Georg-Eckert-Institut BS78
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Wievtes Leh^- und Lesebuch
zur
Pflege nationaler Bildung.
Von
Dr. W. Jutting und Hugo Weber.
Ab und B.
AiiWde fili 4—ßkWge MM.
5. und 6. Schuljahr.
Muttersprache, Mutterlaut,
wie so wonnesam, so traut!
Ans Vaterland, ans.teure, schließ dich au;
das halte fest mit deinem ganzen Herzen!
Schiller.
Elfte Auflage.
Leipzig und àlill
Verlag von Julius Klinkhardt
1885.
Georg-Eckert-Ins situi
für internationale
Schuibuchforschurvg
Braunschweig
-Schuibuchbibliothek -
ne#-»
\S (AÁi 4 $ 8 S)
Allgemeine Vorrede
Durchdrungen von der Überzeugung, daß die deutsche Schule
mehr als bisher auf eine organische Verbindung und Wechselwirkung
des Real- und Jdealunterrichts ausgehen muß, wenn sie der.
Idealismus mit dem einseitigen Realismus unserer Zeit versöhnen,
die Anlagen der menschlichen Natur harmonisch entwickeln und somit
die nationale Bildung nachhaltig fördern will, haben die Unterzeich-
neten ein Lehr- und Lesebuch für deutsche Schulen aller Grade
herausgegeben, in welchem sie versuchten, planmäßig den so überaus
notwendigen Parallelismus des Ideal- und Realunterrichts
derart herzustellen, daß sich Unterricht und Lektüre, in konzentri-
schen Kreisen fortschreitend, gegenseitig ergänzen und beleben, er-
klären und verklären müssen. Das ganze Werk zerfällt in 4 Haupt-
teile: Wohnort, Heimat, Vaterland und Welt (Ausgabe B). Je
nach der Gliederung und dem Bedürfnisse der Schulen sind diese Teile
unter Erweiterung gespalten (Ausgabe A) oder unter Beschränkung
zusammengezogen worden (Ausgabe 0), so daß das Werk in ver-
schiedener Ausdehnung für alle Grade deutscher Volksschulen zu haben
ist. (Siehe den Prospekt, welchen die Verlagsbuchhandlung aus Wunsch
zuschickt.)
Besondere Vorrede.
Der vorliegende Teil, welcher für das 5. und 6. Schuljahr
4—6 klassiger Schulen bestimmt ist und der Ausgabe B angehört,
aber auch recht wohl für das 5. Schuljahr allein in Massigen Schulen
eingeschaltet werden kann, trägt den Titel: Vaterland, denn seine
Aufgabe soll vorzugsweise darin bestehen, vaterländischen Sinn
durch vaterländisches Wissen zu lehren und zu mehren. Es ent-
hält daher rein vaterländische Stoffe.
Zunächst wird der Schüler in die deutsche Geschichte eingeführt,
denn diese eignet sich in deutschen Schulen am besten zur Einführung
in die Geschichte überhaupt. Wir haben Sorge getragen, daß auf
dieser Stufe noch herrliche Sagen der Geschichte geschwisterlich die
Hand reichen und in jedem Kapitel heldenhafte Gestalten im Mittel-
punkte stehen, welche geeignete Marksteine zur Orientierung und
Gruppierung bilden. Diese Bilder vom „deutschen Volke in der
Geschichte" sollen aber nicht nur den Geschichtsunterricht ergänzen und
beleben, sondern auch die Gesinnung kräftig anregen und namentlich
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die Vaterlandsliebe erwecken und Pflegen. Die Abteilung „Land
und Leute" bietet in verschiedenen Kapiteln der eigentlichen Vater-
landskunde hilfreiche Hand, denn die wichtigsten Objekte dieses Lehr-
gegenstandes erhalten hier durch lebensvolle Schilderungen jene An-
schaulichkeit, ohne welche der geographische Unterricht zum leeren
Gedüchtniswerke wird. Bei den „deutschen Naturbildern" ist
vorzugsweise auf diejenigen Tiere und Pflanzen Rücksicht genommen
worden, die ein allgemeineres Interesse haben und in den früheren
Teilen noch nicht zur Behandlung gekommen sind. Die „Spiegel-
bilder deutschen Lebens" eröffnen hoffentlich tiefere Blicke in das
deutsche Gemütsleben und dem ethisch-religiösen Unterrichte willkom-
mene Deduktionsguellen.
Indem das Lesebuch auf diese Weise den, gesamten Unterricht
unterstützt und erhebt, tritt es nach unserer Überzeugung zugleich
auch am wirksamsten in den Dienst des deutschen Sprachunter-
richtes, zumal da die Lesestücke fast nur von klassischen Autoren
herrühren und daher nach Form und Inhalt als mustergiltig gelten
dürften.
Aus verschiedenen Zweckmäßigkeitsgründen sind aber von diesem
Teile an die Lehrstoffe nicht mehr mit dem Lesebuche unmittelbar in
die notwendige Verbindung gebracht worden. Sie finden sich je nach
Bedürfnis in dem „Großen Reallehrbuche" (0,75 Mk.) oder in
dem „Kleinen Reallehrbnche" (0,50 Mk.) dargestellt.
Vorwort zur 11. Auflage.
Bei der 11. Auflage sind in dem geschichtlichen Teile dieses Buches
einige Veränderungen vorgenommen worden, um Karl den Großen,
Luther, Gustav Adolf und Friedrich den Großen noch mehr zu
würdigen. Wir wagten es, indem wir auf den Beifall der Herren
Kollegen rechneten. Es betrifft die Nr. 9, 35, 36, 37, 38, 43 und 50.
Burg und Leipzig, 1885.
Dr. W. Jütting. Hugo Weber.
Das deutsche Volk
in der Geschichte.
Deutsche Freiheit, deutscher Gott,
deutscher Glaube ohne Spctt,
deutsches cherz und deutscher letalst
sind vier chelden allzumal. ^ b{
1. Die alten Deutschen.
1. Die Sitten der alten Deutschen.
Groß, stark und schön waren die alten Deutschen. Wie Riesen
blickten sie über andere Menschen hin. Weiß und rein war die Farbe
ihrer Haut; in üppiger Fülle stoß das goldgelbe, blonde Haar
bei Männern und Frauen hernieder, und aus den großen, blauen
Augen blickten Mut und edler Freiheitsstolz. Das Leben in der
freien Natur war ihre Lust. Krieg und Jagd trieben die Männer;
Ackerbau und Viehzucht überließ man den Sklaven und Weibern.
Freiheit war ihnen das höchste Gut, und wer hätte sie diesen
Männern entreißen mögen, die mit Ungestüm in die Schlacht wie
zum Tanze sprangen, die auf dem Schilde über die Gletscher und
Eisberge rutschten, Ströme ableiteten zum Grabe ihrer Könige, Flüsse
mit ihren Schilden aufzuhalten suchten? Der Römer Tacitus, welcher
die Sitten und Lebensweise der alten Deutschen beschrieben hat, sagt:
„Bei ihnen lacht niemand über das Laster; bei ihnen vermag die
gute Sitte mehr, als in Rom das strengste Gesetz."
Die Fülle der Kraft galt unseren Urvätern so hoch, daß sie kranke
Kinder lieber töteten, als zu Krüppeln heranwachsen ließen, und daß
die Alten, wenn sie sich für nichts mehr tüchtig hielten, sich selber
den Tod gaben. Deshalb wurde die Kraft des Leibes auch frühzeitig
gestählt, das neugeborene Kind in kaltes Wasser getaucht, das heran-
gewachsene durch jede Leibesübung abgehärtet. Der Knabe ging mit
dem Vater ans die Jagd oder warf sich bei Sturm und Wetter in
den Strom und rang mit den Wellen. Der Jüngling sprang nackt
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zwischen nackten Schwertern und Lanzenspitzen einher, und der Bei-
fall des Volkes lohnte die Kecksten und Geschicktesten. Verstand der
Jüngling die Waffen zu führen, konnte er Bären- und Wolfsfelle,
die Hörner des Ur als Triumphzeichen aufweisen, dann hatte er das
Ziel langen Strebens erreicht: er ward würdig befunden, in die Zahl
der Männer ausgenommen zu werden. Die Edelsten des Stammes
gürteten ihn mit dem Schwerte, reichten seiner Linken den Schild und
drückten ihm den Speer in die Rechte. Seine liebste Lust war dann,
mit dem Feinde sich zu messen oder das riesige Wild zu erlegen. Das
Mädchen hingegen lernte L>itte und Zucht bei der keuschen und treuen
Mutter. Die Jungfrau gab nur dem Tapfersten ihr Herz. Der
Mann beschenkte als Bräutigam die Braut mit einem Ringe und mit
niedrigen Schuhen, durch deren Anlegung sie in die Gewalt des
Mannes trat; er brachte dem Weibe zum Wittum Waffen und Roß.
