche Herrn B. bet seiner Arbeit
helfen mußten, Feuer angezündet, Flinten abgeschossen, Hunde hineingeschickt, großen
Lärm gemacht und sonst Alles gethan, was sie konnten, um diese Thiere in Schrecken
zu setzen und hinaus zu treiben.
Herr B. dachte, nach allem diesem könnte nun keine Gefahr mehr vorhanden
sein, und suchte sich durch einen Theil des Dickichts einen Weg zu einem kleinen
Hügel zu bahnen, von dem aus die Gegend übersehen werden konnte. Während er
aber so durchs Gebüsch drang, gab auf einmal der Boden unter ihm nach, und ehe
er wieder festen Fuß fassen oder sich irgendwo anhalten konnte, sank er zwischen
dem dichten Unterholz hinab, während rings um ihn her sich eine Staubwolke erhob,
so daß er einige Minuten lang gar nicht sehen konnte, wo er war. Obschon er aber
Nichts sah, so hörte er doch genug, was ihm bange machen konnte. Es war das
tiefe Grollen einiger wilden Thiere, und er überzeugte sich bald, daß er in ihre
Höhle hinabgesunken sei. So war es auch; und sobald der Staub sich gelegt hatte,
sah er sich mitten in einem Nest junger Tiger. Die weißen Ameisen nemlich, deren
es in Indien so viele gibt, hatten den Boden ausgehöhlt, und weil die Jahreszeit
sehr trocken war, so brach die dünne Decke über der Tigerhöhle ein, sobald Herr
B. .seinen Fuß darauf setzte.
92
Er sah freilich seine gefährliche Lage wohl ein und war auch innerlich be-
unruhigt; aber als ein frommer Mann betete er zu Gott um seinen Schutz, und
als ein verständiger Mann machte er sich aufs Schlimmste gefaßt. Bekannt mit der
Lebensart des Thieres, in dessen Höhle er gefallen war, zweifelte er keinen Augen-
blick daran, daß die Tigerin ganz in der Nähe sein müsse, und daß ihre Wuth ihn
nicht entrinnen lassen werde. Was konnte er nun machen? Er hatte keine Flinte,
kein Schwert, nicht einmal einen Stock; seine Hand war sein einziges Vertheidigungs-
mittel. Aber was konnte er ohne Waffen anfangen? O, die Hand ist ein wun-
derbares Werkzeug, wenn sie mit Verstand gebraucht wird. Und so zeigte sichs
auch bei Herrn B.
Er nahm schnell aus seinem Hut und seiner Rocktasche zwei oder drei seidenv
Taschentücher und band sie fest um seinen rechten Arm bis zum Ellenbogen hinauf.
Kaum war er damit fertig, so erblickte er schon die Tigerin, die über Gesträuch und
Schilf des Dickichts setzte und aus ihn losstürzte mit feuersprühenden Augen, den
großen Nachen weit geöffnet, ihn zu packen und zu zerreißen. Er stellte nun seine
Füße fest auf den Boden, gerüstet zu tödtlichem Kampf mit dem furchtbaren Feind,
und stand dann ruhig erwartend da. In kürzerer Zeit, als ihr dieses lesen könnet,
war die Tigerin ganz nahe herbeigekommen, und nun duckte sie sich mit dem Bauch
aus den Boden, und rutschte langsam näher, wie ihr etwa bei einer Katze gesehen
habt, wenn sie einen Vogel fangen und sich ihre Beute sichern will. Schrecklicher
Anblick für Herrn B.! Aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn
im nächsten Augenblick sprang sie mit einem Satz und lautem Gebrüll gerade auf
ihn los.
Wie er erwartet hatte, war ihr großer Nachen weit geöffnet, und so schnell wie
ein Gedanke, sein Ziel fest im Auge, stieß ihr der muthige Mann seinen Arm ins
Maul hinein, packte ihre Zunge mit der Hand und fing an, mit aller Macht sie von
einer Seite zur andern zu drehen. Dies hinderte die Tigerin, den Nachen zu
schließen; dagegen aber machte sie einen furchtbaren Gebrauch von ihren Klauen, die
ihm die Kleider vom Leib und das Fleisch von den Knochen rissen. Allein obgleich
verwundet und blutend, hielt er doch fest und peinigte die Tigerin so durch das
Umdrehen ihrer Zunge, daß sie in Schrecken gerieth, mit einem plötzlichen Ruck
ihm die Zunge aus der Hand riß und zu seiner großen Freude ins Dickicht hinein-
sprang. Herr B. wußte in dem ersten Augenblick nichts Nöthigeres zu thun, als
dem Gott zu danken, der ihn so ans dem Nachen des Tigers errettet hatte, wie er
einst den Hirtenknaben David von dem Löwen und Bären errettete. Dann machte
er sich, ermattet von Schmerz und Blutverlust, eilig auf den Rückweg zu seinen
Gefährten, ehe das wilde Thier sich von seinem Schrecken erholen oder in die Höhle
zurückkehren werde.
44. Fowengngd.
/Zamba, ein ehemaliger Negerkönig am Kongofluß in Afrika,
der von einem nordamerikanischen Sklavenhändler mit List aus seiner
Herrschaft gelockt und als Sklave verkauft, eben dadurch aber unter
Gottes Fügung zu christlicher Erkenntniß und Bildung gelangt war,
erzählt aus seinen Iugenderinnerungen unter Anderem Folgend-es:
__Hk—
93
Mein Vater hatte einen Jagdzuss veranstaltet, da verschiedene Anfälle
von wilden Thieren bei seinen Heerden in der Nähe des Dorfes
vorgekommen waren. Es wurden gegen zwei hundert Mann aufge-
boten, und auf meine eigene dringende Bitte bekam ich Erlaub-
niß, sie zu begleiten. Ich war damals etwa zwölf Jahre alt. Mein
Vater war ein sehr kühner Jäger und hatte nach allgemeiner Ansicht
als Oberhaupt die Verpflichtung, in der Gefahr der Vorderste zu
sein. Jedoch war er auf allen Seiten wohl bewaffnet. Er hatte
eine schöne Doppelflinte, an der Seite einen-kurzen Hirschfänger, im
Gürtel ein Paar Pistolen, und ein dicht hinter ihm, trug
ihm seinen starken Speer, dessen Zoll lange, scharfe und
j zweischneidige Spitze auL^em feinsten Stahl gemacht war. Der
Schaft war gegen lang^, aus Lanzenholz verfertigt und
beinahe so dick wie ein Mannsarm, so daß man bei naher Begegnung
eines großen Thieres nicht fürchten durfte, er könnte zerbrechen.
^Als wir etwa eine halbe Stunde weit gegangen waren, stieg die
Sonne empor, und unterdessen hatten wir einen gewissen Punkt er-
reicht, wo der Kongostrom eine leichte Biegung macht und wo eine
der schönsten Aussichten sich vor unserem Blick eröffnete. Einige
Minuten lang vergaß ich die Jagd vor lauter Bewunderung des
lieblichen Anblicks; bald aber wurde meine Aufmerksamkeit von der
bezaubernden Landschaft abgezogen durch das unaufhörliche Hornblasen
und Hundegebell, vermischt mit dem beginnenden Geheul der wilden
Thiere. Dutzende von Hyänen und anderen kleineren wilden Thieren
flohen vor uns dahin, und gelegentlich wurde eines geschossen. Wir
begegneten keinem von den gefürchteten großen Thieren, bis gegen
Mittag, wo ein gewaltiger Löwe anfgetrieben wurde. Augenblicklich
war unser ganzer Trupp auf dem Anstand, und Etlichen, die sich im
Anfang sehr vorgedrängt hatten, spürte man jetzt einigt Abneigung
an, in der vordersten Reihe zu sein. Mein Vater jedoch war, wie
es schien, ganz in seinem Element und sagte mir, ich solle mich nur
dicht an ihn halten, doch ein wenig hinter ihm.
// Als ich den 'Löwen zu Gesicht bekam, den ersten, den ich je ge-
sehen, war mirs in der That ganz sonderbar zu Muthe; das war
doch ein ganz anderes Thier als der Pavian, den ich einige Zeit
vorher mit einem Pfeil getödtet hatte. Das Ungethüm zog sich
ganz langsam zurück, stand oft still, blickte umher, schlug die Seiten
mit dem Schweif und stieß ein kurzes, leises Geheul aus, das
aber mir in meiner kindischen Einbildungskraft so stark vorkam,
94
als ob die Erde davon zitterte. Man hatte wiederholt auf den
Löwen, gefeuert, bis jetzt aber offenbar ohne bedeutende Wirkung l
endlich wurde er in einer kleinen Schlucht zum Stehen gebracht.
Als der Löwe seine Lage gewahr wurde, drehte er sich ganz herum
und blickt^ seine Verfolger mit feurigen Augen an, indem er sich
fortwährend mit dem Schwänze die Seiten schlug. Dann und wann,
wenn ein gar zu verwegener Hund auf ihn losfuhr, schlug er ihn
mit seiner Pfote zu Boden, so leicht, wie ein Mann eine Eierschale mit
seinem Fuß zertritt. Mein Vater mit seinem Waffenträger kam ihm
bald auf zwanzig bis fünf und zwanzig Schritte nahe; er richtete seine
Flinte mit der größten Kaltblütigkeit, befahl mir mit leiser Stimme,
ein wenig zurück zu treten, und gab dann Feuer. Der Löwe ließ
ein scharfes Brüllen hören, schüttelte sich, hielt aber immer noch
Stand. Mein Vater feuerte wieder, und nun kam das Thier einige
Schritte näher. Sein Anblick war furchtbar großartig: seine Mähne,
lang genug, um zum Boden zu reichen, stand fast aufrecht, wie
eine ungeheure Halskrause, um seinen Kopf her, und seine blitzen-
den Augen waren fortwährend auf seinen Feind gerichtet. Mein
Vater streckte ruhig die Hand nach seinem Waffenträger aus und
ergriff seinen Speer, und dann näherte er sich dem Thier bis auf
sechs bis ach-t Schritte, indem er seine Waffe in Bereitschaft hielt.
In diesem Augenblick hatten die Stellungen des Kämpfers und des
Löwen ein prächtiges Gemälde gegeben. Nach einer augenblicklichen
Pause ließ sich mein Vater auf ein Knie nieder, stemmte den Schaft
seines Speeres fest gegen den Boden, während die Spitze desselben
auf den Löwen gerichtet war, und stieß dann ein lautes, ganz beson-
deres Geschrei aus. Das Thiei^sntwortete mit einem fürchterlichen
Gebrüll und machte einen Ssscung. Mein Vater hielt immer noch
den Speer in die Höhe, sprang dann aber plötzlich mit großer Be-
hendigkeit bei Seite, und — das Ungeheuer war völlig durchbohrt.
Es wälzte sich in allen Richtungen auf dem Boden umher, bis einige
der Jäger herbei kamen und ihm den Garaus machten. Wäre mein
Vater nicht in dem Augenblick auf die Seite gesprungen, so würde
er wahrscheinlich von dem Thier in seinem Todesringen tödtliche
Wunden empfangen haben; aber er war in solchen Kämpfen erfahren.
Als der Löwe todt war, ließ mein Vater Halt machen. Dem
Thiere wurde schnell^di^Ha^ abgezogen, die von der Nafp^bis ^r^^
Schwanzwurzel etw6-«cht.Alv in^ss, wozu noch der i>ict- fuö” v^
lange Schwanz kam. Es war keiner unter den anwesenden Männern,
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der mit beiden Händen das Bein des Löwen oberhalb des vorderen
Kniegelenks hätte umspannen können; daraus kann man einen Schluß
machen auf seine ungeheure Größe.
In meinem vierzehnten Jahr, so erzählt unser Negerprinz
weiter, war ich für mein Alter schon sehr stark und gewannt, so daß
ich es mit manchem erwachsenen Mann hätte aufnehmen können;
ein Ei, das in einer Entfernung von zweihundert Fuß auf einem
Stabe stak, traf ich mit der ersten Kugel. Eines Tages ging ich auf
die Jagd; zwei junge, gewandte Diener begleiteten mich. Nachdem ich
mehrere Hyänen geschossen, wurde ich so jagdeifrig, daß mir nichts
mehr genügte, als die Begegnung eines Löwen, wenn ein solcher
aufzutreiben wäre. Ich versprach dem, der zuerst einen Löwen auf-
triebe, ein ansehnliches Geschenk. Wir hatten uns tief in den wil-
desten Theil des Waldes hineingezogen, da vernahmen wir endlich
das tiefe, dumpfe Knurren eines solchen Waldkönigs. Unsere Hunde
leiteten uns bald in eine Höhlung; hier erblickten wir einen Löwen
von mächtigem Wüchse, der an dem frischen Fleisch einer so eben
getödteten Ziege schmauste. Als er uns erblickte, drehte er sich bloß
einen Augenblick herum und setzte dann seine Mahlzeit fort, indem
er, wie ein Hund an einem Knochen, abwechselnd kaute und knurrte.
Ohne einen Augenblick zu zögern, feuerte ich und traf ihn an einem
Ohr. Dies machte ihn aber nur zornig, und ehe meine Gefährten
zielen konnten, stürzte das ungeheure Thier mit furchtbarem Gebrüll
auf uns los. Ich gab natürlich Fersengeld, fiel aber über einen
Stein und lag nun da auf dem Gesicht. Auch meine Gefährten
' hatten sich augenblicklich auf die Beine gemacht; aber bald nahmen
sie sich wieder zusammen und standen einen Augenblick fest. Der
Löwe kam auf mich zu, legte eine seiner Tatzen auf meinen Rücken
und fing an, mich knurrend zu beschnüffeln. Das Gewicht seiner
Tatze war schrecklich und ihr Druck schmerzvoll; da ich aber von
alten Jägern mit der Art und Weise des Löwen bekannt gemacht
worden war, lag ich todesstill und hielt den Athem an, bis ich fast
erstickte. Als ich gerade daran war, aus Mangel an Athem nachzu-
geben, hörte ich zwei scharfe Schüsse, und in einem Augenblick wälzte sich
mein mächtiger Feind auf dem Boden. Ich erhob mich, so gut ich konnte,
und stürzte meinen zwei treuen Freunden zu, die mich mit Entzücken um-
armten und sogar vor Freuden laut aufschrieen. — Die abgezogene
Haut des Thieres war nur wenig kleiner, als die Haut jenes Löwen,
den mein Vater erlegt hatte; wir nahmen sie als Siegeszeichen mit.
96
45. Zärtlichkeit eines Bären für seine Jungen.
Die Mannschaft eines Schiffes hatte einmal an den Küsten des
Eismeers einen Seehund getödtet. Ein Theil davon wurde ins Feuer
geworfen. Der Geruch von dem Speck lockte drei weisse Bären
herbei. Es war eine Mutter mit ihren zwei schon ziemlich erwach-
senen Jungen. Sie ging herzhaft an das Feuer, holte mit ihren Tatzen
ein Stück Fleisch heraus, zerriss es in Stücke und legte jedem ihrer
Jungen einen Theil davon vor; den kleinsten aber behielt sie für sich.
Die Leute im Schiff sahen zu und warfen ihnen noch ein Stück
Fleisch vor, das die Mutter wie das erstemal theilte. Während die
Jungen ihren Antheil empfingen, hatten einige der Mannschaft ihre
Flinten herbeigeholt; sie legten auf die Bären an und erschossen die
zwei Junten. Auch die Bärin wurde getroffen; die Kugel drang aber
nicht tief genug ein. Das Wimmern ihrer sterbenden Jungen rief die
Bärin, die sich schon auf die Flucht begeben hatte, zurück. Sie
schleppte sich zu ihnen hin, beroch sie, leckte ihre Wunden, legte
ihnen ein Stück Fleisch vor und suchte sie zum Fressen zu bewe-
gen. Umsonst; sie regten sich nicht mehr. Da legte sie nun ihre
Tatze winselnd zuerst auf das eine, dann auf das andere, und wollte
ihnen aufhelfen. Alles war vergeblich.
Nun fing sie an, erbärmlich zu heulen, drehte sich herum, ging
von ihnen ein wenig weg und sah zurück, ob sie ihi nicht folgen
würden, kehrte sich wieder um, beroch sie, leckte an ihren eigenen
Wunden, kroch wieder eine Strecke fort und kam zurück, blieb bei
ihnen stehen und heulte kläglich. Voll Jammer und Zärtlichkeit
schlich sie um dieselben herum, beschnupperte und betastete si^^da
sie sich aber durchaus nicht mehr regen wollten und kein Lebens-
zeichen von sich gaben , hub sie ihren Kopf nach dem Schiffe zu
und brummte voll Wuth und Verzweiflung, sank aber, von weiteren
Flintenschüssen getroffen, bald zwischen ihren Jungen nieder und
starb, indem sie deren Wunden leckte.
46. Jas NeH,
welches kaum die Größe und Schwere einer Ziege erreicht und manche
Aehnlichkeit mit derselben besitzt, ist eines der niedlichsten Säugethiere
in Europa. Seine großen, Hellen Augen, seine schlanken Beine, der
aufwärts getragene Hals, seine röthlich braune Farbe geben ihm schon
ein gutes Aussehen, welches bei dem Bocke noch durch das zwar
97
mcht vielzackige, aber doch kräftige Geweih vermehrt wird. Vollends
die weißgefleckten Zicklein sind so liebliche Geschöpfchen, daß man sie
gern zum Vergnügen aufzieht. Sie werden auch wirklich äußerst zahm,
die Böcke jedoch, sobald die Hörner durchstoßen, oft boshaft und ge-
fährlich. Die Leichtigkeit ihrer Sprünge ist eben so groß, als die
Schnelligkeit ihres Laufes. Kein Jagdhund vermag ein Reh einzu-
holen, zumal, da es voll List seine Richtung bald' hierhin, bald dort-
hin ändert. Uebrigens lassen sie sich auch nicht leicht auf freiem
Felde jagen; sie lieben den Wald, besonders niedriges Gehölz, und
kommen nur vorsichtig heraus, um auf dem Felde zu grasen. Sumpfige
Gegenden gefallen ihnen so wenig, als steile Berge, heiße Länder
so wenig, als ganz kalte. Deßhalb findet sich das Reh auch
vorzugsweise in Deutschland, und seine List und Schnelligkeit haben
es bisher vor Ausrottung bewahrt. Doch schießen ordentliche Jäger
auch nicht leicht eine Rehkuh, besonders nicht zu der Zeit, wo sie
Junge hat, sondern nur Böcke oder junge Thiere. In manchen Ge-
genden aber locken die Wilddiebe durch Locktöne alle Arten von Rehen
an sich und schießen sie ohne Unterschied nieder. Die Bauern sind
darüber freilich nicht sehr verdrießlich, weil die Rehe Klee, Rüben
und dgl. von den Aeckern fressen, auch wohl Obstbäumchen verderben.
Auch in den Wäldern, besonders an jungen Lärchen, thun sie Schaden.
Allein es wäre doch auch traurig, wenn man alle Thiere, welche ein-
mal mit dem Menschen eine Mahlzeit halten wollen, sogleich vertilgen
wollte! Die Welt ist ja nicht bloß unsertwillen geschaffen worden. '
Was aber die Rehe betrifft, so gewähren sie auch wieder Vortheil
durch ihr äußerst zartes Fleisch, durch ihre Haut, woraus Handschuhe,
und durch ihr behaartes Fell, woraus Fußteppiche verfertigt werden.
Auch- djks Gehörn wird zu Mefferstielen, Pfeifenröhren und dgl. ver-
arbeitet. Der Schaden , welchen die Rehe thun, ist »uch dadurch
weniger beträchtlich, weil sie nur familienweise beisammen leben, nicht
in Rudeln, wie die Hirsche. Der Bock nimmt sich nemlich, gegen die
Gewohnheit anderer Wiederkäuer, seiner zwei Jungen an und ist
beim Austreten aus dem Walde der vorderste, beim Flüchten der
hinterste; auch die mütterliche Zärtlichkeit des Weibchens (Rehgeiß)
ist musterhaft. Durch dieses Leben in Familien werden auch die
Kämpfe unter den Männchen vermieden; wenn jedoch die Jungen
acht bis neun Monate alt sind, so treibt sie der Vater von sich, da-
mit sie ihren eigenen Haushalt anfangen. Das Alter der Rehe schätzt
man auf sechzehn Jahre.
Lese'uch. -j
r*
I
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47. Das Nennthier.
ff Das Rennthier weidet auf den hohen, wüsten Fjellen Finnmarkens,
auf jenen fürchterlichen Sümpfen, deren braune Decke das bittre Rennthier-
moos trägt. Wenn die Sommerhitze hier oben eintritt, sieht es sich von zahl-
losen Mücken- und Fliegenschwärmen verfolgt, welche Menschen und Thieren
das Leben wahrhaft unerträglich machen. Es ist daher für dasselbe eine Wohl-
that, daß seine Herren mit ihm an die kühle Meeresküste oder in die tieferen
Thäler hinabziehen, wo die Wolken des Ungeziefers in den Winden zerstieben.
Kaum aber naht der Herbst, so erwacht die Begierde nach dem Schnee der
Berge, und vergebens wäre es, dem Verlangen des Thieres zu wehren. Die
ganze Heerde der ohnehin nur halbgezähmten Nenner würde gewaltsam ent-
laufen, um in wilder Freiheit mit ihren Brüdern die Gebirge zu durchirren.
Zieht der Lappe im Herbste aus die Alpen zurück, so werden die Nenn-
thiere mit allem Eigenthume beladen, wie man Pferde beladet. Es werden dazu
die stärksten ausgesucht, und man vertheilt möglichst die Last; denn ein Restu-
thier trägt nicht viel. Den großen Leitthieren werden Glocken angehängt, und
so wandelt die Karavane, die mindestens zwei hundert, zuweilen aber mehr als
2000 Geweihe zählt, die öden Fjellen aufwärts in die unermeßlichen Wüsten,
gefolgt von der Familie und umkreist von den wachsamen Hunden. Der Haus-
vater bestimmt endlich einen zur Winterrast geeigneten Ort. Hier baut er feine
Hütte. Dabei sucht er gern die Nähe einer geschützten Schlucht, wo Birke t^nd
Kiefer wachsen, wo ein Bach niederstürzt, und er baut dann diese Hütte etwas
fester, als das leichte Sommerzelt, bedeckt sie von außen mit Rasen, bekleidet
sie innen mit den Fellen des Thieres, dem er Alles verdankt, und erwartet
nun, umringt von seinen Vorräthen, die weiße, warme Decke, welche der Him- :
mes ihm aus den Wolken schickt. Der Schnee fällt ellenhoch; aber das Renn-
thier achtet das nicht. Es weiß mit seinen Hufen die Hülle fortzuscharren,
weiß die Kräuter und Moose darunter zu stnden und irrt auf diesen unge-
heuren Schneefeldern umher, ohne je eines Stalles oder einer Waruing zu
bedürfen.
.^Sieben dem Wohnplatze des Lappen steht meist noch ein Zelt. Hier spei-
chert er auf, was er an Mehl, Fellen und Gerathen besitzt. Gewöhnlich aber
hat er nichts als einige hölzerne Schüsseln, einen Kessel, einige Kleidungsstücke,
einige Pelzdecken, und an den Zeltstangen hangen die Rennthiermagen, worin
er seinen Milch- und Käsevorrath verwahrt. Auf einer andern Seite der Hütte
ist aus Pfählen eine Art Hürde gemacht, in welcher die Rennthiere des Tages
zweimal gemolken werden. Dies ist das Anziehendste für den Fremden. Die
Hunde und Hirten treiben die Heerde herbei, und die schönen Thiere mit den ^
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klugen, milden Augen bilden einen Wald von Geweihen. Die Kälber umrin-
gen die Mutter, und die jungen Thiere erproben spielend und stoßend ihre
Kraft. Beim Melken wird jedem Thiere eine Schlinge übergeworfen, damit
es stille steht, und diesen Zügelriemen gebrauchen die Lappen mit bewunderns-
würdiger Geschicklichkeit. Das Rentzthier gibt wenig Milch; aber sie ist fetter,
als jede andere, und außerordentlich nahrhaft. Jedes Mitglied der Familie
bekomm: seine Portion; ein anderer Theil wird zu der täglichen Suppe ver-
wendet, welche, mit Mehl oder auch mit Rentzthierblut und Fleisch gemischt,
eine wohlschmeckende, stärkende Speise gewährt. Der Rest der Milch wird zu
Käse gemacht. Im Winter läßt man die Milch wohl auch gefrieren, so daß
man sie in Tafeln schneiden kann. Sie verliert dabei durchaus Nichts von
ihrer süßen Frische und ist namentlich aus Reisen ein sehr dienliches Nah-
rungsmittel. Fleisch und Milch des Rennthiers ist überhaupt die wichtigste
Nahrung des Lappen, und nur durch die Kräftigkeit derselben wird eö ihm
möglich, die Furchtbarkeit des Winters zu überdauern.
Das Rennthier ist ausgewachsen so groß, wie ein starker Hirsch, sünh ein
solches Thier kostet dort vier bis sechs Guides Braten und Keule schmecken
ähnlich wie Hirschbraten; das Fleisch ist aber röther, weicher und saftiger. Die
Keulen werden auch geräuchert und als Rennthierschinken weit versandt.
48. Das Kameel.
^Der Morgen dämmert über die Wüste; die Karavane schreitet
im langen Zuge die kahle, endlose Ebene hin und fördert ihre Schritte
nach dem einförmigen Tone der Pfeife. Die Kameele sind mit Ballen
beladen, mit Tüchern bedeckt; aus ihnen die Mauren mit bunten Tur-
banen und Mänteln, mit Dolch und Säbel, ihren unzertrennlichen
Gefährten. Den Kameelen zur Seite gehen die Sklaven. Voran
reitet ein brauner, hagerer Araber, der Herr des Zugs. Das ganze
bunte Gewimmel ist in eine Wolke von Staub gehüllt. — Die Sonne
steigt empor; die Karavane kehrt sich ihx entgegen und begrüßt das
leuchtende Gestirn des Tages. Und höher hebt sich die Sonne; ihre
Glut strahlt .herab und wieder von der Erde auf. Die wunden
Sohlen schmerzen; die Glieder ermatten; brennender Durst peinigt
Jeden. Kein Strom zieht die Silberwelle durch ein frisches Grün;
weithin ist kein Gesträuch zu erspähen. Auf heißem, schattenlosem
Boden schreitet die Karavane. Käme im Sturme eine schwarze Wolke,
rissen Blitze die Schleusen des Himmels auf: es würde Rettung den
Schmachtenden bringen; das Gebrüll des Löwen wäre ihnen erwünscht,
^würde es doch ersehntes Land verheißen. | Da liegt mitten in der
I 7 *
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stillen Wüste ein Quell, ein lebendig Begrabener, der seine leise Stimme
vernehmen läßt; das Kameel hat ihn aus der Ferne schon erspürt,
und Plötzlich gewinnt es seine Kräfte wieder, schreitet rasch voran,
ihm lustig nach der ganze Zug. Da steht es still und bäumt sich vor
Freude. Aus jedem Auge bricht ein lebender Strahl, die matten
Glieder durchzuckt elektrisches Feuer. Es stellt sich die Karavane im
Kreise; eifrig wird der Boden aufgescharrt, und aus des Grabes
Tiefe tritt der Quell glänzend an den Tag, und Alles stürzt hin,
sich zu erlaben am unverwüstlichen Lebensborne. Die erstarrten Züge
werden milder, die Augen heitrer, der Muth ist gestählt, die Kräfte
wachsen. Man lagert sich; die Zelte werden aufgeschlagen, die Thiere
gefüttert und mit Sorgfalt vom Staube gereinigt. Da sind alle
Drangsale vergessen; Gespräche erheitern die Nacht; Mährchen werden
erzählt; die leere Wüste ist zu einem Paradiese geworden. ■— Und
ist das Fest vorüber, sind die Schläuche gefüllt, die Kameele getränkt,
so werden die Zelte abgebrochen, die Ladungen aufgeschnallt; lustig
ertönt die Pfeife, und die Reise geht dem Ziele zu. Wochen weichen
vorüber; eine Oede verliert sich wieder in der andern in steter Ein-
förmigkeit. Heiße Tage wechseln mit kalten Nächten ab. Am Tage
geht der Müde im Schatten des Kameels; es. wendet sich gegen ihn
und leckt ihm die Hand; des Nachts erwärmt es ihn. Der Chamsin
(der heiße Wind der Wüste) wälzt seine Glut über die Ebene; das
Kameel ist wieder dem Menschen Schirm vor diesem Ungeheuer. Eine
grüne Landschaft spiegelt sich in den Lüften; in der Ferne glänzt ein
See. Die Oase ist erreicht! Vergebliche Hoffnung! Täuschung und
Trugbilder sind es; die Landschaft vergeht; der See wird zur Steppe,
über welcher Salzkrystalle statt der Quellen ihren Glanz verbreiten.
Es war dies nur eine sogenannte Luftspiegelung. Die Wasser-
schläuche werden leer, die Tage heißer, lästiger; die Schritte der
Karavane erlahmen. Da wirst du, o treues Thier, nochmals der
Retter deines Herrn; mit deinem Blute, mit deinem Leben erkaufst
du ihm das seinige! Er stößt den Dolch in dein Herz, fällt, ein lech-
zender Tiger, über dich, trinkt dein Blut, erlabt sich an dem Wasser
deines Magens und gewinnt Kraft, das blühende Gestade der Wüste
zu erreichen.
Das Kameel ist wie für den Araber geboren, sein Sklave, sein
Reichthum von Abrahams Zeiten her bis zum heutigen Tage. Es
ist das Schiff, auf welchem er die Wüste durchzieht; es trägt ihn. zu
Meccas, zu Medinas heiligen Tempeln, geleitet ihn durch die Wüste
101
Sahara zu dem glänzenden Niger. Eine Mißgestalt ist es, ohne
Schmuck, ohne Anmuth, halb Pferd, halb Schaf, mit gespaltener
Lippe, mit kleinen aufgestellten Ohren, mit langem, eingebogenem
Halse, dem Barte an Brust und Kinn, dem hagern Kreuze und kur-
zem Schweife. Auf hohen Beinen schreitet es daher, geht Tage lang
schwer beladen fort und ermüdet nicht. Die Blatter der Disteln und
stachliger Gestrüppe sind seine Nahrung; es erlabt sich an dem Wasser
der Cisterne und nimmt davon einen Vorrath auf die Reise mit; selten
wird ihm ein Trunk aus frischem Quell zu Theil. Sich auf den
Boden zu werfen und Lasten zu tragen, wird es abgerichtet; demüthig
und geduldig beugt es die Kniee vor seinem Tyrannen, damit er be-
quem es belade. Auf den Wink desselben erhebt es sich und folgt
ihm. Er nährt sich von der Milch des Kameels; er ißt sein Fleisch
und kleidet sich in seine Wolle.
49. Der Elephant.
Bis zur allgemeinen Verbreitung des Feuergewehrs war der Elephant
für das südliche Asien ein überaus wichtiges Thier, welches zu Hunderten, ja
zu Tausenden den Kriegsheeren folgte und oft die Schlachten der Völker ent-
schied. Jetzt ist er wegen seiner Scheu vor Feuerwaffen gar nicht mehr im
Kampfe zu brauchen und dient fast nur noch an einigen Höfen südasiatischer
Fürsten zum Pomp, und zugleich bei diesen und den englisch-ostindtschen Hee-
ren zum Tragen der Lasten und bei der Tigerjagd. Sein Fleisch wird nicht
geachtet, seine Haut gibt kein wasserdichtes Leder und nur seine Zähne locken
den Jäger an. Daher kommt cs, daß er sich in der Wildniß hie und da wieder
stark vermehrt. Privatleute würden nur großen Schaden haben, wenn sie sich
statt der Kameele, der Büffel oder Pferde Elephanten halten wollten, und unter-
lassen es daher. Auch in Afrika, wo er von der Sahara und libyschen Wüste
bis ans Kap vorkommt, wird er in der Regel nicht als Hauöthier gebraucht;
aber seine Zähne geben als Elfenbein einen beträchtlichen Handelsartikel, ob-
wohl sie den ostindischen nachstehen. Große Zähne werden vorzüglich zu Bil-
lardkugeln, Kämmen und zu Platten für Miniaturmaler benützt. Manches
Elfenbein ist von Natur gelb, aber auch das weiße nimmt mit der Zeit diese
Farbe an; man kann es aber durch Bleichen am Sonnenlicht unter einer Glas-
glocke wieder weiß machen. Glüht man Elfenbein im verschlossenen Raum,
so bekommt man eine sehr geschätzte schwarze Malerfarbe, die man Elfenbein-
schwarz oder Sammetschwarz nennt.
Der Elephant ist, wenn er zur Welt kommt, <dwrr^Knß hoch und seine
Augen sind gleich offen. In achtzehn bis vier und zwanzig Jahren ist er aus-
102
und wahrscheinlich, daß er zweihundert Jahre alt werden kann. Er lebt gesellig
und ernährt sich von verschiedenen Pflanzen, vorzüglich auch Baumzweigen.
Ins Wasser geht er gern, um sich zu kühlen und vor Fliegen- und Mücken-
stichen zu sichern. Er schwimmt gut und oft unter dem Wasser, wobei er nur
den Rüffel, durch den er Luft holt, herausstreckt. Hat er nur seichtes Waffer,
so füllt er gerne den Rüssel damit und bespritzt sich die Haut. Auch mit Erde
füllt er ihn und bespritzt sich dann damit. Merkwürdig ist, daß dieses große,
muthige Thier sich vor einer Maus fürchtet. Die Elephanten der Pariser Me-
nagerie zittern, wenn sie eine Maus sehen. Die Stimme des Elephanten ist
im Schrecken ein fürchterliches Geschrei, das aus der Kehle kommt; verlangt er
nach Nahrung, so macht er ein schwaches Geschrei mit dem Munde, und wenn
er mit andern spielt, ein schmetterndes aus dem Rüssel.
^Nach Europa bringt man heut zu Tage den Elephanten nur zur Befrie-
digung unserer Neugierde. Im Jahr 1806, sagt Thomas Smith, sah ich
einen weiblichen Elephanten, welcher im1796 aus Kalkutta nach^En^
gebracht worden war. Er warhoch und hatte etwa Minzig-
im Umfang. Der Wärter fragte ihn, wie viele Fremde da wären, und er
gab die Zahl an, indem er zweimal gewaltig durch den Rüssel blies. Die An-
zahl der brennenden Lampen (es war Nacht) gab er aus eben diese Weise an.
Er öffnete und verschloß mit der größten Geschicklichkeit zwei Thüren und die
Fenster seiner Wohnung und ließ sich aus Pefehl seines Wärters auf die Kniee
nieder. Der Wärter warf dann einen auf die Erde und zwar so weit
von seinem Kästch, daß er ihn nicht erreichen konnte, und bat ihn, denselben
aufzuheben und mir zu geben. Zu meinem großen Erstaunen streckte der Ele-
phant seinen Rüssel aus, maß M Entfernung und zog dann die Lust so stark
ein, daß mit jedem Ruck der Kreuzer näher kam, bis er ihn fassen und mir
überreichen konnte. Darauf sog er in drei Zügen einen Eimer (Kübel) Wasser
aus, den man hereinbrachte, und spritzte es aus dem Rüssel in den Mund. Er-
würbe nun gefragt, ob er satt wäre, antwortete aber durch Zeichen, daß er
wohl noch mehr möchte, und trank noch einen Eimer voll aus. Darauf nahm
er den Eimer beim Henkel, gab ihn dem Wärter und machte eine tiefe Ver-
beugung mit dem Kopfe. Die tägliche Pahw^dieses Thiers bestand in einem
Bund Heu, einem Bund Stroh, ^nem Scheffel Gerstenmehl mit Kleie ver-
mischt, etwa dreißig Pfund Kartoffeln und sechs Eimern ZÄübel^ Wasser.
^Der Kapitän Hamilton erzählt, daß er zu Ackern auf der Insel Sumatra
einen Elephanten gesehen, den man schon länger als hundert Jahre hatte, und
der für älter als dreihundert galt. Im Jahr 1692, als gerade das Schiff
Dorothea vor Achem lag, ging der Elephant nach seiner Gewohnheit durch die
103
Straße und streckte seinen Rüssel nach' den'Fenftern aus, um vielleicht einige
Früchte zu erhalten, welche ihm die Einwohner gerne gaben. Er kam auch an
das Fenster eines Schneiders, welcher aber für die Engländer arbeitete, und
dieser gab ihm statt des Gewünschten einen Nadelstich. Der Elephant schien gar
nicht daraus zu achten, ging ganz ruhig zum Flusse, Ladete sich, rührte dann den
Schlamm mit einem Vorderfuße auf und zog die Brühe in seinen Rüssel. Nun
ging er ganz gleichgültig zurück, kam an des Schneiders Fenster und bespritzte
diesen mit so ungeheurer Gewalt, daß er von seinem Stuhle stürzte und halb
todt vor Schrecken war.
Ein weiblicher Elephant, der einem Herrn in Kalkutta gehörte und nach
Chotygone unterwegs war , riß sich von seinem Führer los und verlor sich in
den Wäldern. Der Herr glaubte, der Führer hätte ihn verkauft, und ließ daher
dessen Frau und Kinder als Sklaven verkaufen und ihn selbst zum Straßen-
bau verurtheilen. Etwa zwölf Jahre nachher erhielt derselbe den Befehl,
wilde Elephanten fangen zu helfen. Er glaubte hier seinen lange vermißten
Elephanten unter einer Heerde zu erblicken, die sich vor ihm befand, entschloß
sich daher, auf ihn loszugehen, und ob man ihm gleich die große Gefahr vor-
stellte, die er dabei lief, ließ er sich doch nicht von seinem Vorsatze abhalten.
Als er sich dem Thiere näherte, erkannte es ihn, grüßte ihn dreimal, indem es
seinen Rüssel hin und her schwang, kniete nieder und ließ ihn aufsteigen. Nach-
her hals es die andern jagen und brachte zugleich seine drei Jungen mit, die
es während seiner Abwesenheit geworfen hatte. Der Wärter erhielt seine Stelle
wieder und als eine Vergütung für seine Leiden und Unerschrockenheit empfing
er einen Jahrgehalt auf Lebenszeit. |j Dieser Elephant wurde nachmals Eigen-
thum des Gouverneurs Hastings.
Obgleich der Elephant meist Orte bewohnt, welche vom Menschen wenig
^betreten werden, und durch das Abfressen der Zweige in den Waldungen, die
man wenig benützt, wenig Schaden thut, so gibt es doch Gegenden, wo er aus
jenen in der nassen Jahreszeit in ungeheurer Menge hervorbricht, an Reis,
Mais, Pisang und vorzüglich an Zuckerrohr schreckliche Verwüstungen anrichtet,
und von den schwachen, das Feuergewehr entbehrenden Eingeborenen nicht
verdrängt werden kann, vielmehr ihre Hütten zerstört und vieleMenschen tödtet,
wenn sie sich nicht verstecken oder ihn mit brennenden Fackeln vertreiben
können. Hie und da schafft man sich die gierigen Gäste dadurch vom Halse,
daß man ihnen aus Reis geformte, Gift enthaltende Kugeln hinwirft oder das
Gift in ihre Lieblingsspeise, das Zuckerrohr, bringt.
-__
V
104
50. Das Merd.
I In vielen Theilen Asiens, Afrikas und Amerikas sieht man zahlreiche Heerden
von Pferden. Eine jede wird von einem Hengst geleitet, der ihren Weg ordnet und
!■ fie gehen oder halten läßt, wie es ihm gefällt. Seine Herrschaft zeigt sich als sehr
bedeutend, obschon durch den Vortheil der ganzen Heerde beschränkt. Kommt es zum
Kampf, so ist er der erste, der sich den Gefahren preis gibt. Auch trifft er offenbar
die nöthigen Anstalten, wenn Menschen oder Wölfe einen Angriff machen. Außer-
dem ist er erstaunlich wachsam und thätig; er macht häufig die Runde um seine
Heerde; entdeckt er ein Pferd außer der Reihe, eines, das hinten drein kommt, so
gibt er ihm einen Stoß mit der Schulter und nöthigt es, seine gehörige Stelle ein-
zunehmen. Der ganze Zug geht daher fast so regelmäßig, wie bei unseren abge-
richteten Neitereipferden. Alle weiden reihenweise in Zügen, indem sie verschiedene
Abtheilungen bilden, die sich nie vermischen, aber auch nicht von einander trennen.
Es scheint, als sage ihnen ein geheimer Naturtrieb, daß ihre Kraft nur in der
Vereinigung von Vielen liege. Wenn sie daher ein Wolf oder ein anderes Raub-
thier bedroht, so stellen sie sich gleich im gedrängten Kreise auf, und wird eines die
Bente desselben, so ist es meistentheils das schwächste, das nicht Kraft genug hatte,
zu entfliehen, das zu langsam fortkam, wo cs nöthig war, sich zur gemeinsamen
Vertheidigung aufzustellen.
Jeder solche Hengst verdankt seine hohe Würde der eigenen Kühnheit und be-
hauptet sie, wie man weiß, gegen vier oder fünf Jahre. Wird ein solches Thier-
schwach oder unthätig, so springt ein anderes, das nach der Herrschaft trachtet und
sich seiner größeren Kraft bewußt ist, aus der Heerde heraus und greift ihn an.
Wird er nicht besiegt, so bleibt er an seinem Posten; ist er gedemüthigt, so tritt er
beschämt in die allgemeine Heerde zurück, und der Sieger übernimmt den Oberbefehl
und wird als Herr anerkamstll.
Sie stammen wahrscheinlich von den großen Hochebenen Mittelasiens ab und
haben sich mit den Menschen in alle Welttheile verbreitet. In Amerika und dem
fünften Welttheile, Australien, gab es vor Entdeckung dieser Länder durch die Euro-
päer keine Pferde.
In den weiten Ebenen und Wüsten südlich vom La Platastrom in Amerika
findet man diese herrlichen Thiere im Ueberfluß. Alle stammen von den zahmen ab,
welche durch die Spanier eingeführt wurden und sind jetzt völlig verwildert. Im
wilden Zustand bekommen die Pferde einen dicken, unförmlichen Kops, längere zottige
Haare, dickere Füße, und werden kleiner und unansehnlicher. Fängt man sie ein, so
bleiben sie lange Zeit wild und unbändig, tückisch und boshaft. Die wilden Pferde
suchen die zahmen an sich zu ziehen; kaum werden sie dieselben gewahr, so springen
sie im Galopp ans dieselben zu und wiehern ihnen entgegen. Gewöhnlich dauert es
nicht lauge, so reißen sich die zahmen los, vereinigen sich mit den wilden und denken
nicht mehr an ihre Ställe. Greift man jedoch die wilden Pferde an, so sind sie
keineswegs zu fürchten. Stärker als die meisten andern Wesen im Walde und auf
der Ebene, beginnen diese edeln Thiere dennoch nie Feindseligkeiten. Nur selbst be-
leidigt, verachten sie entweder ihren Feind und eilen ihm aus dem Weg, oder schlagen
ihn mit ihren Husen nieder. Die Furcht ist ihnen fremd, aber aus Liebe zur Ge-
selligkeit vereinigen sie sich in Heerden und gewinnen einander gegenseitig so lieb,
daß, wenn sie in der Gefangenschaft auch noch so weit von einander verkauft werden.
««WWW
105
sie doch immer wieder einander aufsuchen, wenn es ihnen gelingt, zu entfliehen.
Da Gras und Pflanzen, die Knospen der Bäume und deren Rinde ihre Nahrung
ist, so bekriegen sie weder andere Thiere, noch sich selbst. Darum lebeu sie in Frie-
den, ihre Bedürsniffe sind mäßig, und einen Gegenstand des Neides kennen sie nicht.
Durch die Pflege des Menschen erhält das Pferd eine edlere Gestalt, wird sanft,
folgsam, treu und zutraulich gegen den Menschen.
Das Pferd zeichnet sich, was seine Geisteskräfte betrifft, durch klare Auffassung
/'-..und treffliches Gedächtniß aus; seine ganze Bildung gründet sich auf die Aneignung
des Unterrichts, den es empfangen hat. Das Pferd kann gewöhnt werden, daß es
den Donner des Geschützes nicht fürchtet. Es lernt die Worte und Winke seines
Führers verstehen und beachten. Es kennt die Wege, die es einmal gemacht hat,
genau wieder, so wie den Stall, in welchem es einmal gefüttert worden ist. Es
bringt seinen Reiter in finsterer Nacht zu seiner Wohnung zurück; seiner Kenntniß
des Wegs gewiß, widersetzt es sich an einem Scheidewege fast starrsinnig, wenn es
auf den unrechten Weg geleitet wird; eben so eigensinnig aber will cs immer wieder
einkehren, wo es einmal eingekehrt hat; es ist, wie wenn es glaubte, der Reiter
kenne das Haus nicht so gut, als es dasselbe kennt. Die Pferde eines Reiterregi-
ments beachten genau abgemessene Schritte, kennen ihre Nebenpferde genau, stellen
sich nur neben ihre gewohnten Nebenpferde in Reih und Glied. Trommel- und
Trvmpetenschall hören sie mit Wohlgefallen, denn sie scharren bei demselben mit den
Vordcrsüßen und werden freudig erregt. Ein Pferd geht durch ein trübes Wasser
nie anders, als prüfend, durch helles ohne Bedenken; oft kann man eS durch ein
trübes nicht hindurchbringen.
Wunderbar find die Abarten, welche durch die Auferziehung dieses Thierge-
schlechtes unter dem Dach des Menschen hervorgebracht wurden. Einige sehen wir
zu der Größe eines Rehes verkleinert, andere haben die Höhe eines Dromedars
bekommen; bald haben sie die Anmuth und Leichtigkeit des Hirsches, bald die Schwer-
fälligkeit, das Gewicht und fast auch das Aussehen einer Kuh. Einige Arten haben
einen kleinen, niedlichen Kopf, lebhafte Augen und vorwärts gehende Ohren, andere
im Gegentheil haben einen dicken Kopf und dumme Augen und große Ohren, und
, enge, verschlossene Nüstern. Manche haben glattes, weniges Haar, andere sind rauh,
haben viele, wohl gar lange, seidenartige Haare. Alle endlich aber zeigen die
mannigfachsten Farben, welche aus der Mischung von weiß, roth, schwarz, gelb ent-
standen sind und in den verschiedensten Verhältnissen und Schattirungen vorkommen.
Gehörige Behandlung entwickelt die Kräfte dieser Thiere in bedeutendem Maß.
Ein gutes arabisches Pferd kann in vier und zwanzig Stunden fünfzig Stunden
zurücklegen, ohne abgezäumt zu werden, und hält zwei Tage aus, ohne zu trinken,
und ohne etwas anderes, als schlechte Kräuter zu freffen. Bei Sonnenuntergang
aber hängt der Araber seinem Pferd einen Sack mit Gerste über den Kopf, den es
die Nacht über ausfrißt. Zum Ziehen verwendet er es nie. Die Tartaren traben
viele Tage, ohne länger zu halten, als zur Fütterung mit ein wenig Gras ihrer
Steppen nöthig ist. Einige englische Wettrenner liefen bis auf achtzig Fuß in der
Sekunde, eine Schnelligkeit, die fast dem Fluge der Vögel gleich kommt.
Wie weit die Bildungssähigkeit solcher Thiere geht, wird man bei den Pferden
der sogenannten Kunstreiter gewahr, welche in der Wahl und Behandlung der ein-
zelnen Thiere Meister sind; die Abrichtung derselben ist übrigens keineswegs erst ir
neuerer Zeit ausgekommen.
106
„'s ist Alles in Ordnung!" berichtete der Hausknecht dem Kunstreiter Baptist,
der im Wirthshaus einer kleinen Stadt angehalten hatte. „Hat dir denn auch der
Hausknecht zu saufen gegeben?" fragt jetzt der Künstler sein Reitpferd; und zum
großen Erstaunen der Gäste, die das schöne Roß bewundert hatten, zum noch grö-
ßeren Erstaunen des Hausknechtes schüttelt das Thier lang mit dem Kopf, daß
endlich der beschämte Johann ausruft: „Nun, an Alles kann man nicht denken!
Ich würde schon noch Wasser gebracht haben!" Alle Umstehenden lachten, als er
jetzt mit demselben herbeieilte, verwunderten sich aber auch nicht wenig über die
vermeintliche Klugheit des Thieres, das die Nachlässigkeit und Lüge des Hausknechts
so augenscheinlich verrathen hatte. Es verhielt sich aber mit dem Kopfschütteln des
Pferdes so: das Pferd Baptists, der dies in seinen Schriften selbst erzählt, verstand
jene Frage seines Herrn eben so wenig, als ein anderes, aber es war abgerichtet,
auf gewisse ihm gegebene Zeichen mit dem Kopf zu schütteln, oder mit demselben
zu nicken, mit dem Huf zu scharren u. s. f., und darin besteht überhaupt das Ge-
heimniß bei allen. Pferden, welche die ihnen vorgelegten Fragen bejahend oder ver-
neinend, oder mit dem Huf des Borderfnßes kratzend zu beantworten scheinen. Die
Türken richten ihre Pferde ab, daß sie auf des Reiters Wort die Kniee beugen und
ihn aufsteigen lassen, mit dem Maul einen Stock oder Säbel aufheben und ihn
ihrem Herrn darreichen.
Es ist dieses unschätzbare Thiergeschlecht auf der ganzen bekannten Erde ver-
breitet. Jedes Land hat seine besondere Art, deren Charakter von der örtlichen Be-
schaffenheit desselben und den Bedürfnissen der Einwohner abhängt. Besonders haben
sich die Araber bemüht, die Kraft, die Schnelligkeit, die Gelehrigkeit des Pferdes zu
entwickeln und zu erhalten; daher die unglaubliche Geschwindigkeit und Ausdauer,
womit man ihre feurigen Rosse die brennenden Sandwüsten durchfliegen sieht; daher
kommt auch die Leichtigkeit und Gelenkigkeit, mit der sie wie Hirsche über Hecken,
Gräben und Zäune wegsetzen, und wenn ihr Reiter zufällig einmal herunterfällt,
auch im flüchtigsten Galopp sogleich anhalten und fest stehen. Legt er sich zum
Schlaf nieder, so wacht sein Pferd neben ihm und weckt ihn durch Wiehern, sobald
Thiere oder Menschen ihm nahe kommen. Kaum findet man einen Araber, und sei
er auch noch so arm, der nicht eines dieser Lieblingsthiere besäße, mit dem er Nah-
rung und Wohnung theilt. Er hat keine andere Wohnung als sein Zelt; aber da
schlafen er, sein Weib, die Kinder, seine Stute und ihr Fohlen friedlich zusammen,
und die kleinen Knaben sieht man da oft furchtlos auf die harmlosen Thiere hinauf-
kletteru, die gern gestatten, daß man mit ihnen spielt, und die, ohne Schaden zu thun,
sich liebkosen lassen. Ein Araber schlägt aber nie sein Pferd, sondern behandelt es
wie ein Kind, immer liebreich und verständig; er spricht mit ihm und scheint mit
demselben freundschaftlichen Umgang zu haben, und der treue Diener zeigt gleiche
Anhänglichkeit an seinen Herrn.
on der Anhänglichkeit des Arabers an sein Pferd zeugt folgende Geschichte:
er ganze Reichthum eines Arabers der Wüste bestand in einer Stute. Der
ische Consul erbot sich, sie ihm abzukaufen, um sie seinem König, Ludwig XIV.,
zu ichicken. Der Araber würde einen solchen Vorschlag mit Verachtung und Un-
willen zurückgewiesen haben, wenn er nicht so bitterlich arm gewesen wäre, daß ihm
die nöthigsten Bedürfniffe des Lebensunterhaltes fehlten. Er zögerte, obgleich er
kaum einen Lappen hatte, sich zu bedecken. Die angebotene Summe war groß, sie
hätte ihn mit Lebensunterhalt für immer versorgt. Endlich willigte er, jedoch prit
107
Widerstreben ein. Er brachte das Pferd nach der Wohnung des Consuls, stieg ab,
lehnte sich auf das Pferd, sah bald das Gold, bald seinen Liebling an; er seufzte,
er weinte. „An wen" — sagte er — „soll ich dich verkaufen? An Europäer, die
dich kurz anbinden, dich schlagen, dich elend machen werden? Kehre zurück mit mir,
mein Kleinod, mein Juwel, erfreue die Herzen meiner Kinder!" Nach diesen Worten
schwang er sich ans den Nucken des Pferdes und war im Augenblick aus dem Ge-
sichtskreise des Consuls verschwunden.
Wohl sollte diesen edlen Thieren, diesen treuen Dienern und unschätzbaren Ge-
hülfen des Menschen mit der größten Güte begegnet werden. Zwar kann man sic
durch Gewalt zum Gehorsam zwingen, aber sie verlieren dann zu gleicher Zeit ihre
unschätzbarsten Eigenschaften: ihr Feuer, ihren Muth, ihre Gelehrigkeit, ihre Klug-
heit. Man sehe nur, wie verschieden ein solches Thier, welches stets unter der
Peitsche steht, von dem ist, das von gewandter, einsichtsvoller und freundlicher Hand
geleitet wird. Dies letztere wird seinen Herrn lieb haben und sich freuen, wenn es
seine Befehle vollzieht. — Der Gerechte erbarmet sich seines Viehes, aber das Herz
der Gottlosen ist Unbarmherzig. Sprüche 12, 10.
—— //. „
51. Eine Fandstraflenbetrachtnng.
Unlängst wanderte ich Abends meiner Heimat zu und die Nacht
überfiel mich, da ich noch draußen auf der Straße war. Wie es
nun so geht, wenn einer allein seines Weges hinpilgert, sonderlich
in der Stille und unter den Sternen des Abends, daß ihm allerlei
Gedanken durch den Kopf laufen, so kam auch mir über meinem
Weg Manches in den Sinn, was ich zuvor am Tag nicht so bedacht
hatte.
Die Landschaft umher war dunkel. Um so mehr stach dagegen
die weiße Straße ab, die sich als ein breiter, heller Streifen auf
. eine ziemliche Entfernung vor mir ausdehnte. Da dachte ich, wie
doch das lange Ding sich das ganze Thal hinab und weit, weit übers
Land hinziehe, und welchen großen Theil des Bodens sie wohl ein-
nehmen möge. „Ist wohl", so fragte es mich unvermuthet, „ist
wohl auf dieser weiten Strecke auch schon von Menschen gebetet
worden?" Der geneigte Leser denkt, das sei eine sonderbare Frage.
- Ich dachte auch so etwas, aber antworten mußte ich: „auf diesem
Boden vielleicht stundenweit niemals." Aber geflucht? fragte michs
weiter. O da mag hier kein Schritt breit Bodens sein, worauf das
nicht schon mannigfach und in himmelschreiender Weise geschehen wäre!
Ueberhaupt wenn diese Steine reden könnten, von was würden sie
wohl zeugen? Ueber diese Frage ward mirs, als erwachten tausend
Töne und Stimmen; ich hörte knallen und schlagen mit Geißelhieben
und Geißelstöcken, fitzen und stauchen, treiben, schreien und fluchen
108
— und das kam von Menschen. Dazwischen hinein vernahm ich
ein Seufzen und Stöhnen, wie mans sonst nicht hört; es klang wie
schmerzliches Bitten und jammervolles Klagen, wie ein Beten sprach-
loser Kreatur zu ihrem Schöpfer und Herrn, und das kam von
Thieren. Jetzt traten mir alle die armen, geplagten Pferde vor
die Augen, denen dieser Weg der tägliche Kreuz- und Jammerpfad
ist, auf dem sie von ihren Herren und deren Knechten erst muth-
willig verdorben, und dann, wenn sie verdorben sind, unbarmherzig
mißhandelt und zu Tod getrieben werden; die ausgehungerten und
abgearbeiteten Gerippe, denen der hohe, schwankende Bretterwagen
von der Donau zum Neckar sein klägliches Jammerlied nachseufzt,
die wundgetriebenen Geschöpfe, denen das Kummet oder der Sattel
im frischen Fleische spielt, die erbarmungswürdigen Trippler vor den
vollbepackten Kutschen, denen bei jedem Schritt das Knie zittert,
und deren Auftreten so jammervoll bescheiden ist, als brennte ihnen
der Boden heiß unter den Hufen, — nun der Hauderer hält sie ja
hübsch aufrecht durch Zerren und Herausreißen und Peitschenmah-
nungen, von einer Station zur andern, von Stuttgart nach Ulm,
und von Ulm nach Stuttgart, und ist das Thier hin, denkt er, so
ist ja nicht viel hin! — Hier, wo der Güterweg neben hinein geht,
war es, wo ich vor nicht langer Zeit einen Fruchtwagen hinunterfah-
ren sah; der Wagen war vollgeladen, der Knecht aber noch voller
und hatte sich vermuthlich zu lang aufgehalten, so mußte es denn im
Hellen Galopp von der Stadt hinausgefahren sein; die jungen Rosse
waren ganz außer sich über dem wilden Hetzen und der unordentlichen
Führung, und da sie nicht wußten, wo es brannte, folgten sie hier, .
wohin der Bursche zerrte, nemlich den Stich daneben hinunter, und
drunten steckte jetzt der Wagen. Was gabs da für ein Peitschen über
die Köpfe, Prügeln auf die Knochen, Mißhandeln und Schreien über
die Thiere hinein! Warum? Weil sie in aller Unschuld gefolgt
waren, wohin der tolle und volle Führer sie gerissen, und weil sie
vermuthlich hätten besser als er verstehen sollen, was sich gehörte. —
Und komme ich dort nicht an das Brücklein, wo ich unlängst aufge-
halten wurde, weil an einem Güterwagen ein alter, abgedienter Gaul
gefallen war? Zweimal versuchte das Thier auf den kräftigen Zu-
spruch der Peitsche sich wieder aufzuraffen, um in seinen harten Dienst
zurückzukehren, aber unmächtig stürzte es wieder zusammen; und nun
— wenn ich nur den Menschen wieder aus meinem Sinn bringen
könnte, der jetzt mit seiner heiseren Stimme über das in seinem Dienst
109
. sterbende Geschöpf alle Wetter des Himmels und alle Plagen der
Hölle hineinfluchte, und da das Thier sein mattes Auge noch einmal
nach ihm erhob, mit einem schallenden Fußtritt auf die Nase, und
im bittern Lachen der Wuth schrie: „so, schau mich auch noch einmal '
an, ehe du hin bist!"
Wind und wehe ward mir auf meiner Straße, wie Geister
umseufzten mich die Seelen der hier zu todt geplagten Thiere, und
schienen sich wie vor einem Gericht in Schaaren zu sammeln, als
Kläger wider die Rohheit und Kargheit der Menschen!
52. Die seufzende Kreatur.
Wir mögen stehen und gehen, wo und wohin wir wollen, fast
überall haben wir Gelegenheit wahrzunehmen, wie die unvernünftige
Kreatur von den Menschen mißhandelt wird; und zwar sind es mei-
stens gerade die nützlichsten Thiere, die diese Mißhandlung zu er-
fahren haben. Bald hören wir das Schmerzensgeschrei eines für die
Schlachtbank bestimmten Kalbes, das vom Metzger hin und her. ge-
zerrt, gestoßen, getreten, und von dem Metzgerhund überall gepackt
und gebiffen wird; bald das ängstliche Schnattern einer Schaar Gänse,
die von muthwilligen Buben gejagt, geworfen, geschlagen, in die
Enge getrieben und endlich ihrer unreifen Federn beraubt werden.
Aber nicht bloß böse Buben, sondern manche Hausfrauen selbst, die
doch den Werth dieser Thiere zu schätzen wissen, mißhandeln dieselben
auf eine harte Weise durch jämmerliches bis in den späten Herbst
fortgesetztes Berupfen, so daß die armen Thiere, denen wir die war-
« men Betten verdanken, zitternd vor Kälte, blutend an Brust und
Bauch, in einer Körperstellung herumschleichen, die deutlich genug
zeigt, wie arg mit ihnen umgegangen worden-ist/ Ein neues Leiden
wartet auf die armen Thiere, wenn sie zum Abschlachten zubereitet
werden; sie werden auf die widernatürlichste Weise so voll gepfropft,
daß sie sich nicht mehr zu rühren vermögen und alle Augenblicke in
Gefahr kommen zu ersticken, ehe das Messer ihren Qualen ein Ende
macht. Noch trauriger ist das Schicksal vieler Pferde. In den besten
Jahren werden sie Berg auf Berg ab und auf der Ebene gejagt,
gepeitscht, bis endlich die steifen Gelenke den Dienst versagen. Dann
kommen sie unter die derben Fäuste der Karrenfuhrleute, die zu arm
sind, diese Thiere ordentlich zu füttern, nichts desto weniger aber
ihnen Lasten zu ziehen geben, welche für junge und wohlgenährt
Thiere schwer genug wären. Mills dann nicht gehen, so wird gefluch
110
und geschlagen, bis endlich das an Hals und Kreuz geschundene,
wundgedrückte Thier dem Abdecker anheimfällt, wenn es nicht vorher
unter den Mißhandlungen seines Peinigers auf offener Straße eines
1 jähen Todes stirbt.
Man sieht oft solche unglückliche Geschöpfe zitternd vor Hunger
^ und Kälte Stunden lang in Sturm und Regen vor den Wirths-
häusern am Wagen/, stehen, während der liederliche Eigenthümer bei
Schnaps und Kartenspiel in der warmen Stube sitzt. Meistens be-
halten solche Bursche gerade nur noch so viel Gedanken übrig, um
zu wissen, daß sie die Herren der Pferde sind, und geben dies durch
unbarmherziges Zuschlagen auf die armen Thiere und unsinniges
Fluchen zu erkennen.
Wie die Erwachsenen an großen Thieren, so versündigen sich
' die Kinder an kleineren Geschöpfen, an Vögeln, denen sie die Eier
oder die Jungen rauben, an Fröschen, denen sie die hinteren Beine
bei lebendigem Leibe abschneiden, und es einem mitleidigen Storch
überlassen, den Qualen dieser verstümmelten Geschöpfe ein Ende zu
machen.
Z1 Die tausendfach geplagte Kreatur findet selten einen Rächer
unter den Rauschen; aber der, der das Schreien der Raben hört,
vernimytt auch das Seufzen der mißhandelten Geschöpfe und wird die
Quäler auch ^ür . diese Unthaten zu finden wissen.
''
53. Wie ein Hund sein Krod theilt mit einem Kinde.
/ Die Thäler der Gebirge in Hochschottland werden vornemlich
von Hirten bewohnt. Der Weideplatz eines jeden aber ist so groß,
daß er die ganze zerstreute Heerde nicht zu überschauen vermag. Er
durchwandert daher jeden Tag mit seinem getreuen Hunde die Grenzen
! seines Gebietes, um die Ausreißer, welche dem Gebiete des Nachbars
zu nahe kommen, einzuholen. Bei einer solchen Wanderung hatte ein
Schäfer seinen kleinen Knaben von etwa drei Jahren mitgenommen,
i, Als sie den Weidebezirk in Begleitung des Hundes zum großen Theil
1' durchstrichen hatten, stieg der Hirte einen steilen Felstu hinauf, um
P' die zerstreute Heerde zu überblicken. Aber das Kind ließ er unten
| an einem sichern Orte und schärfte ihm ein, sich ja nicht zu ent-
|i fernen, bis er wieder da wäre.
jr /j Kaum war er auf der Spitze des Felsen, so wurde der Himmel
¡1 von einem dicken, undurchdringlichen Nebel umzogen, wie sie häufig
und schnell in diesen Gebirgen zu kommen pflegen, daß auch nicht das
Ili
Mindeste zu sehen war. . Der besorgte Vater eilte nach seinem Kinde;
allein bei der Dunkelheit und seiner Angst verfehlte er den Weg. Er
suchte mehrere Stunden lang in den gefährlichen Moorgründen und
unter den Wasserfallen umher, bis ihn die Nacht übereilte. Immer
wanderte er weiter, ohne zu wissen, wohin; endlich kam er aus dem
Nebel heraus und entdeckte, daß er nicht weit von seiner Hütte sei.
In der Nacht weiter zu suchen, war unmöglich; aber kaum dämmerte
der Morgen, so brach er von seinen Nachbarn begleitet auf; den
ganzen Tag kletterte und suchte man umher, aber kein Kind wurde
gefunden.
/) Indessen war der Hund nach Hause gekommen, hatte sein Haber-
J brod erhalten, war damit gleich davon gelaufen und nirgends zu sehen.
Alle Tage erneute der Vater mit zerrissenem Herzen sein Forschen;
aber Alles umsonst. Doch, wenn er-am Abend in die Hütte trat,
erfuhr er, daß der Hund da gewesen war, sein Haberbrod bekommen
habe und gleich wieder verschwunden sei. Dies fiel ihm auf, und als
der Hund wieder kam, ging er ihm auf der Stelle nach.
Das treue Thier leitete ihn zu einem Wasserfall, und zwar nahe
7cm dem Punkte, wo der Vater das Kind verlassen. Es war ein
schrecklicher Ort. Auf beiden Seiten hohe Klippen; oben näherten
sie sich einander und wurden nur durch einen furchtbar tiefen Abgrund
getrennt. Längs eines der steilen Pfade eilte der Hund hinunter und
lief endlich in eine Höhle, deren Eingang mit dem tobenden Wasser-
fall zieinlich eine Höhe hatte. Der Schäfer folgte mit vieler Mühe
nach, und wie er hinein kam, welches Gefühl ergriff ihn da! Er sah
sein Kind, das Brod essen, welches ihm der Hund gebracht hatte,
und das trene Thier saß vor ihm und hatte mit größtem Wohlgefallen
das Auge auf seinen jungen Pflegling geheftet.
Unstreitig war, als der Vater so lange ausblieb, das Kind au
den Rand des Abgrundes gegangen und hinuntergestürzt, oder an
dem Felsen binabgeklettert, bis es in die Höhle kam; die Furcht vor
dem Wasserfalle aber hinderte es glücklicherweise, aus dieser hervor-
zugeben. Der Hund hatte mittelst des Geruchs die Spur des Kindes
entdeckt und es treu gegen das Verhungern geschützt, indem er ihm
sein eigenes Futter brachte. Tag und Nacht schien er das Kind nicht
verlassen zu haben, außer wenn er das Brod holte, unt> dann sah
niciii ihn in vollem Laufe aus der Hütte eilen.
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V
54. Der kleine Friedensbote.
Eph. 4, 26.
Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die
gelbe und weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Ger-
ber ein Kind geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe, und
wenn der Bäcker in seinem großen Obstgarten an die Stelle eines
ausgedienten Invaliden einen Rekruten bedurfte, ging der Gerber in
seine schöne Baumschule und hob den schönsten Mann aus, den er
darin hatte, eine Pflaume, oder einen Apfel, oder eine Birne, oder
eine Kirsche, je nachdem er auf diesen oder jenen Posten, auf einen
fetten oder magern Platz gestellt werden sollte. — An Ostern, an
Martini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, welche keine Kin-
der hatte, immer, einen großen Korb unter dem Arme, zu den Nach-
barsleuten hinüber und theilte unter die kleinen Pathen aus, was
ihr der Hase, oder der gute Märte, oder gar das Christkindlein selbst
unter die schneeweiße Serviette gelegt hatten. — Je mehr sich die
Kindlein über die reichen Spenden freuten, desto näher rückten sich
die Herzen der beiden Weiber, und man brauchte keine Zigeunerin
zu sein, um aus dem Satz in ihren Kaffeeschalen zu prophezeien,
daß sie einander immer gut bleiben würden.
Aber ihre Männer hatten ein jeglicher einen Hund, der Gerber
als Jagdliebhaber einen großen, braunen Feldmann und der Bäcker
einen kleinen, schneeweißen Wächter. Beide meinten die besten und
schönsten Thiere in ihrem Geschlechte zu haben. Und da geschah es
denn eines Tages, daß Wächter ein Kalbsknöchlein gegen den Feld-
mann behauptete. Denn er hatte wahrscheinlich vergessen, daß es
nicht, gut sei, einem großen Herrn Etwas abzuschlagen. Vom Knur-
ren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner grünen
Bank vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein mit zer-
malmtem Genick vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten
Knochen und mit eingezogenem Schweif davon. Sehr ergrimmt und
entrüstet warf der Herr des Erwürgten dem Raubmörder einen ge-
waltigen Stein nach. Aber was halfs? Die Handgranate flog
nicht dem Hunde an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das
Fenster, mitten auf den Tisch, an dem er gerade die Zeitung las.
Ohne zu fragen, woher der Schuß gekommen sei, riß der Gerber
den zertrümmerten Fensterflügel auf und fing an zu schimpfen. Der
113
Nachbar in der weißen -Schürze und mit den aufgestülpten Hemd-
ärmeln blieb Nichts schuldig. Doch verließ er den Kampfplatz zuerst,
aber nur um seinen Nachbar bei Gericht zu belangen. Die Sonne
ging über dem Zorn der beiden Männer unter, und den Tag darauf
wurden sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurtheilt, den
todtgebisfenen Wächter mit einem Reichsthaler zu büßen, da doch,
wie er sich als Jagdliebhaber ausdrückte, der kleine Schacker nicht
einen Groschen werth gewesen sei. Der Bäcker mußte für den zer-
trümmerten Fensterflügel und das Loch in der Zeitung nicht viel
weniger bezahlen und sich mit seinem Widerpart in die angelaufenen
Sporteln theilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft
y befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freundliches
Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die
Nachbarin ihren Weg rechts, saß der Bäcker im Posthause außen in
der Stube beim Bier, so nahm der Gerber seinen Platz im Kabinet.
Für den ganzen schuldlosen Theil, für die Kinder des Gerbers, ga-
ben weder der Osterhase, noch der gute Märte, noch der heilige
Christ durch die Frau Pathin mehr Etwas ab.
■ So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten,
^ setzten sich der Gerber und seine Hausfrau Nachmittags an den Tisch,
um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade
herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm,
der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief so-
gleich: „Mutter, einen Groschen! ich hole das Brod." Dann wandte
er sich 'in seiner kindlichen Eilfertigkeit an den Vater und sagte:
„heut aber lauf ich nicht lange herum, und wenn es beim Thorbäcker
kein Brod gibt, geh ich wieder einmal zu dem Herrn Pathen hinüber."
Der Gerber, der vielleicht die anklopfende Gnadenhand des Herrn
spürte, sagte nicht „Ja" und nicht „Nein" darauf und ließ den kleinen
Unmuß ziehen. Im ersten Brodladen hatten aber die Wecken schon
alle ihre Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Thor herein,
laut singend, wie es manchmal lebhafte Kinder mit ihren Gedanken
zu machen pflegen, daß es die ganze Gasse hören konnte: „heut geh
ich zum Herrn Pathen! heut geh ich zum Herrn Pathen!" Un-
gehalten über den argen Schreihals, wollte sein Vater ihm wehren.
Aber ehe er noch das verquollene Fenster aufbringen konnte, war der
kleine Sänger schon zum Hause des Bäckers hinein, und — kehrte
"ach* einigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des
Lesebuch.
8
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-r
Oelzweigs hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand und tief,
über die Schwelle in die Stube herein stolpernd: „der Herr Pathe
läßt Vater und'Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald wieder
kommen."
Noch an dem nemlichen Abend wechselten die Nachbarsleute
einige freundliche Worte über die Gasse, am folgenden saßen die
weiße und gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen,
am dritten zeigten die Weiber einander die Leinwand, zu der sie in
den bösen drei Jahren oft mit ihren Thränen über den unseligen
Zwist den Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt
hatte. Denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet
schnell in einen Nervenfieberschlaf, und aus diesem nach wenigen
lichten Angenblicken in den Todesschlummer. — Gott gebe ihm eine
fröhliche Urständ! Amen. /. - # ^6.
55. Der Walslfchfang.
Der Walfischsang geschieht auf folgende Weise. Ein eigens dazu aus-
gerüstetes Schiff zieht im Sommer denjenigen Gegenden der Polarkreise zu,
wo man Walfische vermuthet. Oft find die Schiffer dabei in Gefahr, von
schwimmenden Eisbergen eingeschloffen oder gar erdrückt zu werden; aber un-
ablässig in Verfolgung ihres Zweckes, achten sie weder die Kalte noch diese Ge-
fahr, und ein des Walfischfanges Rüdiger Steuerinann hält immer auf dem
Mastkorbe Wache, um nach diesen Thieren auszuspähen. Sobald er einen in
der Ferne entdeckt, was am b.sten durch das Spritzen des Thieres geschieht, so
gibt er leise ein Zeichen, und alle Mannschaft muß nun thätig sein. Zwei
Boote werden in aller Schnelle ausgerüstet, um nach der Gegend hinzusteuern,
wo der Walfisch bemerkt wurde, während im Schiffe selbst Alles zur Aufnahme
des erlegten Thieres vorb reitet wird. In den beiden Booten, welche auf Oie
Verfolgung des Walfisches ausgingen, sind die gewandtesten Ruderer, ange-
führt von dem Harpunier, welcher die Harpune in der Hand mitten im Boote
steht, um jeden Augenblick fertig zu sein. Die Harpune ist ein etwa drei Fuß
langer Wurfspieß, welcher an fernem äußersten zugespitzten Ende scharfe Wider-
haken hat, hinten aber so an- ein langes Sei! befestigt ist, daß er bei keiner Be-
wegung des Walfisches das Seil dreht. Dieses Seil liegt wohlgeordnet im
Raume des Bootes und läuft, wenn die Harpune abgeschleudert ist,' über eine
hölzerne Rolle, aus der es nicht ausweichen kann, denn hiedurch könnte bei
dem schnellen Ablaufen des Seils irgend einer von der Mannschaft verun-
glücken, wenn das Seil ihn packte und quetschte. Das zweite Boot ist in gleicher
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Weise bemannt, und sind diese beiden Boote zu klein, um die gehörige Maffe
Seile zu fassen, so schickt man gern noch ein drittes hinten drein, welches mit
Seilen beladen diesen im Falle der Noth zu Hülfe kommen soll. Außerdem
befinden sich in diesen Booten noch mehrere lange Lanzen. Rasch, aber mit
' möglichst leisen Ruderschlägen, nähert sich das Boot dem Walfisch, und sobald
eS auf Wurfweite angekommen ist, schleudert der Harpunier sein Geschoß ab,
und diesem folgt, wenn er etwa fehlte, oder die Harpune bei der ersten Be-
wegung des Wales ausriß, der Harpunier des zweiten Bootes. Sobald der Wal
die Harpune empfindet, macht er eine rasche Bewegung vorwärts und stürzt
sich nun mit voller Gewalt, um seinen Feinden zu entgehen, in die Tiefe des
Meeres; diese Gewalt ist oft so ungeheuer, daß das Thier seinen Unterkiefer
am Meeresgrund zerschellt; begreiflicherweise wird das Seil der Harpune da-
durch sehr schnell abgerollt und muß immerfort mit Wasser begoffen werden,
damit es sich an der Rolle nicht erhitze. Um möglichst Seil zu sparen, rudern
jetzt die Leute im Walfischboot so schnell als sie können, denn reißt das Seil, was
besonders dann geschieht, wenn der Walfisch sich unter Eisberge begibt, so ist
Alles verloren. Nach etwa zehn Minuten kommt der Walfisch empor, um Luft
zu schöpfen, und wird dann nochmals harpunirt; jetzt aber tobt er fürchterlich,
peitscht das Wasser rings umher in Schaum und bläst, wenn er schwer ver-
wundet ist, Blut aus seinen Blaselöchern. Die Erschöpfung erlaubt ihm jetzt
nicht mehr oder nicht lange unterzutauchen. Die Boote aber bleiben immer,
jedoch mit der gehörigen Vorsicht, in seiner Nähe und steuern endlich, sobald
er matt geworden, auf ihn zu, um ihn mit langen Lanzen vollends zu erstechen.
Blut und Thran entquillt nun seinen Wunden, so daß das Meer sich ringsum
roth färbt, und der ungeheure Leichnam schwimmt aus dem Wasser. Eine
Siegesflügge wird jetzt auf ihm befestigt, und er wird mit vereinten Kräften an
das Schiff hingezogen, das dieser Jagd in ziemlicher Entfernung folgte. Dort
ist jetzt Alles bereit; Speckfässer sind hergerichtet, die Speckjungcn mit langen
Messern und Steigeisen an den Füßen bewaffnet, und die Schiffswinden be-
reit, um den Koloß an der Seite des Schiffes festzuhalten und etwas heraufzu-
winden; ganz kann dies nicht geschehen, weil der Walfisch das Schiff in das
Meer hinabziehen würde. Nun steigt ein Theil der Mannschaft, die Speck-
jungen, hinab, schneidet in regelmäßigen Streifen den Speck los, andere ziehen
ihn hinauf auf das Verdeck, und die Leute im Schiffsraum sind damit beschäf-
tigt, ihn in kleinere Stücke zu schneiden und in Tonnen zu packen. Also endigt
diese gefahrvolle Jagd.
8
116
56. Der Häring.
/J Die Grundgestalt des Fisches ist die eines Kahnes; sein Schwanz ist das
Ruder und die Flossen dienen zum Steuern. Leicht ist die Bedeckung seiner
Haut, schlüpfrig der ganze Körper, zugespitzt der Kopf und platt der Leib an
beiden Seiten. Wie der Ballast in den Schiffen den untern Raum derselben
ausfüllt, damit sie gesichert vor dem Umschlagen durch die Fluthen gleiten, so
ist auch der kahnförmige Leib der Fische nach unten mit den Eingeweiden be-
schwert, nach oben aber meistens durch eine Schwimmblase erleichtert. Diese
liegt unter dem Rückgrat, ist mit Luft angefüllt und gewährt dem Fische großen
Nutzen. Ein leiser Druck seiner Rippen reicht hin, die in der Schwimmblase
enthaltene Luft zusammenzupreffen, den Körper dadurch verhältnißmäßig schwe-
rer zu machen und ihn plötzlich in die Tiefe hinabzusenken. Läßt der Druck
nach, so dehnt sich die Luft wieder aus, und ohne Anstrengung wird der Fisch
wie ein Ballon in die Höhe gehoben. So durchschneidet er das Waffer noch
bequemer als der Kahn, den die Hand des Menschen gezimmert, und rudert
mit den Flossen rascher als der Frosch, den die vier Ruderftangen seines Leibes
ihrer Länge wegen mehr behindern.
Unter diejenigen Fische, welche die vollkommenste Fischgestalt haben, ge-
hört der Häring. Obwohl das Meer seine Heimat ist, kennt ihn doch fast
jedes Kind. Im hohen Norden ist er ganzen Völkerschaften das tägliche Brod,
ja ihr einziger Reichthum. Seine Menge ist fast unglaublich. Die einzige
Stadt Bergen in Norwegen verschickt manches Jahr allein 300,000 Tonnen
Häringe in alle Welt. So dick und hart stehen oft die sogenannten „Härings-
berge" an den Küsten Norwegens, daß leichte Boote, wenn sie daran gerathen,
heftig erschüttert werden; so sehr werden alle Buchten zu Zeiten von ihm an-
gefüllt, daß die Leute ihn mit Händen und Eimern aus dem Meere'schöpfen,
wenn sie vorher die Buchten durch Netze, „Häringsschlösser", wie sie dieselben
nennen, abgesperrt haben. An der ganzen Küflenstrecke Norwegens wimmelts
von Menschen, wenn dieser Fisch erscheint. Ist er fortgezogen, so ist auch die
Küste, die eben noch von Häringen und Menschen so bevölkert war, öde und
verlaffen bis zu der Zeit, wo er von neuem ankommt. Dann ergreifen wieder
Tausende von Fischern das Ruoer und stoßen vom User. Mir leeren Kähnen
fahren sie hinaus, zum Sinken gefüllt bringen sie diese zurück. Und wie auf
de^Meere die Kähne sich hin und her bewegen, oft drei hundert im Umfang
enter Ekelte, so bewegen sich auf dem Lande Karren in zahlloser Menge nach
dein Ufer und von diesem zurück. Die Kähne bringen nemlich die Waare, die
ihnen das Meer gereicht, ans User; in Karren wird diese nun weiter transpor-,
tirt und zunächst in der Nähe des Strandes zu Bergen aufgehäuft. Diese le-
bendigen Berge, in denen es auf jedem Punkte zuckt und schnappt, sind, um-
117
ringt von Kindern und Frauen und Tonnen. Jene schneiden mit einem Messer
jedem einzelnen Fische die Kehle auf und reißen geschickt und rasch mit dem
Finger die Gedärme aus seinem Leibe; die Tonnen nehmen die Todten, nach-
dem sie gesalzen sind, aus; Böttcher (Kübler) schließen die Särge, und auf
Schiffen und Wagen wandert nun der Todte durch alle Welt. Woher der
Häring eigentlich kommt, ob aus den Gegenden des nördlichen Eismeers, oder,
was wahrscheinlicher ist, aus der Tiefe des Meeres überhaupt, weiß man nicht genau.
2 Die eigentlichen Wanderthiere, die zu einer bestimmten Zeit gedrängt
werden, große Reisen zu unternehmen, findet man nur in der Klaffe der Vögel
und der Fische. Unter den Fischen aber ist der Häring am wanderlustigsten.
Der Hauptzug bricht sehr frühe auf, theilt sich aber bald in mehrere Arme. Der
westliche trifft schon im März in den Buchten Islands ein. In der Nordsee
theilt sich der Schwarm wieder, und bald wimmelts in allen Buchten von dem
Grunde des Meeres bis herauf zu der Oberfläche, so daß diese von den empor-
ragenden Rücken gekräuselt erscheint. Die in dem Gedränge abgeriebenen
Schuppen sehen die Fischer schon aus weiter Ferne blinken; sie verrathen die
Stelle, wo das Netz auszuwerfen sei, das oft hundert Schritte lang ist und
zwischen zwei Schiffen niedergelassen wird. Der Laich wird von den Häringen
nicht selten in einer solchen Menge ins Meer ergossen, daß es davon sich trübt
und die Netze wie mit einer Rinde überzieht. Welch eine ungeheure Menge
von Häringseiern hat das Meer jedes Jahr auözubrüten, da ein einziger dieser
Fische 20 bis 25,000 Eier legt! Ist die Laichzeit vorbei, welche bei den zuerst
Angekommenen bis in den Brachmonat sich erstreckt, so ziehen diese weiter;
andere Schaaren kommen an ihre Stelle, um zu laichen, und verschwinden nach
¿¡f- kurzer Zeit, und so geht es fort bis in den Winter, Aber wie werden im Laufe
des Jahres die Reihen gelichtet! Milliarden sehen die Heimat nicht wieder.
Der Mensch ist cs aber nicht allein, der dem Häringe nachstellt; auch das größte
aller Thiere, der Walfisch, macht Jagd auf ihn. Mit wilder Lust verfolgt er
das geängstete Thier und jagt es in die bewohnten Buchten hinein, als hätte
er mit dem Menschen ein Bündniß geschloffen. Sein Riesenleib ist mit kleinen
Portionen nicht zufrieden, und nicht unbedeutend mag die Zahl der Häringe
sein, die sein Schlund alljährlich verschluckt. So vielen Feinoen gegenüber
schützt den Häring allein seine ungeheure Vermehrungskraft vor der Vertilgung
seines Geschlechts, wenn auch Milliarden zu Grunde gehen. Sein Fang und
Verkauf beschäftigt in Holland über.200,000 Menschen u-rd verschafft diesem
Lande,jährlich eine Einnahme von ¿0,000,000 ThÄnn.^Der Erste, welcher
(die Kunst geübt haben soll, mit Seesalz diesen Fisch zu erhalten, war ein Nie-
derländer mit Namen Beukelszoon. Es wird erzählt, daß Kaiser Karl V. die-
sem Manne zu Ehren auf dessen Grab einen Häring verzehrt habe.
118
/
57. Der Instinkt der Thiere.
Es ist etwas Wunderbares um den Instinkt (Naturtrieb), der das Thier bet
der Wahl der Mittel leitet, welche zur Erhaltung und Rettung seines eigenen Le-
bens, zur Versorgung seiner Jungen und zum Wohl des großen Ganzen der sicht-
baren Welt dienen. Das Thier spielt, ganz anders als der Mensch, sogleich von
seinem Eintritt in die Welt an seine Rolle mit vollkommener Fertigkeit.
Ein Hühnchen, das nicht von der Mutter, sondern von der Lampenwärme eineö
kleinen, künstlichen Brutofens ansgebrütet war, erblickte, als eS so eben sich aus der
Schale des Eies herausgearbeitet hatte, eine Spinne, sprang sogleich auf dieselbe
hinein und ergriff sie so geschickt, als ob es schon lang im Jnsektenfang geübt wäre.
Wenn die Jungen der Seeschildkröte in dem Bette des Sandes, das ihre Geburts-
stätte war, aus dem Ei gekrochen find, dann eilen sie sogleich in gerader Richtung
auf das Meer zu. Mau mag sie während dieses Laufes drehen und wenden, wie
man will, kann sie hinter Mauern und Sandhügel verstecken, die ihnen den geraden
Weg abschneiden: immer wenden sie sich wieder der Richtung nach dem Meere zu.
Umgekehrt gehen die Jungen der Landkrabbe, die sich im Wasser aus dem Ei ent-
wickelt haben, bald nach ihrer Geburt heraus ans Land und suchen hier sich eine
Umgebung auf, die für ihren Lebensunterhalt die angemessenste ist. Kaum ist die
Ameise aus ihrer Puppenhülle (dem sogenannten Ameisenei) gekrochen, da geht sie
auch ungesäumt, wenn sie vom Geschlecht der Arbeiterinnen ist, mit ihren älteren
Genossinnen auf das Geschäft des Sammelns und Eintragens von Nahrungsstoffen
für die hülflosen, kleinen Larven ihrer Gemeinde aus und hilft emsig am Bauen der
Wohnung, wie beim Hin- und Hertragen der Puppen und der eigentlichen Eier.
Daß es überhaupt nicht die Nachahmung der instinktmäßigen Handlungen der an-
deren Thiere seiner Art sei, welche das einzelne Thier zu den eigenen Handlungen
dieser Art antreiben, zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Nachtigallen und Amseln, die
man ganz jung aus dem Nest nahm und fern von ihres Gleichen im Zimmer erzog,
bauen, wenn man im Frühling ein Pärchen von ihnen hinausläßt ins Freie, eben
solche Nester für ihre Jungen, als die andern Vögel ihrer Art.
Es ist der eingeborene Instinkt (Naturtrieb), welcher den Thieren, wenn man
sie in ein ganz anderes Klima, in eine ihnen ganz neue Pflanzen- und Thierwelt
bringt, es kund gibt, was der Erhaltung ihres Lebens förderlich sei, oder derselben
gefährlich werden könne. Pferde, die man aus Europa nach dem südlichen Afrika
gebracht hatte und die noch niemals in die Nähe eines lebenden Löwen gekommen
waren, zitterten dennoch vor Angst an allen Gliedern, als sie zum erstenmal das
Brüllen des Löwen in ihrer Nähe vernahmen. Jedes Thier weiß im Kampf mit
einem andern alsbald die schwächste, am leichtesten verwundbare Seite oder jenen
Theil desselben zu finden, der ihm am meisten zu schaden vermag, so wie umgekehrt
jene Stelle des eigenen Leibes am meisten zu schützen und zu verbergen, welche die
verletzbarste ist. So springt der Tiger im Kampf mit dem Elephanten zunächst
nach dem Rüssel desselben, welchen dagegen der Elephant aufs sorgfältigste dem
Angriff zu entziehen sucht, um ihn zur rechten Zeit desto kräftiger zu gebrauchen.
Das Pferd der Wilduiß, vom Naubthier angefallen, sucht gegen dieses Kopf und
Brust zu schützen, während es dem Feind desto kräftiger mit den Hufen der Hinter-
füße entgegenkommt. Das amerikanische Hausschwein, im Kampf mit der Klapper-
schlange, bemüht sich vor allem, den Bissen des svringenden Thieres seinen borstigen
Rücken entgegen zu halten, die Schnauze aber demselben zu entziehen und hiebet
den rechten Augenblick zu finden, um den Kopf des gefährlichen Feindes mit seinen
Hufen zu zertreten.
Auch in einer dem Thiere, so wie seinen Voreltern neuen Laudesnatur weiß da-
Schaf wie die Ziege das gesunde Futter alsbald zu finden und das giftige zu ver-
meiden ; der Affe gräbt Wurzeln, die er noch niemals genossen, durch den Geruch
geleitet, aus und läßt sich niemals durch das unschädliche Aussehen einer giftigen
zum Genuß derselben verleiten. Die Kühe von europäischer Abkunft, welche ein
amerikanischer Ansiedler mit sich in sein neues Besitzthum genommen, waren im ersten
Winter, auf dessen längere Dauer man sich nicht vorgesehen hatte, in großer Gefahr
zu verhungern, und glichen bereits nur lebenden Gerippen. Man halle an ibuen
bemerkt, daß sie, so oft die Stallthür geöffnet wurde, ihre Köpfe alle nach einer
Gegend hinstreckten und mit lautem Gebrüll ihr thierisches Verlangen zu erkenneu
gaben. Endlich ließ man sie von den Ketten los und verstattete ihnen das Hinaus-
laufen ins Freie, obgleich weder auf Feldern, noch auf Wiesen, noch im Wald ein
genießbares Grün unter der Schneedecke hervortrat. Alsbald rannten die hungernden
Thiere in unaufhaltsamer Eile hinab nach dem Thal, wo im sumpfigen Grund, am
Ufer des Flusses, ein Gewächs stund, in welchem keiner der Ansiedler ein Futlerkraut
erkannt hätte, denn es glich vollkommen den Arten unseres Schachtelhalms. Die
Kühe aber, durch ihren Trieb sicherer geleitet, als der Mensch durch seinen verglei-
chenden und berechnenden Verstand, fraßen begierig von dem Gewächs und kamen
durch den fortgesetzten Genuß desselben bald wieder zu Kräften. Mächtiger noch
und in ungleich augenfälligerer Weise, als da, wo es bloß die Ernährung und die
Erhaltung des eigenen Leibes und Lebens gilt, äußert sich der Instinkt in seiner
Verbindung mit der Elternliebe. Das Thier vergißt, wenn es zur Vertheidigung
seiner Jungen aufgeregt wird, jeder Gefahr, die seinem Leben droht. Die mütter-
liche Zärtlichkeit führt selbst das plumpe Walfischweibchen, dem mau sein Junges
raubte, immer wieder zu der Nähe der Räuber hin, wo es dann insgemein eine
leichte Beute der Walfischfänger wird; und dieselbe Treue der Mutterliebe bis zum
Tod wird an dem Seeottcr, so wie bei mehreren Säugethieren des Meeres bemerkt.
Die Erfahrung zeigt es täglich, daß die Mutterliebe im Thierreich stärker sei,
als des eigenen Leibes Noth und des Todes Schmerz, daß es nicht, so zu sagen,
eine Verwandtschaft der leiblichen Elemente, etwa des Fleisches und des Blutes sei,
die zwischen der Mutter und den ihr geborenen Jungen besteht, sondern der Antrieb
der Liebe, welcher aus einer anderen, höhere« Quelle kommt, was dem Zug der
Mutterliebe seine Macht gibt. Dies lebrt uns die Zärtlichkeit der Thiere gegen
solche hülslose Brut, die eine höhere göttliche Fürsorge ihrer Obhut anvertraut bat.
Zwischen der Bachstelze und dem armen, von der eigenen Mutter verwahrlosten
Kinde, dem jungen Kukuk, der als Ei in ihr Nest so wie unter ihre Fittige kam, ist
doch gar keine Verwandtschaft des Fleisches und des Blutes, und dennoch mühet sich
die zärtliche Pfiegemutter bis zur Ermattung des Todes ab, um den hungernden
Pflegbesohlencn zu sättigen. Ein berühmter Naturforscher (Bechstein) sah einstmals,
als es schon tief im Spätherbst war, wo es in der Nacht schon streif und selbst Eis
gibt, eine Bachstelze am Bach, den die Sonne beschien, emsig hin- und herfliegen
und laufen. Wer es weiß, in welch unwiderstehlicher Weise der Wandertrieb das
Thier ergreift, wenn jetzt die Zeit gekommen ist, wo das ganze Heer der Seinigen
fortzieht, und ihm zugleich beim Herannahen des Winters das Flltier zn gebrechen
anfängt, der wird es begreiflich finden, daß das Zurückbleiben einer Bachstelze, die
von Insekten lebt, bei uns bis tief in den Oktober hinein, wo draußen im Freien
Lfgum noch einzelne Fliegen zu sehen sind, etwas Außerordentliches fei.// So erschien
dies auch dem eben erwähnten Beobachter, und er ging deßhalb dem Thier nach,
das so eben, als ob es Junge zu versorgen hätte, ein erbeutetes Insekt in seinem
Schnabel wegtrug. Da sah er, daß der Kopf eines ziemlich großen Vogels aus der
Oeffnung eines hohlen Baumes sich herausstreckte, der seinen Schnabel begierig nach
dem Futter aufsperrte, das die Pflegemutter ihm brachte. Es war ein junger Kukuk,
dessen rechte Mutter ihr Ei wahrscheinlich im Schnabel zu dem Loch des Baumes
hinaufgetragen und in das dort innen befindliche Nest der Bachstelze hatte Hinein-
gleiten lassen. Das junge Thier war in der Höhlung des Baumes gewachsen, hatte
auch vorne am Hals und Kopf sein vollkommenes Gefieder erlangt, zugleich aber ein
Gefangener geblieben, denn die Oeffnung war zum Hindurchlassen seines Körpers zu
klein. Die zärtliche Pflegemutter würde eher mit ihrem Pflegling gestorben sein,
als ihn in seiner Hülflosigkeit verlassen haben.
Welche Mutterpflege und Mnttertreue kann jene übertreffen, die das arbeitende
Volk der Bienen und Ameisen an den Eiern und der jungen Brut der Königinnen
übt? Welche Ausdauer einer menschlichen Erzieherin mag jene übertreffen, die das
Weibchen des Puterhahns an den Küchlein von fremder Abkunft erweist, die man
von ihm ausbrüten ließ? In der großen Pfleganstalt des Schöpfers Himmels und
der Erde sind jene Wesen nicht zu beklagen, welche unserem Auge als die verlassensten
und hülflosesten erscheinen, denn gerade für diese ist mit der größten Freigebigkeit
und Milde gesorgt.
In einer ganz besonders merkwürdigen Form erscheint der Instinkt, als Antrieb
einer allerhaltenden Fürsorge, wo derselbe'nicht für ein Einzelwesen oder für eine
Familie der eigenen oder fremden Jungen, sondern für die Gesamtheit der lebenden
Wesen in heilsamer Weise wirksam ist. Der Drang, welcher hiebei die Thierwclt
ergreift, steht mit dem Trieb der Selbsterhaltung in so entgegengesetztem, widerspre-
chendem Verhältniß, daß er oft Millionen der Einzelwesen zum Heil des Landes
ihrem sichern Untergang entgegenführt. Alle Kräfte der Menschen und jener hülf-
reichen Thiere, welche dem Ueberhandnehmen des schädlichen Kohlweißlings, desten
Raupen das Verderben unserer Gemüsegärten sind, zu steuern vermögen, werden zu
manchen Zeiten unzulänglich gefunden; ginge da die Vermehrung in gleichem Schritt
weiter, da würde all unsern Kohlgewächsen die Vernichtung drohen. Doch gegen
diesen Unfall hat die Natur ihre mächtigen Gegenmittel. Man sieht auf einmal
ganze Wolken jener Schmetterlinge das Land, dessen Plage sie waren, verlastetz und
^sich^ni einer Richtung entfernen, welche insgemein ibr Ziel im Meer findet. ^Auch
die Schwärme der Heuschrecken, wenn sie zur furchtbarsten Anzahl angewachsen sind,
nehmen zuletzt insgemein ihren Weg nach dem Meer oder in das wüste Land, und
daffelbe hat manxbei sehr verschiedenen Arten 'schädlichen Insekten bemerkt.
Hl t
-f. Manche Leute meinen, was uns rings umgebe, sei nichts als
ein leerer, unerfüllter Raum, und wir verhalten uns in dieser Be-
ziehung also ganz anders als die Fische, welche immer vom Wasser
121
umgeben und getragen werden. Aber auch dieser Raum, in welchem
wir athmen und leben, ist von Körpern erfüllt, nur daß diese viel
dünner, leichter und durchsichtiger sind, als die Erde, auf welcher wir
wandeln, oder das Wasser, in welchem viele Thiere und Pflanzen
leben. Was uns und die ganze Erdoberfläche rings umgibt, heißen wir
Luft, und wir erkennen ihre Gegenwart aus verschiedenen Umständen.
Die blaue Farbe des Himmelsgewölbes rührt nur daher, daß die
Strahlen der Sonne, ehe sie an unsere Erdoberfläche gelangen, durch
die Lufthülle des Erdkörpers durchgehen, und die röthlich - gelbe Fär-
bung des klaren Abendhimmels erklärt sich -muL aus den Sonnen-
strahlen , welche von den westlichen Luftschichten zurückgeworfen wer-
den. Ebenso bewegt sich ein Mensch, wenn er mit größerer Schnel-
ligkeit geht, fährt oder reitet, nicht ungehindert weiter, sondern er
fühlt deutlich, daß die durchsichtige Luft seiner Fortbewegung Wider-
stand entgegensetzt. Bei leichten Körpern, wie bei Blättern oder
Papierstücken, ist dieser Widerstand so bedeutend, daß sie längere oder
kürzere Zeit in der Luft schweben. Mächtiger aber zeigt sich die
Wirkung der Luft, wenn sie selbst in Bewegung gesetzt ist, wenn starke
Winde das Laub aufrühren oder sogar Bäume und Häuser umstürzen.
/Die Farben des Himmels ergötzen mannigfach unser Auge. Hef-
tige Stürme bringen Gefahr für Menschen, Thiere und Pflanzen.
Aber die bedeutendsten Wirkungen der Luft gehen nicht auffallend
oder stürmisch vor sich, sondern langsam und verhüllt kommen sie zu
Staude. Menschen, Thiere und Pflanzen stehen unter dem Einflüsse
der Luft während ihres Lebens wie nach ihrem Tode; ihr Athmen
'wie ihre'Verwesung wird durch die Luft vermittelt.
A Die Lust, welche wir ausathmen, ist mit der eingeathmeteu nicht
ganz gleich beschaffen. Wir behalten einen Theil der eingeathmeten
Luft in unsern Säften zurück, und dieser Theil ist es, der mit unserem
Blute durch alle einzelnen Glieder strömt und überall erregend und
belebend einwirkt, vorzüglich aber das Gehirn, das wichtigste Organ
unserer Seele, zu frischer Thätigkeit antreibt. Sobald das Athmen
unterbrochen wird, hört dieser Lebensreiz auf zu wirken, und bei
längerer Unterbrechung tritt der Erstickungstod ein. Man hat darum
diesen Theil der Luft, welchen wir beim Athmen aufnehmen, mit Recht
Lebenslust genannt. Auch Thiere ersticken, sobald sie gehindert wer-
den, die Lebenslust durch Athmen aufzunehmen. Pflanzen aber, welche
man durch Ueberzieheu mit Oel oder andern Stoffen von der Berüh-
rung-, mit der Luft ausschließt, werden krank und welk, und gehen
122
ebenso gut, als erstickende Menschen oder Thiere durch Entziehung
der Lebenslust zu Grunde. Man hat dieses Athmen der lebenden
Geschöpfe gut mit dem Brennen einer Flamme verglichen. Auch un-
sere Lichter, auch die Feuer in unseren Oefen bedürfen zum Brennen
der Lebenslust, und sie löschen daher aus, sobald die äußere Lust
nicht mehr freien Zutritt zu ihnen hat. Aber noch eine weitere Aehn-
lichkeit besteht zwischen Athmen und Brennen. Wo athmende Ge-
schöpfe reichlich Lebenslust in sich aufnehmen, oder wo Unschlitt oder
Oel sich mit der Lebenslust verbinden, da wird immer Wärme ent-
wickelt. Darum hat der Mensch seine eigenthümliche Warme und ist
in der Erwärmung seines Körpers nur theilweise abhängig von der
Wärme der ihn umgebenden Lust.
jj, Aber nicht bloß auf die lebenden Geschöpfe wirkt die Lebenslust
erregend ein, sondern auch ihre todten Körper werden von der Luft
mannigfach verändert. Die Leichname der Reichen und Großen, welche
in metallenen Särgen und in steinernen Grabgewölben eingeschlossen
werden, verwesen nur langsam und entwickeln lange Zeit übelriechende,
den Lebenden gefährliche Luftarten. Aber wenn wir unsere Todten
in hölzernen Särgen in die lockere Erde versenken, so stehen diese
unter dem dauernden Einflüsse der Luft, welche theils unmittelbar,
theils mit Wasser die obersten, weniger dichten Lagen des Erdkörpers
durchdringt. Hier verwesen die Leichname schnell, und sie hören bald
auf, schädlich auf die Lebenden zu wirken. Ebenso beschleunigt die
Lebenslust die Verwesung der Pflanzen und Thiere. |^te treibt das
Lebende zu frischerer Thätigkeit an. Sie zersetzt schneller das Todte
und schafft so neuen Raum für die neuen, lebenden Geschöpfe. Wir .
leben und bewegen uns nicht nur in der Luft, sondern sie dringt
auch fortwährend ins Innere unseres Körpers ein, sie erquickt und
erregt uns, so lange wir leben; sie macht, daß unser todter Körper
rascher zerfällt und aus den Augen und der Berübruna der Lebendem.
/f Unsern Sinnen erscheint das Wasser als ein unbedeutendes Ding,
als ein Stoff von geringer Wirksamkeit. Es ist farblos, geruchlos
und geschmacklos, und wir sind gewöbnt, unsere Aufmerk;amkeit be-
sonders Körpern zuzuwenden, welche durch Farbe, Geruch oder Ge-
schmack sich vor andern auszeichnen. Aber wer die Sache mehr in
der Nähe betrachtet, der muß bald einsehen, daß dem Wasser eine
fJHQL Das Wasser.
123
sehr große Bedeutung im Haushalte der Natur zukommt. Nehmen
nicht Menschen, Thiere und Pflanzen reichlich Wasser in sich auf?
und find nicht drei Viertheile der Erdoberfläche von Wasser bedeckt?
x Der Mensch erträgt den Hunger länger als den Durst. Wenn
ihm Wasser gereicht wird, so führt die Entziehung aller festen Speisen
langsamer den Tod herbei. Dagegen würde ein Mensch, der nur ganz
trockene Nahrung genösse, sehr bald verschmachten. Daher wenden wir das
Wasser nicht nur zur Bereitung unserer Speisen an, sondern wir ge-
nießen außer diesen auch noch Getränke, und zwar entweder reines
Wasser oder Flüssigkeiten, welche wie Most, Bier und Wein sehr
viel Wasser enthalten. Ebenso nehmen die Thiere sehr wasserhaltige
Nahrung oder neben festen Speisen auch reines Wasser zu sich. Von
den Pflanzen endlich ist es Jedermann bekannt, wie ihr Gedeihen
durchaus an die Ausnahme von Wasser gebunden ist; durch Regen,
durch Quellen, Bäche und Flüsse wird dieses dem Erdboden und den
Wurzeln der Pflanzen zugeführt. Alles dieses Wasser, welches Men-
schen, Thiere und Pflanzen in sich aufnehmen, dient ihnen zum Theile
selbst als Nahrung; zum Theile löst es andere Nahrungsstoffe in
sich auf und dient so dazu, diese Stoffe in die Säfte der lebenden
Geschöpfe überzuführen. Die Nahrung, welche die Pflanze aus dem
Boden aufsaugt, ist ganz in dem Wasser gelöst, das allmählich in
die Spitzen der Wurzeln eindringt.
^ Für das Leben der Menschen und Thiere reichen die Gewässer
' hin, welche sich an der Erdoberfläche als Quellen, Bäche, Flüsse oder
Meere befinden. Aber die Pflanzen der Festländer müßten zu Grunde
gehen, wenn sie auf die fließenden Wasser der Erde allein angewiesen
wären. Ihr Bedarf an Wasser ist so groß, daß die Wasser des Him-
mels, Regen, Schnee und Thau, nöthig sind, um jenes Bedürfniß zu,
befriedigen. Ausgedehnte Länderstrecken sind arm an Quellen, Bächen
oder Flüssen; aber die Wasser, welche vom Himmel herabfallen, rufen
doch auf ihnen eine reiche Entwicklung von Pflanzen hervor. Woher
kommen die Wasser, welche wir als Regen, Schnee, Hagel, Thau und
Reif unterscheiden? Sind sie in der Luft entstanden, oder hat die
Luft sie irgend woher in sich aufgenommen?
Wer je dem Sieden des Wassers zugesehen hat, der weiß, daß
hiebei von der Oberfläche des Wassers Dämpfe aufsteigen. Dabei
vermindert sich die Menge des Wassers und wenn das Sieden lange
genug gedauert hat, so findet man endlich gar kein Wasser mehr;
das Gefäß ist völlig leer und trocken. Aber auch ohne das Sieden
-
124
erheben sich ähnliche Dämpfe oder Dünste von allen größeren Wasser-
massen der Erde. Ueber Flüssen und Seen schweben an vielen Aben-
den Wolken von Wasserdunst. Von den Meeren steigen so viele
Dünste auf, daß auf Inseln, namentlich der kälteren Gegenden, die
Luft sehr feucht und der Himmel häufig umwölkt ist. Kleinere Seen
und Flüsse trocknen durch diese Verdunstung in der warmen Jahres-
zeit bisweilen vollständig aus. So geht das Wasser von der Erd-
oberfläche weg in die Luft hinauf. Es behält nicht mehr das An-
sehen einer gewöhnlichen Flüssigkeit, sondern es nimmt die Form von
Dämpfen an, es wird der Luft ähnlich, welche die Erde überall
umgibt.
j So lange das Wasser dampfförmig bleibt, läßt es sich in der
Luft nicht geradezu erkennen. Man bemerkt nur, daß Luft, welche
viel Wasserdämpfe enthält, durchsichtiger ist, daß sie ferne Gegen-
stände leichter und mit größerer Genauigkeit erkennen läßt. Aber
wenn kalte Winde die Luft abkühlen, so verläßt das Wasser wieder
die Dampfform; es kehrt durch die Mittelzustände der Wolken und
des Nebels wieder zu seiner gewöhnlichen Gestalt zurück. Thau,
Regen, Schnee und Hagel führen das Wasser als tropfbarflüssig oder
als fest zur Erde zurück.
/ Diese Wanderung des Wassers ist für alle Geschöpfe, welche
an der Erdoberfläche leben, von größter Wichtigkeit. Ueberall strö-
men die Gewässer der Erde den tiefsten Stellen, den Meeren, zu.
Aber von den Oberflächen der Meere ziehen mächtige Massen von
Dämpfen über die Festländer hin. In reichlichen Niederschlägen fällt
das Wasser auf das Land herab. Es tränkt den Boden Und macht
das Leben der Gewächse möglich. Es speist Quellen, Bäche und
Flüsse und bietet sich Menschen und Thieren zur Nahrung und Er-
frischung dar. So wirkt das unscheinbare Wasser mächtig in der
belebten Natur, und der kleine Waffertropsen zieht durch weite Strecken
an den Ort, wo er dem stillen Haushalte der Natur dienstbar sein
muß.
/ /
B0. Dünste, Nebel und Wolken; Regen und Schnee; Thau
und Reif.
ß Das Sieden besteht darin, daß sich nicht nur auf der Oberstäche, sondern anch
im Innern der Flüssigkeit Dämpfe bilden; Verdunstung aber nennt man die Bil-
dung von Dampf an der freien Oberfläche der Flüssigkeit. Das Master verdampft
oder verdunstet an der Oberfläche der Flüsse und Meere und des feuchten Erdbodens;
125
je trockener die Luft ist. desto schneller geht die Verdunstung vor sich, am schnellsten
aber bei lebhaften, trockenen Winden, was schon die Frauen bei dem Trocknen gewa-
schener Leinwand wahrnehmen, deren Feuchtigkeit bei trockenem Wetter und lebhafter
Bewegung der Luft am schnellsten verdunstet.
Wenn das Wasser der Flüsse und Meere oder der feuchte Boden wärmer ist,
als die schon mit Feuchtigkeit erfüllte Luft, so entstehen aus den aufsteigenden Dün-
sten die Nebel, welche nichts anderes sind, als Dünste, die in der Kälte sich verdich-
tet haben.
Die Wolken sind Nebel, welcke in den höheren Gegenden der Luft schweben,
wie die Nebel Wolken sind, die auf dem Boden aufliegen. Wenn die Dunstbläschen,
aus denen die Wolken bestehen, sich verdichten, größer und schwerer werden, wenn
einzelne Bläschen sich nähern und zusammenfließen, so bilden sie förmliche Wasser-
tropfen, welche nun als Regen herabfallen.
j Der Schnee, dessen einzelne Flocken einen regelmäßigen, scchstheiligen Stern
bilden, besteht aus feinern Eiskrystallen; sind die untern Luftschichten wärmer als die
oberen, so schmelzen die Flocken im Herabfallen, und daher geschieht es manchmal,
daß es in der Höhe schneit und in den Thälern regnet. Die Entstehung des Scknees
ist fast eben so schwer zu erklären, als die des Hagels.
// Wenn man ein Gesäß voll siedenden Wassers mit einem kalten Deckel zudeckt
und nimmt diesen nach einiger Zeit hinweg, so sieht man Wassertropfen an demselben
hängen. Die aufsteigenden Wasserdämpfe haben sich bei der Berührung mit dem
kalten Deckel verdichtet und sich in Wasser verwandelt. Ebenso verdichten sich die
Ausdünstungen eines erwärmten Zimmers an den kalten Fensterscheiben, und fallen
oft als Tropfen an denselben herab oder gefrieren im Winter; und die Eisblumen,
die wir im Winter an den Fenstern sehen, sind nichts als gefrorene Dünste. Auf
eine ähnliche Weise entsteht Thau und Reif in Gärten und Feldern.
Wenn nemlich im Sommer nach Sonnenuntergang der Himmel heiter und die
Luft ruhig bleibt, so werden die verschiedenen Gegenstände ans der Oberfläche der
Erde durch die nächtliche Wärmestrahlung von der Erde, gegen den Himmel mehr
und mehr erkalten und dadurch auch die sie umgebenden Luftschichten abkühlen, und
wenn nun d>iese bis zu einem gewissen Grade erkaltet sind, so wird sich ein Theil der
in ihnen befindlichen Wafferdämpfe in Form von Tropfen an die kalten Gegenstände
anhängen; dies ist am meisten bei Gras und Blättern der Fall, weil diese ihre
Wärme am schnellsten verlieren. Bei nmwölktem Himmel wird die Wärmestrahlung
und eben dadurch auch die Thaubildung verhindert. Wenn ein Wind geht, der den
Blättern und Gräsern immer wieder warme Luft zuführt, so entsteht ebenfalls kein
Thau. Daher erklärt sich die weitverbreitete Wetterregel, daß es, wenn Morgens
reichlicher Thau vorhanden ist, an demselbigen Tage nicht regnen werde.
Der Reif ist nichts als gefrorener Thau und -bedarf nach dem Bisherigen keiner
weiteren- Ecklärimg:
. ' (/}
lli. Die Wolken im Dienste Gottes.
Nachdem es eine Weile geregnet, und ein massiger Ost-
wind begann die Wolken zu vertreiben, ging Gotthold ins Fehl
hinaus, dankte seinem Gott für das fruchtbare Gewitter, und als
126
er die Augen gen Himmel erhob und die schwebenden Wolken
ansah, sprach er bei sich selbst: mein Gott, da ziehen sie hin,
deine Wagen, darauf du (lass mich armen Menschen auf Men-
schenweise reden) lustiren fährst und deine Aecker und Gärten,
Wiesen, Wälder und Felder besichtigst. Die Bettler laufen hin-
ter reicher Leute Kutschen her, bitten und schreien um ein Al-
mosen; wir, mein Gott, sind alle deine Bettler und schreien dir
nach, wenn du auf den Wolken fährest: gib uns unser täglich
Brod. Die Wolken sind dein Sprengkrug, damit du als ein
Gärtner zur dürren Zeit unser trockenes Land befeuchtest; sie
sind deine künstlichen Wasserzieher, durch welche du das Was-
ser in die Höhe fuhrest und von dannen im Regen mit Segen
nach aller unser Nothdurft herunterleitest. Sie sind dein guter
Schatz, mit Wein, Bier, Oel, Butter, Korn, Malz und Schmalz
gefüllt, welche du, wenns deiner Güte beliebet, eröffnest, und
sättigest Alles, was lebet, mit Wohlgefallen. Sie sind deine
grosse Decke, damit du nach Gutbefinden die Gewächse über-
ziehst und überhüllest, dass sie nicht in anhaltender, scharfer
Hitze ausgesaftet und verderbet werden. Sie sind auch dein
Zeughaus, darin dein Geschütz, Kraut und Loth, Donner und
Blitz meine ich, verwahret wird, damit du entweder die Men-
schenkinder väterlich schreckest oder mächtiglich strafest. Nun,
mein Gott, ich sehe an dieses dein herrliches Geschöpf in De-
muth und schuldigster Dankbarkeit.
|Der beste Regen ist doch immer der, mit welchem der Himmel unsere Felder
ä und Weinberge tränkt und den Segen fruchtbarer Zeiten sendet. Aber was sagen
wir dazu, wenn es Schwefel oder Blut, Frösche, Steine regnet?^
I. Schwefelregen.
Nach den Gewittern im Frühjahr, wenn sie mit starken Regengüffen verbunden
waren, sieht man oft am Rande der Lachen, die vom stehenden Regenwasser ent-
standen sind, ein gelbes Pulver, das wie klein geriebener Schwefel aussieht. Nun
meinen ohnehin noch viele Leute, daß die Gewitter von schweflichten Dünsten ent-
stehen, die sich in den Wolken erzeugen, und bilden sich alsdann ein, cs sei mit dem
Regen solcher Schwefel vom Gewitter herabgefallen, und denken daran, daß ja auch
schon einmal Feuer und Schwefel vom Himmel regnete auf Sodom und Gomorra:
Fürs andere kann manchmal Etwas so oder so aussehen, und es ist doch etwas
Anderes, wie man schon oft mit Schaden erfahren hat. Und so ist auch das gelbe
Pulver auf den Regenpsützen kein Schwefel, sonder« Blüthenftaub von den'Bäumen.
's» / i*
J
127
In den Tulpen stehen inwendig im Ring sechs kleine Säulen (auch Hennen ge-
nannt), auf deren Spitzen ein schwarzer Staub sitzt; wer daran riecht, bekommt
daher eine schwarze Nase. Auf den Lilien ist er schön gelb, und wer an einer weißen
Lilie riecht, bekommt davon eine gelbe Nase. Das ist Blütheustaub. Er findet
sich in allen Blumen und in allen Blüthen; denn er ist unentbehrlich und nothwen-
dig, wenn aus der Blüthe Frucht und Samen entstehen soll. Wenn es nun im
Frühjahr, wo die Bäume blühen, starke Stürme gibt, so führen diese den Blüthen-
staub, namentlich von Fichten und Tannen, mit sich in die Hohe, und der gelbe
Staub kommt mit dem nächsten Regen in Menge wieder herab und sammelt sich,
wie Schwefel, auf Pfützen oder Wasserbehältern. Im Sommer und Spätjahr, wo
doch die Gewitter meistens heftiger sind, wird Niemand mehr etwas von Schwefel-
regen sehen, weil dann das Blühen ein Ende hat. Da regnen Aepfcl, Nüsse,
Eicheln u. s. w. von den schweren Aesten der Bäume herab, aber kein eingebildeter
Schwefel mehr.
II. Blutregen.
Man trifft in alten Geschichten bisweilen die Nachricht, es habe Blut geregnet,
und die Menschen verfehlten nicht, einen solchen Blutregen iyit schrecklichen Ereignissen
in der Natur oder in der Geschichte in Zusammenhang zu bringen. Solche Berichte
sind zum Theil sehr alt, und es kst kein Zweifel, daß schon vor 3000 Jahren die
Völker Griechenlands von diesen Regen gewußt haben. Allein erst die neueste Zeit
hat diese Erscheinung aufgeklärt. Es handelt sich hier gar nicht von Blut, sondern
von einem seinen, gelben oder zimmtfarbigen Staub, der entweder für sich, oder mit
Regen, Hagel und Schnee aus der Luft herabfällt und diese Niederschläge gelb oder
blulrvth färbt. Es scheint, daß dieser Staub in sehr bedeutenden Höhen des Lnft-
kreises schwebt, daß er von den Winden von einer Himmelsgegend in die andere
geführt und theils durch Luftströmungen, theils durch Regen, Schnee und Hagel auf
die Erde herabgebracht wird. Solche Staubfälle bemerkt man namentlich im süd-
lichen Europa und in Kleinasien; sie dehnen sich bisweilen über weite Strecken, über
viele Tausende von Meilen aus. Hier ist also von Blut und Schrecken entfernt nicht
die Rede. Ebensowenig braucht man sich zu fürchten, wenn ein winziges Pflänzchen
aus der Klasse der Algen die ewigen Schneeselder der Alpen weithin mit einer dünnen,
rothen Schichte überzieht; man heißt dieses Pflänzchen deßwegen den rothen Schnee.
III. Froschregen.
Man spricht auch von einem Froschregen. Aber das wird noch Niemand ge-
sehen haben, daß es Frösche aus der Luft herabrcguete. Die Sache verhält sich
ganz kurz so: im Sommer bei anhaltend trockener Hitze zieht sich eine Art von Land-
fröschen in benachbarte Wälder und Buschwerke zurück, weil sie dort einen kühleren
und feuchteren Aufenthalt haben, und verhallen sich ganz still und verborgen, so
daß sie Niemand bemerkt. Wenn nun ein sanfter Regen fällt, so kommen sie in zahl-
reicher Menge wieder hervor und erquicken sich in dem nassen, kühlen Grase. Wer
alsdann in einer solchen Gegend ist und auf einmal so viele Fröschlein sieht, wo
doch kurz vorher kein einziges zu sehen war, der kann sich nicht vorstellen, woher
auf einmal so viele Frösche kommen; und da bilden sich einfältige Leute ein, eS
habe Frösche geregnet. Denn aus lieber Trägheit läßt man lieber die unvernünk»
128
tigsten Dinge gelten, als daß man sich die Mühe gibt, über die vernünftigen Ursachen
dessen nachzudenken oder zu fragen, was man nicht begreifen kann.
Aber mit dem Steinregen verhält es sich anders, das ist keine Einbildung;
denn man hat darüber viele alte und glaubwürdige Nachrichten und neue Beweise,
daß bald einzelne schwere Steine, bald viele mit einander von ungleicher Größe mir
nichts dir nichts aus der Luft herabgefallen sind. Die älteste Nachricht, welche
man von solchen Ereignissen hat, reicht bis in das Jahr 462 vor Christi Geburt.
Da fiel in Thracien oder in der jetzigen türkischen Provinz Numili ein großer Stein
aus den Lüsten herab, und seit jener Zeit bis jetzt, also in mehr als 2300 Jahren,
hat es, so viel man weiß, mehr als vierzigmal Steine geregnet; z. B. im Jahr
1492 am 4. November siel bei Ensisheim in Frankreich ein Stein, der 260 Pfund
schwer war; im Jahr 1672 bet Verona in Italien zwei Steine von 200 und 300
Pfund. Nun kann man sich denken, von alten Zeiten sei gut etwas erzählen; wen
kann man fragen, obs wahr sei? Aber auch ganz neue Erfahrungen geben diesen
alten Nachrichten Glauben. Denn im Jahr 1789, und am 24. Juli 1790 fielen in
Frankreich, und am 16. Juni 1794 in Italien viele Steine vom Himmel, das heißt,
hoch aus der Lust herab; und den 26. April 1803 kam bei dem Orte l'Aigle
(Läg'l) in Frankreich ein Steinregen von 2000 — 3000 Steinen auf einmal mit
großem Getöse aus der Luft.
Sonntags den 22. Mai 1808 sind in Mähren Steine vom Himmel gefallen.
Der Kaiser von Oesterreich ließ durch einen sachkundigen Mann Untersuchung darüber
anstellen. Dies ist der Elfund:
Es war ein heiterer Morgen, bis um halb sechs Uhr ein Nebel in die Luft
einrückte. Die Filialleute von Stannern waren auf dem Weg in die Kirche und
dachten an Nichts. Plötzlich hörten sie drei so starke Knälle, daß die Erde unter
ihren Füßen zitterte; und der Nebel wurde auf einmal so dicht, daß man nur zwölf
Schritte zu sehen vermochte. Mehrere schwächere Schläge folgten nach und lauteten
wie anhaltendes Flintenfeuer in der Ferne, oder wie das Wirbeln großer Trommeln.
Das Nöllen und das Pfeifen, das zwischen drein in der Luft gehört wurde, brachte
daher einige Leute auf den Gedanken, jetzt käme die Garnison von Telisch mit tür-
kischer Musik; an das Kanoniren dachten sie nichr. Aber während sie vor Ver-
wunderung und Schrecken einander ansahen, fing in einem Umkreis von ungefähr
drei Stunden ein Regen an, gegen welchen kein Mantel oder Mantelsack über die
Achseln schützt. Eine Menge von Steinen, von der Größe einer welschen Nuß bis
zu der Größe eines Kinderkopfes, und von der Schwere eines halben Lothes bis zu ;echs
Pfund, fielen unter beständigem Nöllen und Pfeifen aus der Luft; einige senkrecht,
andere wie in einem Schwünge. Viele Leute sahen zu, und die Steine, welche so-
gleich nach dem Fallen aufgehoben wurden, waren warm. Die ersten schlugen nach
ihrer Schwere tief in die Erde, einer wurde sogar zwei Fuß tief herausgegraben;
die späteren ließen es beim nächsten bewenden und sielen nur auf die Erde. Ihrer
Beschaffenheit nach waren sie inwendig saudartig und grau, und von außen mit
einer schwarzen, glänzenden Ninde überzogen. Die Zahl derselben kann Niemand
angeben. Viele mögen in das Fruchtfeld gefallen sein und noch in der Erde ver»
borgen liegen. Diejenigen, welche gesunden und gesammelt wurden, betragen au
■ Gewicht zwei und einen halben Ccutuer. Alles dauerte sechs bis acht Minuten, und nach
IV. Steinregen.
129
einigen Stunden verzog sich auch der Nebel, so daß gegen Mittag Alles wieder hell
und ruhig wurde, als wenn Nichts vorgegangen wäre.
Dies ist die Begebenheit. Was für eine Bewandtniß es aber mit solchen Steinen,
^die vom Himmel fallen, habe, das ist bis jetzt unter den Gelehrten noch keine aus-
gemachte Sache.
63. Belehrung über -as Wetterglas.
Mancher geneigte Leser hat auch sein Wetterglas im kleinen Stüblein hängen,
. nicht erst seit gestern, denn die Fliegen haben auch schon daran geschaut, was der
! Himmel für Wetter im Sinn hat, also daß der Mensch nicht mehr viel daran er-
' kennen kann. Mit einem nassen Tüchlein von Zeit zu Zeit wäre zu helfen. Aber
das scharfe Aug des Lesers hats noch nicht von nöthen. Jetzt schaut ers deutlich
an und sagt: „morgen können wir noch nicht mähen auf den untern Matten."
Jetzt klopft er ein wenig an dem Brettlcin, ob sich denn das Quecksilber gar nicht
lupfen will, als wenn er es wecken müßte, wie aus einem Schlaf oder aus tiefen
Gedanken, und wenn es ein wenig ob sich geht, so heitert sich in seinem Herzen die
Hoffnung ans. Aber doch weiß er nicht recht, wie es zugeht.
Merke erstlich: ein braves Wetterglas hat an der Spitze des Kölbleins oder
Köpfleins, worin sich das Quecksilber sammelt, eine kleine Oeffnung.
Zweitens: sonst meint man, wo nichts Anderes ist, dort sei doch wenigstens
Luft. Aber oben in der laugen Röhre, wo das Quecksilber aufhört, bis ganz oben,
wo die Röhre aufhört, ist keine Lust, sondern Nichts, reines, klares, offenbares, nie
gewesenes Nichts.
Dies wird erkannt, wenn man das Wetterglas langsam in eine schiefe Rich-
tung bringt, als wollte man es umlegen, so fährt das Quecksilber durch den leeren
Raum hinauf bis an das Ende der Röhre, und man hört einen kleinen Knall. Dies
könnte nicht geschehen, wenn noch Lust darin wäre. Sie würde sagen: „ich bin
auch da; ich muß auch Platz haben."
Drittens: die Lust, welche die Erde und Alles umgibt, drückt unaufhörlich von
oben gegen die Erde hinab, ja sie will vermöge einer inwendigen Kraft unaufhör-
lich nach allen Seiten ausgedehnt und so zu sagen ausgespannt sein bis auf ein
Gewisses.
Denn sie ist Gottes lebendiger Athem, der die Erde umhüllt und Alles durch-
dringt und segnet, und hat gar viel verborgene Wunder. Also geht die Luft durch
jede offene Thür, ja durch jedwedes Spältlein in die Häuser, und aus einem Gemach
in das andere, und durch die kleine Oeffnung au der Spitze des Kölbleins hinein
und drückt auf das Quecksilber, und die Luft, welche noch außen ist, drückt immer
nach und will auch noch hinein. Ei, sie drückt und treibt das Quecksilber in der
laugen Röhre gewöhnlich zwischen sieben und zwanzig und acht und zwanzig Zoll
weit in die Höhe, bis sie nimmer weiter kann. Denn wenn das Quecksilber in der
Röhre einmal eine gewisse Höhe erreicht hat, so drückt es vermöge seiner eigenthüm-
lichen Schwere der Lust wiederum dergestalt entgegen, daß beide in das Gleichge-
lwicht treten. Da strebt gleiche Kraft gegen gleiche Kraft, und keines kaun dem an-
dern mehr etwas anhaben. Die Luft spricht: „gelt, du mußt droben bleiben!" Das
Quecksilber spricht: „gelt, du bringst mich nimmer höher!"
( Mbuch.
ü
130
Merke viertens die Hauptsache: der Druck und die Spannung in der Luft
bleibt nicht immer gleich, einmal stärker, ein andermal schwächer. Die Gelehrten
wissen selbst noch nicht recht, wo dieses herrühren mag. Wird nun die Ausspannung
der Lust auf einmal stärker, so daß man sagen kann, sie gewinne neue Kraft, so
drückt sie auch um so stärker auf das Quecksilber im Kölblein, also daß es in der
Röhre hoher hinauf muß, manchmal bis über acht und zwanzig Zoll hinaus. So-
bald aber die Ausdehnung der Luft im geringsten nachläßt, drückt im Augenblick die
Schwere des Quecksilbers in der Röhre nach gegen das Kölblein, bis sie mit dem
Druck der Lust wieder im Gleichen ist, welcher Gestalt also das Quecksilber in der
Röhre sinkt, manchmal bis unter sieben und zwanzig Zoll hinab. Also steigt und
fällt das Quecksilber oder wie man sagt das Wetterglas, und sein Steigen und
Fallen ist übereinstimmend mit dem unaufhörlichen Wechsel in der Luft.
Solche Einsicht hat Gott dem Menschen verliehen, daß ihm in gläsernen Röhren
sichtbar werden kann, was in der unsichtbaren Luft für eine Veränderung vorgeht.
Allein der geneigte Leser ist vorsichtig und glaubt nicht Alles auf das Wort.
Merke also: fünftens, der Beweis: wenn die Mutter gebacken hat, und das
Büblein ißt ein Stücklein lindes Brod, es beißt nicht schlecht hinein und schmeckt
ihm wohl; — klaubt es nun Krümlein von dem Brod herab und zerdrückt es mit
den Fingern, daß gleichsam wieder ein Teig daraus wird, und stopft damit die Oeff-
nung an dem Kölblein zu: von dem Augenblick an geht das Quecksilber nimmer ob sich
und nimmer unter sich, sondern bleibt unaufhörlich stehen, wie es stand. Warum?
Weil die Luft nimmer auf das Quecksilber wirken kann, bis es endlich der Vater
entdeckt und hätte die beste Lust, er gebe dem Büblein eine Ohrfeige, — wer weiß,
was er thut, wenns zum zweitenmal geschieht.
Wenn es ihm aber mit seiner Vorsicht gelungen ist, die Oeffnung wieder frei
zu machen, die Luft kann wieder auf das Quecksilber drücken wie vorher, stärker oder
schwächer, alsdann fängt es auch wieder an lustig zu steigen und zu fallen. Also
rührt die Veränderung in dem Stand des Quecksilbers von der Luft her, welche
durch die Oeffnung des Kölbleins hineingeht und auf das Quecksilber drückt.
Daß aber die Luft allein es sei, welche im Stand ist, mit wunderbarer Kraft
das Quecksilber acht und zwanzig Zoll hoch in die Röhre hinaufzutreiben und in
dieser Höhe schwebend zu erhalten, ist der Beweis, wenn die Röhre oben au der
Spitze abbricht, und die Luft dort auch hineinkommt, wo vorher keine war, fällt
das Quecksilber in der Röhre auf einmal so tief herab, bis es demjenigen, das in
dem Kölblein steht, gleich ist, und hat alsdann Alles ein Ende, denn die Luft in der
Röhre und die Lust in dem Kölblein drückt jetzt mit gleicher Gewalt gegen einander,
und vernichtet ihre Kraft an sich selber, also daß das Quecksilber freies Spiel be-
kommt und seiner eigenen Natur folgen kaun, die da ist, daß es vermöge seiner
Schwere hinuntersitzt bis auf den Boden, oder auf das unterste des Raumes, worin
es eingeschlossen ist.
Merke sechstens und endlich: es hat eine lange Erfahrung gelehrt, wenn die
Luft anfängt, sich stärker auszudehnen und zu drücken, daß alsdann gemeiniglich
auch das Wetter heiter und schön wird. Wenn sie aber nachläßt und gleichsam matt
wird, man weiß nicht warum, so macht sich gewöhnlich ein Regen zurecht, oder ein
Sturmwind, oder ein Gewitter. Welchermaßen nun das Steigen und Fallen des
Quecksilbers einen stärkeren oder schwächeren Druck der Lust anzeigt, solchermaßen
kündigt es auch zum voraus Sonnenschein und Regen au, wenn nichts Anders da-
131
^zwischen kommt. Bisweilen falliren alle Zeichen und Hoffnungen, wie dem Leser
^wohl bekannt ist.
Denn der liebe Gott hat auch noch allerlei andere kleine Hausmittel, um den
Wechsel der Witterung zu hindern oder zu fördern, welche er bis jetzt noch Niemand
verrathen hat. Die Wettergelehrten ärgern sich schon lange darüber.
Solche Bewandtniß hat es mit der Einrichtung und den Eigenschaften des
Wetterglases. Merke einstweilen noch: wenn man dem Ding einen gelehrten Namen
geben will, was zwar nicht nöthig ist, so muß man nicht sagen oder schreiben: Pe-
rimeter, sondern Barometers
64. Die Winde.
/Die meisten Winde haben in der ungleichen Erwärmung der Luft
ihren Ursprung. Am auffallendsten ist dies bei den Land- und See-
winden, die man an den Meeresküsten und namentlich auf den In-
seln wahrnimmt. Einige Stunden nach Sonnenaufgang erhebt sich
ein von dem Meere nach der Küste wehender Wind, der Seewind,
weil das Land durch die Sonne schneller und stärker erwärmt wird,
als das Meer. Ueber dem Lande steigt die erwärmte Luft in die
Höhe und fließt oben nach dem Meere hin ab, während unten die
Luft vom Meere gegen die Küste strömt, gerade so, wie die erwärmte
Zimmerluft oben zu einer geöffneten Thüre hinausströmt, während
unten die kältere Luft hereindringt. Der Seewind ist anfänglich
schwach und nur an den Küsten fühlbar; später nimmt er zu und
zeigt sich auch schon in größerer Entfernung von der Küste; zwischen
zwei und drei Uhr Nachmittags wird er am stärksten, nimmt dann
wieder ab, und vor Untergang der Sonne tritt gewöhnlich Windstille
ein. Nun sängt Land und Meer an, Wärme „auszustrahlen" und
zu erkalten, was aber auf dem Lande schneller geschieht, als auf dem
Meere; und nun strömt die Luft unten vom Lande nach dem Meere,
was man den Landwind nennt.
jlt Aus dem Bisherigen erklärt sich denn auch, warum manchmal
die unteren Wolken einen andern Lauf haben, als die höheren.
Wenn nun aber auch die ungleiche Erwärmung die gewöhn-
lichste Ursache von der Entstehung der Winde ist, so ist sie doch
nicht die einzige. Auch durch die Verwandlung der Dünste in Regen,
durch elektrische Erscheinungen u. s. w. entstehen Strömungen in der
Luft, und noch immer gilt in dieser Beziehung das Wort des Herrn
(Joh. 3.): „Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen
„wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er
„fährt."
j Ost steht man bei ruhigem Wetter, wie Sand und Staub durch
den Wind in wirbelnder Bewegung fortgeführt werden. Bei heran-
nahenden Gewittern sieht man manchmal größere Luftwirbel dieser Art,
welche allerlei bewegliche Dinge in die Höhe nehmen. Die heftigeren
Wirbelwinde, die immer aus Gewitterwolken entspringen, werden
Tromben genannt und gehören zu den furchtbarsten Erscheinungen in
der Natur. Diese Tromben haben eine solche Gewalt, daß sie Bäume
entwurzeln, Häuser und Thürme mit sich reißen. Die Wolken thürmen
sich wie bei einem Gewitter, und es ist, als ob die ganze Kraft eines
solchen Wolkengebirges auf einem Punkte sich sammelte. Mit unge-
heurer Geschwindigkeit stürzt sich dann die Wolke in trichterförmiger
Gestalt herab; wo sie die Erde berührt, zerstört und zertrümmert sie,
unter Krachen und Getöse, Bäume und Häuser und schleudert Steine
und Sand zischend mit unaufhaltsamer, unwiderstehlicher Gewalt in
die Höhe. Wenn aber schon eine Trombe auf dem Laud, oder eine
Landhose, wie man sie auch neunt, zu den furchtbarsten Erscheinungen
gehört, so gilt dies noch in höherem Grade von den sogenannten
Wasserhosen. Man steht bei einer solchen nicht selten eine wir-
belnde Wassersäule gegen die Wolken hinaufsteigen, und es ist leicht
zu denken, daß ein Schiff, das von einem solchen Wirbel erfaßt wird,
mit Mann und Maus unrettbar verloren ist.
Die Geschwindigkeit der gewöhnlichen Winde ist nicht so groß,
ats man gewöhnlich glaubt, obgleich sie sprichwörtlich geworden ist.
Man hat darüber mancherlei Messungen angestellt, theils durch leichte,
fliegende Körper, oder Bewegungen eines Rades, oder durch Messung
des Ganges der Wolken oder ihres Schattens. Gewöhnliche Winde
durchlaufen im sechzigsten Minute, das heißt, binnen
einer Sekunde, kaum Frchi die regelmäAnwehenden,
wie z. B. der Ostwind im heißen Erdgürtel, .zchn^As-^rszchn-Fu^'
starke Winde, namentlich die veränderlichen, gegen die ein Fußgänger
nur mühsam angeht, ^mzt^lls-a^mnd-zwM^iZ^u^^ Sehr schnelle
Rosse können aber in einer Sekunde wohl -süLszig Kuß-und drüber
zurücklegen. Ein Sturmwind von solcher Schnelligkeit reißt schon
Mauern nieder und entwurzelt die stärksten Bäume. Die allerheftig-
sten und schnellsten Stürme, die ganze Wälder niederstürzen,
durchfahren aber auch Hunderb und mehr Fuss. in einer Sekunde.
Der heftigste, den man bis jetzt beobachtet hat, machte -Hun-
dert mb drei ~und zwanzig —Fuss in einer Sekunde j doch sind sie
eiten. Je schneller der Zug des Windes, je größer ift.jeiue
133
Macht. Kann doch schon ein Luftstrom, der nicht schneller läuft als
ein Mensch, Mühlen treiben. Was vermag der schnellste? Unter ent-
setzlichem Geheul erschüttert er die stärksten Wohnungen, bricht er
Wälder wie dürres Schilfrohr, stürzt er Felsen von den Berggipfeln
und treibt Flüsse in ihrem Laufe emporschwellend zurück.
65. Das Gewitter.*)
/Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind.
Es spielt das Kind, die Mutter stch schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl.
Wie wehen die Lüste so schwül!
^Das Kind spricht: „morgen ists Feiertag:
Wie will ich spielen im grünen Hag!
Wie will ich springen durch Thal und Höhn!
Wie will ich pflücken viel Blumen schön!
Dem Anger, dem bin ich hold."
Hört ihrs, wie der Donner grollt?
^Die Mutter spricht: „morgen ists Feiertag:
Da halten wir alle fröhlich Gelag;
Ich selber, ich rüste mein Feierkleid:
Das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
Dann scheint die Sonne wie Gold."
' Hört ihrs, wie der Donner grollt?
^/Großmutter spricht: „morgen ists Feiertag:
Großmutter hat keinen Feiertag!
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid:
Das Leben ist Sorg^und viel Arbeit.
Wohl dem, der that, was er sollt!"
Hört ihrs, wie der Donner grollt?
j Urahne spricht: „morgen ists Feiertag;
Am liebsten morgen ich sterben mag.
Ich kann nicht singen und scherzen mehr;
*) Anm. Dieses zerstörende Gewitter hat den 30. Juni 1828 zu Tuttlingen
stattgefunden.
^ " *
134
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer.
Was thu ich noch auf der Welt?"
Seht ihrs, wie der Blitz dort fällt?
/?,Sie Hörens nicht, sie sehens nicht;
Es flammt die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl mit einander getroffen sind;
Vier Leben endet ein Schlag —
Und morgen ist Feiertag!
66. Die Wärme.
/^Wenn im Frühling sich alle Pflanzen regen, wenn Feld und Wald wetteifern,
ihr neues Gewand anzuziehen, da ist es wohl die Sonne, welche die schlummernde
Natur wieder aufweckt; aber sie thut diese Wunder nicht durch die Lichtstrahlen,
welche sie aufs neue mit alter Kraft aussendet, um die Herzen der Menschen zu
erquicken, sondern für alle Pflanzen kommt die Belebung vorzüglich von der Wärme,
die von dem Gestirne des Tages mit dem Lichtglanze ausgeht. Diese Wärme schmelzt
Eis und Schnee, vertheilt die Wolken und Nebel, welche den klaren Himmel ver-
hüllten, und belebt im Schooße der Erde und in der freien Luft die ruhenden Triebe
und Knospen der Pflanzen. Darum bezweifelt Niemand, daß die Wärme eine mächtige
und vielleicht die stärkste Triebfeder für alles pflanzliche Leben sei. Aber alles
thierische und auch das menschliche Leben stehen gleichfalls unter dem dauernden Ein-
fluß der Wärme.
.Manche Thiere, wie das Murmelthier und der Siebenschläfer, verfallen wäh-
rend des Winters in einen schlafartigen Zustand und bleiben in diesem, bis die
wärmere Lust des Frühlings sie wieder erweckt. Sie erinnern unwillkürlich an die
Pflanzenwelt, welche im Winter schlummert. Die Mehrzahl der Thiere und der
Mensch zeigen zwar im Sommer und Winter nicht diesen Gegensatz von Wachen
und Schlafen; aber ihre Lebensthätigkeiten ändern sich doch je nach der kalten oder
warmen Jahreszeit, je nach dem Aufenthalte in einem kalten oder warmen Klima.
Das Bedürfniß der Nahrung ist im Winter größer als im Sommer. Jener wirkt
stärkend, dieser erschlaffend ans unsern Körper ein. Durch jenen werden unsere Ath-
mungswerkzeuge, durch diesen unsere Verdauungswerkzeuge vorzüglich zu Krankheiten
veranlaßt. Die kältesten wie die wärmsten Klimate sind der höchsten Entwicklung
der menschlichen Thätigkeit nicht am günstigsten, sondern alle Völker, welche in der
Weltgeschichte hervorgeragt haben, wohnten in der gemäßigten Zone und standen
also unter dem Einflüsse einer mittleren Wärme.
Es scheint, daß ein gemäßigtes Klima die meisten Bedingungen in sich schließt
zugleich für Genuß des Lebens und für Nöthigung zur Arbeit. Die kostbarsten Ge-
wächse, Getreide, Obst, Wein, gedeihen in jenen Ländern; aber sie gedeihen nicht
wie die nährenden Pflanzen der heißen Länder ohne anhaltende menschliche Hülfe,
vielmehr bedürfen sie zu ihrem vollen Gedeihen fortwährend der menschlichen Pflege.
Der Sommer bringt die Wärme, welche dem Körper des Menschen am meisten an-
gemessen ist; aber der Winter und oft auch der Frühling und Herbst nöthigen de»
13s)
Menschen, für seine Erwärmung selbst Sorge zu tragen. So steht der Bewohner
der gemäßigten Zone in der Mitte zwischen den trägen, genußsüchtigen Völkern der
heißen Erdstriche und den verkümmerten Polarvölkern, welche der widerspenstigen
Natur die Mittel zu ihrem Leben mit Mühe abringen. Der Wechsel der Jahres-
zeiten, wie er uns wohlbekannt ist, trägt also sehr viel zu unserm Wohlsein bei.
t! Seit den frühesten Zeiten haben es die Völker verstanden, die Wärme zu erzeu-
gen,' welche sie während der kalte» Jahreszeit nothwendig bedürfen. Man benützt
dazu immer, wie auch jetzt, brennbare Stoffe, namentlich das Holz der Bäume. [
Wie nemlich die Wärme im Stande ist, das Brennen der Körper zu erregen, so
wird auf der andern Seite durch jedes Brennen Wärme hervorgebracht. Darum ver- ,
brennt man in unsern Zimmern Holz, Torf, Steinkohlen, und läßt die Wärme ent-
weder unmittelbar, wie bei den Kaminen, oder mittelbar durch die eisernen und
thönernen Wandungen der Ocfen auf die Zimmerluft einwirken. Bald fand es sich,
daß diese Wärme nicht bloß unserm Körper zuträglich ist, sondern daß sie auch unsere
Nahrung angemessen verändert. Die Wärme, welche ursprünglich nur der Nothdurft
diente, wurde zu einem Mittel, die Speisen zugleich verdaulicher und schmackhafter
zu machen. Diese Vorbereitung, dieses Kochen unterscheidet selbst die wenigst civili-
sirten Völker noch vom Thiere, welches immer die Nahrung zu sich nimmt, wie sie
ihm von außen dargeboten wird. So wird durch die Wärme die Ernährung des
Menschen über den bloß thierischen Vorgang emporgehoben.
Wie der Mensch im Winter sich selbst die nöthige Wärme bereitet, so sucht er
die Kälte in der heißesten Zeit des Sommers auf. Kaltes Wasser, mit Maß ge-
nossen, erfrischt als kühlender Trunk. Kalte Bäder in Flüssen und Teichen oder
.im Meere erfrischen den Körper und befreien ihn von der Erschlaffung, welche die
»Hitze des Sommers mit sich bringt./'
j Hm die Grade der Wärme und Kälte zu bestimmen, welche für diese verschie-
denen Zwecke passen, wird der Wärmemesser oder das Thermometer benützt. Durch
Wärme werden nemlich die Körper ausgedehnt, und man ist daher im Stande, nach
dem Maße der Ausdehnung eines Körpers seine Wärme zu messen. Man fand, daß
der dienlichste Körper das flüssige Metall Quecksilber sei. Daher verfertigt man die
, Thermometer aus feinen Glasröhren, in welchen Quecksilber enthalten ist. Das
Quecksilber steigt mit der Wärme und fällt mit der Kälte. Um nun feste Punkte zu
erhalten, wird am Thermometer bemerkt, wie hoch das Quecksilber steht, wenn mau
es in siedendes Wasser taucht, wie tief, wenn es in schmelzendes Eis gebracht wird.
Jenes heißt der Siedpunkt, dies der Eis- oder Nullpunkt. Zwischen beiden werden
80 (oder 100) Abtheilungen oder Grade gemacht. Die Wärme des menschlichen
Blutes beträgt acht und zwanzig bis dreißig Grade. Ein warmes Bad darf nicht
höher steigen und hat meist nur sieben bis acht und zwanzig Grade. Kalte Bäder
haben eine Wärme von fünfzehn bis zwei und zwanzig Graden.
l£)jx Mensch allein vermag den verschiedenen Jahreszeiten der Wärme und Kälte
zu trotzen. Sein geistiges Leben ist diesen Wechseln nicht jo Unterthan, wie das
Leben der Thiere und noch mehr die Entwicklung der Pflanze^
67. Hotz und Kohle.
In unsern Gegenden wird zum Heizen vorzüglich Holz verwen-
det;, in andern, wie in England, dient dazu vornemlich die Stein-
I
136
skohle, welche durch Bergbau aus tiefen Schachten herausgefordert
'wird. Aber Holz und Steinkohle stammen beide aus dem Pflanzen-
reiche her; nur daß jenes geradezu von lebenden Pflanzen gewonnen
wird, diese aber von längst untergegangenen Pflanzen stammt, welche
in mächtigen Massen angehäuft und in den Tiefen der Erdrinde all-
mählich in Kohle umgewandelt worden sind. Im Kleinen entsteht jetzt
noch unvollkommene Kohle an sumpfigen Stellen und heißt hier Torf;
der Mensch aber verwandelt das Holz durch Erhitzen bei beschränktem
Luftzutritt in eine Kohle, welche viel lockerer ist, als die Steinkohle,
und dieser an Brennkraft bei weitem nachsteht. So liefert also das
.Pflanzenreich uns unmittelbar oder mittelbar die Stoffe, durch deren
^Verbrennen wir Wärme erzeugen/
/Wenn Holz nicht vollständig verbrannt wird, so bleiben immer
feine Kohlentheilchen übrig, und diese setzen sich als Ruß in den Ka-
minen an, durch welche die erwärmte Luft aus unsern Oescn oder
Herden weggeht; sie geben dem Ranch, welcher zu den Schornsteinen
hinauszieht, seine grauliche Farbe. Die besten Heizungsvorrichtungen
wären freilich diejenigen, wo gar kein oder nur sehr wenig Ruß zu-
rückbleibt, wo also das Holz möglichst vollständig verbrannt und zur
Heizung verwendet wird. Man hat diese Vorrichtungen in neuerer
Zeit sehr verbessert, und es wird gewiß bald möglich sein, zu be-
wirken, daß nicht durch die Kamine unserer Häuser oder Fabriken
schwarzgrauer Ranch hinauszieht, welcher durch seinen feinen Ruß die
Umgebungen belästigt und kostbare Kohle den Öefen und Herden ent-
zieht. Aber außer diesem Ruß bleibt beim Brennen von Holz oder
Kohle auch noch Asche zurück, und diese läßt sich durch keine Vorrich- «
Lungen vermeiden.
. ^/Manche Leute glauben, die Asche entstehe erst beim Brennen, es
wandle sich das Holz oder die Kohle in Asche um. Aber wenn diese
Stosse vollständig verbrennen, so verwandeln sie sich ganz in lustför-
mige Substanzen; diese ziehen zu den Schornsteinen hinaus und ver-
mengen sich mit der Luft, welche den zum Brennen nöthigen Sauer-
stoff enthält und liefert. Nur die Asche bleibt zurück, und diese' um-
schließt gerade die nichtbrennbaren, nicht flüchtigen Bestandtheile von
Holz und Kohle. Pflanzen und Thiere enthalten nemlich nicht bloß
Stosse, welche ihnen, als lebenden Geschöpfen eigenthümlich sind und
sie von den Gesteinen unterscheiden, sondern sie borgen auch von der
festen Erde, auf welcher sie leben, eine kleine Menge von Bestand-
theilen, welche vorzüglich dazu dienen, einzelne Theile der Pflanzen
Si
137
und Thiere, wie Holz und Knochen, fester und zu einer guten Stütze
für die weichen Theile des Körpers zu machen. So enthalten auch
die Knochen des Menschen viel erdige Bestandtheile. Alle diese Stoffe
kommen in die lebenden Geschöpfe hauptsächlich mit dem Wasser. Aber
wie sie ursprünglich von der Erde geborgt sind, so bleiben sie beim
Verbrennen wieder als Asche zurück, und auf gleiche Weise werden
sie der Erde zurückgegeben, wenn Menschen, Thiere und Pflanzen lang-
samer durch Verwesung in ihre Grundstoffe zerlegt werden. ^ Die Asche
der Holzpflanzen enthält vorzüglich einen salzigen Bestandtheil, die
Pottasche ; in der Asche der Seepflauzen ist ein ähnlicher Stoff, die
Soda, enthalten. Beide werden zur Seifenbereitung verwendet. Außer-
dem benützt man bei uns eine Lösung der Holzasche, die Lauge, zum
Waschen; die S»lze der Asche gehen hiebei Verbindungen mit den
fetten Stoffen ein, welche besonders den Schmutz der Kleidungsstücke
ausmachen. Zum Düngen wird die Asche verwendet, um den Pflan-
zen die wichtigen erdigen Bestandtheile zuzuführen, welche sie zu ihrem
Leben, zum Aufbau ihrer Glieder nothwendig bedürfen. Ruß und
/» Asche dürfen nicht mit einander verwechselt werden; und ebensowenig
' sind die Steinkohlen als die Asche vorweltlicher zerstörter Pflanzen
anzusehen. Eine tiefgehende Umwandlung hat aus lockeren, saftigen
Wurzeln, Stämmen und Blättern diese schwarzen, festen Kohlen erzeugt.
Aber es scheint, daß diese Verwandlung bisweilen nicht bei den Stein-
kohlen stehen bleibt. Das Reißblei, welches allgemein zu Bleistiften
verwendet wird, ist nichts als sehr dichte Kohle, welche ganz einem
Gesteine gleicht und von pflanzlichem oder thierischem Ursprünge nichts
mehr an sich erkennen läßt. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß auch
das Reißblei ursprünglich von pflanzlichen Resten herstammt, welche
sehr tief und bis zur Unkenntlichkeit umgewandelt worden sind. Wer
sollte aber denken, daß auch der Diamant vielleicht durch Verände-
rung von Resten lebender Geschöpfe, durch eine Art von Verkohlung
entstanden ist? Während die reine Kohle als Reißblei schwarz, weich
und wenig glänzend erscheint, bildet dieselbe Kohle unter veränderten
Umständen den klaren, stark glänzenden, überaus harten Diamant,
den geschätztesten von allen Edelsteinen. Er widersteht dem Feuer
nicht, wie andere Edelsteine; sondern gleich dem schwarzen Reißblei,
gleich der gemeinen Holzkohle verbrennt er in der Hitze und bildet
mit dem Sauerstoffe der Luft eine Verbindung, welche'als lustähn-
lichcr Stoff entweicht. Der Diamant ist so reine Kohle, daß bei sei-
ner Verbrennung nicht einmal Asche zurückbleibt.
I
138
i»8//Wer Herd und das Feuer.
y In solchen Küchen, wo die Kunstherde noch keinen Eingang gefunden
haben, brennt das Kochfeuer auf dem freien, offenen Herde, und die einzige
Vorrichtung besteht darin, daß einige Backsteine ausgemauert sind, auf welche
die Holzscheite gelegt werden, damit die Lust unter denselben desto ungehinderter
zuströmen kann. Wenn nemlich ein Feuer entstehen soll, so sind zwei Beding-
ungen unerläßlich: erstens, daß das Holz, oder was sonst brennen soll, bis auf
einen gewissen Grad erwärmt ist; zweitens, daß die Lust ungehindert zuströmen
kann; denn diese enthält neben andern Bestandtheilen auch den sogenannten
Sauerstoff, ohne welchen wir nicht athmen können und ohne welchen kein Feuer
brennen kann. Daraus folgt von selbst, daß ein Feuer auf zweierlei Weise ge-
löscht werden kann: nemlich erstens dadurch, daß man ihm die Wärme entzieht
und in dieser Absicht Waffer zuschüttet, und zweitens dadurch, daß man den
Zutritt der Lust abhält, also das Feuer erstickt.
/ Wenn z. B. die Hausfrauen so unklug sind, Hanf oder Flachs im heißen
Backofen zu dörren; so ist es noch viel unkluger, wenn sie die in Brand gera-
thenen Stengel aus dem Ofen reißen, wodurch sie um so gewisser vollends ver-
brennen und oft noch weiteres Unheil anrichten. Das einzige Rettungsmittel
ist, den Ösen so schnell und so genau als möglich zu verschließen und dadurch
das Feuer zu ersticken. Ebenso ist es das sicherste Mittel, brennendes Oel
oder Schmalz zu retten, daß man das Gefäß augenblicklich mit einem genau
passenden Deckel verschließt, der immer für den Fall der Noth bei der Hand
sein sollte. Mit Waffer ist in diesem Falle nichts auszurichten. Schüttet man
viel Waffer hinzu, so sinkt das Waffer im leichteren Oel oder Schmalz sogleich
unter, dieses brennt aus der Oberfläche fort, läuft wohl gar über den Rand
des Gefäßes hinaus, verbreitet sich auf dem Herde und das Feuer schlägt am
Ende zum Kamin hinaus.
-^Auch in andern Fällen, wenn das Feuer noch nicht weit verbreitet und
kein. Wasser in der Nähe ist, kommt man mit einer Schaufel voll Erde oder
andrer nicht so leicht brennender Dinge schnell zum Ziel.
Kehren wir nun zum Feuerherde zurück und betrachten die von der Haus-
frau zum Feuer aufgehäuften Stoffe genauer, so sehen wir unmittelbar auf
dem Herde einen Strohwisch, über demselben eine Hand voll Neisach und zu
oberst die Holzscheite liegen.
Je trockener die Stoffe sind, desto leichter sind sie zu erwärmen; je locke-
rer sie sind, desto leichter dringt die Luft in die Zwischenräume, und dararis be-
ruht die oben genannte Ordnung der Brennmaterialien auf dem Herde.
Aus demselben Grunde wählt man zu schnellem Feuer das lockere Tannen-
holz, zu nachhaltigem Feuer aber das dichtere Buchenholz.
Will das Feuer dennoch nicht brennen, so greift man zum Blasbalg, durch
welchen mehr Luft, also auch mehr Sauerstoff zum Feuer kommt.
/^Haben wir im Bisherigen gesehen, wie bei dem Herdfeuer für den Zutritt
der Luft gesorgt wird, so muffen wir nun auch von der Erzeugung der erforder-
lichen Wärme reden. Wilde Völker zünden ein Feuer an, indem ste zwei glatte
Stücke Holz so lange an einander reiben, bis ste zu brennen anfangen; denn
alle Reibung erzeugt Wärme, wie wir an dem Bohrer fühlen, der durch hartes
Holz getrieben wurde, an dem Radschuh, wenn er unten an einer Steige wieder
ausgehängt wird, und wie man manchmal an den hölzernen Achsen der Wagen sehen
kann, die bei rascher Umdrehung der Räder zu brennen anfangen, wenn sie nicht
zu rechter Zeit geschmiert werden. Bei uns bedient man sich zum Feuermachen
der Schwefelhölzer. Aber auch diese brennen nicht von selbst, und wir müffen
doch auch zur Reibung unsere Zuflucht nehmen und zwar auf zweierlei Art.
Die alte Weise war das sogenannte F e u e r s ch l a g e n. Stahl und Stein
wurde schnell an einander gerieben; dadurch lösten sich kleine brennende Stahl-
späne ab, welche durch verkohlte Leinwand oder Feuerschwamm aufgefangen
wurden, diese lockeren Stoffe wurden dadurch entzündet, und an ihnen zündete
man die Schwefelhölzer an.
Jetzt bedient man sich meistens der sogenannten Zündhölzer; die Haupt-
sache an denselben ist der Phosphor. Dieser wird durch leichtes Reiben ent-
zündet und theilt seine Wärme dem Schwefel mit, der wie bei den andern
Schwefelhölzern das Mittel ist, zunächst diese und durch sie der Reihe nach
Stroh, Reisach und Holz anzuzünden. Je leichter diese Zündhölzer brennen,
desto sorgfältiger sollten ste verwahrt werden, damit sie nicht in die Hände der
Kinder gerathen, welche dadurch schon manches Unheil, angerichtet haben.
f f . ££ ** v
Das Dicht und die Farben. >/
/Die reichste Quelle von Licht ist für uns die Sonne, viel
schwächer ist schon das Licht des Mondes und der Sterne; aber das
schwächste Licht bringen wir selbst durch unsere Lichter und Lampen
hervor. Von dem letzten Lichte allein wissen wir, wie es entsteht;
denn wir erzeugen es durch das Brennen von Unschlitt, Wachs, Oel
oder Leuchtgas. Das Leuchtende ist hier die Flamme, und diese
selbst besteht nur aus glühenden, theils festen, theils luftartigen
Stössen. Wie nemlich das Eisen in den Hochöfen oder in den
Schmiedewerkstätten, wie der Glasfluß in den Glasfabriken durch
die hohen Wärmegrade, denen sie ausgesetzt sind, glühen, so werden
140
auch die Stoffe, welche die Flamme bilden, durch die Hitze, welche
die brennenden Körper selbst erzeugen, zum Glühen gebracht. Die
bedeutende Hitze führt hier, wie überall, zur Lichtentwicklung. (Ob
ein ähnlicher Vorgang das Licht der Sonne und der Fixsterne erzeugt,
wissen wir nicht; von jener nimmt man an, daß ihr Körper für sich
dunkel, aber von einer leuchtenden Dunsthülle umgeben sei. Das
der Planeten und des Mondes hingegen ist kein eigenes, sie
n nur, wie unvollkommene Spiegel, das Licht der Sonne zuriñ^
Von asten diesen Arten des Lichtes unterscheidet sich aber noch
eine, nemlich das Licht des Blitzes. Es kommt und vergeht mit
gleicher Schnelligkeit; weithin erhellt es die Gegend. Man hat dieses
Licht das elektrische genannt. Denn dasselbe läßt sich mit viel ge-
ringerer Stärke durch die Elektrisirmaschine hervorbringen. Wenn
man dieser Vorrichtung, durch welche die wunderbare Kraft der Elek-
tricität erregt wird, den Finger nähert, so springt zu diesem unter
einer eigenthümlichen Empfindung ein Funken über; und derselbe
Funken, nur viel mächtiger und leuchtender, springt im Gewitter als
Blitz von der einen Wolke zur andern, von den Wolken zur Erde,
und wenn er Menschen trifft, so erschüttert er ihre Nerven aufs
tiefste, er betäubt oder tödtet den Getroffenen.
Das Licht, auf welche Weise es erzeugt sein mag, dringt in
unser Auge ein und verleiht unserer Seele mit Hülfe dieses Werk-
zeuges einen Blick in die Anordnung der ganzen Körperwelt. In
unserm Bewußtsein entsteht ein Abbild von der Art und Weise, wie
die äußeren Dinge im Raume neben einander sind. Vor allem er-
schließt uns der Strahl der Sonne diese Erde, den Schauplatz, auf
welchem unser zeitliches Leben verläuft. Das Licht des Mondes und
der Sterne läßt die Erde dunkler; aber es öffnet den Blick in die
Fernen des Weltraumes und lehrt uns, daß unser Planet in der
Schöpfung nicht allein steht, sondern in einem großen Ganzen von
Gestirnen als ein unbedeutendes Glied sich bewegt. Alle Schönheit dieser
Erde, alle Erhabenheit des gestirnten Himmels bliebe ohne das Auge
und ohne das Licht dem menschlichen Geist verborgen.
HDas reine Sonnenlicht erscheint unserm Auge weiß; so wird es
vom frischen Schnee, von lichten Wolken zurückgeworfen. Wo das
Licht fehlt, da tritt Schatten ein, bald rein schwarz, bald bei ge-
dämpftem Lichte heller oder dunkler grau. Aber wie viel würde der
Schöpfung, die uns umgibt, fehlen, wenn wir in ihr nichts sähen
als die Gegensätze von Licht und Schatten, wenn die Fülle der Far-
141
ben den Körpern genommen würde. Wenn das weiße Sonnenlicht
durch ein Glas mit Wasser auf eine weiße Fläche, auf ein Helles
Tuch fällt, so spielt es auf diesem in allerlei Farben; das gleiche
Farbenspiel bemerkt man in den Tropfen des Thaues, wenn sie von
der Sonne beschienen werden. Aber am reichsten und glänzendsten
erscheinen die Farben im Regenbogen, wenn die Sonne, welche im
Rücken des Beschauers scheint, sich in den Regentropfen bricht, dann
steht auf dunklem Hintergründe der hochgewölbte Bogen mit Roth,
Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett. Mau ersieht hieraus klar,
daß das weiße Sonnenlicht von durchsichtigen Körpern in Farben
zerlegt wird; man sagt, es werde gebrochen. Wenn alle Farben des
Regenbogens gesammelt werden, so verbinden sie sich wieder zu dem
weißen Lichte, aus dessen Zerlegung sie vorhin hervorgingen.
-So ist in der Sonne nicht bloß der Quell des Lichtes, sondern
auch die Fülle aller Farben enthalten. Je nach der Natur der Kör-
per werfen sie das reine oder das gebrochene Sonnenlicht zurück und
erscheinen entweder weiß oder auf verschiedene Weise gefärbt. Die
sechs Grundfarben sind im Regenbogen vorhanden, und von ihnen
können alle übrigen Farben abgeleitet werden. Die Körper werfen
also nicht nur mehr oder weniger Licht zurück, sind nicht nur für
das Auge heller oder dunkler, sondern jeder einzelne ist auch wieder
auf seine eigenthümliche Art gefärbt. Die Mannigfaltigkeit des Ge-
schaffenen thut sich Jedem in dem Reichthum der Farben kund. Auch
das Sonnenlicht zeigt uns keine einförmige Natur, sondern der Geist
wird erquickt durch den Anblick der unergründlichen Macht und Güte
dis Schöpfers. Und wie das Ohr durch die Harmonie der Töne
befriedigt wird, so erfaßt auch das Auge eine Harmonie anderer
Art, die Schönheit der wohl verbundenen, zusammenstimmenden Farben.
70. Der Regenbogen.
4-^ktr“&r^r-TT.
Mein Gott! das ist das Zeichen deines Bundes, welchen du mit
den Menschen nach der Sindfluth in Gnaden gemacht hast. Ich
sehe diesen Bogen an als ein hohes Thor deines himmlischen HMses
und weiß, daß die Gnadenthüre niemals vor einem betrübten Sünder
verschlossen ist. Dieses wunderschöne Himmelsbild entsteht, wenn sich
die Sonne in so viel tausend herunterfallenden Regentropfen abbildet
und abspiegelt. Also spüret man in allen deinen Werken deine un-
begreifliche Güte. Doch, wie dieser Bogen nur ein halber Zirkel,
*- ■ àlMà«' ■ - - -à, •
142
also hast du uns in dieser Zeit die ganze Herrlichkeit deiner Güte
noch nicht geoffenbart, sondern den größten Theil der seligen Ewig-
keit vorbehalten, in welcher wir dich majestätischen, glorwürdigsten,
schönen, liebreichen Gott auf dem Stuhl mit dem Regenbogen deiner
Güte umgeben ewig und seliglich anschauen werden.
/.Von Perlen baut sich eine Brücke
Hoch über einen grauen See;
Sie baut sich auf im Augenblicke
Und schwindelnd steigt sie in die Höh.
ADer höchsten Schiffe höchste Masten
Ziehu unter ihrem Bogen hin,
Sie selber trug noch keine Lasten
Und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn.
/^Sie wird erst mit dem Strom, und schwindet,
So wie des Wassers Fluth versiegt.
So sprich, wo sich die Brücke findet,
Und wer sie künstlich hat gefügt?
71. Die Kleinen Fensterchen.
.Es sind zwei kleine Fensterleiu
'' In einem großen Haus,
Da schaut die ganze Welt hinein,
Die ganze Welt heraus.
^-.Eiu Maler sitzet immer dort,
Kennt seine Kunst genau,
Malt alle Dinge fort und fort
Weiß, schwarz, roth, grün und blau.
^ Dies malt er eckig, jenes rund,
Lang, kurz, wie's ihm beliebt;
Wer kennet all die Farben und
Die Formen, die er gibt?
4 (Sin Zaubrer ists, das sag ich kühn;
Was faßt der Erde Schooß,
Das malt er auf ein Fleckchen hin
Wie eine Linse groß.
143
-"Auch was der Hausherr denkt und fleht,
^ " Malt er ans Fenster an,
Daß Jeder, der vorübergeht,
Es deutlich sehen kann.
/ Und freut der Herr im Hause sich,
Und nimmt der Schmerz ihn ein,
Dann zeigen öfters Perlen sich
An beiden Fenfterlein.
>Hst schönes Wetter, gute Zeit,
' ‘ Da sind sie hell und lieb;
Wenns aber fröstelt, stürmt und schneit,
Dann werden sie gar trüb.
ßttxti geht des Hauses Herr zur Ruh,
Richt braucht er dann ein Licht;
Dann schlägt der Tod die Läden zu,
Und ach! das Fenster bricht.
72. Vor-tichl.
/Der Nordschein oder das Nordlicht ist eine Nöthe am Himmel,
die in Winternächten von Norden her leuchtet. Die Nordlichter neh-
men manchmal fast den halben Himmel ein, sind von dunkler, bren-
nender Blutsarbe, wie in einer wallenden Bewegung, so daß schon
manchmal Nachbarorte einander mit ihren Feuerspritzen zu Hülfe ge-
fahren sind lind haben löschen wollen; oft sind sie auch schwächer und
kleiner. Aus der südlichen Erdhälfte sieht man dasselbe Licht ganz
eben so von Süden her. Beides ist einerlei Erscheinung und zeigt
sich also an beiden Polen der Erde, daher der Name Polarlicht
richtiger ist. In der eigentlichen Heimat dieses Lichtes,, in den Eis-
ländern am Nord- und Südpol, erscheint es noch viel heller und
prachtvoller als bei uns. Ein Augenzeuge berichtet darüber Folgen-
des: „Zuerst nahm eine lichte Wolke bogenförmig die Hälfte des Him-
mels ein: aus ihr gingen senkrechte Lichtsäulen, wechselsweise roth
und weiß, bis zum Gesichtskreis herab. Um Mitternacht verwandelte
sich der obere Theil dieser Säulen in feuerfarbige Garben, aus ihrer
Mitte schossen Pfeile hervor wie Raketen. Nach Mitternacht erwuch-
sen hieraus wieder Säulen, die mit dem wunderbarsten Ebenmaß ge-
ordnet waren, und ein glänzendes Gemisch von Pyramiden, Strah-
s-
144
len, Garben und Feuerkugeln. Die Nacht wurde in hellen Tag ver-
wandelt, ich konnte einen Brief lesen, so gut als am Mittag. Un-
vermerkt erlosch aber dieses himmlische Feuer wieder, jedoch blieb die
Nacht hell bis gegen Morgen. Dieses prachtvolle Schauspiel ertheilt
selbst den Sternen einen Theil seiner Schönheit. Sie funkeln durch
die wallenden Strahlen desselben mit größerem Glanz; oft scheint der
ganze Himmel in Funken zu stehen. Nichts Prächtigeres kaun man
sich denken, als jene farbigen Lichtströme, welche sich mit unglaub-
licher Schnelligkeit über den ganzen Himmel ausbreiten und ihn .gleich-
sam mit einer Decke von Edelsteinen zieren. Der ganze Himmel hat
das Aussehen einer glänzenden Kuppel, die von verschieden gefärb-
ten Lichtsäulen getragen wird. sMer man sieht dieses herrliche Schau-
spiel auch nicht ohne einigen Schrecken; denn es findet dabei manch-
mal ein deutliches Zischen, ein gelindes Sausen, mitunter auch ein
Platzen und Rollen statt, daß man meint, man höre das wiederholte
Knallen eines Feuerwerks. Die Jäger, welche am Eismeer die blauen
und weißen Füchse jagen, werden natürlich von den Polarlichtern oft
überfallen; alsdann fürchten sich ihre Hunde so sehr, daß sie sich auf
chie Erde niederlegen und nicht mehr von der Stelle zu gehen wagen,
ibis dieses Getöse aus ijTT^
Die Polarlichter sind nun für den Winter der Polar- oder Eis-
länder eine große Wohlthat. In diesen geht die Sonne etwa 4 Wo-
chen lang nicht auf, in dieser ganzen Zeit bliebe es also Nacht, eine
bange, ungemuthsame Nacht, wenn nicht Gott die freundlichen Polar-
lichter leuchten ließe. Es nützt einen da nichts, daß dafür im Som-
mer die Sonne auch wieder etwa 4 Wochen lang gar nicht untergeht,
sondern nur wie im Ring am Gesichtskreis herumläuft. Freilich ist die
Sonne der Mitternacht auch wieder ein merkwürdiges Schauspiel für
den Fremden. Sie gleicht indessen nur dem Mond, man kann sie
mit bloßen Augen betrachten ohne Schaden, sie hat ihren sonstigen
blendenden Glanz nicht. Ein so langer Tag erzeugt dann zwar
allerdings wieder eine so starke Hitze, daß der Theer an den
Schiffen flüssig wird, aber doch nur erst im Juli und August der ge-
frorene Boden aufthaut, und daß dann, was in solchen Gegenden
noch fortkommt, viel schneller als bei uns hervorkeimt, wächst und
reif wird, alles in 2 —2V2 Monaten. Dabei fehlt aber der Früh-
ling, der Sommer bricht auf einmal aus dem Winter hervor, auch
kommt kein Herbst, auf einmal macht der Sommer dem Winter wie-
der Platz, und dieser fragt nichts nach dem Sprichwort; strenge
145
Herren regieren nicht laflge, 8 — 9 Monate im Jahr wirthschaftet er
so schlimm, daß die SommeMine trotz dem vierwöchigen Tag mit den
Eismassen, die der Winter hinterläßt, weit nicht fertig werden kann.
