266 blühende Gegend vor sich hatten. Und wirklich hat die weiße Lilie auch eine solche Schönheit, daß sie sich, wie sie es verdient, nicht be¬ schreiben läßt. Doch zur Augenlust allein öffnet sich die herrliche Blume nicht, das gefühlvolle Gemüth wird auch von ihrer Anmuth eigenthümlich angeregt. ES fällt bei ihrem Anblicke dem Betrachter der obige Spruch ein; er denkt an Den, welcher das unschuldige Weiß mit der edlen Gestalt der Lilien vereinigte und in ihr der Blumenwelt eine unvergleichliche Zierde zugesellte, die auf dem schmalen Gartenbeete Zeugniß von seiner Allmacht gibt so gut, wie das glänzende Gestirn im endlosen Himmelsraume. Man hat in der Lilie eine Blüthe desjenigen Landes vor sich, an das sich der theuren Erinnerungen so viele knüpfen. Das Auge, welches sich am Kreuze schloß, sah mit Wohlgefallen auf die reine Blume; sie wurde aus so vielen der blühenden Flur erwählt, die Vorsehung und immer fort¬ währende Liebe des Vaters im Himmel gegen die Menschen augen¬ scheinlich und gleichsam handgreiflich zu machen. Dies allein schon gibt ihr einen Vorzug vor allen Blumen und hat sie wohl nebst der Schönheit zum Liebling der Künstler und Dichter erhoben, welche den Engeln und Verklärten den blühenden Lilienstengel in die Hand ge¬ ben als Sinnbild der Reinheit und des ewigen Friedens. Wirklich stebt sie im weißen Gewände auch wie ein Englein unter den übrigen Blumen des Gartens da, freundlich und hold. Die zerstreut stehen¬ den Blätter des Stengels schmiegen sich an diesen an und erscheinen gleichsam darum als sparsame Beigabe der Pflanze da zu sein, damit der Blick desto mehr auf die Blumenkrone selbst gelenkt werde. Wenn sich dieselbe vollständig entfaltet hat und du trittst, junger Leser, in der Frühe eines heiteren Sommermorgens in den Garten, wo die meisten Blumen noch im geschlossenen Kelche schlummern, während der Himmel im rothen Lichte strahlt, die einzelnen farbigen Wölkchen über Saaten und Aernten dabin schweben und in den Tag einziehen, dem die Lerche entgegen jubelt; so ist der blühende Lilienstock gewiß nicht das Letzte, zu welchem du gehst. In den zarten Glocken reihen sich die sechs Staubfäden im Kreise um den Stengel, und der gelbe Blumenstaub an den Spitzen sticht angenehm zu den weißen Blättern ab, die von glänzenden Thautropfen übergössen sind. Du erfreust dich des wohlriechenden Duftes der Lilie, siehst wohl unwillkürlich dabei zum heiteren Himmel, unter dem die Stimmen der Vögel laut werden, betrachtest wieder die schöne Blume auf dem Beete und denkst Etwas, das sich leicht errathen läßt. Besäße ich ein Hausgärtchen, der Lilienstock dürfte keinesfalls darin fehlen. Die Liliengewächse haben an der Wurzel eine Zwiebel. In der Reihe dieser Pflanzen finden sich nebst der gelben Feuerlilie und dem in Gebirgswaldungen wachsenden Türkenbund noch beliebte Blumen, wie die Hyacinthen, Tulpen, die stattliche aber giftige Kaiserkrone, die Zaunlilie und die gelbe Vogelmilch. Auch die Arten des Lauchs und die Zwiebel wollen wir hier anführen, ebenso die Narcissen, Ta-