Die Verlobte brachte dem Manne zur Mitgift außer einem Rinder-
gespanne auch wohl ein Schlachtroß, den Schild und die Waffe; im
Frieden wie im Kriege wollte sie mit ihm leben und sterben. Hoch-
geehrt von ihrem Gatten führte die Frau im Hause die unumschränkte
Oberherrschaft; sie gebot über die dienende Schar und erzog die Kin-
der, sie besorgte Haus und Feld. In der Frauen Gegenwart setzte
sich niemand, und wenn die Hausfrau das Wort nahm, so schwieg
alles und lauschte der Rede; denn eine kluge Frau wurde als Seherin
verehrt, die, dem Wodan und der Hertha näher stehend, einen weis-
sagenden Blick in die Zukunft habe. Alrunen nannte man die be-
rühmtesten Weissagerinnen, und die bekannteste darunter warVelleda.
Eine Haupttugend der altdeutschen Häuslichkeit war die Frei-
gebigkeit; kein Volk ehrte die Rechte der Gastfreundschaft höher
als unsere Vorfahren. Der Fremdling, wer er auch war, wurde
freundlich an den Tisch genommen; selbst der flüchtige Verbrecher
fand augenblicklich Schutz am Herde. Wenn der Gast Abschied nahm,
fo empfing er als Gastgeschenk, was er nur begehrte; aber der Geber
forderte dafür von dem Empfänger auch frei und dreist, was ihm gefiel.
2. Nur der freie Mann war damals im Recht, durfte langes Haar
tragen und Waffen führen; Kriegsgefangene oder Eingeborene, die zur
Strafe eines schändlichen Verbrechens oder in der Leidenschaft des
Würfelspiels die Freiheit verloren hatten, standen als Leibeigene in
des Hausvaters Gewalt und bebauten das Land, was dem Freien
unwürdige Beschäftigung schien. Es waren aber die Freien entweder
bloß Freie oder Edle ans alten Geschlechtern. Nur die Freien
oder Edlen traten zur Neumonds- oder Vollmondszeit unter den
heiligen Bäumen zusammen, um des Volkes Wohl zu beratschlagen,
Krieg zu beschließen und Recht zu sprechen. In Wehr und Waffen,
als ging's zum Kampfe, traten sie in die Versammlung und sprachen
offen und ehrlich, jeder, wie es ihm ums Herz war. Wenn das Volk
in Gefahr und der Krieg beschlossen war, fo wählten sie den Tapfer-
sten zum Führer des Heerzugs, hoben ihn jauchzend auf den Schild
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und begrüßten ihn als Herzog. Dieser ließ dann das Aufgebot zur
allgemeinen Bewaffnung, den Heerbann, ergehen. Von Hof zu Hof
verkündete es der „Heerpfeil"; die Wehrmänner scharten sich, brachen
auf und holten die Feldzeichen, die in den heiligen Hainen aufgehoben
waren; auf Wagen folgten ihnen die Frauen mit den Kindern.
Auf dem Schlachtfelde reihten sich die Männer eines Geschlechts, die
Gemeinden, die Gaue aneinander, hinter den Kriegern standen die Frauen
auf der Wagenburg. Der Angriff begann mit wildfreudigem Kriegs-
geschrei und Gesang furchtbaren Ungestüms. Der Kern war das
Fußvolk; die Kecksten davon mischten sich unter die Reiter, hängten
sich an die Mähnen der Rosse und stürmten so, wie im Fluge, mit
voran. Auch zu lebendigen Keilen zusammengedrängt, gingen sie gern
in die Schlacht; da weihten sich die Vordersten dem Tode. Sonst
verstanden sie in den ältesten Zeiten nichts von den feinen Listen der
Kriegskunst; Angriff und Ringen, Mann gegen Mann, galt alles.
Nicht die unwiderstehliche Wut beim Angriff allein — auch ihr An-
blick selber schreckte den Feind; denn noch furchtbarer machte die
ohnehin riesigen Gestalten ihre Rüstung. Als Helm trugen sie die
Schädelhaut eines Tieres, woran die Hörner und Ohren stehen
geblieben, als Mantel das Fell, dazu einen langen, bemalten Schild,
hinter dem der Mann sich bergen konnte; der nervige Arm schwang
die „Framea", einen Spieß mit gleißender Steinspitze, oder die
lange Lanze, die Axt, die Keule, das Messer (Sachs). Während
die Männer fochten, walteten die Frauen in der Wagenburg, Pfleg-
ten die Verwundeten, sangen den Ermatteten Mut ein, erdolchten
die Feigen, die zurückflohen, und war alles verloren, so töteten sie
ihre Kinder und sich selbst, um einer verhaßten Knechtschaft zu ent-
gehen. Siegten die Deutschen, so verteilten sie die Beute und Ge-
fangenen unter einander, dann zogen sie heim und opferten einen
Teil den Göttern.
3. Eine andere Heerfahrt war die auf Abenteuer. Wenn einem
Helden die Ruhe des Friedens zu lange währte, so berief er die
Rüstigsten des Stammes, daß sie seine Waffenbrüder würden und mit
ihm auszögen auf kecke Abenteuer, auf Sieg, Ruhm und Bente. Da
schwuren sie ihm, immerdar sein Geleite zu sein, und blieben, wo-
hin er sie führte, wenn's nur ein ehrlich Werk war, in Not und
Tod ihm getreu. Ewige Schande fiel auf den, der seinen Herzog
verließ; und fiel dieser im Kampfe, so mochte ihn kein Waffenbruder-
überleben. Die erste Todsünde war ihnen Treulosigkeit und Wort-
brüchigkeil. Tacitus erzählt davon fast Unglaubliches; z. B. bei ihren
Mahlzeiten trieben die alten Deutschen auch Würfelspiel mit solcher
Begierde um Gewinn und Verlust, daß sie, wenn alles verloren war,
auf den letzten Wurf ihr höchstes Gut — ihre Freiheit, sich selbst
setzten, und der Verlierende ging dann ruhig in die freiwillige Knecht-
schaft, ließ sich geduldig binden, als Knecht verkaufen; so standhaft
hielten sie ihr Wort.
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Kein Gericht wurde damals heimlich gehalten; die Rechtspflege
war öffentlich und mündlich; das ganze Volk selbst übte sie, indem
es aus seiner Mitte besondere Männer erwählte, welche das Urteil
fällten und das Recht wiesen, Geschworene, und einen Richter,
der die Ordnung hegte. Dieser saß unter Gottes freiem Himmel, am
hellen Tage, auf Bergeshöh oder unterm heiligen Baume. Als Be-
weismittel galten Zeugenaussagen, und in Fällen, wo die Wahrheit
durch solche nicht ermittelt werden konnte, überließ man dem Himmel
die Entscheidung durch Gottesurteile: durch gerichtlichen Zwei-
kampf, durch die Feuerprobe oder die Wasserprobe.
Bei solcher Verfassung erhielten sich lange die alten Sitten und
Tugenden, Treue und Redlichkeit, Gastfreundschaft und Keuschheit
und der feste Mut, der den Tod verachtet. Duller.
2. Die Cimbern und Teutonen.
1. Im Jahre 113 vor Christi Geburt ward in der Stadt Rom die
Kunde erzählt: in den steirischen Alpen steht ein Volk von Riesen und
schüttelt die Waffen; es sind ihrer Dreimalhunderttausend mit trotzigen
Augen, so blau wie der welsche Himmel. Cimbern heißen sie sich selber.