73. Die Töne.
/, Jcder Schlag auf einen festen Körper ruft einen Ton hervor; ebenso klingt das
Wasser des Brunnens, wenn es in die größere Wassermasse aus einer gewissen Höhe
herabfallt, ebenso die Luft, wenn sie rasch durch die Peitsche getrennt wird und nach
der Trennung ebenso schnell sich wieder vereinigt. So entsteht der Ton immer durch
die Erschütterung der Körper. Aber jeder Körper klingt wieder auf eigenthümliche
Weise, der Stein anders als das Holz, das Holz anders als Metall. Im Klange
verräth jedes Ding seine innerste Natur. Die Töne kommen nicht von der Oberfläche
der Körper, sondern sie entspringen ans der Erschütterung der ganzen innersten
Masse. Wenn ein Körper klingt, so tönen oft auch andere mit. So klingt, wenn
die Geige gespielt wird, die Lust mit, welche in der Höhle des hölzernen Gehäuses
enthalten ist; so wird der Ton des Klaviers durch den Resonanzboden verstärkt.
Ueberdies aber werfen die Körper auch den Schall zurück, einige vollkommener, an-
dere weniger vollkommen. Daraus muß das Echo erklärt werden. Bisweilen wie-
derholt das Echo ganze Worte. Besonders mächtig ertönt es, wenn der Donner des
Gewitters von Wolken oder Bergwänden wiederhallt.
) Wir vernehmen die äußeren Töne; denn das Ohr ist uns zu diesem Zwecke als
besonderes Werkzeug gegeben. Es ist aufs beste so eingerichtet, daß der äußere
Schall klar und unverändert zu den Nerven des Gehöres geleitet wird. So ver-
nehmen wir die Klänge aller Geschöpfe, die Töne des Wassers, der Luft und der
Gesteine, die Stimmen der Thiere, vornemlich der obersten, luftathmenden Thiere.
Diese Töne erfüllen unsere Seele theils mit Vergnügen, theils mit Schrecken. Lieblich
bewegt uns der zartere Klang der Quellen, Bäche und Flüsse, der Wohllaut der
singenden Vögel; aber das Dröhnen der Meereswellen und Stürme, das Gebrüll
der Raubthiere ersaßt die Seele mit Unruhe und Entsetzen. Vorzüglich aber unter-
scheidet unser Ohr musikalische Töne von den unmusikalischen Geräuschen. Wo nem-
lrch die Erschütterungen der Körper sich regelmäßig folgen, wo sie zu geordneten
Schwingungen werden, die sich in einer bestimmten Zeit in bestimmtem Verhältnisse
wiederholen, da entsteht der eigentliche, der musikalische Ton. Das Geräusch hinge-
gen wird überall durch ungeordnete Erschütterungen oder Schwingungen erzeugt. Es
ist nicht schwer, jene regelmäßigen Schwingungen an den klingenden Saiten einer
Geige oder eines Klaviers mit dem Auge zu verfolgen.
' Der musikalische Ton wird für den Menschen zu einer Quelle höheren Genusses.
Dke 'gesetzmäßige Verbindung der Töne zum harmonischen und melodischen Ganzen
befriedigt jenen höheren, geistigen Sinn, welchem man bildlich den Namen des mu-
sikalischen Gehöres gegeben hat. Alle Völker zeigen wenigstens Spuren von musika-
lischem Bedürfnisse, und mit der höheren Bildung wächst auch das Verlangen, durch
die Musik der Welt der Töne eine innere Ordnung und einen tieferen Gehalt zu
geben. Dazu schafft sich der Mensch eigene Werkzeuge, deren Erfindung in die älteste
Zeit hinausreicht (1 Mos. 4, 21.). Er brachte die Töne theils durch die Luft, theils
durch feste Körper hervor.
' In dem mächtigsten aller Instrumente, in der Orgel, klingt die Lust, welche
innerhalb der Pfeifen in Schwingungen versetzt wird. Je länger die Dsctsen sind,
Lesebuch. , 0
146
desto tiefer werden die Töne. Durch die Kunst des Orgelbaues ist es aber gelun-
gen, dem Instrumente nicht bloß die grösste Höhe und Tiefe, sondern in seinen Re-
gistern auch eine kleine Welt von mannigfaltigen Klängen zu geben; so wird die
Orgel, als das kräftigste und reichste Instrument, zum würdigsten Dolmetscher und
Begleiter der religiösen Gefühle der versammelten Gemeinde. Ihr stehen vor allem
die Saiteninstrumente gegenüber, die Geige mit dem seelenvollen Klange und das
Klavier, ein kleines Orchester unter den übrigen Instrumenten. Auch in den Blas-
instrumenten wird der Ton theils durch die Lippen (wie bei der Trompete), theils
durch schwingende Platten im Instrumente selbst (wie bei der (Klarinette und Mund-
harmonika) hervorgebracht. Höhere Bedeutung indeß, als alle Instrumente,. hat die
.menschliche Stimme, jDas Werkzeug, welches diese Stimme erzeugt, der menschliche
-/Kehlkopf, ist ähnlich gebaut wie die Instrumente, welche durch schwingende Saiten
oder Mctallplatten Töne hervorbringen. Zwei schmale Häute oder Bänder sind im
Kehlkopfe so ausgespannt, daß nur eine schmale Ritze zwischen ihnen übrig bleibt.
Werden diese Häute vom Stoße der ansgeathmeten Luft bewegt, so schwingen und
tönen sie. Je größer der Kehlkopf ist, desto länger werden seine tönenden Bänder,
und wie bei den Saiten wächst mit der Länge dieser Bänder die Tiefe des Tones.
Darum haben die Männer, bei denen der Kehlkopf größer ist, als bei Frauen und
Kindern, auch tiefere Stimmen als diese. Wie alle Töne, so wird auch die wohl-
gebildete Stimme des Menschen musikalisch und melodisch. Im Gesänge wird der
Mensch viel mehr durch seine innersten Gefühle geleitet, als im Spiele eines In-
strumentes; darum vermag auch kein Instrument die Tiefen der Seele so zu bewe-
gen, wie der melodische To» der Menscheustimme.
^ Wie im Klange sich die eigenibümliclie Natur jedes Körpers ausspricht, so ist
in noch höherem Sinne die menschliche Stimme der Ausdruck der eigensten Gefühle
und Gedanken. Als Sprache oder als Gesang verräth sie, was die Seele des
Menschen bewegt. Die Klänge der Geschöpfe sind der einfache, nothwendige Aus-
druck ihrer Natur; aber der Ton der D enscheustimme verkündigt die freie Thätigkeit
eines geistigen Wesens. Sellen freilich bedenkt der Mensch, daß ihm die Stimme
dazu gegeben ist, Gott als den Schöpfer und das Urbild feines Wesens zu verkün-
digen und zu preisen.
74. Fob -er Tonkunst.
Der schönsten und herrlichsten Goden Gottes und der besten
Künste eine ist die Mnsica, damit man viel AnfechtiOg und böse Ge-
danken vertreibt. Die Noten machen den Text lebendig; sie ver-
jagt den Geist der Traurigkeit, wie man am König Saul sieht.
Mn st ca ist das beste Labsal einem betrübten Menichen, dadurch
das Herz wieder zufrieden, ergnickt il»d erfrischt wird; Mnsica ist
eitle halbe Lehr- lilld Znchtineisterin, so die Leute geliilder und sanft-
müthiger und vernünftiger macht. Die bösen Fiedler und Geiger
dienen dazu, daß wir sehen lind hören, wie eine feine, gute Kunst
die Mnsica sei; denn Weißes kann man besser erkennen, wenn man
Schwarzes dagegen hält. - 1 1
147
Musicam habe ich allezeit lieb gehabt. Wer diese Kunst kann,
der ist guter Art, zu Allem geschickt. Man muß Musicam von Noth
wegen in Schulen behalten. Ein Schulmeister muß singen können,
sonst seh ich ihn nicht an.
Die Música ist eine schöne, herrliche Gabe Gottes und nahe der
Gottesgelehrsamkeit; sie hat mich oft also erwecket und beweget, daß
ich Lust zu predigen genommen habe. Ich wollte mich meiner gerin-
gen Música nicht um was Großes verzeihen. Die Jugend soll man
stets zu dieser Kunst gewöhnen; denn sie macht feine, geschickte Leute.
Um uns eine Bvrstellung zu machen von der fast ins Unendliche gehenden
Mannigfaltigkeit der Töne, wollen wir zuerst eine Reihe von Wörtern nennen, die
nicht bloß willkürliche Ausdrücke für die betreffenden Töne, sondern den Naturlanten
nachgebildet sind und darum zugleich ein Zeugniß geben von dem Reichthum und
der Biegsamkeit unserer Muttersprache.
Solche Wörter sind: ächzen*), athmen, bellen, blasen, blöcken, brausen,
brüllen, brummen, donnern, flüstern, gackern, girren, glucksen, grillen, grunzen,
gurgeln, hauchen, heulen, husten, jauchzen (juchzen), keuchen, klappern, klatschen,
klingen, klingeln, klirren, knallen, knarfeln, knirfen, knirschen, knistern, knurren,
krachen, krähen, krächzen, kratzen, kreischen, kritzeln, lallen, lispeln, mauen, meckern,
murmeln, murren, näseln, patschen, pfeifen, picken, plärren, platzen, poltern, prasseln
(pratzeln), puffen, pumpen, pusten, quacken, rallen**), rasseln, rätschen, rauschen,
räuspern, röcheln, rollen, rumpeln, rutschen, sausen, säuseln, scharren, schlarfen,
schlürfen, schluchzen, schmatzen, schmettern, schnalzen, schnarchen, schnarren, schnat-
tern, schnauben, schnüffeln, schreien, schrillen, seufzen, sprudeln, stöhnen, stottern,
summen, sumsen, surren, tappen, trappen, trippeln, wetzen, wiehern, wimmern,
winseln, wispern, zischen, zwitschern.
« Es sind aber diese Töne bei weitem nicht die einzigen, die wir zu unter-
scheiden vermögen; vielmehr find mit den Arbeiten der Handwerker, mit den Be-
wegungen der Menschen und Thiere gewisse Töne verbunden, die so eigenthümlich
sind, daß wir, ohne Beihülfe des Gesichts, die Art der Bewegung oder der Be-
schäsligung aus dem Ton genau bestimmen können. Wir hören klopfen, klöpfeln
sägen, seilen, raspeln, spalten, hacken, dreschen, Futter schneiden, hobeln, fahren,
reiten; wir unterscheiden mit dem Gehör, ob man schnell oder langsam reitet und
fährt, ob der Wagen leicht oder schwer, leer oder beladen, ob der Boden, auf
dem man fährt, hart oder weich, gefroren oder schmutzig ist; wir unterscheiden
beim Sägen, wenn das Holz bald durchgesägt ist, beim Klopsen, ob man auf
Holz oder Eisen, auf etwas Dichtes oder Hohles klopft, ob die Geschirre des
Töpfers hart oder weich gebrannt, ob nicht versteckte Sprünge oder Risse an den-
selben sind u. s. w. Es müssen also alle diese Töne etwas Eigenthümliches haben,
l wenn wir gleich dieselben mit keinem besonderen Wort näher bezeichnen können.
*) Statt: ach: hört man im Volk den Seufzer: au! in Oberschmabcu: aun! daher: aunzgcn.
**) vom Ton des Katers, daher: Rälling.
148
¡ Noch weit mannigfaltiger aber find die Töne der menschlichen und thierischen
1 Stimme. Auch ohne daß wir ein Wort verstehen, können wir aus der Höhe oder
f Tiefe, Härte oder Weichheit des Tones den Mann vom Weib, das Kind von dem
Erwachsenen, den Ausländer vom Deutschen, den Zornigen vom Ruhigen, den
Fröhlichen vom Traurigen unterscheiden; aber auch abgesehen von diesen zufälligen
Zuständen und Stimmungen hat jede menschliche Stimme etwas so Ausgeprägtes,
daß wir Menschen, die wir schon öfter sprechen hörten, unter Tausenden zu erkennen
vermögen, ohne daß wir sie sehen; ja wenn das Aussehen eines Menschen sich in
einer längeren Reihe von Jahren so verändert hat, daß wir ihn nicht mehr erkennen
triirben, Jo werden wir ihn oft an der Stimme wieder zu erkennen vermögen.
Auch die thierischen Stimmen haben diese Mannigfaltigkeit; nicht nur, daß
wir jede Gattung von Thieren an der Stimme erkennen, sondern auch wenn z. B.
eine Schafheerde ihre Musik anstimmt, und man glauben sollte, es blöcke ein Schaf
wie das andere, so kennt doch jedes Lamm seine Mutter und jede Mutter ihr
Lamm an der Stimme, und auch ein geübter Schäfer erkennt seine Schafe am Schreien.
Die größte Mannigfaltigkeit der Töne aber zeigt sich in der Musik. Wir
dürfen uns nnr an die vielerlei Pfeifen einer Orgel, an die mancherlei Töne eines
Klaviers und anderer musikalischen Instrumente erinnern, oder wir dürfen nur auf
die Töne merken, welche ein singender Mensch in so wunderbarer Mannigfaltigkeit
theils für sich allein, theils in Verbindung mit andern Sängern hervorzubringen vermag.
Hören wir, wie sich unser Luther, dieser warme Freund der edlen Música,
darüber ausspricht: „Was soll ich sagen von des Menschen Stimme, gegen welcher
alle andere Gesänge, Klang und Laute gar nicht zu rechnen sind? Denn dieselbige
hat Gott mit einer Música begnadet, daß auch in dem einigen seine überschwengliche
und unbegreifliche Güte und Weisheit nicht kann noch mag verstanden werden. In
den Saitenspielen und andern Instrumenten, da hört man allein den Laut und Klang
ohne Red und Wort; dem Menschen aber ist die Stimme mit der Rede gegeben,
daß er sollte können und wissen, Gott mit Gesäugen und Worten zugleich zu loben,
nemlich mit dem hellen klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und
Gnade, darinnen schöne Wort und lieblicher Klang zugleich würde gehöret.
Wo aber die natürliche Música durch die Kunst geschärfet und polirt wird
da erkennt man erst znm Theil (denn gänzlich kann es nicht begriffen noch verstan-
den werden) mit Verwunderung die große und vollkommene Weisheit Gottes in sei-
nem wunderlichen Werk der Música, in welchem vor allem das seltsam und wohl zu
verwundern ist, daß einer eine schlechte (einfache) Weise hersinget, neben welcher
drei, vier und fünf andere Stimmen auch gesungen werden, die um solche schlechte
einfältige Weise gleich als mit Jauchzen geringshernm herspieleu und springen, und
mit mancherlei Art und Klang dieselbige Weise zieren und schmücken und gleichwie
einen himmlischen Tanzreihen führen, freundlich einander begegnen und sich gleich
herzen und lieblich umfangen. Wer aber durch solch Wunderwerk nicht bewegt wird
i"
h
otz sein § der nicht werth
und keine Lust dazu hat, das muß wahrlich ein ^grober Kjotz
ist, daß er solche liebliche Musica höre."!, ¿K ^ i f ,r
■//, 0' .
{ßjjt6, Die Eijenba^n. ^
Wenn man Eisenbahnen anlegen 'wi^^U^dkr Hoden vor allen Dingen so
viel als möglich geebnet sein. Daher sprengt mau Felsen, wirft Hügel ein und
durchgräbt Berge, die sich entgegenstellen; tiefe Stellen erhöht man, über ^stmpfe
fund Thäler baut man Brücken. Ist der Weg möglichst eben hergestellt und hat er
/sich gehörig gesetzt, so legt man steinerne Unterlagen oder Holzschwellen, etwa drei
Fuß von einander, quer über denselben, nnd ans diese hin, den Weg entlang,
Schienen von gewalztem Eisen, die etwas abgerundet sind, und von denen jeder
Schuh etwa zehn Pfund im Gewicht hat. Die Näder der Eisenbahnwagen lausen
auf diesen Schienen, statt ans gewöhnlichen Wegen in den Geleisen; sie müssen durch
einen Kranz an der innern Seite, oder durch vertiefte Ränder, in welche die Schienen
eingreifen, so ans den Schienen gehalten werden, daß sie auf keiner Seite über die-
selben hinabgleiten können. Die Räder sind von Gußeisen. Je härter, glatter und
ebener nemlich die Geleise für Wagenräder sind, je weniger also Reibung stattfindet,
desto leichter und schneller können sich diese bewegen, und desto schwerere Lasten
können sie fortschaffen. Ans einer Kuuststraße zieht ein Pferd mehr als vier Pferde
in Sandwegen oder ans nassem Lehmboden; ans einer Eisenbahn zieht dann ein
Pferd mehr als sechs Pferde ans einer guten Straße. Steigt aber eine Eisenbahn
bei zweihundert Fuß auch nur um einen Fuß, so wird die Wirkung um mehr als
die Hälfte vermindert, bei einer Steigung von einem Fuß auf hundert Fuß um
fast */4. Gefahren wird auf den Eisenbahnen meistens etwa acht Stunden weit in
einer Stunde, also mit der Geschwindigkeit eines galoppirenden Pferdes, acht und
zwanzig Fuß in der Sekunde; man kann aber vierzehn bis zwanzig Stunden in
einer Stunde zurücklegen, dies ist dann so schnell wie ein Sturm, sechs und fünf-
zig Fnß in der Sekunde; mit Gütern macht man nur vier bis sechs Stunden in
einer Stunde. Ein gewöhnlicher Dampfwagen leistet so viel als hundert Pferde.
Die Kosten einer Eisenbahn find nach den Verhältnissen des Bodens, wenn z. B.
Thäler, Felsen, Berge vorkommen, und nach den Preisen von Stein, Holz rc. sehr
verschieden.
Das Gestell der Wagen ruht gewöhnlich ans sechs bis acht Nädern, damit die
Last besser vertheilt wird. Mehrere Wagen werden an einander gehängt, der erste
enthält die Dampfmaschine, die alle Wagen zieht, der zweite Holz oder Steinkohlen
für den Kessel, in den folgenden find die Reisenden und Güter.
Geht nun die Fahrt an, so wird die Dampfmaschine angespannt, mit ihrem
» Meister darauf, welcher sie zu lenken nnd anzuhalten weiß; Wagen wird an Wagen
gekettet, Menschen und Vieh darein gebracht, und dann fährt man.
An jedem Ort auf dem Weg weiß man Stunde und Minute, wann die Wagen-
reihe eintreffen wird; man hört Stunden weit den Schall der Signalpfeife, wenn
der Zng auf der Fahrt ist, und rundum, wo Nebenwege für gewöhnlich Fahrende
Und Gehende die Eisenbahn durchschneiden, schlägt die aufgestellte Wache den hölzer-
nen Schlagbaum vor ihnen nieder, und die Lente müssen warten, bis der Zug vor-
über ist. Längs der Bahn sind Hänschen in kleiner Entfernung von einander für die
Bahnwärter errichtet, welche dafür zu sorgen haben, daß die Bahn rein gehalten
wird, daß kein Stein, kein Zweig auf den Schienen liegt.
Auf den Bahnhöfen ist ein Gedränge von Reisenden, ein Umherlaufen mit Kof-
fern und Nachtsäcken/ ein Sausen und Brausen von Maschinen, aus welchen der
Dampf sich herauswälzt. Man weiß das erstemal nicht recht, wo man stehen darf,
damit nicht ein Wagen oder ein Dampfkessel oder ein Kasten mit Reisegnt über einen
gehe. Zwar steht man sicher auf dem Sammelplatz, allein unten auf der Bahn kreuzen
sich die eisernen Schienen wie Zanberbänder, an die sich die Wagen halten müssen;
l gerathen sie außerhalb derselben, da gilt es Leben oder Glieder. Und nun:
T
150
diese Wagen nnd wandernden Kamine, dieser Dampf und dieses Brausen, und das
Gedränge, um Platz zu erhalten, der taktmäßige Gang der Maschinen und das Pfeifen
und Zischen des ausgelassenen Dampfes, Alles verstärkt den Eindruck, und ist man
hier zum erstenmal, so denkt man ans Umwerfen, ans Arm- und Bcinbrechen, oder
aus Zerquetschen und Zusammenstoßen mit einer andern Wagenreihe; ich glaube
aber, es ist nur das erstemal, daß man daran denkt.
Das Reisen auf der Eisenbahn ist das wohlfeilste, so daß auch Arme mitfahren
können, indem es ihnen weniger theuer wird, als wenn sie den langen Weg gehen,
in Wirthshäusern einkehren und auf der Reise übernachten sollten.
Man setzt sich in die gemächliche Kutsche, der Couducteur macht die Thür hinter
uns zu, wir können das Fenster herunterlassen, können frische Luft genießen, ohne
eine Unannehmlichkeit von Luftdruck zu befürchten; es ist wie in jedem andern Wagen,
nur weit gemächlicher.
Die erste Empfindung ist eine ganz leise Erschütterung der Wagen, und nun
sind die Ketten gespannt, welche dieselben zusammenhalten; die Signalpfeife läßt
sich hören, und die Fahrt beginnt, erst langsam, die ersten Schritte geht es saust,
als ob eine Kinderhand den Wagen zöge. Die Schnelligkeit nimmt allmählich z»;
und man weiß nicht recht, ob die Fahrt schon angefangen hat, denn der Wagen
gleitet wie ein Schlitten auf dem ebenen Schneefeld. Du siehst zum Fenster hinaus
und entdeckst, daß du einherjagst wie mit galoppirenden Pferden; es geht noch schneller,
und du scheinst zu fliegen.
Fährt man durch flache, bevölkerte Länder, so ist es, als ob Stadt dicht an
Stadt läge; jetzt kommt eine, jetzt wieder eine! Man kann sich recht den Flug der
Zugvögel denken; so müssen sie die Städte hinter sich lassen. Die Fuhrwerke, die
man auf den Straßen sieht, scheinen still zu halte»; die Pferde vor den Wagen
heben die Füße, scheinen sie aber wieder auf dieselbe Stelle niederzusetzen, und dann
sind wir schon längst vorbei.
Jeden Augenblick ist man an einer neuen Station; wo Reisende abgesetzt nnd
wieder aufgenommen werden sollen; hiedurch wird die Fahrt verzögert; man hält
-einige Minuten an;
gtvc die Wagcnreihe
dann jagt man weiter und ist in kurzem wieder unter Dach,
■
77//Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Job. 14, 6.
Ein Christ, der diesen Weg kennet und schon angefangen hat,
darauf zu gehen, soll und darf nicht zweifeln und zagen wie jene,
die nicht an Christum glauben und den Reim führen:
Ich kt', und weiß nicht wie laug, ^
Ich sterb, und weiß nicht wann, ,
Ich fahr, und weiß nicht wohin,
Mich wundert, daß ich fröhlich bin.
Der Christ kann diesen Reim getrost umkehren und also sagen:
Ich leb, und weiß wohl wie lang,
Ich sterb, und weiß wobl wie und wann,
Ich fahr, und weiß gottlob! wohin.
Mich wundert, daß ich traurig bin!
, ' - y
151
78. Die Hochebene von Oberschwaben.
All der mittäglichen Grenze von Württemberg breitet der Bvdensee seinen
herrlichen Wasserspiegel aus. Er ist 9 '/2 Geviertmeisen groß, so groß als eines der
größten Oberämter unseres Landes, und trägt daher mit Recht seit alter Zeit den
Namen „schwäbisches Meer". Im Süden ziehen an ihm die langen Kettenzüge der
Schweizer und Tiroler Alpen, dieses Grcnzgebirgs zwischen Deutschland und Italien,
vorüber. Fünf Staaten, nemlich Baden, Württemberg, Bayern, Oesterreich und die
Schweiz haben an seinen Ufern Theil; ihre Handclsfahrzeuge und Dampfschiffe be-
fahren ihn. Er erstreckt sich von Südost nach Nordwest, von der österreichischen
Stadt Bregenz bis zur badischen Stadt Constanz zwölf Stunden weit; hier theilt er sich
in zwei Arme, von denen der eine, der untere oderZeller See, durch welchen der Rhein
seinen Abfluß hat, fünf, der andere, der Uebcrlinger See, sechs Stunden lang ist.
In jenem liegt die lieblicheJnsel Reichenau, in diesem die schöne Insel Meinau. Seine
größte Breite hat der See zwischen Friedrichshafen und Rorschach, sie beträgt fünf
Stunden; auf dieser Linie befindet sich auch seine größte Tiefe mit 850 Fuß. Vom
nördlichen Ufer besitzt Württemberg gerade den mittleren Theil, jedoch nur in einer
Ausdehnung von fünf Stunden. Hier liegt die Stadt Friedrichshafen (früher Buch-
horn genannt), ein wichtiger Stapelplatz für den Handel zwischen Deutschland, der
Schweiz und Italien. Von hier aus wird hauptsächlich der Getreideüberfluß Ober-
schwabens der östlichen Schweiz zugeführt.
Vom Bodensee aus gegen Mitternacht breitet sich bis zur Donau eine Ebene
aus, welche 1500 bis 1900 Fuß über dem Meeresspiegel liegt und von dem Stamm
der Oberschwaben bewohnt wird; sie wird die Hochebene von Oberschwaben genannt.
Gegen Osten zieht sie sich weit ins Bayrische, gegen Westen ins Badische und das
jetzt mit Preußen vereinigte frühere Fürstenthum Sigmaringen hinein. Im Osten
scheidet der Jllerfluß den württembergischen Antheil vom bayrischen. Das württem-
bergische Oberschwaben ist etwa 70Geviertmeilcn groß und kam erst im Anfang die-
ses Jahrhunderts an Württemberg, vorher gehörte es zu Oesterreich; einige Städte
jedoch, wie Ulm, Biberach, Leutkirch, Jßny, Wangen, Buchhorn, waren freie
Reichsstädte.
An der nördlichen und südlichen Grenze von Oberschwaben fließen zwei Haupt-
ströme Europas fast gleichlaufend, jedoch in entgegengesetzter Richtung, die Donau
nach Nordosten, und der Rhein gegen Westen; letzterer ist der Hauptzufluß des Bo-
densees. Es zieht somit die Wasserscheide zwischen Donau und Rhein durch Ober-
schwaben. Sie bildet einen halbkreisförmigen Bogen, der von Süd nach West zieht,
und theilt die Landschaft in zwei Gürtel. Der nördliche enthält das Wassergebiet
der Donau. Diese entspringt auf dem Schwarzwald. Ihre zwei Quellbäche, Brigach
und Brege, vereinigen sich bei Donaueschingeu und nehmen hier den Namen Donau
au. Der Fluß strömt nun in nordöstlichem Lauf an Tuttlingen und Sigmaringeu
vorbei und betritt bei Scheer das Württembergische Oberschwaben. Er fließt sofort
meist in einem sumpfigen oder Riedchale, das breit und flach ist, keine Bäume und
nicht einmal Gebüsch hat, an Riedlingeu, Munderkingen, Ehingen vorbei bis Ulm.
Hier wird die Donau durch die Vereinigung mit der ans den Allgäuer Alpen herab-
kommenden, wasserreichen Iller auf einmal schiffbar, geht aber nun gleich ins Bay-
rische über. Die Donau empfängt auf der rechten Seite von Süden her folgende
Zuflüsse: die Ostrach, Schwarzach, Kanzach, gliß, an welcher die Stadt Biberach
liegt, die Westernach, welche durch Vereinigung der Darnach und Rottum entsteht,
die Roth und die Iller. Alle fließen von Sud nach Nord. Der südliche Gürtel
von Oberschwaben dagegen gehört zum Stromgebiet des Rheins; diesem sendet er
seine Wasser durch den Bvdensee zu. Der Hanptflnß ist die Schüssen, deren Thal
sich oberhalb der Stadt Ravensburg zu einem Becken erweitert, welches zu den freund-
lichsten Gegenden des Landes gehört. Auch kündigt der hier beginnende Weinbau
bereits die milde Seegegend an. In Ravensburg wurde höchst wahrscheinlich das
erste Linnenpapier gemacht. Rechts von der Schüssen mündet die Aach bei Fried-
richshafen, links die Argen bei Langenargen in den Bodensee.
Man darf sich aber nun Oberschwaben nicht als eine vollkommene Ebene vor-
stellen, es wechseln Höhen und Tiefen mit einander ab; doch zeigen die Höhen fast
nirgends schroffe und eckige Formen und keine jähen Gipfel. Fast überall begegnen
uns volle, runde Wellenlinien. Im nördlichen Gürtel, der sich allmählich gegen die
Donau hin verflacht, lagern sich langgestreckte, flache Landrücken zwischen die Flnß-
thäler. Nur ein einziger bedeutender Berg, der Bussen, erhebt sich im Süden der
Donau bei Niedlingen bis zu 2332 Fuß, indem er von einer breiten Grundlage ge-
mach ansteigt; man sieht ihn weit und breit in Oberschwaben. Der südliche Gürtel,
der sich gegen Süden zum Bodensee abdacht, ist von regellos auftretenden Hügel-
reihen, Hügelgruppen und einzelnen Bergen bedeckt. Hier zeichnet sich besonders die
2364 Fuß hohe Waldburg, östlich von Ravensburg, die das Stammschloß der Truch-
seßen von Waldburg trägt, durch ihre große und herrliche Aussicht aus. Man über-
sieht ans ihr ganz Oberschwabcn, westlich bis znm Schwarzwald, nördlich bis zur
Alb, östlich weit ins Bayrische hinein, und im Süden den herrlichen Spiegel des
Bodensees samt dem prachtvollen Alpengebirge.
Wie die Oberfläche Oberschwabeus wenig Abwechslung in ihrer Formengestal-
tung zeigt, so bietet auch die Pflanzenwelt, mit der sie bekleidet ist, ein einförmiges
Bild dar. Unübersehbare Fruchtfelder, weithin sich erstreckende, düstere Tannenwälder
wechseln mit baumlosen, sumpfigen Mooren und Rieden ab, welche die flachen, breiten
Thalgründe bedecken. Die Riede werden theils durch die geringe Senkung des Bo-
dens, welche d'n raschen Ablaus des Wassers verhindert, theils durch eine unter der
Dammerde befindliche Lehm- oder Lettcnlage veranlaßt, welche das Wasser nicht in
die Tiefe hinabsickern läßt. Aus derselben Ursache gibt cs in Oberschwaben auch so
viele Seen und Weiher, welche jedoch in das einförmige und etwas düstere Natur-
gemälde eine liebliche Unterbrechung bringen. Der größte unter dielen Seen ist
nächst dem Bodensee der Federsee, der sich in einer großen Ebene bei Buchau über
einen Flächenraum von etwa 811 Morgen ausbreitet, aber nur achtzehn Fuß tief i>t.
Noch im Anfang dieses Jahrhunderts war er 3475 Morgen groß, ja vor dem Jahr
1787 breitete er sich so weit aus, daß Buchau eine Insel war. Um urbares Land
zu erhalten, wird noch immer von seinem Grund künstlich trocken gelegt. Seinen
Namen hat er von dem woll- und federartigen Samen der Sumpfpflanzen, welche au
seinen Ufern wachsen. Wegen der vielen stehenden Wasser und der großen Feuchtig-
keit sind überhaupt in Oberschwaben die Torfmoor-, Sumpf- und Waiierpflanzen,
so wie auch die Sumpf- und Wasservögel, z. B. wilde Enten, Wasserhühner, Schne-
pfen, Kibitze, Möven u. dgl., einheimisch. Jene Unterlage von Lehm gibt aber auch
einen fetten, für Kornban geeigneten Boden. Oberschwaben erzeugt daher sehr viele
und gute Frucht, Roggen und Dinkel (der letztere wird Beesen genannt), und ist so
153
die Kornkammer für die benachbarten Gebirgsländer, die Schweiz und Tirol, wohin
ein starker Fruchthandel getrieben wird, dem die Eisenbahn großen Vorschub leistet.
Die Obstzucht gedeiht wegen der nassen Thalgriinde und wegen der häufigen Nebel
und Reisen nicht gut. In der Seegegend kommen jedoch alle feineren Obstsorten
und Gartengewächse zur gleise, und die Ernte beginnt hier früher als in den meisten
übrigen Landesgegenden. Im Schussenthal wächst bis Weingarten hinauf Wein,
2300 Morgen erzeugen den sogenannten Seewein, der aber in gewöhnlichen Jahr-
gängen einen säuerlichen und faden Geschmack hat. Die Pferdezucht ist in Ober-
schwaben sehr bedeutend und liefert sehr schöne Thiere; auch die Rindviehzncht ist
namentlich im Allgäu, an der Argen, dem Vaterland des hie und da im Land vor-
kommenden Allgäuer Schlags, namhaft. Hier beginnt auf dem kleinen Alpengebiet,
das den südöstlichen Winkel von Württemberg ausfüllt, bereits die Schweizer Vieh-
und Käsewirthschaft. Die Bevölkerung ist nicht so ansehnlich wie im llnterland. Sie
bekennt sich größtentheils zur katholischen Kirche; die Evangelischen wohnen fast alle
in den ehemaligen Reichsstädten, namentlich zu Ulm. Diese Stadt ist die bedeutendste
Stadt Obcrschwabens, wichtig besonders durch ihren Handel und ihre Schifffahrt
auf der Donau, welche von lllm ans auch mit einem Schleppdampfboot zu befahren
neuerdings der Versuch gemacht worden ist. Im Mittelalter war Ulm eine der be-
rühmtesten und reichsten unter den freien Reichsstädten. Ulm hatte in seiner Blüthe-
zeit viereckiges Geld, von dem das Sprichwort sagte: Ulmer Geld geht durch alle
Welt. Im Jahr 1810 kam die Stadt an Württemberg; sie ist neuerdings in eine
deutsche Bundesfestung umgeschaffen worden. Schon früher war Ulm eine Reichs-
festung, deren Werke aber im Oktober 1805 von Napoleon geschleift wurden. Ulm
besitzt eines der vollkommensten und schönsten Denkmäler altdeutscher Baukunst, das
Münster, an welchem man ungefähr 130 Jahre, vom Ende des vierzehnten bis An-
fang des sechzehnten Jahrhunderts, baute. Die Kirche ist die höchste in Deutschland.
485 Fuß lang, 200Fuß breit und 141 Fuß im Innern hoch; es würden wohl 20—24,000
Menschen in ihr Platz finden. Sie hat schöne Glasmalereien, Gemälde und Holz-
schnitzwerke. Der Thurm ist 337 Fuß hoch, nach allen Seiten künstlich durchbrochen,
aber nicht vollendet; er hätte mehr als 500 Fnß hoch werden sollen.
79. Die Alb.
Von Oberschwaben ans erblickt man am nördlichen Rand des Gesichtskreises
einen sanft ansteigenden Höhenzug, welcher auf dem nördlichen User derDonau gleich-
laufend mit dieser sich hinzieht. Es ist dies der südöstliche Abfall der Alb. Sobald
man ihn erstiegen hat, so befindet man sich auf der Oberfläche einer weitgedehnten,
wellenförmigen Hochebene, welche gegen Norden zu vier bis fünf Meilen allmählich
einem platten Dach gleich ansteigt, dann aber uordwestwärtö plötzlich gäh gegen das
tiefere Neckarland abfällt. Dieser Steilabsturz beträgt 800 bis 1000 Fuß, während
der südöstliche gegen die Donau nur 200 bis 400Fuß hoch ist. Vor dem nordwest-
lichen Steilabsall gewahren wir vom Unterland aus Berge, die sich regelmäßig zu-
spitzen, oder ganz die Sargform haben, die wie Vorposten vor der Alb und am Ein-
gang der Thäler stehen und meist mit Trümmern alter Burgen gekrönt sind, z. B.
den Oberhohenberg bei Deilingen, den höchsten Punkt der Alb, 3112 Fuß hoch, den
Plettenberg, 3085, den Schafberg, 3073, die Lochen, 2968 Fuß hoch, alle drei süd-
lich von Balingen, den Hohenzollern bei Hechingen, 2646 Fnß hoch, mit der Stamm-
154
bürg des hohenzollernschen Fürstenhauses, von welchem auch die Könige von Preußen
abstammen, den Roßberg 2690 Fuß, die Achalm bei Reutlingen, 2158 Fuß hoch,
Hohenneuffen, 2286 Fuß, die Teck, 2278 Fuß, den Hohenstaufen, 2100 Fuß, mit
einem unbedeutenden Mauerrest der Burg des alten, erlauchten schwäbischen Kaiser-
hauses der Hohenstaufen, den Rechberg, 2174, den Stuifen, 2381, den Rips bei Bo-
pfingen, 2057 Fuß hoch.
Die Alb beginnt an der südlichen Grenze des Landes mit dem Dreifaltigkeits-
berg bei Spaichingen und zieht in nordöstlicher Richtung quer durchs Land bis an
seine östliche Grenze bei Bopfingen. Sie ist in dieser Erstreckung von Südwesten
nach Nordosten ein und zwanzig Meilen lang, ihre Breite beträgt vier bis fünf
Meilen, folglich ihr Flächeninhalt gegen hundert Geviertmeilen, wovon neunzig zu
Württemberg gehören. Sie erniedrigt sich von Südwesten nach Nordosten allmählich
um 1000 Fuß. Einzelne Theile der Alb sind der Heuberg, der Hardt, die rauhe
Alb, der Aalbuch, das Härtfeld und das Hochsträß, von einer darüber führenden
Nömerstraße benannt.
Die Gewässer der Alb fließen nach zwei entgegengesetzten Richtungen, gegen
Nordwesten dem Neckar, gegen Südosten der Donau zu. Die Alb trägt also auf
ihreni Rücken die große europäische Wasserscheide zwischen Rhein und Donau; diese
läuft aber nicht durch die Mitte der Hochebene, sondern ganz nahe an ihrem Nord-
westrand, in einer Entfernung von nur bis eine Stunde von demselben. Manche
Orte, z. B. Deiliugen, Thieringen, Genkingen, Sirchingen, Amstetten, Stubersheim,
Böhmenkirch liegen auf der Wasserscheide selbst, so daß manchmal die Dachtraufe einer
Häuserreihe in Zuflüsse des Rheins, die der andern in Zuflüsse der Donau abläuft.
Die Albflüßchen der Donauseite sind folgende: Elta, Beera, Schmiech, an welcher die
Stadt Ebingen liegt, Lauchart, Lauter, Schmiecheu, mit der Stadt Ehingen, die
Blau; diese entspringt hart bei Blaubeuren aus dem berühmten Blautopf. Ferner
die Brenz, an der Heidenheim und Giengen liegen, und welche die Lontel in sich auf-
nimmt; endlich die Egge auf dem Härtfeld mit der Stadt Neresheim. Alle diese
Flüßchen haben südöstlichen Lauf. Nur die Blau mit der Aach, die bei Schelklingen
entspringt und bei Blaubeurcn in die Blau fällt, haben östlichen Lauf. Aus ihrem
Thal kommt man, ohne eine Höhe zu übersteigen, in das Schmiechenthal. Zum Neckar
gegen Nordwcsten sendet die Alb folgende Zuflüsse: die Prim, Schlichen:, Eiach,
Starzel, Stcinlach, Echatz, die Erms, au welcher Urach liegt, die Lauter, die durchs
Lenninger Thal fließt, die Fils, welche an Wiesensteig und Geislingen vorüberflicßt,
die Rems, der Kocher, dessen Thal mit dem der Brenz ohne trennenden Bergrücken
zusammenhängt. Das Filsthal hat anfangs nordöstliche, erst von Geislingen an
nordwestliche Richtung. Die Thäler der genannten Flüßchen liegen jedoch nicht ganz
innerhalb der Alb, sondern erstrecken sich nur eine bis vier Stunden lang in dieselbe
hinein, am weitesten das Ermsthal, das mittlere dieser Neckarthäler.
Alle diese Flüsse der Neckarscite brechen in engen, wilden, einsamen Schluchten
der Alb hervor, und zwar gewöhnlich am Fuß einer Felseuwand, und mit so be-
deutender Waffcrmasse, daß sie zum Theil gleich Mühlen treiben. Sie rauschen dann
zwischen boheu, steilen Ufern über weißes Geröll rasch nnd hell ohne besondere
Schlangenwindungen dahin. Die Albthäler sind um ihrer Schönheit willen berühmt
und zur Blüthezeit von Fremden viel besucht, besonders das Lenninger, Ncuffencr,
Urachcr, Pfnllinger Thal. Der üppige, reich bewässerte, mit einem Wald von
Obstbäumen besetzte Wiesengrnnd ist dann wie von einem Blüthenmeer überzogen.
155
aus welchem die Dörfer freundlich wie Inseln hervortauchen. An den mit Lanbholz
bekleideten Thalwänden springen hie und da kegelförmige Berge vor, von deren
dichtbewaldeten Höhen die Trümmer einer alten Feste ernst und an die Vergäng-
lichkeit aller irdischen Dinge erinnernd herniederschauen, so z. B. die Feste Hohen-
urach im ErmSthal. Die Thäler der Donauseite bieten ein anderes Aussehen dar,
find aber auch mitunter noch recht lieblich. Ans flachem, baumlosem Wiesengrund,
zwischen meist gcbüschlosen Ufern, schlängeln sich die Flüßchen in einem schlammigen,
von Wasserpflanzen besetzten Bett, welches manchmal von Fclsbänken unterbrochen
ist, still und ruhig mit vielen Krümmungen fort. Die Thalwände sind zwar steil,
oft senkrecht, aber nicht so hoch, wie bei den Ncckarthälern. Auch an Trümmern
von Burgen fehlt es nicht, namentlich im Lauter- und im Lauchartthal, und sie dienen
um so mebr zur Zierde, als diese Thäler überhaupt anspruchsloser, stiller und ein-
förmiger find, als die Neckartbäler.
Wenn man nun die Hochfläche der Alb ersteigt, da sieht man nichts als öde,
von kleinen Waldstrecken unterbrochene Ebenen mit der ermüdend einförmigen Ab-
wechslung von meist kesselrundcn Vertiefungen und flachen Anhöhen, welche gerade
nur so hoch sind, daß sie einem immer wieder die erwartete Fernsicht verdecken.
Hier kommen lange Feldstrecken, die mit Nasen überwachsen sind; denn sie sind wegen
Ihrer weiten Entfernung von den Ortschaften, und weil es an Dünger fehlt, schon
sechs bis neun Jahre unbebaut und liegen als Weiden oder Mähder brach. Dort
siebt man Aecker, wo die Halme so dünn stehen, daß man nieset, cs sei etwa hie
und da ein in der Ernte ausgefallenes Korn aufgegangen, überdies sind sie mit viel
Unkraut untermengt. Das Seltsamste aber, Has einem Fremden am meisten auffällt,
ist das: der schwarze, dünne Boden ist vVrt "zahllosen, blendendweißen Steinen wie
übersäet. Diese sind jedoch eine Wohlthat; denn ohne sie würden die heftigen Winde,
die fast immer über die Alb hinstreichen, die leichte Erde fortwehen, auch erhalten
diese Steine dem Boden seine Feuchtigkeit. Auch sind diese Aecker nicht unfruchtbar,
ja es fehlt sogar nicht an üppigen Getreidefeldern, daß die Alb mehr Frucht erzeugt,
als sie für den eigenen Bedarf nöthig hat. Von Weinbau kann natürlich keine Rede
sein, die Obstzucht ist beschränkt; der Winter dauert lang und ist sehr schneereich,
'so daß die. Wohnungen in Schneemassen wie begraben sind; Frühlings- und Herbst-
fröste sind häufig, die Sommernächte oft kalt, Nebel und Reisen kommen bis in
den Sommer hinein vor, so daß die Henmäher oft Eis auf dem Gras treffen. Die
Thaler, namentlich die nordwestlichen, so wie der Südostabfall gegen die Donau, be-
sondcrs das Hochsträß, haben natürlich ein milderes Klima. Die Ortschaften liegen
unter ihren Strohdächern wie begraben in weiten Entfernungen von einander, ein-
sam, gewöhnlich in Vertiefungen zum Schutz vor den scharfen Winden. Die Hütten
sind meist ein stockig, ohne Kamin, außen statt der Verblendung mit einem roth an-
gestrichenen, mit Figuren gezierten Getäfel belegt. Die meisten Orte haben Mangel
an Ouellwasser; daher sind Wassersammlnngen angelegt, in welchen das Negenwasser
aufgefangen wird. Es sind fünfzehn bis zwanzig Fuß tiefe, von Thon ausgcschla-
gene Cisternen, in welche man das Regenwasscr von den Strohdächern hineinleitet.
Für das Vieh hat man sogenannte Hülcn, Hülben oder Nösen, d. h. flache Waster-
behalter, in welchen das Wasser von den benachbarten Anhöhen zusamnienläuft.
Die Hauptfelsart, ans welcher das Innere der Alb besteht, ist ein hellfarbiger,
gewöhnlich gelblich weißer Kalk, den man Jurakalk nennt; er enthält viele ver-
steiiiekte Schnecken und Mpscheln, Ä>uch kommt Eisen in Bohuerzkörncrn in ihm vor,
156
an einigen Orten trifft man auch Mineralquellen, z. B. zu Ueberkingen und Ditzen-
bach. Im Jurakalk findet mau viele versteinerte Ammonshörner bis zur Größe eines
Pflugrads. In manchen Albthalern kommt der Tuffstein sehr häufig vor. welcher,
eine vorzügliche Erwerbsquelle ist. Die über einander gelagerten Gesteinsschichten
der Alb sind zusammen gegen 1000 Fuß mächtig (tief) und zeichnen sich durch un-
gemeine Zerklüftung und Höhlenreichthum aus. Man kennt über sechzig größere
Höhlen; es gibt aber noch weit mehrere, die, weil sie nicht zur Oberflache münden,
dem menschlichen Auge und Fuß unzugänglich find. An manchen Orten ist der Bo-
den ganz unterhöhlt, was mau aus dem hohlen Ton, den man beim Hufschlag der
Pferde hört, so wie aus den trichterförmigen Einsenkungen der Oberfläche (den Erd-
fällen) schließen kann. In diese unterirdischen Klüfte und Höhlen sickert das Negen-
wasser hinab und häuft sich im Innern des Gebirgs zu großen Wassersammlungey
an, woraus mau sich auch die Wasserarmut der Oberfläche zu erklären hat. Diese
Wassersammlungen brechen nach einem oft stundenlangen unterirdischen Lauf dann
als mächtige Quellen hervor, so im Blautopf, der von einer schroffen Bergwand um-
geben ist, 408 Fuß im Umfang hält, 71 Fuß tief ist und durch seine herrliche,
bald grüne, bald blaue Farbe sich auszeichnet; ferner in der Quelle der Aach bei
Urspring, und der Lontel, welche fünf Stunden lang, von Breitingen bis Lonthal,
unter der Erde fortfließt. Oder haben solche Wassersammlungen auch durch eine
Höhle ihren Ausfluß und geben auf diese Act Bächen ihren Ursprung. Solche
Höhlen sind z. B. die Friedrichshöhle, aus welcher die Zwiefalter Aach hervorströmt,
die man 600 Fuß weit in den Berg hinein auf einem Nachen befahren kann; so-
dann die Falkensteiuer Höhle, eine Stunde östlich hinter Urach, aus welcher die
Elsach kommt, die im Hintergrund einen tiefen See und einen unterirdischen Wasser-
fall bildet. Solche Höhlen mit fließenden Wassern find dann tiefer ins Gebirg ein-
gesenkt, und der Jurakalk ist noch 5 — 700 Fuß über ihnen aufgelagert; die Höhlen,
welche näher an der Oberfläche des Gebirgs liegen, nur 1 — 200 Fuß daruuter,
sind trocken. Unter diesen sind zu nennen: das Linkenboldslöchlein bei Onstmettingen,
800 Fuß laug, die Karlshöhle bei Erpfiugen, 568 Fuß, die Nebelhöhle, nahe bet
dem Lichtcnsteiner Schlößlein, 680 Fuß lang, vierzig bis siebzig Fuß hoch. Aus
ihren wundervollen Tropfsteinbildungen hat die Phantasie einen ganzen Kirchenschmuck,»
eine Kapelle mit Kanzel, Altar, Orgel samt Vorhängen, Deckenverzieruugen und
Heiligenbildern herausgebracht. Sodann das Schillerloch bei Hohenwittlingen, eine
Viertelstunde lang, das Sibyllenloch an der Teck, das Erdloch bei Sontheim, 670
Fuß lang. Merkwürdig sind ferner auf der Alb die vielen trockenen, d. h. wasser-
losen Thaler.
An dem nordwestlichen Absturz der Alb bildet der Jurakalk oben einen senkrechten
Felsenkranz, dessen weißes Gestein im Sonnenschein weithin glänzt; senkrechte Fels-
abstürze kommen überhaupt häufig vor; in ihren Klüften haust der Uhu. Laubholz,
namentlich Buchwälder, sind auf der Alb vorherrschend, denn sie lieben den Kalkboden;
auch sind Felsen- und Alpenpflanzen auf ihr einheimisch; diese werden auf dem
trockenen, heißen Kalkboden sehr gewürzhaft und gewahren darum vorzügliche Wei-
den. Deßwegen übersommern die Schashalter des Unterlands ihre Heerden auf der
Alb; auch ist aus demselben Grund die Pferdezucht, namentlich auf der südlichen
Alb, besser als im Unterland.
Die Bevölkerung der Alb ist gering, etwa zur Hälfte evangelisch, zur Hälfte
katholisch. Die evangelische Bevölkerung ist auf der nördlichen, die katholi-sch»'auf
der südlichen Alb vorherrschend. Auf der ganzen Hochfläche der Alb liegen nur zwei
Städtchen, Münsingen und Hayingen. In den Thälern dagegen liegen neunzehn
Städte, von denen die wichtigsten sind: Tuttlingen, Ebingen, Urach, Blaubeuren,
Geislingen, Heideuheim und Neresheim. Von den Orten im oberen Filsthal: Wie-
sensteig, Drakenstein u. s. w., gehen den Sommer über viele Gipser und Maurer
in ganz Württemberg, Bayern u. s. w. auf Arbeit aus nuo kehren im Winter mit
dem Verdienst wieder heim. Die Hauptbeschäftigung ist aber Ackerbau; von Gewer-
ben wird die Leinwandweberei stark betrieben, besonders auf der rauhen Alb, wo
neben der Stadt Urach Laichingen der Hauptsitz derselben ist. Durch Gewerb- und
Fabrikthatigkeit zeichnen sich Tuttlingen (Messer), Ebingen (Zeuge), Urach (Lein-
wand), Geislingen (Beindreherei) und Heidenheim (Zeuge, Töpfergeschirr) aus.
80. Das Ebenen- und Hügelland von Mederschwaben und
Franken.
Wir betreten nun das schöne, fruchtbare und milde Neckarland, auf welches
man schon auf den Höhen des Nordwestrandes der Alb liebliche Aussichten genießt.
Es breitet sich mit seiner mannigfaltigen Abwechslung von Ebenen und Hügeln nörd-
lich von der Alb aus. Sein Anfang ist an den Neckarquellen bei Schwenningen;
dort bildet es eine schmale, muldenförmige, etwa 2000 Fuß über dem Meer erhabene
Einsenkung und trennt die Alb vom Schwarzwald. Von hier aus zieht es sich zu
beiden Seiten des Neckars nordwärts hin. ^Seine westliche Grenze ist der Schwarz-
wald, seine südöstliche die Alb. Gegen Nordosten und Norden setzt es ohne natür-
liche Grenze ununterbrochen nach Bayern und Baden hinein fort. Seine größte
Länge von Südwesten nach Nordosten istFünfzig Stunden, seine größte Breite von
Westen nach Osten zwei und dreißig Stunden, sein Flächeninhalt nach Abzug des
preußischen Mntheils — hundert fünf und sechzig Geviertmeilen. Mitten durch die
Landschaft strömt der Neckar, die eigentliche Lebensader derselben. An seinen Usern
ist die dichteste Bevölkerung und der größte Verkehr des ganzen Landes. Seine
.Hauptrichtung geht nordwärts, weil sich dahinzu das Land allmählich abdacht. Da
aber der Neckar seine Zuflüsse theils von Osten, theils von Westen her empfängt,
so senkt sich das Land auch sowohl von Osten als von Westen her gegen die Rinne
des Hauptthals. Der Neckar trägt sein Wasser in den Rhein bei Mannheim, dieser
in die Nordsee. Das Neckarland gehört also zum Stromgebiet des Rheins, zum ,
Meergebiet der Nordsee. Der Ursprung des Neckars ist an der südwestlichen Landes-
grenze, 1000 Schritte ob Schwenningen, in einem sumpfigen, torfartigen Boden, in
einer kleinen, mit Steinen eingefaßten Quelle, 2146 Fuß über dem Meer; er fließt
sofort nördlich an Rottweil, Oberndorf, Sulz vorbei bis Horb, von hier an wendet
er sich nordojtwärts und fließt, gleichlaufend mit der Alb, an Rottenburg, Tübingen
und Nürtingen vorbei bis Plochingen, wo er wiederum zur nördlichen Richtunä zu-
rückkehrt und während seines fernern Laufes die Städte Eßlingen, Cannstatt, Mar-
bach, Besigheim, Lauffen, Hetlbronn und Neckarsulm berührt. Unterhalb Gustdels-
heim überschreitet er 425 Fuß über dem Meer - also im niedrigsten Punkte Ltzürt-
lembergs die nördliche Grenze des Landes und eilt auf badischem Gebiet, von
Eberbach an mit westlichem Lauf, dem Rhein bei Mannheim zu. Bis dahin macht
er °mit allen jeinen Krümmungen einen Weg von hundert und sechs Stunden; die ge-
158
rade Linie vom Ursprung bis zur Mündung ist übrigens nur vier und vierzig Stun-
den lang. Mannheim liegt noch zweihundert und zwei und dreißig Fuß über dem
Meer, also beträgt der Fall des Neckars von seinem Ursprung bis zur Mündung
1914 Fuß; dies gibt auf eine Stunde Wegs im Durchschnitt achtzehn Fuß Fall.
Von Nottweil an wird der Neckar mit Flößen, von Cannstatt an mit Schiffen von
600 bis 1000 Centner Last befahren. Bei Heilbronn ist seine mittlere Höhe
41/* Württembergische Fuß. Im März hat sein Wasser den höchsten, im
Oktober den niedersten Stand. Zuflüsse des Neckars auf der rechten Seite sind die
bereits oben genannten Flüßchen, nemlich die Prim, die Schlichem, die Eiach bei
Balingen, die Starzel bei Hechingen, die Steinlach, die Echatz bei Pfullingen und
Reutlingen, die Erms bei Metzingen, die Steinach bei Neuffen, die Lauter bei Owen
und Kirchheim, die Fils, welche an Göppingen, die Rems, welche an Gmünd, Schorn-
dorf, Waiblingen vorbeifließt, sodann die Murr, an welcher die Städte Murrhardt
und Backnang liegen, die Sulm, die an Weinsberg vorbeifließt und bei Neckarsulm
mündet, der Kocher, an welchem die Städte Aalen, Gaildorf, Hall, Künzelsau, Jy<^
gclflngeu, Niedernhall, Forchtenberg, Neuenstadt an der großen Linde liegen, und
welcher wiederum rechts die Bühler, links die Leine, die Noth, die Ohre über
Oehringen und die Brettach aufnimmt, und die Jagst, die Zwillingsschwester des
Kochers, indem sie mit diesem im Ganzen gleichlaust; sie berührt die Städte Ellwangen,
Crailsheim, Kirchbcrg, Langenburg, Widdern und Möckmühl. — Auf der linken Seite
empfängt der Neckar die Eschach und die Glatt aus dem Schwarzwald, dann die
Ammer, die bei Herrenberg entspringt und unterhalb Tübingen mündet, die Aich
über Waldenbuch und Grötzingen, die Körsch, den Nesenbach, der durch die Haupt-
stadt Stuttgart fließt, die Enz, die aus dem Schwarzwald kommt, mit der Nagold
die Würm aufnimmt, um welche Böblingen, Siudelfiugen, Weil die Stadt und
Heimsheim liegen, an Vaihingen und Bietigheim vorbeiflicßt und bei Besigheim
mündet, die Zaber über Güglingen und Brackenheim, und den Leinbach.
Uebrigeus sind noch einige Flüsse unseres Gebiets zu erwähnen, welche nicht in
den Neckar fließen, nemlich im Nordosten die Tauber, welche Creglingen, Weikers-
heim und Mergentheim berührt und in den Main fällt, und im Westen die Salza
samt der Kraich, die unmittelbar zum Rhein eilen. „ *
Zum Neckargcbiet gehören zwei Hügelmassen, 1) westlich vom Neckar der Schön-
buch, zwischen Tübingen, Herrenberg, Vaihingen auf den Fildern, Ncckarthailflugen.
An ihn schließen sich die Berge an, welche das Stuttgarter Thal bilden, worunter
der 1495 Fuß hohe Bopser ist; ferner die westwärts bis Lconberg streichenden
Berge der Solitude. Von dieser Hügelmasse fließen nach allen Seiten Bäche ab
z. B. die Aich, die Körsch, der Nesenbach, der Glemsbach, die Würm, die Ammer
2) Oestlich vom Neckar die viel größere Hügelmasse des Welzheimer Waldes, welcher
ebenfalls nach allen vier Wcltgegendenden Hauptflüssen Nebenflüsse zusendet, z. B. die Murr,
Schotzach, Sulm, Brettach, Ohre, Noth, Leine, Wieslauf. Am Fuß dieser Hügelmaffe
liegen nördlich Neuenstein, Oehringen und Neckarsulm, weltlich Heilbronn, Bcilstein,
Großbottwar, Backnang, Winnenden, Waiblingen, Eßlingen. Einzelne Theile vieles
Hügelgcbiets sind 1) der Schurwald, der vom Hohenstaufen zwischen Fils und Neins
sich herabzieht bis zum Rothenberg, 2) der Welzheimer Wald im engern Sinn,
zwischen Rems und Murr mit dem Hanptcrt Welzheim, 3) die Löwensteiner und die
Waldenburger Berge südlich vom untern Kocher, beide sind durch die Brcttach von
einander getrennt. Der Stocksberg bei Löwenstein ist 1666 Fuß hoch. Dw'Hoch-
stäche in der Umgegend von Ma-inhardt nennt man den Mainhardter Wald. Ost-
wärts folgen auf die Waldenbnrger Berge die Limpurger Berge, zwischen Kocher
und Bühler, bis gegen Hall, und die Ellwangcr Berge, um die obere Jagst bis Crails-
heim. Westlich vom Neckar und nördlich von der untern Enz liegen auf beiden
Seiten des Zaberthals zwei Hügelreihen, die von West nach Ost streichen, südlich
der Stromberg, der bei Sternenfels beginnt und bei Bvnnigheim mit dem Michels-
berg endet, nördlich der Heuchelberg, der von Ochscnberg bis in die Gegend von
Heilbronn sich erstreckt.
Alles Land nun, das außerhalb dieses Hügelgebiets liegt, gehört zum Ebenen-
land. Dieses beginnt im Südwesten bei Schwenningen, zieht als ein schmaler
Streifen am Neckar hinab und theilt sich bei Horb in zwei Zweige, deren einer
gerade nordwärts sich erstreckt zwischen der Nagold und dem Westabfall des Schön-
buchs und dann östlich zwischen den Solituder Bergen und der Enz bis an den
Neckar sich hinzieht, der andere das Hügelland im Süden, Osten und Norden um-
schlingt. Die einzelnen Theile des Ebenenlandes sind folgende:
1) Ein vier und vierzig Stunden langer, zwei bis sechs Stunden breiter Flächen-
gürtel am Fuß der Alb, der von Schwenningen und Nottweil zwischen dem Neckar
und der Alb bis Ellwangen und Bopfingen hinzieht. Er beginnt im Südwesten
mit der Baar, einer muldenförmig zwischen Schrvarzwald und Alb eingesenkten Hoch-
fläche am obern Neckar. Auf ihm liegen am Fuß der Alb die Städte Balingen,
Pfullingen und Reutlingen, Neuffen, Metzingen, Owen und Kirchheim, Göppingen,
Aalen.
2) Das Gäu zwischen Schwarzwald und Schönbuch, welches in das obere
oder südliche, und in das untere nördliche oder Strohgän zerfällt. Hier liegen die
Städte Herrenberg, Weil die Stadt und Heimsheim. An das Strohgäu schließt
sich östlich
3) Die Ludwigsbnrger Ebene, oder das sogenannte lange Feld, zwischen den
Solituder Bergen und der Enz an, auf welchem sich der einzelnstehende Asberg zu
1107 Fuß über dem Meer erhebt. Hier liegen Ludwigsburg und Markgröningen.
4) Die Filder, eine durch ihr Kraut berühmte, fruchtbare Strecke, die sich an den
Nordostabfall des Schönbuchs anlehnt imd gegen Osten dem Ncckarthal zu sich absenkt.
5) Die Flächen nördlich von Hcilbronn, Neckarsulm, Oehringen, Hall und
Crailsbeim, also die Flächen am untern Neckar, das Hohenlohische, d. h. die Flächen
am mittlern und untern Lauf des Kochers und der Jagst und endlich das Mergent-
heimische im Taubergebiet.
Die Flächen, welche so eben genannt worden sind, dürfen wir uns nicht als
ganz eben vorstellen; ihre Oberfläche ist vielmehr wellenförmig und von Thälern
unterbrochen. Richten wir unsere Blicke in die Ferne, so sehen wir unsern Gesichts-
kreis überall von sanften Hügeln begrenzt, auf welchen das Auge gerne ruht, wenn
es über die weiten Flächen hingeschweift ist, und welche diesen Landschaften einen
so eigenthümlich lieblichen Reiz verleihen. Der reichste Wechsel der manchfaltigsten
Erzeugnisse ergötzt nufer Auge, in der Ebene weit ausgedehnte, gesegnete Frucht-
felder, in den Thälern saftige Wiesen, Obstpflanzungen und Weinberghalden, die
in sorgfältigem Stufenbau an den Thalwäuden aufsteigen. Die Ebenen sind die
reichen Kornkammern der angrenzenden Hügelgebiete, und diese sind jenen hinwieder-
um mit ihrem Holzreichthum nützlich. Der Schönbnch hat vorzüglich Laubholz-
wäldee^ im, Welzheimer Wald sind Nadelholzwälder vorherrschend. Die Verberge
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der Hügelmassen bieten weite und herrliche Aussichten über die an ihrem Fuß sich
ausbreitenden Landschaften dar. Bekannt sind in dieser Hinsicht der Rothenberg bei
Untertürkheim 1263 Fuß, Kapelberg bei FellbaH 1444 Fuß, Wunnenstein bei Win-
zerhausen 1206 Fuß, Michelsberg bei Bönnigheim 1200 Fuß, Heilbronner Wart-
berg 966 Fuß, Waldenburg 1568 Fuß, Einkorn bei Hall 1570 Fuß hoch, welche
meist auch mit Trümmern ehemaliger Burgen oder Kapellen geziert sind. Ebenso
gewähren die südlichen Flächen, die Höhen im Gäu und auf den Fildern, die ent-
zückendsten Aussichten gegen Süden mit dem prachtvollen Hintergrund der Alb.
Wenden wir unsere Blicke auf daH Innere der Erde, auf das unter der Ober-
fiäche verborgene Gestein, so begegnen uns in dem beschriebenen Gebiet dreierlei
Gesteinsarten.
1. Die Ebenen am Fuß der Alb und die Filder bestehen aus Lias (Leies),
der sich auch noch auf die Hügel des Welzheimer Waldes und des Schönbuchs herein-
zieht." Er besteht theils aus einem sehr weichen, feinkörnigen, meist hochgelben
Sandstein (Liassandstein), der Eisenerz enthält, das in Wasseralfingen verwendet
wird, theils aus dem dunkelschwarzbläulichen Kalk (Liaskalk), der zum Straßenbau
dient, theils aus Schiefer (Liasschiefer), in welchem sich die merkwürdigsten Verstei-
nerungen, z. B. versteinerte Knochen der Fischcidechse, finden, namentlich bei Voll,
Zell, Ohmden, Dürnau, Heiningen. An mehreren Orten, z. B. bei Voll, Reutlingen
und Scbastiansweiler, entspringen in diesem Schiefer Schwefelquellen; auch wird er
zum Dachdecken gebraucht.
2. DaS Gestein der Hügelmassen besteht theils aus Mergel, theils aus Sand-
stein und wird unter dem Namen Keuper zusammengefaßt. Der Keupersandstein ist
nicht so weich wie der Liassandsteiu und von gelblichgrünlicher, meist jedoch von
röthlicher Farbe, weßwegen die Hügel schon von ferne durch ihr röthliches Aussehen
auffallen. Er wird, z. B. um Stuttgart, häufig als Werkstein verwendet. Der
Mergel ist unter dem Namen Leberkies bekannt, zerfällt in kleine Plättchen und
wird häufig in die Weinberge gebracht. Auch Gips und Steinkohlen kommen im
Keuper vor, letztere aber nur in Nestern.
3. Der übrige Theil unseres Gebiets, also die Flächen mit Ausnahme der
Filder und der Vorebenc der Alb, ist mit dem sogenannten MuschelkM bedeckt, der
meist bläulichgrau bis hellgrau aussieht, und mit welchem die meisten Straßen des
Unter- und Mittellandes beschlagen werden. Dieses Gebilde umschließt einen uner-
meßlichen, erst seit etwa dreißig Jahren entdeckten Reichthum an Steinsalz, welcher
in den Salzwerken, die theils am obern Neckar in Wilhelmshall und Nottenmünster,
theils am unten: Neckar zu Friedrichshall und Clemenshall, theils am Kocher zu
Wilhelmsglück angelegt sind, ausgebeutet wird. Unter den Mineralquellen des
Muschelkalks find die berühmtesten die zu Niedernau ob Nottenburg, zu Cannstatt
und zu Mergentheim.
Das Klima unserer Landschaft ist im Ganzen mild und angenehm, am mildesten
am untern Neckar, Kocher, an der untern Jagst, an der Tauber und Enz. Hier sind
die besten Weingegenden. Je weiter gegen Süden, desto rauher wird das Klima;
denn dorthinzu steigt der Boden immer mehr an; am rauhesten wird es in den
oberen Neckargegenden und auf den Höhen des Welzheimer Waldes.
Der Weinbau zieht sich tm Neckarthal und seinen Nebenthälern bis zur Alb
und dem Schwarzwald hinauf. Noch an den nordwestlichen Vorhöheu der mittlern
Alb kommt er vor. Die berühmtesten Weine find die von Uhlbach, Untery?:khe!in,
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Korb, der Besigheimer Schalkstein, der Mundelsheimer Käsberg, der Bottwarer,
Noßwager, Eilfinger und Martclsheimer. Der Weinbau nimmt 77,000 Morgen ein.
Rechnet man nur zwei Eimer Wein auf den Morgen (in guten Jahrgängen gibt
er das Doppelte und Dreifache), so ist der jährliche Ertrag 154,000 Eimer, und
nimmt man den Mittelpreis des Weins nur zu zwanzig Gulden an, so gibt der
Gesamtertrag des Weinbaus die Summe von 3,080,000 Gulden.
Die Landschaft zwischen Schwarzwald, Alb und Welzhcimer Wald bewohnen
die Niederschwaben, jenseits des Welzhcimer Waldes, im Norden und Nordosten des
Landes wohnen die Franken. Niederschwaben gehört zu den bevölkertsten Theilen
Europas, besonders die Gegend von Cannstatt. Der größte Theil der Bevölkerung
beschäftigt sich mit Acker- und Weinbau. Der Gewcrbsleiß erstreckt sich vorzüglich
auf Verarbeitung von Wolle, Baumwolle, Leder und Leinwand. Wollenspinnereien
sind zu Eßlingen, Göppingen, Metzingen, Salach, Heilbronn, Burgstall, Backnang
u. s. w.; Baumwollenspinnereien zu Berg, Cannstatt, Eßlingen, Spiegelberg, Crails-
heim; Tuch- und Zeugmacher zu Göppingen, Metzingen, Böblingen, Herrenberg;
Baumwollenweber sind in dem Göppinger Bezirk und sonst in großer Anzahl. Viele
Leineweber hat die Gegend von Stuttgart, Böblingen, Backnang und die Filder;
viele Gerber sind zu Reutlingen, Metzingen, Waiblingen, Backnang u. s. w. Das
Land hat vorzügliche Straßen; besonders aber zieht mitten durch dasselbe eine
Eisenbahn. Diese geht von Bruchsal im Badischen aus, unweit Knittlingen über
die württembergische Grenze, nimmt in Bietigheim die Seitenbahn von Heilbronn
über Lausten und Besigheim auf, gebt über Ludwigsburg, Stuttgart, dann im Neckar-
thal über Caniistail, Eßlingen, Plochingen, dann im Filsthal über Göppingen bis
zum Fuß der Alb. Diese überschreitet sie zwischen Geislingen und Ulm, schließt sich
dort an die bayrischen Bahnen an, geht dann durch Oberschwaben, vornemlich in
den Thälern der Riß und der Schüssen über Biberach und Ravensburg bis Fried-
richshafeu am Bodensee. Der größte Theil der Einwohner bekennt sich zur evange-
lischen Kirche. Die Katholiken wohnen meist im obern Neckarthal, besonders in der
Umgegend von Noltweil und Nottenburg, sodann bet Gmünd, Aalekt, Cllwangen und
im Mergeutheimischen, also in lauter neuwürttembergischen Gegenden.
81. Der Schwarzwald.
Ueberschreiten wir das Thal des obern Neckars oder der Nagold, so befinden
wir uns auf dem Boden des Schwarzwalds, eines Gebirgs, welches die westliche
Landmarke von Niederschwaben bildet. Es erstreckt sich zwischen Basel und Durlach
fünf und vierzig Stunden in die Länge von Süd nach Nord, seine mittlere Breite
beträgt acht Stunden, lein Flächenraum neunzig Gevierlmeilen. Gegen Westen fällt
der Schwarzwald in das breite, gelegnere Rheinthal ab, wo die badischen Städte
Freiburg, Ostenburg, Rastatt und Durlach an seinem Fuß liegen. Von hier aus
betrachtet sieht er wie eine gewaltig sich aufthürmende Mauer da, während er sich
gegen O>ten dem Innern Württembergs zu ganz allmählich verflacht. Die dnrch-
schnittliche Höhe des Schwarzwalds ist im südlichen Theil 3300 bis 2500 Fuß, im
nördlichen 2500 bis 1700 Fuß über dem Meer. Noch höher sind natürlich die
Gipfel des Gebirges. Der höchste Berg im südlichen Schwarzwald ist der Feldberg,
4600 Fuß hoch, der höchste Punkt des nördlichen ist die Hornisgrinde oder Katzcn-
Lesebuch. H
162
köpf, 3540 Fuß hoch, zugleich der höchste Punkt Württembergs. Auf ihr genießt
man eine herrliche Aussicht. Gegen Osten streift der Blick bis zu der Alb hin, die
sich wie eine lange Wand erhebt, westwärts schaut man auf die breite Rheinthal-
ebene hinab, durch welche der prachtvolle Strom wie ein Silberstreifen von Basel
bis Mainz dahinzieht, und hinüber zu den Vogesen, die dem Schwarzwald auf Iran-
ber nicht ganz zu Württemberg, nur ein Theil der
nördlichen Halste ist württembergisch, das übrige ist badisches Gebiet. Der württem-
bergische Schwarzwald umfaßt die zwischen Rottweil und Pforzheim gegen das Innere
Württembergs abfallende Abdachungsfläche, welche zwei und zwanzig Stunden lang
ist und dreißig Geviertmeilen Flächeninhalt hat. Die Hauptflüßchen dieses Theils
^des Schwarzwalds sind im Süden die Eschach und die Glatt, die wir bereits als
Zuflüsse des Neckars kennen gelernt haben, und die Kinzig, welche von Loßburg
herab durch das Ellenbogenthal gerade südwärts fließt bis Alpirsbach, sich hier west-
wärts wendet und ins Badische übergeht, bei Offenburg den Schwarzwald verläßt
und unterhalb Kehl in den Rhein fällt. Im nördlichen Theil des württembergischen
Schwarzwalds befindet sich die Mnrg und die Enz. Jene entsteht aus mehreren
Quellbächen. Einer von ihnen ist der Forbach, der vom Kniebis kommt und das
Christophsthal durchfließt, ein zweiter die weiße, ein dritter die rothe Murg. Der
Fluß hat nördliche Richtung und verläßt das Wür«M^rgische unterhalb Schwarzen-
berg. Die Enz entspringt in der Nähe von.Urnagold und fließt an Wildbad und
Neuenbürg vorbei. Bei Birkenfeld verläßt sie das Württembergische, bei Pforzheim
den Schwarzwald. Ein Nebenfluß der Enz ist die Nagold, welche bei Urnagold
entspringt, zuerst östlich fließt, bei Nagold aber nördliche Richtung annimmt und nun
an der Ostgrenze des Schwarzwalds hin über Wildberg, Calw, Hirsau, Liebenzell
fließt und bet Pforzheim in die Enz mündet.
Das Gestein des württembergischen Schwarzwalds ist größtentheils der sogenannte
rothe oder bunte Sandstein. Nur im Kinzigthal und im Murgthal, auch im Enz-
thal ob Wildbad kommt das Urgcbirg zu Tage, welches eigentlich den Kern des
Schwarzwalds, sowie auch die Unterlage bildet, auf welche der bunte Sandstein
500 bis 1000 Fuß hoch aufgelagert ist. Die Nrgebirgsarten, die im Schwarzwald
hauptsächlich vorkommen, und aus denen fast der ganze badische Schwarzwald besieht,
sind Granit und Gneiß. Auch Metalle umschließt der Schwarzwald. Der bunte
Sandstein bei Neuenbürg liefert viel Eisenerz, bei Flnorn und Dornhan findet sich
im Muschelkalk viel Bohnerz. Diese werden in dem Hochofen zu Friedrichsthal am
Forbach bei Freudenstadt verschmelzt und in den dabei befindlichen Hammerwerken
zu Sicheln, Sensen, Pfannen und dergl. verarbeitet. An Mineralquellen mnd war-
men Quellen hat der Schwarzwald großen Ueberfluß. Auf dem württembergisihell
find die berühmtesten die Quellen zu Teinach, zu Liebenzell und besonders zu Wildbad,
wo die einzigen warmen Quellen innerhalb Württembergs sind, ans dem badilchen
die Quellen in Baden, Rippoldsau u. s. w.
Die Natur des Schwarzwaldes bietet uns ein viel großartigeres Bild dar, als
das Ebenen- und Hügelland. Hier wellige Flächen, sanftes Gchügcl, breite, für
Pflanzungen aller Art Raum gebende Thäler, und fast jedes Fleckchen Erde von
des Menschen Hand sorgfältig angebaut; dort wilde, tiefe, enge Fclzenlchlnchten mit
zäh abstürzenden Gehängen, theils mit dunklem Nadelholz bewaldet, theils mit kühnen
Felsmasscn besetzt, theils mit Trümmerschutt besäet, nur am untern Fuß der Thal-
163
wand einige nutzbare Feldstückchen, welche als schmale Streifen am Waldsaum her-
abhangen. Die in üppigem, sammteuem Grün prangenden Wiesengründe des Thals
durcheilt das Flüßchen mit seinem frischen, hellen Wasser raschen Laufs in ziemlich
gerader Bahn ohne viele Krümmungen. Es kann aber auch zu Zeiten, wenn starke
Regen fallen, oder ein heftiges Gewitter sich entladet, hoch anschwellen, sich zornig
brausend unter ungeheuren Verwüstungen durchs Thal ergießen und Felsblöcke in sein
Bett herabführen, über die es dann schäumend hinabtost. Unzählige Schluchten
münden sich in die Hauptthäler und führen den Wasserreichthum des Gebirgs diesen
zu. Im Ansang find die Bäche gewöhnlich Sturzbäche, indem sie von einem Thal-
absatz zum andern über Felsbänke herabstürzen. So entstehen manchmal größere
Wasserfälle, wie z. B. der bei Triberg im südlichen Schwarzwald und der der
Rauhmünz im nördlichen. Zur Regenzeit rieselt das Wasser an allen Thal-
wänden herab und bildet dann oft an einer steilen Felswand einen langen, hernieder-
hangenden Silberfaden. Ersteigen wir die Höhen der Thäler, so finden wir uns
auf der Hochfläche meist von dichten, dunklen Nadelwaldungcn umgeben, welche hie
und da von einem Köhlerplatz, von einem Feldstück, oder auch von größeren Fel-
duugen unterbrochen find und manche, sonst seltene Waldpflanzen beherbergen,
z. B. den giftigen rothen Fingerhut mit rother, innen dunkelroth punklirter Blume;
dann aber auch den Heidelbeerstrauch, dessen Beeren gesammelt, gedörrt, zu Mus,
Kuchen und Hcidelbeergeist verwendet werden, den Preiselbeerstrauch, dessen Beeren
ebenfalls gesammelt, mit Zucker eingemacht und zu Preiselbeergeist gebrannt werden;
den Sauerklee, der zur Sauerkleesalzfabrikation benützt wird; die Stechpalme mit
ihren glänzenden, am Rand gestachelten Blättern. Dagegen fehlt in diesen Wäldern
ein anderer Schmuck: sie werden nicht, wie die heiteren Laubwälder, von dem viel-
stimmigen Chor der Vögel belebt; denn die munteren Singvögel lieben die düsteren,
uahrungsloseren Tannenwälder nicht.
Auf den höchsten Höhen hören die zusammenhängenden Waldungen auf; nur
noch einzelne, verkrüppelte Nadelbäume mit weit ausgebreiteten, am Boden auflie-
genden Zweigen duldet das rauhe Klima, und mit jedem Schritt sinkt der Fuß im
schwarzen, schwammigen Moorgrund ein, welcher von einzelnen Nasen hoher Sumpfge-
wächse bescht ist. Eine Schichte von Lehm, welche das Negenwasser nicht durch-
sickern läßt, ist die Ursache dieser Moorgründe. Aus demselben Grund sind aber auch
die Seen auf den Höhen des Schwarzwaldes so häufig. Südlich von der Hornis-
grinde z. B. liegt, von geheimnißvollem Walddunkel umgeben, in einer kesselsörmigen
Vertiefung der zehn bis zwölf Morgen große Mummelsee, 3186 Fuß über dem Meer.
Das Gebirg auf der linken Seite des Enzthals trägt aus seiner Höhe gegen fünfzig
kleinere Seen, unter denen der größte, etwa dreißig Morgen große, der wilde See
genannt wird. Von keinem lebendigen Wesen bewohnt, liegt er mitten auf der stillen,
kahlen Gebirgsebene. Sein Wasser ist krystallhell, hat aber keine Fische, nur der
Bergwassermolch schleicht träge darin herum. Hie und da verliert sich eine wilde
Ente aus ihn, oder erscheint ein Auerhahn im Frühjahr; sonst ist weit umher nichts
Lebendes. Eine beängstigende Stille ruht auf dem unbewegten Wasser.
Die Luft auf dem Schwarzwald ist rein und durch die Lebenslust, welche die
vielen Tannenwälder aushauchen, sehr gesund und stärkend; sie ist aber auch scharf
und kühl, und über die Bergflächen streichen oft heftige Winde hin. Nur härtere
Pflanzen kommen daher fort. Die Thäler sind weniger rauh als die Höhen und
werden thalabwärts immer milder; die dem Rhein zugekehrten bringen an ihrem
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164
Ende sogar Wein, Mandeln und zahme Kastanien zur Reife. Die Winter dauern
lang und find sehr, schneereich.
Im württembergischen Schwarzwald mögen etwa 90,000 Menschen leben, die
meistens zur evangelischen Kirche gehören. Nur im Süden gibt es Katholiken.
'Eigenthümlich ist die Lebensweise der Bewohner. Während im offenen, flachen Land
die Menschen in lebendigem Wechselverkehr mit einander stehen, lebt hier der Bauer
in seinem vereinsamten Gehöft oder Weiler, der Hirte auf seinen Bergen, der Holz-
hacker, der Köhler, der Harzreißer, der Kienrußbrenner in seinen Wäldern von der
Außenwelt abgeschieden, Wochen lang verrichtet er sein Tagewerk in den einsamen
Weide- und Waldrevieren und begnügt sich dabei mit magerer Kost, Suppe, Kar-
toffeln, Milch und trockenem Brod, wenns hoch kommt. Knöpften und etwas Heidel-
beer- und Preiselbeergeist. Die meisten sind Taglöhner, das Grundeigenthum ist in
den Händen weniger, aber reicher Bauern und Waldbesitzer. Diese Bauern sitzen in der
Mitte ihres in weitem Umfang umherliegenden Guts. Ihre Häuser sind einstockig,
aber sehr lang und zum Schutz gegen Schnee und Sturm mit einem weit vorsprin-
genden Dach, einem sogenannten Walmendach, welches mit Schindeln oder Stroh
gedeckt ist, versehen. Die Wohnstuben sind ganz getäfelt, niedrig, aber sehr geräu-
mig und mit gewaltigen irdenen Oefcn ausgestattet. Die Felder bringen drei bis
vier Jahre gute Ernten, nach der vierten, fünften Ernte aber bleiben sic zum Ver-
angern liegen und werden als Viehtrift benützt. Nach drei bis vier und mehr Jah-
ren werden sie wieder eingesäet; ehe dies geschieht, düngt mau sie dadurch, daß man
Haufen von Tannenrcisern, mit den Rasen des Ackers vermischt, anzündet und auf
dem Feldstück herumstreut. Dies nennt man das Brennen oder Motten.
Außer dem Ackerba^ gewährt der Holzreichthum des Gebirgs dem Schwarzwäl-
der viele Beschäftigung. Die einen beschäftigen sich mit Holzhacken, Holzflößen,
Kohlenbrennen, Theerschwelen, Harzreißen, Pechsiedcn, Kienrußbrennen, Potaschensieden,
Sauerkleesalzfieden und dergl.; andere verarbeiten das Holz künstlich und verfertigen
daraus Löffel, Teller, Schachteln, Schaufeln, Fruchtmaße u. s. f., namentlich aber
die weltbekannten Schwarzwälder Uhren; jedoch werden diese nur im südlichen Schwarz-
wald gemacht.
82. Per Podensee.
Der Bodensee hat ein volles Recht, der König der deutschen Seen ge-
nannt zu werden , und auch der Name des schwäbischen Meeres steht ihm nicht
übel an. Von Friedrichshasen aus stellt er stch am großartigsten dar, während
bei Constan; und Bregenz die Ufer mehr zusammenrücken. Aber schon hinter
Lindau ist der Anblick ebenso anmuthig als großartig und überraschend: die
Schweizerberge scheinen mit ihrem Fuße in den blauen Fluthen zu ruhen, und
von den grünen Dorbergen zu immer höheren Alpen aufsteigend, die in blauer
Ferne mit dem Himmel zusammenfließen, bilden sie einen Anblick, der wunder-
voll ist. Dem Auge verlängert sich der See unwillkürlich bis in die tiefen
Thaler der Graubündtner Alpenzüge; aber die größte Fülle und Brette hat
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165
er doch von Friedrichshafen aus gesehen. Ueber fünf Stunden Breite und gegen
900 Fuß Tiefe, nach Osten und Westen fast unabsehbar, im Ganzen achtzehn
Stunden lang, neun und eine halbe Quadratmeilen groß, mit einer Ufer-
länge von sieben und zwanzig Meilen: —das läßt sich schon sehen und be-
wundern.
Diese reich mit Obstgärten, Weinhügeln und Ortschaft an Ortschaft um-
zäunten Ufer, und diesen prächtigen Gebirgskranz von den Allgäuerhöhen über
die Vorarlberge, die Graubündtner Schneealpen, die Appenzeller Höhen (den
hohen Kasten, alten Mann, Kamor und Säntis) und von da in kleineren
Bergzügen fortgesetzt bis zu den Bafaltkegeln des südlichen Badens — das hat
man wahrlich selten am Meere selber. Einem solchen Prachtgemälde zu lieb
thut dann auch die Sonne ein Uebriges und zaubert, vorzüglich beim Auf-
und Untergang, über die Höhen und Tiefen Lichter hin, die kein Pinsel, ge-
schweige eine Feder malen kann.
Wenn aber der Föhn aus dem Rheinthal hervorsaust, mit einigen seiner
westlichen oder nördlichen Vellern und Kriegsgefährten mitten über den See
zusammenstößt und brausend und heulend im wüthenden Kampfe ins Master
sich einbohret, da verwandelt sich die heitere Bläue des Spiegels in ein
helles Grün, das immer dunkler wird; hier und da kräuselt sich die Fläche,
und kleine weiße Schaumwogen tauchen empor. Aber nun bricht der furcht-
bare Lustdämon herein. Wie steigen die Wellen! Wie schäumt die Bran-
dung! Weit über Dämme und Brüstungen wirst sich Woge um Woge; uns
ist ernstlich bange für das schwanke Dampfboot, das aus und nieder seinen
Weg durch die Wellen sucht; die Reisenden darauf können alle Freuden der
Seekrankheit genießen, und Mancher, der auf dem Meere ritterlich gegen das
Uebel gestritten, streckt aus diesem stürmenden „Tiefsee" die Waffen. Wehe
aber den kleinen Fahrzeugen, welche der Sturm ereilt! Während ich am
See war, versank ein beladenes Steiuschiff und seine drei Führer mit ihm in
dessen Meerestiefe.
Es ist aber sehr schade, daß der Bodensee so wenig von kleineren Fahr-
zeugen belebt ist; selten begegnet ein Segel dem suchenden Blicke. Die
Dampfschiffe mit ihren rußigen Kaminen und großen Schleppschiffen haben
gleich den gefräßigen Haifischen die kleinen Segel- und Ruderthierchen fast alle
aufgefreffen. Doch hat es auch seinen Reiz, wenn man in weiter Ferne das
schwarze Schiff aus blauem Grunde erblickt und hinter ihm eine lange Dampf-
wolke sich kräuselt, und noch schöner ists, wenn in der Frühe des Morgens
der frische Wind ein weißes Segel schwellt. Diese heitere Stille und Einsam-
keit thut dem Gemüthe gar wohl, und man vergißt über diesen Freuden des
Sees die Zerrissenheit des deutschen Vaterlandes.
166
Der See ist äußerst fischreich, besonders reich an schmackhaften Seefo-
rellen, und noch reicher an der kleinen Maräne (weißer Gangfisch) und der großen
(Sandselchen). Diese „Gangfische", wie man sie nennt, werden vorzüglich
bet Constanz, Ermatingen und Gottlieben gefangen und eingemacht oder
geräuchert wie die Häringe in den Handel gebracht. Doch hat der Ertrag
in der neueren Zeit bedeutend abgenommen, was von den Fischern zum Theil
den Schwellungen der Rheinmühle in Constanz, zum Theil der Vernachläffi-
gung der Fischordnung, aber auch der Dampfschifffahrt Schuld gegeben wird,
die den Fischen keineswegs angenehm sein soll. Man trifft aber noch häufig
genug in der Tiefe des durchsichtigen, herrlich grünen Wassers die Felchen
haufenweise an, und sie tummeln sich und springen gern im Sonnenschein
über die Oberfläche empor. Der Blauselchen ist im Vergleich mit andern
Seen besonders im oberen Bodensee häufig, so daß er lange als eine demsel-
ben ganz eigenthümliche Art angesehen wurde. Frisch geröstet darf er zu den
wohlschmeckendsten Speisen gerechnet werden und wird oft sogar der Forelle
vorgezogen. Er überwintert in den Tiefen des Sees und zeigt sich im Früh-
jahre, wenn ihn — nach dem Ausdrucke der Fischer — „das Wasser hebt",
zuerst an den östlichen Buchten, wandert dann dem schwäbischen Ufer entlang
gegen Ueberlingen und Constanz, um im Herbst längs den schweizerischen
Gestaden in der Höhe von Arbon zu laichen und endlich in seinen Winter-
standort zurückzukehren. So macht er eine völlige Rundreise durch seine ganze
Wafferwelt.
Wie würde sich die Schifffahrt auf dem Bodensee beleben, wenn Oester-
reich im Bunde mit Deutschland sein Industrie- und Handelsleben zur Blüthe
brächte, und Constanz, Lindau und Bregenz Handelsstädte würden in weite-
rem Sinne, als sie es jetzt sind! An trefflichen Häfen fehlt es nicht. Am"
meisten Mühe hat übrigens Friedrichshafen wegen der Untiefe am Strande;
es muß fleißig gebaggert werden, und die eine Halste des Jahres ist der innere
Hafen für Dampfschiffe nicht einmal zugänglich, Denn das Wasser des
Bodensees fällt im Spätherbst und Winter fast zehn Fuß tief — das gehört
zum Meerartigen des Bodensees, daß er zwar keine tägliche, wohl aber eine
jährliche Fluth und Ebbe hat. Wenn nemlich die Gletscher und Schneefelder
aufhören, von der Sonne sich aufthauen und öffnen zu laffen, vom August
bis über den Winter hinaus, so fällt der See regelmäßig neun bis zehn Fuß,
indem die während dieser Zeit ankommenden Zuflüsse nicht so stark find, um
zu ersetzen, was durch die Verdunstung und durch die Brücke bei Constanz
tagtäglich abgeht. Bekannt ist die Sage, die schon bei dem römischen Schrift-
steller Ammianus Marcellinus vorkommt, der Hauptnährvater des Bodensees,
der Rhein, lasse es sich nicht nehmen, seinen eigenen Weg mitten durch das Ze-
167
wältige Becken hindurch bis zum Ausflusse zu behaupten. In Wahrheit läßt
er aber das breite, weite Bette sich recht wohl gefallen, er dehnt und breitet sich
recht behaglich darin aus, um seinen Schlamm abzulegen und als schöner
Jüngling über Schaffhausen ins liebe Deutschland zu hüpfen, deffen Schmuck
und Zierde er ist. »
Im Stande seiner winterlichen Erniedrigung läßt er sich in seinem Bette
wohl gar einmal einsrieren — nemlich der breitere Theil des Obersees; der
schmalere bei Ueberlingen überfriert fast alle Jahre. Aber Lei jenem ist dieser
Fall in vier Jahrhunderten nur fünfmal eingetroffen, nemlich 1477, 1572,
1596, 1695 und 1830. Die Umwohner des Sees feierten 1830 dieses Er-
eigniß als ein Fest, das keiner zum zweiten Mal erleben würde, und man fuhr
mit Schlitten und Wagen von Lindau nach Rorschach hinüber.
Der Seeboden ist auf deutscher Seite fast überall ziemlich steinig. Am
Strande wälzt die ab- und zugehende, geduldige und ungeduldige Welle unab-
lässig eine Masse Gerolle hin und her Alpenkalk, Quarz, Gneiß, Syenit,
Granit liegen in hübsch abgeschliffenen Stücken groß und klein allenthalben
„wie der Sand am Meer", und diese gerundeten Steinchen in ihren tausender-
lei Farben und Formen mit ihren Quarzadern, Glimmern und Blenden ver-
treten für alte und junge Kinder ganz lieblich die Muscheln, deren Fund am
Meeresufer so erfreut. Alles Land bis nach Ulm zur Donau hinauf besteht
aus nichts als solchem angeschwemmtem Gerölle, in dessen Schichten sich häufig
Granitblöcke als Findlinge zeigen, über deren Größe man erstaunt und über
deren Herkommen man sich nicht genug wundern kann.
Von entgegengesetzten Seiten her bricht man sich jetzt Bahn zu den Ge-
staden dieses Sees. Seit 1850 bringt die württembergische Eisenbahn Wande-
rer und Güter vom Neckar und Rhein und Nordsee, seit 1853 die bayrische
von Donau, Main und Ostsee her; bald werden eine dritte aus Graubündten
und Italien und eine vierte aus dem Innern der Schweiz heraus ebenfalls
Menschen und Waaren an diesen Gestaden absetzen, und ihre Münduugsorte,
Rorschach und Romanshorn, ebenso beleben, wie am Gegengestade Friedrichs-
hafen und Lindau durch ihre Bahnen belebt werden.
Wenn der See in seiner tiefen Bläue so groß und stolz dasteht am Fuße
der Berge Gottes, so kann das Auge nicht von ihm wegkommen, und hundert
Mal zu ihm zurückkehrend, wird es immer aufs neue entzückt.
83. Das Satzbergwerk WilhelmsgUick.
Wir fuhren Nachmittags von Hall nach Wilhelmsglück, um das dort befindliche
Salzbergwerk, das größte in Württemberg, zu besehen. Wilhelmsglück besteht erst seil dem
Jahr 1818. Vorher wurde in Hall aus der dortigen Soole, die aus dem Salz-
orunuen fließt, durch Gradire» Salz bereitet. Dieses Gradire» war aber eine um-
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ständliche und kostspielige Sache; die Haller Soole hatte nemlich nur zwei bis drei
Grad Salz (d. h. sieben und neunzig bis acht und neunzig Theile Wasser und zwei
bis drei Theile Salz, während das Wasser bis aus acht und zwanzig Grade mit Salz ge-
sättigt werden kann); da brauchte es viel Mühe und Zeit, bis das wenige Salz-
wasser durch viele Neisbüscheln geflossen und so nach und nach so viel davon ver-
dunstet war, daß es zum Sieden sich eignete, und die Erhaltung der hohen und
langen Gradirhäuser machte auch nicht wenige Kosten. Man machte deßwegen meh-
rere Bohrversnche, um reichhaltigere Soole zu finden, und durch diese entdeckle man
ein großes Steinsalzlager, das tief unrer der Erde in der Richtung von Hall gegen
Gaildorf liegt. Hier wurde nun ein Salzbergwerk angefangen und unserm König
Wilhelm zu Ehren ihm der Name Wilhelmsglück gegeben. Es liegt in der Nähe
des Kochers, doch nicht ganz in der Thalsolle, sondern ziemlich über derselben und
hat deßwegen eine freundliche Aussicht auf das jenseits des Kochers gelegene Dorf
Michelbach und an den durch seine herrliche Fernsicht bekannten Einkorn mit seiner
Kirchenruine und seinem Jägerhause. In Wilhelmsglück angekommen, erbaten wir
uns von dem Inspector die Erlaubniß, in das Bergwerk einzufahren. Bereitwillig
ertheilte er sic uns und beauftragte den Obersteiger, uns einzuführen. Dieser ernst-
gefällige Mann, dem mans auf den ersten Blick ansah, daß er den größer» Theil
seines Lebens tief unter der Erde in der ewigen, nur durch Grubenlichter sparsam
erleuchteten Nacht und in der tiefen, selten durch einen Ruf oder Knall unterbroche-
nen Stille des Berges zugebracht halte, führte uns zuerst in seine Wohnung, wo wir
Bergmannskleider anziehen mußten. Bald standen wir da in weiten, dunkeln, leinenen
Beinkleidern und eben solchcrJacke, die Bergmannsmütze auf dem Kopfe, eine lederne
Schürze hinten hinab und ein Grubenlicht, ein wohlverwahrtes Oellämpchen mit einem
Haken an dem Daumen der linken Hand. So gingen wir dem mit einem Dache
bedeckten Schachte zu, das heißt einem Loche in der Erde, das etwa wie ein Brunnen-
loch senkrecht und unabsehbar tief hinabgeht. An einer Wand des Schachts ist eine
Leiter befestigt, fast wie eine Scheuernleiter, und an dieser steigt man hinab. Hier
unter dem Dache versammeln sich Morgens mit Tagesanbruch die Bergleute, halten
eine gemeinschaftliche Betstunde und fahren dann einer nach dem andern au der
Leiter ein. — Glück aus! sagte der Obersteiger und stieg voraus an der Leiter hinab; .
da wir ein wenig zögerten, sprach er uns Muth ein und versicherte, es habe keine
Gefahr, wenn wir nur immer mit einer Hand die Sprosse festhalten und ruhig vor
uns hinsehen wollten. So belraten wir einer nach dem andern die Le-ter und es ging
gut. Waren wir eine Leiter hinabgestiegen, so war ein Absatz, auf dem wir stehen
und ein paar Schritte machen konnten zur folgenden Leiter. Etwas weiter unten
war ein größerer Raum mit ein paar Bänkchen zum Ausruhen, besonders für die
Ansfahrendcn, denn dieses Ausfahren an der Leiter ist keine kleine Anstrengung. Hier
können auch die Ein- und Ausfahrenden einander bequem ausweichen. Eben als wir
hier angekommen waren, kamen einige ausfahrende Bergleute an uns vorüber, wir
erwiederten ihr Glück auf! und sie eilten hinauf, wir stiegen hinab. Lange, bis etwa
in die Mitte der Tiefe, waren die Wände des Schachts naß; wir sahen Kalklager
mit kleinen Mergelschichten abwechseln; nach und nach fanden wir die Wände trocken,
und als wir vielleicht zwanzig oder mehr Leitern hinabgestiegen waren, kam das
Salzlager. Der Obersteiger führte uns in einen Salzstolleu, einen sehr langen,
schnurgeraden, ebenen Gang, eben so breit wie eine Kegelbahn und so niedrig, daß
wir die Decke mit der Hand erreichen konnten. Da war Alles Salz, nichts als Salz,'
169
der Boden, die Wände, die Decke. Der Gang ist dadurch entstanden, daß lange Zeit
hier nach vornen und nach hinten einige Männer gearbeitet haben, das Salz heraus-
zuhauen. Solcher Stollen mögen noch mehrere im Bergwerke sein; wir hatten ge-
nug, den einen gesehen zu haben, und stiegen noch tiefer hinunter. Da hatten wir
nun einen großartigen Anblick. Wir standen in einem Gewölbe, hoch wie eine an-
sehnliche Kirche, getragen von mächtigen Säulen und unabsehbar in die Länge sich
ausdehnend, ein Tempel Gottes tief unten im Schooße der Erde, wo der betende
Bergmann in besonderem Sinne sprechen kaun: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zn
dir!" (Ps. 130, 1.), und wo sich dem Gemüthe mächtig das Wort ansdringt: Alles,
was er will, das thut der Herr, im Himmel, auf Erden, im Meer und in allen
Tiefen. (Ps. 135, 6.) Ja, es drängt das Herz, hier unten von dem lieblichen Lichte
der Sonne und von menschlicher Hülfe so fern, in der Einsamkeit, wo Jeder allein
vielleicht hundert Schritte vom Andern den ganzen Tag über sein Geschäft verrichtet,
zum Herrn sich zn erheben und seiner allgegenwärtigen Liebe und Macht gläubig zu
gedenken, und ich meine, wenn einer, so muß der Bergmann ernsten Sinnes und
eifrig im Beten werden. Zwar so blendend und glänzend, wie wir ihn uns zuvor
vorgestellt hatten, war der Anblick hierunten nicht; denn die Salzfelsen, aus denen
Boden, Säulen und Decke bestehen, find hier nicht weiß, wie unser Kochsalz, sondern
grau, mit Thon vermengt und durch Pulverdampf geschwärzt, und ihr Glanz ist nur
matt; aber der ungeheure Raum tief unten in der Erde und die große Menge des
für Menschen und Vieh unentbehrlichsten Gewürzes, mit der Gott von der Schöpfung
her für alle Geschlechter gesorgt hat, stimmen unser Gemüth zur Bewunderung. In
diesen Hallen wandelnd, kamen wir bald zn einem Bergmanne, der beim schwachen
Grubenlichte wie ein Steinhauer arbeitete und sich abmühete, ein Stück vom Salz-
felsen nach dem andern wcgzuschlagen. Glück auf! sagten wir vorübergehend; er er-
wiederte: Glück aus! und arbeitete fort. Bald vernahmen wir den Nus: Beim Schil-
ling brennts: Da sagte der Obersteiger: Wir müssen stehen bleiben. Der Bergmann
Schilling sprengt mit Pulver den Salzfelsen und hat nun, nachdem er ein tiefes Loch
in den Felsen gehauen, dieses mit Pulver gefüllt und den zu dem Pulver führen-
den Schwefelfaden angezündet hat, vorschriftmäßig durch seinen Nus gewarnt, daß
Niemand in die Nähe komme, bis die Wirkung des Pulvers vorüber ist. Nicht
lange stand es an, so hörten wir einen Knall, wie einer Kanone, und der
Obersteiger sagte: Nun wollen wir hingehen und sehen, ob der Manu glücklich ge-
wesen ist. Eben als wir in die Nähe kamen, kam dieser hinter einer dicken, breiten
Säule hervor, hinter welcher er sich geschützt hatte; Glück auf! rief er, und freute
sich mit uns über die gewaltigen Salzstücke, welche durch die Gewalt ves Pulvers
vom Felsen getrennt und rings herum geworfen worden waren. Diese Salzstücke
werden nachher auf dem Hund, einer Art von Karren, entweder zu dem großen
Wasserbehälter in der Tiefe geführt und hineingeworfen oder zu dem Touncnschachte
und in der Tonne hinaufgehaspelt. Wir kamen bald zu einem ausgetrockneten See,
einem weiten Becken, in welches früher das unterirdische süße Wasser geleitet worden
war, das Salz aufzulösen, das aber nun verlassen worden ist, während in ein an-
deres weites Loch, zn dem wir nachher kamen, das Wasser geleitet wird, in welchem
die gesprengten Salzstücke ausgelöst werden. So entsteht die gesättigte Soole, das
Salzwasser, das nahezu i8/100 Theile Salz enthält. Diese Soole wird durch ein
Pumpwerk hinausgeschafft und von Wilhelmsglück zwei Stunden weit durch hölzerne
oder eiserne Teichel in die Saline zn Hall geleitet, wo durch Sieden das Wasser
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abgedampft, alle Unreinigkeit entfernt und so unser reines, weißes Kochsalz bereitet
wird. Nun kamen wir an den Tonnenschacht, ein ganz gerades, senkrechtes Loch,
wie ein weites Kamin; wir blickten in die Höhe und da war es, als stünde über
uns ein kleiner, mattleuchtender Stern. Das ist das Tageslicht, sagte unser Führer,
das in weiter Ferne durch den engen Schacht so schwach und klein erscheint. Hier,
fuhr er fort, sind früher häufig die Leute in der Tonne eingefahren; das ist aber
jetzt verboten, weils nicht ganz ohne Gefahr abgeht. Jetzt wird nur noch das
Steinsalz in der Tonne hinausgeschafft, damit es droben in der Stampfmühle ge-
mahlen wird; dies gibt das Viehsalz und Dungsalz. Es gelüstete uns nicht, in
der Tonne auszufahren, und wir zogen die viel beschwerlichere, aber sichere Ausfahrt
an der Leiter vor. Aber das kostete Schweiß, und mehrere Tage nachher thaten uns
noch vom langen Steigen die Glieder weh. Wie wohl wars uns, als wir ans lieb-
liche Tageslicht wieder kamen, das, so stauuenswürdig schön es drunten ist, doch mit
seiner sanften, heitern Kraft alle andere Schönheit überbietet! Jetzt ist noch ein
anderer bequemer Ein- und Ausgang gemacht, ein Treppenschacht, wo man auf viel
hundert in den Felsen gehauenen Treppen immer in schnurgerader Richtung hinein-
und heraussteigt, und zum bleibenden Gedächtniß des jetzt regierenden Königs ist
diesem Treppenschachle mittelst Berechnung des Standes der Sonne am 27. Sept
zur Mittagszeit und mit Hülfe des Eompasses eine solche Richtung gegeben worden,
daß durch ihn alljährlich am Geburtsfeste des Königs um jene Tageszeit die Sonne
ihre Strahlen in die Tiefe des Bergwerkes wirft.
84. Fahrt durch das Salzbergwerk bei Hallein.
Wir standen hoch oben am Dürrenberge in Bcrgmannsgestalt. Ueber unsere
Kleider hatten wir weite, leinene Jacken und Hosen gezogen; hinten hinab hing eine
lederne Schürze; an der Rechten trugen wir einen dicken Handschuh und in der
Linken ein Licht. Der Steiger, ein großer, ernster Mann mit einem starken Schnurr-
bart, führte uns an ein Thor, über welchem geschrieben stand, daß Johann Jakob,
Erzbischof von Salzburg, 1654 zuerst den Berg angebrochen habe. „Glück auf!*
rief der Steiaer, und dieses Wort gefiel uns sehr, da wir durch das Thor in den
dunkeln Schooß der Erde hineinsahen. Man sollte auch sonst, wenn cs so in die
Erde hineingeht, wenn man sich in ein irdisches Geschäft vertiefen muß, des herz-
lichen, zu Gott gerichteten Wunsches „Glück auf!" nicht vergessen, daß man nicht
darin verschüttet und vergraben werde, sondern wohlerhalten wieder heraufkomme an
die obere Welt des Lichtes. Zu dem lauten Gebetsspruch des Steigers thaten wir
denn auch ein stilles Flehen; und als wir uns dem, der die Säulen der Welt und
also auch der Berge in seiner Hand hält, kindlich trauend befohlen hatten, da fuhren
wir in die uns entgegengähnende Finsterniß mit getrostem Muthe ein. Es war
aber bei uns keine eigentliche Fahrt, sondern ein ganz gemächliches Wandeln in einem
wagrechten Gang. Ein solcher heißt in der Bergmannssprache ein Stollen. Er
war gar nicht furchtbar und greulich, sondern meist auf beiden Seiten und an der Decke
schön mit Gebälk und Brettern ausgelegt, welche das lockere Gestein und Erdreich
halten mußten. Und wo das Gewölbe von selber festhielt, da war es noch schöner.
Da fehlten die Balken und Bretter, und man sah in den nackten Wänden schon Alles
voll Salz. Das war mir ein rührender Anblick, wenn ich dachte, was es doch für
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eine edle Sache um das liebe Salz sei, wie unser Essen ohne dasselbe so fad und
ungeschmack wäre, aber mit ihm schier die Wassersuppe zur Fleischbrübe wird: wenn
ich an jenes arme Weib im Steinthal dachte, das fast keinen größeren Wunsch
kannte, als zu ihren Kartoffeln eine Hand voll Salz zu bekommen. Es wand sich
durch das Erdreich und Gestein auf eine ähnliche Weise hin, wie das schöne Ge-
flechte auf unsern marmorirten Papierbögen durch den dunkeln Grund hinläuft, —
nur Alles, verstehr sich, im Großen; denn da waren Flecke von purem Salz gleich so
groß als ein Laib Brod, und Adern so dick als die Aermel an unsern BergmannS-
kitteln. Auch war cs nicht allein weiß, sondern auch grau und roth und gelb und
violett, kurz in allen Farben spielend. ES soll Allen gut schmecken, will der gute
Gott; es sind Adern seiner Liebe, die hier durch den Berg laufen, wie sie durch das
Weltall laufen, und Prediger seiner Allmacht, wie die hehre Milchstraße am nächt-
lich schimmernden Firmament.
Unter stillem Wundern über die Macht und Güte unseres Gottes und mancherlei
Fragen an den wackern Steiger kamen wir immer tiefer in den Berg hinein. Plötz-
lich standen wir an einer Rolle. Das ist nun ein gar sonderbares Ding. Ein paar
runde, glatte Balken laufen neben einander gähschief in die Tiefe hinunter, wie eine
Leiter ohne Sprossen, die jedoch nicht in der Luft schwebt, sondern auf festem Grund
und Boden liegt. Rechts über dem Balken ist ein dickes Seil an der Wand befestigt,
welches man packt und beim Hinabfahren durch die Hand laufen läßt, wozu man
den oben benannten Handschuh braucht. Hier setzte sich der Steiger zuerst und
rutschte etwas hinab, damit die Gesellschaft nach seinem Vorbild Platz nehmen konnte.
Jetzt merkten wir, warum wir den Schurz hinten hatten, und — das war nun eine
eigentliche Fahrt und wahrlich keine auf der Schneckenpost. In sausendem Zuge
glitten wir etliche vierzig Klafter hinunter, daß uns auch die Hand unter der dicken
Lederbekleidung brannte, und es war nur gut, daß der kräftige Steiger voransaß,
wir waren sonst leicht kopfüber gestürzt.
Bald nach dem Schrecken unserer kühnen Fahrt hatten wir einige Schürfen zu
passiven, und da waren wir wieder ganze Leute. Denn die Schürfen find gewöhn-
liche Stiegen.
' Wir mußten indeß wieder über ein paar Rollen hinunter und durch Mehrere
Stollen, zickzack, hin und her; und däuchte uns eben Alles recht einsam und schwei-
gend, auch ein wenig säuerlich. Bei dieser Gelegenheit sahen wir auch .inen Schacht.
Der ging ganz schnurgerade von oben nach unten, wie ein langer, schmaler Thurm,
welcher innen, auf zwei entgegengesetzten Seiten, lauter übereinanderstehende Küchen-
schrankfächer hätte. Oft hängen auch nur Leitern einander gegenüber. Leider
konnten wir nicht beobachten, wie die Knappen in diesem erschrecklichen Rauchfange
so leicht und flink ans- und niedersteigen, indem sie die Füße, ganz auswärts ge-
dreht, in die hölzernen Fächer oder auf die Leitersprossen setzen. Dagegen erblickten
wir ein paar Knappen, wie sie einen neuen Gang aushieben. Sie waren halb nackt
und in ihren Angesichtern bleich und grüßten uns stille. So viel ich mich erinnere,
arbeiten sie des Tages acht Stunden in ihrer tiefen Gruft, dafür sie zwanzig
Kreuzer empfangen, und damit müssen sie oft noch eine zahlreiche Familie ernähren,
denn sic sind großentheils verheiratet. Doch soll man von ihnen kein Murren und
Knurren hören, sondern sie sollen mit ihrem in doppeltem Sinne sauern Erwerb und
oft so knappen Knappenauskommen zufrieden sein. Und darum dürftet ihr, werthe
Arbeitet draußen auf der Erde, die ihr zu euern zwanzig Kreuzern noch gesunde
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Luft und das holde Tageslicht drein habet, auch zufrieden sein und Pauli Spruch
bewahren: Es ist ein köstlich Ding, wer gottselig ist und lässet ihm genügen. (1 Tim.
6, 6. Sir. 40, 18.)
Es find über zwei hundert solcher Knappen in dem Bergwerke beschäftigt, über
welche mehrere Steiger oder Aufseher gesetzt sind, und das Ganze regiert ein Berg-
amtsrath.
Doch wir müssen von den stillen, bleichen Leuten weiter und gelangen nunmehr
zu dem eigentlichen Mittelpunkt des Bergwerks, wenigstens unserer Fahrt. Aus ein-
mal öffnete sich ein schmaler Gang, und zu unsern Füßen lag — ein unterirdischer
See, mit einem Kranz von Lichtern umgeben, die sich in das ruhige Gewässer
tauchten und in dem Salzkrystall der Wände abspiegelten. Eine Gondel (ein Nachen)
nahm uns auf und trug uns, von einer unsichtbaren Macht bewegt, durch den
Steruenflimmer ans jenseitige Ufer. Das war eine zauberische Wasserfahrt und mit
keiner sonst zu vergleichen weder auf dem Chiem-. noch auf dem Königssee (sehr
schöne Seen in Bayern). Drüben am jenseitigen Ufer merkten wir freilich gleich,
wie denn das Schifflein herübergeschwommen, und daß es keine See- noch Berg-
geister gewesen, sondern ein ganz körperhafter Knappe, der ins Dunkle zurückgetreten
es vermittelst eines dünnen Stricks gezogen hatte. Denn er trat gleich aus seiner
Verborgenheit hervor und hielt sehr ehrerbietig sein Käpplcin hin, um sich ein be-
scheidenes Trinkgeld zu erbitten. Der unterirdische See ist ein halbabgelassencs
Werk, welches gegenwärtig nicht gebaut wird, sondern lediglich für die Ergötzlichkeit
der Gäste bestimmt ist. Die Werke sind aber ausgehauene Räume, aus welchen das
Salz und zwar folgendermaßen gewonnen wird. Man läßt durch hölzerne Röhren
aus der Höhe einen Quell von gewöhnlichem süßen Wasser hereinlaufen, bis das
Werk gedrückt voll ist. Dieses Wasser dringt nun auf allen Seiten wohl einen Fuß
tief ein und-saugt das Salz heraus, welches sich mit ihm vermischt, während Erde
und Steine auf den Boden fallen. Nach vier bis sechs Wochen wird dann das
dicke Salzwasser, Soole genannt, wieder durch hölzerne Röhren zum Berg hinaus-
geleitet und läuft unmittelbar in die gewaltigen Pfannen unten in der Stadt, wo
man es vollends einsiedet. Sobald ein Werk ausgelassen ist, machen sich die Knappen
an die Hinausräumung des abgefallenen Koths und Gesteins, und in wenigen Tagen
kann man es von neuem füllen. Auf diese Weise können jährlich einige 100,000
Centner gewonnen werden, denn der ganze gewaltige Berg steckt voll dieses köstlichen
Gewürzes, und es sind nicht weniger als dreißig solcher Werke darin, von denen das
größte 700,000 Eimer faßt.
Man darf aber nicht glauben, daß diese Werke gleich anfangs bedeutend groß
find. Anfangs wird bloß ein kleines Stüblein ausgehanen, und erst in der Folge
wird durch öfteren Bau eine weite Kirche daraus. So ist auch das menschliche
Herz nicht von Geburt her wahrhaft groß, sondern wirds erst durch fortgesetzten
Bau und namentlich, wie hier, dadurch, daß ihm fortwährend genommen wird. Und
je leerer der Herr ein Herz macht, nemlich vom Eigenen, desto größer wirds. So
wird aus dem engen Herzensstüblein allmählich ein Tempel, wo Gott mit der Fülle
seiner Gnade Wohnung nimmt. Uebrigens wird uns wohl Niemand schelten, daß
wir diese Werke mit Kirchen vergleichen, um so weniger, wenn wir daran erinnern,
daß solche wirklich einmal Kirchen gewesen sind. In jener schweren Zeit, wo der evange-
lische Glaube im Salzbnrgischen bis auf den Tod verfolgt wurde, hatte er auch die )ämtliche
Bevölkerung Dürrenbergs durchdrungen, und diese hatte noch geraume Zeit Frieden,
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während außen über ihren Glaubensgenossen, von denen ein Theil in Württemberg
Aufnahme fand und Freudenstadt gründen half, längst Krieg und Kriegsgeschrei
tobte. Da versammelten sich die theuern Brüder nach geschehener Arbeit in diesen unter-
irdischen Kirchen, und ein von Gott gelehrter Steiger oder ein reichbegabter Knappe
las beim Scheine der Grubenlichter ein Kapitel des Evangeliums und sprach darüber
ans der Fülle seines beseligten Herzens, und Alles freute sich des Worts der Erlö-
sung und der Gerechtigkeit des Glaubens, die allein dem sündigen Menschenherzen
wahren Frieden geben kann. Dann beteten sie, daß das Wort wachsen und laufen
möchte, und daß sie unter allen Trübsalen.treu bleiben möchten bis ans Ende, und sangen
ein Lied aus Luthers Geist zu Ehren dem, der auf dem Stuhle sitzt, ihrem Gott und dem
Lamme. Ach, dachte ich in wehmüthig froher Erinnerung an jene Zeit: du liebes
Kannhäuser Werk (so hieß das unsrige), hast vielleicht auch schon damals vor hun-
dert Jahren diese Glaubenshelden und Gottes Herrlichkeit unter ihnen gesehen! Ach
ihr unterirdischen, tiesverbvrgcnen Räume, wie viel mehr wäret ihr Gotteshäuser,
als so viele hochragende Kirchen draußen auf dem Angesicht der Erde, und welch ein
besseres Gotresvolk betete in euch, als jetzt auch für gewöhnlich in unsern evangelischen
Tempeln! Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: kommet wieder,
Menschenkinder, dein Reich komme!
Unsere Fahrt ging zu Ende. Wir brausten noch über eine Rolle von vielen
Klaftern hinab und hatten damit den Grund erreicht. (Die ganze Höhe des Berg-
werks beträgt 220 Klafter.) Hierunten wartete unser der sogenannte Postwagen,
d. i. eine Art Reilwnrst, die in hölzernen, etwas geneigten Geleisen lief und von
zwei Knappen dermaßen rasch fortgerollt wurde, daß wir den (schnurgeraden) Weg
von Dreiviertelstunden (so weit waren wir im Schooß der Erde drin!) in einer
Viertelstunde zurücklegten. Aber, theure Leser, welch ein Schauspiel bot sich zum Be-
schluß noch unsern staunenden Augen oar! Von dem schnellen Fluge und wahrschein-
lich von einem aus einem Seitengang daznstoßenden Luftstrom waren uns plötzlich
alle Lichter ausgelöscht. Als wir uns aber so in vollkommenster Nacht ungefähr in
der Mitte des Weges befanden, siche da zitterte auf einmal ein Sternlein, wie eine
Nadelspitze, unserer Finsterniß entgegen. Der lieblich goldene Flimmer wuchs und
ward zu eiizem flammenden Stern erster Größe, immer wachsender, immer kreisender,
-immer strömender. Da schwebte eine strahlende Sonne vor uns, die ihr Angesicht
lächelnd milderte und ihre Flügel auseinanderhob, uns einzunehmen. Der Postwagen
hielt, und wir waren am Ausgang. O mein Gott! wenn schon das bloß irdische
Tageslicht aus einem dunkeln Stollen heraus sich so herrlich ansehen läßt, wie wirds
uns sein, wenn wir aus dem finstern Stollen des Todes heraus das grüßende Licht
jenes himmlischen Tages und die ewige Lebenssonne selber schauen? Dazu hilf uns,
o mein Gott, um Jesu, deines Sohnes willen!
85. Pie Alpen.
Das majestätische Alpengebirge, welches sich von Frankreich und Italien aus
über die Schweiz und einen großen Theil des südlichen Deutschlands erstreckt, hat
eine Länge von wenigstens hundert und zwanzig und eine Breite von zwanzig bis vierzig
Meilen. Ans den Thalgründen, welche den Felsenleib der Alpen theils der Länge, theils
der Quore nach durchschneiden, und von denen viele so hoch liegen, daß sie die höchsten
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Spitzen unserer übrigen deutschen Gebirge überragen, erheben sich himmelan strebende
Berge bis zu einer Höhe von fast 15,000 Fuß. Diese Berge sind entweder gar nicht
oder doch nur zum kleinen Theil angebaut; die meisten jener Thäler aber sind der
Schauplatz der menschlichen Betriebsamkeit und die nicht zu hoch gelegenen mit Fel-
dern, Obst- und Weingärten, die sich auf die Berge hinaufziehen, so weit die Ge-
gend es gestattet, reichlich bedeckt. Inmitten derselben gewahren wir nahe an ein-
ander gedrängte, gewerbreiche Städte und freundliche Dörfer mit zerstreut liegenden
Wohnungen und eigenthümlicher Bauart, deren Bewohner von denen der benachbarten
Thäler oft durch unübersteigliche Berge getrennr oder mit ihnen durch mehr oder
minder bequeme Pässe, durch welche künstliche und natürliche Straßen führen, ver-
bunden sind. Oder die weiten, tiefen Thäler sind oft viele Meilen weit mit Wasser
angefüllt und bilden jene größeren oder kleineren Bergseen von ausgezeichneter Klar-
heit und wechselnder Färbung, deren Ufer sich theils schroff und steil erheben, theils
in anmuthige Ebenen auskaufen.
Einen unendlichen Genuß gewährt dem Freunde der Natur das Besteigen eines
Alpenberges. Wir nehmen durch die angebauten Thäler unsern Weg bergaufwärts;
Gärten, Aecker und Wiesen, freundliche Obstpflanzungen und liebliche Weingärten
lassen wir hinter uns und schlagen uns durch die stolzen Waldungen, welche den
Berg umgürten. Anfangs sind es kräftige Laubhölzer; weiter hinauf erheben sich
schlanke, kernhafte Tannen, Fichten und andere Nadelhölzer. Noch höher hört der
üppige Baumwuchs auf; nur niedriges Knieholz und mancherlei Beerengesträuch kommt
noch kümmerlich auf dem rauhen, unfruchtbaren Boden fort. Nacktes oder mit Moos
bewachsenes Gestein breitet sich vor unsern Blicken aus; Granitmassen von erstau-
nenswürdiger Größe liegen überall in furchtbarer Verwirrung zerstreut und lassen
auf eine frühere gewaltsame Zerstörung mächtiger Berge schließen; himmelwärts
thürmen sich senkrechte Felswände zu allen Seiten auf, und tiefe, schauerliche Nisse
und Spalten drohen, den Wanderer in ihren Schlund zu verschlingen. Da ist alles
Leben erstorben und öde Stille herrscht in der furchtbaren Einöde. Wilde Berg-
ströme stürzen in die tief gerissenen Schluchten und unterbrechen durch ihr grausiges
Getös die lautlose Einsamkeit. Oft zerrinnt ihr Wasser im hohen Fall zu Staub,
und dann gewähren sie, besonders wenn die Sonne die Wasserstäubchen regenbogen-
artig färbt, ein unbeschreiblich schönes Schauspiel. So 'wechselt das Schauerliche
mit dem Schönen und Erhabenen und macht einen um so tiefern Eindruck auf das
Gemüth. Hin und wieder treten noch Waldstreifen hervor, freilich nur von ver-
krüppelten Kiefern gebildet, und Heidelbeeren bedecken den steinigen Boden, der gleichwohl
auch noch herrlich gefärbte Alpenrosen hervorzubringen im Stande ist. Hier streifen
im Sommer Marder und Wiesel umher, um die Eier der Berg- und Schneehühner
zu ergattern; hoch in den Lüften kreist der Lämmergeier, der nur auf den höchsten,
unzugänglichsten Felsen horstet und Gemsen und Ziegen verfolgt. Aus den Löchern
kriecht das harmlose Murmelthier, um Gras und Alpenkränter zu suchen, und auch
der Berghase kommt zu gleichem Zwecke aus seinen Schlupfwinkeln hervor; die
flüchtige Gemse aber macht ihre gefährlichen Sprünge über Schluchten und Abgründe
und wird vom kühnen Jäger unter beständiger Lebensgefahr rastlos verfolgt.
In derselben Höhe breitet sich auch der Teppich buntfarbiger Alpenpflanzen vor
unsern Blicken aus, würzhaste, duftende Kräuter mit prächtigen Blüthen, welche die
reine Alpenluft auf dem schwellenden, dicht in einander gefilzten Ra;en erzeugt.
Aus diesen grünen Matten weiden die Aelpler oder Sennen in den wenigen Som-
175
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mermonaten zahlreiche Heerden von Ziegen, Schafen und Kühen, deren melodisches
Glockengeläut schon in der Ferne uns wohlthuend entgegenscholl. Ermüdet von der
mühseligen, gefahrvollen Wanderschaft kehren wir bei einem Sennen ein. Er wohnt
in einer armseligen Sennhütte; aber wir sind froh, bei ihm ein Obdach zu finden.
Gastlich nimmt er uns auf, theilt freundlich sein Mahl mit uns und freut sich, ein-
mal Menschen bei sich zu sehen. Freilich müssen wir mit Milch, Molken und Käse
sürlieb nehmen, denn das ist seine einzige Kost, selbst grobes Brod hat er selten;
nur von Zeit zu Zeit wird ihm dergleichen hinaufgebracht und hält dann nicht
lange vor. Wir übernachten bei ihm auf einem weichen Lager von Heu und decken
uns mit unsern warmen Mänteln zu. Um die Alpenwirthschaft näher kennen zu
lernen, verweilen wir den folgenden Tag auf der Alp (so nennt nemlich der Schweizer
diese Bergweide, welche in Tirol Alm heißt). Wir besuchen mehrere Sennhütten;
alle sind aus rohem Holz oder aus kunstlos auf einander gefügten Steinen gebaut;
die Ritzen und Fugen sind mit Gras und Moos verstopft, doch nur oberflächlich, so
daß nicht selten des Morgens in der Hütte hohe Schneestreifen liegen, die ein nächt-
liches Gestöber durch jene Fugen wehte. Das Dach ist mit großen Steinen gegen
die Gewalt des Windes beschwert. In der Regel haben diese Sennhütten nur ein
Gemach, in welches, da keine Fenster vorhanden sind, das Licht durch die offene
Thüre, die des Nachts mittelst eines Riegels verschlossen wird, hereinfällt. Bisweilen
finden sich auch zwei Abtheilungen, in deren vorderer ein großer,- viereckiger Herd
steht, der zugleich auch als Ofen, Tisch und Bank dient, und über welchem ein großer,
beweglicher, zur Käsebereitung dienender Kessel hängt. Diese Abtheilung ist Küche,
Wohn- und Schlafzimmer. Um Raum zu gewinnen, ist das Bett sehr oft oben an
der Wand befestigt, und hölzerne Zapfen in derselben dienen als Leiter. Die zweite
Abtheilung gibt die Milch- und Käsekammer ab, welche sich bei den einzimmerigen
Sennhütten in der Erde befindet. Ganz nahe bei der Wohnung des Sennen er-
blicken wir die eben so kunstlos erbauten Stallungen, in denen die Heerde zur Zeit
eines Unwetters sichere Zuflucht findet.
Die Hirten sind meistens arm; selten besorgen sie eigene Heerden, noch seltener
auf eigener Alp. Gewöhnlich werden sie von Besitzern der Alpenplätze hinaufge-
schickt, oder, sie pachten eine Alp und oft die Kühe dazu. Sie tragen einen blauen
Kittel, zwillichne Ho>en, die bis übers Knie reichen, ein ledernes Käppchen auf dem
Kopf, und gehen baarsuß oder in Holzschuhen. Sie sind kräftig und heiter, stolz auf
ihre Heimat, ihren Beruf und ihre einfache, genügsame Lebensweise.
In der Schweiz versehen meistentheils nur Männer das Geschäft des Melkens
und der Käsebereitung; Butter wird wenig gemacht. Schon im Mai ziehen die
Sennen mit den Ziegen und Schafen auf die Alp; vier Wochen später kommen die
Kühe nach. Solche Auffahrt auf die Alp ist ein allgemeines Fest. Die Hirten sind
dabei voll ausgeladener Freude, und auch das Vieh scheint gern das Thal zu ver-
laden und klettert munter die oft mühsamen Anhöhen hinan. Voran zieht der Senn,
mit bunten Bändern reichlich geschmückt; ihm folgt die größte, kräftigste Kuh, welche
in den Kämpfen des Viehes am häufigsten siegte, mit einer mächtig großen Glocke
am Hafte; dann kommt der Handbub, des Sennen Gehülfe, mit der ganzen Heerde,
deren Reihe der große Stier Ichließt. Das nöthige Gcräth wird Tags darauf zur
Sennhütte gebracht. Jede Kuh empfängt vom Hirten ihren Namen und hört auf
seine Stimme, sowie ans die einfachen, lieblichen Töne, die er auf seiner Schalmei
hervorzubringen versteht, welche Kuhreigen genannt werden. Es ist eine Lust, das
Vieh in seiner Freiheit auf der Alp fröhlich und übermüthig umherspringen und
mit einander kämpfen zu sehen; man merkts ihm au, wie gut das kräftige Alpen-
kraut in hoher, reiner Bergluft ihm bekommt. Wenn es die Witterung erlaubt,
bleiben die Heerden Tag und Nacht im Freien und werden auch da gemolken; sobald
aber böses Wetter heranzieht, treibt sie der Senn den Ställen zu. Die Ziegen,
welche sich dann vorher jedesmal um die Hütte sammeln, dienen ihm dabei als
Wetterpropheten. Beim Einbruch der Kälte, gemeiniglich im September, werden die
Sennhütten wieder verlassen und die Heerden in die Thäler hinabgetrieben.
Nachdem wir dies alles theils mit unsern eigenen Augen gesehen, theils uns
vom Senn haben erzählen lassen, setzen wir unsern Weg noch vor Anbruch des
Tages bergaufwärts fort. Vvm Thale aus haben wir mehrere Führer mitgenommen
und uns mit einer Axt, einer Leiter, festen Stocken mit Stacheln und scharf be-
schlagenen Schuhen versehen. Bald sollen wir von alledem Gebrauch machen, denn
die herrlich grüne, mit tausendfarbigen Blumen geschmückte Alp liegt hinter uns,
und vor uns breitet unübersehbar sich eine Schneeebene mit wellenförmigen, unglei-
chen Erhöhungen aus. Die Grenze ist hier oft so scharf, daß man mit der einen
Hand vor sich in den Schnee greifen und mit der andern hinter sich prangende
Blumen pflücken kann. Aus dem ewigen Schue-e aber ragen hohe, düstere Felsspitzen
hervor, an deren steilen Wänden der Schnee nicht haftet. Es sind dies jene schroffen
Felsengrate, die jäh in die Luft sich erheben, mit ihren starren Formen einen grellen
Abstand gegen den blendend weißen Schnee bilden und Hörner genannt werden.
Unbeschreiblich schön war der Anblick, den wir schon vom Thale aus auf diese Ge-
gend hatten. Es war an einem schönen Abend, das tief liegende Land bereits mit
Dämmerung bedeckt, und nur die hohen Bergspitzen und die schroffen Hörner prangten
purpurn noch im Sonnenlichte. Welch majestätische Pracht! Der Schnee erschien
nicht weiß, sondern röthlich glühend und spielte da, wohin der Schatten fiel, in ver-
schiedenen Farben. Solche Erscheinung, welche Abends und Morgens nicht selten
ist, nennt man das Alpenglühen.
Jetzt schlagen wir unsern Weg seitwärts über einen Firn oder Gletscher ein,
dergleichen es viele in der Alpenwelt gibt. Wenn die Höhen der Berge mit Schnee
so sehr beladen sind, daß sie ihn nicht mehr halten können, sinkt derselbe in unge-
heurer Masse in ein naheliegendes Thal. Selbst die größte Hitze des Sommers
kann die Menge nicht überwinden; der herannahende Winter macht, daß der wässerig
gewordene Schnee zu Eis gefriert und führt neue Massen hinzu. So entstehen
zuletzt hohe Eisflächen oft in Gegenden, wo noch vor wenigen Jahren grüne Matten
prangten. Unsere Stöcke in den Händen, die Eisschuhe an den Füßen, betreten wir
die vor uns liegende. Bei jedem Tritt entwickelt der Gletscher neue Schönheiten,
aber auch neue Gefahren. Herrlich schimmert im Sounenglanz das Eis in rother,
blauer und grüner Farbe. Bergauf, bergab schreiten wir stundenlang über den Firn
fort, wobei die Fußstapfen oft mit der Apt vorher gehauen werden müssen, damit wir
nicht gleiten; auch die Leiter wird nicht selten gebraucht, um steile Vorsprünge zu er-
reichen. Hier und da erscheinen hohe Kuppen von Eis, die im Sonnenlicht wie
blankes Silber leuchten, und wir erstaunen über den wunderbaren Bau, welchen die
Natur dabei befolgte. Da öffnet sich vor uns ein breiter, tiefer Schlund; schauerlich
schön ist der Blick hinunter; wir vermögen nicht, das Ende des Eises in der Tiefe
zu erspähen, wo weil unten Schueewasser zu rauschen scheint; alle Farben herrlich
anzuschauen/ bietet uns die sonst so grausige Schlucht. Bon Eis hat sich an einer
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Stelle eine Brücke darüber gewölbt, aber sie ist so schmal, daß der Fuß kaum Raum
hat, und doch müßen wir sie überschreiten. Tod und Grabesschweigen herrscht hier,
das nur durch unsere Fußtritte unterbrochen wird. Doch neue Schönheiten entfalten
sich vor unsern Blicken. Hier erheben sich eine Menge hoher Kuppen, deren von
Eis gebildete, lange, spitze, durchsichtige Nadeln im Sonnenlichte herrlich flimmern;
dort stehen runde Eispyramideu, die mit einem Steine wie mit einem Hute bedeckt
sind; unsere Führer nennen sie Gletschertische. Viele Bache rauschen in blauen
Eisrinnen dahin, versenken sich oft in tiefe Eisschichten und fließen unter der Ober-
fläche, nur dem Ohre vernehmbar, weiter fort. Links und rechts fassen himmelan-
strebende Wände den Gletscher ein, der sich vor unsern Blicken in eine andere Thal-
schlucht hinzieht. Da auf einmal vernehmen wir aus weiter Ferne ein donnerähn-
liches Getöse. Wir erbeben und wenden uns erschreckt an unsere Führer, um die
Ursache jenes fürchterlichen Krachs zu erfahren. Diese sagen uns, es müsse irgendwo
im Gletscher ein neuer Riß entstanden, oder ein Eisgewölbe, das sich in der Tiefe
durch Wasser gebildet, zusammengestürzt sein. Gott dankend, daß wir fern genug
von jener Stelle sind, setzen wir unsern Weg etwas ängstlicher fort, zumal frisch gefallener
Schnee das Eis vor uns bedeckt; langsam schreiten wir vor, den Schnee mit unsern Stöcken
untersuchend, ob er nicht vielleicht trügerisch einen Abgrund unsern Blicken verhüllt.
Wir erklimmen nun eine der höheren Bergspitzen; der Weg ist beschwerlich;
die Lust wird immer kälter und dünner, dabei ist sie hell und klar; unser Puls
geht schneller, das Herz klopft rascher. Nach mehrstündiger, gefahrvoller Wanderung
haben wir den Gipfel erreicht.
Aber welch eine Aussicht! Alle Mühen sind vergessen, denn ein Genuß, unbe-
schreiblich schön, belohnt sie tausendfach. Eine unermeßlich weite Welt liegt ausge-
breitet vor unsern erstaunten Blicken; das Alpengebirge stellt sich uns in seiner
ganzen Majestät dar, und die Seele erbebt, indem sie die Allmacht Gottes schaut.
Zahllose Bergketten, umlagert von waldigen Vorbergen, weite Schnecfelder, aus
denen die mit Eis bedeckten, glänzenden Spitzen hoher Granitfelsen hervorragen,
tiefe Schluchten, wunderbar gestaltete Felsengrate, fruchtbare Alpenweiden, herrliche
Seen, blühende Thäler, übersäet mit Städten und Dörfern, die uns von oben frei-
lich winzig Min vorkommen, Bäche und Ströme, die im Thal als blaue Streifen
erscheinen, und alle die mannigfaltigen Naturwunder, welche das Alpengebirge dar-
bietet, wechseln bunt mit einander ab. Wir wissen nicht, wohin wir unsern Blick
zuerst wenden sollen, überall Großartigkeit und Pracht. Da wirds dunkler im Thale;
während der Himmel über uns klar und tief blau ist, ziehen sich unter uns dichte
Nebel zusammen, und wir erfahren von den Führern, daß es für die im Thale
schwere Gewitterwolken sind. Der unter uns rollende Donner, die sich kreuzenden
Blitze bestätigen bald ihre Behauptung. Wir sehen dem erhabenen Schauspiele zu,
ohne zu erschrecken, denn Donner und Blitz haben hier keine Gewalt über uns.
Endlich zerreißt das Wolkenmeer unter uns und läßt hier und da wieder einen freien
Blick ins Thal zu, bis endlich alles Gewölk gänzlich verschwunden und die Luft
ebenso klar und rein unter uns wie über uns ist. In Andacht versunken, sitzen wir
auf einem Felscnblock; da tönt abermals ein Donner au unser Ohr; unser Auge
folgt unwillkürlich seinem furchtbaren Schalle: eine Lawine rollt unaufhaltsam von
einem entfernten Berge herunter. Wehe denen, die sie ans ihrem ungestümen Laufe
ercils! Gott sei Dank! sie hat kein bewohntes Thal erreicht; eine tiefe, öde
Thalschlucht hat sie ausgefüllt.
Lesebuch.
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Unsern Gedanken noch nachhängend, werden wir von den Führern an die Rück-
kehr gemahnt. Ungern verlassen wir den Ort, der eine ganze Welt von Wundern
uns erschloß; doch der Tag ist schon weit vorgerückt, und kein gastlich Dach bietet
sich hier für die Nacht uns dar. Wir müssen noch vor Untergang der Sonne das
nächste Hospiz zu erreichen suchen. Wehmüthig nehmen wir Abjchied von diesem er-
habenen' Punkte und schlagen den Weg nach der nächsten Straße zu ein, an deren
höchster Stelle ein Hospiz (Herberge) zur Aufnahme der Reisenden bereit liegt.
Nach mühevollem Bergabsteigen langen wir noch zu rechter Zeit hier an, werden
freundlich aufgenommen und bewirthet und setzen am andern Morgen auf einer der
bequemern Straßen, welche über die Alpenketten aus einem Thale ins andere führen,
unsere Rückreise fort. Diese Wege gehen nicht über die höchsten Spitzen der Berge
hinweg, sondern ziehen sich an ihren Abhängen durch Pässe und Thalschluchten hin-
durch; der menschliche Fleiß hat sie selbst für Fuhrwerke zugänglich gemacht. Viel
Ausdauer gehört freilich zu solch einer Riesenarbeit. Hier muß ein ungeheurer
Felsen gesprengt werden, um am Abhang Raum für die Straße zu bekommen; dort
muß man einen andern Felsen unterhöhlen, um durch das daraus entstehende Felsen-
gewölbe hindnrchsahren zu können; noch an andern Stellen, wo die Straße an
ganz schroffen Wänden oder Abgründen hinläuft, müssen Pfeiler und Gewölbe vom
tiefen Thale bis zur Straße hinaufgebaut werden. So geht oder fährt man häufig
an dem jähen Absturz nackter Klippen entlang, rechts von himmelhohen, steilen
Felsen, links in schauerlicher Tiefe von den schäumenden Wogen eines in Wasserfällen
herunterstürzenden, reißenden Stromes begleitet. In hundertfachen Windungen und
Abwechselungen schlängelt sich der Weg dahin, von Zeit zu Zeit den Wanderer zu
einer einsamen, aber freundlichen Herberge führend. An Stellen, wo der Sturz
zerstörender Lawinen nicht zu den Seltenheiten gehört, dienen Felsenüberhänge oder
Neberdachung der Straße dazu, daß die Lawinen dem Wanderer ohne Schaden
über den Weg Hinwegrollen, denn manche Gegenden sind schon von jeher gleichsam
als Werkstätten der Lawinen bekannt. Da muß man Alles vermeiden, wodurch man
sie herbeiführen könnte. Man geht an solchen Stellen behutsam über den thauenden
Schnee hinweg, um nicht mit den Füßen von demselben etwas hinabzurollen; man
vermeidet das Schießen, denn die geringste Erschütterung könnte größere oder kleinere
Massen von Schnee lösen und eine Lawine veranlassen. Im Fall wächst diese dann
unaufhaltsam; Bäume, ja selbst ungeheure Felsblöcke reißt sie mit sich fort und stürzt
sich endlich verheerend in das Thal, wo sie ganze Dörfer überschüttet, Seen aus-
füllt nnd durch Sperrung des Thales das Wasser desselben, staut und dessen gewalt-
samen Durchbruch und Ueberschwemmung veranlaßt, ja selbst denjenigen Gegenstän-
den gefährlich wird, die nicht unmittelbar von ihr berührt werden, indem sthon der
Luftdruck, den sie weit um sich her ausübt, Häuser einstürzt, Thürme nnd Wälder
umreißt und Menschen nnd Thiere weit fortschleudert.
Wir indeß sind froh, von dergleichen auf unserem Wege verschont geblieben zu,
sein, und kommen endlich glücklich im Thale wieder an.'
86. Das Alpeuhorn.
Auf dem Alpenhorn blasen die Hirten oder Sennen in manchen
hohen Gebirgen des Schweizerlandes nicht nur den Kuhreigen, son-
179
dern es dient auch noch zu einem andern feierlicheren religiösen Ge-
brauch. Wenn nemlich die Sonne im Thal untergegangen ist, und
das Licht des Himmels nur noch am Gipfel der schneebedeckten Berge
glimmt, dann nimmt der Senne, der die höchste Alp inne hat, sein
Horn und ruft durch sein Sprachrohr: „Lobet Gott, den Herren!"
Alle benachbarten Hirten treten, so wie sie diesen Laut hören, aus
ihren Hütten, nehmen ihre Alpenhörner und wiederholen dieselben
Worte. Dies dauert oft eine Viertelstunde lang fort, und von den
Bergen und längs der felsigen Schluchten wiederhallt der Name
Gottes. Endlich erfolgt eine feierliche Stille. Alle beten, knieend und
mit entblößten Häuptern. Mittlerweile ist es ganz dunkel worden. „Gute
Nacht!" ruft der höchste Hirte durch sein Sprachrohr; „Gute Nacht!" tönt
es wieder von allen Bergen und aus den Felsschluchten den Hörnern der
Hirten entgegen. Drauf legt sich jeder zur Ruhe nieder.
87. Cm Beispiel von Gottes Hülfe in der Uoth.^2^
Einst machten einige Reisende den Weg üb§r die Alpen nach Italien und
nahmen sich einen Schweizer aus der Gegend zum Wegweiser mit, der sie sicher
über die hohen Schnee- und Eisberge hinführte.- Als er einmal stille stand,
wie um auszuruhen, sahen sie unvermuthet Thränen in seinen Augen; sie frag-
ten ihn nach der Ursache, und da geigte eS sich, daß es Thränen eines gerührten
und dankbaren Herzens waren.
„Gottvergessen wäre ich"^ sprach der Schweizer*— „wenn.ich jemals an
dieser Stelle vorbeigehen könnte, ohne mich dankbar an die mir hier von Gott
erwiesene, mächtige Hülfe zu erinnern. Hier, liebe Herren, hier auf diesem
'Berge —'seht ihr dort in der Ferne jenen grauen Strich auf dem Eise? Es
ist ein Graben, einige Klafter tief, worunter das Wasser stromweise unter der
Schneedecke hinschießt. Ihr denkt wohl, derjenige möchte ohne Rettung ver-
loren sein, dem der betrügliche Schein unter den Füßen bricht und ihn in diesen
fürchterlichen'Schlund stürzt. — Nun hier auf diesem Berge und in diesem
Graben hätte ich vor einigen Jahren mein Grab finden müffen, wenn mich
nicht Gottes mächtiger Arm beinahe durch ein Wunder wieder aus demselben
heraus gezogen hätte.
Zwei Gefährten und ich jagten auf diesen Bergen den Gemsen nach. Der
Berg war mit frischem Schnee überdeckt. Wir spürten eine Gemse; als wir
aber der Spur zu heftig nachfolgten, sank der lockere Schnee aus einmal unter
, meinen Füßen ein. Schon war ich tief in den Eisschlund gesunken, als ich,
noch meiner Sinne mächtig, die Arme und Schenkel im Niedersinken so weit
als möglich ausbreitete und mich dadurch an den beiden Eiswänden festhielt, so
12 *
180
daß ich noch über dem Wasser schwebte. Meine Gefährten hatten mich kaum
aus dem Gesichte verloren, als sie mir angstvoll zuriefen; und da sie hörten,
daß ich noch lebte, versprachen sie mir, AlleS zu meiner Rettung zu thun, was
ihnen möglich wäre. Voll Verlangen, mir zu helfen, liefen nun die Lieben,
so schnell als die Gemse, eine Meile weit bis zu der nächsten Hütte, während
ich, zwischen Furcht und Hoffnung auf meine ausgebreiteten Arme und Schenkel
an den Eiswänden gestützt, über dem Waffer schwebte. Ich sank aber mit der
Zeit immer tiefer; schon kam der Strom mir bis an die Kniee, ich war vor
Kälte fast erstarrt und erwartete nichts anders als den Tod.
Nach Verlauf einiger Stunden hörte ich meine treuen Gefährten mich an-
rufen. Sie hatten in der nächsten Hütte einen Strick gesucht, und da sie keinen
gefunden, hatten sie eine Bettdecke in Riemen geschnitten, diese zusammenge-
knüpft und so ein Seil verfertigt. Dieses ließen sie hinunter, und ich band
mir daffelbe mit vieler Mühe um den Leib.
Nun zogen sie mich mit vereinten Kräften so weit alls dem Spalt herauf,
daß sie mich beinahe mit den Händen erreichen konnten. Aber plötzlich zerriß
der Strick, und ich mit einem Theil desselben um den Leib, glitschte unaufhalt-
bar wieder hinunter, eben so tief als vorher. Jetzt war die Noth noch größer,
nicht nur darum, weil der Strick kürzer geworden war, sondern auch, weil ich
bei diesem zweiten Fall einen Arm gebrochen hatte, und also um so weniger
Kraft behielt, selbst etwas zu meiner Rettung beizutragen. Dennoch entfiel
uns der Muth nicht. Sie schnitten die Riemen noch einmal entzwei, um den
Strick wieder zu verlängern. Dann warfen sie ihn mir zum zweiten Mal hin-
unter. Von Gott gestärkt, war ich noch behende genug, ihn mit einem Arm
mir um den Leib zu knüpfen. Und mit diesem noch schwächeren Strick waren
meine Freunde endlich so glücklich, mich aus dem bereits offenen Grabe heraus c
an das helle Tageslicht zu ziehen.
Sollte ich denn wohl jemals in meinem Leben diese göttliche Hülse ver-
gessen? Sollte ich nicht, so oft ich an dieser Stelle vorbeigehe, dem Herrn,
meinem Erretter, Gebete und Thränen des Dankes zum Opfer bringen?"
Ps. 103, 2. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir
Gutes gethan hat.
88. Die Mönche ans -em St. Dernhardsberge.
Von der Schweiz gehen über die Alpen mancherlei Wege nach
Italien, z. B. einer über den St. Bernhard. Am Fuße dieser Ge-
birgsstraße ist die Landschaft sehr angenehm. Quellen, Bäche und
Flüsse wässern den Boden; allenthalben gibt es Fruchtfelder, Gärten,
Weinstöcke und Obstbäume, so daß es ein Vergnügen ist, da zn leben.
181 ^:
Etwas höher findet man Wälder, noch höher treffliche Matten, auf
denen das Vieh im Sommer eine herrliche Weide findet. Noch etwas
weiter hinauf fangen die Felsen an, die aber noch mit Gesträuchen
und Bäumen bewachsen find. Gemsen und Steinböcke irren auf ihnen
umher und setzen manchen Jäger, der ihnen nachklettert, in große
Angst, wie er den Rückzug finden will. Noch weiter hinauf werden
die Berge kahl und öde, und die Gipfel derselben bedeckt ein immer-
währender Schnee, den auch die Glut des heißesten Sommers nicht
ganz schmelzt.
Von dem Weg auf den St. Bernhard kann man jetzt von Mar-
tinach an der Rhone aus eine ziemliche Strecke im Wagen zurück-
legen; die letztere höhere Strecke können nur Fußgänger und Lastthiere
begehen. Früher waren keine Fahrwege möglich, sondern man fand
nur Fußsteige, die oft sehr schmal waren und so dicht an den Felsen
hingingen, daß man fie nicht ohne Schwindel und ohne die größte
Gefahr, in unabsehbare Abgründe zu stürzen, pasfiren konnte. Doch
noch jetzt ist die Reise in der Schneegegend gefährlich. Die Kälte
ist erstaunlich streng, und bei unfreundlicher Witterung steht man den
Weg nicht nnd ist in Gefahr, in tiefen Schnee zu versinken oder in
mehr als hundert Ellen tiefe Felsenriffe zu stürzen. Waaren und Ge-
räthschasten werden großentheils durch Maulesel über den Berg ge-
tragen, die dazu abgerichtet sind und sicher gehen. Da indessen jähr-
lich gegen 20,000 Menschen hier die Alpen überschreiten, so geht
wohl kaum ein Jahr vorüber, in dem nicht Menschen verunglücken.
Dies bewog in der Vorzeit einen menschenfreundlichen Edelmann und
.Geistlichen, Namens Bernhard von Menthon, auf der Höhe dieses
Bergübergangs in einem engen Hochthal zwischen hohen Felsen, am
Ufer eines kleinen Sees, ein Kloster anzulegen und die Mönche zu
verpflichten, die Reisenden aufzunehmen und zu bedienen, ja sogar aus-
zugehen, um die Verirrten oder Verunglückten aufzusuchen und leben-
dig oder todt in das Kloster zu bringen. Für einen Vorsteher (Prior)
und für zwölf bis fünfzehn Mönche ist dieses Kloster eingerichtet, und
so lange es steht, hat es nicht an Männern gefehlt, die ihr Leben
diesem beschwerlichen Dienst aufzuopfern bereit waren. Man denke,
was für ein Leben sie dabei wohl führen müssen. Einen großen Theil
ihrer Lebenszeit bringen sie auf dem hohen Berge zu, wo sie keine
Pflanze, kein Kraut, sondern nur Himmel und Schnee um und neben
sich sehen. Uns dünkt ein Winter von acht Wochen lang, und diese
Menschen leben in einem beinahe ewigen Winter, wo sie keine Sonne
182
erwärmt, kein Frühling, kein Sommer erfreut, denn ihre Wohnung, 7%
tausend Fuß über dem Meere gelegen, ist die höchste Wohnung in Europa,
die das ganze Jahr über bewohnt wird. Alles, was sie brauchen, müssen
sie sich weither und mühsam Verschaffen. Oft gehen sie mit großen
Stöcken aus und suchen die Verirrten und Verunglückten mit großer
Sorgfalt auf. Sie halten große Hunde, die dazu abgerichtet sind,
die Verunglückten im Schnee aufzusuchen und ihren Führern anzu-
zeigen. Diese gehen entweder allein aus oder werden von den Mön-
chen mitgenommen. Sobald der Hund einen Verunglückten ausge-
wittert hat, kehrt er in pfeilschnellem Laufe zu seinem Herrn zurück
und gibt durch Bellen, Wedeln und unruhige Sprünge seine gemachte
Entdeckung kund. Dann wendet er um, immer zurücksehend, ob man
ihm auch nachfolge, und führt seinen Herrn nach der Stelle hin, wo
der Verunglückte liegt. Oft hängt man diesen Hunden ein Fläschchen
mit einem stärkenden Getränke und ein Körbchen mit Brod um den
Hals, um es einem Ermüdeten zur Erquickung darzubieten. Den
Verunglückten, welche die Mönche finden, wird alle mögliche Hülfe
geleistet; sind sie aber nicht mehr ins Leben zurückzubringen, so wer-
den ihre Leichname bei dem Kloster in einer eigens dazu bestimmten
Kapelle aufgestellt. In dieser dünnen kalten Luft verwesen die Leich-
name nicht, sondern trocknen aus und bleiben oft nach Jahren noch
kennbar. Die Anzahl derer, welche die Menschenliebe der Mönche
aufgefunden hat, ist bereits groß. #
89. Die Gebirge Deutschlands.
Deutschlands Boden ist weit mannigfaltiger, als der der meisten andern europäi-
schen Länder. Während an seiner nördlichen Küste eine ungeheure Ebene herzieht,
die so niedrig liegt, daß sie zum Theil durch Dämme gegen die Fluthen des Meeres
geschützt werden muß, erheben sich an seinem südlichen Rande die himmelhohen
Alpen, deren höhere Spitzen mit ewigem Schnee und Eise bedeckt sind. Und zwi-
schen diesen höchsten und tiefsten Grenzen liegen die Hochebenen, die Gebirge und
das Hügelland von Mittel- und Süddeutschland. Da streichen Bergketten von Süden
nach Norden an den Ufern des Rheines hin und von Osten nach Westen, um das
Maingebiet von dem der Weser und der Elbe zu scheiden, oder um zwischen Elbe,
Oder und Donau Grenzen zu ziehen. Ganz Süddeutschland, das Land am Fuße
der Alpen, das Land, wo so viele Flüsie ihren Ursprung nehmen, liegt hoch über
dem Meere. Wie sollte sonst das Wasser Fall nach der Nordsee oder dem schwarzen
Meere haben? Die Stadt München liegt in einer Ebene; könnte man sie aber un-
mittelbar vom Meere ans sehen, so würde sie — 1600 Fuß über dem Meere ge-
legen — als eine der Bergstädle Deutschlands erscheinen. Durch die große Eet-
183
fernilng von der Nordsee vertheilt sich die Senkung auf wohl hundert Meilen, und
man wird die hohe Lage der Stadt nur an der rauheren Luft, welche dort herrscht,
gewahr.
Außer den Alpen, welche besonders beschrieben zu werden verdienen, gehört zu
den interessantesten Gebirgen Deutschlands der Schwarzwald in der Ecke, welche
der aus der Schweiz kommende Rhein macht. Von seinem höchsten Punkte, dem
Feldberg aus zieht er längs des Rheinthals nordwärts durch Baden. Auf der Ost-
abdachung des Schwarzwalds entspringt die Donau. Eben dort schließt sich die nach
Nordost gerichtete schwäbische Alb au den Schwarzwald an. Den Namen hat der
Schwarzwald von seinen düsteren Wäldern, welche immer noch die ebneren Gegenden
und selbst Holland mit Holz versorgen, welches in großen Flößen den Rhein hinab-
gesendet wird. Doch nur die hohen Gipfel, Flächen und Thalabhänge sind stark
bewaldet, in den Thalern an den Bächen nach dem Bodensee und Rhein hin ist es
fruchtbar und schön, und es fehlt nicht an zartem Obst und selbst nicht an gutem Wein.
Weiter oben aber müssen sich die Leute durch allerlei Knnstarbeiten ihr Brod erwer-
ben. Da verfertigen sie die bekannten hölzernen Uhren und schnitzen Thierbilder
aus Holz, flechten Strohhüte oder arbeiten in den zahlreichen Glashütten. Da sie
sparsame Leute sind, so sind sie in ihrer Armut doch nicht arm, bleiben bet ihrer
Landestracht und Sitte, und zeigen, wie die Schwaben überhaupt, große Vorliebe
für ihre Heimat. Aehnlich'dem Schwarzwalde ist der Odenwald, welcher jenen
jenseits des unteren Neckars gewissermaßen fortsetzt und in Nordost bis an den Main
reicht. Seine Berge erreichen jedoch die Höhe des Schwarzwaldcs nicht, werden
deßhalb auch weit früher vom Schnee befreit und lassen allenthalben den Ackerbau
zu. Auch herrscht in dem Odenwald das freundlichere Laubholz vor. Besonders
schön sind die dortigen Buchenwälder. Nach dem Thale oder der Ebene des Rheins
zu ist der Odenwald noch schärfer abgeschnitten als der Schwarzwald. Es ist als
wäre eine Reihe Bergkegel nach der Schnur dahin gesetzt. Die darunter laufende
Landstraße heißt die Bergstraße, und nach dieser die ganze Gegend. Früher nemlich
lief die Straße nicht, wie jetzt, in der Ebene, am Fuß der Berge, sondern über den
Fuß der Berge weg. Dort zwischen Darmstadt und Heidelberg ist eine herrliche
Natur: von den Bergen die weitesten, vortrefflichsten Aussichten, an den Abhängen
> Wein, Mandeln, Kastanien und Pfirsiche; die Ebene mit Dörfern besäet, der Rhein
gleicht einem silbernen Streifen, mit den Thürmen ehrwürdiger Städte besetzt. Jen-
seits erblickt man in blauer Ferne den Donnersberg, welcher im Norden der
französischen Vogesen und in Südost des zu Preußen gehörigen Hunsrücks liegt.
Nun folgt das Mainthal, welches man als die Scheide zwischen Nord- und
Süddeutschland ansehen kann. In der Ecke zwischen diesem und dem unteren Nhein-
thale, dem Hunsrück gegenüber, liegt der Taunus, ein Gebirge, welches wegen sei-
ner Naturschönheiten ebenso berühmt ist, als wegen seiner zahlreichen Mineralquel-
len, und welches sich über das Herzogthum Nassau verbreitet und im Norden sich
au den Westerwald anschließt. So herrlich der Taunus mit seinen südlichen
Spitzen gegen Frankfurt und Mainz hinausragt, so reich das Rheingau unter seinem
Schutze von Reben grünt, so ist doch das Innere des Taunus oft unfruchtbar; denn
der Schiefer, woraus der Boden großentheils besteht, ist günstiger für den Wein-
stock als für den Weizen. Weit rauher und wilder ist jedoch der im Norden der
Lahn gelegene Westerwald, welcher zugleich mit den vielgliedrizeu und öden Gebir-
gen Westphalens zusammenhängt. Doch liegt auch von diesen eine schöne Gruppe von
184
Bergen gegen den Rhein hin, das Siebengebirge,. gegenüber von Bonn. Dies
ist die letzte bedeutende Berggruppe auf der rechten Nheinseite. Von da aus werden
die Berge immer mehr zu Hügeln und endlich verflacht fich Alles bis nach Holland.
Folgt man nun im Osten dem Laufe der Elbe, so hat man zuerst die Böhmen
einschließenden Gebirge. Das höchste, von dem die Elbe selber kommt, ist das
Riesengebirge. Außer den Alpen steigen hier die höchsten Gipfel Deutschlands
empor; doch bleibt selbst auf der Riesenkoppe der Schnee noch nicht Jahr aus
Jahr ein liegen. Man kann sie ohne Gefahr besteigen und in der oben erbauten
Kapelle Unterkunft finden. Es läßt sich denken, welch ungeheure Aussicht man von
da haben muß, da man über alle übrigen Kuppen hinweg zugleich nach Böhmen und
nach Schlesien hineinsieht. Indessen ist es mehr schauerlich als freundlich; denn
große Flüsse und Städte fehlen in der Nachbarschaft, und in den Thälern sieht
Alles nur klein aus. Auch sind die Berggipfel, auf welche der Blick fällt, großen-
thcils kahl oder mit niedrigem Gehölz bewachsen.
Auf dem linken Elbufer, doch in ziemlicher Entfernung, zieht der Böhmer
Wald und das Fichtelgebirge, durch welchen Böhmen von Bayern getrennt
wird. Es sind mit Wald bewachsene Gebirge, welche an Naturschönheiten nicht be-
sonders reich sind. Wohl aber benützt man ihr Holz zur Glasfabrikatiou, und das
böhmische Glas ist in ganz Europa berühmt. Von dem Fichtelgebirge ist noch merk-
würdig , daß es nach drei Stromgebieten und nach vier Himmelsgegenden nicht un-
beträchtliche Flüsse aussendet, nemlich die Naab zur Donau, die Eger und Saale
zur Elbe, den Main aber zum Rhein.
Im Norden wird Böhmen durch das Erzgebirge verschlossen. Nur die
Elbe hat sich ein enges Thal gebrochen, und wenige fahrbare Straßen führen ans
Böhmen in das Sachsenland. Das Erzgebirge verkündigt durch seinen Namen schon,
was für Produkte sich darin finden. Statt der Aussichten und fruchtbaren Thäler
find es hier die Erzgruben, welche am meisten interessiren. Schon seit alten Zeiten
wird hier von den Bergknappen Silber und vieles andere Metall zu Tage gefördert,
während die fleißigen Frauen und Mädchen Spitzen klöppeln. Bei all' diesem
Reichthum im Innern der Erde ist indessen das Volk arm, und ließen sie sich nicht
mit Wenigem genügen, so könnten so viele Menschen auf dem unfruchtbaren Boden
gar nicht leben. Das Innere von Deutschland zwischen Elbe, Rhein und'Main ist
von verschiedenen Gebirgen durchzogen, welche an Höhe und Ausdehnung den bisher
genannten meistens nachstehen, allein desto mehr zur Mannigfaltigkeit des Landes bei-
tragen.
Da ist der Thüringer Wald, von welchem der Hauptarm der Weser, die
Werra, ihren Ursprung nimmt, und welcher zugleich Gewässer in den Main und in
die Eibe sendet. Zwar gibt ihm das Nadelholz, womit er größtentheils bedeckt ist,
ein etwas düsteres Ansehen, und Silbererze werden nicht aus seinem Schooße ge-
graben; doch fehlt es nicht an schonen, weiten Aussichten in gesegnete Fluren und
an freundlichen Thälern, und gewcrbsame Städte liegen rings umher. In manchen
Orten schmiedet man vortreffliche Eisen- und Stahlwaaren, und in den entlegensten
Dörfern verstehen die Leute, fich durch Verfertigung von allerlei Holzwaaren und
Kinderspielsachen ihren Unterhalt zu erwerben. Da werden Schachteln zusammen-
gebogen, Schiefertafeln eingefaßt, Kienruß in Fäßchen gepackt, Puppcngestelle, höl-
zerne Flinten und Säbel geschnitzt und was des Tandes noch mehr ist, der gewöhn-
lich von Nürnberg aus versandt wird und darum Nürnberger Waare heißt. Auch
185
I
Singvögel fangen die armen Bergbewohner ein, stecken sie in selbst verfertigte Käfiche,
lehren sie Liedchen pfeifen und tragen dieselben dann zum Verkaufe herum. Weiter
hinab am Main folgt die Rhön, der Vogelsberg, der Spessart, holzreiche
Gebirge, worin man vorzüglich Viehzucht treibt. Sie trennen das fruchtbare Franken,
welches den Main umgibt, von dem alten Hessen, das um die Fulda und Lahn her
lag, während jetzt auch Gegenden am Rhein und Main dazu gekommen sind.
Weiter nördlich zwischen Rhein und Weser liegen weit ausgedehnte, aber nicht
hohe Gebirge, die man unter dem Namen der westphälisck -i zusammenfassen
kann, und deren nördlichster Ausläufer als Teutoburger Wat' eine geschichtliche
Berühmtheit erlangt hat. Denn dort fiel die große Schlacht vor, riin'iit der deutsche
Feldherr Hermann die eingedrungenen Römer besiegte und dadurch fein Vaterland auf
immer von ihrer Herrschaft befreite. Weit wichtiger ist das nördlichste Gebirge zwischen
der Weser und Elbe, der Harz. Man erwartet in dieser Lage, wo Deutschland sich
schon zum Meere hinsenkt und allenthalben die Ebenen beginnen, kein so hohes Gebirge
mehr, dessen höchster Punkt, der Brocken, sich nur 1000 Fuß weniger über das Meer er-
hebt, als der höchste Punkt des Schwarzwalds, weil aber die Umgebung niedriger ist, weit
ansehnlicher emporsteigt. Dort hat man natürlich eine ungeheure Aussicht über Ge-
birg und Ebene und bis zur Elbe hin. Auch fehlt es nicht an guten Einrichtungen
für die Reisenden, denn es ist ein Wirthshaus auf dem Gipfel, das sogenannte
Brockenhaus. Der Berg heißt auch der Blocksberg. Außer diesem hohen Berg hat
der Harz noch weitere Merkwürdigkeiten, ungeheuer tiefe Schluchten, unterirdische
Höhlen und sehr ergiebige Bergwerke. Nächst dem Erzgebirg liefert der Harz unter
allen -deutschen Gebirgen die meisten Metalle, namentlich viel Silber, und manches
Geldstück, welches durch unsere Hände geht, stammt ursprünglich vom Harze ober
vom Erzgebirge ab. Auch sieht man bisweilen Harzer Bergleute mit Modellen von
Bergwerken und allerlei Mineralien herumziehen.
90. Pie deutschen Flusse.
, Es ist ein Glück für ein Land, wenn es von vielen kleinen und großen Ge-
wässern durchflossen ist. Sie tragen nicht bloß zur Schönheit der Landschaften bei,
sondern vermehren auch die Fruchtbarkeit. Denn in den Flußthälern sehen wir
immer das größte Gedeihen. Allein noch mehr Werth haben die schiffbaren Flüsse
für den Verkehr. Man denkt vielleicht, die Flüsse hinderten die Menschen am Zu-
sammenkommen. Das ist aber nur an einzelnen Tagen bei Ueberschwemmung oder
Eisgang der Fall, sonst gelangt man von einem zum andern Ufer nicht bloß auf
steinernen und hölzernen Brücken, sondern auch auf Schiffbrücken, fliegenden Brücken
und Kähnen. Selbst jetzt, wo alle deutschen Länder von vielen und schönen Kunst-
straßen durchzogen find, ist die Fracht auf dem Wasser bei weitem wohlfeiler, als
die auf dem Lande. Ein großes Flußschiff kann ohne Schwierigkeil mit 3000 Ceut-
nern beladen werden, und dazu bedarf es stromabwärts nur der Arbeit weniger
Schiffsleute, stromaufwärts der Kraft einiger Pferde, während zu Lende wenigstens
fünfzig Lastwägen und zwei hundert Pferde erforderlich wären. Da^u kommt die
Schnelligkeit und Annehmlichkeit der Dampfschifffahrt, welche man vor dreißig Jahren
noch nicht kannte, die mau aber jetzt selbst der Fahrt ans Eisenbahnen vorzuziehen
pflegt.
::;'Z
186
Es ist also ein wahrer Segen Gottes, daß das deutsche Land von so vielen
schiffbaren Flüssen durchschnitten und mit dem Meer in Verbindung gebracht ist.
Zwar find sie nicht alle von solcher Größe, um mit großen Schiffen darauf zu
fahren, auch sind einige so reißend, daß die Fahrt zu Berge beschwerlich und lang-
sam geht, noch andere machen so große Krümmungen, daß die gleisenden den Weg
lieber zu Land wählen, gleichwohl bleiben noch gar viel nützliche Wasserbahnen
übrig.
Die meisten großen Flüsse unseres Vaterlands laufen von Süden nach Norden
und ergießen sich, nachdem sie quer durch die Ebenen von Norddeutschland geströmt
sind, in die Nord- oder Ostsee. So der Rhein, die Weser, die Elbe, die Oder und
die Weichsel. Ganz anders verhält es sich mit der Donau, dem größten aller deut-
schen Flüsse. Diese entspringt auf dem Schwarzwald und richtet ihren Lauf östlich
durch die schwäbische und bayrische Hochebene, dann durch Oesterreich und Ungarn
in die Türkei bis zum schwarzen Meer. Da in dieser Richtung Europa viel aus-
gedehnter ist, als in der andern von Süden nach Norden, so ist auch der Lauf der
Donau viel länger, ja zwei- bis dreimal so lang, als der der übrigen deutschen
Flüsse. Auf einem so langen Lauf wird natürlich auch ihre Wassermasse durch Zu-
flüsse von beiden Seiten sehr verstärkt, so daß sie schon in Ungarn eine Breite von
einer Viertelstunde und eine beträchtliche Tiefe erreicht. Allein die Schifffahrt auf
derselben ist dennoch nicht so lebhaft, als z. B. auf dem Rhein, theils weil der untere
Theil ihres Laufs in der dem Handel unfreundlichen Türkei liegt, theils weil sie
eine reißende Strömung und manche gefährliche Stellen hat. Doch ist in der letzten
Zeit durch künstliche Sprengung der Felsen daran Vieles gebessert worden, und da
der jetzt vollendete Ludwigskanal quer durch Bayern die Donan mit dem Main und
dadurch mit dem Rhein verbindet, wird dieser Weg bereits benützt, um aus der
Nordsee in das schwarze Meer Waaren zu verschiffen.
Der Rhein wird fast allgemein als Deutschlands schönster Fluß angesehen,
nicht sowohl wegen seines klaren grünlichen Wassers, als wegen der Fruchtbarkeit,
Schönheit und Mannigfaltigkeit seiner Ufer und der Vortrefflichkeit seines Weins.
Er kommt aus der Schweiz, wo er sich in der Nähe des Sauet Gotthard aus
einer Anzahl starker Bäche sammelt, welche sämtlich den Namen Rhein führen.
