Ebbe und Flut in Holland. 111 Brüssel dagegen ist, wie die Nation der Belgier selbst, viel gemischter, viel versöhnender, überhaupt viel europäischer. Und eben dieser Charakter drückt sich sowohl in allen Beziehungen und inneren Zuständen der Stadt, als auch schon in seiner ganzen äußeren Physiognomie sehr bestimmt aus. Nach I. G. Kohl. 65. Ebbe und Flut in Holland. Auch dem leiblichen Auge bieten sich der merkwürdigen und interessanten Scenen in diesem sonderbaren Lande die Fülle dar, z. B. das täglich sich zweimal wiederholende Schauspiel der Ebbe und Flut des Meeres. Ganz Seeland mit allen seinen Nebenlanden und Nachbarinseln ist gleich einem großen Schwamme, der sich täglich zweimal bis zum Ueberlaufen vollsaugt und zweimal sich fast bis auf den Boden entleert. Wir waren von Antwerpen mit der ausströmenden Ebbe abgefahren, und unser Schiss schoß rasch mit den wetteifernd ablaufenden Gewässern des Flusses und des Meeres zur Schelde hinaus. Da stürzten sich in eiliger Hast mächtige Ströme durch die Oster- und Westerschelde und durch alle die andern Mündungen in's Meer hinaus. Alle Gewässer sind in Bewegung; aus allen Flieten, Kanälen, Gräben und Zweigadern des Landes strömt es heraus wie in den Straßen einer Stadt nach einem heftigen Negen. Ueberall wuchsen trockene Länder aus dem Grund hervor und nahmen zusehends an Umfang zu. Jede Insel, an der wir vorüberfuhren, umgab sich mit einem breiten Gürtel von Borland, das sich sofort, wenn auch nur für wenige Stunden mit Menschen bevölkerte, die den Krabben und andern im Schlamme zurückgebliebenen Seethieren nachstellten. Als wir in die Oster-Schelde hineinsegelten, tauchten lange Strecken des einst untergegangenen Theiles von Süd-Beveland wie Gespenster aus dem Grunde auf. Da die Ebbe hier das Niveau des Wassers gewöhnlich um 5 Meter, zuweilen auch um 6, erniedrigt, so kann man sich denken, wie die darauf folgende Erhöhung und das Hervorsteigen aller Dämme, Ufer- und Sandbänke ebenfalls um 5 Meter die Physiognomie verändern muß. Die Seedeiche scheinen riesenhaft zu wachsen, die Bollwerke, Brücken und Pfahlreihen der Häfen steigen mit langen Piedestalen empor; die Schiffe sinken mit dem Wasser herab und verstecken sich in den hochuferiqen Ruinen. Die Fahrt in unserem Fnselarchipel bis Rotterdam dauerte zwölf Stunden. Wir wurden daher unterwegs auch wieder von der zurückkehrenden Flut erreicht und hatten Gelegenheit, die umgekehrten Erscheinungen, die Phänome der Flut zu beobachten. Zuerst entsteht eine Art von Stillstand in den Strömen. Es scheint, als wären alle während der Ebbe so rasch eilenden Flüsse plötzlich in stagnirende Seen verwandelt. Allmählich aber kommt wieder Leben und Regsamkeit in die versiegenden Gewässer, die im niedrigen Schlamme dahin sterben zu wollen schienen. Doch kommt diese Bewegung nun von der entgegengesetzten Seite. Das Meer drängt erst leise rückwärts. Die süßen Gewässer, welche aus dem Innern des Landes her sich einen Ausgang erringen wollen, gerathen mit ihm in Streit. Aus diesem Streit entsteht an vielen Punkten eine Menge von Wirbeln, „Walen", — wie die Kinder des Landes sie nennen, — die erst klein sind, aber immer mächtiger schwingen, je größer oer Andrang des Meeres wird. Alle kleinen und großen -Kanäle des Landes füllen sich mit flüssigem Stoss. Alle andern schwellen bis an den Rand. Die weiten, kahlen Sandbänke schmiegen srch gemach wieder unter die feuchte Decke des Oceans, zu dessen Gebiet sie gehören, zurück. Die Menschen, die Fischer, Austern- und Krabbensucher, dw Strandspaziergänger, die für ein paar Stunden das Terrain in Besitz