Weither von Mitternacht, wo es nie Frühling wird, sind sie gekommen;
dort hat das Meer ihr Land verschlungen, und jetzt gelüstet es sie nach
dem schönen Italien. Da war in Rom große Besorgnis, und in Eile
führte der Cónsul Papirius Carbo ein Heer gegen die Cimbern; er traf
sie im Alpenlande, im heutigen Steiermark. Sie ließen aber ihm durch
Gesandte sagen: „Wir sind nicht gekommen, um mit dir zu streiten; nach
dem Lande Gallien wollen wir ziehen, darum laß uns ehrlich Frieden
halten und gieb uns Wegweiser." Der Römer versprach's, doch gab er
ihnen falsche Führer und überfiel das fremde Volk in der Nacht, da es
schlief, denn er hielt's für das Sicherste, sie in den Alpen aufzureiben. Aber
die Cimbern sprangen auf, schrieen um Rache und erschlugen im Grimme
das ganze römische Heer bis auf wenige; dann zogen sie weiter, um sich
in Gallien niederzulassen. Die Römer schickten acht Jahre hinter einander
Heere, erlitten aber immer Niederlagen; ja zuletzt, an der Rhone, erschlugen
die mit den Cimbern verwandten Teutonen 80 000 Soldaten und 40000
Troßleute der Römer und ihrer Bundesgenossen; alle Verwundeten und
Gefangenen brachten sie um, und die ganze Beute warfen sie, als den
Göttern geweiht, in die Rhone; nur zehn Männer entrannen und brachten
die Schreckensbotschaft nach Rom. Da war großes Wehklagen und noch
größeres Entsetzen in ganz Welschland. Keiner mochte gegen die Deutschen
ins Feld ziehen, und jeder glaubte, das Ende der römischen Herrschaft sei
da. Die Sieger aber, anstatt in Welschland einzuziehen, zogen gen Spanien
und versäumten damit die rechte Zeit.
Denn während dieser Zeit war in Rom Casus Marius zum Feld-
herrn gewählt worden, ein rauher Mann, aber ein Abgott der Soldaten.
Er hatte ein gewaltiges Heer gerüstet, zog eilends nach Gallien, und als
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er die wilden Schwärme nicht mehr traf, legte er ein festes Lager an uitb
übte seine Soldaten. Als nun die Cimbern und Teutonen aus Spanien
wiederkamen, lagerte Marius an der Rhone und hütete sich wohl,
den fürchterlichen Feind anzugreifen; denn erst sollten seine Soldaten sich
an den Anblick der Barbaren gewöhnen. Da trennten sich die Bundes-
genossen, um aus verschiedenen Wegen in Italien einzufallen; die Cimbern
zogen nach Tirol, die Teutonen wollten über die Seealpen vordringen.
Mit wildem Ungestüm rannten die Teutonen wider das feste Lager des
Marius, um ihn zur Schlacht daraus hervorzulocken; aber da es ver-
gebens war, brachen sie aus und riefen im Vorbeigehen höhnisch den
Römern zu: „Wir ziehen nach Italien; habt ihr etwas an eure Weiber
und Kinder zu bestellen?" — Marius eilte ihnen nach; es war im Jahre
102 vor Christi Geburt. Nicht weit von der Stadt Aquä Sextiä trifft
er sie, wie sie im schönen Thalgrunde an beiden Usern eines Flusses Rast
halten, vergnügt und sorglos beim Schmause und im Bade. Es beginnt
eine fürchterliche Schlacht. Schon werden die Römer zurückgedrängt, da
fallen aus einem Hinterhalte römische Reiter den Teutonen in den Rücken,
und — diese sind verloren. Zu Tausenden sinken sie in ihr Blut, nur
wenige wurden gefangen. Die Weiber schlugen, grimmig vor Scham,
die Fliehenden und töteten sich selbst, um den Römern nicht in die
Hände zu fallen. Unter den Gefangenen war der Teutonen Herzog,
Teutoboch, ein riesiger Mann und so gewandt, daß er sechs Pferde zu
überspringen vermochte.
2. Indessen waren die Cimbern durch die Tiroler Alpen gezogen;
scherzend fuhren sie, auf ihren Schilden sitzend, von den schnee- und eis-
bedeckten Bergen hinab. Vor ihnen her flüchtete der römische Feldherr
Catulus mit seinem Heere bis an die Etsch. Hier verschanzte er sich
an beiden Ufern und schlug eine Brücke über den Strom. Da rissen
die Cimbern, wie zum Spiel, die stärksten Bäume aus, mit Wurzeln und
Erdreich daran, warfen sie in den Strom, mächtige Felsstücke dazu und
zertrümmerten die Brücke. Catulus floh. Die Cimbern sonnten sich behag-
lich im milden Italien und tranken sorglos vom süßen welschen Weine.
So vergingen der Herbst und Winter, der Frühling kam; aber die Kriegs-
gesellen, die Teutonen, kamen nicht. Plötzlich war Marius da. Die
Cimbern schickten Gesandte an ihn und verlangten Land für sich und ihre
Brüder. „Welche Brüder?" fragte Marius. — „Die Teutonen!" antwor-
teten sie. — „Denen ist schon ein Land angewiesen, welches sie nimmer
verlassen werden!" rief Marius lachend. Die Gesandten drohten ihm
wegen seines Hohnes und meinten, die Teutonen würden früh genug da
sein. „Meint ihr?" erwiderte Marius. „Nun ja, sie sind schon da, und
es wäre nicht hübsch von mir, wenn ich euch ziehen ließe, ohne euch eure
Brüder zu zeigen." Auf seinen Wink führte man Teutoboch und die
anderen Gefangenen in Ketten herein. Als die Kunde davon in das Lager
der Cimbern kam, war jedes Herz voll Wut und Rache, undBojorix, der
Herzog, ritt vor das Lager des Marius und rief um Ort und Zeit zur
Schlacht. „Übermorgen bei Vercellä!" bekam er zur Antwort. Also
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geschah es. Am Morgen des dritten Tages — es war im Jahre 101
vor Christi Geburt — standen die Cimbern und Römer einander gegen-
über. Die Vorfechter in den ersten Reihen der Cimbern hatten sich mit
Ketten aneinander geschlossen. Im Frühnebel begann die Schlacht. Schon
wollten die Römer erliegen' da schwinden plötzlich die Nebel, die Sonne
blendet die Cimbern, der Wind treibt ihnen die Staubwolken ins Gesicht,
die ungewohnte Hitze ermattet sie; es entsteht Verwirrung. Jetzt hebt das
Würgen an und währt den ganzen Tag. Bojorix fällt; zwei Anführer
werden gefangen; zwei andere fassen sich fest an den Händen, legen die
Schwerter einer an des andern Brust und durchbohren sich so, um doch
als Freie zu sterben. 90 000 Landsleute waren erschlagen. Als alles
verloren war, fochten die Weiber noch fort und erdrosselten endlich in Ver-
zweiflung ihre Kinder und sich selber. Die treuen Hunde verteidigten
noch lange die Wagenburg. So erlagen die deutschen Stämme; aber lange
noch ehrte und scheute das römische Volk das deutsche Heldentum.
Duller.
3. Drums' Tod.
1. Drums ließ in Deutschlands Forsten
gold'ne Römeradler horsten,
an den heil'gen Götterreichen
klang die Axt mit freveln Streichen.
2. Siegend fuhr er durch die Lande,
stand schon an der Elbe Strande,
wollt' hinüber jetzt verwegen,
als ein Weib ihm trat entgegen.
3. Übermenschlich von Gebärde,
drohte sie dem Sohn der Erde:
„Kühner, den der Ehrgeiz blendet,
schnell zur Flucht den Fuß gewendet!
4. Jene Marken unsrer Gauen
sind dir nicht vergönnt zu schauen,
stehst am Markstein deines Lebens,
deine Siege sind vergebens.
5. Säumt der Deutsche gerne lange,
nimmer beugt er sich dem Zwange;
schlummernd mag er wohl sich strecken,
schläft er, wird ein Gott ihn wecken."
6. Drusus, da sie so gesprochen,
eilends ist er aufgebrochen,
aus den Schauern deutscher Haine
führt er schnell das Heer zum Rheine.
7. Vor den Augen sieht er's flirren,
deutsche Waffen hört er klirren,
sausen hört er die Geschosse,
stürzt zu Boden mit dem Rosse.
8. Hat den Schenkel arg zerschlagen,
starb den Tod nach dreißig Tagen.
Also wird Gott alle fällen,
die nach Deutschlands Freiheit stellen.
Simrock.
4. Armin, der Befreier Deutschlands.
1. Unter der Regierung des Kaisers Augustus suchten die Römer auch
ihre Herrschaft über Niederdeutschland zu verbreiten. Ein glücklicher
Erfolg begleitete den Anfang dieser Unternehmung. Die Deutschen, zwar
mutig, kriegslustig und freiheitsliebend, aber in mehrere Völkerschaften
geteilt, unter sich uneins und der Kriegskunst unkundig, setzten keinen
vereinigten und geordneten Widerstand entgegen. Von dem Rheine bis
zur Elbe hin drangen die Römer vor, und schon schien es, daß ganz
Niederdeutschland ihrer Übermacht auf immer unterliegen würde. Aber
alles, was sie durch 25jährige Anstrengung errungen hatten, raubte ihnen
ein einziger Schlag durch die Klugheit und Tapferkeit eines deutschen
Helden, dessen Name noch jetzt vom deutschen Volke mit dankbarer Liebe
gefeiert wird.