Darauf krümmt er sich um die östliche und nördliche Schweiz herum r>nd verstärkt
sich durch die schweizerischen Gewässer, von welchen die Aar ihm an Größe gleich
kommt. Hier an der deutschen Grenze durchfließt er den Bodensee, einen See von
der Größe eines kleinen Läudchens, und bildet dann einen gewaltigen sechzig bis
siebzig Fuß hohen Wasserfall bei Schaffhausen. Bei Basel wendet er sich auf ein-
mal nordwärts und tritt hier in eine Ebene ein, die im Osten vom Schwarzwald
und Odenwald, im Westen von den zu Frankreich gehörigen Vogesen und dem Berg-
land um den Donnersberg eingeschlossen wird. Da wird also der Rhein auf kurze
Zeit auch ein französischer Fluß; doch wohnen nicht eigentliche Franzosen, sondern
Deutsche in dem Elsaß und in der Stadt Straßburg, welche der französische König
Ludwig XIV. von Deutschland eroberte und 1648 und 1681 mit Frankreich ver-
einigte. Zwischen dem Schwarzwald und Odenwald kommt der schiffbare Neckar
ans Schwaben daher, und vereinigt sich bei Mannheim mit dem schon sehr breiten und
tiefen Rhein. Noch größer ist der Zufluß, welchen der Main dem Rhein bei Mainz
zuführt. Dieser kommt ganz gegen die Art der übrigen deutschen Flüsse von Osten
her, schlängelt sich durch das Frankenland, an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg
187
her und wird bei Frankfurt so 'kett, als der Rhein unter der Brücke zu Basel ist;
dann vereinigt er sein gelbliches Wasser mit dem grünlichen des Rheins. Gleich
unter dieser Stelle, unter der Mainzer Schiffbrücke, wird der letztere Strom 1800
Fuß breit, so daß man eine halbe Viertelstunde braucht, um über die Brücke zu
gehen. Bei Bingen dagegen, wo ihm links die Nahe zufließt, wird er schmäler, denn
er muß sich zwischen gewaltigen Bergen hindurchdrängen, wodurch zwar einige stru-
delnde Stellen in seinem Bett hervorgebracht werden, welche aber die Schifffahrt
seit der Sprengung der Felsen nicht mehr hemmen. Vielmehr nehmen sich die steilen,
unten mit Reben, eben mit Wald bewachsenen Ufer, woran zahlreiche freundliche
Oerter und alte Burgen liegen, desto schöner aus. Da kommt bei Coblenz die
schiffbare Mosel, welche sich aus Frankreich durch ein enges, krummes, aber wein-
reiches Thal windet. Sie ist der letzte recht schiffbare Zufluß des Rheins; denn die
fast gegenüber einmündende Lahn, die weiter unten mündenden Ruhr und Lippe kön-
nen keine großen Schiffe tragen. Schon oberhalb Köln, vom Siebengebirg an, wer-
den die Ufer des Rheins ganz flach, und hören ans, schön zu sein; dies ist noch
mehr der Fall, wenn er weiter unten in das holländische Gebiet eintritt und sich
dort in so viele Arme theilt, daß man kaum ihre Namen behält und daß derjenige,
welchem der Name Rhein bleibt, sich früher im Sand verlor, jetzt durch einen Kanal
in das Meer geleitet wird. Freilich geht die Wasscrmasse darum nicht verloren, der
größte Arm vereinigt sich vielmehr mit einem ans Frankreich und Belgien kommenden
ansehnlichen Fluffe, der Maas, worauf sie an Rotterdam vorbei ihr Wasser zusam-
men in die Nordsee ergießen.
Kleiner und von kürzerem Lauf ist die Weser, dafür aber auch nach Ursprung
und Mündung ein deutscher Fluß, in dessen Nähe auch einst die Römer von den
Deutschen geschlagen wurden. Die Weser erhält ihren Namen erst von der Ver-
einigung der beiden bereits schiffbaren Flüsse Fulda und Werra an, wovon die erstere
auf der Rhön, die andere an dem Thüringer Wald entspringt. Sie bringen die
Gewässer des Hesseulandes und Thüringens zusammen, und der durch ihre Vereini-
gung bei Münden entstandene Strom drängt sich zwar anfangs noch durch Gebirge,
besonders durch die sogenannte westphälische Pforte, fließt aber dann in ebenem Land
an der Stadt Bremen vorbei in die Nordsee. Nur ein bedeutender Nebenfluß ver-
stärkt die Weser, die langsam fließende Aller mit den braunschweigischen und han-
növerscheu Gewässern. An ihrer Mündung, wo die Weser das Oldenbnrgische von
dem Hannöverschen trennt, erweitert sie sich durch die eindringend.e See zu einer
Art Meerbusen.
Dieser Mündung nähert sich auch der vierte deutsche Strom, die Elbe, bis auf
wenige Meilen, obgleich die Quelle derselben von den Weserquelleu sehr entfernt
liegt. Denn die Elbe entspringt in Böhmen ans den Hochebenen des Riesengebirgs.
Nachdem sie sich nun mit den sämtlichen Gewässern des gleich einem Kessel nach
der Mitte zu vertieften Königreichs Böhmen verstärkt hat,. bricht sie durch das Erz-
gebirg in einer engen Schlucht hindurch, doch ohne einen Wassersall zu bilden, und
erreicht das Königreich Sachsen. Hier wird sie zu einem breiten ansehnlichen Strom,
und in der Hauptstadt Sachsens, Dresden, geht eine berühmte steinerne Brücke dar-
über. Zwischen hier und Magdeburg erhält sie mehrere ansehnliche Nebenflüsse, be-
sonders die vom Fichtelgebirg kommende Saale. Der Harz ist zu nahe, um bedeu-
tende Gewässer in die Elbe zu senden. dagegen kommt aus dem ebenen Land zur
Rechten die schiffbare Havel, welche vermittelst einiger Kanäle auch die Schifffahrt
188
aus der Elbe in die Oder möglich macht. Weiter unten erweitert sich die Elbe
immer mehr, so daß sie bei Hamburg fast eine Stunde und an der Mündung bei
Nizebüttel zwei Meilen breit wird. Freilich trägt dazu das Meerwaffer viel bei,
denn die Fluth dringt mehrere Meilen in dem breiten Strom herauf und macht
dadurch Hamburg zu einem Hasen für Seeschiffe. Die fruchtbaren User der Nieder-
elbe gehören links zum Königrerch Hannover, rechts liegt Mecklenburg und Holstein.
Auch die Oder hat ihre Quellen in Oesterreich, doch nicht weit von der preußi-
schen Grenze, wo sie auch erst bedeutend wird. Die Provinz Schlesien ist fast nur
als das große Thal der Oder anzusehen; ihre vielen kleinen Flüßchen machen den
Hauptstrvm wasserreich, so daß derselbe in den niedrigeren Gegenden häufig Ueber-
schwemmungen anrichtet, vor denen man sich durch hohe Dämme zu schützen sucht.
Nur ein schiffbarer Fluß, die Warthe, verstärkt die Oder. Durch diese Warthe ge-
langt man zu einem in die Weichsel führenden Kanal. Da nun auch auf der linken
Seite eine Verbindung mit der Elbe besteht, so würde die Schifffahrt von Westen
nach Osten im Königreich Preußen sehr vollkommen sein, wenn diese Kanäle größere
Schiffe tragen könnten. Die Oder geht bei Stettin, der Hauptstadt Pommerns,
durch mehrere Arme in einen größeren See, das Haff, und von diesem in drei Ar-
men zur Ostsee. Die größte Stadt an der Oder ist die Hauptstadt von Schlesien,
Breslau; erste Handelsstadt aber ist Stettin.
Die Weichsel ist kein eigentlich deutscher Strom mehr, au der größten Länge
ihrer User wird polnisch gesprochen. Weil aber gegen ihren Ausfluß hin deutsch-
redende Städte liegen, z. B. das handeltreibende Danzig, und weil einst deutsche
Ritter die Gegend umher für Deutschland gewannen, so rechnet man die Weichsel
immer noch gern zu den Flüssen unseres Vaterlandes. Ihre Quelle liegt auf den
Karpathen, da wo man aus Mähren nach Ungarn geht, und nachdem sie in einem
großen Bogen Polen durchflossen und die dortigen Gewässer sich zugeeignet, auch
die Hauptstadt Polens, Warschau, in zwei Theile geschieden hat, fließt sie endlich
nach Preußen und in mehrere Arme getheilt in die Ostsee, einige dieser Arme vor-
her in einen mit der Ostsee zusammenhängenden See, das frische Haff. Obgleich
das von der Weichsel durchflossene Land fast durchaus eben ist, so hat sie doch u eit
raschen Lauf und richtet sehr oft durch Neberschwemmungen Verheeri.lng an Da
sieht der Landmann die Früchte seines Fleißes vor seinen Augen zu Grunde gehen
und erleidet im Winter Hnngersuoth. Schon deßhalb ist das Weichselland mit cm
Rheinland nicht zu vergleichen, aber es fehlt auch die Schönheit der Ufer, welche
jährlich so viele Fremde an den Rhein lockt.
91. Susann« Neisacher.
„Ich verlasse mich nicht auf meinen »Bogen, und mein Schwert
kann mir nicht Helsen, sondern du hilfst uns" rc., spricht einer im
vier und vierzigsten Psalm. „Ich verlasse mich nicht aus meine Arme,
und mein Ruder kann mir nicht helfen, aber du hilfest uns", —so
ungefähr klangs in dem Herzen einer jungen Heldin, deren bewun-
dernswerthe That ich euch erzähle.
189
Es war am 15. September des Jahrs 1831 ..als zwei Männer
von Sasbach bei Breisach in Baden des Abends in einem kleinen,
mit Holz beladenen Schifflein über den Rhein zurückfuhren. Das
Waffer war stürmisch, und der Wasserftand ungewöhnlich hoch. Da
schlug Plötzlich — mitten auf dem Strom — eine mächtige Welle über
das Schifflein, warf es um, und die beiden Männer fielen in den
Rhein. Doch waren fie so glücklich, wieder aufzutauchen und das
umgekehrte Fahrzeug so zu erfassen, daß sie sich daran festhalten konnten.
Unfern davon, rheinabwärts, am Fuße des in Trümmern liegen-
den Schlosses Limburg, wo die Rheiuüberfahrt sich befindet, hütete
Susanna Reisacher die Ziegen des Fahrwirths, ein zwölfjähriges
Mägdlein, die Tochter rechtschaffener, aber armer Leute, ein fleißi-
ges und sittsames Schulkind aus der nemlichen Gemeinde. Sie hörte
das Angstgeschrei der Unglücklichen, welche von den Wogen des ge-
waltigen Stromes mitten auf dem Thalweg desselben Herumgetrieben
wurden; sie rief um Hülfe, aber ihre Stimme verhallte; es war sonst
Niemand in derselben Gegend, als die Ehefrau des Fahrwirths
Magdalena Schneider. Das Herz des Mägdleins brannte; eiligst
holte sie zwei Ruder, gibt eines der Wirthin und fordert sie auf,
mit ihr auf dem Fahrtschiffe den in Todesnoth schwebenden Männern
zu Hülfe zu kommen. Die Wirthin zagt: sie seien beide des Fah-
rens unkundig, sie seien bei dem hohen stürmischen Rhein verloren. ^
— Susanna springt dem Fahrtschm zu, macht die Ketten los,» und
will das gefahrvolle Werk allein beruften. Aber wie sind die Arme
des Kindes so schwach! Es vermag nicht einmal, das Schiff vom
Ufer abzustoßen. Inständig bittet es die Wirthin darum. Diese
wendet Alles an, das kühne Mägdlein zurückzuhalten; aber verge-
bens. Da gibt die Wirthin dem Schiff einen Stoß, befiehlt das
Kind dem Schutze Gottes und eilt dem Dorfe zu, um Hülfe nach-
zusenden.
Schon waren dke beiden Männer, Georg und Martin Bitsch,
jener verheiratet, diejer ledig, an der Rheinfahrt vorbeigetrieben,
als das tapfere Kind, sich selbst vergessend, das Herz auf die Elenden
und den Herrn gerichtet, durch die surchrbare Strömung des Thal-
wegs bis mitten auf den Rhein sich Bahn machte W> mit Aufbie-
tung aller Kräfte das Ziel zu erreichen strebte. Bon einem Strahl
der Hoffnung durchdrungen, sahen die Verunglückten das Schiff mit
der kleinen Susanna nachkommen, und sie ermuthigten sich durch
gegenseitiges Zurufen.
190
Aber der entgegengesetzte Wind ist so heftig, des Mägdleins
kämpfende Arme werden so matt, das rettende Schiff will nicht nahe
kommen! Es wurde von dem Sturm und den aufsteigenden Wellen
umhergeworfen, und seine Führerin war selbst in der augenscheinlich-
sten Lebensgefahr. Das erkannte Martin Bitsch und wußte, daß
mit des Mägdleins Untergang auch jede Hoffnung zu seiner und sei-
nes Unglücksgenossen Rettung verschwinden müßte. Da glaubte er
das einzige Rettungsmittel für alle drei noch darin zu finden, wenn
er das Schiff durch Schwimmen erreichen nnd die Führung desselben
übernehmen könnte. Zwar war er nicht geübt im Schwimmen, doch
auch nicht gänzlich unerfahren darin, und so ruft er dem Mägdlein,
es solle jetzt tapfer zufahren, er komme ihm entgegen, — und wirft
sich in die Fluth. Mit frischem Muth und erneuter Anstrengung
treibt das edle Kind dem Schwimmenden zu. Sie erreichen einan-
der, Martin schwingt sich in das Schiff, und ruft der freudigen Su-
sann« zu: „Jetzt wollen wir auch den andern holen." Mit kräftigem
Arm steuert er dem Gefährten nach, der indessen schon mehrere hun-
dert Schritt von ihnen hinabgerissen war. Eben meinte derselbe, daß
seine Hände erstarren würden, daß er das umklammerte Holz fahren
lassen und in die dunkle Tiefe finken müßte, — da kamen die Ret-
rer mit hellem Ruderschlag und nahmen ihn auf. Dem himmlischen
Helfer dankend und voll frohen Muthes steuerten die Geborgenen
den Strom hinaus der Rheinfahrt zu, wo sie glücklich und wohlbe-
halten anlangten.
Die junge Heldin ward von dem Bezirksamt über den Vorfall
vernommen und unter Anderem gefragt: wie sie denn dazu gekommen
sei, sich auf das Schiff ganz allein und zwar noch bei einem so ho-
hen Wasserstand und bei stürmischem Niederwinde in den vollen Rhein
zu wagen? Sie antwortete: „Die Leute in der großen Noth haben
mich gedauert, und da ich ihr Jammergeschrei hörte, kam mir auf ein-
mal der Gedanke, daß ich sie auf dem Fahrtschiff retten könne. Ich habe
die Gefahr nicht so überlegt und gedacht, unser lieber Herrgott werde
mir zur Vollbringung meines Vorhabens auch seinen Beistand verleihen!"
Der Großherzog von Baden hat der Susanna Reifiacher, in An-
erkennung ihrer preiswürdigen That, die große goldene Verdienstme-
daille verliehen und zugleich befohlen, ihr eine Belohnung von 200 si.
anzuweisen, diese Summe bis zur Volljährigkeit oder Verheiratung
derselben als Kapital anzulegen und jährlich die hieraus verfallenden
Zinse zu ihrem Besten verwenden zu lassen. Wir hoffen aber auch.
191
daß diese Begebenheit ihr noch einen reicheren Gewinn an einem an-
dern und höhern Golde werde gebracht haben, — an dem Golde des
Glaubens in der Zuversicht auf den, von welchem geschrieben steht,
daß unter dem Schatten seiner Flügel die Menschen trauen können.
92. Claudius an Andres.
Besinnst du dich noch unserer ersten Schifffahrt, als wir den neuen Kahn
probirten, und ich mitten auf dem Wasser herausfiel? Ich hatte schon Alles auf-
gegeben und dachte nur daran, wie mir der Tod schmecken, und was meine
arme Mutter sagen würde; — da sah ich deinen ausgereckten Arm herkom-
men und packte an; und ich seh ihn noch immer, Andres, wenn ich von un-
gefähr deinen Namen lese, oder oft nur auf ein grosses A stosse.
Im Grunde war deine Hülfe nur eine Scheinhülfe auf kurze Zeit, denn
was damals ohne dich das Wasser würde gethan haben, das werden nun die
andern Elemente noch thun, und du wirst mich nicht retten. Aber ich kann
doch den Arm nicht wieder vergessen , und ich glaube , dass er bei unserer
innigen Freundschaft die Hand viel mit im Spiele habe. Das ist hier einmal
mit uns nicht anders: Noth lehrt beten, und Hülfe und Errettung erfreut.
Und nun — ein Erretter aus aller Noth, von allem Übel! ein Erlöser
vom Bösen! ein Helfer, wie die Bibel den Herrn Christus darstellt, der umher^
ging und wohl that, und selbst nicht hatte, wo er sein Haupt hinlege; durch
den die Lahmen gehen, die Aussätzigen rein werden, die Tauben hören, die
Todten aufstehen, und den Armen das Evangelium gepredigt wird; dem Wind
und Meer gehorsam sind, und der die Kindlein zu sich kommen liess und sie
herzete und segnete; der bei Gott, und Gott war, und wohl hätte mögen Freude
haben, der aber der Elenden im Gefängniss gedachte und verkleidet in die
Uniform des Elendes zu ihnen kam, um sie mit seinem Blute frei zu machen;
der keine Mühe und keine Schmach achtete, und geduldig war bis zum Tod
am Kreuz, dass er sein Werk vollende; der in die Welt kam, die Welt selig
zu machen, und der darin geschlagen und gemartert ward und mit einer Dor-
nenkrone wieder hinausging!
Andres, hast du je was Aehnliches gehört und fallen dir nicht die Hände
am Leibe nieder? Es ist freilich ein Geheimniss, und wir begreifen es nicht;
aber die Sache kömmt von Gott und aus dem Himmel, denn sie trägt das
Siegel des Himmels und trieft von Barmherzigkeit Gottes.
Man könnte für den Gedanken wohl sich brandmarken und rädern lassen,
und wem es einfallen kann, zu spotten und zu lachen, der muss verrückt sein.
Wer das Herz auf der rechten Stelle hat, der liegt im Staube und jubelt und
betet an.
93. Was deutsche Fand.
,-Gott hat gemacht, daß von einem Blut aller Menschen Ge-
schlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzt,
192
zuvor versehen, wie lange und wie weit sie wohnen sollen." —
Dieser Versicherung des Apostels Paulus gemäß (Apostelgesch. 17, 26.)
dürfen wir glauben, daß die Lage und Beschaffenheit des deutschen
Landes mit der Natur und Bestimmung des deutschen Volkes in
gutem Einklang stehen, daß Land und Volk wohl zu einander paffen.
Und das wird dann auch durch genauere Beobachtung und Erfahrung,
wie durch die ganze bisherige Geschichte des deutschen Volkes, bestätigt.
Wann unsere Urväter aus dem Geburtslande der Menschheit,
Asten, ausgegangen sind unt> das ihnen zugedachte gute Land bezogen
haben, ist nicht bekannt. Die ersten bestimmten Nachrichten über
das Volk der Deutschen oder — wie sie dieselben nannten — der
Germanen, haben uns die Römer überliefert, die etwa hundert
Jahre vor Christi Geburt mit zwei Stämmen derselben, den Cimbern
und Teutonen, in mehreren großen Schlachten zusammengetroffen
sind. In jenen Zeiten, vor etwa 2000 Jahren, da sah es in Deutsch-
land noch gar anders aus als jetzig war noch keine Straße
gebaut, kein Garten, kein Weinberg angelegt, da waren noch keine
Städte, welche Tausende von kunst- und gewerbsfleißigen Menschen
vereinigten, keine Burgen, welche die Häupter der Berge krönten,
keine Kirchen, die mit ihren Thürmen, als bedeutsamen Zeigefingern,
gen Himmel wiesen. Den größten Theil des Landes bedeckte ein
großer, unübersehbarer Wald. Der römische Feldherr und Geschicht-
schreiber Cäsar, der um fünfzig Jahre vor Christi Geburt lebte und
unserem Vaterlande selbst auch vom Rhein herüber ein paar kurze
kriegerische Besuche gemacht hat, nennt jenen Wald den hercynischen,
vielleicht wie Harzgebirge aus Hardt d. h. Waldgebirge, und ver-
sichert, derselbe sei über neun Tagereisen breit und über sechzig lang
gewesen. Unser Schwarzwald, Odenwald, Spessart, Thüringer Wald,
das Riesengebirge, der Böhmerwald, der Harz und viele andere find
davon noch Ueberbleibsel. Ungeheure Eichen, Buchen und Tannen er-
huben ihre Kronen in die Lüste, und bildeten ein so dichtes Schatten-
dach, daß die matten Sonnenstrahlen nicht hindurchdrangen. Die
Wurzeln bäumten sich oft wieder vom Boden empor, daß man unten
durchgehen konnte. Große Sümpfe bedeckten die Niederungen. Der
Rhein, die Donau und alle die vielen Waldströme, damals viel größer
und reißender als jetzt, hatten von einer Bergwand zur andern freien
Lauf, nirgends eine Eindämmung oder ein auf andere Weise geregel-
tes Flußbett. — Man hatte weit zu gehen, bis man wieder einzelne,
zerstreut liegende Hütten sah; aber ganze Rudel Wild liefen umher,
193
daß einem Weidmann das Herz darob lachen mochte. Damals haus-
ten aber auch noch Bären, Wölfe, Luchse in den deutschen Wäldern,
kunstsinnige Biber bauten sich ihre Häuser an Flüsse und Bäche, und
Fischottern hielten mit. Renn- und Elenthiere durchstreiften die
Wälder, auf den Höhen wohnte der Steinbock. Das größte und ge-
fährlichste Thier war aber der Ur oder Auerochs. Der soll nicht viel
kleiner gewesen sein als ein Elephant und von unglaublicher Stärke
und Behendigkeit. Er stürzte auf Menschen und Thiere los und konnte
nicht gezähmt werden. Die ^lten Deutschen hatten das Herz auf dem
rechten Fleck; aber den Ur singen sie doch selten in freier Jagd, son-
dern meist in Gruben. Seine Hörner gehörten zu ihren kostbar-
sten Geräthen. Die Ortsnamen: Ellwangen, früher Elchenwang,
Wiesensteig, früher Wiesontessteige, Urach (Aurich), Rechberghausen,
Hirschau erinnern an den Elch d. h. Elenthier, den Wiesunt d. h.
Büffel, den Ur d. h. Auerochse, das Rech d. h. Reh und den Hirsch.
Außer obigen Thieren liefen auch ganze Heerden wilder Pferde umher,
und Schwärme wilder Bienen führten da und dort ihre sinnige Haus-
und Staatswirthschaft.
Die Luft war wegen des Waldes und der Sümpfe meist nebe-
lig und rauh; der Winter dauerte viel länger als jetzt und war
härter. In einem so feuchten Boden gediehen besonders gut die Ret-
tige, auch wilde Spargeln, Rüben u. dgl; Bohnen wurden fleißig
gebaut, auch Roggen, Haber, Gerste und Hanf. Von Obst war ein-
heimisch der wilde Apfel und die Waldkirsche. Vieh war fast der
einzige Reichthum der Deutschen; Milch, Wildpret und Fische^^re
hauptsächlichste Nahrung. Ihr Brod waren dünne Kuchen^Ä-r^m
Feuer geröstet wurden. Aus Haber kochten sie einen Brei. Butter
verstanden sie zu bereiten, Käsemachen aber lernten sie erst von den
R" wrn. Geld kannten sie nicht.
So sah es vor etwa 2000 Jahren in Deutschland aus. Und was
ist nun im Laufe der Jahrhunderte aus diesem rauhen Lande worden? —
Die weiten Fluren, die mannigfaltig von Thälern durchschnit-
ten, von den hohen, über dem mittelländischen und adriatischen Meer
emporragenden Alpen an — in unbestimmten Grenzen — sich westlich an
den Usern der Maas und der Schelde hinab, und östlich voy der
M.nch hinüber zur Oder, bis zum Ausfluß der Weichsel, zur Nord-
uud Ostsee hinbreiten, nennen wir Deutschland. *
Dieses Land in dieser Ausdehnung gehört ju den schönsten Län-
dcrn, welche die Sonne begrüßt in ihrem Lauf.
Lcscbuch.
13
-JHB
194
Unter einem gemäßigten Himmel, unbekannt mit der sengenden
Lust des Südens, wie mit der Erstarrung nördlicher Gegenden, in
größter Abwechslung und reichster Mannigfaltigkeit, köstlich für den
Anblick, erheiternd und erhebend für das Gemüth, bringt Deutsch-
land Alles hervor, was der Mensch bedarf zur Erhaltung und zur
Förderung des Geistes, ochn^rhn zu verweichlichen, zu verhärten, zu
verderben. Der Boden^lst/fahig zu jeglichem Anbau. Unter dem
ewigen Schnee der Alpen dehnen sich die herrlichsten Weiden aus,
von der Wärme doppelt belebt, die an jenem wirkungslos vorüber-
ging. An den kahlen Felswänden ziehen sich üppige Thäler hin.
Anders steht es wieder gegen Norden ans. Neben Moor und Hei^^
nur von der bleichen Binse und von der Brombeerstaude belebt^/und
menschlichem Fleiße nichts gewährend als die magere Frucht des Buch-
weizens oder des Habers, erfreuen das Auge des Menschen die kräf-
tigsten Fluren, geeignet zu den schönsten Saatfeldern und zu den
herrlichsten Erzeugnissen des Gartenbaues. Fruchtbäume prangen in
unermeßlicher Menge und in jeglicher Art, vom sauren Holzapfel bis
zum lieblichen Psirsich. Hoch auf den Bergen des Landes erheben
Buchen und Tannen und gewaltige Eichen ihr Haupt zu den Wolken
empor und blicken über Abhänge und Hügel hinweg, welche den köst-
lichen Wein erzeugen, in der Ferne und in der Nähe gesucht und ge-
wünscht, von Hohen wie von Geringen.
Kein reißendes Thier schreckt, kein giftiges Gewürme dräuet.
Aber Ueberfluß gewährt das Land an nützlichem Vieh, an kleinem
wie an großem, für des Menschen Arbeit, Zwecke^nd Genüsse. Das
Schaf trägt Wolle für das feinste Gespinst, der Stier verkündet
Kraft und Stärke in Bau und Gestalt, das Pferd^geht lustig einher
im Fuhrwerk, prächtig vor fürstlichen Wagen, und stolz als Kampf-
roß unter dem Krieger, hier ausdauernd und dort.
In ihrem Innern verbirgt die deutsche Erde große und reiche
Schätze. Aus vielen und unerschöpflichen Quellen sprudelt sie frei-
willig den Menschen^^suug zu und Gesundheit und Heiterkeit Den
fleißigen Berg-^eEh^r belohnt sie bald ufft dem edelsten Gewürz,
dem Salz, bald mit Silber und Gold, hinreichend für den Verkehr
und den Schmuck des Lebens, bald mit Eisen in Menge, dem Mann
zur Waffe und Wehr, zu Schutz und Schirm dem Volk.
Ein solches Land, mit so reichen Gaben, Eigenschaften und Kräf-
ten ausgestattet, ist vom Schöpfer unverkennbar bestimmt, ein großes
und starkes Volk zu ernähren in Einsalt der Sitten und^Tugend, und
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eine hohe Bildung des Geistes in diesem Volk durch Uebung und
Anstrengung zu erzeugen, zu erhalten, zu fördern.
Auch ist das Land nicht umsonst bestimmter Grenzen beraubt,
gegen Morgen wie gegen Abend, und selbst gegen Mitternacht. Die
Bewohner können sich gegen Neid, Uebermuth und Habsucht fremder
Völker auf nichts verlassen, als auf Gottes Schutz durch Recht und
ihren Arm. Es gibt für sie keine Sicherheit, als in ihrem festen Zu-
sammenhalten, in ihrer Einigkeit, in ihrer sittlichen Macht.
Endlich ist den Bewohnern dieses Landes durch große und schöne
Ströme das Meer geöffnet und der Zugang zu der Welt. Aber das
Meer drängt sich nicht so verführerisch an sie hinan oder zwischen sie
hinein, daß sie verlockt und dem heimatlichen Boden so leicht ent-
fremdet werden könnten; vielmehr bleibt in ihnen die Sehnsucht zu der
Welt ihrer Geburt und die Liebe zu dem Boden ihres Vaterlandes.
94. Der Hausstand ist die Grundlage des Staats.
Wo in den Häusern Gehorsam nicht gehalten wird, wird
man es nimmermehr dahinbringen, dass eine ganze Stadt, Land,
Fürstenthum oder «Königreich wohl regiert werde; denn dü, ist
deren Ursprung alle andere Regimenter und
Herrschaften haben. Wo nun die Wurzel nicht gut ist, da kann
w£dej$ Stamm noch gute Frucht folgen. Denn ein Fürstenthum
ist dj^jmaufen Flecken, Städte und Länder, ein Königreich ein
Haufen Fürstenthümer. Diese alle spinnen sich aus einzelnen
Häusern. Wo nun Vatci* und Mutter übel regieren, da kann
weder Stadt, Markt, Dorf, Land, Fürstenthum, Königreich und
Kaiserthum wohl und friedlich regiert werden. Denn aus dem
Sohn wird ein Hausvater, ein Richter, Bürgermeister, Fürst,
König, Kaiser, Prediger, Schulmeister u. s. w. Wo er nun
übel erzogen ist, werden die Unterthanen wie der Herr, das
Haupt wie die Gliedmassen. Darum hat Gott als am nöthigsten
angefangen, dass man im Hause wohl regiere. Denn wo das
Regiment im Hause wohl und rechtschaffen geht, ist den An-
dern wohl gerathen. — Darum soll ein Vater sein Kind
wie ein Richter strafen, lehren wie ein Doktor,
ihm vorpredigen wie ein Pfarrherr oder Bischof.
196
95. Vom Dienen.
Der Meister, ein Bauer im Berner Oberland, der gerne seinen Knecht Uly auf
bessere Wege geleitet hätte, sprach einst zu ihm also: Ich denke mein Lebtag daran,
wie unser Pfarrer uns das Dienen ausgelegt hat in der Unterweisung, und wie er
die Sache so deutlich gemacht hat; man hat ihm müssen glauben, und es ist Mancher
glücklich worden, der ihm geglaubt hat. Er hat gesagt: alle Menschen empfingen
von Gott zwei große Kapitale, die man zinsbar zu machen habe, nemlich Kräfte
und Zeit. Durch gute Anwendung derselben müßten wir das zeitliche und ewige
Leben gewinnen. Nun hatte Mancher Nichts, woran er seine Kräfte üben, seine Zeit
nützlich und abträglich gebrauchen könnte; er verleihe daher seine Kräfte, seine Zeit
Jemanden, der zu viel Arbeit, aber zu wenig Zeit und Kräfte habe, um einen be-
stimmten Lohn; das heiße dienen. Nun sei das eine gar unglückliche Sache, daß
die meisten Dienstboten dieses Dienen als ein Unglück betrachteten, und ihre Meister-
leute als ihre Feinde oder wenigstens als ihre Unterdrücker, daß sie cs als einen
Vortheil betrachteten, im Dienst so wenig als möglich zu machen, so viel Zeit als
möglich verklappern, verlaufen, verschlafen zu können, daß sie untreu würden; denn
sie entzögen auf diese Weise dem Meister das, was sie verliehen, verkauft hätten, die
Zeit. Wie aber jede Untreue sich selbst strafe, so führe auch diese llntreue gar
fürchterliche Folgen mit sich; denn so wie man untreu sei gegen den Meister, so sei
man auch untreu an sich. Es gebe jede Ausübung unvermerkt eine Gewohnheit,
welcher man nicht mehr los werde. Zu allen Meistern bringe so ein ungetreues
Jungfräuleiu oder Knechtlein seine böse Gewohnheit mit, und wenn es am Ende
für sich selbst sei, sich heirate, wer müsse diese Gewohnheiten, diese Trägheit,
Schläfrigkeit, Unzufriedenheit haben, als es selbst? Es müsse sie tragen und alle
ihre Folgen, Noth und Jammer bis ins Grab, durch das Grab bis vor Gottes Richter-
stuhl. Man soll doch nur sehen, wie viele tausend Menschen den Menschen zur Last seien
und Gott zum Aergerniß, und sich als widerwärtige Geschöpfe herumschleppten, den
Denkerrden als sichtbare Zeugnisse, wie die Untreue sich selbst strafe. Aber so wie
man durch sein Thun sich inwendig eine Gewohnheit bereite, so mache man sich
auswendig einen Namen. An diesem Namen, an dem Ruf der Geltung unter den
Menschen, arbeite ein Jeder von Kindsbeincn an bis zum Grab; jede kleine Aus-
übung, ja jedes einzelne Wort trage zu diesem Namen bei. Dieser Name öffnet oder
versperrt uns Herzen, macht uns werth oder unwerth, gesucht oder verstoßen. Wie
gering ein Mensch sein mag, so hat er doch einen Namen; auch ihn betrachten die
Augen seiner Mitmenschen und urtheilen, was er ihnen werth sei. So macht auch
jedes Knechtlein und jedes Jungfräulein an seinem Namen unwillkürlich, und nach
diesem Namen kriegen sie Lohn, dieser Name bricht ihnen Bahn oder verschließ: sie
ihnen. Da kaun eines lange reden und über frühere Meisterleute schimpfen, es macht
damit seinen Namen nicht gut; sein Thun hat ihn längst gemacht. Ein solcher
Name werde Stunden weit bekannt, man könne nicht begreifen wie. Es sei eine
wunderbare Sache um diesen Namen, und doch beachteten ihn die Menschen viel.
zu wenig, und namentlich die, welchen er das zweite Gut sei, mit dem sie, verbuu-
den mit der inwendigen Gewohnheit, ein drittes, ein gutes Auskommen in der Welt,
Vermögen, ein viertes» den Himmel und seine Schätze, erwerben wollten. Er frage
nun, wie ein elender Tropf einer sei, wenn er schlechte Gewohnheit habe, einen
197
schlechten Namen, und um Himmel und Erde komme! Daher soll, sagte der Meister,
habe der Pfarrer gejagt, Jeder, der in Dienst trete, den Dienst nicht betrachten als
eine Sklavenzeit, den Meister als den Feind, sondern als eine Lehrzeit, und den
Meister als eine Wohlthat Gottes. Denn was sollten die Armen, d. h. die, welche
nur Zeit und Kräfte, also doch eigentlich viel hätten, anfangen, wenn ihnen Nie-
mand Arbeit und Lohn gäbe? Sie sollten die Dienstzeit betrachten als eine Ge-
legenheit, sich an Arbeit und Emsigkeit zu gewöhnen und sich einen recht guten Na-
men zu machen unter den Menschen. In dem Maße, als sie dem Meister treu wä-
ren, wären sie es auch an ihnen, und wie der Meister an ihnen gewinne, gewännen
sie selbst auch. Sie sollten ja nie meinen, daß nur der Meister Nutzen zöge aus
ihrem Fleiß; sie gewännen wenigstens eben so viel dabei. Wenn sie daher
auch zu einem schlechten Meister kämen, sie sollten ja nie meinen, ihn zu strafen
durch schlechte Aufführung; sie thäten damit nur sich selbst ein Leid an und scha-
deten sich innerlich und äußerlich. Wenn nun so ein Dienstbote immer besser arbeite,
immer treuer und geschickter sek, so sei das sein Eigenthum, und das könne Niemand
von ihm nehmen, und dazu besäße er einen guten Namen, die Leute hätten ihn gerne,
vertrauten ihm viel an, und die Welt stehe ihm offen. Er möchte vornehmen, was
er wollte, so fände er gute Leute, die ihm hülfen, weil sein guter Name der beste
Bürge für ihn sei. Man solle doch nur achten, welche Dienstboten man rühme: die
treuen oder die untreuen? Solle sich achten, welche unter ihnen zu Eigenthum
und Ansehen kämen? Dann hat der Pfarrer noch ein drittes gesagt, und das
geht dich besonders an. Er hat gesagt, der Mensch wolle Freuden haben und
müffe Freuden haben, besonders in der Jugendzeit. Hasse nun ein Dienstbote seinen
Dienst und sei ihm die Arbeit zuwider, so müsse er eine besondere Freude haben,
und er fange daher an zu laufen, zu hudeln, mit schlechten Sachen sich abzugeben,
und habe daran seine Freude und sinne daran Lag und Nacht. Sei aber einem
Knecht oder einer Magd das Licht ausgegangen, daß sie Etwas werden möchten, und
der Glaube gekommen, daß sie Etwas werden könnten, so liebten sie die Arbeit,
hätten Freude daran, Etwgs zu lernen, Etwas recht zu machen; Freude, wenn ihnen
Etwas gelinge, wachse, was sie gesäet, fett werde, was sie gefüttert. Sie sagten nie:
.was frage.ich dem nach, was geht mich das an? ich habe ja so Nichts davon. Ja,
sie hätten eine eigentliche Lust daran, etwas Ungewohntes zu verrichten, etwas Schweres
zu unternehmen; dadurch wüchsen ihre Kräfte am besten; dadurch machten sie sich
den besten Namen. So haben sie auch Freude an des Meisters Sache, seinen Pfer-
den, seinen Kühen, seinem Korn, seinem Gras, als ob es ihnen gehöre. „Woran
man Freude hat, daran sinnet man auch; wo man den Schatz hat, da hat man auch
das Herz", sagte der Pfarrer. „Hat nun der Knecht seinen Dienst im Kopf, erfüllt
ihn der Trieb, jo ein vor Gott und Menschen recht treuer und tüchtiger Mensch zu
werden, so hat der Teufel wenig Macht über ihn, kann ihm nicht böse Sachen ein-
geben, wüste Sachen, an die er Tag und Nacht denkt, so daß er keinen Sinn für
seine Arbeit hat, und die ihn noch von einem Laster zum andern ziehen und inner-
lich und äußerlich verderben." Das hat der Pfarrer gesagt, sagte der Meister; es
ist mir, als ob es noch heute wäre, als er uns das sagte, und ich habe schon
hundertmal gesehen, daß er Recht hatte. Ich habe gedacht, ich wolle es dir sagen,
es paßt gerade ans dich. Und wenn du nur glauben wolltest, so könntest du einen
von. den brävsten Burschen abgeben und es einst haben wie du nur wolltest.
198
96. Die fromme Magd.
Die fromme Magd von rechtem Stand geht ihrer Frauen fein
zur Hand, hält Schüffel, Tisch und Teller weiß zu ihrem und der
j Frauen Preis.
Sie trägt und bringt nicht neue Mähr, geht still in ihrer Ar-
beit her, ist treu und eines keuschen Muths und thut den Kindern
alles Guts.
Sie ist stets munter, hurtig, frisch, vollbringet ihr Geschäfte
risch und hälts der Frauen wohl zu gut, wenn sie um Schaden re-
den thut.
Sie hat dazu fein die Geberd , hält Alles sauber an dem Herd,
verwahrt das Feuer und das Licht und schlummert in der Kirche
nicht.
97. Meister Hämmerlein.
Niemand suche, was sein eigen ist, son-
dern ein Jeglicher das, was des Andern ist.
(1 Kor. 10, 24.)
Vor dreißig und etlichen Jahren starb in einem preußischen Dorfe der Gemeinde-
schmied Jakob Horn. Im gemeinen Leben hieß er nicht anders als Meister Häm-
merlein.
„Meister Hämmerlein? Ei, warum denn Meister Hämmerlein?"
Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er ging und stand, sein Häm-
merlein und ein paar Nägel in der Tasche zu führen, und an allen Thoren, Thüren
und Zäunen zu hämmern, wo er Etwas los und ledig fand. Vielleicht auch, weil er
wegen seines Hämmerleins Dorfschmied worden war.
„Wie wäre denn das zugegangen?"
Ganz natürlich, wie ihr sogleich hören sollt. Sein Vorfahr war gestorben.
Vier wackere Bursche hatten sich um den Dienst gemeldet und dem und jenem allerlei
versprochen.
Meister Hämmerlein hatte sich nicht gemeldet und nichts versprochen; er häm-
merte bloß ein wenig an einer Gartenthür und erhielt dafür den Dienst.
„Und bloß für ein bißchen Hämmern?"
Bloß für ein bißchen Hämmern! An einer Gartenthür, rnphe am Dorfe, hing
schon wochenlang ein Brett ab. Meister Hämmerleiu kam mit seinem Felleisen des
Weges her. Flugs langte er einen Nagel und sein Hämmerlein aus der Tasche
und nagelte das Brett fest. Das sah der hinter ihm herkommende Dorfschulze. Ihm
schien es sonderbar, daß der landfremde Mensch das Brett nicht ledig sehen kvnule,
das doch selbst der Eigenthümer des Gartens wohl zwanzigmal so gesehen hatte,
ohne es fest zu machen. Er wollte ihn anreden, aber der Bursche war fort, ehe er
ihm nahe genug kam.
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Ein paar Stunden darauf kam der Schulze in die Dorfschenkt. Sogleich fiel
ihm der junge Mensch ins Gesicht. Er saß ganz allein an einem Tischchen und ver-
zehrte sein Abendbrod! Ei, willkommen! ries der Schulze, treffen wir uns hier,
guter Freund? Der junge Mensch stutzte, sah ihm scharf ins Gesicht und
wußte nicht, woher die Bekanntschaft kam. Ist er nicht der junge Wanderer, fragte
der Schulze, der diesen Abend da draußen am Wege das Brett einer Gartenthür
festgemacht hat? — „Ja, der bin ich." — Nun gut! so kommt, Nachbar Hans, sagte
der Schulze zum Gartcneigcnthümer, der zufällig auch da war, kommt und bedankt 1
euch bei dem wackern Fremdling. Er hat im Vorbeigehen eure zerbrochene Garten-
thür ausgebessert. Nachbar Haus schmunzelte, sagte seinen Dank und setzte sich neben
dem Schultheißen traulich zu dem Fremdling. Alle Gäste lauschten auf ihr Gespräch.
Es betraf das Handwerk, die Wanderungen und Kundschaften desselben, und in allen
Anwesenden erwachte der ciumüthige Wunsch, ihn zum Gemeindeschmiedzn bekommen,
weil allen der Zug von gemeinnütziger Denkart gefallen hatte.
Hämmerlein mußte bleiben, und da er schon am folgenden Morgen einen Be-
weis von seiner Geschicklichkeit in der Vieharzneikunst und im Beschlagen gab, so
war nur eine Stimme für ihn: dieser und kein anderer soll Gemeiudeschmied werden.
Man schloß den Vertrag mit ihm ab, und Meister Hämmerlein war unvermuthet
Schmiedmeister eines großen Dorfes, das er wenige Stunden zuvor auch nicht ein-
mal dem Namen nach gekannt hatte. Sage mir nun noch einer: „wer ungebeten
zur Arbeit geht, geht nngedankt davon!"
Zn seiner Besoldung gehörte unter Anderm ein Grundstück, das er alljährlich
mit Kartoffeln oder andern Früchten bestellte. Da er den Acker zum erstenmal in
Augenschein nahm, bemerkte er auf dem Fahrweg verschiedene Löcher, in welche die
Wagen bald rechts, bald links schlugen. — „Warum füllt ihr doch die Löcher nicht
mit Steinen aus?" fragte Hämmerlein die Nachbarn, welche den Acker ihm zeigten.
„Je", sagten diese, „man kaun vor andern Arbeiten nicht dazu kommen.' — Was
that aber Meister Hämmerlein? So oft er auf seinen Acker ging, las er von ferne
schon Steine zusammen und schleppte deren oft beide Arme voll bis zu den Löchern.
Die Bauern lachten, daß er, der selbst kein Gespann hielt, für Andere den Weg
besserte; aber ohne sich stören zu lassen, fuhr Meister Hämmerlein fort, jedesmal
wenigstens ein paar Steine auf dem Hin- und Herweg in die Löcher zu werfen,
und in etlichen Jahren waren sie angefüllt. „Seht ihrs", sagte er nun, „hätte Jeder
von euch, der leer die Straße fuhr, auf dem Weg die Steine zusammengelesen, ank
den Wagen geladen und in die Löcher geworfen, so wäre der Weg mit leichter Mühe
in einem Dicrteljährchen eben worden.
98. Segen und Rn fegen eines Hanfes.
Ich bin jung gewesen und bin alt worden, und ich habe mich
viel und oft umgesehen, wie es dem Frommen und dem Gottlosen
auch gehe. Ich habe die Knaben meines Dorfes mit mir aufwachsen
sehen, ich sah sie Männer werden, Kinder und Kindskinder zeugen,
^und nun habe ich von meinem Alter alle bis auf sieben zu Grabe
begleitet. Gott, du weißt meine Stunde, wenn ich meinen Brüdern
folgen soll! Meine Kräfte nehmen ab; aber mein Auge harret dein,
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o Herr! Unser Leben ist wie eine Blume des Feldes, die am Mor-
gen blühet, am Abend aber verwelket (Ps. 103, 15 — 17. 13, 6.).
O Herr, unser Herrscher! du bist gnädig den Menschen, die auf dich
trauen; darum hoffet meine Seele auf dich. Aber der Weg des
Sünders führt zum Verderben. — Kinder meines Dorfes, o ihr Lie-
ben, lasset euch lehren, wie es den Gottlosen geht, damit ihr fromm
werdet. Ich habe Kinder gesehen, die ihren Eltern trotzten und ihre
Liebe für Nichts achteten; und allen, allen ist es übel gegangen am
Ende. Ich kannte des unglücklichen Ulys Vater; ich habe mit ihm
unter einem Dache gewohnt und mit meinen Augen gesehen, wie der
gottlose Sohn den armen Vater kränkte und schimpfte; und in mei-
nem Leben werde ich es nicht vergessen, wie der alte, arme Mann
eine Stunde vor seinem Tod über ihn weinte. Ich sah den bösen
Buben bei seinem Begräbniß lachen. Kann ihn Gott leben lassen,
den Bösewicht? dachte ich. Was geschah? Er nahm ein Weib, das
viel Gut hatte, und er war jetzt im Dorf einer der Reichsten und
ging in seinem Stolz und seiner Bosheit einher, als ob Niemand im
Himmel und Niemand auf Erden über ihm wäre. Ein Jahr ging
vorüber, da sah ich den stolzen Uly bei dem Begräbniß seiner Frau
heulen und weinen. Ihr Gut mußte er ihren Verwandten bis auf
den letzten Heller zurückgeben, und er war plötzlich wieder arm wie
ein Bettler. In seiner Armut stahl er, und ihr wisset, welch ein
Ende er genommen hat. Kinder, so sah ich immer, daß das Ende
des Gottlosen Jammer und Schrecken ist! — Ich sah aber auch den
tausendfachen Segen und Frieden in den stillen Hütten der Frommen.
Es ist ihnen wohl bei dem, so sie haben. Bei Wenigem ist ihnen
wohl, und bei Vielem sind sie genügsam. Arbeit in ihren Händen
' und Ruhe in ihrem Herzen, das ist das Theil ihres Lebens. Sie
genießen froh das Ihrige und begehren nicht, was ihrem Nächsten
gehört. Der Hochmuth plagt sie nicht, und der Neid verbittert ihnen
ihr Leben nicht; daher sind sie immer frommer und zufriedener und
mehrentheils auch gesünder, denn die Gottlosen. Sie besitzen auch
des Lebens Nothwendigkeit sicherer und ruhiger, denn sie haben ihren'
Kopf und ihr Herz nicht bei Bosheiten, sondern bei ihrer Arbeit und
bei den Geliebten ihrer stillen Hütten. So ist ihnen wohl im Leben.
Gott im Himmel steht herab auf ihre Sorge und auf ihren Kummer
und hilft ihnen. — Kinder meines Dorfes und ihr Lieben! ich sah
viel fromme Arme auf ihrem Todbette, und ich habe nicht gefunden,
daß einer, ein einziger von allen in dieser Stunde sich über seine
201
Armut und über die Noth seines Lebens beklagte. Alle dankten Gott
für die tausend Proben seiner Vatergüte, die sie in ihrem Leben ge-
nossen hatten.
99. Die feuerspeienden Derge.
Solche gibt es in Europa, in Asien, in Amerika und ans der
großen Inselwelt zwischen Asien und Amerika. Zum Ansehen sind sie
äußerlich wie andere Berge; einige sind spitzig, wie ein Zuckerhut,
andere rund; manche so hoch, daß sie bis über die Wolken hinauf-
reichen und ihren Gipfel ewiger Schnee und Eis bedeckt, andere
sind auch niedrig. Das Verdächtige aber ist, daß sie rauchen wie
Kamine; das will dem Zuschauer nicht gefallen. Will man nun auf
den Gipfel und nach der Sache sehen, so darf man nur den Muth
nicht verlieren. Es geht an Schluchten und Abgründen vorbei, über
steile Felsen nnd große Steintrümmer, endlich durch lauter Sand und
Asche, über schwarze Schlacken und bei manchen über gefrorenen
Schnee. Dabei donnerts im Berg immer, und man meint oft, der
Boden wolle unter den Füßen brechen. Ist man nun nach viel
Mühe und saurer Arbeit auf dem Gipfel oben angekommen, so steht
man an einem großen, runden, trichterförmigen Schlund, der sich in
den Berg hinunter verengert. Aus diesem Schlund steigt beständig
ein heißer Dampf heraus; geht der Wind so, daß er den Dampf
und Rauch wegtreibt, so kann man in den Trichter hinunter steigen;
ein Naturforscher, der dies einmal gewagt hat, sah dann in der
Tiefe wieder drei Bergspitzen, die beständig Feuer und Rauch aus-
spieen. Man bleibt aber gern außen.
Manchmal geschieht es, daß solche Berge nicht blos Rauch und
Dampf heraustreiben, sondern es brüllt und donnert und kracht in
denselben, daß mans weithin hören kann; die Erde erbebt, daß auch
zuweilen Häuser nnd Thürme in der Nachbarschaft des Berges ein-
stürzen; der Boden bekommt Risse, daß Menschen und Thiere hinab-
fallen und elend ums Leben kommen, aus dem Trichter des Berges
st-igt dann eine schwarze Rauchsäule wie eine ungeheure Garbe
hoch in die Luft, Blitze schießen aus derselben hervor, aus der Luft
regnet es heiße Asche nnd Sand oft in einem Umkreis von ein paar
Stunden um den Berg her, am Gipfel pfeifen auch glühende Steine
-hprab, was alles der Berg ausgeworfen hat. Dazu ziehen sich um
den Berg dunkle Wetterwolken zusammen; selbst am Tage kann es
dann so finster werden, daß man Lichter anzünden muß; aus den
202
Wolken fahren Blitze in den Berg hinunter, aus dem Berg heraus
ln die Wolken hinein. Endlich bricht an einer Seitenwand des
Trichters eine feurige Masse heraus, Steine, Sand, Erde, Metalle,
Alles unter einander geschmolzen, wie ein Strom glühendes Eisen,
dies nennt man Lava. Wehe einem Ort, das so am Berge liegt,
daß es von dieser Masse erreicht werden kann! Die dicksten Mauern
stürzt sie ein, Thürme, Häuser, Bäume verbrennen, Aecker, Wiesen,
Weinberge werden übergössen und auf viele Jahre hinein verderbt.
Der Neckar, die Donau, oder auch schon die Rems, Jagst u. s. w.
können schlimme Arbeit machen, wenn sie austreten; sie tragen auf die
Güter Steine und Sand, die man ihnen lieber gelassen hätte. Sind
sie aber wieder im Gestade, so kann man doch wegführen, was sie
hereingetragen haben. Die Lava dagegen kann man nicht wegschaffen;
sie braucht mehrere Jahre, bis sie kalt, und noch länger, bis sie st
verwittert ist, daß man wieder anfangen kann, mit der Haue darüber
zu gehen und etwas drein zu pflanzen und zu säen. Kann man
aber das einmal, so ist es ein überaus fruchtbarer und guter Boden,
daher die Leute dann die ansgestandene Noth und Angst wieder ver-
gessen und sich immer wieder so nahe, als es sein kann, an den
Berg hinmachen. Im Jahr 79 nach Christi Geburt hat der Vesuv
bei Neapel in Italien die beiden Städte Pompeji und Herkulanum
mit einem Aschenregen so zugedeckt, daß man jetzt tief graben muß,
bis man auf die Häuser kommt. In diesen ist Alles noch ganz in
der Ordnung, wie es in alten Zeiten war, wie wenn die Leute nur
etwa über Feld gegangen wären. Aber leider findet man auch Ge-
rippe noch, namentlich in Kellern, denn wer in den Häusern blieb,
erstickte, wer sich retten wollte, kam auf dem Felde um. Die Asche
fiel damals so dick, daß, wie sie im Verlauf der Zeit hart uud fest
wurde, eine Stadt, Portici genannt, darauf erbaut wurde, uud
die Leute nicht wußten, daß sie gerade über der verschütteten
alten Stadt Herkulanum wohnen, so daß oben eine neue Stadt
steht, unter dieser aber die alte in der Asche steckt. In dem ebenfalls
79 nach Christo verschütteten Pompeji besteht das Straßenpflaster
aus uralten Lavasteinen, in welchen man die Fahrgeleise noch sieht.
So haben also schon damals die Leute selber auf Lava gebaut. —
Mancher Berg legt sich jetzt ruhig in die Sonne hin, wie wenn er
nie etwas Schlimmes im Sinn gehabt hätte, und er hals in früheren
Zeiten doch gehabt. Wo man jetzt Basalt, Drapp, Tuff rc. findet,
z. B. am Siebengebirge am Rhein, auch hie und da auf der Alb
203
von Urach an bis ins Ries bei Bopfingen, z. B. bei Grabenstetten,
Gutenberg, Donnstetten, Metzingen, Dettingen, auch im Hegau bei
Hohentwiel rc., da sind in früheren Zeiten entweder wirklich feuer-
speiende Berge um den Weg gewesen, oder doch geschmolzene Masten
aus dem Innern der Erde zur Oberfläche gequollen.
100. Wer Vesuv.
Am Fuße des steilen Berghanges empfingen uns zwei Führer, ein älterer und
ein jüngerer, beides tüchtige Leute. Der erste schleppte mich, der zweite meinen Ge-
fährten den Berg hinauf. Sie schleppten, sage ich, denn ein solcher Führer umgürtet
sich mit einem ledernen Riemen, in welchen der Reisende greift, und Hinauswärts ge-
zogen, sich an einem Stab auf seinen eigenen Füßen desto leichter empor hilft. So
erlangten wir die Fläche, über welcher sich Der eigentliche feuerspeiende Gipfel erhebt.
Ein Blick westwärts über die Gegend nahm wie ein heilsames Bad alle Schmer-
zen der Anstrengung und alle Müdigkeit hinweg, und wir umkreisten nunmehr den
immer qualmenden, Stein und Asche auswerfenden Gipfel. So lange der Raum
gestattete, in gehöriger Entfernung zu bleiben, war es ein großes, geisterhebendes 1
Schauspiel. Erst ein gewaltsamer Donner, der ans dem tiefsten Schlund hervor-
lönte, sodann Steine, größere und kleinere, zu Tausenden in die Lust geschleudert,
von Aschenwolken eingehüllt. Der größte Theil fiel in den Schlund zurück. Die
andern, nach der Seite zu getriebenen Brocken, auf die Außenseite des Gipfels
niederfallend, machten ein wunderbares Geräusch: erst plumpten die schwereren und
hüpften mit dumpfem Getön an der Seite hinab, die geringeren klapperten hinter-
drein, und zuletzt rieselte die Asche nieder. Dieses alles geschah in regelmäßigen
Zwischenräumen, die wir durch ein ruhiges Zählen sehr wohl abmessen konnten.
Aber schon sielen mehrere Steine um uns her und machten den Umgang un-
erfreulich. Mein Gefährte fühlte sich nunmehr auf dem Berge noch verdrießlicher,
da dieses Ungethüm, nicht zufrieden, häßlich zn sein, auch noch gefährlich werden
wollte. Wie aber durchaus eine gegenwärtige Gefahr etwas Reizendes hat und den
Widerspruchsgeist im Menscheu auffordert, ihr zu trotzen, so bedachte ich, daß es
möglich sein müsse, in der Zwischenzeit von zwei Ausbrüchen den Gipfel hinauf an
den Schlund zu gelangen, aus welchem die Ausbrüche erfolgen, und auch in diesem
Zeitraum den Rückweg zu gewinnen. Hch rathschlagte hierüber mit den Führern
unter einem überhängenden Felsen, wo wir, in Sicherheit gelagert, uns an den mit-
gebrachten Vorräthen erquickten. Der jüngere getraute sich das Wagestück mit mir
zu bestehen; unsere Hutköpfe fütterten wir mit leinenen und seidenen Tüchern, wir
stellten uns bereit, die Stäbe in der Hand, ich seinen Gürtel fastend.
Noch klapperten die kleinen Steine um uns herum, noch rieselte die Asche, als
der rüstige Jüngling mich schon über das glühende Gerölle hinaufriß. Hier standen
wir an dem ungeheuren Nachen, dessen Rauch eine leise Lust von uns ablenkte, aber
zug.eich das Innere des Schlundes verhüllte, der ringsum aus tausend Ritzen dampfte.
Durch einen Zwischenraum des Qualms erblickte man hie und da geborstene Felsen-
wände. Der Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich; aber eben deßwegen,
weil man Nichts sah, verweilte man, um Etwas herauszusehen. Das ruhige Zählen
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war versäumt, wir standen auf einem scharfen Rande vor dem ungeheuren Abgrund.
Auf einmal erscholl der Donner, die furchtbare Ladung flog au uns vorbei, wir
duckten uns unwillkürlich, als wenn uns das vor den niederstürzenden Massen ge-
rettet hätte; die kleineren Steine klapperten schon, und wir, ohne zu bedenken, daß
wir abermals eine ruhige Zwischenzeit vor uns hatten, froh die Gefahr überstanden
zu haben, kamen mit der noch rieselnden Asche am Fuß des Gipfels an, Hüte und
Schultern genugsam eingeäschert.
101. Was Erdbeben ZU Lissabon im Jahr 1755.
Es war am 1. November des Jahres 1755, als über die große, wunder-
schöne Stadt Lissabon an der Mündung des Tajostroms in Portugal ein Un-
glück kam, dessen Schrecken kaum ihres Gleichen finden. Freundlich war die
Sonne aufgegangen; Tausende von Menschen waren in ihren Festkleidern
nach den Kirchen geeilt, um das Fest Allerheiligen zu feiern, als man plötzlich
nach 9 Uhr ein unterirdisches Getöse wie das Rollen eines gewaltigen
Donners vernahm und in ihm das drohende Vorzeichen eines Erdbebens er-
kannte. In demselben Augenblick flüchteten die Bewohner der Stadt aus den
Kirchen und Wohnungen auf die Straßen; aber nur noch einem Theil gelang
die Rettung. Von einem fürchterlichen Erdstoß wankten die Häuser; die obern
Stockwerke in ganzen Straßen stürzten ein und begruben die Bewohner unter
den Trümmern; selbst die festeren Bauwerke prachtvoller Kirchen brachen zu-
sammen und wurden der Betenden Grab. Ganze Straßenreihen waren nieder-
geworfen; Paläste und Kirchen lagen in Schutt, und von den eingestürzten
Gebäuden fielen unaufhörlich Mauersteine und Balken nach, so daß viele
Menschen, welche der ersten Verwüstung entgangen waren, erschlagen oder ver-
stümmelt wurden. Der erste Erdstoß warf das Haus des Glaubensgerichtes
um; der königliche Palast mit allen seinen Kostbarkeiten war wie verschwunden;
mit einem Schlage alle Bewohner in der Jesuitenanstalt getödtet, als das Ge-
bäude einstürzte. Auf den freien Plätzen sammelten sich die, welche der ersten
Gefahr entronnen waren. Da sah man Menschen aller Stände und jeden
Alters zusammengedrängt, alle von gleicher Angst erfüllt; auf den Knieen
liegend, die Hände zum Himmel emporgereckt, fleheten sie Gott um Schutz und
Rettung an, oder schlugen an ihre Brust und riefen: Herr, erbarme dich unser!
Nicht lange währte es, so erfolgte ein zweiter Stoß des Erdbebens und
warf, was von Kirchen, Palästen und Häusern noch nicht eingestürzt war,
vollends gänzlich nieder. In das Krachen der zusammenbrechenden Gebäude
mischte sich das Wehgeschrei des Volkes, daß es weithin gehört wurde. Ngch
lauter aber erscholl es, als nach wenigen Sekunden das Wasser des FlusieS sich
hoch wie ein Gebirge emporbäumte und gegen die Stadt heranwälzte, „Aas
Meer, das Meer! wir find des Todes!" riesen viele Tausende und flohen den
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Straßen zu, in welchen ihnen durch niederfallendes Gemäuer ein anderer Tod
drohte. Wild brauste das Wasser in die Stadt; die an dem Ufer ankernden
Schiffe wurden losgerisfen und mehrere derselben von dem Strudel verschlun-
gen. Viele Menschen fanden hier ihren Tod. Ein Damm, auf dem wohl
hundert Menschen standen, versank mit ihnen. Diese fürchterliche Erscheinung
erneuerte sich bald darauf mit dem dritten Erdstoß auf dieselbe Weise und
wiederholte sich bei jedem folgenden. Jetzt zeigte sich ein neuer Feind mit
gräßlicher Zerstörungswuth. Es entstand ein Sturm, der finstere Staubwolken
in die Luft trieb und das Licht des Tages verdunkelte. Der jüngste Tag schien zu
kommen. Der Sturm war der Vorbote einer Feuersbrunst, die vollends das
verzehrte, was das Erdbeben und Wasser verschont hatte. Was nicht erschlagen
war, oder mit dem Tod rang, floh jetzt aus der Stadt. Auf den Feldern um-
her lagerten die unglücklichen Bewohner Lissabons zu Tausenden ohne Obdach,
ohne Nahrung und zum Theil ohne Kleidung, einem fast ununterbrochenen
Regen ausgesetzt. Denn die benachbarten Städte und Dörfer, in welchen sie
Zuflucht hätten finden können, hatten selbst durch die Verheerungen des Erd-
bebens gelitten. Unsäglich war das Elend, das über die Stadt Lissabon ge-
kommen war; acht Tage wüthete die alles verzehrende Flamme. 16,000 Ge-
bäude lagen darnieder, unter ihnen alle Haupt- und Pfarrkirchen, die Klöster, ,
die Krankenhäuser und fast alle öffentlichen Gebäude; nur wenige waren ver-
schont geblieben. Lissabon war ein Schutthaufen, unter welchem das Glück
von 200,000 Bewohnern und die Leichname von 40,000 Erschlagenen be-
graben lagen. Der Schaden der Einwohner betrug über 1000 Millionen
Gulden. Man verspürte dieses Erdbeben bis Norddeutschland, Schweden,
Amerika; ja man hat berechnet, daß am 1. November 1755 ein Erdraum
gleichzeitig erbebte, welcher an Größe viermal die Oberfläche von Europa
übertraf.
So groß jedoch das Unglück war, welches über Lissabon damals lag, und
so traurig der Jammer, unter welchem sie seufzten, so boten doch diese Tage des
Schreckens und des Elends manches rührende und erhebende Bild edler Ge-
sinnung, heldenmüthiger Aufopferung und echt christlicher Liebe dar. In den
ersten Augenblicken, wo fast Jedermann auf Erhaltung des eigenen Lebens be-
dacht war, sah man Einzelne mit der Errettung ihrer unglücklichen Mitbürger
beschäftigt; da, wo die Gefahr sich am größten zeigte, bemerkte man Andere, die
sich mit kühnem Muth in die Gefahr wagten, um Menschen, die ihnen bekannt
wc.ren, über Schutt und Trümmer davonzutragen; wo Tausende nicht wußten,
was sie in der Verzweiflung thun sollten, beschützte ein junger Osficier, nach-
dem di', ganze Wache geflohen war, allein die Münzgebäude und deren Schätze.
Am meisten zeichneten sich die Geistlichen auS; sie verließen ihre unglücklichen
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Mitbürger nicht, waren ihnen in den Stunden der Gefahr mit Trost und Hülfe
nahe und erwiesen stch als treue Diener Gottes. Außerordentlich war der
Eindruck, den die Nachricht von der Zerstörung Lissabons in allen christlichen
Ländern machte; überall sprach stch die herzlichste Theilnahme an dem Schick-
sal seiner Bewohner aus, und Menschen aller Stände wetteiferten in der Unter-
stützung ihrer hart bedrängten Mitchristen. Spanien sandte Geld; England
Holz, Fleisch, Salz, Korn, Reis, Mehl; Hamburg Hausrath, Bauholz, Bretter,
Kleidungsstücke; auch andere Staaten blieben nicht zurück; überall legte man
reichliche Gaben zusammen und sandte sie nach Portugal, und bald stand an der
Stelle der verschütteten Stadt eine neue schönere.
102. Europa.
Europa grenzt im Osten an Asien; die natürliche Grenze ist
bezeichnet durch das Uralgebirge, den Uralfluß, das westliche Ufer
des Kaspisees und den Kaukasus. Nach den übrigen Weltgegenden
ist es von Wasser umgeben, von dem Mittelmeer gegen Afrika, dem at-
lantischen Ocean gegen Amerika, von dem Eismeer gegen Norden.
Als besondere Theile dieser Meere sind zu nennen 1) das weiße
Meer. 2) Die Ostsee mit dem finnischen und bothnischen Meerbusen.
3) Die Nordsee mit dem tiefen Jahdebusen, dem Dollart und der
Zuydersee. 4) Das Meer zwischen der Nordküste Frankreichs und d^r
Südküste Englands — der Canal. 5) Das Meer zwischen der West-
küste Frankreichs und der Nordküste Spaniens — der Golf von
Biscaya. 6) Das mittelländische Meer, welches man mit einem gro-
ßen, in Hofräume, Gänge und Seitenflügel eingetheilten Bau ver-
gleichen kann. 7) Das schwarze Meer. — Von den 180000 iHMei'^.l,
welche Europa mißt (auf eine Quadratmeile fallen fast 18000 würt-
iembergische Morgen), kommen 10000 auf die Inseln und 40000
auf die Halbinseln. Der Umfang des Landes beträgt 5000 Meilen,
wovon 4300 auf die Küstenlinie kommen. Die Hauptströme Europas
sind durch den ganzen Welttheil nach allen Richtungen hin vertheilt;
die meisten haben weit verzweigte Wassernetze, die Räume zwischen
ihren Mündungen sind durch zahlreiche Küstenflüsse ausgefüllt und
viele sind durch Kanäle verbunden, selbst solche, welche nach entge-
gengesetzten Meeren fließen. Die längsten sind: die Petschova, Dwina,
Düna, der Niemen, die Weichsel, Oder-Warthe, Elbe-Moldau,
Weser, Rhein-Maas-Schelde, die Seine, Loire, Garonne-Do'dogne,
der Duero, Tajo, Guadiana, Guadalquivir, Ebro, die Rbone-
Saone, der Po, Donau-Inn, der Dnjester, Dnjepr, Don, die Wolga.
207
Das Hauptgebirge Europas sind die Alpen: im Westen von der
Rhone, im Norden und Osten von der Donau, im Süden von dem
Po umflossen. Sie bestehen aus hohen Gebirgsmassen, welche von
vielen Thälern durchschnitten sind. Ihre Gipfel steigen bis nahe an
15000 Fuß auf, und da die Schneelinie hier etwa in 8000 Fuß
Höhe liegt, so ist eine bedeutende Zahl derselben mit ewigem Schnee
bedeckt, und an Gletschern wie an Schneefeldern sind die Alpen deß-
halb sehr reich, was hauptsächlich ihnen selbst wie den umliegenden
Ländern die überaus reiche Bewässerung sichert. Die Pässe über die
Alpen sind zahlreich und verhältnißmäßig bequem, und dies erklärt,
es, weßhalb die Alpen der Uebersteigung so wenig Hindernisse in
den Weg legten. Von den Alpen aus ziehen sich die Apenninen durch
Italien, und auf der östlichen Seite des adriatischen Meeres nach
Osten durch die griechische Halbinsel das Balkangebirge.
Weitere gewaltige Gebirge sind die Pyrenäen zwischen Spanien
und Frankreich, und das skandinavische Hochland. Außerdem sind die
Hochgebirge von einem Kranz von Mittelgebirgen umschlossen, wie
die Sevennen in Frankreich, und die deutschen Gebirge im Norden
der Alpen und im Osten die Karpathen.
Im Osten von Europa dehnt sich eine weite Tiefebene aus, die
westwärts über die Weichsel, Oder, Elbe und Weser bis zu den
Rheinmündungen sich fortsetzt.
Das Klima Europas ist sehr verschieden: in Osteuropa ist der
Winter streng, der Sommer heiß; es wehen trockene und rauhe
Winde; je näher dem Ural und dem Eismeer, desto kälter. Das
fcavu iü den ausgedehnten Grasflächen (Steppen) am schwarzen
Meere ist noch fast ganz nomadisch. Von Nordost nach Südwest
wird das europäische Klima immer heißer; Gibraltar mit den Affen
auf brennender Felsenwand erinnert an das gegenüberliegende heiße,
dürre Afrika. Im südlichen Spanien treten schon kleine Dattelpal-
men auf, Südfrüchte gedeihen selbst noch an der Küste von Genua
und die Oliven gehen noch an die Sevennen in Frankreich. Das
gemäßigtste Klima, wo die Jahreszeiten im sanftesten Wechsel durch
einander spielen, ist in Frankreich, Deutschland und England, das
ttwtz seiner ndeöttschen Lage durch die mildere Seeluft einen gelinden
Wntter h,.t. iMki -in diese?.' drei Ländern ist auch vorzugsweise der
Sitz V".^'päischer Kultur. Das Klima ist nicht zu rauh und kalt,
um dtt, Regsamkeit des menschlichen Geistes zu unterdrücken, aber
ll"ch nicht zu warm, um die Thatkraft zu lähmen und zur Ueppig-
208
l'
feit zu verführen. An Größe seiner Länder, an Mannigfaltigkeit,
und Kräftigkeit des Pflanzen- und Thierlebens steht Europa mehr
oder weniger den andern Welttheilen nach, aber es geht allen an-
dern voran in dem, was die Völker zur höchsten Kultur führt.
Die Ländermassen Europas sind folgende:
A. Die Halbinseln und Inseln.
I. Die griechische Halbinsel.
1) Die europäische Türkei mit den unmittelbar türkischen Län-
dern Bulgarien, Thracien, Macedonien, Bosnien, Thessalien, Alba-
nien, Kandia u. s. f>, und den mittelbar türkischen Ländern Serbien,
Walachei und Moldau. 2) Montenegro. 3) Das Königreich Grie-
chenland. 4) Die Republik der jonischen Inseln.
II. Italien.
1) Das Königreich Sardinien mit Savoyen, Piemont, Küsten-
land um den Golf von Genna und der Insel Sardinien. 2) Das
österreichische Italien, d. h. das lombardisch-venetianische Königreich.
3) Herzogthum Parma. 4) Das Herzogthnm Modena. 5) Das
Großherzogthum Toskana. 6) das päbstliche Italien, d. h. der Kir-
chenstaat. 7) das Königreich Neapel, d. h. das südliche Italien und
die Insel Sicilien.
III. Die pyrenäische Halbinsel.
1) Das Königreich Spanien. 2) Das Königreich Portugal.
IV. Die britischen Inseln.
Königreich Großbritannien und Irland.
V. Skandinavien.
1) Das Königreich Schweden. 2) Das Königreich SloHgen,
die skandinavische Halbinsel, unter Einem König. 3) das Königreich
Dänemark — dänische Inseln und jütische Halbinsel.
Die große, ungefähr dreieckige Hauptmasse des Erdtheils, die
von den Halbinseln und Inseln umgeben ist:
1) Das europäische Rußland mit dem eigentlichen Rußland,
den Ostseeprovinzen, mit Kasan und Astrachan, Finnland, Polen.
2) Das österreichische Kaiserreich mit Oesterreich, Steyermark, Tirol,
Jllyrien, Böhmen, Mähren — Galizien und Bukowina — Ungarn
und Siebenbürgen — Ungarisch Serbien (Banat), ©teööuien; Kroatien.
Dalmatien — dazu: Oesterreichisch Italien. Das Königreich Preußen.
4) Die kleineren deutschen Staaten/des deutschen Bundes^— nach
Abzug der zu Holland und Dänemark gerechneten: vier Köu gre'che,
sechs Großherzmgthümer, eil) Kurfürstenthum, acht Herzogthümer,
acht Fürstenthümer, eine Land grafschaft, vier freie Städte. 5) König-
/ > - •
-3±aK _ ■ • — ' ^ ------
209
reich Frankreich. 6) Niederlande — das Königreich Holland und das
Königreich Belgien. 7) Die Schweiz mit zwei und zwanzig Kantonen.
Es leben in Europa um die Mitte des neunzehnten Jahrhun-
derts etwa zweihundert sechs und fünfzig Millionen Menschen. Sie
gehören, bis auf einige Millionen, entweder zu der germanischen
Völkerfamilie, wie die Deutschen, die Holländer, die Skandinavier,
die Engländer, oder zu der romanischen, wie die Franzosen, die
Spanier, die Italiener u. a., oder zu der slavischen, wie die
Nüssen, die Polen, ein Theil der Bewohner Ungarns und Böhmens
u. a. Mit Ausnahme von einer Million Nomaden haben sie feste
Wohnsitze. Bis auf zehn Millionen. (darunter drei Millionen Juden,
sechs und eine halbe Million Muhammedaner und eine Million Heiden),
bekennen die Einwohner von Europa die christliche Religion, und
zwar gehören sechzig Millionen (im Osten) zu der griechisch-katholi-
schen, hundert und dreißig Millionen (im Südwesten) zu der römisch-
katholischen , und sechzig Millionen im Nordwesten zu der evangeli-
schen Kirche nach ihren verschiedenen Zweigen.
Der Verkehr zu Land und zu Wasser, auf Landstraßen, Eisenbah-
nen, Kanälen und Flüssen, mit Dampf- und Segelschiffen bietet eine
außerordentliche Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit dar und hat
eine*Menge Erfindungen und riesenhafte Unternehmungen veranlaßt.
Die Eisenbahnen bilden bereits wahre Netze in Mitteleuropa, Frank-
reich und Großbritannien, in neuester Zeit werden deren auch in
Rußland und Ungarn, so wie in Italien und Spanien gebaut,
und eine ununterbrochene Linie von Madrid bis Moskau steht be-
rir, ein«' Entfernung von 5 — 600 Meilen, welche von einem Schnell-
zuge in etwa fünf Tagen zurückgelegt werden könnte.
Wenden wir zum Schluß unsern Blick noch auf die Stelle, die
Europa aus der Erdkugel iuue hat, so verdankt es seiner Lage in
dem gemäßigten Erdgürtel das schon erwähnte vortheilhafte Klima.
Sodann bemerken wir, daß es mit Asten, der Wiege der Menschheit
und ihrer Gesittung, zusammenhängt, dem frühe bevölkerten und
angebauten Nordafrika benachbart ist und im Westen Nordamerika
sich gegenüber hat, das von Europa aus seine Gesittung und einen
Theil seiner Bevölkerung erhielt. Ferner lockte der Europa auszeich-
nende Reichthum an Meeresbuchten und Küsten dessen Bewohner
frühe anfs Meer hinaus, das nicht durch eine unübersehbare Aus-
dehnung, wie die des großen Oceans, zurückschreckte, sondern, zu-
mal im Süden, allenthalben das nahe Gegengestade einer Insel oder
Lesebuch. 14
210
Halbinsel erblicken ließ. Hiedurch immer erfahrener und unterneh-
mender geworden, suchten und fanden die Seefahrer über dem atlan-
tischen Ocean drüben eine neue Welt. So ward Europa schon durch seine
Lage auf der Erdkugel von einer Stufe des Entdeckens und Lernens
zur andern geführt, und zumal zu der Zeit, da seine Völker durch
den christlichen Glauben neue Kraft und neues Leben erhielten, im-
mer mehr in jeglicher Beziehung der weltbeherrschende Erdtheil.
103. Städte Europas.
Unter den vielen und mancherlei über Europa vertheilten Wohnorten zeichnet
sich eine Anzahl Städte durch Größe und Einfluß aus. Dies ist z. B. der Fall,
wenn in einer Stadt die oberste Negierung eines Landes ist oder wenn sie sehr viel
Handel oder sehr viel Gewerbe hat oder alles dies zugleich; solche Städte enthalten
dann gewöhnlich auch merkwürdige Bauwerke, Denkmäler, Sammlungen, z. B. von
Büchern, Gemälden, Thieren und dergl.
Solche Städte sind z. B. folgende: (Die hier angeführten haben alle über
50,000 Einwohner und statt 000 steht t. und die mit gesperrter Schrift gedruckten
sind Sitz der obersten Landesregierung.)
In Deutschland:
Wien, an einem wenig schiffbaren Donauarm, nahe den Alpen, spiegelt ein
mannigfaltig zusammengesetztes Reich ab. Handel. Ueber 400 t. E. Prag an der
Moldau; an fünfzig Kirchen; Wallensteins Palast; deutsch und böhmisch Redende.
Ueber 100 t. E. Triest, am adriatischen Meer, im Seehandel glückliche Neben-
buhlerin des gegenüber liegenden Venedigs. München, auf rauher Hochebene;
Kunstbauten und Sammlungen; Künstler; um 100 t. E. Dresden an der Elbe;
Gemälde; gegen 100 t. E. Leipzig in der Mitte des weiten, ebenen Schlachtfelds
vom Oktober 1813; Messen; Büchermarkt. Frankfurt am Main; Messen; Geld-
markt. ' . gs. Berlin, in weiter, sandiger Ebene; Vorort oes
Zollvereins; Gelehrte; Sammlungen; Straße unter den Linden; über -100 t. E.
Breslau an der Oder; größter Wollmarkt Deutschlands; schlesische Leinwand; über
100 t. E- Köln am Rhein; Dom; Schifffahrt. Hamburg an der Elbe; seit 1842
großentheils neu; erste deutsche Handelsstadt; Hansestadt; gegen 200 t. E. Bremen
an der Weser, zweite Handelsstadt Deutschlands; Tabakshandel und Fabrikation;
Beförderung von Auswanderern; Hansestadt.
In Frankreich:
Paris um die mittlere Seine; Beherrscherin des französischen Volks; Geschmack
im Gewerbe; Moden; Gelehrte; Sammlungen; Boulevards (belebte, breite Straßen);
über eine Million E- Darunter viele Deutsche, namentlich Handwerker. Deutscher
Hülfsverein. Rouen an der Seine; Verarbeitung von Baumwolle; um 100 t. E.
Nantes an der Loire; Seehandel; um 100 t. E. Bordeaux an der Garonne; See-
handel; Hauptausfuhr des französischen Weines; um 100 t. E. Lyon an Rhone-Sa "»ne,
erste Handels- und Fabrikstadt Frankreichs; Scidenfabriken; um 200 t. E. Mar«
211
seillc am Mittelmeer, von mehreren tausend Landhäusern-umgeben; Handel mit dem
Morgenland; Oel; Seife; gegen 200 t. E. Straßburg, in der Rheinebene, Süd-
dentschland bedrohende (ehemals beschützende) Festung; Münster.
In den Niederlanden:
Brüssel, östlich von der Schelde; feinste Spitzen; gegen 200 t. E. Ant-
werpen an der Schelde; Seehandel; Dom; gegen 100 t. E. Rotterdam an der
Maas (Rhein); Seehandel; gegen 100 t. E. Haag. Amsterdam an der Zuyder-
see, in sumpfigem Boden auf eingerammten Baumstämmen erbaut (wie z. B. bei
steinernen Brückenpfeilern geschieht); bedeutendste holländische Handelsstadt; von vielen
Kanälen durchschnitten; über 200 t. E.
In England:
London um die untere Themse, den Rheinmündungen gegenüber, wohl die
größte Stadt (nemlich auf der ganzen Erde); erste Handelsstadt; künstliche Wasser-
becken zu beiden Seiten des Flusses (Docks); Themsetunncl; größte Bierbrauerei;
Kirchen für die verschiedensten Sprachen und Glaubensbekenntnisse; St. Paulskirche;
Sammlungen und Vereine aller Art; Bibelgesellschaft; 2'/, Millionen E. (gleich der
Bevölkerung Württembergs und des halben Badens zusammen), darunter auch viele
Deutsche; deutsches Hospital; jährliche Vergrößerung Londons etwa um die Häuser-
zahl Stuttgarts; schroffster Abstand zwischen Armut und Reichthum. Liverpool,
zweite größte Handelsstadt, und Manchester, größte Fabrikstadt; dort Einfuhr, hier
Verarbeitung der Baumwolle; jede um 400 t. E. Leeds, der größte Tuchmarkt;
eine Tuchhalle mit 1800 Stauden; gegen 200 t. E. Diese drei Städte im Norden
von England bilden mit den vielen großen Städten um sie her die gewerbsamste
Gegend auf der ganzen Erde. Birmingham, in der Mitte Englands, erste Fabrikstadt
in Metallwaaren aller Art; im Jahr mehrere 100 t. Gewehre; in einer Fabrik sechzig
Millionen Stahlfedern jährlich; 200 t. E. Bristol im Südwesten; Seehandel;
Gießereien; über 100 t. E. Edinburgh, über Hügel und Thäler hin schön
gebaut; 200 t. E. Glasgow; etwa 14,000 Baumwoll-Webstühle; 300 t. E. Beide
Siaote in Süd-Schottland. Dublin, an der irischen See; irische Leinwand. 300 t. E.
Cork an einem schönen Hafen; Seehandel; irische Auswanderung; über 100 t. E.
1 i ' ' ' In Italien:
Turin, eine der schönsten und regelmäßigsten Städte Italiens, gegen 200 t. E.
Mailand; Dom aus weißem Marmor mit 5000 Standbildern; Seidenfabriken; Käse-
und Getreidemarkt; gegen 200 t. E- Venedig, zwischen Sümpfen (Lagunen genannt),
auf vielen Inseln, erbaut auf eingerammten Baumstämmen; Gondeln statt der Wa-
gen; viele Brücken; lange Eisenbahnbrücke; Paläste; Markusplatz; Seehandel;
100 t. E. Diese drei Städte in der Po-Ebene. Florenz, am Arno; Dom;
Knnstschätze; über 100 t. E. Rom, in wenig angebauter Gegend, an der Tiber, in
der Mitte Italiens und des südlichen Europas; an Denkmälern reichste Stadt Euro-
pas; einst Beherrscherin der heidnischen, darauf der christlichen Welt (Pabstthnm);
über 300 Kirchen; St. Peterskirchc, die größte aller Kirchen; Kunstschätze; gegen
200 t. E. Neapel, an einem der schönsten Golfe, nahe dem Vesuv; Toledostraße;
400 t. E. Lazzaroni's. Palermo aus der Insel Sicilien; der Winter mild
14*
212
als in Stuttgart der Frühling; längster Tag 14^ Stunden, kurze Dämmerung;
gegen 200 t. E.
Auf dev pyrenäifchen Halbinsel:
Madrid, in der Mitte Spaniens, auf einer kahlen, von hohen Bergen über-
ragten Hochfläche, 2000 Fuß über dem Meer, im Quellgebiet des Tajo; Gemälde;
über 200 t. E. Barcelona, au der Ostküste, erste Fabrik- und Handelsstadt Spa-
niens; Baumwollfabrikation; über 100 t. E. Sevilla, in meist eintöniger Tiefebene,
am Guadalquivir; Handel; Tabaksfabrik; Oelpflanzung; 100 t. E. Cadix, auf einer
Landzunge westlich von der Straße von Gibraltar; Seehaudel. Granada, noch
höher gelegen, als Madrid, in einer fruchtbaren Landschaft am Nordfuß des süd-
spanischen Schueegebirges; maurische Bauart; maurischer Königspalast, eines der
prächtigsten Gebäude Europas. Malaga, an der Südküste; Ausfuhr von Wein und
Südfrüchten. Lissabon, oberhalb der Tajomündung, auf dem ansteigenden Gestade
des seeartig erweiterten Tajo schön gelegen; Wasserleitung; über 200 t. E.
In Skandinavien:
Stockholm, in und an einer Meerenge zwischen einem inselreichen See und
einer inselreichen Bucht; Gebäude, Felsklippen, waldige Inseln durch einander gemengt
aus dem Meere hervortretend; Eisenmagazin; Standbild Gustav Adolphs; gegen
100 t. E. Kopenhagen, am Sund, in wohl angebauter Gegend; über 100 t.E.
In Nußland:
Moskau, in der Mitte Rußlands; ehemalige Hauptstadt; mehrere hundert Kir-
chen; Kreml (Festung); unter den Vorstädten auch eine „deutsche"; zum Theil neu
gebaut seit 1812; eine der umfangreichsten Städte:, europäische und asiatische Bau-
art, Paläste und ärmliche Hütten durch einander; über 300 t. E. St. Peters-
bur g, wohl die prächtigste Hauptstadt; in öder Landschaft um die Newamündungen :
außerhalb des eigentlichen Rußlands; au der Ostsee; längster Tag 18'/, Stunde;
lange Dämmerung; gegen 500 t. E. Odessa, am schwarzen Meer; Getreideausfuhr;
Talg; gegen 100 t. E., darunler viele Deutsche; schwäbische, namentlich von aus-
gewanderten Württembergern bewohnte Bauerndörfer im Umkreis; fünfzehn Meilen
nördlich eines Namens Stuttgart.
In Ungarn:
Ofen-Pesth, am Westeude der großen ungarischen Tiefebene, am hohen westlichen
und riefen östlichen Donauuser; Hauptort des ungarischen Handels, besonders Wein-.
Handel; über 100 t. E., von etwa zwölferlei Sprachen.
In der Türkei:
Constan tinopel, Stambul der Türken, größerntheils über Hügel und Thäler
einer Halbinsel malerisch ausgebreitet: am Marmarameer; zugleich am Südende des
Bosporus und daher Schlüssel zum schwarzen Meer; ein Stadttheil ans asiatischem
User; Moscheen-Knppetn; Minarets (Thürme); Sophien-Moschee, Seehandel; viel-
leicht über 700 t. E. Abrianopel, an einem Hügel mitten in einer der schvn'te«
Ebenen; über 100 t. E.
213
104. Asten.
Asien ist die Geburtsstätte der Menschheit, die Wiege der Völker, der
Ursitz aller Gesittung. Die ganze alte Geschichte hat in Asten ihren Angel-
punkt, von Asien aus sind die Völker vorgedrungen über Nordafrika und Eu-
ropa und haben die Bildung nach Westen getragen bis nach Amerika; wie die
Kultur des letzteren eine Tochter ist der europäischen, so ist Europa eine Toch-
ter von Asien. Ehe man noch wußte, daß ein Festland Europa als An-
hängsel des großen asiatischen Kontinents vorhanden sei, vielleicht ehe. noch ein
Hirt oder Jäger über die Wolga und den Ural hinausgedrungen war, blüheten
im Orient schon Weltreiche, herrschten mächtige Könige in prächtigen Palästen
und großen Städten über Millionen von Unterthanen, forschten schon Weise
in den Geheimnissen der Sterne, ließen schon Priester zur Ehre der Götter
ober - und unterirdische Tempelhallen bauen, kämpften schon Völker mit Völ-
kern auf Leben und Tod. Aber diese frühe und glänzende Bildung ist auf
Einem Punkte stehen geblieben, das Völkerleben hat sich unter dem Despotis-
mus der Herrscher verknöchert, die Asiaten sind alte unmündige Kinder.
Schon 400 Jahre vor Christo, als die mächtigen Perserkönige das kleine
Griechenvolk mit dein Gewicht ihrer Heere zertrümmern wollten, zeigte sichs,
daß asiatischer Glanz in seiner Hohlheit und Nichtigkeit zerrann vor europäi-
scher Kraft. Der schönste, begabteste, kraftvollste Menschenftamm, der kau-
kasische, ist wohl in Asien geboren, aber erst in Europa zur Entwickelung sei-
ner Kraft gelangt. Und das Christenthum, das ein neues Leben in die ver-
sunkene Menschheit brachte, ist wohl auf asiatischem Boden entsprossen, aber
das junge Pflänzchen mußte von Asien nach Europa getragen werden, um hier
zum großen, schattigen Baume mit Blüthen und Früchten reich geschmückt
empor zu wachsen.
Der Bildungsstrom, der von Europa jetzt nach allen Gegenden der Erde
sich ergießt, wendet sich aber auch nach Osten zu seinem Quelllande zurück,
und es scheinen zwei große Nationen, die Engländer und die Russen, von der
Vorsehung dazu ausersehen, die asiatischen Völker aus ihrem Schlaf aufzu-
rütteln und neues Leben in den starren Massen anzufachen. Freilich, zur Höhe
des europäischen Lebens wird sich Asien nimmer emporschwingen, denn himmel-
hohe Berge, ungeheure Steppen und Sandwüsten, unfruchtbare Hochflächen
trennen hier die Menschen weit mehr, als in Europa, wo die Nationen mehr
und mehr zu Einer großen Völkerfamilie zusammenschmelzen. Die Hochflächen
der Tartarei und Mongolei werden immer von Nomadenhorden durchzogen
werden, und das sibirische Tiefland, allein schon so groß als ganz Europa,
ist nur im Süden kulturfähig, und der nördliche Theil leidet unter der strengen
Kälte des langen Winters. Hinwieder nimmt das Wunderland Indien durch
die Pracht und Ueppigkeit seiner Natur die Sinne gefangen und versenkt den
Geist in ein träumerisches Stillleben, während die reiche Inselwelt von Cey-
lon, Java, Sumatra, Borneo und den Gewürzinseln unter der Glut der
heißesten Sonne erseufzt und eine anhaltende Thätigkeit dem Menschen er-
schwert. Die gemäßigteren Länder aber, wie die Türkei, Persien, das eigentliche
China und Japan, erfreuen sich trotz des für menschliche Thätigkeit und Entwick-
lung günstigeren Klimas keineswegs geistiger Entwickelung und bürgerlicher
Freiheit: von Westen bis nach Osten derselbe Despotismus der Herrscher, der-
selbe Sklavensinn der Beherrschten. Die Religion Muhammeds war ein lodern-
des Feuer, das eine Zeitlang von Arabien aus die angrenzenden Völkerstämme
mit neuer Thatkraft beseelte, aber es war nur vorübergehend und konnte den
Funken wahrer Geistesbildung nicht entzünden. So sehen wir denn jetzt bei
den gebildeteren asiatischen Völkern nur noch Ueppigkeit und Schlaffheit, das
türkische Reich in Asien ist so morsch wie das in Europa; das alte Indien ist
todt, die Religionen haben ihre Heiligkeit, die alten Schriftwerke ihr Ver-
ständniß , die alten Sitten ihre Bedeutung verloren, obwohl der feingebildete
Hindu noch lange den europäischen Eindringlingen seinen zähen Widerstand
entgegensetzen wird. China, die „Blume der Mitte", wie die Chinesen ihr
Land nennen, ist eine welkende Blume, ein mit Menschen überfülltes Haus,
das den Einsturz droht. Kräftiger noch und bildsamer im Innern steht das
Jnselreich Japan da, das klug genug ist, streng gegen fremde Völker sich abzu-
schließen , um seine Unabhängigkeit zu bewahren.
Der Charakter des geistigen Lebens im Morgenlande ist Einförmigkeit,
doch um so mannigfaltiger erscheint das natürliche Leben des Menschen, um
so verschiedener sind seine Sitten, seine Körperbildung, seine Sprache, Lebens-
art und Betriebsamkeit — entsprechend dem asiatischen Kontinente selber, der
in seinen natürlichen Verhältnissen von allen Erdtheilen die größte Mannigfal-
tigkeit darbietet. In keinem Erdtheile sind die klimatischen Verhältntffe so verschie-
denartig wie in Asien. Seine Ausdehnung umfaßt alle Zonen. Der im hohen
Norden wohnende Polarmensch, der Samojede, Tschuktsche, Ostjäke, nicht viel über
vier Fuß hoch, und wiederum der schwarze, wollhaarige Insulaner auf Borneo
und Sumatra, dann die zum kaukasischen Stamm gehörenden Armenier,
Afghanen, Perser mit regelmäßiger, schöner Gesichtsbildung, hoher Stirne,
großem Auge, langer, etwas gebogener Nase, rothen Wangen und weichem
braunem oder schwarzem Haar, — welch ein Unterschied von dem hellbraunen
Hinterindier, der mit einem schwarzen lockigen Haar eine platt gedrückte Nase
und einen großen hervorstehenden Mund vereinigt; — und wiederum von dem
Chinesen mit plattgedrücktem Gesicht, schiefliegenden, enggeschlitzten Augen und
hervorstehenden Backenknochen!
Wie die Menschenwelt zeigt auch die Thier- und Pflanzenwelt die man-
nigfaltigsten Formen. Es ist, als ob die Natur ihren Erstgeborenen als Vor-
bild für alle anderen Welttheile ausgestattet und den Reichthum aller in Asien
vereinigt hätte. Im hohen Norden bei fast ewigem Winter ist kaum noch ein
Moos oder eine Flechte, seltener noch ein Strauch; nur Seehunde und Eis-
bären bewohnen die eisige Küste. Weiter ins innere Land des Nordens kom-
men die Pelzthiere, welche als Jagdwild auch den Menschen in die unwirth-
lichen Gegenden ziehen und ihm Schutz vor dem Winterfrost gewähren. In
Mittelasien wechseln Salzsteppen und Sandwüsten mit den schönsten Grasebe-
nen, auf denen das wilde Pferd oder vielmehr das Maulthier mit hirschartigem
Halse, Dschiggetai genannt, sich tummelt. In den schönen Hochthälern des
Himalayagebirges, des höchsten Gebirges der Erde, wollen Reisende unsere Ge-
treidearten wild wachsend und darum in jenen Thälern die Heimat jener Ge-
treidearten gefunden haben. Steigt man dann aber bis zu den südlichen Halb-
inseln und Inseln hinab, so zeigt sich die üppigste Fülle der gewürzreichsten
Früchte; in den dichtverschlungenen Wäldern brechen Elephantenheerden sich
Bahn und im sumpfigen Rohr lauert der Tiger auf seine Beute. Der heiße
Gürtel Asiens hat uns den Kaffeebaum und das Zuckerrohr geschenkt, welche
dann mit den Völkern nach Westen gewandert sind; die Glut der Sonne ver-
edelt die Pflanzensäfte zu Gewürzen, Balsam und Heilmitteln aller Art. Kein
Land bietet eine größere Auswahl von Frnchtbäumcn dar; alle unsere edlen
Obstsorten stammen aus Persien, Syrien, Kleinasien. In Hindostan blüht die
Königin der Palmen, die Kokospalme, eine schlanke, vierzig bis fünfzig Fuß
hohe Säule, mit einem sich wiegenden grünen Blätter-Gewölbe, mit Blüthen
und Nußtrauhen Jahr aus Jahr ein. Neben dieser Fürstin stehen als Vasallen
die Wein-, Areca-, Sago-, Dattel- und Schirmpalmen, und die dem Hindu hei-
lige Baniane, deren Aeste sich in einem rechten Winkel zur Erde senken und
aus dieser wieder einen neuen Stamm treiben, so daß ein einziger Baum in ge-
wisser Zeit einen ganzen Wald zu schaffen vermag. Ein berühmter Baum oder
Baumwald dieser Art ist nordöstlich von der indischen Stadt Surate; hätifig
nehmen Karavanen oder Hirten mit ihren Heerden unter ihm ihr Obdach, und
Truppen, 6000 — 7000 Mann stark, finden unter ihm noch heute auf ihren
• Märschen das erwünschteste Lager, die herrlichste Kühlung.
Diese Mannigfaltigkeit der Menschen-, Thier- und Pflanzenwelt läßt den
Beschauer bei den verschiedenen Landschaften Asiens allemal wie vor einem
neuen Bilde staunend stehen. Dort erhebt sich der hohe Kaukasus, der mit sei-
nen kühnen und kräftigen Räubervölkern drohend ins europäische Rußland hin-
216
einschaut; im Südwesten breitet sich das wüstenreiche und mit Datteln geseg-
nete Arabien aus, die Heimat des Propheten; im äußersten Osten Japan, das
in alter Bildung mit China wetteifert, aber viel edlere Bewohner hat, als die
kriechenden, tückischen Chinesen es sind. Von da versetze dich ins kalte Sibirien,
zu den Ufern der reißenden Lena, zu einer Zobeljagd, und wenn du in der
rauhen, kalten Polarluft nach Hitze verlangst, magst du mir den Flügeln deiner
Phantasie über die Hochflächen der Tartarei und die Eisspitzen des Himalaya
hinweg nach Vorderindien eilen und mit den Hindugläubigen ein Marktfest am
Ganges oder Nerbudda feiern. Verlangst du aber asiatische Wilde zu sehen, so
führe ich dich zu den Dajaks aus Borneo, die mit den. Orangutan in guter Be-
kanntschaft leben, aber mit denen nicht gut Kirschen essen ist. In Java endlich
triffst du europäische Kaufleute, asiatische Despoten, und Tiger als Schauspieler.
Aus diesen und andern mannigfaltigen Scenen belebt sich vor deinem Auge das
große Bild des großen Erdtheils.
105. Palästina.
Den eigentlichen Mittelpunkt des Landes bildet die Gegend mit Jerusalem am
nördlichen Ende des Gebirgs Inda. Acht Stunden im Norden von Hebron, noch
im höheren Theile des Berglandes, 2300 Fuß über dem Meer, aber rings von Ber-
gen umgeben (Pf. 125, 2.), liegt Jerusalem, die Hauptstadt des ganzen Landes,
die Stadt des ewigen Königs, der heilige Berg Gottes (Pf. 2, 6. 68, 16. 17. 132,
13. 14. Jes. 2, 2.), die starke Festung des Volks Gottes, die Pforte der Völker
(Hesck. 26, 2.), aber auch die Stadt, da unser Herr gekreuzigt ist (Offenb. 11, 8.).
Die hügelige Bcrgfläche der Stadt ist ans drei Seiten von tiefen Thalschluchten wie
von Festungsgräben umschlossen, im Osten durch das Kidrönthal von dem höheren
Oelberg geschieden, im West und Süd durch das Thal Bcn-Hinnom gegen das Land <
des Stammes Inda abgegrenzt (Job. 18, 1.); im Norden der Stadt ist eine hohe
Fläche, mit Ocl- und Feigcngärten bepflanzt. Der Haupttheil der Stadt ist der
breite, südwestliche Hügel, ans welchem die Burg Zion, die Feste der tapferen Je-
busiter, nach Davids Eroberung Davidsstadt genannt (2 Sam. 5, 6 — 9.), stand.
Die Ringmauer desselben war noch verstärkt durch einen prächtigen Marmorpalast
mit gewaltigen Thürmen, welchen der König Herodes ans der Nordwestseite erbaute,
während an der Nordostecke einst der Königspalast Salomos, das „Hans vom Walde
Libanon" (1 Kön. 7, 2. 10, 17), die Residenz aller Könige von Juda, stand, von
wo man ans einer Brücke über ein schmales, durch die Stadt herabziehendes Thal
zum Tempel ging (2 Chrou. 9, 4.). Im Norden des Zion breiteten sich die übrigen
Stadttheile ans, in späteren Zeiten Akra und Bezetha, d. h. Neustadt, genannt, und
durch zwei starke Mauern geschützt. Im Osten, der Stadt gegenüber, liegt der
Tempelberg Morija (2 Chron. 3, 1.), durch Kunst geebnet und mit ungeheuren
Werkstücken ausgemauert, um das Tempelhaus mit seinen Vorhöfen und prächtigen
Hallen aufzunehmen. Stnfenartig über einander liegend umschlossen die Vorhöfe de:
Heiden, der Weiber und Israeliten und der Priester das marmorne Tempelgcbände,
dessen innere Theile, das Heilige und das Allerheiligste, mit Ledern getäfelt und reich
mit Gold verziert waren. Dies war der Tempel Jehovas, dessen Stelle Davids
Opfer geweiht, und welchen Salomo mit großer Pracht erbaut, Nebucadnezar, der
König von Babel, zerstört, Serubabel wieder aufgebaut in kümmerlicher Zeit, der
syrische König Antiochns Epiphanes mit heidnischem Götzengreuel freventlich
entweiht, Herodes der Große aber größer und prächtiger wieder hergestellt hatte,
ein Wunderwerk damaliger Baukunst. Hier war der Ort, den der Herr erwählt
hatte zu seiner „Wohnung" im Dunkel des Allerbeiligsten (1 Kön. 8, 12.), wo die
Priester ihm opferten im heiligen Schmuck, das Volk anbetete in seinen Vorhöfen;
das Haus Gottes, das durch die Erscheinung Christi, des Sohnes Gottes, in dem-
selben aufs höchste verherrlicht, aber da ihn sein Volk verwarf, zur Slätte der Ver-
wüstung wurde, an welcher gemäß den Worten Christi kein Stein aus dem andern
blieb (Matth. 23, 38. 24, 1. 2.). Im Jahr vier und sechzig nach Christo wurde
der Tempel vollendet und sechs Jahre nachher in der Zerstörung Jerusalems durch
die Römer verbrannt. Jetzt steht an seiner Stelle ein schönes muhammedanisches
Bcthaus, und nur von den alten Mauern der Vorhöfe sind noch die Grundlagen
aus ungeheuren, schön gehauenen Steinen übrig geblieben als Zeugen der einstigen
Größe des ganzen Baues (Marc. 13, 1?). An der Nordweftseite des Tempels stand
zur Zeit Christi die Burg Antonia, die den Tempel beherrschte und durch Trep-
pen mit ihm verbunden war; hieher ward Paulus gefangen geführt (Apoftelg. 21,
34. 35. 40.).
Am Fuße des Zion iin Südosteu liegt der Teich Silva h (Joh. 9, 7.), der
sein Wasser durch einen unterirdischen Felsenkanal des Königs Hiskia (2 Chron. 32,
3. 4. 30.) von einer verborgenen Quelle empfängt; seine ausflicßeuden Gewässer
machen die Gegend im Winkel der zusammenstoßenden Thäler Kidron und Hin-
ii oiii, wo einst die Königsgärten und Keltern lagen (Reh. 3, 14. Sach. 14, 10.),
zu einem allezeit grünenden Garten, zum lieblichsten Ort in der sonst öden und
steinigen Umgebung Jerusalems, wo aber auch einst die abgöttischen Israeliten im
Thophct ihre Kinder dem Moloch verbrannten (2 Kön. 23, 10. Jercm. 7, 31. 32.).
Nicht weit davon im KiDromhal abwärts ist der Brunn Rogel (Jos. 15, 7. 1 Ko».
•1, 9.), das Thal aber zieht von da als eine tiefe Felsschlucht nach Südosten hinab
zum todten Meer. Weiter aufwärts in demselben, dem Tempel gegenüber, am Fuß
des Oelbergs bezeichnen noch jetzt acht alte Oelbäume die wahrscheinliche Stelle des
Gartens Gethsemane, wo der Heiland in heißem Seelenkampfe mit dem Tode
rang (Matth. 26, 36.). Im Süden, Osten und Norden umzieht die Stadt in
weitem Bogen eine Todtenstadt unzähliger, alter Felsgräber, zum Theil von Königen,
Hohenpriestern und andern. Die Stätte der Kreuzigung Christi aber, Golgatha, und
das heilige Grab ist ungewiß.
Längs der ganzen Ostleite der.Stadt zieht sich der Oelberg in drei Spitzen
von Nord nach Süd hin, deren mittlere die höchste ist, 2530 Fuß über dem Meere.
Von diesem Berge aus fuhr Jesus ans gen Fimmel vor den Augen der Jünger (Apostelg.
1, 12. Luc. 24, 50. 51.). Ueber den Oelberg zog der Herr herab, und da er die
Stadt ansah, weiucte er über sie (Luc. 19, 41.). Eine weite Aussicht über die
Stadt und das Land »ach allen Seiten hin eröffnet sich auf seinem Gipfel; insbe-
sondere nach Osten über die öde Felswüste zwischen Jerusalem und Jericho, den
Aufenthalt der Räuber (Luc. 10, 30.), hinab in die Tiefebene des Jordanthales mit
den buschigen Ufern des Flusses und auf,daS stille Gewässer des todten Meers,
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218
und jenseits auf die hohe Gebirgswand des östlichen Landes, auf dessen Höhe einst
Moses den ersehnten Anblick des gelobten Landes genoß und starb (5 Mos. 34,
1—6.). Die Stadt selbst bietet, besonders vom Oelberg gesehen, immer noch einen
prachtvollen Anblick (Matth. 24, 1 — 3.); aber der Schmuck ist hinweg von der
Tochter Zion, und ihr Inneres ist erfüllt mit dem Schutt und den Trümmern der
alten Größe der heiligen Stadt, die nun so lange von den Heiden zertreten (Luc.
21, 24.) und durch den Aberglauben der dortigen Christen entweiht ist. Dennoch
wünschen wir Jerusalem Glück und hoffen, daß Zion gebaut werde. Die neuge-
baute evangelische Kirche auf dem Berge Zion ist nun feierlich eingeweiht worden;
sie steht aus dem Platze des obengenannten Königspalastes des Herodes. Ist dies
auch nur ein schwacher Dämmerungsschein der Morgenröthe, so wird doch dereinst
der helle Tag nicht ausbleiben, der über die Stadt Gottes verheißen ist, da der
Herr ihr ewiges Licht sein wirb, und ihre Mauern Heil und ihre Thore Lob heißen
werden (Jes. 60, 18. 19.).
Nach einem schnellen Lauf von wenigen Stunden durch ein enges Thal tritt
der Jordan über eine kleine, sumpfige Ebene in den See Gcnezareth (Luc.
5, 1.) oder Tiberias (Joh. 6, 1. 21, 1.), auch galilaisches Meer genannt
(Matth. 4, 18. 15, 29.), im alten Testament Meer Kiuneroth (4 Mos. 34, 11.
5 Mos. 3, 17. Jos. 12, 3.). Dieses schöne, eirunde Seebecken, etwa sechs Stunden
laug und drei breit, liegt wie das ganze Jordanthal mehrere hundert Fuß tiefer,
als die Fläche des Mittelmeers, und hat daher auch, geschützt durch die hohen Berge
umher, ein heißeres Klima, als die umgebenden Hochländer, und ein reicheres Ge-
deihen der Gewächse. Der blaue Spiegel des klaren, kühlen, wohlschmeckenden und
fischreichen Wassers ist meistens still, aber doch plötzlichen Windstößen und heftigen
Stürmen ausgesetzt (Matth. 8, 24. 14, 24.). An der Westseite breitet sich in der
Mitte eine kleine, gut bewässerte und äußerst fruchtbare Ebene aus, das eigentliche
Land Gcnezareth (Matth. 14, 34.); das ganze Gestade des Sees war einst
reich an Dattelpalmen, Wein, Oel, Feigen, Melonen und andern Südfrüchten, dicht
besetzt mit überaus volkreichen Städten ttnd Dörfern, Ufer und See äußerst belebt
durch Ackerbau und Handel, Schifffahrt und Fischerei. Hier war der Lieblingsaus-
enthalt des Herrn, wo er gerne wohnte, hin- und herwandclte durch die Ortschaften, <
lehrte und heilte. Da war Kapernaum, „seine Stadt" (Matth. 4, 13. 9, 1.),
eine Grenz- und Zollstätte (Matth. 9, 9.), mit einer römischen Besatzung (Matth.
8, 5.), unfern des Jordaneinflusses, die Heimat der Schwieger Petri, die Jesus
heilte (Matth. 8, 14.) und mit ihr viele Andere (Matth. 9, 1—7. Marc. 2, 1—10.
Luc. 4, 33 — 35.). Weiter hin nach Süden Bethsaida, die Heimat des Petrus
und Andreas, des Johannes und Jakobus, und des Philippus (Joh. 1, 44. 12, 21.
Marc. 1, 16—20.), welche Jesus von den Schiffen und Netzen hinwegberief; in der
Ebene Genezareth, an ihrem Südende, Magdala, der Wohnort der Maria (Marc.
15,40. Luc. 8, 2. Joh. 20, 1.); noch weiter nach Süden Tiberias, die königliche
Stadt (Joh. 6. 1. 23.), in deren Nähe warme Bäder sind. Dies war der See,
auf dem der Herr predigte (Matth. 13. 2.), wandelte (Marc. 6, 48. Joh. 6, 19.),
den Sturm stillte (Matth. 8, 23 — 27.) und oft hinüber- und herüberschiffte, da er
in der Wüste bei dem jenseitigen Bethsaida, an der Nordostleite des Sees, Tau-
sende mit Wenigem speiste (Luc. 9, 10.), und im Südosten des Sees, im Gebiet
der Zehnstädte, Besessene heilte (Matth. 8, 28—34.). Jetzt sind diese lieblichen U-ser
einsam, der See still, die alten Orte in Trümmern (Matth. 11/21—24.).
219
Zögernd fließt endlich der Jordan in das todte Meer, den größten der drei
Seen im Jordanthal. Dies ist das Meer im Gefilde oder Blachfeld (5 Mos. 3,
17.) oder das Salzmeer (1 Mos. 14, 3. Jos. 3, 16.). Eingeschlossen von jähen
Bergwänden von 1500 — 2500 Fuß Höhe, die auf beiden Seiten unmittelbar ans
Ufer treten und im Westen besonders mit ihren tief eingerissenen, engen Schluchten
einen düstern Anblick von Wildheit und Oede darbieten, ist der Thalkessel 1337 Fuß
unter der Fläche des Mittelmeeres eingesenkt, vier bis fünf Stunden breit und etwa
zwanzig Stunden lang von Norden nach Süden und hat deßhalb, den »»umwölkten
Strahlen einer südlichen Sonne länger als ein Halbjahr ausgesetzt, ein Klima und
Gewächse wie Egypten (1 Mos. 13, 10.). Fast bis zur Hälfte seines Gehaltes mit
Salz durchdrungen, ist das Wasser schwer, still, kaum vom Winde erregbar, ein voll-
kommenes Bild des Todten, dabei unerträglich bitter schmeckend und nicht ganz durch-
sichtig. Kein Fisch, noch irgend ein Wasserthier oder Seegewächs kann darin leben;
seine Schwere läßt keinen Menschen darin untersinken. Ohne einen Ausfluß zu
haben, verdünftet das Wässer nur von der Sonnenhitze, jedoch ohne eine ungesunde
Ausdünstung, und überzieht daher das ganze Ufer mit einer Salzkruste, die keine
grünen Pflanzen an ihm wachsen läßt; nur Raubvögel, Tauben und Schwalben
nisten auf den umgebenden Felsklippen und beleben die traurige Einöde. An der
Westseite, fast in der Mitte derselben, liegt der einzige Ort En ge di am Fuße eines
furchtbar steilen Paßweges, der von Süden her im Zickzack an der Felswand hin-
ausführt ans die Höhe des Gebirgs, an einer schönen Quelle, welche den einst an
Palmen (1 Mos. 14, 7. 2 Chron. 20, 2.), Wein (Hohcl. 1, 14.) und Balsam rei-
chen Ort zu einer lieblichen Oase mitten in der FelSwüste machte. Im südlichen
Theil des Meeres tritt von Osten her eine kleine Halbinsel zwei Stunden weit in
dasselbe herein, wodurch am Südende eine besondere Bucht entsteht, deren User überall
seicht und oft überschwemmt ist. Hier war einst das Thal Siddim, wasserreich,
schön und fruchtbar wie der Garten des Herrn (1 Mos. 13, 10. 14, 3.). mit Quellen
von Erdharz, die noch jetzt im Grunde des Meeres vorhanden sind (1 Mos. 14, 10.);
hier lagen die Städte Sodom, Gomorrha, Adama, Zeboim und Z oar.
Als aber der Herr um ihrer himmelschreienden Sünden willen Schwefel und Feuer
Lom Himmel regnen ließ und die Städte umkehrcte, da entstand das Salzmeer, und
nur Zoar blieb übrig um Lots willen, das an der Ostseite jener Insel liegt, und
durch seine Palmen noch lange Zeugniß gab von der ehemaligen Fruchtbarkeit dieser
Gegend. Am südlichen Ende dieses Salzmeeres ist das Salzthal (2 Sam. 8, 13.
2 Kön. 14, 7.), in welchem an der Westseite ein drei Stunden langer, niedriger
Berg von lauterem Steinsalz liegt.
Hoch über allen diesen Hoch- und Tiefebenen, Thälern und Bergen stehen im
Norden die gewaltigen Gebirgsläudcr Libanon und Hermon, zwei langgestreckte
schmale Hochketten mit mächtig anfgethürmten Gipfeln. Jener vom Meeresufcr
rasch aufsteigend bis zur Höhe von 8 — 9000 Fuß und seiner weißlichen Kalkfelsen
wegen „der weiße" genannt, ist berühmt durch seine Cedernwälder und die ungemeine
Fruchtbarkeit seiner Thalgehänge, das Bild alles Großen und Herrlichen, alles Er-
habenen und Gewaltigen (Hohel. 5, 15. Hos. 14, 6—7. Jes. 35, 2. 37, 24. Nah.
1, 4. Ps. 29, 6.). Der Hermon, noch um 100 Fuß höher als der Libanon, er-
hebt sich mehr einsam unter niedrigeren Gebirgsreihen; er ist die weithinsichtbare
Schneekuppe und Landmarke von Syrien und schaut wie ein ehrwürdiger „Alter",
das Haupt' mit einem Schneeturban umhüllt, in majestätischer Ruhe herab ans das
Land um ihn her (Ps. 133, 3.).
AVDvKUSBSl ~
Das ganze gelobte oder verheißene Land, im schönsten Theile des gemäßigt-
warmen Erdstrichs, am Meere und doch hoch gelegen, war einst in Wahrheit durch
Gottes Segen und der Menschen Fleiß ein gutes, edles Land, ein Land, da Milch
und Honig floß (5 Mos. 8, 7—9. Jos. 23, 13. 2 Mos. 3, 8. 17. 13, 5. Hesek.
20, 6.), ein Land, dem der Herr Regen gab zu seiner Zeit, Frühregen und Spät-
regen, einzusammeln Getreide, Most, Oel und Gras des Feldes; auf das die Augen
des Herrn immerdar sahen von Anfang des Jahrs bis ans Ende (5 Mos. 11, 12
— 15.). Da ist nicht der große Abstand zwischen den längsten und kürzesten Tagen,
zwischen Sommerhitze und Winterfrost, noch die schnelle Abwechslung von Warme
und Kälte, wie in unsern nördlicheren Ländern. Der längste Tag währt von Mor-
gens fünf Uhr bis Abends sieben Uhr, der kürzeste von Morgens sieben Uhr bis
Abends fünf Uhr; für beide aber wurden immer zwölf Stunden gerechnet (Joh. 11,
9.). Die Jahreszeiten sind Sommer und Winter (1 Mos. 8, 22.). Der Winter
oder die Regenzeit beginnt gegen Ende Oktobers niit dem Frühregen, der das Feld
zum Pflügen und Säen zubereitet und das dürre Land mit frischem Grün bekleidet
(Ps. 65, 11. 68, 10.), dessen Ausbleiben aber ein Gericht Gottes über das Land ist
(1 Kön. 17. Sachar. 14, 17.). Dann folgt im December die anhaltendere, kältere
Regen- und Schneezcit (2 Sam. 23, 20. Jerem. 36, 22—24.); aber schon im mil-
deren Februar blühen die Bäume, vor allen der Mandelbaum, und die Saaten wachsen
heran, bis nach einigem Wechsel der Witterung der Spätregen im April das Getreide reift,
woraus die Sommerfrucht gesäet wird, und nach gänzlichem Aufhören des Regens
(Spr. 26, 1.) die Ernte beginnt mit dem zweiten Tage des Passahfestes, im tieferen
Lande Ende Aprils, auf den Höhen später. Nun tritt die heiße Jahreszeit ein mit
beständig heiterem Himmel bis in den Oktober, in welcher das Grün verdorrt, die
Quellen vertrocknen, der Glutwind von der Wüste oft das Land versengt, aber alle-
zeit reichlicher Thau die Fluren erquickt, und vom Juni an die Trauben und andere
Sommerfrüchte zeilig werden. Quellen und Bäche oder gegrabene Brunnen
und Cistcrnen wässerten einst das Land (5 Mos. 8, 7.), deren viele setzt vertrocknet
und verschüttet sind. Stattliche Wälder immergrüner Eichen und Terpentinbänme
schmückten die Höhen und Abhänge der Berge; die schattige Platane, derhohe Buchs-
baum und die gewürzige Myrte, die schlanke, ernste Cypresse, vor allen aber dll
majestätische und wohlriechende Ceder des Libanon waren eine Zierde des Landes.
Köstliche Fruchtbäume waren allenthalben gepflanzt: die herrliche Dattelpalme, das
Wahrzeichen des Landes, das Bild des Segens und Gedeihens, Mandel- und Gra-
natbäume, Quitten und Pistazien, Johannisbrod (von Luther „Trüber" überjetzt, Luc.
15, 16.) und Maulbeerfeigenbäume, besonders der nützliche Feigenbaum, dessen Früchte
ein gewöhnliches Nahrungsmittel, dessen Lauben ebenso geeignet sind für fröhliche
Geselligkeit (Sach. 3, 10. 1 Kön. 4, 25.), als für die Einkehr in die Stille (Joh.
1, 48.), und der noch jetzt am häufigsten gepflegte, dnnkelbelanbte Oelbaum mit sei-
ner hochgeschätzten Frucht. Durch das ganze Land waren Weinberge mit vorzüg-
lichem Gewächs, die reichlich tragenden Felder (1 Mos. 26, 12. Matth. 13, 8.) mit
Getreide, namentlich Weizen und Gerste, und mit Gemüsen aller Art bepflanzt,
jedes Fleckchen Boden in Thälern und auf Bergen von der fast unglaublich zahl-
reichen, fleißigen Bevölkerung aufs sorgfältigste benützt und durch Terassenbau und
Bewässerung ertragsfähiger gemacht, Wielen und Weiden voll unzählbarer Heerden
von Rindern und hauptsächlich Schafen (Ps. 65, 10—14.).
220
106. Jerusalem.
Es waAein feierliches Erwachen am ersten Morgen, der mich in Jerusa-
lem begrüßt^ Kaum graute der Tag, so zitterte meine Seele schon vor
Erwartung dessen, was ich sehen sollte. Langsam ging die erste Stunde des Mor-
gens vorüber, und wir drangen in unsern Führer, uns dem Heiligthume zuzu-
führen. Fast bangte mir, festen Fußes aufzutreten, als wir in die Grabeskirche
eintraten. Meine Augen waren wie getrübt, und meine Seele ergriffen wun-
derbare, heilige Gedanken. Ohne daß ich wußte, wie mir geschah, war ich aus
dem Grabesgeheimniffe herausgetreten und hatte die Terrasse der Kirche erstie-
gen, von welcher man ganz Jerusalem übersehen kann. Da lag ste vor mir,
die Stadt der Jahrtausende, und erschien mir wie eine Wittwe in ihrer Trauer.
Die Jahrhunderte, welche auf ihr liegen, die vor Alter sinkenden Oelbäume, die
Grabmale mit den weißen Steinen, die durchlöcherten Felsen, das zerstreute
Gemäuer, Alles erinnert an die schweren Begebnisse, die diese Stadt erlitten
hat. Darum vermeint der Fremdling, es sollte stille sein in ihr wie in einem
Trauerhause, und die Menschen sollten mit verhüllten Häuptern auf ihren
Gassen einhergehen. Aber auch dieses Trauerhaus von Jahrhunderten ist vom
Getümmel der Menschen nicht verschont geblieben, und überall drängen sich
Käufer und Verkäufer, zudringliche Führer und gieriges Gesindel.
„Sehen Sie", sagte mein Führer, „dieser Weg, der zur Grabeskirche
führt, ist der Schmerzensweg." — Hier ist kein Stein und keine Platte, die
nicht Zeugen einer großen Begebenheit wären. Dieser Rauin hat den Heilig-
sten gesehen in <zller seiner Schmach, ihn, den Verurtheilten und Leidenden, den
Dorngekrönten und unter der Last des Kreuzes zum Tode Geführten. Welch
heilige Erinnerungen sind mit diesen Steinen eingebaut, wie viele tausend Her-
zen seit Constantins und Helenas Zeiten haben über diesen Anblick geblutet,
sind von diesem Anblicke getröstet wieder von dannen gezogen! „Dorthin im
Süden liegt Bethlehem", sprach der Führer weiter. Pethlehem, die anmuthigste
unter den Städten! Sie liegt so friedlich auf denl Berge und die hohe Sonne
schaut so ruhig auf sie, daß ich mich nicht erinnere, irgendwo einen Ort gesehen
zu haben, der mit solcher Anmuth solche Majestät verbände. — Dort zur Lin-
ken zwischen den Hügeln dehnt sich das Thal der Hirten; eng und still liegt es
zwischen den Bergen, und nur wenige Bäume bekränzen seinen Saum. Dort
haben in der heiligen Nacht die Heerschaaren des Himmels zuerst den Aermsten
unter dem Volke das neue Heil verkündet. Viele Klöster erheben sich über die
Häuser von Bethlehem, und die Kuppel, welche anl höchsten hervorragt, gehört
der durch die Kaiserin Helena erbauten Kirche an, welche über der heiligen
Grotte steht, da Ehristus geboren ist.
„Welches Namens ist dort die Burg", fragte ich den Begleiter, „welche
nur einige hundert Schritte von hier auf dem Gipfel jenes Hügels steht?" —
„Das ist die Davidsburg auf Zion"-, sagte der Führer. Hier hat der Mann
gewohnt, der größte seiner Zeit, der ein Prophet war, ein Dichter und ein
König. Non hier aus konnte er Jerusalem beschauen und den Zug des
Jordanthals in der Ferne, die Terebinthen und Olivenbäume betrachten,
wie sie schmücken die Häupter der Hügel. Gegen Südost liegt vor dem Auge
des Beschauers das Thal Josaphat, die Moschee aus Morija und weiterhin der
Kessel des todten Meeres. — Kein Anblick vermag die Seele mit so trüben
Gedanken zu erfüllen, wie das Thal Josaphat, ein enges Thal zwischen zwei
Hügeln, deren einer den Oelberg, der andere die Stadt Jerusalenl auf seiner
Höhe trägt, von dem fast wasserlosen Kidron durchschlichen. Niemals scheint
die Sonne in diese düstere Tiefe^Morgens verbirgt sie sich hinter dem Oel-
bergs und Nachmittags hinter Morija. Es ist das Thal der Schatten und
der Gräber, und wer über die Brücke geht, die dort den Kidron überbaut,
wird von unwillkürlichem Schaudern ergriffen. Rechts von der Brücke befin-
den sich die Gräber Absalonö, Josaphats und Sacharjas. Betende liegen in
der Nähe dieser Gräber aus dem Boden hingestreckt, und eine Masse aufge-
schichteter Steine vermehrt das Traurige dieser Stätte. —
„Dort im Osten", sagte der Führer zu mir, „sehen Sie den Oelberg,
und jenseits an seinem östlichen Fuße liegt Bethanien." — Nächst Bethlehem ist
Bethanien gewiß das lieblichste Dörflein, und theure Erinnerungen knüpfen
sich an diese Stätte. Hier hat Lazarus gewohnt und Maria und Martha; in
ihrem Kreise hat Jesus ausgeruht von der heiligen Arbeit, um neue Kräfte zu
sammeln zur Ausführung seines schweren Berufes; hier hat der aus Jerusalem
Verstoßene ein Obdach, der Heimatlose eine Heimat, der von seinem Volke
^Verachtete Liebe und Ehre gesunden. Bethanien möchte ich den Ort der stillen
Liebe nennen. Es ist so einsam, so traulich an den Berg gebaut, rings von
schattigen Bäumen, von grünenden Feldern umgeben, daß man Wohnung
darin machen möchte, umgeben von geliebten Herzen. Unten am westlichen
Fuße des Oelbergs liegt Gethsemane, und oben aus dem Gipfel die Himmel-
sahrtskirche. Wie ein Berg des Friedens i.st der Oelberg mit seinen Bäumen
anzuschauen. Fast konnte ich mein Auge nicht wenden von den heiligen Hü-
geln mit ihren unvergeßlichen Erinnerungen.
107. Afrika. "
Die Kultur Afrikas, nm arm erscheint sie, wenn man sie mit der von Asien
vergleicht! Auf Asiens Erde 'rubk Noch immer der Segen des Paradieses, und die
Despotie erscheint dort noch mild nnd menschlich im Vergleich zu der Sklaverei,
-,
223
unter welcher Millionen der schwarzen Bewohner Afrikas leben. Man möchte sagen,
Afrika trage schwer den Fluch Hams. Der Mensch ist hier zur Äaare herabge-
sllnken, Menschenopfer bluten noch fort zu Lausenden; die Hitze tobt in dem Blute
des Menschen und macht sie grimmig wie die wilden Thiere, von denen sie überall
umgeben sind. Wenn man die Südspitze und die hohen Berge abrechnet, ist jeder
Punkt Afrikas heißer, als die wärmsten europäischen Länder; nirgends hatte die
Menschheit eine mildere Luft und einen günstigern Boden, wo der Geist sich sammeln
und seine Kräfte entwickeln lernte. Nur der nördliche Rand ist frühzeitig, haupt-
sächlich durch Einflüsse von Asien, Kulturland geworden; Algier im Norden, die Kap-
kolonie im Süden können wieder eine Nolle in der Geschichte spielen, aber nicht
durch afrikanischen Geist, sondern durch europäische Kraft, von den Franzosen und
Engländern in diesen Welttheil getragen.
Afrika hat von allen Erdtheilen die ungünstigste Lage und Gestaltung seiner
Oberfläche erhalten; denn es liegt fast ganz in der heißen Zone, wenn es schon im
Norden und Süden bis in den gemäßigten Erdgürtel reicht. Die Hitze versengt und ver-
brennt daher nicht bloß den Pflanzenteppich der Erde, sie tödtet auch den Europäer, der
es wagt, ihr Trotz zu bieten. Nur eine Negerhaut vermag die afrikanische Hitze
ohne Schaden zu ertragen und den heißen, alle Lebenssäfte ausdörrenden Wüsten-
winden zu widerstehen. Selbst zu Kairo in der Nähe der kühlenden Luft des mit-
telländischen Meeres ist die mittlere Jahrestemperatur gegen 18 ° Reaumur (d. h.
des achtzigtheiligcn Thermometers), während si> in Stuttgart gegen 8° beträgt.
Dabei ist der Wechsel zwischen Tageshitze und Nachtkühle höchst empfindlich, und
mancher Reisende ist schon an den Folgen der Erkältung gestorben. Die Jahres-
zeiten kennen nur den Wechsel zwischen Trockenheit und Regen, und während des
über ein halbes Jahr dauernden, trockenen Sommers erquickt kein Regen, in einigen
Gegenden auch kein Thau die öde, lechzeude Flur; ein wolkenloser, tiefblauer Him-
mel wölbt sich über der dürstenden Erde. Schnell steigt die Sonne senkrecht über
den Rand der Wüste empor, und wie die Jahreszeiten, welche im Süden Afrikas
den unsrigen entgegengesetzt sind (im Kapland findet die Weizenernte im December
und Januar statt), so folgen auch Tag und Nacht in schroffem Wechsel. Eine Däm-
merung erquickt hier nicht das von den grellen Farben geblendete Auge. Selbst die
in manchen Gegenden starken Regen der kühleren sogenannten Winterszeit bringen
wenig Erquickung, und die Gewitter, so heftig sie auch sind, reinigen die Luft nur
auf kurze Zeit. Und wenn dann, nach achtmonatlicher Dürre, der Pflanzenschmuck
mit aller Farbenpracht und üppigen Fülle schnell wie durch Zauberei aus dem ver-
kohlten Boden aufschießt; so ist wieder der Körper des Menschen so erschlafft, daß
ihm die Freude an der schönen Natur vergeht. Der Mensch ist immer nur an sein
leibliches Dasein gemahnt, der Hunger, die Furcht oder die Rache treiben ihn allein
zum Handeln, und der Gedanke an eine höhere Welt kommt nicht in die Seele.
Vielleicht mehr noch, als das heiße Klima, ist die Gestalt des großen Erdtheils
einem regen und frischen Geistesleben hinderlich gewesen. Afrika ist auf allen Seiten
verschlossen, es hat den allereinförmigsten Küstensaum, die allerdürftigste Jnselbil-
dung, die unzugänglichsten Küsten. Nur da, wo das Meer zum Innern eines Erd-
theils dringt und Halbinseln bildet, wird das Bedürfniß nach gegenseitigem Verkehr
unter den Völkern angefacht. In Afrika ist aber da, wo sich die Wüsten ius Meer
erstrecken und niedere Küsten bilden, das Schiff der Gefahr des Strandens ausge-
setzr, an der Südhälste des Erdtheils fällt aber fast überall die Küste schroff ab, und
224
das Meer brandet, als wellte es jedem Reisenden den Zugang versperren. Der
guten Hafenbuchten ist nur eine geringe Zahl, und diese bringen dann noch andere
Klippen dein Europäer entgegen, nemlich Fieber und Krankheiten aller Art. Im
Innern des Weltthcils scheint kein aumuthiger Wechsel zwischen Bergländern
und Tiefebenen, zwischen Hochflächen und Stufenländern zu sein: bald auf den
wechselreichen Saum der Berberei folgt die schreckliche Sahara, ein Sandmeer fast
so groß, als Europc. und größer als jede andere Wüste des Erdballs; südlich von
dieser Wüste erhebt sich ein gewaltiges Hochland, das noch unbekannter ist als die
Wüste, und das als eine zusammenhängende, unermeßliche Hochfläche gedacht wird,
die wie im Süden zum Kapland, auch im Westen und Osten in kurzen, steilen Stufen
zum Meer abfällt, und dessen Nordabfall zur Wüste eben jetzt von deutschen Reisen-
den durchforscht wird. Dieses, wie man meint, unwirthliche Hochland bildet ein
Dreieck, das nur im Süden und in zwei nördlichen Vorsprüngen ein regeres Leben
zeigt; dort im Kapland, hier im nordwestlichen Kong-Gebirge mit den Stnfenländern
des Senegal, Gambia und Niger, und im nordöstlichen abyssiuischen Alpenland, das
sich hauptsächlich zum Nil abstuft. Bei so ungünstiger Gestaltung der Oberfläche
konnten sich'mit Ausnahme des Nils keine so großen Stromgebiete entwickeln, wie
es in Asien und Amerika der Fall ist. Afrika ist wasserarm; manche seiner Flüsse
vertrocknen ans längere Zeit, oder verlieren sich bei ihrem Ausfluß im Sande, oder
sind wieder so reißend und Wasserfälle bildend, daß sie die Beschiffung unmöglich
machen.
Alles ist heftig und gewaltsam; so gibt cs hier auch die größten Kolosse unter
den Gewächsen. Der Affenbrodbaum ist der Elephant der Gewächse; sein Stamm über-
trifft vielleicht alle Baumarten an Umfang; dieser beträgt zuweilen über 80 Fuß,
der Durchmesser (Breite) der Krone über 130 Fuß. Die Waldungen strotzen von
unzählbaren Gattungen der feurigsten Gewürze, der nahrhaftesten Früchte und der
schönsten Farbhölzer. Der Bntterbanm im westlichen Binnenlande ersetzt durch die
Butter, die man aus den Kernen seiner Früchte gewinnt, die fehlende Thierbntter so
gut, daß mau diese Pflanzenbntter fast nicht von der unsrigen zu unterscheiden ver-
mag. Viele Arten von Palmen, besonders die Dattelpalme, Pisang, Ananas, Tama-
rinden, Feigen, die nahrhafte Kassave, aus deren Wurzel Brod gemacht wird, ge-
deihen in den fruchtbaren Erdstrichen zu besonderer Vollkommenheit; so auch im
sumpfigen Küstenland die Manglebänme, deren jeder wieder einen kleinen Wald um
sich bildet, indem seine Zweige, wie die der indischen Banianen, wieder Wurzeln treiben
Im Innern der Gebirge findet sich Gold und im Sande vieler Flüsse Goldstaub.
Afrika hat viele gewaltige Thiergestalten; da findet sich der Elephant, das Rhinoze-
ros, der Löwe n. s. w. Dem Erdtheil gehören eigenthümlich an: die schlanke Giraffe,
das plumpe Flußpferd und andere; unter den Hausthieren hat cs das nützliche
Kameel.
Was endlich die Menschen betrifft, so ist der schwarze Neger der Kernstamm von Afri-
kas eingeborner Bevölkerung, und das Land um den oberen Niger, das um den Nil und
das Land um den großen Binnensee (Tschadsee) zwischen jenen beiden Flüssen sein Wie-
genland. Der Blick ans diese schwarzhäntigen Menschen ist aber kein erfreulicher.
Nicht zu gedenken der Tausende, die bis jetzt alljährlich in die Sklaverei geschleppt
wurden, reiben sich die kräftigeren Stämme unter einander selbst auf in Kriegen und
Menschenopfern. Wie roh und grausam, wie so abgestumpft für die edlere Mensch-
lichkeit sind die Aschantis mit ihrem Sklavenhandel und ihren Menschenopfern! Ilud
$ i
rnSILim
225
doch sollen sie in Gesittung allen andern Völkern der Guineaküste weit überlegen
sein. Andere Schwarze sind wieder so stumpfsinnig, so schwach und trage, daß man
an ihrer Bildungsfähigkeit verzweifeln möchte.
Im Süden wohnen die kleinen Buschmänner, die starken Hottentotten und krie-
gerischen Kaffern, welche den Kolonisten so viel zu schaffen machen. Bei diesen
Völkern zeigt sich schon der Uebergang zur malayischen Nace und eine schmutzig-
gelbe Hautfarbe. Auch an der Ostküste mildern sich die Farben und Gcsichtszüge
der Völker. Die Abyssinier sind ein nicht negerartigcr Stamm; ihnen benachbart
sind die schon stark mit Negerblut vermischten Nubier. Die Bewohner Egyptens sind
größtentheils arabischer Abstammung. Die Berbern (in der Berberei oder den Bar-
bareskenstaatcn) sind Nachkommen jener alten Numidier und Karlhager, mit denen
Griechen, Römer und Vandalen sich vermischten. Die Mauren, welche die Sahara
und den Sudan bis an den Senegal durchschwärmen, sind eine arabische Spielart.
Das Christenthum hat noch wenig festen Fuß in Afrika gewonnen, obgleich seit
Jahren europäische Missionäre an der Westküste mit aufopfernder Thätigkeit arbeiten.
Wohl ist es bei den Kopten (in Egypten) und bei den Abyssiniern seit alten Zeiten
heimisch, aber gegenwärtig so entartet, daß es keinen Einfluß auf das Leben übt.
Die Hauptmasse der afrikanischen Völker ist einem fratzenhaften Götzendienste ergeben,
die Ungeheuer der Lüste, des Meeres und der Erde sind die Bilder für die Gottheit,
Zauberei und Fehtischdienst stehen noch in voller Blüthe. So hell und grell das
irdische Licht, so finster ist das Licht des Geistes bei den afrikanischen Menschen.
108. Der Sklave.
Ein Negersklave in Westindien hatte sich durch sein christliches
Betragen das Zutrauen seines Herrn erworben. Als dieser einst neue
Sklaven brauchte, nahm er ihn mit auf den Sklavenmarkt und be-
fahl ihm, solche auszusuchen, die er für die besten hielte. Der Sklave
hatte sie ausgesucht, da sah er noch einen alten, abgelebten Mann.
„Massa (Herr)", sprach er, „den müßt ihr noch in den Kauf haben."
-7- „Warum?" fragte der Herr. — „O Massa", antwortete der Ne-
ger, „ihr müßt ihn haben!" Der Sklavenhändler, der wohl ohne-
hin an dem Alten nicht viel zu verdienen wußte, willigte ein. Nicht
lange nachher, nachdem der arme, alte Mann seinem neuen Herrn
angehörte, wurde er sehr krank. Der fromme Neger pflegte ihn und
bezeigte ihm alle kindliche Aufmerksamkeit, so daß es seinem Herrn
unmöglich entgehen konnte.
„Was hast du mit dem alten Mann?" fragte sein Herr, „du
bist so zärtlich besorgt für ihn; ist es vielleicht dein Vater?" — „Nein,
Massa", sagte der Sklave, „es ist mein Vater nicht." — „Oder einer
deiner Anverwandten?" — „Nein, Massa, er ist kein Verwandter von
mir." — „Wer denn, dein Freund?" — „Nein, Massa, er ist auch
nicht mein Freund!" — „Und was denn?" fragte der Herr. „Er
Lesebuch. ^
226
ist mein Feind, Maffa! Dieser Mann hat mich, als ich noch ein
kleines Kind war, von meinem Vater nnd meiner Mntter weggerissen
nnd in die Sklaverei verkanft. Und im Worte Gottes hab ich gele-
sen: so deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke
ihn!" (Sprüch. 25, 21. Rom. 12, 20.)
\ 109. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika.*)
I.
Dieses jetzt so blühende Land war vor zweihundert Jahren ein undurchdringli-
cher Wald, in welchem nur wilde Indianer und wilde Thiere wohnten. Aber eine
gewaltige Veränderung ist mit diesem fruchtbaren Lande seit jener Zeit vorgegangen.
Hier stoßen wir bei einem milden Klima auf wohlbebaute Fluren, auf herrliche
Wiesen. Hier treffen wir jetzt große Städte mit prächtigen Palästen, und allent-
halben begegnen wir gebildeten Europäern, zum Theil Deutschen. Vortreffliche
Landstraßen, Eisenbahnen und Kanäle fördern den Handel. Seit etwa zweihundert
fünfzig Jahren ließen sich an den Küsten dieser Länder eine Anzahl Engländer nie-
der, welche ihr Vaterland der Religion wegen verlassen hatten. Andere kamen hier-
her, um in den fruchtbaren Länderstrichen einträgliche Handelsprodnkte anzubauen.
Diese Ansiedler betrachtete man fort und fort als englische Unterthanen. Sie gaben
sich aber ihre eigenen Gesetze, und der König bestätigte dieselben. T»'e meisten Ein-
wohner beschäftigten sich mit Ackerbau und Handel; an Fabriken und Gewerben fehlte
es gänzlich, und man mußte deßhalb sehr viele Bedürfnisse aus dem Mutterlande
beziehen. Dadurch entstand für Englands Handel ein neuer Weg. — England
schmachtete schon damals unter einer drückenden Schuldenlast, und die Regierung sah
sich genöthigt, von den Unterthanen starke Abgaben zu fordern. Auch die Kolonisten
wollte man besteuern, namentlich führte man eine Theesteuer ein. Dadurch entstanden
-Unruhen. Die Negierung wollte Gewalt brauchen, aber die Kolonisten griffen zu
den Waffen. In den Jahren 1774 und 1775 traten dreizehn Provinzen zu einem
Bunde zusammen und erklärten sich 1776 für frei und von England unabhängig.
Der kriegskundige Washington stellte sich an die Spitze der Truppen, und dev
umsichtige Franklin leitete die Staatsangelegenheiten. Spanien und Frankreich
unterstützten die Amerikaner, und so gelang es denselben, es dahin zu bringen, daß
England im Jahre 1783 die Vereinigten Staaten für unabhängig erklären mußte.
Aus allen Ländern Europas strömten neue Ansiedler herbei. Man lichtete die
Wälder, leitete die Sümpfe ab, trocknete Moräste aus. In wüsten Gegenden ent-
standen Städte und Dörfer. Die Indianer wurden immer weiter in di- Gegenden
jenseit des Mississippi zurückgedrängt, oder sie gewöhnten sich an die europäische Le-
bensweise. Es strömen noch jetzt alljährlich große Massen neuer Ansiedler in diese
weiten, zum Theil noch unangebautcn Gefilde.
*) Anmerkung: Die Union der Freistaaten liegt zwischen den Fünf-Seen, dem atlantischen
Meer und mexikanischen Golf, bis an den stillen Ocean. Größe: noch vor wenigen Jahren 100.000,
seit der Abtretung eines Theils von Mexiko 140,000 Quadratmeilen, die zur Hälfte noch völlig un-
kultivirt sind. Der Osten und ein kleiner Strich am großen Ocean ist von Europäern bevölkert und
zählt vier und zwanzig Millionen Bewohner, größtenthcils englisch redende, darunter in den Süd-
provinzen drei Millionen Negersklaven.
2S7!
Die Oberfläche des Landes zerfällt in drei Theile. Zm Osten liegt das
Alleghany-Gebirge, welches ziemlich parallel mit der Küste deS atlantischen
Oceans lauft und bis 6,200 Fuß erreicht. Die Westseite ist vou dem mächtigen
Felsengebirge erfüllt, das sich bis zu 13,000 Fuß erhebt. Zwischen beiden liegen
die weiten, unerschöpflich fruchtbaren Ebenen (Savannen, Prairien) des Mississippi
und Missouri. Aus dem Lauf der Gewässer ergeben sich drei Abdachungen deS
Landes: eine östliche zum atlantischen Ocean, eine westliche zum großen Ocean uud
eine südliche zum mexikanischen Golfe. Das Klima im Norden ist im Winter rauh
und streng; im Süden aber mild wie in Italien. Im Norden wird erst im Mai
Alles grün, aber sogleich tritt auch der heiße Sommer ein; im September herrscht
noch die drückendste Hitze und im Oktober zeigen sich schon Nachtfröste. Oft ver-
ändert sich die Temperatur plötzlich und bedeutend. An der Ostküste ist daS Klima
gleichmäßiger, als im Linnenland, wo z. B./der Unterschied zwischen Sommer und
Winter größer ist als dort. Im Allgemeinen ist das Klima kälter, als in der alten
Welt in gleicher Entfernung vom Aequator. New-Dork liegt vom Aeqnator so weit
ab wie Nom; und doch blühen die Bäume dort erst zu derselben Zeit, wie iu Up-
sala in Schweden (18" nördlicher). Die Temperatur des Jahres ist iu New-Uork
nur um 1 J/a ® höher als in Stuttgart, Sommer und Herbst wärmer, aber Wickler
und Frühling ziemlich wie in Stuttgart. In sumpfigen Gegenden herrscht unge-
sunde Luft, und hier wüthet zuweilen das furchtbare gelbe Fieber. Man bauet so-
wohl alle europäischen Obstarten und Getreide, als auch Baumwolle, Reis, Zucker
und Tabak. In den ungeheuren Wäldern leben viele Pelzthiere und verschiedenes
anderes Wild, z. B. der Bison (amerikanischer Büffel), das Stinkthier, der Wasch-
bär, das Stachelschwein, der Kuguar (amerikanischer Löwe). Im Süden fiuden
sich sehr viele Papageien und Kolibris. Bon den schädlichen und lästigen Thieren
erwähnen wir den Alligator, die Klapperschlange und die Muskitos (Mücken). In
Nord-Carolina und besonders in Californien findet mau eine ungeheure Menge Gold,
in den Gegenden des Mississippi viel Eisen. Kupfer und Blei. Steinkohlenlager ziehen
sich durch einen Dritltheil von Pennshlvanien. Die Landessprache der Union ist die
englische, außer wo Menschen eines andern Volkes zusammen wohnen.
Die südlichen Staaten haben Sklaven; es sind dies Neger oder Schwarze,
welche durch den schändlichen Menschenhandel aus Afrika zu Arbeitern in Plantagen
eingeführt wurden. Zur Ehre der Menschheit wird dieser abscheuliche Handel jetzt
immer mehr beschränkt. Handel, Fabriken und Gewerbe beschäftigen den britischen
Kolonisten; der Deutsche ist der tüchtigste Landbauer und Handwerker. Er zeichnet
sich durch Fleiß, Ordnungsliebe und Genügsamkeit aus.
Die Union besteht aus dem Bnndesdistrikt Eolnnibia, in welchem die Bundes-
hauptstadt Washington liegt, ans ein und dreißig Staaten und sieben Territorien
oder Staatsgebieten. Diese verschiedenen, von einander völlig unabhängigen Staaten
werden durch eine gemeinsame Verfassung und gemeinsame Bundesregierung zu
einem Ganzen verbunden. Die gesetzgebende Gewalt übt der Congreß, welcher
aus dem Senate und dem Hause der Repräsentanten besteht. In den Senat sendet
jeder Staat zwei Mitglieder, iu das HauS der Nepräfentanten jedoch nach Maßgabe
der Volkszahl. Die Staatsgebiete schicken bis zu ihr.r Aufnahme in den Staaten-
biind. was dann geschieht, wenn ihre Bevölkerung aus 60.000 über 25 Jahr alte
freie Männer gestiegen ist, nur Abgesandte ohne Stimmrecht zur Volksrepräseutation.
Die vollziehende Gewalt besitzt der auf vier Jahre gewählte Präsident. Er hat
15*
228
dafür zu sorgen, daß die Gesetze gehandhabt und die Beschlüsse des CongresseS voll-
zogen werden.
II.
Wie die amerikanische Bevölkerung überhaupt mit jedem Jahre zunimmt, so
vergrößern sich auch die Städte zusehends, und welches Leben herrscht in denselben!
Bon den zehn nordöstlichen Staaten heißt man die sechs nordöstlichsten zu-
sammen: Neu-England, die kältest gelegenen Staaten, reich an guten Häfen; die
wichtigste Sladt ist Boston, auf einer Halbinsel im Hintergrund der MassachusetS-
bay, bedeutende Handelsstadt mit 14«,000 E., darunter 24,000 Deutsche, mit der
berühmtesten Universität Amerikas, Cambridge, einer Vorstadt Bostons. ES
laufen von der Stadt landwärts zehn Straßen, ein Kanal und drei Eisenbahnen
aus. Boston ist der Geburtsort des berühmten Benjamin Franklin, der 1783
den Frieden abschloß und nebst General Washington die Unabhängigkeit gründen
half.
Die Staaten New-Uork und Pennsylvanien gehören ebenfalls dem Nordosten
an. Der Staat New-Uork ist groß und reich und zählt die meisten Bewohner;
und doch find noch zwei Drittel davon Wald. Die Stadt New-Uork, auf der
Insel Manhattan in der Mündung des Hudson ist die volkreichste Stadt und größte
Handelsstadt Amerikas und hat, die Nebenstädte inbegriffen, 700,000 E., darunter
gegen 100,000 Deutsche. Im Jahr 1786 hatte sie 24,000 E., im Jahr 1830:
202,000 E. Ueber 3000 Schiffe laufen jährlich ein und aus, und gegen zweihun-
dert Dampfboote sind auf dem Meer und auf dem Hudson in Thätigkeit. Achtzehn
Stunden lange unterirdische Wasserleitung. Ueber zweihundert Kirchen und Bet-
häuser. Die „deutsche Gesellschaft" nimmt sich der deutschen Einwanderer an. Mittelst einer
Eisenbahn erreicht man in einem Tag das hundert geographische Meilen entfernte
Buffalo am Eriesee. Den Hudson zwischen herrlichen Gebirgslandschaften aufwärts
kommt man nach Albany (35,000 E.), von wo der Erie-Kanal an Rochester vorüber
nach Buffalo zieht. Diese aufblühende Hafenstadt des Sees Erie, nicht weit vom
Niagara, hat bereits 36,000 E.
Der Staat Pennsylvanien liegt zwischen der Mündung des Delaware
und dem Eriesee. Straßen, Kanäle und Eisenbahnen führen ans dem Küsten-
lande zum Ohio und zum See. Ackerbau und Gewerbe steigen fortdauernd.
Philadelphia, am Delaware, ist die zweitgrößte Stadt der Union mit 400,000
E. (worunter gegen 100,000 Deutsche). Eine der regelmäßigst gebauten Städte der
Welt; früher Bundesstadt. Fabriken. Buchdruckereien. Der edle Quäker Wilhelm
Penn hat sie 1682 gegründet. Im Jahr 1782 starb zu Philadelphia ein Greis von
hundert und zwei Jahren, Edward Drinker, der gern erzählte, wie es in seiner
Jugend dort ausgesehen habe. Die Hütte seiner Eltern lag von Wiesen umgeben
da, wo nun die volkreichste Straße durchging. Pittsburg, im Jahr 1846 mit
50,000, jetzt über 100,000 E., liegt am Ohio, wo sich Straßen und Kanäle durch-
schneiden, mit Gießereien, Hammerwerken und Fabriken, als Folge des naheliegenden
Kohlenbergwerks.
Der Nordwesten besteht aus den Staaten nördlich vom Ohio und am obern
Mississippi. Die bevölkertste Stadt des Staates Ohio und des ganzen Nordwestens
ist die Fabrik- und Handelsstadt Cincinnati, „die Königin des Westens", in
einer Weitung des tief eingegrabenen Ohiothals,%n klaren Ohiofluß, von weinbe-
229
grenzten Hügeln umgeben. 150,000 E., darunter über 30,000 Deutsche. Die Stadt
hatte im Jahr 1795 500 E. Schweinemarkt.
Die nordwestlichen Staaten sind erst seit der Erringung der Unabhängigkeit
kolonisirt worden, aber ihre Bevölkerung nimmt so rasch zu, daß z. B. der Staat
Iowa, erst 1838 dem Anbau geöffnet, nach sieben Jahren schon 90,000 Kolonisten
zählte. Dieser Staat, so wie Wisconsin und Michigan, werden jetzt vorzugs-
weise von den Ansiedlern ausgesucht.
Die Staaten mit Sklaverei theilen sich in die mittleren und in die Süd-
und Süd west-Staat en. Zu den mittleren gehören unter andern Maryland,
Virginie», Kentucky, Missouri; zu den Süd- und Südwest-Staaten: Nord-
und Süd-Carolina, Georgien, Teneffee, Alabama, Mississippi, Louisiana, Texas re.
In Maryland, wo nur l/s der Bevölkerung afrikanisch ist, herrscht noch
bedeutende Regsamkeit im Landbau, in Gewerben und Handel. Die Stadt Bal-
timore an der Chesapeak-bay, mit Scehandel, hat 170,000 E-, zum vierten
Theil Deutsche. Mehlmarkt. Am Potowmak liegt der von Maryland unab-
hängige, bloß unter dem Congreß stehende Bundesdistrikt Kreis Columbia,
mit der Bundesstadt Washington. Sie ist schön angelegt, bevölkert sich
jedoch langsam (24,000 E-). Das Congreßgebäude heißt das Capitol. Man hat
lange daran gebaut, und die Kosten beliefen sich ans 2'/, Millionen Dollars (à 2 fl.
30 kr.). — Virginien, das Vaterland Washingtons, ist längst bekannt wegen
des ausgedehnten Tabakbaus. Mehr als des Volks besteht aus Sklaven. —
Kentucky zwischen Virginien und dem Mississippi zählt unter 850,000 Bew.
200,000 Sklaven. — Im Staate Missouri überschwemmen die Ströme in den
Regenmonaten Februar und März das Land; doch ist der Boden zum Theil sehr
fruchtbar. Leider zählt man unter 500,000 Bew. 70,000 Sklaven. Die Stadt
St. Louis am Mississippi nahe unterhalb der Einmündungen des Missouri
und des Illinois in den Mississippi scheint nicht bloß in Missouri, sondern über-
haupt im Innern der Freistaaten die wichtigste Handelsstadt zu werden; 80,000 E.;
fast zur Hälfte Deutsche.
Die Städte von Nord- und Süd-Carolina sind schwach bevölkert, und die
'Zahl der Neger übersteigt in vielen Landstrichen, wo Tabak, Baumwolle und Reis
gepflanzt wird, die der Weißen; selbst in der Seestadt Charleston,
einem der Großmärkte für Baumwolle, mit 40,000 Bew., machen die Weißen kaum
die Hälfte aus. — Der Staat Georgien ist groß, doch nach Verhältniß kaum
so bevölkert als New-Uork. — Der Staat Louisiana, von den Franzosen zu-
erst kolonisirt, dann 1803 von den Freistaaten gekauft, ist flach und sehr warm, an
der Küstengegend sumpfig und ungesund. Hier liegt zwanzig Meilen oberhalb der
Mississippi-Mündung, am Mississippi ausgebreitet, aber tiefer als dessen Wasser-
spiegel und nur durch Dämme gegen Ueberschwemmung geschützt, Neu-Orleans,
der große Hafen des reichen Misfissippigebiets, mit der größten Flußschifffahrt, die
irgend eine Stadt auf der Erde hat. Die Bevölkerung beläuft sich im Winter auf
140,000; wer es vermag, zieht im Sommer, um dem gelben Fieber zu entgehen,
aufs Land.
In diesen Südstaaten find noch Indianer zu finden. Theilweise haben sie
sich zum Landbau und zur Errichtung von Dorfschasten bequemt und besitzen selbst
Sckulen und Bibeln. Da es aber den Rothen niemals unter den Weißen
wohl wird, so wandern sie häufig nach Westen über den Mississippi aus.
230
110. Das Meer.
Den reichsten Wasserschatz auf dem festen Lande sammeln durch
GotteS weise Veranstaltung die Gipfel der Hochgebirge; z. B. in
Europa die italienischen, Schweizer- und Tyroleralpen. Sie sind
gleichsam die Vorrathskammer von diesem Schöpfersegen, der von da
uns jederzeit, doch sparsam und zur Nothdurft, zufließt. Denn außer
den nie ganz schmelzenden, ungeheuren Schnee- und Eislasten, die
der Rücken jener Gebirge tragt, und woher beständig Wasser abfließt,
ziehen auch die Wälder der hohen Berge gern die Nebel an, welche
sich dort in Tropfen niederschlagen und so durch ihre Feuchtigkeit die
Quellen mit Wasser vermehren. Daher sind die meisten und höchsten
Gebirge allezeit quellenreich. Kleine Bächlein tröpfeln unaufhörlich
vom Nebel und Schnee an den Felsen nieder und werden zum
geringen Bach, den, wie er abwärts fließt, links und rechts neue
Quellen mit ihren Beiträgen vergrößern. So kommt er als Wald-
bach aus dem Hochgebirge und sammelt andere ihm zueilende Bäche,
breitet sich aus und wird zum majestätischen, dahinrauschenden Fluß.
Er scheidet Länder von Ländern, nimmt alle ihre Bäche und Flüsse
auf und stürzt seinen Wasserreichthum nach vollbrachtem Lauf ins Meer.
Das Meer bedeckt die niedrigsten Gegenden des Erdbodens. Daher
senken sich alle Bäche, Flüsse und Ströme dahin, und wo unterwegs
eine größere Tiefe ihren Lauf hemmt, bildet sich ein weiter See.
Das Meer bedeckt den größten Theil des Erdballs, also daß
die bewohnten Erdtheile nur als größere oder kleinere Stücke abge-
trockneten Landes, als einzelne Inseln daraus hervorragen, und der
Erdball noch immer ein ungeheurer Wasserball zu sein scheint. Denn
das gesamte trockene Land beträgt gegenwärtig noch kaum einen
) Flächenraum von dritthalb Millionen Meilen ins Gevierte, während
das Wasser sieben Millionen Geviertmeilen einnimmt!
Diese außerordentlich große Wassermasse scheint nothwendig, theils
um die Quellen der festen Länder und deren Flüsse reichlich zu näh-
ren, theils um die Luft zu verbessern für Gesundheit und Gedeihen
aller lebendigen Geschöpfe. Denn unaufhörlich steigen Millionen fei-
ner Wassertheile als Dünste in die Höhe, gleichsam ein Regen des
Weltmeers gegen den Himmel, der ihn als Landregen wieder aus
unsere Felder niedergießt. Unaufhörlich verschlingt das Wasser die
in der Luft befindlichen giftigen Dünste, welche Menschen, Thieren
und Pflanzen verderblich sein würden.
231
Ob das Weltmeer noch immer abnehme, und das Land sich er-
weitere, ist seit Jahrtausenden noch nicht mit Sicherheit bemerkt worden.
In der Tiefe desselben ruht noch eine für uns größtentheils unbe-
kannte Welt; denn nur an wenigen Stellen ist der Boden des Meers
untersucht worden. Dort im Abgrund wie aus der Oberfläche des
Landes findet man Unebenheiten, Hügel und Thäler, Höhlen und
Klüfte, Quellen, Steine, Felsen, Pflanzen und ganze Wälder von
Korallen. Was wir festes Land, was wir Inseln nennen, sind nur
hohe Gebirge, die vom Boden des Meers hervorgehen, und deren
über die Wellen erhabene Spitzen und Rücken wir bewohnen und
mit Städten und Dörfern überbauen.
Auch die Abgründe sind bewohnt. Noch kennen wir bei weitem
nicht den größten Theil aller Geschöpfe, welche in Flüssen, Seen
und besonders im Alles umfassenden Weltmeer leben. Ihre Geschlechter
und Arten sind nicht zu zählen; ihre Zahl übersteigt allen Glauben.
Die Fische vermehren sich schon, ehe sie nur den vierten, ja ehe sie
kaum den achten Theil ihrer Größe erlangt haben. Manche tragen
und legen zugleich über neun Millionen Eier; und viele, so weit
man bisher Erfahrungen anstellen konnte, leben oft anderthalbhundert
Jahre lang.
Wie die Flüsse des Landes, sind auch die Wellen des Meers
immer in Bewegung. Ein langer Stillstand würde die Luft mit un-
gesunden Dünsten füllen und alles Leben auf dem Erdball verpesten.
Aber das Wasser der See widersteht schon durch seine eigene Natur
jeder Fäulniß; denn es ist sosehr gesalzen, daß es in heißen Ländern
sein Salz an den Ufern abwirft, wo es von der Sonne gebleicht
und getrocknet wird, den Menschen zur Nahrung. — Woher diese
Salzung des unermeßlichen Weltmeers? Auch hier ist ein Geheim-
niß der Natur, ein Wunderwerk des Schöpfers! Und auffallender
spricht uns die Weisheit desselben an, wenn wir vernehmen, daß
nur da die Fluthen am salzreichsten sind, wo sie unter heißen Him-
melsstrichen zur Fäulniß am leichtesten geneigt werden.
Aber zur beständigen Erschütterung und Aufwühlung der großen
Wassermasse, die den Erdball umgibt, wirkt, außer den Sturmwin-
den, noch ein anderer und mächtiger Umstand. Dies ist der Mond.
Dieser Himmelskörper ward nicht nur vom Schöpfer hingeordnet,
durch das Zurückwerfen der von ihm aufgefangenen Sonnenstrahlen
unsere Nächte zu erleuchten, sondern er ward auch durch des Höchsten
Weisheit zur Bewegung der Meere bestimmt. Wie der Mond iw
232
regelmäßigen Lauf unsere Erde zwölfmal im Jahr umschwebt, äußert
er seine anziehende Kraft gegen dieselbe. Er zieht die Wassermasse
des Meers empor, über welcher er steht; indem sich ein breiter Wasser-
berg erhebt, stürzen ihm die Wellen aus entfernteren Gegenden nach.
Das Abnehmen der Gewässer heißt man Ebbe, das Anschwellen der-
selben Fluth. Die dadurch hervorgebrachte Bewegung reicht bis auf
den Grund des Meers; das oberste wird durch solche Erschütterungen
mit dem untersten vermischt, die Wärme der höheren Wellen wird mit
der Kälte der tiefsten gemäßigt, die Fäulniß des Wassers verhindert,
Gesundheit und Lebenskräfte der Bewohner der gesalzenen Fluthen
bewahrt, und der Schiffer, welcher fernen Ländern die Erzeugnisse
seines Vaterlandes bringt, über Sandbänke und Untiefen glücklich
hinweggetragen. Zweimal des Tages steigt das Meer, und das heißt
man die Fluth, und zweimal fällt es wieder, und das nennt man die
Ebbe. Sechs Stunden steigt es, und dann hat es seinen höchsten
Stand, und sechs Stunden fällt es wieder, dann hat es seinen nie-
drigsten Stand. Nur bei solchen Meeren, die von nahem Lande
eingeschlossen sind, z. B. im adriatischen Meere u. s. w., spürt man keine
Ebbe und Fluth. Nach der Fluth kann man dann allerlei Muscheln
am Ufer finden, die sich verspätet haben. Bei der Ebbe werden
flache Ufer aufgedeckt, bei der Fluth aber auch Felsen und niedrige
Inseln unter Wasser gesetzt.
So greift in der Ordnung des großen Weltgebäudes Alles
wundervoll nach den weisesten Zwecken in einander; Nichts ist da ver-
gebens.
Eine schwarze, zuweilen wetterleuchtende Wolke neigt sich bei
windstillem Wetter vom Himmel herab gegen das Meer. Eine Stelle
des Meers unter der Wolke erbraust, sprudelt und erhebt sich an-
derthalb Schuh über den Wasserspiegel. Die milchweiße Farbe unter-
scheidet die Stelle weit umher vom andern Wasser, noch mehr ein
dicker, darüber schwebender, grauer Rauch. Plötzlich erhebt sich dieser
in Gestalt einer durchsichtigen, gläsernen Säule himmelwärts. Eine
ähnliche Säule sinkt ans der Wolke und schmilzt mit ihr in eins zu-
sammen. Schnell sich um sich selbst drehend wandelt die Wassersäule
über das Meer hin, dem Zuge der Wolke nach, zuweilen von Blitzes-
funken umlenchtet und von seltsamem Getöse begleitet. Wehe dem
Schiff, welches sie in ihrem Lauf berührt. Es wird mit Wasser
überschüttet, oft sogar zerschmettert. Unschädlich löst sie sich nach
kurzer Dauer von selber auf.
A
233
; rrí?;
111. Hel-enmuth.
„Herr Kapitän", sagte James (Jakob) Maxwell, der Steuer«
mann, „Herr Kapitän, mir kommts vor, als röche ich Feuer;
aber ich kann nicht finden, wo es ist." Der Kapitän zieht den
Athem an fich und riechts auch; aber bald ists ihm wieder, als wär
es Nichts, bald riecht ers wieder. Er sucht Alles durch und kann
Nichts finden. Aber je länger je ärger wird der Brandgeruch, und
endlich in der Nacht, da schon das ganze Dampfschiff voll des angst-
erregenden Gestankes ist, ruft er: „Maxwell, ich Habs gefunden; die
Flammen brechen bei dem Rade durch!" — „Dann wende ich das Schiff
dem User zu", rief dieser entgegeu, und schlug sich vor die Stirn,
denn er erkannte deutlich die furchtbare Gefahr. Aber er faßte sich,
und als er sich allein sieht, fällt er auf seine Kniee und ruft Gott
an und betet: „O allmächtiger Gott, verleih mir Stärke, jetzt treu-
lich meine Pflicht zu erfüllen, und werde du selbst Tröster meiner Wittwe
und Later meiner acht Waislein." Darauf ergreift er wieder das
Steuerruder und steht unbeweglich, das Angesicht der nächsten Land-
spitze zugekehrt; und das Schiff fliegt darauf los wie ein Pfeil. Die
Matrosen wenden alle ihre Kräfte an, das Feuer zu dämpfen, aber
die Wuth der Flammen wächst mit jeder Minute und treibt die Ma-
schine mit grausenerregender Gewalt, und das Schiff schießt durch die
Wellen hin wie ein Sturmvogel. Alle Reisenden hatten sich auf
dem Vordertheile Zusammengedrückt, denn der gewaltige Luftzug ließ
keinen Rauch dor^hinkommen, sondern trieb denselben rückwärts. Da
stund aber nun der arme Maxwell an seinem Steuerruder in dem
erstickenden Qualm, wie ein Märtyrer auf dem rauchenden Scheiter-
haufen. ' Der Kapitän und die Matrosen thaten zwar, was sie konn-
ten, um das Hintertheil des Schiffs mit Wasser zu begießen, aber
das that dem wüthenden Brande keinen Einhalt. Schon fängt der
Boden unter Maxwells Füßen an sich zu entzünden; aber er weicht
nicht von seinem Posten, denn an seiner Hand hängt jetzt das Leben
von achtzig Personen. Immer gerade hin nach dem Lande schaut sein
Blick, immer rasender treibt die Flamme das Schiff, immer unbeweg-
licher hält seine Hand das Ruder.
Die Leute am User sehen das brennende Schiff und richten
Feuerzeichen auf, um den Unglücklichen zu zeigen, wo sie landen
sollen. Maxwell verstehts; seine Füße fangen an zu braten, aber er
234
bleibt; so sturmschnell das Schiff dahinsaust, er möchte ihm uoch
Flügel dazu geben; denn er merkt, es kann kaum einige Minuten
mehr andauern, so sinkt es; und jetzt, jetzt ists daran; da rückt sein
Steuerruder, und rutsch, rutsch, da sitzt das brennende Schiff auf
dem Sande. Alle werden gerettet, und Maxwell wird auch ans Land
getragen; aber wie sieht er aus! Seine Kleider fallen ihm wie Zun-
der vom Leibe, seine Füße sind ganz verbrannt. Doch Gott segnete
die Hand des Arztes, und nach mehreren Wochen kann Maxwell das
Bett wieder verlassen. Aber seine hohe Gestalt ist gekrümmt, seine
Haare sind ganz gebleicht, seine Füße bleiben schwach, und er hat
daran seiner Lebtage zu leiden. Er ist Krüppel um Gottes willen,
und seine Familie hat ihren Ernährer verloren. Doch hat Gott
Herzen erweckt, die sich seiner und der Seinigen treulich angenommen
haben.
112. Gestatt und Ditdung der Erdoderstäche.
Mit Recht haben mehrere weise Männer die große, schöne Natur um uns her
mit ihren Bergen, Strömen, Blumen und vielerlei Thieren, mit Sonne, Mond und
Sternen auch ein großes Buch Gottes für den Menschen genannt, das nur statt der
Buchstaben, worin die heilige Schrift verfaßt ist, in lauter Gestalten geschrieben sei.
Auf jedem Blatte dieses großen Naturbuches steht auch von der Liebe Gottes zu
den Menschen und zu allen seinen Geschöpfen geschrieben; ebenso wie in der hei-
ligen Schrift auf jedem Blatt von Gottes Weisheit, Größe, Gnade und Heiligkeit.
Eigentlich ist freilich jedes kleine Pflänzchen, wenn man seinen innern Bau und
seine ganze Lebensart betrachtet, ein eben so wundervolles Werk und Zeugniß von
Gottes Güte und unendlicher Allmacht, als das ganze, schöne Weltgebäude und unsere
große Erde. Aber der Mensch bewundert gewöhnlich doch das mehr, was als recht
ungeheuer groß und gewaltig ins Äuge fällt, und sieht erst nachher ein, daß er die-
selben Wunder, die er dort im Großen anstanute, auch im Kleinen bei und um sich
hat. Wir wollen uns hier mit etwas recht Großem, mächtig ins Auge Fallendem,
mit der festen Erd Masse beschäftigen, auf welcher dem Menschen und der ganzen ihn
umgebenden Natur ihre Wohnstätte bereitet ist.
Tief ist der Mensch freilich uoch nicht in die feste Erdrinde eingedrungen., die
er bewohnt.
Die tiefsten Bergschächte in Tyrol und Böhmen gehen über 3000 Fuß in die
Erde hinunter, also neunmal so tief, als der große Münsterthurm in Ulm, der 338
Fuß, oder siebenmal so tief, als der große Thurm in Straßbnrg, der 438 Fuß hoch
ist, und doch ist das wie gar nichts zu rechnen gegen die Dicke unseres Erdkörpers
von seiner Oberfläche bis zu seinem Mittelpunkt. Denn diese Dicke beträgt über
zwanzig Millionen Fuß oder fast 50,000 mal die Höhe des Ulmer Münsterthurms.
Dagegen ist die Höhe, auf welche der Mensch hier auf seiner lieben Erdober-
fläche aus seinen Thälern und Ebenen hinaufgestiegen ist, schon ungleich beträcht-
235
licher; und obgleich wir auf unserer Erde keine so gar hoben Berge haben, wie auf
dem Planeten Venus, wo es nach den Messungen der Sternkundigen fünfmal so hohe
gibt wie unsere höchsten, so ist doch schon der schöne Oertclerberg in Tirol über
12,000, und der Lhimborasso in Amerika 20,100 Fuß hoch, ja der Dha-
walagtri-Bcrg in Asien, in Ostindien, ist mehr als noch einmal so hoch, als der
Oertclerberg; denn sein Gipfel reicht etwa 26,000 Fuß hoch über die Meeressiäche
hinaus.
Wenn man nun alles das, was die Menschen bei ihrem Hinabgraben in die
Tiefe, welches freilich wegen des immer hinunterdringenden Wassers und wegen
der da unten verdorbenen und dicken Lust gar schwer ist, zusammennimmt und
dann mit dem vergleicht, was die Naturforscher beim Hinaufsteigen auf die höchsten
Berge gefunden haben, so hat man Alles beisammen, was wir über den Bau des
festen Erdkörpcrs bis jetzt wissen. Dies besteht ungefähr in Folgendem:
Tief unter der Erdoberfläche, auf der wir wohnen, scheint es große Weitungen,
Höhlen zu geben, die wohl meistens mit Wasser ausgefüllt sein mögen. Denn bei
starken Erdbeben, wie sie zuweilen in Asien, und auch bei uns in Europa und in
Amerika zugleich waren, hat sich die Erschütterung öfters fast zur nemlichen Zeit
über eine Strecke von mehreren tausend Meilen, z. B. im Jahr 1755 von Lissabon j
bis hinüber nach Amerika verbreitet. Das ließe sich wohl nicht erklären, wenn man
das Innere der Erde, von der Oberfläche hinein, als eine ganz dichte Masse ohne *
alle Höhlungen annehmen wollte. Manche solcher Höhlen sind leer und so weit nach
oben gelegen, daß man zuweilen leicht hineinsteigen und ihr Inwendiges betrachten
kann. Da sind nun freilich die Höhlen, die wir in unserem deutschen Vaterlande
haben, wie die Baumannshöhle am Harz, oder die Nebelhöhle und Karlshöhle auf
unserer Alb, noch lange nicht die größten. Selbst jene meilenweit sich fortsetzenden
unterirdischen Gewölbe, zu denen die Adelsberger Grotte bet Triest und die Höhle
des Cintragebirges in Estremadura in Portugal gehört, sind noch nicht die größten,
die man auf der Erde kennt, sondern schon Norwegen und die genauer bekannten
Gegenden von Nordamerika haben Höhlen von unvergleichbar viel mächtigerem Um-
fang aufzuweisen. In einer solchen Weitung der Tiefe verlor sich im Jahr 1344
plötzlich der wasserreiche Fluß Gaule in Norwegen, und es dauerte mehrere Tage,
bis er die Räume derselben erfüllt hatte und an der Oberfläche wieder hervorbre-
chen konnte. In eine solche Weitung versank tm Jahr 1702 unweit Friedrichshall
tu Norwegen der Hof Borge mit dem ganzen zu ihm gehörigen Flächenraum, und
das benachbarte Felsengebirge enthält Oeffnungen, welche zu unergründlich tiefen
Räumen führen. Die Höhle Dolsten auf dem norwegischen Sundmör scheint sich
unter das Felsenbett des Meeres fortzusetzen und endigt an unzugänglichen Abgrün-
den. In Nordamerika hat noch Niemand den Umfang der mächtig weiten, unter-
irdischen Gewölbe überblickt, die sich im Gebiet von Warren Country im Staat '
Kentucky eröffnen. Neunzehn Stunden lang hatte Ward diese Weitungen, deren
viele er wegen ihrer ungeheuren Ausdehnung mit Städten verglich, durchwandelt,
ohne das Ende zu erreichen; die größte den Weitungen ist beinahe vier Stunden
vom Eingang entfernt. Und dennoch erschein die-Höhlen, in welche der Mensch
einzudringen vermag, meist nur als das obere Geschoß der großen damit zusammen-
hängenden Räume, die ihm die Tiefe verbirgt.
In her Tiefe der Erde muß aber auch, wenigstens an manchen Orten, Feuer
oder sonst eine Ursache wirksam sein, welche große Wärme hervorbringt. Denn
236
wenn man in manche Bergschächte in England, die zum Theil unter dem Meeres-
grund laufen, hinunterstelgt, findet man da nicht bloß die gewöhnliche Warme, die
die Keller im Winter haben, und die nur daher kommt, daß die Kalte der Lust dahin
nicht eindringen kann, sondern eine andere selbständige Wärme, die immer zunimmt,
je tiefer man hina^kommt, und die ihre Ursache tief unter der Erdoberfläche haben muß.
Die Erde selbst muß von innen heraus, außer dem was die Sonne thut, Wärme
verbreiten können, daher grünet und wächst das Gras in Finnmarken tief unter dem
Schnee fort. So bleibt auch auf dem Schwarzwald auf manchen Wiesen der
Schnee nicht lange liegen, sondern es ficht immer wieder ein frisches Grün unter
demselben hervor, weil hie und da lauliche Quellen hervorbrechen, die nur in ziem-
lich geringerem Grad erwärmt sind, als die in Ba.den-Baden und Wildbad, welche
dem unterirdischen Wärmeherd am nächsten find.
Die feurigen und geschmolzenen Mafien, welche die feuerspeienden Berge aus-
werfen, müssen auch aus einer sehr großen Tiefe heraufkommen und wahrscheinlich
wohl eben daher,-wo jene von unten heraufdringende Wärme herkommt. Der berühmte
Reisende Alexander von Humboldt hat in einen gerade damals ganz ruhigen Schlund
eines feuerspeienden Berges hinuntergesehen. Da erblickte er in einer ungeheuren
Tiefe unten in einer weiten Höhlung drei unterirdische Bergspitzen, aus denen oben
Feuer und Rauch herausdrang. Auch im Aetna sieht man, wenn er ganz ruhig ist,
in der Tiefe unten das Feuer beständig aufwallen, die Lavamasse wie ein sieden-
des Wasser immer heraufkochen und wieder niedersinken. Aber der eigentliche Ort,
von wo diese geschmolzenen Massen empordringen, muß von der Stelle, die mau
dort sehen kann, wohl noch meilenweit entfernt liegen. Denn ehe der Vesuv oder
Aetna zu speien anfangen, wird meilenweit davon das Meer unten an seinem
Grunde ganz siedwarm, so daß auch die dort liegenden eisernen Schiffsanker sehr
heiß werden, und die Fische vom Grund heraufkommen in die Nähe des Ufers, wo
sie dann oft in gar großer Menge gefangen werden.
Ein Theil der Quellen, besonders die heißen, mögen wohl auch aus großer
Tiefe heraufkommen und in der Gestalt von Dämpfen, die aber, wo es oben kälter
wird, zu Wasser werden. Die meisten Quellen entstehen jedoch dadurch, daß die
kalten, dichten, hoch in die kühle Luft hinaufreichenden oder waldbewachsenen Berge
die Wolken und Wasserdämpse aus der Luft an sich ziehen, ebenso wie ein Stein
oder Spiegel, die man im Winter aus der Kälte hineinbringt in die Stube, beide
feucht werden. Das Wasser läuft daun an den Wänden der Bergritzen hinunter und
fließt unten als Quelle heraus.
Eine der merkwürdigsten Erscheinungen find die heißen, sprudelnden Quellen in
einem der kältesten Länder Europas, auf der Insel Island. Einige derselben werfen
mächtige Wassersäulen bis zu einer Höhe von zweihundert Fuß, also mehr als zwei-
mal so hoch empor, als ein gewöhnlicher Kirchthurm, und zwar mit einem so kra-
chenden Getöse, daß der Erdboden dabei zittert. Einige springen beständig, andere
nur zu gewissen Zeiten, zum Theil in regelmäßiger Wiederkehr, und fast alle setzen
eine Menge Kieseltnff ab, auS welchem sie sich nach und nach sowohl Röhren als
Becken bilden. Die bekannteste unter diesen Sprudelquellen ist der Geyser. Schon
in ziemlicher Entfernung kündigt er sich durch ein starkes Sausen, durch ein Rau-
schen wie von einem über Klippen daher brausenden Strom an. Seine Röhre hat
eine Tiefe von achtzig, und sein zirkclrundeS Becken einen Durchmesser von vier und
siebzig Fuß. Wenn ein Ausbruch des Geysers bevorsteht, so steigt das Wasser
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in seinem Becken nach und nach bis zur Halste der Höhe, anfangs in aller Ruhe,
jedoch von unterirdischen Knällen begleitet, sobald es die halbe Höhe erreicht hat.
Je mehr das Becken sich füllt, desto häufiger und stärker werden auch die Schüsse,
und das Sieden oder Aufbrausen nimmt im nemlichen Verhältniß zu. Wenn das
Becken voll wird, entstehen dann und wann kleinere Ausbrüche, in welchen das Wasser
bis zu einer Höhe von vierzig Fuß in die Luft hinauf geschleudert wird; das heftige
Knallen nimmt zu, man hört wohl drei Schüsse in jeder Sekunde, wie von Kanonen,
der letzte ist immer außerordentlich stark, der Boden bebt, und nun geschieht der große
Ausbruch, in welchem das Wasser während einer Zeit von gewöhnlich fünf, bisweilen
auch zehn und fünfzehn Minuten mehreremal, gewöhnlich hundert bis hundert und
zwanzig Fuß, auch zuweilen zweihundert Fuß und noch höher geworfen wird und
stets in das Becken zurückfällt. Solche große Ausbrüche geschehen regelmäßig jede
sechste Stunde, so daß in vier und zwanzig Stunden vier große Ausbrüche stattfinden.
Wirft man Steine in das Becken, so werden sie mit dem Wasserstrahl in die Höhe
geschleudert, fallen aber gewöhnlich wieder in das Becken selber zurück.
Es gibt gar viele Quellen, dre Salz-, andere, die Eisen- oder Schwefeltheile
in sich haben. Es gibt auch Quellen, wie z. B. den Bullenborn im Paderborn-
schen, die abwechselnd in regelmäßigen Zwischenzeiten Wasser in Menge ausströmen,
dann wieder damit einhalten.
Die Quellen laufen zu Bächen zusammen, diese zu Flüssen, die Flüsse vereinigen
sich zu Strömen, und diese gehen am Ende ins Meer. Dieses verdeckt uns nun
freilich mit seinem Gewässer, das an manchen Orten wohl eben so tief sein mag,
als die höchsten Berge hoch sind, fast drei Viertel von unserer Erdoberfläche. Aber
unten im Meeresgrund ist wieder dieselbe Abwechslung von Höhen und Tiefen, von
ganzen Bergzügen und Thälern, wie auf dem festen Lande. Man sieht dieses, wo
sich solche unter dem Wasser gelegene Berge bis hinan an die Oberfläche desselben erhe-
ben, mit bloßen Augen, oder die Schiffsleute fühlen es und bemerken es mit ihren
Ankern.
Wenn man mit einmal das Meer ablassen könnte, würde es auf seinem Grund
nicht viel anders aussehen, als auf vielen Stellen auf unserer Erdoberfläche. Wir
würden da große, lange Sandflächen und Berge von Gips sehen, die sich aus dem
Äeerwasser gebildet haben, alle häufig untermischt mit Muscheln und andern See-
thierüberresten. Denn wenn man unsere, meisten Berge ansieht, bemerkt man gar
leicht, daß sie in und unter einem große^Meere gebildet sind. Viele von ihnen find
nemlich ganz erfüllt mit Muschel- und Seethierüberresten, und auf manchen Bergen
von Neuholland, die sehr hoch sind und jetzt meilenweit vom Meer landein-
wärts liegen, sieht man noch jetzt Korallenbäumchcn aufrecht stehen, und der ganze
Boden sieht so ans, als wenn ergötzlich wäre vom Meer verlassen worden, von
Lein er einmal Jahrhunderte lang bedeckt gewesen ist. Aber man braucht nicht so
weit zu reisen, um etwas Aehnliches zu sehen. Auch in und auf unsern Kalkbergen
findet man Korallenarten und Muscheln, die nur im Meer gelebt haben und ge-
wachsen sein können. Man sieht es manchen unserer Sandgegenden an, daß da ein-
mal lange Zeit hindurch Wasser gefluthet haben muß; und das Salz, da» manche
unserer Berge imd Ebenen in sich führen, muß auch noch aus ftüherer Zeit herrüh-
ren, wo ein salziges Meer dastand.
Manche Naturforscher glauben, das Meer sei nach und nach kleiner worden und
nehme noch, jetzt ab. Denn einige Städte an der Ostsee und am Mittelmeer sollen
23b
wirklich nach allen Aussagen und Zeugnissen ehedem näher am Meer gelegen haben,
als jetzt, z. B. Danzig. Aber andere, und eben so gründliche Naturforscher haben
bewiesen, daß dieses nur an manchen Meeren und an manche» Oertern so erscheine,
und daß das Meer im Ganzen seit Jahrtausenden weder um ein Merkliches ange-
wachsen sei, noch abgenommen habe.
Es scheint also, daß jene große Veränderung, wodurch viele unserer Länder
und Berge vom Meer verlassen und zum festen Lackde wurden, durch ein oder mehrere
gewaltsame Erhebungen und Senkungen bewirkt worden sei. Doch ist das nicht die
einzige Veränderung, die mit unserem Erdboden vorgegangen sein muß. In Würt-
temberg bei Cannstatt, in Thüringen bei Burgtonna, in Braunschweig und an andern
Orten Deutschlands, ferner in Frankreich- im nördlichen Amerika und sogar in dem
kalten Sibirien hat man Knochen^ausgegrqben von Elephanten, Nashörnern und an-
dern ähnlichen Thieren. An den peinlichen Orten findet man auch Palmen, Bam-
busrohr und andere Gewächse aus warmen Ländern. Diese Thiere und Pflanzen,
die oft mit einander, wie noch in ihrem jetzigen Vaterland, vorkommen, müsse» ein-
mal in jenen jetzt so kalten Ländern gelebt haben. Es muß also da einmal wärmer
gewesen sein, als es jetzt ist. s' * M, ^
Die Knochen oder andere Ueberreste von Thieren der Vorweg die man in allen
^ leiten der Erde, aw häufigsten aber in de« nördlichen Gegenden gefunden hat,
gehören fast^rNe zu den jetzt lebenden Thiergeschlechseni, nur sind sie zum Theil
größer alS^WMtzigen, oder weichen auch in der Gestalt von ihnen ab. So hat
man meisten Lattungen der Säugethiere gesunden, an einzelnen Orten
selbst UMrreste von Affen. Sehr verschieden von den jetzt lebenden Säugcthieren
waren: der Mammuth, eine große Elephauteuart mit langen Mähnen; das Riesenelen,
das zentnerschwere Geweihe hatte. Noch verschiedener von den gegenwärtigen Thier-
geschlechtern war das Ohiothier (es hat seinen Namen vom Ohiofluß
in Nordamerika, wo man es fand). Es war so hoch, aber länger als unsere größten
Elephanten, hatte große Stoßzähue, aber auch zackige Backenzähne und war mit
laugen Haaren bedeckt. Das Riesenfaulthier muß auch ein gar besonderes Thier
gewesen sein. Es war von der Schnauze bis zum Rücken zwölf Fuß lang und sechs
Fuß hoch; sein Kopf gleicht dem unserer Faulthiere. Dabei hat es lange und scharfe
Klauen, daher man es auch Großklauenthier heißt.
Ueberreste von Vögeln der Vorwelt hat man im Ganzen nur wenig gefunden;
in größerer Menge aber die Amphibien, und darunter vier und zwanzig Fuß lange
Eidechsen (in den Niederlanden bei Mastricht); ferner Krokodile, so groß und noch
größer, wie die noch jetzt lebenden im Nil und Ganges. — Fische gab es in der Vor-
welt wahrscheinlich von allen jetzt lebenden Arten; doch hatte man auch Haifische, die
von ungeheurer Größe gewesen sein müssen, denn ihre Zähne waren vier bis fünf
Zoll lang und fünf Zoll breit, der Fisch also wohl siebzig Fuß lang. — Der
Ueberreste von Insekten sind verhältnißmäßig wenig (doch im Bernstein allein gegen
700 Arten), in desto größerer Menge aber die der Schalthiere.
An manchen Orten, wie z. B- in Sibirien hat man Säugethiere der Vorwelt
noch mit Haut und Haaren und Fleisch gefunden, welches Hunde und Wölfe noch
gerne fraßen. Es muß also die große Veränderung, wodurch cs nach den Polen
unserer Erde so kalt wurde, wie es jetzt ist, noch nicht viel Jahrtausende her und
plötzlich entstanden sein; denn nur in einem so kalten Lande wie Sibirien konnte sich
das Fleisch solcher Thiere der Vörwelt so unverwest erhalten.
239
T- f
Wie es nun damit zugegangen und wodurch eine solche BerLuderung entstan-
den sei, das wissen die Gelehrten selber nicht, wie sie denn überhaupt gar Vieles
nicht wissen. Die heilige Schrift aber und die Sagen vieler Völker in Europa,
Asien und Amerika erzählen uns von einer großen Fluth, von der Sindfluth, die über
den ganzen Erdboden kam und ihre höchsten Berge bedeckte und wobei fast alle auf
der Erde lebenden Wesen untergingen. Ein Theil des damaligen festen Landes scheint,
wie es noch jetzt bei einzelnen Inseln geschieht, im Meere versunken zu sein, und
em Theil des Meergrundes ist dabei zu festem Lande geworden.
Zwar führen nicht alle Berge solche Muscheln und Seegewächse oder Salz bei
sich, woraus man schließen könnte, daß sie ehemals Meergrund gewesen wären; aber
alle, auch die, bei denen das nicht der Fall ist, sind offenbar bis auf die wenigen,
aus vulkanischem Feuer erzeugten aus dem Wasser und im Wasser gebildet. Und
das sagt uns auch die heilige Schrift, der freilich heut zu Tag manche Gelehrte
immer gern widersprechen wollen, die aber, sobald man nur die Natur recht ansieht,
auch in solchen Dingen immer Recht behält und auch ewige Wahrheit bleiben wird.
Die Gebirge, welche keine Muscheln, keine Steinkohlen und keine Salze ent-
lten und von welchen einige die höchsten Berge der Erde bilden, nennt man Ur-
birge. Sie bestehen entweder aus Glimmerschiefer, welches nebst Quarz viel Glim-
._J|i oder Katzengold enthält, oder aus Gneiß und aus Granit, der wegen seiner
besondern HÄ» Md Schönheit zu Denkmälern und größeren Bauwerken häusig be-
nützt wird, vs j§
Die Urgehirg^ haben die meisten Erze: Gold, Silber, ^ölei, Ziun^Kupfer,
Eisen in sich. MäU sindet diese meistens in sogenannten Gängen, welche man mit
ehemaligen Spalten in den Gebirgen vergleichen kann, die sich durch die hinein-
gcschlossenen Massen ausgefüllt haben.
Die Gebirge, welche hauptsächlich aus Kalk, aus Sandstein und Gips bestehen
und viele Muscheln, Steinkohlen und Salz in sich führen, nennt man Flötzgebirge.
Diese Steinmassen liegen in großen Lagen über einander, die man Schichten nennt
und welche dem Gebirge das Aussehen geben, das etwa eine Mauer hat, in der recht
große Quaderplatten von verschiedener Form, eine über die andere, gelegt sind,
solche Lagen nennt der Bergmann Flötze, und überhaupt bedeutet Flötzen oder Flößen
ein Ansetzen durch Wasser, in welchem offenbar jene Gebirge sich gebildet haben.
Diese Gebirge enthalten zwar nicht so viel Erze, als die Urgebirge, doch au manche«
Stellen einen kupferreichen Schiefer, auch etwas Blei und Galmei und sehr viel
Eisen.
Den losen Saud, Lehm und Töpferthon, die in unsern Ebenen liegen, und
woraus auch die Hügel bestehen, die man da sieht, nennt man aufgeschwemmtes Land.
Da findet man außer dem Lehm und Töpferthon und außer Braunkohlen nicht viel
Besonderes. Ueber allen diesen Gebirgsarten liegt dann die Damm- und Gartenerde.
113. Allgemeine Betrachtung über das Wettgebände.
Dem geneigten Leser, wenn er zwischen seinen bekannten Bergen und Bäumen
daheim sitzt bei den Seiiiigen, so ists ihm wohl, und er denkt just nicht weiter. Wenn
aber früh die Sonne in ihrer stillen Herrlichkeit ausgeht, so weiß er nicht, wo sie
herkommt, und wenn sie' Abends untergeht, weiß er nicht, wo sie hinzieht, und wo
240
rv
sie die Nacht hindurch ihr Licht verbirgt, und auf welchem geheimen Fußpfad sie die
Berge ihres Aufgangs wieder findet. Oder wenn der Mond einmal bleich und mager,
ein andermal rund und voll durch die Nacht spaziert, er weiß wieder nicht, wo daS
herrührt, und wenn er in den Himmel voll Sternen hinaufschaut, einer blinkt schöner
und freudiger als der andere, jo meint er, sie seien alle wegen seiner da, und weiß
doch nicht recht, was sie wollen. Guter Freund, das ist nicht löblich, daß man jo
Etwas alle Tage sieht, und fragt nie, was es bedeutet. Der Himmel ist ein großes
Buch über die göttliche Allmacht und Güte, und stcheu viele bewährte Mittel darin
gegen den Aberglauben und gegen die Sünde, und die Sterne sind die goldenen
Buchstaben in dem Buch. Aber es ist arabisch, man kann es nicht verstehen, wenn
man keinen Dolmetscher hat. Wer aber einmal in diesem Buch lesen kann, in diesem
Psalter, und liest darin, dem wird hernach die Zeit nimmer lang, wenn er schon bei
Nacht allein auf der Straße ist, und wenn ihn die Finsterniß verführen will, etwas
Böses zu thun, er kann nimmer.
Nach dem Augenschein und nach dem allgemeinen Glauben wäre die Erde mit
allen ihren Bergen und Thälern eine große, runde Fläche, gleich einer ungeheuren,
großen Scheibe. Am Rande derselben weiter hinaus kommt Nichts mehr, dort ist
gleichsam der Himmel an sie angefügt, der wie eine große, hohle Halbkugel über ihr
steht und sie bedeckt. Dort geht am Tag die Sonne auf und unter, bald früher,
bald später, bald links an einem gewissen, bekannten Berg oder Haus, bald rechts
und bringt Tag und Nacht, Sommer und Winter, und bei Nacht der Mond und die
Sterne, und sie scheinen nicht gar entsetzlich hoch über unsern Häuptern zu stehen.
Das wäre nun alles gnt, wenns Niemand besser wüßte; aber die Sternseher
Wissens besser. Denn erstlich, wenn einer daheim weggeht und will reisen bis ans
Ende der Erde, an den Rand, wo man einen aufgehenden Stern mit der Hand
weghaschen und in die Tasche stecken kann, und er geht am ersten April vom Haus
aus, so hat er den rechten Tag gewählt. Denn er kann reisen, wenn er will, durch
Deutschland, durch Polen, durch Rußland, nach Asien hinein, durch die Muhammedaner
und Heiden, vom Land aufs Wasser, und vom Wasser wieder aufs Land, und immer
weiter. Aber endlich, wenn er ein Pfeiflein Tabak einfüllt, und will daran denken,
wie lang er schon von den Seinigen weg ist, und wie weit er noch zu reisen hat ans
Ende der Erde und wieder zurück, auf einmal wirds ihm heimlich in seinem Ge-
müth, es wird nach und nach Alles, wie es daheim war, er hört seine Landessprache
wieder sprechen; zuletzt erblickt er von weitem einen Kirchthurm, den er auch schon
gesehen hat, und wenn er auf ihn hingeht, kommt er in ein wohlbekanntes Dorf,
und hat nur noch zwei Stunden oder drei, so ist er wieder daheim, und hat das
Ende der Erde noch nie gesehen. Nemlich er reist um die Erde, wie man einen
Strich mit Kreide um eine Kugel herumzieht, und kommt zuletzt wieder auf den al-
ten Fleck/ von dem er ausging. Es find schon viele solcher Reisen um die Erde
nach verschiedenen Richtungen gemacht worden. In zwei bis vier Jahren, je nach
dem, ist Alles geschehen. Ist nicht der englische Seekapitän Cook in einem Leben
zweimal um die ganze Erde herumgereist und von der andern Seite wieder heim-
gekommen, aber das dritte Mal haben ihn die Wilden auf Mer Jujel Owai todtge-
schlagen und gefressen. (1779.)
Die Erde und die Sonne.
241
Daraus und auS mehreren sicheren Anzeigen erkennen die Gelehrten Folgendes:
die Erde ist nicht bloß eine ausgebreitete, rund abgeschnittene Fläche, nein, sie ist eine
ungeheure Kugel. Weiters: sie hängt und schwebt frei ohne Unterstützung, wie die
Sonne und der Mond, in dem unermeßlichen Raum des Weltalls unten und oben
zwischen lauter himmlischen Sternen. Weiters: sie ist rings um und um, wo sie
Land hat und wo die Hitze oder der bittere Frost es erlaubt, mit Pflanzen ohne
Zahl besetzt und von Thieren und vernünftigen Menschen belebt. Man muß nicht
glauben, daß auf diese Art ein Theil der Geschöpfe mit dem Kopf abwärts hänge
und in Gefahr stehe, von der Erde weg in die Luft herabzufallen. Dies ist lacker-
lich. Ueberall werden die Körper durch ihre Schwere an die Erde angezogen und
können ihr nicht entlaufen. Ueberall nennt man unten, was man unter den Füßen
hat, und oben, was über dem Haupt hinaus ist. Niemand merkt oder kaun sagen,
daß er unten sei. Alle sind oben, so lange sie die Erde unter den Füßen und den
Himmel voll Licht oder Sterne über dem Haupt haben.
Aber der geneigte Leser wird nicht wenig erstaunen, wenn ers zum erstenmal
hören sollte, wie groß diese Kugel sei; denn der Durchmesser der Erde beträgt in
gerader Linie von einem Punkt der Oberfläcbe durch den Mittelpunkt hindurch zum
andern Punkt eintausend siebenhundert und zwanzig deutsche Meilen. Der Umkreis
der Kugel aber beträgt fünftausend vierhundert deutsche Meilen, und eine Meile hat
zwei Stunden. Ihre Oberfläche aber beträgt über neun Millionen Meilen ins Ge-
vierte , und davon sind fast drei Viertel Wasser und ein Viertel Land. Ihre ganze
Masse aber beträgt mehr als zweitausend fünfhundert Millionen Meilen im Klafter-
maß. Das haben die Gelehrten mit großer Genauigkeit ausgemessen und ausge-
rechnet, und sprechen davon wie von einer gemeinen Sache. Aber Niemand kann die
göttliche Allmacht begreifen, die diese ungeheuer große Kugel schwebend in der un-
sichtbaren Hand trägt, und jedem Pflänzlein darauf seinen Thau und sein Gedeihen
gibt, und dem Kiudlein, das geboren wird, einen lebendigen Odem in die Nase.
Man rechnet, daß tausend Millionen Menschen zu gleicher Zeit auf der Erde leben
und bei dem lieben Gott in die Kost gehen, ohne das Gethier. Aber es kommt
noch besser.
. Denn zweitens: die Sonne, so nahe sie zu sein scheint, wenn sie früh hinter
den Bergen in die frische Morgenluft hinauf schaut, so ist sie doch über zwanzig Mil-
lionen Meilen weit von der Erde entfernt. Weil aber eine solche Zahl sich ge-
schwinder aussprechen, als erwägen und ausdenken läßt, fo merke: wenn auf der
Sonne eine scharf geladene Kanone stünde, nnd der Kanonier, der hinten steht und
sie richtet, zielte auf keinen andern Menschen, als auf dich, so dürftest du deßwegen
in dem nemlichen Augenblick, als sie abgebrannt wird, noch herzhaft anfangen, ein
neues Haus zu bauen, und könntest darin essen nnd trinken und schlafen; könntest
heiraten und vielleicht noch Kinder erleben. Denn wenn auch die Kugel in schnur-
gerader Richtung und immer in gleicher Geschwindigkeit immer fort und fort flöge,
so könnte sie doch erst nach Verfluß von ungefähr fünfundzwanzig Jahren von der
Sonne hinweg auf der Erde anlangen, so doch eine Kanonenkugel einen scharfen
Flug hat und zu einer Weite von sechshundert Fuß nicht mehr als den sechzigste»
Theil einer Minute bedarf, ncmlich eine Sekunde.
Daß nun weiters die Sonne auch nicht bloß eine glänzende Fensterscheibe des
Himmels, sondern, wie unser Erdkörper, eine schwebende Kugel sei, begreift man schon
leichter. Aber wer vermag mit seinen Gedanken ihre Größe zu umfassen, nachdem
Lesebuch. jg
242
fie aus einer so entsetzlichen Ferne solche Kraft des Lichts und der Wärme noch auf
die Erde ausübt, und alles senget, was ihr Antlitz bescheint? Der Durchmesser der
Sonne ist einhundertzwölfmal größer als der Durchmesser der Erde. Aber im Kör-
permaß beträgt ihre Masse fast anderthalbmillionenmal so viel als die Erde. Wenn
fle hohl wäre inwendig, so hätte nicht nur unsere Erde in ihr Raum, auch der Mond,
der doch fünfzigtausend Meilen von uns absteht, könnte darin ohne Anstoß auf- und
untergehen; ja er könnte noch einmal so weit von uns entfernt sein, als er ist, und
doch ohne Anstoß um die Erde herumspazieren, wenn er wollte. So groß ist die
Sonne und geht aus der nemlichen allmächtigen Hand hervor, die auf der Erde das
Magsamen- oder Mohnsamenkörnleiu in seiner Schale bildet und zur Reife bringt,
eins so unbegreiflich, wie das andere.
Lange nun glaubten selbst die gelehrtesten Sternforscher, diese ganze unermeß-
liche Sonnen Masse sei nichts anderes, als eine glühende Feuerkugel durch und durch.
Nur konnte keiner von ihnen begreifen, wo dieses Feuer seine ewige Nahrung faßt,
daß es in tausend Jahren nicht abnimmt und zuletzt wie ein Lämplein verlöscht.
Deßwegen will es nun heutzutage den Steruforschern und andern verständigen
Leuten scheinen, die Sonne könne an sich wohl, wie unsere Erde, ein dunkler und
bewohnbarer Weltkörper sein. Aber wie die Erde ringsum mit erquickender Lust
umgeben ist, so umgibt die Sonne ringsum das erfreuliche Licht; und es ist nicht
nothwendig, daß dasselbe aus dem Sonnenkörper selbst eine unausstehliche, zerstörende
Hitze verursachen müsse, sondern ihre Strahlen erzeugen die Wärme und Hitze erst,
wenn sie sich mit der irdischen Lust vermischen, und ziehen dieselbe gleichsam aus
den Körpern hervor Denn daß die Erde eine große Masse von verborgener Wärme
in sich selbst hat und nur auf Etwas warten muß, um sie von sich zu geben, das ist
daran zu erkennen, daß zwei kalte Körper mitten im Winter durch anhaltendes Rei-
ben zuerst in Wärme, hernach in Hitze, und endlich in Glut gebracht werden kön-
nen. Und wie geht es zu, je weiter man an einen hoben Berg hinaufsteigt, und je
näher man der Sonne kommt daß man immer mehr in die Hände hauchen muß
und zuletzt vor Schnee und Eis nimmer weiter kommt, fragen die Naturkundigen,
wenn die Sonne ein sprühendes Feuer sein soll?
Also wäre es wohl möglich, daß sie an sich ein fester, mit mildem Licht um-
flossener Weltkörper sei, und daß auf ihr Jahr aus Jahr ein wunderschöne Pfingst-
blnmen blühen und duften, und statt der Menschen fromme Engel dort wohnen, und
ist dort, wie im neuen Jerusalem, keine Nacht und kein Winter, sondern Tag, und
zwar ein ewiger, freudenvoller Sabbath und hoher Feiertag.
Nachdem in dem Bisherigen zuerst von der Erde und hernach von der Sonne,
jede für sich, geredet worden ist, so wollen wir nun noch mit Wenigem hören, wie sie
unter einander in guter Freundschaft leben, und wie aus ihrer Liebe zu einander
Tag und Nacht, Märzveilchen, Erntekränze, Wein und gefrorene Fensterscheiben
entstehen.
Da die unermeßlich große Sonne in einer so unermeßlich weiten Entfernung von
uns weg ist, so hat es den Steruforschern schon lange nicht mehr einleuchten wol-
len, daß si^mnattshörlich und je in viernndzwanzig Stunden um die kleine Erde
herumspriñ^M soll m einer unbegreiflichen Kraft und Geschwindigkeit, nur damit
wir in diesem kurzen Zeitraum einmal Morgen und Mittag, Abend und Nacht be-
kämen, und wandelnde Sterne. Denn die Natnrknndigen haben sich überzeugt, daß
Alles, was geschieht, auf eine viel einfachere und leichtere Art auch geschehen könnte.
243
Allein ein rechtschaffener Sternseher, Copernikus genannt, der von 1473 bis 1543
lebte, hat bewiesen, daß es nicht nur so geschehen könnte, wie die Naturforscher den-
ken, sondern daß es wirklich so geschieht, und die göttliche Weisheit hat früher da-
ran gedacht als die menschliche.
Der geneigte Leser wird jetzt erfahren, was Copernikus behauptet und bewiesen
hat, wird aber ersucht, zuerst Alles zu lesen, ehe er den Kops schüttelt oder gar lacht.
^ Erstlich sagt Copernikus, die Sonne, ja selbst die Sterne, haben gegen die Erde
weiters keine Bewegung, sondern sie stehen für uns so gut als still.
Zweitens, die Erde dreht sich in vier und zwanzig Stunden um sich selber.
Nemlich man stelle sich vor, wie wenn von einem Punkt der Erdkugel durch ihre
Mitte bis zum entgegengesetzten Punkt eine lange Spindel oder Achse gezogen wäre.
Diese zwei Punkte nennt man Pole. Gleichsam um diese Achse herum dreht sich die
Erde in vier und zwanzig Stunden, nicht nach der Sonne, sondern gegen die Sonne;
und der Morgen und Mittag nnd Abend, das heilige Osterfest und sein Glocken-
geläute wandeln in vier und zwanzig Stunden um die Erde herum, und erscheinen
nie an allen Orten zu gleicher Zeit, sondern in Wien zum Beispiel sechs und fünfzig
Minuten früher als in Paris.
Drittens sagt Copernikus, während die Erde den Morgen und den Abend, und
zu seiner Zeit das heilige Osterfest in vier und zwanzig Stunden gleichsam um sich
herumspinnt, bleibt sie nicht an dem nemlichen Orr im unermeßlichen Weltraum
stehen, sondern sie bewegt sich unaufhörlich und mit unbegreiflicher Geschwindigkeit
in einer großen Kreislinie in dreihundert fünf und sechzig Tagen und ungefähr sechs
Stunden um die Sonne herum und wieder auf den alten Ort.*)
Deßwegen und weil alsdann nach dreihundert fünf und sechzig Tagen und un-
gefähr sechs Stunden Alles wieder so wird, und Alles wieder so steht, wie cs
vor eben so viel Zeit auch gestanden ist, so rechnet man dreihundert fünf und
sechzig Tage zu einem Jahr, und spart die sechs Stunden vier Jahr lang zusammen,
bis sie auch vier und zwanzig Stunden ausmachen; denn man darf Nichts von der
kostbaren Zeit verloren gehen lassen, deßwegen rechnet man je auf vier Jahre einen
Tag mehr, nnd nennt es das Schaltjahr.
Viertens, sagen wir, man kann die Bewegung eines Gefährts, auf welchem
man mitfährt, eigentlich nie an dem Gefährt selbst erkennen, sondern man erkennt
sie an den Gegenständen rechts und links, an den Bäumen und Kirchthürmen, welche
stehen bleiben, und an denen man nach und nach vorbeikommt. Wenn ihr auf einem
sanft fahrenden Wagen oder lieber in einem Schifflein auf dem Rhein fahret, und
ihr schließt die Augen zu, oder schauet eurem Kameraden, der mit euch fährt, steif
auf einen Nockknopf, so merkt ihr nichts davon, daß ihr weiter kommt. Wenn ihr
aber umichaut nach den Gegenständen, welche nicht selber bei euch auf dem Gefährt
sind, da kommt auch das Ferne immer näher, nnd das Nahe und das Gegenwärtige
verschwindet hinter eurem Rücken, und daran erkennt ihr erst, daß ihr vorwärts
kommt, also auch die Erde. An der Erde selbst und Allem, was auf ihr ist, so weit
man schauen kann, läßt sich ihre Bewegung nicht absehen (denn die Erde ist selbst
das große Gefährt, und Alles, was man auf ihr sieht, fährt selber mit), sondern
mau muß nach Etwas schauen, das stehen bleibt und nicht mitfährt, und das sind
eben die Sonne nnd die Sterne, z. B. der sogenannte Thierkreis. Denn zwölf
*) Die Geschwindigkeit der Erde auf ihrer Krise um die Sonne beträgt zweihundert fünfzig
Meile» auf die Minute.
16
244
große Gestirne, welche man die zwölf himmlischen Zeichen nennt, stehen am Himmel
in einem hohen Kreis um die Erde herum. Sie heißen: der Widder, der Stier,
die Zwillinge, der Krebs, der Löwe, die Jungfrau, die Wage, der Skorpion, der
Schütz, der Steinbock, der Wassermann, die Fische.
Eins folgt auf das andere, und das letzte schließt an das erste wieder an, nem-
lich die Fische an den Widder. Dies ist der Thierkreis. Er steht aber noch viel
höher am Firmament, als die Sonne, und sie steht von hier aus betrachtet immer
zwischen den zwei Linien, die seinen Rand bezeichnen, und in einem Zeichen derselben.
Denn ob sie gleich noch weit herwärts desselben steht, so meint man doch wegen der
sehr großen Entfernung, sie befinde sich in dem Zeichen selbst. Wenn sie aber heute
in dem Zeichen des Sleiubocks steht, so steht sie nach dreißig Tagen nicht mehr im
Zeichen des Steiubocks, sondern im nächsten, und je nach dreißig Tagen immer in
dem nächstfolgenden, und daran erkennt man, daß die Erde in ihrem Kreislauf unter-
dessen vorwärts gegangen sei. Es kann nicht fehlen. Zu dem allem sagt
Fünftens und letztens der Copcrnikus wieder, wenn gleichwohl die Achse der Erd-
kugel gegen die Sonne wagrecht läge, und die Erde drehte sich auch so, und sie be-
wegte sich wagrecht in einer vollkommen runden Zirkellinie um die Sonne, also
daß die Sonne genau im Mittelpunkt des Zirkelkreises stände, so müßte Jahr aus
Jahr ein und aus allen Orten der Erde Tag und Nacht gleich sein. Ja es müßte
mitten auf der Erde ein ewiger Sommer glühen, weiterhin zu beiden Seiten am
Abhang der Kugel milderte und kühlte sich die Hitze ein wenig, je schiefer die
Sonnenstrahlen herabfielen, und näher gegen die Pole hin herrschte ein Winter ohne
Trost und ohne Ende. Aber es ist nicht so, sagt der Sternseher. Die Achse der
Erde liegt nicht wagrecht und nicht senkrecht gegen die Sonne, sondern schief in
einem Winkel von sieben und sechzig Graden (wers versteht). In dieser Richtung gegen
die Sonne dreht sich die Erde in vier und zwanzig Stunden um, in dieser Richtung
wandelt sie in einem Jahr um die Sonne ebenfalls nicht senkrecht, sondern schief;
und dadurch entsteht denn der Wechsel der Jahreszeiten.
Der Frühling beginnt um den ein und zwanzigsten März; die Sonne steht
gleich weit von beiden Polen über der Erde, Tag und Nacht find gleich. Die Sonne
scheint immer näher zu kommen und immer höher am Himmel aufzusteigen, der Tag
und die Wärme nehmen zu, die Nacht und die Kälte nehmen ab.
Der Sommer beginnt am ein und zwanzigsten Juni. Alsdann steht die Sonne
am höchsten über unserem Haupt, und dieser Tag ist der längste. Von da an kommt
die Sonne immer schiefer gegen uns zn stehen, und die Tage werden kürzer.
Der Herbst beginnt am ein und zwanzigsten September. Tag und Nacht sind
wieder gleich, die Tage und die Wärme nehmen immer mehr ab, die Nächte und
die Kühle nehmen zu.
Der Winter beginnt am ein und zwanzigsten December. Der geneigte Leser
verschläft alsdann die längste Nacht, und die Sonne steht so tief, daß sie ihm noch
früh um neun Uhr durch des Nachbars Kaminhut in das Stüblein schauen kann,
wenn die Fensterscheiben nicht gefroren sind.
Hieraus ist zu gleicher Zeit zu erkennen, daß nie auf der ganzen Erde die
vemliche Jahreszeit herrscht. Denn zu gleicher Zeit und in gleichem Maße, wie
sich die Sonne von unserem Scheitelpunkt entfernt, oder wir von der Sonne, kommt
sie höher über diejenigen zu stehen, welche gegen den andern Pol hinaus wohnen,
und umgekehrt ebenso.
245
Wenn hier die letzten Blumen verwelken, und das Laub von den Bäumen fällt,
fängt dort Alles an zu grünen und zu blühen. Wenn wir in unserem Winter die
längste Nacht verschlafen, schimmert dort der jüngste Sommertag; und man kann
sich nicht genug über die göttliche Weisheit verwundern, die mit einer Sonne auf
der ganzew Erde ausreicht.
Wenn ein Mensch von der Erde sich aufheben und in gerader Linie langsam
oder geschwind zum Abendstern aussteigen könnte, der unter allen Sternen der
nächste ist, so würde er noch merkwürdige Dinge sehen. Der Stern würde vor
seinen Augen immer größer werden, zuerst wie der Mond, bald darauf wie ein
großes Rad, zuletzt wie eine unübersehbare Kugel oder Fläche. Sein Licht würde
ihm immer milder erscheinen, weil es sich immer über eine größere Fläche ver-
breitete, ja er würde in einer gewissen Entfernung davon schon Berge und Thäler
entdecken und zuletzt auf einer neuen Erde landen. Aber in dem vemlichen Ver-
hältniß müßte unter ihm die Erde immer kleiner werden, und glänzender ihr Licht,
weil cs sich auf einen kleineren Raum zusammendrängt. In einer gewissen Ent-
fernung hätte sie für ihn noch den Umfang wie ein großes Rad, hernach wie eine
Schützenscheibe, hernach wie der Mond, und endlich, wenn er gelandet wäre, würde
er sie weit draußen am Hinzmel als einen lieblichen Stern unter den andern er-
blicken, und mit ihnen auf- und untergehen sehen. „Sieh dort", würde er zu
seinem ersten Bekannten sagen, mit dem er bekannt würde, „sieh jenen lieblichen
Stern, dort bin ich daheim, und mein Vater und meine Mutter leben auch noch
dort. Die Mutter ist eine geborene so und so." Es müßte ein wundersames Ver-
gnügen sein, die Erde unter den Sternen des Himmels und ganz als ihres Gleichen
wandeln zu sehen.
114. Morgenlied.
Verschwunden ist die finstre Nacht,
Die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
Die Sonne kommt mit Prangen
Am Himmel ausgegangen.
Sie scheint in Königs Prunkgemach,
Sie scheinet durch des Bettlers Dach,
Und was in Nacht verborgen war,
Das macht sie kund und offenbar.
Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
Der über diesem Haus gewacht,
Und mit den Heilgen Schaaren
Uns gnädig wollt bewahren.
Wohl Mancher schloß die Augen schwer,
Und öffnet sie dem Licht nicht mehr:
Drum freue sich, wer neu belebt,
Den frischen Blick zur Sonn erhebt.
246
115. Der Mond.
Der geneigte Leser wird nun recht begierig sein, auch etwas Neues von dem
Mond zu erfahren, der ihm des Nachts so oft in die Fenster scheint.
Erstlich: der Mond ist auch eine große Kugel, die im unermeßlichen Welt-
raum schwebt, nicht anders, als die Erde und die Sonne; aber in seiner körper-
lichen Masse ist er fünfzigmal kleiner als die Erde, und nicht viel über fünfzig-
tausend Meilen von ihr entfernt.
Zweitens: der Mond, wie die Sonne, scheint sich in vier und zwanzig Stun-
den um die Erde herum zu drehen. Es scheint nur so, und in Wahrheit kommt
das Erscheinen und Verschwinden des Mondes, wie der Sonne, nur von der Umdre-
hung der Erde um ihre Achse her.
Drittens: der Mond muß auch sein Licht und Gedeihen von der Sonne
empfangen. Eine Hälfte seiner Kugel ist erhellt, die gegen die Sonne gekehrt ist,
die andere ist' finster. Damit nun nicht immer die nemliche Halste helt, uud die
nemliche finster bleibe, so dreht sich der Mond, wie die Erde, um sich selber, oder
um seine Achse, und zwar in neun und zwanzig und einem halben Tag. Daraus
folgt, daß in dieser langen Zeit der Tag uud die Nacht nur einmal um den Mond
herum wandeln. Der Tag dauert dort an einem Ort so lange, als ungefähr zwei
von unsern Wochen, und eben so lang die Nacht; uud ein Nachtwächter muß sich
dort schon sehr in Acht nehmen, daß er in den Stunden nicht irre wird, wenn es
anfängt, zweihundert drei und zwanzig zu schlagen, oder dreihundert ueun.
Aber
Viertens: der Mond bewegt sich in der nemlichen Zeit auch um die Erde.
Dies ficht man abermal an den Sternen. Wie wenn man einen langsam gehenden
Postwagen aus weiter Ferne beobachtet, meint man, er stehe still; wenn man aber
bemerkt, wie er doch nicht immer neben dem nemlichen Baum an der Slraße sich
befindet, sondern nach ein paar Minuten neben einem andern, so erkennt man, daß
er nicht still steht, sondern der Station zufährt. Wenn er aber in einem großen
Kreis um den geneigten Leser herumführe, so müßre er doch zuletzt wieder zu dem
nemlichen Baum kommen, bet welchem er zuerst stand, und daran müßte man er-
kennen, daß er jetzt seinen Kreislauf vollendet hat. Also auch der Mond. Er hält
sich nicht jede Nacht bet dem nemlichen Sternlein auf, sondern er rückt weiter von
einem zum andern. Am andern Abend um die nemliche Zeit ist er schon um ein
Beträchtliches vorgerückt, aber ungefähr in oben benannter Zeit, etwas früher, kommt
er wieder zu dem nemlichen Stern, bei dem er zuerst stand, und hat seinen Kreis-
lauf'um die Erde vollendet.
Fünftens: da sich der Mond also um die Erde bewegt, so ist daraus leicht
abzunehmen, was es mit dem Mondwechsel für eine Bewandtniß hat. Der Neu-
mond' ist, wenn der Mond zwischen der Sonne und der Erde steht, aber etwas
höher oder tiefer. Alsdann ist seine ganze erleuchtete Hälfte, oder sein Tag, gegen
die Sonne gekehrt, und seine Nacht schaut herab gegen uns. Vom Neumond an,
wenn der Mond auf seinem Umlauf zwischen der Sonne und der Erde heraustritt,
und sich gleichsam mit ihnen ins Dreieck stellt, erblicken wir zuerst einen schmalen
Streif von der erhellten Mondkugel, der immer größer wird, bis zum ersten
Viertel.
247
Das erste Viertel ist, wenn der Mond so ftehl, daß gerade die Halste von
der erleuchteten Halbkugel, oder der vierte Theil von dem Mond gegen uns im
Licht ist, und die Hälfte von der verstnsterten Halbkugel im Schatten. Da kann
man recht sehen, wie Gott das Licht von der Finsterniß scheidet, und wie auf den
Weltkörpern der Tag neben der Nacht wohnt, und wie die Nacht von dem Tag
bis zum Vollmond allmählich besiegt wird.
Der Vollmond ist, wenn der Mond aus seinem Kreislauf um die Erde hinter
der Erde steht, also daß die Erde zwischen ihm und der Sonne schwebt, aber etwas
tiefer oder höher. Alsdann können wir seine ganze erleuchtete Hälfte sehen, wie
sie von der Sonne erleuchtet wird, und aus unserer Nacht hinausschauen in seinen
Tag. Vom Vollmond an, wenn der Mond sich wieder auf der andern Seite herum-
biegt um die Erde, kommt wieder etwas von seiner finstern Hälfte zum Vorschein,
und immer mehr bis zum letzten Viertel.
Das letzte Viertel ist, wenn wieder die eine Hälfte der Halbkugel, die gegen uns
steht, erleuchtet, und die andere verfinstert ist; und jetzt kann man sehen, wie die
Nacht den Tag besiegt, bis sie ihn im Neumond wieder verschlungen hat. Dies
ist der Mondwechsel.
Sechstens aber, und wenn der Mond und die Erde einmal in schnurgerader
Linie von der Sonne stehen, so geschehen noch ganz andere Sachen, die man nicht
alle Tage sehen kann, nemlich die Finsterniffe. Wenn der dunkle Neumond je zu-
weilen in seinem Lauf gerade zwischen die Erde und die Sonne hineinrückt, nicht
höher und nicht tiefer, so können wir vor ihm am hellen Tag die Sonne eine Zeit
lang nimmer sehen, oder doch nicht ganz; und das ist alsdann eine Sonnenfinster-
niß. Die Sonnenfinsterniß kann nur im Neumond stattfinden. Wenn aber im
Vollmond die Erde gerade zwischen die Sonne und zwischen den Mond hineintritt,
nicht höher und nicht tiefer, so kann die Sonne nicht ganz an den Vollmond
scheinen, weil die Erde ihren Strahlen im Wege steht. Dies ist alsdann eine Monds-
finsterniß. Die Dunkelheit, die wir an dem Mond erblicken, ist nichts anderes, als
der Schatten von unserer eigenen Erde.
Siebtens: und wenn der Mond in seinem vollen Licht am Himmel erscheint,
sieht er bei allem dem kurios aus mit seinem trüben Gesicht und mit seinen helleren
und blässeren Flecken. Denn bekanntlich ist die Helle nicht gleichmäßig über ihn
verbreitet, sondern ungleichmäßig. Damit hat er die Gelehrten lange Zeit vexirt
und ihnen weiß gemacht, die helleren Theile seien Land, von welchen die Lichtstrahlen
wieder zurückprallen, und die dunkleren seien Wasser, welches die Lichtstrahlen ver-
schluckt. Allein mit einem guten Fernrohr, wie es in vorigen Zeiten keine gab,
hat ein rechtschaffener Sternseher, Namens Schröter, ganz andere Dinge auf dem
Mond entdeckt, als Land und Wasser, nemlich auch Land, aber kein Wasser,
sondern weite Ebenen, hohe Berge und tiefe Abgründe von wunderbarer Gestalt
und Verbindung. Hat er nicht ihren Schatten sogar beobachtet, und wie er sich
von Abend gegen Morgen bewegt, verkürzt oder verlängert? Hat er -Ht zu.
sogar aus dem Schatten der Berge ihre Höhe ausgerechnet? höchsten Berge
aus dem Mond sind höher, als die höchsten auf de" ^rde. Man muß Achtung
haben vor dem Sternseher, und vor der göttlich-"' "Allmacht, die einem schwachen
Menschenkind den Verstand und die Geschick*geben kann, auf fünfzigtausend
Meilen weit Berge auszumessen, die ma- unt bloßem Ang gar nicht sieht. Fragt
man nun noch
248
Achtens und letztens, was denn eigentlich der Mond am Himmel zu verrichten
hat?
Antwort: was die Erde. So viel ist gewiß, er erhellt durch sein mildes Licht,
welches der Wiederschein von seinem Sonnenschein ist, unsere Nächte. Hinwiederum
scheint die Erde mit ihrem Sonnenglanz in wechselndem Licht an die finstere Halb-
kugel des Mondes, und erhellt ihre lange, lange Nacht. Was will der geneigte
Leser sagen! Sieht man nicht in den ersten Tagen des Neulichts, wenn der Mond
noch wie eine krumme Sichel am Himmel steht, sieht man nicht auch den übrigen
dunkeln Theil seiner Scheibe, oder seine Nacht durch einen schwachen grünlichen
Schimmer erhellt? Das ist eine Wirkung des Sonnenscheins, der von der erleuch-
teten Halbkugel unserer Erde ans den Mond fallt, oder ist der Erdschein im Mond.
116. Fixsterne, Planeten nn- Cometen.
Bis jetzt haben wir in unsern Betrachtungen über das Weltgebäude
unsern Wohnplatz, die Erde, die Sonne und den Mond näher kennen gelernt.
Jetzt erheben wir unser Auge zu den leuchtenden Sternen, an denen sich so oft
das Auge des nächtlichen Wanderers ergötzt. Wer etwa in einer großen Haupt-
stadt oder in der Nähe derselben gelebt hat, der kann wisien, was eine Jllumi-
^ Nation ist (Beleuchtung der Häuser) und wie herrlich es aussieht, wenn zu
Ehren eines großen Herrn in der ganzen Stadt viele tausend kleine Lampen zu
gleicher Zeit angezündet werden und brennen. Das Auge kann sich nicht genug
satt schauen, und überall erblickt es etwas Anderes und Schöneres. Aber alle
diese irdische Herrlichkeit ist in gar keine Vergleichung zu setzen mit der großen
himmlischen Illumination, die in jeder wolkenlosen Nacht zur Ehre des großen
Weltbeherrschers aus unermeßlicher Höhe herab flimmert.
Fürs erste müßen wir wisien, daß es zweierlei Arten der Sterne gibt,
denn so sehr sie alle, groß und klein, in der Unordnung unter einander zu
sein scheinen, so behalten doch die meisten derselben Jahr auö Jahr ein ihre
nemliche Stellung gegen einander, gehen Jahr aus und Jahr ein in der nem-
lichen Ordnung mit und nach einander aus und-unter, keiner kommt dem andern
näher, keiner entfernt sich von dem andern. Jeder von uns, der auch nur ein
Gestirn kennt, den Heerwagen oder den JakobSstab, der wirds wisien.. Wie
diese Sterne in seiner Jugend standen, so stehen sie noch, und wo er sie im
Sommer oder Winter, Nachts um acht Uhr, oder in der Mitternacht zu finden
> äßte, dorr fVM' sie tn der nemlichen Jahreszeit wieder. Und diese heißen
Fixsterne oder fest sie^^e Sterne. - '
Nur mit sehr wenigen ^>ern, welche man Jrrsterne oder Planeten nemfl,
hat es auch eine eigene Bewandtnis. Diese behalten nicht ihre gleichförmige
Stellung gegen die andern. Wenn der Planet, Jupiter genannt, heute Nacht
zwischen zwei gewissen Sternen steht, so. st^i er von heute übers Jahr nicht
249,
mehr zwischen den nemlichen, sondern an einem andern Ort. Es ist, als ob
diese Sterne für Kurzweil bei den andern herumspazierten, ihnen gute Nacht
oder guten Morgen sagten und stch um die Zeit und die Minute nicht viel
bekümmerten. Aber ste haben ihre Ordnung so gut wie die übrigen, nur eine
andere. Diese Planeten haben nun folgende Eigenschaften mit einander
gemein:
1. ste stnd unter allen Sternen unserer Erde am nächsten, viel naher als
irgend ein Firstern;
2. sie bewegen sich in großen Kreisen und in ungleich langen Zeiten um
die Sonne, welches die andern nicht thun. Und aus diesem Grund ver-
ändert sich unaufhörlich ihre Stellung am Himmel;
3. es stnd von Natur dunkle Weltkörper. Sie empfangen ihr Licht, wie
unsere Erde, von der Sonne. Was wir in der Nacht in ihnen glänzen
sehen, ist Sonnenschein, der wie aus einem Spiegel zu uns zurückstrahlt,
so daß wir auch in der sinstersten Sternennacht doch nicht ganz von die-
sem fröhlichen Licht verlassen sind. Jeder Planet ist eine ungeheuer
große Kugel, die stch immer und ohne Ruhe herumdreht. Nur diejenige
Hälfte, die alsdann gegen der Sonne steht, hat Licht, die andere ist
finster. Sie haben daher auch ihres Theils Tag und Nacht;
4. ein Planet steht nicht immer in gleicher Entfernung und Richtung gegen
die Sonne. Sie haben daher, wie unsere Erde, verschiedene Jahreszeiten,
in ihrer Art Sommer und Winter.
Ein Eometstern oder Schweifstern ist allemal eine sehr merkwürdige Er-
scheinung, wenn er so auf einmal unangemeldet und unbeschieden am Himmel
sichtbar wird und da steht und sagt kein Wort, zumal ein solcher, wie im Jahr
¿680, der viermal so groß schien, als der Abendstern; oder hundert sechs
und vierzig Jahre vor Christi Geburt, der größer soll ausgesehen haben, als
die Sonne; oder im Jahr 1769, dessen Schweif durch den vierten Theil des
Himniels reichte; oder wenn gar zwei zugleich erscheinen, was auch schon ge-
schehen ist. Es ist alsdann allemal, als wenn der liebe Gott einen Sternseher
anredete: „Meinst du, daß du jetzt fertig seist und die Sterne des Himmels alle
kennst? Sieh, da ist auch noch einer, den du noch nie gesehen hast, und wirst
jetzt erst nicht wissen, was du daraus machen sollst." Andere Leute aber schauen
das Wundergestirn auch mit Begierde und Staunen an, und die Mutter zeigt
es dem Kinde und sagt: „Sieh, wie wunderbar die göttliche Allmacht ist!"
'Solche Cometsterne nun sind einander nicht alle gleich; auch der nemliche,
so lange man ihn beobachten kann, verändert oft sein Aussehen. Sie stnd bald
heller, bald trüber, bald größer, bald kleiner, rund und eckig, näher oder weiter
von uns entfernt. Der Comet im Jahr 1770 war daheim dreizehn mal größer
250
als der Mond, ob man ihn gleich wegen der weiten Entfernung hier zu Land
nicht dafür angesehen hat. Einer im Jahr 1680 war hundert sechzig mal
näher bei der Sonne, als die Erde bet ihr ist. Einer im Jahr 1770 war sieben
mal weiter von der Erde weg, als der Mond. Einige sind so weit entfernt,
oder so klein, daß nur der Sternseher und Kalendermacher mit unsern Perspecti-
ven (Ferngläsern) sie entdecken können; andere kann man ohne Zweifel gar
nicht sehen, weil sie zu weit entfernt sind, oder bei Tag am Himmel stehen.
Die Cometsterne haben viel Aehnliches mit den Planeten, und drehen sich
eben so wie sie um die Sonne herum. Aber sie sind auch wieder sehr von den
Planeten verschieden: 1) sie werden nur selten sichtbar; 2) sie haben keine so
feste und kernhafte Masse als die Erde und andere Planeten; 3) sie sind mit
einem schönen, leuchtenden Schweif geziert; 4) sie bedeuten nach der Meinung
vieler Menschen ein großes Unglück.
Sage erstens, sie erscheinen viel seltener als die Planeten, die alle Tage
am Himmel auf - und untergehen, denn sie sind nicht immer so nahe bei der
Sonne oder bei uns, wie die Planeten. Nein, sondern sie sind rechte Nacht-
läufer und scheuen sich nicht, in die Fremde zu gehen, wie manches Mutterkind
sich scheut. Wenn so ein Stern einmal um die Sonne herum ist und hat sich
an ihr erwärmt und einen kräftigen Sommer gehabt, so zieht er in einer lan-
gen Linie hinweg in seinen Winter hinaus, weiß Niemand woh^n. Wenn er
alsdann dreißig oder hundert oder'viele hundert Jahre lang immer weiter und
weiter hinweggezogen ist, und es fällt ihm ein, so kehrt er wieder um, damit er
sich wieder einmal an der lieben Sonne recht erwärmen kann, und braucht wie-
der eben so viel Zeit zu seiner Heimreise, und selten einer, der ihn zum ersten
mal gesehen hat, wartets aus, bis er wieder kommt, sondern legt sich schlafen
und bekümmert sich nachher nichts mehr darum. ,
Sage zweitens, der Cometstern hat keine so feste Masie, wie die Erde oder
wie ein anderer Planet. Einige sehen aus wie ein bloßer Dunst, also daß man
durch sie hindurch die andern Sternlein will sehen können, die hinter ihnen
stehen. Andere sind zwar schon etwas dichter, haben aber doch das Ansehen,
als wenn nicht Alles daran recht aneinander hinge, sondern viel leere Zwischen-
räume da wären.
Sage drittens, die Cometsterne sind mit einem schönen, leuchtenden
Schweif geziert, aber nicht alle. Einige z. B. haben rings um sich bloß einen
Strahlenschein, als wenn sie mit leuchtenden Haaren eingefaßt wären, wie in
den großen Bibeln die Köpfe der heiligen Evangelisten und Apostel aussehen,
und Johannis des Täufers. Hat aber ein solcher Stern einen Schweif, so hat
er allemal das Ansehen eines Dunstes, der von Strahlen erhellt ist. Man
kann hinter ihm immer die Sterne sehen, an denen er vorbeizieht, er. ist immer
251
etwas gebogener, wird bald größer, bald kleiner, Heller und bleicher. Er ist nie
auf der Seite des Kometen, die gegen der Sonne steht, sondern allemal auf der
entgegengesetzten. Sonst weiß man noch nicht für gewiß, was es mit ihm für
eine Bewandtniß hat.
Sage viertens, der Comet bedeutet ein Unglück. Man darf sicher darauf
rechnen, entweder es entsteht innerhalb Jahresfrist ein Krieg, oder ein Erd-
beben, oder es gehen ganze Städte und Königreiche unter, oder es stirbt ein
mächtiger Monarch, oder geschieht sonst Etwas, woran Niemand eine Freude
haben kann. Dies ist aber nicht so zu verstehen, als wenn der Comet das Un-
glück herbeizöge, oder deßwegen erschiene, um wie ein Postreiter es anzuregen.
Nein, der Comet weiß nichts von uns. Er kommt, wenn seine Stunde da ist.
Man kann ihn aus den andern Planeten eben so zur sehen, als auf der Erde.
Wir aber da unten mit unsern Leiden und Freuden, mit unsern Herzen voll
Furcht und Hoffnung, mit unsern Lustgärten und Kirchhöfen, sind in Gottes
Hand. Allein es geschieht auf dem weiten Erdenrund, irgendwo dieffeits oder
jenseits des Meeres, alle Jahre so gewiß ein großes Unglück, daß diejenigen,
welche aus einem Cometen Schlimmes prophezeien, gewonnen Spiel haben, er
mag kommen, wann er will.
117. Die Egypter.
.Epvpten war eines der ältesten und mächtigsten Königreiche.
Kein Land hat eine so lange Reihe von Königen auszuweisen, als
dieses. Egyptische Gelehrsamkeit und Weisheit war sprichwörtlich ge-
worden. Die Zahl seiner Städte und seiner Bewohner, wie sie die
-lten Geschichtschreiber angeben, grenzt an das Unglaubliche. Natur
und Kunst hatten sich vereinigt, das Land höchst fruchtbar zu ma-
chen; man nannte es das Kornhaus der Welt.
Das Land, das diesen Namen trägt, ist eigentlich das lange,
und mit Ausnahme des Deltas nur wenige Stunden breite Thal des
Flusses Nil. Vom Juni bis zum September werden die Nieder-
ungen vom Nil überschwemmt, und das lange Thal dadurch in einen
See verwandelt, aus dem die Dörfer und Städte wie Inseln hervor-
ragen. Der Schlamm, den der Strom mit sich führt, befruchtet
die Felder und macht den ausgebrannten, staubigen Boden zu einem
grünenden Garten, in welchem Getreide, Reis und Baumwolle aufs
üppigste gedeihen. Erreicht der Wasserstand nicht die erforderliche
Höhe, so erfolgt Mißwachs; ist die Ueberschwemmung reichlich, so
wächst Alles im Ileberfluß.
mkHMfe.
252
Die größten Städte des Landes waren Theben (No oder No-
Amon, Hesek. 30, 14.) im südlichen und Memphis (Moph oder
Noph, Ies. 19, 13., Hes. 30, 13.) im nördlichen Theile Egyptens,
unweit des jetzigen Kairos. Trümmer aller Art, die stundenlang
das Land bedecken, zeugen noch heute von ihrer Größe und Pracht.
Bewundernswürdig sind vornemlich die sogenannten Pyramiden,
deren es gegen vierzig gibt. Es sind das vierseitige Gebäude von
Steinen, die sich nach oben immer mehr, zuspitzen und den Königen
als Begräbnisse dienten. Die höchste derselben ist 465 Fuß hoch und
unten 728 Fuß breit und lang. Es sollen an derselben 360,000
Arbeiter zwanzig Jahre gebaut haben.
Diese Pyramiden, ebenso die sogenannten Obelisken, d. h. spitz
zulaufende Säulen, von fünfzig bis zu hundert und achtzig Fuß Höhe,
aus einem einzigen Granitblock gehauen, und verschiedene riesenhafte
Trümmer von Tempeln und Palästen, von kolossalen Menschen- und
Thiersiguren aus Stein, von Dämmen und Kanälen, auch (in Felsen)
gehauene Grabkammern mit Mumien bezeugen uns, daß die alten
Egypter auf einer nicht unbedeutenden Stufe der Bildung in Künsten
und Fertigkeiten gestanden sein müssen, wie sie denn auch in allerlei
Wissenschaften wohl erfahren gewesen sind. (Apostelgesch. 7, 22.)
Schon zu Abrahams Zeiten (2000 vor Chr.) waren sie ein geord-
netes Reich, eben so zu Josephs Zeiten, als der Herr den Erzvater
Israel mit seiner Familie dorthin gewiesen hatte, und zur Zeit des
Auszugs der Israeliten (um 1500). Die Macht dieses Reiches war
so bedeutend und blendend, daß sich Israel und Juda immer wieder
darauf verließen und den Propheten Gottes nicht glauben wollten/
es sei wie alle bloß menschliche Macht nur ein leicht zerbrechlicher
Rohrstab. (2 Kön. 18, 21.)
Dennoch sind die Egypter in Beziehung auf das Höchste, nem-
lich die Religion, Kinder geblieben, ja große Thoren gewesen. Die
Vielgötterei, welche schon vor Abrahams Zeit unter den damals be-
kannten Völkern die Anbetung des einzigen, wahren Gottes verdrängt
hatte, herrschte auch in Egypten, und zwar in einer Gestalt, welche
sogar den andern ebenfalls heidnischen Völkern unwürdig und lächer-
lich erschien. Die befruchtende Kraft der Sonne nemlich verehrten
sie unter dem Namen des Osiris, und die Erde, welche als eine
gütige Mutter Nahrung spendet, hielten sie für die Gattin des Son-
nengottes und beteten sie unter dem Namen Isis an. So hielten
fie aber auch alles Schädliche und Widrige für die Wirkung einer
253
bösen Gotlheit (Typhon). Aehnliches finden wir auch bei den an-
dern heidnischen Völkern. Aber das Besondere in der egyptischen
Religion war das, daß jede ihrer Gottheiten ein besonderes Thier
hatte, unter dem man fich diese Gottheit dachte und welches darum
ebenfalls göttliche Verehrung genoß. Das Bild und Thier des feind-
seligen Gottes Typhon war das Krokodil. In einer Stadt grub
man kleine Teiche für diese furchtbaren Thiere, fütterte sie und er-
wies ihnen göttliche Ehre. Die Gewalt dieses Aberglaubens war so
groß, daß Mütter dieser Stadt fich freuten und fich geehrt glaubten,
wenn ein Krokodil eines ihrer Kinder verschlang.- Unter der Gestalt
einer Kuh wurde Isis verehrt, unter der eines Stieres Osiris; und
da außer den zwei Hauptgottheiten noch in den einzelnen Landschaf-
ten besondere Götter verehrt und gleichfalls unter dem Bilde von Thie-
ren gedacht wurden, so galten in Egypten noch viele Thiere als
göttlich, z. B. Katzen, Hunde, Schlangen, Wölfe, Widder, Böcke,
Löwen, Nilpferde, Spitzmäuse, der Habicht, der Geier, der Adler
und ganz besonders der Ibis, ein storchartiger Sumpfvogel, der
schädliche Amphibien und namentlich Schlangen wegfängt. Prachtvolle
Tempel waren allenthalben für die Gottheiten erbaut. Man trat zu
diesen Tempeln durch großartige Säulengänge und Vorhallen. Das
Tempelgebäude selbst hatte zwei Abtheilungen; die erste, in die man
eintrat, glänzte von Gold, Silber und Edelsteinen und war durch
einen Vorhang abgesondert von dem zweiten, innersten und heiligsten
Raume. Der Priester, welcher den fremden Besucher des Heiligthnms
empfangen hatte, näherte sich mit ihm in stiller Ehrfurcht dem Vor-
hänge, hinter dem die Gottheit wohnte; und wenn nun der Vorhang
'weggezogen war, erblickte man etwa eine Katze oder ein anderes Thier.
Von Osiris, ihrem vornehmsten Gott, glaubten die Egypter,
daß er in einem schwarzen Stier wohne, der auf der Stirn einen
weißen Stern, und auf dem Rücken und an andern Theilen des
Leibes allerlei bestimmte Zeichen habe. Einen solchen Stier nannte
man den Apis, und der gemeine Glaube war, daß der Geist des
Osiris von dem Apis, welcher starb, wieder in einen neuen Apis
übergehe, wie denn die Egypter auch von den Menschenseelen glaub-
ten, daß sie nach dem Tode 3000 Jahre lang durch Thiere des
Landes und des Meeres, vierfüßige und beflügelte, wandern müßten,
bevor sie wieder mit einem menschlichen Körper vereinigt würden.
Die Zeit nach dem Tode eines Apis war für Egypten eine Trauer--
zeit, bis ein neuer gefunden war? Sobald sich aber das Gerücht
üW
J
254
verbreitete, daß irgendwo eine Kuh ein männliches Kalb von dieser
Zeichnung geworfen habe, war das Land voll von Jubel, und Alle
legten ihre schönsten Kleider an. Man brachte das Kalb, nachdem
es vier Monate alt worden war, ans einem kostbar verzierten Schiffe
nach der Hauptstadt Memphis, woselbst es einen Tempel und um
denselben schöne Gärten mit frischem Brunnenwasser fand. Der
Mann, von dessen Heerde der Apis kam, wurde für den glücklichsten
unter den Sterblichen angesehn und von dem ganzen Volke mit Be-
wunderung betrachtet.
Zwar fehlte es der Religion der Egypter nicht an Keimen der
Wahrheit, wie sie z. B. an eine Fortdauer des Menschen nach dem
Tode glaubten, und der Verehrung der Thierwelt mag ursprünglich eine
sinnliche Beobachtung der Thiere und des Nutzens oder Schadens, wel-
chen sie den Menschen brachten, zu Grunde gelegen haben. Aber der
^ allmählich daraus entstandene Thierdienst zeigt deutlich, daß eine solche
Religion ihre Bekenner weder weiser noch besser gemacht, sondern
vielmehr den Geist des Volkes in finsterem Aberglauben gefangen ge-
halten habe. Sie glaubten, ihren Göttern nicht durch Heiligkeit der
Gesinnung und des Lebens, sondern nur durch Opfer und äußerliche
Gebräuche beim Gottesdienst gefallen zu müssen; ja es gab gottes-
dienstliche Gebräuche, bei denen sogar unsittliche Geberden und Hand-
lungen in der Meinung verübt wurden, daß man damit seine Ehr-
furcht für die Gottheit beweise.
Wenn das Land durch das Uebermaß der Hitze dürre lag, oder
wenn die Pest oder sonst ein allgemeines Uebel das Land heimsuchte, so
führten die Priester etliche der Thiere, in denen sie ihre Götter verehr-
ten, an einen abgesonderten Ort, woselbst sie ihnen zuerst die Noth
des Landes vorstellten, Abhülfe verlangten und sie ernstlich bedrohe-
ten, wofern diese nicht erfolgen würde. Wenn dann nach einiger
Zeit keine Aenderung zum Besseren eintrat, so tödteten die Priester
dieselben Thiere, welche sie zu ihren Göttern gemacht hatten. — Wie
hoch stand doch nicht das Volk Israel über dem vielgepriesenen Egyp-
tervolk durch seine Erkenntniß des wahren Gottes! Und dennoch
konnte es sich immer wieder von diesem seinem Gott, dem Schöpfer
und Herrn Himmels und der Erde, abwenden und den läppischen Stier-
dienst in Aufrichtung goldener Kälber nachäffen! •— (2 Mos. 32.
1 Kön. 12, 28 ff.) „Mich, die lebendige Quelle", so muß der Herr
(Jer. 2, 13.) klagen, „verlassen sie, und machen ihnen hie und da aus-
gehauene Brunnen, die doch löchricht sind und kein Wasser geben!" —
—-
118. Die Spartaner.
Die Spartaner (1 Makk. 12.) und die Athener waren die beiden Hauptvölker
der Griechen. Jene wohnten in Lakonien in Süd-Griechenland. Ihren Ruhm
und ihre Stärke verdanken die Spartaner namentlich dem Lykurgus, der ihnen um
das Jahr 888 vor Christo, zu der Zeit, als Elisa im Reiche Israel wirkte, Gesetze
gab. Um sein Volk aus die Dauer groß und glücklich zu machen, hielt er es für
nöthig, ein ganz neues Geschlecht von Menschen heranzuziehen. Deßhalb fing er
mit der Jugend an. Das neugeborene Kind mußte den Stammesältesten vorgezeigt
werden, deren Urtheil darüber entschied, ob es am Leben bleiben sollte oder nicht.
Sie befahlen, das Kind aufzuziehen, wenn es kräftig und wohlgebildet war; ein
mißgestaltetes und schwächliches aber mußte nach ihrem Ausspruche in eine Kluft
am Berge Taygetus geworfen werden. Die Erziehung der kleinen Kinder in den
Häusern der Eltern war auch schon streng und abhärtend. Sie waren nicht warm
eingehüllt; man gewöhnte sie frühe an geringe Kost; sie mußten lernen allein sein,
ohne sich zu fürchten und zu schreien. Sobald der Knabe sieben Jahre alt gewor-
den war, durfte er nicht mehr länger im elterlichen Hause bleiben; er kam jetzt unter
die Aufsicht der Obrigkeit und wurde öffentlich erzogen. Das ganze Leben der Kna-
ben, ihr Unterricht, ihre Uebungen und ihre Spiele, ja selbst auch ihr Nachtlager
war von da an gemeinschaftlich. Man unterrichtete sie im Lesen und Schreiben,
aber nur, daß sie im gewöhnlichen Leben davon Gebrauch machen könnten, nicht zur
Vorbereitung auf eine höhere geistige Bildung, welche bei den Spartanern durchaus
nicht geachtet war. Sonst war aller Unterricht und die ganze Erziehung nur daraus
berechnet, daß die Knaben willigen Gehorsam und Ausdauer lernen und einst dem
Feinde muthig unter die Augen treten möchten. Schon kleinere Kinder führten zum
Spiel einen kriegerischen Tanz auf. Die Knaben sodann mußten sich vornemlich im
Laufen, Ringen, Werfen üben. Ihre Spiele waren wieder von derselben Art: sie
rangen miteinander und suchten überhaupt an Gewandtheit und Stärke des Leibes
einander zu übertreffen. Die älteren Mäuner waren gegenwärtig bei ihren Uebungen
und Spielen; keiner wollte unter ihren Augen erliegen oder der Schwächere sein.
Alle Tage badeten sie sich im Fluffe Eurotas. Gingen sie auf der Straße, Fö
Myßten sie ihre Hände unter ihrem Mantel halten, als Zeichen der Bescheidenheit,
und gesenkten Blicks ihres Wegs gehen; umherblicken war ihnen nicht erlaubt. Schuhe
waren ihnen nicht gestattet. Ihre tägliche Kost war außerordentlich kärglich, für
Fremde unschmackhaft, aber kräftig und gesund. Jeder Bürger hatte das Recht und
die Verpflichtung, den Knaben, welchen er über einer Unart ertappte, zu züchtigen,
wenn derselbe auch eines andern Bürgers Kind war; und der Vater, dem der gezüchtigte
Knabe dies klagte, war verbunden, ihn dann nochmals zu bestrafen. So wurden
die jungen Spartaner abgehärtet gegen Hunger und Wachen, Hitze und Frost, ja
selbst gegen empfindliche Körperschmerzen. Zu diesem letzteren Zweck wurden die
spartanischen Knaben jährlich einmal am Fsste der Diana (Apostelgesch. 19.) öffent-
lich mit Geißeln blutig gepeitscht, und keiner durste nur eine Miene des Schmerzes
zeigen. Manche sollen die Standhaftigkeit so weit getrieben haben, daß sie ohne
einen Klagelaut todt am Altare niedersanken. Man gewöhnte die Knaben, aus jede
^rage schnell und mit Hinzufügung eines. Grundes zu antworten. Wenn also der
Knabe gefrggt wurde, wer ein wackerer Bürger sei, mußte er gleich einen zn neunen
wiffen und zugleich angeben, warum er gerade diesen einen wackern Bürger paunle.
256
Alles, was man sprach, mußte kurz sein, daher mau noch jetzt eine kurze und viel-
sagende Antwort eine lakonische nennt. Schon der Knabe mußte sich gewöhnen,
Spottende ohne Erbitterung anzuhören und die Angriffe des Witzes nur mit Witz
zu erwiedern. Wie man von jedem Knaben verlangte, daß er bündig und treffend
sprechen lerne, so mußte auch jeder singen lernen; denn dem Gesang schrieben die
Spartaner eine besondere Kraft zu, Mannhaftigkeit und kriegerischen Muth zu
wecken. Daß bei einer solchen Erziehung die Knaben in Sparta zu Männern her-
anwuchsen, rüstig und tüchtig in .Wort und That, ist nicht zu verwundern. So
sinden wir sie z. B. zur Zeit der sogenannten Perserkriege.
Im Jahr 480 vor Christi Geburt zog nemlich der König von Persien, Xerxes,
wie schon sein Vater Darins gethan hatte, von Asien hinüber nach Europa. Er
wollte das Reich der Perser auf Erden so groß machen, als Gottes Reich im Him-
mel; durch ganz Europa wollte er ziehen und dasselbe unter sich bringen, zunächst
aber mit dem kleinen Griechenland den Anfang machen. Sein Heer, mit dem er
dieses ausführen wollte, bestand aus ungefähr eben so viel Kriegern, als ganz Würt-
temberg Einwohner zählt: die Zahl derselben wird auf 1,700,000 Mann angegeben,
zusammengestellt aus mindestens vier und vierzig Völkerschaften.
Dieses ungeheure Heer wollte nun in Griechenland eindringen und dasselbe unter-
jochen. Die Perser kamen an einen Engpaß bei Thermopylä, diesen aber hatten
8000 Griechen besetzt; unter ihnen waren 300 auserlesene Spartaner und deren
König Leonidas. Leides schickte zuerst einen persischen Reiter in den Engpaß, der
auskundschaften sollte, wie stark das Heer der Griechen sei. Dieser sah, wie die
Spartaner eben ihrer Sitte gemäß sich zum Kampfe schmückten, ihr langes Haar
kämmten und flochten, und sich mit Kampfspielen ergötzten. Ans dessen Bericht sandte
nun der Pcrserkönig einen Herold an sie und forderte ihnen die Waffen ab. „Hole
sie dir!" war die lakonische Antwort. Er machte ihnen nun große Versprechungen,
wenn sie zu ihm übergehen und ihm Griechenland bezwingen helfen wollten. „Die
Spartaner sind nicht gewohnt", war die Antwort, „Ehre durch Verrath zu erkaufen."
Als ein Bewohner jener Gegend den Spartanern die Nachricht brachte, es seien der
Feinde so viele, daß ihre Pfeile die Sonne versinstern würden, so antwortete einer:
„desto besser, so werden wir im Schatten fechten." ' <
Xerxes befahl endlich, man solle sie gefesselt vor ihn herführen. Aber ein Haufe
der Perser um den andern wurde zurückgeworfen. Nicht anders ging es am andern
Tag, so daß der König, der auf einem hohen Thurm von ferne dem Kampfe zusah,
dreimal von seinem Sitze aufsprang, besorgt um das Schicksal seines Heeres, und
ausrief: „Soll diese Handvoll Griechen meiner Hunderttansende spotten?"
Ein Verräther aus den Griechen zeigte endlich den Persern einen Fußsteig über
das Gebirge; so wurden die Griechen auch im Rücken angegriffen. Leonidas mit
seinen 300 Spartanern beschloß zu bleiben, während die andern Griechen sich größ-
tentheils zurückzogen, und so fielen endlich alle tapfer kämpfend, unbesiegt, aber von
der ungeheuern Uebermacht der Asiaten erdrückt.
Es wurde ihnen ein Denkmal errichtet, auf dem die Worte stauben:
Wanderer, melde den Lacedämoniern (Spartanern),
Daß wir hier liegen, ihren Befehlen gehorsam.
A
257
119. Die Athener und die griechische Sprache.
Mit den Athenern verhielt es sich ganz anders, als mit der andern
Hauptmacht Griechenlands, den Spartanern. Diese letzteren legten Alles auf
Abhärtung des Leibes und auf den Krieg an und verachteten jede feinere Bil-
dung des Geistes. Die Athener waren zwar auch in Leibesübungen und
Kriegskunst nicht zurück und haben oft außerordentliche Kriegsthaten zu Land
und zu Wasser ausgeführt. So schlugen z. B. im Jahr 190 vor Chr. ihrer
10,000 bei Marathon ein Heer von 110,000 Persern, und zehn Jahre später
wurde eine persische Flotte von 1000 Schiffen zumeist durch die Tapferkeit der
Athener und die Entschlossenheit ihres Führers Themistokles überwunden.
Allein sie haben daneben auch einen großen Werth auf die Ausbildung ihres
Geistes gelegt. Daher standen denn auch bei ihnen die Wiffenschaften und
Künste in der höchsten Blüthe. In Athen waren die größten Philosophen
(Weltweisen), Dichter, Redner, Geschichtschreiber, Maler, Bildhauer, Bau-
meister, Aerzte, und wer in solchen Dingen etwas Rechtes lernen wollte, der
ging dörthin. Die Stadt Athen war die berühmteste unter allen Städten
Griechenlands, voll der herrlichsten Tempel, Prachtgebäude und-Kunstwerke
aller Art. So geschah es, daß auch nach der Blüthezeit griechischer Wissen-
schaft und Kunst, namentlich auch noch zu der Zeit, da der Apostel Paulus nach
Athen kam, Tausende von „Ausländern und Gästen" (Apostelgesch. 17, 21.)
dort zusammen kamen, um sich in Kenntniffen und Künsten zu vervollkommnen
oder feine Lebensart zu lernen. Durch die Werke ihres Ge'stes aus der besse-
ren Zeit des Volkes, durch ihr Nachdenken über göttliche Dinge, über das, was
gerecht und gut sei, was wahr und weise, was schön und edel, woher und wie
, die Welt und Alles darinnen geworden, durch musterhafte Kunstwerke, durch
v ^ ernste und fröhliche Dichtungen u. s. w. haben die Griechen überhaupt, und
namentlich die Athener, auf den Geist anderer Völker eilten großen Einfluß
ausgeübt und vermögen noch heute auf Geist und Gemüth veredelnd einzuwir-
ken. Hiezu trug auch ihre schöne, seingebildete Sprache, mit der man jede Be-
wegung des menschlichen Geistes und Herzens ausdrücken kann, Vieles bei.
Diese Sprache hat sich noch vor Christi Geburt in die wichtigsten Länder der
ganzen damaligen Welt ausgebreitet. Besonders hatte der Heereszug der Grie-
chen unter Alerander dem Großen (seit 331 vor Chr.) viel zur Verbreitung
griechischer Bildung und Sprache im Morgenlande beigetragen. Wer in Rom
um die Zeit des Kaisers Angustus gebildet heißen wollte, der mußte Griechisch
können. Die reichen Leute (und solcher gab es Viele daselbst) ließen sich
Kindsmägde aus Griechenland kommen, damit ihre Kinder von klein auf schon
Griechisch lernen möchten. So wurde die griechische Sprache in Europa,
258
Asien und Afrika sehr verbreitet. Hat ja Pilatus für nöthig gehalten, die
Ueberschrift über dem Kreuze Jesu auch in der griechischen Sprache schreiben zu
lassen (Luc. 23, 38.). Das ganze alte Testament ist schon gegen 280 Jabre
vor Christi Geburt in Alerandrien in Egypten angeblich von siebzig Dol-
metschern ins Griechische übersetzt worden und viel im Gebrauch gewesen. Als
nun das Evangelium aller Welt kund gemacht werden sollte, da wurde die
griechische Sprache ein treffliches Mittel in Gottes Hand, um seine großen
Thaten bald recht vielen Menschen bekannt werden zu lassen; denn die Schrif-
ten des neuen Testaments sind von den Aposteln und Evangelisten griechisch
geschrieben worden. Da fanden sich nun alsobald in allen Welttheilen Leute,
die sie lesen und weiter verbreiten konnten. So diente, was Griechenland an
edleren Schätzen errungen hatte, auch zur Verbreitung des Wortes vom
Kreuze, und wenn auch etliche der athenischen Weltweisen dem Manne von
Tarsen nur spottend zuhörten, als er auf öffentlichem Gerichtsplatz ihnen ihre
Unwissenheit in Beziehung auf den wahren Gott vorhielt und ihnen die wun-
derbare Neuigkeit von der Auferstehung Jesu Christi verkündigte, schritt doch
das Evangelium in seinem Siegesläufe fort.
Anderthalb tausend Jahre später ist das Wiederaufkommen der griechi-
schen Sprache für die Wiederherstellung der Kirche aus ihrem tiefen Verderben
durch Luther und seine Mitarbeiter sehr wichtig gewesen. Melanchthon hat
dafür besonders viel gethan. „Den Hauptgriechen, den hochgelehrten und lieb-
reichen Philippum", schreibt Luther von ihm, „lasse sich der Herr bestens
empfohlen sein. Er macht, daß sich Hohe, Mittlere, Niedrige aus das Griechische
legen." Und das war gut; denn dadurch lernte man namentlich auch das
lautere Wort des Evangeliums, das fast vergeffen war, wieder aus der Grund-
sprache kennen und verstehen. — Noch vor der Zeit Christi hatte allmählich
das sittliche Verderben des griechischen Volkes den Verlust von deffen Freiheit
und schwere Gerichte über Griechenland herbeigeführt. Gegen vier Jahrhun-
derte lang schmachtete es später unter der Herrschaft der Türken. -Jetzt ist
Griechenland wieder in die Reihe selbständiger Reiche getreten; ein deutscher
Prinz, Namens Otto, aus dem bayrischen Königshause, ist im Jahr 1832
König von Griechenland geworden, und Athen seine Hauptstadt.
120. Sokraies.
Unter den Weltweisen, die in Athen lebten, ist ohne Zweifel der merk-
würdigste Sokrates. Er hielt nichts auf diejenige Weisheit, welche nicht
auf die Gesinnung und das Leben der Menschen heilsam einwirkt; daher
■wandte er sein Nachdenken vor allem der Betrachtung des göttlichen Wesens
und des menschlichen Geistes zu. Den Mittelpunkt alles seines Forschens
bildeten die drei Wörtlein: «Erkenne dich selbst». Das höchste Gut war sei-
259
ner Meinung nach die Tugend, die in der Massigkeit, Gerechtigkeit und
Tapferkeit bestehe. Er selbst war denn auch um dieselbe ernstlich bemüht.
Er ass sehr wenig und immer nur ganz wohlfeile Speisen, und im Trinken
war er gleich genügsam. Andere Menschen, konnte er sagen, leben, um zu
essen; er esse, um zu leben. So kleidete er sich auch ganz gering, und es
machte ihm Freude, Dinge, die andern Menschen gar beschwerlich erschei-
nen, wie Hunger, Hitze, Kälte gleichgültig ertragen zu können. Wer am
wenigsten bedürfe , meinte er, der stehe der Gottheit am nächsten.
Das Orakel in Delphi hatte ihn für den weisesten der Menschen erklärt,
Er sann der Ursache dieser Erklärung nach und fing an, bei den Män-
nern, welche im Rufe der Weisheit standen, zu untersuchen, ob nicht doch
der oder jener unter diesen weiser sei als er selbst. Aber er fand, dass sie
zwar Vieles wussten, aber sich noch mehr zu wissen einbildeten und sich
selbst für sehr weise hielten. Da kam er auf den Gedanken, er möge wohl
für den weisesten erklärt worden sein darum, weil er die Schwäche der
menschlichen Weisheit überhaupt erkenne und weil er insbesondere in Be-
ziehung auf sich selbst einsehe, dass er Nichts wisse.
Zu dieser Ueberzeugung nun, dass es mit ihrer Weisheit Nichts sei,
suchte er auch seine Mitbürger zu führen. Er wandte sich namentlich an
Jünglinge von guten Gaben , zog sie in seinen Umgang und suchte sie auf
den Weg der Tugend zu leiten. Einst begegnete er einem jungen Menschen,
Namens Xenophon, in einem engen Durchgang. Ueberrascht von der Schön-
heit desselben, hielt er ihm seinen Stock vor und fragte ihn, wo man Mehl
kaufe? «Auf dem Markt», war die Antwort. «Aber Oel ?» — «Eben da.»
«Aber wo geht man hin», fuhr Sokrates fort, «um weise und tugendhaft zu
werden?» Der junge Mensch stutzte. «Folge mir, ich will dirs sagen.»
Seitdem wurden Beide unzertrennliche Freunde. — Ein gewisser Euklides
aus Megara machte öfters einen Weg von acht Stunden nach Athen, um zu-
weilen einen Tag bei Sokrates sein zu können; ja als die Athener einmal
während eines Krieges den Megarern ihre Stadt bei Todesstrafe verboten hat-
ten, stahl sich Euklide8 oft in Weiberkleidern bei Nacht durch das Thor von
> Athen, um nur einen Theil der Nacht in des Sokrates Gesellschaft sein zu
können.
So sehr ihm aber seine Schüler anhingen, so zuwider und verhasst wurde
er nach und nach denjenigen seiner Mitbürger, die sich von ihm nicht woll-
ten überzeugen lassen, dass es mit ihrer Weisheit nicht weit her sei. Die
Dichter, die Staatsmänner und die Eedner standen zusammen und verklagten
ihn: er leugne die Götter, verderbe die Jugend und verdiene desshalb nach dem
Gesetze den Tod. Und in der That wurde er von der grösseren Hälfte seiner
559 Richter zum Tod verurtheilt. Es würde dem ehrwürdigen Greis wohl
nicht schwer gefallen sein, das Mitleid seiner Richter rege zu machen; aber
er verschmähte jedes unedle Mittel zu seiner Rettung, dankte den Richtern
für ihren Spruch und empfahl ihnen namentlich seine Söhne. «Bemühen sie
sich», sagte er unter Anderem, «um Reichthum oder um sonst irgend Etwas
eher, als um Tugend, oder dünken sie sich Etwas zu sein, sind aber Nichts,
so. verweiset es ihnen, wie ich euch, dass sie nicht sorgen, wofür sie sollten,
und sichoeinbilden, Etwas zu sein, da sie doch Nichts werth sind. Jedoch»,
17^
260
fuhr er fort, «es ist Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, ihr, um wei-
ter zu leben. Wer aber von uns beiden zum Besseren hingehe, das ist
Allen verborgen, ausser dem Gott.»
Nach diesen Worten ward er in den Kerker geführt und gefesselt. Seine
Freunde waren darüber trostlos. Einer rief verzweifelnd aus: «Nein, so un-
schuldig sterben zu müssen!» Da entgegnete Sokrates lächelnd: «Möchtest
du etwa lieber, dass ich schuldig wäre?» Den Tag vor seinem Tode ent-
deckte ihm Kriton, einer seiner Freunde, er habe eine Summe Geldes zusam-
mengebracht, die Wächter zu bestechen, dass sie die nächste Nacht die Thüre
offen liessen. «0 Kriton», antwortete ihm Sokrates, «in welches Land konnte
ich wohl dem Tode entrinnen?» — Ruhig und fest setzte er den Becher mit
Schierlingssaft (denn damit pflegte man damals in Athen Verbrecher hinzu-
richten) an den Mund und war bald darauf eine Leiche. Es geschah dieses
gerade 400 Jahre vor der Geburt dessen, der am Kreuze sein Leben gelassen
hat für das Leben der Welt. — Wenn Sokrates dem Herrn Jesus persönlich
unter die Augen hätte treten können, er hätte vielleicht auch aus dem Munde
der wesentlichen Wahrheit das Wort vernommen, das jener Schriftgelehrte
(Marc. 12, 34.) vernommen hat: «Du bist nicht ferne vom Reich Gottes!»
121. Die Spiele -er Griechen.
Wenn in Jerusalem die Israeliten von allen Seiten an ihren
großen Festen zusammen trafen (5 Mose 16, 16.), Gott gemeinsam
dienten und von ihm hörten, so lernten sie sich dabei als Brüder
kennen und lieben, und freuten sich um so mehr, Gottes Volk zu
sein. Auch die alten Griechen hatten solche Feste, bei denen die
Männer aus allen Theilen des Landes zusammen kamen. Da hörten
alle Streitigkeiten auf, da fühlten sie sich immer wieder als ein zu-
sammengehöriges Volk, wie sehr sie auch sonst unter einander zerstreut
und zersplittert sein mochten. Weil sie aber Heiden waren und den
lebendigen, heiligen Gott nicht kannten, so hatten darum diese griechi-
schen Volksfeste ein ganz anderes Ansehen, als jene Feste des zu
Jerusalem feiernden Israel. Die Hauptsache war ihnen dabei Spiele
zu spielen und die Kraft, die Gewandtheit, die Schnelligkeit ihrer
Leiber zu zeigen) daneben wurden wohl auch die Erzeugnisse ihres
Geistes in Gedichten, Kunstwerken u. dergl. zur Schau gestellt. Unter
diesen griechischen Volksfesten waren die sogenannten olympischen
Spiele, welche alle vier Jahre wiederkehrten, die berühmtesten.
Der Schauplatz dieser Spiele lag in der wohlhabendsten und bestbe-
bauten Gegend Griechenlands, im Westen der südlichen Halbinsel, die
jetzt Morea heißt. Da .lag Olympia in einem stillen, bewaldeten
Thale. Olvmpia war nicht eine Stadt, sondern ein ummauerter
heiliger Raum. Innerhalb desselben sah man Tempel aus Marmor,
261
Götterbilder und Standbilder von Siegern, aus Marmor oder aus
Erz, endlich allerlei Gegenstände, die als Weihgeschenke an diesen ,
heiligen Ort gestiftet worden waren. Zwischen all diesem standen
Oelbaume, Pappeln, Platanen und Palmen, das Ganze überragend
und Schatten gewahrend. Namentlich stand da, nahe am Eingang,
der heilige Oelbaum, von dessen Zweigen man mit einem goldenen
Messer die Siegeskränze abschnitt. Außerhalb des geheiligten Zaunes
standen z. B. Gebäude zur Bewirthung der Festgäste u. s. w.
Mit Sonnenaufgang begannen die Spiele, nachdem die Nacht
vorher mit Opfern und Gesängen zum Preise der Götter gefeiert
worden war. Kampfrichter saßen innerhalb des zu den Wettkämpfen
bestimmten Raumes.
Die Wettstreiter mußten zuerst beweisen, daß sie sich wenigstens
zehn Monate lang zu diesen Kämpfen vorbereitet hätten, und es ge-
schah diese Vorbereitung oft unter der äußersten Enthaltung von
Allem, was nicht zuträglich für die Kräftigung des Leibes erkannt
wurde.
Nun kamen zuerst die Wettläufer, dann die Ringer, nackt und
mit Oel am ganzen Leib eingerieben. Wer den andern zweimal zur
Erde warf und ihn festhielt, so daß dieser sich selbst als überwunden be-
kennen mußte, der war Sieger. Hierauf kam es zum Faustkampf,
dabei es oft nicht unbedeutende Beschädigungen absetzte. Besonders
gefährlich war das Wagenrennen mit Viergespannen, da man auf einem
hinten offenen, zweiräderigen Wagen stehend, zwölfmal eine bestimmte
Bahn, und namentlich zwischen zwei Säulen hindurch, im schnellsten
. Laufe durchfuhr. Manche von diesen Wettfahrern warfen um, zer-
« brachen Wagen und Hälse, oder fuhren gegen andere an und mußten
auf halbem Wege still halten.
Diese Spiele dauerten fünf Tage. Am letzten wurden die Sie-
ger gekrönt. Sie zogen prächtig gekleidet einher, mit Palmzweigen
in der Hand. Der Name des besten Läufers wurde zuerst ausge-
rufen und vom ganzen versammelten Volk jubelnd wiederholt. Der
Preis war eine Krone (Kranz) von Oelzweigen, welcher den Siegern
von den Richtern aufs Haupt gesetzt wurde. Dieser Kranz war der
höchste Ruhm in Griechenland. — Diagoras, ein vornehmer Grieche
aus der Insel Rhodus, der selbst einmal als Sieger gekrönt worden
war, brachte in seinem Alter zwei seiner Söhne nach Olympia, welche
beide sich solche Kronen erwarben. Mit kindlichem Sinn setzten sie !
dieselben ihrem Vater aufs Haupt, hoben den gerührten Greis auf
262
ihre Schultern und trugen ihn im Triumph unter den Zuschauern
» umher. Das Volk weinte vor Freuden, wünschte dem alten Vater
Glück,, bewarf ihn mit Blumen, und Etliche riefen ihm zu: „Stirb,
Diagoras; denn nun hast du Nichts mehr zu wünschen übrig!"
Wirklich konnte der Greis so viel Glück nicht ertragen; er sank
entseelt hin vor den Augen der Versammlung, die in Rührung zerfloß
und die Söhne segnete, die ihren Vater so glücklich gemacht hatten.
„Jene" — so schreibt Paulus mit Beziehung auf diese Spiele
(1 Kor. 9, 24— 27.) „jene also, daß sie eine vergängliche Krone
empfangen, wir aber eine unvergängliche!"
122. Aleran-er -er Große, -er Stifter -es griechischen
Weltreichs.
Alexander der Große war der Sohn des macedonischen Königs Phi-
lippus, der unter andern die Stadt Philippi zu seines Namens Gedächtniß
erbaut hak. (Apost. Gesch. 16, 12 ff.) Philippus hatte durch List und Ge-
walt Griechenland sich unterworfen und bereits einen Kriegszug mit den Grie-
chen nach Persien beschloßen, war aber kurz vor Ausführung dieses Vorhabens
erstochen worden. Alerander trat an seine Stelle und bewies bald, obwohl
kaum zwanzig Jahre alt, daß er ganz der Mann für die Aufgabe sei, welche
seiner wartete. Er ist einer jener seltenen Männer, die Gott je und je zum
Umsturz großer Staaten ausrüstet. Kühner Muth, Stolz und Ruhmsucht zeig-
ten sich schon in dem Knaben. „Ach", rief er, als er von einem Siege seines
Vaters hörte, „mein Vater wird mir Nichts zu thun übriglassen!" Von
Natur mit großen Anlagen des Geistes und Herzens begabt, war er durch den .
Unterricht des griechischen Weltweisen Aristoteles aufs sorgsamste unterwiesen /
und in die Bildung der Griechen eingeführt worden. Indem er diese in fer-
nen Ländern verbreitete, trug er auch zugleich, ohne daß er es ahnen konnte,
zu der erst einige Jahrhunderte nach ihm erfolgten Ausbreitung des Evan-
geliums in diesen Ländern bei.
Im Jahr 334 vor Christi trat er als Oberfeldherr der Griechen seinen
Kriegszug nach Asten hinüber gegen die Perser an. Mit seinem verhältniß-
mäßig kleinen, aber wohlgeübten Heere siegte er in allen Schlachten gegen den
Perserkönig Darius Kodomannus, namentlich bei Jffus (333 vor Christo),
nicht weit von der Stadt Tarsus oder Tarsen, wo der Apostel Paulus geboren
ward. Das Land Kleinasien hatte er sich vor dieser Schlacht unterworfen;
nach derselben siel Syrien in seine Hände; dann Phönizien, der Hafen-und
städtereiche Küstensaum am Fuß des Gebirges Libanon, berühmt durch Handel, ^
2ü3
i
Erfindungen und Gewerbfleiß. Da lagen die Städte Sidon und Tyrus, dieses
reicher und mächtiger geworden, als das ältere Sidon. Tyrus lag auf einer
Insel, beinahe eine Viertelstunde von der Küste. Diese Jnsclstadt trotzte auf
ihre feste Lage im Meer. Da machte Alexander unter beständigem Kampf mir
den Wellen und Feinden einen breiten Damm vom festen Land bis an die
Insel hin, wobei er die Trümmer von Alttyrus, das der Jnsclstadt gegenüber
an der Küste lag, mit gebrauchte, und die in Hesek. 26, 12. enthaltene Weis-
sagung erfüllte. Nach verzweifelter Gegenwehr wurde die Stadt im siebenten
Monat der Belagerung eingenommen und zerstört.
Die stolze Stadt, der Heiden Markt (Jes. 23, 3.), ist jetzt, was Hese-
kiel 26, 5. voraus sagt: ein Wehrd im Meer, darauf man die Fischgarne aus-
spannt.
Nach der Unterwerfung Phöniziens ergaben sich auch die südlicher gelege-
nen Landschaften Samaria und Judäa au Alexander. Dieser zog nach Egypten
nnd nahm es ohne Widerstand in Besitz. An der Küste wurde auf seinen Be-
fehl eine Stadt erbaut, die von ihm den Namen Alerandria erhielt. Sie wurde
in der Folge nicht nur der Verbindungsplatz des Welthandels zwischen Asien
nnd Europa, sondern auch der Mittelpunkt der griechisch-jüdischen, ja über-
haupt der aus dem Morgen- und Abendlande zusammenströmenden Weisheit
und Bildung. Hier wurde namentlich auch das alte Testament in die griechische
Sprache übersetzt und dadurch auch den gebildeten heidnischen Völkern zu-
gänglich.
Die Schlacht bei Gaugamela, nicht weit von Ninive (331), lieferte dem
Alexander vollends ganz Persien in die Hände. Aber der Feuerkopf halte
hieran noch nicht genug; es trieb ihn immer weiter, und so unternahm er
(327) einen Zug nach Indien.
Bis an den Fluß Hyphasis (jetzt Sedletsch) drang er siegreich vor; da
wollten endlich seine ermüdeten Macedonier nicht mehr weiter, und so kehrte er,
nachdem er auf dem großen Jndusstrom mit einer Flotte bis an das Weltmeer
gefahren war, endlich wieder unter ungeheuren Beschwerden nach Persien zu-
rück. Hier arbeitete er nun beharrlich auf den Plan los, die Perser und
Griechen zu einem Volk zu machen, und nahm auch selbst Vieles vou persische»
Sitten und Unsitten an.
Die uralte Sonderung und Feindschaft zwischen Europa und Asien sollte
aufhören. Mitten im Geräusch der Kriege oder der Lustgelage verfolgte er
immer den Gedanken, der ihn schon als Knabe beschäftigt hatte: ein Weltretch
zu gründen, besten Bürger sich durch keine Aeußerlichkeit der Kleidung, Bewaff-
nung und Lebensart als getrennt betrachteten, die in jedem Wohldenkendeu
einen,Landsmann, und nur das Schlechte als fremd und feindselig erkennen
264
möchten. In dieser Absicht gründete er nach und nach in Asien mehr als
siebzig neue Städte, und setzte in dieselben neben Landeseingeborenen immer
auch Leute von seinem Heere. Er suchte auch bei den rohesten Völkern die An-
fänge der Gesittung, wie Ackerbau und regelmäßige Ehe, einzuführen, un-
menschliche Gebräuche abzuschaffen und dergl. Aber mitten unter diesen Be-
schäftigungen und unter Vorbereitungen zu einem neuen Eroberungszug nach
Arabien ereilte ihn der Tod. Dies geschah zu Babylon im Jahr 323 vor
Christi Geburt. Er war sich selbst jitni Gott geworden und in deinselben
Maße, als er sich erhoben hatte, gesunken. Der Bezwinger so vieler Völker ver-
mochte nicht, sich selbst zu bezwingen. Schwelgerei hatte seine sonst edlen
Sitten befleckt und ohne Zweifel seinen frühen Tod herbeigeführt.
Aus die Frage, wem er die Regierung des Reichs bestimme, antwortete
Alexander sterbend: „dem Tüchtigsten!" Da sich aber mehrere seiner Feld-
herren dafür hielten, so entstand ein dreiundzwanzigjähriger Krieg, aus wel-
chem vier kleinere Hauptreiche hervorgingen: Macedonien, Kleinasien, Syrien,
Egypten (Dan. 8, 8. 21. 22.) Doch nach Verfluß von drei Jahrhunder-
ten waren diese Reiche alle von der Weltstadt Rom verschlungen.
123. Die Römer.
In dem schönen Lande Italien, welches nns gegen Mittag zu liegt,
wohnte vor alten Zeiten das berühmte und mächtige 'Volk der Römer.
Sie haben ihren Namen von der Stadt Rom, die im Jahr 753 vor Christi
Geburt erbaut worden ist. Der erste kleine Anfang dieses zur Weltherrschaft
bestimmten Volkes fällt in das Jahrhundert, in welchem das Reich der zehn
Stämme unterging (2 Kön. 15.), und Jesaias und Micha in Juda, Hosea in
Israel weissagten. Das erste Gebiet um die Stadt Rom war nicht grösser,
als was eine ganz massige Stadt jetzt an Aeckern und Feldern besitzt. Aber
in diesem Volk war von Anfang an ein gewaltiger Ehrgeiz, Lust am Krieg ,
und ein harter, unbeugsamer, recht eigentlich eiserner Sinn, der sich durch >
keine Furcht und durch kein Mitleiden vom Verfolgen blutiger Eroberungen
abbringen liess. Jeder römische Bürger war Soldat, und es fand sich immer
eine Anzahl tapferer Anführer in Rom, zu denen die Krieger ein unbedingtes
Zutrauen hatten; dazu war strenge Kriegszucht und Ordnung im Heere, und
ein Eifer für die Macht und Ehre des Vaterlandes, dem kein Opfer zu gross
war. _ Wie streng die Kriegszucht gehandhabt wurde, davon nur ein Bei-
spiel: im Kriege gegen die Latiner, eine italische Völkerschaft, war von den
beiden Oberanführern oder Consuln der Befehl ausgegangen, dass kein Römer
mit den Feinden ausser der Ordnung sich in einen Kampf einlassen soll. Des
einen Consuls (Manlius) eigener Sohn aber, gereizt durch den Hohn eines
Feindes, nahm dennoch einen Zweikampf mit diesem an und erlegte ihn.
Freudenvoll brachte er mit seiner jubelnden Schaar die erbeutete Waffemü-
stung ins Lager. Als ihn der Vater sah und vernahm, was geschehen war,
wandte er sich ab vom Sohn, berief die gesamte Mannschaft und kündigte
265
I
demselben in Gegenwart des Heeres an, dass er wegen Uebertretung des ge-
gebenen Befehls sogleich sterben müsse. Der Gerichtsdiener band ihn an
einen Pfahl und während Alle im tödtlichen Schrecken verstummt dastan-
den, fiel schon das Haupt des Jünglings unter dem Beil.
Noch stehe hier ein Beispiel aufopfernder römischer Tapferkeit: der Con-
sul Atilius Galatinus war auf der Insel Sicilien in ein rings von Bergen ein-
geschlossenes Thal gekommen und sah plötzlich die Anhöhe über sich von
Feinden besetzt, welche auf den unvorsichtigen Marsch der Römer gerechnet
hatten. Diese sahen nichts vor sich als Untergang oder Schmach. Da schlug
ein Kriegsoberster, Namens Calpurnius Flamma, dem Gonsul vor, er solle
einen noch unbesetzten Bergvorsprung mit 400 Mann besetzen lassen; die
Feinde würden diese ohne Zweifel aufs heftigste angreifen und die ganze
Schaar zusammenhauen; unterdessen werde er, der Gonsul, Zeit gewinnen,
das übrige Heer in Sicherheit zu bringen. «Aber», sagte der Gonsul, «wer
wird die 400 Mann anführen?» — «Ich, wenn kein anderer sich findet.»
— Es fanden sich 400 Freiwillige, die mit dem Obersten ihr Leben für das
Heer zu opfern bereit waren. Der Bergvorsprung wurde besetzt. Der feind-
liche Feldherr schickte gegen sie seine tapfersten Leute. Ein heisser Kampf
entbrannte um die Anhöhe und auf derselben; der Gonsul führte unterdessen
sein Heer unvermerkt aus dem gefahrvollen Gebirgsthale; die Vierhundert
mit ihrem tapfern Führer lagen am Ende alle mit Wunden bedeckt am Bo-
den, und unter den edlen Leichen fand man später den Obersten allein noch
athmend, ohne eine tödtliche Wunde. Er wurde hervorgezogen, hergestellt
und leistete dem Staat nachmals noch manchen Dienst im Kriege. Von einer
Belohnung, die dem grossherzigen Mann zuerkannt worden wäre, weiss man
nichts. Zu solcher Tapferkeit der Römer kam auch noch ein beharrlicher
Muth, der sich durch kein Unglück niederschlagen liess. Als ein mächtiger
Feind, Hannibal von Karthago, mit einem siegreichen Heer vor den Thoren
Roms lagerte, wurde das Feld, auf welchem das feindliche Lager stand, in
der Stadt zu gleicher Zeit verkauft, ohne dass der Kaufpreis dadurch nieder-
gedrückt worden wäre.
* Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, dass die Römer
'Säst überall Sieger blieben. So kam es, dass sie erst die benachbarten klei-
nen Völker in Mittelitalien bezwangen, dann immer weiter, bald nach Süden,
bald nach Norden vorrückten. 500 Jahre nachdem ihre Stadt erbaut und ihr
Name zuerst genannt war, hatten sie schon ganz Italien unter ihrer Herrschaft.
Man hätte denken sollen, sie würden nun zufrieden sein, ruhig in ihrem
schönen Lande leben und sich dessen erfreuen; aber weder das Meer, noch
die Eis- und Schneegebirge konnten ihnen eine Grenze setzen. Sie erbauten
Kriegsschiffe und fuhren mit den Waffen in der Hand über das Meer; und
über die Alpen bahnten sie sich durch Abgründe und über steile Felsen einen
Weg. Zuerst griffen sie hinüber nach Afrika. Nach drei schweren und bluti-
gen Kriegen, die sich 118 Jahre lang mit nur zwei grösseren Unterbrechungen
fortzogen, wurde Karthago, die wichtigste Stadt des nördlichen Afrika,
eine Tochter der alten Stadt Tyrus (Jes. 23.), in einem 17 Tage dauernden
Brande zerstört; von 700,000 Einwohnern blieben nur etwa 40,000 am Le-
ben. Bald kam ganz Nordafrika in der Römer Besitz. In demselben Jahre,
266
als Karthago zerstört wurde, war auch die Stadt Korinth durch ihre Hand in
Flammen aufgegangen (146 vor Chr.); denn die gewaltigen Eroberer hatten
ihren Blick auch nach Morgen gewendet, und bald war Macédonien mit den
wichtigen Städten Philippi und Thessalonich, und Griechenland mit der
berühmten Stadt Athen ( Apostelgesch. 17.) ihnen unterworfen. Dreizehn
Jahre später fiel ihnen auch die spanische Halbinsel vollends ganz als
Beute zu. Im Jahre 63 vor Chr. sehen wir die Reiche Vorderasiens
grösstenteils zu ihren Füssen, und das Reich der Juden in Zinspflicht gegen
sie (Matth. 22, 17 ), nachdem die Juden schon ein Jahrhundert zuvor zur
Zeit der Makkabäer (161 vor Chr.) ein Bündniss mit den Römern einge-
gangen hatten (l Makk. 8.). — Unter ihrem Feldherrn Julius Cäsar, der
einmal einen Kriegsbericht aus Asien an den Senat (Rath der Aeltesten) nach
Rom schickte, bestehend nur aus den Worten: «Ich kam, sah, siegte!» —
streckten die Römer ihre nimmersatten Hände auch nach Norden hin aus, unter-
warfen sich Gallien (Frankreich), Belgien, und trafen auch mit einem Stamm
unserer Vorfahren zusammen; ja auch nach England fand Cäsar den Weg.
Im Jahr 31 vor Chr. fällt Egypten ihnen in die Hände ; unter dem ersten römi-
schen Kaiser Augustus (Luc. 2, 1.) wurden auch die Länder zwischen den
Alpen und der Donau unter römische Herrschaft gebracht, das ganze west-
liche Deutschland unterworfen und von einem römischen Statthalter oder
Landpfleger regiert. Auch unser Schwabenland hat noch viele Spuren von
der Herrschaft dieses gewaltigen Volkes aufzuweisen. Namentlich wurden bei
Rottweil, Rottenburg, Köngen, Cannstatt und andern Orten Ueberreste römi-
scher Bauwerke, römische Münzen, Geschirre, Mafien, Zieraten, Götterbil-
der aus Stein und Erz, Altäre und Grabsteine mit Inschriften ausgegraben
und aufgefunden; auch erkennt man in manchen Gegenden Württembergs
noch römische Verschanzungen und Strassen.
Unter dem ersten Kaiser der Römer, Augustus, kann das Gebäude des
römischen Weltreiches als vollendet betrachtet werden. Es erstreckte sich vom
atlantischen Meere bis zum Euphrat (Phrat); vom Rhein, der Weser, der
Donau und dem schwarzen Meer bis an die Wüsten Arabiens und Afrikas.
In ungefähr 700 Jahren hatten sie ihre Bestimmung erfüllt, die Völker zer-
malmt und zerbrochen (Dan. 2, 40), mit ihren eisernen Zähnen (Dan. 7, 7.)
um sich gefressen und das Uebrige mit den Füssen zertreten. Sie hatten fast
das ganze Gebiet inne, das die früheren grossen Weltgebieter, ein Nebukad-
nezar, Cyrus, Alexander, beherrschten; aber ihr Reich war nach Abend
hin um Vieles erweitert, da es noch die wichtigsten Theile von Europa und
Afrika befasste.
Die Römer hatten die andern Völker ihrer Selbständigkeit beraubt und
ihnen dafür gebracht die männliche römische Sprache, das wohl durchdachte
römische Recht, die strenge römische Kriegszucht, die unverwüstlichen
römischen Heerstrassen und Wasserleitungen u s. w. Aber ihre Weltmacht
musste nach Gottes Rath noch einem höheren Zwecke dienen. Als diese
Macht der Römer unter Augustus (vom Jahr 31 vor bis 14 nach Ohr.) am
höchsten gekommen war, da wurde in dem von ihnen gleichfalls niederge-
tretenen Judenlande der Hehl geboren (1 Mos. 49, 10.), dem die \ ölker
anhangen sollten in freiwi ligem Gehorsam, und da durch die Römer die
wichtigsten Völker verbunden v/orden waren, waren nun die Wege in alle
Welt gebahnt für die Füsse der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes
predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: dein Gott ist König,
(des. 52, 7.)
124. Nom t(l nicht tu einem Tag erbaut worben.
Damit entschuldigen sich viele fahrlässige und trage Menschen,
welche ihr Geschäft nicht treiben und vollenden mögen und schon
müde sind, ehe sie recht anfangen. Mit Rom ist es aber eigentlich
so zugegangen: es haben viele fleißige Hände viele Tage lang
vom frühen Morgen bis zum späten Abend unverdrossen daran
gearbeitet und nicht abgelassen, bis es fertig war. So ist Rom ent-
standen. Was du zu thun hast, machs auch so!
125. Die letzten Jahrhunderte des jüdischen Reichs.
Nach der babylonischen Gefangenschaft blieben die Inden den
Persern, welchen sie die Herstellung ihres Staats verdankten, treu,
bis Alexander, der König von Griechenland, die Macht der Perser
stürzte. Der hohe Rath, Sanhedrin genannt und aus 72 Mitgliedern
bestehend, besorgte unter der Leitung des Hohenpriesters die Staats-
angelegenheiten. Nach Alexanders Tod stunden die Inden seit dem
Jahr 320 unter den egyptischen Königen, die nach einem Feldherrn
Alexanders alle Ptolemäus hießen und ihnen große Vorrechte
in Egypten, namentlich in Alexandrien, schenkten. Jedoch im
Jahr 198 vor Christo ergaben sie sich freiwillig dem syrischen
König Antiochns dem 'Großen. Bald von da an gab es blutige
Streitigkeiten unter ihnen über die Besetzung der hohenpriester-
li'chen Würde, und immer frecher erhob ihr Haupt im Eiuverständ-
niß mit den Syrern eine Partei, die sich des jüdischen Glaubens
schämte und griechische Sitten einzuführen trachtete. Antiochns mit
dem Beinamen Epiphanes oder der Erlauchte, der den Plan hatte,
eine gewisse Einheit in seinem Reich einzuführen, wobei ihm die
strenge Eigenthümlichkeit der jüdischen Religion im Wege war,
kam auf einem Heereszug gegen Egypten nach Jerusalem, ent-
weihte und plünderte den Tempel, und erließ nachher ein Ge-
bot zur Ausrottung der jüdischen Religion. Ein Mordheer rückte
ein, und nun begann (im Jahr 168 vor Christo) eine der schreck-
lichsten Verfolgungen. Ueberall erhoben sich Götzenaltäre, während
königliche Beamte das Land durchzogen, um Jeden mit dem Tod
zu bestrafen, der den Göttern zu opfern sich weigerte. (Vergl.
1 Makkab. 1.). Da erweckte Gott das Geschlecht der Makkabäer, die
Söhne des Priesters Mattathias, welche besonders unter dem
tapfern Judas Makkabäns (d. i. der Hammer) die glänzendsten
Siege wider die Syrer erfochten und schon im Jahr 164 den
Tempel wieder reinigten. Judas fiel drei Jahre darauf; aber Jona-
than, sein Bruder, brachte (158) einen günstigen^Friedensschlnß zu
Stande und war siebzehn Jahre lang Hoherpriester. Nach Jonathans
Ermordung (142) wurde sein Bruder Simon als Hoherpriester und
Fürst bestätigt. Endlich unter Johannes Hyrkanns, dem Sohn Si-
mons, (seit 135) erlangte das Volk völlige Unabhängigkeit; und seine
Nachfolger nahmen sogar den Königstitel an. Allein der Haß zwi-
schen den gesetzlichen Pharisäern und den freidenkenden Saddu-
cäern, zwei religiösen Parteien, die in dieser Zeit entstanden, veran-
laßte die schrecklichsten Bürgerkriege, welche die Nachblüthe des jüdi-
schen Staats schon in ihrem Keim erstickten. Die Ränkesncht in der
herrschenden Familie überstieg alle Grenzen. Als einmal Alexander
Jannäus, der Sohn Hyrkans, ein Feind der Pharisäer, das Volk
aufforderte, ein Mittel zur Aussöhnung zu nennen, rief es ihm zu,
das beste wäre, er stürbe, worauf er gegen 800 Aufrührer ans Kreuz
schlagen ließ. Seit dem Jahre 70 zankten sich in mörderischen
Bürgerkriegen die Brüder Hyrkan II. und Aristobul, ein Sadducäer,
um den Thron. Letzterer wurde im Tempel hart belagert; und der
fromme Priester Onias, der vom Volk aufgefordert wurde, die Be-
lagerten zu verfluchen, wurde gesteinigt, als er sagte: „Da die Be-
lagerer und Belagerten Brüder wären, so möchte Gott weder diese
noch jene erhören, wenn sie wider einander bitten." Beide Brüder
riefen die Römer, die in Syrien standen, zu Hülfe. Der Nönwr
Pompejus kam, eroberte Jerusalem (63) und setzte Hyrkan zum
Hohenpriester und Fürsten ein. Unter den fortdauernden Reibungen
aber wußte sich allmählich Antipater, ein Edomiter, emporzuschwingen;
und sein Sohn, Her ödes der Große, hatte es durch die ver-
schlagenste List und die kriechendste Schmeichelei unter unerhörten
Frevelthaten bis zum Jahr 39 vor Christo dahin gebracht, daß er
zum unumschränkten König von ganz Judäa und vielen Nachbargebie-
ten ernannt wurde. Aber viele Juden unterzogen sich lieber den
grausamsten Todesqualen, als daß sie den Edomiter König genannt
hätten. Trotz solcher Widersetzlichkeit behauptete sich Herodes durch
Schrecken und scheinbare Güte auf dem Thron. Um das über seine
vielen Schandthaten erbitterte Volk sich wieder geneigt zu machen.
269
zugleich auch zur Ehre seines Namens, ließ er vom Jahr 20 vor
Christo an den unter Serubabel erbauten kleinen Tempel zu Jeru-
salem nach und nach abbrechen und einen neuen, größeren nnd präch-
tigeren aufführen. Es wurden dazu Steine von vierzig Fuß Länge
verwendet. (Marc. 13, 1.) Zur Vollendung dieses dritten Tempels,
den aber die Juden immer noch als den zweiren zählten, nemlich zum
Bau der weitläufigen Nebengebäude, bedurfte es übrigens noch vieler
Jahre. (Joh. 2, 2O.)
Als dieser gottlose'Mensch, der Alles um sich her, selbst Weib
und eigene Kinder, getödtet hatte, zu Jericho hoffnungslos darnieder-
lag, ließ er noch die vornehmsten Juden zu sich bescheiden. Sie
wurden in die Rennbahn geführt, und Herodes gab seiner Schwester
Befehl, sobald er gestorben sein würde, sie alle niedermetzeln zu
lasten. Er wußte, daß die Inden ihn haßten und über seinen Tod
sich freuen würden; so wollte er ihnen ihre Freude verderben und
sie zur Trauer bei seinem Tode zwingen. Dieser Befehl wurde jedoch
nicht ausgeführt. — So weit war es mit Juda gekommen, das Scep-
ter war von Juda entwendet (1 Mos. 49, 10.) und diesem schnöden
Edomiter zu Theil worden; das Volk des Herrn war aufs tiefste er-
niedrigt und zerrüttet; mit dem Verderben war es in Jerusalem und
eben so in dem weltbeherrschenden Rom aufs höchste gekommen, da
ward Christus geboren, der Heiland der Welt, und die Engel sangen
der armen Menschheit zu Trost: „Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!"
126. Die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christi
Geburt.
Der Haß der Juden gegen ihre Oberherren und Bedrücker, die Römer, wel-
cher schon zu Christi Lebzeiten das ganze Volk erfüllte, steigerte sich mit jedem Jahr,
und jedem Denkenden mußte es klar werden, daß die Voraussagungen Christi bald in
Erfüllung gehen würden. Unter dem Landpfleger (Statthalter) Gessius Florus, der
seine Vorgänger im Amte noch gn Tyrannei und Habsucht übertraf (66 nach Chr.),
brach der allgemeine Ausstand aus. Alle entschloffenen Anhänger des Tempels und
der alten Satzungen, begeistert von dem Gedanken, daß nur Gott und sein auser-
wählter Gesalbter über Israel herrschen dürfe und nicht der heidnische römische Kai-
ser, griffen jetzt zu den Waffen, und in der That litten die Römer in einem Eng-
paß einen empfindlichen Verlust; 5000 erschlagene Feinde bedeckten das Schlachtfeld.
Ein jolcher Sieg gab auch den Zaghaften Muth und verschaffte der Empörung im-
mer größere Ausdehnung. Wahrscheinlich mußten schon damals die Christen vor den
in blindem Rcligionseifer wüthenden Siegern flüchten. (Matth. 24, 15.16.) Sie be-
gaben sich nych Pella, einer kleinen, jenseits des Jordans gelegenen Stadt, die von Hei-
den bewohnt war. Hier hatten sie während des ganzen jüdischen Kriegs eine sichere
Freistätte. Der damalige römische Kaiser Nero übertrug jetzt dem Vespasian, einem
berühmten Feldherrn, den Oberbefehl gegen die Juden, und mit 6«,000 Streitern
zog dieser gegen das empörte Land. Allein die Juden ließen den Muth nicht sinken;
und obwohl sie den kriegserfahrenen Römern an Macht weit nachstanden, so wäre
doch vielleicht ihr wilder Eifer und ihr Religionshaß gegen die verachteten Heiden
im Staude gewesen, das Fehlende zu ersetzen. Allein ein zweiter Uebelstand mußte
immer fühlbarer werden. Zu einem siegreichen Widerstand hätte das Volk eines
obersten Anführers, eines von Allen anerkannten Messias, bedurft; dieser aber fehlte
und konnte gar nicht kommen. Mehrere warfen sich zu Führern auf, von denen
jeder sich selbst für den Messias ausgab, dagegen von den andern wieder verwor-
fen wurde. So lähmte die innere Zwietracht, die öfters in offene Feindseligkeit aus-
brach, den Widerstand der Juden gegen die ohnehin übermächtigen Römer.
Vespasian wandte sich zuerst nach Galiläa, wo der jüdische Geschichtschreiber
Josephus die Heeresmacht gegen die Römer befehligte. Hier eroberte er die festen
Städte und Flecken, wobei schon über 40,000 Juden um das Leben kamen, und
Josephus selbst gefangen wurde. Unterdessen hatte Kaiser Nero ein Ende mit
Schrecken gefunden, und das römische Heer in Syrien rief seinen Feldherrn Vespasian
zum Kaiser aus. Dieser ging nach Nom, um sich die Krone zu sichern und überließ
seinem Sohn Titus die Fortsetzung des jüdischen Kriegs. Durch die Einnahme
der Hauptstadt sollte dieser geendigt werden.
Als Titus vor dieselbe rückte, hatte das Werk der Zwietracht in ihrem Innern
bereits begonnen. Den Neichen und Vornehmen wurde bang für ihren Reichthum und
ihr gemächliches Leben; sie wünschten daher dem Krieg durch zeitige Unterwerfung
ein Ende zu machen und die Zerstörung der Stadt abzuwenden. Dadurch wurden
aber die Eiferer um das Gesetz, welche die Uebermacht in der Stadt hatten, nur
desto mehr ausgebracht, so daß sie über die Häupter der friedliebenden Partei her-
sielen und eine große Anzahl derselben, darunter auch die Hohenpriester, ermordeten.
Aber auch diejenigen, welche in dem Entschluß, den Widerstand bis aufs Aeußerfte
fortzusetzen, übereinstimmten, waren unter sich in mehrere Parteien getheilt, und
öfters, wenn die Feinde von außen unthätig waren, brach der Parteihaß im Innern
der Stadt in offenen Bürgerkrieg aus. Tag und Nacht währte das Geschrei und
Toben der Kämpfenden, und in der heillosen Verwirrung verbrannte eine solche
Menge Getreide in der Stadt, daß dadurch hauptsächlich die später entstandene, ent-
setzliche Hungersnoth veranlaßt wurde.
Es war gerade Osterzeit des Jahres 70 nach Chr. Geburt; und des Festes
wegen war eine Menge fremder Inden in Jerusalem zusammengeströmt. JosephuS
schätzt die ganze Zahl der Anwesenden auf fast 3,000,000. Diese Fluth von Menschen
wurde durch das anrückende Heer in den engen Raum der Stadt zusammengedrängt,
und als in Folge der inneren Unordnung und des Aufruhrs Mord und Brand die
belagerte Stadt heimsuchte, da mußte bald unter jener Masse von Menschen die schreck-
lichste Hnngersnoth einreißen.
Der beispiellose Kampf dauerte vom 12. Mai bis zum 11. Sept. Am fünf-
zehnten Tag der Belagerung war es den Römern gelungen, die erste Mauer, welche
den Stadttheil Bezetha umschloß, zu nehmen, und neun Tage später eroberten sie
auch die zweite Mauer und mit derselben die untere Stadt Akra, so daß die
Inden nur noch die Burg Antonia, den Tempel und die obere Stadt Zion behaupten -
271
ten. Dies war aber bei weitem der stärkste Theil der großen Stadt; und Titus
sah bald ein, daß er bei der hartnäckigen, wilden Wuth, mit der die Juden ihr
Heiligthum vertheidigten, gegen solche Befestigungen mit der Gewalt der Waffen
wenig ausrichten würde. Deßhalb beschloß er, die Stadt auszuhungern und die
Wuth ihrer Vertheidiger dadurch zu bändigen. Dazu ließ er das Heer einen Wall
um das belagerte Jerusalem aufführen, der jede Verbindung zwischen der Stadt und
dem umliegenden Laude abschnitt, so daß Jesu Weissagung (Luc. 19, 43.) auch hier
wörtlich eintraf. Jetzt erreichte die Hungersnoth die entsetzlichste Höhe. Täglich
starben Tausende, und wie Gespenster wankten die Ueberlebeudeu umher, viele such-
ten außerhalb der Stadtmauer Nahrungsmittel. Sie sielen den Römern in die
Hände, und Titus, der später so menschenfreundliche Fürst, ließ sie im Angesicht der
auf der Mauer befindlichen Juden kreuzigen, oft 500 und darüber an einem Tag.
Zuletzt gebrach es an Holz und Raum für die Kreuze. (Matth. 27, 25.) Dennoch
wurden die Belagerten nicht abgeschreckt. Die von den Römern während siebzehn-
tägigec angestrengten Arbeit aufgeworfenen Wälle wurden von den Juden mit uner-
hörter Kühnheit, Entschlossenheit und Schnelligkeit zerstört. Und Titus blieb nichts
anderes übrig, als die ganze Stadt mit einer Mauer zu umschließen, was von den
römischen Soldaten mit steigender Erbitterung ausgeführt wurde.
Indessen nahmen die Greuel in der unglücklichen Stadt immer mehr über-
hand. Wie der Hunger stieg, so wich alle Liebe; Vater und Mutter rissen den
Kindern, diese den Eltern die Speisen aus dem Mund. Alles, selbst das Eckelhasteste,
wurde gegessen und das Unsinnigste in der Verzweiflung begangen.
Eine Mutter schlachtete ihren Säugling, briet und aß ihn. Durch den Ge-
ruch gelockt, fanden sich augenblicklich Bewaffnete ein und drohten ihr mit dem
Tod, wenn sie die Speise nicht herausgäbe. Da deckte sie die Reste ihres Soh-
nes auf und sagte zu den Betroffenen: „Es ist mein eigenes Kind, und meine That.
Eßt, ich habe auch davon gegessen! Seid nicht weichlicher als ein Weib und,nicht
barmherziger als eine Mutter."
Allein auch jetzt in diesem fürchterlichen Elend verloren die Machthaber und
ihre Anhänger in der unglücklichen Stadt keineswegs den Muth und die Hoffnung.
Noch am letzten Tag vor der Erstürmung lockte ein falscher Prophet eine Menge
Volks in den Tempel mit der Versicherung, daß sie heute noch den Messias mit
ihren eigenen Augen sehen würden. Nach einer äußerst hartnäckigen Vertheidigung
wurde endlich die Burg Antonia nächst dem Tempel von den Römern eingenommen.
Titus wollte wenigstens den Tempel retten. Er sandte zu dem Ende den gefangenen
Geschichtschreiber Josephus wiederholt au die Verzweifelten. Umsonst!
In der neunten Stunde der Nacht erfolgte nun mit auserlesener Mannschaft
der erste Angriff auf den Tempel. Die Römer fanden die Juden gerüstet, und ein
mörderischer Kampf begann, der erst nach der fünften Stunde des Tages, aber un-
entschieden für beide Theile, ruhte. Die Römer warfen Wälle um den Tempel her
auf. Von dem Feuer, welches die Römer, theilweise auch die Juden selbst, hinein
warfen, verbrannte zuerst die nordwestliche Tempelhalle. Gleichwohl gedachte TituS
noch immer den eigentlichen Tempel zu retten. Allein als die Römer unter beständig
sich erneuerndem Kampf bis hart an denselben vorgedrungen waren, ergriff ein Soldat
einen Fenerbraud, ließ sich von einem andern Soldaten in die Höhe heben und warf
das Feuer in die Nebengebäude des Tempels hinein. Als die Flammen herausschlu-
gen, erhoben die Juden ein Geschrei so groß als das Unglück, das sie betroffen, und
272
liefen zur Vertheidigung herbei, mit dem festen Entschluß zn sterben. Auch Titus
eilte herbei, um dem Brand zu wehren. Er ermahnte seine Soldaten zu löschen.
Aber die Wuth der anstürmenden Legionen konnte nicht länger gezügelt werden.
Was ihnen in die Hände fiel, wurde ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes
niedergemacht, so daß das Blut der Erschlagenen über die Stufen des großen Opfer-
altars herabflvß, um den die Leichen gethürmt waren. Der reiche Tcmpelschatz
wurde geplündert; das ganze Tempelgebäude brannte zusammen. „Es schien", sagt
Josephus, „als ob der Berg, auf dem der Tempel stand, von seinen Wurzeln her-
aus brenne." Da trugen die Römer ihre Feldzeichen, die Adler, herbei, und began-
nen nach heidnischer Sitte das Opfer. Als die Priester solche Entweihung deS
Heiligthnms wahrnahmen, stürzten sich viele voll Verzweiflung in das Flammenmeer,
um mit dem Tempel unterzugehen. Dies geschah am Io August des Jahres 70 nach
Christi Geburt — an demselben Jahrestage, an welchem einst Nebukadnezar auch
den ersten Tempel verbrannt batte. Die noch kampffähigen Juden zogen jedoch in
die obere Stadt zurück, die nur durch Hunger bezwungen werden konnte. Aber
endlich war doch der frühere Muth gebrochen; sie stiegen herab, verkrochen sich in
unterirdische Gänge und wurden einzeln ermordet. Nun befahl Titus, die Stadt zu
plündern und anzuzünden. Dies geschah, und Jerusalem wurde nun von Grund
aus zerstört, so daß wirklich kein Stein auf denn andern blieb. Nur drei feste
Thürme blieben als Denkmäler stehen.
Die Soldaten wurden endlich des Mordens müde; aber das Strafgericht
war noch nicht vollendet. Von den Gefangenen, an 97,000, wurden die, welche zu
den Anführern gehörten, hingerichtet, andere in egyptifche Bergwerke geschickt. Viele
wurden in den Kampfspielen zu Rom den wilden Thieren vorgeworfen; andere mußten
mit einander auf Tod und Leben kämpfen und wieder andere wurden in alle Theile
des römischen Reiches als Sklaven verkauft. In den verschiedenen Theilen des Lan-
des kamen damals über 208,000 Inden um, und bei der Belagerung der Hauptstadt
verloren 1,100,000 durch Hunger, Krankheit und Schwert ihr Leben.
So wurde das Verhänguiß erfüllt, das die Propheten, das Christus dieser
Stadt und dem jüdischen Staat vorher verkündeten. (Luc. 19, 43. 44.)
Die Weltgeschichte kennt kein ähnliches Werk des Entsetzens, wie den Unter-
gang Jerusalems. „Es war eine Trübsal, als nicht gewesen ist, von Anfang s)er
Welt bis hierher, und als auch nicht werden wird" (Matth. 24, 21.), ein Gericht
über das auserwählte Volk, das seinen König und Heiland verworfen hatte.
So ftel die alte, ehrwürdige Davidsstadt. Mil den rauchenden Tempeltrüm-
mern sank der jüdische Staat dem Anschein nach auf immer dahin. Das einst herr-
liche, gelobte Land ist jetzt verödet, seine Fluren find kahl, seine Flüsse zum Theil ver-
trocknet, auf seinen Bergen grünt kaum noch der Oelbaum, seine Städte sind zerfallen,
die Nachkommen seiner einstigen Bewohner irren seit fast 2000 Jahren in der Ver-
bannung unter allen Völkern umher; ringsum sicht das Auge nichts, als wüste
Trümmer vergangener Herrlichkeit. Aber ans diesen wüsten Schollen ist ein anderer
Same aufgegangen, zum reichsten Segen für alle Zeiten und Völker; — da ist ein
Baum erstanden, der Früchte des Lebens für Zeit und Ewigkeit spendet, — d a S
Christenthum! —
273
127. Die alten Deutschen.
Die alten Deutschen waren um die Zeit der Geburt Christi, wie
ihr Land, voll edler Kräfte, aber noch rauh und unverfeinert. Sie
theilten sich in mehrere Stämme, von denen die vornehmsten waren
die Sweven (Schwaben), die Saren oder Sassen (Sachsen), die Boyern
(Bayern) und die Franken, welche letztere ursprünglich mehr eine Kriegs-
gesellschaft als einen eigentlichen Volksstamm bildeten. Sie alle zu-
sammen nannten sich Dt et oder Dio t, das ist das Volk, woraus
das Wort deutsch (diotisk), d. h. zum Volke gehörig, entstanden ist.
Ihre Haare waren blond oder röthlichgelb, bei den Schwaben oder'
Sweven auf dem Wirbel in einen Knoten zusammengebunden, bei den
andern Stämmen meist geschnitten. Die Kleidung war nicht künstlich
noch köstlich; ein als Mantel übergeworfenes Stück wollenen Tuchs, oder
das rauhe, ungegerbte Fell eines Bären oder eines Wolfs, sogar die
Haut eines wilden Schweins deckte die Männer; ihr Helm war dann
wohl eines solchen Thieres Kopf, ein Anblick, der den Römern Grauen
erweckte. Die Weiber hatten ein langes, leinenes Gewand an, das Hals
und Arme frei, ließ. Die Augen der alten Deutschen waren blau und
groß, von scharfem und durchdringendem Blick. Ihre Waffen waren un-
gleich. Einige, besonders die Reiter, hatten eiserne Helme von wunder-
barer Gestalt, dem Rachen wilder Thiere ähnlich, ferner auch Harnisch,
Schild und Schwert; daneben zwei Wurfspeere, die sie geschickt zu schleu-
dern wußten. Solche Bewaffnung war aber die seltenere. Die Meisten
trugen nichts als einen hölzernen, oder auch aus Weidenruthen gefloch-
tenen Schild an ihrem linken Arm, und einen Spieß, zum Wurf
wie zum Stoß geschickt, in der rechten Hand. Arme und Beine waren
unbedeckt und zeigten die außerordentliche Kraft der Muskeln. Denn die
Deutschen richteten von Jugend auf ihre Sorge auf Abhärtung des Kör-
pers , auf Stärke und Schnelligkeit aller Gliedmaßen. Ohne Windeln
und Wiege und Federbetten wuchsen die Kinder kräftig heran und üb-
ten früh, fast gänzlich nackt, den Gebrauch ihrer Glieder. Durch die
gesund» Kraft ihrer Nerven wurde ihnen die Kleidung ersetzt und wi-
derstanden sie. den Veränderungen der Luft, der Hitze und Kälte, dem
Regen und dem Schnee. Eine Bären- oder Wolfshaut, aus die Erde
gebreitet, war ihr Lager; dieselbe Haut, wenn der Knabe heranwuchs,
sein Mantel, der kühle Bach seine Erfrischung, so gut im Winter als
im Sommer; die einfachsten Speisen, Milch und Brod, und das Fleisch
von Rindvieh, Wildpret, wohl auch von Pferden seine Nahrung. Bogen
Lesebuch. jg
274
und Wurfspieß waren von früh an sein Spielzeug und bald seine Waffe,
die er nie mehr von sich ließ. Ein Lieblingsspiel der Jugend war, auf
scharfe Spieße, welche ihnen ältere Männer in ganzen Reihen entgegen
hielten, einzuspringen und Körper und Auge so zu gewöhnen, daß die
Schnelligkeit und Gewandtheit des Anlaufs die Gefahr glücklich über-
wand. Nicht die verdorbene Luft verschlossener Stuben, nicht ein tage-
langes Stillsitzen mit zusammengekrümmten Gliedmaßen, und vor allen
Dingen nicht eine verdorbene Einbildungskraft, welche Lüste und Begier-
den frühzeitig weckt und den Menschen erschlafft, hemmten die gesunde
Ausbildung des Wuchses; denn die Keuschheit war bei ihnen eine so
große Tugend, daß ein Jüngling, welcher sie verletzte, von seinen Ge-
noffen verachtet wurde. So dürfen wir uns nicht wundern, daß die
Deutschen ein so überaus starkes Volk waren und daß sie den Römern,
die von Natur mittelmäßigen Wuchses waren, als Riesen erschienen. Teuco-
boch, König der Cimbern, setzte über vier bis sechs nebeneinander gestellte
Pferde hinweg, und. er war nicht der einzige, der das vermochte. Als
die Cimbern in Italien -an den Etschsiuß kamen und keine Brücke fan-
den, da stellten sich ihre stärksten Krieger drei bis vier Mann hoch in
den Strom quer hinüber und legten Schild an Schild zusammen, um
das Wasser aufzustauen, damit das übrige Heer inzwischen durch die auf
solche Weise gebildete Furth hinüberziehe; das Wasser war zwar gewalti-
ger als ihre Kühnheit und riß die lebendige Mauer hinweg. Aber
welches Krastgefühl müssen diese Völker gehabt haben, daß sie sich sol-
ches unterstehen konnten.
Die Männer übten sich viel in den Waffen, bald im Kriege, bald
auf der Jagd; denn nur diese beiden Beschäftigungen hielten sie eigent-
lich für des freien Mannes würdig. Früh nahm der Vater seinen
Sohn mit auf die Jagd, daß er seinen Wurfspieß gebrauchen lernte;
der schönste Tag für den Jüngling war aber der, wenn er in der
öffentlichen Volksversammlung von dem Fürsten oder von seinem Vater-
feierlich mit Schwert, Schild und Speer geschmückt und dadurch in die
Zahl der Männer ausgenomnten wurde. Nun durfte er mit in den
Krieg ziehen und mit in der Volksversammlung erscheinen und bei den
öffentlichen Angelegenheiten auch seine Stimme geben.
Vor allen Dingen rühmen die Römer die Treue der Deutschen;
Nichts war ihnen verhaßter als Lug und Trug. „Ein Mann, ein Wort!"
hieß es bei ihnen. Unwattdelbare Treue übte der Mann gegen seine
Frau, und die Frau gegen den Mann, Väter und Söhne, Nachbarn,
Gemeindegenossen «und., die zu einem Völkerbünde Gehörigen unter ein-
I
275
ander, der Gastfreund gegen seinen Gast, die Fürsten und ihre Unter-
gebenen. Unsere Vorväter waren auch sehr gastfrei. Einem Fremden
stund jede Hütte offen. Wer einen Wanderer sah, rief ihn unter sein
Dach; zwei Tage genoß er den Landfrieden, am dritten wurde er schon
als Hausgenosse betrachtet. Zog der Fremde weiter, so begleitete ihn der
Hausherr und ließ ihn nicht ohne ein Gastgeschenk von stch. Die Schande
galt bei ihnen mehr als die Strafe selbst, und überhaupt vermochte»
bei ihnen, wie Tacitus, ein römischer Schriftsteller, von ihnen rühmt,
die guten Sitten mehr, als anderswo die Gesetze. So muß es sein,
wenn ein Volk wahrhaft frei und glücklich sein will!
Im Frieden hatte die oberste Leitung des Volkes der aus edlen
Geschlechtern gewählte Fürst; die bürgerlichen Angelegenheiten wurden in
den Volksversammlungen berathen, zu welchen die Landbezirke oder Gaue
zusammentraten. Das Recht wurde unter freiem Himmel öffenllich ge-
sprochen. Der Ort der Versammlung war eine von Alters her gehei-
ligte, offene Stätte. Solche Stätten, an denen bis in das vierzehnte
Jahrhundert hin Landgericht gehalten wurde, waren in Württemberg
z. B. am sogenannten Stein bet Cannstatt, in Tübingen auf dem „Frohn-
acker", beim Stein zu Langenau, unter der Linde zu Bermaringen rc.
Schmähliche Laster wurden durch Ertränkung in einem Sumpfe bestraft,
Feigheit mit dem, was ste gefürchtet, dem Tode.
Man hatte keine geschriebenen Gesetze, sondern urtheilte nach Gut-
dünken und Herkommen, und auch später noch galt der Grundsatz:
„Gute Gewohnheit ist als (ebenso) gut, als geschriebene Recht."
Im Krieg wurde als Anführer ein Heermann oder Herzog gewählt,
der ursprünglich nur für die Dauer des Kriegs seine Macht hatte.
Ein solcher Heermann oder Herzog war jener Hermann oder Arminius,
der im Jahr 9 nach der Geburt Christi Deutschland von der Herrschaft
der eingedrungenen Römer befreite.
Uebrigens stnd nicht alle Gewohnheiten unserer deutschen Voreltern
zu hoben. So waren ste z. B. bei aller Thatkraft doch große Freunde
des Müßiggangs. „Wenn ste nicht in den Krieg ziehen", erzählt Taci-
tus, „so bringen ste die Zeit nicht gerade viel mit Jagen, sondern mehr
mit Müßiggehen hin und ergeben stch dem Schlafen und Schmausen.
Diese tapferen, kriegerischen Leute arbeiten dann nichts, sondern überlassen
die Sorge für das Hauswesen und Feld den Weibern und Greisen und
sonst den Schwächsten im Hause. Sie selbst stnd unthätig. Wunderlicher
Widerspruch", fügt er hinzu, „daß ein und dieselben Menschen so sehr die
Unthätigkeit lieben und doch die Ruhe Haffen!" Sie liebten Schmause-
18*
276
reien und Trinkgelage, und ihr Gerstensaft durfte auch bei ihren öffent-
lichen Berathungen nicht fehlen. Das Spiel liebten manche so leidenschaft-
lich, daß ste darüber Hab und Gut, und endlich gar ihre Freiheit ver-
spielten. Sie waren auch nicht die pünktlichsten, wenn eine Volksver-
sammlung zusammenberufen war, und ließen gerne auf sich warten; Feh-
ler, von denen leider heute noch mancher im deutschen Blute liegt, und
doch endlich daraus vertrieben werden sollte.
Das Reinliche gilt von ihren oftmaligen Uneinigkeiten und Fehden
unter einander. Wenn keine Ursache zu Fehden war, so suchte man sie
bei andern Stämmen. Greulich ist es zu sagen, daß ste dann Hirn-
schädel erschlagener Helden als Schale fassen ließen und bei ihren rohen
Festen Bier oder Most daraus tranken.
Daß unsere deutschen Voreltern bet allerlei löblichen Sitten und
Gewohnheiten doch auch so manche schlimme hegten, wird uns nicht
wundern, wenn wir bedenken, daß sie noch mehrere Jahrhunderte nach
Christi Geburt Heiden gewesen sind. Sie verehrten die Sonne und den
Mond, ferner Bäume, Hügel, Flüsse, Thäler; diesen oder vielmehr den
unsichtbaren Wesen, die sie sich dabei dachten, opferten sie Pferde und
andere Thiere. Wodan oder Odin, Thor, Freia oder Frigga waren
Hauptgottheiten der alten Deutschen. Vom Thor, dem Donnergott, soll
der Donnerstag, von der Freia, der Göttin der Erde, der Freitag seinen
Namen haben. Sie unterhielten für ihre Götter heilige Haine. An den
Opferstätten wurden die Gaben der Erde, Erstlinge der Früchte, unge-
säuerte Kuchen und Kessel voll Biers dargebracht; doch waren die mei-
sten Opfer blutig. Bei den Franken und Alemannen wurden hauptsäch-
lich Thierhäupter auf den Altar gelegt, aus deren Gehirn die Priester
weissagten; doch auch Menschenopfer dauerten fort bis zur Einführung
des Christenthums. Bei den Friesen herrschte, wie bei den heidnischen
Bewohnern der Südseeinseln, die unmenschliche Sitte, daß Mütter, welche
etwa zu viele Kinder (besonders eines Geschlechts) zu haben glaubten,
ein neugeborenes, ehe es Nahrung empfangen hatte, den Göttern opfern,
d. h. tödten durften. Die Sachsen pflegten je den zehnten Gefange-
nen durchs Loos zum Opfer zu bestimmen. Bei den Herulern mußten
sich die Weiber an dem Grabe des verstorbenen Gatten selbst das Leben
nehmen, um ihm in das andere Leben, das sie nach dem Tode glaubten,
nachzufolgen; thaten sie das nicht, so waren sie ihr Leben lang verach-
tet. Dies ist ebenso bei den Heiden in Ostindien noch zuweilen der Fall.
Den Abgeschiedenen wurden ihre Waffen und was ihnen sonst das liebste
war, in das Grab gelegt, damit sie in Walhalla (dem vermeintlichen
Himmel der Tapferen) wieder Gebrauch
glaubten sie, brächten die Helden ihre Z
Trinken zu. Ein griechischer Schriftsteller y
ncn (Deutschen): „sie sind Verächter des Tode» wegru oer Hoffnung der Auf-
erstehung."
Wo der verwirrte, religiöse Wahn (Röm. 1, 28.), wie hier, schon so
mächtig war, was mußte erst werden, wenn das Christenthum mit seinen
Kräften eines zukünftigen Lebens über die Gemüther solch eines Volkes
kam! — In der That hat es auch seiner Zeit im deutschen Volke einen gar-
empfänglichen Boden gefunden und unter seinen verschiedenen Stämmen eine
noch fortdauernde geistige Bewegung hervorgerufen, in der alle die von dem
Schöpfer in siegelegten Kräfte sollten entwickelt und erschlossen werden. Das
Christenthum band eigentlich erst recht die Deutschen zu einemVolk, es überwand
nach und nach die vorhandene Rohheit, es weckte die schlummernden Kräfte des
Geistes und Gemüths, und sein Werk und Verdienst ist es hauptsächlich, wenn
Deutschland jetzt unter den gebildeten Völkern der Erde in erster Reihe steht.
Und doch, wie viel ist noch im deutschen Volke zu überwinden, zu verfeinern
und zu verklären, zu vereinigen, bis es seine Bestimmung erreicht haben und
als ein rechtes Volk Gottes von wahrhaft christlicher Bildung, fertig zu trei-
ben das Werk Gottes, ganz und gar durchdrungen sein wird! Darum lasset
auch uns treulich das Unsere thun!
128. Deutsche Treue.
Uns Deutsche hat keine Tugend so hoch gerühmt, und wie ich
glaube, bisher so erhalten, als daß man uns für treue, wahrhaftige,
beständige Leute gehalten hat, die da haben ja ja, nein nein lassen
sein, wie dessen viel Historien und Bücher Zeugen sind. Noch haben
wir ein Fünklein (Gott woll es uns erhalten!) von derselben alten
Tugend, nemlich, daß wir uns dennoch ein wenig schämen, ungerne
Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Welschen und Griechen.
Und obwohl die welsche und griechische Unart einreißt, so ist gleich-
wohl noch das übrig bei uns, daß kein ernster, greulicher Scheltwort
Jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner schilt oder
gescholten wird. Und mich dünkt, daß kein schädlicher Laster aus
Erden sei, denn lügen und Untreue beweisen; welches alle Gemein-
schaft der Menschen zertrennt. Denn Lüge und Untreu trennt erstlich
die Herzen; wenn die Herzen getrennt sind, so gehen die Hände auch
von einander; wenn aber die Hände von einander sind, was kann
o Kaufleute einander nicht Glauben
Grund. Wenn Bürgermeister, Fürst,
Sv -a muß die Stadt verderben, Land und
Leute uniergehen.
129. Hermann, -er Kefreier Deutschlands.
(p 21 nach Christi Geburt.)
Unter der Regierung des ersten römischen Kaisers Augustus mach-
ten die Römer große Anstrengungen, Deutschland zu erobern. Mehrere
Kriegszüge hatten sie schon unternommen, und die Gegenden zwischen der
Weser und dem Rhein waren ihnen dem Anschein nach gänzlich unter-
worfen. Gegen das Jahr 9 nach Christi Geburt führte in Deutschland
den Oberbefehl ein gewisser Varus, der vorher Landpfleger in Syrien
gewesen war und dort Jerusalem und das jüdische Land hatte drücken
und aussaugen helfen. Denn als er dorthin kam, war er arm und
das Land ^reich; als er wieder abzog, war er reich und das Land
arm. Dieser Mann betrachtete die Deutschen als völlig überwundene Bar-
baren; er hielt schon aus römische Weise Gericht in den deutschen Gauen,
und was die Deutschen am meisten aufbrachte, er ließ nach römischer
Sitte die Beile mit den Ruthenbündeln vor sich her tragen, welche ein
Zeichen seines Rechtes über Leben und Tod und körperliche Züchtigung
sein sollten.
Dennoch wurde der Unwille lange nicht laut, und Varus hielt die
Herrschaft der Römer in Deutschland für gegründet. Aber so dachte Her-
mann, ein edler deutscher Mann vom Stamm der Cherusker, nicht. Das
Joch eines fremden Volkes mit fremder Sprache und verdorbenen Sitten
schien ihm so unerträglich, daß es unter jeder Bedingung abgeschüttelt
werden müssen Hermann war eines cheruskischen Fürsten Sohn, von
fürstlicher Gesinnung und an Gestalt und Tapferkeit ein wahrer Held.
Er war als Knabe nach Rom gekommen und hatte die Römer mit ihrer
Staats - und Kriegskunst, so wie mit allen ihren Lastern genau kennen
gelernt. Sein Haß gegen das verdorbene Volk, welches sich anmaßen
wollte, freie Menschen zu Knechten zu machen und dazu mit seinen Lastern
anzustecken, wurde unauslöschlich. Er kehrte zu seinem Volke zurück, be-
geisterte mit seiner Rede die übrigen Fürsten und Anführer desselben,
und trat an die Spitze des cheruskischen Bundes, der fast alle west-
phälischen Völkerschaften umfaßte, um den verhaßten Feinden den Unter-
gang zu bereiten. Varus merkte in seinem selbstgefälligen Hochmuthe
Nichts. Selbst als ein Fürst der Kalten (Hessen) ihm den ganzen Plan
279
verrieth, blieb er in seiner Sicherheit und hielt die deutschen Barbaren
für viel zu einfältig, als daß sie einen so klugen und weitumfassendÄ:'
Anschlag erdenken sollten. Um den Varus von seinem guten Lagerplatze
weg in gefährlichere Gegenden zu locken, mußte ein entferntes Volk einen
Aufstand erregen. Varus brach mit einem Heere von mindestens 40,000
Mann gegen dasselbe auf. Die verbündeten Fürsten entfernten sich, zogen
ihre schon bereit gehaltenen Haufen zusammen, verabredeten den Angriff,
und als die Römer mitten in den Wildnissen des teutoburger Waldes
waren, in der Gegend von Paderborn über Detmold nach Herfort und
Minden hin, so brachen die Deutschen von allen Seiten auf sie los.
Die Römer dachten an keinen Angriff; ohne Ordnung, mit vielem
Gepäck, sogar mit einem Haufen von Frauen und Kindern zogen sie
in dem rauhen Waldgebirge daher. Der Sturmwind brauste in den
hohen Gipfeln der Eichen, und der Boden war von vielem Regen ganz
durchweicht. Die Meisten mochten sich wohl in ihrem Herzen weit weg
aus diesen Wildnissen wünschen. Da kamen plötzlich aus dem Dickicht f
des Waldes, von allen Höhen und aus allen Schluchten die Schaaren
der Deutschen, die solche Wege und solches Wetter gewohnt waren, her-
vor, und schlenderten ihre scharfen Wurfspeere gegen die erschrockenen Römer.
Diese ordneten sich, so gut sie in den unwegsamen Gegenden konnten,
nahmen das Gepäck und den Troß in die Mitte und vertheidigten sich.
Aber die Sehnen der Bogen waren vom Regen erschlafft, die übrigen
Waffen auch großentheils verdorben; auf dem schlüpfrigen Boden konn-
ten sie in ihren schweren Harnischen keinen festen Fuß fassen und den
Deutschen überhaupt wenig Schaden zufügen. Viele von ihnen sanken
ermattet und verwundet zu Boden.
Am Abend endlich gelang es ihnen, einen Platz zum Lager zu
finden und sich zu verschanzen, so daß sie doch einige Stunden ausruhen
konnten. Am andern Morgen aber mußten sie weiter; ihre einzige Hoff-
nung war, sich bis zu ihren festen Plätzen, wo noch Besatzung lag,
und so weiter bis an den Rhein durchzuschlagen, und wirklich kamen
sie auch in eine etwas freiere, ebenere Gegend, wo sie abgeschlossene
Reihen bilden und die Angriffe der Deutschen besser abwehren konnten.
Allein das dauerte nicht lange; bald ging der Weg wieder in den schreck-
lichen Wald. Nun griffen die Deutschen mit neuer Wuth an, erschlu-
gen eine Menge und jubelten laut, daß der Nömerhaufen immer klei-
ner und kleiner wurde.
Noch einmal versuchten diese, ein Lager aufzuschlagen und Wall
und Graben auszuwerfen; allein die Deutschen ließen ihnen nicht Zeit
280
dazu. Mit verdoppelter Anstrengung und Hellem Schlachtgefange stürmten
sie von allen Seiten heran; der Feldherr Varus verlor gänzlich den
Muth und stürzte sich, nachdem er schon mehrere Wunden empfangen
hatte, selbst in sein Schwert; viele der Anführer thaten deßgleichen;
keiner widerstand mehr. Die Deutschen hatten nichts weiter zu thun,
als die Ermatteten und Fliehenden niederzumachen oder gefangen zu neh-
men. Nur wenigen einzelnen Römern gelang es, in der Dunkelheit
der Nacht zu entkommen und durch glückliche Umstände begünstigt zu den
festen Plätzen zu entfliehen, wo sie ihren Landsleuten die traurige Bot-
schaft von dem Untergang des Barus mit seinem ganzen Heer ver-
kündigten.
Die Deutschen feierten unterdeß große Freudenfeste. Die gefange-
nen Kriegsoberften wurden, wie Opferthiere, den Göttern zu Ehren ab-
geschlachtet, andere Gefangene an Bäume aufgehängt oder als Sklaven
vertheilt. Dieses letztere Loos traf namentlich viele vornehme Römer.
Noch vierzig Jahre später wurden einige derselben von ihren Landsleu-
ten nach einem Treffen im Hessischen aus ihrer langen Knechtschaft be-
freit. Der Kopf des gefallenen Varus ward den Römern zum gräß-
lichen Wahrzeichen übersendet. Besonders übel ging es den römischen
Sachwaltern, die so oft mit ihren glatten Zungen das Recht verdreht
hatten. Einem solchen wurde die Zunge mit glühenden Nadeln durch-
stochen, wobei man ihm höhnend zurief: „Nun züngle, du Schlange!"
Dieser Sieg, der unserem Vaterlande Freiheit und Selbständigkeit
gerettet hat, ist im Jahr 9 nach Christi Geburt erfochten worden.
Hermann begnügte sich aber nicht damit, nur den Varus geschla-
gen zu haben, er eroberte und zerstörte auch alle römischen Festen, die
diesseits des Rheins waren, und hörte nicht auf, bis er an den Usern
dieses Stromes stand. Weiter ging er nicht; er hatte nur den vater-
ländischen Boden von den fremden Unterjochern befreien wollen.
In Rom aber glaubte man ihn schon auf dem Wege nach Italien,
und der alte Schrecken vor den Cimbern und Teutonen, die hundert
Jahre vorher zuerst den Römern deutsche Tapferkeit und Waffen fühlen
ließen, erneuerte sich. Der Kaiser Augustus, der sich sonst wohl zu
faffen wußte, verlor diesmal alle Besinnung, rannte mit dem Kopf gegen
die Wand und rief dabei aus: „Varus, Varus, gib mir meine Legio-
nen wieder!"
281
130. Leben -er Christen in den ersten Jahrhunderten.
Dieselbige Veränderung, die das Christenthum im Herzen der
Menschen hervorbrachte, konnte nicht im Innern verborgen bleiben, sie
mußte sich im Leben und im Wandel offenbaren. Welch ein Unter-
schied, wenn man das Thun und Treiben der Heiden der damaligen
Zeit mit dem Leben der Christen vergleicht! Die Christen lebten in
der Liebe zu ihrem Herrn und zu ihren Brüdern ein frommes, demü-
thiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit; sie nannten sich
unter einander Brüder und waren bereit, für einander das Leben zu
lassen. Ihre Kinder wurden in der Furcht des Herrn erzogen; ihre
Sklaven mit Gerechtigkeit und Güte behandelt; ihre Armen, Kran-
ken, Wittwen und Waisen wurden mit aufopfernder Sorgfalt ge-
pflegt; auch der Fremde, sogar der Feind, war nicht von dieser Liebe
ausgeschlossen. Ein heiliger, aber heiterer Ernst begleitete alles Thun
der Christen; ihr Blick war gerichtet auf das, was droben ist, sie
sahen den Himmel als ihr Vaterland an und nannten ihre irdische
Wohnung nur ihre Herberge. So waren sie das Salz der Erde
und ein Licht der Welt, und auch ihre Feinde konnten ihnen ein
gutes Zeugniß nicht versagen.
In den Gemeinden der Christen war eine einfache Ordnung ein-
geführt. Einige der erfahrensten Christen, die den Namen Presbyter
oder Aelteste führten, wurden dazu ernannt, die gemeinschaftliche Er-
bauung zu leiten und über Lehre und Leben der Brüder zu wachen.
Andere übernahmen die Sorge für Arme und Kranke; diese hießen
Armenpfleger oder Diakonen. Derjenige unter den Presbytern, der
den Vorsitz führte, hieß Bischof oder Aufseher der Gemeinde. Als
später sich mehrere nahliegende Gemeinden unter einem Bischof an
einander schlossen, wurde das Amt der Bischöfe noch bedeutender und
ihr Ansehen größer.
Am Tag des Herrn, am Sonntage, versammelten sich die Chri-
sten in einem Christenhause', in Zeiten der Verfolgung auch wohl zur
Nachtzeit in Wüsten und Höhlen. Erst später baute manche Ge-
meinde ein eigenes Haus zu gottesdienstlichen Versammlungen und
nannte es des Herrn Haus, auf griechisch: Kyriake, woraus unser
deutsches Wort: Kirche worden ist. Bei diesen Zusammenkünften
wurde ein Psalm gesungen, ein Abschnitt aus der heiligen Schrift
gelejen, darüber geredet und gebetet. Jeden Sonntag, und in ae-
282
jährlichen Zeiten täglich, wurde dastzheilige Abendmahl gefeiert, an
dem die ganze Gemeinde. Theil nahm.
Die Taufe geschah in der ersten Zeit der Verkündigung des
Evangeliums an Erwachsenen nach vorhergegangenem Unterricht, und
zwar durch völlige Untertauchung unter das Wasser. Nach der Taufe
bekam der Täufling ein reines, weißes Gewand. Das sollte ihm
andeuten, daß sein voriges sündliches Leben aufhören und ein neues
gottgeheiligtes Leben beginnen müßte. Diejenigen, die noch im vor-
bereitenden Unterricht standen, hießen Katechumenen. Aus Furcht, den
Bund der Taufe durch Sünden wieder zu verletzen, verschob man
die Taufe oft lange. Keiner wurde aber getauft, der nicht vorher
überzeugende Beweise der Sinnesänderung gegeben hatte.
Vor dem Abendmahl genossen die Christen ein gemeinschaftliches
Mahl, das Liebesmahl, griechisch Agape genannt. Jeder brachte dazu
aus seinem Hause Speise und Trank, und Alles wurde gemeinschaftlich
vertheilt. Der Reiche aß von dem Brod des Armen, und der Arme
genoß die Speise des Reichen. Dies Liebesmahl, welches die innige
Verbindung der Christen unter einander darstellen und erhalten sollte,
schloß mit dem Bruderkuß. Bei der Feier des heiligen Abendmahls,
die ganz nach der einfachen Weise der Einsetzung gehalten wurde,
durfte kein Heide, nicht einmal ein Katechumene gegenwärtig sein.
Das Gebet nannte man die Seele des Christenlebens und die Mauer
des Glaubens. Die Christen waren nicht an festgesetzten Zeiten zum
Gebet gebunden. Doch hielten sie es für schicklich, Morgens und
Abends und beim Genuß der Speisen zu beten. „Sollte der Leib
sich laben und die Seele ohne Erquickung bleiben?" sagten sie. Am
Tag des Herrn pflegte man stehend zu beten, weil der Herr an die-
sem Tage die Menschen wieder aufgerichtet habe aus Sünde und
Noth; an den übrigen Tagen wurde meist knieend gebetet.
Christliche Feste waren: das Auferstehnngsfest, dem zwei stille
Tage, zum Andenken des Todes Jesu, vorangingen; das Fest des
heiligen Geistes, und etwas später auch das Weihnachtsfest. Außer-
dem pflegte auch jede Gemeinde die Tage, an welchen ihre frommen
Lehrer oder Christen ans ihrer Mitte als Märtyrer geblutet hatten,
als ihre Gcdächtnißtage auszuzeichnen.
Die christliche Gemeinde übte strenge Kirchenzucht; die unordent-
lichen Glieder wurden erinnert und ermahnt; wenn aber Jemand
durch offenbare Sünden Aergerniß gab, oder in der Verfolgung
Christum verleugnete, der wurde als ein des Christennamens Un-
V
283
würdiger ausgeschlossen und nicht eher wieder aufgenommen, bis er
deutliche Zeichen der Besserung gab.
Reisende Christen und solche, die der Verfolgung wegen aus
ihrem Vaterlande flohen, brachten eine Bescheinigung des Bischofs,
daß sie wirklich Glieder der christlichen Gemeinde seien, und wurden
dann überall als Brüder aufgenommen. Auch erkannten sich die
Christen unter einander an dem Zeichen des Kreuzes. Das Zeichen
aber, das Jesus selbst (Joh. 13, 35.) als Kennzeichen seiner Jünger
nennt, die Liebe unter einander, hatten sie unverkennbar an sich,
daß die Heiden bei dem Anblick derselben öfters ausriefen: „Seht,
wie sie sich lieben!"
131. Johannes und der Jüngling.
Bei seiner Rückkehr von Patmos nach Ephesus besuchte
der Apostel Johannes die umliegenden Gegenden, um Bischöfe
einzusetzen und Gemeinden einzurichten. Als er nun in einer
Stadt unweit Ephesus die Brüder ermahnt und tröstet, erblickt
er einen schönen, feurigen Jüngling, der ihn so anzieht, dass
er sogleich sich zu dem Bischof der Gemeinde wendet mit den
Worten: „Diesen lege ich dir vor Christo und der Gemeinde als
Zeugen alles Ernstes ans Herz." Der Bischof übernahm nun den
Jüngling, indem er Alles zu thun versprach, und beim Scheiden
wiederholte Johannes jene Worte noch einmal. Der Aelteste
jiahm den Jüngling ins Haus, pflegte und bewachte ihn, bis er
*am End*0 ihn zur Taufe zulassen konnte. Nachdem er aber
dieses Siegel des Herrn empfangen, liess der Bischof von seiner
Sorgfalt und Wachsamkeit nach. Der Jüngling, zu früh der
Zucht entlassen, geräth in schlechte Gesellschaft. Zuerst wird
er zu Ausschweifungen verführt, dann verleitet, des Nachts die
"Vorübergehenden zu berauben. Wie ein kühnes Ross, das vom
rechten Wege abspringt, sich gählings in den Abgrund stürzt,
riss auch ihn seine heftige Natur in die Tiefe des Verderbens.
Er verzweifelte nun einmal an der Gnade Gottes und wollte
daher, da er doch einmal mit seinen Genossen ein gleiches
Schicksal zu theilen hatte, noch etwas Grosses ausführen. Er
nahm seine Gesellen zu sich, bildete eine Räuberbande und wurde
ihr Haupt, alle an Blutdurst und Gewaltthaten übertreffend. —
284
Nach einiger Zeit ward Johannes abermals durch ein Geschäft
nach jener Stadt gerufen. Als er alles Andere abgethan, redete
er den Bischof an: „Wohlan, Bischof, gib das Pfand uns wie-
der, das ich und der Heiland dir vor der Gemeinde anvertraut
haben!" Dieser erschrack zuerst und meinte, es sei von verun-
treutem Geld die Bede. Als aber Johannes sagte: „Den Jüng-
ling fordere ich wieder und die Seele des Bruders", seufzte der
Greis tief auf und sprach mit Thränen: „Der ist gestorben!" —
„Gestorben?" fragte der Jünger des Herrn. „find welcher
Todesart?" — „Er ist Gott gestorben", erwiederte der Alte,
„er ist gottlos geworden und am Ende ein Bäuber. Nun hat er
statt der Kirche mit seinen Genossen einen Berg inne." — Der
Apostel, als er dieses vernimmt, zerreisst mit lautem Schrei sein
Kleid, schlägt an sein Haupt und ruft: „0 welchen Wächter habe
ich über meines Bruders Seele zurückgelassen!" Er nimmt ein
Pferd und einen Wegweiser und eilt an den Ort, wo die Räuber-
bande sich aufhält. Er wird von der Wache ergriffen; er flieht
nicht, sondern ruft: „Eben desshalb bin ich gekommen; führt
mich zu eurem Anführer!" Dieser gewaffnet erwartet seine
Ankunft. Als er aber erkennt, dass der Herannahende Johannes
ist, entflieht er aus Scham. Johannes indess eilt ihm mit aller
Schnelligkeit nach, sein Alter vergessend, und schreit: „Warum
fliehst du mich, o Kind! mich, deinen Vater, den Unbewaffne-
ten, den Greisen? Habe Mitleid mit mir, o Kind! fürchte dich
nicht! du hast noch eine Hoffnung des Lebens. Ich will Christo
Rechenschaft für dich ablegen. Soll es sein, so will ich gern
für dich sterben, wie Christus für uns gestorben ist. Ich will
mein Leben für dich lassen. Stehe; glaube, Christus hat mich
abgeschickt!" Jener, als er diese Worte vernimmt, bleibt stehen
und blickt zur Erde. Dann wirft er die Waffen weg, dann
fängt er an zu zittern und bitterlich zu weinen. Und als der
Greis herankommt, umfasst er seine Kniee und fleht mit der
heftigsten Wehklage um Vergebung; durch seine Thränen gibt
er sich gleichsam die zweite Taufe; nur die rechte Hand ver-
birgt er. Der Apostel aber verbürgt sich und schwört, dass er
vom Heilande Vergebung für ihn erhalten habe, bittet, wirft sich
auf die Kniee und küsst seine gleichsam durch die Reue rein-
gewaschene Hand. So führt er ihn denn in die Gemeinde zu-
rück. Und hier betet er so angelegentlich mit ihm und kämpft
\
285
mit ihm im Fasten und ermahnt ihn mit Reden, bis er ihn der
Kirche wiederschenken kann als ein Beispiel wahrhafter Sinnes-
änderung und echter Wiedergeburt.