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Arminius, so hieß der edle deutsche Held, war der Sohn des
Segimer (Sigmar), eines Anführers der Cherusker, die vom Harze bis
zur Elbe hin wohnten. In früher Jugend kam er mit seinem Bruder
als Söldner nach Rom; denn die Cherusker standen damals in gutem
Vernehmen mit den Römern, und diese zogen gern Deutsche in ihre
Kriegsdienste, um Deutsche durch Deutsche zu unterdrücken. Einige Jahre
blieb Armin in Rom. Sein lebhafter, hervorstrebender Geist fand daselbst
Nahrung; er lernte römische Sprache, römische Kriegskunst und römische
Schlauheit kennen und machte sich bald so beliebt, daß ihm Augustus
das römische Bürgerrecht und die römische Ritterwürde erteilte. Als
aber sein Vater gestorben war, kehrte er mit Erlaubnis der Römer in
seine Heimat zurück. Vielleicht glaubte man zu Rom, daß der Jüngling,
den man zu Ehren und Würden erhoben hatte, mit Liebe für Rom erfüllt
sei, und daß er seine Landsleute zu gleichen Gesinnungen führen würde;
aber man irrte sich. Sowie Moses einst, als er am Hofe der Ägypter
erzogen wurde, in aller Weisheit derselben zunahm und doch voll heißer
Liebe für sein armes, unterdrücktes Volk erglühte, so war auch Armin
nur seiner Bildung, nicht seiner Gesinnung nach ein Römer geworden.
Sein Herz war und blieb seinem Vaterlande mit heißer Liebe zugethan.
Er sah, als er in die Heimat zurückkehrte, die nahe Unterjochung
seines Vaterlandes vor Augen. Immer weiter hatten sich die Römer
mit List und Gewalt ausgebreitet; immer zahlreicher wurden ihre Schan-
zen und Besatzungen auf deutschem Boden; immer mehr wurden deutsche
Sitten verdrängt. Um allmählich und unvermerkt das Joch der Knecht-
schaft über den Nacken der Deutschen zu werfen, entzog man ihnen durch
Aushebung ihre junge Mannschaft, gewöhnte man sie an fremde Bedürf-
nisse und römische Lebensweise und schickte ihnen römische Advokaten zu,
die nach römischem Rechte die Streitigkeiten schlichten sollten. Besonders
hart wurden die Deutschen von Quinctilius Varus gedrückt, der jetzt
Statthalter war diesseits und jenseits des Rheins. Die Deutschen
haßten ihn; denn dieser Römer nahm ihnen nicht nur ihr Hab und Gut,
sondern suchte ihnen auch das alte gute Recht aus der Hand zu winden
und die Sprache ihrer Väter zu verdrängen, damit sie auch dann, wenn
sie redeten, immer daran denken sollten, daß sie Knechte seien des römi-
schen Kaisers.
Armin ergrimmte in seinem Herzen, als er die Schmach seines
Vaterlandes sah, und er beschloß, die deutsche Freiheit zu retten. Aber
das Unternehmen war schwierig und für einen gemeinen Kopf ganz
unausführbar. Die Römer standen da mit einer großen Kriegsmacht, die
sich an das rauhe Klima von Deutschland gewöhnt hatte. Die Deutschen
waren geteilt, schwer zu vereinigen und noch schwerer zusammenzuhalten.
Im offenen Felde konnten sie es nicht mit den kriegserfahrenen Römern
aufnehmen; nur in sumpfigen, waldigen Gegenden, die sie genau kannten,
ließ sich Vorteil für sie erwarten. Das bedachte Armin und entwarf
darnach seinen Plan.
Sein Bruder Flavius war ganz und gar römisch geworden. Nach
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dessen Sinnesart beurteilte nun auch Varus den Armin, welcher ebenso
freundlich als Flavius gegen den römischen Feldherrn that und oft von
Varus zu Tische geladen ward. Armin ließ ihn beim Glauben, bis das
Werk der Befreiung, das er heimlich im Herzen trug, zur Reife gediehen
sei. Denn heimlich hatte er die Besten seines Stammes zusammen-
berufen und mit ihnen in stiller Waldeinsamkeit Rat gepflogen. Alle
erkannten, daß für die Deutschen nur darin Heil sei, wenn sie alle
Römer, die im Lande saßen, wie böse Raubtiere auf einem einzigen
Treibjagen erschlügen. Dazu lud er nun die benachbarten Brukterer
und die Marsen und noch andere Stämme ein, und alle schlossen mit den
Cheruskern eine Eidgenossenschaft auf Leben und Tod. Vorerst wollten
sie aber die Römer durch erheuchelte Demut sicher machen, und wenn
sich Römer bei ihnen zeigten, leisteten sie nicht den geringsten Widerstand.
Indessen hatte Armin eine Jungfrau gesehen, die hieß Thusnelda.
Keine andere im ganzen Cheruskerlande kam ihr gleich an Schönheit des
Leibes und der Seele, und mit bitterem Schmerze sah auch sie die Er-
niedrigung ihres Volks. Ihr Vater aber, Segest, hielt zu den Römern
und hoffte durch ihren Beistand sich die Herrschaft über sein Volk zu
erringen. Zu dieser Jungfrau trug Armin treue Liebe im Herzen, und
treu und innig hing Thusnelda an ihm. So ging er denn zu Segest
und freite um die Hand der Jungfrau, und als sie ihm verweigert ward,
achtete er in seiner großen Liebe weder der alten Sitte, noch der Gefahr
für seine Freiheit, wenn der Vater ihn ereilte. Er entführte Thusnelden
und brachte sie heim als sein eheliches Weib. Dafür schwur ihm Segest
ewige Rache, und er begann dieselbe damit, daß er den Varus vor
Armin als einem Verräter warnte. Doch Segest predigte tauben Ohren;
der römische Feldherr meinte, an allen den Verleumdungen sei bloß die
Entführung der Thusnelda schuld, und überdies deuchte er sich klüger
und verachtete den Rat eines „plumpen Deutschen." So schlug ihn
Gott mit Blindheit.
2. In seinem Sommerlager an der Weser saß Varus, als er die Kunde
erhielt, ein deutscher Stamm an der Ems habe sich erhoben und alle
Römer, die in seinen Marken wohnten, erschlagen. Also war es verab-
redet worden unter den Eidgenossen. Denn Armin, die Seele des
Bundes, hatte zuvor bedacht, daß Varus in solchem Falle nicht säumen
würde, mit aller Macht ins Feld zu ziehen. Und so kam's auch. Der
Römer beschloß, ohne Verzug aufzubrechen und Rache zu nehmen. Beim
Abschiedsmahl im Lager waren Armin und Segest zu Gaste, und Segest
warnte noch einmal. Doch Varus glaubte ihm abermals nicht und gebot
vielmehr dem Armin, daß dieser den Heerbann der Deutschen aufbiete
und sie als Bundesgenossen den Römern zuführe. Dann brach er
stolzen Mutes mit drei erprobten Legionen auf und zog in die Berge
an der Weser, in die Gegend, wo jetzt Herford und Salzufeln liegen.
Rasch bot Armin den Heerbann auf, und freudig nahmen die Eidgenossen
ihre Schwerter, um für die Freiheit zu kämpfen. Aus wohlbekannten
kiirzeren Wegen führte Armin sie hinter den Römern her und fiel
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plötzlich bereit Nachhut an. Noch ahnte Barns nicht den ganzen Umfang
der Gefahr und hielt für Übermut einzelner, was Plan und kluge Berech-
nung war. Denn zuerst wollte Armin die römische Kriegsmacht schwächen
und zerbröckeln, um dann die Trümmer desto sicherer zermalmen zu können.
Es kamen und schwanden die Rächer wie Schatten der Nacht. Bald
hier, bald dort fiel ein Römer im Engpaß. In dem Gedränge konnte
Barns die Gefahr nicht überschauen; er befahl, geschlossenen Marsch zu
halten, aber in der Wildnis war dies unmöglich. Endlich neigte sich
der Tag, und Barns gebot dem Heere, halt zu machen, sich zu ver-
schanzen, so gut es ginge, und zu verbrennen, was vom Gepäck über-
flüssig sei und im Zuge nur hindern könne. Am andern Tage rückte
das Heer, immer von den Deutschen umschwärmt, doch in bester Ord-
nung, in der Ebene weiter, die sich an der Werra ausdehnt, und gelangte
in die Gegend von Detmold, wo die hohe Teutoburg ragte. Da wird
auf einmal jeder Busch lebendig, aus jeder Bergschlucht raschelte es wie
viele hundert Schlangen empor, und die uralten Bäume schüttelten, wie
sonst nach dem Wetter Regentropfen, jetzt Pfeile ohne Zahl auf die er-
schrockenen Römer herab. Der Himmel wollte auch nicht feiern und half
den Deutschen mit Sturm und Regen. Von den Güssen unterwühlt,
sank die deutsche Erde unter des Römers Füßen ein; im losen Erdreich
schwankend, vom Sturm gerüttelt, stürzten die deutschen Eichen über die
Unterdrücker hin und zermalmten sie im Falle. Überall dringen die
Deutschen heran; Schritt für Schritt kämpft der Feind um den Boden,
auf dem er steht, um den Weg, um jeden Baum und Stein, und er
kommt nicht eher zu Atem, als bis die Nacht hereinbricht. Da läßt
Barns abermals Lager schlagen, und ermattet sinken die Römer hin;
aber in jedem Augenblicke scheucht der Deutschen Kriegsgehenl sie aus der
kurzen Nachtruhe empor. Als der dritte Morgen tagt, entdecken sie erst
wie licht es in ihren Reihen geworden ist. Mann an Mann geschlossen,
brechen sie auf und kommen aufs offene Land, das die „Senne" heißt.
Da sehen sie mit Grausen die ganze Macht der Eidgenossen vor sich ent-
faltet. Ringsum Deutsche, nirgends ein Ausweg! Für alle Tapferkeit
ist nichts mehr feil als der Tod. Jauchzend stürzt jetzt die Eidgenossen-
schaft in der verzweifelnden Römer starre Reihen. „Die Freiheit, die
Freiheit!" schallt's wie Donner des Himmels den Römern in die Ohren.
Wie die Saat unter Hagelschloßen sinken die Tapfersten unter deutschen
Hieben nieder. Armin selbst ist überall; hier ordnet er als Feldherr die
Schlacht und ruft: „Drauf, Brüder, draus!" dort kämpft er mit der
Kraft von zehn Männern, Stirn an Stirn; kein Eidgenosse, der nicht
mit ihm um den Preis wetteifert! Des Feindes Scharen sind zersprengt;
nur wenige wilde Haufen ragen noch aus dem Meere der Schlacht empor.
Jetzt wird die Flucht allgemein; doch die meisten rennen blind in die
Spieße der Deutschen. Da faßt Verzweiflung das Herz des Barns, und
er ^stürzt sich in sein eigenes Schwert, um sein Unglück und seine Schmach
nicht zu überleben. Nur wenige aus dem großen Römerheer entrinnen;
die meisten lagen auf dem Walplatze.
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Wer in Gefangenschaft kam, wurde entweder den Göttern geopfert
oder als Sklave verkauft. Am grausamsten rächte das Volk die lang
erduldete Fremdherrschaft an den Sachwaltern und Schreibern, die ihm
statt des guten alten Rechts das spitzfündige neue aufgedrängt hatten;
einem riß man die Zunge aus und rief dazu: „Nun zische, Natter, wenn
du kannst!"
Als Augustus die Kunde erhielt von dem Unglücke, stieß er in Ver-
zweiflung die Stirn an die Wand und rief einmal über das andere:
„Varus, Barus! Gieb mir meine Legionen wieder!" Ganz Rom
war voll Bestürzung und jeder glaubte, der Deutschen furchtbare Heerscharen
kämen wieder wie einst die Cimbern und Teutonen nach Welschland herab-
gezogen. In der Provinz Gallien und am Rheine ward zur Notwehr
gerüstet. Gruudlose Furcht! Eroberungen wollten die Deutschen nicht
machen, nur von der Fremdherrschaft wollten sie frei sein. Sie waren
zufrieden, als sie die Zwingburgen im Lande gebrochen hatten, und als
kein Römer am Rheine mehr zu schauen war. Grube.
5. Das Kampfspiel.
Ingo, ein Sohn des Königs der Vandalen, die vor der Völkerwanderung
im Osten Deutschlands wohnten, hat im Jahre 350 am Rheine an dem Kampfe
der Alemannen gegen die Körner teilgenommen und kommt auf der Heim-
fahrt an den Hof des thüringischen Fürsten Answald, wo er als Fremder
Gastfreundschaft geniefst, sich bei den Kampfspielen beteiligt und erst später
als der grosse Held erkannt wird. Es ist dieses Bruchstück aus dem Romane
„Ingo und Ingraban“ ein schönes Bild deutschen Lehens aus der Zeit vor der
Völkerwanderung.
Der Fürst stand vor dem Herrenhanse und empfing dort die
Edlen und die freien Bauern, welche auf allen Wegen zu Fuss
und Ross heranzogen und am geöffneten Thore von Hildebrand,
dem Sprecher, begriffst wurden. Wer zu Ross nahte, der stieg
dort ab, und die Jungen führten sein Pferd iu ein weites Gehege
und banden es fest, damit die Knechte ihm den Schaum mit Stroh
abrieben und alten Hafer in die Krippe schütteten. Würdig war
Grufs und Anrede; in weitem Ringe standen die Gäste auf dem
Hofe, eine stolze Gesellschaft, ansehnliche Männer aus zwanzig
Dörfern der Gegend, alle in ihrem Kriegsschmucke, den Eschen-
speer in der Hand, Schwert und Dolch an der Seite, in schöner
Lederkappe, die mit Zähnen und Ohren des wilden Ebers ge-
schmückt war; mancher ragte unter dem Eisenhut, in einem Leder-
koller oder Kettenpanzer über dem weifsen Hemde und in hohen
Lederstrümpfen, die bis zum Leibe reichten, mancher auch, der
reich war und die Ware der rheinischen Krämer beachtete, trug
einen Überwurf von fremdem Zeuge, das feine Haare von bunter
Farbe hatte und wie das zarte Fell eines Raubtieres glänzte.
Schweigend standen die Männer und freuten sich der Versamm-
lung; nur einige, die zu einander traten, tauschten leise Worte
über die Gerüchte, welche durch das Land flogen von der grossen
15
Schlacht im Westen und von bedrohlicher Zeit. — Lange währte
die Begrüfsung, denn immer noch kamen einzelne, die sich ver-
spätet hatten, bis der Sprecher an den Häuptling trat und auf
den Stand der Sonne wies.
Da führte der Wirt seine Gäste vor die Halle, feierlich be-
traten sie im Zuge die Stufen, am Eingänge empfing sie die Haus-
frau, neben ihr stand die Tochter mit den Mägden. Ehrerbietig
huldigten die Männer den Frauen; die Fürstin reichte allen die
Hand und fragte gebührlich nach ihren Frauen und dem Haus-
stände. den Männern von der Freundschaft bot sie die Wange zum
Kusse. Die Häupter des Volkes nahmen gewichtig Platz auf den
Sesseln der Bühne und begannen ernstes Männergespräch, wäh-
rend der Schenk und die Diener in langer Reihe einzogen; diese
trugen in Holzkannen den Frühtrunk und behagliche Zukost,
weifse, gewürzte Brotkuchen und Fleisch aus dem Rauchfange.
Unterdessen rüsteten die Jungen ungeduldig auf dem
Rasengrunde vor dem Hofe die Bahn zu kriegerischem Spiele.
Die Knaben des Dorfes begannen den Kampf, damit auch
sie das Lob der Krieger erwarben; sie rannten nach dem Ziele,
sprangen über ein Ross und schossen mit dem Rohrpfeile
nach der Stange. Bald aber ergriff der Eifer die Jünglinge,
sie warfen die Speere, sie schleuderten den schweren Felsstein
und sprangen ihm nach, und als Theodulf in mächtigem Sprunge
den schwersten Stein geworfen und den weitesten Sprung gethan,
klafterweit über die anderen hinaus, da erscholl lautes Jauchzen
bis zur Halle. Und die Alten und Weisen des Volkes hielt
es nicht länger auf ihren Sitzen, auch sie eilten zur Schau auf
den Rasen. Gross wurde der Ring der Zuschauer; die Weiber des
Dorfes standen in ihrem Festschmucke, gesondert die Männer, und
im Umkreise klang immer lauter der Zuruf und das Lob der Sieger.
Unter den Zuschauenden stand Ingo und achtete schweigend
auf die behende Kraft. Da trat zu ihm Isanbart, ein alter Häupt-
ling des Gaues, betrachtete ihn prüfend und begann feierlich, so
dass die Rede der anderen verstummte: „Auch in deinem Volke,
Fremdling, woher du auch stammst, übt sich wohl der junge
Krieger in Sprung und Waffen. An deinem Auge und Arme sehe
ich, dass du des Spieles nicht ganz unkundig bist, vielleicht gefällt
dir’s, unseren jungen Männern zu zeigen, was in deiner Heimat
Brauch ist, wenn du auch nicht die Kunst eines Häuptlings ver-
stehst. Bist du aus dem Ostlande, wie ich vernehme, so vermagst du
wenigstens die Holzkeule zu schwingen; auch dieser Wurf erweist
die Kraft des Mannes, obgleich meine Landgenossen ihn wenig üben.