132. Maria und Martha.
Menge sie nicht, trenne sie nicht. Maria sitzt und ist stille,
Martha geht und ist geschäftig; Maria ohne Sorgen, läßt sich speisen
und ihr dienen; Maria nimmt, Martha gibt; Maria ist eine Hörerin,
Martha eine Thäterin.- Den Glauben mein ich, und die Liebe.
Schwestern sind sie, darum trenne sie nicht; doch haben sie nicht'
einerlei Sinn und nicht einerlei Werke, drum menge sie nicht. Der
Glaube ist die Maria, die erhöhete in der Betrachtung und im
Gebet, die bittere im Selbst-, Welt- und Sündenhaß, auch in der
Buße; er sitzt in stiller Ruh und Andacht zu Jesu Füßen, in tiefster
Demuth, und höret seiner Rede zu, nimmt das Wort an und be-
wahrts in einem feinen, guten Herzen. Die Liebe ist die Martha,
die Hauswirthin, die Jesum mit seinen Jüngern aufnimmt und
beherberget. Diese macht sich viel zu schaffen, Jesu zu dienen, ihm in
seinen Dienern mit allerlei Noth- und Ehrendiensten an die Hand
zu gehen, oft ist sie so geschäftig, daß sie dem Glauben, bei Jesu Lust
und Ruhe zu suchen, kein Stündlein gönnt. Herr, spricht sie, fragst
du nicht darnach, daß mich meine Schwester läßt alleine dienen?
Sage ihr doch, daß sie es auch angreife. Jesus ist der Schiedsmann,
^,und setzt sie also von einander, daß er sie weder menget noch trennet,
.sondern spricht: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe:
eins aber ist noth, Maria hat das gute Theil erwählet, das soll
nicht von ihr genommen werden. Beides muß ja bleiben, Glaube
und Liebe. Maria muß sich von Jesu speisen lassen; Martha muß
ihn wieder speisen; Maria nehmen, Martha geben; Maria hören,
Martha thun; aber Maria muß den Vorzug haben. Erstlich muß
das Herz mit der Liebe Jesu durchgossen sein, darnach gibt man dem
Nächsten zu empfinden, was man empfunden hat. Jesus hat uns
gespeiset, getränket, gekleidet an unserer Seele; wir speisen, tränken
und kleiden ihn wiederum in seinen hungrigen, durstigen, nackten
Gliedern. Jesus ist der Magnet, der Maria an sich zeucht mit seinen
holdseligen Lippen; Martha ist der Magnet, der Jesum an sich
zeucht mit liebreicher Hand und Herzen. Mit einem Wort: kein
wahrer Glaube kann ohne gute Werke sein, wie kein lebendiger Leib
286
ohne Bewegung, kein Baum ohne Früchte. Wo die Liebe Jesu im
Glauben erkannt ist, da dringt sie den Menschen, Jesu zu Liebe und
Ehren zu thun, was er nur kann. Wo ein lebendiges Sämlein im
Acker ist, da bleibts nicht verborgen, es bricht Herfür und zeigt sich
in Früchten. So können auch keine guten Werke ohne Glauben sein,
denn das Wort Gottes pflanzet den Glauben, aus dem Glauben
wachsen hervor die guten Werke, die nichts sind als dasselbe Wort
Gottes, das durch den Glauben in uns gepflanzt ist, in seiner That
und Erfüllung. Die drei hangen zusammen an einer Kette: Wort,
Glaube, Werke. Das Wort, ein Same des Glaubens, der Glaube,
ein Same der Werke. Aber Glaube und Werke sind und thun nicht
einerlei, jener macht gerecht, diese folgen auf die Rechtfertigung und
beweisen dieselbe. Jener gibt das Leben, diese offenbaren es. Jener
handelt mit Gott, diese mit dem Nächsten. Um beide bemühe dich,
um den Glauben, daß du selig werdest, und um die Werke, daß du
dich selbst und Andere deiner Seligkeit versicherst, durch Offenbarung
deines Glaubens in den Werken.
133. Von den Ostereiern.
Es ist eine uralte, noch in das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung zurück-
gehende Sitte unter den Christen, daß mau zur heiligen Osterzeit sich einander
oder wenigstens den Kindern Eier schenkt. Auch der Schreiber dieses erinnert sich
noch mit Wohlgefühl jener Zeiten, wo er und seine lieben Geschwister im väter-
lichen Garten die Nester suchen durften, darein ihnen, wie man sagte, der Hase ge-
legt hatte. .
Was sollen aber die Ostereier bedeuten? Sie galten unsern christlichen Vor-^
fahren als Sinnbild der Auferstehung. Aus dem stillen, reglosen Ei geht wunder-
barerweise ein lebendiger Vogel hervor, — so stieg einst Jesus in verklärter Ge-
stalt ans dem stillen Grab in Josephs Garten; so werden einst ans den Gräbern
derer, die im Herrn entschlafen sind, geistliche Leiber auferstehen und (wie mit
Vogelschwingen) dem kommenden Herrn in der Lust entgegenschweben (1 Thess. 4,
17.). Dies ist die einfache Bedeutung der Ostereier. Die alten Christen erinnerten
einander auch, indem sie sich die Eier reichten, an die Bedeutung; - sie sprachen mit
freundlichen Worten von der freudenreichen Auferstehung des Heilandes und von
jenem großen Tag, da alle Gräber wie Eierschalen zerbrechen werden.
In der griechischen Kirche hat sich der fromme Gebrauch bis auf unsere Zeit
erhalten, daß einer seinem Milbruder ein Ei gibt, ihn küßt und grüßet: „Christus
ist auferstanden!" Der Mitbruder spricht als Gegengruß: „Er ist wahrhaftig auf-
erstanden!''
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ik - .„-.--......-a... -
287
134. Verfolgungen der Christen.
Anfangs waren nur die Juden die heftigen Widersacher der Christen
gewesen; aber ehe noch Jerusalem zerstört war, machten auch die Heiden
mit der Verfolgung derselben einen furchtbaren Anfang. Der erste Christen-
verfolger unter den römischen Kaisern war Nero, der vom Jahr 54 bis 68
natli Christo regierte. Dieser grausame Tyrann liess unter anderen Schand-
thaten Rom, die Hauptstadt der Welt, in Brand stecken, um das Schauspiel
eines grossen Brandes zu haben, und um eine neue Stadt bauen zu können.
Rom brannte sieben Tage. Da er aber dadurch sich einen grossen Hass zu-
zog, so wollte er die Schuld von sich abwälzen und gab die damals schon
zahlreichen Christen, die Aller Aufmerksamkeit auf sich zogen, als Urheber
an. Und nun brach der bereits vorhandene Hass gegen sie in allgemeinen,
hellen Flammen aus; denn die Welt stiess sich an dem Worte von Jesu Christo,
dem Gekreuzigten; sie hielt diese Predigt für eine Thorheit, die Christen für
verabscheuungswürdige Menschen, die gar keine Religion hätten. So hatte die
Grausamkeit des Nero freies Spiel. Er liess einige Christen gefangen neh-
men und entdeckte durch deren Aussage noch mehrere. Die schrecklichsten
' Martern wurden ersonnen. Man wickelte sie in die Felle wilder Thiere und
liess sie von Hunden zerreissen. Man bestrich sie mit Wachs und andern
brennbaren Stoffen, stellte sie in den Gärten des Nero herum und zündete sie
an, damit sie als Fackeln die Nacht erleuchten sollten, und dergleichen.
Unter solchen Martern endeten viele Christen das Leben. Von Rom aus ver-
breitete sich die Verfolgung weiter; auch in Spanien soll damals schon
Christenblut geflossen sein.
Man rechnet im Ganzen zehn solcher grossen Verfolgungsstürme, die in
den drei ersten Jahrhunderten des Christenthums ausgebrochen sind und
manchmal viele Jahre hindurch angedauert haben. Die römischen Kaiser
waren gegen die Christen, weil diese ihnen alle abgöttischen Dienste ver-
weigerten, welche ihnen die Heiden z. B. mit Räuchern vor ihren Bild-
säulen u. s. w. erwiesen. Die Priester waren wider die Christen, weil die
Zahl der Götzendiener sich täglich verminderte, und die, welche Götzenbilder
verfertigten oder damit handelten, weil sie immer weniger zu verdienen hatten.
Allen war bange, dass entweder ihre Reichthümer, oder ihr Ansehen, oder
beides gänzlich verloren gehen möchte. Desswegen sagten sie, dass die
Christen Götter und Obrigkeiten verachteten. Man brachte auch freche Lügen
auf, dass die- Christen bei ihren Zusammenkünften schändliche Dinge trieben,
ja sogar dass sie Menschenopfer schlachteten. Dadurch wurde das Volk sehr
erbosst gegen sie, und wenn eine Landplage kam, schob man die Schuld
davon gewöhnlich auf die Christen.
Eine der schrecklichsten Verfolgungen fand unter dem Kaiser Decius
(vom Jahr 249 — 251) statt. Die Christen hatten fast ein halbes Jahrhundert
vorher in Ruhe gelebt, und diese Ruhe hatte sie sicher und lau werden lassen.
Origenes, ein ausgezeichneter Lehrer jener Zeit, klagt sehr darüber. «Ei-
nige», sagt er, «kommen zur Kirche nur an hohen Festtagen und alsdann
nur fast zum Zeitvertreib. Einige gehen heraus, sobald die Predigt geendigt
i'Latoi
Ü0K.
288
ist, ohne mit den Lehrern zu reden, oder ihnen Fragen vorzulegen ; andere
hören nicht ein einziges Wort, sondern stehen in einejn Winkel der Kirche
und plaudern mit einander.» — Da kam die Verfolgung im Jahr 250 plötzlich
wie ein Wetter über sie und schreckte sie aus ihrer Sicherheit auf. Decius
wollte das Christenthum völlig ausrotten. Durch \einen kaiserlichen Befehl
wurden die Christen im ganzen Reich aufgefordert, an einem bestimmten Tag
vor der Ortsobrigkeit zu erscheinen und den Götzen zu opfern. Nicht wenige,
besonders Reiche und Vornehme, gehorchten. Andere ergriffen die Flucht und
wurden dann ihres Vermögens beraubt. Bei denen, welche geblieben waren,
wandte man alle möglichen Mittel an, um sie zum Abfall zu bringen. Durch
Kerker und Bande, Schläge und Steinigung, Feuer und Schwert, Hunger und
Durst und unzählige andere Martern wollte man sie zwingen, ihren Glauben
zu verleugnen. Einige liessen sich auch sogleich dazu bewegen, andere
hielten sich anfangs standhaft und fielen dann ab, manche aber überwanden
Qual und Tod um desswillen, der sie geliebt hatte bis in den Tod. «Der
Herr wollte sein Volk prüfen», schreibt der Bischof von Karthago, Cyprianus,
der nachmals selbst als Märtyrer starb. «Weil ein langer Friede die uns
von Gott befohlene Zucht verdorben hatte, so hat die Züchtigung unsern
Glauben wieder geweckt, der beinahe eingeschlafen war.» Dioskorus, ein
Knabe von noch nicht ganz fünfzehn Jahren, wurde auch vor den Richtei
geführt. Dieser wollte ihn erst durch Schmeicheleien und dann durch Martern
dem Heiland untreu machen; aber es gelang ihm nicht. Dieser Knabe be-
kannte Jesum so offen und freudig, dass der Richter sich darüber verwun-
derte und ihn, weil er noch so jung war, losliess.
Die letzte und furchtbarste Verfolgung der Christen begann unter dem
römischen Kaiser Diocletian und dauerte acht Jahre. Alle christlichen Kirchen
sollten zerstört, alle Handschriften der Bibel ausgeliefert und verbrannt wer-
den; die Bürger, welche Christen geworden, sollten ihre Rechte und Würden
verlieren, und die christlichen Sklaven niemals freigelassen werden, wenn sie
das Christenthum nicht abschwüren. Sie wurden an ihren Leibern verstüm-
melt, haufenweise verbrannt, ersäuft und sonst aufs grausamste hingerichtet.
Aber die Glaubensfreudigkeit der meisten Christen war unter diesen Verfol-
gungen so gross, dass sie Gut und Blut g¥rn dahin gaben. — Ein Knabe,
Hilarian aus Numidien in Afrika, war mit andern Christen gefangen genom-
men worden. Der heidnische Richter meinte, ihn durch Drohungen leicht in
Schrecken setzen zu können; aber der Knabe sprach: «Thut, was ihr wollt,
ich bin ein Christ!»
Jede dieser Christenverfolgungen diente zur inneren Läuterung und Stär-
kung der Christen, ja selbst äusserlich zur Vermehrung ihrer Zahl, denn
das Blut der Märtyrer war der Same der Kirche.
Bald nach der Verfolgung unter Diocletian kam es nach Gottes wunder-
barer Fügung dahin, dass ein römischer Kaiser die Christen nicht nur
schützte, sondern dem Christenthum selbst auf alle Weise förderlich war,
ja sich am Ende seines Lebens selbst auf den Namen Jesu Christi taufen
liess. Es war dies Constantia, mit dem Beinamen der Grosse. Sein Name
ist noch in dem Namen von Constantinopel, d. i. Constantinsstadt, ei-
halten.
mm
289
Mit Constantin hörten im Ganzen die Verfolgungen von Seiten der Hei-
den auf. Die Christen wurden immer mehr vor den Heiden begünstigt, ja
unter einem späteren Kaiser, Theodosius dem Grossen, der bis zum Jahr 395
nach Christo regierte, wurde Götzendienst und Heidenthum im römischen
Reich gar verboten; die Unterdrücker wurden nun selbst unterdrückt, wie das
auch bei den Juden geschehen ist.
Aber da es jetzt weder Gefahr noch Schmach mehr brachte, ein Christ
zu heissen, sondern vielmehr allerlei äusserliche Vortheile, so machte sich
von nun an der Unterschied von wahren und falschen Christen immer mehr-
geltend. Das heidnische und jüdische Wesen, obwohl äusserlich überwunden,
zog sich in die christliche Kirche selbst hinein, und weil der falschen
Christen immer mehr gewesen sind, als der wahren (Matth-7, 13. 14.), so
hörten auch die Verfolgungen der wahren Gläubigen nicht auf. Durch alle
Jahrhunderte beweist sich vielmehr das Reich Christi auf Erden als ein
Kreuzreich, da es nach dem Ausspruch des Meisters (Matth. 16, 24.) geht:
«Will mir Jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein
Kreuz auf sich und folge mir»; und nach dem Wort seines bewährten Jüngers,
des Apostels Paulus (2 Tim. 3, 12.): «Alle, die gottselig leben wollen in
Christo Jesu, müssen Verfolgung leiden.» .
135. Die
Löwen, laßt euch wieder sinden
Wie im ersten Christenthum,
Die Nicht» konnte überwinden!
Seht nur an ihr Martcrthum,
Wie in Lieb sie glühen,
Wie sie Feuer sprühen,
Daß sich vor der Sterbenslust
Selbst der Satan fürchten mußt'.
Märtyrer.
O daß ich, wie diese waren,
Mich befäiid auch in dem Stand!
Laß mich doch im Grund erfahren
Dein hülfreiche, starke Hand,
Mein Gott, recht lebendig!
Gib, daß ich beständig
Bis in Tod durch deine Kraft
liebe gute Ritterschaft.
/ Ganz großmüthig sie verlachte»,
» Was die Welt für Vortheil hält,
Und wonach die Meisten trachten,
Es möcht sein Ehr, Wollust, Geld.
Furcht war nicht in ihnen;
Auf die Kampfschaubühnen
Sprangen sie mit Freudigkeit,
v Hielten mit den Thieren Streit.
Ei wohlan, nur fein staudhaftig,
O ihr Brüder, Opfer drauf!
Lasset uns doch recht herzhaftig
Folgen jener Zeugen Haus!
Nur den Leib berühret,
Was ihm so gebühret;
Er hals Leiden wohl verdient,
lind die Seel darunter grünt.
136. Siimsprüche.
Des Christen Herz auf Rosen geht,
Wenns mitten unter Dornen steht.
Gottes Mühlen mahlen langsam,
Mahlen aber trefflich klein;
Ob mit Langmuth er sich säumet,
Bringt mit Scharf er Alles ein.
290
i
^ 137. Völkerwanderung.
'(375 — 476 nach Christi Geburt.)
'/ Im Jahr 395 nach Christi Geburt theilte Theodosius der Große,
der letzte fromme und kraftvolle römische Kaiser, sein gewaltiges Reich
unter seine beiden Söhne. Der eine, Honorins, bekam den abend-
ländischen Theil und wohnte in Rom. Der andere, Arkadius, erhielt
den Mrgenländifch'en Theil und nahm feinen Sitz in Constantinopel.
Das letztere Reich bestand noch über tausend Jahre; das erstere nicht
mehr volle hundert. Längst schon waren deutsche Völker an den
Grenzen des römischen Reichs gelagert, wie die Gothen iu Südruß-
land am schwarzen Meere, die Alemannen an der obern Donau,
und die Franken am untern Rhein, und warteten aus eine gute
Gelegenheit, über die blühenden Fluren des reichen Römerlandes her-
zufallen und sie einzunehmen. Diese Gelegenheit ließ Gott nun kom-
men. Das Alte sollte untergehen, und neue Völker sollten das Evan-
gelium kennen lernen, nachdem sie den Römern gethan hallen, wie
einst die Israeliten den bösen Kananitern hatteil, thun müssen. —
Von Morgen her kam (375) ins südliche Rußland ein wildes Volk
heran, die Hunnen, Leute mit schwarzem, struppigem Haar, schmutzig
gelber Gesichtsfarbe, schiefen Augen, breitschulterig und klein von
Leibe, und so fürchterlich wild, als sie häßlich von Ansehen waren.
Von ihren Pferden waren sie fast unzertrennlich. Sie aßen, tranken
uiid schliefen darauf. Wurzeln iuid rohes Fleisch waren ihre Speise.
Ihre schmutzigen Weiber und Kinder führten sie in Karren mit sich.
So jagten sie durch die Welt von Land zu Land, raubten, sengten
und mordeten, und jagten die Völker vor sich her, wie ein Wolf die
Heerd^ Zuerst stießen sie auf die Gothen. Ein Theil derselben, die
Weslävthen, floh ins römische Reich, durchzog einige Zeit nachher
plündernd das schöne Italien, und ließ sich endlich in Spanien und
dem südlichen Theil des heutigen Frankreichs nieder. Ein wilder Haufen
nach dem andern drang plündernd in Italien ein, das so manches
Jahrhundert die ganze gebildete Welt beherrscht hatte, und die schwachen
Kaiser konnten es nicht hindern. Ja, am Ende setzten deutsche Völker,
die Heruler und Rugier, gar den letzten römischen Kaiser Romulu)
Angustulns ab und machten ihren Fürsten Odoaker zum König von
Rom. Der wollte aber nicht einmal in der armen, fast ganz verwüste-
ten Stadt wohnen; so verachtet, so verfallen war das sonst ;o mäch-
tige Ronl! Da war es ihr ergangen wie all den Städten und Län-
291
Hern, welche vor ihr das Maß ihrer Sünden voll gemacht hatten.
Das geschah im Jahr 476 nach Christi Geburt, und ist das Ende des
abendländischen römischen Reiches.
Indeß waren die deutschen Völker in immerwährender Bewegung
gewesen. Die Franken hatten das nördliche Gallien eingenommen,
und von ihnen heißt das Land Frankreich. Ums Jahr 500 setzten ste
sich um den Main fest bis herein in den nordöstlichen Theil des jetzigen
Württembergs. Die Burgunder hatten das Land um den Rhonefluß
besetzt. Die Angeln waren vom Ufer der Nordsee nach Britannien ge-
zogen, das von ihnen England (Angelnland) heißt. Die Longobar-
den setzten sich endlich in Oberitalien fest (daher die Lombardei genannt).
Die Hauptvölker in Deutschland waren nun: die Alemannen und
Bayern in Oberdeutschland, und in Riederdeutschland die Thüringer,
die Sachsen, ein Theil der Franken. Diejenigen Völker, welche in
das ehemalige römische Gebiet gedrungen waren, nahmen sehr bald
das Christenthum an, von dem sie freilich mehr nur die äußerlichen
^Gebräuche kannten; die Völker aber in Deutschland blieben noch eine
^Zeit lang Heiden. ^Mitten unter den Völkerzügen kamen die Hunnen
noch einmal heran, und zwar bis über den Rhein und nach Italien.
Sie hatten einen König über sich, der hieß Attila. Er nannte sich
aber am liebsten Godcgisil, das heißt Gotteszeißel. Denn wohin er
kam, verwüstete er Alles, auch viele schöne Städte am Rhein, und
züchtigte so, wie eine Geißel, den Rest der alten, lauen Christenheit.
Sein Andenken lebt noch in alten deutschen Sagen fort.
^ So groß aber auch die Trübsal war, welche über die Christen-
heit im römischen Reich damals verheerend hereinbrach, so hatte sie
doch auch ihren Segen. Rohe Völker, die in ihrem fernen Vaterlande
noch viele Jahrhunderte in heidnischer Finsterniß geblieben wären,
lernten aus ihren Kriegszügen durch ihren Verkehr mit den Römern
das Evangelium kennen und nahmen es an.
Es dauerte freilich noch lange, bis die sanfte Botschaft des Frie-
dens die wilden Horden zähmte, aber sie waren doch der Blindheit
des Heidenthums entrissen und hatten die ersten Strahlen des himm-
lischen Lichteö gesehen, das ihnen allmählich aufging.
ff Unter diesen wilden Völkern, die jetzt Christen wurden, waren
vor allen die Gothen merkwürdig. Sie waren schon, ehe sie in das
römische Reich eindrangen, durch einige von ihnen gefangen wegge-
führte Bischöfe zum Christenthum bekehrt worden. Um diese Zeit
(359 nclch Christo) hatten sie einen Bischof Ulphilas (Wölflein), der
19*
292
' V'''
durch eine Uebersetznng der heiligen Schrift 'in die gothische Sprache
-wesentlich znr Befestigung der neuen Religion in -diesem- mit uns
Deutschen stammverwandten Volke beigetragen hat. Er' hatte für
diese seine Uebersetznng der Bibel erst eine eigene Buchstabenschrift für
die gothische Sprache erfinden müssen und lehrte die kriegerischen
Gothen lesen und schreiben. Noch sind Stücke dieser Uebersetznng
übrig, an denen wir zugleich das älteste Denkmal der germanischen
(deutschen) Sprache besitzen.
^.o ^erfüllte sich das Wort des erleuchteten Johannes Chrysosto-
mns, Bischofs zu Constantinopel (t i. I. 407): „Selbst die Waffen,
durch welche die Welt aufgerieben wird, müssen den Wirkungen der
christlichen Gnade dienen. Manche Söhne der Kirche, welche von
den Feinden gefangen genommen wurden, machten ihre Herren dem
Evangelium dienstbar und wurden Lehrer des Glaubens für diejenigen,
deren Knechte sie nach dem Loose des Krieges geworden war§H
138. Augustinus, der Kirchenvater.
(1 430.)
Wenige Männer haben in der Geschichte der christlichen Kirche einen so aus-
gezeichneten Namen, als Aureliuo Augustinus. Den Gang seines äußern und innern
Lebens hot er uns selbst mit großer Offenheit und Treue beschrieben. Dies Buch,
Augustins Bekenntnisse genannt, ist noch vorhanden und werth, von Jedem
gelesen zu werden, der zu einer tiefen, gründlichen Selbsterkenntniß gelangen möchte.
Dieser große Kirchenlehrer war im Jahr 354 zu Tagaste in der Provinz Nu-
midien in Afrika geboren. Sein Vater, ein Rathsherr, blieb bis kurz vor seinem
Tode dem Heidenthum ergeben; seine Mutter aber, Monika, war eine Christin von
ausgezeichneter Frömmigkeit. Da sein Vater frühe starb, so übernahm die fromme^
Mutter allein die Erziehung des Sohnes. Sie führte dieselbe mit ernstem Gebete,
und liebreicher Ermahnung. Tief schmerzte es sie jedesmal, wenn ihr Sohn sich
Leichtsinn und Ungehorsam zu Schulden kommen ließ, und dieser dachte oft nicht
daran, wie viel Kummer jeder seiner Fehltritte seiner geliebten Mutter machte. In
reiferen Jahren trieb Augustinus mit dem angestrengtesteu Eifer die Wissenschaften
und wurde überall als ein ausgezeichneter und fleißiger Jüngling gerühmt. Aber
auch dieses Lobes konnte die fromme Monika sich nicht freuen; ihr Blick war immer
nur aus das Wichtigste, auf eine demüthige, himmlische Gesinnung gerichtet, und sie ,
erkannte mit tiefem Schmerze, daß ihren Sohn der Ehrgeiz und die Sucht zu glänzen
trieb, und daß er die Besserung seines Herzens ganz darüber vergaß. Und was
hilft auch die ausgebreitetste Erkenntniß, wenn der Mensch dabei sich über Andere erhebt
und für seine Seele zu sorgen vergißt? — Augustinus kam überdies in einen ver-
derblichen Umgang mit zwar gelehrten, aber aufgeblajenen und uuchristlichen Men-
schen, und dieser Umgang entfernte ihn noch mehr vom rechten Wege. Dr konnte
Monika, die eben so zärtlich um das innere Verderben ihres Sohnes trauerte, als
andere Eltern um den leiblichen Tod ihrer Kinder, den Kummer nicht länger tragen,
■
293
und klagte ihren Schmerz seinem Bischof, zu dem sie besonderes Vertrauen hatte, mit
der Bitte, er möge dM'ihrem Sohn seine Irrthümer durch Gründe benehmen.
Dieser aber erwiedere? „Dein Sohn ist jetzt zu aufgeblasen, um auf Gründe irgend
eine Aufmerksamkeit zu wenden. Laß ihn in Ruhe und fahre fort, für ihn zu beten."
Dies genügte ihr aber nicht und unter vielen Thränen beharrte sie bei ihrer Bitte.
Da sprach der Bischof: „Laß ab, gutes Weib, es ist ja, so wahr du das Leben hast,
nicht möglich, daß ein Sohn solcher Thränen verloren gehe." — Dieses Wort klang
ihr wie eine Stimme vom Himmel.
Dennoch schien es, als sollte Monika au ihrem Sohne noch größeres Leid erleben.
Augustinus beschloß ncmlich nach Rom zu reisen, um dort größeren Ruhm und größere
Einkünfte zu erlangen. Die Mutter fürchtete sehr, daß die Zuchtlosigkeit der großen
Hauptstadt ihn noch weiter vom guten Wege abbringen würde, und bat ihn mit
Thränen, zu bleiben. Er versprach cs, um sie zn beruhigen, aber in der Nacht
schiffte er sich ein. Als die sorgsame Mutter früh am Morgen ihn suchte, war das
Schiff, das ihren Sohn hinwegführte, bereits ans dem Gesichtskreise verschwunden.
Aber ihr Weinen und Beten für ihn war denn doch nicht vergebens. Augustin
fand in Nom kein Unterkommen, wie er es wünschte; er wurde nach Mailand ge-
wiesen. Dort lernte er den frommen Ambrosius, damaligen Bischof in Mailand,
kennen. Anfangs zog ihn nur die große Gelehrsamkeit und Beredsamkeit dieses
Mannes an; bald aber kam auch die Wahrheit, die Ambrosius predigte,' seinem
Herzen nahe. Er nahm nun die langvergessene Bibel wieder zur Hand, las, betete
und prüfte sein Herz. Er erkannte daraus aufs klarste, daß er ein anderer Mensch
werden, sich Christo ganz und ungetheilt ergeben müsse, und vermochte doch nicht, sich
von seinen bisher gewohnten Sünden loszureißen. „Der irdische und der geistliche
Wille", so schreibt ec, „stritten sich in mir und zerrissen mein armes Herz. Mir
war es, wie einem, der gerne vom Bett aufstehen will, aber allemal, vom süßen
Schlummer überwältigt, sich wieder niederlegt. KllX^i^bald! hieß es, nur noch
ein wenig! aber das bald kam nie und das nur noch ein wenig zog sich im-
mer in die Länge." In dieser Gemüthsstimmung mgchte es tiefen Eindruck auf ihn,
als ein frommer Greis ihm erzählte, daß ein gelehrter Heide, ein früherer Verthei-
diger des Heidenthums, sich zu Gott bekehrt hätte. Bald darauf hörte er von eini-
gen vornehmen Beamten, die alle Ehre und Herrlichkeit dahin gegeben hätten, um
Christo zu dienen. Dies brachte seine Seele in gewaltigen Aufruhr. „Mit ver-
wirrtem Angesicht", so erzählt er selbst, „ging ich zn meinem Freunde Alyxins und
rief ihm entgegen: O Freund, wie unglücklich sind wir! Wie steht es mit uns?
Was ist das? Ungelehrte stehen auf und reißen das chimmelrevch an sich, und wir
mit all unserer Gelehrsamkeit wälzen uns in der Sünde herum! — Nahe bei unserer
Wohnung war ein Garten, wohin wir öfters zu gehen pflegten. Dahin trieb mich
der Sturm in meinem Innern; Alyxius folgte mir. Ich knirschte im Geist vor Un-
willen und Alles tobte in mir vor Unmuth, daß ich nicht in den Bund und Ver-
ein mit Gott einging. So war der Streit in mir selbst gegen mich selbst. Alp-
xins stand mir zur Seite und erwartete schweigend den Ausgang dieser ungewohnten
Bewegung. Endlich kam mir ein Strom von Thränen zu Hülfe, und um mich dem
ganz überlassen zu können, verließ ich den Aluzius und ging in eine einsamere
Gegend. Ich warf mich endlich unter einen Feigenbaum nieder, ließ meinen Thrä-
nen den Lauf und betete: Ach Herr, wie lange? Wie lang, o Herr, wirst du
zürnen?. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend! Wie lange noch soll es heißen:
294
morgen! morgen! Warum nicht gerade jetzt?! O warum nicht das Ende
meiner Schmach zu dieser Stunde? — So sprach ich unter Strömen von
Thränen. Und siehe, da hörte ich von einem nahe gelegenen Hanse her eine Stimme,
wie die Srimme eines singenden Knäbleins oder Mägdleins, welche ost die Worte
wiederholte: „Nimm und lies! Nimm und lies!" Ich stutzte, sann nach, ob
etwa Kinder in einem Spiele diese Worte zu sagen pflegten, konnte mich aber nicht
erinnern, sie jemals gehört zu haben. Die Thränen stockten; ich stand auf, deutete
es als eine göttliche Stimme, ich sollte die Bibel ansschlagen und lesen, was mir
zuerst in die Augen siele; denn ich harte einmal gehört, daß der heilige Antonius
durch das Lesen der Ermahnung (Matth. 19, 21.), auf die er zufällig stieß, bekehrt
worden war. Eilend ging ich hin an den Ort, wo Alyxius noch saß; denn dort
hatte ich die Abschrift der Briese des Paulus liegen lassen. Schnell langte ich dar-
nach, öffnete sie und las, was mir zuerst in die Augen siel: Nöm. 13, 13. 14.
Weiter wollte ich nicht lesen und bedurfte es auch nicht; denn gleich mit diesen
Worten fuhr ein Strahl der Gewißheit in meine Seele, und die Nacht der Zweifel
entfloh. Mit ruhigem Blick zeigte ich die Stelle dem Alyxius. Dieser las sie und
las auch die darauf folgenden Worte: „den Schwachen im Glauben nehmet
auf", deutete sie auf sich und sagte es mir. Bestärkt durch diese Erinnerung verband
er sich mit mir in dem guten Vorhaben, worin er längst schon viel weiter als ich
gekommen war, ohne Zaudern, ohne Unruhe.
Wir gingen hierauf zu meiner Mutter (diese war nemlich indeß dem Sohne
nach Mailand gefolgt) und sagten ihr das Vorgefallene. Sie frohlockte und jauchzte
vor Freuden und preisete den, der überschwenglich thun kann über Bitten und Ver-
stehen; denn weit mehr hatte sie erhalten, als sie in ihren thränenvollen Gebeten je
zu bitten gewagt hatte." — Am Osterfeste des Jahres 387, in seinem drei und
dreißigsten Lebensjahre empsing er von dem Bischof Ambrosius die Taufe.
Bald darauf kehrte Augustinus in sein Vaterland zurück und wurde erst Pres-
byter oder Aeltester, dann Bischof von Hippo, einer Stadt im nördlichen Afrika.
Alle Gelehrsamkeit und alle Gaden, die er besaß, wandte er von nun an zur För-
derung des Reiches Gottes an, und bald erkannte die ganze Christenheit des Mor-
gen- und Abendlandes in ihm einen großen, von Gott besonders ausgerüsteten Manu.
Außer seinen Berufsgeschäften hatte Augustinus noch manche Angelegenheit zu ver-
walten, welche die ganze Kirche betrafen. Insbesondere führte er einen vieljährigen
Streit gegen einen Irrlehrer Namens Pelagius. Dieser hatte behauptet, der
Mensch sei schon au und für sich gut, er bedürfe also keiner Umwandlung oder Be-
kehrung, sondern nur einer Verbesserung, und zu dieser habe er, auch ohne be)oiiberu
göttlichen Beistand, schon Kraft genug in sich selbst. Das wußte Augustinus aus
eigener Erfahrung besser und konnte darum ein so kräftiges Zeugniß gegen diele
Irrlehre ablegen. Er bekannte frei, daß alles Gute in dem Menschen ein Werk
Gottes sei und hielt es mit Pauli Ausspruch: Von Gottes Gnade bin ich,
das ich bin (1 Kor. 15, 10.).
Er starb im Jahr 430 am 23. August, welcher Tag noch seinen Namen trägt.
Ein Jahrtausend nachher las ein frommer Augustinermönch — Luther —
in seiner Klosterzelle seine Schriften und bekannte, daß er nächst der Bibel am
meisten ans Augustinus Schriften die reine Lehre des Evangeliums kennen gelernt
habe. Seit der Apostel Zeiten, meinte er, sei wohl kein lolcher Lehrer aufgestanden.
m
295
139. Muhammed.
(622.)
'Wenn ein edler Baura wilde Zweige getrieben hat und dadurch am Frucht-
tragengehindert wird, so tritt der Gärtner hinzu und beschneidet ihn mit
scharfem Messer. Der Baum verliert freilich für eine Zeit lang seine schöne
Gestalt, und manches Reis fällt zur Erde und erstirbt, aber ihm geschieht den-
noch wohl, er wird gereinigt und gerettet. So musste der Herr zu Anfang
des siebenten Jahrhunderts mit seiner Kirche thun. Mancher wilde Zweig der
Sünde und des Weltsinns war an dem edlen Baume hervorgeschossen, be-
sonders im Morgenlande. Da liess der Herr von Morgen her einen gewaltigen
Feind wider die Kirche aufstehen, der furchtbarer wüthete, als Gothen und
Hunnen in der grossen Völkerwanderung je gethan, — es war Muhammed
und seine Araber«, In Arabien wohnten seit uralten Zeiten die Nachkommen
Ismaels, des Sohnes Abrahams. Obgleich ihre Heimat dem gelobten Lande
so nahe lag, waren sie dennoch 600 Jahre nach der Geburt unseres Herrn
immer noch heidnische Götzendiener geblieben, die in viele Stämme getheilt
und durch mannigfache Kämpfe (Blutrache) entzweit, als Hirten umherzogen
und vom Ertrage ihrer Heerden und vom Raube lebten. Seit der Zerstörung
Jerusalems wohnten auch viele Juden in Arabien, auch hatten christliche
Mönche dort Klöster erbaut, aber sie lebten in so tiefer Unwissenheit, dass
man Mühe hatte, sie für Christen zu erkennen. In diesem Lande, in der Stadt
M e cca, trat im Anfang des siebenten Jahrhunderts ein Mann auf, der sich für
einen von Gott gesandten Propheten ausgab. Muhammed war sein Name.
Seine Eltern starben frühe, und ein reicher Oheim hatte ihn erzogen und zum
Kaufmannsstande bestimmt. Er hatte mehrere grosse Handelsreisen nach
Syrien und an den Euphrat gemacht, hatte später eine reiche Wittwe gehei-
ratet und war ein angesehener Kaufmann geworden. Hernach verlor er sein
Vermögen wieder, lebte eine Zeit lang, von allen Menschen geschieden, in
j einer Höhle, und trat dann plötzlich mit der Erklärung hervor, der Engel
Gabriel habe ihm den Auftrag an seine Landsleute gegeben, den Götzendienst
zu zerstören und den reinen Glauben ihres Vaters Abraham wieder herzu-
stellen.
Muhammed war ein schöner, kühner und gewandter Mann, in voller Kraft
seiner Jahre,, der die Gabe der Beredsamkeit und der Dichtkunst in einem
hohen Grade besass. Er wusste seine begeisterten Aussprüche in wohl-
klingende Verse einzutheilen; dadurch wurden sie dem Ohre gefällig und dem
Gedächtniss behältlich. Viele staunten den neuen Propheten an, aber nur seine
Frau Kadidschah und sein Neffe Ali glaubten an ihn. Allmählich gewann sein
Predigen mehr Eingang. Das erregte ihm den Hass seiner Feinde, und einige
Jahre später musste er, da mehrere derselben sich verschworen hatten, ihn zu
ermorden, sein Leben durch die Flucht retten. Er floh im Jahr 622 nach
Christus in eine mit Mecca in Feindschaft stehende Stadt Medina. Hier wurde
er mit offenen Armen empfangen und die Zahl seiner Jünger mehrte sich un-
glaublich schnell. Mit dem Jahr dieser Flucht (Hedschra genannt) beginnen
7
296
die Muhammedaner ihre Zeitrechnung. Doch rechnen sie nicht, wie wir, nach
Sonnenjahren, sondern nach Mondjahren, von 354 Tagen.
Die Meccaner wollten den Entflohenen mit Gewalt der Waffen wieder zu-
rückführen, aber auch Muhammed hatte seine Schüler bewaffnet und führte sie
gegen die Feinde. Anfangs ward er geschlagen, aber er sammelte seine An-
hänger aufs neue und wusste -sie so zu begeistern, dass er nun den Sieg ge-
wann. Bald darauf eroberte er sogar Mecca und einige umliegende Städte.
Nun ward er immer kühner. Er erklärte, er habe den Auftrag von Gott
empfangen, seine Lehre mit Feuer und Schwert auszubreiten; wer sich ihm
nicht unterwerfe, der müsse sterben. Ein grosses Heer tapferer und beute-
lustiger Streiter sammelte sich um ihn, und mit diesem zog er siegend umher,
und fiel sogar in Syrien ein. Heiden, Juden und Christen bekannten sich,
theils gezwungen, theils freiwillig, zum Islam (Glauben) und hiessen dann
Moslemim (Gläubige), woraus später das Wort Muselmann entstand. Muham-
med wagte es sogar, den König von Persien und den griechischen Kaiser zu
Constantinopel, von denen der erste ein Heide, der letztere aber ein Christ
war, aufzufordern, ihrem bisherigen Glauben zu entsagen und seine Lehre an-
zunehmen. Er würde ohne Zweifel seine Eroberungen noch weiter fortgesetzt
haben, all ei u er starb, 63 Jahre alt, im Jahre 632, wie man sagt, an ver-
giftetem Fleische, das ihm eine Jüdin vorgesetzt hatte, um zu erfahren, ob er
auch,Zue Andere ein sterblicher Mensch sei.
j Man hat viel darüber gestritten, ob Muhammed selbst geglaubt habe, was
er lehrte, oder nicht; — mit andern Worten, ob er ein Schwärmer oder ein
Betrüger gewesen sei? Wahrscheinlich glaubte er anfangs wirklich, göttliche
Eingebungen empfangen zu haben. Er sah die Abscheulichkeit des Götzen-
dienstes, der in seinem Yaterlande getrieben wurde und dem sich damals noch
viele seiner Landsleute ernstlich widersetzten, deutlich ein. Von Juden hatte
er sich Vieles aus der Geschichte ihres Volkes und von ihrem Gesetze er-
zählen lassen. Die schöne äussere Ordnung des Gottesdienstes gefiel ihm
wohl, aber die Gebote dünkten ihm zu strenge zu sein. Auch das Christen-
thum lernte er kennen, aber nur durch einige unwissende Mönche, die ihm
kaum etwas von der Geschichte und Lehre des Herrn erzählen konnten, und
ihn dann auf einige äussere Gebräuche, auf Fasten, Psalmenlesen, Kreuz-
schlagen und willkürliche Bussübungen hinwiesen und ihm sagten, das sei
Christenthum. Da konnte denn Muhammed freilich von der Herrlichkeit des
Christenglaubens, von seinem Troste und seiner Kraft nichts erkennen, viel-
mehr dünkte es ihm, es sei in jeder Religion, in der heidnischen, jüdischen
und christlichen, etwas Wahres und Gutes; dieses zusammengenommen müsse
die rechte Lehre sein. In seiner lebhaften Einbildungskraft hielt er sich von Gott
berufen, diesen neuen Glauben auszurichten. Als aber das Glück ihm günstig war,
da bediente er sich offenbar betrügerischer Mittel zu Erreichung seines Zweckes.
Sein Leben war eines göttlichen Gesandten völlig unwürdig. Er suchte
Kriegsruhm und weltliche Ehre, er predigte Mord und Zerstörung und erklärte,
Gott habe ihm die Erlaubniss gegeben, Lüste auszuüben, die er allen andern
Menschen verboten hatte.
Es kann nicht geleugnet werden, dass Muhammed seinem Volke einiges
Gute brachte, z. B. dass er statt der frühern Selbsthülse die Araber gewöhnte,
297
gemeinsamen Gesetzen sich zu unterwerfen, dass er statt des groben Götzen-
dienstes die Anerkennung eines allmächtigen und allweisen Gottes und den
Glauben an die Unsterblichkeit der Seele bewirkte, auch durch Gebote und
Verbote den menschlichen Leidenschaften eine Schranke setzte. Auch hat der
Islam bei Völkern auf der niedrigsten Bildungsstufe, wie bei den Negern in
Afrika, auf Milderung der Sitten und Verbreitung einiger geistigen Bildung
wohlthätig hingewirkt.
Aber das Bei «der Menschheit herbeizuführen, dazu ist Muhammeds Lehre
nicht geeignet. Denn Muhammeds Lehre ist ganz so, dass sie dem sinnlichen
Menschen Wohlgefallen kann. Sie deckt das sündliche Verderben im Innern
des Herzens nicht auf, viel weniger vermag sie den Schaden zu heilen; sie
ist keine Gotteskraft, die selig macht, sondern eine trügerische, menschliche
Erfindung, die weder Macht hat zu trösten, noch das Innerste des Menschen
zu erneuern^?
„ Muhammed nannte freilich, um den Juden und Christen zu gefallen, auch
Mtfsen und Jesum grosse Propheten Gottes, aber er selbst, behauptete er, sei
der grösste und höchste. Er lehrte, dass nur ein Gott sei; daher noch jetzt
die Loosung aller Muhammedaner : Nur Allah (arabischer Name für Gott) ist
Gott, und Muhammed ist sein Prophet. Diesem Gott, lehrte er, könne man
nur durch Gutesthun gefallen; aber er nährte den Stolz des Menschen auf
eine traurige Weise, indem er den äusserlich guten Werken ein grosses Ver-
dienst bei Gott zuschrieb. Täglich muss der Muhammedaner fünfmal beten,
das Angesicht nach Mecca gewandt; von seinem Vermögen muss er den
hundertsten Theil den Armen geben. „Beten“, sagt der Koran, „führt auf
halbem Wege zu Gott, Fasten bringt an den Eingang des Himmels, und Al-
mosen öffnen die Thür. Aber für den Glauben in der Schlacht streiten und
Feinde todten, das führt zur höchsten Seligkeit.“ Ausserdem führte Muham-
med bei seinen Anhängern die Beschneidung, öftere Waschungen und die
Feier des Freitags, als des heiligen Tages, ein. Er verbot den Genuss des
Schweinefleisches, das Weintrinken und alle Glücksspiele. Jeder rechte Mos-
,lern musste einmal in seinem Leben eine Wallfahrt nach Mecca machen. —
' Um die Tapferkeit seiner Krieger noch mehr anzufeuern, lehrte er, jeder
Mensch stehe unter einem unabänderlichen Schicksale, dem er durchaus nicht
entgehen könne, und wenn sein Tod bestimmt sei, so müsse er sterben, er
möge irn heissesten Schlachtgewühle sein oder daheim ruhig am Arme eines
Freundes wandeln. Allen Redlichen, Tapfern und Frommen verhiess er zum
Lohne das Paradies, wo sie in lauter sinnlichen Freuden schwelgen, an reich
besetzten Tafeln sich ergötzen und in ewiger Jugendfülle prangen sollten.
. Mehrere Jahre nach Muhammeds Tode wurden seine Aussprüche und Aus-
legungen gesammelt und in ein Buch geschrieben, welches der Koran heisst
und bei den Muhammedanern eben so heilig gehalten wird, als bei uns die
Bibel. Neben dem vielen Unwahren, Ungöttlichen und Albernen, das im Koran
steht, findet sich da auch manche schöne Stelle von der Weisheit und Güte
Gottes. Unverkennbar ist das Wahre und Gute darin aus dem alten und
neuen Testament geschöpft. Auch Vieles aus der biblischen Geschichte von
Noah, Abraham, Joseph und Moses steht darin, aber immer ganz verunstaltet.
Alles, was die heilige Schrift z. B. von Isaak, dem verheissenen Sohne Abra-
298
hams, enthält, das erzählt der Koran von Ismael, von dem die Araber ab-
stammen.
Die Nachfolger Muhammeds nannten sich Chalifen (Stellvertreter, Statt-
halter des Propheten). Sie fuhren fort, den neuen Glauben mit Feuer und
Schwert auszubreiten , und verrichteten zugleich täglich als oberste Priester
das vorgeschriebene Gebet in der Moschee (Bethaus). Vor ihrem Schwerte
mussten die Heere der griechischen Kaiser weichen; Syrien und das heilige
Land fiel in ihre Hände; Jerusalem, damals eine armselige, von Christen und
Juden bewohnte Stadt, wurde eingenommen und unter dem Namen El-Kodsch
(die heilige Stadt) auch für die Muhammedaner ein Wallfahrtsort. Darauf
wurde Egypten geplündert und verwüstet, und bald war die ganze Nordküste
von Afrika in der Gewalt der Sieger.
Es schien wirklich, als könne keine Macht der Erde den kühnen Sarazenen
(so nannte man später die Muhammedaner) Widerstand thun. Wohin sie sich
wandten, da folgte ihnen der Sieg. Im Morgenlande überwanden sie das
mächtige Reich der Perser und zwangen diese heidnischen Feueranbeter zu
ihrem Glauben. Ihre siegreichen Heere standen vor den Thoren von Con-
stantinopel. Die Inseln Sicilien und Sardinien waren ihrer Herrschaft unter-
worfen; und fern im Westen setzte einer ihrer Feldherren von Afrika aus nach
über, und nahm auch dieses reiche Land ein. Ganz Europa zitterte;
4ÜBcnn schon brachen die Sarazenen aus Spanien hervor, schon hatten sie einen
Theil von Frankreich erobert, da sprach der Herr der Heerschaaren auch zu
diesen stolzen Kriegern: Bis hi eh er und nicht weiter! Sie wurden in einer
grossen Schlacht bei Tours (732) von den Franken geschlagen und die Kirche
des Abendlandes war so vor ihrem Schwerte und vor dem Gifthauch ihrer
trügerischen Religion bewahrt/''
/ Deutschland tritt um das achte Jahrhundert in die Reihe der christ- »
lichen Länder. Durch die Römer war zwar das Christenthum schon früher
in den von ihnen beherrschten Theilen Deutschlands, also namentlich am
Rhein und an der Donau, verbreitet worden. Allein bei dem Ein-
bruch der Bayern und Alemannen in die zwischen Rhein und Donau
gelegenen Länder zog sich das Christenthum mit der römischen Bildung
wieder zurück, und das Land wurde großentheils zum zweitenmal ganz
oder halb heidnisch.
Daß an die Stelle der hieraus entstandenen dumpfen Glaubens-
losigkeit allmählich eine tiefere Erkenntniß der christlichen Grundwahrhei-
ten trat, das verdankten die deutschen Völker den Missionaren oder
Glaubensboten, welche in; siebenten und achten Jahrhundert theils aus Irland
und England, theils aus dem westlichen Frankreich in das innere Demsch-
u das Jahr 610
140. Die Einführung -es Christenthums in Deutschland.
(Im siebenten und achten Jahrhundert.)
299
hie Irländer Columban und Gall im Süden vom Bodensee. Im Jahr
613 gründete letzterer in der Nähe des Bodensees mitten im wilden Ur-
wald das später berühmt gewordene und nach seinem Namen genannte
Kloster St. Gallen, durch das sehr viel für die Erziehung der Jugend
und die Bildung christlicher Lehrer geschah. Von da verbreitete sich das
Christenthum bald bis tief an den Neckar hinab. — Hu. Bayern lehrte
- MJtr 6Sv- Ammeran, aus dem südlichen Frankreich gebürtig,
zu Regensburg. Vierzig Jahre nach ihm (um 696) predigte der West-
sranke Ruodpert (Rudpertus) zu Salzburg, und fast zu gleicher Zeit
(um 717) C o rbinian, sein Landsmann, zu Freystng in Bayerns In
Franken wirkte der irische Mönch Kilian um Würzburg und fiel', wie
Johannes der Täufer, auf Anstiftung eines mit dem dortigen Herzog
verbundenen Weibes, der deutschen Herodias (Marc. 6, 17 ff.), von Mör-
derhand. Andere predigten das Evangelium am Rhein, in Holland und
unter den Sachsen.
Alle Arbeiten aber und Einrichtungen dieser Männer blieben ohne
sicheren Halt und ohne festen Verband bis auf die Zeiten des Man^
nes, der mit Recht vor andern der Apostel der Deutschen genannt wir>^
Es war dies Winfrid, mit dem Beinamen Bonifacius, d. h. der
Wohlthäter.
Schon in früher Jugend regte sich in Winfrid das Gefühl seines
künftigen Berufs. Das Irdische hatte für ihn keinen Reiz. Kaum war
er ein Knabe von fünf Jahren, als er den Entschluß faßte, der Welt
zu entsagen.
Nachdem er um das Jahr 710 die priesterliche Weihe empfangen
, hatte, wurde der Entschluß, den heidnischen Völkern des Festlandes das
» Evangelium zu verkündigen, immer lebendiger in ihm. Ein Versuch,
bet den Friesen damit den Ansang zu machen, wurde durch Kriegsge-
: rümmel vereitelt.
i Doch gerade dieser Unfall sollte den Winfrid erst recht auf die
Bahn führen, die er 31t durchlaufen bestimmt war./ Im Jahr 718 njjus
(ich trat er von., neuem ferne Missionsreise auf das Festland an, und
zwar ging er zunächst nach Rom, um sich von dem dortigen Pabft zu
seiner Misstonsthätigkeit bevollmächtigen zu lasten.
Von nun an ist seine Thätigkeit fast ausschließlich dem südlichen
und mittleren Deutschland zugewendet. Die Bayern und -Alemamren
waren—damals theilweise mit dem Christenthum wenigstens äußerlich be-
kannt. Die Thüringer waren verwilderte Christen, die Hessen noch großen-
theils Heiden. Die Franken, die sich äußerlich bereits zum Christen-
300
thum bekannten, waren innerlich erst noch zu bekehren. Denn obwohl
einzelne heilige Männer auch hier dem Bonisacius vorgearbeitet hatten,
wie Kilian zu Würzburg, war doch auch hier das Hauptwerk noch zu
Die Wirksamkeit des Winfrid ist seiner Stellung gemäß eine dop-
pelte. Er hatte sich vom Pabft das ganze deutsche Land östlich des
Rheins als Feld seiner Missionsthätigkeit anweisen lassen. Hier galt es
nun einerseits, den noch heidnischen Stämmen, wie den Hessen, das
Evangelium zu predigen, andererseits aber bei den schon übergetretenen
Völkern den Glauben zu reinigen und vor Allem auch in ihre äußer-
lichen kirchlichen Verhältnisse eine feste Ordnung zu bringen. Rach bei-
den Seiten hin sehen wir den Winfrid rastlos thätig^
Lf Nachdem er einige Jahre unter den noch heidnlMen Hessen in der
Gegend von Amönenburg segensreich gewirkt hatte, ernannte ihn der
Pabft unter dem Namen Bonisacius zum Bischof und sandte ihn mit
einem Empfehlungsschreiben an Karl Martell, den damaligen Regenten
von Deutschland. Dieser nahm ihn unter seinen kräftigen Schutz. So
konnte er durch Fällung der Donnerseiche bei Geismar den letzten Halt
des Heidenthums unter den Hessen zerstören. Diese uralte Donnerseiche
war nemlich dem Gott Thor (Donnerer) geheiligt. Niemand nahete
dem Baume, aus Furcht, getödtet zu werden. Winfrid erbot sich, ihn
umzuhauen, ohne daß ihm etwas zu Leide geschähe. So groß war das
Vertrauen des Volks auf die Macht seiner Götzen, daß es ihm den
Versuch gestattete, in der gewissen Ueberzeugung, er werde darüber um-
kommen. Wie einst das israelitische Volk zu Elias Zeiten sich auf dem
Berge Karmel versammelte (l. Jfco«.. -LS.. I.ll .ff.), so strömten hier die
Hessen in großen Haufen an dem bestimmten Tag zusammen; denn auch
hier sollte entschieden werden, ob der Gott, den ihre Väter und sie
bisher angebetet hatten, oder der von Winfrid verkündigte Gott der
wahre sei. Der Missionar urrd einige Christen legten vor der versam-
melten Menge Hand an den heiligen Baum, ohne zu sterben. Unter
den gewaltigen Schlägen ihrer Aerte ward er erschüttert und lag bald
zu ihren Füßen. Winfrid ließ aus dem Holz ein Bethgus erbauen;
die Heiden aber, von der Eitelkeit ihres Götzendienstes überzeugt, wur-
den nun williger, die neue Lehre kennen zu lernen. — Ueberall grün-
dete er Pfarreien und Klöster. Vom Jahr 739 an begann Bonisacius
in Bayern vier festbegrenzte bischöfliche Sprengel einzurichten, nemlich
* den von Salzburg, von Freysing, von Regensburg und von Passau.
Dann gründete er für die Franken östlich des Rheins die Bißthümer
301
Eichstädt, Würzburg, das weit ins Württembergische hineinreichte, und
anderes -Scho«im Jahr 732 war Bonifacius selbst vom Pabst zum
ErzAschof ernannt worden, erhielt aber viel später erst Mainz zu sei-
nem erzbischöflichen Sitz.
) Als Oberhaupt der deutschen Kirche hielt Bonifacius (742) die
erste Kirchenversammlung deutscher Nation.
Er hatte einen bewundernswerthen Sinn für Alles, was zur festen
äußern Begründung der Kirche nothwendig ist. - *Es konnte ihm deß-
halb nicht entgehen, welche Bedeutung wohl eingerichtete Bildungsanstal-
ten für die Geistlichkeit haben. Solche Anstalten waren damals die
Klöster. Deßhalb sorgte er in den verschiedenen Sprengeln der deutschen
Kirche für Errichtung von Klöstern. Bei weitem die wichtigste Grün-
dung dieser Art, die unter seiner Leitung entstand, war die Abtei Fulda,
wo im Dome seine Gebeine ruhen. Schon unter Sturm, seinem ersten
Abt, zählte es vierhundert Mönche und wurde mehr und mehr der Mit-
telpunkt der christlichen Bildung in Deutschland.
Solche Klöster als Pflanzschulen für christliche Erkenntniß und christ-
liches Leben kamen von jener Zeit an namentlich in unserem Schwaben-
land aus, so zwischen der Milte des achten und neunten Jahrhunderts
Ellwangen, Marchthal, Herbrechtingen, Murrhardt, Hirsau, Wiesensteig.
Die christlichen Kirchen im jetzigen württemberger Lande, welche in
den ältesten Urkunden (des achten und neunten Jahrhunderts) genannt
werden, sind: zu Lausten am Neckar und Heilbronn, Seeburg und Trail-
fingen, O.A. Urach, Wiltmandingen aus der Alb, Zwiefaltendorf, O.A.
Riedlingen, Waldach, O.A. Freudenstadt, Zazenhausen, O.A. Cannstatt.
'{() So groß auch der Wirkungskreis war, den Bonifacius als Erz-
bischof von Mainz mit unermüdlicher Thätigkeit ausfüllte, ließ es ihn
doch an seinem Bischofssitz nicht rasten. Er übergab sein Amt dem
Lull, einem seiner vorzüglichsten Schüler, indem er zu ihm sprach: „Ich
kann nicht anders, ich muß reisen, wie nrich der Drang meines Her-
zens dazu treibt; denn schon naht die Zeit meiner Auflösung. Bald
werde ich, von diesem Leib befreit, zum Kranz der ewigen Herrlichkeit
mich erheben."
So zog er von neuem als Missionar aus, beit Rhein hinab zu
den Friesen. Mit jugendlicher Kraft durchwanderte der siebzigjährige
Greis Friesland, bekehrte und taufte Tausende, zerstörte heidnische Götzen-
tempel und gründete Kirchen. Aber unerwartet kam ihm da sein Feier-
abend. Bonifacius hatte die Neubekehrten der ganzen Gegend in die
Ebene 'von Dockum zur Firmung beschieden und mit seinen Begleitern
302
am Ufer des Flüßchens Bordan sein Zelt aufgeschlagen. Es nahte der
bestimmte Tag. Am Morgen des Festes aber erschienen statt der Neu-
getauften Haufen bewaffneter Heiden und sielen über die Glaubensboten
her. Die Begleiter des Bonifacius wollten sich zur Wehr setzen. Er
aber trat aus dem Zelt und ermahnte die Seinen, den Kampf zu mei-
den. „Kinder, fechtet nicht!" rief er ihnen zu; „die heilige Schrift
verbietet uns, Böses mit Bösem zu vergelten. Der Tag, den ich lange
erwartet habe, ist gekommen. Hoffet auf Gott, der wird eure Seelen
erretten." Darauf sielen sie, drei und fünfzig an der Zahl, unter den
Streichen der Heiden, Ueberwinder im Fallen. Die deutschen Christen
glaubten feinen Tod rächen zu müssen. Sie brachten ein großes Kriegs-
heer wider die Friesen zusammen, verheerten ihr Land, erwürgten die
Männer und führten Weiber und Kinder weg. Die Uebrigbleibenden
erkauften den Frieden dadurch, daß sie äußerlich die christliche Lehre annahmen.
Auf solche Weise sind unsere Voreltern aus dem Heidenthum zur
heilbringenden Erkenntniß Gottes und Jesu-'Christi gelangt. Aber so
treu auch die Männer waren, die unsern Vätern diese gute Botschaft
mit so vieler Aufopferung verkündigten, so konnten sie das Evangelium
doch nicht anders gebert, als sie es selbst hatten und kannten, d. h.
schon vermischt und verunreinigt mit mancherlei Menschenlehren, Cere-
monien und abergläubischen Gebräuchen. Es dauerte noch manches Jahr-
hundert, bis unsrem lieben Vaterland das reine Licht des Evangeliums
ausging.
141. Sinnsprnche von Küher.
» Je tiefer Jemand unter Gott ist, je besser Gott ihn siehet.
Wenn Jemand wollte Gott malen und treffen, der mußte ein
solches Bild treffen, das lauter Liebe wäre, als sei die göttliche Natur
nichts anders als ein Feuerofen und Brunst solcher Liebe, die Him-
mel und Erde erfüllt.
Gott ist ein solcher Herr, der nichts anders zu schaffen hat, als
nur erhöhen, was niedrig ist, erniedrigen, was hoch ist, brechen,
was gemacht ist, und machen, was zerbrochen ist.
/' Gottes Werke sind nicht wie Meuschenwerke, sondern ganz wider-
sinnig, es geht also, daß wenn Etwas ausgehen soll, muß es vorher
untergehen.
Gottes Werken gehet es so in der Welt: ehe sie geschehen,
glaubts Niemand; wenn sie aber geschehen sind, achtets Niemand.
Unglaube geht vorher, Vergessen folgt nach.
303
142. Kaiser Karl -er Große.
(Er lebte 742 — 814 nach Christo.)
/Unter den deutschen Völkerschaften waren die Franken vor allen
mächtig geworden. Anfangs wohnten sie am Niederrhein$ dann aber
zogen viele von ihnen über den Rhein hinüber, in das Land der
Gallier, das nach ihnen Frankreich genannt wurde. Dort wurden sie
mit dem Christenthum bekannt, und im Jahr 496 ließ sich ihr König
Chlodwig (Ludwig) zugleich mit 3000 seiner Krieger taufen. In
diesem Fraukenreiche, das nach und nach seine Grenzen über das
heutige Frankreich, Deutschland, Holland, die Schweiz, einen Theil
von Italien, Spanien und Ungarn ausgedehnt hatte, herrschte von
768 — 814 nach Christi Geburt ein gewaltiger König, Namens Karl.
Dieser Karl ist einer der wenigen Männer, denen man den Beinamen
der Große mit Recht beigelegt hat.
Er war nach dem Bericht seines Geheimschreibers Eginhard von
starkem, vollem Wüchse und maß sieben seiner Fußlängen. Er besaß
eine außerordentliche Stärke. Einen völlig geharnischten Mann konnte
er in die Höhe heben und eine Zeit lang schwebend halten. — Die
Gestalt Karls war voll hoher Würde. Nur an großen Festen, oder wenn
er Gesandte empfing, trug er einen golddurchwirkten Rock, Schuhe
mit Edelsteinen, am Mantel goldene Hasten, eine köstliche Krone auf
dem Haupt und ein Schwert mit Edelsteinen besetzt an der Seite.
Gewöhnlich aber unterschied er sich in der Kleidung wenig von dem
Aermsten im Volke. Die ausländische Kleidung war ihm verhaßt;
am liebsten aber ging er in Kleidern, die ihm seine eigenen Töchter
gewoben hatten.
Aei Tisch hatte er den Brauch eingeführt, aus guten Büchern
vorlesen zn lassen, vor allem aus des heiligen Augustinus trefflicher
Schrift von der Stadt Gottes, einem Werke, das Karl ganz vor-
züglich liedte. Er redete mehrere Sprachen mit großer Fertigkeit,
konnte schreiben, was damals etwas sehr Seltenes war, dichtete
Kirchengesäuge, ja er trug sich sogar mit dem Gedanken an eine
deutsche Sprachlehre und sammelte die alten Heldenlieder des deut-
schen Volkesä
Besonnen und kräftig sicherte, erweiterte und ordnete er seine
Im Ganzen machte er zweiundvierzig Feldzüge. Er zog mit fast un-
begreiflicher Schnelligkeit vom Rhein bis an den Po, vom Po zur
Weser, von da zum Ebro, vom Ebro zur Elbe, plötzlich wieder zur
Donau, und war mit wenigen Ausnahmen überall siegreich. Am er-
müdendsten für ihn war der Krieg gegen die heidnischen Sachsen,
welche an den Grenzen gefährlich waren, und im Kampfe für ihre
Freiheit, Sitten und Glauben Franken und Christenthum gleich sehr
haßten. Einmal ließ Karl (und dies ist ein schwarzer Fleck in seiner
Geschichte) 4500 Sachsen, weil dies Volk immer wieder Krieg an-
fing und ihm Treue gebrochen, an einem Tag enthaupten. Erst im
Verlaus eines drei und dreißigste ' Krieges brachte er sie samt ihrem
mächtigen Fürsten Wittekind zi wwerfung und zur Annahme des
Christenthums. Freilich waren sie damit noch nicht zu wirklichen
Christen gemacht; aber es konnte jetzt doch der Same des wahren
Christeiskhums ungestört ausgestreut werden unter ihnen. Viele der
Sachsen mußten auf Befehl Karls mit Weib und Kind ihre Heimat
verlassen und fortan im Lande der Franken wohnen. Von solchen
sächsischen Einwanderern rührt vielleicht der württembergische Orts-
name Sachsen heim her.
Mit großem Esser suchte er der christlichen Kirche in seinem
Reiche aufzuhelfen, ^ast auf allen Reichstagen, die Karl der Große
hielt, war auch von den Angelegenheiten der Kirche die Rede. Ueber-
dies veranstaltete er auch besoudere Zusammenkünfte der Geistlichkeit
(Synoden oder Kirchenversammlungen), auf denen wichtige Beschlüsse
über die Bildung und Beaufsichtigung der Geistlichen, so wie über
die Unterweisung des Volks gefaßt wurden.
Er hatte selbst tiefe Ehrfurcht vor dem Wort Gottes. Die
Kirche besuchte er früh und Nachmittags, oft auch des Abends. Er
sorgte, daß die Gemeinden tüchtige Geistliche und Bischöfe bekamen;
sie mußten wenigstens lesen können; für unsere Zeit freilich nicht
viel, für jene aber nicht wenig. . Er ließ eine Sammlung von Vor-
trägen älterer Kirchenlehrer veranstalten und ins Deutsche übersetzen,
damit dieselben dem Volk von den Geistlichen vorgelesen würden.
Wo er tüchtige, kenntnißreiche Männer gewinnen konnte, die zog er
an seinen Hof. So berief er einen sehr gelehrten englischen Mönch,
Namens Aleuin, zu sich, und machte ihn zum Lehrer seiner eigenen
Kinder. Einen muntern, wißbegierigen Knaben aus dem Odenwalde,
den obengenannten Eginhard oder Einhard, gab er seinen Söhnen
zum Gesellschafter, um sie durch seinen Fleiß anzuspornen.
•w
305
Ein guter Unterricht für seine Kinder lag ihm um so mehr am
Herzen, als er selbst in seiner Jugend ganz vernachlässigt worden
war. Selbst das Schreiben lernte er erst als Mann, und er hatte
zu dem Ende immer eine Schreibtafel unter seinem Kopfkissen, damit
er in müßigen Stunden seine schwertgewohnte Hand im Führen der
leichten Feder üben könnte. ß
Denselben Eifer, den Karl in der Bildung seines eigenen Geistes,
so wie seiner eigenen Kinder zeigte, bewies er auch für die Bildung
der Jugend überhaupt. Er errichtete am Hofe eine eigene Schule,
als Muster für die übrigen im Lande, in welche alle seine Diener,
hohe und niedere, ihre Söhne schicken mußten. Der Unterricht war
unentgeltlich; nur freiwillige Gaben dankbarer Eltern wurden ange-
nommen.
Einmal trat er selbst in die SchnlMHßM-örte eine Zeit lang zu,
und ließ sich dann die schriftlichen Arbeitender .jungen Leiche zeigen.
Die geschickten mußten alle auf seme rechte, die ungeschickten auf seine
linke Seite treten, und da fand es sich, daß die letzteM^Mft-^ie
Söhne vornehmer Eltern waren. Er wandte^^hzu den fleißigen/
aber armen Kindern, und sagte: „Ich freue mich, meine lieben Kin-
der, daß ihr so gut einschlaget; bleibet dabei und werdet immer voll-
kommener. Ihr verfolget euer wahres Beste, und zu seiner Zeit soll
euch mein Lohn nicht fehlen. Ihr aber —,und hier wandte er sich
zornig zur linken — ihr Söhne der Edlen, ihr seinen Püppchen, die
ihr euch so reich und vornehm dünket und des Wissens nicht noth
zu haben meinet, ihr faulen, unnützen Buben, ich sage euch: bei Gott!
euer Adel und eure hübschen Gesichter gelten nichts bei mir; von mir
.habt ihr nichts Gutes zu hoffen, wenn ihx eure Faulheit nicht durch
eifrigen Fleiß wieder gut machet!"
Auch der Verbesserung des Gesangs widmete Karl seine Auf-
merksamkeit. Er stellte zwei gute Sänger aus Italien an, von denen
Gesanglehrer und Vorsänger für Schulen und Kirchen gebildet wer-
den sollten. Auch Orgelspielen wurde gelehrt, nachdem Karl die erste
Orgel aus Constantiuopel erhalten hatte. Aber die plumpen Franken
stellten sich eben so ungeschickt zum Singen als zum Spielen. Die
Italiener verglichen ihren Kircheugesang mit dem Geheul wilder
Thiere und dem Gerumpel eines Lastwagens über einen Knüppel-
damm. Auch Alcuin klagt oft in seinen Briefen, daß er bei den
jungen Franken so gar wenig ausrichten könne und mit einer fast
thierischen Tölpelhaftigkeit zu kämpfen habe.
306
Zur Hebung des Verkehrs geduckte Karl die Donau und den
Main durch einen Kanal zu verbinden, was aber erst in unsern Tagen
gelungen ist.
Es ist sehr anziehend, einen großen Mann auch in seinen ge-
ringen Beschäftigungen zu betrachten, und zu sehen, wie es das nem-
liche Licht ist, das ein kleines Zimmer und draußen ganze Länder
erleuchtet. Es war dieselbe Thätigkeit, mit welcher Karl Heere an-
führte und Schulprüsungen anhörte, Gesetze für große Völker ersann
und griechische Wörter lernte. Für Alles schien er geboren. Wenn
er auf seine Höfe kam, ließ er sich die Rechnungen vorlegen, wo
Alles bis auf die Anzahl der Eier eingetragen sein mußte, überzählte
Einnahme und Ausgabe, rechnete seinen Verwaltern nach und machte
Bauanschläge, als wäre er nichts als ein Landnranm/
Den Gipfel menschlicher Größe erstieg Karl im drei und dreißig-
sten Jahr seiner Regierung durch seine Krönung zum römischen Kaiser.
Der Pabst in Rom, Leo UI., hatte ihn zum Schutzherrn angenom-
men. Im Jahr 800 war Karl in Rom, wo er die gestörte Ordnung
wieder hergestellt und t>en Pabst in seiner Würde befestigt hatte. Am
Weihnachtsfeste dieses Jahrs, als in der Peterskirche auch Karl dem
Hochaltar betend gegenüber knieete, ging plötzlich Leo, wie von gött-
licher Eingebung getrieben, auf ihn zu, setzte ihm eine Krone auf das
Haupt, und die Kirche wiederhallte von dem freudigen Zuruf des
Volks: „Leben und Sieg sei dem von Gott gekrönten, frommen,
großen, friedebringenden Kaiser von Rom!"
/So lebte der abendländisch-römische Kaisertitel, der seit dem letz-
ten römischen Kaiser Romulus Augnstnlns im Jahr 476 erloschen
war, wieder auf, und ist derselbe bis zur Auflösung des deutsckeu
Reichs im Jahr 1806, also über ein Jahrtausend, den deutschen
Kaisern, wenn sie sich in Rom krönen ließen, verblieben.)
Karls Ruhm war schon bei seinen Lebzeiten nicht bloß durch
ganz Europa, sondern auch in die andern damals bekannten Welt-
theile gedrungen. Von allen Seiten erhielt er Zeichen der Achtung.
Nur ein Gewaltiger achtete ihn, den allenthalben geehrten Kasier,
nicht — der Tod.
Im Januar des Jahrs 814 wurde Karl von einem heftigen
Fieber ergriffen. Seiner Gewohnheit nach wollte er sich durch Fasten
helfen; aber es war umsonst. Am 28. Januar des genannten Jahrs
befahl er den rastlosen Geist in Gottes Hände, und schloß als ein
zwei und siebzigjähriger Greis die Augen, deren Winken beinahe ein
307
halbes Jahrhundert hindurch ein Welttheil gehorcht hatte. Er starb
zu Aachen, wo er auch das Licht der Welt erblickt haben soll, und
woselbst sein Lieblingsaufenthalt war.
Karl der Große war berufen, die Stürme der Völkerwanderung,
die ein ganzes Jahrhundert hindurch (375—476) Europa in Unruhe
und Aufregung erhalten hatten, zum Ende zu bringen und auf den
Trümmern der alten Welt eine neue Ordnung der Dinge zu begrün-
den. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, bedurfte es einer solchen
Vereinigung von kriegerischem Geist und gesundem Sinn für friedliche
Bildung, wie wir sie in diesem Manne finden. Denn einerseits war
nöthig, das Brauchbare aus der alten Zeit, vor allem das Christen-
thum zur Grundlage einer neuen Bildung zu machen; andererseits
aber den kriegerischen Geist der germanischen Völker ungebrochen zu
bewahren, um diese neue Bildung im Osten gegen das noch vorhan-
dene Heidenthnm (Sachsen und Avaren), im Westen gegen den von
Spanien aus hereinbrechenden Erbfeind der Christenheit (Muhamme-
daner oder Mauren) zu schützen. — Das hohe Ziel, das sich Karl
der Große gesteckt htztte, tritt besonders in einer Rede hervor, die
er im Jahr 802 an die in seinem Palast zu Aachen versammelten
Großen des Reiches hielt. Kurz und eindringlich legte er ihnen sein
Glaubensbekenntniß vor, ermahnte sie zur Liebe Gottes und des
Nächsten, und schärfte dann jedem Stand seine besonderen Pflichten
ein. „So (mit diesen Worten schloß er) so wird uns Gott ein glück-
liches Leben geben auf Erden, und das zukünftige mit seinen Heiligen
in Ewigkeit. Gott behüte euch, geliebte Brüder f —
143, Pabst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV.
Die römischen Bischöfe waren schon seit Jahrhunderten so angesehen, daß fie
Las allgemeine Vertrauen der Christenheit genossen, und daß ihre Entscheidung in
geistlichen Sachen das größte Gewicht hatte. Ehrfurchtsvoll nannte man sie: Lehrer
der Welt und Väter oder Päbste von dein lateinischen Worte Papa, d. h. Vater.
Ihre Gewalt in geistlichen Angelegenheiten war jedoch durch die Bischöfe beschränkt
und in weltlichen Dingen der Macht des Kaisers unterworfen. Seitdem aber Pipin,
der Krankenkönig, der Vater Karls des Großen, den Päbsten ein weltliches Besitzthum
geschenkt (im Jahr 755), und Kaiser Karl der Große diese Schenkung bestätigt und
erweitert hatte, trachteten die Päbste beständig darnach, durch Hülfe ihrer geistlichen
Gewalt ihre weltliche Macht zu vergrößern. Mit beharrlichem Eifer suchten sie in
allen weltlichen Angelegenheiten ein entscheidendes Ansehen zu erlangen und unter-
hielten in dieser Absicht an den Höfen der christlichen Fürsten ihre Gesandten (Le-
gaten') mit großen Vollmachten, unter dem Vorwände, als müßten sie, die Oberhirten,
20*
308
r
über den christlichen Wandel der Fürsten und Völker wachen. Mehrere Päbste der
damaligen Zeit waren lasterhafte und stolze Menschen, und nicht selten waren die
Kaiser in die Nothwendigkeit versetzt, solche unwürdige. Priester abzusetzen und ihre
Stellen andern zu übertragen.
Der Kaiser Heinrich III. hat während seiner kurzen Negierung drei neue Päbste
eingesetzt. So vielen Einfluß hatten damals noch die Kaiser aus die Wahl der
Päbste und solche richterliche Macht über ihr Verhalten. Ueberhaupt waren seit der
Mitte des zehnten Jahrhunderts die deutschen Kaiser die mächtigsten Fürsten in
Europa und das deutsche Volk das angesehenste.
Aber nun trat ein Mann auf, der das Pabstthum nicht bloß von der weltlichen
Gewalt unabhängig machen, sondern es sogar über dieselbe erheben wollte. Hilde-
brand, ein Benedictinermönch, der Sohn eines armen Handwerkers aus Toskana,
hatte sich durch seine ausgezeichnete Klugheit ein großes Ansehen am päbftlichen
Hofe erworben. Er stieg schnell von Stufe zu Stufe empor und ward der Rath-
geber und Lenker mehrerer nach einander folgenden Päbste, so daß lange Zeit am
römischen Hofe Alles nur nach seinem Willen geschah. Im Jahr 1073 ward er
selbst zum Päbste gewählt und bestieg den päbftlichen Stuhl unter dem Namen
Gregor VII. Denn es ist gebräuchlich, daß die Päbste bei ihrem Amtsantritte
ihren Namen wechseln. Seine Erwählung war ohne Vorwissen des Kaisers ge-
schehen, und als dieser sich darüber ernstlich beschwerte und ihn nicht anerkennen
wollte, entschuldigte sich Gregor auf eine sehr demüthig scheinende Weise damit, er
sei vom römischen Volke zur Annahme dieser Würde gezwungen worden und erwarte
zu seiner Einweihung nur noch die Genehmigung des Kaisers.
In wenigen Menschen ist eine solche Klarheit des Verstandes, so viel Klugheit
und Scharfsinn mit solcher Thatkraft und unerschrockenen Kühnheit vereinigt ge-
wesen, als in diesem Gregor. Die dunkle, unruhige Zeit, in der er lebte, bedurfte
eines solchen Mannes; und wäre Gregor bei seinen Geisteskräften ein demüthiger,
gläubiger, wahrhaft frommer Mann gewesen, so hätte er auf der hohen Stufe, zu
der er erhoben war, zur Erleuchtung nnd Besserung vieler Millionen wirken können,
er wäre ein Segen für die ganze Christenheit gewesen, und vielleicht hätte es der
spätern Nesormativn gar nicht bedurft. Er sah zwar manche Gebrechen seiner Zeit
in Kirche und Staat, wie den unwürdigen Lebenswandel vieler Geistlichen, Gewalt-
thätigkeit von Fürsten, Rohheit und Unwissenheit des Volkes. Aber statt auf das
göttliche Wort als den festen Grund der Kirche und Kircheulehrc hinzuweisen, suchte
er nur mit äußerlichen Mitteln zu Helsen.
Sein erstes Augenmerk war auf die Abstellung eines allgemein eingerisseneu
schändlichen Mißbrauchs gerichtet. Die weltlichen Machthaber, die oft Geld bedurften,
verkauften nemlich in ihren Staaten die geistlichen Stellen, Bisthümer, Abteien nnd
Pfarreien an denjenigen, der das Meiste dafür bot, und die so angestellten Geist-
lichen suchten dann durch allerlei Erpressungen aus ihren erkauften Stellen den
möglichst großen Vortheil zu ziehen. Schon viele rechtschaffene Päbste hatten gegen
diesen Unfug, den man nach Apostelgesch. 8, 9. Simonie nannte, geeifert, aber
ohne ihn ganz abstellen zu können. Gregor, der zugleich wohl einsah, wie viele
Gewalt dadurch die Könige uud Fürsten über die Kirche bekamen, that Jeden in den
Bann, der als Verkäufer oder Käufer einer Kirchenstellc erfunden ward, uud er
hatte Kraft genug, es gegen alle Gewaltige und Große der Erde durchzusetzen,
Nun ging er weiter. Weil die Bischöfe und andere hohe Geistliche nicht nur ein
309
geistliches Amt hatten, sondern auch ansehnliche weltliche Güter, oft ganze Graf-
schaften und Fürstenthümer besaßen, so betrachtete sie der Kaiser bisher als seine
Lehensleute, und ertheilte ihnen bet ihrer Wahl znm Zeichen, daß er sie in ihrer
Würde und in ihrem Besitzthum anerkenne, einen Ring und einen Hirtenstab. Das
nannte man die Laien-Jnvestitur. Gregor behauptete, daß kein weltlicher
Herrscher das Recht habe, die Geistlichen in ihren Aemtern und Würden zu bestäti-
gen, sondern der Pabst allein; daß sie für ihre Person unter keiner weltlichen Ho-
heit stünden und all ihr Gut ein Eigenthum der Kirche sei. Er that jeden Geist-
lichen in den Bann, der von einem Fürsten oder Könige die Investitur annähme.
Doch dauerte dieser Streit noch lange nachher zwischen den folgenden Päbsten und
Kaisern fort.
Um endlich die Geistlichen von allen Banden des bürgerlichen und häuslichen
Lebens loszureißen und sie enger an die Kirche zu knüpfen, verbot er ihnen die Ehe.
Die Ehelosigkeit (Cölibat) war bisher nur für die Bischöfe allgemeine Sitte ge-
wesen; für die übrigen Geistlichen war sie zwar durch mehrere Kirchenversammlungen
geboten, aber bisher wenig befolgt worden. Zum Vorwände dabei gebrauchte er
das unordentliche Leben vieler Geistlichen, und daß sie dann desto ungestörter ihrem
wichtigen Berufe obliegen könnten. Dies willkürliche, der Ordnung Gottes (l Tim.
4, 1 — 3.) widerstrebende Gesetz gab Anlaß zu großen Leiden Und bittern Klagen.
Viele Geistliche, die in glücklichen häuslichen Verhältnissen lebten, mußten, wenn sie
ihr Amt behalten wollten, sich von ihren Frauen und Kindern trennen. Aber der
eiserne Wille des gebieterischen Pabstes kannte keine Nachgiebigkeit, und in wenigen
Jahren war die Ehelosigkeit der Geistlichen allgemein eingeführt.
Von seiner päbstlichen Würde hatte Gregor hohe, stolze Gedanken. Ter Pabst,
behauptete er, sei der Nachfolger des Apostels Petrus und Christi Statthalter. Als
solcher sei er über alle weltlichen Machthaber gesetzt, und Kaiser, Könige und Für-
sten tragen ihre Gewalt nur von ihm zu Lehen, d. h. sie sei ihnen nur einstweilen
übergeben, bis es ihm gefalle, sie wieder an sich zu nehmen. Ein späterer Pabst
(Jnnocenz III.) gebrauchte dafür folgendes Gleichniß: Wie die irdische Welt durch
zwei Lichter gelenkt werde, durch das größere, die Sonne, und durch das kleinere,
den Mond, so sei die apostolische (päbstliche) Gewalt der Sonne gleich, und die
weltliche Macht gleich dem Monde. Wie aber der Mond sein Licht von der Sonne
habe, so seien Kaiser, Könige und Fürsten nur durch den Pabst, weil dieser durch
Gott sei.
In diesem Sinne sandte er den Königen von Spanien, Frankreich und Eng-
land und fast allen Herrschern Botschaft, um sie zu erinnern, daß sie und ihre Länder
dem Apostel Petrus und seinem Nachfolger unterworfen seien, und verlangte, daß
jeder ihrer Unterthanen einen Petersgroschen als Abgabe an ihn senden solle. Doch
bekam er beinahe überall ausweichende oder abschlägige Antworten. Der Pabst sprach
sich die Macht zu, Sünden zu vergeben und einen widerstrebenden Menschen selbst
durch den Bannfluch von allem Heile und von aller Seligkeit in dieser und in jener
Welt auszuschließen. Den härtesten Kampf hatte Gregor mit König Heinrich IV.
von Deutschland zu kämpfen. Dieser, als der mächtigste Monarch der Christenheit,
wollte sich die Anordnungen des römischen Bischofs nicht gefallen lassen. Er hatte
überhaupt einen herrschsüchtigen, hochfahrenden Sinn, wodurch er sich schon längst
in seinem eigenen Reiche viele Feinde gemacht hatte. Diese wachten jetzt auf, als
sie jähen, daß der König mit dem Pabste in Streit gerathen werde. Vor allen ver-
310
klagte» ihn die Sachsen, und nicht mit Unrecht, daß er ihnen ihre alten Rechte und
Freiheiten genommen habe und sie schimpflich behandle. Gregor schickte Botschaft
an Heinrich, daß er sich in den nächsten Fasten zu Rom einfinden nnd sich dort
wegen der ihm zur Last gelegten Verbrechen vor dem geistlichen Gericht verantworten
solle. Heinrich sammelte sogleich einen Reichstag zu Worms (im Jahr 1076) und
fetzte den Pabst ab. Aber dieser sprach dagegen den Bann gegen ihn aus, und band
zugleich alle seine Unterthanen von dem ihm geleisteten Eide und Gehorsam gegen
ihn los. So wenig das den König schreckte, so benutzten es doch die unzufriedenen
Fürsten und erklärten ihm, daß sie unter keinem Herrn stehen wollsen, der im Banne
sei. Werde Heinrich sich nicht in Jahresfrist vom Banne losmachen, so wollten sie
einen andern König wählen. Nun mußte sich der große Herrscher zw der Demüthi-
gung entschließen, selbst zum Pabste zu gehen nnd um seine Lossprechung zu bitten.
Die Reise geschah im Winter durch unwegsame Gegenden über die Eisgebirge der
Alpen, da auf allen gebahnten Wegen Heinrichs Feinde lauerten. Der Pabst war
in dem festen Schlosse Canossa in Oberitalien, und wollte zuerst den Bittenden gar-
nicht vor sich lassen. Drei Tage hinter einander mußte Heinrich bei scharfem Win-
terfroste vom Morgen bis zum Abend im Borhofe des Schlosses stehen, baarfuß,
mit entblößtem Haupte, in ein wollenes Hemde als ein Büßender gehüllt. Am vierten
Tage ließ Gregor ihn endlich vor sich kommen, sprach ihn zwar vom Banne los,
verbot ihm aber, von der königlichen Gewalt Gebrauch zu machen, bis auf einem
Reichstage entschieden sei, ob er König bleiben könne oder nicht. Doch diese Schmach
war zu groß für einen solchen Mann. Heinrich, durch das Unglück gekräftigt, be-
kämpfte zuerst seine Feinde in Deutschland, die ihn abgesetzt und den Schwaben-
herzog Rudolph statt seiner zum Herzog gewählt hatten. Da mußte namentlich auch
Schwabenland Kaiser Heinrichs Rache schwer empfinden, und seine rohen Böhmen
hausten gar übel darin. Die Herzogswürde von Schwaben aber verlieh er seinem
getreuen Friedrich v. Büren, demselben, der die Burg von Hohenstaufen erbaute.
Der Gegenkaiser fiel in der Schlacht. Da führte Heinrich sein Heer nach Italien
und mehreremal vor Rom. Zuletzt belagerte er die Stadt über ein Jahr lang, er-
oberte sie (im Jahr 1084), setzte den Pabst ab und wählte einen neuen. Gregor
that allen möglichen Widerstand und wurde zuletzt von einigen seiner Getreuen nach
Salerno bei Neapel in Sicherheit gebracht, wo er im Jahre 1085 starb, noch im
Sterben bindend und lösend.
Diejenigen unter den Päbsten der folgenden Jahrhunderte, die Muth und Kraft
besaßen, traten mehr oder weniger in Gregors Fußstapfen. Die Streitigkeiten mit
den weltlichen Fürsten dauerten mit wechselndem Glücke fort. Viele unwürdige Geist-
liche saßen ans dem päbstlichen Stuhl. Oft gab es durch innere Zwistigkeiten zwei,
einmal gar drei Pabste, die sich unter einander in den Bann thaten. Alle aber
fuhren fort, in der Kirche Christi eine geistliche und weltliche Macht und Hoheit zu
behaupten, die ihnen nach^ Gottes Wort nicht zukam (Joh. 18, 36. Matth. 20,
25—28.), und die besonders im fünfzehnten Jahrhundert beginnenden Versuche einer
Reformation au Haupt und Gliedern zu vereiteln.
311
Pie Krenzznge.
(1096—1291.)
Das heilige Land, wohin man seit Konstantin dem Großen (um
325 n. Chr.) zahlreich wallfahrtete, war im Jahr 637 in die Hände
der Araber gefallen. Vorerst ließen diese die Pilger ungehindert, schon
um der Abgaben willen, die ste entrichten mußten. Indessen eroberten
die Seldschucken, ein Volk von türkischer Abkunft, das hinter dem kaspi-
schen Meer seinen Wohnsitz hatte, ums Jahr 1076 Syrien und Jeru-
salem, und nun wurden die Pilger aufs schreiendste vor und in Jeru-
salem mißhandelt. Schon der mächtige Pabst Gregor VII. hatte guf
Hülfe gedacht. Da erschien plötzlich ein französischer Einsiedler, Peter
von Amiens, welcher Augenzeuge jener Mißhandlungen gewesen war, vor-
dem Pabst Urban II. mit der dringendsten Bitte um Hülse wider die
Ungläubigen (Muhammedaner). Er erhielt Erlaubniß umherzuziehen; und
auf .einem Esel reitend, in ein härenes Pilgerkleid gehüllt, mit eüiem
Strick umgürtet, das Kreuz in der Hand und baarfuß durchzog er
Städte und Länder und schilderte auf Gasten und Straßen, auf Märk-
ten und in Kirchen mit glühenden Farben und unter heißen Thränen-
strömen die Bedrängnisse des heiligen Landes. Bald glühte ein Feuer
der Begeisterung durch die ganze Christenheit, und endlich wurde auf
zwei Kirchenversammlungen ein Heereszug nach dem gelobten Lande be-
schlossen. „Gott will es! Gott will cs!" so erscholls aus tausend
Kehlen. Hohe und Niedere drängten sich herzu, das rothe Kreuz von
Tuch oder Seide aus den Händen der Geistlichen zu empfangen, das
sie an die rechte Schulter hefteten. Die also Bezeichneten nannte man
deßwegen Krenzfahrer, und die Heereszüge selbst Kreuzzüge. Große Ver-
sprechungen wurden an die Theilnahme geknüpft, namentlich vollständige
Vergebung der Sünden. Manche freilich ließen sich nur durch weltliche
Rücksichten, z. B. um sich ihren Gläubigern zu entziehen oder um nicht
für feig zu gelten, leiten. So begann eine der größten Bewegungen,
welche die Weltgeschichte kennt, und die fast zweihundert Jahre lang
fortdauerte.
Die ersten Schwärme, die beiläufig 200,000 Mann betrugen, waren
freilich nur zusammengelaufenes Gesindel; sie zogen voraus und fanden
größtentheils ihren Tod, ehe sie noch etwas vom heiligen Land gesehen
hatten. Den eigentlichen ersten Kreuzzug, der im Jahr 1096 begann,
führte Gottfried von Bouillon an, ein edler, tapferer und from-
mer Herzog aus Frankreich. Mit 90,000 Streitern zog dieser über
3J2
den Rhein und durch Deutschland, und weil er strenge Mannszucht hielt,
so kam er glücklich vor Constantinopel an, wurde aber von dem griechi-
schen Kaiser, welcher in Constantinopel seinen Sitz hatte, argwöhnisch
behandelt. Bei einer in Kleinasien vorgenommenen Musterung fand man
das ganze Heer der Kreuzfahrer auf 100,000 Mann zu Fuß und eben
so viele Ritter und Reiter angewachsen; die Weiber, Kinder, Mönche,
Knechte u. dgl. miteingerechnet, betrug die ganze Zahl des Christenheercs
gegen 600,000 Seelen. Unter unsäglichen Mühseligkeiten, von Hunger
und Hitze gequält, von den Türken schrecklich verfolgt und von den
Griechen mannigfaltig verrathen, zogen sie durch Kleinasien und erkämpf-
ten nach achtmonatlicher Belagerung Antiochien. Doch fast hätten die
Sieger in dieser Stadt ihr Grab gefunden. Während sie nemlich hier
unter sich zankten und stritten, schloß sie ein mächtiges türkisches Heer
ein, und die Hungersnoth erreichte unter ihnen den entsetzlichsten Grad.
Da gab ein Priester vor, der Apostel Andreas habe ihm im Traum
die heilige Lanze gezeigt, mit der Christi Seite durchstochen worden;
sie liege in einer Kirche, die er bezeichnete, unter der Erde begraben.
Man grub nach, und der Priester stieg wirklich mit der Lanze hervor.
Keine Feder kann die Begeisterung schildern, welche dieses Lügenstück unter
den ausgehungerten Kreuzfahrern erzeugte. Sie öffneten bald die Thore,
wankten, Schatten ähnlich, doch in guter Ordnung dem Feinde ent-
gegen und erfochten einen vollständigen Sieg. Doch noch ein ganzes Jahr-
lang hatten sie viel zu leiden, ehe sie Jerusalem erblickten. Namen-
lose Wonne ergriff sie, als die langersehnte Stadt endlich vor ihren
Blicken lag. Sie jauchzten und weinten vor Freuden, warfen sich nie-
der, küßten den Boden und wären freilich gern nur gleich eingezogen.
Aber die Stadt hatte eine feste Lage und war von 60,000 Muhamme-
danern besetzt, während das große Heer der Kreuzfahrer auf 20,000
Mann zu Fuß und 1500 Reiter zusammengeschmolzen war. Erst nach
einem furchtbaren, wochenlang fortgesetzten Kampf erstürmten sie die Stadt
(1099). Nun ging es an ein Würgen, das beispiellos war. Alle
Straßen wurden mit Mord erfüllt; ja Viele, nicht zufrieden, das Blut
der Ungläubigen stießen zu sehen, weideten sich an ihren Qualen, in-
dem sie bald dieselben nöthigten, von hohen Thürmen sich herabzustür-
zen, bald mit schwachem Feuer sie bis zum langsamen Tode marterten.
Etwa 10,000 Muselmänner suchten hinter den Mauern des Tempelber-
ges Schutz; sie sielen alle unter den Schwertern der Christen. Das
Blut floß in Strömen die Höhe hinab und soll sogar Leichen sortge-
spült haben. Als die Eroberer des Türkenblutes satt waren, traf die
313
Juden ihre Mordlust. Dieselben wurden in ihre Synagoge oder Juden-
schule zusammengetrieben und mit ihr verbrannt. Ein solcher unchrist-
licher Mordgeist beseelte die Kreuzfahrer, und nichr weniger Raubsucht;
auch die verborgensten Winkel der Stadt wurden nach Schätzen durchs
späht.
Gottfried nahm weder an diesen blutigen Greueln, noch an dem
Jagen nach Beute Antheil. Sobald der Sieg entschieden war, begab
er sich noch während des Mordgetümmels, von drei Rittern begleitet, in
wollenem Pilgerhemd und mit entblößten Füßen aus der Stadt, wallte
um ihre Mauern, ging durch das Thor, welches gegen den Oelberg
liegt, nach der Kirche des heiligen Grabes und überließ sich der Andacht.
Plötzlich änderte sich auch der Auftritt in der Stadt. Die Wall-
brüder, des Mordens müde, legten ihre Waffen ab, reinigten sich von
dem Blut der erschlagenen Türken und eilten mit entblößten Häuptern
und Füßen zu den noch von Blut rauchenden heiligen Oertern. Die
Stadt, in welcher kurz vorher nur das wilde Geschrei der Würger und
das Gewinsel der Sterbenden gehört wurden, erschallte jetzt von den
Lobgesängen zur Ehre Gottes und von den Gebeten der zum Grabe des
Heilandes Wallenden, und die grausamen Krieger, deren Gemüth jeder
milden Empfindung noch eben verschlossen war, beugten jetzt ihre Kniee
und vergossen Thränen der Andacht an den Oertern, wo das noch warm
fließende Blut an ihre Grausamkeit sie erinnerte. Viele, die mit gie-
riger Habsucht geraubt, opferten jetzt Gott mit ausschweifender Frei-
gebigkeit ihren Raub und brachten ihn als Almosen den Alten, den
Armen und den Kranken. Andere bekannten laut ihre Sünden und ge-
. lobten Besserung. Wohl selten sah man eine so schnelle Umwandlung.
Man rechnet, daß in den zweihundert Jahren, während welcher
die Kreuzzüge dauerten, gegen sieben Millionen Menschen ins Morgen-
land zogen, und nur wenige davon sahen ihr Vaterland wieder. Sollen
doch sogar im Jahre 1212 gegen 40,000 Knaben aus Deutschland und
Frankreich sich auf den Weg nach dem gelobten Land gemacht haben,
aber meist elend umgekommen oder in Sklaverei gerathen sein. Trotz
dieser ungeheuren Opfer hatte das ganze Unternehmen keinen Bestand.
Das neue christliche Königreich in Jerusalem erhielt sich nur kümmer-
lich. Im Jahr 1291 ging auch die letzte Besitzung daselbst für das
Abendland verloren.
Die Kreuzzüge sind uns ein großes Zeichen, an dem wir absehen
können, wie man für des wahren Gottes Ehre nicht eifern, und mit
welcherlei Waffen man für das Reich Christi nicht streiten soll (Joh. 18, 36.).
314
Dessen ungeachtet mußten diese einerseits so bedauerlichen Züge nach dem
heiligen Land den dabei am meisten betheiligten Völkern Vortheile brin-
gen, an welche diese selbst nicht gedacht hatten. An den Kämpfen der
Kreuzzüge, an ihren Aufopferungen wie an ihren Vortheilen hatte mit
den Fürsten und Adeligen zugleich auch der Bürger eifrigen Antheil ge-
nommen; es waren hiedurch seine Kräfte erwacht, und viele der an-
sehnlicheren Städte erhoben stch den Fürsten und dem Adel gegenüber
zu einer selbständigen Macht. So in Italien namentlich Venedig und
Genua, im südlichen Deutschland z. B. die Donaustädte Negensburg und
Ulm, zumal aber im nördlichen Deutschland die Hansa, ein Bund, zu
welchem im Jahr 1300 gegen siebzig Städte gehörten, vor allen Lübeck
und Hamburg, dann z. B. Köln, Stettin, Thorn, Danzig, Königsberg,
Bremen u. s. w. In all diesen Städten entwickelten stch Handwerke und
kunstreiche Gewerbe, worin nun die Abendländer mit den Bewohnern
des Morgenlandes wetteiferten; ein lebhafter Verkehr und Handel, der
namentlich auch durch die in die Zeit der Kreuzzüge fallende Erfindung
des Compasses einen großen Aufschwung erhalten hatte, brachte Wohl-
stand in das Haus der Bürger. Endlich gelangte während der Kreuz-
züge mancher Leibeigene in den Stand der freien Bauern, z. B. indem
sein Herr, um Geld für die Pilgerfahrt zu bekommen, stch Abgaben
und andere Lasten abkaufen ließ.
So wußte die Hand Gottes aus dem, was die Menschen in Irr-
wahn unternommen, etwas ganz Anderes hervorzurufen, als diese ge-
dacht, und auch die Kreuzzüge mußten an ihrem Theil dazu beitragen,
daß das Wort vom Kreuz (1 Kor. 1, 18.) endlich nach langer Verdun-
kelung in der Reformation wieder auf den Leuchter kommen und seine
Stege in den Herzen feiern konnte. ,,
145. Kaiser Friedrich I., genannt der Rothbart.
, . (1121-1190.)
Da, wo der Seyurwald mit der schwäbischen Alb zusammentrifft, erbebt sich
zwischen den Thälern der Rems und der Fils ein von allen Seiten freistehender
majestätischer Berg, der mit kühnem Stolz auf das umliegende Land hinausblickt
und wie zu einem Herrscherberge gemacht ist. Er heißt der Hohenstaufen.
Jetzt ist der Scheitel des Berges kahl und öde, und kaum kann man es glauben,
daß das elende Mäuerlein, welches sich dem suchenden Blicke zeigt, der Neberrest
einer Kaiserbnrg sei. Ja an dieser kahlen Stesie stand vor Zeiten die Burg der
berühmtesten deutschen Kaiser, welche über hundert Jahre lang ganz Deutschland und
Italien beherrscht haben und die vornehmsten Fürsten der ganzen Christenheit
waren. Jene Kaiser nennt man von ihrem Berg die Hohenstaufen.
315
r
Der erste Kaiser von Deutschland aus dem HauS der Hohenstaufen war
Konrad III. Er führte vom Jahr 1138 bis 1152 die Zügel der Regierung mit
starker Hand, wie es seine kriegerische Zeit bedurfte. Im Jahr 1147 unternahm
er einen Kreuzzug in das heilige Land, doch ohne glücklichen Erfolg, wiewohl er
es nicht an Muth und Tapferkeit fehlen ließ; hieb er doch bet der Belagerung von
Damaskus in Syrien einem Türken mit einem Streich den Kopf und die linke
Schulter vom Rumpfe weg, so daß die übrigen erschrocken davon liefen.
Auf diesem Zug wurde Konrad auch von seines Bruders Sohn, Friedrich
von Hohenstaufen, begleitet, der sich durch Tapferkeit und Besonnenheit vor
Bielen hervorthat. Bald nach seiner Zurückkunft von seinem Kreuzzug starb Kon-
rad, und da wurde denn der ebengeuannte Friedrich (1152), damals ein Mann von
ein und dreißig Jahren, zu Frankfurt am Main einstimmig von allen Reichssürsten
zum deutschen König gewählt.
Friedrich war mittlerer Größe und wohlgebaut; sein Haar, wie bei allen Hohen-
staufen, blond, nach der Sitte jener Zeit bis unter die Ohren herabhängend und
auf der Stirne kurz abgeschnitten und gekräuselt; seine Haut weiß, seine Wangen
roth und sein Bart röthlich; weßhalb ihn die Italiener Barbarossa, zu deutsch
„Rothbart", nannten. Er hatte feine Lippen, blaue Augen, einen heitern, aber
durchdringenden und der innern Kraft sich bewußten Blick. Friedrichs Gang war
fest, die Stimme rein, der Anstand männlich und würdevoll, die Kleidung weder ge-
sucht noch nachlässig. Keinem stand er auf der Jagd und in Leibesübungen nach.
Keinem an Heiterkeit bei Festen; übermäßige Pracht aber und ausschweifende Lust-
barkeit haßte er. Seine gelehrten Kenntnisse waren, wie sich von jener Zeit er-
warten läßt, nicht sehr ausgebreitet; doch verstand er Lateinisch und las gern und fleißig
die römischen Schriftsteller. In der vaterländischen Sprache war er beredt.
Obwohl ein geschickter Feldherr, war er doch nicht kriegslustig; furchtbar und
streng gegen Widerstrebende, versöhnlich gegen Reuige, herablassend gegen Jedermann,
verlor er nie, weder in Freude noch Schmerz, die Würde und Haltung eines großen
charakterfesten Mannes. Ein glückliches Gedächtniß, Scharfsinn und seltene Urtheils-
krast verbanden sich bei ihm mit großer Willenskraft und Beharrlichkeit und einem
.festen Sinn für Recht und Gesetz. Obgleich sein Leben fast ein beständiger Kampf
.gegen die übertriebenen Forderungen freiheitslustiger Städte und herrschsüchtiger
Päbste war, zeigte er sich doch persönlich fromm nach damaligen Begriffen, ehrerbietig
gegen heilige Stätten, und gegen Geistliche als Prediger des Worts Gottes. So
schildern ihn die Geschichtschreiber seiner Zeit, mit unverkennbarem Wohlgefallen an
dem großen Mann. Er selbst aber war bescheiden genug, in seiner Begeisterung für
die großen Vorbilder früherer Zeilen, namentlich Karl den Großen, von seinen eige-
nen, wahrlich nicht unbedeutenden Thaten gering zu denken; und als er einst seinem
Vetter, dem würdigen Geschichtschreiber Otto, Bischof von Freysing, einige Nach-
richten über sein Leben mittheilte, fügte er fast wehmüthig hinzu: „im Vergleich mit
dem, was jene herrlichen Männer der Vorzeit leisteten, sind dies vielmehr Schatten
als Thaten." Wie weit ihm das Licht der Wahrheit in der Erkenntniß des Hei-
landes Jesu Christi aufgegangen sei, können wir freilich nicht mehr unterscheiden;
nur so viel sehen wir aus seinem ganzen Leben, daß sein gesunder, heller Verstand
Ihm wohl das Unchristliche pabstlicher Anmaßungen und abergläubischer Frömmig-
keit aufdeckte, aber doch ihn nicht zum Unglauben abführte, und daß es ihm bei seiner
geringen Erkenntniß aufrichtig darum zu thun war, „Gott zu fürchten und recht zu thun".
316
Friedrichs Wahl wurde von dem zahlreich aus allen Gegenden versammelten
Volk mit lauter und allgemeiner Freude aufgenommen. Der neue König fand bald
Gelegenheit genug, seine Befähigung zu dieser Würde darzuthun; denn hin und
her mußten Streitigkeiten geschlichtet, Widerspenstige zum Gehorsam gebracht, ver-
wickelte und zum Theil sehr schwierige Angelegenheiten bereinigt werden. In kurzer
Zeit hatte er durch seine rastlose Thätigkeit, Weisheit und Gerechtigkeit in ganz
Deutschland überwiegendes Ansehen gewonnen, und Ordnung und Ruhe im Reich
hergestellt. Ganz natürlich richteten sich nun seine Gedanken auf das höchste Ziel
irdischer Herrlichkeit, uemlich die Würde eines römischen Kaisers. Daher war
nun seine Thätigkeit vornemlich aus die Beherrschung Italiens gerichtet.
In der Mitte dieser Halbinsel herrschte der Pabst, damals Hadrian IV., über
Rom und den sogenannten Kirchenstaat. Dieser wollte sich von einem weltlichen
Regenten nicht viel sagen lassen; denn, sagte er, wie beim Reichsapfel über der
Weltkugel noch das Kreuz, so stehe auch die Kirche über dem Staat. Im nördlichen
Italien hatte sich eine Menge mächtig emporstrebender Städte mit zahlreichen,
tapfern und sreiheitslustigcn Bürgern gebildet. Sie warfen sich zu Beherrschern des
Landes auf, überflügelten den Adel und waren unter Begünstigung des Pabstes
nicht sehr geneigt, die alten Hoheitsrechte der deutschen Kaiser anzuerkennen. Unter
diesen Städten der Lombardei ragte das stolze Mailand hervor, das mit seinen
60,000 waffenfähigen Männern bereits das llebergewicht unter den übrigen erlangt
hatte und diese mit Unterjochung bedrohte. Von einer derselben, der Stadt Lodi,
um Hülfe gebeten, unternahm Friedrich seinen ersten Zug nach Italien. Es ge-
schah dieses im Jahr 1154. In Pavia, der alten Hauptstadt des Königreichs
Italien, empfing er die eiserne lombardische Krone und zog dann schnell auf Rom
los. Nach einigem Zögern begab sich der Pabst Hadrian in das königliche Lager.
Friedrich ging ihm entgegen, hielt dem Absteigenden den Steigbügel und führte ihn
an der Hand ins Zelt. Hier wurde er von dem Bischof von Bamberg in des Königs
Namen mit einer Bewillkommnungsrede empfangen; er erwiederte aber kurz: „Was
du sprichst, sind nur leere Worte. Dein Fürst hat dem heiligen Petrus nicht die schul-
dige Ehre erwiesen, sondern ihn vielmehr entehrt; er hätte den rechten Steigbügel
halten sollen, und er hielt den linken." Der König antwortete: es sei nur aus''
Versehen geschehen; denn er habe sich wahrlich nie aufs Bügelhalten gelegt. Als
aber der Pabst entgegnete: „Wenn Friedrich Geringes aus Unwissenheit vernach-
lässigt, wie meint ihr, daß er Wichtiges behandeln werde?" Da erwiederte der
König entrüstet: er habe genug gethan, möge nun die Sitte eine bloße Artigkeit
oder ein Recht sein. Es kam aber bald zwischen beiden zum Streit und der Pabst
verließ den König ohne Friedenskuß. Doch Friedrich entschloß sich zur Nachgiebig-
keit; so wurde er denn bald darauf vom Pabst in der Peterskirche zu Nom feierlich
zum Kaiser gekrönt. Die Römer hatten in ihrem Stolz verlangt, Friedrich sollte
ihnen für die Ehre der Kaiserkrönung in ihrer weltgebietenden Stadt 5000 Pfund
Silber bezahlen. Er hatte sie lachend mit ihrer Forderung abgewiesen; und als sie
ihn bald nach der Krönung feindlich angriffen, wurden ihrer gegen 1000 getödtet
oder in den Tiberfluß gesprengt, viele verwundet und zweihundert gefangen. „So
hätten wir", sprach der Kaiser, „das Verlangen der Römer erfüllt, und auf deutsche
Weise das Kaiserthum erkauft."
Nach manchen Fährlichkeiten kam er wieder in Deutschland an. Hier galt
es, allerlei während seiner Abwesenheit eingerissenen Unordnungen zu wehren «ud
317
Recht und Gerechtigkeit zu befestigen. Im Jahr 1156 vermählte er sich mit der
Erbin des schönen Landes Burgund und brachte so dieses Land wieder an das
deutsche Reich. — Sein Einfluß erstreckte sich auch auf die benachbarten Völker.
So zwang er den Herzog von Polen zur Anerkennung der deutschen Lehenshohcit,
erhob den Herzog Wladislav von Böhmen zum König, ertheilte dem dänischen
König Waldemar die nachgesuchte Belehnung und griff durch sein Ansehen auch in
die ungarischen Angelegenheiten wirksam ein. Gesandte aus Italien, Frankreich,
Burgund, Dänemark, Spanien, England und Constantiuopel huldigten ihm; und
jeder Deutsche freute sich über die Höhe, zu welcher sein Vaterland sich unter Kaiser
Friedrich so schnell gehoben hatte. Ordnung und Ruhe kehrten wieder; wenn Un-
ruhige und Nebelgesiunte den Kaiser weit entfernt glaubten, war er plötzlich gegen-
wärtig und ordnete mit beispielloser Thätigkeit und großem Erfolg in allen Theilen
Deutschlands an, was zur Vervollkommnung der bürgerlichen und geistlichen Ange-
legenheiten nöthig war. Wie viel Sorgfalt, Klugheit und Aufmerksamkeit dazu
gehörte, läßt sich schon aus der verschiedenartigen Zusammensetzung und weiten Aus-
dehnung des deutschen Reiches abnehmen. Es umfaßte damals außer dem ganzen
jetzigen Deutschland, mit Ausschluß eines Theils von Schlesien, Pommern und
Preußen, noch folgende Länder: ganz Holland und Belgien, Elsaß, das Hcrzogthum
Lothringen, die ganze Schweiz, das burgundische Königreich mit Savoyen, Piemont
und der Provence, ganz Ober- und Mittelitalien bis an die Grenzen von
Neapel.
Im Jahr 1158 sehen wir Friedrich abermals mit einem großen Heere nach
Italien ziehen. Die Mailänder hatten allerlei Gewalt und Muthwillen gegen ihre
Nachbarn geübt und die Stadt Lodi zerstört. Rasch zog der Kaiser auf Mailand
los. Gesandte ans dieser Stadt kamen ihm entgegen, um das Gewitter abzuwenden,
erhielten aber den kurzen Bescheid: „Eure Worte sind zwar süß und demüthig,
aber ihr tragt den Fuchs im Busen. Ihr habt Gottes Kirchen und des Kaisers
Städte zerstört, und mit dem Maß, da ihr mit messet, soll euch wieder gemessen
werden." — Ein Heer von 15,000 Reitern und gegen 100,000 Fußgängern lagerte
sich jetzt rings um die Stadt und schnitt ihr alle Zufuhr von außen ab. Auf
beiden Seiten geschahen tapfere Thaten. Einmal kam ein mailändischer Ritter
nahe an das kaiserliche Lager, tummelte mit ungemeiner Kunst sein Streitroß und
forderte kühn Jeden heraus, der cs mit ihm aufzunehmen wage. Da eilte ihm
Graf Albert von Andechs und Tirol auf einem kleinen Pferd entgegen, ohne Helm,
Panzerhemd und Panzerhosen, nur mit Schild und Lauze bewaffnet; sie rannten
mit eingelegter Lanze wider einander, und der Graf stürzte den stolzen Mailänder
zu Boden. Er ließ ihm indeß Leben und Waffen und kehrte ohne Ruhmredigkeit
zu seinen Genossen zurück. Nachdem die Belagerung einen Mouat gedauert hatte,
baten endlich die Mailänder in sehr demüthigem Aufzug fußfällig, theils bloße
Schwerter am Nacken, theils Stricke um den Hals> um Frieden. Der Kaiser
sprach: „Es freut mich, daß die Mailänder endlich den Frieden dem Krieg vor-
ziehen und mich der Nothwendigkeit überheben, ihnen Böses zu erzeigen. Ich
herrsche lieber über Willige, als über Gezwungene; ich belohne lieber, als ich strafe;
aber vergessen soll Niemand, daß ich eher durch Gehorsam als durch Krieg zu be-
siegen bin. Im Vertraue», die Stadt werde künftig auf dem rechten Weg beharren,
will ich sie nicht mehr meine Macht und Strenge, sondern nur meine Huld und
Milde erfuhren lassen."
318
Indessen dauerte der also gewährte Friede nicht lauge. Je mehr Friedrichs
Uebermacht zunahm, desto feindseliger wurde der Pabst gegen ihn, desto höher
spannte dieser seine eigenen Ansprüche an die alleinige Oberherrschaft in weltlichen
wie in geistlichen Dingen. Da weder der Kaiser dem Pabst, noch der Pabst dem
Kaiser nachgeben wollte, so wurde die Spaltung immer bedenklicher. Die Lombarden,
und Mailand voran, hielten es mit dem Pabst. Des Kaisers Gesandte wurden in
Mailand gröblich beleidigt, und als die mailandischen Gesandten darüber an ihren
Eid erinnert wurden, den sie dem Kaiser geschworen hätten, so ließen sie sich die
treulosen Worte entschlüpfen: „Wir schwuren zwar den Eid, aber wir versprachen
nicht, ihn zu halten." Solche Frechheit und fortgesetzter Trotz der übermüthigen
Stadt brachten es endlich dahin, daß Mailand geächtet wurde. Die Güter der Sladt
sollten der Plünderung, die Einwohner der Sklaverei, die Stadt selbst der Zer-
störung preisgegeben werden. — Der Kampf wurde nun von beiden Seiten mit
großem Nachdruck geführt. Als Friedrich bei dem Eintritt des Winters 1161 einen
Theil seiner Deutschen entließ, schwur er, seine Krone nicht wieder aufzusetzen, bis
er Mailands Macht gebrochen habe. Im Frühjahr 1162 ergab sich endlich die
stolze Stadt auf Gnade und Ungnade. Dreihundert auserwahlte Männer übergaben
knieend die Schlüssel aller Thore und Burgen, etliche Tage später uahete das ganze
Volk, in hundert Schaareu abgetheilt, mit Stricken um den Hals, Asche auf dem
Haupt und Kreuze in den Händen. Stiñ ging der lange Zug vor dem Kaiser
vorbei, der in der Mitte seiner Fürsten .höhtem Thron saß, und jede Abthei-
lung legte ihre Fahnen und Posaunen zu ,Unen Füßen nieder. Der Fahnenwageu
der Mailänder kam endlich herbei, senkte sich vor dem Kaiser und ward darnach
zertrümmert; da brach der stumme Schmerz in lauten Jammer aus, und Alle stürz-
ten zu Boden, um Christi willen Erbarmung flehend. Thränen waren in den
Augen aller Fürsten, nur der Kaiser hielt sich fest in Angesicht und Haltung. End-
lich erhob er sich und sprach: „Die Milde, welche sich mit Gerechtigkeit verträgt,
soll euch zu Theil werden. Nach dem Gesetz habt ihr alle das Leben verwirkt; ich
will es Allen schenken und nur solche Maßregeln ergreifen, wodurch es euch un-
möglich wird, künftig solche Verbrechen zu begehen." Das Volk kehrte in schweren
Besorgnissen zur Stabt zurück und leistete die Huldigung. Zu Pavia wurde in
großer Gcrichtsversammlung Mailands Schicksal entschieden. Ihr Spruch lautete:
„Mailand soll leer und wüste sein; binnen acht Tagen verlassen alle Bewohner die
Stadt und bauen sich in vier Flecken an, von denen jeder zwei Meilen vom andern
entfernt ist." Solches Unglück hatten auch die Besorglichsten nicht erwartet; aber
es war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie verließen die Stadt, in welche der Kaiser
nun siegprangend einzog, und zwar nicht durch ein Thor, sondern über die an einer
Stelle niedergerissenen Mauern. Als Friedrich nach Pavia zurückkam, letzte er nun,
nachdem er sein Wort gelöst, bet der glänzenden Feier seines Siegs seine Krone
wieder auf. Er war jetzt unbestritten weltlicher Herr von Rom bis Lübeck mit einem
Uebergewicht über die Rechte und Verhältnisse der Reichsstände, wie es sich lange
kein Kaiser hatte erwerben können.
Indeß nicht lange war es dem gewaltigen Herrscher vergönnt, das Schwert
aus der Hand zu legen. Sein Verhältniß zur päbstlichen Macht war mittlerweile
sehr verwickelt geworden. Der Pabst Hadriau IV. war gestorben; da wählten die
Cardinäle, welche es mit dem Kaiser hielten, einen Anhänger des Kaisers, Victor IV.;
die aber, welche wider den Kaiser waren, wählten in Alexander III. einen Pabst,
310
an dem Friedrich einen mächtigen Gegner fand. Die Christenheit hatte nun zwei
PLbste; welchen sollte sie für den rechten halten?
Während die Deutschen auf Victors Seite stunden, wußte Alexander geschickt
Frankreich, England und andere christliche Mächte, die ohnehin des gewaltigen
Kaisers Uebermacht zu fürchten begannen, für sich zu gewinnen, und entfaltete über-
haupt sogleich den Scharfsinn, die Gewandtheit und den unwandelbar festen Muth,
der ihn zu einem würdigen Gegner Friedrichs erhob. Die Lombarden, die es mit
Alexander hielten, waren auch durch Mailands Fall nicht auf die Dauer gebeugt.
Im Jahr 1107 schlossen die wichtigsten Städte derselben einen Bund, verjagten an
rinem verabredeten Tag alle Befehlshaber Friedrichs und führten auch die Mailänder
wieder in ihre Vaterstadt zurück.
Friedrich, der indessen bald in Deutschland, bald in Italien gewesen war, um
allenthalben Recht und Ordnung zu wahren, nahm Rom ein und verjagte den Pabft;
aber eine pestartige Krankheit vernichtete binnen acht Tagen den größern Theil seines
schönen Heeres. Er mußte sich eilig zurückziehen. Italien war verloren, der mächtige
Kaiser erschien als ein armer Flüchtling an den Grenzen von Deutschland.
Nach Verfluß von sieben Jahren wurde abermals ein Heereszug über die Alpen
angetreten. Friedrich hatte dabei namentlich auf den Beistand des ihm nahe ver-
wandten Welsen, Heinrichs des Löwen, des tapfern Herzogs von Sachsen und Bayern,
gerechnet; aber wie erstaunte er über die Nachricht, Heinrich sei ihm untreu und
verweigere allen Beistand. Der Kaiser hoffte, alle Mißverständnisse würden sich
leicht durch mündliches Gespräch ausgleichen lassen, zu welchem er mit dem Herzog
in Ehiavenna, unweit des Comersees, zusammentraf. Mit inständiger Bitte wandte
sich der Kaiser an ihn und suchte ihn auf alle mögliche Weise zum Mitzng zu über-
reden. Nach vielem vergeblichen Hin- und Herreden stellte er ihm vor: „Und du
könntest jetzt zurücktreten, da der Deutschen Ehre, des Kaisers Ruhm, der Preis
meines ganzen Lebens auf dem Spiel steht? Ich will nicht von jenem Eid sprechen,
den du dem Reich geschworen hast; ich will dich nur au die heiligen Bande des
Bluts erinnern, welche doch da festhalten sollten, wo alles Andere sich löset. Jetzt
nur in dieser Noth unterstütze mich, deinen Herrn, deinen Vetter und Freund, und
sei überzeugt, daß du mich künftig zu Allein, was du begehrest, bereit und willig
senden wirst."
1 So sprach der Kaiser; aber der Herzog blieb immer noch hartnäckig. So
groß war jedoch die Noth, so viel stand auf dem Spiel, daß Friedrich von seinem
Sitz aufstaud und flehend die Kniee Heinrichs umfaßte. Dieser erschrack zwar und
suchte den Kaiser aufzuheben, beharrte aber dennoch auf seiner Weigerung, und einer
seiner Mannen, Jvrdanus Truchseß, hatte sogar die Kühnheit, ihm zuzurufen:
„Herr, die Krone, die ihr zu euren Füßen gesehen habt, wird bald euer Haupt
schmücken." Ein anderer dagegen setzte ängstlich hinzu, „Herr, ich fürchte, sie wird
über euer Haupt emporwachsen!" Alle schwiegen jetzt, unbeschreiblich bewegt über
dielen beilpiellolen Austritt; da nahte die Kaiserin würdevoll ihrem Gemahl und
sprach: „Lieber Herr, steht auf, Gott wird euch beistehen, wenn ihr einst dieses
Tags und dieses Hochmuths gedenket." Der Kaiser stand auf; der Herzog bestieg
sein Pferd und ritt davon. Der alte Haß zwischen den zwei angesehensten Ge-
schlechtern Deutschlands, den Hohenstaufen und den Welfen, entbrannte aufs neue.
Verstärkt durch den Zuzug vieler treugebliebcnen deutschen Fürsten trat Friedrich
unverzagt seinen Feinden im offenen Feld entgegen. Es kam in der Nähe von
320
Mailand int Mai 1176 zu einer blutigen Schlacht bei Legnano. Friedrich wurde
geschlagen und kam kaum mit dem Leben davon. Fahne und Schild des Kaisers
fielen in die Hände der Sieger. Bereits hatte die Kaiserin Wittwenkleider angelegt;
da erschien er zur Freude der Seinen vier Tage nach der Schlacht mit wenigen
Begleitern in Pavia. Die Arbeit von zwei und zwanzig langen Jahren war mit
dieser Schlacht vernichtet. Jetzt galt es nicht mehr die Unterwerfung des Pabstes
und der Lombarden, sondern einen möglichst schnellen und vortheilhaften Frieden,
und da alle Theile jetzt aufrichtig Frieden wünschten, so kam derselbe auch wirklich
im darauffolgenden Jahre zu Stand, dabei mußte der Kaiser den Pabst, den er
verworfen hatte, anerkennen und auch den lombardischen Städten Einiges zugestehen.
Eilboten verkündigten aller Welt die frohe Nachricht, und die gesamte Christenheit
freute sich derselben nach so vielen Jahren des Streits und der Verwirrung.
Im Jahr 1178 kam der Kaiser über Burgund nach Deutschland zurück, mäch-
tiger als seine Feinde erwartet hatten. Hier stand ihm abermals eine schwere, in jeder
Beziehung unerfreuliche Arbeit bevor, nemlich die Züchtigung Heinrichs des Löwen,
der sich gegen ihn und gegen andere Reichsstäude in mancher Hinsicht strafbar be-
nommen hatte. Auf einem Reichstag zu Speier trat der Kaiser selbst gegen den
stolzen Löwen auf. Heinrich suchte nun denselben für sich zu gewinnen, aber eben
so vergeblich, als Friedrich es einst bei ihm versucht hatte. Er wurde geächtet und
sollte aller seiner Lehen verlustig gehen. Noch zögerte der Kaiser mit Ausführung
dieses Spruchs, in Hoffnung, Heinrich werde sich demüthigen. Aber Heinrich be-
harrte auf seinem stolzen Sinn, und so wurde das Urtheil vollzogen. Der Löwe
wehrte sich zwar aufs tapferste, sah sich aber endlich doch zu dem sauren Schritt
genöthigt, sich der so lange verschmähten Entscheidung der Fürsten zu unterwerfen.
Im November 1181 erschien er auf dem Reichstag in Erfurt, warf sich vor dem
Kaiser, den er einst in Chiavenua zu seinen Füßen gesehen hatte, demüthig nieder,
umfaßte dessen Kniee und erflehte seine Gnade. Solch ein Wechsel des Schicksals
ergriff Friedrichs Gemüth aufs tiefste; mit Thränen umarmte er den Herzog und
rief aus: „Dennoch bist du selbst das Werkzeug deines Unglücks/' — Seine beiden
Herzogthümer waren bereits vertheilt; doch ließ man ihm Brannschweig und Lüne-
burg, sein väterliches Erbe, ja auch die sieben Jahre, die er um des Reichs
Sicherheit willen außer Lands zubringen sollte, wurden noch auf drei Jahre
ermäßigt.
So war endlich Friede im Reich; auch Friedrichs letzter Zug nach Italien
(1184) war ein friedlicher. In Mailand, das ihm jetzt befreundet war, feierte er
die Vermählung seines Sohnes Heinrich mit der reichen Erbin Siciliens in höchster
Pracht, ohne Ahnung davon, daß er mit dieser glänzenden Verbindung den Grund
zu dem nachmaligen Fall seines Hauses legte. Da erscholl plötzlich die Nachricht:
„Sultan Saladin habe die Christen bei Tiberias am See Gcnezareth geschlagen,
Saladin habe Jerusalem erobert." In der ganzen Christenheit verbreitete sich ein
unermeßlicher Jammer. Alles gerieth in Bewegung, um das Grab des Erlösers
den Ungläubigen wieder zu entreißen. Die Könige von England und Frankreich
nahmen mit vielen Grafen und Rittern das Kreuz und entschlossen sich zu einem
Kriegszug nach dem heiligen Land. Auch Friedrich folgte ihrem Beispiel und er-
klärte, er habe, obgleich im sieben und sechzigsten Jahr des Alters, noch Kraft genug,
sieb, wie es sein Beruf erheische, an die Spitze der Christenheit zu stellen. Der
Zug sollte zu Land durch Griechenland und Kleinasien gehen. Bei Rcgensburg
321
versammelten sich im Mai 1189 die Pilger aus allen Theilen Deutschlands, an
20,000 Ritter und gegen 100,000 kriegsfähige Männer. Nach unsäglichen Müh-
seligkeiten kamen sie endlich zur Stadt Jconium in Kleinasien (Apoitelgesch. 14, 1.).
Von allen Seiten drangen hier die Türken auf das deutsche Heer ein, und die
Größe der Gefahr erpreßte selbst dem standhaften Kaiser den Wunsch: er wolle
gerne jede andere Noth ertragen, wenn nur das Heer ungefährdet in Anrivchien
wäre. Als aber die Seinen wirklich anfingen zu weichen, rief der Greis mit
lauter Stimme und durch seinen Heldenmuth wunderbar verjüngt: „Warum zögert
ihr? weßhalb seid ihr niedergeschlagen? Gottlob, daß die Feinde endlich eine
Schlacht wagen! Um den Himmel mit eurem Blut zu gewinnen, verließet ihr
euer Vaterland; jetzt ist die rechte Zeit. Folgt mir, Christus herrscht, Cbristns
siegt!" Mit diesen Worten sprengte er in die Feinde, erinuthigt folgten ibm die
Seinen, drangen unwiderstehlich ans die Türken ein und schlugen sie gänzlich in die
Flucht. In demselben Augenblick gewahrte man die christlichen Fahnen ans den
Thürmen von Jconium. Herzog Friedrich, des Kaisers Sohn, hatte gleichfalls
die Türken geschlagen und die Stadt erobert. Mit großer Freude empfing der
siegende Kaiser seinen siegenden Sohn, und die große Beute an Lebensmitteln und
Geld verwandelte den bisherigen Mangel in Rcichlhum. Die Türken baten um
Frieden und störten nun das Heer nicht weiter, das zwar nicht ohne Anstrengung
und Verlust, aber ohne Aufenthalt über die hohen Gebirge in das befreundete,
unter christlicher Herrschaft stehende Cilicien hinabzog, und glücklich Selencia am
Fluß Calycadnus oder Seleph, nicht weit vom Meer, erreichte.
Das ersehnte Ziel war nun nahe. Saladin machte auf die Nachricht von des
Kaisers Anzug sehr höfliche Anerbietungen. Von Tag zu Tag wuchs Friedrichs
Ruhm, und alle seine früheren Thaten wurden durch diesen großen Zug überstrahlt
und verklärt.
Am 10. Juni 1190 brach das Heer von Scleucia auf. Herzog Friedrich
führte den Vortrab über den Fluß, während der Kaiser sich beim Hintertreffen
befand. Weil die Brücke nur schmal war, so ging der Zug sehr langsam vor-
wärts; der Kaiser aber wollte schnell zu seinem Sohn kommen und beschloß deßhalb,
den Fluß zu durchschwimmen. Furchtlos, wie immer, sprengte er mit dem Pferd in
den Strom; aber der Greis hatte nicht mehr so viel jugendliche Kraft, als jugend-
lichen Muth; die Wellen ergriffen ihn gewaltig und rissen ihc/ fort, und als man
endlich zu Hülfe kam und ihn ans Land brachte, war er bereits entseelt.
So starb der große Kaiser Friedrich I. Mit ihm war die Seele des Ganzen
dahin. Unbeschreiblich war die Bestürzung, der Jammer, die Verzweiflung seines
Heeres; nach Friedrich wandten sich alle Gemüther, wie die Pflanzen nach der
Sonne; sie klagten um ihn wie um einen Vater, mit dem alle Hoffmmgen zu Grab
gehen.
Zwar führte Herzog Friedrich das Heer ohne Unfall nach Antiochien,' aber
Krankheiten rieben den schönsten Theil desselben ans, die strenge Ordnung wich,
Viele kehrten zu Schiff in die Heimat zurück, oder zerstreuten sich nach allen Rich-
tungen, und nur eine kleine Schaar folgte dem Herzog nach Tyrus, wo man in feier-
licher Trauer Kaiser Friedrichs Gebeine begrub.
In dem alten Kirchlein des Dorfs Hohenstaufen steht über einem Bild Kaiser
Friedrichs folgende Inschrift: Hie transibat Cæsar (d. h. hier ging der Kaiser
hindurch).
Lesebuch.
LI
322
Der großmachtigst Kaiser wohlbekannt,
Frlederiens Barbarossa genannt,
Das demüthig edel deutsche Blut
Uebt ganz und gar keinen Uebermuth;
Auf diesem Berg hat Hof gehalten,
Wie vor und nach ihm die allen;
Zu Fuß in diese Kirch ist gangen
Ohn allen Pracht, ohn Stolz und Prangen,
Durch diese Thür, wie ich bericht,
Ist wahrlich wahr und kein Gedicht.
^mor bonorum, terror raalorum, d. i. der Guten Lust, der Bösen Schrecken.
146. Schwäbische Kunde.
Als Kaiser Rothbart lobesam
Zum Heilgen Land gezogen kam,
Da mußt er mit dem frommen Heer
Durch ein Gebirge wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Roth,
^ Viel Steine gabs und wenig Brod,
Und mancher deutsche Reitersmann
Hat dort den Trunk sich abgethan.
Den Pferden wars so schwach im Magen,
Fast mußt der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein Herr aus Schwabenland,
,^Von hohem Wuchs und starker Hand,
^Deß Rößlein war so krank und schwach,
Er zog es nur am Zaume nach,
Er hätt es nimmer aufgegeben,
Und kostets ihn das eigen Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
Hinter dem Heereszug zurück;
Da sprengten plötzlich in die Quer
Fünfzig türkische Reiter daher,
vDie huben an auf ihn zu schießen,
Nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
Ging seines ^eges Schritt vor Schritt,
Ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken,
Und thät nur spöttlich um sich blicken.
Bis einer, dem die Zeit zn lang,
*
32
Auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
Er trifft des Türken Pferd so gut,
Er haut ihm ab mit einem Streich
Die beiden Borderfüß zugleich.
Als er das Thier zu Fall gebracht,
Da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
Er schwingt es auf des Reiters Kopf,
Haut durch bis auf den Sattelknopf,
Haut auch den Sattel noch zu Stücken
Und tief noch in des Pferdes Rücken;
Zur Rechten sieht man, wie zur Linken,
Einen halben Türken herunterstnken.
Da packt die andern kalter Graus,
Sie fliehen in alle Welt hinaus,
Und jedem ists, als würd ihm mitten
Durch Kopf und Leib hindurchgeschni^ten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschaar,
Die auch zurück geblieben war,
Die sehen nun mit gutem Bedacht,
Was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hats der Kaiser vernommen,
Der ließ den Schwaben vor sich kommen;
Er sprach: „Sag an, mein Ritter werth!
Wer hat dich solche Streich gelehrt?^
Der Held bedacht sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im Schwang,
Sie sind bekannt im ganzen Reiche,
Man nennt sie halt nur Schwabenstreiche."
147. Die Waldenser. ..
Die wahre Kirche Christi' kann nicht untergehet. Auch in dei
Jahrhunderten, wo man ganz vergeffen zu haben schien, was wahre!
Christenthum ist, findet man da unN^dort deutliche ^Spuren von rich
tiger Erkenntniß der evangelischen Wahrheit, vor? drmüthigem Glau?
ben und heiligem Leben. Ganz besonders zeigt sich dies an bei
Waldensern.
324
Gewöhnlich nimmt man an, daß sie ihren Namen von einem ge-
wissen Peter Waldus haben, der im zwölften Jahrhundert in Lyon,
einer bedeutenden Stadt.im südlichen Frankreich, lebte.
Es war ein reicher und dabei göttessürchtiger Kaufmann. Der
plötzliche Tod eines Freundes hatte ihn zu tieferem Nachdenken über
sich selbst und seine eigene Seligkeit und zur heiligen Schrift geführt.
Er theilte sein Vermögen unter die Armen aus, übersetzte einen Theil
der Bibel und Stücke ans den Kirchenvätern (den Lehrern der älte-
sten christlichen Kirche) in die französische Sprache und verbreitete sie
j so viel als möglich unter dem Volk. Er selbst unterrichtete seine
Hausgenossen, seine Bekannten und allerlei arme Leute, welche ihn
besuchten, in der christlichen Lehre und ermahnte sie zur Gottseligkeit.
Je tiefer er in das Verständniß der heiligen Schrift eindrang, desto
mehr erkannte er den Verfall und die Irrthümer der katholischen
Kirche, und er konnte natürlich in seinen Vorträgen nicht davon
schweigen. Eine Folge hievon war, daß er vom Pabst in den Bann
gethan wurde. Waldus floh nun von einem Ort zum andern, überall
das Evangelium mit Segen verkündigend, bis er endlich nach Um*
ger und mühseliger Flucht im Jahre 1197 in Böhmen starb.
Mit seiner Sache ging es, wie nach Apostelgesch. 8, 4. mit der
ersten Christengemeine. Die Anhänger seiner Lehre wurden verfolgt;
aber die in dieser Verfolgung Zerstreuten trugen, wie jene zur Zeit
des Stephanus, den guten Samen des Evangeliums immer weiter.
Bald zählte man im südlichen Frankreich, in Italien, in der Schweiz,
längs des ganzen Rheinstroms, in Flandern, dann in Böhmen und
Ungarn Tausende, die keine andere Lehre wollten, als die des lautern
Wortes Gottes. Wir glauben, sagten sie, daß die heilige Schrift
Alles enthalte, was zu unserer Seligkeit nöthig ist; wir bedürfen
darum keiner andern Lehre. Wir halten uns an Christum allein,
weil wir unser ganzes Heil bei ihm finden. Warum sollten wir der
römischen Kirche angehören? Die Kirche Christi ist da, wo man sein
Wort hört und bewahrt. — Ihre Feinde selbst gaben ihnen das Zeug-
i niß, daß unter ihnen eine bewundernswürdige Erkenntniß des Wor-
¡ tes Gottes gesunden werde. „Sie sind meist rohe, ungebildete Leute",
j schreibt einer derselben von den französischen und italienischen Wal-
densern, „sie gehen oft in Thierhäute gekleidet und wohnen theils in
elenden Hütten, theils in Höhlen; aber alle können lesen und schrei-
ben. Wir fanden Bauern, die das Buch Hiob auswendig wußten,
ia das ganze neue Testament. Jeder Knabe hat von ihrem Glauben
325
einen deutlichen Begriff, und ihre Priester müssen, ehe sie angestellt
werden, den größten Theil des neuen Testaments auswendig wissen."
Ein Mönch, der ausgesandt worden war, um sie wieder zur römischen ,
Kirche zu bringen, kam betreten zurück und bekannte, in seinem Leben
habe er nicht so viel aus der Schrift erfahren, als in den wenigen
Tagen, seit er sich mit den Ketzern unterredet hätte. Gelehrte und
berühmte Leute, die man zu ihnen sandte, um sie zu widerlegen, er-
klärten, die Kinder in den Kinderlehren hätten sie beschämt. Einer
der Untersuchungsrichter, ein Mönch vom Orden der Dominicaner,
gibt ihrem Wandel folgendes schöne Zeugniß: „Sie vermeiden Hand-
lungsgeschäfte, um nichts mit Falschheit und Betrug zu thun zu haben.
Sie sammeln nicht Reichthümer, sondern sind mit der Nothdurft des
Lebens zufrieden; sie sind keusch, mäßig und nüchtern und nehmen
sich vor dem Zorn in Acht. Man hört unter ihnen kein Schwören,
keine Gotteslästerung, keine Possen. In allen ihren bürgerlichen
Pflichten sind sie höchst gewissenhaft und pünktlich, in der Erziehung
ihrer Kinder sorgfältig, und verleugnen ernst und strenge die Ver-
gnügungen der Welt."
Ihre Armen, ihre Prediger und ihre Missionäre, die von ihnen
zur Verbreitung der evangelischen Wahrheit und zur Stärkung der
zerstreuten Brüder ausgingen, erhielten sie bloß durch freiwillige Bei-
träge und standen überhaupt in inniger Gemeinschaft unter einander.
Die Waldenser hatten einen sehr einfachen Gottesdienst: sie san-
gen Psalmen und hörten das Wort Gottes an. Bei ihren Mahlzeiten
beteten sie knieend und führten ernste Gespräche, wie sie denn über-
haupt im Umgang unter einander freundlich-ernst waren. Die Taufe
und das heilige Abendmahl verrichteten sie einfach nach der Einsetzung
des Herrn.
Als König Ludwig XU. von Frankreich solch einen Bericht über
diese Leute empfing, rief er aus: „Wahrlich, diese Ketzer sind besser,
als ich und mein ganzes Volk!"
Aber obgleich selbst ihre Feinde den Waldensern zugestehen muß-
ten, daß ihr Wandel christlich, ihr Wort wahrhaftig, ihre brüderliche
Liebe aufrichtig sei, so sind doch diese guten Leute von ihren römischen
Mitchristen mit einer heidnischen Grausamkeit und Wuth verfolgt wor-
den. Bei allen Verhören, die mit ihnen angestellt wurden, beriefen
sie sich immer mit unerschütterlicher Festigkeit aus die heilige Schrift
und achteten den Befehl nicht, der ihnen die Auslieferung ihrer
Bibeln gebot. Selbst mancherlei Martern waren schon vergebens
! 326
gegen sie angewandt worden, und es fehlte an Kerkern, um alle der
i Ketzerei wegen Verklagte gefangen zu halten. Da ließ der Pabst
\ Innocenz III. einen förmlichen Kreuzzug gegen die mit den Waldensern
! verbundenen Albigenser (von der Stadt Alby im südlichen Frankreich
' so genannt) unternehmen, wie man vom Jahre 1096 an Kreuzzüge
» gegen die Muhammedaner im heiligen Lande geführt hatte; Jedem,
der daran Theil nehmen würde, versprach er vollkommene Vergebung
seiner Sünden. Bald brach ein Heer von 300,000 Kriegern oder
sogenannten Kreuzfahrern in das Land der Albigenser ein, welche in
- der Stadt 'Toulouse ihren Hauptsttz hatten. Nun begann vom
Jahr 1209 an ein zwanzigjähriger Vertilgungskrieg gegen dieses
Märtyrervolk; denn die Ketzer sollten — das war des Pabstes Be-
fehl — ausgerottet -werden. Männer und Weiber wurden gleich
grausam umgebracht, Greifs und Säuglinge mußten sterben, kein Alter
und Geschlecht schonte das Würgerschwert, und es wurden Martern
und Qualen ersonnen, vor denen die Natur schaudert. Ihre Woh-
nungen wurden zerstört, ganze Dörfer mit Soldaten umstellt, dann
angezündet und samt den Einwohnern verbrannt, ihr Vieh erwürgt,
ihre Saaten zertreten, ihre Bäume umgehauen, und das Land zu
einer furchtbaren Einöde gemacht.
Die erste blutige Verfolgung, die von 1209 bis 1229 währte,
kostete fast einer Million Waldenser und Albigenser das Leben. Und
bis in unser Jahrhundert herein wurden sie von Zeit zu Zeit immer
aufs neue verfolgt.
Während dieses ersten Kreuzzugs in Frankreich litten die Wal-
denser in andern Gegenden zwanzig Jahre lang eine Hauptverfolgung
durch die sogenannte Inquisition oder das Glaubensgericht. Dies
war ein geistlicher Gerichtshof, der jeden der Ketzerei Verdächtigen in
Untersuchung zog und bestrafte. Der Pabst Innocenz LH. hatte die-
selbe ganz besonders der Waldenser wegen angeordnet. Die Anzahl
der vom Glaubensgericht Verhafteten war zuweilen groß, daß man
nicht Gefängnisse genug für sie bauen, noch die Kosten ihres Unter-
halts für sie bestreiten konnte. Das Glaubensgericht bediente sich
verschiedener Straf- und Vertilgungsmittel: die sogenannten Ketzer
wurden verjagt, gehenkt, verbrannt, oft in großer Menge; man er-
säufte sie; man zwickte sie mit eisernen Zangen; sie wurden reißenden
Thieren vorgeworfen, erdrosselt; man ließ sie zu Tode hungern; sie
wurden zersägt, zermalmt, in Stücke zerschnitten, mit abgezogener Haut
y auf dem Rost gebraten u. s. w., — Alles angeblich zur Ehre Gottes
■Wf*»:
327 j
und des reinen Glaubens! — (s. Matth. 10, 22. Joh. 16, 2.
Hebr. 11, 36. rc.)
Als ein gewisser Girard schon auf dem Scheiterhaufen stand,
bat er die Scharfrichter, ihm zwei Steine zu geben. Nachdem ihm
dieses mit einiger Schwierigkeit gewährt worden, sagte er, indem
er die beiden Steine in seinen Händen hielt: „Wenn ich diese Steine
werde gegessen haben, alsdann werdet ihr das Ende des Glaubens
sehen, um dessenwillen ihr mich jetzt tödtet", — und mit diesen Wor-
ten warf er die Steine zur Erde.
In einem von den engen Thälern Italiens hatten stch ums Jahr
1400 bei einem feindlichen Ueberfall 400 Mütter, mit ihren Kindern
in einer Höhle verborgen. Die Unmenschen legten Feuer vor den <
Eingang der Höhle und erstickten Mütter und Kinder mittelst des
Rauchs.
In Deutschland unterdrückte das päbstliche Glaubensgericht ums
Jahr 1250 die Waldenser mit besonderer Grausamkeit; ste waren i
doch standhaft in ihrem Bekenntnisse. In Bingen am Rhein z. B.
wurden achtzehn, in Mainz fünf und dreißig, in Straßburg fünfzig
Waldenser verbrannt. •— Um das Jahr 1330 wurden sie von einem
Glaubensrichter Namens Eckard, einem Dominicanermönch, sehr be-
ängstigt. Endlich, nachdem er viele Grausamkeiten ausgeübt hatte,
und sein Gewissen darüber unruhig zu werden anfing, ersuchte er die
Waldenser, ihm doch die wahre Ursache ihrer Trennung von der römi-
schen Kirche zu entdecken. Dies war eine Gelegenheit, die ihnen selten
gemacht und die um so besser benützt wurde. Der Ausgang war
glücklich: Eckard wurde erleuchtet, bekannte den Glauben an Christum
nach dem lautern Worte Gottes, schloß sich an das Volk Gottes an
und predigte nun, wie Paulus, den Glauben, den er ehedem zerstört
hatte. Er wurde am Ende zu Heidelberg verbrannt.
Jetzt gibt es, da die übrigen sich später von der Reformation
an mehr und mehr an die evangelische Kirche angeschlossen haben,
noch Waldenser in den Thälern von Piemont, deren Zahl etwa
20,000 Seelen betragen mag, die bis in die neuesten Zeiten noch
manchen Druck zu leiden hatten und erst im Jahr 1848 davon be-
freit wurden.
Auch in unserem Württemberg leben noch Nachkommen von
Waldensern, die im Jahr 1699 bei uns aufgenommen wurden, nach-
dem sie der Herzog von Savoyen um ihres Glaubens willen aus
seinem Lande vertrieben hatte. Die Dörfer. Perouse, Serres,
r 1
328
Pinache, Groß- und Klein - Villars, Nordhausen, Neuhengstätt,
Corres mit Dürrmenz, Schönenl^erg und Sengach, Wurmberg, dann
in Baden Palmbach u. a. sind von ihnen angelegt. Auch brach-
ten sie heimatliche Gewächse mit, wie die Kartoffel, die erst durch
sie in Württemberg verbreitet wurde, und den Maulbeerbaum. Sie
hatten früher eigene reformirte Geistliche, welche französisch predigten,
sind aber jetzt mit der Kirche des Landes vereinigt.
^-—^'ÄZenn man uns fragt: wo war die evangelische Kirche vor der
Reformation? so dürfen wir wohl unter andern zur Antwort auch auf
die Waldenser, diese treuen Zeugen evangelischer Wahrheit und Kraft,
hinweisen; sie haben das Wort behalten und den Namen des Herrn
nicht verleugnet auch in den schwersten Verfolgungstagen. Möchte
nun vor ihnen auch eine offene Thüre gegeben werden, die Niemand
zuschließen könne! (Offenb. 3, 7 —13.)
148. Die besten Mauern.
(1286.)
P Zwischen rebumkränzten Höhen Nur die Stadt war ihm geblieben
Kennt ihr die gepriesne Stadt,
Wo die besten Mauern stehen.
Die kein Sturm bezwungen hat?
Trotzend allen Kriegesschauern,
Als zerbrochen war der Stein,
Stellten Bürger sich zu Mauern: —
StuNqart muß ihr Name seinI 4 S°rch 1 wie schmettern °°n den
Durch der Waffen Mißgeschick;
Doch die braven Bürger stellen
Sich mit Wehren treu geschaart:
An den Zinnen, auf den Wällen
Wird befestigt und gewahrt.
a Von dem Berge schaut gerüstet
^Kaiser Rudolph, wild von Zorn;
Land und Feld hat er verwüstet
Hut» zertreten Kraut und Korn.
Dort, wo dürstend nach der Beute
Seine Schaar gelagert stand,
Ist der Hügel noch bis heute
I
Höhen
Zinken und Trompeten schon;
Aber Stuttgarts Bürger stehen
Jedem Angriff Trotz und Hohn;
Horch! wie von Geschützes Stärke
Schon die Mauer .dröhnt und
kracht;
Doch vertrauend gutem Werke,
Stehn die Bürger auf der Wacht.
Wagenburg im Volk benannt.
^In der Schlacht zurückgetrieben \ Und es weichen jetzt die Mauern,
Hat den Grafen") Rudolphs Glück,' Und die Feinde jubeln sehr,
*) Eberhard den Erlauchten. -
329
Und der Graf beg^^M zu'trauern,
Denn des Kaisers Z^Wst schwer ;
Aber aus «den offnen Lücken
Tritt hervor manch Angesicht,
Brust an Brust zusammenrücken, £
Und die Mauer selber ficht.
Abends spiegelt noch am Himmel
Sich des Kampfes dunkle Glut,
Bis mit seines Heers Gewimmel
Rudolph in den Zelten ruht.
Doch den Bürgern in der Mauer
Keine Rast gegeben ward;
Sie umstehn in nächtger Dauer
Ihren Vater Eberhard.
Aber als mit Morgenhelle
Sah der Kaiser von den Höhn,
Wie sie hinterm Blut der Wälle
Neuem Sturm entgegeustehu,
Mußt ihn selbst des Sturms ver-
drießen,
Schickt den Herold in die Stadt:
Laßt den Vater mich begrüßen,
-§er so treue Kinder hat.
Und Versöhnung ward geschlossen,
Frieden ist dem Land geschenkt;
Rudolph hat mit Mann und
Rossen
Seinen Zug ins Reich gelenkt;
Aber auf zerbrochnen Zinnen
War dem Grafen wohl bewußt:
Schutz, wie keiner zu gewinnen,
Sei des Volkes treue Brust.
Zwischen rebumkränzten Höhen
Kennt ihr die gepriesne Stadt,
Wo die besten Mauern stehen,
Die kein Sturm bezwungen hat?
Trotzend allen Kriegesschauern,
Als zerbrochen war der Stein,
Stellten Bürger sich zu Mauern: —
Stuttgart soll ihr Name sein.
Kaiser Rudolph, der erste aus dem Geschlecht Habsburg, nu 'ste
mehrmals gegen, den streitlustigen Grafen Eberhard I., den Erlauch-
ten, von Württemberg, dessen Wahlspruch war: „Gottes Freund und
aller Welt Feind", zu Feld ziehen; die Belagerung von Stuttgart
zog sich durch Eberhards Tapferkeit und der Bürger Treue und Muth
- so lange hin, daß der Kaiser gerne die Hand zum Frieden bot. Die
Mauern ,mußten geschleift werden, Eberhard um Verzeihung bitten
und Ruhe versprechen, aber erst 1287 unterwarf er sich dem Kaiser
gänzlich; Stuttgart ließ er wieder befestigen.
149. Grus Eberhard der Rauschebart.
1. Der Ujbjxfaü int Wildbad.
Graf Eberhard II. von Württemberg, mit dem Beinamen der Greiner (d. h.
Zänker), regierte von 1344 — 1392, in einer höchst unruhigen Zeit. Die deutschen
Kai>er, Karl IV., Wenzel und Ruprecht kümmerten sich zum Theil um die Reichs-
angclegenheiten nicht, theils fehlte ihnen vie Kraft, den Landfrieden aufrechtzu
erhalten. . Die schwäbischen Städte, durch die Erfolge der Schweizer ermiithigt.
330
suchten sich unabhängig, und andererseits der niedere Adel von seinen Lehensver-
pflichtungen gegen den höheren frei zu machen. Die Grafen von Württemberg hatten
die Landvogtei in Schwaben; einen Herzog von Schwaben gab es nicht mehr.
Ein großer Theil des schwäbischen Adels hatte sich gegen die wachsende Macht
der Städte, so wie der Grafen von Württemberg, vereinigt. Man hieß sie Schlegler
oder Martinsvögel, nach der Art ihrer Bewaffnung und dem Stiftungstage des
Bundes. Die Hauptleute desselben waren die Grafen Wolf und Wilhelm von Eber-
stein und Wolf von Wunnenstein, wegen seiner glänzenden Rüstung der gleißend
Wolf genannt. Wolf von Eberstein war ein berüchtigter Landfriedensbrecher, weß-
halb schon 1357 Graf Eberhard seine Feste Alteberstein in kaiserlichem Auftrag zer-
l stört hatte.
In schönen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn,
Die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn,
Da ritt aus Stuttgarts Thoren ein Held von stolzer Art,
Graf Eberhard der Greiner, der alte Rauschebart.
Mit wenig Edelknechten zieht er ins Land hinaus,
Er trägt nicht Helm noch Panzer, nicht gehts auf blutgen Strauß,
Ins Wildbad will er reiten, wo heiß ein Quell einspringt,
Der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jüugt.
Zu Hirsau bei dem Abte, da kehrt der Ritter ein,
Und trinkt bei Orgelschalle den kühlen Klosterwein.
Dann gehts durch Tannenwälder ins grüne Thal gesprengt,
Wo durch ihr Felsenbette die Enz sich rauschend drängt.
Zu Wildbad an dem Markte, da steht ein stattlich Haus,
Es hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß heraus;
Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast,
Den Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast.
Wann er sich dann entkleidet und wenig ausgeruht,
Und sein Gebet gesprochen, so steigt er in die Fluth;
Er setzt sich stets zur Stelle, wo aus dem Feljenspalt
Am heißesten und vollsten der edle Sprudel wallt.
Ein angeschoßner Eber, der sich die Wunde wusch,
Verrieth voreinst den Jägern den Quell in Kluft und Busch,
Nun ists dem alten Necken ein lieber Zeitvertreib,
Zu waschen und zu strecken den narbcnvollen Leib.
\mi/Da kommt einsmalS gesprungen sein jüngster Edelknab:
„Herr Graf! es zieht ein Haufe daS obre Thal herab.
Sie tragen schwere Kolben, der Hauptmann führt im Schild
.Ein Möslcin roth von Golde und einen Eber wild."
f
331
^"„Mein Sohn! das sind die Schlegler, die schlagen kräftig drein, —
Gib mir den Leibrock, Junge! — das ist der Eberstein,
Ich kenne wohl den Eber, er hat so grimmen Zorn,
Ich kenne wohl die Rose, sie führt so scharfen Dorn."
Da kommt ein armer Hirte in athemlosem Lauf:
„Herr Graf, es zieht 'ne Rotte das untre Thal herauf.
Der Hauptmann führt drei Beile, sein Rüstzeug glänzt und gleißt,
Daß mirs wie Wetterleuchten noch in den Augen beißt."
/„Das ist der Wunnensteiner, der gleißend Wolf genannt, —
' Gib mir den Mantel, Knabe! — der Glanz ist mir bekannt;
Er bringt mir wenig Wonne, die Beile hauen gut, —
Bind mir das Schwert zur Seite! — der Wolf, der lechzt nach Blut."
-//Da spricht der arme Hirte: „Deß mag noch werden Rath,
Ich weiß geheime Wege, die noch kein Mensch betrat,
Kein Roß mag sie ersteigen, nur Geißen klettern dort,
Wollt ihr sogleich mir folgen, ich bring euch sicher fort."
/£ Sie klimmen durch das Dickicht den steilsten Berg hinan,
Mit seinem guten Schwerte haut oft der Graf sich Bahn;
Wie herb das Fliehen schmecke, noch hat ers nie vermerkt,
Viel lieber möcht er fechten, das Bad hat ihn gestärkt.
-/jf In heißer Mittagsstunde bergunter und bergauf!
Schon muß der Graf sich lehnen auf seines Schwertes Knauf,
Darob erbarmts den Hirten des alten, hohen Herrn,
Er nimmt ihn auf den Rücken: „ich thus von Herzen gern."
/'^Da denkt der alte Greiner: „es thut doch wahrlich gut,
So sänfrlich sein getragen von einem treuen Blut;
In Fährden und in Nöthen zeigt erst das Volk sich echt,
Drum soll man nie zertreten sein altes, gutes Recht."
-
■f5 Als drauf der Graf, gerettet, zu Stuttgart sitzt im Saal,
Heißt er 'ne Münze prägen als ein Gedächtnißmal,
Er gibt dem treuen Hirten manch blankes. Stück davon,
Auch manchem Herrn vom Schlegel verehrt er eins zum Hohn.
D.^niit in künft'gen Sommern sich jeder greise Manu,
Von Feinden ungefährdet, im Bade jungen kann.*)
*) Die Einwohner der Stadt hatten bas Entwischen Eberhards hart'bühen titi/fjtti, Ver-
bündeten verwüsteten den ganzen Ort.
332
2. Die Schlacht bei Reutlingen.
14. Mai 1377.
V Zu Achalm auf dem Felsen, da haust manch kühner Aar,
Graf Ulrich, Sohn des Greiners, mit seiner Nitterschaar;
Wild rauschen ihre Flüge um Reutlingen, die Stadt,
Bald scheint sie zu erliegen, vom heißen Drange matt.
/ Doch plötzlich einst erheben die Städter sich zu Nacht,
Ins Urachthal hinüber find sie mit großer Macht,
Bald steigt von Dorf und Mühle die Flamme blutig roth,
Die Heerden weggetrieben, die Hirten liegen todt.
f Herr Ulrich hats vernommen, er ruft im grimmen Zorn:
„In eure Stadt soll kommen kein Huf und auch kein Horn'/
Da sputen sich die Ritter und wappnen sich in Stahl,
Sie heischen ihre Rosse, sie reiten stracks zuthal.
/ Ein Kirchlein stehet drunten, Sanct Leonhard geweiht,
' Dabei ein grüner Anger, der scheint bequem zum Streit.
Sie springen von den Pferden, sie ziehen stolze Reihn,
Die langen Spieße starren, wohlauf! wer wagt sich drein?
j Schon zieh» vom Urachthale die Städter fern herbei,
Man hört der Männer Jauchzen, der Heerden wild Geschrei,
Man sicht sie fürder schreiten, ein wohlgerüstet Heer;
Wie flattern stolz die Banner! wie blitzen Schwert und Speer!
Jj Nun schließ dich fest zusammen, du ritterliche Schaar!
Wohl hast du nicht geahuet so dräuende Gefahr.
Die übermächtgcn Rotten, sie stürmen an mit Schwall,
Die Ritter stehn und starren wie Fels und Mauerwall.
¿s Zu Reutlingen am Zwinger, da ist ein altes Thor,
Längst wob mit dichten Ranken der Ephen sich davor,
Man hat es schier vergessen, nun krachts mit einmal auf.
Und ans dem Zwinger stürzet gedrängt ein Bürgerhanf.
X Den Rittern in den Rücken fällt er mit grauser Wuth,
Heut will der Städter baden im heißen Rittcrblut.
Wie haben da die Gerber so meisterlich gegerbt!
Wie haben da die Färber so purpurrvth gefärbt!
f Heut nimmt man nicht gefangen, heut geht es auf den Tod,
Heut spritzt das Blut wie Regen, der Anger blümt sich roth.
Stets drängender umschlossen und wüthender bestürmt.
Ist rings von Bruderleichen die Nitterschaar umthürmt.
333
^--^Das Fähnlein ist verloren, Herr Ulrich blutet stark,
Die noch am Leben blieben, sind müde bis ins Mark.
Da haschen sie nach Nossen und schwingen sich darauf,
Sie hauen durch, sie kommen zur festen Burg hinauf.
yy „Ach Allm" — stöhnt' einst ein Nitter, ihn traf des Mörders Stoß
Allmächtger! wollt er rufen — man hieß davon das Schloß.
Herr Ulrich sinkt vom Sattel, halbtodt, voll Blut und Qualm,
Hätt nicht das Schloß den Namen, man hieß es jetzt Achalm.
^ Wohl kommt am andern Morgen zu Reutlingen ans Thor
Manch trauervoller Knappe, der seinen Herrn verlor.
Dort auf dem Nathhaus liegen die Todten all gereiht.
Man führt dahin die Knechte mit sicherem Geleit.
"/¡f Dort liegen mehr denn sechzig, so blutig und so bleich.
Nicht jeder Knapp erkennet dep todten Herrn sogleich.
Dann wird ein jeder Leichnam von treuen Dieners Hand
Gewaschen und gekleidet in weißes Grabgewand.
Auf Bahren und auf Wagen getragen und geführt,
Mit Eichenlaub bekränzet, wie's Helden wohl gebührt,
So geht es nach dem Thore, die alte Stadt entlang,
Dumpf tönet von den Thürmen der Todtenglocken Klang.
Götz Weißenheim eröffnet den langen Leichenzug,
Er war es, der im Streite des Grafen Banner trug,
Er hatt es nicht gelassen, bis er erschlagen war,
Drum mag er würdig führen auch noch die todte Schaar.
Drei edle Grafen folgen, bewährt im Schildesamt,
Von Tübingen, von Zollern, von Schwarzenberg entstammt.
O Zollern! deine Leiche umschwebt ein lichter Kranz:
Sahst du vielleicht noch sterbend dein Haus im künftgen Glanz?
V'fc ^cn Sachsenheim zween Nitter, der Vater und der Sohn,
Die liegen still beisammen in Lilien und in Mohn, *)
Auf ihrer Stammburg wandelt von Alters her ein Geist,
Der längst von Klaggeberden auf schweres Unheil weist.
Einst war ein Herr von Lustnau vom Scheintod auferwacht,
Er kehrt im Leichentuche zu seiner Frau bei Nacht,
Davon man sein Geschlechte die Todten hieß im Scherz,
Hier bringt man ihrer einen, den traf der Tod ins Herz.
y^Das Lied, es folgt nicht weiter, des Jammers ist genug,
Will Jemand Alle wissen, die man von dannen trug:
Dort auf den Nathhausfenstern, in Farben bunt und klar,
Stellt jeden Ritters Name und Wappenschild sich dar.
i
*) Wnpx«nzeichcn dcr von Sachscnheim.
Als nun von seinen Wunden Graf Ulrich ausgeheilt,
Da reitet er nach Stuttgart, er hat nicht sehr geeilt
Er trifft den alten Vater allein am Mittagsmahl;
Ein frostiger Willkommen! kein Wort ertönt im Sacu.
2 4 Dem Vater gegenüber sitzt Ulrich an dem Tisch,
Er schlägt die Augen nieder, man bringt ihm Wein und Fisch;
Da faßt der Greis ein Meffer und spricht kein Wort dabei,
Und schneidet zwischen beiden das Tafeltuch entzwei.*)
3. Die Döffinger Schlacht.
23. August 1388.
Die Verbindungen der Reichsstädte unter einander bewogen die Fürsten und
Edeln gleichfalls zu Vereinigungen, von denen die wichtigste der Löwenbund war.
Er breitete sich durch Schwaben und Franken und die überrheinischen Länder aus
und ward in mehrere Kreise getheilt, von denen jeder seine Hauptleute hatte.
Eberhards Sohn, Ulrich, war einer der Hauptleute des schwäbischen Kreises. Der
Sieg der schweizerischen Eidgenossen bei Sempach (1386) über den Erzherzog Leo-
pold, den Schwager Eberhards, erhöhte den Uebermuth der schwäbischen Reichsstädte
gegen Eberhard, dessen Völker auch mit bei Sempach gefochten hatten. Neun und
zwanzig Reichsstädte brachen ins württembergische Gebiet ein und verheerten Alles
weit und breit. Viertausend Manu belagerten den stark befestigten Kirchhof zu
i Döffingen bei Böblingen, als ihnen Eberhard mit den Hülfsvölkern vieler Mitglieder
des Löwenbundes entgegenzog und eine Schlacht lieferte. Dem Wolf von Wunnen-
verdankte Eberhard vorzüglich den Sieg.
>'Am Ruheplatz der Todten, da pflegt es still zu sein,
Man hört nur leises Beten bei Kreuz und Leichenstein!
Zu Döffingen wars anders, dort scholl den ganzen Tag
Der feste Kirchhof wieder von Kampfruf, Stoß und Schlag.
Die Städter sind gekommen, der Bauer hat sein Gut
Zum festen Ort geflüchtet und hälts in tapfrer Hut;
Mit Spieß und Karst und Sense treibt er den Angriff ab,
Wer todt zu Boden sinket, hat hier nicht weit ins Grab.
t Graf Eberhard der Greiner vernahm der Seinen Noth,
Schon kommt er angezogen mit starkem Aufgebot;
Schon ist um ihn versammelt der besten Ritter Kern,
Dom edeln Löwenbunde die Grafen und die Herrn.
/,Da kommt ein reis'ger Bote vom Wolf von Wunnenstein:
„Mein Herr, mit seinem Banner will euch zu Dienste sein."
Der stolze-Graf entgegnet: „ich hab sein nicht begehrt,
Er hat umsonst die Münze, die ich ihm einst verehrt."
*) Dieser Gebrauch kommt als Ehrenstraft Ar Otter und Edelleute auch sonst im Mittelalter oor.
1
335
f Bald fleht Herr Ulrich drüben der Städte Schaaren stehn,
Bon Reutlingen, von Augsburg, von Ulm die Banner wehn;
Da brennt ihn seine Narbe, da gährt der alte Groll:
„Ich weiß, ihr Uebermüthgen, wovon der Kamm euch schwoll."
Er sprengt zu seinem Vater: „heut zahl ich alte Schuld,
Wills Gott, erwerb ich wieder die väterliche Huld.
Nicht darf ich mit dir speisen auf einem Tuch, du Held,
Doch darf ich mit dir schlagen auf einem blutgen Feld."
Sie steigen von den Gaule», die Herrn vom Löwenbund,
Sie stürzen ans die Feinde, thun sich als Löwen kund.
Hei! wie der Löwe Ulrich so grimmig tobt und würgt!
Er will die Schuld bezahlen, er hat sein Wort verbürgt.
/ Wen trägt man aus dem Kampfe, dort auf den Eichenstumpf?
^ „Gott sei mir Sünder gnädig!" — er stöhnts, er röchelts dumpf.
O königliche Eiche, dich hat der Blitz zerspellt!
O Ulrich, tapfrer Ritter, dich hat das Schwert gefällt!
^ Da ruft der alte Recke, den Nichts erschüttern kann:
„Erschreckt nicht! der gefallen, ist wie ein andrer Mann.
Schlagt driiiU die Feinde fliehen!" er rufts mit Donnerlamt;
Wie rauschMsein Bart im Winde! hei, wie der Eber h-nt!
Die Städter Han vernommen das seltsam listge Wort.
„Wer flieht?" so fragen Alle, schon wankt es hier und dort.
Das Wort hat sie ergriffen gleich einem Zanberlied,
Der Graf und seine Ritter durchbrechen Glied auf Glied.
Was gleißt und glänzt da droben und zuckt wie Wettcrscheiu?
Das ist mit seinen Rettern der Wolf von Wunnenstein.
Er wirft sich auf die Städter, er sprengt sich weite Bucht,
Da ist der Sieg entschieden, der Feind in wilder Flucht.
/$' Im Erntemond geschah es, bei Gott, ein heißer Tag!
Was da der edeln Garben auf allen Feldern lag!
Wie auch so mancher Schnitter die Arme sinken läßt!
Wohl halten diese Ritter ein blutig Stchelfest.
■7'j Noch lange traf der Bauer, der hinterm Pfluge ging,
Auf rostge Degenklingen, Speereisen, Panzerring;
Und als man eine Linde zersägt und niederstreckt,
Zeigt sich darin ein Harnisch und ein Geripp versteckt.
¿f Als nun die Schlacht geschlagen und Steg geblasen war.
Da reicht der alte Ereiner dem Wolf die Rechte dar:
„Hab Dank, du tapfrer Degen, und reit mit mir nach Hans,
Daß wir uns gütlich pflegen nach diesem harten Strauß."
336
spricht der Wolf mit Lachen — „gefiel euch dieser Schwank?
Ich stritt aus Haß der Städte, und nicht um euren Dank.
Gut Nacht und Glück zur Reise! es steht im alten Recht."
Er sprichtS und jagt von dannen mit Ritter und mit Knecht.
Zu Döffingen im Dorfe, da hat der Graf die Nacht
Bei seines Ulrichs Leiche, des einz'gen Sohns, verbracht.
Er kniet zur Bahre nieder, verhüllet sein Gesicht,
Ob er vielleicht im Stillen geweint, man weiß es nicht.
/^Des Morgens mit dem Frühsten steigt Eberhard zu Roß,
Gen Stuttgart fährt er wieder mit seinem reis'geu Troß,
Da kommt des Wegs gelaufen der Zuffenhauser Hirt;
„Dem Mann ists trüb zu Muthe, was der uns bringen wird?"
„Ich bring euch böse Kunde: nächt ist in unsern Trieb
Der gleißend Wolf gefallen, er nahm so viel ihm lieb."
Da lacht der alte Greiner in seinen grauen Bart:
„Das Wölflein holl sich Kochfleisch, das ist des Wölsleins Art."
Sie reiten rüstig fürder, sie sehn aus grünem Thal
Das Schloß von Stuttgart ragen, es glänzt im Morgenstrahl;
Da kommt des Wegs geritten ein schmucker Edelknecht;
„Der Knab will mich bedünken, als ob er Gutes brächt."
^^„Jch bring euch frohe Mähre: Glück zum Urenkelein!
Antonia hat geboren ein Knäblein hold und fein."
Da hebt er hoch die"Hände, der ritterliche Greis:
„Der Fink hat wieder Samen, dem Herrn sei Dank und Preis!"
150. Die Trübsale der Vorzeit.
^/Schicket euch in die Zeit; denn es ist böse Zeit. Diese
Ermahnung des Apostels Paulus (Ephes. 5, 16.) ist zwar im Grunde
zu aller Zeit, so weit die Geschichte reicht, am Platz gewesen, und
die gute Zeit liegt nicht hinter uns, sondern vor uns; dennoch be-
gegnen uns in der Geschichte unseres Volkes Zeiten besonders schwerer
Heimsuchungen. Eine solche Zeit ungewöhnlicher Noth und Trübsal
ist fast das ganze vierzehnte Jahrhundert. Einige der schweren Lei-
den, unter denen unser württemberger Land theils besonders, theils
gemeinsam mit dem ganzen deutschen Vaterlande, ja mit ganz Europa
zu seufzen hatte, sollen hier angeführt werden; denn es ist gut,
wenn wir die Trübsale und Greuel der alten Zeiten -recht betrachten,
damit wir datz Gute, das doch auch unsere jetzigen Zeiten uns bieten,
desto mehr erkennen und dankbar schätzen lernen.