In der Halle sah ich über dem Sitze des Wirtes ein solches Holz.“
Ingo antwortete dem ehrbaren Greise: „Wenn mir’s der Fürst
gestattet und die Häupter des Volkes, so will ich versuchen, was
ich ehedem gelernt.“
16
Der Fürst winkte; einer aus dem Gefolge sprang nach dem
Hofe und trug eine Waffe aus Eichenholz herzu, vom Griffe nach
rückwärts gekrümmt, vorn mit scharfer Schneide. Die Keule ging
von Hand zu Hand, lachend wogen die Männer das leichte Werk-
zeug. „Eine Waffe, dieser ähnlich, trägt unser Sauhirt, um Wölfe
zu schlagen“, rief Theodulf verächtlich; aber Isanbart, fler Greis,
entgegnete strafend: „Du sprichst thöricht, ich sah von solchem
Holze, nicht so schwer als dies, einen Schädel brechen wie
einen Thonkrug.“ Und er legte die Keule dem Wirt in
die Hand.
„Wer jemals in den Ostmarken über eine Walstatt geritten
ist“, sprach der Fürst, „der kennt die Wunden, welche dieser
Knorren schlägt. Doch von alten Kriegern habe ich gehört, dass
ein Geheimnis in dem Holze liegt und dass man schwer des
Wurfes mächtig wird, denn tückisch soll es dem Unvorsichtigen
das eigene Haupt treffen. Nicht unwert ist dieses Holz der Hand
eines Edlen, denn es war vor Zeiten eines Königs Waffe, nnd
mein Vater brachte sie aus der Fremde heim.“
„Drum soll sie ihre Kunst dem Sohne erweisen“, rief Ingo
freudig und fasste darnach. Mit kurzem Armschwunge warf er die
Keule, sie flog in krausem Bogen durch die Luft; doch als alle
meinten, dass sie zu Boden schlagen würde, fuhr sie wie durch
eine Schnur gezogen wieder nach dem Manne zurück, er packte
sie in der Luft am Griffe und warf sie wieder hierhin und dahin,
immer schneller und immer kehrte sie gehorsam vom Schwünge
in seine Hand zurück. So mühelos und lustig schien das Spiel mit
dem Eichenkloben, dass die Zuschauer näher traten und lautes
Gelächter durch den Kreis ging.
„Das ist ein Gaukelspiel des fahrenden Mannes“, rief Theo-
dulf verachtend.
„Es ist eines Mannes Handwehr“, versetzte der Fremde ent-
gegen, „schwerlich ist dein Schädel fester als diese Eisenkappe.“
Er sprach zu Wolf, und dieser legte in Weite eines Speerwurfs
einen alten Eisenhelm auf einen Pfahl. Der Fremde mafs das
Ziel, wog die Waffe in schwingender Hand, warf sie im Bogen
nach dem Helme und sprang in gewaltigem Satze nach. Laut
krachte das berstende Metall, und doch fuhr die Keule wieder
zurück, und wieder packte sie Ingo mit starker Hand und hielt
sie hoch. Ein Ruf des Erstaunens scholl in dem Ringe, ein
Haufe sammelte sich neugierig um den zerschlagenen Helm.
„Wohlan“, begann Theodulf herablassend, „hast du uns deine
Gewohnheit gezeigt, so versuch es auch mit unserm Brauch. Führt
den Springern die Rosse heran!“
Zuerst wurden zwei Rosse neben einander gestellt, Kopf an
Kopf nnd Schweif an Schweif. Die Springer traten zurück und
schwangen sich mit kurzem Anlaufe hinüber; fast allen glückte der
17
Sprung-, aber bei drei Rossen gelang es nur einer kleinen Zahl,
und über vier sprang Theodulf allein, und als er hinter den Rossen
zum Haufen der anderen zurücktrat, sah er herausfordernd den
Fremden an. und winkte mit der Hand zur Folge. Der Fremde
neigte das Haupt ein wenig und that denselben Sprung so sicher,
dass das Feld vom Beifall wiederhallte. Da rief Theodulf das
fünfte Ross heran zum schweren Sprunge, nur selten vollbrachte
ihn einer der Behendesten. Aber der Thüring war gereizt und
entschlossen, das Äusserste zu thun. Er selbst ordnete die Pferde
anders, dass der Schimmel als fünfter stand, dann sah er um sich,
empfing den Zuruf seiner Freunde und wagte den mächtigen
Sprung. Und er kam hinüber, nur dass er beim Niedertauchen
mit seinem Rücken den Schimmel streifte. Aber während er vor-
trat und sich über das Jauchzen des Volkes freute, tönte noch
lauterer Zuruf hinter ihm, und umgewandt sah er den Fremden,
der diesmal schnell und mühelos in seinem Rücken den Sprung
vollbrachte. Der Thüring erblich vor Zorn, er ging schweigend
an seinen Platz und mühte sich vergebens, den Neid herabzu-
drücken, der ihm aus den Augen brach. Die Alten aber traten
zu dem Fremden und rühmten seine Kunst, und der alte Häupt-
ling begann: „Ich erkenne, Fremder, wenn mich nicht deine Ge-
bärde täuscht, du bist nicht unkundig des Schwunges auch über
sechs Rosse, den sie Königssprung nennen, und der nicht in jedem
Menschenalter einem Helden gelingt. Ich sah ihn einmal, da ich
jung war, mein Volk niemals.“ Und er rief laut: „Führt das
sechste Ross heran.“ Da erhob sich im Kreise Gemurmel, und
die Entfernten drängten näher herzu, während die Häuptlinge
eilten, das Ross zu stellen. Neben Ingo aber trat die Fürstin, sie
war bekümmert um die Niederlage ihres Verwandten und sprach
leise zu dem Gaste: „Erwäge, Held, leicht trifft der Pfeil des
Jägers den Auerhahn, wenn er die Flügel breitend seine Stimme
erhebt.“ Aber Ingo sah auf Irmgard, welche in froher Erwartung
hinter der Mutter stand und ihn freundlich anlachte, und er ant-
wortete mit heissen Wangen: „Zürne mir nicht, Herrin, ich bin
gefordert, nicht habe ich mich in den Kampf gedrängt; ungern
entsagt der Mann der angebotenen Ehre.“ Er trat rückwärts
zum Sprunge, hob sich gewaltig in die Luft und vollbrachte den
Sprung, dass alles Volk jauchzte, und da er zurückkehrte, achtete
er nicht auf die unwillige Mene der Fürstin, er freute sich, dass
ihm die Kunst gelungen war und Irmgards Angesicht rosig
erglänzte. Lange wogten die Zuschauer durcheinander, sprachen
über die Kühnheit des Fremdlings und rühmten ihn, bis dem
Wettkampfe der Männer andere Ziele gesetzt wurden. Ingo stand
fortan still neben den Häuptlingen und niemand forderte ihn zu
neuem Str eite. Gustav Freytag-.
(Ingo und Ingraban.)
2
Das Vaterland.
18
2. Aie Uöl'kerwanderung.
6. Attila, -ie Gottesgeitzel.
In der Ebene zwischen der Donau und der Theiß in Ungarn,
in einem sehr großen, von Pfahlwerk umgebenen Dorfe, erhob sich
ein hölzernes, mit vielen Hallen und Gängen geziertes Gebäude, die
Wohnung Attilas oder Etzels, des Königs der Hunnen. Er hatte
das bis dahin unter vielen Oberhäuptern zerteilte Volk zu einer
Herrschaft vereinigt. Nicht nur die Hunnen, sondern auch alle
anderen, von der Wolga bis zur Donau wohnenden Völker gehorchten
seinen Geboten; er war Herr der Gepiden, Langobarden,
Avaren, Ostgoten und vieler Völker im südlichen Deutschland.
Attila war klein von Wuchs, hatte einen großen Kopf, tiefliegende
Augen, die er stolz umherwarf, eine breite Brust, sehr viel Leibeskraft
und einen Gang und eine Haltung, die zeigten, daß er in allem den
Gebieter darstellte, wie denn sein liebster Name Godegisel, Geißel
Gottes zur Bestrafung der Welt, war. Schrecklich gegen seine Feinde
und im Zorne vernichtend, war er doch auch voll Güte gegen die,
welche er in seinen Schutz genommen hatte. Im Kriege führte er
seine Völker immer selbst zur Schlacht; aber im Frieden saß er auch
selbst vor seinem Palaste zu Gericht und sprach allen Recht ohne
Unterschied. Um sich her liebte er die Pracht, aber er selbst lebte
auf einfache Weise, als bedürfe seine Größe solches Zusatzes nicht.