337
^ Vor allem fehlte es dem Lande am Frieden. Oesters waren
längere Streitigkeiten und Kriege um die deutsche Kaiserkrone, und
auch die kleineren Herren, die Fürsten, Grafen und Edelleute lagen
fast immer entweder mit einander selbst, oder mit den Reichsstädten
in Streit und Fehde. Als im Jahr 1389 viele schwäbische Städte
stch endlich mit dem Grafen Eberhard dem Greiner nach jahrelangen
blutigen Händeln in einen Vergleich einließen, da war das platte
Land in Schwaben unbeschreiblich verödet; viele Dörfer lagen in
Asche. Häuser und Güter waren geplündert, geraubt und verbrannt,
Weinberge ausgereutet, Kornfelder umgeackert und mit Senfkörnern
ausgesäet worden, um sie auf lange Zeit unbrauchbar zu machen.
Städte und Edelleute waren tief verschuldet, und zwar meistens an
die Juden, bei denen zehn Prozent ein sehr billiger Zins war, die
aber zugleich als so rechtlos betrachtet wurden, daß der Kaiser den
Edelleuten die Erlaubniß geben konnte, ihre Schulden an die Juden
/nicht zu bezahlen./— Hiezu kamen noch Landplagen, im Jahr
1327 eine Theurung, da man um einen Scheffel Dinkel ein Jauchert
Acker kaufen konnte, im Jahr 1337 zahllose Henschreckenschwärme, die
alles Grüne verzehrten. Auf sie folgten mehrere Ueberschwemmnngeu
und Erdbeben, von denen eines im Jahr 1348 in Süddeutschland
vierzig Tage lang währte, viele Häuser und Burgen (Löwenstein,
Wildenstein, Gutenberg u. s. w.) zerstörte und einer Menge Menschen
das Leben kostete. Aber dies war nur der Vorbote von einer noch
größeren Plage, die im folgenden Jahr über unser Vaterland herein-
brach. Es war der sogenannte schwarze Tod, eine pestartige
Krankheit, die von China herüber kam und in einer Zeit von fünf
Jahren alle damals bekannten Länder' durchzog und Millionen Men-
( scheu wegraffte. Die Krankheit begann mit heftigem Fieber und
Kopfschmerzen und ging in Zersetzung des Bluts und in allgemeinen
Brand über. Gewöhnlich starben die Kranken am dritten Tage, Leute
von kräftiger Leibesbeschaffenheit fielen oft plötzlich todt um. Kein
Alter, Geschlecht und Stand wurde verschont, ganze Familien starben
// aus, ganze Dörfer wurden verödet/ Aber statt sich unter dieses Straf-
' gericht Gottes zu demüthigen, mächten es die Menschen wie Offenb.
Joh. 16, 11. geschrieben steht: „Sie thaten nicht Buße für ihre
Werke." Jeder dachte nur an sich; Verwandtschaft und Freundschaft,
Ordnung und Sittlichkeit wurde nicht mehr geachtet, alles Mitleiden
war abgestumpft. Da Keiner seines Lebens auch nur auf acht Tage
sicher war, so sprachen die Thoren: Lastet uns essen und trinken,
Lesebuch: 22
33S
denn morgen sind wir todt (1 Kor. 15, 32.)* So betäubten sie sich
gegen alle ernsten Betrachtungen, und man hörte mitten unter dem
gellenden Angstgeschrei der Sterbenden die wilden Töne zügelloser
Lust. Auch die Geistlichen, die ohnehin an dieser tiefen Versunkenheit
des Volkes große Schuld hatten und freilich fast ebenso unwissend
waren, machten es nicht besser, und in den Klöstern hörte alle Zucht
und Ordnung auf. Anstatt die Sündenschnld bei sich selbst auszu-
suchen, warf man sie ans die Juden, die wegen ihres Reichthums ver-
haßt waren und auf denen schon längst der Fluch haftete, daß sie
von jedenl Unglücksbecher die Hefe austrinken mußten. Man warf
ihnen vor, sie hätten die Brunnen und Quellen vergiftet, und fiel mir
unmenschlicher Wuth über sie her. In Augsburg, Ulm, Constanz,
schwäbisch Hall u. a. O. wurden Tausende von Juden lebendig ver-
brannt, und ihre Häuser und Begräbnißplätze verwüstet. In Basel
wurden alle Juden in ein eigen dazu erbautes, hölzernes Behält-
niß gesperrt und mit diesem lebendig verbrannt. So ging es mit
2000 Juden in Straßburg. In Mainz kamen 12,000 um. In
Eßlingen verschlossen sich sämtliche Juden in die Synagoge und zün-
deten sie selber an. In andern Städten wurden sie wenigstens nackt
und bloß von Haus und Hof vertrieben. Der Kaiser mußte endlich
die strengsten Befehle erlassen, um dieses-Wuth zu steuern, und
mehrere Fürsten, worunter auch die Grafen von Württemberg, er-
griffen gemeinschaftliche Maßregeln, um der Verfolgung ein Ende zu
machen.
) Aber auch diejenigen, welche das Strafgericht Gottes zu tiefe-
rem Ernst und zur Erkenntniß ihrer Sündhaftigkeit und Verschuldung
führte, wußten den rechten Weg nicht zu finden, um von Schuld uub
Strafe los zu werden, weil es eben damals allenthalben an der
evangelischen Einsicht in das Geheimniß der freien Gnade Gottes in
Christo mangelte, und die trostreiche Lehre von der Versöhnung der
Menschen durch Christum mit einer Menge thörichter Menschensatzuu-
gen zugedeckt war. Die armen Leute glaubten den Zorn Gottes durch
selbst ersonnene Büßungen versöhnen zu müssen. Schon hundert -
Jahre vorher, als eine Reihe unfruchtbarer Jahrgänge große Theu-
ruug und Noth über die Völker brachte, waren in Italien die Ge-
sellschaften der Geißelbrüder entstanden, die sich dann schnell über
Deutschland bis nach Polen und England verbreiteten. Diese Geiß-
ler erhoben sich nun in Folge der furchtbaren Pest aufs neue, und
ihre Zahl nahm bald erstaunlich zu. Sie zogen paarweise in schwär-
zer Kleidung, mit rochen Kreuzen bezeichnet, umher und trugen ln
der einen Hand ein Kreuz, in der andern eine Geißel mit eisernen
Spitzen. In Dörfern und Städten wurden sie mit Glockengeläute
empfangen, zogen in die Kirche und beteten. Z. B. in Straßburg,
wohin sie im Jahr 1349 kamen, fielen sie nach ihrem Eintritt in die
Kirche kreuzweis auf die Erde nieder. Nach einer Weile hob ihr
Vorsänger an und sang:
„Nu hebent uf uvere Hende (nun hebet auf eure Hände)
Daß Gott diß große Sterben wende,
Nu hebent uf uvere Arme,
Daß sich Gott ober vns erbarme."
Dann standen sie aus, und so thaten sie drei Stunden lang.
Das Geißeln aber wurde auf freiem Felde verrichtet.
^ Mit der Kirche Christi sah es damals ganz betrübt aus. Die
Frömmigkeit bestand in der Regel in äußerlichen Dingen; Erkenntniß
war keine da, denn es gab für das Volk keine Schulen, keine Bücher,
und namentlich keine Bibeln. Um das Geld, das damals eine sau-
ber geschriebene Bibel kostete, kaufte man zu Merhard des Greiners
Zeit ein halbes Dorf. Die Herrschaft des Pustes und der Geistli-
chen drückte hart auf das Volk, und die blutigen Kämpfe, welche
durch die Herrschsucht des römischen Mastes angeregt wurden, ziehen
sich besonders seit dem Jahre 1077 durch mehrere Jahrhunderte hin.
Y Indeß regte sich auch schon um jene Zeit bald leiser bald lauter
das Verlangen nach dem Besseren und das Streben, dasselbe herbei-
zuführen. Besonders waren es die Weber, Schuhmacher und Kürsch-
. ner in Ulm und andern Städten, welche unter sich Vereine bildeten,
und aus der Bibel, die als ein kostbares Buch von Hand zu Hand
ging, die reinere Lehre der Wahrheit schöpften. Sie nannten sich
Gottes freunde, und ihre Verbindungen gingen durch die Städte
an der Donau, am Rhein und durch einen großen Theil von Schwaben
hindurch. Das Beste davon ist aber natürlich nicht bekannt worden;
denn sie gehörten zu den Stillen im Lande. Diese Gottesfreunde
haben im Einzelnen und im Stillen der Reformation vielfach vorge-
arbeitet und in ihrer Weise die Ermahnung des Herrn befolgt: „Was
du hast, das halte, bis daß ich komme!" (Offenb. 2, 25. 3, 11.)
340
151. Sinnsprnche.
s/yii&)t gethan ist viel gethan.
'Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Gefundenes verhohlen ist so gut wie gestohlen.
A'dm faules Ei verdirbt den ganzen Brei.
f Scham hindert Schande.
HVor seiner Thür kehr Jeder fein, so wirds in der ganzen
Stadt rein.
/ Wer im Leben keinen Richter hat, dem zahlt der Tod seine
Missethat.
'"Junger Spieler, alter Bettler.
/Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn;
Der Knecht wär selber der Ritter gern.
. Er hat ihn erstochen im dunklen Hain,
Den Leib versenket im tiefen Rhein;
J Hat angeleget die Rüstung blank,
^ Auf des Herren Roß sich geschwungen frank.
/ Und als er sprengen will über die Brück,
Da stutzet das Roß und bäumt sich zurück.
Und als er die güldnen Sporen ihm gab.
Da schlenderts ihn wild in den Strom hinab.
( SOZit Arm, mit Fuß er rudert und ringt,
Der schwere Panzer ihn niederzwinat.
, Dieser Mann leuchtet unter den vielen Zeugen der evangelischen Wabr-
cheit vor der Reformation besonders hervor durch die Treue in seinem Bekennt-
niß und durch die ruhige Standhaftigkeit, mit der er in der erkannten Wahrheit
den Weisen, Edlen und Gewaltigen dieser Welt gegenüber (1 Kor. 1,. 2 6 re.)
152. Wie Bache.
Rom. 12, Iss.
153. Johannes SnA^
(f 1415.)
341
bis in den Tod verharrte. Er war geboren am 6. IM 1373 in dem böhmi-
schen Orte Hussinecz nnd stammte von armen, aber ehrlichen Leuten her. Mit
großem Fleiß studirte er auf der Hochschule zu Prag und wurde schon in seinem
zwanzigsten Jahre auch Lehrer an derselben. Durch Gottes Gnade lernte er
bald Wahrheit und Irrthum unterscheiden. Er las fleißig in der Bibel und
kam durch eigene Erfahrung mehr und mehr zu einer hellen Erkenntniß ihres
Inhalts und ihrer seligmachenden Kraft. „Auch ich", so schreibt er selbst,
„war einst in den süßen Schlummer weltlicher Sicherheit versunken, bis es dem
Herrn Jesu gefiel, mich elenden Knecht meiner Begierden, wie einst den Lot
mitten aus dem Feuer Sodoms, zu retten und mich einzuführen in die Woh-
nung der Leiden, der Schmach und der Verachtung. Da erst wurde ich arm
und zerknirscht, und mit Furcht und Zittern das Wort Gottes betrachtend, fing
ich an, die darin liegenden Schatze der Weisheit zu bewundern. Ich betete zu
Gott, dem Vater meines Herrn Jesu Christi, indem ich die Bibel zu ihm empor-
hob: überlaß mich nicht den Gedanken und Rathschlägen der Bösen; gib mir
nicht das, was meinen Augen wpHlffefällt."
Zm Jahr 1402 wurde Hüß^ Prediger zu Prag, wo er in einer hiezu er-
bauten Kapelle das Evangelium in der böhmischen Sprache verkündigte. Einer
seiner Feinde sagt von ihm: „sein ernstes Leben, gegen welches Niemand eine
Klage vorbringen konnte, sein trauriges, blasses Gesicht, seine Freundlichkeit
gegen Jedermann predigten gewaltiger, als alle Beredsamkeit seiner Zunge."
— Um diese Zeit kamen ihm auch die Schriften des Johann Wiklef in die
Hände, der bis zum Jahr 1384 die Verderbnisse der römischen Kirche in Eng-
land angegriffen und das Volk auf daö Wort Gottes hingewiesen hatte. Hie-
durch wurde er noch mehr angefeuert, muthig gegen alle Irrthümer seiner Zeit
mit der Wahrheit des Evangeliums aufzutreten. Bald aber erhob sich eine
heftige Verfolgung gegen ihn. Er sollte widerrufen, was er gelehrt hatte. Er
aber sprach: „ich will die in der heiligen Schrift geoffenbarte Wahrheit Pis
zum Tod vertheidigen, indem ich weiß, daß die Wahrheit ewig bleibt und siegen
wird; und wenn ich Gnade gefunden in Gottes Augen, so wird er den Mär-
tyrerkranz mir verleihen." Der Pabst that ihn endlich in den Bann, und da
zu der Zeit (im Jahr 1414) die große Kirchenversammlung zu Konstanz am
Bodensee war, wo gegen 18,000 Geistliche und 100,000 weltliche Personen
sich um den Kaiser und um den Pabst gesammelt hatten, so sollte Huß daselbst
erscheinen. Im Namen des Herrn ging er dahin. An seine Gemeinde schrieb
er: „Was verlieren wir, wenn wir um Christi willen irdisches Gut, Freunde,
Ehre der Welt und das elende Leben verlieren? Wer für Christum stirbt,
der siegt! Ich vertraue auf Gott, meinen allmächtigen Erlöser, er wird mir
Kraft verleihen, Kerker und martervollen Tod zn verachten."
In Constanz wurde er bald, da er sich den Forderungen des Pabstes nicht
unterwerfen konnte, in ein feuchtes und stinkendes Gewölbe geworfen, worin er
lange schmachtete und bald sehr krank wurde. Unter Leiden aller Art schrieb
er an seine Freunde: „Jetzt erst lerne ich den Psalter recht verstehen, recht beten
und über die Leiden Christi und der Märtyrer nachdenken."
Als der Kaiser Sigismund auf der Kirchenversammlung erschienen war,
wurde Huß vor dieselbe geführt. Da waren vier und dreißig Cardinäle, zwanzig
Erzbischöfe, hundert und sechzig Bischöfe, zweihundert und fünfzig Prälaten
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oder Vorsteher von Klöstern, vier Kurfürsten, zwanzig Herzoge, achtzig Grafen
und Andere mehr, die aus allen Theilen von Europa zusammengekommen waren,
um dem offenkundigen Verderben zu steuern und die christliche Kirche an Haupt
und Gliedern zu bessern. Vor dieser äußerlich zwar glänzenden, aber innerlich
finstern Versammlung, als einem geistlichen Gericht über ihn, sollte Huß seine
bisherige Lehre widerrufen. Da er aber dies Gewiffens halber nicht thun konnte,
so kehrte er mit seinenKetten in den Kerker zurück und erwartete nun nichts an-
deres als baldigen Tod. „Ein großer Trost" , so schreibt er aus seinem Ge-
fängniß, „ist jenes Wort unseres Heilandes: selig seid ihr, so euch die Men-
schen hassen, und euch absondern und verwerfen euren Namen als einen bos-
hastigen um des Menschensohnes willen." (Luc. 6, 22.). Am 5. Juli 1415
verlangte der Kaiser von ihm die letzte Erklärung. Huß antwortete unter
Thränen: „Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß ich von Herzen bereit bin, wenn
ich aus Zeugnissen der heiligen Schrift eines Bessern belehrt werde, sogleich
meine Meinung zu ändern."
Den folgenden Tag frühe (es war Hüffens drei und vierzigster Geburts-
tag) versammelte sich der ganze Kirchenrath in der Domkirche. Der Kaiser
erschien mit den Reichssürsten und der ganzen Ritterschaft und setzte sich auf
seinen Thron unter einer goldenen Krone; an der einen Seite stand der Kur-
fürst von der Pfalz mit dem goldenen Reichsapfel, und an der andern Burggraf
Friedrich von Nürnberg mit dem Neichsschwert; vor ihm saßen die Cardinäle,
Erzbischöfe, Bischöfe, Prälaten, Mönche, Doktoren re. Eine unzählige Menge
Volks erfüllte den übrigen Raum der Kirche. Nach vollendeter Meffe wurde
Huß vor diese große Kirchenversammlung geführt. Man stellte ihn auf einen
^elw^ erhabenen Ort, damit er von Jedermann könnte gesehen werden. Darauf
" stieg der Bischof von Lodi (in Italien) auf die Kanzel und hielt eine latei-
nische Rede über Nöm. 6, 6., und forderte darin zugleich den Kaiser auf, die
Ketzereien zu zerstören und sonderlich den hier stehenden verstockten Ketzer. Huß
lag indeß auf seinen Knieen und befahl sich Gott zum Sterben. Daraus wur-
den von einem andern Bischof die aus Hüffens Schriften ausgezogenen soge-
nannten Ketzersätze vorgelesen. Huß wollte antworten; der Cardinal Emmerich
hieß ihn aber schweigen. Huß wollte wieder reden; aber man gebot den
Schergen und Soldaten, ihn nicht reden zu lasten. Da hob er seine beiden
Hände gen Himmel und sagte: „Ich bitte euch um des allmächtigen Gottes
willen, ihr wollet doch unbeschwert meine Antwort anhören, daß ich mich doch
nur bei denen, die umher stehen, entschuldigen und ihnen den Argwohn wegen
meiner vermeinten Irrthümer benehmen möge." Und als es ihm abgeschlagen
jj wurde, fiel er mit gen Himmel gerichteten Augen und Händen auf die Erde
nieder.
' Darnach-las ein Bischof den endlichen Beschluß ab: „Daß erstlich Hüffens
Schriften sollten verbrannt, und er als ein öffentlicher, schädlicher Ketzer und
böser, halsstarriger Mensch seines priesterlichen Standes schmählich sollte ent-
setzt und gänzlich entweiht, d. h. der geistlichen Weihe beraubt werden." Der
, Ausspruch wurde sogleich vollzogen.
Der Bischof von Mailand mit sechs andern Bischöfen führte Huß zu einem
‘ Tisch, darauf Meßgewand und andere priesterliche Kleider lagen, und kleidete
ihn an. Als dies geschehen war, und er in vollem priesterlichem Schmuck und
343
mit dem Kelch in der Hand dastund, vermahnten ihn die Bischöfe noch einmal,
er solle nicht halsstarrig bleiben, sein Leben und Ehre bedenken und von seiner
Meinung abstehen. Huß sprach darauf vom Gerüst herab zum Volk mit großer
Bewegung:
„Diese Herren Bischöfe ermahnen mich, ick solle vor euch allen bekennen,
daß ich geirrt habe. Wenn es nun eine solche Sache wäre, daß ste mit eines
Menschen Schmach geschehen könnte, möchten ste mich leicht bereden. Nun
aber stehe ich vor dem Angesicht meines Gottes, daß ich ihnen nicht willfahren
kann, ich wollte denn mein eigen Gewissen verletzen und meinen Herrn im
Himmel schmähen und lästern. Sollte ich die, die ich unterwiesen und gelehrt
habe, jetzo durch ein böses Erempel betrüben und irre machen? Ich wills
nicht thun!"
„Sreig herab vom Gerüst", riefen nun die Bischöfe; und als er herab-
geftiegen war, fingen sie an, ihn zu entweihen. Der Bischof von Mailand
und der von Bisont (Besanxon) traten herzu und nahmen ihm den Kelch mit
den Worten ab: „O du verdammter Judas, da nehmen wir den Kelch von dir,
in welchem das Blut Jesu Christi zur Erlösung geopfert wird; du bist sein
nicht werth." Huß antwortete getrost und laut dagegen: „Ich aber habe meine
Hoffnung und Vertrauen gesetzt auf Gott, den allmächtigen Vater, und meinen
Herrn und Heiland Jesum Christum, um welches Namens willen ich diese
Schmach leide, und glaube gewiß und beständig, daß er den Kelch des Hells
nimmermehr mir abnehmen werde, sondern daß ich denselben mit seiner Hülse
noch heute in seinem Reich trinken werde." Hierauf traten die andern Bischöfe
herzu und nahmen jeder ein besonderes Stück der priesterlichen Kleidung mit
obigem Fluch. Als ste mit den Kleidern fertig waren, sollte ihm die Krone
oder die geschorene Platte auf dem Haupte zerstört werden; es entstand aber
\ ein Streit, ob mit einem Messer oder einer Schere. Huß sah dabei den Kaiser
I an und sagte: „Es ist doch sonderbar, hart und grausam sind sie alle; aber
j über die Art und Weise sind sie nichte in ig.jf Endlich, und als er völlig ent-
^Tvelhet war, setzte man ihm eine sastellenhohe Papierkrone auf mit gemalten
Teufeln und der Unterschrift: „Erzketzer". Und nun wandten sich die
Bischöfe an den Kaiser und sagten: „Die heilige Kirchenversammlung
zu Eonstanz überantwortet jetzo Johann Hüffen, der in der Kirche
Gottes kein Amt noch Verwaltung mehr hat, der weltlichen Gewalt und
Gericht."
ß Der Kaiser stand auf, und nahm den ihm übergebenen Huß und sprach
^zum Pfalzgrafen Ludwig: „Dieweil wir, lieber Oheim und Fürst, das welr-
liche Schwert führen, die Uebel zu strafen, so nehmt hin diesen Huß und laßt
ihm in unserem Namen thun, was einem Ketzer gebühret." Dieser legte seiner
fürstlichen Schmuck ab, nahm Huß und führte ihn dem Vogt von Constanz zu
und sprach zu ihm: „Auf unsers gnädigsten Herrn, des römischen Kaisers
Urtheil und unsern sonderlichen Befehl nehmet diesen Magister Huß hin und
verbrennet ihn als einen Ketzer." Der Vogt übergab ihir einem Nachrichter
und seinen Knechten und befahl ausdrücklich: daß ste ihm seine Kleider nicht
ausziehen, noch ihm Gürtel, Geld, Messer oder was er bei sich trüge, abnehmen,
sondern ihn samt Allem, was er an sich habe, verbrennen sollten, lind so
ward er hingeführt.
344
J? Als er auf dem Richtplatz ankam, kniete er nieder und betete. Von solchem
Gebet ließ ihn der Pfalzgraf durch dieHenker aufnehmen und dreimal um den Holz-
stoß herumführen. Er nahm darauf von seinen Hütern Abschied; und nun griffen
die Henker zu und banden ihn an einen Pfahl mit fünf Stricken, über den
Füßen, unter den Knieen, über den Knieen, mitten um den Leib und unter den
Armen, und mit einer Kette um den Hals. Hiebei fiel ihm die Papierkrone
ab auf die Erde, und er sah hin nach ihr und lächelte. Der Henker setzte sie
ihm aber bald wieder auf und legte rund um ihn, bis an seinen Mund, Reisach
und Stroh. Eine Frau soll dabei auch freiwillig mitgeholfen haben, wie um
damit ein gutes Werk zu thun. Darüber rief Huß mitleidig lächelnd mit den
Worten des heiligen Hieronymus aus: „O heilige Einfalt!"— Ehe das Feuer
angezündet ward, ritt der Pfalzgraf Ludwig und der Reichsmarschall von Pap-
penheim noch einmal an ihn heran und ermahneten ihn: er wolle noch jetzo
sein Heil bedenken und seine Irrthümer widerrufen. Da fing Huß mit lauter
Stimme aus dem Holzhaufen an: „Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß ich das,
was sie mir durch falsche Zeugen aufgebürdet, nicht gelehrt oder geschrieben
habe, sondern ich habe alle meine Predigten, Lehren und Schriften dahin ge-
richtet, daß ich die Menschen möchte von Sünden abwenden und zu Gott in
sein Reich führen. Die Wahrheiten, die ich gelehrt, gepredigt, geschrieben und
ausgebreitet habe, als die mit Gottes Wort übereinkommen, will ich halten und
mit meinem Tod versiegeln."
Sie schlugen daraus ln die Hände und ritten davon. Als der Henker
das Feuer anzündete, sang Huß eilt Stück aus dem nicänischen Glaubens-
bekenntniß (ich glaribe an einen Gott, Vater rc.), und da die Lohe gegen ihn
schlug, betete er laut: „Christe, du Lamm Gottes, erbarme dich mein!" und
noch einmal: „Christe, du Lamm Gottes, erbarme dich mein!" Und als er
zum drittenmal anfangen wollte, trieb der Wind den Rauch und die Flamme
ihm gerade ins Gesicht und nahm ihm die Sprache. Er bewegte noch die
Lippen und den Kopf einige Minuten und — war todt.
Die Asche dieses treuen Bekenners wurde in den unweit vorsteifließenden
Rhein geworfen, damit auch kein Stäubchen von ihm übrig bleiben möchte.
Alles, was Luther bei einer ähnlichen Gelegenheit hundert und zehn Jahre
später gesungen hat, das gilt auch hier:
Die Asche will nicht lassen ab,
Sie stäubt in allen Landen;
Hier hilft kein Bach, Loch, Grub noch Grab,
Sie macht den Feind zu Schanden.
Die er im Leben durch den Mord
Zu schweigen hat gedrungen,
Die muß er todt an allein Ort
Mtt aller Stimm und Ztingen
Gar fröhlich lassen singen.
345
154. Ins Pulver.
Daß unser schwarzes Schießpulver aus Salpeter, Schwefel und Kohlen--
staub bestehe, weiß jetzt fast jedes Kind; wer aber zuerst die Massen also ge-
mischt, oder mit andern Worten, wer das Pulver erfunden habe, weiß
Niemand. Schon vor 1600 Jahren brannten die Chinesen in Asien allerlei
schöne Feuerwerke damit ab, und vor 700 Jahren schon sprengten die Deut-
schen^ in den Silberbergwerken des Rammelsberges bei Goslar am Harz das
Gestein mit Hülse des Pulvers; aber noch ward es nicht gebraucht, um Men-
schenleben zu rauben. Wer zuerst das Pulver im Kriege anwandte, ist
eigentlich ebensowenig bekannt, als wer es erfunden. Gewöhnlich zwar nennt
man als den Erfinder der Pulvergeschütze Berthold Schwarz. Dieser lebte
im 14. Jahrhundert als Mönch in einem Kloster zu Frciburg in Baden. In
der Einsamkeit und Stille seiner Zelle grübelte er über viele Dinge, dachte,
wie viele Leute seiner Zeit, vielleicht auch darüber nach, ob er nicht den Stein
der Weisen, d. h. die Kunst erfinden könne, aus Steinen u. dergl. Gold zu
machen. Das war nun freilich nicht gescheidt, und viele Weise jener Zeit find
über diesem Suchen zu Thoren geworden. Er mischte nun und mischte immer
zu, Vieles und Vielerlei; aber immer wollte eben nicht kommen, was er
suchte. Einmal zerstieß er auch Schwefel, Salpeter und Holzkohlen im
eisernen Mörser zu seinem Staub und deckte den Mörser mit einem Steine zu.
• Indeß hatte sich der Tag geneigt, und der Mönch wollte sich ein Licht an-
schlagen, um besser sehen zu können. Er war noch eben au der Arbeit, da
mit einemmal blitzte und kitallte es ihm um die Ohren, und der Stein vom
Mörser fuhr prasselnd an die Decke hinauf; — denn ein Funken war in den
Mörser gefallen. Was Berthold hier mit Schrecken bemerkte, theilte er
Andern mit. Man dachte weiter darüber nach und fing nach und nach an,
solche Mörser mit in den Krieg zu nehmen nnd daraus erst Steine, später-
eiserne Kugeln gegen die Feinde zu schießen. Kurz, es wurden hernach die
sahkbaren Kanonen und die tragbaren Gewehre erfunden, und Berthold
Schwarz, der Mann im Friedenshause, wird als der erste Urheber der vor-
* nehplsten Werkzeuge im Krieg genannt.
, ' Freilich war das Feuergewehr im Anfang noch lange nicht so voll-
kommen tvie jetzt. Zum Losschießen einer Fliitte, damals Hakenbüchse ge-
nannt, waren zwei Mann nöthig, einer, um eine Gabel unterzustellen, der
andere, um zu zielen und zu zünden. Etwas brennenden Schwamm oder
eine Lunte hielt man an das Pulver; erst im sechzehnten Jahrhundert erfand
man das Fetierschloß.
Napoleon ließ Mörser gießen, aus welchen Kugeln von 600 Pfund
U mittelst einer Ladung von 45 Pfund Pulver geschossen wurden. Als er,
" um sie einzuweihen, den ersten dieser Mörser selbst losbrannte, sprang ihm
das Blut aus Ohren und Mund, und zwei Tage lang blieb er taub. Die
Kugel ging eine Stunde weit.
Wie schrecklich auch diese Gewalt des Feuergewehrs ist, so sind doch durch
sie die Kriege weniger blutig geworden. In früheren Zeiten kämpfte Mann
gegen Mann, und war die Erbitterung groß, so konnte eine Schlacht zmveilen
mit der gänzlichen Vernichtung einer Partei endigen, und die Zahl der Todten
346
überstieg zuweilen 100,000. Jetzt hängt die Entscheidung der Schlachten
^mehr von dem überlegenen Talent des Feldherrn, von der Anordnung des
Angriffs und der Vertheilung der Heermassen ab, und im Ganzen wird jetzt
das Menschenleben viel mehr geschont.
155. Die AuchdruckerKunst.
Wer vor 500 und mehr Jahren gern ein Buch haben wollte, mußte es
sich, wenn ers nicht kaufen konnte, selbst abschreiben, oder von den Mönchen
abschreiben lasten, und das kostete natürlich viel Geld.
Im Ja^^l274 war der Preis einer schön geschriebenen Bibel mit Aus-
legung -cHrt*sfr, und eine ganz gewöhnliche Abschrift des Psalters mit An-
merknngen kostete vor dem Jahr 1300 nach unserem Geld wenigstens 9L^-st.
Damals waren dies- Mgeheure Summen; denn es erhielt ein Taglöhner
täglich nur Täglohn, so daß er um eine solche Bibel hätte fünfzehn
Jahre arbeiten müsten, während-.««s^Vtzt- dreißig--bis - vierzig Kreuzer ver-
dienen kann, je nachdem -das Geschafv istT'wmd nne-BiL^wenn er ganz arm
ist, unentgeltlich, oder nm ^er^mnd-.^wEzig-chM^drLißig Kre«^er erchält, also
nicht immerxinen TagUchw-dazw^örMch^
Der römische Kaiser Eonstantin (um 325 n. Chr.) ließ einmal 20 Bibeln
auf seine Kosten abschreiben und beschenkte damit 20 christliche Gemeinden.
Das war damals ein wahrhaft kaiserliches Geschenk. In früheren Zeiten
hatten daher nur ganz reiche Leute Bücher; arme konnten sich keine kaufen,
konnten auch selten lesen. Um das Jahr 1420 kam man aber darauf, die
Buchstaben einer Seite im Buch verkehrt auf ein Brett zu schneiden, anzu-
schwärzen und abzudrucken. Das ging gut. Mit einem solchen Brett voller
Buchstabenformen konnte man schnell viele tausend Seiten derselben Art
drucken, und die Bücher wurden nun schon ein gut Theil wohlfeiler. Beson-
ders druckte Lorenz Coster zu Hartem in Holland viele Bücher auf diese Weise,
und darum behaupten auch die Holländer, sie seien die Erfinder der Buch-
druckerkunst. Dastelbe sagen aber auch die Deutschen, mit welchem Rechte,
<chas wird sich gleich zeigem/ Kurz nach Coster, im fünfzehnten Jahrhundert,
lebte in der Stadt Main^dazwischenhtnein auch in Straßburg, ein Edelmann,
Johann Gensfleisch von Sorgen loch zum guten Berg, kurzweg
Gutenberg genannt. Der schnitt die Buchstaben nicht auf einem Brette
aus, sondern aus Köpfen von hölzernen, darauf von bleiernen Stäben, band
diese Stäbchen zusammen, druckte sie ab und konnte sie nun nach dem Ge-
brauche wieder aufbinden und zu andern Wörtern zusammensetzen. Mit dieser
Anwendung beweglicher Lettern (Buchstaben) war der wichtigste Theil der
folgenreichen Erfindung vorhanden. Als Schwärze gebrauchte Gutenberg
Dinte und Lampenruß. Er wünschte seine Erfindung gerne ins Große zu
treiben; darum verband er sich, da er selbst arnl war, mit dem reichen Gold-
schmid Johann Fust oder Faust in Mainz, und das Unternehmen gelang
vollkommen. Später entzweiten sich die beiden Männer, und der eigennützige
Fust zog einen geschickten Gießer von Gernsheim, Namens Peter Schöffen,
der schon vorher Gehülfe bei ihm war, in das Geschäft. Dieser Schösser
bereitete eine tauglichere Metallmischung aus Blei und Zinn für die Lettern,
347
und eine bessere und dauerhaftere Druckerschwärze. Besonders aber erfand er-
den Guß der Lettern. Durch ihn wurde Gutenbergs Erfindung weiter ge-
führt und vollendet. Das erste größere Werk, das aus Gutenbergs Druckerei
hervorging, war eins, lateinische Bibel in drei Bänden, wahrscheinlich im Jahr
1456 vollendet.^Mn Psalter, den die Bibliothek zu Stuttgart besitzt, ist im
Jahr 1457 gedruckt, und zwar ausgezeichnet sALu^ Faust^jst^'-ann im
Lande umher und verkaufte seine Bibeln, das Stück um chnnvert und
alle Welt erstaunte über den unerhört billigen Preis. Die Mönche aber, die
nun Nichts mehr mit Abschreiben verdienten, erstaunten am meisten, und
wußten sich am Ende vor Grimm nicht anders zu helfen, als daß sie zum
Volke sagten: „Faust stehe mit dem Teufel im Bunde, und die rothen Buch-
staben auf den Titelblättern seien mit Menschcnblut gefärbt!" Doch laßt die
Mönche reden! Wir wollen unserem Gott herzlich danken „für das höchste
und letzte Geschenk" (wie Luther sich ausdrückt), „durch welches Gott die Sache
des Evangelii forttreibt", und das Wort, das uns unterweisen kann zur Selig-
keit, auch in die Hütten der Armen bringt. Gutenberg, der Erfinder, mußte
später seine Druckerei aus Noth verkaufen, und starb arm, nachdem er die Welt
bereichert, im Jahr 1467.
In der neueren Zeit sind in dieser Kunst, welche so wichtig für die
Bildung der Völker geworden ist, wesentliche Verbesserungen angebracht
worden.^,Man. .hat Druckerpressen, die mit Hülfe der Dampfkraft in einer
Stunde/M^O Bogen drucken. Ja in Nordamerika soll im Jahr 1853 eine
Schnellpresse erfunden worden sein, welche in einer Stunde 30,000 Zeitungs-
blätter liefert.
./Die Landeseinwohner zerfielen in die vier Klassen: Geistlichkeit, Adel, Bürger
und Bauern. Die eigentlichen Bauern, mit eigenem (Stund und Boden, hatten z. B-
über Mangel an Rechtsschutz zu klagen; aber sie erlangten zweierlei, was in manchen
-andern Ländern den Bauern erst später oder gar nicht zu Theil wurde: das Recht,
die großen Höfe zu. theilen, und Antheil an den landständischcn Berathungen. Die
Leibeigenen, d. h. solche Bauern, die nicht eigenen Grund und Boden besaßen, ge-
hörten mit Leib und Gut ihrem Herrn und mußten mancherlei Frondienste leisten
und Abgaben aller Art bezahlen. Ihr Herr durste sie verschenken, vertauschen und
t gering war im Lande die Zahl der Juden. Durch ihre Betriebsamkeit
wurden sie reich. Aber zuweilen geschah eö, daß ein Kaiser einem Landcsherrn
den Gefallen that und ihn von allen Jndenschulden freisprach. Das Volk schrieb
allerlei Unglück, wie Mißwachs, Hagel, Brand, den Inden zu und mißhandelte sie
aufs härteste. Sie wohnten in den Städten gemeiniglich abgesondert; daher rührt
noch an manchen Orten der Name Jndengasse.
^ An der Spitze der Verwaltung des Landes stand die sogenannte Kanzlei. Das
oberste Gericht war ursprünglich das Landgericht zu Cannstatt, das unter freiem
Himmel gchalten wurde. Mehr nach Herkommen und Gewohnheit als nach einem
156. Württemberg unter den Grafen.
Vom dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert.
348
geschriebenen Gesetz wurde Recht gesprochen, und das römische Recht und die gelehrten
Richter, die am Ende dieses Zeitraums aufkamen, wurden mit Widerwillen aufgenommen.
Das Land war in Aemter getheilt; in dem Hauptorre des Amtes wohnte der Vogt;
der Vorsteher der Dorfgemeinde war der Schultheiß; an vielen Orten durfte auch
der Buttel eine kleine Strafe ansetzen. Die „Landschreiberei" und die „Keller" hatten
die Einkünfte des Landes einzuziehen und zu verrechnen. Gab es einen Krieg, so
zogen die Ritter mit ihren Mannen, die Vögte mit ihren Bürgern aus; stehende
Heere gab es nicht.
^-"Die Zahl der Kirchen und der Geistlichen, besonders aber die der Klöster und
anderer frommer Stiftungen wurde immer größer. Die Geistlichkeit war größtentheils
unwissend und unwürdig, viele Klöster zuchtlos.
4 3in geselligen Leben herrschte viel Munterkeit und Frohsinn. Aufwand in Klei-
dung, in Hochzeitgeschenken u. s. w., Ausgelassenheit und Unsittlichkeit, Trinksncht
und Spielsuchl veranlaßten manche Klage. Zu den damaligen Gewohnheiten ge-
hörte auch die, warm zu baden, und in jedem bedeutenderen Orte war eine Bad-
und Schwitzstnbe, was um so wohlthätiger war, als man damals wollene Hem-
dew zu tragen pflegte.
¡sy In diesem ganzen Zeitraum gab es noch keine Volksschule; bloß in Klöstern
wurde einiger Iugendunterricht ertheilt. Noch zur Zeit Gras Eberhards im Barr
konnten die meisten Richter in Stuttgart weder lesen noch schreiben. Erst die Reformation
förderte den Volksnnterricht; die erste deutsche Schule zu Stuttgart wurde 1535 er-
richtet, d. h. unmittelbar nach der Einführung der Reformation in unserem Lande.
/y Die Wissenschaften wurden nur in den Klöstern gepflegt; aber die Dichtkunst
erfreute Jedermann, Hoch und Niedrig, und an Sonn- und Festtagen hielten, zumal
in der Stadt Ulm, Meister und Gesellen „Singschulen" in den Kirchen und
stellten dabei dichterische Wettkämpfe an. Auch andere Künste, wie Malerei, Bild-
schni^erei und Baukunst, blieben nicht zurück. ¿fjläifTn Schaffner, Daniel Schühlein
/und Bartholomäus Zeitblom von Ulm und Hans Baldung von Gmünd waren aus-
js gezeichnete Maler, Hans Wild von Ulm ein angesehener Glasmaler, Georg Syrlin,
^ Vater und Sohn, von Söflingen, waren treffliche Bildhauer, die Böblinger in Eß-
lingen berühmte Baumeister. Die Hochaltäre zu Blaubeuren und Creglingen, die
kunstreichen Sakramenthäuschen und die Bildschnitzwerke über den Thürmen mancher
ÌKirchen, die Altar- und Wandgemälde und die prächtigen Glasfenster in denselben
a ebenen och heute Zeugniß von der Kunstfertigkeit jener Jahrhunderte,^n§Ibvt^dcr
Geschicklichkeit der Lankünstler reden noch die Kirchen zu Reutlingen, HEHeilbronn,
die Klöster und Klosterkirchen zu Maulbronn, Herrcnalb, Alpirsbach, Bebeuhauicn
und andern Orten, namentlich aber die Münsterkirche zu Ulm und die Frauenkirche
zu Eßlingen.
^Aewcrbe und Handel wurden von verschiedenen Innungen oder Zünften, beson-
ders in den freien Reichsstädten, lebhaft betrieben; so die Weberei in Linnen, Wolle
und Baumwolle zu Ulm, Liberach und Ravensburg. Für Landwirthschafl, besonders
für Weinbau und Obstzucht, geschah viel von den aus. Da^ Geld war
viel seltener, als jetzt. Im Jahr 1282 kostete ein/iMMZKernrn vier Md-Hwanzig' yfi
Kreuzer, ein Scheffel Roggen sechzehn Kreuzer. Im Jahr 1426 galt ein Scheffel
Dinkel nur fünf Kreuzer und ein Eimer Wein dreizehn Kreuzer, und selbst in der
theuren Zeit 1457 kam ein Scheffel Dinkel nicht höher als drei und fünfzig Kreuzer.
Auch das Holz stand im Preise sehr nieder. Zu Anfang des vierzehnten Jahr-
349
Hunderts konnte ein Neutlinger Bürger für zehn Schillinge, d. h. für etwa vier und
zwanzig Kreuzer, im Schönbuch so viel Zimmerholz nehmen, als er zu einem ganzen
Hanse brauchte; für eine Eiche zahlte er sechs Heller, für eine Buche vier. Das ist gut,
wenn Alles so wohlfeil ist, aber mehr für den, ders kauft, als für den, ders verkauft;
und wenn der Preis von Allem nieder ist, so ist es auch der Preis der Arbeit, d. h.
der Lohn. Mit dem Ende dieses Zeitraumes wurde es aber auch hierin anders. Ame-
rika wurde entdeckt und von dort brachte man Jahr für Jahr, und das Jahrhunderte
hindurch, Gold und Silber nach Europa, und je mehr man brachte, Ami so wohlfeiler
wurde das Geld und um so theurer die Waare.
1.57. Herzoge Eberhard der ältere oder Eberhard im Dort
(geb. 1445. ch 1496.)
Im Jahr 1495 hatte der deutsche Kaiser einen sogenannten ewigen
Landfrieden zu Stande gebracht. Graf Eberhard von Württemberg batte
dazu wesentlich mit beigetragen. Aus Dankbarkeit dafür wurde noch in dem-
selben Jahr Eberhard zum Herzog erhoben, eine Würde, welche über drei
Jahrhunderte bet dem Haus Württemberg verblieb. Eberhard im Bart war,
wie ein Zeitgenosse von ihm sagt, „klein von Person, aber großmächtig von
Herzen". In der Jugend war er vernachlässigt worden; er suchte aber später-
hin diesen Mangel möglichst zu ersetzen, wobei ihm seine trefflichen Geistes-
gaben und sein gutes Gedächtniß sehr zu Statten kamen. Immer suchte er
seine Kenntnisse zu vermehren, und ging deßwegen am liebsten mit weisen und
gelehrten Männern um. Was ihm einer von diesen, Georg von Ehingen,
von fremden Welttheilen erzählte, erweckte in dem Grafen die Lust, eine
Pilgerfahrt ins gelobte Land zu machen, die zugleich nach damaligen Vor-
stellungen eine Art von Buße für die Vergehen seiner Jugend sein sollte.
Mit den Worten „ich wags!" , die auch später sein Wahlspruch blieben, trat
er im Jahr 1468 die Reise an. Nach sechs Monaten kam er glücklich wieder
zurück, bereichert mit allerlei Kenntnissen und Erfahrungen. Ein Weißdorn,
den er als ein kleines Reis aus Palästina mitgebracht und im Einsiedel bei
Tübingen in die Erde gesteckt hatte, wuchs dort zu einem mächtigen Baum
"heran und hat bis auf die neueren Zeiten das Andenken an diese Pilgerfahrt
als lebendiges Denkmal bewahrt. (S. Nr. 159.) %
In der Gottesgelahrtheit übertraf er viele Geistliche und kannte das alte
und neue Testament so genau, als ein Proseffor. Das Evangelium Johannis
war sein liebstes Buch. Einen der angesehensten Gelehrten jener Zeit, Johann
Reuchlin, hatte er um sich. Seine Liebe zu den Wiffenschaften und insonder-
heit zur Gottesgelehrsamkeit bewies er vor allem durch die Stiftung der hohen
Schule zu Tübingen, im Jahr 1477. Diese Anstalt, welcher unser Vaterland
so viel verdankt, gründete er, wie er selbst sagt: „zur Ehre Gottes, der ganzen
Christenheit zu Trost, HAf und Macht, auch der Herrschaft Württemberg Lob,
Ehr und Nutzen zu erwerben, und in der guten Meinung, graben zu helfen
den Brunnen des Lebens, daraus von allen Enden der Welt unerstchtlich ge-
schöpft werden möge tröstliche und heilsame Weisheit zu Erlöschung des ver-
derblichen Feuers menschlicher Unvernunft und Blindheit." Für die kirchlichen
Bedürfnisse seines Landes sorgte Eberhard aufs eifrigste. Cr hielt bei seinen
350
Geistlichen streng auf Ordnung und Sittlichkeit, ermunterte und belohnre die
besseren, ermahnte und strafte die sittenlosen und nachlässigen. Die Jahr-
märkte, die bis dahin an Festtagen gehalten wurden, ließ er auf Wochentage
verlegen, damit nicht durch ihren Unfug und Lärm die Heiligkeit der Feste ent-
weihet werde. Besonders war er bemüht, in den Klöstern besiere Zucht und
Ordnung einzuführen, wobei er jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte. Er hatte keinen heißeren Wunsch, als daß er noch eine allgemeine
Kirchenversammlung, eine Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern
erleben möchte. Er selbst besuchte fleißig den Gottesdienst, ging oft zur
Beichte und zum Abendmahl und hörte eine gute Predigt viel lieber als
eine Messe.
Eberhards Scharfsinn und Klugheit waren allgemein, auch im Aus-
land berühmt, und er galt für einen der weisesten Fürsten seiner Zeit. Johann
Dalberg nannte ihn den Urheber und Erhalter des Friedens und den besten
Fürsten. Sebastian Brandt sagt von ihm: „Ganz Deutschland hat nichts
Herrlicheres, nichts Erhabeneres, als diesen Fürsten." Ein Anderer schreibt,
er sei die Zierde der Fürsten Deutschlands. Und alle diese Aeußerungen sind
nicht als Schmeicheleien zu betrachten; denn sie stehen in Briefen, die dem
Grasen nicht zu Gesicht kamen. Bei einem Gastmahl aus dem Reichstag zu
Worms (1495) rühmten die Fürsten nacheinander die Vorzüge ihrer Länder,
der von Sachsen seine Bergwerke, der Pfälzer seinen köstlichen Wein, der von
Bayern seine schönen Städte. Eberhard hörte stillschweigend zu. „Nun,
Württemberg", sprach der Herzog von Sachsen, „saget an, was Herrlichkeit
habt Ihr von Eurem Lande zu rühmen?" Da erwiederte er: „Ich kann mein
Land nicht groß herfürziehen, denn ich hab ein geringer Land als Euer Liebden
alle; aber Eines gleich wohl, dünkt mich, mag ich rühmen: ich kann in dem
Schooß eines jeglichen meiner Unterthanen mitten im Feld oder Wald gar
allein kühnlich und sicher schlafen." Die Fürsten gestanden ihm zu, daß er
bessere Schätze habe als sie. (S. Nr. 160.)
Aber uur noch sieben Monate lang durfte Eberhard seine neue herzog-
liche Würde, und durste Württemberg seine reich gesegnete Regierung ge-
nießen. Seine Gesundheit, die er in der Jugend durch Ausschweifungen unter-
graben hatte und die später bei angestrengter Arbeit nie geschont worden war,
zeigte immer deutlicher und schmerzlicher ihren gänzlichen Verfall an." Als er
fühlte, daß sein Ende herannahe, ries er seine vornehmsten Räthe zu sich und
ermahnte sie, ihrer Pflichten gegen das Land nicht zu vergessen. Er selbst be-
schäftigte sich aber von da an ganz mit dem Gedanken an die Ewigkeit, wollte
nichts mehr von irdischen Dingen hören, und erklärte, er habe sich die welt-
lichen Sorgen ganz aus dem Sinn geschlagen und denke nur noch an das
Göttliche. Die Krankheit nahm immer mehr zu; drei Tage lang lag der
Herzog in schweren Kämpfen sprachlos da. Man fragte ihn, ob er beichten
wolle; er winkte ja. Nach der Beichte sprach er etlichemal laut: „Allmächtiger
Gott, ich sage dir Lob und Dank!" Und als er seine Kraft wieder ein wenig
gesammelt hatte, erhob er sich zur Verwunderung aller Anwesenden in seinem
Bette und sprach: „Ich weiß, Herr Jesu Christe, daß du willt, daß wir dir
glauben sollen. Weil denn das deine Stimme ist: kommt her zu mir Alle, die
ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, so rufe ich dich an nnd
-—
—^ -.w
351
befehle mich dir. Ich bitte und bin gewärtig von dir die ewige Seligkeit
Verzeihe mir auch, was ich in meiner Regierung unrecht verfahren habe, unv
andere Fehler. — Du ewiger Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi!
Ich danke dir von Herzen, daß du meinem Gewisien hast lassen Trost wider-
fahren durch deinen lieben Sohn, und hast mich zur Buße bracht." Woraus
er noch mit starker Stimme sprach: „Ach, Herr Gott! Wir sind ja allesamt
schwache Menschen und mit schrecklichen Sünden besudelt. Habe ich in meinem
Regiment den Unterthanen zu viel gethan, oder bin andern Leuten überlästig
gewesen,' s.o züchtige mich und suche es an meinem Leibe in diesem Leben, und
schone dort der Seele." Hierauf empfing er das heilige Abendmahl und sprach
dann nicht mehr viel. Am folgenden Tage, den 24. Februar 1496, Abends
fünf Uhr, schlief er sanft ein, und wurde dann in der Kirche des Stifts Ein-
siedel im Schönbuch, das er selbst gestiftet hatte, ohne alles Gepränge beigesetzt.
Als Kaiser Maximilian drei Jahre nachher durch Württemberg reiste, besuchte
er auch Eberhards Grab und sprach: „Hier liegt ein Fürst, weise und tugend-
haft wie keiner im Reich; sein Rath hat mir oft genützt." Das ganze Land
trauerte über den Tod eines solchen Fürsten, und um so mehr, da man keine
Ursache hatte, von seinem Nachfolger das Beste zu erwarten. Aber auch die
Noth, die in den nächsten Jahrzehnten über Württemberg hereinbrach, mußte
dazu helfen, die Herzen für die Saat des Wortes Gottes zuzubereiten, denir
vor dem Säemann kommt immer erst der Pflug.
Daraus folgt: frisch gewagt ist auch halb verloren. Das kann nicht
fehlen. Desswegen sagt man auch:'Wagen gewinnt, wagen verliert. Was
muss also den Ausschlag geben? Prüfung, ob man die Kräfte habe-zu dem,
was man wagen will; Ueberlegung, wie es anzufangen sei, Benützung der
günstigen Zeit und Umstände, und hintennach, wenn man sein muthiges A ge-
sagt hat, ein besonnenes B und ein bescheidenes C. Aber so viel muss wahr
bleiben: wenn etwas Gewagtes soll unternommen werden, und kann nicht an-
ders sein, so ist ein frischer Muth zur Sache der Meister, und der muss dich
durchreissen. Aber wenn du immer willst und fängst nie an, oder du hast
schon angefangen und es reut dich wieder, und willst, wie man sagt, auf dem
trockenen Lande ertrinken, guter Freuud, dann ist schlecht gewagt ganz
verloren.
158. Frisch gewagt ist halb gewonnen
Graf Eberh
Vorn württemberger Land,
Er kam auf frommer Fahrt
Zu Palästinas Strand.
Er steckt es mit Bedacht
Auf seinen Eisenhut;
Er trug es in der Schlacht
Und über Meeres Fluth.
Daselbst er einsmals ritt
Und als er war daheim,
Ers in die Erde steckt,
Wo bald manch neuen Keim
Ber milde Frühling weckt.
Durch einen frischen Wald;
Ein grünes Eeis er schnitt
Von einem Weissdorn bald.
MWWWWWWWWM
352
Der Graf getreu und gut,
Besucht es jedes Jahr,
Erfreute dran den Muth,
Wie es gewachsen war.
Der Herr war alt und lass,
Das Reislein war ein Baum,
Darunter oftmals sass
Der Greis in tiefem Traum.
Die Wölbung, hoch und breit,
Mit sanftem Rauschen mahnt
Ihn an die alte Zeit
Und an das ferne Land.
lBOr-per reichste Fürst.
fj
Preisend mit viel schönen Neben
Ihrer Lander Werth und Zahl,
Saßen viele deutsche Fürsten
Einst zu Worms im Kaisersaal.
Herrlich, sprach der Fürst von Sachsen,
Ist mein Land und seine Macht,
Silber hegen seine Berge
Wohl iu manchem tiefen Schacht.
Seht mein Land in üppger Fülle,
Sprach der Kurfürst von dem Rhein,
Goldne Saaten in den Thälern,
&etii!
Große Städte, reiche Klöster,
Ludwig, Herr zu Bayern, sprach.
Schaffen, daß mein Land dem euren
Wohl nicht steht an Schätzen nach.
Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
Sprach: Mein Land hat kleine Städte,
Trägt nicht Berge silberschwer;
Doch ein Kleinod hälts verborgen:
Daß in Wäldern, noch so groß.
Ich mein Haupt kann kühnlich legen
Jedem Unterthan in Schooß.
Und es rief der Herr von Sachsen,
Der von Bayern, der vom Rhein:
Graf im Bart, ihr seid der reichste,
Euer Land trägt Edelstein!
M
i">ry
Wer Münstngcr Vertrug. /
(1482.)
/
Das Land Württemberg hatte sich durch die kluge Sparsamkeit seiner
Grafen nach und nach so vergrößert, daß ein berühmter Mann jener Zeit
.^Aeneas Sylvius) bezeugt: „Unter allen Grafen Deutschlands sind die mäch-
tigsten zu dieser Zeit die von Württemberg, nicht geringer als Markgrafen oder
Herzoge." Allein im Jahr 1441 war es in zwei Theile getheilt worden.
Die Hauptstadt des einen war Stuttgart, die des andern Urach. Diese
Theilung, die leicht der Anfang zur weiteren Zersplitterung des Landes hätte
werden können, wurde unter den Grafen Eberhard dem älteren in Urach (Eber-
hard im Bart) und Eberhard dem jüngeren in Stuttgart wieder aufgehoben.
Eberhard der jüngere war in seiner Jugend an keinen strengen Gehorsam
gewöhnt worden, sondern im Eigenwillen aufgewachsen, und hatte vollends
353
foin französischen Hofe das üppige Wohlleben liebgewonnen. Seitdem er die
/ Regierung von seinem Vater Ulrich übernommen hatte, schien er zwar ernst-
hafter und gefetzter zu werden; er ließ sich die Regierungsgeschäfte angelegen
fein und fragte bei wichtigen Sachen allezeit seinen Schwiegervater, Albrecht von
Brandenburg, und seinen Vetter, Eberhard den älteren, um Rath. Von Zeit
zu Zeit regte sich doch wieder die alte Lust. Wenn er jagen oder bankettiren,
oder außer Lands reiten wollte, kamen ihm die Geschäfte ungeschickt in den
Weg; und wenn er zu viel Geld verbrauchte, so machten seine Räthe ihm Vor-
stellungen darüber, die er nicht gern hörte. So entleidete ihm allmählich das
Negieren, und er machte sich mit dem Gedanken vertraut, die beschwerliche Last
abzulegen und ganz feiner Bequemlichkeit zu leben. Sein Vetter, Eberhard
der ältere, kam diesem Gedanken, der ihm eine Auskunft auf Wiedervereinigrmg
des Landes eröffnete, aufs bereitwilligste entgegen; und nach mehrfacher Ueber-
legung kam am 14. December 1482 der wichtige Münsinger Vertrag zu
Stande, an dessen Berathung außer den beiden Grasen und ihren Räthen auch
die Ritter und Prälaten, so wie die Abgeordneten der Städte und Aemter Theil
genommen hatten. Es wurde beschlossen, betder Land und Leute zusammen in
ein Regiment und Wesen zu thun, „damit wir unser Leben lang und nach uns
unsere Erben und die löbliche Herrschaft Württemberg zu ewigen Zeiten
ungetheilt als ein Wesen ehrlich, löblich und wehrlich bei einander bleiben und
dem heiligen Reich, auch gemeinem Nutzen, desto stattlicher erschießen und vor
sein mögen, wie unsere Vorvordern auch thaten." Wegen der Erbfolge
wurde ausgemacht, daß allweg der älteste Herr von Württemberg regieren solle,
und Stuttgart sollte die Residenz des gemeinschaftlichen Hofs und der Sitz der
vereinigten Regierung sein. Eberhard im Bart sollte, als der ältere, die Rc-
gierungsgeschäfte allein besorgen, und seinem Vetter war somit die Arbeilölast
abgenommen, während er fast alle Rechte und Vortheile eines Regenten fort-
während zu genießen hatte. Als aber dieser bei seiner verschwenderischen und
zügellosen Lebensweise bald da bald dort Gelegenheit nahm, einzelne Punkte des
Vertrags zu übertreten, und Eberhard der ältere sich dies nicht gefallen ließ,
kam ihn bald der Reukanf an, und wenn man dem wankelmüthigen Manne
nachgegeben hätte, so wäre es bald wieder zur Aufhebung des Münsinger Ver-
trags gekommen. Allein Eberhard im Bart sagte: „Vetter, wir können nicht
beide regieren; ich hab mich müssen des Regiments annehnren u,td hab um
dieses Zusammenwerfen auch nicht gebeten; denn ich sonst wollte bessere Tage
und anehr Lust gehabt haben als so. Da ich aber darein kommen bin, mein
ich auch darin zu bleiben." Dabei beharrte er auch unter den vielfachen
Streitigkeiten und Vereinigungsversuchen.
162. Eotumbns, -er Entdecker Amerikas. xv'
Handel und Schifffahrt gehören zu den wohlthätigsten Unternehmungen des
Menschengeschlechts. Küstcnbewohner gelangten weit früher zu Bildung und nützlichen
Einrichtungen, als die tief im Innern des Landes Wohnenden; denn das Wasser er-
leichtert den Verkehr, und je vielseitiger der Verkehr ist, um so mehr Gelegenheit bietet
sich zur Bildung. Darum sind Entdecker und kühne Seefahrer stets wichtige Werk-
Lesebuch. 2^
354
zeuge gewesen im Plane der Vorsehung zur Veredlung der Menschen. Ein solcher
Entdecker war aiuch Christoph Columbus. E?. chwH-_ej.g e nt sich Colombo, und
war-um Jahr 1435 oder 1436 zu Genua in Italien geboren. Sein Vater war ein
rechtschaffener, aber armer Mann und ernährte sein Weib nnd seine vier Kinder
mit Wollekämmen. Dennoch sparte er, so weit seine Mittel reichten, nichts an der
Erziehung seiner Kleinen, und Christoph, sein ältester, durfte lesen und schreiben,
rechnen, zeichnen und malen lernen. Es war aber gleich etwas Besonderes mit dem
Knaben. Er machte seine Schularbeiten nicht nur, nm sie gemacht zu haben, wie
so Viele thun, aus denen weiter nichts als etwas Mittelmäßiges werden wird, son-
dern was unser Christoph angriff, darin wollte ers zur Vollkommenheit bringen.
Er schrieb eine so schone Hand, als wenn er zeitlebens gar nichts anderes als ein
Schreibmeister hätte werden sollen; und im Zeichnen erwarb er sich eine solche Fer-
tigkeit, daß er nur schon dadurch allein jederzeit hätte sein Brod verdienen können.
Die Eltern aber dachten: konnte er das lernen, so kann er auch noch mehr lernen,
und wer weiß? — und schickten ihn darum für einige Zeit aus die hohe Schule zu
Pavia. Hier lernte er tüchtig Latein und trieb besonders alle die Wissenschaften,
die einem künftigen Seemann nützlich sind, als Geometrie (Größenlehre), Erdbeschrei-
bung, Astrologie (wie man damals für Astronomie oder Sternkunde sagte) und
Schifffahrtskunde. Denn schon in seiner frühesten Kindheit hatte er, wenn er im
Hafen von Genua die Schiffe ankommen und abfahren sah, einen großen Trieb zum
Seeleben in sich verspürt und bei sich selber gedacht, er würde zeitlebens ein glücklicher
Mensch sein, wenn er nur einmal auch in das weite Meer hinaus fahren und
neue, seltsame Länder aufsuchen könnte. Dieser Trieb stund. je größer er ward,
desto fester in seinem Herzen, und in seinen spätern Lebensjahren noch, wenn er au
die großen Dinge, die durch ihn herbeigeführt worden, gedachte, so dachte er auch
mit einem feierlichen Gefühl an diesen Trieb seiner Kindheit zurück und konnte nicht
anders glauben, als daß ihn Gott selber in seine Seele gelegt habe.
Mit dem vierzehnten Jahr ging der junge Columbus zur See, und übte
seine Tüchtigkeit nnd stählte seine Gegenwart des Geistes in tausend kriegerischen
Abenteuern, wie sie in jenen Zeiten auf den Gewässern des mittelländischen Meers
fast unausgesetzt vorkamen.
Damals dachte man nun gerade viel darüber nach, auf welchem Wege mau
am bequemsten, sichersten und fchnellsten nach dem schönen Lande Ostindien im süd-
östlichen Asien kommen könnte, wo der Pfeffer wächst, Reis, Zimmt und das Zucker-
rohr, einem Lande reich an Gold und Edelsteinen. Columbus dackte auch darüber
nach und meinte: „Ostindien liegt weit, weit gegen Osten. Da nun die Erde eine
Kugel ist, so muß man ja auch dahin können, wenn man immer nach Westen fährt!"
So meinte Columbus, und er wäre nm sein Leben gern einmal nach Westen ge-
fahren; aber — er hatte keine Schiffe. Er theilte daher den Rathsherren seiner
Vaterstadt Genua seine Meinung nnd seinen Wunsch mit; aber die dachten: „Co-
lnmbns ist ein Narr!" und gaben ihm keine Schiffe. Schon vorher hatte er im
Königreich Portugal darum gebeten, aber vergebens. Nun ging er nach Spanien,
wo König Ferdinand gerade daran war, alle Muhammedaner oder Mauren aus sei-
nem Lande zu jagen. Anfangs hörte man auch nicht auf ihn. „Du Thor", sag-
ten die Mönche, „wenn du nach Westen segelst, gehts ja immer bergunter, weil die
Erde eine Kugel ist, wie willst du denn wieder zurückkehren und den Wasserberg
hiuaufschiffen können?" Königin Jsabclla war aber verständiger. I Als Columbus
355
acht Jahre gewartet hatte, erhielt er endlich drei kleine, alte, gebrechliche Schiffe und
neunzig Mann. Mehr waren nicht aufzubringen; denn wer mochte gern auf gut Glück
mitfahren ins unbekannte, wilde Meer! — Der Wind ward günstig und die Fahrt
ging schnell; aber dennoch waren fast neun volle Wochen verstrichen, und man sah
noch kein Land. Die Mannschaft der Schiffe fing an zu murren und drohte end-
lich, verzweifelnd am Gelingen der Unternehmung, ihrem muthigen Führer mit offe-
nem Aufruhr. Allein als die Noth am höchsten gestiegen war, da war auch die
Hülfe vor der Thür. Es war am 11. Oktober, da sah man frisches Gras, wie es
an den Usern der Flüsse wächst, auf dem Meer schwimmen; ein grüner Fisch, der
sich nur zwischen Klippen aufzuhalten pflegt, liejj sich blicken; ein Dornstrauch mit
frischen Beeren trieb an ihnen vorüber; jetzt fischten die Matrosen ein Schilfrohr,
jetzt ein kleines Brett und jetzt einen künstlich geschnitzten Stab auf. Das waren
lauter untrügliche Zeichen, daß Land in der Nähe sei.
Am Abend, nachdem die Mannschaft, wie es am Bord des Admiralschiffes die
tägliche Ordnung war, ihr Abendlied gesungen hatte, hielt der Admiral eine ein-
dringliche Anrede. Er ermahnte sie, die Güte Gottes zu preisen, der sie mit einem
so sanften und günstigen Wind über die ruhige See geleitet, ihnen die erlöschende Hoff-
nung immer wieder durch gute Zeichen angefacht und sie so nach einem verheißenen
Lande geführt habe. Er sagte, sie würden wohl noch in dieser Nacht Land antreffen,
und befahl, die Segel zu mindern, genau aufzupassen und auf dem Vordertheil des
Schiffs zu bleiben.
Der Wind ging frisch, die Schiffe durchschnitten die Wellen mit rascher Fahrt,
die Pinta (so hieß der beste Segler unter den drei Schiffen) voran. Alles war in
der gespanntesten Erwartung, kein Auge war diese Nacht geschlossen. Sobald es
anfing dunkel zu werden, stellte sich Columbus auf den höchsten Punkt seines Schiffes.
^Jhm war peinlich und unruhig zu Muthe. Mit scharfem Auge forschte er am
dunklen, weiten Gesichtskreis umher. Um zehn Uhr glaubte er in einiger Entfer-
nung ein Licht schimmern zu sehen. Indessen fürchtete er, es möchte ein Spiel
seiner aufgeregten Erwartung sein. Dieser Lichtschimmer war freilich so vorüber-
gehend, daß nur Wenige ein Gewicht darauf legten; allein Columbus erblickte darin
ein sicheres Zeichen von Land, und zwar von Land, das bewohnt sei. Sie setzten
ihre Fahrt still bis zwei Uhr Morgens fort, als ein Kanonenschuß von der Pinta
das frohe Signal von entdecktem Land gab. Man konnte jetzt in einer Entfernung
von zwei Seemeilen die Küste deutlich erkennen; man zog daher die Segel ein, legte
bei und wartete ungeduldig den Anbruch des Tages ab. Mit welchen Gedanken und
Gefühlen in diesen Stunden Christoph Columbus auf seinem Verdeck stand, das ist
nicht zu beschreiben. Es war au einem Freitag, am 12. Oktober 1492, als Colum-
bus früh Morgens zum erstenmal die neue Welt erblickte. Eine schöne, flache Insel,
die sich mehrere Meilen weit ausdehnte, lag vor seinen Augen; sie prangte in einem
wundersrischen Grün, und die Bäume bedeckten sie gleich einem fortlaufenden Obst-
garten. Man sah die Eingeborenen unter den Bäumen Herkommen und von allen
Seiten dem Ufer zueilen. Sie waren völlig nackt und schienen, nach ihren Geberden
zu urtheilen, ganz in Staunen versunken zu sein. Columbus stieg nun, reich in
Scharlach gekleidet, in sein Boot, und hatte die königliche Fahne in der Hand. Die
Indianer flohen erschrocken in den Wald zurück. Kaum hatte der Admiral das
Land betreten, so warf er sich auf die Kniee nieder, küßte den Erdboden, dankte und
lobte <^)tt mit Thränen. Alle seine Begleiter, überwältigt von ihrer Freude, thaten wie' er.
83 *
356
„Herr, ewiger und allmächtiger Gott", sprach Kolumbus, „durch dein heiliges
„Wort hast du den Himmel und die Erde und das Meer erschaffen. Gepriesen sei
„dein Name, gelobet sei deine Herrlichkeit, welche hat dürfen erhoben werden durch
„deinen demüthigen Knecht, auf daß der heilige Name deiner Majestät erkannt und
„gepredigt werde an diesem äußersten Ende der Welt." Darauf stand er wieder auf,
zog sein Schwert, ließ die königliche Fahne wehen und nahm von der Insel im
Namen der Könige von Castilien Besitz.
Die Insel wurde von den Eingeborenen Gnanahani genannt; Columbus nannte
sie zum Andenken an die überstandenen Gefahren San Salvador, d. i. Heiliger-
Erlöser.
Mit dieser Insel war nun zwar das Land Ostindien nicht gefunden, das Co-
lumbns eigentlich gesucht hatte, aber er hatte damit, ohne es zu wissen, eine noch
viel wichtigere Entdeckung gemacht; denn sein Fuß wandelte auf einer neuen Welt,
von deren Dasein damals in Europa wohl kein Mensch Etwas geahnt hatte. Don
da an wurden bald noch weitere und größere Inseln entdeckt, wie Cuba, Haiti
(auch Hispaniola genannt), Jamaica und endlich im Jahr 1497 das feste Land von
Nordamerika, 1498 das von Südamerika, und im Jahr 1513 der große Ocean (stille
Meer) westlich von der neuen Welt.
Columbus genoß übrigens für seine große Entdeckung und seine außerordentlichen
Anstrengungen wenig Dank; von seiner dritten Reise nach dem uenentdeckten Land
kam er sogar, wie ein Verbrecher in Fesseln geschlagen, zurück; ja selbst den Namen
erhielt der neue Welttheil nicht von ihm, sondern von einem gewissen Amerikus
Vespncius (Amerigo Vespucci), einem Seemann aus Florenz, durch den derselbe
erst in einer Beschreibung den Gelehrten näher bekannt worden ist, so daß man
dieses neue Land das Land des Amerikus oder Emmerich, also Amerika oder
Emmerichsland nannte. — Columbus starb im Jahr 1506, und die Fesseln, welche
man ihm ungerechterweise angelegt hatte, wurden ihm seinem Willen gemäß in sein
Grab gelegt zu einem Zeugniß, daß Undank der Well Lohn lei. Doch die Nachwelt
ist gerechter gegen ihn gewesen und hat ihn nach Verdienst unter die größten Männer
seiner Zeit gesetzt. Das allmähliche Aufblühen christlicher Staaten in der von ihm
entdeckten „neuen Welt" ist ein lebendiges Denkmal seines Ruhmes und zugleich
der göttlichen Weisheit, die sich auch in diesem Manne ein- Werkzeug zur Offen-
barung ihrer großen Werke auf Erden bereitet hat.
163. Das Ei des Eolnmims.
Bei einem Feste, welches der Cardinal Mendoza dem Columbus zu
Ehren veranstaltete, hielt er ihm eine große Lobrede wegen der von ihm ge-
machten Entdeckung, welche er den größten Sieg nannte, den jemals der Geist
eines einzigen Mannes erfochten habe. Die anwesenden Herren vom Hof
nahmen es übel auf, daß einem Ausländer, noch dazu einem Mann, der nicht
einmal ^on adeliger Herkunft sei, so große Auszeichnung erwiesen würde.
„Mich druckt", hub einer der königlichen Kammerherren an, „der Weg nach
der sogenannten neuen Welt war nicht so schwer zu finden, das Weltmeer stand
überall offen, und kein spanischer Seefahrer würde den Weg verfehlt haben."
Mil vornehmem Gelächter gab die Gesellschaft dieser Aeußerung ihren Beifall
357
zu erkennen, und mehrere Stimmen riesen: „D, das hätte ein Jeder von uns
gekonnt!"
„Ich bin weit entfernt", entgegnete Eolumbus, „mir Etwas als Ruhm
anzumaßen, was ich nur einer gnädigen Fügung des Himmels zuschreiben darf;
indessen kommt es doch bei vielen Dingen in der Welt, welche uns leicht aus-
zuführen scheinen, oft nur darauf an, daß sie ein Anderer uns vormacht.
Dürst ich", sagte Eolumbus zu jenem Kammerherrn gewendet, „Ew. Ercellenz
wohl ersuchen, dies Ei" — er hatte sich von einem Diener ein Hühnerei brin-
gen lasten — „so aus die Spitze zu stellen, daß es nicht umfällt?" Die Er-
cellenz versuchte von der einen wie von der andern Seite vergeblich, das Ei
zum Stehen zu bringen. Der Nachbar bat es sich aus, es gelang ihm eben
so wenig; nun drängten sich die andern dazu, ein Jeder wollte den Preis ge-
winnen; allein weder mit Eifer noch mit Ruhe war es möglich, das Kunststück
auszuführen. „Es ist unmöglich!" riefen die Herren, „Ihr verlangt etwas Un-
ausführbares!" „Und doch-', sagte Eolumbus, „werden diese Herren sogleich
sagen: das kann ein Jeder von uns auch!" Jetzt nahm er das Ei und setzte es
mit einem leichten Schlag aus den Tisch, so daß es aus der eingedrückten Schale
fest stand. Da riefen jene: „Ja! das kann Jeder von uns!" — seitdem hört
man oft sagen, wenn eine glückliche Ersindung gemacht wurde, zu welcher ein
Jeder sich Aug genug dünkt: „das Ei des Eolumbus!"
November zu Eisleben am Harz aus die Welt kommen und am folgenden
St. Marnnstag getauft, daher er den Namen M artin erhalten hat. Sein
Vater, Hans Luther, ein armer, ehrlicher und frommer Bergmann, stammte
aus dem Dorfe Möra in Thüringen, bei Eisenach gelegen, und war wegen
seiner Nahrung mit seiner Hausfrau, Margarethe, einer geborenen Lindemann
aus Eisenach, nach Eisleben gezogen. „Meine Eltern", sagt Luther, „sind
erstlich arm gewesen; mein Vater war ein armer Häuer (Bergmann), und die
Mutter hat ihr Holz aus dem Rücken getragen; sie haben sichs lasten blutsauer
werden. Ich bin eines Bauern Sohn; mein Vater, Großvater und Ahnherrn
sind rechte Bauern gewesen, ein alt und groß Geschlecht ehrlicher Leute, die
einen ziemlichen Stand geführt haben." Als aber unser milder und reicher
Gott die Bergarbeit des Vaters dieses K-ndes segnet, und ihm zwei Feuer oder
zween Schmelzöfen zu Mansfeld bescheret, hat Hans Luther seinen Sohn Mar-
linus mit Ehren von seinem wohlerworbenen Berggut erzogen ; und nachdem
er des Alters gewesen, daß er hat mögen Etwas fasten und lernen, haben ihn die
Eltern im Hause fleißig gehalten zu rechter Erkenntniß und Furcht Gottes und zu
Uebung anderer Tugend. „Meine Eller.n", sagt er, „haben mich sehr hart
gehalten, daß ich auch darüber gar schüchtern wurde. Die Mutter stäupte mich
einmal um einer geringen Nuß willen, daß daS Blut floß; aber sie meintens
doch herzlich gut." <
Da nun Martin zu seinen vernünftigen Jahren k ' '
Eltern in die lateinische Schule mit herzlichem Gebet g
358
Knäblein lesen und schreiben, die zehn Gebote, den Kinderglauben, das Vater-
unser, neben der Sprachlehre und christlichen Gesängen, fein fleißig und schleu-
nig gelernet. Sein Vater hat ihn, da er noch gar klein gewesen, oft selbst in
die Schule getragen und dem Schulmeister vertrauet. Dieser muß auch gar
streng gewesen sein; Luther sagt: „Ich bin einmal Vormittags in der Schule
sünfzehnmal nach einander wacker gestrichen worden." — Hernach, da Marti-
nus in sein vierzehntes Jahr ging, hat ihn sein Vater gen Magdeburg in die
Schule gesandt, welche damals vor vielen andern weit berühmt war. Daselbst
ist dieser Knabe, wie manches ehrlichen und wohlhabenden Mannes Kind, nach
Brod gegangen und hat vor den Bürgerhäusern gesungen. Was groß soll
werden, muß klein angehen; und wenn die Kinder zärtlich und
herrlich erzogen werden, schadet es ihnen ihr Leben lang. —
Auf folgendes Jahr hat Martin, auf Befehl seiner Eltern, stch nach Eisenach
begeben, wo er seiner Mutter Freundschaft hatte. Als er daselbst nun eine
Zeit lang vor den Thüren sein Brod ersang, nahm ihn eine andächtige Frau,
Namens Cotta, an ihren Tisch, dieweil sie, um seines Singens und herzlichen
Gebetes willen in der Kirche, sehnliche Zuneigung zu ihm trug. „Darum
verachte mir nicht die Gesellen", sagte Luther später, „die vor den Thüren den !
Brodreigen singen; ich bin auch solcher gewesen und Habs vor den Häusern
genommen, sonderlich zu Eisenach, in meiner lieben Stadt; wie wohl mich her-
nach mein lieber Vater mit aller Liebe und Treue in der hohen Schule zu
Erfurt hielt und durch seinen sauern Schweiß und Arbeit dahin geholfen hat,
dahin ich kommen bin. Aber dennoch bin ich ein Singknabe gewesen und nun
dahin kommen, daß ich jetzt nicht wollt mit dem türkischen Kaiser tauschen, daß
ich sein Gut sollt haben und meiner Kunst entbehren. Ja, ich wollte der Welt
Gut, vielmal gehäuft, nicht dafür nehmen!" — In der Schule zu Eisenach
fand Luther einen Lehrer, Johannes Trebonius, der die Sprachlehre besser
lehrete, als sonst der Brauch war; und da Luther eines sehr guten Verstandes
und sonderlich geneigt zum Wohlreden gewesen, hat er alsbald angefangen, in
seinen Schriften alle Worte wohl zu setzen und ein Ding weitläustig zu han-
deln, und ist also in diesem Stück, und auch in lateinischen Versen zu schreiben,
seinen Gespielen bald weit überlegen gewesen. In freien Stunden übt er sich
im Drechseln, im Gesang und im Spielen aus der Flöte und der Laute. Da er
nun gemerkt hat, wie ein lieblich Ding es sei um die Lehre, hat er alsbald aus
brünstiger Begierde zum Lernen Lust zur hohen Schule bekommen, dieweil er-
hielt, daß aus derselbigen als aus einem Brunnquell alle Künste herflöfsm.
Im Jahr 1501 senden ihn seine lieben Eltern, nachdem er gegen vier Jahre in
Eisenach zugebracht, auf die hohe Schule zu Erfurt, welche damals in solchem
Ansehen war, daß alle andern dagegen für Schützeuschulen angesehen wurden.
Hier fängt Luther an, die Sprachen und Wissenschaften nebst den freien Künsten
mit großem Ernst und besonderem Fleiß gründlich zu studiren. Wiewohl er
von Natur ein hurtiger und fröhlicher Geselle war, fing er doch alle Morgen
sein Lernen mit herzlichem Gebet an; wie denn dies sein Sprichwort gewesen:
„fleißig gebetet ist über die Hälfte studirt." Er versäumt keine
Lektion, fragt gerne seine Lehrer und bespricht stch in aller Ehrerbietigkeit mit
ihnen. „Daneben", sagt Melanchthon, „liest er fleißig die vornehmsten alten
lateinischen Schriften, und zwar also, daß er nicht allein die Worte daraus
35*)
genommen, wie die jungen Knaben, sondern auch eine Lehre und Exempel des
menschlichen Lebens daraus gefasset hat. Auch hat er Alles, was er gelesen
oder gehört hatte, im Sinn behalten, gleich als ob ers immerzu vor Augen
hätte, wie er denn sonst behältig und guten Gedächtnisses war. Auf solche
Weise ist er bald allen andern Studenten zuvorkommen, daß auch die ganze hohe
Schule über Luthers Verstand sich verwundert hat." — Einsmals, da er auf
der großen Büchersammlung die Bücher fein nach einander besieh'et, auf daß er
die guten kennen lerne, kommt er über die lateinische Bibel, die er zuvor die
Zeil seines Lebens nie gesehen; da vermerkt er mit großem Verwundern, daß
viel mehr Texte, Episteln und Evangelien darin wären, denn man in gewöhn-
lichen Predigtbüchern und auf den Kanzeln pflegte auszulegen. Wie er im
alten Testament sich uursieht, kommt er über Samuels und seiner Mutter Hanna
Geschichte; die durchliest er eilends mit herzlicher Lust und Freude. Und weil
ihm das alles neu war, sähet er an, von Grund seines Herzens zu wünschen,
unser getreuer Gott wolle ihm dermaleinst auch ein solch eigen Buch
bescheren; welcher Wunsch und Seufzer ihm reichlich ist gewähret worden.
Auf der hohen Schule fiel Luther einst in eine schwere Krankheit, darüber
er sich seines Lebens gar verzieh. Da besucht ihn ein alter Priester und spricht
ihm tröstlich zu: „mein Lieber, seid getrost, ihr werdet dieses Lagers nicht ster-
ben; unser Gott wird noch einen großen Mann aus euch machen, der viel Leute
wieder trösten wird. Denn wen Gott lieb hat und daraus er etwas Seliges
ziehen will, dem legt er zeitlich das heilige Kreuz auf, in welcher Kreuzschule
geduldige Leute viel lernen." Das ist die erste Weissagung, welche der Doktor
gehöret, welche ihm auch das Herz getroffen, wie er dieses Trostes und dieser
Weissagung oft erwähnte.
Im Anfang des Jahres 1505 wird Martin Luther Magister der Welt-
weisheit. Da aber seines Vaters ernster Wille war, daß er sollte ein Rechts-
gelehrter werden, so fängt er an, die Rechtsgelehrtheit zu studiren; deun er
war in allen Stücken seinen Eltern gehorsam und Unterthan. Er fand aber
eine solche Abneigung gegen diesen Beruf in seinem Herzen und ward Darüber
von einer so peinlichen Unruhe geängstiget, daß er beschloß, zu seinen lieben
Eltern zu reisen und mit ihnen deßhalb zu sprechen. Der jähe Tod seines
2 Freundes Alerius, den er zuvor noch besuchen will, erschreckt ihn über die
Maßen sehr, und da er sich ernstlich vor Gottes Zorn und dem jüngsten Gericht
entsetzet, beschließt er bei sich selbst und thut ein Gelübde, ins Kloster zu
gehen und ein Mönch zu werden. Melanchthon sagt: „daß er aber den Mönchs-
stand angenommen, ist das die Ursach: wenn er etwa dem Zorn Gottes und
den erschrecklichen Exempeln seiner Strafen mit Ernst nachgedacht hat, sind
ihm alsbald solche Schrecken angekommen, daß er davon schier vergangen wäre.
Und zwar habe ich es selbst gesehen, daß er in einer Unterredung, diese Lehre
betreffend, so tief in Gedanken ist gekommen, daß er gar erstorben ist, und sich
in der nächsten Kammer auf ein Bett gelegt und betend diesen Spruch oft
wiederholt hat: er hat Alles beschlossen unter die Sünde, auf daß er sich Aller er-
barme." — Am Abend des 17. Juli, welches der Namenstag seines Freundes
war, gab Luther seinen andern Gesellen einen Abschiedsschmaus und klopfte
in der Nacht an der Pforte des Auguftinerklosters an. Die Pforte that sich
auf, und Luther war Augustinermöuch. Er war damals noch ein junges
360
Blut von zwei und zwanzig Jahren, und eitel heiße Jugend mit ihm.- Am
andern Tag nahm Luther von seinen Freunden schriftlich Abschied und schrieb
auch seinen Eltern, wie er nach Gottes Schickung ein Mönch worden sei. Der
Vater ist übel damit zufrieden und will es nicht gestatten; er erklärt das Ge-
lübde für einen Betrug des Teufels, sagt seinem Sohn alle väterliche Gunst
und Willen ab und heißt ihn fortan Du; zuvor hieß er ihn Ihr, weil erMa-
fiister war. Endlich aber gibt er seinen Witten und spricht: „Gott gebe, daß
ec wohl gerathe!" —
165. Luther im Kloster.
(1505 --1524.)
Zu Anfang wurde Luther in dem Kloster gar hart gehalten: er mußte
mit dem Vettelsack in der Stadt umherlaufen, die Thüre hüten, die Glocken
läuten, die Kirche kehren und dergleichen, bis ihni auf Fürbitte der hohen
Schule, deren löblich Mitglied er gewesen, dieser schwere Dienst zum Theil ab-
genommen wurde. Er war in allen Stücken seinen Oberen gehorsam und
den Regeln seines Ordens streng getreu. Also sagt er von sich selbst: „Wahr
ist es, ein frommer Mönch bin ich gewesen, und hab so gestreng meinen Orden
gehalten, daß ich sagen darf: ist je ein Mönch in den Himmel kommen durch
Möncherei, so wollt ich auch hinein kommen sein. Das werden mir zeugen
alle meine Klostergesellen, die mich gekannt haben; denn ich hätte mich, wo es
länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Beten, Fasten, Wachen, Frieren, Lesen
und anderer Arbeit; dennoch war ich ganz traurig und betrübt, weil ich ge-
dachte, Gott wäre mir nicht gnädig." Luther erkannte nemltch immer deutlicher in
sich den unseligen Zwiespalt, welchen St. Paulus Römer 7, 14 — 24. be-
schreibt. Wie Paulus, seufzte auch Luther: „Ich elender Mensch, wer wird
mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!" — Das große Wort: „Ich danke
Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn" — war seinen Augen noch ver-
borgen. Aber in schweren Käuipfen ward es ihm endlich aufgeschlossen, daß
Gott nicht bloß gerecht sei, sondern auch gerecht mache Alle, die seiner
Gnade in Christo trauen; Gott theile aus Gnaden die wahre Gerechtigkeit dem
sündigen Menschen mit durch den Glauben, und der Gerechte lebe seines
Glaubens. (Röm. 1, 17.) „Hier fühlete ich alsbald", so sagt er selbst,
„daß ich ganz neu geboren wäre, und nun gleich eine weit aufgesperrte Thür, ^
^ in das Paradies selbst zu gehen, gefunden hätte; sah auch die liebe heilige
Schrift nunmehr ganz anders an, deitn zuvor geschehen war; lies derhalben bald
durch die ganze Bibel, wie ich mich berselbigen erinnern konnte, und sammelte
in anderit Worten nach dieser Regel alle ihre Auslegung zusammen, als daß
Gottes Werk dieses heiße: das Gott in uns wirket, — Gottes Kraft: damit
er uns kräftig und stark machet, — Gottes Weisheit: damit er uns weise macht,
also die andern, Gottes Stärke, Gottes Heil, Gottes Herrlichkeit und dergl.
Wie ich nun zuvor dieses Wörtlein: „Gottes Gerechtigkeit" mit rechtem
Ernst hastete, so sing ich auch dagegen an, dastelbe als mein allerlieb-
stes und tröstlichstes Wort theuer und hoch zu achten, und war mir derselbige
Ort in St. Paulo (Röm. 1,17.) in der Wahrheit die rechte Pforte des Pa-
radieses."
301
Zu eben dieser Zeit gerieth Luther wegen seiner Seelenangst einsmals in
eine so tiefe Schwermuth, daß er sich in seine Zelle fest einschloß und andert-
halb Tage nicht zum Vorschein kam. Mit Gewalt mußte man die Thüre aus-
brechen, und da fand man den Mann Gottes auf dem Bett liegen, fast er-
storben. Wie ein Todter, mit offenen, stieren Augen liegt er da, starr und
blaß. Alsbald stimmt sein Freund, Lucas Edenberger, mit einigen Chor-
schülern im Kreuzgewölb einen frommen Gesang an, und siehe! die edle Krea-
tur Gottes, die holde Musica, bringt den beinahe erstorbenen Mann wieder
ins Leben zurück. „Da findet sich auch ein alter Mönch im Kloster", sagt
Melanchthon, „der ihn oft tröstet. Denn als er demselbigen seine Schrecken
offenbaret, hat er ihm viel vom Glauben gesagt und ihn aus den Artikel des
Glaubens von der Vergebung der Sünden gewiesen. Diesen Artikel
'hat ihm derselbige Alte ausgelegt und gesagt, daß man nicht allein insgemein
glauben müsse, daß Etlichen ihre Sünden verziehen würden, wie auch die Teufel
glauben, daß sie David und St. Peter verziehen seien, — sondern das wäre
Gottes Befehl, daß unser Jeder insonderheit glaube, ihm wären seine Sünden
nachgelassen." Aus dieser Rede, sagt Luther, wäre er nicht allein getröstet,
sondern auch erinnert worden, was allenthalben die rechte Meinung St. Pauli
- wäre in dem Spruch, den er so oft anzeucht: „der Gerech te lebet seines
Glaubens." — Dieser Spruch wurde ihm von nun an ein Hauptspruch;
ja, die fünf Worte desselbigen sind zu vergleichen fünf glatten Steinen (1 Sam.
17, 40.), mit welchen dieser David fortan dem großen Niesen Werkgerech-
tigkeit, in sich und außer sich, zu Leibe ging. Seinen Fund im Kloster zu
Erfurt hat er den Kindern in seinem Katechismus in den theuren Worten des
zweiten Artikels vom Glauben verrathen: „ich glaube, daß Jesus Chri-
stus" re. Also schickte es Gott, daß Luther sich in der Einsamkeit des Klosters
zu dem großen Tagwerk seines Lebens rüstete, wie er selbst sagt: „Gott hat es
gewollt, daß ich der hohen Schule Weisheit und der Klöster Heiligkeit aus
eigener und /gewisser Erfahrung, das ist, aus vielen Sünden und gottlosen
Werken, erführe, daß das gottlose Volk nicht wider mich, ihreti zukünftigen
Widerpart, zu prangen hätte, als der unbekannte Dinge verdammet."
166. Ansang der Reformation.
Im Jahre 1508 wurde Luther in einen Wirkungskreis versetzt, der
seinen geistigen Bedürfnissen besser zusagte; er kam nemlich als Lehrer an die
durch den weisen Friedrich, Kurfürsten von Sachsen, gestiftete Universität in
Wittenberg. Luther lehrte hier mit außerordentlichem Beifall, und mit Freu-
den sah Friedrich die Zahl der Studirenden oft bis auf 2000 anwachsen. Im
Jahr 1510 wurde Luther in Angelegenheiten seines Ordens nach Rom ge-
sandt. Ost sagte er später, „er wolle nicht tausend Goldgulden nehmen, daß
er diese Reise nicht sollte gemacht haben"; denn hier konnte er mit eigenen
Augen schauen, wie tief die römische Geistlichkeit mit ihrem Oberhaupt ge-
sunken war. Er mrißte später sich erinnern, wie von dieser Seite her niemals
Etwas für Verbesserung der Kirche zu erwarten sei.
Den Anlaß zu Luthers Kampf gegen das Pabstthum gab ein Domini-
kanerfftönch Tetzel, welcher mit unverschämter Dreistigkeit häbstliche Ablaßbriefe
362
verkaufte. Der Ablaß war ursprünglich bei weitem nicht so verwerflich.
Nach der in früheren Zeiten eingeführten strengen Kirchenzucht waren auch äußere
Ahndungen bei gewissen Sünden üblich. Diese äußeren Strafen wurden
später häufig in eine Geldbuße verwandelt, womit aber keineswegs Reue und
Buße für überflüsfig, oder das Strafgericht Gottes für abgewandt erklärt
werden sollte. Verschwenderische Päbste brauchten Geld, und so erklärten
sie, daß fie, als Petri Nachfolger und als Bewahrer des Himmelsschlüssels,
durch den unendlichen Schatz des Todes Christi und der guten Werke der
Heiligen in den Stand gesetzt seien, auch von den göttlichen Strafen der Sün-
den für Geld zu befreien. Tetzel hatte eine Lare für jede Sünde, für einen
Mord acht Dukaten, für Vielweiberei sechs Dukaten; für achtzehn Kreuzer
konnte jede Seele aus dem Fegseuer erlöst werden. „Wenn das Geld im
Kasten klingt, die Seele aus dem Fegseuer springt", predigte der schamlose
Mönch. Freilich kostete ihn ein Ablaßbrief, den er für eine noch zu begehende
Sünde ertheilt hatte, im Thüringer Walde einmal seinen ganzen wohlgefüllten
Geldkasten.
Mit tiefem Schmerz erfüllte Luthers fromme Seele dies Unwesen;
Luther war ein gewaltiger Prediger, und mit dem ganzen Donner seiner Be-
redsamkeit eiferte er gegen diesen Frevel. „Die meinen durch Ablaßbriefe
ihrer Seligkeit gewiß zu sein, werden samt ihrem Meister zum Teufel fahren."
Nach akademischer Sitte schlug er fünf und neunzig Sätze am 31. October 1517
öffentlich an, um in einer Disputation das Sündliche des Ablasses zu erweisen.
In wenigen Wochen durchliefen diese Sätze ganz Deutschland und wirkten
ungeheuer. Luther hatte das Gefühl von Tausenden ausgesprochen, und be-
geistert fielen fie ihm zu. Seine Klosterobern zitterten vor den Folgen, er
aber sprach: „Liebe Väter! tsts nicht in Gottes Namen angefangen, so ist es
bald gefallen; ist es aber in seinem Namen angefangen, so lasset denselbigen
nur machen." Und dieser Gedanke war sein Trost und seine Stärke, daß
Gott sein Werk wohl schützen werde, wo nicht, daß an ihm nicht viel verloren
sei. Zu diesem kam dann der zweite, daß nur, was in der Bibel stehe,
Gottes Wort sei, und er nur aus dieser einzigen Richtschnur des Glaubens
beurtheilt und widerlegt werden müsse. An diesem Schilde prallten auch die
schärfsten Pfeile ab.
Tetzel wüthete gegen Luther und bot mit seinen Zunftgenossen Alles aus,
ihn in der öffentlichen Meinung zu vernichten. Luther wurde selbst nach
Rom vorgeladen. Hussens Schicksal stand ihm bevor. Der Kurfürst Friedrich
vermittelte. In Augsburg trat Luther mit dem Cardinal Cajetan zu einer
Unterredung zusammen; da dieser aber nicht widerlegte, sondern nur den
Widerruf verlangte, so schieden fie, ohne zu einer Vereinigung gelangt zu
sein, aus einander.
Ein päbstlicher Kämmerling, Herr v. Miltitz, gewann ihm zwar später
durch freundliche Milde und Nachgiebigkeit das Versprechen ab, künftig wegen
des Ablasses zu schweigen und dem Pabst nicht zu widerstreben. Da aber
seine Gegner von neuem den Streit aufrührten, glaubte stch Luther auch nicht
mehr gebunden, und ließ jetzt in seinem Aufruf „an den Adel der deutschen
Nation" und in der Schrift „von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche
zwei eigentliche Kriegserklärungen gegen die römische Kirche ausgehen. In
363
jenem Aufruf erklärt er unter Anderem, daß auch die Priester der weltlichen
Obrigkeit Unterthan seien, redet gegen die weltliche Macht und Herrlichkeit des
Pabstes, feine Eingriffe in die Rechte Deutschlands, gegen allerlei Mißbräuche
in der Kirche und in den Sitten des deutschen Volkes — er eifert für die
Ehre Gottes und zugleich für die Ehre des Vaterlandes. In der andern
Schrift aber greift Luther bereits fast alle die Satzungen an, von welchen
sich die Protestanten in der Folge lossagten.
Der Pabst sprach jetzt feierlich den Bann über ihn aus, falls er nicht
binnen sechzig Tagen widerriefe. Luther verzagte nicht, sondern schöpfte aus
diesen Angriffen nur größeren Muth. Man hatte in Köln und Löwen in
Folge der Bulle seine Schriften öffentlich verbrannt. Luther beschloß durch
einen entscheidenden Schritt sich für immer von dem Pabste loszusagen; er
lud aus den 10. December 1520 die ganze Universität Wittenberg ein, ihn
vor die Thore der Stadt zu begleiten, und hier warf er unter allgemeinem
Jubel der unzähligen Zuschauer die Bannbulle nebst der ganzen päbstlichen
Gesetzsammlung in die lodernde Flamme mit den Worten: „weil du den
Heiligen des Herrn betrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer!" Diese
entscheidende, allen Rückweg, alle Versöhnung abschneidende Handlung war
nicht ein Werk des Jähzorns, er hatte sie sechs Monate vorausgesagt, sondern
des Wiedervergeltungsrechts und des höchsten Muthes. Jetzt hatte er dem
Pabst entsagt; jetzt war er von dieser Seite frei; jetzt konnte er nur vor-
wärts, da es kein Rückwärts mehr gab. Er glich jenem Feldherrn, der, nach-
dem er in Feindesland gelandet war, die Schiffe hinter sich verbrannte.
Dem kühnen Luther stand bereits damals ein Mann zur Sette, dem auch
ein Theil der großen Arbeit zufiel — Philipp Melau chthon. 1497 zu
Breiten geboren, mit dem siebzehnten Jahre schon Lehrer in Tübingen, war
er im Sommer 1518 nach Wittenberg berufen worden, ein junger Mann, an
mancherlei Wissen reich, im Reden und Schreiben klar und anmuthig, milde
im Streite der Meinungen. Alsbald waren Luther und Melanchthon mit ein-
ander innig befreundet; jeder sah und schätzte am andern Gaben, an denen es
ihm selber gebrach, — ein Bild wahrer Freundschaft. Melanchthon war
namentlich durch seine genaue Kenntniß der griechischen und hebräischen
Sprache Luthern sehr behülfltch, die heilige Schrift in ihrer ursprünglichen
Gestalt und Abfaffung verstehen zu lernen. Beider Thun und Art vergleicht
Luther also: „Ich muß die Klötze und Stämme ausreuten und bin der grobe
Waldrechter, der Bahn brechen und zurichten muß. Aber Philippus fähret
säuberlich und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begeußt mit Lust, nach
dem Gott ihm gegeben seine Gaben reichlich."
Durch kaiserliches Berufungsschreiben vom 6. März war Luther binnen ein
und zwanzig Tagen in Worms zu erscheinen entboten, auch sein Gelcitsbrief ansge-
fevtigt; von einem zu leistenden Widerruf war darin nicht die Rede. Hätte er diesen
leister, sollen, schrieb Luther, so hätte es keiner Berufung nach Worms bedurft.
167. Fnther in Worms.
(1521.)
364
„Will hingegen der Kaiser mich erfordern, daß ich soll umgebracht werden, so will
ich mich erbieten zu kommen. Denn ich gedenke nicht zu fliehen, noch das Evange-
lium in Gefahr stecken zu lassen." Kaspar Sturm, in dem Amt eines Ncichs-
herolds, mußte Luther geleiten. Auch die Fürsten, durch deren Länder er reisen
mußte, hatten ihn mit Geleitsbriefen versehen. Den Neisewagen gab die Stadt
Wittenberg, Herzog Johannes von Weimar das Reisegeld. Zu Eisenach fühlte sich
Luther unwohl, doch nach einem Aderlaß erleichtert, wiewohl anhaltend kränklich.
Wo er in eine Stadt einzog, lief ihm viel Volks entgegen, den kühnen Mann zu
sehen, der gegen den Pabst sich legen dürfe. Manche verhehlten ihm auch ihre Be-
sorgnisse nicht, man werde ihn sicher zu Worms verbreuneu, wie dem Huß zu Con-
stanz geschehen. Als Spalatin zu Oppenheim am Rhein ihn ermahnte, sich nicht
so geradezu nach Worms zu begeben, erwiederte er ihm: „Und wenn auch so viel
Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern, so wollt ich doch hinein!"
Dies erzählte er selbst noch kurz vor seinem Tod und setzte hinzu: .denn ich war
unerschrocken, fürchtete mich nicht; Gott kann einen wohl so toll machen; ich weiß
nicht, ob ich jetzt auch so freudig wäre." Am 16. April zog er in Worms ganz
stattlich ein. Vor dem Wagen ritt der kaiserliche Herold in seinem Amtskleid mit
des Reichsadlers Wappen, nebst seinem Diener; hinter dem Wagen folgte Justus
Jonas, nachmaliger Probst zu Wittenberg, mit seinem Diener. Viele vom Adel
fuhren ihm entgegen, und als er Morgens zehn Uhr in die Stadt fuhr, begleiteten
ihn mehr denn 2000 Menschen in sein Quartier. Luther selbst erzählte: „Ich fuhr
in einem offenen Wägeleiu in einer Kutten in Worms ein, da kamen alle Leute auf
die Gasse und wollten den Mönch Dr. Martin sehen; und fuhr also in Herzog
Friedrichs Herberg, und war auch Herzog Friedrich dabei bange gewesen, daß ich
gen Worms kam." Am folgenden Tag Nachmittags vier Uhr wurde Luther in die
NeichSversammlung eingeführt, der Reichsmarschall und der Herold voran. Man
konnte kaum durch das Gedränge des Volks auf den Straßen hindurch; man deckte
die Dächer ab, um den Glaubenshelden zu sehen, wie er einem so wichtigen Augen-
blick entgegen ging. Ein berühmter Feldherr, Georg Frundsberg, that ihm münd-
lichen, Ulrich von Hutten schriftlichen Zuspruch. Ersterer sagte: „Mönchleiu, Mönch-
lein, du gehest jetzt einen Gang, einen solchen Stand zu thun, dergleichen ich und
mancher Obrister in der allerernstesten Schlachtordnung nicht gethan haben. Bist du
auf rechter Meinung und deiner Sache gewiß, io fahre in Gottes Namen fort nnd
sei nur getrost; Gott wird dich nicht verlassen." Im Saale selbst rief ihm einer
die Worte Christi zu: Matth. 10, 19. „Wenn sie euch überantworten, so sorget
nicht, wie oder was ihr reden sollet, denn es soll euch zu der Stunde gegeben wer-
den." In dem Reichssaal und um denselben hatten sich wohl über 5000 Menschen
versammelt. Der Graf von Pappenhcim erinnerte ihn, da er nun vor dem Kaiser
und den Ständen stehe, nicht anders zu reden, er werde denn gefragt. Mau hatte
Luthers Schriften vor ihm hin ans den Tisch gelegt. Der kurtrierische Beamte
von Eck fragte ihn nun im Namen des Kaisers, ob er die da liegenden Bücher für
die seinigen erkenne, und ob er, was darin enthalten, widerrufen wolle? Da legte
sich erst Doktor Schürf von Wittenberg, der gleichsam als Luthers Anwalt ihm bei-
gegeben war, dazwischen und rief: „Man zeige die Bücher mit Namen an!" Die;es
geschah, und hierauf bejahte Luther die erste Frage. Auf die zweite Frage aber,
den Widerruf betreffend, antwortete Luther: .Weil dies eine Frage vom Glauben
und von der Seelen Seligkeit ist nnd Gottes Wort belanget, welches der^ größte
365
Schatz im Himmel und auf Erden ist, und wir billig allzumal in Ehren halten
sollen, so wäre es vermessentlich und gefährlich von mir gehandelt, etwas Unbcdäch-
tiges anzuzeigen, sintemal ich weniger, denn es die Sache erfordert, oder mehr, denn
es der Sachen gemäß wäre, unbesonnen oder unbedacht behaupten und für gewiß
sagen könnte, welches mich in das llrtheil bringen würde, das Christus gefällt hat,
da er sagt: „Wer mich vor den Menschen verleugnen wird, den will ich auch ver-
leugnen vor meinem himmlischen Vater", — derohalben bitte ich von kaiserlicher
Majestät aufs allerunterthänigste und demüthigste Bedenkzeit, auf daß ich ohne
Nachtheil Gottes Worts und ohne Gefahr meiner Seelen Seligkeit auf die fürge-
haltenen Fragstücke richtig antworten möge." — Auf diese Bitte wurde ihm noch
ein Tag Bedenkzeit bewilligt. Welche Gedanken ihn in jener Zeit bewegten, davon
zeugt unter anderem das nachstehende Gebet, das er damals vor seiner zweiten Er-
scbeinung vor dem Kaiser in seinem Gemach knieend sprach: „Allmächtiger, ewiger
Gott! Wie ist es nur ein Ding um die Welt! Wie sperret sie den Leuten die
Mäuler auf! Wie klein und gering ist das Vertrauen der Menschen aus Gott! Wie
ist das Fleisch so zart und schwach, und der Teufel so gewaltig und geschäftig durch
seine Apostel und Weltweisen! Wie ziehet sie so bald die Hand ab und schnurret
dahin, läuft die gemeine Bahn und den weiten Weg zur Höllen zu, da die Gott-
losen hingehören, und siehet nur allein bloß an, was prächtig und gewaltig, groß
und mächtig und ein Ansehen hat. Wenn ich auch meine Augen dabin wenden soll,
so ists mit mir aus; die Glocke ist schon gegossen und das Urtheil gefället. Ach
Gott, ach Gott! O du mein Gott, du, mein Gott, stehe du mir bei wider aller
Welt Vernunft und Weisheit! Thue du es, du mußt es thun, du allein. Ist es
doch nicht meine, sondern deine Sache. Hab ich doch für meine Person allhie nichts
zu schaffen und mit diesen großen Herren der Welt zu thun. Wollte ich doch auch
gute, geruhige Tage haben und unverworren sein. Aber dein ist die Sache, Herr,
die gerecht und ewig ist. Stehe mir bei, du treuer, ewiger Gott! Ich verlasse mich
auf keinen Menschen. Es ist umsonst und vergebens, es sinket Alles, was fleischlich
ist und nach Fleisch schmeckt. O Gott, o Gott! Hörest du nicht, mein Gott? Bist
du todt? Nein, du kannst nicht sterben, du verbirgst dich allein. Hast du mich
dazu erwählet, ich frage dich, wie ich es denn gewiß weiß, ei, so walt es Gott!
Denn ich mein Leben lang nie wider solche große Herren gedacht zu sein, habe es
mir auch nicht vorgenommen. Ei, Gott, so stehe mir bei in dem Namen deines
lieben Sohnes Jesu Christi, der mein Schutz und Schirm sein soll, ja meine feste
Burg, durch Kraft und Stärkung deines heiligen Geistes. Herr, wo bleibest du?
Du, mein Gott, wo bist du? Komm, komm, ich bin bereit, auch mein Leben darum
zu lassen, geduldig wie ein Lämmlein. Denn gerecht ist die Sache, und dein; so
will ich mich von dir nicht absondern ewiglich. Das sei beschlossen in deinem
Namen. Die Welt muß mich über mein Gewissen wohl ungezwungen lassen, und
wenn sie noch voller Teufel wäre, und sollte mein Leib, der doch zuvor deiner Hände
Werk und Geschöpf ist, darüber zu Grund und Boden, ja zu Trümmern gehen, da-
für aber dein Wort und Geist mir gut ist. Und ist auch nur um den Leib zu thun,
die Seele ist dein und gehört dir zu und bleibet anch bei dir ewig. Amen! Gott
helfe mir! Amen."
Am folgenden Tag wurde er, wie am Tag zuvor, um vier Uhr in den Neichs-
rath geführt. Die Spannung nnd Begierde auf die entscheidende Antwort stieg
aufs höchste; Luther mußte aber bis sechs Uhr unter großem Gedränge stehen nnd
366
warten; es brannten schon alle Fackelst im Saal der Neichsversammlung. Als er
endlich vorgelassen und aufgefordert war zu reden, sprach er mit deutschen Worten:
.Allergnädigster Kaiser, gnädigste Kurfürsten, Fürsten und Herren! Ich erscheine
als der Gehorsame auf den Termin, so mir gestern Abend angesagt ist, und bitte
durch Gottes Barmherzigkeit, Ew. Majestät in Gnaden wollten diese gerechte und
wahrhaftige Sache, wie ich hoffe, gnädigst hören, und so ich aus Unverstand vielleicht
einem Jeglichen seinen gebührenden Titel nicht geben, oder mich sonst nicht nach
Hofgebrauch in Geberden erzeigen sollte, mir es gnädigst zu gut halten, als der ich
nicht zu Hof gewesen, sondern immer im Kloster gesteckt bin, und von mir anders
nicht zeugen kann, denn daß ich in dem, was von mir bisher mit einfältigem Her-
zen gelehrt und geschrieben worden, allein Gottes Ehr und der Christgläubigen Nutz
und Seligkeit, damit dieselben rechtschaffen und rein unterrichtet würden, angesehen
und gesucht habe." Hierauf machte er einen Unterschied unter seinen Büchern.
Einige seien solche, darinnen er vom Glauben und christlichen Werken recht und
christlich, nach selbsteigenem Zeugniß seiner Widersacher, gelehret; die könne er nicht
widerrufen. In den andern greife er das Pabftthum und der Papisten Lehre an,
die mit ihrer falschen Lehre und bösem Exempel die Christenheit an Leib und Seele
verwüstet, der Christgläubigen Gewissen aufs allergreulichste und jämmerlichste ver-
strich^ beschwert und gemartert hätten. Auch diese Bücher könne er nicht widerrufen,
weil er dadurch ihre Tyrannei und Bosheit stärken würde. „O! welch ein großer
Schanddeckel allerlei Schalkheit und Tyrannei, lieber Gott, würde ich alsdann wer-
den!" rief er aus. Die dritte Art seiner Bücher gehe wider einige Privatpersonen,
die sich unterstanden, römische Tyrannei zu vertheidigen und die gottselige Lehre, so
er gelehrct, zu fälschen und zu unterdrücken, darinnen er sich auch wohl zuweilen
heftiger erwiesen, als es ihm seines Amtes gezieme; dieselbigen könne er aber auch
nicht widerrufen, damit er nicht Ursach gebe, forthin allerlei gottlos Wesen zu ver-
theidigen und neue Greuel und Wüthen anzurichten. „Doch weil ich ein Mensch
bin", fuhr er fort, „und nicht Gott, kann ich meinen Büchlein anders nicht helfen,
noch sie vertheidigen, denn mein Herr und Heiland seiner Lehre gethan hat, welcher
sprach: „Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei." Hat nun der Herr,
welcher wußte, daß er nicht irren konnte, sich nicht geweigert, Zeugniß wider seine
Lehre zu- hören, auch von einem geringen, schnöden Knecht, wie viel mehr ich, der
Erd und Asch ist, und leichtlich irren kann, soll begehren und warten, ob Jemand
Zeugniß wider meine Lehre geben wolle. Darum bitt ich durch die Barmherzigkeit
Gottes, Ew. kaiserliche Majestät, kur- und fürstliche Gnaden, oder wer es thun
kann, er sei hohen oder niederen Standes, wolle Zeugniß geben, mich mit propheti-
schen und apostolischen Schriften überweisen, daß ich geirret habe; so ich deß über-
zeuget werde, will ich ganz willig und bereit sein, allen Irrthum zu widerrufen,
und der Erste sein, der meine Büchlein ins Feuer werfen will. Aus diesem, halt
ich, erscheine klärlich und öffentlich, daß ich genugsam bedacht und erwogen habe die
Noth und Gefahr, das Wesen und die Zwietracht, so durch Verursachung meiner
Lehre soll erwecket sein, davon ich gestern hart und stark bin erinnert worden. Mir
zwar ist es wahrlich die allergrößte Lust und Freude, zu sehen, daß um Gottes
Worts willen Zwietracht und Uneinigkeit entsteht, denn dies ist Gottes Worts Art,
Lauf und Glück."
Dieses und noch mehr Anderes sprach Luther deutsch, nicht schreiend, sondern
sittig und überaus bescheiden, aber mit großer Freudigkeit. Aber man wußte, daß
.'V
3ü7
der Kaiser besser Spanisch als Deutsch verstand, mochte auch die deutsche Sprache
nicht leiden; „also (erzählt Luther selbst) dieweil ich so redete, begehrten fie von
mir, ich sollte es noch einmal wiederholen mit lateinischen Worten; aber ich schwitzte
sehr, und war mir des Getümmels halben sehr heiß worden, und daß ich gar unter
den Fürsten stund. Da sagte Herr Friedrich von Thunau: „Könnet ihr es nicht
thun, so ists genug, Herr Doktor." Aber ich wiederholte alle meine Worte latei-
nisch." Das gefiel Herzog Friedrich, dem Kurfürsten, überaus wohl. Weil aber
nun. der kurtrierische Beamte strafend einfiel und eine runde, richtige Antwort ver-
langte, ob er widerrufen wolle oder nicht, so sagte Luther: „Weil denn kaiserliche
Majestät, kur- und fürstliche Gnaden eine schlechte, einfältige, richtige Antwort be-
gehren, so will ich die geben, so weder Hörner noch Zähne haben soll, nemlich also:
es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift, oder mit öffentlichen, klaren
und hellen Gründen und Ursachen überwunden und überwiesen werde (denn ich
glaube weder dem Pabst noch den Kirchenversammlungen alleine nicht, weil es am
Tag und offenbar ist, daß sie oft geirret haben und ihnen selbst widersprechend ge-
wesen sind), und ich also mit den Sprüchen, so von mir angezogen und angeführet
sind, überzeuget, und mein Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, so
kann und will ich Nichts widerrufen, weil weder sicher noch gerathen ist, Etwas
wider das Gewissen zu thun. Hie steh ich, ich kann nicht anders; Gott
h elfe mir! Amen."
168. Luthers Rückkehr nach Wittenberg.
Nachdem zu Worms des Reiches Acht über Luther war ausgesprochen wor-
den , wie zuvor schon der Kirchenbann, wurde er von seinen Freunden insge-
heim auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Während er hier saß und in
der ihm gebotenen Stille sich sammelte und an Gottes Wort übersetzte, begab
es sich, daß gen Wittenberg viel unruhige und störrische Geister kamen, die an
der Kirche auf einmal gewaltsam Alles umkehren wollten und sich göttlicher
Offenbarung rühmten. Zu diesen gesellte sich auch Luthers früherer Freund,
Dr. Karlstadt, der viel ärgerliche Dinge anrichtete. Als der Doktor davon
hörte, konnte er sich auf der Wartburg nicht länger halten; denn solch Stür-
men und Schwärmen that ihm von Herzen weh. Und obwohl er in Acht und
Bann war und großer Fährlichkeit ausgesetzt, so setzte er sich doch in Gottes
Namen auf sein Roß und eilte flugs gen Wittenberg, den 4. März 1522, um
bem Muthwillen allda zu steuern. An seinen allergnädigsien Kurfürsten schrieb
er unterwegs unter Anderem also: „Ich habe Eurer kurfürstlichen Gnaden
genug gethan, daß ich dies Jahr gewichen bin, Ew. kurf. Gu. zu Dienst; denn
der Teufel weiß fast wohl, daß ichs aus keinem Zag (Verzagtheit) gethay hab.
Das weiß ich von mir: wenn die Sache zu Leipzig also stünde wie zu Witten-
berg (in Leipzig regierte nemlich ein der Reformation abgeneigter Herzog,
Namens Georg), so. wollt ich doch hineinreiten, wenus gleich neun Tage eitel
Herzog Georgen regnete, und ein jeglicher wäre neunmal wüthender, als dieser
ist. Er hält meinen Herrn Christum für einen Mann aus Stroh geflochten;
das kann mein Herr und ich eine Zeit laug wohl leiden. Ich komme gen Wit-
tenberg in gar viel einem höheren Schutz, denn des Kurfürsten. Ich Habs
auch nicht im Sinn, von Ew. kurf. Gn. Schutz zu begehren. Ja ich halt, ich
368
wollt Ew. kurf. Gn. mehr schützen, denn Sie mich schützen könnte; dazu,
wenn ich wüßte, baß mich Ew. kurf. Gn. könnte und wollte schützen, so wollt
ich nicht kommen. Dieser Sachen soll, noch kann kein Schwert rathen oder
helfen; Gott muß hie allein schaffen ohne alles menschlich Sorgen und Zu-
thun. Darum, wer am meisten glaubt, wird hie am meisten schützen. Wenn
Ew. kurf. Gn. glaubte, so würde Sie die Herrlichkeit Gottes sehen; weil Sie
aber nicht glaubt, so hat Sie noch Nichts gesehen. Gott sei Ehre, Lieb und
Lob in Ewigkeit, Amen!" —Angethan mit solcher Gotteskraft kam unser
Doktor am 7. März gen Wittenberg, in langem, ritterlichem Haupthaar, statt-
lichem Bart, Panzerhemd und Degen, so wie er, um unerkannt zu bleiben, auf
der Burg gewöhnlich angekleidet war. Acht Tage lang stritt er täglich von der
Kanzel mit dem Schwert des Geistes gegen die Rotten - und Schwarmgeister,
und so gelang es ihm, sie aus der Stadt zu treiben und Ruhe und Ordnung
wieder herzustellen.
169. Die Mebergabe des Angsdnrgischen Glaubensbekennt-
nisses (Consesston) im Jahr 1530.
Am 25. Junius, am Samstag nach dem Johannisfeiertag, verfügten
sich sämtliche Kurfürsten und Stände Nachmittags drei Uhr auf des Bischofs
von Augsburg Hof, wo der Kaiser wohnte, und wo in der Kapelle des Kaisers
die evangelische Vorlesung des Glaubensbekenntnisses geschehen sollte, das von
füns Reichssürsten und den Abgeordneten der Reichsstädte Reutlingen und
Nürnberg unterzeichnet war. Das Zimmer war auch so groß, daß zwei-
hundert Personen bequem Platz darin fanden; doch ließ der Kaiser Alle ab-
treten, die nicht Fürsten oder Abgeordnete waren. Die beiden kursächsischen
Kanzler, Doktor Brück und Doktor Bayer, traten hierauf in die Mitte des
Zimmers, jener den lateinischen, dieser den deutschen Tert in der Hand hal-
tend. Der Kaiser verlangte, daß der lateinische verlesen werden sollte: der
Kurfürst von Sachsen aber wendete ein: sie wären auf deutschem Grund und
Boden, und er hoffe demnach, Jhro Majestät würde auch die deutsche Sprache
erlauben. Der Kaiser bewilligte es. Der Kanzler Doktor Brück hielt erst
noch eine kurze Rede im Namen der protestirenden Srände, und nun erfolgte
die Vorlesung des Bekenntnisses durch den Kanzler Doktor Bayer. Die Vor-
lesung dauerte fast zwei Stunden; doch wurde mit Ernst und Stille zugehört.
Der kursächsische Kanzler las so laut und vernehmlich, daß man auch im
Schloßhos, wo eine große Menge Menschen versammelt war, alle Worte ver-
nehmen konnte. Dergleichen zu hören, hatte man nicht verhofft. Alle die
falschen Vorstellungen, welche die Feinde des evangelischen Glaubens bisher
über denselben zu verbreiten sich so betriebsam bemüht hatten, wurden jetzt auf
einmal widerlegt und ganz zu nichte. Man erstaunte, da man einen so bün-
digen, wohlgeordneten und richtigen Vortrag der reinen evangelischen Lehre,
einen so trefflichen Inbegriff des echten christlichen Glaubens vernahm. Durch
die zu Augsburg anwesenden Gesandten und derselben Berichte, wie auch durch
die bald nachher erfolgten Uebersetzungen des Glaubensbekenntnisses in mehrere
Sprachen konnten nun auch bei andern Völkern richtigere Begriffe über das
Wesen des evangelischen Glaubens verbreitet, und also der Same des Evan»
369
geliums auch in weit entlegene Länder ausgeworfen werden. Jedermann
mußte erkennen, daß die in diesem Bekenntniß enthaltene Lehre dem Inhalt der
l,eiligen Schrift und den Schriften der angesehensten Kirchenlehrer gemäß sei.
Nach geschehener Verlesung des Bekenntnisses wollte Doktor Brück beide
Entwürfe derselben dem kaiserlichen Geheimschreiber übergeben, allein der
Kaiser streckte selbst die Hand darnach aus, gab das deutsche Bekenntniß dem
Kurfürsten Albrecht von Mainz und behielt das lateinische für sich. Die
protestantischen Stände statteten hierauf dem Kaiser, dem König und den an-
dern Fürsten für gnädiges und gütiges Gehör ihre Danksagung ab. Ein
neues Gefühl belebte und durchdrang sie von diesem großen Augenblick an.
Durch daö feste Band eines geuleinsamen Glaubens fühlten sie sich jetzt mehr
denn je zuvor innig verbunden.
170. Herzog Ulrichs Rückkehr in sein Vaterland.
(1534.)
Herzog Ulrich von Württemberg hatte sich durch sein heftiges, wildes
Wesen die Herzen seiner Unterthanen entfremdet; was Wunder, daß es seinen
Feinden so leicht gelang, ihn vom Thron zu stoßen und aus dem Lande zu ver-
jagen! Die freien Reichsstädte nemlich, die es damals noch im Lande gab,
Ulm, Reutlingen, Eßlingen, Weil die Stadt, Heilbronn und andere hatten mit
vielen Edelleuten, Fürsten und Grafen, die ebenfalls nicht unter dem Herzog
standen, zusammen einen Bund wider Herzog Ulrich gemacht, den man den
schwäbischen Bund nannte. Als nun Ulrich im Jahr 1519 die Stadt
Reutlingen angriff und theilweise zerstörte, so erhoben sich die Verbündeten
wider ihn, vertrieben denselben, nahmen sein Land in Besitz und verkauften es
an den Kaiser Karl V., der es seinem Bruder, dem Erzherzog Ferdinand von
Oesterreich, zu eigen gab. Fünfzehn Jahre (von 1519—1534) war Württem-
berg unter österreichischer Herrschaft, und der Reformation der Kirche, die in
jener entscheidungsvollen Zeit allenthalben vordrang, wurde mit großer Strenge
der Weg in das Land Württemberg gewehrt. Doch während man alle evange-
lischen Schriften verbot, und wo man ihrer habhaft werden konnte, sie ver-
brannte, die der evangelischen Gesinnung verdächtigen Prediger vertrieb rc.,
traf der Herr bereits Anstalten, die Gedanken der Menschen zu Schanden zu
machen; und das Werkzeug dazu sollte der vertriebene Herzog Ulrich sein. Die-
ser war in der Fremde auf den evangelischen Glauben aufmerksam gemacht wor-
den, den er im Taumel seiner Hoflustbarkeiten und tut Trotze seiner Macht viel-
leicht lange unbeachtet gelassen oder wohl gar unterdrückt hätte. Wie tief die
Wahrheit damals dem Herzog ins Herz gedrungen, ist schwer zu sagen; aber
es war immerhin von Wichtigkeit, daß er dem Evangelium geneigt wurde, um,
wenn er einmal wieder in sein Land käme, die Verbreitung desselben wenigstens
nicht zu hindern. Er war im Feuer der Trübsal geläutert, war um vieles sanf-
ter und milder worden, hatte auch erfahren, daß die Anfechtung lehret
aufs Wort merken (Jes. 28, 19.), wie er denn auch seinen früheren,
trotzigen Wahlspruch: „es bleibt dabei!" abgelegt hatte und sich nun an
den besseren sämtlicher evangelischen Fürsten hielt: „Gottes Wort blei-
Lesebuch. 24
370
bet in Ewigkeit!" — In der letzten Zeit hatte sich Ulrich bei demjenigen
Fürsten aufgehalten, der nebst dem Kurfürsten von Sachsen der Hauptbeschützer
und Vertheidiger der evangelischen Lehre war, nemlich bei dem Landgrafen
Philipp von Hessen-Kassel. Sie waren Freunde von alter Zeit her, einander
verwandt, und bei der nun vorgegangenen Sinnesänderung hielt Philipp große
Stücke auf Ulrich. Auch hoffte er, wenn derselbe in sein Land als Herzog zu-
rückkäme und dort mit allgemeiner Zustimmung die Reformalion einführete, so
würde daraus für die evangelisch Gesinnten in Deutschland ein großer Zu-
wachs an Macht entstehen.
A Also achtete der edle Landgraf die Gefahr nicht, die es hatte, wider den
grvßmächtigen Kaiser Karl und dessen Bruder Ferdinand Krieg zu beginnen,
•*>. sondern „mit Gott fei es gew agt!" sprach er, und brachte schnell ein
Heer von 4000 Reitern, 20,000 Mann zu Fuß und 6000 Knechten zusam-
men, erließ ein offenes Schreiben an den Kaiser und das ganze deutsche Volk
und erklärte darin: Herzog Ulrich sei auf widerrechtliche Weise feines Herzog-
thums beraubt und entsetzt worden, es müsse ihm wieder zu seinem Recht ver-
holfen werden; dazu habe er sich mit ihm verbündet und zu nichts Anderem;
sie wollen Niemand kränken, auch an Niemand Rache nehmen wegen alter Be-
leidigungen, sondern wenn Ulrich wieder Herzog setz so splle Alles vergeben und
vergessen sein.
Sie hatten kriegsgeübUSöwamT-ünd erfahrene Hauptleute geworben.
Mit diesen zogen sie rasch über Neckarsulu/ herein ins Land. Bei Lauffen am
^Neckar stellten sich die Oesterreicher; es war der 13. Mai 1534. Das war
ein Freudentag für Württemberg; denn an diesem Tage wurde Philipp und
Ulrich ein großer Sieg beschert. Während der Schlacht hielt der österreichische
Statthalter zu Pferd nebst mehreren Ofstzieren auf einer Anhöhe, von wo aus
man den Kampfplatz übersehen konnte. Ein Schütz bemerkte dieses und fragte
Herzog Ulrich, ob er den Pfalzgrafen erschießen solle? „Schieß ihn nur in den
Fuß!" war die Antwort des Herzogs. Der Schütz zielte und weg war die
Ferse am rechten Fuß des Statthalters; sein Pferd stürzte, ihn brachte man
verwundet nach Asberg.
Schon nach zwei Tagen hielt der Herzog seinen Einzug in Stuttgart, ver-
sprach dem Volk Bestätigung aller alten Freiheiten und Rechte, Ablegung aller
Ungnade; tind mit Freuden huldigte die Bürgerschaft hier und im ganzen Land
dein ersehnten Fürsten wieder. Landgraf Philipp aber, ein muthiger, rascher
Herr, zog mit dem siegreichen Heere schnell vorwärts und drohte von Ober-
schwaben aus in die altöfterreickischen Lande mit Krieg einzufallen. Darüber
erschrack der Kaiser, weil er schon von den Türken auf einer andern Seite hart
bedrängt war, und bot deßwegen Frieden an. Auch fein Bruder, der Erzherzog
Ferdinand, der gerne römischer König und künftighin deiltscher Kaiser werden
wollte, wozu er der Zustimmung der evangelischen Fürsten bedurfte, war ge-
neigt, Frieden zu machen tind dem Herzog Ulrich sein altes Herzogthum wieder
abzutreten, unter der Bedingung, daß die Protestaitten ihn, den Erzherzog Fer-
dinand, zum römischen König wählen und dem Kaiser, feinem Bruder, Hülfe
wider die Türken thun sollten. Daraus hin wurde denn der Friede geschloffen,
im Böhmcrland, in der Stadt Kadan, den 29. Juni 1534, uitd der Herzog
war also wieder ganz in sein Herzogthum eingesetzt.
371
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6
Nun war die Freude groß im Land, da Ulrich, wie er versprochen hatte,
ein mildeS Regiment anfing und sogleich seinen Entschluß kund that, das ganze
Land zu reformiren. Es gab zwar noch viel Widerstand , besonders in den
Klöstern; das Volk jedoch nahm allenthalben das theure, langersehnte Evange-
lium mit Freuden auf und preisete Gott für seine Wunderwege, daß er den
Herzog Ulrich zuerst ins Elend und dadurch zur Sinnesänderung geführt, auch
das Land durch den vorherigen Druck nur um so begieriger nach seinem himm-
lischen Wort gemacht hatte.
Der Herzog rief als seine Gehülfen zu dem Werk der Reformation zwei
fromme, bewährte Männer ins Land. Der eine kam aus der Schweiz, Am-
brosius Blarer, aus Constanz am Bodensee gebürtig, ein gar wirksamer Mann,
der schon vorher in Constanz selbst, in Ulm, in Eßlingen und anderswo die re-
formirte Lehre und Ordnung eingeführt hatte. Verändere war Erhard Schnepf,
aus Heilbronn gebürtig, früher ein Rechtsgelehrter, sodann durch Luthers Bei-
hülfe, mit dem er bekannt geworden, nach Herz und Sinn umgewandelt in einen
Gottesgelehrten. Er hatte schon im Anfang der zwanziger Jahre in Weinöberg
das reine Evangelium gepredigt, war dann von den Oesterreichern verfolgt und
vertrieben worden, und hatte sich seither beim Landgrafen Philipp aufgehalten.
Er war jetzt vierzig Jahre alt, kräftig, gelehrt, beredt, fest in der Wahrheit und
doch sanftmüthig mit Jedermann, dabei auch umgänglich, in seinem Leben der-
selbige wie in seiner Lehre. Gesegnet sei sein Name in Württemberg, wo er
bis zu dem Unglücksjahr 1548, also vierzehn Jahre seiner besten Lebenszeit, im
Dienst des Herrn zubrachte! Aon ihm ist noch das alte, schöne Betstunden-
gebet, das mit den Worten anfängt: „Herr, Herr Gott, gnädig und barmher-
zig, geduldig und von großer Gnad und Treues
171. Luther am Sterbebette seines Töchterleins Magdalena.
Or. Martin Luther hatte alle seine Kinder von ganzem Herzen lieb; be-
sonders lieb und werth aber war ihm sein Töchterlein Magdalena. Das legte der
Herr eines Tags auf ein schweres Krankenlager, von welchem es nicht mehr er-
stand. Luthers Herz war tief betrübt; aber er wendete sich zu seinem Herrn:
„Ich habe sie sehr lieb; aber lieber Gott, da es dein Wille ist, daß du sie da-
hinnehmen willst, so will ich sie gern bei dir wissen." Zu seiner lieben, kranken
Tochter aber sprach er: „Magdalenchen, mein Töchterlein, du bleibest gern hier
bei deinem Vater und ziehest auch gern hin zu jenem Vater"; worauf das
kranke Kind erwiederte: „Ja, herzer Vater, wie Gott will." Da sagte der
Vater: „Du liebes Töchterlein! der Geist ist willig, aber das Fleisch ist
schwach." Und sich herumwendend sprach er: „Ich habe sie ja sehr lieb; ist das
Fleisch so stark, was wird denn der Geist sein?"
Seine Hausfrau war sehr traurig und weinte sehr; „liebeKäthe", sprach
er, „bedenke doch, wo sie hinkommt; sie kommt ja wohl. Aber Fleisch und
Blut steischert und blutet, thut wie seine Art ist; der Geist lebt und ist willig.
Die Kinder disputiren nicht; wie maus ihnen sagt, so glauben sie es; bei den
Kindern ist Alles einfältig, sterben ohne Schmerz und Angst, ohne Anfechtung
des Todes/ ohne Schmerzen des Leibes, gleich wie sie entschlafen." ,
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Als Magdalenchen in den letzten Zügen lag und sterben wollte, fiel der
Vater vor dem Bette auf seine Kniee, weinte bitterlich und betete, daß sie Gott
wolle erlösen. Da entschlief sie in des Vaters Händen. Die Mutter war auch
in der Kammer, doch weiter von dem Bette, um der Traurigkeit willen. Das
geschah im Jahr 1542.
Da man sie in den Sarg legte, sprach Dr. Luther: „Du liebes Leuchen,
wie wohl ist dir geschehen! Du wirst wieder aufstehen und leuchten wie ein
Stern, ja wie die Sonne. Ich bin ja fröhlich im Geist; aber nach dem Fleisch
bin ich sehr traurig. Wunderding ist es, wissen, daß sie gewiß in Frieden und
ihr wohl ist, und doch noch so traurig sein." Und da das Volk kam, die Leiche
helfen zu bestatten, und ihm Beileid bezeugte, sprach er: „Es soll euch lieb
sein; ich habe einen Heiligen gen Himmel geschickt, ja einen lebendigen Heili-
gen. O, hätten wir einen solchen Tod! Solch Ende wollte ich auf diese
Stunde annehmen." Da sagte eines: „Ja es ist wohl wahr, doch behält ein
Jedes gern die Seinen." „Fleisch ist Fleisch, Blut ist Blut; ich bin froh, daß
sie hinüber ist."
Als man sie einscharrte und begrub, rief er aus: „Er ist die Auferstehung
und das Leben, wer an ihn glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe!"
Und da man wieder vom Begräbniß kam, sprach er: „Meine Tochter ist
nun wohl beschicket, beides an Leib und Seele. Wir Christen haben nichts zu
klagen; wir wissen, daß es also sein muß; wir sind ja des ewigen Lebens aufs
allergewisseste; denn Gott, der es uns durch und um seines lieben Sohnes wil-
len zugesagt hat, der kann ja nicht lügen. Ich gebe diese Tochter unsrem Herrn
Gott sehr gern; nach dem Fleisch aber hätte ich sie gern länger-bei mir behal-
ten; weil er sie aber genommen hat, so danke ich ihm."
Zu Magister Philippus (Melanchthon) sagte er: „Wenn das Kind sollte
wieder lebendig werden und sollte mir das türkische Königreich mitbringen, so
wollt ichs nicht annehmen. O, sie ist wohl gefahren! Selig sind die Todten,
die in dem Herrn sterben!"
172. Luther in Noth und Tod.
Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes
gesagt haben, welcher Ende schauet an und folget ihrem
Glauben nach. (Hebr. 13, 7.)
s * Unser Vater Luther hatte über dem großen Werk der Kirchenreinigung
/ viel Mühe und Arbeit; er mußte anfänglich jeden Tag zweimal und öfter pre-
digen, die Jugend auf der hohen Schule zu Wittenberg lehren und von Amts
wegen viele Reisen machen. Daneben wendete er'täglich zwei oder drei Stun-
den zum Gebet an oder zur Betrachtung, forschte fleißig in der Schrift, schrieb
viele Bücher, las auch fremde Bücher und hatte Krankheiten auszustehen. „Ich
bin im ganzen Jahr wenig rechtschaffen frisch", sagte er einstmals; „ich bin
entweder am Leib oder am Geist schwach und krank, eins ums andere." Ein
andermal seufzte er unter der Last seiner Arbeit: „Ach, kein Mensch auf Erden
weiß, wie schwer und sauer mir meine Sache worden ist. Wenn mir meine
Arbeit mit gutem Gewissen zu verlassen gebührete, sollte mir im Garten arbei-
ten, hacken und graben viel leichter ankommen, dann solche Mühe auf dem
373
Hals zu haben. Es fließt mir Alles, was ich schreibe, mehr aus dem Gedächt-
niß, als daß es erst langsam müßte hervorgebracht werden; und doch habe ich
nicht Zeit genug." — Solches bezeugen auch Alle, die um ihn gewesen stnd.
Einer sagt: „Luthern kann das nimmermehr ein Mensch nachthun, daß er bei
so viel Anfechtung, Gefahr, Streit und Kämpfen so viele Bücher könnte lassen
ausgehen, als wie er thut; ja, wenn sich ein junger Mensch darüber setzte und
sollte nichrs Anderes thun, denn allein die Bücher, die Luther hat lassen aus-
gehen, nachschreiben, so würde es ihm fast unmöglich sein." Dennoch war
Luther in allen Mühen und Widerwärtigkeiten frisch und wohlgemuth; er
stärkte sich in denselben durch ein anhaltendes und brünstiges Gebet, in wel-
chem er Gott die Verheißungen der heiligen Schrift vorhielt, wie wir das sehen
bei einer Krankheit, welche ihn im Jahr 1527 plötzlich überkam. In derselben
sagte er zu seinen Freunden Dr. Jonas und Dr. Bugenhagen: „Weil die Welt
Freude und Lust hat, zu lügen, werden Viele sagen, ich habe meine Lehre vor
meinem Ende widerrufen; begehre deßhalb ernstlich, daß ihr wollt Zeugen sein
des Bekenntnisses meines Glaubens. Ich sage mit gutem Gewissen, daß ich
aus Gottes Wort recht gelehret habe nach Gottes Befehl, dazu er mich ohne
meinen Willen gezogen und gedrungen hat; ja, sage ich nochmals, recht und
heilsam habe ich gelehret vom Glauben, Liebe, Geduld und andern Artikeln
christlicher Lehre. Viele geben mir Schuld, ich sei zu hart und heftig, wenn
ich wider meine Widersacher schreibe. Ja, ich bin zu Zeiten heftig gewesen und
habe meine Widersacher hart gestraft, doch so, daß michs nie gereuet hat. Ich
sei nun heftig oder mäßig, so habe ich ja Keines Schaden gesucht, sondern viel-
mehr Jedermanns, auch meiner Feinde Bestes und Seligkeit. Viele denken,
weil ich mich unterweilen in meinem äußerlichen Wandel fröhlich stelle, ich
gehe auf eitel Rosen; aber Gott weiß, wie es um mich stehet, meines Lebens
halber. Ich habe mir oft vorgenommen, ich wollte der Welt zu Dienst mich
etwas ernstlicher und heiliger (weiß nicht, wie ichs nennen soll) stellen, aber
Gott hat mir solches nicht zu thun gegeben. Die Welt findet, gottlob, kein
Laster an mir, das sie mir mit Wahrheit könnte aufrücken; gleichwohl ärgert
sie sich an mir. Ich bitte und rufe Gott an täglich mit Ernst, daß er mir
Gnade verleihe, daß ich durch meine Sünden Niemand Ursach gebe, daß er sich
an mir ärgere." Nachdem er zuvor das Vaterunser und den sechsten Psalm
gesprochen hatte, betete er also: „Herr, mein Gott! wenn du es so willst haben,
daß dies die Stunde sei, die du mir versehen hast, so geschehe dein gnädiger
Wille. Herr, du weißt es, wie gern ich hätte mein Blut vergossen um deines
Worts willen; aber ich bins vielleicht nicht werth; dein Wille geschehe! Willst
du es haben, so will ich auch so gerne sterben; allein, daß dein heiliger Name
gelobet und gepreiset werde, es sei durch mein Leben oder Tod. Wenns aber,
lieber Gott, möglich wäre, möchte ich noch gerne länger leben um deiner Aus-
erwählten willen (Phil. 1, 23. 24.). Ist aber das Stündlein kommen, so
mache es, wie dirs gefället; du bist ein Herr über Leben und Tod. Herr Jesu
Christe! du hast mir gnädiglich verliehen die Erkenntniß deines heiligen Na-
mens; du weißt, daß ich an dich samt Vater und heiligen Geist, einigen und
wahren Gott, glaube und mich tröste, daß du unser Mittler und Heiland bist,
der du dein theures Blut für uns Sünder vergossen hast; stehe mir in dieser
Stunde bei und tröste mich mit deinem heiligen Geist. Du bist ja ein Gott
374
der Sünder und Elenden, die ihre Angst, Noth und Jammer fühlen und deiner
Gnade, Trost und Hülfe herzlich begehren, wie du sprichst: kommet her zu
mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid) ich will euch er-
quicken! Herr, ich komme auf deine Zusage; ich bin in großer Angst und
Noth, hilf mir um deiner Gnade und Treue willen. Du hast gesagt: bittet,
so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an,
so wird euch auf ge thau. Laut dieser deiner Verheißung gib mir, Herr,
der ich bitte, nicht Gold noch Silber, sondern einen starken, festen Glauben;
laß mich finden, der ich suche, nicht Lust oder Freude der Welt, sondern Trost
und Erquickung durch dein selig, heilsam Wort; thu mir auf, der ich anklopfe.
Nichts begehre ich, das die Welt groß und hoch achtet; denn ich wäre damit
vor dir nicht um ein Haar breit gebessert, sondern deinen heiligen Geist gib mir,
der mein Herz erleuchte, mich in meiner Angst und Noth stärke und tröste, in
rechtem Glauben und Vertrauen auf deine Gnade erhalte bis an mein Ende.
Amen!" — Während der Krankheit fragte der Doktor nach seinem Söhnlein
Hänschen. Da das Kind gebracht ward, lachts den Vater an. Da sprach er:
„O du gutes, armes Kindlein! nun, ich befehle deine Mutter und dich, armes
Waislein, meinem lieben, frommen, treuen Gott. Ihr habt Nichts; Gott
aber, der ein Vater der Waisen und Richter der Wittwen ist, wird euch wohl
ernähren und versorgen." Darauf redete er weiter mit seiner Hausfrau von
den silbernen Bechern; „die ausgenommen", sagte er, „weißt du, daß wir sonst S
Nichts haben." Und nun betete er: „Lieber Gott, ich danke dir, daß du ge-
wollt hast, daß ich auf Erden sollte arm und ein Bettler sein; kann derhalben
weder Haus, Becker, liegende Gründe, Geld noch Gut meinem Weib und Söhn-
lein nach mir lassen. Wie du sie mir gegeben hast, so bescheide ich sie dir
wieder. Du reicher, treuer Gott, ernähre sie, erhalte sie, du Vater der Waisen
und Richter der Wittwen!"
Aus dieser Krankheit sollte Luther jedoch nach Gottes Willen bald wieder
genesen und noch viele Jahre, wie er ja gern wollte, der Christenheit zum
Segen leben. Erst im Jahr 1546, im drei und sechzigsten Jahr seines Alters,
ging der treue Knecht ein zu seines Herrn Freude. Am 15. Februar dieses
Jahrs fühlte er zu Eisleben, wohin er in Geschäften gereist war, nach dem
Abendessen sein Ende herannahen, nachdem er kurz vorher mit seinen Freunden
viel vom Tod und ewigen Leben und vom Wiedersehen im Himmel gesprochen
hatte. Um zehn Uhr legte er sich zu Bett mit den Worten: „In deine Hände
befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du treuer Gott!" (Pf. 31,
6.) Nach Mitternacht stund er wieder mit diesen Worten auf, klagte sehr über
Schmerzen in der Brust, betete viel und sagte: „Lieber Gott, wie ist mir so
wehe! Ich fahre dahin, ich werde wohl hierzu Eisleben, wo ich geboren
und getauft bin, bleiben." Da sprach vr. Jonas: „Ehrwürdiger Vater, ihr
habt einen guten Schweiß gelasten; Gott wird Gnade verleihen, daß es wird
besser werden." Antwortete er: „Ja, es ist ein kalter Todesschweiß, ich werde
meinen Geist aufgeben; denn die Krankheit mehret sich." Daraus fing er an
zu beten: „O mein himmlischer Vater, ein Gott und Vater unseres Herrn Jesu
Christi, du Gott alles Trostes! ich danke dir, daß du mir deinen Sohn Jesum
Christum offenbaret hast, an den ich glaube, den ich gepredigt und bekannt, den
ich geliebt unt> gelobt habe, welchen alle Gottlose lästern und verfolgen. Ich
375
bitte dich, Herr Jesu Christe, laß dir meine Seele befohlen sein; und ob ich
schon diesen Leib lassen und aus diesem Leben hinweggerissen werden muß, so
weiß ich doch gewiß, daß ich bei dir ewiglich bleiben soll, und aus deiner Gnade
mich Niemand reißen kann." Weiter sprach er lateinisch: (Ev. Joh. 3, 16.)
also hat Gott die Welt geliebt re. und die Worte aus dem 68. Psalm: wir
haben einen Gott, der da hilft, und den Herrn, Herrn, der vom Tode errettet.
Nachdem er Arznei eingenommen hatte, sprach er dreimal sehr eilend auf ein-
ander lateinisch: „Vater, in deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast
mich erlöset, du treuer Gott!" Da er nun still ward, rief Dr. Jonas und
M. Celius ihm stark ein: „Ehrwürdiger Vater, wollet ihr auf Christum
und die Lehre, wie ihr ste gepredigt habt, beständig sterben?" Sprach er, daß
man es deutlich hören konnte: „Ja!" thät dann ein tief, doch sanft Athemholen,
mit welchem er seinen Geist aufgab, Donnerstag den 18. Februar 1546,
Morgens um zwei Uhr.
Meine Seele sterbe den Tod dieses Gerechten, und mein Ende sei wie -
dieses Ende! (4 Mos. 23, 10.)
173. Luther über die Dibel.
In allerlei Trübsalen, Aengsten und Nöthen, geistlichen und leiblichen,
wenn ich nirgend weiß Hülse und Trost zu finden, so halte ich mich zum Worte
der Gnaden; da allein, sonst nirgends finde ich rechten Trost und Erquickung,
und dafielbige nur reichlich. So wenig man außerhalb Gottes Wort zu
Gottes und der Wahrheit Erkenntniß und zum rechten Glauben kommen kann,
so wenig ist Trost und Friede des Gewissens außer demselben Wort zu finden.
Und ist das seine Frucht, daß die Christen im Glauben und Hoffnung zu-
nehmen, all ihr Thun und Wesen Gott lernen vertrauen, und Alles, was
ihnen von nöthen ist an Seel und Leib, von ihm gewarten, und die so fest
daran halten, werden auch vor unrechter Lehr und falscher Heiligkeit behütet.
Das Wort Gottes ist der theure Schatz, der alle Seligkeit mit stch bringet,,
beide in diesem und in jenem Leben, auch so reichlich, daß wer es hat, auch in
höchster Armut und Elend fröhlich daran ist, und es um aller Welt Gut
nicht gäbe, sondern viel lieber alles Dings, auch des Lebens, entbehrte, und
lieber im Tod damit sein wollte, denn ohne das im Saus leben. Eö ist aber
ritit Gottes Wort nicht zu scherzen. Kannst du es nicht verstehen, so zeuch den
Hut vor ihm ab. Es leidet keinen Schimpf noch keine menschliche Deutung,
sondern es ist lauter Ernst da und will geehret und verhalten seilt. Dero-
halben hüte dich beileibe, daß bu nicht mit deinem Dünkel dreiit fallest. —
Ich habe etliche Jahre her die Bibel jährlich zweimal ausgelesen, und wenn
sie ein großer, mächtiger Baum wäre, und alle Worte wären Aestleiit und
Zweiglein, so hab ich doch an allen Acstlein und Neislein angeklopft und
gerne wissen wollen, was daran wäre, und was sie vermöchten, und allezeit
noch ein paar Aepflein oder Birnlein heruntergeklopft.
! 74. Glaube.
Glaube ist nicht der menschliche Wabn noch Traum, den Etliche für
Glauben halten. Und wenn sie sehen, daß keine Besserung des Lebens noch
376
gute Werke folgen, und doch von Glauben viel hören und reden können, fallen
sie in den Irrthum und sprechen: der Glaube fei nicht genug; man müsse Werke
thun, soll man fromm und selig werden. Das machet, wenn sie das Evange-
lium hören, so fallen sie daher und machen ihnen aus eigenen Kräften einen
Gedanken im Herzen, der spricht: ich glaube. Das halten sie dann für einen
rechten Glauben. Aber wie es ein menschlich Gedichte und Gedanke ist, den
des Herzens Grund nimmer erfahret, also thut er auch Nichts, und folget keine
Besserung hernach. Aber Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wan-
delt und neu gebieret aus Gott, Joh. 1,13., und tödtet den alten Adam, macht
uns ganz andere Menschen von Herzen, Muth, Sinn und Kräften, und brin-
get den heiligen Geist mit sich. O es ist ein lebend, schäftig, thätig, mächtig
Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß es nicht ohne Unterlaß sollte
Gutes wirken. Er fraget auch nicht, ob gute Werke zu thun sind, sondern ehe
man fraget, hat er sie gethan, und ist immer im Thun. Wer aber nicht solche
Werke thut, der ist ein glaubloser Mensch, tappet und siehet um sich nach dem
Glauben und guten Werken, und weiß weder was Glaube noch gute Werke
sind, wüschet und schwätzet doch viel Worte vom Glauben und guten Werken.
Glaube ist eine lebendige, erwegeue Zuversicht auf Gottes Gnade, so gelviß,
daß er tausendmal darüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntniß gött-
licher Gnade machet fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen,
welches der heilige Geist thut rm Glauben. Daher der Mensch ohne Zwang
willig und lustig wird, Jedermann Gutes zu thun, Jedermann zu dienen, aller-
lei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der ihm solche Gnade erzeiget hat.
Also, daß unmöglich ist, Werke vom Glauben scheiden, ja so unmöglich, als
brennen und leuchten vom Feuer mag geschieden werden. Darum siehe dich vor
vor deinen eigenen falschen Gedanken und unnützen Schwätzern, die vom Glau-
ben und guten Werken klug sein wollen zu urtheilen, und sind die größten
Narren. Bitte Gott, daß er den Glauben in dir wirke; sonst bleibest du wohl
ewig ohne Glauben, du dichtest und thust, was du willst oder kannst.
175. Das Reich muß uns -och bleiben.
Als Kaiser Karl V. im Jahr 1548 die evangelischen Prediger
zu Augsburg ihrer Dienste entließ, weil sie das Interim*) nicht
annehmen wollten, kamen sie zu dem gefangenen Kurfürsten Johann
Friedrich von Sachsen und berichteten ihm, daß sie nicht allein ihres
Dienstes entlassen seien, sondern kaiserliche Majestät ihnen auch das
4
*) Interim, auf deutsch: einstweilen, wird das kaiserliche Reichsgesetz genannt,
das festsetzte, wie es der Religion halber bis zum Austrag einer allgemeinen Kirchen-
versammlung sollte gehalten werden. Den Evangelischen wurde darin die Verehe-
lichung der Geistlichen und der Kelch im Abendmahl zugestanden; aber sie sollten
abgeschaffte katholische Feiertage und Ceremonien wieder beobachten. Natürlich ge-
fiel eine solche Halbheit weder den Karholiken noch den Evangelischen; das Volk
nannte das Interim: „den Schalk hinter ihm".
377
römische Reich verboten hätte. Auf dies fing der Kurfürst an zu
weinen, daß ihm die Thränen über die Backen zur Erde flosien,
stand auf, ging ans Fenster, wandte sich aber bald wieder zu ihnen
und sagte: „Hat euch der Kaiser den Himmel verboten?" — „Nein!"
— Dann fuhr er fort und sprach: „So hat es noch keine Noth,
das Reich muß uns doch bleiben! so wird Gott auch ein
Land finden, daß ihr sein Wort könnt predigen."
176. Prinz Christophs Flucht.
(1532.)
Christoph, ein Sohn Herzog Ulrichs von Württemberg, kam durch die
treulose Uebergabe des Schlosses Tübingen schon im vierten Lebensjahr in
die Hände des schwäbischen Bundes, und da Württemberg endlich an den
Erzherzog Ferdinand von Oesterreich abgetreten wurde, in die Gewalt des
letzteren. Von Tübingen hinweg hatte man ihn nach Innsbruck gebracht, wo
die kaiserliche Hofhaltung war. Im Jahr 1529 kam er nach Wien, wo er
das Glück hatte, der Leitung und dem Unterricht des Michael Tifferny, öffent-
lichen Lehrers daselbst, eines in Hinsicht auf Gelehrsamkeit und Edelsinn aus-
gezeichneten Mannes, anvertraut zu werden. Der Kaiser lernte den Prinzen
persönlich kennen und fand so grosses Wohlgefallen an ihm, dass er ihn in
sein Kanzleigefolge aufnahm und ihm freien Zutritt zu den Berathungen des
geheimen Raths gestattete. Im Jahr 1530 nahm er ihn mit auf den berühm-
ten Reichstag zu Augsburg, wo dem Prinzen seine Ansprüche an Württemberg
und der Plan des Kaisers erst deutlich wurden. Der Kaiser wünschte Würt-
temberg für immer zu behalten; weil er aber zu Augsburg bemerkt hatte,
dass die meisten Fürsten des Reichs für Christoph günstige Gesinnungen heg-
, ten, beschloss er, den Prinzen aus Deutschland zu entfernen und in Spanien
in ein Kloster zu stecken. Bald zeigte sich eine günstige Gelegenheit zur Aus-
führung dieses Planes. Da nach beendigtem Feldzug gegen die Türken der
Kaiser (1532) nach Italien reiste, um von da nach Spanien zu segeln, so
konnte es keinen Verdacht erregen, dass der Prinz im Gefolge des Kaisers die
Reise mitmachen sollte. Dem Tifferny kam der Plan des Kaisers zu Ohren.
Er theilte dem Prinzen die gemachte Entdeckung mit, und es schien am ge-
ratensten, dass dieser jetzt sogleich (man reiste bereits über die tirolischen
Gebirge) aus dem Gefolge des Kaisers unbemerkt sich entferne und zu seinem
Oheim, dem Herzog von Bayern, nach Landshut entfliehe. Der treue Hof-
meister wollte die Gefahr der Flucht mit dem Prinzen theilen. So begannen
sie denn, geführt von einem wegkundigen Landmann, im Vertrauen auf Got-
tes Schutz, die gefahrvolle Reise.
Wie es den Flüchtlingen nun ergangen, und wie sie namentlich vor den
nachsetzenden spanischen Kriegsknechten bewahrt wurden, das wollen wir aus
dem Munde eines vaterländischen Dichters, Gustav Schwab, vernehmen:
378
So nächtlich auf der Reisen
Verlassen sie den Tross;
Und mit verkehrten Eisen
Beschlagen beid ihr Eoss;
Dass nicht die Spur verkünde
Den Feinden ihren Weg;
Dann geht es durch die Gründe
Und über den Felsensteg.
Die guten Eosse jagen,
Als gings auf ebner Erd,
Bis es beginnt zu tagen;
Da hinkt des Fürsten Pferd.
Es zeigt hispansche Beiter
Von fern das Morgenlicht,
Das treue Thier will weiter,
Bis es zusammenbricht.
-Ihr zögert, es zu nehmen?
Was weint ihr über mir?
Soll mich an Treu beschämen
Dort euer todtes Thier?
Das Thier hat euch getragen,
Bis dass es niederfiel;
Von mir soll Keiner sagen:
Er wich von ihm am Ziel.«
/ Zugleich mit raschem Schwünge
Setzt er aufs Pferd den Herrn,5
Das mit behendem Sprunge
Eennt in des Waldes Kern.
Auf alle Vorsicht denkt er;
Das todte Eoss sogleich,
Die Spur zu tilgen, senkt er
Abseits in einen Teich.
Der junge Fürst zu Fusse
Stand in dem fremden Wald,
Er schwang zum Morgengrusse
Sein frisches Schwert alsbald.
-Ich lasse mich nicht fangen,
Ich Sterb in dieser Noth!
Wohl vor dem Kloster bangen
Darf mir, nicht vor dem Tod!«
'-.Mit strafender Geberde
,Sprach aber: »Das sei fern!«
Und stieg dabei vom Pferde
Der treue Mann Tiffern.
-Es darf ein Fürstenleben
Nicht so sich bieten feil;
Mein Eoss will ich euch geben,
Darauf entweicht in Eil!«
'/ Er selbst verbirgt im Moore,
In Schilf und Büschen sich,
Und harrt im feuchten Bohre,
Bis dass der Tag verblich.
An ihm vorüber flogen
Die Knecht’, es späht ihr Blick;
An ihm vorüber zogen
Sie Abends leer zurück.
(¿/Da tritt er aus dem Schilfe
v Und danket auf den Knien,
Dass Gott der treuen Hülfe
Hat das Gedeihn verliebn;
Dass .er ihn lässet ernten
Die Früchte seiner That;
Darauf sucht er durch Kärnthen
Ins Bayerland den Pfad.
f
Er kommt auf langen Wegen
Nach Landshut vor das Schloss,
Dort wiehert ihm entgegen
Im Hof sein treues Eoss.
Erlöst von allem Harme
Schaut aus des Ohmes Haus
Und recket seine Arme
Der Christoph nach ihm aus.
L Sechs Monate hielt sich Christoph in Landshut auf, dann verliess er die-
sen Zufluchtsort und begab sich wahrscheinlich nach Graubündten. Als end-
lich sein Vater Ulrich durch die Schlacht bei Lausten (1514) sein Land wiedei
gewann, da ging auch dem in der Fremde irrenden Flüchtling ein Stein dm
Hoffnung auf, obschon unbegründetes Misstrauen des Vaters den Sohn aufs
neue und auf lange in die Fremde trieb.
»Siehe, Gott stehet mir bei*, so konnte er mit dem gleichfalls ver-
folgten David rühmen, »der Herr erhält meine Seele«. (Ps. 54, 6.) Und
wie viel ist nicht dem Lande Württemberg in diesem Jüngling erhalten worden!
/j Die Schule der Noth und Bedrängniß, die Christoph jeit den ersten Jahren
seiner Kindheit durchlaufen mußte, war recht dazu geeignet, aus ihm einen tüchtigen
Fürsten zu machen. Er hatte gehorchen gelernt, hatte, von seinem vierten Lebensjahre
an bis zu seinem Regierungsantritt fast immer in die Fremde verstoßen, dort, zu-
mal in des Kaisers Nähe, Erfahrungen gesammelt und Verbindungen angeknüpft,
die ihm später sehr nützlich wurden.
Am Sterbetag seines Vaters (6. Nov. 1550) war Christoph von Mömpel-
gard her in Tübingen angekommen; am 8. November ließ er sich in Tübingen und
Stuttgart, und gleich darauf auch in den übrigen Städten des Landes huldigen.
Die Cannstatler riefen bei der Huldigung mit lauter Stimme: -.Hie gut Württem-
berg in Ewigkeit."
Ulrich hatte das Herzogthum in einer mißlichen Lage hinterlassen. Eine große
Schuldenlast lag auf dem Lande; spanische Besatzungen waren noch da; König
Ferdinand machte Ansprüche auf den Besitz von Württemberg; das Interim hatte
die Siebte und Mönche wieder in ihre Klöster, die Meßpriester in ihre Kirchen zu-
rückgeführt. Alles war in der größten Verwirrung. Aber Christoph wußte durch
seine Einsicht, sein Ansehen und seine persönlichen Verbindungen diese Schwierig-
keiten bald zu überwinden. Nun machte er sich an die wichtige Aufgabe, das Land,
das seit Eberhards I. Tod wohl einem vom Sturme bewegten Meere zu vergleichen
war, in den verschiedensten Beziehungen durch gute Gesetze und Einrichtungen zu
g Eine große Wohlthat für das Land war z. B. das neue, im Jahr 1553
sichte „Landrecht", das an die Stelle so vieler einzelnen Rechte, Herkommen
oohnheiten treten sollte. An sie schloß sich die erneuerte und verbesserte
irdnung", d. h. Polizeiordnung an, die „Landmeß - und Eichordnung",
welche gleiches Maß und Gewicht einführte, die „Forst-, Bau-, Zoll- nnd Feuer-
ordnung" nebst vielen andern Gesetzen nnd Verordnungen. Gesetze sind nun freilich
keine Bäume, von denen man Früchte erwarten kann; aber sie sind ein Zaun um
den Garten, damit die fruchttragenden Bäume nicht beschädigt werden. Christophs
Plan, den Neckar schiffbar zu machen, kam erst unter König Wilhelm zur Ausführung.
Die Errichtung von Fruchtkästen wurde durch eine Theurung veranlaßt. Die Er-
haltung und Ausbildung der landständischen Verfassung, um die sich Ulrich wenig
oph angelegen sein. Unter ihm entstanden
Kirchenverbcfferung am Herzen, da die guten Anordnungen seines Vaters durch das
Interim wieder vereitelt worden waren. Zu diesem Geschäft berief er Johannes
Brenz, machte ihn zum Probst, d. i. zum ersten Geistlichen der Stiftskirche in Stutt-
gart nnd bediente sich seines Rathes und seiner Arbeit in allen wichtigen kirchlichen
Angelegenheiten. Eine neue „Kirchenordnung', die Einrichtung der Klosterschulen
177. Herzog Christoph von Württemberg./^^
(f 1568).
Besonders aber lag ihm das Werk der
380
zur Vorbildung junger Leute für die Hochschule, die Erweiterung des theologischen
Stifts in Tübingen zur Heranbildung von evangelischen Geistlichen, die Vereinigung
der Einkünfte von Kirchen, Klöstern und andern geistlichen Stiftungen zu einem
Kirchengute, das auf ewige Zeiten zum Unterhalt der Kirchen und Schulen dienen
sollte — alle diese und ähnliche Einrichtungen beweisen, wie Christoph auch für die
Kirche und das geistliche Wohl seines Volkes unermüdet thätig gewesen ist. Für die
Bildung des Volks, und namentlich der Jugend, sorgte dieser Landesvater treulich
und weise. In allen Orten des Landes wurden Schulen angeordnet, damit die
Jugend in der Furcht Gottes, rechter Lehre und guter Zucht wohl unterrichtet
werde; und auch die Mädchen sollten am Schulunterricht Theil nehmen, was bisher
nur in etlichen Schulen geschehen war. Die Schulmeister sollten nur noch nebenbei
Meßner sein, da die Meßnereien durch Abschaffung der katholischen Gebräuche einen
großen Theil ihrer Beschäftigung verloren hatten, aber nicht mehr auch noch Büttel
und Feldschützen sein. Auf dem Landtage im Jahre 1565 ward feierlich gelobt,
„daß Herr und Land zur Erhaltung der erkannten und bekannten Wahrheit all ihr
äußerstes Vermögen, Leibs, Guts und Bluts zusammensetzen und durch die Gnade
des Allmächtigen beständig dabei bleiben wollen."
ie „allgemeine Laudinspection", welche Christoph anordnete, hatte den Auf-
ngel und Gebrechen, so wie Nachlässigkeiten der Staats- und Kirchendiener
ind Stelle zu untersuchen, und zu diesem Ende, wo sie es für nöthig hielt,
unversehens an den einzelnen Orten Erkundigungen einzuziehen. Und so vollendete
er das große Werk, das er sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, den innern Aus-
bau des Staats- und Kirchengcbäudes von Württemberg, zu dem Eberhard den Grund
gelegt hatte. Seine Staats - und Kirchen-Anstalten haben ihre Zweckmäßigkeit und
Dauerhaftigkeit bis ans den heutigen Tag bewährt, und namentlich diejenigen, welche
» er für die Erziehung und Bildung der Jugend gestiftet, sind immer noch ein Kleinod
des Vaterlandes, um das uns andere Länder beneiden.
O Jedoch nicht allein auf das Vaterland, sondern auch aufs Ausland erstreckte
'sich seine eifrige Thätigkeit. Bei den damals herrschenden Religivnsstreitigkeitcn in
der protestantischen Kirche führte er mit seinen Gelehrten die erste Stimme, und
namentlich bei dem im Jahr 1555 gehaltenen Reichstag zu Augsburg, wo haupt-
sächlich durch seine Thätigkeit der allgemeine Religionsfriede zu Stande kam, der
sich auf alle katholischen und lutherischen Stände erstreckte. Er gab sich alle Mühe,
sämtliche Protestanten zu einer Einheit zu bringen, und nahm sich auch seiner
Glaubensgenossen in Oesterreich, Ungarn, Croatieu, Polen, der Schweiz und Frank-
reich mit Rath und That an. Unter seinem Schutze entstand die erste Bibelanstalt.
Im Jahre 1562 nemlich wurde unter Leitung des Freiherrn Hans Ungnad von
Sounegg, der früher österreichischer Gesandter in Constantiuopel gewesen war, eine
eigene Druckerei in Urach angelegt, in welcher mehrere Schriften des neuen Testa-
ments und andere evangelische Bücher in slavonischer Sprache bis zu einer Anzahl
von 25,000 Exemplaren gedruckt wurden, die man dann in Steiermark, Kärnthen
und Krain und andern slavischen Ländern verbreitete. Merkwürdigerweise käm nach-
her diese Druckerei in den Besitz der Gesellschaft zu Verbreitung des katholischen
Glaubens (Propaganda) in Rom.
t Nie hat Württemberg eine glänzendere Periode gehabt, wo sein Einfluß auf
ntscheidung der wichtigsten Reichsangelegenheiten sichtbarer war, 1 ein Ansehen am
kaiserlichen Hofe und aus den Reichstagen ununterbrochener sich gleich blieb, als unter
Christophs Regierung. Auch der edle Freundschaftsband, den Christoph frühe mit
Kaiser Ferdinands Sohn und Nachfolger, Maximilian, geschlossen hatte, war für
Würtiemberg von wohlthätigen Folgen.,- Von Körper war Herzog Christoph ge-
wandt, abgehärtet, kräftig; sein Geist war unerschrocken, scharfstnnig und beharrlich.
In seinem früheren Leben hatte er sich Weisheit erworben, und seine Regicrungszeit
bot ihm Gelegenheit genug dar, sie zu üben. Im Reden und Schreiben, im Latei-
nischen und Französischen und in den Wissenschaften war er sehr bewandert. - Un-
sere Muttersprache erwachte damals, wie die Nation selbst, zu ihrer eigenthümlichen
Kraft und Gediegenheit, einfach, treffend, mächtig, herzlich, so wie Luther schrieb und
sprach. Auch in dem, was wir von Christoph lesen, ist ein Gepräge von Herzlich-
keit und Biederkeit. Offenheit, Wahrhaftigkeit und Treue schätzten an ihm Freund
und Feind. Als im Jahr 1538 der Kaiser Karl V. und der König von Frank-
reich, die durch den Pabst sollten in Nizza mit einander ausgesöhnt werden, dort
dem Pabste den Pantoffel küßten, redete man auch Christoph, der im Gefolge des
Königs von Frankreich war und sich damals von der katholischen Kirche noch nicht
losgesagt hatte, gewaltig zu, es auch zu thun, allein er weigerte sich beharrlich, ob-
wohl er erst 23 Jahre alt war. Aber die Noth hatte ihn beten gelehrt, und das
Gebet macht die Menschen stark, daß keine irdische Rücksicht sie bewegen kann. Jede
Nacht vor Schlafengehen las er einige Kapitel in der Bibel; die Kirche besuchte er
gern und regelmäßig, selbst auf der Jagd und auf Reisen.
Unter einem solchen Fürsten mußte die Negierung gut besorgt und der Unter-
than berathen sein. Nach allen Seiten hin war er thätig, sah überall selber nach
und arbeitete von früh bis spät in Negieruugsgeschäften mit solcher Enisigkeit, daß
man ihm das Zeugniß gab, drei andere hätten in der gleichen Zeit nicht mehr zu
Stande gebracht. Gerecht und mild zugleich, war er herablassend gegen Jedermann
und auch dem Aermsten im Volk zugänglich. Mißhandlungen seiner Unterthanen
durch Beamte, wie sie sonst sehr im Brauch gewesen, duldete er nicht. Worüber die
Unterthanen bin und wieder klagten, das war die Baulust des Herzogs. Er baute
die Schlösser zu Nenenstadt, Weinsberg, Brackenheim, Neuenbürg, Leonberg, Walden-
buch, Pfullingen, Kirchheim, Göppingen, Schorndorf, zu Stuttgart außer anderen
Gebäuden das jetzige alte Schloß, wodurch die Residenz der Herzoge an Stuttgart
' ai® ^.uuvvater verdient Herzog Christoph ebenfalls unsere Verehrung. Seine
heimlichsten Stunden waren die, die er Abends im häuslichen Kreise mit seiner Ge-
mahlin und seinen zehn Kindern (von zwölf waren zwei frühe gestorben) zubrachte.
Er ließ seine Kinder nach bestem Wissen sorgfältig erziehen und unterrichten, erlebte
aber an seinen zwei Söhnen nicht viele Freude, und es mochte ihn der Gedanke oft
schmerzen, daß .vielleicht schon unter seinem nächsten Nachfolger das mühsam ge-
pflanzte Gute wieder vernichtet werde. Dafür, daß er, auf die Zukunft bedacht, in
seinen Oheim, Graf Georg, drang, noch im 57ten Jahre zu heiraten, wurde Herzog
Christoph nach seinem Tode gesegnet. Hätte da nicht ein Sohn von Graf Georg
gelebt, so wäre Württemberg an Oesterreich gefallen und die Schicksale der Evange-
lischen in Oesterreich unter Ferdinand II. würden auch die Württcmberger getheilt
haben.
'J Herzog Christoph hatte schon mehrere Jahre gekränkelt, er brauchte das Wild-
bad zu wiederholten Malen, merkte aber wohl, daß es mit seinem Leben zur Neige
gehe. „Ein kühl Erdreich", sagte er, „wird mein Doktor sein. Wenn das von Gott
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bestimmte und von mir erwartete Ständlein kommt, so hilft alles Flicken nichts; es
muß doch einmal gestorben sein; und selig sind die Todten, die in dem Herrn ster-
ben. Unsere Bürgerschaft ist im Himmel." Zu seiner Gemahlin sagte er: Wenn das
erwartete Ständlein kommt, so singet mit einander: „Mit Fried und Freud fahr
ich dahin!" Er entschlief am 28. December 1568. Im Chor der Stiftskirche zu
Tübingen ruhen seine Gebeine.
Christophs Namen trägt noch das von ihm angelegte Eisenwerk Christophsthal
bei Frendenftadt; sein Gedächtniß lebt fort in den vielen trefflichen Anstalten und
Einrichtungen, die das Vaterland ihm verdankt, und in dem Herzen jedes biedern
Wärttembergers, der etwas von seinen Verdiensten weiß. Damit aber jeder davon
wisse, stehet es hier geschrieben.
178. Johannes Drenz, -er Reformator Württembergs.
(i 1570.) " -
Gleich nach Luthers Tod brach der Krieg aus, denn der Kaiser Karl
wollte die evangelische Kirche unterdrücken. Er war auch anfangs glücklich,
nahm den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen gefangen
und plagte nun die Evangelischen in Deutschland durch das Interim, eine Zwi-
schenreligion, aus römischen und lutherischen Lehren zusammengesetzt; allein
der Kurfürst Moritz von Sachsen brachte ihn so in die Enge, daß er durch den
PaffauerVertrag (1552) und durch den Neligionsfrieden zu Augsburg (1555)
den Evangelischen volle Glaubensfreiheit gestalten mußte.