Sein Sattelzeug war ungeschmückt und wenig kostbar. Bei den Gast-
mählern wurden allen Gästen goldene und silberne Geschirre vorgesetzt,
er allein hatte hölzerne. Nach der Sitte seines Volkes verschmähte
er Brot und aß nur ein wenig Fleisch. Nach jedem Gerichte ging
der Becher herum auf Attilas Wohl, und Sänger priesen in Helden-
liedern seine Thaten; aber es fehlte auch der Hofnarr nicht. Während
unter den Gästen Freude und Scherz herrschte, verlor er nie den
strengen Ernst. Bloß wenn sein jüngster Sohn eintrat, erheiterten
sich seine Züge, und er liebkoste ihn; denn von diesem war ihm
geweissagt, er allein werde Attilas erlöschenden Stamm erhalten.
Dieser mächtige Herrscher, vor dem hundert Völker erbebten und
Rom und Konstantinopel in ihren Grundfesten erzitterten, wenn er
sein Schwert in die Erde stieß, brach im Jahre 451 mit einem Heere
von 700 000 Mann ans und wandte sich gegen Abend. Er zog durch
Deutschland, ging über den Rhein und fiel in Frankreich ein. Sein
Zug war wie ein Heer der Heuschrecken, das in ein grünes Feld
einfällt: das Land war vor ihm wie ein Lustgarten, aber nach ihm
wie eine wüste Einöde. Im westlichen Römerreiche war damals ein
großer Feldherr, Aötius mit Namen. Dieser brachte die ganze
Macht des Reiches aus und verband sich mit mehreren deutschen
19
Stämmen, als den Westgoten, Alanen, Franken und Burgundern;
denn es galt nichts Geringeres, als den Kampf einer gebildeten Welt
mit der rohen Barbarei. In der weiten Ebene, in welcher Chalons
liegt, und die von den Alten die katalanischen Felder genannt
wird, stießen die Heere aufeinander. Als die Schlacht ihren Anfang
nehmen sollte, rief Attila die Anführer feiner Scharen zusammen
und sprach: „Nichts Gemeines ziemt mir euch zu sagen, oder euch,
von mir zu hören. Seid Männer! Greift an, brechet ein, werfet
alles nieder! Der Römer Schlachtordnung und Schilddächer verachtet;
fallet auf die Westgoten und Alanen, in denen ist die Kraft des
Feindes! Müßt ihr sterben, so werdet ihr sterben, auch wenn ihr
flieht. Richtet eure Augen auf mich! Ich schreite voran, wer mir
nicht folgt, der ist des Todes." Die Schlacht war über die Maßen
hart und blutig. Schon durchbrachen die Hunnen das Mitteltreffen,
und die Römer flohen; auch die Westgoten wichen, und ihr König
fiel, indem er zu seinem Volke redete. Aber sein Tod entflammte
die Seinen zur Wut, und des Königs Sohn warf durch gewaltigen
Angriff die Feinde in die Flucht. Bei einbrechender Nacht mußte
Attila sich in seine Wagenburg zurückziehen. An 200000 Tote und
Verwundete deckten das Feld; das Blut floß in Bächen und die
Verwundeten tranken von dem Blute, um nicht vor Durst zu ver-
schmachten. Da Attila nicht wußte, ob der Feind ihn verfolgen würde,
ließ er unzählige Pferdesättel und hölzerne Schilde zu einem Scheiter-
haufen auftürmen, um im Notfälle ihn anzuzünden und in den
Flammen zu sterben. Zugleich gebot er, um die Feinde abzuschrecken,
mit Waffen, Posaunen, Schlachthörnern und Gesang die ganze Nacht
Lärm zu machen. Doch die Feinde griffen ihn nicht an. Unter den
dichtesten Haufen der Gefallenen suchten sie den Leichnam des Goten-
tönigs und hielten ihm auf dem Schlachtfelde ein feierliches Leichen-
begängnis, unter Wehklagen und Waffengetön, geschmückt mit Hunnen-
beute, angesichts Attilas, der die Bestattung nicht zu stören wagte.
Attila kehrte unverfolgt über den Rhein zurück. Im folgenden
Jahre machte er noch einen Raubzug nach Italien und starb kurz
nachher eines plötzlichen Todes. Betrauert und begraben wurde er
nach der Sitte des Volkes; die Hunnen zerfetzten ihre Gesichter mit
Messern und schoren sich die Haare ab. Der Leichnam wurde in
einer weiten Ebene unter einem seidenen Zelte gezeigt. Die Reiter
rannten unter dem Absingen von Attilas Thaten um dasselbe herum
und priesen ihn glücklich, daß er nach unsterblichen Siegen in der
ruhmreichsten Zeit seines Volkes ohne Schmerzen seine Laufbahn be-
schlossen und sich hinüber zu den Geistern der alten Helden begeben
habe. In der Nacht wurde er in einen goldenen Sarg gelegt, dieser
in einen silbernen und beide in einen eisernen; Pferdezeug, Waffen,
Kostbarkeiten wurden mit ihm begraben, und darauf alle Arbeiter am
Grabe umgebracht, damit keiner verrate, wo der Hunnenheld ruhe.
Kohlrausch.
2*
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20
J
7. Das Grab im Busento.
1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Liederj-
ans den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder.
2. Und den Fluß hinauf, hinunter zieh'n die Schatten tapfrer Goten,
die den Alar ich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
wahrend noch die Jugendlocken seine Schultern blond umgaben.
4. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette,
um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
5. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam mit der Rüstung auf dem Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen;
mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
8. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab Versehren!"
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere.
Wälze sie, Bnsentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!
v. Platen.
8. Die deutsche Sage von Siegfried.
(Inhalt des Nibelungenliedes bis zum Tode Siegfrieds.)
1. Wer Siegfried war.
Siegfried war der Sohn Siegmunds und Sieglindens, die
ihre Königsburg in Santen am Niederrhein hatten, weshalb er auch
nicht selten Siegfried von Niederland genannt wird. Schon als Knabe that
er sich durch unbändige Kraft vor allen anderen hervor und verbrachte
bereits in früher Jugend staunenswerte Heldenthaten. So tötete er
einen gefährlichen Drachen oder Lindwurm, mit dessen Blute er seinen
eigenen Leib bestrich und dadurch seine Haut so stark und unverletzlich
machte, als wäre sie von Horn. Daher wurde er auch gewöhnlich nur
der hörnerne Siegfried genannt. Einst sollte er einen Streit schlichten,
den die Nibelungenkönige Schilbung und Nibelung mit einander wegen
eines unermeßlich reichen Schatzes hatten, über den der Zwerg- oder
Elbenkönig Alberich zu wachen hatte. Siegfried entschied den Streit nach
bestem Wissen und so gerecht als möglich; aber die Könige waren mit
seinem Urteilsspruche nicht zufrieden, sondern vertrugen sich rasch wieder
und wandten sich nun mit vereinten Kräften gegen ihn und wollten
ihren Zorn mit dem Schwerte an ihm rächen. Da griff auch Siegfried
zum Schwerte und schwang es so furchtbar, daß die beiden Könige ihre
Tücke mit dem Tode büßen mußten. Da nun Siegfried auch den Elben-
21
könig Alberich überwältigte, so ward er Herr des Schatzes, der allgemein
nur der Nibelungenhort genannt wurde. In demselben befand sich auch
die wunderbare Tarnkappe, die den, der sie aufsetzte, nicht nur unsichtbar
machte, sondern ihm auch die Kräfte von zwölf Männern verlieh. Der
Schatz selbst aber war unerschöpflich, denn durch eine goldene Wünschel-
rute, die zu ihm gehörte, konnte er immer wieder aufs neue gefüllt werden,
wie viel auch der Herr desselben von ihm genommen haben mochte. So
war Siegfried schon als Jüngling weit und breit gefürchtet und bewundert;
als er aber zu Jahren gekommen war und seine Verwandten ihm rieten,
eine edle Jungfrau zum Weibe zu nehmen, sagte er: „Wenn ich mich ver-
mählen soll, so will ich keine andere als Kriemhilden, die den Ruf der
schönsten Königstochter auf Erden hat."
Es war aber Kriemhilde die Tochter des Königs Dankrat und der
Königin Ute, und lebte, da ihr Vater gestorben war, am Hofe ihrer
Brüder Günther, Gernot und Gieselher, die zu Worms am Rhein
Könige über das Volk der Burgunder waren; Günther aber war der höchste
und mächtigste unter ihnen.