Ein Bild von der großen Verwirrung und dem Druck, welchen die Evan-
gelischen um diese Zeit erfahren mußten, sehen wir in der Geschichte des Refor-
mators von Württemberg, Johann Brenz. Dieser war geboren in Weil der
Stadt, im Jahr 1199, und wurde später evangelischer Prediger in der schwäbi-
schen Reichsstadt Hall. Als der Kaiser mit seinen Truppen daselbst einrückte
(im Dec. 1516), ging Brenz dem Anführer entgegen, um für sein Haus die
gewöhnliche Befreiung von Einquartierung zu erbitten, und befahl den Seini-
gen, das Haus indessen wohl zu verschließen. Allein die Spanier umringten
es, klopften mit ihren Hellebarden ungestüm an die Thüre und begehrten Ein-
laß. Brenz kam dazu; einer der Soldaten setzte ihm die Hellebarde auf die
Brust und drohte, ihn zu durchbohren, wenn nicht sogleich geöffnet werde.
Brenz that auf, setzte ihnen zu essen und zu trinken vor, verbarg indessen seine
Papiere, flüchtete seine Familie, entfernte sich selbst und überließ den Solda-
ten das Haus samtAUem, was darin war. Am nächsten Tag kam ein spani-
scher Bischof, jagte die Soldaten aus dem Hause, quartierte sich selbst ein,
durchsuchte die Bücher und fand einige Briefe, die sich auf den Krieg bezogen,
und die Brenz nicht verbrannt hatte. Da nun überdies bekannt wurde, Brenz
habe die Bürger öfters ermahnt, ihren Glauben muthig zu vertheidigen, so er-
ging der Befehl, ihn zu verhaften. Er flüchtete sich auf einen hohen Thurm,
wo er verborgen lag, bis es ihm gelang, verkleidet aus der Stadt zu entkom-
men. In schlechten Kleidern durchirrte er in einer kalten Winternacht die be-
nachbarten Wälder, und kehrte erst nach Abzug der kaiserlichen Truppen in
seine rein ausgeplünderte Wohnung zurück. Im Jahr 1518 schickte der kaiser-
liche Minister Eranvella einen Abgeordneten nach Hall, uni ihm den Brenz
383
lebendig oder todt zu überbringen, weil er nemlich gegen das Interim gepredigt
hatte. Als dieser in die Stadt kam, stellte er sich anfangs sehr freundlich gegen
Brenz und suchte ihn an sich zu locken und dann heimlich fortzuführen. Aber
es gelang ihm nicht, und er griff daher zu einem andern Mittel. Er berief den
Rath zusammen und ließ ihn schwören, daß Keiner etwas von dem, was er ihnen
jetzt im Namen des Kaisers eröffnen werde, offenbaren wolle. Hieraus theilte
er ihnen seinen Auftrag mit und drohte mit des Kaisers Ungnade, wenn sie
ihm nicht behülflich wären, ihn auszuführen. Aber glücklicherweise war der
Rathsherr Büschler erst nach der Eidesleistung und doch noch bald genug ge-
kommen, um den Antrag des Abgeordneten zu vernehmen. Er schrieb eilig auf
einen Zettel: „Flieh, Brenz, so schnell als möglich!" und schickte ihm den Zet-
tel. Brenz saß eben am Essen und feierte seinen Gcburts- und Namenstag
(Johannistag); als die Nachricht kam, ging er sogleich vom Tisch und zur Stadt
hinaus. Nicht weit vom Thore begegnete ihm der kaiserliche Abgeordnete und
fragte ihn: „Wohin wollt ihr?" — „Zu einem kranken Freund", antwortete
Brenz. — „Nun wohl, so kommt morgen zu mir zum Effen!" — „So Gott
will!" sprach Brenz und eilte davon. Eilt dichter Wald nahe bei der Stadt
diente ihm bei Tag zum Aufenthalt; bei Nacht begab er sich zu seiner Familie
in einem benachbarten Dorfe, und mit Tagesanbruch kehrte er in seinen Ver-
steck zurück.
So trieb ers mehrere Wochen, und unterdessen plünderten die spanischen
Soldaten sein Haus. Endlich ließ er den Bürgern zu Hall erklären, er sei be-
reit, sein Amt wieder anzutreten, wenn man es mit ihm wagen wolle. Aber
die Antwort war, man könne ihn gegen den Kaiser nicht schützen, er soll eine
andere Stelle suchen. Da nahm sich Herzog Ulrich von Württemberg des ver-
triebenen Mannes an und gab seinem Sekretär den Befehl: „Bring mir den
Brenz an einen sichern Ort; sag mir aber nicht, wohin, damit ich im Nothfall
dem Kaiser schwören kann, ich wisse nichts von seinem Aufenthalt." Brenz
wurde nun in ein abgelegenes Albthal auf die Burg Wittlingen bei Urach ge-
bracht, wo er eine Erklärung mehrerer Psalmen schrieb. Kaum war er sorr, so
kam ein kaiserlicher Abgeordneter und begehrte, das Schloß Württemberg (auf
dem rothen Berg) soll ihm unverzüglich geöffnet werden. Der dortige Burg-
vogt nemlich war ein frommer Mann, den die benachbarten Pfarrer häufig be-
suchten, und dies hatte zu dem Gerücht Anlaß gegeben, Brenz sei dort versteckt.
Ulrich erkundigte sich bei seinem Sekretär, ob Brenz bort sei, und als der
„Nein" sagte, so gab er den Befehl, das Schloß zu öffnen. Der Abgeordnete
durchsuchte es aufs sorgfältigste, aber er fand Nichts. Jnvessen merkte Brenz
doch, daß er in Württemberg nicht mehr sicher sei, und flüchtete sich mit des
Herzogs Bewilligung über Straßburg und Mömpelgard nach Basel, wo er
einige Zeit ruhig lebte, sich von seinen Trübsalen erholte und seine Erklärung
des Propheten Jesaias schrieb. Bald aber kam eine neue Prüfung. Seine
Gattin, die in Stuttgart zurückgeblieben war, starb, und die Sorge um seine
Kinder trieb ihn nun abermals, nach Stuttgart zu gehen. Aber der Cardinal
Granoella hatte seine Spionen, und unvermuthet erschien eines Abends in
München eine Schaar spanischer Reiter, deren Oberst sich beim Kurfürsten
meldete und von ihm zur Tafel gezogen wurde, wobei er öffentlich verlauten
ließ, er habe ein versiegeltes kaiserliches Schreiben an den Herzog, daß ihm
384
Brenz lebendig oder todt ausgeliefert werden müsse. Eine nahe Verwandte
von der Herzogin von Württemberg, welche an der Tafel saß, schlich sich, als
sie dieses hörte, unvermerkt hinweg, schrieb an Herzog Ulrich, was bevorstehe,
und schickte noch in der Nacht einen eigenen Boten ab, dem sie die größte
Eile und für den Rückweg eine andere Straße empfahl, damit er nicht den
spanischen Soldaten in die Hände falle. Der Herzog Ulrich ließ den Brenz
sogleich rufen und befahl ihm, aus Alles, was er jetzt sagen würde, nichts zu
erwiedern. Er las ihm hieraus den Brief aus München vor, hieß ihn sich
retten und verbergen, so gut er könne, wollte aber Nichts weiter erfahren,
damit er eidlich bezeugen könnte, er wisse nichts von ihm. Wohin Brenz sich
flüchtete, weiß man nicht mit Gewißheit. Eine noch umgehende Sage aber
erzählt also: Brenz nahm einen Laib Brod, ging schweigend aus seinem
Hause und hieraus in die obere Stadt. In das erste Haus, das offen
stand, das später sogenannte Landhaus, ging er hinein, kam unvermerkt
die Treppe hinauf und bis unter das Dach, wo er zwischen einer Holz-
beuge und dem Dach auf allen Nieren herumkroch und in einem Winkel
sein Lager aufschlug. Des andern Tages rückte der kaiserliche Oberst in
Stuttgart ein, besetzte die Stadtthore und das herzogliche Schloß, und
überreichte seine Vollmacht. Der Herzog versicherte, er wisse nicht, wo
- Brenz sich aufhalte, gestattete aber dem Oberst, ihn zu suchen und lebendig
oder todt mit sich zu nehmen. Der Oberst ließ nun alle Häuser durchforschen,
und alle Betten, Kisten, Holzbeugen, Stroh- und Futterböden wurden von den
spanischen Säbeln und Spießen untersucht. Dieses Geschäft dauerte einige
Tage lang, und Brenz hörte täglich von der Straße heraus, wo die Leute mit
einander redeten, wie es gehe, und konnte auch von ganzem Herzen mit ein-
stimmen, wenn sie auf der Gaffe zu einander jeden Morgen sagten: „Gott Lob
und Dank! sie haben ihn immer noch nicht." Endlich am letzten Tag kam die
Reihe der Untersuchung auch an das Landhaus. Brenz hörte, auf den Knieen
liegend und betend, das Waffengeklirr und die lärmenden Soldaten, wie sie
durch das ganze Haus von einem Zimmer zum andern und von einer Treppe
zur andern sich bewegten, und zuletzt auch seinem Bergungsorte sich näherten.
Wie mag es ihm aber zu Muth gewesen sein, als er die Spieße durch seine
Holzbeuge stoßen hörte, und einmal sogar einem Stich ausweichen mußte!
Endlich aber hieß es, nachdem sie Alles durchstöbert hatten: „Geht, er ist auch
da nicht !" Der Oberst war nun selbst überzeugt, daß Brenz nicht in Stutt-
gart sei, und zog ab. Die Sage erzählt ferner: eine Henne habe in seiner
Nähe täglich ein Ei gelegt, welches Brenz jedesmal als ein von Gott geschenk-
tes Mittagsmahl angenommen und mit einem Stück Brod verzehrt habe. Als
Brenz die Leute aus der Straße hörte sagen: „Jetzt sind sie fort", ging er
Abends sogleich zum Herzog, und ihr könnet euch denken, wie der erstaunte,
als er ihn sah und seine Erzählung hörte. Der Herzog merkte nun wohl, daß
er den wackern Mann gegen die Macht des Kaisers nicht ferner schützen könne,
und machte ihn zu seinem Vogt in Hornberg (vermuthlich bei Zwerenberg),
wo er unter dem Namen Huldreich Engster, wie einst Luther auf der Wartburg,
ein volles Jahr lebte, bis der Pafsauer Vertrag auch ihm die Freiheit wieder
verschaffre. Er wirkte noch lange im Segen und hatte einen wichtigen Antheil
an der Reformation von Württemberg, wo ihm Erhard Schnepf aus
385
Heilbronn, der im Unterlande, Ambrosius Blarer aus Constanz, der im
Oberlande reformirte, Jakob Andrea und andere, theils vorgearbeitet hat-
ten, theils Hülfe leisteten.
179. Die Reformation in Hohenlohe.
Der erste Reformator unter den Grafen von Hohenlohe war Graf Wolf-
gang (t 1545), dem die Herrschaften Weikersheim und Schillingsfürst gehör-
ten. Derselbe wohnte im Jahr 1530 dem Reichstag in Augsburg, wohin er
aus eigenem Antrieb gereist war, mit großer Theilnahme bei und fing nach
glaubwürdigen Nachrichten bereits im Jahre 1534 in seiner Grafschaft zu re-
formiren an, obwohl er erst im Jahr 1541 mit aller Entschiedenheit offen als
erklärter Freund des Reformationswerkes hervortrat. Neben Wolfgang re-
gierten damals über die übrigen hohenloheschen Lande die Grasen Albrecht
und Georg, anfangs gemeinschaftlich, in der Folge getheilt. Diese beiden Gra-
fen nahmen aus Gründen der Staatsklugheit Anstand, fich selbst für die Refor-
mation zu erklären, obwohl fie die große Verderbniß der Kirche tieferkannten
und auch der Einführung der Reformation in ihren Landen keineswegs hinder-
lich waren, ja ihrer Ausbreitung sogar vielfach Vorschub leisteten. Besonders
gefördert wurde die Sache der Reformation in Hohenlohe durch das sehr ein-
dringliche Bittschreiben, welches die Bürgerschaft zu Oehringen im Jahr 1544
den beiden damals regierenden Grafen übergab und in dem es unter Anderem
heißt: „Es ist an unsere Gnädige Herrn unser höchstes, herzliches Flehen und
demüthiges Bitten, Euer Gnaden wollen um Gottes und unseres Elendes wil-
len gestatten und darob sein, daß bei uns das heilige Evangelium nach rechtem
christlichem Verstände, und der höchste Artikel unseres Heils, die Vergebung
der Sünden, allein aus dem Verdienst und Leiden unseres Herrn Jesu Christi
geprediget werde. Und das wollen wir um unsere Gnädigen Herrn in allem
schuldigen und geliebten Gehorsam mit Leib, Gut und Blut verdienen, und ist
nochmals durch Gott herzlich seufzend unser emsig, demüthig Flehen und Bitten,
Euer Gnaden wollen diesem unserem christlichen und unvermeidlichen Anlan-
gen gnädiglich willfahren."
Der hohenlohesche Rath Aegidius Stembler erhielt nun von den beiden
Grasen den Auftrag, für Anstellung eines evangelischen Stiftspredigers in
Oehringen besorgt zu sein. Dieser und der Oehringer Stadtschreiber Hohen-
buch , zwei gleich ehrwürdige Ehrenmänner, brachten es dann auch durch ihre
sehr eifrige Bemühung dahin, daß Kaspar Huberinus, Pfarrer bei St. Georgen
in Augsburg (aus Wilsbach in Bayern), den Ruf zu dieser Stelle annahm.
Huberinus stand mit Luther in Verbindung und war auch von dem Rath und
der Geistlichkeit zu Augsburg mit Aufträgen an Luther gesandt worden. Zur
Annahme des Rufs nach Oehringen hatte den Huberinus besonders die von
Stembler erhaltene Nachricht ermuthigt, daß man in Oehringen sehr gut evan-
gelisch sei. Er schreibt darüber in einem Brief an Stembler vom 3. März
1544: „Ich habe eine herzliche Freude empfangen, dieweil ich vernimm den
groM-Ernft, Hunger und Durst des göttlichen Worts der ehrsamen, weisen
Herrn Bürgermeister und Rath der Stadt Oehringen; dann da kann man
Nutz und Frucht Waffen. O selig und aber selig find, die da hungert und
Lesebuch. 25
386
durstet nach der göttlichen Wahrheit, hinwiederum aber wehe den Verächtern
göttlichen Worts! Ja! ein selig Volk ist das, welches der Herr ein Gott ist!"
Am 23. April 1544 hielt Huberinus die erste evangelische Predigt in der
Stiftskirche zu Oehringen.
Vollendet wurde das Werk der Reformation in Hohenlohe durch die
Nachfolger der Grafen Albrecht und Georg, die beiden Grafen Ludwig Kasimir
und Eberhard von Hohenlohe, von denen ersterer die neuensteinische, letzterer
die waldenburgische Linie stiftete. Diese traten im Jahr 1551 öffentlich der
evangelischen Lehre bei und förderten (besonders Kasimir, geb. den 12. Januar
1517) die Ausbreitung derselben mit vielem Eifer.
Ueber der Kirche wurde auch das hart darniederliegende Schulwesen
nicht vergessen. Die Grafen Wolfgang und Kraft, Neuensteiner Linie, grün-
deten besonders vom Jahr 1581 an viele neue Schulstellen. Die erste Mäd-
chenschule wurde im Jahr 1587 in Oehringen errichtet, und damit für diese
Stadt Luthers Wunsch, den er schon im Jahr 1520 aussprach, erfüllt: „Wollte
Gott, daß jede Stadt hätte auch eine Mägdleinschule, darin des Tags die
Mägdlein eine Stunde das Evangelium höreten!" Vorher nemlich war für
den Schulunterricht des weiblichen Geschlechts so viel wie gar Nichts geschehen.
Die beiden Grafen gingen dabei von der Ansicht aus, „daß in einem wohlge-
ordneten Regiment nächst dem göttlichen Worte gute Schulen das höchste Klei-
nod und gleichsam schöne Gärten seien, worin allerhand fruchtbare Bäume
erzogen werden, welche man mit der Zeit an mancherlei Orte hin versetzen
könne, wo sie nützliche Früchte bringen."
Durch den zu Augsburg im Jahr 1555 geschloffenen Neligionsfriedeu.waren
den Evangelischen gleiche Rechte mit den Katholiken eingeräumt worden; allein
die letzteren erlaubten sich als die Stärkeren im Lauf der Zeit allerlei Bedrückungen
gegen die Evangelischen, und in Folge davon kam es im Jahr 1618 zu einem
Krieg, der in Böhmen anfing, aber nach und nach sich über ganz Deutschland aus- . '«
breitete und dasselbe dreißig Jahre lang verheerte, daher man diesen Krieg den
dreißigjährigen Krieg nennt. Die protestantischen Fürsten hatten alle ihre Kraft
aufgeboten, aber vergebens; der bayerische General Tilly und der kaiserliche Ober-
feldherr Wallenstein erfochten Sieg auf Sieg über sie und über den König von
Dänemark, der ihnen zu Hülfe kommen wollte.
Die Sache der deutschen Protestanten war nun in der größten Gefahr, und
bet Menschen schien Alles verloren. Der Kaiser herrschte durch seine Heere unum-
schränkt, und jetzt war es, als hätte er die Macht in Händen, die evangelische Lehre
ganz zu unterdrücken. Doch wenn der Menschen Rath und Hülfe aus ist, sängt
des Herrn Hülfe an, und was Gott erhalten will, ist wohl erhalten! Die Blicke
der bedrängten Protestanten richteten sich nach Schweden, und dem edlen, frommen
Schwedenkönig Gustav Adolph entbrannte das Herz über dem Leiden seiner prote-
stantischen Brüder. Wohl hoffte er auch deutsches Land und Einfluß in Denffchland
zu erwerben; aber dabei lag ihm doch die Rettung der evangelischen Kirche sehr am
(1618—1648.)
387
Herzen. Er versprach zu kommen, und wenn Gott ihm beistehe, Hülfe zu bringen.
Vorab sandte er schon der schwerbedrängten Stadt Stralsund einigen Beistand.
Wallenstein hätte sich nemlich gar zu gern in den Besitz dieser blühenden und wohl-
befestigten Stadt gesetzt; sie aber weigerte sich hartnäckig, kaiserliche Besatzung auf- .
zunehmen. Ihr Bürgermeister, ein entschlossener Mann, reiste selbst zu ihm nach
Prag, um ihm Vorstellungen zu machen. Walleustein empfing ihn unter königlicher
Pracht und schrie mit Donnernder Stimme: „Ihr müßt kaiserliche Besatzung ein-
nehmen." Ruhig antwortete der Bürgenneister: „Das thun wir nicht." — „Dann
müßt ihr Geld schaffen." — „Das haben wir nicht." — „Dann will ich euch züch-
tigen, ihr Ochsen." — „Das sind wir nicht." Wallenstein hatte dann wirklich
Stralsund belagert und wollte es durchaus nicht lassen. „Und wenn die Stadt mit
Ketten an den Himmel gebunden wäre, so müßte sie herunter", sagte er. Trotzdem
mußte er nun vor den Schweden nach großem Verlust abziehen, ja er wurde zwei
Jahre darnach vom Kaiser wegen seiner ausgelassenen Raubwuth des Oberbefehls
förmlich entsetzt.
Als dies geschah, stand Gustav Adolph bereits auf deutschem Boden. Das war
ein Mann von seltener Seelengröße. Ihm war Alles, was er in jenen wichtigen
Zeiten bedurfte, in Fülle gegeben: ein Heller, klarer Verstand, besonnene Ruhe, schöne
Bildung, leutselige Freundlichkeit neben überwältigender Majestät, Kraft der Rede,
ein großes Kriegstalent und Unerschrockenheit im Schlachtengewühl, und die Krone
von Allem, eine seine ganze Handlungsweise durchdringende Frömmigkeit. Nachdem
er auf einem Landtag in Schweden von Ständen und Volk rührend Abschied ge-
nommen, schiffte er sich ein und landete am 4. Juli (24. Juni nach dem alten Ka-
lender) 1630 zu Usedom mit nur 15,000 Manu. Angesichts seines Heeres fiel er
auf die Kniee nieder und betete. „Weinet nicht!" sagte er zu den umstehenden
Offizieren, welchen Thränen in den Augen standen, „sondern betet inbrünstig von
■ Grund eures Herzens. Je mehr Betens, je mehr Siegs. Fleißig gebetet ist halb
gefochten!" Der Kaiser machte sich anfangs nicht viel aus dem Auftreten Gustavs.
„Wir hkben wieder ein kleines Feinde! bekommen", soll er gesagt haben; und der
stolze Wallenstein hatte sich früher einmal geäußert: „Kommt mir der Schneekönig
(so nannte man spottweise den Schwedenkönig) nach Deutschland, gewiß ich lasse
ihn mit Ruthen wieder nach Hause peitschen." Nun war er da. Tilly brannte vor
Begierde, den König zu einer Schlacht zu bringen; aber dieser ging mit aller Vor-
sicht zu Werke. Er konnte auch nicht rasch vorwärts schreiten; denn die evangelischen
Fürsten von Brandenburg und von Sachsen wollten sich anfangs nicht mit ihm ver-
binden, theils aus Furcht vor dem Kaiser, theils aus Besorgniß, Gustav Adolph
möchte deßwegen nach Deutschland gekommen sein, um für sich selbst Eroberungen zu
machen. Da belagerte Tilly die Stadt Magdeburg, um den König herbeiziiziehen. •
Als dieser aber nicht kam, weil er noch immer aufgehalten ward, erstürmte Tilly
die unglückliche Stadt und plünderte Ae. Bald brach Feuer aus und legte diese
reiche Stadt in Asche. Entsetzlich war das Loos ihrer Bewohner. Kroaten und
Wallonen vergnügten sich, Kinder in die Flammen zu werfen, Säuglinge an den
Brüsten ihrer Mütter zu spießen. Die Zahl der Umgekommenen wird ans 30,000 an-
gegeben. — Diese Greuelthat machte überall den tiefsten Eindruck. Unbedenklich schlossen
sich nun die pri'tcßaittiicijeit Fürsten au ihren Retter, König Gustav von Schweden,
au, und diejer eilte nun, seinen Gegner zu treffen. Am 17. September 163 l kam
es bei Leipzig zu einer großen Schlacht. Tilly wurde geschlagen, und sein Heer
25'
388
floh in wilder Flucht. Auf dem Schlachtfeld kniete der fromme König Gnstav nie-
der und sprach: „Ich danke, Gott, ich danke dir für deinen Sieg!"
Siegreich durchzog er nun die deutschen Länder; Sachsen, Hessen, Franken, alle
hießen ihn als Netter willkommen. Den Eingang in Bayern wollte ihm Tilly
wehren; aber er verlor am Lech Schlacht und Leben. Unbeschreiblich war überall
die Freude der Evangelischen, die gar nicht wußten, wie sie ihrem Retter genugsam
rhren Dank bezeugen sollten. Sie gingen so weit, daß sie vor ihm niederfielen, als
wollten sie ihn anbeten. Gnstav erschrack darüber, und traurige Ahnungen erfüllten
sein Gemüth. Er halte das, sagte er, für ein böses Anzeichen, daß Gott seinem
Heer ein Unglück begegnen lassen, oder ihn selbst durch einen zeitigen Tod hinweg-
nehmen werde. — Der Kaiser wandte sich nun in seiner Noth wieder an den ge-
fürchteten Wallenstein. Dieser sollte den Schwedenkönig in seinem Siegeslauf auf-
halten. Um Nürnberg standen Beide zwei Monate lang einander gegenüber, ohne
einen Angriff zu wagen. Ein endlich erfolgter Sturm, den Gustav Adolph auf
das wohlverschanzte Lager Wallenfteins unternahm, wurde blutig abgeschlagen. Nnn
wandte sich Gustav nach Sachsen, Wallenstein ihm nach, und am 16. November 1632
trafen beide Heere bei dem Städtchen Lützen zusammen. Das kaiserliche Heer war
gegen 40,000 Mann stark, daS schwedische etwa 27,000. Während Wallenstcin seinen
Truppen durch Versprechungen und Drohungen Muth einzuhauchen bemüht war,
stimmten die Schweden mit e'inem Mund zum hellen Schall der Feldmnsik die Lieder l
an: „Ein feste Burg ist unser Gott" rc. und „Es woll uns Gott genädig sein" re.
Um 11 Uhr rückten die Schweden vor. Gustav schwang sich nach kurzem Gebet,
das er knieend im Angesicht des Heeres verrichtete, auf sein Pferd und rief: „Nun
wollen wir dran! Das walt der liebe Gott! Jesu, Jesu, Jesu! hilf mir heut
streiten zu deines heiligen Namens Ehre!" Und damit sprengte er mit den Seinen
los gegen den Feind. Er siegte nach blutiger Arbeit'; sein linker Flügel aber war
hart bedrängt. Gustav eilte ihm zu Hülfe, da zerschmetterte ihm ein Musketenschuß
den linken Arm. „Der König blutet, der König ist erschossen!" hieß es plötzlich
unter seinen Reitern. „Es ist nichts, — folgt mir!" rief Gustav, seine Kraft zu-
sammenraffend; aber überwältigt von Schmerz, bat er den Herzog von Lauenburg,
der an seiner Seite ritt, ihn ohne Aufsehen aus dem Gedränge zu schaffen. Da-
rüber erhielt er einen zweiten Schuß durch den Rücken, der ihm den letzten Rest seiner
Kräfte raubte. „Mein Gott, mein Gott!" seufzte er, und mit den Worten: „ich -
hahe genug, Bruder! suche nur du- dein Leben zu retten!" sank er vom Pferd. Die
Schweden, voll Grimm über den Tod ihres ,'geliebten Königs, drangen aufs neue
in den Feind. Wallenstein mußte weichen. Auch die kaiserlichen Reitergeschwgder,
dir plötzlich auf das Schlachtfeld heranstürmten, geführt von dem tapfern Grafen
von Pappenhetm, wurden geworfen, ihr Führer selbst getödtet. Wallenstein ließ
zum Rückzug blasen und entfloh mit kaum achtzig Reitern nach Leipzig.
Der Sieg war auf Seile der Schweden, aber theuer erkauft. Gustavs Leich-
nam fand man erst nach langem Suchen, von Wunden entstellt, von Rossen zer-
treten, alles Schmucks, selbst der Kleider beraubt, unweit eines großen Steins, der
seitdem der Schwedenstein genannt wird. Hier ist jetzt diesem Netter des evange-
lischen Deutschlands ein von Pappeln umkränztcs Denkmal errichtet. Ein lebendiges
und von Leipzig aus über das ganze evangelische Deutschland sich ausbreitendes
Denkmal hat sich aber seit der Jahresfeier seines Todes im Jahr 1832 erbaut in
dem evangelischen Verein der Gustav-Adolphs-St'istung. Wie der edle Schwe-
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denkönig die rettende Bruderhand den bedrängten Protestanten Deutschlands gereicht
hat, so will nun dieser Verein, welcher seinen Namen trägt, die helfende und rettende
Bruderhand bieten den evangelischen Glaubensgenossen in katholischen Ländern, will
ihnen zum Besitz von Kirchen, von Schulen, von Predigern und Schullehrern ver-
helfen, damit ihnen das theuer errungene Kleinod der evangelischen Wahrheit un-
verkümmert erhalten werde.
Der Schmerz über den Verlust des Königs (er war erst acht und dreißig Jahre
alt) überwog die Freude des Siegs. Man fürchtete, wieder Alles zu verlieren. Allein
der schwedische Reichskanzler, Axel von Oxenstierna, ein umsichtsvoller, kräftiger
Mann, Gustavs treuester Freund und Rathgeber, nahm mit großer Geschicklichkeit
den Krieg in die Hand. Die Schweden siegten im Elsaß, in Schwaben, in Bayern,
in Niedersachsen, Westphalen. Wallenstein unternahm nichts Ernstliches gegen sie
und fand endlich in Eger 1634 mit des Kaisers Wissen von Mörderhänden den
Tod.
Die Schlacht bei Nördlingen (6. September 1634) brachte den Schweden einen
schweren Verlust. Oesterreich erhob sich wieder, Sachsen wandte sich von Schweden
ab und verband sich mit dem Kaiser gegen dieselben. Aber Oxenstierna verband
sich mit Frankreich, dem es freilich nicht um den Sieg der evangelischen Lehre, son-
dern um Schwächung der kaiserlichen Macht und um Landerwerb zu thun war.
Auch wurde der Krieg mit jedem Tag schrecklicher und mörderischer, da kaum die
Unterhaltung der Heere mehr aufzutreiben war. Das Kriegsglück war abwechfclnd,
doch meist auf Seiten der Schweden, die unter der Führung von Bernhard von
Weimar, Banner, Torstensohn, Wrangel, würdiger Zöglinge Gustavs, die glänzendsten
Waffenthaten verrichteten. Aber die Wuth der Parteien blieb so erhitzt, daß der
Friede nicht eher zu Stande kommen konnte, bis Alles sich verblutet hatte und
ganz Deutschland einem Leichnam glich.
Wie es damals in dein armen Deutschland ausgesehen hat, das wird uns von
einem neuen Geschichtschreiber folgendermaßen geschildert: „Empörenderes kann man
nicht lesen, als die Nachrichten von dem Elend jener unglücklichen Zeiten. Niemand
bebaute das Feld aus Mangel an Saatkorn, an Zugvieh und an Menschenhänden;
die Dörfer standen leer, weil Alles sich theils in die Städte flüchtete, theils Sol-
datendienste nahm, die einzige Hantirung, die noch Sicherheit und Unterhalt ge-
währte. Alle Zufuhr stockte, weil in mancher kleinen Stadt kein einziges Pferd zu
finden war. Aas vom Schindanger, Ratten und Mäuse wurden dann zu Lecker-
bissen. Viele Leichname fand man auf Misthaufen, auf denen die Armen wenige
Stunden vor ihrem Hungertod noch eine letzte Nahrung gesucht hatten. Im Magde-
burgischen soll die Hungersnoth sogar Menschenfresser erzeugt haben. Wenn es zu-
weilen geglückt war, eine Fuhr Getreide aus der Ferne in einen solchen Ort einzu-
führen, so wurden die Bäckerhäuser dergestalt umdrängt, daß Viele erstickten; und
selten konnten doch von dem frischen Brod Alle befriedigt werden. Weil die durch-
streifenden Truppen alles Vieh wegnahmen, so konnte man nirgends den Unrath aus
den Höfen und von den Straßen hinausschaffen, der dann durch jahrelange Anhäu-
fung so eckelhaste Ausdünstungen erzeugte, daß Seuchen aller Art die Menschen hau-
senweise wegrafften. An vielen Orten war das Sterben so groß, daß die Leichname
dutzendweise, wie auf dem Schlachtfeld, in eine Grube geworfen werden mußten.
Der schwedische General schrieb von Pommern aus im Jahr 1638 der belagetteu
Stadt Erfurt, er würde ihr schon lange zu Hülse gekommen sein, wenn nicht zwi-
390
scheu der Oder und Elbe Alles sv verwüstet wäre, daß daselbst weder Hund noch
Katze, geschweige Menschen und Pferde sich aufhalten könnten."
Und wie ist es denn in jener schweren Zeit unserem Württembergerland gegangen?
Das hat leider auch seinen redlichen Antheil an dem damals in Deutschland herr-
schenden Elend getragen. Es übersteigt allen Glauben, wenn man die Beispiele von
Grausamkeit und Wnth liest, die an den armen Württembergern verübt wurden.
Die erste Hälfte der Kriegsjahre war für Württemberg die erträglichere Zeit.
Freilich wurde das Land auch damals wiederholt von feindlichen Truppen heimge,
sucht, und im Jahr 1620 wurden unter ihrem Schutze katholische Prälaten und
Mönche wieder in das Land eingeführt. Auch führte die Noth zu Verschlechterung
der Münze, z. B. die Hirschgulden waren kaum zehn Kreuzer werth. Bald nach
der Mitte des laugen Kriegs geschah die Nördlinger Schlacht, auch 4000 Württem-
berger sielen dort. Nun war es, als wäre ein Geist der Hölle ausgegangen, der
die kaiserlichen Truppen fortriß. Da kamen ausgesuchte Qualen, mehr als viehisches
Wüthen; und kaum die Sorge um die eigene Erhaltung konnte die Soldaten dahin
bringe», einer kleinen Zahl von Bürgern ihr armes Leben zu lassen, damit diese
ihnen frohnen könnten.
Auf die Nachricht von jener Schlacht floh Herzog Eberhard nach Straßburg.
Kaiser Ferdinand kam nach Stuttgart und übergab einer Statthalterschaft das Re-
giment. Da kam nun eine traurige Zeit. Es ist vielleicht in Schwaben fast keine
auch noch so kleine Gemeinde, der nicht aus dieser Zeit ein Denkmal übrig geblieben
wäre, wenigstens in den Todtenregistern. Das platte Land war hauptsächlich der
Schauplatz der Greuel und der Zerstörung; aber auch die ummauerten Orte entgingen
nicht immer demselben Schicksal. Waiblingen, das mit dem dazu gehörigen Amt
2350 Bürger gezählt hatte, behielt nach der ersten Verheerung, die auf die Nörd-
linger Schlacht folgte, nur 145. Ein Theil der Weiber und Kinder ertrank auf der
Flucht in der Rems, an den übrigen -kühlten die Soldaten ihre Wuth. In Nürtingen
lebte damals noch die siebzigjährige Wittwe des Herzogs Ludwig. Die Stadt, wo-
hin sich die Leute aus der Umgegend geflüchtet hatten, ward erobert, das Schloß
geplündert; an den Haaren schleppten die Kroaten die greise Herzogin umher, und
nur mit Mühe entriß sie der Oberst Grüne ihren Händen und der äußersten Miß-
handlung. Unter den nach Nürtingen entflohenen Geistlichen befand sich Georg
Wölflin, Pfarrer von Owen. Als die Stadt erstürmt war, floh er in den Fürften-
stand, die sogenannte „Schloßkirche". Ein Spanier traf ihn, wie er sich, die Bibel in
der Hand, auf die letzte Stunde bereitete. Mit solcher Wuth durchbohrte ihn der wilde
Soldat, daß das Schwert auch die Bibel noch durchdrang und die Stelle L Timoth. 4,7.
(Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glau-
ben gehalten) mit seinem Blut gezeichnet ward.
Die Kaiserlichen nahmen einen festen Platz nach dem andern, der Kaiser ver-
schenkte Herrschaften, Städte und Aemter in Württemberg an seine Getreuen. Kost-
barkeiten, Geräthschaftcn, Kunftsachen, Bibliotheken, Archive wurden in langen Wa-
genzügen aus dem Lande nach Innsbruck, Wien und Mnncheu geschickt, in den
herzoglichen Schlössern und Gärten wurden muthwillige Zerstörungen angerichtet.
In den Dörfern wurde fast Alles vernichtet, die Wohnhäufer verbrannt oder
doch abgedeckt, die Brunnen verschüttet, selbst die Kirchen ihres Schmucks, ihrer
Kanzeln und Altäre beraubt oder auch gänzlich zerstört, das Haus- und Fcldgerathe,
so wie die Vorräthe von Wein und Früchten verderbt, das Vieh weggesühri, Reben
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itftb Obstbäume umgehauen. Die Einwohner selbst wurden aufs unmenschlichste
mißhandelt: man hieb einigen die Glieder ab, stach andern die Augen aus, goß
ihnen siedendes Blei in Nase, Mund und Ohren, man gab ihnen den sogenannten
Schwedentrank (Mistjauche), und trat sie, wenn ihnen hiedurch der Leib schwoll, mit
Füßen. Manche wurden an den Schweifen der Pferde umhergeschleppt oder schossen
die Schützen nach hnen, wie nach einer Zielscheibe; Kinder wurden gespießt und ge-
braten. Da entfloh, was noch fliehen konnte, meist nach der Schweiz, wo man sie
gastfreundlich aufnahm. Viele verbargen sich in den Wäldern, Höhlen und Klüften;
dorthin aber wurden sie von den Soldaten mit Hunden verfolgt, wie vom Jäger das
Wild, und bald fand man im ganzen Land fast nichts als leere, ganz oder halb ver-
brannte Ortschaften.
Ans diese Verheerung folgte die schrecklichste Hungersnoth. Arme schlugen sich
um das Aas des gefallenen Viehs, selbst Wohlhabendere aßen Brod von Eicheln und
Baumrinde. Auf die Hungersnoth folgte die Pest. In Stuttgart starben im Jahr
1635 nicht weniger als 4379 Einwohner, mehr als die Hälfte der damaligen Bevöl-
kerung, in Eßlingen gegen 8000, in Heilbronn 5518, in Ulm gegen 14,400. Von
mehr als 400,000 Seelen waren nach sieben Jahren in ganz Württemberg kaum
noch 58,000 übrig; 345,000 Menschen hatte das Schwert, der Hunger, die Pest
vom Jahr 1634 bis 1641 aufgerieben.
Unter allen Ständen aber hat keiner das allgemeine Elend schwerer fühlen
müssen, als der Stand der Geistlichen. Sie wurden vor allen Andern von den Sol-
daten aufgesucht und getödtet, damit das Evangelium nicht mehr verkündigt werden
könnte. In wenigen Monaten verloren über dreihundert Kirchendiener das Leben.
Jünglinge, fast von der Schule hinweg, mußten zu Geistlichen bestellt werden. Mau
sah Geistliche vom Land vor den Thüren um Brod bitten, andere an Hunger dahin-
sterben, manche wurden zu Tod gemartert. So war es auch im Schullehrerstand.
In Ensingen bei Vaihingen erhielt sich der Schulmeister, nachdem alle Lebensmittel
aufgezehrt waren, noch neun Tage mit Wasser und Essig, daun starb er den Hungertod.
Und bei diesem allgemeinen Elend fand sich — wer sollte es glauben? — fast
nirgends wahre Buße! Die Frechheit nahm bei Alt und Jung überhand, und der
t Glaube kam also herunter, daß Viele fast gar nicht mehr wußten, wer Christus sei;
die Menschen lästerten im Elend und in der Plage Gott (Offenb. 16, 21.). Die
Wenigen aber, welche in diesem Jammer den Glauben bewahrten, erlangten eine
Lauterkeit und Ruhe der Seele, die wir jetzt noch mit Freuden bewundern.
Beinahe zwei Drittel seines Landes dem Kaiser überlastend kehrte der Herzog
1638 nach Stuttgart zurück. Damit die Einkünfte des Staates ausreichten, mußte
die Accise eingeführt werden. In dem letzten Drittel der Kriegsjahre war Schwa-
ben fortdauernd Kriegsschauplatz, auf dem sich Freund und Feind gleich verheerend
tummelten. Denn auch die Schweden hatten ihre Maunszucht eingebüßt, und ihre
Plünderungen wurden so gefürchtet, daß man an manchen Orten in der Litanei betete:
„vor Türken und Schweden behüt' uns, lieber Herre Gott!"
Nach jahrelangen Unterhandlungen zu Münster und Osnabrück in Westphalen,
wo Abgeordnete von allen Ländern in Europa zusammengetreten waren, wurde end-
lich der lang erahnte Friede abgeschlossen, wie ihn Frankreich und Schweden ge-
währten. Man nennt ihn den westphälischen Frieden. Die Besitzungen der ein-
zelnen Fürsten wurden aufs neue festgestellt, und Frankreich und Schweden erhiel-
ten deutsches Gebiet, jenes fast das ganze Elsaß; das Württembergische Gebiet blieb
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ungeschmälert. Die deutschen Fürsten erhielten insonderheit gesetzliche Landeshoheit,
so daß ihnen künftig der Kaiser allein, ohne die Zustimmung eines Reichstags, keine
Gesetze sür das Reich geben oder aufheben durfte, wodurch freilich auch die Einheit
des deutschen Reichs gelockert wurde. Das Wichtigste aber war, daß die Evangeli-
schen das Recht zu völlig freier Religionsübung erlangten. Alle Kirchengüter, die
sie zu Anfang des Jahrs 1624 besessen hatten, hätten jenen von den Katholischen
zurückgegeben werden sollen; doch geschah dies weit nicht überall, namentlich nicht
in Oesterreich. Am 24. Oktober 1648 wurde der Friedensschluß unterzeichnet, und
schon am 2. November darauf in Stuttgart ein Friedensfest gefeiert.
So schloß der schrecklichste aller Kriege, in welchem Deutschland zwei Dritt-
thcile seiner Bewohner einbüßte. Solche Opfer forderte die Rettung unseres evan-
gelischen Glaubens!
181. Konrad Widerhold.
(ck 1667.)
Unter den Namen, welche aus der Nacht des dreißigjährigen Kriegs als
helle Sterne hervorglänzen, steht bei uns Württembergern der Name Widerhold
immer noch mit oben an. Er war gebürtig aus Ziegenhain in Hessen, aber
im Jahr 1619 als ein und zwanzigjähriger Jüngling in württembergische
Dienste getreten. Vom Drillmeister bet den Württembergischen Truppen hatte
er sich durch Tapferkeit und Geschicklichkeit zum Posten eines Oberstlieutenants
emporgeschwungen; und der Herzog Eberhard III. wußte im Jahr 1634 keinen
tauglicheren Mann, dem er die Vertheidigung der wichtigen Festung Hohentwiel
anvertrauen konnte. In der That hätte er auch keinen befferen weit und breit
finden können; denn Widerbold leistete sogar noch mehr, als der Herzog von
ihm verlangte. Er fand die Festung in einem ganz verwahrlosten Zustand;
die Magazine waren leer und mußten erst gefüllt werden. Widerhold wußte
sich die Mittel dazu vom Feinde selbst zu verschaffen. Die benachbarten Burgen
Hohenkrähen, Mägdeberg und Stauffen, die ihm nachtheilig werden konnten,
zerstörte er; die Kaffen füllte er mit Gold und Silber, das er dem Feinde ab-
nahm. So wußte er einst, daß in Balingen 20,000 Thaler für das kaiser-
liche Heer lagen. Widerhold war von seinem Freunde, dem Amtmann, zum
Mittageffen eingeladen, ließ aber dreißig Reiter und hundert Schützen in einer
Vertiefung bei der Stadt verbergen. Einige derselben kamen vor Tagesan-
bruch als Zimmerleute und Marktleute verkleidet vor das Thor und wurden
auf ihre Bitte wegen der Kälte von der Wache in die warme Wachstube
eingelassen. Hier öffnete einer seinen Sack, bot einem der Wachsoldaten
Nüsse an und ließ zugleich mehrere auf den Boden fallen. Während nun
die Soldaten alle nach den Nüffen liefen, bemächtigten sich die Hohent-
wieler des Schlagbaums. Indeß eilte der übrige Hinterhalt herbei, be-
meisterte sich der Stadt, und Widerhold nahm das Geld als gute Beute
mit. In fünf Belagerungen schlug er die gewaltigsten und listigsten
Angriffe der Feinde ab; und selbst als der Herzog Eberhard ihm befahl,
die Festung zu übergeben, weil der Kaiser dies zu einer Bedingung seiner
Wiedereinsetzung gemacht hatte, verweigerte der treue Commandant von
393
Hohentwiel den Gehorsam, weil er dem Herzog gleich anfangs das Wort ge-
geben hatte, die ihm anvertraute Feste bis auf den letzten Blutstropfen zu ver-
theidigen und selbst die herzoglichen Befehle zur Uebergabe nicht zu achten.
Endlich beschloß er sogar ein besonderes Bündniß mit dem Herzog Bernhard
von Weimar und trat als Oberst i-n dessen Dienste, um so zum Worthaltzen
genöthigt zu sein; denn er konnte wohl wissen, daß er dadurch dem Herzog den
besten Dienst erweise, wenn er die Festung auf keine Bedingung ausliefere. Er
machte kühne Ausfälle und Streifzüge in die Nachbarschaft, aus denen er ent-
weder bedrängte Orte befreite, oder die bedrohten Erntefelder schützte, oder
reiche Beute davon trug, die er auf seine Burg hinaufführen ließ. Sein Tisch
war immer offen für Kranke, Verwundete und Arme. Als sein Feldprediger
gestorben war, so erbat er stch angelegentlich vom Herzog wieder einen Geist-
lichen und brachte ihn unter großer Gefahr mitten durch den Feind hindurch
auf die Burg; denn er war von Herzen gottesfürchtig, hielt die evangelische
Lehre sehr werth, und man sagte, daß er seine Feinde weit mehr durchs Gebet,
als durchs Schwert bezwinge. So lange er keinen Geistlichen hatte, so ging
der fromme Held selbst an den Betten der Kranken umher, um ihnen den Trost
des göttlichen Wortes zu bringen, und las 'in der Kirche seinen Kriegern selbst
eine Predigt vor.
Mitten unter den Schrecken der Belagerung erbaute er auf der Burg eine
neue Kirche. Dem Herzog Eberhard sandte er in seiner Geldnoth durch einen
als Bettler verkleideten Soldaten einen ausgehöhlten, dicken Knotenstock, der
mit Geld gefüllt war. Im Jahr 1643 rückte er einsmals des Nachts in aller
Stille vor Ueberlingen am Bodensee, hieb das Thor ein und überfiel die Wache
am Spieltisch. Ohne Schwertstreich bemächtigte er stch der Stadt mit ihren
reichen Vorräthen aller Art. Man bot ihm eine große Summe Geldes; er
schlug ste aus; denn diesmal stund sein Sinn nach etwas Anderem: es fehlte
ihm in seiner neuerbauten Kirche nur noch eine Orgel. Diese ließ er stch von
einem Kloster in der Stadt geben und zog damit ab. Seine Kriegszucht war
streng; er duldete bei seinen Kriegern keine Ausschweifung, keine Bedrückung
des friedlichen Bürgers, kein Fluchen und Schwören. Als nun der Herzog in
alle seine Rechte und in den ungeschmälerten Besitz des Landes wieder einge-
setzt war, da übergab ihm Widerhold die unbezwungene Feste am 4.Juli 1650
viel fester und besser versehen, als er ste übernommen hatte. Er starb als
Obervogt von Kirchheim und Besitzer des Ritterguts Neidlingen, Ochsenwang
und Randeck, von seinem Fürsten geehrt, vom Vaterland in dankbarstem An-
denken behalten. Sein Vermögen hat er zu gemeinnützigen Zwecken, zur Un-
terstützung von Studirenden, Armen, Kirchen und Schulen vermacht. Auf
seinem Grabmal in Kirchheim steht:
Der Commandant von Hohentwiel,
Fest, wie sein Fels. der niemals fiel,
Des Fürsten Schild, des Feindes Tort,
Der Künste Freund, des Armen Hort,
Ein Bürger, Held und Christ, wie Gold —-
So schläft hier Konrad Widerhold.
394
182. Der betende Handwerksgeselle.
Es sind etwa zwei hundert Jahre, daß ein junger Weißgerber der Luther-
stadt, Wittenberg in Sachsen, zuwanderte. Der jammervolle dreißigjährige
Krieg, der von 1618-bis 1648 in Deutschland wüthete, war beendigt; die
Menschen bauten sich wieder auf dem Schutt der verbrannten Städte und
Dörfer an, pflügten und säeten wieder auf den Feldern, die so lange Jahre
hindurch vom Huf der Rosse zertreten und mit Blut und Leichen gedüngt wor-
den waren; nur die Gewerbe erholten sich langsamer, weil Noth und Elend
überall in deutschen Landen waren. So hatte auch unser Weißgerbergeselle
schon lange Zeit wandern müssen, ohne Arbeit finden zu können. Er war
rechtschaffener Leute Kind und hatte von ihnen beten und arbeiten gelernt;
aber jetzt war er weit heruntergekommen. In der Tasche hatte er nur noch
einige Pfennige, das Felleisen war leer, die Kleidung zerrissen, die Schuhe
waren durchgelaufen, die Füße wund, der Magen hungrig. Müde und matt
zog er so auf der Straße daher, als die Abendsonne eben die letzten Strahlen
auf die Thürme in Wittenberg warf. Wollte Gott, dachte er, daß ich in dceser
Stadt doch auch endlich Arbeit fände und einige Zeit ruhen dürfte! Weil er
aber gewohnt war, seine Wege dem Herrn zu befehlen, fühlte er bei diesem
Wunsch einen innerlichen Antrieb zum Gebet; er schaute aber umher, ob er
von Niemand bemerkt werde. Und da er sich allein sah, knieete er unter einen
Baum nieder und betete inständig, Gott wolle sich seiner Noch erbarmen, ihm
in dieser Stadt einen ehrlichen Verdienst zuwenden, und ihn von seiner müh-
seligen Wanderung Ruhe finden lassen. Nachdem er so gebetet, ging er ge-
trosten Muths vollends nach Wittenberg hinein und in die Herberge seines
Handwerks. Er hörte dort von einem Weißgerber, der einen Gesellen begehre,
und ging noch am nemlichen Abend zu dem Meister, weil er müßig herumlaufen
für Sünde gehalten hätte. Hier fand er eine freundliche Aufnahme. Dank-
bar pries nun der fromme Jüngling diese gnädige Erhörung seines Gebets
und versah sein Geschäft mit treuem Fleiß und Geschick; auch seinen Wandel
führte er in Rechtschaffenheit und Gottesfurcht; in der Kirche war er so oft zu
sehen, als Andere im Wirthshaus. Bei seinem Meister wurde es ihm auch
wohl, da Gottesfurcht und Ordnung im Hause herrschte. Mit Gebet wurde
der Tag angefangen und beschlossen, auch jede Mahlzeit; Abends wurde in der
Bibel, auch in Luthers Postille gelesen, und nicht nur am Sonntag, sondern
auch während der Woche die Kirche besucht. Da nun der Meister seine Treue,
Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit hinlänglich erprobt hatte, so gab er ihm
seine Tochter zur Frau und trat ihm Haus und Gewerbe ab. Dies machte
aber den jungen Meister nicht übermüthig, sondern er blieb in der Demuth,
im Gebet, in Gottes Wort, und darnach richtete er auch seinen Wandel ein, so
daß er die allgemeine Achtung und Vertrauen sich erwarb und am Ende selbst
in den Rath der Stadt erwählt wurde. Zugleich segnete ihn Gott, daß er
einer der begütersten Bürger wurde. -Dies Glück betrachtete er aber nicht als
Lohn seiner Arbeit, sondern als gnädigen Segen Gottes, den er oft rühmte.
Wenn er Abends unter den Seinigen von des Tages Arbeit ruhte, so konnte
er manchmal erzählen, wie er arm und fast nackt in die Ltadt gekommen sei
und vor dem Thor gebetet habe. „Sehet", sagte er dann, „Gott hat ja mein
395
Gebet überschwenglich erhört und mich fein gesegnet. Ich habe mich nun viele
Jahre in dieser Stadt ausgeruht, Gott hat mir gute Zehrung gegeben, dazu
Geld in den Kasten, gute Kleider, gute Wohnung, und dazu fromm Gemahl
und gesunde Kinder, auch treu Gesinde. Für solche überschwengliche Wohl-
thaten kann ich ihm nicht genug danken!"
Psalm 50, 15. Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, so
sollst du mich preisen.
183. Das Ilallische Waisenhaus.
(Von 1700 an.)
Vor einem der Thore in Halle (einer Stadt in Preussen, an der Saale
gelegen) steht ein hohes Gebäude, das über seinenTEingang Jes. 40, 31. als
Inschrift trägt: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kr aft, dass sie auf-
fahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie
wandeln und nicht müde werden.« Dieser Eingang führt durch das Vorder-
gebäude in einen sehr langen Hof, in eine wahre Strasse, auf deren beiden
Seiten hohe Häuser stehen. Hier erblickt man ein Waisenhaus für arme Kin-
der, eine Erziehungsanstalt für Kinder aus höheren Ständen, eine Buchdrucke-
rei, besonders zum Druck von Bibeln, eine grosse Buchhandlung, viele Wirth-
schaftsgebäude, Gärten u. dergl.
Alles dieses ist erwachsen aus der gesegneten Glaubensarbeit des armen
Predigers und Professors August Hermann Franke, geboren in Lübeck im
Jahr 1663. Dieses Waisenhaus mit allen damit zusammenhängenden Gebäu-
den und Anstalten hatte, wie alles Grosse, einen gar kleinen Anfang. Es
ging damit folgendermassen zu: an jedem Donnerstag kamen Arme aus Fran-
kes Gemeinde in das Pfarrhaus. Statt ihnen bloss Almosen in Brod oder
Geld zu reichen, sprach er mit ihnen über christliche Wahrheiten und schloss
jedesmal mit einem Gebet. Weil er selber arm war, so entzog er sich eine
Zeit lang das Abendessen, um Geld für die Armen zu erübrigen. Im Jahr
1695 hing er in seiner Wohnstube eine Armenbüchse auf und liess oben da-
rüber den Spruch schreiben: 1 Joh. 3, 17 : »Wenn Jemand dieser Welt Güter
hat und siehet seinen Bruder darben, und schleusst sein Herz vor ihm zu,
wie bleibet die Liebe Gottes in ihm?« und darunter die Worte des Paulus:
2 Kor. 9, 7.: »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.« Nach Verlauf von einem
Vierteljahr gab eine Person auf einmal 4 Thaler 16 Groschen (8 fl. 12 kr.)
hinein. »Als ich dieses in die Hände nahm,« so erzählt er selbst, »sagte ich
mit Glaubensfreudigkeit: das ist ein ehrlich Kapital, davon muss man etwas
Hechtes stiften, ich will eine Armenschule damit anfangen. — Ich besprach
mich nicht darüber mit Fleisch und Blut, sondern fuhr im Glauben zu und
machte noch desselben Tages Anstalt. — Es wurden für zwei Thaler Bücher
gekauft und an arme Kinder vertheilt ; ein armer Student musste ihnen täg-
lich zwei Stunden Unterricht geben. Die Bettelkinder nahmen die neuen Bücher
mit Freuden an; aber von 27 Büchern, die unter sie vertheilt worden, wurden
ni’cht mehr a's vier wiedergebracht; die andern Kinder behielten oder ver-
kauften die Bücher und blieben weg.« — Franke liess sich dadurch nicht ab-
schrecken ; er kaufte neue Bücher, räumte einen Saal neben seiner Studir-
396
Stube ein und gab den Kindern dreimal in der Woche Almosen. Bald gesell-
ten sich Bürgerskinder dazu, jedes brachte wöchentlich einen Groschen Schul-
geld, so dass der Lehrer besser bezahlt werden und dafür täglich fünf Unter-
richtsstunden geben konnte. Schon im ersten Sommer stieg die Zahl der Kin-
der auf sechzig.
Bald verbreitete sich der Kuf von Frankes grosser Thätigkeit für die
Armen, und von da an strömten ihm von nah und fern Unterstützungen zu. In
dem Masse, als diese zunahmen, erweiterten sich seine Plane. Koch öfter ge-
schah es aber, dass er in festem Glauben kühn Grosses unternahm, ohne ir-
gend Mittel zu haben, es auszuführen , da ihm dann diese Mittel zur rechten
Zeit auf wahrhaft wunderbare Weise zuflössen.
Bald ward seine Pfarrwohnung zu eng für die Schule. Er miethete im
Nachbarhause eine Stube und bildete zwei Klassen, eine für die armen, eine
zweite für die Bürgerskinder; jede erhielt ihren eigenen Lehrer.
Bald regte sich in Franke der Wunsch, die Kinder nicht bloss zu unter-
richten, sondern auch zu erziehen, der Wunsch, ein Waisenhaus zu stiften.
Ein Freund gab ihm zu dem Ende 500 Thaler, davon die Zinsen sollten zu
diesem Zweck verwendet werden. »Als ich diesen Segen Gottes sah«-, so er-
zählt Franke selbst, »wollte ich ein armes Waislein dazu aussuchen, das von
solchen jährlichen Zinsen möchte erhalten werden. Da wurden mir vier vater-
und mutterlose Geschwister genannt, darunter ich eines auslesen sollte. Ich
wagte es auf den Herrn, sie alle vier zu nehmen. Da ichs aber einmal im
Namen Gottes angefangen, einige arme Waisen ohne menschliche Absicht auf
ein gewisses Kapital auf- und anzunehmen, so liess ichs auch getrost auf den
Herrn ankommen, deren noch mehr dazu zu thun. Des nachfolgenden Tages,
nachdem ich die ermeldten vier Waislein angenommen hatte, kamen gleich
noch zwei dazu, des nächsten Tages darauf wieder eins , zwei Tage darnach
abermals eins, und acht Tage darnach wieder eins, dass also den 16. Novem-
ber 1695 schon ihrer neun beisammen, welche bei unterschiedlichen christlichen
Leuten erzogen wurden. Und also waren die armen Waisen eher da, als
ihnen ein Haus erbaut odei erkauft war.«
Doch nun musste auch bald für ein Haus gesorgt werden. Es wurden
bis zum Jahr 1697 zwei Häuser zu diesem Zweck gekauft; als aber auch diese
zu klein wurden, weil bis zum Jahr 1698 die Zahl der Waisenkinder schon
auf hundert, die der zum Unterricht kommenden Bürgerskinder aber auf fünf-
hundert gestiegen war, so legte er am 13. Juli desselben Jahres im Namen
Gottes den Grundstein zu einem grossen Waisenhaus.
Der Bau dieses Hauses ist recht ein Werk des Glaubens und des Gebets.
Ein Theil des nöthigen Bauholzes konnte von den vorhandenen Gaben guter
Leute angekauft werden; »aber zum Bau selbst«, sagte er, »musste ich nun
von Wochen zu Wochen von der guten Hand Gottes erwarten, was sie dar-
reichen würde, denselben fortzusetzen.«
Indess seine Erwartung betrog ihn nicht. Franke theilte hierüber eine
Keihe der merkwürdigsten Erfahrungen mit. Einmal war äusserster Geldman-
gel. »Da ich bei schönem Wetter ausgegangen war«, erzählt Franke, »und
den klaren Himmel betrachtete , ward mein Herz sehr im Glauben gestärkt,
also dass ich bei mir selbst gedachte; wie herrlich ist es doch, wenn man
397
Nichts hat und sich auf Nichts veilassen kann, kennt aber den lebendigen
Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, und setzet auf ihn allein sein Ver-
trauen, dabei man auch im Mangel so ruhig sein kann!« Kaum war er nach
Hause zurückgekehrt, so kommt ein Bauaufseher und verlangt Geld für die
Arbeitsleute. »Ist was kommen?« fragte er. Ich antwortete: »Nein, aber ich
habe Glauben an Gott.« Kaum hatte ich das Wort ausgeredet, so liess sich
ein Student bei mir melden, welcher dreissig Thaler von Jemanden, den er
nicht nennen wollte, brachte. Da ging ich wieder in die Stube und fragte den
andern, wie viel er diesmal zur Bezahlung der Bauleute bedürfte? Er ant-
wortete: »Dreissig Thaler.« Ich sagte: »Hier sind sie«; fragte dabei, ob er
mehr brauchte? Er sagte: »Nein«; welches denn uns beide sehr stärkte, in-
dem wir so gar augenscheinlich die Hand Gottes erkannten , die es in dem
Augenblick gab, da es vonnöthen war.«
»Im Jahr 1698«, erzählt Franke weiter, »sandte ich einer frommen, durch
Leiden bewährten Christin einen Dukaten Sie antwortete: Der Dukaten wäre
ihr zu einer Zeit gekommen, da sie dessen wohl benöthigt gewesen. Sie habe
Gott gebeten, dass er meinen armen Waisen einen Haufen Dukaten wieder be-
scheren möchte. Bald darauf wurden mir vier Dukaten und zwölf Doppel-
dukaten gebracht. An eben dem Tage wurden mir auch zwei Dukaten von
einem guten Freund aus Schweden geschickt. Nicht lange darnach empfing
ich von der Post fünfundzwanzig Dukaten, dabei der Geber nicht genannt war.
Gleichfalls wurden mir von einem Gönner zwanzig Dukaten eben damals ge-
schickt. Da um dieselbe Zeit Prinz Ludwig von Württemberg zu Eisenach
starb, ward mir berichtet, dass er eine Summe Geldes dem Waisenhaus ver-
macht. Es waren 500 Dukaten. Sie wurden mir zu einer Zeit zugesendet,
da ich sie zum Bau des Waisenhauses höchst nöthig hatte. Da ich nun die-
sen Haufen Dukaten auf dem Tisch vor mir sah, dachte ich an das Gebet der
frommen Frau: Gott wolle meinen armen Waisen einen Haufen Dukaten wie-
der bescheren. So ging der Bau ungestört fort, obwohl kein sichtbares Bau-
kapital da war, aber Gott hat von Zeit zu Zeit so viel Segen zufliessen las-
sen, dass die Bauleute und Taglöhner um der richtigen Zahlung willen gern
und mit Lust gearbeitet, wie denn auch zu vieler Arbeiter gutem Vergnügen
der Bau täglich mit Gebet angefangen, auch bei der Zahlung des Sonnabends
Gott für den verliehenen Beistand in der Woche gedanket worden.«
Im Herbst 1698 war das Haus schon unter das Dach gebracht, trotz dem
dass ein ungläubiger Mensch beim Anblick der bereits zur Hälfte aufgeführ-
ten Mauer sprach: »Wenn die Mauer in die Höhe kommt, will ich mich dran
hängen lassen!«
Zu Ostern des Jahres 1700 konnte es bereits von den Waisenkindern be-
zogen werden.
Wie bei der Erbauung, so ging es auch bei der Erhaltung desselben.
»Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat«, sagt Franke, »hat mir der
Herr zugebröckelt, wie man den kleinen Küchlein das Brod zubröckelt , was
die Nothdurft erfordert.« Von vielen Beispielen, die er hier erzählt, stehe hier
nur eins. »Zu einer Zeit wurde auch des Morgens früh zur Zahlung desselben
Tages Geld von mir gefordert. Ich hatte aber nur sechs Thaler , welche ich
abgab. Der Hausverwalter nahm es in dipTTanrf väViltp p« umi saa-ia- »w»nn
398
es sechsmal so viel wäre, so reichte es; wer nun möchte multipliciren können:
6mal 6 ist 36!« Ich tröstete ihn mit der vielfältigen Erfahrung der Hülfe Got-
tes, welcher es auch noch selbigen Tages just zu 36 multiplicirte zu seiner
und meiner nicht geringen Stärkung des Glaubens. Gott that aber noch ein
mehreres und bescherete auch über dieses an demselbigen Tag fünfundzwan-
zig Dukaten, damit auch dem folgenden Tag, der gleichfalls ein Zahlungstag
war, ein Genüge geschehen könnte.«
Immerhin ging es nicht selten auch durch grosses Gedränge. »Es ist oft
und vielmal geschehen», erzählt er , »dass ich keinen Heller mehr übrig ge-
habt, obwohl auf den nächsten Tag das Marktgeld für 2—300 Personen da
sein musste.« Manchmal mussten die Pfennige zu Hülfe genommen werden,
welche man für Arme zurückgelegt hatte. Einmal musste der Hausverwalter
mit Schmerzen suchen, wie er nur ein paar Groschen auftriebe , um auf den
Abend etliche Lichter zu kaufen, damit die Kinder nicht im Finstern sitzen
dürften, und kam nicht eher dazu, als bis es dunkel worden war. Und den-
noch konnte Franke auf die Frage: »Habt ihr auch je Mangel gehabt?« in
Wahrheit antworten wie die Jünger: »Herr, nie keinen.« Luc. 22, 35.
Zur Zeit seines Todes (1727) waren im Waisenhause 143 Waisenkinder
unter zelm Aufsicht führenden Personen , 2207 Kinder und Jünglinge, die in
den verschiedenen Schulen von 175 Lehrern unentgeltlich unterrichtet wurden.
150 Schüler und 225 arme Studenten wurden aus der Kasse des Waisenhau-
ses täglich gespeist. Aus dem Verkauf einer Predigt Frankes »von der Pflicht
gegen die Armen« erwuchs nach und nach eine bedeutende Buchhandlung samt
Buchdruckerei; eine Anweisung zur Bereitung eines sehr wirksamen Heilmit-
tels, die ein Sterbender Franken übergab , legte den Grund zu einer grossen
Apotheke, die auch dem Waisenhaus wieder viel einbrachte.
Der Segen, welcher von dem Hallischen Waisenhaus ausging, erstreckte
sich nicht bloss auf diejenigen Kinder und Jünglinge, welche in seiner unmit-
telbaren Pflege standen; es übte überhaupt einen bedeutenden Einfluss auf
Verbesserung des Schul- und Erziehungswesens bei Armen und Reichen in
der Nähe und Ferne aus. Wie weit dasselbe sein Licht leuchten liess zum
Preise des Vaters im Himmel (Matth. 5, 16.), dafür zeugt, dass von demsel-
ben die erste Bibel- und die erste Missionsanstalt in der evangelischen Kirche
Deutschlands ins Leben gerufen wurde.
Aus der Bibelanstalt des Hallischen Waisenhauses, die sich die Verbrei-
tung wohlfeiler Bibeln unter den Armen zum Ziel setzte, sind bis jetzt allein
zwei Millionen h ervorgegangen. Aus dem Hallischen Waisenhause wurde der
Erstling unter den evangelischen Missionaren, Barthol. Ziegenbalk, im Jahr
1706 zu den Heiden gesandt.
184. Das that ich für dich! Was thust du für mich?
Der Graf Zuizendorf fand in dem Zimmer eines Wirths-
hauses ein Crucifix an der Wand, meinte aber, daß die Wirthsleute
wenig darauf achten. Kurz vor seiner Abreise schrieb er unbemerkt
in einem Halbkreise oben drüber: „Das that ich für dich!" und unten
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darunter: „Was thust du für mich?" — Nach einiger Zeit fiel dies
der Wirthin auf, die davon so erschüttert wurde, daß sie in Thränen
ausbrach. Sie rief ihren Mann, und er ward auch sehr ergriffen.
Beide sanken auf ihre Kniee. Nach einer Weile erst konnten sie aus-
rufen: „Gott segne den, der uns dies zum Heile schrieb. Was wir
nie gethan haben, wollen wir nun thun!" Und nun gaben sie sich
knieend die Hände darauf, daß sie von nun an dem Herrn in rechter
Treue nachfolgen wollten. Ihr Hauswesen und Leben wurde von
nun an ein ganz anderes, und an der gesegneten Stelle knieten sie
täglich nieder.
Nach etlichen Jahren reiste der Graf wieder durch jene Gegend,
und richtete es ein, daß er vor demselben Hause abstieg. Gegen sein
Erwarten ward er schon durchs Fenster erkannt, und Mann und Frau
eilten ihm entgegen, bewillkommten ihn mit Thränen des Dankes,
nannten ihn Freund, Wohlthäter und Bruder. Als er sich dagegen
unwissend äußerte, führten sie ihn wie im Triumph ins Zimmer vor
das Crucifix mit der durch einen Glasrahmen wohlerhaltenen Schrift,
und ohne weiter ein Wort zu sagen, knieten sie im Augenblick rechts
und links neben ihn hin und dankten dem Heiland so herzlich für
ihre Seelenrettung, daß, als beide geendigt hatten, auch der Graf,
der gleich anfangs mit auf seine Kniee gesunken war, von Herzen
betete und der ewigen Liebe für diese Gnadenerfahrung dankte.
185. Die württembergische Tabea.
(t 1730.)
In der Apostelgeschichte (9, 36 ff.) wird von einer Jüngerin Jesu,
.'Namens Tabea, erzählt: sie war „voll guter Werke und Almosen, die sie
that". Württemberg hat auch seine Tabea; so hat man nemlich, mit
geringer Versetzung der Buchstaben in ihrem Vornamen, die durch ihre
ungeheuchelte und ausgezeichnete Frömmigkeit bekannte Be ata Sturm in
Stuttgart genannt, derer: Leben Konrad Rieger beschrieben hat.
Ihr Vater war ein angesehener Beamter zu Stuttgart, im Wort und
in den Wegen Gottes wohl erfahren. Ihre Eltern ermahnten sie nicht gar
viel mit Worten, aber deren Wandel war eine beständige Ermahnung; wie
denn auch bei Erziehung der Kinder^ mehr auf Erempel als viele Worte und
Vorstellungen zu halten ist.
Obgleich sie als Kind eine Zeit lang ganz blind war und immer blöde
Augen behielt, las sie doch die heilige Schrift etliche dreißig Mal durch und
hörte das Wort fieißig. So kam sie mehr und mehr zu einem tief gegrün-
deten evangelischen Glauben, dessen Gesundheit und Kraft sich in allerlei
Werken der Liebe kund gab.
400
Ihre Liebe genossen nicht nur ihre Angehörigen, sondern hauptsächlich
diejenigen, welche der Liebe am bedürftigsten waren, die stch kümmerlich Näh-
renden, die Angefochtenen, die Wittwen und Waisen, die Armen überhaupt,
die Kranken in Spitälern und Lazarethen, zu welchen sonst nicht leicht Je-
mand einzukehren pflegt. Mit solchen Personen machte stch Beata bekannt,
für diese sorgte ste nach eigenem Vermögen und durch Fürsprache bei Anderen,
diese besuchte und tröstete sie, diesen brachte ste Essen, Trinken und was ihre
Hand fand; diesen suchte ste durch ihre Handreichung an das Herz zu kommen
und ihre Seelen durch die leiblichen Wohthaten aufwärts zu den geistlichen
Gütern und zu Gott zu ziehen. Als ste einst einem armen Weibe Etwas zu
essen gebracht hatte, und das Weib nebst der Danksagung für diese Sät-
tigung sagte, wenn jetzt nur sonst auch noch Jemand wäre, der ihr ein altes
Kleid zukommen ließe, so zog Beate Sturm auf der Stelle ihren Rock aus
und ging in ihrem langen Schlafrock heim, und erfüllte also auch dem Buch-
staben nach, was Johannes forderte: wer zween Röcke hat, der gebe dem, der
keinen hat (Luc. 3, 11.). Ihrem Essen und Trinken brach sie ab, damit
sie desto besser ausreichen könnte, die Hungrigen zu speisen und die Durstigen
zu tränken. Einmal erfuhr man zufälligerweise hinterher, daß sie zwei
ganze Tage keinen Bissen zu essen gehabt hätte, und froh gewesen wäre, wenn
ihr Jemand ein Stücklein Brod gegeben hätte; sie bekannte dabei, daß es
doch etwas Entsetzliches sei um das Hungerleiden. Um so mehr war sie
aber deßhalb darauf bedacht, es Andern zu ersparen.
Mit diesen Werken der Liebe ging das Gebet immer Hand in Hand.
Sie hat entweder, sagt Rieger von ihr, gebetet oder ein gutes Werk aus-
gerichtet; ja, sie hat nichts gethan als gebetet; denn indem sie auch etwas
Anderes that, betete sie doch ohne Unterlaß. Wer sie gekannt hat, der hat
eine lebendige Auslegung über die Worte Christi gehabt, daß man allezeit
beten und nicht laß werden solle (Luc. 18, 1.). Auch beim Bibellesen ver-
band sie Lesen, Nachdenken und Beten beständig mit einander. Ans Beten
ging sie mit Beten, d. i. wenn sie in eine öffentliche Betstunde oder sonst in
eine Gebetsversammlung ging, bereitere sie sich vorher darauf mit Beten und
Fürbitten für sich und die Mitversanimelten. Hörte ste in ihrem Hause in
die Rathversammlung läuten, so beugte sie ihre Kniee für die zu Rath ge-
henden Landstände mit Bitten und Flehen für sie und das gesamte Vater-
land. Unter dem Gehen auf der Straße betete sie. Wenn sie in ein Haus
eintrat, so sprach sie still: Friede sei mit diesem Hause (nach Luc. 10, 5.).
In ihrem Gebet hielt sie sich besonders gern an das Vaterunser.
„Wenn gute Freund-e von einander scheiden müssen", sagte sie öfters,
„so kommen sie doch bald wieder im Vaterunser zusammen."
Obwohl sie bei ihrer großen Gebetsgabe und Gebetsübung sich
zu Hause für sich wohl zu erbauen verstand, so versäumte sie doch
ohne dringende Noth keinen Gottesdienst, weder an Sonntagen noch
in der Woche. „Das Herz bedarf (nach Hebr. 3, 13.) täglich er-
mahnt zu werden, auch durch Andere", sagte sie, „und da sei eben
die Kirche eine besonders gute Gelegenheit dazu." Als einmal das
Himmelfahrtsfest gekommen war, so erzählte sie selbst, habe sie sich ge-
freut, wie sie sich diesen Tag zu Nutzen machen wolle. Wie sie aber
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in die Wohnstube gekommen sei, habe die Magd über Schmerzen ge-
klagt. Darauf habe sie dieselbe getröstet, sie wolle der Kinder warten,
bis es besser mit ihr werde; sie möge sich nur zu Bett legen. Da-
mit habe sie den ganzen Tag mit Warten der Kinder zugebracht, und
am Abend denken müssen: wo ist deine Himmelfahrtsfeier hingekommen?
Du hast ja in keine Kirche kommen oder sonst keiner Andachtsübung bei-
wohnen können. Doch habe sie davon einen Eindruck bekommen, daß das
kleinste Kind, da sie ihm die Speise geben wollte, seinen Mund so weit auf-
gethan, daß sie es mit ihren blöden Augen habe deutlich sehen können. Da-
durch seien ihr die Worte (Ps. 81, 11.): thue deinen Mund weit auf, laß
mich ihn füllen! recht lebendig aufgeschlosien worden. Des andern Tags
sei es mit der Magd wieder besser worden, und so unartig und widrig die-
selbe sich bisher geberdet, so willig und dankbar sei sie hernach gewesen, und
habe ein Wort der Ermahnung zu ihrer Besserung angenommen. Da
habe sie wieder gesehen, daß sie doch Himmelfahrt gehalten habe, ob es gleich
nicht nach ihrer vorgenommenen Weise gegangen sei.
Beata hatte einen natürlichen Hang zur Einsamkeit; aber sie konnte
und wollte demselben nicht nachgeben, und wußte sich auch unter dem äußer-
lich Zerstreuenden gesammelt zu halten. „Ich habe mir immer Alles zu
Nutz gemacht, was mir vorkam", sagte sie einmal. „Ist man inwendig
recht beschaffen, so kann einen das Aeußerliche nicht hindern. Das Herz
kann immer beim Heiland sein, es mag ein Gestöber um mich sein,
wie es will!" Sie äußerte sogar, daß sie öfters gewünscht habe, lieber
eine Magd in dem unruhigsten Hause zu sein, als in der Einsamkeit für
sich zu leben. Sie habe die besten Gedanken bei den geringsten Arbeiten
und spüre, daß Gott etwas Besonderes in die äußere Berufstreue im Kleinen
gelegt habe. Was Gott hie zusammengefügt, solle der Mensch nicht trennen,
aber das Letzte auch nicht zuerst setzen. Wenn man immer für sich sei, komme
man leicht in Selbstgefälligkeit, werde lieblos und unduldsam gegen Andere,
und komme man hernach einmal unter die Menschen, so versehe man es bald
hier, bald dort.
Wie reich sie aber auch an guten Werken gewesen, so war doch eines
ihrer letzten Worte: „Ach wie gut ist es, daß Alles auf lauter Gnade und
Barmherzigkeit ankommt! "
186. Des Herrn Hülfe.
In Altenburg lebte ein Schneider, Namens H., der gar ein lieber
Mann, uni» was noch mehr ist, ein Christ war. Er war aus Göttingen
gebürtig. Nach seinen Wanderjahren hatte er sich in Altenburg verheiratet
und war nach manchen Hindernissen Meister worden. Aber wer kannte in
Altenburg den armen, fremden Meister? Niemand ließ bei ihm arbeiten,
die kleine Summe, die der Mann zu Ansang gehabt hatte, ging gar bald
auf, und H. hatte nun kein Brod und keine Arbeit. So lange der Mensch
noch allein auf der Welt steht, thut ihm wohl der Hunger auch wehe; aber
Lelebuch. 26
402
es ist doch nur ein körperlicher Schmerz; hat er aber einmal Frau und Kin-
der, dann brennen ihm die Thränen, die der Hunger seinen Lieben auspreßt,
wie Feuer auf die Seele, die Noth wird dann ein den innern Menschen fest
erdrückender, Herz durchbohrender Schmerz.
In dieser Lage war der arme H. Die gute Frau, von langer Noth
und Kummer krank, das Töchterchen, die einzige Person in der Familie, die
seit einigen Tagen ein wenig Brod bekommen hatte, auf der Thürschwelle
sitzend und vor Hunger weinend. Der Vater, der wohl vor Mattigkeit kaum
mehr aufrecht stehen konnte, drängt sein bleichgehärmtes Gesicht ans Fenster
und steht hinaus. Aber draußen war finstere Nacht und sehr starker Regen
und Sturm; in seinem Herzen sprach es immer: ohne Hülfe, ohne Hülfe! Da
wurde das geängstete, zerschlagene Herz auf einmal von seinen Banden frei,
es konnte recht innig und mit tausend milden Thränen zu dem flehen und
um Hülfe seufzen, der unsere Zuversicht und Zuflucht noch sein will, wenn
keine Menschenhülfe mehr nützen kann. — Aber wer soll ihm denn noch
heute, und sein Herz mußte in dieser äußersten Noth bitten „noch heute", in
diesem Regenwetter und Sturnr Brod bringen?
Da kommt auf einmal noch Jemand auf der finstern, steilen Treppe
herauf, sucht an der Thüre, es war der Hausknecht aus dein gegenüberstehen-
den Gasthof. Ein dort liegender Fremder hatte einen Schneider begehrt,
der ihm schnell, noch in dieser Nacht, ein Paar Beinkleider fertigen sollte;
der Hausknecht hatte in dem schlimmen Wetter nicht erst wett nach einem ihm
bekannten Meister gehen mögen und ries denn den armen H.
Da dieser zu dem Fremden in seiner armen Kleidung und mit seiner von
langem Kummer schüchtern gewordenen Miene hineintritt, mißt ihn der mit
großen Augen, fragt ihn, ob er sichs wohl getraue, das verlangte Kleidungs-
stück zu fertigen, er (der Fremde) sei überaus eigensinnig, und ihm habe noch
kaum ein berühmter Meister Kleidungsstücke dieser Art zur vollen Zufrieden-
heit, und doch auch mit der nöthigen Bequemlichkeit gefertigt. Das dazu
bestimmte Tuch sei sehr fein und theuer, es sei deßhalb sehr schade, wenn
es verdorben würde, er wolle ihm lieber einige Groschen dafür geben,
daß er sich herbeurüht habe und einen andern Meister rufen lassen. Der
arme, in seinem Handwerk wirklich geschickte H. fühlt sich über jenen
Mangel an Zutrauen tief gekränkt, versichert, er wolle den Fremden
wohl zufriedenstellen, und dieser gibt ihm das Tuch, mit der Aeußerung:
nun, er wolle das nur einmal an eine sehr wahrscheinlich mißlingende
Arbeit wagen.
Die Liebe gibt dem armen, aus Hunger sehr müden H. Kraft, die ganze
Nacht durchzuarbeiten. Er fitzt ja bei dem Bette seiner lieben Frau und
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seines schlafenden Kindes, die er morgen beide wird erquicken können. Wenn
die Kräfte nicht mehr aushalten, wenn die Augenlieder zusammensinken
wollen, sieht er die beiden Schlafenden an, die matte Hand erhält neue
Krafl, wenn er sie auf die kranke, heiße Hand seiner lieben Frau, oder auf
die heute recht bleich aussehende Wange des Kindes legt; so ist gegen
Morgen die Kleidung fertig. Er trägt sie zur bestimmten Stunde dem
Fremden hin, und dieser findet sie so vollkommen nach seinem Wunsche,
daß er dem armen Schneider mehr gibt als gewöhnlich, und da er die
Freudenthränen sieht aus der bleichen Wange, noch mehr. Der Arme geht
und erquickt sich und die Seinen.
Aber sein gestriges Abendgebet aus dem geängstigten und zerschlagenen
Herzen war auf eine Weise erhört worden, wie er sichs heute, so sehr auch
stiue Seele voll Freude und Hoffnung, sein Mund voll Dankes war, nicht
träumen konnte. Der Fremde blieb diesen Tag noch in Altenburg. Bei
einem gar sonderbaren Zufall, der in einer vornehmen Gesellschaft, wobei
der Fremde war, sich ereignete, fand er eine sehr gute Gelegenheit, den armen
Schneider als einen in seinem Handwerk ganz vorzüglich geschickten Meister
anzuempfehlen. Mehrere Anwesende merkten sich Wohnung und Namen,
und von nun an fand H. so viel Arbeit, daß er sich nie mehr mit den Seinen
hungrig schlafen legen durfte und daß er später sein Auskommen sehr gut
hatte.
187. Denksprnche.
1. Lotteriezettel sind Eingangszettel ins Bettelhaus.
2. Bettelstab ist das härteste Holz.
3. Spar' in der Zeit, so hast dn in der Noth.
4. Dem Fleißigen guckt der Hunger wohl ins Fenster, darf aber
nicht ins Haus kommen.
5. Der Herr muß selber sein der Knecht,
Will ers im Hause haben recht.
6. Den Geschickten hält man werth,
Den Ungeschickten Niemand begehrt.
7. Wer sich im Haus um den Nagel nicht kümmert, dem faulen
die Sparren.
8. Der Groschen, den das Weib erspart, ist so gut, als der
Groschen, den der Mann erwirbt.
9. Man muß nicht mit Sechsen fahren, wenn man nur für
Zwei Futter hat.
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10. Unrecht Gut gedeiht nicht und kommt nicht auf den dritten
Erben.
11. Kirchengehen säumet nicht.
12. Harren und hoffen läßt den Himmel offen.
188. Johann Jakob Moser auf Hohentwiel.
(f 1785.)
Ein Württemberger kann nicht leicht von der Bergfeste Hohentwiel hören,
es fällt ihm dabei sein wackerer Commandant Konrad Widerhold ein,
ein Muster mannhafter Treue gegen seinen Forsten und dessen Land. Aber
auch der Name eines andern württembergischen Ehrenmannes, der etwas über
hundert Jahre später eine Zeit lang Hohentwiel bewohnt hat, ist gleichsam in
dieses grossartige Denkmal eingegraben, der Name: Johann Jakob Moser.
Zwar war Moser nicht Commandant auf der Feste, sondern Gefangener in der-
selben; aber es dürfte schwer sein zu sagen, welcher von beiden Männern es
mit seinem Herzog und dem Lande treuer gemeint, und vor wem man den
Hut tiefer herunterthun soll, ob vor dem Commandanten oder dem Arrestanten.
Moser war geboren zu Stuttgart am 18. Januar 1701. Er zeigte schon
als Knabe grosse Gaben und einen ungewöhnlichen Fleiss. In seinem 19. Le-
bensjahre war Moser schon Professor in Tübingen und erlangte bald im In-
und Ausland als Lehrer des Staatsrechts, als Schriftste 1er, und vor allem als
gerader, redlicher Mann ohne Falsch einen grossen und wohlverdienten Bus.
Nach einem längeren und ehrenvollen Aufenthalt im Ausland wurde er
Consulent (Bechtsbeistand) der württembergischen Landschaft oder Landstände
zu Stuttgart. Es war im Jahr 1751. Der damals regierende Herzog Karl,
ein Mann von schönen Gaben, hatte seine Regierung in einem guten Sinn an-
getreten, war- aber durch böse Rathgeber nach und nach auf üble Wege ge-
führt worden, und besonders seitdem ein Ausländer, der Graf Montmartin, er-
ster Minister des Herzogs war, wurde der Landschaft mit ausdrücklichen Wor-
ten ein unbegrenzter und unumschränkter Gehorsam zugemuthet. Darein konnte
die Landschaft ihrem Eide gemäss durchaus nicht willigen. Weil Moser als
Consulent der Landschaft immer das Wort führen musste, so fiel der ganze
Hass des Herzogs und seines Ministers auf ihn, und er sah bald ein, dass er
unter solchen Umständen entweder das Land im Stich lassen, oder ein Opfer
für dasselbe werden müsse. »Das erstere konnte und wollte ich Gewissens
halber nicht«, sagte er, »also erfolgte das letztere«, — Man muthete ihm die
Auslieferung von Landesgeldern ohne Bevollmächtigung von Seiten des Land-
tags zu; da erklärte er: »Ehe ich wider Pflicht und Gewissen handeln wollte,
ehe wollte ich meinen grauen Kopf hergeben.« Und daran that er recht; der
Herzog aber war damit nicht zufrieden.
Es war am 12. Juli 1759, als ihn dieser nach Ludwigsburg bescheiden
liess. Da er dort im Vorzimmer so lange warten musste, bis man ihn dem
Herzog gemeldet hatte, sagte er geschwind zu einem anwesenden Sekretär
(Geheimschreiber) :
405
Unverzagt und ohne Grauen
Soll ein Christ, wo er ist,
Stets sich lassen schauen.
So trat er ein. Der Herzog kündigte ihm seine Gefangensetzung an und
stellte ihm die allerschärfste Untersuchung in Aussicht. Moser antwortete nur:
»Euer Durchlaucht werden einen ehrlichen Mann finden.« Alsdann wurde er
unter Husarenbegleitung nach der Festung Hohentwiel abgeführt. Hier bekam
er zwar ein ziemlich gutes Zimmer mit der, Aussicht auf den Bodensee und
die Schweizerberge, im übrigen aber wurde er aufs liebloseste behandelt. In
vier Jahren kam er nicht aus dem Zimmer, Niemand durfte ausser dem Com-
mandanten mit ihm sprechen, nicht einmal der Gang in die Kirehe war ihm
vergönnt. Er litt oft sehr heftig an Gliederschmerzen; man wollte ihn aber
nicht pflegen, und nur mit Mühe gestattete man ihm endlich einen Arzt, mit
dem er aber nur in Gegenwart des Commandanten und nur von der Krankheit
sprechen durfte. Essen bekam er oft so wenig, dass er nur eben vor dem
Hungersterben bewahrt blieb. Das Holz sparte man an ihm im Winter der-
gestalt, dass der alte Mann, obwohl er Läden und Vorhänge schloss und sich
mit allen möglichen Kleidern bedeckte, fast erfror. Das Härteste aber, was
dem hartgedrückten Manne begegnen konnte, war, dass man ihm das Schrei-
ben verwehrte, indem man ihm Papier, Dinte, Feder und Bleistift versagte.
Der gedankenreiche Mann soll in seinem Leben so viele Bücher geschrieben
haben, dass dieselben gegen fünfhundert Bände füllten. Man kann sich den-
ken, wie schwer es ihm nun müsse gefallen sein, diese Beschäftigung ganz zu
entbehren. Nichts als die Bibel, ein Predigtbuch von Steinhofer, und später-
hin noch ein Gesangbuch wurde ihm zugelassen.
Wie mancher hätte ein solches Leben auf die Länge unerträglich gefun-
den! — Nicht so unser Moser. Er versicherte später einmal der Markgräfin
von Baden, die ihn um sein Elend auf Hohentwiel bedauerte: er habe dort
Wochen und Monate gehabt, die zu den glücklichsten seines Lebens gehörten.
Was war es denn, das diesen Mann so redlich und treu, so herzhaft auch
seinem Fürsten gegenüber, so bereitwillig, um der Gerechtigkeit willen zu lei-
den, und so geduldig und ergeben im Leiden selbst gemacht hat? — Er war
— um es in einem Worte zu sagen — ein Christ. — »Ich habe nun«,
so schreibt er von sich selbst in seinem Alter, »gegen vierzig Jahre lang das
ununterbrochene Zeugniss, dass ich bei Gott um Jesu Christi willen in Gnaden
stehe, und mir um seines für mich vergossenen und für mich redenden Blutes
willen alle meine Sünden vergeben seien. Ich lebe und wandle also in dem
Frieden Gottes, bin dabei ruhig und vergnügt und sehe dem Ende meines
Lebens getrost und freudig entgegen in der gewissen Hoffnung des ewigen se-
ligen Lebens.« Wer in seinem Herzen also steht, der wird über alle Gunst
oder Ungunst-der Menschen hinübergehoben und kann auch die Leiden dieser
Zeit gering achten, ja sich rühmen der Trübsal (ßöm. 8, 18. 5, 3—5.).
Obwohl man Moser alle Bücher ausser den obengenannten verweigerte und
ihm keine Schreibwerkzeuge erlaubte, wusste er die lange Zeit seiner Gefan-
genschaft doch sehr zweckmässig abzutheilen und in der besten Erkenntniss
und in der Gnade zu wachsen; denn das war sein ernster Vorsatz, als er diese
seine Hochschule Hohentwiel bezog. Er betete, las im alten Testament, be-
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sonders die Psalmen, sodann las er das neue Testament und Lieder. In der
Zwischenzeit hätte er selber gerne Lieder gedichtet; aber wie das machen
ohne Papier und Feder und Vinte? — Doch die Noth macht erfinderisch. Nach
einigen andern, weniger gelungenen Versuchen kratzte er mit der Spitze sei-
ner Lichtputze Buchstaben in die weisse Wand, und wenn dieselben auch an-
fangs gross waren, so lernte er sie nach und nach kleiner und feiner machen.
So überschrieb er nun die ganze Wand in Stube und Kammer, so weit er
reichen konnte, mit Liedern, die er gedichtet hatte. Die Lieder stunden nun
zwar an der Wand; aber wie sie mitnehmen, wenn er etwa wieder frei wer-
den sollte ?
Steinhofers Predigtbuch war auf Schreibpapier gedruckt; wenn er etwas
hartes unter ein Blatt legte , konnte er mit der Spitze der Lichtputze darauf
schreiben, dass gute Augen es lesen konnten. Das that er denn recht fleissig.
Doch die Lichtputze nützte sich ab, und das Buch war bald voll, da er nur
eine Seite benützen konnte. Da nahm er seine Schere zu Hülfe. Selbst die
dünnen Blätter seiner haitischen Bibel mussten ihm dazu dienen.
Als seiner Frau und später auch seinen Kindern die Erlaubnis zu Theil
ward, an ihn zu schreiben, so freuten ihn die Briefe derselben nicht nur we-
gen ihres Inhalts, sondern weil er in ihnen immer auch wieder Papier bekam,
wo er zwischen die geschriebenen Zeilen seine weissen Zeilen hineinkratzen konnte.
Und was hat er denn auf diese Weise zusammengeschrieben? — Ueber
hundert Lieder, die nach seiner Befreiung gedruckt erschienen sind, und von
denen auch unser Gesangbuch eines enthält. (Nro. 207.) Auch andere Sachen
schrieb er so, z. B. ein Büchlein mit der Aufschrift: »Eines alten Mannes
muntere Stunden während eines engen Festungsarrestes.«
Seine Frau starb im dritten Jahr seiner Gefangenschaft ihm zum grossen
Schmerz. Er selbst wurde bedenklich krank, so dass man besorgte, sein
Ende möchte herbeikommen. Doch es war noch nicht an dem; im Gegentheil
erlangte er seine Gesundheit schnell auf eine ausserordentliche Weise. Dar-
über müssen wir ihn selber hören: »In Hohentwiel war ich an dem Hüftweh
und an Gliederschmerzen erbärmlich krank, musste mich unter dem einen Arm
einer Krücke bedienen und in der andern Hand einen Stock halten , und
konnte dennoch mit genauer Noth also etliche Schritte weit zum Tisch oder
Bett kommen.
An einem Morgen setzte ich mich also an den Tisch, legte die Krücke
und Stock auf denselben, las in der Bibel die Geschichte , wie Jesus den zu
ihm gebrachten Gichtbrüchigen gesund gemacht, gab ihm in meinem Herzen
die Ehre, dass er auch noch jetzt auf seinem Thron eben dieses thun könne,
wo er Glauben antreffe, bat aber in Ansehung meiner Person um Nichts. Ais
es Essenszeit war, kam der Commandant, Herr General von Boman, nebst
dem Arzt, Dr. Eppli von Diesenhofen , gegen welche ich mich entschuldigte,
dass ich sie weder an der Thüre empfinge , noch bis an dieselbige begleitete,
weil ich ausser Stand, sei, es zu thun. Als Herr Dr. Eppli meine Krücke und
Stock auf dem Tisch liegen sah, sagte er: »Ei behüte Gott; was für fürch-
tige Instrumente!« Ich versetzte: »Ich danke Gott, dass er Holz habe wach-
sen lassen, welches mir nun so gute Dienste leistete«. Als sie foit waienund
ich an Nichts dachte, stand ich auf und fand, dass ich im Stande war, frei zu
407
stehen. Ich ging einen Schritt und konnte gehen , und zwar ohne Schmerzen.
Als der Herr Commandant zum Abendessen kam, empfing ich ihn an der Thüre
und ging mit ihm herum. Er erstaunte und wusste nicht, was er daraus ma-
chen sollte, und ich hatte Ursachen, ihm das Vorhergegangene nicht zu sagen.
Er meldete mir hernach: er habe es in seinem monatlichen Bericht an den
Herzog gebracht, dass ich von meinen heftigen Gliederschmerzen auf eine un-
begreifliche Weise wieder plötzlich hergestellt worden sei. Und ich nahm nach
meiner Befreiung zum dankbaren Angedenken gegen den lieben Gott die Krücke
mit mir freudig nach Hause; ohne dass ich die von dem Arzt mir vorge-
schriebene Arznei gebraucht hätte.«
Von der Zeit an war er befreit von Gliederschmerzen und Hüftweh und
setzte zu seiner Erzählung hinzu: »nun zerbreche sich den Kopf weiter dar-
über , wer da will und wie er «will.« Wir wollen ihn uns nicht zerbrechen,
sondern den preisen, welcher durch und ohne Mittel helfen kann.
Am 25. Sept. 1764 wurde Moser endlich auf anhaltendes Betreiben der
Landschaft in Freiheit gesetzt und kam wohlbehalten nach Stuttgart zurüfck.
Es sei ihm gegangen, sagte er, wie dem Daniel, von dem (Dan. 6, 23.) er-
zählt werde: »sie zogen Daniel aus dem Graben, und man spürte keinen
Schaden an ihm, denn er hatte seinem Gott vertrauet.« Der Herzog liess ihn
selbst zu sich kommen, lud ihn zur Tafel und erklärte , dass er nun wüsste,
er habe an ihm einen ehrlichen Mann, guten Patrioten (Vater-
landsfreund) und getreuen Unterthanen.
Wie wahr spricht Salomo (Spr. 19, 7): wenn Jemandes Wege dem
Herrn Wohlgefallen, so macht er auch seine Feinde mit ihm
zufrieden!
189. /nc-rich II., König von Preußen.
(Geb. 1712, gest. 1786.)
Die einflußreiche Stellung, welche Preußen unter den deutschen Staaten
einnimmt, verdankt es einer Reihe trefflicher Fürsten, unter welchen Fried-
rich II. weitaus die erste Stelle verdient. Man nennt ihn daher auch Fried-
rich den Großen. Er war der Sohn Friedrich Wilhelms I. Schon frühe
zeigte er hohe Gaben, und namentlich weit mehr Neigung zu den Büchern als
zu den Waffen. Sein Vater war ein großer Soldatenfreund und hielt den
Sohn sehr hart. Dieser sollte auch erfahren, was im Wort Gottes (Klagt. 3,
27.) geschrieben steht: es ist ein köstlich Ding einem Mann, daß er das Joch
in seiner Jugend trage. Weil aber der lebhafte Prinz dies damals noch nicht
einsah, so suchte er sich in seinem achtzehnten Jahr dem harten Joch durch die
Flucht zu entziehen. Allein da wurde aus übel ärger ; sein Vorhaben ward
entdeckt, und er mußte mit hartem Gefängniß büßen; ja fast wäre er auf Be-
trieb seines eigenen, strengen Vaters als Ausreißer erschossen worden.
Im Jahr 1740 trat Friedrich die Negierung über Preußen an. Sein
Vater hinterließ ihm ein treffliches Heer von 76,000 Soldaten und einen
408
Schatz von neun Millionen Thalern. Da Maria Theresia, die treffliche Re-
gentin von Oesterreich, Schlesien, auf das Friedrich einen Rechtsanspruch hatte,
nicht gutwillig herausgeben wollte, so beschloß dieser, es zu erobern. Zwei
Kriege erforderte es. bis es ihm gelang; denn auch die Oesterreicher kämpften
tapfer. Aber Maria Theresia konnte diesen Verlust nicht verschmerzen. Ins-
geheim brachte sie ein furchtbares Bündniß gegen Friedrich zu Stande. Sach-
sen, Rußland, Schweden, Frankreich verbanden sich mit Oesterreich, um Fried-
rich zu stürzen, den größten Theil seines Landes zu vertheilen und das König-
reich Preußen nur als armseliges Markgrafthum noch bestehen zu lassen. Ein
sächsischer Schreiber verrieth den ganzen Plan an Friedrich. Da galt es Rasch-
heit und schnelles Zuvorkommen. Erst auf das nächste Jahr (1757) war der
Ausbruch der Feindseligkeiten festgesetzt. Friedrich aber, um seine Gegner ein-
zeln zu schlagen, brach augenblicklich in Sachsen ein, nahm es ln raschem
Handstreich weg, und so war der furchtbare siebenjährige Krieg begon-
nen (1756—1763). Die mörderischen Schlachten bei Lowositz, Prag, Kollin,
Roßbach, Leuthen, Zorndorf sahen Ströme von Blut fließen. Bei Roßbach
bewies Friedrich einem französischen Heer, was ein wohlangelegter und pünkt-
lich ausgeführter Schlachtplan vermöge. Er stand mit 22,000 Mann in sei-
nem Lager; die Franzosen gedachten mit ihrer dreifach überlegenen Macht ihn
einzuschließen und hatten nur Sorge, der König selbst möchte ihnen entwischen.
Die Feinde marschirten bereits mit klingendem Spiel auf; Friedrich aber fetzte
sich am Mittag noch ruhig zu Tisch, und seine Soldaten lagen eben so ruhig
um ihre Feldkessel. Da mit einemmal ergeht der Befehl zum Abbruch der
Zelte, zum Aufbruch des Heeres, und ehe ztvei Stunden verfließen, sind die
Franzosen in wilde Flucht gejagt. — Nicht bester erging eS bald darnach bei
Leuthen einem Reichsheer, bei welchem auch Württemberger sich befanden, die
gewaltsam aufgehoben , ungern gegen Friedrich ausgezogen waren. Auch hier
war der Feind dem König um das dreifache überlegen; die Oesterreicher nann-
ten sein Heer nur die Berliner Wachparade. Am 5. December 1757 Mit-
tags 1 Uhr griff Friedrich an, und um 4 Uhr war der Sieg bereits entschie-
den. Den Feind rasch verfolgend, reitet er mit einem Trupp Husaren nach
L'issa. Er eilt mit wenigen Begleitern voran auf das Schloß und triffc hier
eine Menge österreichischer Ofsiziere. Welch große Gefahr für seine Freiheit,
sein Leben!— Doch mit der ruhigsten Miene spricht er: „Guten Abend,
meine Herren! Sie werden mich hier wohl nicht vermuthen? Kann man denn
noch mit unterkommen?" — Ein ehrfurchtsvolles „Ah!" war die Antwort.
Jndeffen kamen seine Begleiter und machten die Oesterreicher zu Gefangenen.
Sein siegreiches Heer stand inzwischen noch auf dem Schlachtfeld. Die
Nacht brach ein; von Hunger, Frost und Mattigkeit überwältigt, sanken die
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braven Krtegsmänner auf den feuchten Boden hin. Da fängt ein Soldat an,
laut und langsam zu singen: „Nun danket alle Gott" rc. Einer um den an-
dern singt ihm nach, die Spielleute fallen mit ihren Instrumenten ein, und in
einer Minute singt das ganze Heer das kräftige Lieb — man denke, mit welcher
Empfindung! — mit.
Doch nicht alle Schlachten fielen für Friedrich fo günstig aus. In der
Schlacht bei Kunnersdors z. B. blieben dem König von feinen 40,000 Mann
kaum 5000 übrig; ja er selbst war in der größten Gefahr; zwei Pferde wur-
den ihm unter dem Leib erschossen, und er wäre gefangen worbeil, häite ihn
nicht noch ein wackerer Rittmeister mit fernen Husaren herausgehauen. „Pritt-
witz, ich bin verloren!" rief er auf dem Weg mehrmals aus, und auf dem
Rücken dieses treuen Gefährten schrieb er mit Bleistift an einen seiner Mini-
ster in Berlin: „Alles ist verloren, retten Siebte königliche Familie. Adieu für
immerU — Die Uneinigkeit seiner Feinde wurde das Mittel zu seiner Rettung.
Auch später einmal sah Friedrich, von Russen unb Oefterreichern bebrängl,
nirgends einen Ausweg. Da tröstete ihn der alte, fromme Husarengeneral
Ziethen, es werde gewiß noch Alles ein gutes Ende nehmen. Friedrich fragte
daraus spöttisch, ob sich Ziethen etwa einen neuen Alliirten (Verbündeten) ver-
schafft habe? „Nein", antwortete Ziethen, „nur den alten da oben, und der
ver.läßt uns nicht!" — „Ach" , seufzte der König, „der thut keine Wunder
mehr!" — „Deren brauchts auch nicht", versetzte der fromme Husar; „er
streitet dennoch für uns und läßt uns nicht sinken." —Zwanzig Tage darnach
zog das gefürchtete Russenheer ab; da sagte der König zu Ziethen: „Er hat
damals doch Recht gehabt, und sein Alliirier hat Wort gehalten."
Als Rußlands Kaiserin Elisabeth starb, waren alle Parteien des Kriegs
müde; der Friede zu Hubertsburg machte dem Krieg ein Ende. Friedrich blieb
im Besitz Schlesiens.
Jetzt war Friedrichs angelegentliche Sorge, die Wunden, welche der Krieg
seinem Land geschlagen, wieder zu heilen. Mit freigebiger Hand schenkte er den
Bedürftigen aus seiner Privatkasse. Ganze Dörfer ließ er auf seine Kosten
wteber ausbauen. Die Kriegsmagazine öffnete er und ließ Korn austheilen;
die Kavalleriepferde gab er dem Feldbau zurück. Und weil er richtig erkannte,
daß die Landwirthschaft mit da zu ihrer volleit Blüthe gelange, wo Handel und
Gewerbe zugleich emporblüheu, so verwendete er atlßerordentliche Summen auf
die Anlegung von Straßen und Kanälen; und es ist merkwürdig, wie schnell
sich der Wohlstand des Landes wieder hob, alle Kassen sich füllten.
Friedrich stellte in seinen Schriften den schönen Grundsatz auf, ein Fürst
sei nur der erste Diener des Staats; was aber mehr sagen will: er befolgte
ihn auch; kein Fürst hat so viel gearbeitet wie er. Nie schlief er über sechs
410
Stunden. Oft war er schon um drei Uhr Morgens an seinem Schreibpult.
Eine der größten Wohlthaten erwies er aber seinem Land durch Einführung
einer tüchtigen Rechtspflege. Aber auch hier ging Friedrich mit dem eigenen
Beispiel voran. Nichts wollte er vor dem geringsten seiner Unterthanen vor-
aus haben. Einst wünschte er bei einem Lustschloß die Gartenanlagen zu er-
weitern. Eine alte, häßliche Windmühle stand im Wege. Friedrich ließ den
Müller kommen, um sie ihm abzukaufen. Dieser aber wollte durchaus nicht.
Da sagte der König gereizt: „Bedenke dich, ich könnte dir ja die Mühle
nehmen." Der Müller aber entgegnete: „Ja, Ew. Majestät, das könnten Sie,
wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!" Und Friedrich freute sich
der Antwort, stand von seinem Begehren ab, und die Mühle wird noch heut
zu Tag gezeigt.
Wie wenig er ein freies Urtheil scheute, überzeugt, die Erkenntniß der
Wahrheit könne durch dasselbe nur gewinnen, zeigt am besten folgender Vor-
fall. Er sah eines Morgens viele Leute sich um eine Straßenecke drängen.
„Was gibts dort?" fragte er seinen Diener. Dieser zögerte mit seiner Ant-
wort; endlich sagte er schüchtern: „Eine Schmähschrift auf Ew. Majestät ist
dort angeschlagen." —- „Geh doch hin", antwortete Friedrich, „und hänge sie
etwas tiefer, damit die Leute sie bequemer lesen können." Leider hatte Friedrich
keine Freude an deutschen Büchern. In seinen jüngern Jahren schrieb man
noch gar roh und geschmacklos; die Franzosen hatten aber geistreiche und
witzige Schriftsteller. Diese nahmen ihn ganz ein. Daher schrieb er selbst
meistentheils französisch, und an seiner Tafel wurde nur in dieser Sprache ge-
redet. Als er aber später den geistreichsten der Franzosen, Voltaire, an seinen
Hos kommen ließ, mußte er die Erfahrung machen, daß ein deutsches Herz
durch welschen Witz und Tand nicht befriedigt werde. Wehmüthig schrieb er an
einen Freund: „Guter Gott! wie kann doch so viel Geist mit solcher Verdor-
benheit des Gemüths verbunden sein!"
Friedrich, den die treuherzige Liebe seiner Preußen später nur den
alten Fritz nannte, erreichte ein Alter von 74 Jahren. Die Nachricht von
seinem Hinscheiden ergriff selbst seine Feinde. Seine Preußen weinten, als ob
ihnen allen der Vater gestorben wäre.
190. Friedrich II. und General Ziethen.
Friedrich sah nach glücklich beendigtem siebenjährigem Kriege unter seinen
Tischgenossen vorzüglich gern den alten General von Ziethen, und es mußte
derselbe, wenn gerade keine fürstlichen Personen gegenwärtig waren, immer zu-
nächst bei ihm an seiner Seite sitzen. Einstmals hatte er ihn auch zum Mit-
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tagessen am Charfreitag einladen lasten; Ziethen aber entschuldigte sich, daß
er nicht erscheinen könne und werde, weil er an diesem hohen Festtage immer
zum heiligen Abendmahl zu gehen pflege und dann gern in seiner andächtigen
Stimmung bliebe; er dürfe sich darin nicht unterbrechen und stören lassen.
Als er das nächstemal wieder im Schloß zur königlichen Tafel erschien,
und die Unterredung bald, wie gewöhnlich, einen geistreichen, heiteren Gang ge-
nommen hatte, richtete der König scherzend die Rede an seinen nächsten Nach-
bar mit den Worten: „Nun, Ziethen, wie ist ihm das Abendmahl am Char-
freitag bekommen?" Er fügte noch eine unwürdige Spottrede hinzu, worauf
ein höhnendes Gelächter im Saal entstund. Der alte Ziethen aber schüttelte
unwillig sein graues Haupt, stand auf, und nachdem er tief vor seinem Könige
sich verbeugt, richtete er mit lauter, fester Stimme folgende Worte an ihn:
„Eure königliche Majestät wissen, daß ich im Kriege keine Gefahr ge-
fürchtet, und überall, wo es darauf ankam, entschlossen mein Leben für Sie und
das Vaterland gewagt habe. Diese Gesinnung beseelt mich auch heute noch,
und wenn es nützt und Sie befehlen, so lege ich mein graues Haupt gehorsam
zu Ihren Füßen, aber es gibt einen über uns, der ist mehr wie Sie und ich,
mehr als alle Menschen ; das ist der Heiland und Erlöser der Welt, der für
sie gestorben und uns alle mit seinem Blute theuer erkauft hat. Diesen Heili-
gen lasse ich nicht antasten und verhöhnen, denn auf ihm beruht mein Glaube,
mein Trost und meine Hoffnung im Leben und tin Tod. In der Kraft dieses
Glaubens hat Ihr tapferes Heer muthig gekämpft und gesiegt; untergraben
Eure Majestät diesen Glauben, dann unterhöhlen Sie zugleich damit die
Staatswohlfahrt. Das ist gewißlich wahr. Halten zu Gnaden!"
Der König war von dieser Rede sichtbar ergriffen. Er stand auf, reichte
dem wackern, christlichen General die rechte Hand, legte die linke aufseine
Schulter und sprach bewegt: „Glücklicher Ziethen! möchte auch ich es glau-
ben können! Ich habe allen Respekt vor seinem Glauben. Halte er ihn fest,
es soll nie wieder geschehen!"
Eine tiefe, feierliche Stille trat ein. Keiner hatte den Muth, ein Wort
zu reden. Und da nach einem solchen ernsten Auftritt auch der König keinen
schicklichen Uebergang zu einem andern Gespräch finden konnte, hob er die
Tafel, wenn gleich erst in der Mitte derselben, auf und gab das Entlassungs-
zeichen. Ziethen aber reichte er die Hand mit den Worten: „Komm er mit in
mein Cabinct!"
191. Seltene Uneigennützigffeit.
In dem siebenjährigen Kriege, der Deutschland verheerte, ward ein Ritt-
meister befehligt, Futter herbeizuschaffen. Er begab sich an der Spitze seiner
412
Mannschaft nach der ihm angewiesenen Gegend, einem einsamen Thale, wo
man nichts als Buschwerk erblickte. Cr ward indeß einer armseligen Hütte an-
sichtig, pochte an, und es trat ein alter Mann mit einem eisgrauen Kopse her-
aus. „Vater", redete ihn der Offizier an, zeiget mir ein Feld, wo meine Leute
Futter holen können." — „Gleich", erwiederte der Alte, bot sich zum Weg-
weiser an und führte die Soldaten das Thal hinab. Nachdem sie etwa eine
Viertelstunde marschirt waren, trafen sie ein schönes Gerstenfeld an. — „Das
ist es, was wir suchen", rief der Rittmeister. — „Noch einen Augenblick Ge-
duld", sagte der Greis, „und Sie sollen befriedigt werden!" Sie marschirten
also weiter und gelangten nach einiger Zeit bei einem andern Gerstenfelde an.
Die Reiter stiegen von den Pferden, mäheten das Feld ab, banden die Gerste
auf die Pferde, saßen wieder auf und ritten davon. Darauf sagte der Ritt-
meister zu seinem Führer: „Guter Vater, ihr habt uns unnöthiger Weise wei-
ter ziehen lasten; das erste Feld war bester als dieses." — „Das kann wohl
sein", sagte der Alte, „aber es gehörte nicht mir."
192. Der brave Soldat.
Der berühmte englische General Elliot ritt eines Tages bei der Belage-
rung von Gibraltar (1782) selbst herum und traf bei dieser Gelegenheit
einen deutschen Soldaten an, der weder sein Gewehr ergriff, noch präsentirte,
sondern unbeweglich da stand. „Kennst du mich nicht, mein Sohn?" redete der
General den Soldaten an, „oder warum beobachtest du deine Psticht nicht?"
■—Der Soldat erwiederte mit Fassung: „Ich kenne Sie, Herr General, und
meine Pflicht sehr gut; aber so eben sind mir zwei Finger an der rechten
Hand abgeschossen worden, daher bin ich nicht im Stande, das Gewehr zu hal-
ten." — „Warum gehst du denn nicht, um dich verbinden zu lasten?" fuhr
Elliot fort. — „Weil es in Deutschland", antwortete der Soldat, „nicht er-
laubt ist, feinen Posten eher zu verlassen, als bis man abgelöst wird." — Da
stieg der General augenblicklich vom Pferde und sagte: „Gib mir dein Gewehr
und deine Patrontasche, ich will dich ablösen, damit du dich verbinden lasten
kannst!" Der Soldat gehorchte, ging aber zuvor an die nächste Wache, zeigte
an, daß der General auf dem Posten stände, und ließ dann erst seine verstüm-
melte Hand verbinden. Da er zu ferneren Kriegsdiensten nicht mehr tüchtig
war, wurde er verabschiedet und erhielt von dem General, der den Vorfall
nach London berichtet hatte, ein ansehnliches Geschenk. Als er in der Haupt-
stadt von England ankam, verlangte ihn der König Georg zu sehen. Da er
ihm vorgestellt wurde, unterredete er sich mit ihm, beschenkte ihn königlich und
machte ihn zum Offizier.
413
193. Ein guter Sohn, -er im Glück sich nicht seiner geringen
Eltern schämt.
In dem Regimenté des berühmten, von Friedrich dem Großen hochgeehr-
ten Generals von Ziethen stand auch ein Rittmeister, mit Namen Kurzhagen.
Er war klug, tapfer und hatte ein kindliches Gemüth. Seine Eltern waren
arme Landleute im Mecklenburgischen. Mit dem Verdienstorden auf der Brust
rückte er nach Beendigung des siebenjährigen Krieges in Parchim ein.
Die Eltern waren von ihrem Dörfchen nach der Stadt gekommen, um
ihren Sohn nach Jahren wieder zu sehen, und erwarteten ihn auf dem Markte.
Wie er sie erkannte, sprang er rasch vom Pferde und umarmte sie unter Freu-
denthränen. Bald darauf mußten sie zu ihm ziehen und aßen allezeit mit an
seinem Tische, auch wenn er vornehme Gaste hatte.
Einst spottete ein Offizier darüber, daß Bauern bei einem Rittmeister zu
Tische säßen. „Wie, sollte ich nicht die ersten Wohlthäter meines Lebens dank-
bar achten?" war seine Antwort. „Ehe ich des Königs Rittmeister wurde,
war ich ihr Kind."
Der brave General von Ziethen hörte von diesem Vorfall und bat sich
selbst nach einiger Zeit mit mehreren Vornehmen bei dem Ritnneister zu Gaste.
Die Eltern des letztern wünschten diesesmal selbst, nicht am Tische zu erscheinen,
weil sie sich verlegen fühlen würden. Als man sich setzen wollte, fragte der
General: „Aber Kurzhagen, wo sind Ihre Eltern? Ich denke, sie essen mit
Ihnen an einem Tische." Der Rittmeister lächelte und wußte nicht sogleich
zu arstworten.
Da stand Ziethen auf und holte die Eltern selbst herbei; sie mußten sich
rechts und links an seine Seite setzen, und er unterhielt sich mit ihnen aufs
freundlichste. Als man anfing, Gesundheiten auszubringen, nahm er sein-
Glas, stand auf und sprach: „Meine Herren, es gilt dem Wohlergehen dieser
braven Eltern eines verdienstvollen Sohnes, der es beweist, daß ein dankbarer
Sohn mehr werth ist, als ein hochmüthiger Rittmeister!" Später fand der
General Gelegenheit, dem Könige von der kindlichen Achtung zu erzählen,
welche der Rittmeister seinen Eltern erwies, und Friedrich II. freute sich sehr
darüber. Als Kurzhagen einst nach Berlin kam, wurde er zur königlichen
Tafel gezogen. „Hör er, Rittmeister", fragte der König, um seine Gesinnung
zu erforschen, „von welchem Hause stammt er denn eigentlich? wer sind seine
Eltern?" — „Ew. Majestät", antwortete Kurzhagen ohne Verlegenheit, „ich
stamme aus einer Bauernhütte, und meine Eltern sind Bauersleute, mit denen
ich das Glück theile, was ich Ew. Majestät verdanke."
414
„So ists recht", sagte der König erfreut; wer seine Eltern achtet, der ist
ein ehrenwertherMann; wer sie gering schätzt, verdient nicht, geboren zu sein."
Eph. 6, 2. Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Ver-
heißung hat.
194. Die französische Revolution. V
Jahrhunderte hindurch hatte Frankreich das Unglück, von selbstsüchtigen
und ausschweifenden Fürsten beherrscht zu werden. Vom Jahr 1643 —1715
regierte Ludwig XIV. Er legte durch seine tyrannische Willkür und die
vielen Kriege, welche er mit halb Europa führte, und welche neben beut mit
Sittenlosigkeit gepaarten Luxus am Hofe daS Mark des Landes verzehrten,
den Grund zu den späteren Ereignissen, die Frankreich erschütterten. Unter
seinem Nachfolger, Ludwig XV., wuchs die Ausschweifung des Hofs ins
Schauerliche; Paris wurde zu einem Sumpf des Lasters. Als Ludwig XV.
starb, überstiegen die jährlichen Ausgaben des Staats die Einnahmen um
viele Millionen Franken. Ein redlicher Minister deckte endlich diese Sach-
lage offen auf; da drang ein Schrei des Entsetzens durch das ganze Volk.
Alles rief nach Einschränkungen und Verbesserungen. Aber das war nicht
so leicht; denn der Mißbräuche waren unzählige, und wer ihre Abschaffung
nicht wollte, war der Adel und die höhere katholische Geistlichkeit. Weil
nemlich in den Zeiten des Lehenwesens der Adel ausschließend den Waffen-
dienst verrichtete, so mußten die übrigen zurSchadlvshaltung an die Ritter eine
gewisse Abgabe von Geld ober Früchten bezahlen; ebenso mußten ihnen
Frohnen geleistet, Grundzinsen entrichtet werden, denn sie waren die Schirm-
herren, die Obrigkeit ihrer Gegend. Bildung und Kenntniffe waren in
den früheren Zeiten vorzugsweise bei dem Adel und der Geistlichkeit zu fin-
den; darum war es ganz in der Ordnung, daß der König ihnen die ersten
Stellen im Heer und am Hof übertrug. Auch war es nicht zu drückend,
wenn in den Zeiten, da der König mit seinem Hof vorzugsweise von seinen
eigenen Gütern (Domänen) lebte, und nur geringe Steuern erhoben wurden,
Adel und Geistlichkeit steuerfrei waren. Aber wie sehr hatten sich alle diese Ver-
hältniffe im Lauf der Zeiten geändert! Die ganze Last des Kriegsdienstes ruhte
jetzt nicht mehr auf dem Adel, sondern auf dem Bürger- und Bauernstand;
die Aemter waren jetzt reich bezahlte Stellen; die Bürger besaßen in der
Regel höhere Bildung, Geschicklichkeit und Kenntniffe, als ein guter Theil
des Adels und der katholischen Geistlichkeit; die Steuern waren ins unge-
heure angewachsen, und doch sollte der dritte Stand immer noch von allen
Stellen im Heer, am Hof und in der Provinz ausgeschlossen bleiben; doch
sollte Bürger und Bauer allein alle Staatsabgaben tragen und überdies
415
noch an Adel, Klöster, Bischöfe unerschwingliche Zinsen, Frohnen, Spann-
und Handdienste entrichten. Das Gemeingesühl empörte stch immer lauter
gegen solche Ungerechtigkeit. Dazu kam denn noch, daß einer der wichtigsten
Zwecke des Staatsverbandes, Sicherung der Person und des Eigenthums,
völlig vereitelt wurde durch die Verkäuflichkeit aller Richterstellen, durch die
Käuflichkeit willkürlicher Verhaftbriefe gegen Jedermann, durch die Miß-
bräuche einer höchst grausamen Rechtspflege (z. B. die Folter); und es ist
wahrhaftig nicht zu verwundern, wenn das Gefühl des tiefsten Mißbehagens,
der völligen Unerträglichkeit eines solchen Zustands von Tag zu Tag allge-
meiner wurde.
Nun fehlte es auch gar lucht an Männern, die diesem Gefühl Worte
gaben und durch die Waffen des Witzes, des Spottes und der Gelehrsam-
keit jenen Mißbräuchen zu Leib gingen. Man blieb aber nicht bei den Miß-
bräuchen stehen; nein, auch die heiligsten Dinge, auch Religion und Christen-
thum , gute Zucht und Sitte wurden verspottet und verlacht, und während
ein großer Theil des französtschen Volks in Unwissenheit und Aberglauben
versunken war, suchte der andere, und zwar gerade der gebildetere, eine Ehre
darin, gar nichts zu glauben und ohne Gott hinzuleben. Kein Wunder, daß
stch aus all diesen bösen Dünsten nach und nach ein Wetter zusammenge-
zogen hat, das sich auf eine verheerende Weise über Frankreich entlud.
Denn es steht nicht umsonst geschrieben (Gal. 6, 7.): Irret euch nicht, Gott
läßt stch nicht spotten; was der Mensch säet, das wird er ernten; wer Un-
recht säet, der wird Mühe, wer Wind säet, der wird Sturm ernten (Spr. 22, 8.
und Hos. 8, 7.).
Der Sturm brach los unter Ludwig XVI., der, wohlwollend und
menschenfreundlich, auf gesetzlichem Wege durch Einberufung der alten Reichs-
stände dem Uebel abzuhelfen suchte; aber es war zu spat. Die Abgeordneten
des Bürgerstandes, nicht zufrieden mit der Stellung, welche sie dem Adel
und der Geistlichkeit gegenüber einnehmen sollten, brachten es dahin, daß
statt der besonderen Berathung der drei Stände dieselben zusammen als Na-
tional-Versammlung stch beriethen, welche die Vorrechte des Adels aufhob,
die Güter der Geistlichkeit einzog und eine Verfassung ins Leben rief, welche
im Jahr 1791 der König annahm, obgleich dadurch seine Gewalt sehr be-
schränkt war. Zwar schien anfangs eine glückliche Zeit für Frankreich an-
zubrechen , und es war eine große Freude im Lande. Jedoch gewannen bald
in der nächsten Versammlung, welche man die „Gesetzgebende" nannte, die-
jenigen Mitglieder die Oberhand, welche auf einen gänzlichen Sturz des
Königthums hinarbeiteten. Unter ihnen zeichneten stch besonders die soge-
nannten Jakobiner aus (ihr Versammlungsort war ein früheres Kloster des
416
h. Jakobus); diesen arbeiteten auch noch die ausgewanderten Adeligen und
Geistlichen in die Hände, welche es dahin brachten, daß auswärtige Mächte
an Frankreich den Krieg erklärten, wodurch die Leidenschaften des französischen
Volkes, besonders nach einigen Siegen, noch mehr angefacht wurden.
Der König wurde gefangen gesetzt. Die Jakobiner, damit noch nicht
zufrieden, errichteten einen neuen Bürgerrath aus ihren Anhängern, der die
Nationalversammlung gebieterisch behandelte, und diese mußte ein außer-
ordentliches Blutgericht aufstellen zur Bestrafung derer, die anders dachten.
Bereits stand die Guillotine oder das Fallbeil, welches der Arzt Guillotin
erfunden hatte und vermittelst dessen man schnell dem Verurtheilren den
Kopf abschlagen konnte. Männer, wie Danton, Marast, Nobespierre, fan-
den das Heil des Vaterlandes nur im Hinwürgen der Bürger, und sie be-
schlossen jetzt, alle Anhänger der alten Ordnung, die schon im Gefängniß
saßen, mit einemmal niederzumetzeln. Wohl einige tausend Personen kamen
auf solche Weise ums Leben. Zuletzt waren die Arme der Mörder so er-
müdet, daß man die Gefangenen reihenweise mit Kanonen niederschoß. Zu
ähnlichen Greueln forderte man ganz Frankreich auf.
Bald darauf (2l. September 1792) trat an die Stelle der gesetz-
gebenden Nationalversammlung der sogenannte Nationalconvent, in
welchen die überspanntesten Köpfe, die Urheber der vorigen Greuel, kamen.
Dieser erklärte Frankreich zu einer Republik (Freistaat). Zum Andenken an die
neue Zeir machte man sogar eine neue Zeiteintheilung, nach welcher von nun an
der zehnte Tag statt des siebenten als Ruhetag gefeiert wurde. Was aber nun
mit dem König anfangen?— Dem machte man den Prozeß; und was half
ihm alle seine Vertheidigung? Durch eine geringe Mehrheit von Stimmen
wurde er zum Tod verurtheilt und am 21. Januar 1793 durch die Guil-
lotine enthauptet. Auf Betrieb Eder Jakobiner wurde ein Wohlfahrtsaus-
schuß von neun Mitgliedern aufgestellt, der auch über Mitglieder des Na-
tionalconvents Macht besaß, und nun hatten jene Blutmenschen um so
freiere Hand. Unter dem Vorwand, die neue Verfassung zu beschützen, ver-
tagten sie dieselbe wieder und stellten eine Revolutions- od er Schrcckensregic-
rung, auch Terrorismus genannt, auf, welche vom Oktober 1793 an gesetzlich in
den furchtbarsten Greueln sich selbst überbot. Ueberall ließ man die Ver-
dächtigen ergreifen; und Revolutionsheere zogen mit einer wandernden Guil-
lotine von Ort zu Ort. Wer nur der Mäßigung das Wort redete, wer
als Reicher und Angesehener Verdacht erregte, ja wer nur mit Reichen und
Angesehenen in Verbindung stand, wurde eingekerkert, ausgeplündert und
enthauptet. Zuerst mußte die Königin sterben (16. Oktober 1793); ihren
Sohn, den Kronprinzen, übergab man einem rohren Schuhmacher, und er
417
starb später an den Folgen der Mißhandlungen als Blödsinniger im zehnten
Zahr. Dann kam die Reihe an zwei und zwanzig Conventsglieder, auch an
den Herzog von Orleans, Verwandten des Königs Ludwigs XVI. und Vater
des letzten vertriebenen Königs von Frankieich, Ludwig Philipp; und jetzt
hatte die Guillotine keine Ruhe mehr. Man wüthete auch gegen Künste
und Wissenschaften, als Werkzeuge der Aristokraten, zertrümmerte Kunstwerke
und Denkmäler, entweihte die Königsgräber und hob die Universitäten und
alle Bildungsanstalten auf. Der Jugend schlug man Tafeln moralischer Vor-
schriften an die Straßenecken, und damit, meinte man, könnte sie auskommen.
Das Christenthum wurde förmlich abgeschafft, und man betete fortan die
Vernunft an. Am 10. November feierte man ein Fest der Vernunft, wobei
ein gemeines Weib als Göttin der Vernunft dargestellt wurde. Wer noch
Gebetbücher, Heiligenbilder, Crucifixe sehen ließ, hatte das Leben verwirkt.
Die Kirchen wurden geplündert, und die Geistlichen legten ihre Stellen nieder.
Bald geriethen die Blutmenschen selbst hinter einander, hauptsächlich
durch den Blutdurst des berüchtigten Robespierre. Er brachte es dahin,
daß selbst der schreckliche Danton mit seinem Anhang, weil er allmählich
Mäßigung eintreten lasten wollte, aufs Blutgerüst kam, und daß der Wohl-
fahrtsausschuß zur höchsten Macht gelangte. Von nun an war Robespierre
der oberste Machthaber der Republik, ohne es zu heißen; und jetzt erst wur-
den aus allen Theilen Frankreichs Schlachtopfer herbeigeführt. Inzwischen
wollte er das Christenthum wieder als Staatsreligion gelten lassen und ließ
den Convent beschließen, daß daö französische Volk nuir wieder ein höchstes.
Wesen anerkenne. Ja cs wurde ein Fest des höchsten Wesens gefeiert, bet dem
Robespierre selbst im Glanz eines Priesters und Protectors (Schirmherrn) er-
schien. Dieses Fest machte ihn aber verhaßt; während er durch Schärfung der
Blutgesetze sich helfen wollte, ward man doch endlich seiner habhaft; und itach
gewaltigen Stürmen fiel sein Haupt durch die Guillotine (28. Juli 1794).
Ihm folgten darauf noch zwei und neunzig seiner Anhänger, und die
Schreckensherrschaft hatte ein Ende. Dennoch konnte das Volk noch nicht
frei athmen und hatte noch viele Stürme und Angst durchzumachen, bis die
Jakobiner ganz bezwungen waren.
Unter dem 28. Oktober 1795 machte man die dritte neue Verfaffung
bekannt, welcher zufolge fünf Directoren mit denr Rath der Jüngeren von
500 und dem Rath der Alten von 250 Mitgliedern die Regierung inne
haben sollten. Aber auch diese war von keiner langen Dauer; ihr machte
Napoleon Bonaparte, ein geborener Corsikaner, welcher sich durch glänzende
Siege gegen Oesterreich in Italien und einen abenteuerlichen Kriegszug nach
Egypten großen Ruhm erworben hatte, mit Hülse der Soldaten ein gewalt-
kesebnch. 2<
418
sames Ende im Jahr 1799. Nachdem er zuerst zum Konsul erwählt wor-
den war, womit die Franzosen die Verfassung der alten Römer nachäffen
wollten, wurde er, da er durch neue glückliche Kriege der Abgott des Volkes
und der Armee geworden war, im Jahr 1804 zum Kaiser der Franzosen er-
wählt. Zehn Jahre herrschte er nun über Frankreich und viele andere Län-
der mit eisernem Scepter. Dann aber sehen wir den neuen Kaiser durch die
vereinte Macht der europäischen Völker vom Thron gestürzt, und ein Bruder
des enthaupteten Königs Ludwig XVI. besteigt denselben als Ludwig XVIII.
Doch unter seinem Nachfolger, Karl X., bricht im Jahr 1830, nachdem eben
ein französtscheö Heer dem Raubstaat Algier durch Eroberung seiner Haupt-
stadt ein Ende gemacht hatte, der Revolutionssturm von neuem los. Der
König wird aus dem Land geschafft, und ein Verwandter seines Hauses, der
Herzog Ludwig Philipp von Orleans, durch die Wahl des Volkes an seine
Stelle gesetzt. Aber achtzehn Jahre darnach (Februar 1848) wird auch dieser
gestürzt und muß sich als Flüchtling nach England retten. Frankreich wird
abermals zur Republik erklärt. Doch war die vermeinte Herrlichkeit bald
zu Ende. Ludwig Napoleon Bonaparte, ein Neffe des früheren Kaisers,
welchen das Volk in Erinnerung an seinen Oheim zum Präsidenten der Re-
publik auf vier Jahre gewählt hatte, löste am 21. Dezember 1851 die
Nationalversamtnlung mittelst Gewalt auf und ließ sich aufs neue zum Prä-
sidenten auf zehn Jahre ernennen. Am 2. Dezember 1852 jedoch erklärte
er sich in Folge einer abermaligen Abstimmung des Volks zum erblichen
Kaiser der Franzosen unter dem Namen: Napoleon II .
195. Warnung1 vor Aufruhr.
Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei ver-
schiedene Dinge , die so weit von einander als Himmel und
Erde. Aendern — mag leichtlich geschehen; besser n —
ist misslich und gefährlich • es stehet allein in Gottes Hand
und Willen. Der tolle Pöbel kriegt dann Hummeln für Fliegen,
und zuletzt Hornisse für Hummeln. Und ivie die Frösche vor
Zeiten auch nicht mochten den Klotz zum Herrn leiden, krieg-
ten sie den Storch dafür, der sie auf die Köpfe hackte und
frass sie. — So ja Unrecht soll gelitten sein, so ist zu er-
wählen, von der Obrigkeit zu leiden, denn dass die Obrigkeit
von den Unterthanen leide. Denn der Pöbel hat und iveiss kein
Mass, es steckt in einem Jeglichen mehr denn fünf Tyrannen.
J\un ists besser, von einem Tyrannen Unrecht leiden, denn von
unzähligen Tyrannen, das ist dem Pöbel.
419
19(5. Napoleon.
(1769-1821.)
Seit vielen Jahrhunderten hat kein Sterblicher so die Geschicke der Völ-
ker durch das blutige Würfelspiel des Kriegs entschieden, keiner ist aus tiefer
Niedrigkeit so hoch erhoben, keiner von Schmeichlern und Lobrednern so ver-
herrlicht worden, als Napoleon. Aber die unparteiische Geschichte hat ihn
gerichtet. Er war ein Geist der stch selbst vergötternden Selbstsucht. Ehr-
geiz und Herrschsucht waren seine Götzen; Menschenwohl, Bürgerglück, Frei-
heit trat er mit Füßen. Aber die wunderbare Hand der Allmacht hat ihn ge-
stürzt von seiner Höhe; ja gerade ihn, diesen Zwingherrn, zum Werkzeug ge-
macht, durch das die Völker Europas zu höherer bürgerlicher Freiheit gelan-
gen sollten.
Napoleon Bonaparte war der Sohn eines unbemittelten Adeligen in
Ajaccio auf der Insel Korsika, und 1769 geboren. Der Grundzug des
corsischen Charakters: kriegerischer Sinn, Trotz und unbeugsame Hart-
näckigkeit, war auch der Grundzug des seinigen. Sechzehn Jahre alt war er
Lieutenant in der Artillerie; bei der Belagerung von Toulon schwang er sich
zum General empor. Doch bald erhielt er wieder seinen Abschied. Schon
wollte er unmuthig in die Dienste des türkischen Sultans treten, als stch in
den Straßen von Paris ein Aufruhr gegen die republikanische Regierung
entspann; da ernannte diese Bonaparte, seiner Entschlossenheit gewiß, zum
Divistonsgeneral, der denn auch die Volkshaufen durch einen Kartätschenhagel
erbarmungslos niederschmetterte. Jetzt stieg sein Ansehen, und staunend blickte
die Menge nach dem jungen General empor.
Wir begleiten den jungen Helden auf das Schlachtfeld. Alle Regierun-
gen Europas hatten stch gegen die verderblichen Grundsätze, welche im Lauf
der französischen Revolution aufgekommen waren, erhoben, und England hatte
mit Oesterreich, Preußen, Rußland und andern Staaten ein furchtbares
Bündniß gegen Frankreich zu Stande gebracht. Bonaparte wurde als Ober-
general nach Italien geschickt, um die Oesterreicher anzugreifen und wo mög-
lich zu vernichten. Aber wie sollte das zugehen? 50,000 Oesterreicher standen
gegen 40,000 Franzosen; jene gut bewaffnet und bezahlt, diese ohne Geld,
zerlumpt, hungrig, fast ohne Waffen. Bei Lodi, nicht weit von Mailand, er-
zwangen die Franzosen den Uebergang über eine Brücke, und Napoleon konnte
als Sieger in Mailand einziehen. Nach vielen Kämpfen in der Gegend um
Mantua, die alle um dieser wichtigen österreichischen Festung willen gekämpft
wurden, wie bei Bassano, Arcole, Rivoli, ergab sich dieselbe an die Franzosen.
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Ein halbes Jahr spater machte der Friede von Campo Formio (1797) dem
ganzen Krieg ein Ende, und Frankreich empfing von Oesterreich das reiche
Belgien als Siegeslohn. Bonapartes Name wurde allenthalben mit Bewun-
derung, in Frankreich mit Entzücken genannt.
England allein hatte an dem Frieden keinen Theil genommen. Da
reifte in der Seele des stolzen Kriegers der kühne Plan, den Türken das
fruchtbare und wohlgelegene Land Egypten zu entreißen, und zugleich von
dort aus die Engländer in Ostindien zu bekriegen. Rasch und unvermuthet
setzte Bonaparte mit einem Heer nach Egypten über. Wenige Stunden von
Kairo, der Hauptstadt dieses Landes, im Angesicht der Pyramiden, kam es zur
entscheidenden Schlacht mit den Mameluken. „Franzosen", rief Bonaparte
seinen Soldaten zu, „vergeßt nicht, daß von den Höhen dieser Denkmäler vier
Jahrtausende auf euch herabschauen!" Glänzend war der Sieg, aber eben so
fürchterlich die Niederlage, welche die französische Flotte durch den englischen
Admiral Nelson bei Abukir erlitt. Ein Eroberungszug nach Syrien schlug
fehl, und aus Frankreich kamen üble Nachrichten. Oesterreich und Rußland
hatten wieder den Krieg begonnen, und alle Heere Frankreichs waren geschla-
gen, im Innern selbst herrschte Verwirrung und Parteiung. Da besteigt Bona-
parte heimlich ein Schiff, entgeht wie durch ein Wunder den verfolgenden
Engländern, landet in Frankreich, zieht wie im Triumph in Paris ein, stürzt
die von Niemanden geachtete Regierung, entwirft eine neue Verfassung und
macht sich zum ersten Consul. Niemand widersetzte sich. Nur von ihm er-
wartete man Rettung. Und er brachte sie. Er ging mit seinem Heer über
den St. Bernhard, faßte die Oesterreicher unvermuthet im Rücken und schlug
sie gänzlich bei Marengo, so- daß sie gedemüthtgt in den Frieden (zu
Lüneville 1801) willigten. — Aber auch im Frieden zeigte sich Vona-
parte groß. Er suchte der Kirche wieder Ansehen und Einfluß auf die Men-
schen zu verschaffen, ließ ein vortreffliches Gesetzbuch entwerfen, prachtvolle
Straßen und Kanäle anlegen, beförderte Handel und Gewerbe und bewirkte
dadurch, daß man ihn (1802) zum lebenslänglichen Consul und (1804)
sogar zum Kaiser von Frankreich ausrief. So wunderbar waren die Schick-
sale dieses Mannes, daß er allmählich vom armen Lieutenant bis zÄn Kaiser
eines großen Reichs emporstieg. Mit gewaltiger Hand lenkte er Alles nach
seinem Willen, vergab Länder und Kronen, wie es ihm gut däuchte. So
machte er seinen Bruder Ludwig zum König von Holland, seinen Bruder
Joseph zum König von Spanien, seinen Schwager Murat zum König
von Neapel, seinen Stiefsohn Eugen zum Vicekönig von Oberitalien, und
endlich seinen Bruder Hieronymus zum König von Westphalen; so nannte
er ein Reich, welches er aus Braunschweig, Theilen von Preußen, Kur-
m
bessen und Hannover zusammengeschmolzen hatte. In dem Jahr 1806
nemlich hatte er das deutsche Reich nach einem fast tausendjährigen und in
früheren Zeiten ruhmvollen Bestand aufgelöst und an seine Stelle den
Rheinbund gesetzt, dessen Protector (Schirmherr) er selbst sein wollte.
Zugleich wurden die 300—400 Herrschaften, die Deutschland bisher gebildet
hatten, auf dreißig und einige vermindert, die kleineren den größeren unterthä-
nig gemacht, was man Mediatisirung nennt. Die Kurfürsten von
Bayern und Sachsen und der Herzog von Württemberg, dem kur; zuvor der
Kurfürstentitel beigelegt worden war, erhielten zugleich mit bedeutender Ver-
größerung ihres Landes den Königstitel. Der Landgraf von Hessen, der Mark-
graf von Baden wurden Großherzoge u. s. s. Mit Ländern und Völkern
wurde ein wahrer Handel getrieben. Doch geschah dies alles nicht ohne die
blutigsten Kämpfe, und der Kanonendonner rollte bald an den Gestaden der
Ostsee, bald in der Schneewelt der Alpen, bald jenseits der steilen Pyrcnäen-
abhänge. Ihr mögt euch nur aus den vielen die Namen einiger Haupt-
schlachten merken: die Dreikaiserschlacht bet Austerlitz (1805), wo
Napoleon über Rußlands und Oesterreichs Kaiser einen glänzenden Steg er-
focht; die Schlacht bei ^ena (1806), wo Preußen tief gedemüthigt wurde;
die bei Aspern (Mai 1809), wo zwar Oesterreich, und die bei Wagram
(Juli 1809), wo wieder Frankreich siegte und Oesterreich zum Frieden
zwang.
Damals stand Napoleon in der That auf dem Gipfel seines Ruhms,
und er selbst träumte sich unbezwingbar. Das französische Kaiserreich er-
streckte sich bald darauf im Norden über Amsterdam, Hamburg und Lübeck,
wie im Süden über Rom. Um den europäischen Fürsten sich mehr gleich
zu stellen und mit Oesterreich sich fester zu verbinden, verstieß er seine Gat-
tin, die treue Josephine, indem er sich von ihr scheiden ließ , und heiratete
Marie Luise, die Tochter des österreichischen Kaisers Franz (1810). Diese
gebar ihm einen Sohn, Napoleon II., den er noch in der Wiege zum König
von Rom erhob. Wer war je höher gestiegen, als Napoleon, und wer hätte
jetzt noch dem Mächtigen widerstehen können? Und doch war er gerade jetzt
seinem Fall ganz nahe; denn wer zu Grunde gehen soll, spricht Sa-
lomo (Spr. 16, 18.), der wird zuvor stolz, und stolzer Muth
kommt vor dem Fall.
Auf dem Festland Europas hatte Napoleon nur noch einen Gegner, der
ihm gewachsen scheinen konnte, und den seine Herrschlust nicht länger mehr
neben sich leiden mochte, — das war das gewaltige Rußland. Und eben so
fühlte der russische Kaiser Alexander, daß er nicht länger mehr einem Kampf
ausweichen dürfe, der zur Behauptung der Selbständigkeit Rußlands unver-
422
weidlich worden war. Einige fast unbedeutende Ereignisse brachten endlich
den lange vorausgesehenen Krieg zum Ausbruch. Napoleon zog mit 60,000
Mann hin gegen Rußlands Grenze. Ein schöneres, gebildeteres und besser
ausgerüstetes Heer hat wohl die Welt nie gesehen, und für bloß menschliche
Kraft schien es unbesiegbar. Deutsche aller Stämme, darunter auch 1 5,000
Württemberger, Franzosen, Polen, Italiener, selbst Spanier wälzten sich dem
Norden zu und überschritten am 24. Juni 1812 den russischen Grenzfluß
Niemen. Der russische Feldherr wußte wohl, daß die Beschaffenheit des
Bodens und des Klimas Napoleons gefährlichster Feind sein werde; er zog
sich daher immer weiter zurück. Doch nöthigte ihn der Grimm seiner Russen,
dem Feind sich entgegenzustellen. Das erstemal geschah dies bei der Verthei-
digung von SmolenSk, einer unter den Russen für heilig gehaltenen
Stadt; sie wurde halb in einen Aschenhaufen verwandelt; das zweitemal
am Flüßchen Moskwa. Eine gräßlichere Schlacht ist seit der Erfindung
des Schießpulvers nicht geliefert worden: 70,000 Todte und Verwundete be- l
deckten am Abend das Schlachtfeld. Doch schien Napoleon abermals Sieger,
weil die Russen sich weiter zurückzogen. Jetzt stand den Franzosen der Weg
nach Moskau, der zweiten Hauptstadt des Reichs, offen. Aber cs war auch
hohe Zeit. Lebensmittel mangelten, weil die Russen Alles vor sich her zer-
störten. Die Jahreszeit wurde rauher, und man fürchtete die Schrecken des
russischen Winters. In Moskau hatte Napoleon den Seinen nicht bloß ruhige
Winterquartiere, sondern auch das Ende deS ganzen Kampfes versprochen.
So sicher war er in seinen Erwartungen. Als daher die Vordersten des fran-
zösischen Heeres die letzte Anhöhe vor Moskau erstiegen hatten, und nun plötz-
lich die ungeheure Czarenstadt vor sich liegen sahen, durchdrang der Freuden-
ruf: „Moskau! Moskau!" die Lüfte, und voll freudiger Begier stürmten die
Hinteren nach, um deö lang ersehnten Anblicks sich zu freuen. Und wohl war
es ein Anblick zum Erstaunen! 400,000 Menschen wohnten in diesem wun-
derlichen Gemisch von den ärmlichsten Hütten und den prächtigsten Marmor-
palästen; die Reichthümer Asiens waren hier in den kostbaren Bazars (Waa-
rengewölben) zur Schau ausgelegt, 1600 Kirchen und Kapellen ragten aus
der unübersehbaren Häusermasse hervor; manche Kirche hatte fünf Thürme,
deren Dächer mit Blech, Zinn oder Kupfer gedeckt, zum Theil herrlich bemalt,
ja selbst vergoldet waren. Der großartigste Bestandtheil Moskaus aber war
der Kreml, eine ungeheure, in Gestalt eines Dreiecks angelegte Festung, inmit-
ten der Stadt, mit unzähligen Thürmen und prachtvollen Palästen, die alte
Residenz (Wohnung) des russischen Kaisers. Dieser Stadt nahete sich das
> Heer. Aber wunderbar! Keine Behörde zog dem Kaiser entgegen, ihn um
Schonung der Stadt anzuflehen; nichts Lebendiges wurde vor den Thoren cr-
> ■
£
Mist, die Thore selbst standen weit offen. Einige Offiziere, die sich in sie
hineingewagt, brachten die Nachricht, in den Gaffen sei es wie ausgestorben.
Napoleon wurde bestürzt, — eine trübe Ahnung ergriff seine Seele; er hielt
seinen Einzug; cs herrschte das Schweigen der Wüste; man hörte nichts als
die Hufschläge der Roffe und die Fußtritte der Soldaten. Der Kaiser nahm
seine Wohnung in dem Kreml, die Soldaten in den Häusern der Stadt; aber
fast keine Seele trafen sie in denselben an. Alles hatte die Stadt verlassen;
nur hie und da begegneten sie dem von Mordlust und teuflischer Freude ver-
zerrten Gesicht eines Sträflings, der aber schnell wieder verschwand. Lebens-
mittel und Reichthümer fanden sie die Fülle; und man fing an, sich froheren
Hoffnungen hinzugeben. Da erhoben sich um Mitternacht an drei verschiede-
nen Orten der Stadt Feuersäulen; die Flamme griff mit Windesschnelle um
sich; zwar wurden die Franzosen an zwei Orten des Feuers Meister, aber
nicht am dritten. Aus ganz unbewohnten Häusern hörte man je und je
einen Knall dringen, sah dann einen leichten Rauch aufsteigen, der immer
dicker und dunkler wurde, bis zuletzt eine helle Flamme ausbrach, und schon
am zweiten Tag geschah dies an so vielen Orten, daß über die eigentliche
Veranlassung kein Zweifel mehr sein konnte. Rostopschin, der Befehlshaber
von Moskau, hatte den ungeheuern Plan gefaßt, um die Franzosen zu verder-
ben, die ganze Czarenstadt mit all ihren Reichthümern und Kostbarkeiten auf-
zuopfern. Die Bevölkerung nöthigte er, mit ihm wegzuziehen; 2000 Ver-
brecher und Galeerensträflinge aber entließ er aus den Gefängnissen und
gab ihnen den Auftrag, durch Brandfackeln, Pechkränze und Granaten die
Stadt den Flammen zu überliefern; und mit teuflischer Freude vollzog die
mörderische Rotte den schauerlichen Auftrag. Die Flammen wälzten sich
indessen immer näher zum Kreml heran, und der Sturm heulte drein.
Napoleon schlief; da erweckte ihn die Helle. Die Nacht schien zum Tag ge-
worden. Voll Entsetzen sprang er auf. „Jsts möglich!" rief er aus, „das
haben sie selbst gethan! Welche Menschen!" Am dritten Tag waren die
Flammen schon so nahe gekommen, daß der Kreml wie von einem Feuermeer
umgeben schien. Es war die höchste Zeit, sich zu retten. Noch eine einzige
enge, krumme Straße bot einen Ausgang. Nur mit Mühe und mit halb
verbrannten Kleidern entging noch der Kaiser dem schrecklichen Feuertod.
Aber viele der Soldaten suchten, mit Lebensmitteln und Schätzen beladen,
vergeblich einen Rückweg; sie starben in den Flammen. Nach sechs Tagen
erst erlosch die Glut; nur der zehnte Theil der einst so herrlichen Stadt
war erhalten; alles klebrige, Paläste und Kirchen, versank in Asche und Graus.
Der Untergang Moskaus war auch das Grab für die Plane und das
Glück Napoleons. Vergebens hatte er noch mit Alerattder Friedensunter-
424
Handlungen versucht. Der Russe wollte mit keinem Feind unterhandeln, der
noch im Herzen seines Landes stand. An ein Winterquartier auf dem Aschen-
haufen Moskaus konnte Napoleon nicht mehr denken, an eine weitere Ver-
folgung des Feindes eben so wenig; denn die Schlachtreihen der ergrimmten
Rüsten wuchsen in dem gleichen Maß, als sich die seinen von Tag zu Tag
verminderlen. Napoleon mußte sich, wie schwer es dem stolzen Mann auch
ankam, zum Rückzug entschließen und trat ihn am 19. Oktober wirklich an.
Am 0. November fielen die ersten Schneeflocken, und der russische Winter
nahm jetzt seinen Anfang. Es wurde gräßlich kalt, und der Schnee lag an
manchen Orten ellenties. Da ward die Noth unaussprechlich groß. Die
Flüchtigen sahen ringsumher nur Eis- und Schncefelder, und auf diesen dran-
gen von allen Seiten die Rüsten heran. Diese waren an die Kälte gewöhnt
und mit Allem reichlich versehen; aber wie stand es um die armen Fran-
zosen? Sie hatten keine Nahrung. Pferdefleisch war für sie ein köstlicher
Bisten. Manche Soldaten saßen, vor Schmerz und Hunger fast wahnsinnig,
im Schnee und kauten an ihren eigenen Händen und Füßen. Lumpen
waren ihre Kleidung, die nächtliche Lagerstatt war das unabsehbare Schnee-
feld. Tausende und wieder Tausende kamen um, die Kanonen, das Gepäck,
die Beute, der Raub, Alles ging verloren. In Wilna allein, wo französische
Spitäler waren, lagen 70,000 begraben, und als der nächste Frühling die
Schneedecke wegschmolz, da kamen auf russischem Boden nicht weniger als
243,000 Leichen zum Vorschein. Von dem ganzen, großen, schönen Heer
entkamen vielleicht nicht 50,000 Mann aus Rußland (von den Württember-
gern gegen I 000) ; ja fast wäre auch diesen das Entkommen unmöglich wor-
den. Als nemlich das fliehende Heer an den Fluß Berezina kam, halten be-
reits die Russen den Uebergang über denselben besetzt. Wie nun diese auf
die Flüchtlinge herandrängten, da war bald alle Ordnung alisgelöst, und
ein schreckenvoller Austritt begann. Alles drängte sich gegen die Brücke,.
welche Napoleon in der Eile hatte schlagen lassen, Fußvolk, Reiterei, Troß
und Geschütz unter einander; Jeder eilte, um der erste zu sein; jedes mensch-
liche Gefühl verschwand vor der Sorge für das eigene Leben. Der Freund
stieß den Freund, der Gemeine den Befehlshaber zu Boden, und Fußgänger,
Reiter und Wagen zogen über die Liegenden hin. Da wurden Hunderte zer-
treten, gerädert, zerstampft, Hunderte in die Berezina geworfen, welche in
ihren Fluthen Leichname und Eisschollen in furchtbarer Mischung dahinwälzte.
Aechzen und Angstgeheul, Fluchen und Toben erfüllten die Luft. Als nun
vollends am Gestade das russische Geschütz erschien, und die Kartätschen
unter die dichtgedrängten Haufen schmetterten, da stieg die Noth aufs höchste.
Endlich in der Nacht atif den 29. November waren die Reste des Heeres
übergesetzt; allein die Lage desselben war die furchtbarste: alle Kriegszucht
hatte stch aufgelöst, an Ordnung im Marsch dachte Niemand mehr; fast alle
Soldaten warfen die Waffen weg, und jeder suchte stch vor der stets wachsen-
den, schrecklichen Kälte nach Möglichkeit zu schützen. Bleich, abgehärmt, Ge-
rippe mit bleifarbigen Gesichtern und stieren Blicken, sinnlos, zum Theil
ohne Sprache und Gefühl, wankten die Unglücklichen dahin in den abenteuer-
lichsten Verkleidungen, in Weiberröcken, Priestergewändern, Rabbinertalaren,
mit Strohmatten, frisch abgezogenen Häuten und Pelzen umhüllt. Hunderte
stürzten auf dem Marsch hin, und ihre Genoffen stritten sich um die Lumpen
der Gefallenen. Napoleon selbst, der Urheber all dieses Jammers, machte stch
in einem Schlitten dem fliehenden Haufen voraus und ging über Wilna,
Warschau, Dresden, Leipzig und Mainz in größter Eile nach Paris. So en-
dete die sogenannte große Armee. — Das war Gottes Finger!
Die Lage der Dinge änderte stch jetzt bedeutend. Preußen sagte sich von
dem unersättlichen Eroberer los, Schweden, und sogar Oesterreich traten dem
Bund gegen Napoleon bei. Es kam nach verschiedenen heißen Kämpfen zu
der dreitägigen Völkerschlacht bei Leipzig (16- — 18. Oktober 1813).
Napoleon wurde gänzlich geschlagen und floh über den Rhein. Jetzt erhob
sich das ganze deutsche Volk.- Napoleon rüstete ein drittes Heer und warf
sich mit verzweiflungsvoller Kraft den Verbündeten entgegen. Aber der
Engländer Wellington hatte in Verbindung mit den Spaniern schon die
Pyrenäen überschritten; Holland wurde von den Preußen erobert, und rasch
rückten die Verbündeten vor Paris. Ein kleiner Heerhaufen warf sich ihnen
mit verzweifeltem Muth entgegen. Die Verbündeten siegten und zogen am
31. März 1814 in Parts ein, unter lautem Jubelruf der Bevölkerung.
Auch das französische Volk war der nutzlos vergoffenen Ströme Blutes
müde; man verlangte die alte Königsfamtlie, die vor zwanzig Jabren ver-
jagten Bourbonen, auf den Thron zurück. Als Napoleon diese Nachricht er-
hielt, ersaßt ihn die Verzweiflung: er nimmt — so berichtet ein Augenzeuge
— Gift. Doch seine kräftige Natur rettet ihn durch heftiges Erbrechen vom
Tod. „Gott will es nicht!" rief er, als er wieder zu stch kam, erstaunt aus,
unterzeichnete jetzt die ihm vorgelegte Thronentsetzungsurkundc und schiffte stch
nach der Insel Elba ein, die ihm mit dem Recht unbeschränkter Herrschaft
übergeben wurde.
In Frankreich regierten aber die Bourbonen mit wenig Geschick, so daß
die Blicke der Nation sich sehnsüchtig wieder nach Napoleon wandten. Da-
rauf hatte er nur geharrt. Mit 1100 Mann landete er am 1. März 1815
anvermuthet in Frankreich und kam schon am zwanzigsten Tag in Paris an.
Sein Zug war ein langer Triumphzug. Für die Bourbonen erhob stch kein
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Arm; bestürzt flohen ste aus Frankreich. Aber die Verbündeten rückten rasch
heran. Bet Waterloo in Belgien kam es zur Hauptschlacht, am 18. Juni
1815. Wellington und der tapfere B lüch er erfochten hier den voll-
ständigsten Sieg; das französische Heer ward vernichtet. Napoleon floh nach
Paris und dankte hier zu Gunsten seines Sohnes zum zweitenmal ab; er
selbst begab sich an Bord eines englischen Kriegsschiffs, um sich nach Amerika
überschiffen zu laffen. Aber nicht sein Sohn, sondern die Bourbonen wur-
den wieder auf den Thron gesetzt; und er selbst wurde in das ferne at-
lantische Weltmeer, auf das Felseneiland Sa nct Helena, verbannt.
Man hat von Napoleon noch Schularbeiten aus seiner Knabenzcit auf-
gefunden. Ein Auszug, den er aus einem Geographiebuch gemacht hatte,
schließt mit den Worten: „Sanct Helena, kleine Insel." Und siehe, auf
dieser „kleinen Insel" sollte der „große Napoleon" das Buch seines thaten-
reichen Lebens beschließen. Sechs Jahre verlebte er hier, getrennt von seiner
Familie, nur von wenigen Treuen begleitet, in dem traurigen Bestreben, die
Größe und Reinheit seiner Gesinnungen und Thaten zu beweisen, eine ausge-
brauchte Ruthe, damit der Herr aller Herren die Völker gezüchtigt hat.
197. Wie ein österreichischer Däner den Franzosen ^»en Weg
nicht zeigt.
Ein Bauer sollte beim ersten Astdringen der Franzosen auf Wien (1809) der
Führer einer Truppenabtheilung werhsu, mit der man einen wichtigen Plan durch
einen Nachtmarsch auszuführen gehachte; der Bauer aber weigerte sich. Heftig
drang der den Vortrab dieses Aiiges befehligende französische Offizier in ihn; der
Bauer blieb ruhig bet seiner Weigerung. Der Offizier fing nun an, ihn mit Ver-
sprechungen zu bestürme^/und lwt Ihm endlich seine reich gefüllte Börse mit Gold
an; aber Alles vergehend. Azoischen langte der Zug selbst an, und der diesen
führende General wa/ sehr/Mtaunt und erzürnt, den Vortrab noch anzutreffen.
Der Offizier erzählte, dM" der einzige des Weges kundige Mann sich weigere, ihr
Wegweiser zu "sein, obMich er Alles aufgeboten habe, ihn dazu zu bewegen. Der
Bauer ward Hieraus-vorgeführt. „Entweder", rief der General ihm-zu, „du zeigst
uns den rechten Weg, oder ich lasse dich tvdtschießen". — „Ganz gut", erwiederte
der Bauer, „so sterbe ich als rechtschaffener Unterthan, und brauche nicht Landes-
verräther zu werden". — Der General bot ihm erstaunt die Hand und sprach:
„Geh heim, wackerer Mann; wir wollen uns schon ohne Führer behelfen."
198. Unglück der Stadt Leiden.
Diese Stadt heisst schon seit undenklichen Zeiten Leiden
und hat noch nie gewusst, warum, bis am 12. Jänner des
Jahrs 1807. Sie liegt am Rhein in dein Königreich Holland,
427
und hatte vor diesem Tag elf tausend Häuser, welche von vier-
zig tausend Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam
wohl die grösste Stadt im ganzen Königreich. Man stand an
diesem Morgen noch auf, wie alle Tage; der eine betete sein:
jdas walt Gott", der andere liess es sein, und Niemand dachte
dran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit
siebenzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man ass zu
Mittag und liess sichs schmecken wie alle Tage, obgleich das
Schilf noch immer da war. Aber als Nachmittags der Zeiger
auf deni grossen Thurm auf halb fünf stand — fleissige Leute
sassen daheim und arbeiteten, fromme Mütter wiegten ihre Klei-
nen, Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, Kinder waren bei-
sammen in der Abendschule, müssige Leute hatten lange Weile
und sassen im Wirthshaus beim Kartenspiel und Weinkrug, ein
Bekümmerter sorgte für den^andern Morgen, was er essen, was
er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte
vielleicht gerade einenlj^sclten Schlüssel in eine fremde Thüre,
— und plötzlich geschah ein Knall. Das Schilf mit seinen sie-
benzig Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Luft, und
in einem Augenblick (ihr könnts nicht so geschwind lesen, als
es geschah), in einem Augenblick waren ganze lange Gassen voll
Häuser mit Allem, was darin wohnte und lebte, zerschmettert
und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsetzlich be-
schädigt. Viele hundert Menschen wurden lebendig und todt
unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet. Drei
Schulhäuser gingen mit allen Kindern, die darin waren, zu
Grunde, Menschen und Thiere, welche in der Nähe des Un-
glücks auf der Strasse waren, wurden von der Gewalt des Pul-
vers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen
Zustand wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch
eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wüthete, und
konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorrathshäuser
voll Oel und Thran mit ergriffen wurden. Acht hundert der
schönsten Häuser stürzten ein oder mussten niedergerissen wer-
den. Da sah man denn auch, wie es am Abend leicht anders
werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit
einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer schönen
und volkreichen Stadt. Der König von Holland setzte sogleich
ein namhaftes Geschenk auf jeden Menschen, der noch lebendig
428
gerettet werden konnte. Auch die Tbdten, die aus dem Schutt
hervorgegraben wurden, wurden aufs Rathhaus gebracht, damit
sie von den Ihrigen zu einem ehrlichen Begräbniss konnten ab-
geholt werden. Viele Hülfe wurde geleistet. Obgleich Krieg
zwischen England und Holland war, so kamen doch von Lon-
don ganze Schilfe voll Hülfsmittel und grosse Geldsummen für
die Unglücklichen, und das ist schön — denn der Krieg soll nie
ins Herz der Menschen kommen; es ist schlimm genug, wenn
er aussen vor allen Thoren und vor allen Seehäfen donnert.
199. Der Commandant und die badischen Jager in Hersfeld.
Folgende Begebenheit verdient, daß sie im Andenken bleibe, und
wer keine Freude daran hat, den will ich nicht loben.
Als das französische Heer und ein großer Theil der bundes-
genossischen Truppen in Polen und Preußen stand, befand sich ein
Theil des badischen Jägerregiments in Hessen und in der Stadt
Hersfeld auf ihrem Posten. Denn dieses Land hatte der Kaiser
Napoleon im Anfang des Feldzuges eingenommen und mit Mann-
schaft besetzt. Da gab es nun von Seiten der Einwohner, denen
das Alte besser gefiel als das Nene, mancherlei Unordnungen, und
es wurden besonders in dem Orte Hersfeld mehrere Widersetzlichkeiten
ausgeübt und unter andern ein französischer Offizier getödtet. Das
konnte der französische Kaiser nicht geschehen lassen, während er mit
dem zahlreichen Feind im Angesicht kämpfte, daß auch hinter ihm
Feindseligkeiten ausbrachen, und ein kleiner Funke sich zu einer großen
Feuersbrunst entzündete. Die armen Einwohner von Hersseld be-
kamen daher bald Ursache, ihre unüberlegte Kühnheit zu bereuen.
Denn der französische Kaiser befahl, die Stadt Hersfeld zu plündern,
und alsdann an vier Orten anzuzünden und in Asche zu legen. Dieses
Hersfeld ist eine Stadt von etwa 5000 Einwohnern, hat viele Fa-
briken und viele reiche und wohlhabende Einwohner und schöne Ge-
bäube; und ein Menschenherz kann wohl empfinden, wie es nun den
armen Leuten, den Vätern und Müttern zu Muthe war, als sie die
Schreckenspost vernahmen; und der arme Mann, dem sein Hab und
Gut auf einmal auf dem Arm konnte weggetragen werden, war jetzt
so übel dran, als der Reiche, dem man es auf vielen Wagen nicht
wegführen konnte; und in der Asche sind die großen Häuser auf dem
Platz und die kleinen in den Winkeln auch so gleich, als die reichen
429
Leute und die armen auf dem Kirchhof. Nun zum Schlimmsten kam
es nicht. Auf Fürbitte der französischen Commandanten in Kassel und
Hersfeld wurde die Strafe gemildert: es sollten zwar nur vier Hauser
verbrannt werden, und dies war glimpflich; aber bei der Plünderung
sollte es bleiben, und das war noch hart genug. Die unglücklichen
Einwohner waren auch, als sie diesen letzten Bescheid hörten, so er-
schrocken, so alles Muthes und aller Besinnung beraubt, daß sie der
menschenfreundliche Commandant selber ermahnen mußte, statt des
vergeblichen Klagens und Bittens die kurze Frist zu benützen und
ihr Bestes noch geschwind auf die Seite zu schassen. Die fürchterliche
Stunde schlug, die Trommel wirbelte ins Klagegeschrei der Unglück-
lichen. Durch das Getümmel der Flüchtenden und Fliehenden eilten
die Soldaten auf ihren Sammelplatz. Da trat der brave Comman-
dant von Hersfeld vor die Reihen seiner badischen Jäger, stellte ihnen
zuerst das traurige Schicksal der Einwohner lebhaft vor Augen und
sagte hierauf: „Soldaten, die Erlaubniß zu plündern sängt jetzt an.
Wer dazu Lust hat, der trete heraus aus dem Glied." So sprach
der Commandant, aber kein Mann trat aus dem Glied. Nicht Einer!
Der Ausruf wurde wiederholt. Kein Fuß bewegte sich; und wollte
der Commandant geplündert haben, so hätte er müssen selber gehen.
Aber es war Niemand lieber als ihm, daß die Sache also ablief, das
ist leicht zu bemerken. Als die Bürger das erfuhren, war es ihnen,
wie einem, der aus einem schweren Traum erwacht. Ihre Freude ist
nicht zu beschreiben. Sie schickten sogleich eine Gesandtschaft an den
Commandanten, ließen ihm für diese Milde und Großmnth danken
und boten ihm ans Dankbarkeit ein großes Geschenk an. Wer weiß,
was Mancher gethan hätte! Aber der Commandant schlug dasselbe
ab und sagte: er lasse sich keine gute That mit Geld bezahlen. Nur
zum Andenken von euch, setzte er hinzu, erbitte ich mir eine silberne
Münze, auf welcher die Stadt Hersfeld vorgestellt ist und der heutige
Auftritt. Dies soll das Geschenk sein, welches ich meiner künftigen
Gattin aus dem Kriege mitbringen will. Dies ist geschehen im Fe-
bruar des Jahres 1807; und so etwas ist des Lesens zweimal werth,
und der Commandant, ein wackerer badischer Offizier, hieß Lingg von
Linggenfeld und starb am 21. Januar 1842 in Mannheim.
200. Der Schneider in Pensa.
Der Schneider in Pensa, was ist das ein Männlein! Sechs und
zwanzig Gesellen auf dem Brett, Jahr aus Jahr ein für halb Rußland Ar-
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beit genug, und doch kein Geld; aber ein froher, heiterer Sinn, ein Gemüth,
treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches Blut, rheinlän-
dische Gastfreundschaft.
Im Jahr 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für die
Kriegsgefangenen an der Berezina oder in Wilna, ging eine auch durch
Pensa, welches für sich schon mehr als ein hundert Tagreisen weit von Lahr
oder Pforzheim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder englische Uhr,
wer eine hat, nimmer recht geht, sondern ein paar Stunden zu spät. In
Pensa ist der Sitz des ersten russischen Statthalters in Asien, wenn man aus
Europa hereinkommt. Also wurden dort die Kriegsgefangenen abgegeben
und übernommen, und alsdann weiter abgeführt in das tiefe, fremde Asien
hinein, wo die Christenheit ein Ende hat und Niemand mehr das Vater-
unser kennt, wenns nicht einer gleichsam als eine fremde Waare aus Europa
mitbringt. Also kamen eines Tags, mit Franzosen vermischt, auch sechzehn
rheinländische Herren, badische Offiziere, die damals unter den Fahnen Na-
poleons gedient hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Eu-
ropa, ermattet, krank, mit erfrorenen Gliedmaßen und schlecht geheilten
Wunden, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Trost in Pensa an und fanden
in diesem unheimlichen Land kein Ohr mehr, das ihre Sprache verstand,
kein Herz mehr, das sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den
andern mit trostloser Miene aitblickte: „Was wird aus uns werden?" oder:
„Wann wird der Tod unserem Elend ein Ende machen, und wer wird den
letzten begraben?" da vernahmen sie mitten durch das russische und kosakische
Kauderwelsch wie ein Evangelium vom Himmel unvermuthet eine Stimme:
„Sind keine Deutsche da?" und es stand vor ihnen auf zwei nicht ganz gleichen
Füßen eine freundliche Gestalt. Das war der Schneider von Pensa, Franz
Anton Egetmaier, gebürtig aus Breiten im Großherzogthum Baden. Hat
er nicht im Jahr 1779 das Handwerk gelernt in Mannheim? Hernach
ging er auf die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig nach Pe-
tersburg hinein. Etn Pfälzer Schneider schlägt sieben- bis achtmal hundert
Stunden Wegs nicht hoch an, wenns ihn inwendig treibt. In Petersburg
aber ließ er sich unter ein russisches Kavallerieregiment als Regimenrs-
schneider dingen, und ritt mit ihnen in die fremde russische Welt hinein,
wo Alles anders ist, nach Pensa, bald mit der Nadel stechend, bald mit dem
Schwert. In Pensa aber, wo er sich nachher häuslich und. bürgerlich nieder-
ließ, ist er jetzt ein angesehenes Männlein. Will Jemand in ganz Asien ein
sauberes Kleid nach der Mode haben, so schickt er zu dem deutschen Schneider
in Pensa; verlangt er etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer
Herr ist und mit dem Kaiser reden darf, so hals ein guter Freund von dem
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andern verlangt; und hat auf dreißig Stunden Wegs ein Mensch ein Un-
glück oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider von Pensa an;
er findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rath, Hülfe, ein Herz und ein Auge
voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur kein Geld.
Einem Gemüthe, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohlthun
reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahrs 1812 eine schöne Freuden-
ernte. So oft ein Transport von unglücklichen Gefangenen kam, warf er
Schere und Elle weg und war der erste auf dem Platz, und: „Sind keine
Deutsche da?" war seine erste Frage. Denn er hoffte von einem Tag zum
andern, unter den Gefangenen Landsleute anzutreffen, und freute sich, wie
er ihnen Gutes thun wollte, und liebte sie schon zum Voraus ungesehener
Weise, wie eine Frau ihr Kindlein schon liebt und ihm Brei geben kann,
ehe sie es hat. „Wenn sie nur so oder so aussähen", dachte er, „wenn
ihnen nur auch recht viel fehlt, damit ich ihnen recht viel Gutes erweisen
kann." Doch nahm er, wenn keine Deutschen da waren, auch mit Fran-
zosen vorlieb, und erleichterte ihnen, bis sie weiter geführt wurden, ihr Elend,
als nach Kräften er konnte. Diesmal aber, und als er mitten unter so viele
Landsleute, auch Darmstädter und andere hineinrief: „Sind keine Deutsche
da?" — er mußte zum zweiten Mal fragen, denn das erste Mal konnten sie
vor Staunen und Ungewißheit nicht antworten, sondern das süße deutsche
Wort in Asien verklang in ihren Ohren wie ein Harfenton, und als er
hörte: „Deutsche genug", und von jedem erfragte, woher er sei — er wäre
mit Mecklenburgern oder Kursachsen auch zufrieden gewesen, aber einer
sagte von Mannheim am Rheinstrom, als wenn der Schneider nicht vor
ihm gewußt hätte, wo Mannheim liegt; der andere sagte von Bruchsal; der
dritte von Heidelberg; der vierte von Gochsheim; da zog es wie ein warmes,
auflösendes Thauwetter durch den ganzen Schneider hindurch. „Und ich bin
von Breiten", sagte das herrliche Gemüthe, „Franz Anton Egetmaier von
Breiten"; wie Joseph in Egypten zu den Söhnen Israels sagte: ich bin
Joseph, euer Bruder — und die Thränen der Freude, der Wehmuth und
heiligen Heimatsliebe traten allen in die Augen, und es war schwer zu sagen,
ob sie einen freudigeren Fund an dem Schneider, oder der Schneider an
seinen Landsleuten machte, und welcher Theil am gerührtesten war. Jetzt
führte der gute Mensch seine theuren Landsleute im Triumph in seine Woh-
nung und bewirthete sie mit einem erquicklichen Mahl, wie in der Ge-
schwindigkeit es aufzutreiben war.
Jetzt eilte er zum Statthalter und bat ihn um die Gnade, daß er seine
Landsleute in Pensa behalten dü^fe. „Anton", sagte der Statthalter, „wenn
hab ich euch Etwas abgeschlagen?" Jetzt lief er in der S'adt herum und
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suchte für diejenigen, welche in seinem Hause nicht Platz hatten, -ei seinen
Freunden und Bekannten die besten Quartiere auS. Jetzt musterte er seine
Gäste einen nach dem andern. „Herr Landsmann", sagte er zu einem,
„mit eurem Weißzeug siehts windig aus. Ich werde euch für ein halbes
Dutzend neue Hemden sorgen. — Ihr braucht auch ein neues Röcklein",
sagte er zu einem andern. — „ Euers kann noch gewendet und ausgebessert
werden", zu einem dritten, und so zu Allen, und augenblicklich wurde zuge-
schnitten, und alle sechs und zwanzig Gesellen arbeiteten Tag und Nacht an
Kleidungsstücken für seine werthen rheinländischen Hausfreunde. In wenig
Tagen waren Alle neu oder anständig ausftaffirt. Ein guter Mensch, auch
wenn er in Nöthen ist, mißbraucht niemals fremde Gutmüthigkeit; deßwegen
sagten zu ihm die rheinländischen Hausfreunde: „Herr Landsmann, verrechnet
euch nicht. Ein Kriegsgefangener bringt keine Münze mit. So wissen wir
auch nicht, wie wir euch für eure großen Auslagen werden schadlos halten
können, und wann." Darauf erwiederte der Schneider: „Ich finde hin-
längliche Entschädigung in dem Gefühl, Ihnen helfen zu können. Benützen
Sie Alles, was ich habe! Sehen Sie mein Haus und meinen Garten als
den Ihrigen an"; so kurz weg und ab, wie ein Kaiser oder König spricht,
wenn, eingefaßt in Würde, die Güte hervorblickt. Denn nicht nur die hohe
fürstliche Geburt und Großmuth, sondern auch die liebe häusliche Demuth
gibt, ohne es zu wissen, bisweilen den Herzen königliche Sprüche ein, Ge-
sinnungen ohnehin. Jetzt führte er sie freudig wie ein Kind in der Stadt
bei seinen Freunden herum und machte Staat mit ihnen. Es ist hier nim-
mer Zeit und Raum genug, alles Gute zu rühmen, was er seinen Freunden
erwies. So sehr sie zufrieden waren, so wenig war er eS. Jeden Tag er-
fand er neue Mittel, ihnen den unangenehmen Zustand der Kriegsgefangen-
schaft zu erleichtern und das fremde Leben in Asien angenehm zu machen.
War in der lieben Heimat ein hohes Geburts- oder Namensfest, es wurde
am nenllichen Tag von den Treuen auch in Asien mit Gastmahl, mit Vivat
und Freudenfeuer gehalten, nur etwas früher, weil dort die Uhren falsch gehen
Kam eine frohe Nachricht von dem Vorrücken und dem Siege der hohen
Verbündeten in Deutschland (Rußland, Oesterreich, Preußen) an, der
Schneider war der Erste, der sie wußte und seinen Kindern, er nannte sie
nur noch seine Kinder, mit Freudenthränen zubrachte, darum daß sich ihre
Erlösung nahte. Als einmal Geld zur Unterstützung der Gefangenen aus
dem Vaterland ankam, war die erste Sorge, ihrem Wohlthäter seine Aus-
lagen zu vergüten. „Kinder", sagte er, „verbittert mir meine Freude nicht."
-— „Vater Egetmaier", sagten sie, „thut unserem Herzen nicht wehe!" Wo
machte er ihnen zum Schein eine kleine Rechnung, nur um ste nicht^zu
433
betrüben, und um das Geld wieder zu ihrem Vergnügen anzuwenden, bis die
letzte Kopeke (kleine russische Scheidemünze) aus den Händen war. — DaS
gute Geld war für einen andern Gebrauch zu bestimmen, aber man kann
nicht an Alles denken. Denn als endlich die Stunde der Erlösung schlug,
gesellte sich zur Freude ohne Maß der bittere Schmerz der Trennung, und
zu dem bittern Schmerz die Noth, denn es fehlte an Allem, was zur Noth-
durst und zur Vorsorge auf eine so lange Reise, in den Schrecknissen des
russischen Winters und einer unwirthbaren Gegend, nöthig war, und ob auch
auf den Mann, so lange sie durch Rußland zu reisen hatten, täglich dreizehn
Kreuzer verabreicht wurden, so reichte doch das Wenige nirgends hin. Darum
ging in diesen letzten Tagen der Schneider, sonst so frohen, leichten Muthes,
still und nachdenklich herum, als der Etwas im Sinn hat, und war wenig
mehr zu Hause. „Es geht ihm recht zu Herzen", sagten die rheinländischen
Offiziere und merkten nichts. Aber aus einmal kam er mit großen Freuden-
schritten, ja mit verklärtem Antlitz zurück: „Kinder, es ist Rath. Geld genug!"
— Was wars? Die gute Seele hatte für zwei tausend Rubel das Haus
verkauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden", sagte er, „wenn nur ihr
ohne Leid und Mangel nach Deutschland kommt!" O du heiliges, lebendig
gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und seiner Liebe: „Verkaufe, was
du hast, und gibs denen, die es bedürftig sind, so wirst du einen Schatz im
Himmel haben." Der wird einst weit oben rechts zu erfragen sein, wenn
die Stimme gesprochen hat: „Kommet her, ihr Gesegneten! Ich bin hungrig
gewesen, und ihr habt mich gespeist; ich bin. nackt gewesen, und ihr habt
mich gekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, ihr habt euch meiner
angenommen." Doch der Kauf wurde zu großem Trost für die edlen
Gefangenen wieder rückgängig gemacht. Nichts desto weniger brachte er
auf andere Art noch einige hundert Rubel für sie zusammen, und nöthigte
fte, was er von kostbarem russischem Pelzwerk hatte, mitzunehmen, um es
unterwegs zu verkaufen, wenn sie Gelbes bedürftig wären, oder einem ein
Unglück widerführe. Den Abschied will ich nicht beschreiben. Keiner, der
dabei war, vermag es. Sie schieden unter tausend Segenswünschen und
Thränen des Dankes und der Liebe, und der Schneider gestand, daß dieses für
ihn der schmerzlichste Tag seines Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen
unterwegs unaufhörlich und noch immer von ihrem Vater in Pensa, und als
sie in Bialyftock in Polen wohlbehalten ankamen und Geld antrafen, schickten
sie ihm dankbar das vorgeschossene Reisegeld zurück.
seftbuch.
23
434
201. Herr Charles.
Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte
eben sein wunderschönes Büblein auf dem Knie und machte ein Ge-
sicht dazu, daß er ein wohlhabender und glücklicher Mann sei und
sein Glück für einen Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder
Manu, ein Pole, mit vier kranken, halb erfrorenen Kindern in die
Stube. „Da bring ich euch die Kinder." Der Kaufmann sah den
Polen kurios an. „Was soll ich mit diesen Kindern thun? Wem
gehören sie? Wer schickt euch zu mir?" — „Niemand gehören sie",
sagte der Pole, „einer todten Frau im Schnee, siebzig Stunden her-
wärts Wilna. Thun könnt ihr mit ihnen, was ihr wollt." Der
Kaufmann sagte: „Ihr werdet nicht am rechten Orte sein", und der
diese Geschichte erzählt, glaubts auch nicht. Allein der Pole er-
A wiederte, ohne sich irre machen zu lassen: „Wenn ihr der Herr Ehar-
^ les seid", und der Erzähler glaubts auch; er war der Herr Charles.
Nemlich es hatte eine Französin, eine Wittwe, schon lange im Wohl-
stand ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor fünf Jahren die
Franzosen in Moskau waren, benahm sie sich landömannschaftlicher
gegen sie, als den Einwohnern wohlgesiel; denn das Blut ver-
leugnet sich nicht; und nachdem sie in dem großen Brand ebenfalls
ihren Wohlstand und ihr Häuslein verloren und nur ihre fünf Kin-
der gerettet hatte, mußte sie, weil sie verdächtig sei, nicht nur aus
der Stadt, sondern auch ans dem Land reisen. Sonst hätte sie sich
nach Petersburg gewendet, wo sie einen reichen Vetter zu finden
hoffte. Der geneigte Leser will bereits Etwas merken. Als sie aber
in einer schrecklichen Kälte und Flucht und unter unsäglichen Leiden
schon bis nach Wilna gekommen war, krank und aller Bedürfnisse
und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise entblößt, traf sie in
Wilna einen edlen russischen Fürsten an und klagte ihm ihre Noth.
Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er erfuhr,
daß sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie
ihre Reise nach Frankreich fortsetzen, oder ob sie mit einem Paß nach
Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes
Büblein an, weil es das verständigste und kränkste war. „Wo willst
du hin, mein Sohn?" — „Wo du hingehst, Mutter", sagte der Knabe,
und hatte Recht. Denn er ging noch vor der Abreist ins Grab.
Also versah sie sich mit dem Nothwendigen und akkordirte mit einem
Polen, daß er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte
435
zum Vetter; denn sie dachte, er wird das Fehlende schon drauf legen.
Aber alle Tage kränker auf der langen, beschwerlichen Reise, starb
sie am sechsten oder siebenten. „Wo du hingehst", hatte der Knabe
gesagt, und der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten
mit einander so viel reden, als ein Pole verstehen mag, wenn ein
französisches Kind russisch spricht, oder ein Französlein, wenn man
mit ihm reden will auf polnisch. Nicht jeder geneigte Leser hätte an
seiner Stelle sein mögen. Er war es selber nicht gern. „Was an-
fangen jetzt?" sagte er zu sich selbst. „Umkehren? — wo die Kinder
lasten? Weiter fahren? — wem bringen?" Thue, was du sollst,
sagte endlich Etwas in seinem Inwendigen zu ihm. Willst du die
armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie von ihrer
Mutter zu erben haben, um dein Wort, das du ihr gegeben hast?
Also kniete er mit den unglücklichen Waisen um den Leichnam herum
und betete mit ihnen ein polnisches Vaterunser. „Und führe uns
nicht in Versuchung." Hernach ließ jedes ein Händlein voll Schnee
zum Abschied und eine Thräne auf die kalte Brust der Mutter fallen,
nemlich, daß sie ihr gerne die letzte Pflicht der Beerdigung anthun
wollten, wenn sie könnten, und daß sie jetzt verlassene, unglückliche
Kinder seien. Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der
Straße nach Petersburg, denn es wollte ihm nicht eingehen, daß, der
ihm die Kindlein anvertraut hatte, könne ihn stecken lassen; und als
die große Stadt vor seinen Augen sich ausdehnte, wie ein Hauderer
thut, der auch erst vor dem Thor fragt, wo er still halten soll, er-
kundigte er sich bei den Kindern, so gut er sich verständlich machen
konnte, wo denn der Vetter wohne, und erfuhr von ihnen, so gut er
sie verstehen konnte: „Wir wissenS nicht." — Wie er denn heiße?
„Wir Wissens auch nicht." — Wie denn ihr eigener Geschlechtsname
sei? „Charles." Der geneigte Leser will schon wieder Etwas merken,
und wenns der Erzähler für sich zu thun hätte, so wäre der Herr
Charles der Vetter, die Kinder wären versorgt, und die Erzählung
hätte ein Ende. Allein die Wahrheit ist oft sinniger als die Er-
dichtung. Nein, der Herr Charles ist der Vetter nicht, sondern
dieses NamenS ein anderer, und bis auf diese Stunde weiß noch
Niemand, wie der wahre Vetter eigentlich heißt, nicht ob und wo in
Petersburg er wohnt. Also fuhr der arme Mann in großer Ver-
legenheit zwei Tage lang in der Stadt herum und hatte Französlein
feil. Aber Niemand wollte ihn fragen: „Wie theuer das Pärlcin?"
und der Herr Charles begehrte sie nicht einmal geschenkt und war noch
436
nicht Willens, eines zu behalten. Als aber ein Wort das andere
gab, und ihm der Pole schlicht und menschlich ihr Schicksal und seine
Noth erzählte; „eins", dachteer, „will ich ihm abnehmen", und es
füllte sich immer wärmer in seinem Busen: „ich will ihm zwei ab-
nehmen", dachte er, und als sich endlich die Kinder um ihn an-
schmiegten, meinend, er sei der Herr Vetter, und anfingen auf fran-
zösisch zu weinen, denn der geneigte Leser wird auch schon bemerkt
haben, daß die französischen Kinder anders weinen, und als der Herr
Charles die Landesart erkannte, da rührte Gott sein Herz an, daß
ihm ward wie einem Vater, wenn er die eigenen Kinder weinen und
klagen sieht, und „in Gottes Namen", sagte er, „wenns so ist, so
will ich mich nicht entziehen", und nahm die Kinder an. „Setzt euch
ein wenig nieder", sagte er zu dem Polen, „ich will euch ein Süpp-
lein kochen lassen."
Der Pole, mit gutem Appetit und leichtem Herzen, aß die Suppe,
und legte den Löffel weg und blieb sitzen; — er stand auf und blieb
stehen. „Seid so gut", sagte er endlich, „und fertigt mich jetzt ab;
der Weg nach Wilna ist weit. Auf fünfhundert Rubel hat die Frau
mit mir akkordirt"; da fuhr es doch dem milden Menschen, dem
Herrn Charles, über das Gesicht, wie der Schatten einer fliegenden
Frühlingswolke über die sonnenreiche Flur. „Guter Freund", sagte-
er, „ihr kommt mir ein wenig kurios vor. Jsts nicht genug, daß ich
euch die Kinder abgenommen habe, soll ich euch auch noch den Fuhr-
lohn bezahlen?" Denn das kann dem redlichsten und besten Gemüth
begegnen, wenns ein Kaufmann ist, jedem Andern aber auch, daß
er wider Wissen und Willen zuerst ein wenig handeln und markten
muß, sei es auch nur mit sich selbst. Der Pole erwiederte: „Guter
Herr, ich will euch nicht ins Gesicht sagen, wie ihr mir vorkommt.
Jsts nicht genug, daß ich euch die Kinder bringe? Sollt ich sie auch
noch umsonst geführt haben? Die Zeiten sind bös, und der Verdienst
ist gering." — „Eben deßwegen", sagte Herr Charles, darüber laßt mich
klagen. Oder meint ihr, ich sei so reich, daß ich fremde Kinder aufkaufe,
oder so gottlos, daß ich mit ihnen handle? Wollt ihr sie wieder?" Als
aber noch einmal ein Wort das andere gab, und der Pole jetzt erst
mit Staunen erfuhr, daß der Herr Charles gar nicht der Vetter sei,
sondern nur aus Mitleiden die armen Waisen genommen habe; „wenns
so ist", sagte er, „ich bin kein reicher Mann, und eure Landsleute,
die Franzosen, haben mich auch nicht dazu gemacht, aber wenns so ist,
so kann ich euch nichts znmutheu. Thut den armen Würmlein Gutes
437
dafür", sagte der edle Mensch, und es trat ihm eine Thräne ins
Auge, die wie aus einem überwältigten Herzen kam, wenigstens über-
wältigte sie dem Herrn Charles das seinige. ,Mon8L6ur Charles!“
dachte er, „und ein armer polnischer Fuhrmann!" — und als der
Pole schon anfing, eines der Kinder nach dem andern zum Abschied
zu küssen, und sie auf polnisch zur Folgsamkeit und Frömmigkeit er-
mahnte, „guter Freund", sagte Herr Charles, „bleibt noch ein wenig
da. Ich bin doch so arm nicht, daß ich euch nicht euren wohlver-
dienten Fuhrlohn bezahlen könnte, so ich doch die Fahrt euch abge-
nommen habe", und gab ihm die fünfhundert Rubel. Also sind jetzt
die Kindlein versorgt, der Fuhrlohn ist bezahlt, und so ein oder der
andere geneigte Leser vor den Thoren der großen Stadt hätte zwei-
feln mögen, ob der Vetter auch zu finden sein, und ob er es thun
werde, so hat doch die heilige Vorsehung ihn nicht einmal dazu von-
nöthen gehabt.
202. Die sonderbare Mauer.
Die Leute eines einsamen Bauernhofes waren während des letzten
Kriegs in großen Aengsten. Besonders war eine Nacht für sie sehr-
fürchterlich. Der Feind nahte sich der Gegend, der nächtliche Him-
mel war bald da bald dort von Feuersbrünsten roth wie Blut. Zu-
dem war es Winter und das Wetter sehr kalt und stürmisch. Die
guten Leute waren keinen Augenblick sicher, ausgeplündert und jetzt
zur rauhesten Jahreszeit von Haus und Hof verjagt zu werden.
Großeltern, Eltern und Kinder blieben die ganze Nacht hin-
durch in der Stube bei einander auf und beteten beständig. Die
Großmutter las aus einem Gebetbnche mit Inbrunst die Worte, die
in einem älteren Kirchenliede sich finden:
„Eine Mauer um uns bau,
Daß dem Feinde dafür grau."
Der junge Bauer, der andächtig zugehört hatte, meinte jedoch,
das Aufführen von einer Mauer sei gar zu viel von dem lieben Gort
verlangt.
Indeß ging die Nacht vorüber, ohne daß ein feindlicher Soldat
in das Haus kam. Alle im Hanse wunderten sich darüber. Als
sie aber Morgens sich vor die Thüre wagten, sieh, da war gegen jene
Seite hin, wo die Feinde stunden, der Schnee vom Winde hoch
wie eine Mauer aufgethürmt, so daß man gar nicht hindurch kommen
konnte.
438
Alle lobten und priesen Gott. Die Großmutter aber sagte:
„Seht, so hat Gott eine Mauer aufgeführt, die Feinde von unserer
Wohnung abzuhalten. Ich bleibe dabei:
„Wer auf den lieben Gott vertraut,
Der hat ans festen Grund gebaut!"
203. Die Schlacht bei Leipzig.
(18. Oktober 1813.)
Napoleon war von Gott geschlagen, sein großes Heer vernichtet.
Der Mann, welcher an der Spitze einer halben Million Krieger in Ruß-
land eingezogen war, hatte es als Flüchtling in einem Schlitten wieder
verlassen und war nach Frankreich zurückgeeilt, um alsbald ein neues
Heer auszuheben und mittelst desselben seine sinkende Macht zu stützen.
Diesen Augenblick ersahen sich die Preußen, schüttelten das schmäh-
liche französische Joch ab und erklärten am 27. März 1813 Frankreich
den Krieg. Mit bedeutenden Streitkräften zog Napoleon ihnen und den
Rüsten entgegen. Nach mehreren blutigen Schlachten, in denen die Preußen,
namentlich unter ihrem tapfern Feldmarschall Blücher, mit den Rusten und
den Oesterreichern, die sich gleichfalls gegen Napoleon erklärt hatten, an
Tapferkeit wetteiferten (die Tage bet Großgörschen, Großbeeren, an der
Katzbach, bet Kulm, Dennewitz, Wartenburg sind Zeugen davon), zogen
sich die verbündeten Heere nach Sachsen. Napoleon machte sich nach Leipzig
auf, und die Verbündeten folgten ihm dahin nach. Als er dies sah,
lächelte er spöttisch und meinte, nun habe er seine Feinde alle auf einem
Fleck beisammen; nun werde er sie schlagen, vernichten und dann sich
abermals zum Herrn über Länder und Völker machen. So kam Hoch-
muth vor dem Fall.
Bald war eine Menge Krieger in der weiten Ebene um Leipzig'
versammelt. Napoleon hatte im Anfang die Ueberzahl; aber in Folge
< des allmählichen Einrückens weiterer Truppen kämpfe er am 18. Oktober
« mit 150,000 Mann und 700 Geschützen gegen 270,000 M'nn und
Í 1300 Geschütze.
Am 16. Oktober begann der Angriff. Ein grauer Herbstnebel lag
auf den Feldern, und der Morgen war düster. Gegen 9 Uhr wurde es
heller, und nun brachen die Rusten, Preußen und Oefterreicher los.
Es fing ein so gräßliches Kanonenfeuer an, daß die Erde davon er-
bebte. In den Dörfern, welche südöstlich von Leipzig liegen, kämpfte
man mit großer Erbitterung. Napoleon war hier selbst und ermunterte
439
jeine Schaaren. Sie fochten auch tapfer. Bald eroberten die Verbün-
deten die Dörfer, bald die Franzosen; es war ein entsetzliches Drängen
und Treiben. Endlich stürmten jene noch einmal heran, die Franzosen
wichen, mehrere Regimenter flohen. Napoleon sah dies mit düsterem Ge-
ficht. „Vor mit dem Geschütz!" rief er, und hundert und fünfzig Kanonen
jprengten herbei, hintennach große Haufen von Garden. Der Angriff
war mörderisch; die Verbündeten mußten einen Augenblick weichen und
den Franzosen die Dörfer überlasten. Als der österreichische Feldherr dies
sah, ließ er schnell frische Truppen anrücken, im Sturmschritt auf die
Dörfer losgehen und abermals den Kampf beginnen. Lange wüthete man
gegen einander, endlich wichen die Franzosen, sie mußten zurück. Am
Abend standen die Heere fast auf derselben Stelle wieder, wo sie des
Morgens die Schlacht begonnen hatten.
Im Norden von Leipzig war es unterdesten ganz anders ansgefallen.
Hier stand Blücher und schlug eine Schlacht, für sich, die man die Schlacht
bet Möckern nennt. Napoleon hatte einen tüchtigen General mit großer
Macht gegen den Helden geschickt und gesagt, man solle Blücher so lange
zurückwerfen, bis er mit den Feinden im Südoften fertig sei, dann wolle
er auch kommen und helfen. Der französische General that, was er
konnte. In Möckern entstand ein gräßlicher Kampf. Dreimal wurde das
Dorf gewonnen, dreimal ging es verloren. Die Franzosen stellten vierzig
Kanonen in den Straßen auf und schmetterten Alles nieder, was ihnen
nahe kam. Die Reihen der braven Preußen wurden immer dünner. Man
meldete dem General die Gefahr. „Nun", sprach der brave Horn, „so
wollen wir einmal ein Hurrah machen." Und im Sturmlaus läßt er
sein Fußvolk auf die Kanonen losgehen; die Franzosen weichen, die
Kanonen werden genommen. Eine neue Maste Feinde rückt heran. Es
sind die alten französischen Seesoldaten, die schon oft so große Thaten
gethan haben. Da sprengt Uork mit den Husaren daher: „Vorwärts!
eingehauen!" ruft er; auf das Wort stürzen die braven Husaren in das
Getümmel, hauen, stechen und reiten Alles nieder, was ihnen nahe ist,
und Schrecken und Flucht kommt über die Feinde. Sie eilen nach Leipzig.
Blücher hat an fünfzig Kanonen, viele tausend Gefangene und mehrere
Siegeszeichen gewonnen.
Den folgenden Tag wollte Napoleon gern mit den Verbündeten
unterhandeln. Aber so glatt und gut auch seine Worte waren, man
glaubte ihnen nicht. Er hatte nun einmal das Zutrauen verloren. Am
18. Oktober begann daher auch der Kampf wieder. Der französische
Kaiser hatte seine Soldaten näher zusammengezogen und war dicht an
440
Leipzig gerückt. Hier wurde er nun von allen Seiten bestürmt. Klug
und tapfer wehrte er stch, dieser Ruhm muß ihm bleiben. Von einer
Anhöhe herab, bei einer zerschossenen Windmühle, leitete er die Schlacht;
ihm gegenüber hielten auf einem Hügel bei einer Ziegelscheune die Mo-
narchen Friedrich Wilhelm, König von Preußen, Kaiser Franz von
Oesterreich und Kaiser Alerander von Rußland. Unter ihren Augen
führten die braven Krieger das große Werk aus. Ein Dorf nach dem
andern wurde den Franzosen genommen; immer schlimmer erging es ihnen.
Und siehe, noch war es nicht Abend, da sprengte der Feldherr Schwarzen-
berg den Hügel heran zu den drei Herrschern und meldete: „Wir haben
gesiegt, der Feind zieht fort." Die frommen Fürsten aber steigen von
den Rossen, beugen ihre Kniee vor dem Allmächtigen, welcher die Welt
regiert, und mit seiner Gnade ist bei denen, die auf ihn trauen, heben
ihre Hände zum Himmel empor und beten im Staub den König der
Könige an. Alle, die bei ihnen sind, thun ein Gleiches. Der kleine
Hügel, wo dies geschah, heißt bis auf den heutigen Tag der Drei-
monarchenhügel.
Die Abtheilung von Württembergern, welche am 18. Oktober auf
dem Schlachtselde stand und unter General Normann mitkämpfte, war,
als der Sieg noch schwankte, zu den Verbündeten übergetreten, so wie
der größte Theil der sächsischen Truppen bereits gethan hatte.
Als die dunkle Nacht schon das große Vlutfeld bedeckte, befand stch
Napoleon noch auf dem Hügel bei seiner Windmühle, wo er stch ein
Wachfeuer hatte anzünden lassen. Er hatte seinem ersten Gehülfen, Ber-
thier, die Anordnung des Rückzugs mitgetheilt, und dieser diktirte sie
an einem Seitenrvachfeuer einigen Adjutanten. Ringsum herrschte tiefe
Stille. Man hatte dem von harter Anstrengung der letzten Tage, und
noch mehr von den heftigsten Bewegungen des Gemüths erschöpften Herrscher
einen hölzernen Schemel gebracht, auf welchem er in Schlummer sank.
Hoffnung, Furcht, Zorn, Unmuth, Zähneknirschen —• was mochte alles
in diesen Tagen das heftige Gemüth erschüttert haben! Jetzt saß er, wie
ein Augenzeuge ihn gesehen, nachläffig auf seinem Schemel zusammen-
gesunken, die Hände schlaff im Schooße ruhend, die Augen geschlossen,
unter dem dunkeln Zelt des Himmels, mitten aus dein Leichenfeld, das
er geschaffen hatte, und welches durch die brennenden Dörfer und un-
zähligen Wachfeuer wie mit verzehrenden Flammen besäet war. Die An-
führer standen düster und verstummt um das Feuer, und die zurück-
ziehenden Haufen rauschten in einiger Entfernung am Fuß des Hügels
vorüber. Nach einer Viertelstunde erwachte Napoleon und warf einen
441
großen, verwunderungsvollen Blick im Kreise um sich her; dann stund
er auf und Legab sich nach Leipzig, wo er gegen neun Uhr eintraf.
Nach Mitternacht, als der Mond aufging, begann der Rückzug des
ganzen Heeres durch Leipzig. Nur Ei,re Brücke führte aus der Stadt
über die Elfter auf die Landstraße. Da war nun ein Drängen und
Treiben ohne Gleichen. Die Angst trieb jeden Franzosen vorwärts. Und
wohl mochten sie auch nun machen, daß sie davon kamen, denn die
Nüssen saßen ihnen auf der Ferse. Kaum graute der Tag, so stürmten
die Preußen auf Leipzig los, drangen in die Stadt und nahmen ge-
fangen, was ihnen vorkam. Napoleon hatte in der Leipziger Schlacht
30.000 Mann durch den Tod, und mehr als 40,000 durch Verwun-
dung und Gefangenschaft verloren; die Verbündeten zählten mehr als
40.000 Todte und Verwundete. Viel verloren die Franzosen auch noch
auf dem Rückzug; denn in der Verwirrung eilte Alles durcheinander
hin, und hinterher die Verbündeten, um die Angst zu vergrößern. Als
Napoleon in die Gegend von Hanau kam, siehe, da traten ihm die
Bayern, welche sich von ihm losgesagt hatten und zum Bund übergetreten
waren, in den Weg, und er mußte sich mit vielem Verlust hier durch-
schlagen , ehe er fortkam. Darauf zog er in großer Eile von dannen
über den Rhein. Die Sieger aber besetzten alle Länder bis an diesen
Fluß, befreiten Holland und die Schweiz und nahmen den Franzosen eine
Menge Festungen in Deutschland ab, welche von ihnen noch besetzt waren.
So herrlich schloß das Jahr 18l 3.
204. Die Schlucht bei Waterloo.
(18. Juni 1815.)
Nach der Eroberung von Paris durch die Heere der Verbünde-
ten im Jahr 1814 war Napoleon zur Abdankung genöthigt und auf
die Insel Elba verwiesen worden. Aber während eben die Beherr-
scher von Europa in Wien versammelt waren, um Alles, was durch
Napoleons Gewaltherrschaft in Unordnung gerathen war, wieder zu
ordnen, brach dieser in Frankreich ein und stand bald wieder in
seiner alten Macht da. Die Verbündeten rüsteten sich aufs neue
zum Kampf. Ueber eine halbe Million Krieger ward aufgeboten.
115.000 Preußen, geführt von dem tapfern Feldmarschall Blücher,
und 30,000 Engländer, ebenso viel Niederländer und 40,000 Deut-
sche (aus Hannover, Braunschweig und Nassau), geführt von dem
J
442
englischen Feldherrn Wellington, waren die ersten auf dem Kampf-
plätze. Mit einem Heer von 140,000 Mann rückte Napoleon in
Belgien ein. Am 16. Juni 1815 griff er bei Ligny Blücher an;
auf beiden Seiten standen je 80,000 Mann; nach tapferer Gegen-
wehr mußten sich die Preußen zurückziehen. 12,000 Mann waren
gefallen. Unsere Soldaten (so erzählt ein wohlunterrichteter Preuße)
hatten mit einer Tapferkeit gekämpft, die nichts zu wünschen übrig
ließ; und sie blieben in guter Fassung, weil ein jeder das völlige
Vertrauen auf Gott und seine eigenen Kräfte behalten hatte. An
diesem Tag bestand der Feldmarschall Blücher große Gefahren. Ein
von ihm selbst geleiteter Reiterangriff mißlang. Während die feind-
liche Reiterei ihn kräftig verfolgte, durchbohrte eine Kugel das Pferd
des Feldmarschalls. Das Thier wurde gar nicht in seinem Laufe
aufgehalten, sondern raunte mit verdoppelter Wuth, bis es todt
niederstürzte. Der Feldmarschall, den dieser gewaltige Sturz be-
täubte, blieb unter dem Pferd liegen. Die feindlichen Kürassiere
drangen vor, indem sie ihren Vortheil verfolgten; unsere Reiter wa-
ren bereits am Marschall vorbeigeritten; ein einziger Adjutant, Graf
von Nostitz, war bei ihm geblieben und war eben abgestiegen, ent-
schlossen, das Loos des Feldmarschalls zu theilen. Die Gefahr war
groß; aber der im Himmel wohnt, wachte über uns. Die Feinde
ritten bei Fortsetzung ihres Angriffs schnell am Feldmarschall vorüber,
ohne ihn wahrzunehmen; und als den Augenblick darauf ein zweiter
Angriff unserer Reiterei sie wieder zurückwarf, zogen sie mit dem
nemlichen Ungestüm vorbei und bemerkten ihn ebenso wenig wie das
erste Mal.
Jetzt zog man nicht ohne Mühe den Feldmarschall unter dem
Pferde hervor, und er bestieg sogleich ein Dragonerpferd.
Den 17. Juni Abends zog sich das preußische Heer in der Um-
gegend von Wavre zusammen. Napoleon aber lenkte seine Bewe-
gung gegen Lord Wellington auf der großen Straße, die von Char-
leroi nach Brüssel führt.
Hier wollte Wellington das Heer Napoleons zur Schlacht er-
warten, im Fall Blücher versprechen könnte, mit zwei preußischen
Heertheilen zur Unterstützung einzutreffen. Blücher antwortete: nicht
mit zweien Heertheilen nur, sondern mit seinem ganzen Heer werde
er am 18. über St. Lambert heranrücken, um an diesem Tag den
Angriff Napoleons mitzubestehen, oder denselben am folgenden Tag
mit Wellington vereint selbst anzugreifen.
443
Napoleon hatte am 17. früh das Schlachtfeld von Ligny berit-
ten und wandte sich dann mit seiner Hauptstärke links, um nun auch
die Engländer heftig anzugreifen.
Es hatte die Nacht geregnet, und regnete immer fort; der Bo-
den war völlig durchweicht, die schwarze Erde löste sich in zähe Flüs-
sigkeit auf, und mit unsäglichen Beschwerden kam das Heer auf der
schlammigen Straße und in den alsbald unter den Hufen der Pferde
grundlos gewordenen Getreidefeldern nur langsam fort. Erst am
Abend gelangte der französische Vortrab an die englische Stellung
von Mont St. Jean, die sogleich, aber vergeblich angegriffen wurde.
Die Nacht brach herein und machte dem Gefecht ein Ende. Furcht-
bare Regengüsse strömten diese Nacht vom Himmel; die Truppen lit-
ten unbeschreiblich, die Tritte versanken in Koth, Geschütz und Wagen
schienen kaum fortzubringen. Am folgenden Morgen, den 18. Juni,
waren die Franzosen sehr überrascht, den Feind, welchen sie unter
Begünstigung der Nacht über Brüffel hinaus abgezogen glaubten,
unverrückt in derselben Stellung wie am vorigen Abend vor sich zu
finden.
Jedes der zwei Heere, die hier einander gegenüber standen, be-
stand aus 70,000 Mann. Napoleon ordnete sein Heer auf der An-
höhe von Bellealliance zum Angriff. Aber nur mühselig und lang-
sam trafen auf durchweichtem Wege und Feld die Truppen ein; ein-
zelne Regenschauer fielen noch von Zeit zu Zeit, der Boden er-
schwerte jeden Fortschritt. Erst um Mittag konnte Napoleon den Be-
fehl geben, vorzurücken. Das Feuer aus dem Geschütz, aus dem
Kleingewehr, die Angriffe mit blanker Waffe wechselten mit immer
neuer Wuth; die Reiterei wogte in stürmischen Angriffen hin und
wieder, und zerstörte sich gegenseitig in furchtbarem Gemetzel, ohne
irgend einen wesentlichen Erfolg. Dieser Kampf dauerte mehrere
Stunden; die Franzosen fochten mit andringender Wuth, die Eng-
länder und ihre Verbündeten mit ausdauernder Standhaftigkeit. Wel-
lington, sein Heer mehrmals in Gefahr sehend, durchbrochen zu wer-
den, eilte persönlich in das stärkste Feuer, zeigte sich den Truppen
und strengte alle Kräfte an, sich gegen die Uebermacht zu behaupten,
bis Blücher mit den Preußen herankäme und dem Kampf eine ent- *
scheidende Wendung gäbe. Er wußte, daß Blücher kommen würde,
er wußte ihn im Anzug, die Vortruppen desselben schon in der
Nähe, doch wurde dessen wirkliches Eintreffen auch schon mit jedem
Augenblick nöthiger. Napoleon entwickelte unaufhörlich neue Streit-
444
fräste, sein Geschütz wirkte verheerend, seine Truppen rückten ent-
brannt zu neuen Angriffen vor; die Kräfte Wellingtons erschöpften
sich. Es war hohe Zeit, daß Blücher auf dem Kampfplatz erscheine,
doch zeigte sich von ihm noch keine Spur, und die Lage der Dinge
wurde jeden Augenblick bedenklicher.
Blücher war, seinem Versprechen gemäß, am 18. Juni früh
Morgens von Wavre in zwei Heerzügen aufgebrochen; er hatte fceit
17. an den Folgen seines Sturzes im Bette zubringen müssen, und
am 18. in der Frühe, als er unmittelbar aus dem Bette wieder
aufs Pferd sollte, um mit seinen Truppen zur neuen Schlacht aus-
zurücken, war man für den übelzugerichteten Greis nicht ohne Sor-
gen; der Wundarzt wollte ihn noch zu guter Letzt einreiben; Blücher
aber, als er die Anstalten sah, versetzte: „Ach was, noch erst schmie-
ren! Laßts nur sein! Ob ich heute balsamirt oder unbalsamirt in
dle andere Welt gehe, das wird wohl auf eins herauskommen!" er-
hub sich, ließ sich ankleiden und setzte sich wohlgemnth zu Pferde,
obgleich ihn bei jeder Bewegung die gequetschten Glieder schmerzten.
Als er sah, wie stark es geregnet hatte, und daß es noch immer fort
regnen würde, sagte er: „Das sind unsere Verbündeten von der Katz-
bach*), da sparen wir dem König wieder viel Pulver." Blücher be-
gab sich an die Spitze des Heertheils voll Bülow, der voranzog und
zuerst an den Feind kommen mußte. Er that Alles, um den Marsch
zu beschleunigen; allein schon gleich anfangs wurde derselbe durch ein
zufälliges Hinderniß unerwartet aufgehalten: in Wavre entstand eine
Feuersbrunst, welche die Hauptstraße sperrte und die Truppen zu Um-
wegen nöthigte, wodurch ein beträchtlicher Zeitverlust entstand. Wei-
terhin wurde es noch schlimmer; der unaufhörliche Regen hatte den
Boden ganz durchweicht, die Bäche geschwellt, jede kleinste Vertiefung
mit Wasser gefüllt. Die schmalen Wege durch Wald und Gebüsch
nöthigten zu häufigem Abbrechen der Glieder. Das Fußvolk und die
Reiterei kamen mit Mühe fort; das Geschütz machte unsägliche Be-
schwer; der Zug rückte zwar immer vor, aber mit solcher Langsamkeit,
daß zu befürchten war, er werde zur Schlacht viel zu spät eintreffen
und weit über den Zeitpunkt hinaus, in welchem er für Wellington
noch die versprochene Hülfe sein könne. Offiziere kamen und brachten
Nachricht von dem Gang der Schlacht, von Napoleons übermächtigem
*) An Der Katzbach in Schlesien hatte Blücher die Franzosen am 26. August
1813 unter schreeklichem Regeuwelter ael'chlagcn.
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Andränge, und wie sehr die Ankunft der Preußen ersehnt werde.
Blücher, m heftigen Sorgen, sein gegebenes Wort nicht zu lösen,
rief sein: „Vorwärts, Kinder, vorwärts!" anfeuernd in die Reihen
der Truppen, überall fördernd flogen seine Blicke und Worte umher;
wo ein Hinderniß entstand, wo eine Stockung sich zeigte, war er so-
gleich gegenwärtig; doch alle Anstrengung gab noch immer geringe
Aussicht, zu rechter Zeit anzulangen. Neuerdings trieb er zu ver-
doppelter Eile an; die Truppen erlagen fast den Mühseligkeiten; aus
dem Gemurmel der im Schlamm und durch Pfützen sich Fortarbeiten-
den klang es hervor, es gehe nicht, es sei unmöglich. Da redete
Blücher mit tiefster Bewegung und Kraft feine Krieger an: „Kinder,
wir müssen vorwärts! Es heißt wohl, es geht nicht, aber es muß
gehen; ich hab es ja meinem Bruder Wellington versprochen. Ich
habe es versprochen! Hort ihr wohl? Ihr wollt doch nicht, daß ich
wortbrüchig werden soll?" Und so ging es denn mit allen Waffen
unaufhaltsam vorwärts.
Es war angenommen, die Preußen würden um zwei llhr Nach-
mittags zur Schlacht kommen. Aber erst nach vier Uhr war endlich
der schwierige Weg zurückgelegt, und nur zwei Geschwader und die
Reiterei von Bülow halten jenseits ihre verdeckte Aufstellung erreicht,
und erwarteten das Herankommen der übrigen. Blücher gab nun
durch frühzeitiges Geschützfeuer dem Heere Wellingtons das Zeichen
seiner ersehnten Ankunft. Dieser Kanonendonner erweckte den Eng-
ländern frohe Zuversicht, den Franzosen Staunen und Bestürzung.
Jetzt schickte Napoleon den sechsten Heertheil, den er bisher noch aus
dem Gefechte zurückgehalten, dem Angriffe der Preußen entgegen,
und es entstand ein heftiger Kampf, in welchem die beiden Geschwader
anfangs gegen die Uebermacht einen harten Stand hatten. Blücher
indeß sandte allen Truppenteilen, deren Herankommen er auf alle
Weise rastlos beeilte, den Befehl, ihre Richtung geradezu auf die
Höhe von Bellealliance zu nehmen, deren Gebäude über die ganze
Gegend sichtbar emporragten. Napoleon jedoch wankte noch immer
nicht; er sah die Truppen Blüchers immer furchtbarer auftreten, allein
sein hartnäckiger Eifer verzichtete noch nicht auf den Sieg. Ein letzter
verzweifelter Schlag soll ihn entscheiden: er läßt die alte Garde,
den Kern seiner Truppen, zwölf Bataillone, zur Durchbrechung der
Schlachtordnung Wellingtons auf deren Seite im Sturm vorrücken,
zusammengedrängt, das Gewehr im Arm, ohne Schuß, unter Anfüh-
rung des Marschalls Ney, während zugleich die ganze französische
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Linie überall zum neuen Angriff übergeht. Doch Wellington stellt
der vordringenden Garde sechs englische Bataillone, in zwei Gliedern
aufmarschirt, entgegen, deren mörderisches Gewehrfeuer ganze Reihen
des dichtgeschaarten Feindes niederstreckt; zugleich richtet alles Geschütz
seine Wirkung gegen die Masse; von allen Seiten wenden sich die
Truppen zu diesem Kampfe, dem blutigsten des Tages. Ganze
Schaaren werden vernichtet; die große Menge der Verwundeten,
welche dem Gefecht entweichen, gibt auf beiden Seiten den Anschein
einer Flucht. Die französische Garde, trotz ihres ungeheuren Ver-
lustes, rückt immer vor, ihrem gewaltigen Ungestüm scheint Nichts
widerstehen zu können. Die Engländer weichen auf mehreren Punkten;
ihr Geschütz stellt das Feuer ein. In diesem Drange rückt der preu-
ßische General Ziethen hervor, läßt vier und zwanzig Stücke Geschütz
in den Feind schmettern und führt seinen Hauptangriff im Sturm-
schritt, unter dem Wirbel aller Trommeln, die Höhe von Bellealliance
zur Richtung nehmend, unaufhaltsam vorwärts. Die Bewegung ist
entscheidend, der Feind beginnt zu weichen. Schon aber hat gleich-
zeitig auch Wellington die Truppen seines weniger bedrängten rechten
Flügels nach der Mitte gezogen, seine Reiterei zusammengebracht, und
geht nun selbst wieder mit allen Kräften zum entschlossensten Angriff
über. Er befiehlt seiner ganzen Schlachtordnung ein allgemeines
Vorrücken. Die französische Garde, dem allseitigen Sturm erliegend,
geräth in Unordnung und flieht; vier Bataillone, die am meisten
vorgerückt sind, ziehen sich, in Vierecken geschlossen, nach Bellealliance
zurück. Sie kommen aber hier in das Geschützfeuer Bülows, sie
werden von der Reiterei umzingelt, die meisten fallen, einige entkom-
men, gefangen werden nur wenige. Jetzt kommt auch der zweite
preußische Heertheil, unter Pirch, zur Schlacht, und um halb acht
Uhr erneuert sich der Kampf. Noch leistet der Feind verzweifelte
Gegenwehr, alle drei preußische Heertheile sind im heißesten Gefecht,
aber die Schlacht ist schon gewonnen, der Feind überall im Rück-
zug, er kämpft nur noch für seine Rettung. Endlich um neun Uhr
erobern Pirch und Bülow vereint das Dorf Planchenoit, und
das Verderben 'des französischen Heeres ist entschieden. Der Rückzug
artet in wilde Flucht aus, die Nacht nimmt die Flüchtigen auf. Es
war schon völlig dunkel, als Blücher und Wellington auf der Höhe
von Bellealliance zusammentrafen und sich gegenseitig als Sieger be-
grüßten. Diese Höhe führte den Namen von der Verbindung zweier
schönen Brautleute, welche sich hier niedergelassen; Blücher, der sieg-
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reichen Waffenverbindung zu Ehren, nannte die Schlacht mit diesem
Namen: Schlacht bei Bellealliance, zu deutsch: Schönbund. Gewöhn-
lich aber nennt man sie nach Waterloo, dem Hauptquartier Welling-
tons vor der Schlacht.
Die Schlacht war gewonnen, aber die Arbeit noch keineswegs
vollendet. Das Heer Wellingtons hatte furchtbar gelitten, die
Menschen und Pferde konnten nicht weiter. Die Preußen waren
kürzere Zeit im Kampfe gewesen, die Anstrengung des Marsches
kam nicht in Anschlag. Also noch in derselben Nacht ging Blücher
sofort nach Genappe, wo sein Vortrab den Feind, der sich anfangs
vertheidigen wollte, um elf Uhr in der Nacht zu weiterer Flucht
nöthigte. Der Feind hatte sein meistes Geschütz auf dem Schlacht-
feld stehen lassen, das mit seinen Trümmern und Leichen bedeckt war.
In Genappe war aufgehäuft, was an Geschütz, Pulverwagen, Gepäck
und anderem Fuhrwerk noch gerettet worden; Alles fiel hier den
Preußen in die Hände, unermeßliche Beute, Napoleons eigene Feld-
rüstung, sein Silbervorrath, seine Edelsteine, der Wagen selbst, in
welchem er gefahren war, und den er beim plötzlichen Geschrei, die
Preußen seien da, ohne Hut und Degen eiligst verlassen hatte, um
sich aufs Pferd zu werfen. Die Kleinodien, das viele Gold und
anderer Besitz verblieb den Soldaten; den Wagen Napoleons, den
kaiserlichen Mantel, sein Fernglas nahm Blücher an sich, Hut und
Degen und die Ordenssterne Napoleons sandte er als Siegeszeichen
an den König. Die Verfolgung ging unaufhaltsam fort. Der Mond
schien hell und begünstigte die Verfolgung, welche der General Gnei-
senau mit dem Heertheile von Bülow rastlos betrieb, und an welche,
wie Blücher befohlen hatte, der letzte Hauch von Roß und Mann
gesetzt wurde.
Blücher selbst blieb die Nacht in Genappe; in dem Zimmer, das
ihm angewiesen wurde, lagen sechs schwer verwundete Franzosen, die
man fortschaffen wollte; doch er litt nicht, daß sie um seinetwillen
gestört würden, sondern ließ ihnen vielmehr alle nur immer mögliche
Hülfe und Linderung zukommen.
An Schwarzenberg, den Oberbefehlshaber der Oesterreicher, schrieb
er eigenhändig: „Mein Freund! Die schönste Schlacht ist geschlagen,
der herrlichste Sieg ist erfochten! Das Einzelne wird erfolgen. Ich
denke, die Bonapartische Geschichte ist nun wohl vorbei. La belle
Alliance, den 19. Juni. Ich kann nicht mehr schreiben, denn ich
zittere an allen Gliedern; die Anstrengung war zu groß. Blücher."
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Das Heer Wellingtons batte gegen 13,000 Todte und Verwun-
dete, und unter diesen die angesehensten Befehlshaber. Geringer war
an diesem Tage der Verlust der Preußen; obwohl sie dem Feind den
größten verursacht, hatten sie selbst, begünstigt durch den Stand und
die Wendung der Dinge, den kleineren; er betrug 7000 Mann.
Die Franzosen dagegen hatten über 30,000 Todte und Verwundete,
15,000 Gefangene, 300 Kanonen nebst der verhältnißmäßigen Anzahl
Pulverwagen und zahlloses Fuhrwerk mit Gepäck und Kriegsgeräthen
aller Art eingebüßt.
Durch diese Schlacht war die Macht Napoleons gebrochen; Paris
wurde zum zweitenmal eingenommen, der Kaiser mußte noch einmal
seine Krone niederlegen und wurde von den Engländern auf die weit
entfernte Insel Sanct Helena gebracht. Am 16. Oktober 1815, zwei
Jahre nach der großen Schlacht bei Leipzig, landete er daselbst, um
von da nie mehr lebendig zurückzukehren. Europa hatte nun wieder
Frieden, und Deutschland konnte frei aufathmen nach Jahren schwerer
Trübsal und tiefer Erniedrigung, und mit dem befreiten Volke Israel
singen, was Jes. 14, 3 — 7. geschrieben steht: „Nun ruhet doch alle
Welt und ist stille und jauchzet fröhlich."
205. Oberlin.
Ein leuchtendes Beispiel der thätigen, echten Gottes - und
Menschenliebe ist der bekannte Pfarrer Oberlin im Steinthal, in
der Nähe von Straßburg, geboren den 31. August 1740, gestorben
den 28. Mai 1826.
Das Steinthal liegt in den Vogesen im Elsaß, und durch eine
tiefe Schlucht auf der einen, durch Felsen auf den übrigen Seiten
ganz wie abgeschnitten. Fahrwege aus dem Thale gab es früher gar
nicht, und für die Fußgänger dienten Schuttsteine bald in, bald neben
dem Bette eines reißenden Gießbachs. Natürlich fand unter solchen
Umständen fast gar kein Verkehr der Bewohner dieses Thals mit der
Außenwelt statt. Versunken in Armut, Unwissenheit und jegliche
Rohheit, lebten sie fast wie Wilde auf einer unbesuchteu Insel. Da
führte die Vorsehung diesen Leuten zwei vortreffliche Geistliche zu,
denen es unter dem Segen Gottes durch ihre christliche Weisheit,
frommen Eifer und zweckmäßige, unermüdete Thätigkeit gelang, dieses
wüste Steinfeld in einen Garten Gottes zu verwandeln.
Der erste, der im Jahr 1750 sein Amt antrat, hieß Stüber.
Allein nach sechsjähriger, gesegneter Wirksamkeit wurde er an eine
449
andere Stelle versetzt, und ein unwürdiger Nachfolger setzte das be-
gonnene Werk nicht fort. Da hielt es nach einigen Jahren Stüber
für seine Gewissenspflicht, seine einträgliche Stelle zu verlassen und
wieder in sein armes Steinthal zurückzukehren. Als ihm jedoch seine
Gattin starb, suchte er wieder eine Predigerstelle in der Stadt, jedoch
nicht, ohne vorher für einen treuen Nachfolger gesorgt zu haben. Er
hatte von des jungen Oberlins frommem Sinn und Eifer viel gehört
und besuchte ihn darum. Man wies ihn in ein kleines Dachstübchen;
m einer Ecke desselben steht er ein Bett mit papiernen Vorhängen,
in welchem unser Kandidat an heftigem Zahnweh darniederlag. Stüber
tritt näher, scherzt mit dem munteren Jüngling über die sonderbaren
Vorhänge „und", fragt er, „was ist das für ein eisernes Pfännchen,
das über Ihrem Tische hängt?"
„Es ist meine Küche", antwortete jener, „denn wenn ich zu
Mittag bei meinen Eltern esse, nehme ich mir da- ein Stück Brod
mit, lege es Abends acht Uhr in mein Pfännchen, gieße Wasser mit
etwas Salz darüber und stelle die Lampe darunter, bei deren Schein
ich studire. Mahnt mich dann der Hunger, so ist die Mahlzeit bereit,
die mir besser bekommt, als Leckerei."
Stüber lachte. „Sie sind mein Mann, ein Mann zum Pfarrer
des armen. Steinthals gemacht." Und Oberlin nahm den Antrag
willig an.
Am 30. März 1767 zog der sieben und zwanzigjährige Oberlin
in Waldbach ein. Er erkannte gar bald, daß sein Beruf an dieser
Gemeinde ein doppelter sei: einmal und vor allem das Heil der
Seelen ans allen Kräften zu suchen; dann aber auch die leibliche
Noth der Steinthaler, welche zum großen Theil aus eigener Schuld
derselben entsprang, so viel ars möglich zu lindern. — Das erstere
übte er nun mit einer solchen evangelischen Weisheit, Milde, De-
muth und Einfalt aus, daß die gesegneten Erfolge nicht ausbleiben
konnten. Man konnte sagen, daß er im täglichen und stündlichen
Gebet das Anliegen seiner Gemeinde vor den Herrn trug. Wenn er
sich auf diese Weise in der Liebe zu ihr recht gestärkt und bekräftigt
hatte, dann war sein angelegentlichstes Werk bei derselben Belehrung
aus Gottes Wort, welches allein dem Herzen Besserung und wahre
Heilung zu geben vermag. Dieses war die unversiegbare Quelle, aus
der er Wasser des Lebens schöpfte; darum war auch seine ganze
Predigt Bibelsinn in Bibelsprache; denn er war überzeugt, schon die
bloße Darlegung des göttlichen Worts sei ein sicheres Mittel, kräftig
Lesebuch. 29
450
gesegnei, auf Gemüther zu wirken. Aufs verstljndigste und treueste
wartete er dabei der anderen Seite seines Berufs^ die ihm Anver-
trauten aus ihrer leiblichen Versunkenheit zu retteE Merkwürdig ists
jedoch, gerade hier, wobei doch der gute Wille des Pfarrers am
. leichtesten hätte anerkannt werden sollen, fand er anfangs den hart-
näckigsten Widerstand. Die Steinthaler nahmen es ihrem Pfarrer
höchlich übel, wenn er ihr häusliches Elend, ihre Unreinlichkeit, ihre
Trägheit, ihre Ungeschicklichkeit beim rechten Namen nannte; seine
guten Vorschläge hießen Neuerungen und unnöthige Kritteleien.
Einer seiner ersten Plane war, Verbindungswege zwischen dem
Steinthal und den benachbarten Städten Straßburg rc. zu öffnen.
Denn da die Bewohner -weder Absatz für ihre Erzeugnisse finden, noch
selbst die nöthigen Ackerbauwerkzenge sich verschaffen konnten, so be-
gnügten sie sich mit dem dürftigsten Unterhalt und hatten für allge-
meine Zwecke nie etwas übrig. Oberlin versammelte seine Pfarrkinder
und schlug ihnen vor, einen Verbindungsweg zu der nach Straßburg
führenden Heerstraße zu bauen. Zu diesem Zweck mußten Felsen ge-
1 sprengt, ein fester Dammweg längs des Bergstroms angelegt und
eine Brücke gebaut werden. Die Bauern hielten diesen Vorschlag für
ganz unausführbar, aber des Pfarrers Worte wirkten so mächtig,
daß sie endlich ihren Widerstand aufgaben und die schwere Arbeit
begannen, bei welcher er ihr Anführer und thätiger Helfer war.
Wohlthätige Freunde in Straßburg unterstützten ihn, und im Jahr
1770 war die Brücke über den Bergstrom gebaut, und die Verbin-
dung mit Straßbnrg eröffnet. Sein nächstes Werk war die Anlegung
von fahrbaren Straßen zwischen den Ortschaften seines Kirchspiels.
Hatte er am Sonntag mit dem Ernst und der Wärme, die seine Seele
erfüllten, seine Pfarrkinder belehrt und erbaut, so sah man ihn un-
bedenklich am Montag mit der Hacke auf der Schulter an der Spitze
von zwei hundert Arbeitern zum Straßenbau hinausziehen. Denn es
galt hier ein Beispiel zu geben. Von seinen Einkünften, die sich nur
auf 500 Gulden jährlich beliefen, verwendete er noch einen Theil auf
die Ausführung seiner Plane. Auch legte Oberlin jetzt einen Vor-
rath von den nöthigen Werkzeugen an, die bisher mit Zeitverlust von
Straßbnrg hergeholt worden waren, und gab den Käufern einen
billigen Credit; ja, er gründete mit seinen geringen MÄeln eine Leih-
anstalt, wo Jeder, der pünktliche Rückzahlung versprach und einhielt,
kleine Darlehen zur* Anschaffung der. dringenden Bedürfnisse erhielt.
Mehrere der fähigsten jungen Leute schickte Oberlin nach Straßbnrg,
451
um dort M Maurern, Zimmerleuten, Wagnern, Schmiden und
Glasern die Lehrjahre auszuhalten, und nach ihrer. Rückkehr in die
Heimat ihre erworbenen Geschicklichkeiten auszuüben und zu ver-
breiten. Nach einigen Jahren sah man statt der elenden Wohnungen,
die -zum Theil in die Bergwände gegraben waren, bequeme Häuschen,
wobei tiefe Keller angelegt waren, um Kartoffeln und andere Vorräthe
vor Frost zu schützen. Auf die Verbesserung des Ackerbaues richtete
Oberlin gleiche Sorgfalt. Er lleß Samenkartoffeln aus fremden Ge-
genden kommen, um die ausgearteten einheimischen zu ersetzen. Ebenso
beförderte er den Flachsbau, indem er Leinsamen von der Ostsee her-
beischaffte; den bis daher unbekannten Kleebau führte er ein, und
zum Anbau verschiedener nährender und arzneilicher Pflanzen gab er
Anweisung und Beispiel. „Laßt nichts verloren gehen", war einer
seiner Lieblingssprüche. Er gab seinen Pfarrkindern Anleitung, aus
Blättern, Binsen, Moos und Tannennadeln Dünger zu bereiten, und
gewährte kleinen Kindern Preise, wenn sie Lumpen und Lederstücke
zu demselben Zweck benutzten. Vorzüglich aber wirkte er durch sein
Beispiel. Er verwandelte einen verödeten Garten, der zum Pfarr-
haus gehörte, in eine Baumschule, einen andern in eine Obstanlage,
und als diese Pflanzungen unter seiner sorgfältigen Pflege gediehen,
wurde so viel Nacheiferung erweckt, daß bald alle Häuser von einem
Kranze von Obstbäumen und wohlgepflegten Gärten umgeben waren.
Der glückliche Erfolg dieser Unternehmungen machte die Steinthaler
empfänglich für umfassendere Entwürfe. Oberlin veranlaßte die Bauern,
Stallfütterung einzuführen und die weniger einträglichen Weiden in
Ackerland zu verwandeln, wodurch sie selbst in schlechten Jahren hin-
reichend Getreide erzeugten. So große Schwierigkeiten der steinige
Boden entgegensetzte, auch diese Bemühungen hatten glücklichen Erfolg,
und im elften Jahr seines Pfarramtes stiftete er einen Verein für
Ackerbau, welcher mit auswärtigen Vereinen der Art in'Verbindung
trat und im Stande war, jährlich Preise an fleißige Obstpflanzer
zu vertheilen.
Auch sür die Schulen war Oberlin so thätig, daß das Stein-
thal sich auch in diesem Punkte bald im ganzen Elsaß auszeichnete.
Die Kinder lernten mit Lust, weil sie sahen, daß nicht nur ihr Lehrer,
sondern auch ihr Pfarrer und ihre Eltern ihre Freude daran hatten
und mit der größten Anstrengung alles zum Unterricht Nöthige herbei-
schafften. Ganz besonders merkwürdig aber ist, daß im Steinthale
durch Oberlin die erste Kleinkinderj/chstile in ganz Europa entstand.
29 *
452
Schon früh hatte er die Nachtheile bemerkt, welche die jüngeren
Kinder leiden, während die älteren die Schule besuchen, die Eltern
aber ihren Berufsarbeiten nachgehen. Nicht bloß Gefahren für Leben
und Gesundheit sind die unbeaufsichtigten Kleinen ausgesetzt, sondern
ihr Geist kann sich in der Einsamkeit nicht entwickeln, deßhalb bleiben
sie zurück. Oberlin machte seine Frau auf dieses Uebel aufmerksam,
und diese, welche eben so menschenfreundlich dachte, als ihr Gatte,
bestellte Aufseherinnen, welche die Kinder von zwei bis sechs Jahren
um sich sammelten und dieselben mit Spiel und kleinen Arbeiten be-
schäftigten. Unter diesen Aufseherinnen befand sich ein junges Bauern-
mädchen, welches als die eigentliche Begründerin der Bewahranstalten
zu betrachten ist, weil sie nach dem bald erfolgten Tode der Pfarrerin
die Gedanken derselben ausführte und verbesserte. Dieses tugendhafte
Mädchen, welches zugleich in dem Hause des Pfarrers Oberlin zuerst
als Magd, dann als Haushälterin seine jüngeren Kinder erzog und
ohne alle Belohnung sich allen Diensten unterzog, bald die Kleinen
beaufsichtigte, bald Kranke besuchte, Arme unterstützte und in alle
seine menschenfreundlichen Plane einging, und darum von ihm als
Tochter angenommen wurde, hieß Luise Schepler, und ist eins der
schönsten Beispiele weiblicher Vortrefflichkeit. Auch wurden ihre Ver-
dienste, so wie die ihres Pflegvaters um das Steinthal nicht bloß von
der Gemeinde selbst, sondern zuletzt auch von der französischen Regie-
rung anerkannt. Luise Schepler erhielt einen Preis von 5000 Franken,
die ein edler Mann in Paris für diejenigen ausgesetzt hatte, welche
sich um das Wohl der Menschheit am meisten verdient machten. Sie
bestimmte dies Kapital ihrer Kleinkinderschule und behauptete, der
Ruhm gebühre nicht ihr, sondern der verstorbenen Pfarrerin. Der
alte Oberlin erhielr einen Orden und wurde in den Stand gesetzt,
sein wohlthätiges Leben fortzusetzen, ohne solche Entbehrungen wie
früher zu leiden. Die schönste Anerkennung aber fand er bei seinem
Tod im Jahr 1826. Nicht bloß seine Pfarrkinder von dem ältesten
bis zum jüngsten begleiteten mit Thränen die Leiche des Vaters
Oberlin, sondern auch eine ungeheure Zahl seiner Verehrer ans der
Umgegend. Und zwar machte das Glaubensbekenntniß dabei keinen
Unterschied. Katholische Frauen, in Trauer gekleidet, knieeten rings
um den Begräbnißplatz in stillem Gebete, und mehrere katholische
Geistliche saßen in ihrer Kirchenkleidung unter den protestantischen in
der Kirche. Und damit sein Werk nicht untergehe, wurden Beiträge
zu einer Stiftung, die Oberlins Namen führt, gesammelt.
453
206. Die Jahre 1816 und 1817.
Der Frühling des Jahrs 1816 kündigte sich mit heftigen Regen-
güssen an, welche mit schanerlichen Gewittern und Hagel, bei em- i
pkindlicher Kälte, den ganzen Sommer hindurch fortdauerten. Hatte
diese ungünstige Witterung zur Folge, daß fast sein Gewächs der
Erde zu seiner völligen Reife gelangte, so konnten noch dazu viele
Früchte wegen des frühe fallenden Schnees nicht einmal eingeheimst
werden. Auf der Alb vermoderten zwei Dritttheile der Haberernte \
unter Eis und Schnee. Das Getreide war kern - und mehlarm und
hatte keine nährende Kraft; die Kartoffeln, die Hauptnahrung der
ärmeren Leute, schlugen auf nie erhörte Weise fehl; die Trauben j
kamen nicht zur Zeitigung; die Futterkräuter, vou der Nässe ver-
dorben, gaben auch dem Vieh schlechte und sogar schädliche Nahrung.
Das Vieh wurde deßwegen mager und häufig krank, und bald hatte
man auch kein gutes Fleisch mehr.
So stieg in kurzer Zeit das Elend zu einer furchtbaren Höhe;
eine unerhörte Theurung aller Lebensmittel trat ein. Völlig unge-
nießbarer Wein kostete siebzig bis achtzig Gulden der Eimer, ein
mittlerer hundert und fünfzig und ein guter zweihundert und fünfzig
Gulden. Der Scheffel Dinkel wurde zu Tübingen für vierzig Gulden,
die Gerste zu sechs ltub sechzig Gulden, der Scheffel Kernen zu Ried-
lingen für vier und achtzig, zu Göppingen für ein und neunzig, zu
Metzingen für sechs und neunzig Gulden verkauft. Der achtpfündige
Laib Brod kostete zu Tübingen zwei Gulden und sechzehn Kreuzer,
das Pfund Butter galt dreißig bis vierzig Kreuzer, ein junges Huhn
acht und vierzig Kreuzer, ein Pfund Rindfleisch siebzehn Kreuzer,
ein Ei zwei bis dritthalb Kreuzer, das Simri Kartoffeln vier
Gulden, das Pfund Mehl kostete mehr als ein Pfund Zucker. An
Brod von Kleie und Mehlstaub, oft sogar mit gemahlenem Stroh 1
und Sägspänen vermischt, waren die Armen noch froh; sie nahmen !
ihre Zuflucht zu Gras, Klee, Wurzeln und Heu; auch Pferdefleisch !
wurde gegessen; bei Rottweil sollen die Pferde auf Angern wieder
ausgegraben und verzehrt worden sein. )
Die Menschen wandelten wie Leichen umher; Hausen von Kin-
dern schrieen nach Brod. Viele raffte der langsame Hungertod hin-
weg. Die Verzweiflung trieb manches ehrlichen Hausvater zum Dieb-
stahl. Die Regierung that, was sie konnte, um dem Jammer zu
steuern. Eine strenge Sperre verhinderte jede Ausfuhr von Lebens- j
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Mitteln, auf dem Rhein wurden 78,672 Scheffel Getreide herbei-
geschafft, welches samt den auf den öffentlichen F-ruchtkästen noch vor-
rätigen Früchten in herabgesetzten Preisen verkauft wurde; es wurde
dem Wucher Einhalt gethan, alle Privatvorräthe von Getreide in
Beschlag genommen, für Bestellung der Saatfelder gesorgt, und die
Königin Katharina, diese edle Menschenfreundin und Wohlthäterin
der Armen, stiftete einen Verein, der sich die Unterstützung der Armen
durch Speiseanstalten, durch Beschäftigung und durch andere Mittel
zur Aufgabe machte, den Wohlthätigkeits-Verein.
Zum Glück setzte Gott selbst bald der Noth ein Ziel; die reich-
liche Ernte des Jahrs 1817 half dem Mangel ab. Mit welchen
Dankgefühlen alle Herzen erfüllt waren, als der erste Erntewagen
unter dem Geläute der Glocken, dem Lobgesang der Kinder und von
allen Einwohnern begleitet, mit Kränzen geschmückt, einzog, das wissen
diejenigen wohl, welchen jene Nothzeit noch im Andenken lebt.
207. Lied eines Armen.
Ich bin so gar ein armer Mann
Und gehe ganz allein;
Ich möchte wohl nur einmal noch
Recht frohen Muthes sein.
In meiner lieben Eltern Haus
War ich ein frohes Kind;
Der bittre Kummer ist mein Theil,
Seit sie begraben sind.
Der Reichen Gärten seh ich blühn,
Ich seh die goldne Saat;
Mein ist der unfruchtbare Weg,
Den Sorg und Mühe trat.
Doch weil' ich gern mit stillem Weh
In froher Menschen Schwarm,
Und wünscheIedem guten Tag,
So herzlich und so warm.
O reicher Gott! du ließest doch
Nicht ganz mich freudenleer;
Ein süßer Trost für alle Welt
Ergießt sich himmclher.
Noch steigt in jedem Dörflein ja
Dein heilig Haus empor;
Die Orgel und der Chorgesang
Ertönet jedem Ohr.
Noch leuchtet Sonne, Mond und Stern
So liebevoll auch mir,
Und wann die Abendglockc hallt,
Da red ich, Herr, mit dir.
Einst öffnet jedem Guten sich
Dein hoher Freudensaal,
Dann komm auch ich im Feierkleid
Und setze mich ans Mahl.
208. Sparsamkeit.
Spare was, so hast du was.
Wer glaubts? Und doch ists wahr: sparnichts, habnichts wohnen
unter einem Dach. Wie Manchem wäre wohl zu rathen, wenn er
das Seine wohl zu Rath halten könnte. Höre! Christus erübrigte bei
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die Speisung der 5000 Mann; er ließ aufbeben zwölf Körbe. Wirf
nicht weg, was übrig bleibt, und wärs nur ein Vröcklein. Kannst
du doch nicht mit aller deiner Macht dir ein Brösamlein zuwege
bringen! Verschwendet man die Gaben Gottes, so verschwinden sie.
Im Aufheben mehren sich die Brocken. Zerstreuen macht arm, sam-
meln macht reich. In einem jeden Bröcklein ist ein neuer Segen
Gottes, wenn mans in Acht nimmt. Wir sollen zwar für den mor-
genden Tag nicht sorgen; kommt Zeit, kommt Rath. Gibt Gott das
Leben, gibt er auch wohl Brod. Ohne Zugabe läßt er uns nimmer von
sich; doch soll man nicht denken, heut muß Alles auf sein. Nicht,
nicht; morgen will man auch essen. Gott hat so ein kleines Maß
nicht, daß er auf jeden Tag so viel zumesse, als wir eben verzehren
können. Ein reicher Gott ist er, und gibt uns allerlei reichlich zu
genießen. Er hat seine milde Hand nicht eben an einen Tag gebun-
den, sondern gibt oft in einem Tag einen Vorrath auf viele Jahre.
> Da spare was, so hast du was. Aber höre noch eins! Kargheit ist
keine Sparsamkeit. Denke nicht, ich will den Armen lassen hungrig
weggehen und mein Uebriges für mich und meine Jungen ersparen.
Die Armen sind Gottes Schatzkästlein, können dir das Deine am
besten verwahren. Was du an die Freunde Gottes wendest, ist nicht
verloren. Sie sind der rechte Brodkorb, in welchem dein Vorrath
nicht allein verwahrt, sondern auch vermehrt wird. Segne sie, so
segnest du dich selbst.
209. Führe uns nicht in Versuchung.*)
Er wachte gerne — manches Jahr
Hat ers ja so getrieben,
Ist unverdrossen immerdar
Ob seinem Werk geblieben,
Hat ehrlich Weib und Kind ernährt,
Sein spärlich Brod mit Dank verzehrt.
Doch jetzt — es übermannt die Noth
Des Annen redlich Ringen.
Kein Körnlein Frucht! Das theure Brod,
Kein Fleiß mags mehr erschwingen.
In Hoffnung wob er und Geduld,
Doch leise wob sich — Schuld zu Schuld.
*) Dieses Gedicht ist durch die Noth und Versuchung eines armen Webers bei Göppingen, wo-
von derselbe seinem Geistlichen erzählte, veranlaßt worden und hatte zur Folge, daß derselbe über
Litten und Verstehen erhielt, was er bedurfte.
Im tiefbeschneiten Dorf« macht
Der Wächter seine Rllnde;
Wie ruhts so still! wohl Niemand wacht,
. Zu hören seine Stunde?
Doch ja — ein Häuslein täuscht ihn nicht,
Hat wiederum das letzte Licht.
Ein armer Weber sitzt darin
In kalter Grub am Stuhle,
Bei trübem Licht, mit n-übem Sinn,
Abschwirrend Spul uni Spille;
Ob warm sie ringsum träuinen nun,
Der arme Weber darf nicht ruhn.
á.
JjLEjjBÜHLgh JL
456
Wohl schweigt der Kinder hungernd Flehn,
Gestillt von spätem Schlummer,
Ein holder Traum läßt Brod sie sehn,
Und lost der Mutter Kummer;
Des Vaters Sorge ab?r wacht
Noch in der kalten Mitternacht.
Da sitzt er an der feuchten Wand
Vor seinem Weberstuhle,
Und schießt noch ans der starren Hand
Schiffleiu mit der Spuhle.
Ob Faden sich zum Faden legt,
Kein Hoffen mehr sein Herz bewegt.
„Wenn ich das Stück auch fertig hab
„Und brings dem Händler morgen,
„So zieht er mir am Lohne ab
„Die Hälfte für sein Borgen;
„Und kaum mag reichen noch der Nest
„Zum Zins, um den man täglich preßt!" —
„Es hilft ja doch nichts!" höhnt ein
Geist
Der Hölle, ihn erbitternd.
Es schaudert ihn. Der Faden reißt.
Er knüpft ihn wieder zitternd.
Wer hilft dem Armen, daß ihm nicht
Des Gottvertrauens Faden bricht?
Und wieder fliisterts ihm ins Ohr:
„Ich wüßte Brod zu schaffen;
„Es gilt nun einmal, frommer Thor
„Erlisten und Erraffen!"
Da faßt die Höllenangst den Mann,
Er greift die Arbeit hastig an:
Das Schifflein fliegt, die Lade schlägt,
Die Schemel klavpen nieder,
Bis endlich spät der Sturm sich legt
Und Ruhe kehret wieder. —
Der Feind ist diesmal abgewehrt;
O helfet, eh er wiederkehrt!
Der Wächter kommt zum kleinen Haus
Auf letzter Runde wieder.
Da lischt des Webers Lampe aus;
Er legt sich betend nieder:
„Herr, gib uns unser täglich Brod,
„Erlös uns aus der Sünden Noth!"
Es hüllt die Nacht den Jammer ein,
Die Seufzer still verklingen.
Doch er, der hört der Naben Schreist:
Und ficht der Seelen Ringen,
Gott ruft: „Wer will mein Engel sein
Und geht mit Trost zur Hütte ein?"
210. Denk spräche.
Reiner Mund und treue Hand
Gehen durch das ganze Land.
Mit dein frommen Mann geht Gott und die Armut zu
Tische.
Faulheit geht langsam voran, Armut geschwind hintendrein.
Eine fette Küche macht einen magern Beutel.
Erspart ist so gut als erworben.
Selbstgesponnen, selbstgemacht,
Rein dabei, ist Bauerntracht.
Fleißiger Hansvater macht hurtig Gesinde.
Mancher sucht einen Pfennig und verbrennt dabei drei
Lichter.
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9. Wer sich nicht nach der Decke streckt,
Dem bleiben die Füße unbedeckt.
10. Wer zwei Hasen zugleich hetzt, fängt gar keinen.
11. Erst wachs, dann wag's.
12. Je mehr Kinder, je mehr Vaterunser..
13. Gottesdienst geht über Herrendienst.
14. Die Sünde muß ganz getödtet sein, oder sie tödtet dich
211. Pfarrer Flattich als Armenfrennd.
Flattich war zuerst Pfarrer bei einer Gemeinde, die fast aus lauter
armen Leuten bestand, weil dort der Boden gar schlecht, und also der
Ertrag des Acker- und Gartenbaues gar gering ist. Die Leute hatten
sich daher zum Theil gewöhnt, von Zeit zu Zeit in der Gegend herum-
zustreichen und zu betteln, weil das nach ihrem Bedüuken leichter war
und dabei mehr herauskam als beim Arbeiten. Flattich hatte kaum
diesen faulen Fleck an.seiner Gemeinde, die ihn übrigens gar gern hatte,
bemerkt, als er in seinen Predigten und in allen Ermahnungen, die
er bei seinen Besuchen in den Häusern und bei andern Gelegenheiten
den Einzelnen gab, ernstlich darauf drang: der wahre Christ soll und
dürfe nun einmal nicht betteln, sondern nu'isie im Vertrauen auf Gottes
Segen das Brod essen, das ihm Gott, sei es nun wenig oder viel,
für die Arbeit seiner Hände im Schweiß seines Angesichts beschere.
Die Leute schäniten sich endlich, wenigstens vor ihrem Pfarrer und
vor einander, wenn auch noch nicht vor dem lieben Gott, und liefen
nicht mehr aufs Betteln; dagegen schickten sie nun ihre Kinder in die
Dörfer und Häuser, wo ihnen früher eine Gabe gereicht worden, um
sich doch noch die alte Kundschaft beiläufig offen zu halten. Da das aber
der Pfarrer bemerkte, eiferte er noch viel stärker dawider, als ers vorhin
wider das Betteln der Alten gethan, und zeigte denen, daß sie jetzt in
eine doppelt so schwere Sünde verfallen wären; denn erstens bettelten
sie noch fort nach wie vor, und zweitens verführten sie ihre unschul-
digen Kinder zum Faulenzen, Schlecken und Laudstreichen und richteten
diese dadurch vielleicht aus Zeit und Ewigkeit zu Grunde.
Da kamen einmal nach der Predigt etliche solche arme Väter zu
ihm und sagten: „Ja, lieber Herr Pfarrer, sehe er nur einmal bei uns
-in unserenr Haushalt nach, wie klein und wie schlecht unser Stückchen
Feld ist, und sind doch die Kinder alle Tage hungrig und wollen essend
Der Pfarrer sagte: „Ihr Leute seht immer von eurem Stückchen
Ackerfeld nur die untere Sette an, und da seht ihr freilich nichts wie
Steine und dürre Erdenklöße. Seht aber nur auch einmal die obere
Seite davon an; das ist der Himmel, und der steht über eurem Stück-
lein Feldes gerade eben so groß und weit und breit da, als über unsers
gnädigen Herzogs Landen. Der liebe Gott hat nicht gesagt, ich will das
Viele segnen, daß es zulangen soll; mit so Wenigem, als der Michel da
ai f seinem Streiflein Feldes baut, laß ich mich nicht ein; sondern mit
steben Gersteubroden und ein wenig Fischlein speiste der Herr Christus
4000 Mann, und blieben noch sieben Körbe voll Brocken übrig, und
ein anderes Mal, wo nur fünf Brode da waren, speiste er gar 5000
Mann damit, und blieben doch noch zwölf Körbe voll Brocken übrig.
Wenn du recht aufmerkest, von welcher Seite deines Ackers eigentlich das
tägliche Brod und alles Gedeihen und Segen in demselben herkommt, so
wirst du bald sehen, daß Alles nicht von der untern, sondern von der
obern Seite kommt, und die ist, wie gesagt, bei deinem Feld eben so
viel werth, als bei des gnädigen Herzogs seinem Land. Wenn du also
betest und arbeitest und Gott vertraust, so wird dir dein kleines Stück
Land gerade eben so viel eintragen, als dem gnädigen Herzog sein großes,
nemlich so viel, daß du eben so gut kannst satt werden wie er, und
kannst eben so gut noch was davon übrig behalten wie er. Ihr Leute
haltets aber auch gar zu sehr mit dem Nimmerspar, besten Hauslehre
die ist: iß frisch darein, so lang du kannst, hast du Nichts mehr, so
haben doch andere Leute. Wenn die Ernte herein und etwa auch das
Ferkel geschlachtet ist, so zehrt ihr darauf los und kommt vor lauter
Essen nicht ordentlich zum Beten und Arbeiten. Und ists alle, so lauft
ihr vor fremde Thüren und bettelt; beim Betteln aber geht ohnehin das
Essen fort vom Morgen bis zum Abend. Der liebe Gott will fleißige
und getreue Knechte auch im Haushalten, und solchen segnet er auch
ihr Weniges reichlich, daß fle noch Andern davon geben können."
Den Leuten leuchtete das am Ende ein, und die Meisten von ihnen
baten ihren Geistlichen, er solle ihnen nur weiter gut rathen, wie stes
anzufangen hätten, um sich ordentlich und ehrlich durchzubringcn; das
Betteln sei ihnen jetzt selber entleidet, und die Kinder möchten auch nicht
gerne dran, seitdem der Herr Pfarrer in der Kinderlehre und in der
Winterschule so dagegen gesprochen.
Da gibt stch Flattich daran und geht in alle die einzelnen Hütten
hinein, überrechnets und überlegts mit jedem Hausvater, wie viel der
jährliche Ertrag sei, gibt dem einen guten Rath, wie er sein Grund-
459
stück besser in Aufnahme bringen solle, dem andern, wie er sich noch
sonst was dabei verdienen könne, vor allem macht er ihnen eine ordent-
liche Eintheilung und ist für dieses Jahr der Haus-, Hof- und Schatz-
meister für Alle.
Und der liebe Gott segnet sein Bemühen. Da nun das Jahr um
ist, hats bei Allen zugelangt, und ist bei Manchen noch etwas übrig
geblieben. Und die Leute sehen am Ende doch ein, daß beim Arbeiten
eben so viel herauskommt, als beim Betteln, und das Brod, das man
erarbeitet hat, schmeckt besser und ist gesünder, als das, was man er-
bettelt hat.
So hatte denn der liebe Flattich die Freude, eine Gemeinde, die
größtentheils aus herumstreichenden Leuten und zerlumpten Müßiggängern
bestand, nach wenig Jahren fast ganz in eine Gemeinde von ordentlichen,
rechtschaffenen Hausvätern umgewandelt zu sehen, die ihr ehrliches, täg-
liches Brod mit Dank gegen Gott aßen.
212. Haushaltungssorgen.
Findet sich in der Haushaltung schon Mangel, lass dichs
nicht erschrecken; siehe nur, dass du Christum bei dir habest
und nicht gottlos seiest, so will er aus Wasser Wein machen
und deinen Stand so segnen, dass du sollt genug haben, und
soll sich endlich finden, was man bedarf, ob es gleich eine Weile
mangelt und anstösst. Ich halte es ganz dafür, es sei kein Hand-
werker, der seiner Arbeit fleissig obliegt und gottesfürchtig ist,
wenn man ihm so viel Geldes auf einen Haufen auf den Tisch
vorschütte, wie viel er ein ganzes Jahr erarbeiten kann, der sich
damit getraue zu erhalten. Aber da geht Gottes Segen heim-
lich, dass man heute einen Pfennig, morgen wieder einen löset
und sich dermassen behilft, dass man Gottes Segen bei solchem
Haushalten spüren muss.
213. KNe Bibelgesellschaften.
Selig sind, die Gottes Wort hören und
bewahren. (Lnc. 11, 28.)
„Die Anfänge aller großen Werke Gottes", — sagt Johann
Wessel, ein Borläufer der Reformation, — „sind stets von geringen
Keimen ausgegangen; aus dem kleinsten Kern wächst der Feigenbaum
hervor; aus der Eichel wird die gewaltige Eiche."
460
Einen Beleg für die Wahrheit dieses Wortes gibt auch die Ge-
schichte der Bibelgesellschaften.
Ein armer Landpfarrer aus der ärmsten Gegend Englands kam
im Jahr 1804 zum Besuch nach London und bat bei der Gelegen-
heit einige christliche Freunde um eine Beisteuer, damit er sur die
dürftigsten seiner Gemeindeglieder Bibeln kaufen könnte. Diesen
Freunden fiel es bei dieser Gelegenheit aufs Herz, daß noch so viele
ihrer Mitmenschen' ohne Bibel seien. Sie wußten die Theilnahme
hiefür auch in weiteren Kreisen anzuregen, und weil man sich in
England schon damals gerne zur Erreichung von allerlei gemeinnützi-
gen Zwecken znsammenthat und gesellschaftliche Vereine gründete, so
wurde auch eine Gesellschaft zur Verbreitung der Bibel gestiftet: die
britische und ausländische Bibelgesellschaft.
Die Hanptthätigkeit dieser Gesellschaft ging und geht dahin, die
Bibeln um möglichst billigen Preis in der ganzen Wett, unter Christen,
Juden, Muhammedanern und Heiden auszubreiten. Dieser schöne Verein
hat nicht nur in England selbst tiefe Wurzeln geschlagen, sondern er
hat auch wie ein Baum von mächtigem Wuchs seine Aefte und Zweige
weithin über andere evangelische Länder der Erde hinausgestreckt.
Im Jahr 1847 zählte man in Großbritannien selbst 2663 große
und kleine Bibelvereine, an welche sich in den englischen Besitzungen
in Canada, Ost- und Westindien, Afrika und Australien noch 492
anschlössen. Zu diesen 3155 britischen Vereinen gesellten sich sechs
und fünfzig größere Bibelgesellschaften als bereits herangewachsene
Töchter der englischen Mnttergesellschaft, welche über das Festland
von Europa und Amerika zerstreut und wieder von zahlreichen klei-
neren Töchter^ umgeben sind.
In den vier ersten Jahren hat die britische Bibelgesellschaft
durchschnittlich je 20,000 Exemplare der Bibel verbreitet; im vierund
zwanzigsten Jahr ihres Bestehens waren es gerade 365,000, eben so
viel mal 1000 Bibeln, als Tage im Jahr, und im Jahr 1847 allem
betrug die Zahl der ausgegebenen Bibeln und Neuen Testamente
1,419,283 Exemplare.
Seil dem Jahr 1812 hat auch unser Württemberg seine Bibel-
gesellschaft. In diesem denkwürdigen Jahr des Kriegs und Gerichts
legten einige schlichte Bürger von Stuttgart dem damaligen König
Friedrich an seinem Geburtstag die Bitte .vor, eineu Verbuch mit
einem kleinen Bibelverein machen zu dürfen, um den Armen des
Lllndes so viel möglich durch Erleichterung der Bibelanschaffung für
--------__---------------------------7T^—m-----------------
461
sich und ihre Kinder unter die Arme zu greifen. Der König gewährte
das Gesuch. Das vorhandene Kapital zu diesem Unternehmen betrug
nur 2000 fl., welche die britische Bibelgesellschaft in London ihr
übermachen ließ. Anfangs wurde nur der Druck von 10,000 Bibeln
und 2000 Neuen Testamenten veranstaltet, und auch hiezu konnten
die Mittel schwer zusammengebracht werden. Und siehe, der Segen
Gottes war so sichtbar bei diesem Werk, daß die Gesellschaft im
Jahr 1848 bereits 534,507 Bibeln und Nene Testamente aufführen
konnte, welche bis dahin durch ihren Dienst in Württemberg ausge-
geben wurden. Das ist freilich schon eine hübsche Summe, und das
Samenkorn, das die englische Mnttergesellschast mit ihrem Geschenk
von 2000 fl. in den württembergischen Boden gelegt, hat fürwahr
reichlich getragen. Und doch verschwindet diese Summe fast ganz,
wenn wir hören, daß die Zahl der Bibeln, welche die englische Bibel-
gesellschaft bis zum Jahr 1847 verbreitet hat, die Höhe von 19,741,770
erreicht. Die sechs und fünfzig Töchtergesellschaften in den nicht bri-
tischen Ländern haben aber auch der Mutter wacker nachgeeifert und
bis dahin 11,207,086 Bibeln und Neue Testamente ausgegeben, und
so belauft sich die Aussaat von Bibeln und Bibeltheilen, welche durch
sämtliche Bibelgesellschaften vom Jahr 1804 bis zum Jahr 1847 in
der Welt ausgebreitet worden sind, auf nahezu ein und dreißig
Millionen, und das in mindestens hundert und achtzig verschiedenen
Sprachen und Mundarten.
Natürlich brauchen diese Bibelgesellschaften zu diesen ihren Lei-
stungen Geld, und zwar viel Geld; und das hat ihnen auch bis jetzt
nicht gefehlt. Im ersten Jahr war die Einnahme der britischen und
ausländischen Gesellschaft 719 Pfund Sterling (ä 12 fl.); im drei-
ßigsten betrug sie bereits hundert achtzig mal so viel; im Jahr
1847 war sie ungeachtet der großen Theurnng auf 117,440 Pfund,
also über 1,400,000 Gulden gestiegen. Die Gesamtausgabe dieser
Gesellschaft beträgt in den drei und vierzig Jahren ihres Bestehens
bis zum Jahr 1847 nicht weniger als 3,356,892 Pfund Sterling,
also über vierzig Millionen Gulden.
Das ist viel Geld! Aber wo kommt denn das alles her? —
Mit dielen großen Geldsummen, die da jährlich für diesen Zweck
zusammenfließen, geht es, wie mit den Wasserströmen: hundert und
aber hundert Bäche und Bächlein gießen da ihre Wasser zusammen,
und was das Schönste ist, sie thun das munter und lustig, ohne allen
Zwang und Drang. Ja, diese Millionen, welche jährlich für die
462
Verbreitung der Bibel zusammenkommen, werden nicht durch obrigkeit-
lichen Befehl zusammengepreßt, sondern fließen zusammen aus den
Händen derer, die gerne etwas von dem Ihrigen für eine Bibel geben,
damit das Wort Gottes denen, die es noch nicht zu schätzen wissen
oder nicht bezahlen können, recht wohlfeil oder auch ganz umsonst
gegeben werden möge. Reiche und Arme, Hohe und Niedere, Herr-
schaften und Dienstboten, Weiße und Farbige bieten sich dabei die
Hände. Da finden wir z. B. in den Rechnungen vom Jahr 1846
als eingenommen aufgeführt: 56,000 Pfund aus verkauften Bibeln,
über 33,000 Pfund aus Beiträgen größerer und kleinerer Hülfsvereine,
mehr als 8000 Pfund durch Vermächtnisse und Geschenke, und nahe
an 2,000 Pfund durch regelmäßige Jahresbeiträge. Da stehen Ge-
schenke von 100, 200, 300, Vermächtnisse von 100 bis 800 Pfund
neben kleineren Gaben, und manche schöne Summe ist aus den
Schillingen (a 36 kr.), Pfennigen (a 3 kr.), Halbpfennigen und
Farthings (Hellern) von Handwerkern und Bauersleuten, oft von
Wittwen und Kindern zusammengekommen. Manche befördern die
Sache dadurch, daß sie sich freiwillig zum Verkauf von Bibeln her-
geben. So stellten sich im Jahr 1817 in der englischen Fabrikftadt
Manchester zwei Fabrikmädchen des Abends gewöhnlich vor die Thüren
einer Fabrik und boten die Bibeln feil, die sie sich ans dem Bibel-
lager der Bibelgesellschaft geholt hatten. Auf solche Weise wurden
von diesen zwei Fabrikkindern allein gegen 2000 Bibeln und Neue
Testamente verkauft. — Männer, die den Werth des Wortes Gottes
am eigenen Herzen erfahren haben, entschließen sich, mit Bibeln zu
hausiren und durch gelegentliches Vorlesen und Gespräch die Leute
auf den kostbaren Schatz, der in der Bibel enthalten ist, hinzuweisen.
Man nennt sie Colporteure oder Bibelträger, Bibelhausirer.
„Was für ein wunderlicher Postmann bist du geworden!" —
rief vor einiger Zeit ein Schiffer dem holländischen Bibelträger van
Dorp zu, als er ihn mit seinem Bibelsack auf dem Rücken an sich
vorübergehen sah. „Ich bin ein höherer Postmann worden", antwor-
tete dieser, „als es irgend einen auf Erden gibt; ich trage Briefe
vom Himmel aus, und für dich hab ich auch einen." —
Hunderte von solchen Briefträgern durchziehen die Länder und
bieten allenthalben das Wort des Lebens an. Bei den fernsten Völ-
kern findet es nach und nach Zutritt. Aus dem fernen Neuseeland
(einer Doppelinsel in der Südsee, etwa so groß, als England, Schott-
land und Irland zusammengenommen), wohin zehn Kisten mit Bibeln
463
in der Sprache der Neuseeländer abgegangen waren, schreibt ein
christlicher Prediger im Jahr 1846: Ich reiste kürzlich 800 (englische)
Meilen und fand allenthalben, daß die Landeseingeborenen im Besitz
von Neuen Testamenten waren und täglich in der Stille für sich darin
lasen, um über ihren wichtigen Inhalt nachzudenken. Zudem kommen
beinahe alle Einwohner der Dörfer zweimal des Tages zusammen,
um das Buch Gottes sich öffentlich vorlesen zu lassen, wobei sie aller-
lei Fragen vorlegen und sich Auskunft darüber erbitten. Das sind
Leute, die noch vor wenigen Jahrzehnten ihre gefangenen Feinde
geschlachtet, gebraten und aufgefressen haben.
Auch der armen Blinden hat die fleißige Bibelgesellschaft nicht
vergessen. Sie hat die Evangelien und andere biblische Bücher so
drucken lassen, daß die Leute, welche das Wort nicht mit den Augen
zu lesen im Stande sind, dies nun mit ihren Fingern thun können.
Ein Blinder in Neuwürttemberg erhielt im Jahr 1846 zum Neujahr
einen Psalter mit erhabener Schrift. Obgleich der Tastsinn seiner
Hände früherhin durch Frost gelitten hatte, las er doch so fleißig
darin, daß er in kurzer Zeit die fünfzig Psalmen des ersten Bandes
auswendig wußte. Einer blinden Fran in England wollten nicht
einmal die Finger mehr zum Lesen ihren Dienst thnn; denn die Haut
au ihren Fingerspitzen war durch Spinnen und andere Handarbeiten,
mit denen sie sich ehrlich durchzubringen suchte, so rauh und grob
geworden, daß sie die Buchstaben mM recht durchfühlen konnte. Sie
suchte mit einem Messer die harte Haut zu entfernen, aber vergebens;
sie verwundete nur darüber einen Finger. Indem sie mit demselben
an den Mund fährt, den Schmerz zu lindern, wird sie inne, daß die
Haut ihrer Lippen ja viel weicher und zarter sei. Sie versucht nun,
ob sie nicht mit den Lippen die Buchstaben besser erkennen und durch-
fühlen könnte, und siehe da! es gelingt ihr so mit Hülfe der Lippen,
die sie über den Linien hinbewegte, vollständig lesen zu lernen. So
schlürfte sie nun mit durstigen Zügen unmittelbar an der Lebensquelle
das Wasser, auf das, wie der Herr sagt, einen nimmermehr dürstet.
Die britische und ausländische Bibelgesellschaft hat in drei und
vierzig Jahren ihres Bestehens mindestens eben so vielen Exemplaren
der Bibel das Dalein gegeben, als vor ihrer Entstehung je in der
Welt geschrieben und gedruckt worden sind. Und dei^wch muß man
auch bei dieser großen Thätigkeit der Bibelgesellschaften immer noch
sagen: „Was ist das unter so Viele?" — Denn man kann an-
nehmen, daß kaum erst der zwölfte Theil der gesamten Menschheit
464
mit der Bibel versehen ist. — Die Erde ist von ungefähr 1000 Mil-
lionen Menschen bewohnt, von denen noch etwa 5 — 600 Millionen
im Heidenthum leben. Wollte man auch nur unter eine Million
Menschen täglich hundert Bibeln vertheilen, so brauchte man schon ein
volles Menschenalter, etwa drei und dreißig Jahre. Für dreißig
Millionen reichte schon Methusalahs Alter nicht mehr recht zu, und
bis man alle 6OO Millionen Heiden unter obiger Bedingung mit
Bibeln versehen hätte, wobei wir für das Jahr nur drei hundert
Arbeitstage annehmen wollen, — wer kann das schnell im Kopf aus-
rechnen, wie viel Jahre hiezu erforderlich wären?
Wem bei einer solchen Rechnung bange werden will, der denke
doch nur zurück an den kleinen Anfang der nun schon so weit ver-
zweigten Bibelgesellschaft. Wer hätte diesem Pflänzlein in weniger
als fünf Jahrzehnten einen solchen Wuchs versprechen mögen? Es
wirken bei der Ausbreitung des Wortes Gottes Kräfte mit, die sich
nicht durch Mehren und Theilen nach der Rechenkunst bemessen lassen.
— „Er sendet seine Rede auf Erden; sein Wort läuft
schnell." (Pf. 147, 15.)
214. Die Misstoy.
Der Acker ist die Welt. (Matth. 13, 38.)
Das Wort Mission bedeutet so viel als Sendung. Man
bezeichnet damit namentlich die Ausbreitung des Christenthums unter
nichtchristlichen Völkern durch Aussendung von christlichen Predigern
und Lehrern, die man eben deßwegen Missionäre, d. i. Sendboten,
nennt. Die Mission ist so alt als das Christenthum. Jesus selbst
wählte sich in seinen zwölf Jüngern zwölf Apostel, d. h. Missionäre
oder Sendboten; und ehe er gen Himmel fuhr, hinterließ er den treu
gebliebenen Elfen den Befehl: „Gehet hin in alle Welt und prediget
das Evangelium aller Kreatur." (Marci 16, 15.) Das haben sie
denn auch gethan und getreu ihrem Misstonsberuf das Wort des
Lebens unter Juden und Heiden verkündigt. Wo einmal christliche
Gemeinden gebildet waren, da dachten sie in der Regel auch auf
Weiterverbreitung der Wahrheit, die sie selbst selig machte. So
wurden z. B. aus den Propheten und Lehrern der Gemeinde zu
Antiochien in Syrien Paulus und Barnabas zum Missionsdienst aus-
gesondert. (Apostelgesch. 13.)
465
In der That hängt die Mission mit der Bestimmung der Kirche
Christi so eng zusammen, daß man sagen kann: die Kirche ist selbst
eine Missionsanstalt, welche Botschaft hat für alle Welt, und sie hat
diese ihre Missionsanfgabe auch in den Zeiten ihrer größten Ent-
artung nie ganz vergessen.
Ein Ueberblick über die achtzehn Jahrhunderte ihres Bestehens
bis in unsere Tage herein mag dies beweisen.
Das erste Jahrhundert that die größten Schritte in der Eroberung
der Länder für Christum. Anhebend zu Jerusalem schritt die Kirche
Christi nach Syrien, Kleinasien, Egypten, gegen Osten nach Baby-
lonien fort. Sie pflanzte sich in Europa auf, von wo sie Thracien,
Macedonien, Griechenland, Jllvrien und Italien mit der Predigt des
Evangeliums erfüllte.
Das war die jugendliche Blüthezeit, das apostolische Zeitalter
der Kirche und Mission.
Im zweiten Jahrhundert wurde Gallien (das jetzige Frankreich)
von der seligmachenden Predigt durchschritten, und diese wurde damals,
ja vielleicht schon ziemlich früher nach Britannien (dem heutigen Eng-
land) und Spanien verpflanzt. Das nördliche Afrika mit seiner be-
rühmten Hauptstadt Karthago beugte sich unter die sanfte Macht des
Evangeliums. Im Osten drang das Wort Christi nach den Ländern
des Euphrats; und selbst nach Indien, oder doch in die angrenzenden
Länder soll es erklungen sein.
Das dritte Jahrhundert ist durch keinen Siegesschritt der Kirche
in neue Länder ausgezeichnet. Wohl aber war es eine Zeit stiller
Ausbreitung innerhalb der bereits umzogenen Grenzen, in welchen
immer noch die Heiden die Neberzahl bildeten. Aber die freie, freu-
dige Missionsflamme war schon gesunken; denn die Kirche hatte ange- j
fangen, an innerer Kraft zu verlieren durch ihre Mischung mit dem
Heidenthum.
Mit diesem Jahrhundert schließt die frische Jugend der Kirche
und Mission. Es beginnen die Jahrhunderte, da nicht mehr das
lautere Evangelium verklärend an die Nationen überging, sondern
die Kirche mit all ihren Krankheiten und Einseitigkeiten an die Völker
kam. Die Zeit der lebendigen Bekehrungen einzelner Seelen war
vorüber, und es galt nun meist die Annahme der christlichen Form
durch Fürsten und Nationen.
Im vierten Jahrhundert gewann das Christenthum den Sieg
über das Heidenthum gegen Morgen in Armenien, drang in Persien
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466
weiter vor, siedelte sich gegen Mittag in Arabien und Aethiopien an,
besiegte gegen Abend das kräftige Volk der Westgothen und wurde
herrschend in England. Im fünften und sechsten wurden deutsche
Völker dem Namen nach bekehrt: die Franken, Alemannen, Angel-
sachsen. Zugleich wurde Irland durch Patrik gewonnenj und die aus
Asien vorgedrungenen Barbaren am schwarzen Meer nahmen seine
äußere Gestatt an. Langsam nur und in geringem Grade konnte sich
durch die äußerliche Form das Wesen und innere Leben herausarbeiten.
Dennoch drang es durch, und ein neuer Frühling blühte im Norden,
während der Süden jetzt durch den Todeshauch des Islam ober
Muhammedanismus erstarrte, oder im Pabftthum festgebunden lag.
Es sind abermals drei Jahrhunderte, den drei ersten sehr ungleich,
vorüber.
Mit dem siebenten Jahrhundert sehen wir die Blüthen des nor-
dischen Frühlings sich öffnen. Jetzt strömen aus England, Schottland
und Irland Mönche und Geistliche als Sendboten des Evangeliums
aus. Das Festland Europas ist ihr Ziel, damals ein eben so gefähr-
licher Boden, als es vor dreißig Jahren Neuseeland war. Es folgen
drei Jahrhunderte der Missionsarbeit unter den deutschen Stämmen.
Da wirken ein Gallus, Magnus, Fridolin, ein Bonisacins, Willibrod
und andere Boten des Friedens, zwar von dem römischen Stuhl er-
muntert und geehrt, aber wieder mehr als ihre Vorgänger im echten
Missionsgeist. Deutschland und die Schweiz, Holland und Belgien
find der Schauplatz ihrer Wirksamkeit. Auch in der morgenländischen
Kirche erwacht zu gleicher Zeit ein heiliges Feuer der Liebe Christi.
Von den syrischen Christen oder Nestorianern und ihrer Missionsschule
zu Edessa gehen Sendboten nach Persien, ins Herz von Asien zu den
Tartarenhorden, bis nach China und Indien.
Neue Jahrhunderte der Kirche sind durchlebt, und die dunkelste
Zeit derselben bricht an. Selbst in dieser aber wirkte das Christen-
thum noch zur Bekehrung der slavischen Völker in Polen, Ungarn,
Rußland, in Pommern, Preußen, Liefland und Litthauen, und der
nordischen Stämme in Norwegen, Finnland, ja bis hinüber nach dem
fernen Grönland.
Das heidnische Verderben der Kirche, das im fünfzehnten Jahr-
hundert seinen Gipfel erreichte, spiegelte sich auch in der jetzt auf-
kommenden Missionsweise. Man fragte nicht mehr nach der Seele
und ihrer Rettung durch den Glauben, sondern der Heide war der
greulichste Ketzer, dem Blutgericht der Kirche verfallen. Das neu-
467
entdeckte Amerika wurde der jammervolle Schauplatz einer Mission mit
Scheiterhaufen und Schwert. Man mußte wünschen, daß ein solches
Christenthum den Heiden erlassen bleibe; denn ihre Früchte waren
besser, als die der Christen. Da erbarmte sich Gott über die Welt,
und in der segensreichen Reformation des sechzehnten Jahrhunderts
trat das lebendigmachende Evangelium in seiner Gotteskraft wieder
ans Licht. Deutschland zuerst, dann die Schweiz und England nebst
Holland, Dänemark und Schweden wurden davon beleuchtet. Man
las wieder die Bibel, man wußte wieder, was Christus gesagt hatte,
und was im Alten und Neuen Testament von den Heiden und ihrer
Bekehrung steht. Ein besserer Lebenshauch ging auch über die katho-
lische Kirche, und die Missionen der Jesuiten waren weit edler und
gesegneter, als die Mordbekehrungen an den Indianern Amerikas.
Sie schritten in die Ostwelt nach Indien, China und Japan, in die
Westwelt nach Südamerika, und gewannen, freilich aber mit gefälliger
Anschmiegung an das Heidenthum, Hunderttausende für die Kirche
Roms; aber sie bekehrten auch nicht wenige Seelen wahrhaftig zu
Christo. Die evangelische Kirche rang um ihr Dasein, und nur an
ihrem südlichen und nördlichen Ende gab sie ihr erstes Lebenszeichen
für die Heidenwelt, indem im Jahr 1556 vierzehn Sendboten von
Genf aus nach Südamerika sich wendeten, von Schweden aber drei
Jahre später ein Missionar nach Lappland zog. Es war das Jahr-
hundert der neuen Grundlegung der Kirche. Ihm folgte das Jahr-
hundert der Vorbereitung der Mission, das siebzehnte. Dieses war
freilich auch die Zeit der todten Rechtgläubigkeit; die Kirche baute
ihre Schanzen und Brustwehren gegen die Sekten und gegen Rom,
und im Geschäft dieses Baues waren nur wenige Augen offen für
die Noth der Heiden. Jenseits des Weltmeers predigten Colonisten,
die um ihres Glaubens willen aus England vertrieben worden waren,
das Evangelium. Da erfochten Eliot und Mayhew ihre herrlichen
Siege unter den kriegerischen Indianern Nordamerikas. n.-t
In Ceylon und auf den moluckischen Inseln bekehrten die Hol-
länder durch Staatsbefehle die Völker, und ein großer Haufe vow
Christenheiden ward gesammelt. In England entstand im Jahr 1617.
eine Gesellschaft für Heidenbekehrung, die erste dieser Art/. Auch
Bibelübersetzungen in die Sprache der Araber, Malayewiünd Indianer
wurden begonnen. ins sitf , nsssalchs
Das achtzehnte Jahrhundert war die Zeit der Verbindung für
die Mission, und bis in unsere Tage herein erstreckt sich sein Wirken.
30 *
468
Seit dem Anfang dieses Jahrhunderts entstanden zu London, Kopen-
hagen und Halle Missionsgesellschaften. Die Brüdergemeine wurde
hierauf die gesegnetste Trägerin des Missionslebens in der Kirche.
Im Jahr 1732 eilten ihre ersten Boten nach Westindien, und zehn
Jahre später hatte sie schon in verschiedenen Theilen Amerikas, Afri-
kas und Asiens, wie auch in Lappland, das Wort Gottes verkündigt.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lagen bereits so viele Proben
von der Kraft der einfältigen Predigt vor Augen, daß nun Schlag
auf Schlag die Vereine sich bildeten, denen seitdem so viel Segen
und Sieg unter den Heiden gegeben ward: so namentlich 1795 die
große Londoner Misstonsgesellschaft, welche die Gründung der meisten
anderen veranlaßte und die bedeutendsten Summen aufwendete.
So rücken wir denn in unser eigenes Jahrhundert, das neun-
zehnte, herüber, das wir die Zeit der Missionsunternehmung und des
Missionssiegs nennen können. In rascher Aufeinanderfolge bildeten
sich neue Missionsgesellschaften und Missionsschulen, wie in Basel (im
Jahr 1816), in Berlin (1824), und noch viele andere in und außer
Deutschland. — Am Eingang dieses Jahrhunderts stehen, wie die
heilverkündenden Wächter seiner Pforte, zwei große Vereine. Der
eine ist die Tractatgesellschaft, im Jahre 1799 gegründet, die in wohl
hundert und fünfzig Sprachen der Erde über hundert Millionen klei-
nerer und größerer Schriften zu christlicher Erbauung und evangeli-
schem Unterricht gedruckt und vertheilt hat; der andere wurde im
Jahr 1804 errichtet: die britische und ausländische Bibelgesellschaft.
Dieselbe hat die Bibel zum wohlfeilsten Buch gemacht und den
Missionsgesellschaften von Ansang an aufs beste in die Hand gear-
beitet.
Dieser Ueberblick zeigt zur Genüge, wie die christliche Kirche
wirklich sich zu allen Zeiten als eine Missionsanstalt angesehen und
aus kleinem, senfkornartigem Anfang ihre Zweige immer weiter aus-
gebreitet hat. Jetzt, gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts,
schlägt man die Zahl sämtlicher Bekenner des Christenthums auf
wenigstens drei hundert Millionen Seelen an. Wie viele wird man
am Schluß desselben zählen dürfen?
Gar bedeutsam haben sich in Deutschland, in England, in Nord-
amerika an die Gesellschaften zur Bekehrung der Heiden auch solche
angeschlossen, die für die Bekehrung des Volks Israel thätig sind.
Der geistige Geburtsort der Judenmission ist eigentlich das Kloster
Bebenhausen bei Tübingen. Hier hatte nemlich der Stifter des Hallt-
469
scheu Waisenhauses, August Hermann Franke, den greisen Prälaten
Hochstetter besucht. Dieser sagte unter Anderem zu Franke: „Einen
dreifachen Wunsch habe ich immer meinem Gott vorgetragen: er-
stens, daß doch der Herr eine neue Ausgießung des Geistes über
unsere deutsche Christeuheit schicken wolle; zum andern, daß er Ar-
beiter in das weite Feld der Heiden senden wolle; zum dritten,
daß auch erbarmende Herzen an den Weinberg Israels denken möch-
ten. Die beiden ersten Gebete hat mein Herr in Gnaden erhört.
Ach daß doch auch mein letzter Wunsch noch möchte in Erfüllung
gehen!" Franke nahm das Wort des alten Beters zu Herzen,
erzählte davon in Halle seinen Studenten, und hier fand es im
Herzen eines jungen Mannes, Namens Callenberg, einen empfäng-
lichen Boden. Im Jahr 1728 ward das jüdische Institut Callen-
bergs gegründet, von dem die ersten Missionäre unter die Juden
ausgegangen sind, unter diesen der unermüdliche Stephan Schultz.
Durch die Mission unter dem Volk Israel bekommt erst das
ganze Missionswerk seinen Schluß, wenn die Fülle der Heiden (Röm.
11, 25.) eingeht, und Israel mit seiner Fluch- und Rettungs-
geschichte als mächtiges Prediger- und Zeugenvolk zugerichtet wird.
Denn die Mission hat ein großes Ziel: das Reich Gottes auf
Erden, den Sieg über die Heidenmacht, die große seit Jahrtausen-
den verheißene Ausgießung des heiligen Geistes über alles Fleisch.
215. Stand der Mifstonsarbeit im Jahr 1848.
Während in dem verhängnißvollen Jahr 1848 durch die meisten
Länder der alten Christenheit ein Sturm hintoble, der Alles, was bis
daher feststand, umzustürzen drohte, wurde mit geräuschlosem Eifer an
dem Reiche Christi unter den Heiden weitergebaut. 35 Missio.ns-
gesellschaften der evangelischen Kirche zogen an dem Retz (Matth.
13, 47.) und zwar in 70 Sprachgebieten der Heidenwelt. Die Zahl
der Arbeiter und Arbeiterinnen, die zu diesem Zweck aus der evan-
gelischen Christenheit ausgezogen waren, und als Säeleute und
Schnitter im Felde standen, betrug mindestens 2500. Unter der Lei-
tung dieser Missionäre standen etwa 3400 Nationalgehülfen, die durch
den Dienst der Mission selbst zur Erkenntniß Christi geführt worden
waren. Diese 5900 Arbeiter wirkten auf 1443 Stationen durch
Predigen, durch Unterredungen, durch Unterweisung der Jugend, Ver-
breitung der heiligen Schrift und was sonst zu Christo führen mag.
470
„Aber wer sendet diese Leute aus? Wer erhält sie draußen in
den fernen und oft noch gar nnwirthlichen Ländern? Wer baut für
den ersten Anfang die Kapellen, die Schulen, die Wohnungen der
Missionäre?" — Das.geschieht nun eben von den Missionsgesell-
schaften. Diese sorgen zunächst für die gehörige Vorbildung tüchtiger
Leute in Missionsschulen. So hat die Gesellschaft zu Basel eine
solche Missionsschule, in der die jungen Männer, welche sich dem
Missionsdienste widmen, sechs Jahre bleiben. Zwei Jahre bringen sie
in der Vor- und Prüfungsanstalt zu, wo sie hauptsächlich zu
gründlicher Kenntniß der deutschen Bibel und ihres reichen Inhalts
angeleitet werden. Haben sie sich nach Sinn und Gaben bewährt,
so treten sie dann auf vier weitere Jahre in die eigentliche Missions-
anstalt, wo sie sich mit den Grundsprachen der heiligen Schrift, dann
mit der lateinischen, arabischen und englischen Sprache, mit Welt-
und Kirchengeschichte, mit der Glaubens- und Sittenlehre, mit der
Geschichte der heidnischen Religionen und dergl. beschäftigen, auch sich
im Schulhalten und Predigen üben. Jede der sechs Klassen enthält
zehn Zöglinge, und sämtliche sechzig Zöglinge empfangen ihren Un-
terricht von sechs Lehrern. Die Zahl der also in Basel vorbereiteten
Arbeiter auf dem Misstonsfelde beträgt in den zwei und dreißig Jahren
bis 1848 im Ganzen 226; unter diesen besteht die größere Hälfte,
nemlich 133, aus Württembergern.
Die Missionsgesellschaften versehen dann aber auch die Männer,
welche Leib und Leben an die Rettung ihrer heidnischen Brüder setzen
wollen, im Leiblichen mit Allem, was für ihren Beruf nothwendig ist:
sie bezahlen die Vorbildung und Ausrüstung, sie bestreiten das oft
gar theure Reisegeld, daß sie hin in die Heidenländer kommen, und
sorgen auch in diesen noch so lange für ihren Unterhalt, bis aus
den Heiden nach und nach eine solche Anzahl von Christen herange-
zogen ist, welche die Sorge für Kirche und Schule selbst übernehmen
kann.
Außer den 35 Gesellschaften für Heidenmission zeigte uns aber
das Jahr 1848 auch noch drei besondere Gesellschaften für die Ver-
breitung des Evangeliums unter den Juden, und drei jener Heiden-
missionsgesellschaften betrieben auch daneben die Judenmission. Diese
sechs Gesellschaften hatten zusammen 107 Arbeiter im Felde, die von
48 Stationen aus den zerstreuten Schafen vom Hause Israel nach-
gingen. Der Kostenaufwand hiefür, der im mehrgenannten Jahre
mindestens 379,217 Gulden betrug, wurde durch den Erfolg der Ar-
471
beit reichlich belohnt. Waren doch unter den Judenmissionären des
Jahres 1847 schon allein 45 getaufte Juden.
Und wie steht es denn mit den Heiden? Was ist die Frucht
der Missionsarbeit an ihnen?
Sie haben nicht vergebens gearbeitet, die Tausende, welche aus-
gegangen sind von Vaterland und Freundschaft. Denn wenn man
die Zeit der eigentlichen ernsten Missionsarbeit etwa auf fünfzig Jahre
anschlägt, so kommt auf jedes dieser Jahre ein Gewinn von 10,000
Seelen, und das ist fürwahr kein geringer Preis für die aufgewen-
deten Opfer. Denn in der That läßt sich die Zahl der Heiden, die
schon bis zum Jahr 1347 durch den Dienst der evangelischen Mission
der Kirche Christi einverleibt worden sind, auf eine halbe Million, ja
genauer auf 672,000 Seelen anschlagen. Und doch ist im Grunde für
die Bekehrung der Heiden gerade so viel geschehen, um zu zeigen,
daß man mehr thun und daß man es bald thun müsse.
Heben wir aus der Menge der Heidenländer nur einige wenige
hervor als Zeugen für diese Behauptung. — Auf den zahlreichen
Inseln der Südsee war im Jahr 1800 noch nicht eine eingeborne
Christenseele. Alle Greuel des Heidenthums herrschten daselbst. Vor
36 Jahren wollte kein Schiffer es wagen, die ersten Missionäre auf
eine der dreizehn Sandwichsinseln zu bringen, weil die Eingebornen
Menschenfresser waren. Jetzt sind doU Zehntausende von Christen;
Tausende von Kindern, die sonst bald nach der Geburt getödtet wor-
den wären, genießen in den Schulen Unterricht, und mancher, der da
Schule hält, weiß noch recht gut, wie gebratenes Menschenfleisch
schmeckt.
Auf der Insel Tahiti ist das Christenthum vollständig eingeführt.
Bereits tragen Eingeborene die gute Botschaft auf andere Eilande
jenes großen Weltmeers. — Aber noch liegen Hunderte derselben hin
und her in der Wasserwüste, deren Bewohner in aller Wildheit und
Wüstheit des Heidenthums hinleben. Als der englische Missionär
Williams, den man den Apostel der Südsee genannt hat, im Jahr
1841 die Bewohner von Erromanga, einer der Neu - Hebriden-
Jnseln, zum erstenmal mit dem Gruß des Friedens grüßte, dankte
man ihm mit der mörderischen Keule und schlug ihn zum Märtyrer.
Im Festlande von Asien zieht vor allem China den Blick auf
sich, das größte Reich der Erde, von 360 Millionen Menschen be-
wohnt. Hier ist eine Menscheuwelt, von welcher jeden Monat eine
Million unsterblicher Seelen ohne das Licht der christlichen Wahrheit
J
472
in die Ewigkeit hinübertritt. Ein volles Jahrtausend würde über der
Bekehrung Chinas verfließen, auch wenn jeden Tag tausend Chinesen
bekehrt würden. Dieses ungeheure Reich war für die Mission ver-
schlossen. Lange stand die evangelische Christenheit demselben fast nicht
anders als betend gegenüber. Der deutsche Missionär Gützlaff wagte
einige Besuche au den Küsten des nngeheuren Landes, aber ohne
großen Erfolg. Da wurde endlich der sogenannte Opiumkrieg,'den
die Engländer mit China wegen des Handels mit Opium im Jahr
1844 führten, das Mittel, daß fünf Seehäfen des seit Jahrhnnder-
ten verschlossenen Landes für die Ausländer geöffnet wurden. Die
Sendboten eilten nun von allen Seiten herbei, von England, von
Nordamerika, von Basel her; auch werden Neue Testamente und
Tractate reichlich verbreitet. Ein Erlaß des Kaisers gab die Erlaub-
niß zur Annahme des Christenthums im ganzen Reiche. So steht
nun in China das Feld offen für die Schnitter; aber wie groß ist
die Ernte! und wie wenig sind der Arbeiter!
In Ostindien sind bereits ganze christliche Dörfer, und Hundert-
tausende haben das Wort von Christo gehört. Der Einfluß der
Mission hat es bereits dahin gebracht, daß die abscheuliche Unsitte
des Kindermords und der Wittwenverbrennuug abgeschafft wurde.
Vielleicht 100,000 Kindern wird dadurch jährlich das Leben gerettet,
mindestens 8000 Wittwen werden jedes Jahr dem schauderhaften
Feuertod entrissen. Die Missionsarbeit in Indien lohnt sich mit
jedem Jahr mehr. Aber dennoch ist unter den hundert fünfzig
Millionen, welche in diesem herrlichen Lande leben, noch unendlich
viel zu thun!
Afrika, welch ein Arbeitsfeld! DaS ganze innere Afrika, über
tausend Reisestunden weit vom Norden nach Süden, ist noch uner-
forschtes Land. Nur am westlichen Rande sind etliche lichte Punkte,
z. B. Sierra Leone, von Tausenden befreiter Sklaven bewohnt, unter
denen das Evangelium seine Segnungen ausbreitet. Damit ist nun
auch an der öfflichen Küste ein Anfang gemacht. Sonst herrscht noch
dicke Finsterniß unter den Bewohnern. Krokodilen, Schlangen, Tigern
dient man als Göttern und bringt ihnen grausam geschlachtete Men-
schen züm Opfer. Ost läßt ein König Hunderte seiner Unterthanen
den Götzen schlachten. Doch die ärgste Geißel für diese schwarzen
Nachkommen des Ham ist der Negerhandel, der immer noch von so-
genannten Christen betrieben wird. Afrika verliert dadurch jährlich
etwa eine halbe Million seiner Einwohner. Zur Abschaffung dieses
schändlichen Gewerbes ist nur die Verbreitung des Evangeliums stark
genug. — In Südafrika hat das Christenthum schon herrliche Siege
erfochten unter den Hottentotten, Buschmännern, Kaffern, Namagua,
Grigua, Betschuanen u. a. Aber gleich zu seiner östlichen Seite
streckt sich die Insel Madagaskar hin, nicht viel kleiner als ganz
Deutschland. Hier hat eine grausame Königin den Lauf des Evan-
geliums aufgehalten) Märtyrerblut ist reichlich geflossen; die Prediger
sind verjagt; — und doch hat sich eine Schaar von Christen auch
während der Verfolgung bisher im Lande erhalten. Selbst der ein-
zige Sohn der Königin hat sich zu ihnen geschlagen, ebenso der Neffe
ihres Hauptministers. „Warum gehorchst du meinen Befehlen nicht,
Bursche? Du wirst deinen Kopf verlieren; denn ich sehe, daß du es
mit den Christen hältst!" so fuhr den jungen Mann der erzürnte
Oheim an. „Ja, mein Oheim", war des Neffen Antwort, „ich bin
ein Christ, und wenn ihr wollet, so nehmet mir das Leben; denn
ich bete."
Die Aufgabe der Mission den Heiden gegenüber — das leuchtet
aus allem dem wohl jedem Kinde ein — ist noch groß, riesengroß.
Da sollten wir uns alle auch das Wort des Missionshauptes, der
vom Himmel ist (Hebr. 8, 1.), gesagt sein lassen: Bittet den Herrn
der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende. (Matth. 9, 38.)
474
1. Zeittafel.
Jahre vor Christo.
4000 Adam.
2500 Sindfluth. Noah. - '
2000 Reiche der Egypter, Babylonier und Assyrer; die Hauptstädte Mem-
phis aul Nil, Babylon am Euphrat, Ninive am Tigris. Die Phöni-
zier am Mittelmeer; Seehandel von Sidon und Tyrus. Inder und
Chinesen in Ostasien.
2000 Abraham in Canaan.
Israeliten in Egypten.
1500 Moses; Gesetzgebung am Sinai.
Einwanderung in Griechenland; griechische Staaten.
1200 Die Griechen vor Troja.
1100 Samuel, Richter. Saul, König.
1050 David. Jerusalem Hauptstadt.
1000 Salomo. Tempelbau.
Homer.
975 Spaltung des israelitischen Reichs.
888 Lykurg in Sparta; Gesetzgebung.
Gründung Karthagos durch Phönizier.
753 Erbauung Roms; König Romulus.
Prophet Jesajas.
722 Zerstörung Samarias durch Salmanassar. Ende des Reiches Israel»
Asiyrische Gesangenschaft.
600 Solon; Verfassung für Athen. Die sieben Weisen Griechenlands.
588 Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar. Ende des Reiches Juda.
Babylonische Gesangenschaft. Jeremias. Ezechiel. Daniel.
560 Cyrus; Gründung des persischen Reichs. Crösus, König von Lydien.
536 Rückkehr eines Theils der Juden aus der Gefangenschaft. Tempelbau.
536 Persische Oberherrschaft.
510 Aufhebung der Königswürde in Rom, Republik; Consuln.
Kämpfe der Griechen mit den Persern:
490 Miltiades Lei Marathon; König Darms; und
480 Leonidas bei Thermopylä, Themistokles bei Salamis; König Serres.
450 Esra in Jerusalem; neue Ordnung der Gemeinde.
Athens Höhe unter Perikles : Seemacht. Kunst und Wissenschaft.
404 Ende des Kriegs zwischen Athen und Sparta, oder des peloponnesischen;
Athens Fall. Die Philosophen Sokrates und Plato.
370 Epaminondas; Thebens Macht.
350 Demosthenes in Athen; Reden gegen König Philipp von Mace-
Aristoteles, Philosoph; Apelles, Maler.
333 Alexander der Große, König von Makedonien. Zug nach Asien.
Untergang des persischen Reichs. Griechische Sitte in Asien.
320 Das makedonisch-griechische Reich in Auslösung. Ptolemäus , König
von Egypten; Alexandrien; die Juden unter egyptischer Herrschaft.
Seleukus, König von Syrien.
216 Sieg Hannibals bei Cannä.
202 Scipios Sieg bei Zama. Ende des zweiten Kriegs zwischen Rom und
Karthago, oder des zweiten punischen.
Die Juden unter syrischer Herrschaft.
167 Erhebung der Makkabäer gegen Antiochus Epiphanes.
146 Zerstörung Karthagos und Korinths durch die Römer.
101 Sieg des Marius über die Cimbern.
Marius und Sulla: römischer Bürgerkrieg.
63 Eroberung Jerusalems durch Pompejus; die Juden unter römischer
Oberherrschaft.
Cicero; Catilinarische Verschwörung.
55 Julius Cäsar: Eroberung Galliens; Kämpfe mit Deutschen; Landung
in Britannien.
Pompejus und Cäsar: römischer Bürgerkrieg.
Cäsars Macht. Julianischer Kalender.
39 Herodes, König über ganz Judäa.
30 Cäsar Octavianus, Alleinherrscher oder Kaiser Augustus. Weltherr-
schaft der Römer. Blüthezeit römischer Kunst und Wissenschaft. Schwel-
gerei der Römer.
20 Des Herodes Tempelbau.
donien
476
Geburt Jesu Christi.
Jahre nach Christo.
9 Hermannsschlacht.
14 Kaiser Tiberius.
33 Tod Jesu am Kreuze.
64 Kaiser Nero. Christenverfolgung in Rom. Die Apostel Petrus und
' Paulus in Nom. Brand Noms. *Vr
70 Kaiser Vespasian. Zerstörung Jerusalems durch Titus.
80 Kaiser Titus. Verschüttung Pompejis und Herculanums.
100 Kaiser Trajan. Das römische Reich in seiner größten Ausdehnung.
130 Kaiser Hadrian. Befestigung römischer Grenzen durch Wall und
Graben. Abermaliger Aufstand der Juden in Jerusalem und ihre Zer-
streuung in alle Welt.
150 Polykarp, Bischof von Smyrna.
200 Deutsche Völkerbünde: Sachsen an der Nordsee, Alemannen in Süd-
westdeutschland, Gothen am schwarzen Meer, Franken am Niederrhein.
Einfälle ins römische Reich.
Origenes von Alerandrien; Schristauslegung.
250 Allgemeine Christenverfolgung.
300 Kaiser Diocletian. Christenverfolgung. Der Einsiedler Antonius.
325 Kaiser Constantin der Große, Schutzherr der christlichen Kirche. Kirchen-
versammlung zu Nicäa.
Athanasius, der Kämpfer für die Lehre der Gottheit Christi.
330 Constantinopel Hauptstadt des römischen Reichs.
360 Julian, Besieger der Alemannen, letzter heidnischer Kaiser.
DaS Christenthum bei den Gothen. Des Ulphilas gothische Bibel-
übersetzung, das älteste deutsche Sprachdenkmal.
Wachsender Sieg des Christenthums über das Heidenthum.
Ambrosius, Erzbischof von Mailand; kirchliche Musik.
395 Theilung des römischen Reichs in das morgen- und abendländische.
Augustin, Bischof in Nordasrika, Bekämpfer des Pelagius.
410 Westgothen in Nom; Plünderung.
Attila, die Gottesgeißel, König der Hunnen.
450 Deutsche Völker im Besitze des Westens: Franken in Nord-
Gallien, Burgunder in Ost-Gallien, Westgothen in Süd-Gallien
und Spanien, Vandalen in Nordafrika, Angeln und Sachsen in Bri-
tannien.
451 Attilas Zug nach Gallien. Die Hunnenschlacht. Rückzug Attilas.
455 Vandalen in Rom; Plünderung.
477
3- n. Chr.
476 Entthronung des letzten weströmischen Kaisers; Odoaker, ein Deutscher,
König von Italien: Ende des römischen Kaiserthums im Abendland.
486 Gründung des fränkischen Reichs; König Chlodwig.
493 Ostgothisches Reich in Italien; König Theodorich.
496 Chlodwigs Sieg über die Alemannen. Das Christenthum beiden Franken.
527 Kaiser Jufttnian I. Gesetzbuch. Sophienkirche.
Benedict, Mönchsleben im Abendland.
553 Italien oströmische Provinz: Ende des ostgothischen Reichs. Belisar.
568 Longobardenreich in Italien: König Alboin.
600 Gregor I., der Große; Pabst. Das Christenthum bet den Angelsachsen.
Das Christenthum in Deutschland: Columban, Gallus.
622 Muhammeds Flucht.
640 Der Islam in Vorderasien und Egypten. Chalif Omar.
680 Kilian, Glaubensbote in Ostfranken.
741 Die Araber in Spanien.
732 Karl Martells Sieg über die Araber bei Poitiers.
Bonifacius, Apostel der Deutschen. Deutsche Bisthümer.
752 Pipin der Kleine, König der Franken.
Landschenkung an den Pabst; Kirchenstaat.
768 Karl der Große, König der Franken. Italien, fränkische Provinz:
Ende des Longobardenreichs.
Karls Kriege mit den Sachsen; das Christenthum bei den Sachsen.
Klosterschulen.
800 Karl der Große, römischer Kaiser. Reich Karls des Großen.
Das Chalifenreich, Bagdad.
843 Vertrag zu Verdun; Theilung des fränkischen Reichs. Deutschland';
König Ludwig der Deutsche.
Raubsahrten der Normannen.
900 Einfälle der Ungarn in Deutschland.
919 Sächsisches Kaiserhaus. König Heinrich I. Ummauerte Ortschaften.
933 Sieg Heinrichs über die Ungarn bei Merseburg.
936 Otto I., der Große. Slavenkriege. Deutsche Kolonien unter den
Slaven. Erzbisthum Magdeburg.
955 Ungarnschlacht auf dem Lechfeld; Ende der Ungarn-Einfälle.
962 Otto I., röm. Kaiser; das römische Reich deutscher Nation. Römerzüge.
Deutschlands Kultur und Handel im Aufblühen; Bergbau; Städte.
Das Christenthum in Dänemark und Polen.
Wisienschaft und Kunst der Araber in Spanien.
478
I. n Chr.
1000 Das Christenthum in Skandinavien, Ungarn, Rußland.
1024 Fränkisches Kaiserhaus.
1054 Dauernde Trennung der griechischen und römischen Kirche.
1066 Eroberung Englands durch die Normannen. Wilhelm der Eroberer.
107V Kaiser Heinrich IV. im Kampfe mit Pabst Gregor VII. Buße zu
Canossa. Das Pabstthum auf dem Wege zu seiner höchsten Macht.
Einschärfung des Gesetzes über die Ehelosigkeit der Geistlichen.
1096 Erster Kreuzzug. Peter v. Amiens. Gottfried von Bouillon.
1099 Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer. Königreich Jerusalem.
1138 Das Kaiserhaus der Hohenstaufen.
1152 Kaiser Friedrich I., Rothbart.
Herzog Heinrich oer Löwe, der Welfe.
Kampf des Kaisers mit den lombardischen Städten und mit dem Pabste.
1190 Dritter Krenzzug. Kaiser Friedrich I.; Philipp August II., König von
Frankreich; Richaro Löwenherz, König von England. Sultan Saladin
von Egypten. Orden der deutschen Ritter.
1200 -Ritterthum.
Der Dichter Walther von der Bogelweide.
Das Nibelungenlied.
Dschingiskhan, das Reich der Mongolen.
Pabst Jnnocenz III., der mächtigste unter beu Päbsten.
1209 Verfolgung der Albigenser und Waldenser. Inquisition. Die Orden
der Franziskaner und Dominikaner.
1215 Kaiser Friedrich II.; König von Sicilien.
Magna Charta oder der große Freiheitsbrief, die Grundlage der eng-
lischen Verfassung.
1250 Friedrichs II. Kampf mit den Päbsten; Bann. Zwischenreich.
1263 Hinrichtung Konradins, des letzten Hohenstaufen.
1273 Kai,er aus verschiedenen Häusern; Rudolph von Habsburg. Ende
des Zwischenreichs.
Das Herzogthum Oesterreich unter dem Hause Habsburg.
1300 Erfindung des Schießpulvers, des Linnenpapiers. Ausbreitung des
deutschen Hansabundes. Gothische Baukunst.
1308 Befreiung der Schweiz: Schweizerische Eidgenossenschaft.
1322 Kaiser Ludwig, Herzog von Bayern.; Sieg über Friedrich von Oester-
reich bei P?ühldorf.
1338 Kriege zwischen Frankreich und England.
1346 Kaiser Karl IV. von Luxemburg, König von Böhmen.
3. n. Chr.
1346 Stiftung der ersten deutschen UniversttLt zu Prag.
Der schwarze Tod. Die Geißlersahtten. Verfolgung der Juden.
1356 Die goldene Bulle: Festsetzuug der Rechte der Kurfürsten.
Wiklef in England, gegen die Mißbräuche der Kirche.
1373 Die große Kirchenspaltung: Päbste in Rom und Avignon.
Fauftrecht; Fürsten- und Ritter-Vereine; Städtebünde.
Der Meistergesang, die Volkslieder.
1386 Sieg der Schweizer bei Sempach. Arnold von Winkelried.
1400 Johannes Huß in Prag, gegen Mißbräuche der Kirche.
Drei Päbste.
4410 Käfter Sigismund.
1414 Kirchen Versammlung zu Constanz. Ende der großen Kirchenspaltung.
1415 Verbrennung von Huß.
1419 Hussitenkriege.
1438 Die Kaiserwürde beim Hause Habsburg.
1440 Johannes Guttenbeu; bewegliche Lettern. Buchdruckerkunst.
Thomas von Kempe-, ; das Buch von der Nachfolge Chriftr. Böh-
mische Brüder.
Italien, Mittelpunkt des europäftchen Handels, der Künste und Wissen-
schaften.
1453 Eroberung Constantiuopels durch die osmanischen Türken. Sultan
Muhammed II.
Ende des griechr,chen Kaiserthums.
Vertreibung der Engländer aus Frankreich.
1476 Sieg der Schweizer über Karl den Kühnen von Burgund bei Murten.
Die Niederlande hcbsburgftch.
1483 Geburt Martin Luthers.
1484 Geburt Ulrich Zwinglis.
1492 Christoph Kolumbus: Eutdeckung Amerikas.
Eroberung Granadas, des letzten maurischen Königreichs in Spanien,
durch König Ferdinand den Katholischen.
Kaiser Maximilian I.
1495 Landfriede zu Worms; Ende des Faustrechts.
1498 Entdeckung des Seewegs nach Ostindien.
1500 Die Maler Raphael Sanzio in Rom, Albrecht Dürer in Nürnberg.
1517 Dr. Martin Luthers Sätze gegen den Ablaß. Die deutsche Nesornla-
tion. Pabst Leo X.
1519 Kaiser Karl V., König von Spanten.
480
I. n. Chr.
1519 Eroberung Meneos durch Ferdinand Cortez.
Erdumseglung durch Magellan.
Ulrich Zwingli, Reformator in Zürich.
1521 Luther auf dem Reichstage zu Worms. Kurfürst Friedrich der Weise
von Sachsen.
Kriege zwischen Kaiser Karl V. und Franz I., König von Frankreich.
1525 Bauernkrieg in Deutschland.
1529 Die Türken vor Wien. Sultan Solimán II.
1530 Reichstag zu Augsburg: Glaubensbekenntniß der Protestanten. Phi-
lipp Melanchthon. Kurfürst Johann von Sachsen.
Eroberung Perus durch Franz Pizarro.
Reich Karls V.; Spaniens Uebermacht.
1534 Die deutsche Bibel durch Luther.
1535 Heinrich VIII. Oberhaupt der englischen Kirche. Reformation in England.
1540 Der Jesuitenorden; Ignatius Loyola.
Calvin, Reformator in Genf.
.Copernicus; Bewegung der Erde um die Sonne.
1546 Tod Luthers.
Schmalkaldischer Krieg. Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen;
Philipp, Landgraf von Hessen.
1552 Der Passauer Vertrag. Kurfürst Moriz von Sachsen.
1555 Augsburger Religionsfriede.
Philipp II., König von Spanien und den Niederlanden. Inquisition.
1563 Schluß der Kirchenversammlung zu Trient: römisch-katholische Kirchen-
lehre. Gegenreformationen.
1572 Pariser Bluthochzeit: Ermordung von Protestanten. Französische
Religionskriege. Elisabeth, Königin von England. Englische Seemacht.
1581 Die Republik der vereinigten Niederlande. Wilhelm von Oranien.
1582 Gregorianischer Kalender.
1589 Heinrich IV., Bourbon,>König von Frankreich.
1598 Edict von Nantes: Zugeständnisie für die Protestanten Frankreichs.
Ende der französischen Religionskriege.
1600 Freibrief der englisch-ostindischen Compagnie.
1610 Kepler; die Gesetze der Bewegung der Planeten.
1618 A-ufstand in Prag: Anfang des dreißigjährigen Kriegs.
Kaiser Ferdinand II. Tilly, Feldherr.
Richelieu in Frankreich, gegen die Uebermacht des Hauses
481
I. n. Chr.
1624 Wallenstetn, kaiserlicher Feldherr.
1630 Gustav Adolph, König von Schweden; Landung in Pommern.
1632 Schlacht bei Lützen: Sieg der Schweden über Wallenstein. Tod Gustav
Adolphs.
1634 Sieg der Kaiserlichen bei Nördlingen.
1640 Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst von Brandenburg; preußische
Kriegsmacht.
Englische Revolution.
1648 Westphälischer Friede: Rechtsgleichheit der drei christlichen Con-
fessionen; Landeshoheit der Reichsfürsten. Oesterreichisch Elsaß an
Frankreich, Vorpommern u. a. an Schweden.
1649 England Republik.
Oliver Cromwell, Protektor von England.
Paul Gerhard: Haus- und Kirchenlieder.
1660 Karl II. Stuart, König von England.
Ludwig XIV., König von Frankreich, Selbstherrscher.
1670 Spener: erbauliche Privatversammküngen; Pietismus.
Kriege Ludwigs XIV. mit Deutschland, Spanien und den Niederlanden.
Straßburg französisch. Einfluß der französischen Sprache und Sitte
, auf Deutschland.
1683 Die Türken vor Wien.
1685 Verfolgung und Auswanderung der französischen Protestanten. Ver-
wüstung der Pfalz durch die Franzosen.
1689 Wilhelm III. von Oranien, Statthalter der Niederlande, König von
England.
A. H. Franke; Waisenhaus in Halle.
1700 Nordischer Krieg: Karl XII., König von Schweden, gegen Peter den
Großen, Czar von Rußland, und Kurfürst August II. von Sachsen,
König von Polen.
1701 Preußen ein Königreich; König Friedrich I.
Der spanische Erbfolgekrieg.
1703 Gründung von St. Petersburg.
1714 Kurfürst Georg I. von Hannover, König von Großbritannien.
1717 Eroberung Belgrads durch Prinz Eugen von Savoyen.
1722 Gründung von Herrenhut; Graf Zinzendorf.
1740 Friedrich II. der Große, König von Preußen.
Kaiserin Marie Theresia; Erbin der österreichischen Länder.
Oesterreichischer Erbfolgekrieg. Schleüen vreußisch
Lesebuch.
31
482
3. n. Ehr.
1740 Zeit der Aufklärung.
1756 Anfang des siebenjährigen Kriegs.
1762 Katharine II., Kaiserin von Rußland.
1765 Abtretung Bengalens an die ostindische Compagnie; britisches Reich in
Ostindien.
Kaiser Joseph II.
Der englische Weltumsegler Cook; Neu-Südwales.
Die Dichter Klopstock und Lessing.
1772 Theile Polens an Rußland, Preußen und Oesterreich; erste Theilung.
1774 Ludwig XVI., König von Frankreich. Frankreichs Schuldenlast.
1776 Vereinigte Staaten von Nordamerika; nordamerikanischer Freiheitskrieg.
Washington; Franklin.
1780 Kaiser Josephs II. Reformen. Duldung in Glaubenssachen.
Haydn und Mozart, Tonsetzer.
1789 Französische Revolution.
1792 Französische Republik.
1793 Hinrichtung des Königs. Schreckensregierung.
1795 Gänzliche Theilung Polens. Kosciuszko, polnischer Feldherr.
Allgemeine Londoner Missionsgesellschaft.
1796 Napoleon Bonaparte in Italien.
1798 Napoleon in Egypten. Seesieg Nelsons bet Abukir.
1800 Sieg Napoleons bei Marengo.
Deutsche Dichtkunst: Göthe, Schiller. Pflege der Naturwissenschaften.
1801 Lüneviller Friede. Frankreich bis an den Rhein. Aufhebung geist-
licher Reichsstände, Einverleibung ihrer Gebiete in andere Staaten.
Kaiser Alerander von Rußland.
1804 Napoleon I., Kaiser der Franzosen.
Britische Bibelgesellschaft.
1805 Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz: Sieg Napoleons.
1806 Ende des deutschen Reichs. Franzi., Kaiser von Oesterreich. Rheinbund.
Vergrößerung der mit Frankreich verbündeten deutschen Staaten.
Niederlage der Preußen bei Jena.
1807 Hieronymus Bonaparte, König von Westphalen.
Deutschland unter der Gewalt Napoleons.
1808 Krieg Napoleons mit den Spaniern.
Joseph Bonaparte, König von Spanien.
1809 Sieg Erzherzog Karls über Napoleon bei Aspern. Niederlage der
Oesterreicher bei Wagram. Andreas Hofer in Tirol.
483
I. n. Chr.
1810 Napoleon auf der Höhe seiner Macht.
1812 Russischer Feldzug. Brand von Moskau.
1813 Der deutsche Befreiungskrieg. Blücher. Völkerschlacht Lei Leipzig.
1814 Einzug der Verbündeten in Paris. Napoleon nach Elba. Ludwig XVIII.,
König von Frankreich.
1815 Wiener Kongreß. Deutscher Bund. Königreich der Niederlande.
Schlacht bei Waterloo. Wellington. Blücher. Napoleon auf St.
Helena.
Deutsche Verfassungen.
Deutsche Auswanderung nach Amerika.
Rheindampfschifffahrt.
1817 Union der evangelischen Kirche.
1821 Freiheitskampf der Griechen.
1823 Die spanischen Kolonien in Amerika unabhängige Freistaaten.
1825 Nikolaus, Kaiser von Rußland.
1827 Seeschlacht bei Navarin; Vernichtung der türkischen Flotte.
1829 Aufhebung der Beschränkungen der Katholiken im britischen Reiche.
1830 Eroberung Algiers durch die Franzosen. Julirevolution in Frankreich.
Ludwig Philipp, König der Franzosen.
Aufstand Polens.
1831 Belgien ein selbständiges Königreich.
Cholera in Europa.
1833 Königreich Griechenland. König Otto.
1834 Deutscher Zollverein; deutsche Industrie.
Aufhebung der Sklaverei in den englischen Kolonien.
1835 Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth.
1840 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen.
1842 Krieg Englands mit China. Englische Niederlassung auf Hong-kong.
Gustav - Adolphs - Verein.
1848 Die Februar-Revolution in Frankreich. Aufstände in Deutschland.
Kriege in Italien und Ungarn und Schleswig-Holstein.
Deutsche National-Versammlung zu Frankfurt.
Franz Joseph, Kaiser von Oesterreich.
Ludwig Napoleon, Präsident der französischen Republik.
Neue eidgenössische Verfassung.
Innere Mission.
Elektro - magnetische Telegraphenlinieu.
Entdeckung der Goldlager in Ealisornien.
31*
484
I. n Chr.
1849 Auflösung der deutschen National-Versammlung.
Unterdrückung der Revolution in Deutschland, Italien, Ungarn.
1850 Preußische Verfassung.
1851 Industrie-Ausstellung zu London.
1852 Ludwig Napoleon III., Kaiser der Franzosen.
1853 Russisch-türkischer Krieg.
1854 Handelsvertrag zwischen Oesterreich und dem deutschen Zollverein.
2. Zeittafel für die Geschichte Württembergs.
Jahre vor Christo.
15 Kämpfe der Römer unter Anführung des Tiberius am Bodensee. Ober-
schwaben römisch.
Jahre nach Christo.
100 Auch Niederschwaben unter römischer Herrschaft. Der römische Grenz-
wall durch Württemberg unweit der jetzigen Orte: Ellwangen, Lorch,
Welzheim, Oehringen, Jagsthausen.
Römische Städte, B. bei Rottweil, Rottenburg, Cannstatt u. s. w.
Befestigungen, Straßen, Wasserleitungen; römische Staatseinrichtungen
und Künste, römische Tempel, Altäre, Götterbilder u. s. w. — im
südlichen und mittleren Württemberg.
275 Die Alemannen durchbrechen von Nordost her den Grenzwall. Kaiser
Probus treibt vom Rhein aus die Alemannen über den Neckar und die
Alb hinüber.
300 Das jetzige Württemberg ein Theil des Landes der Alemannen.
359 Kaiser Julians Alemannenkriege.
368 Kaiser Valentinians Sieg über die Alemannen bei Solicinium, d. h.
wohl Rottenburg.
450 Neben den Alemannen die Sueven (Schwaben) erwähnt als ihre Ge-
nossen. Zug der Alemannen und Sueven nach Gallien im Gefolge
AttilaS.
496 Sieg Chlodwigs, des Königs der Franken, über die Alemannen. DaS
ütemberg unter der Herrschaft der Franken.
485
I. ii. Ehr.
536 Auch das übrige Württemberg unter fränkischer Oberherrsämft, ein
Theil des Herzogthums Alemannien; 'alemannische Stammesherzoge.
650 Ausbreitung des Christenthums in Alemannien.
711 Kämpfe der Franken mit den Alemannen.
748 Aushebung des Stammesherzogthums; Alemannien fränkische Provinz
unter königlichen Beamten.
750 Ausbreitung des Christenthums im fränkischen Württemberg. Er-
wähnung von Kirchen und Klöstern in Württemberg, z. B. in Heilbronn.
Erwähnung des Weinbaus in Württemberg.
Gesetzliche Einführung des kirchlichen Zehnten.
830 Stiftung des Klosters Hirsau.
909 Beginn der Verheerungen Alemanniens durch die Ungarn.
917 Wiederherstellung des Herzogthums Alemannien.
1027 Herzog Ernst II. von Alemannien oder Schwaben zerfällt mit seinem
Stiefvater, Kaiser Konrad II.
Sage von Herzog Ernst.
1077 Rudolph, Herzog von Schwaben, Gegenkönig Heinrichs IV. Schwaben
eine Reihe von Jahren hindurch ein Kriegsschauplatz; Verheerungen.
1079 Friedrich, der Sohn Friedrichs von Büren, Herzog von Schwaben,
Tochtermann Kaiser Heinrichs IV.; Erbauer der Burg Hohenstaufen.
Die Klöster: Blaubeuren, Zwiefalten u. a.
1090 Konrad von Württemberg.
1134 Zerstörung Ulms durch Herzog Heinrich von Bayern.
1140 Einnahme Weinsbergs durch König Konrad III. von Hohenstaufen in
seinem Kampfe mit den Welfen. Die Weiber von Weinsberg.
Die Klöster: Maulbronn, Herrenalb, Schönthal, Bebenhausen u. a.
1229 Erwähnung Stuttgarts.
1240 Ulrich mit dem Daumen, Graf von Württemberg. Gründung der
Macht des württembergischen Fürstenhauses.
1254 Tod Konrads IV., Königs von Deutschland und Herzogs von Schwaben.
Zwischenreich: Willkür und Faustrecht.' Krieg, Raub und Brand in
Schwaben. Fehden des Grasen Ulrich von Württemberg mit Eßlingen.
1268 Hinrichtung Konradins von Hohenstaufen, des letzten Herzogs von
Schwaben. Ende des Herzogthums Schwaben; Zersplitterung Schwa-
bens.
Zunahme der Freiheiten und Rechte der Städte.
Die Reichsstädte: Biberach, Eßlingen, Hall, Heilbronn, Reutlingen,
Rottweil, Ulm u. a.
/
; 486
I
3. n. Ehr.
1286 Eberhard I., der Erlauchte, Graf von Württemberg; Bund gegen
König Rudolph von Habsburg; Belagerung Stuttgarts durch denselben.
1287 Zerstörung Cannstatts und mehrerer Burgen um Stuttgart durch König
Rudolph.
1310 Graf Eberhard in der Reichsacht durch Kaiser Heinrich VII.
1311 Zerstörung des Schlosses Württemberg.
1313 Wiedereroberung der Grafschaft Württemberg durch Eberhard.
1321 Verlegung des Stifts mit dem Erbbegräbniß der Grafen von Beutels»
bach nach Stuttgart.
1348 Erdbeben in Süddeutschland.
1349 Der schwarze Tod.
1367 Graf Eberhard II., der Greiner, im Wildbad von den sogenannten
Schleglern überfallen.
1377 Niederlage Graf Ulrichs, des Sohnes von Eberhard, bei Reutlingen.
1378 Beginn des Münsterbaus zu Ulm.
1388 Sieg Eberhards über die Reichsstädter bei Döffingen.
1395 Einnahme von Heimsheim durch Eberhard III., den Milden; Demü-
thigung der Schlegler.
1397 Die Grafschaft Mömpelgard kommt durch die Heirat Eberhards IV.
mit Henriette von Mömpelgard an Württemberg.
1441 Theilung Württembergs: Uracher und Stuttgarter Linie.
Graf Ulrich V., der Vielgeliebte, zu Stuttgart.
Kämpfe mit den Reichsstädten.
1457 Landtag zu Leonberg: Anfang der landständischen Verfassung Württem-
bergs.
1462 Treffen bei Seckenheim; Ulrich V. Gefangener des Pfalzgrafen Fried-
rich zu Heidelberg; Lösegeld.
1473 Buchdruckereien zu Ulm und Eßlingen.
1477 Gründung der Universität Tübingen durch Graf Eberhard V., genannt
Eberhard im Bart.
1482 Münsinger Vertrag: Wiedervereinigung und Untheilbarkeit des Landes.
1495 Reichstag zu Worms; Württemberg ein Herzogthum; Graf Eberhard V.
im Bart nun Herzog Eberhard I.
1512 Eintheilung Deutschlands in zehn Kreise; schwäbische Kreistage zu Ulm.
1514 Aufstand im Remsthal gegen Herzog Ulrich. Tübinger Vertrag.
1519 Einnahme Reutlingens durch Herzog Ulrich. Eroberung Württembergs
durch den schwäbischen Bund; Herzog Ulrich flüchtig.
1522 Württemberg österreichisch, unter Erzherzog Ferdinand.
487
J. n. Chr.
1525 Bauernkrieg.
1526 Mergentheim Sitz des Hoch- und Deutschmeisters.
1531 Reformation in Ulm.
1534 Schlacht bei Lausten; Ende der österreichischen Herrschaft in Württem-
berg; Herzog Ulrich wieder im Besitze seines Landes. Reformation in
Württemberg. Schnepf und Blarer. Reformation im Hohenlohe-
schen: Graf Wolfgang.
1546 Schmalkaldischer Krieg. Die Kaiserlichen in Württemberg.
1547 Das evangelisch-theologische Stift zu Tübingen.
1548 Das Interim.
1550 Herzog Christoph.
Beständige Landtagsausschüste; verbesterte Landesordnung; allgemeines
Landrecht; gleiches Maß und Gewicht.
Große Kirchenordnung; Vollendung der Reformation in Württemberg;
Johann Brenz. Vier Klosterschulen oder niedere Seminarien; deutsche
Schulen.
1593 Herzog Friedrich I. Kampf mit den Ständen und der Verfassung.
1599 Gründung von Freudenstadt; Aufnahme vertriebener Salzburger;
Bergbau. Leinwandweberei in Urach.
1622 Schlacht bei Wimpfen; Verheerung des benachbarten Theil von
Württemberg durch Tilly'sche Truppen.
Verschlechterung der Münze; Hirschgulden.
1 627 Wallensteinische Truppen über Württemberg verbreitet.
1629 Restitutionsedict, wonach alle Kirchengüter den Katholiken zurückgegeben
werden mußten.
1634 Schlacht bei Nördlingen, worin 4000 Württemberger fielen. Flucht
des Herzogs Eberhard III. Verheerung Württembergs. Besitznahme
des größten Theils von Württemberg durch den Kaiser und seine An-
hänger.
Thrurung, Hunger und Pest. Entvölkerung des Landes.
Konrad Wiederhold auf Hohentwiel.
1638 Einführung der Accise.
1642 Kirchenconvente. Johann Valentin Andrea.
1648 Westphälischer Friede. DaS Herzogthum Württemberg ungeschmälert;
Varnbüler.
Tabakrauchen und Tabakschnupfcn.
1663 Türkenkrieg. Buß-und Bettage.
1681 Einführung der Katechisation oder Kinderlehre.
1 3. n. Ehr.
1688 Krieg Deutschlands mit Frankreich. Verheerung des nordwestlichen
Württembergs. Die Weiber von Schorndorf.
0 1693 Verbrennung von Marbach, Beilstein, Backnang u. a. O. durch die
Franzosen.
1697 Stehendes Militär. Kasernen. Werbung.
1699 Vertriebene Waldenser in der Gegend um Maulbronn aufgenommen.
Beginn des Kartoffelbaus; Wiedereinführung der Seidenzucht; Ta-
baksbau.
1700 Gesangbuch von Hedinger.
1712 Eröffnung des Waisenhauses zu Stuttgart.
1718 Herzog Eberhard Ludwig wohnt in dem neuerbauten Ludwigsburg.
1722 Anordnung der Confirmation.
1733 Herzog Karl Alexander, katholischer Consession, Religionsreversalien.
Der Jude Süß Oppenheimer.
Johann Albrecht Bengel, Schriftausleger; sein Schüler Oetinger.
G. Konrad Rieger. Philipp Friedrich Hiller, Kirchenliederdichter.
1746 Der Bau des neuen Schlosses zu Stuttgart, unter Herzog Karl
begonnen.
Anlegung von Chauffeen oder ^Kunststraßen. Obstbäume an den
Straßen.
1757 Württembergische Truppen im stebenjähr. Kriege auf Seiten Oesterreichs.
Pstege der schönen Künste unter Herzog Karl.
1763 Schloß und Anlagen von Solitude.
1770 Erbvergleich; Bestätigung der Rechte und Freiheiten des Landes.
1775 Verlegung der Militärakademie von der Solitude nach Stuttgart.
Schiller; Dannecker.
Allgemeinere Verbreitung des Kartoffelbaus.
1785 Schwäbischer Merkur.
Kleebau.
1786 Einführung einer Merinoheerde aus Spanien.
1796 Treffen bei Cannstatt zwischen Franzosen und Oesterreichcrn. Sieg
Moreaus bet Biberach.
1797 Herzog Friedrich II., evangelischer Consession.
1800 Franzosen unter Moreau in Württemberg.
Uebergabe Hohentwiels.
1803 Die Reichsstädte: Eßlingen, Gmünd, Hall, Heilbronn, Reutlingen,
Rottweil u. ei., die Probstei Ellwangen u. st. württembergisch — Reu-
Württemberg.
489
I. n. Chr.
1803 Ulm bayerisch. Württemberg ein Kurfürstenthum.
1805 Württembergische Truppen unter Napoleon gegen Oesterreich. Ueber-
gabe Ulms an die Franzosen.
1806 Württemberg ein Königreich; König Friedrich souverain. Vergröße-
rung Württembergs, besonders in Oberschwaben und im Hohenlohe-
schen, durch Secularisirung und Mediatisirung.
Aufhebung der alten Landesverfassung. Vereinigung von Alt- und
Neu-Württemberg. Einziehung des Kirchenguts. Religionsedict:
Gleichberechtigung der drei christlichen Consessionen.
Militär-Conscription.
Württeinberg im rheinischen Bund. Württembergische Truppen unter
Napoleon gegen Preußen.
1809 Württembergische Truppen unter Napoleon gegen Oesterreich.
1810 Vergrößerung Württembergs.
Ulm, Ravensburg, Tettnang, Buchhorn, Wangen, Geislingen, Crails-
heim u. a. württembergisch.
Abschaffung der Folter.
1811 Vorzüglicher Wein.
1812 Württembergische Truppen unter Napoleon gegen Rußland.
Württembergische Kunst- und Industrie-Ausstellung.
Gründung von Friedrichshafen. Württembergische Bibelgesellschaft.
1813 Württembergische Truppen bei Leipzig erst für, dann gegen Napoleon.
1814 Württembergische Truppen in Frankreich gegen Napoleon; Wilhelm,
Kronprinz von Württemberg.
1815 Württembergische Truppen mit der Okkupationsarmee drei Jahre lang
in Frankreich.
Landesversammlung, Verfaffungsstreit.
1816 Tod König Friedrichs. Wilhelm, König von Württemberg. Königin
Katharina, Großfürstin von Rußland.
Mißwachs.
1817 Theurung; der Scheffel Dinkel bis 45 fl. Centralleitung des Wohlthätig-
keitsvereins; Sparkasse; Suppenanstalten.
Eintheilung des Landes in vier Kreise. Centralstelle des landwirth-
schastlichen Vereins.
Secularfeier der Reformation.
1818 Oberamtsgerichte. Organisationsedict: Gemeinden und Oberamts-
korporationen. Land- und forstwirthschaftliches Institut zu Hohenheim.
Landwirthschaftliches Fest zu Cannstatt. Realschule zu Stuttgart.
490
I. n. Chr.
1819 Tod der Königin Katharina.
Einigung des Königs und der Stände über eine Verfassung; Beginn
der Landesvermessung; die Gemeinde Kornthal.
1820 Vermählung König Wilhelms mit der Herzogin Pauline von Würt-
temberg.
1821 Wilhelmskanal bei Heilbronn.
1822 Saline Wilhelmshall. Entdeckung des Steinsalzlagers bei Hall; Wil-
helmsglück. Salzausfuhr Württembergs statt der Salzeinfuhr.
1823 Geburt des Kronprinzen Karl von Württemberg.
Taubstummenanstalt zu Gmünd. Gesangvereine.
1824 Dampfboot auf dem Bodensee. Weinverbesserungsgesellschaft. Niedere
Getreidepreise. Verheerende Ueberschweinmung.
1825 Pfandgesetz.
1828 Zollverein mit Bayern. Allgemeine Gewerbeordnung.
Bisthum Rottenburg.
1830 Hagelversicherungs-Gesellschaft. Erste amerikanische oder Kunstmühle
zu Berg.
1832 Gewerbe- oder polytechnische Schule zu Stuttgart. Blindenasyl zu
Gmünd.
1834 Württemberg im deutschen Zollverein.
Irrenanstalt zu Winnenthal.
1836 Frohnablösungsgesetz. Volksschulgesetz.
1841 Jubelfeier der fünf und zwanzigjährigen Regierung König Wilhelms.
Die Befestigung Ulms begonnen. Flachsmaschinenspinnerei in Urach.
Heilbronner Neckardampfschiff.
1842 Kunstgebäude zu Stuttgart.
Neues Gesangbuch; neueö Kirchenbuch.
1843 Ackerbauschulen. Württembergischer Verein der Gustav-Adolpbsstif-
tung.
1845 Eisenbahnstrecke von Cannstatt bis Eßlingen.
Kartoffelkrankheit. ^
1846 Vermählung des Kronprinzen von Württemberg mir der Großfürstin
Olga, Tochter des Kaisers Nikolaus von Rußland.
1847 Unruhen wegen der hohen Preise der Lebensmittel.
1848 Wahl der Abgeordneten zur deutschen Reichsversammlung., in Fronkfuri.
Volksversammlungen. Bürgerwehren. Ruhestörungen.
Württembergische Truppen in Baden und in Schleswig-Holstein.
Centralstelle für Gewerbe und Handel.
%
491
I. n. Chr.
1849 Auflösung der deutschen Reichsversammlung zu Stuttgart. Zehntablö-
sungsgesetz. Geschwornengerichte. Württembergisches Staatspapiergeld.
1850 Eisenbahn von Heilbronn bis Friedrichshafen.
Landwirthschaftliche Gauversammlungen.
1851 Die Postverwaltung vom Staat übernommen. Telegraphenlinie von
Heilbronn bis Friedrtchshafen.
Pfarrgemeinderäthe.
Verheerende Ueberschwemmung.
1853 Eisenbahn von Bietigheim nach Bruchsal; Enzviaduct.
3. Reihe der württcmbergischen Regenten.
Die Grasen von Württemberg.
Ulrich I. mit dem Daumen ......... 1246—1265
Ulrich II. und Eberhard I., der Erlauchte, Söhne . . . 1265 — 1325
Ulrich III., Eberhards Sohn.......................... 1325 — 1344
Eberhard II., der ©reiner, und Ulrich IV., Söhne . . . 1344— 1392
Eberhard III., Eberhards II. Enkel................... 1392—1417
-Eberhard IV., Sohn..................................1417 — 1419
Ludwig I. und Ulrich V., Söhne . ....................1419 — 1441
Uracher Linie.
Ludwig I. . . . bis 1450
Ludwig II., Sohn 1450—1457
Eberhard V., der
Aeltere, Bruder 1457 — 1482
Eberhard V. . ................
Stuttgarter Linie.
Ulrich V. ... bis 1480
Eberhard VI., der
Jüngere, Sohn . 1480 — 1482
................ 1482— 1495
Wie Herzoge von Württemberg.
Eberhard I., im Bart (vorher Gras Eberhard V.) . .
Eberhard II., der Jüngere ...........................
Ulrich, Heinrichs Sohn, Ulrichs V. Enkel . . . . .
Christoph, Sohn......................................
bis 1496
1496 — 1498
1498 —1550
1550 — 1568
492
Ludwig, Sohn . . . . . . - . . . . 1568 —1593
Friedrich I., Sohn Georgs, Vetter Christophs . . . 1593— 1608
Johann Friedrich, Sohn.............................. 1608— 1628
Eberhard III., Sohn...................................... 1628 — 1674
Wilhelm Ludwig, Sohn..................................... 1674 — 1677
Eberhard Ludwig, Sohn...................................... 1677— 1733
Karl Alexander, Sohn Friedrich Karls, Vetter .... 1733 — 1737
KarO Sohn................................................ 1737 — 1793
Ludwig Eugen, Bruder ...................................... 1793 — 1795
Friedrich Eugen, Bruder.................................... 1795 — 1797
Friedrich II., Sohn...................................... 1797 — 1806
Könige von Württemberg.
König Friedrich (vorher Herzog, dann Kurfürst) .... 1806 —1816
König Wilhelm, Sohn.
4. Statistische Angaben über Württemberg.
I. Flächeninhalt: 354 2/10 geographische □ Meilen oder 6 188 252
württemb. Morgen.
Ncckarkreis 60*/,,, Schwarzwaldkreis 867/,0, Jartkreis 933/10,
Donaukreis H37/10 geographische □ Meilen.
II. Bevölkerung: am 3. Dec. 1852 war die
Zahl der Ortsangehörigen . . 1 809 404.
Zahl der O rts anwesen d en . . 1 733 263.
Darunter männlichen Geschlechts: 838 275, weiblichen Geschlechts:
894 988. Ueber 14 Jahr alt: 1 170 951. Zahl der Familien:
374 483. Durchschnittlich 4,6 Personen auf eine Familie.
Nach Angabe der Kirchenregister waren am 3. December 1846 unter
1 752 538 Ortsangehörigen 1 208 025 Evangelische, 531 566 Katholiken,
591 eigener Confesston, 12 356 Israeliten.
493
In den Oberämtern Schorndorf, Maulbronn, Stuttgart Amt, Urach,
Marbach, Vaihingen, Kirchheim, Neuenbürg und Calw ergaben sich über 99%
bei Bevölkerung als evangelisch, in den Oberäintern Waldsee und Saulgau
über 99 % als katholisch.
Die Bevölkerungsdichtigkeit ist nach Stuttgart Stadt am größten im
Oberamt Cannstatt, am geringsten im Oberamt Münsingen; jenes sechs mal
dichter bevölkert, als dieses. Im ganzen Lande kommen durchschnittlich auf
eine □ Meile 4892 Orts an wesende, 5107 Orts angehörige und
auf einen Menschen kommen durchschnittlich 3°% Morgen der ganzen Bo-
denfläche; im Oberamt Cannstatt 13/10 Morgen, im Oberamt Münsingen
8 Morgen.
Auf 100 Städter kommen 309 Landbewohner durchschnittlich; im Jart-
kreis 476, im Donaukreis 349, im Schwarzwaldkreis 322, im Neckarkreis
211. Das Oberamt Laupheim enthält keine Stadt.
Am 3. Dec. 1852 hatten über 10 000 Ortsanwesende die Städte:
Stuttgart (ohne die drei Weiler) 45 826, Ulm 21 414, Heilbronn 13 687,
Reutlingen 12 353, Ludwigsburg 11 061, Eßlingen 10 238.
Nach dem Stand vom December 1853 sind in Württemberg: 136 Städte,
1253 Pfarrdörfer, 445 Dörfer, 121 Pfarrweiler, 3055 Weiler (am meisten
im Jart- und Donaukreis), 2490 Höfe (am meisten im Donaukreis), 1957
einzelne Wohnsitze, zusammen: 9457 Wohnplätze. Politische Gemeinden
(Schultheißereien): 1913.
UI. Benützung der Bodenfläche:
1) Gärten und Länder: 6,9 □ Meilen oder 121 505 Morgen.
2) Ackerfeld: 150,5 geographische □ Meilen oder 2 628 337 Mor-
gen, 42 % der ganzen Fläche. 71 % vom Oberamt Ludwigsburg,
15 % vom Oberamt Neuenbürg. Auf einen Einwohner kommen
im Oberamt Münsingen 4,2 Morgen Ackerfeld, im Oberamt Schorn-
dorf 4/io Morgen, in Stuttgart Stadt V10o Morgen.
Nach Zeigen sind angebaut: 2 018 139 Morgen, am meisten
im Neckarkreis, am wenigsten im Donaukreis, willkürlich ange-
baut 360 389, als Wechselfelder benützt, d. h. nur zuweilen an-
geblümt : 249 809 Morgen, am meisten im Donaukreis.
3) Weinberge: 4,7 □ Meilen oder 82 921 Morgen*). 23 % von
Stuttgart Stadt, 5 % vom Neckarkreis, Vi0o % vom Donaukreis.
4) Wiesen: 50,5 Meilen oder 881 607 Morgen. 16% vom
Donaukreis, 11 % vom Schwarzwaldkreis. Das Oberamt Hall
hat 24 %, das Oberamt Heidenheim 6 % seines Flächengehalts
*) Hirnach ist die Angabe T. (61 ju berichtigen.
Wiesen. Mehr einmähdige als zweimähdige Wiesen sind in den
Oberämtern Leutkirch, Ravensburg, Tettnang, Waldsee und
Wangen.
5) Waldungen: 109,9 □ Meilen oder 1 919 311 Morgen. 39 °/0
des Schwarzwaldkreises, 26 % des Donaukreises, 72 °/0 des Ober-
amts Neuenbürg, 5 °/0 des Oberamts Ludwigsburg.
Laubholzwald: 919 101 Morgen. Nadelholzwald: 751 444
Morgen. Gemischte Waldungen 213 213 Morgen. Auf 100
Morgen Wald sind Laubholzwald: im Neckarkreis 82 Morgen, im
Schwarzwaldkreis 25 Morgen; dagegen Nadelholzwald im Schwarz-
waldkreis 63 Morgen, im Neckarkreis 7 Morgen. Aus einen Ein-
wohner kommen im Oberamt Freudenstadt 3,7 Morgen Wald, in
Stuttgart 710 Morgen.
6) Weiden: 15,3 HI Meilen oder 266 932 Morgen. Am zahl-
reichsten sind sie im Schwarzwaldkreis.
7) Die Gewässer (ohne den Antheil am Bodensee) nehmen 2,3
□ Meilen oder 40 236 Morgen ein, 2,7 °/0 des Oberamts Wan-
gen, 1/l0 °/0 des Oberamts Münsingen.
IV. Zerstückelung des Grundeigenthurns:
Größer im westlichen, als im östlichen Theil des Landes. Eine Parzelle
beträgt durchschnittlich im Neckarkreis 7/10 Morgen, im Donaukreis 2,2
Morgen, im Oberamt Wangen 6,6 Morgen.
V. Die einzelnen Kulturen:
Nach einer im Sommer 1852 auf jeder Ortsmarkung angestellten
Schätzung:
Morgen waren angebaut mit
1) Halmfrüchten, und zwar
g.) Winterfrüchten: Winterweizcn: 22 623. Winterroggen:
115 252. Wintergerste: 8822. Dinkel, Einkorn und Emmer:
655 658. Mengfrüchten 6593.
6) Sommerfrüchten: Sommerweizen: 16 612. Sommer-
roggen: 19 160. Sommergerste: 251 757. Haber: 434 706.
Sommerdinkel und Einkorn: 2714. Buchweizen 532. Hirse:
446. Mengfrüchten: 11419. Zusammen 1 546 294.
2) Hülsenfrüchten: Erbsen: 15 55?. Linsen: 20 795. Wicken:
39 286. Ackerbohnen 17 355. Gartenbohnen u. a. 2410. Zu-
sammen 95 400.
• 0
. 495
3) Wclschkorn (Mais): 6454.
4) Kartoffeln: 120 995.
5) Kopfkohl (Kraut): 32 192.
6) Möhren (Riesenmöhren und gelben Rüben): 2179.
7) Handelsgewächsen: Winter- und Sommerreps: 29 445. Mohn:
6453. Flachs: 22 557. Hanf: 24 201. Hopfen: 2243. Tabak:
396. Rauhkarden: 138. Cichorie: 231. Krapp: 99. Sonstigen
Gewerbspstanzen: 58. Zusammen 85 821.
8) Futtergewächsen: 270 592.
9) Wurzel gewächsen (ausgenommen Kartoffeln und Möhren):
48 782.
10) Zahl der K e r n o b stb äu me: 4 724 102. Der Steinobst-
bäume: 3 223 572.
VI. Viehstand:
Räch der Aufnahme am 1. Jan. 1853:
Pferde: 95 038. Esel, Maulthicre und Maulesel: 351. Stücke Rind-
vieh: 811 159. Schafe: 458 488. Schweine: 143 524. Ziegen und
Zicgenböcke: 42 064. Bienenstöcke: 75 358.
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