2. Wie Siegfried nach Worms kam.
Als der alte König Siegmund den Entschluß seines Sohnes vernom-
men hatte, schüttelte er den Kops dazu und wollte ihm abraten. Die Burgunder-
könige seien trotziger und hochfahrender Natur, sagte er, und ihre Dienst-
mannen, vor allen der gewaltige Hagen von Tronje, thäten es in Trotz
und Übermut ihren Herren wo möglich noch zuvor.
Aber das konnte den jungen Helden Siegfried nur noch mehr reizen, das
Abenteuer zu bestehen, und so erklärte er fest, wenn er Kriemhilden nicht haben
sollte, so möchte er sich lieber gar nicht vermählen. Da wollte ihm sein
Vater eine große Schar Bewaffneter zum Schutze mitgeben, aber Siegfried
lachte dazu und wollte nur mit elf Rittern, so daß er selbst der zwölfte
wäre, nach Worms reiten, wo er sich die Hand der schönen Kriemhilde mit
kühner Waffenthat zu erzwingen gedachte.
Wie sehr nun auch Siegmund durch die Absicht seines Sohnes beun-
ruhigt wurde, so mochte er ihm doch nicht widersprechen, sondern erklärte
sich bereit, alles für die Ausrüstung seines Sohnes und der kühnen Ritter
zu thun, die er zu seinem Gefolge wählen würde. Dasselbe that Frau
Sieglinde, Siegfrieds Mutter, die auch sofort ihren Hoffrauen und Fräulein
Befehl gab, für die Herstellung der feinsten und kostbarsten Gewänder für
Siegfried und sein Gefolge zu sorgen. Als die Ausstattung fertig war,
nahm Siegfried mit seinen Genossen Abschied von seinen Eltern und ritt
fröhlich und wohlgemut aus dem Thore der väterlichen Burg zu der
wunderlichen Brautfahrt hinaus.
Als Siegfried nach mehreren Tagereisen zu Worms ankam und seine
Ankunft dem Könige Günther gemeldet wurde, kannte ihn niemand bei Hofe;
nur Hagen, der von Welt und Leben das meiste gesehen hatte, vermutete, es
fei der kühne Siegfried von Niederland, der nach allem, was er von ihm
gehört habe, wohl verdiene, daß man ihn höflich empfange. Das geschah
— 22 —
denn auch in allen Ehren. Aber Siegfried trat sehr trotzig auf und ver-
langte, sich mit den Bnrgunderkönigen, vor allen mit Günther, im Wett-
kampfe zu messen, um zu erfahren, ob das, was er von ihrem Mute und
ihrer Stärke gehört habe, wahr sei oder nicht. Jeder der Kämpfer solle
sein Reich zum Pfande setzen, und wer den Sieg gewönne, der solle zu
Worms wie zu Santen König sein. Da waren unter den burgundischen
Rittern manche, die gar heftig aufbrausten. Es wäre wohl zum harten
Streite gekommen, wenn nicht die Burgunderkönige selbst mit feinen und
artigen Worten zur Sühne geredet und alles zum besten gewendet hätten.
Da legte Siegfried seinen Trotz ab und nahm die Einladung der Könige,
dazubleiben und sich von ihren Gütern alles gefallen zu lassen, was die
Ehre anzubieten erlaubte, nicht minder freundlich und bescheiden an, als er
zuvor ungestüm und hochfahrend gewesen war.
Er blieb nun längere Zeit als Gast zu Worms und hatte hier hin-
länglich Gelegenheit, in den ritterlichen Kampfspielen, die ihm zu Ehren
veranstaltet wurden, seine große Kraft und Gewandtheit zu zeigen, ohne
jedoch auch nur einmal die schöne Kriemhilde zu sehen, um deretwillen er
doch allein gekommen war; denn die Hofsitte erlaubte den Frauen nur bei
außerordentlichen Gelegenheiten, sich öffentlich zu zeigen. Kriemhilde dagegen
hatte von dem kühnen Gaste ihrer Brüder nicht bloß gehört, sondern auch
von dem Fenster ihres Gemaches aus ihn wiederholt unbemerkt gesehen
und seine hohe Kraft und Schönheit oft bewundert.
3. Wie Siegfried mit den Sachsen stritt.
Eines Tages fand Siegfried seinen königlichen Wirt Günther in tiefer
Bekümmernis. Siegfried fragte ihn nach der Ursache und war sehr betrübt,
als Günther antwortete, er könne seine Not nur seinen Freunden klagen,
denn er sah daraus, daß ihn Günther trotz aller Freundlichkeit doch nicht
zu seinen Freunden rechnete. Als er aber fortfuhr, in ihn zu dringen und
ihn seiner freundschaftlichen Gesinnung zu versichern, teilte ihm Günther
mit, Lüdiger und Lüdegast, die Könige der Dänen und Sachsen, hätten ihm
den Krieg erklärt und bedrohten sein Reich mit großer Heeresmacht. Da
bat ihn Siegfried um tausend streitbare Ritter, an deren Spitze er sich zu
siegen getraute, wenn Männer wie Hagen und sein Bruder Dankwart nebst
seinem Neffen Ortwin von Metz und dem kühnen Spielmann Volker von
Alzei in seinem Gefolge wären, und wäre das Heer der Sachsen und
Dänen auch dreißigtausend Mann stark.
Hocherfreut nahm Günther den Vorschlag an, und Siegfried zog in
den Krieg wider die hochmütigen Feinde und vollbrachte solche Wunder der
Tapferkeit, daß es ihm in nicht langer Zeit gelang, beide Könige gefangen
zu nehmen und dadurch dem ganzen Kriege ein Ende zu machen. Der
Bote, den Siegfried mit der Siegesnachricht nach Worms vorausschickte,
wurde mit großer Freude empfangen und von allen reich beschenkt, am
reichsten jedoch von Kriemhilden, die ihn im geheimen nach allen Helden-
thaten Siegfrieds ausforschte. Sie vernahm zu ihrer innigen Freude, daß
ihre Angst und Sorge um den teuren Helden umsonst gewesen war.
23
4. Wie Siegfried Kriemhilde« zuerst sah.
Als Siegfried mit den gefangenen Königen nach Worms kam, nahm
er die Ehrenbezeigungen, die ihm entgegen gebracht wurden, mit großer
Bescheidenheit auf. Er riet dem Könige Günther, die durch ihre Gefangen-
schaft tief gedemütigten Könige ohne Lösegeld frei zu geben, um dadurch
die Feinde in Freunde zu verwandeln. Günther befolgte den großmütigen
Rat und hatte später nie Ursache, es zu bereuen.
Zu Ehren Siegfrieds aber wurde am Hofe zu Worms ein zwölf-
tägiges großes Hoffest veranstaltet, und um es besonders feierlich und
glänzend zu machen, riet Gernot seinem Bruder Günther, auch die Königin
Ute und ihre Tochter Kriemhilde mit den Frauen und Jungfrauen ihres
Hofstaates bei Hofe erscheinen zu lassen. Günther that, wie Gernot geraten
hatte, und wies dem Helden Siegfried den Ehrenplatz an der Seite feiner
Schwester Kriemhilde an. Ihr Anblick war dem Helden wie der der rosigen
Morgenröte, die aus dunklen Wolken hervorleuchtet, oder wie der des lichten
Vollmondes, der in mildem Glanze vor den Sternen des Himmels strahlt;
aber ihre holde Schönheit und die Herzensgute, die aus ihrem Antlitze ihm
entgegenstrahlte, überwältigte ihn so, daß er daran verzweifelte, jemals
ihre Liebe zu gewinnen, und kaum ein Wort über seine Lippen bringen konnte,
als er sie in die Kirche begleitete. Erst nach dem Gottesdienste fand er
den Mut, aus ihre freundlichen Worte des Dankes für alles, was er ihren
Brüdern geleistet hatte, zu antworten: was er gethan habe, sei einzig ihr
zu Liebe geschehen.
Aber obgleich er nun während der ganzen Dauer des Hoffestes täg-
lich an der Seite der schönen Kriemhilde gehen durfte, die gar manches
freundliche Wort mit ihm wechselte, so überwand er doch nicht seine innere
Schüchternheit. Als das Fest zu Ende war und die eingeladenen Ritter
Abschied nahmen, dachte auch er ans Scheiden und wollte sich bei den
Burgunderkönigen beurlauben, um in die Heimat zurückzukehren.
Aber sie redeten ihm so freundlich und dringend zu, noch länger
dazubleiben, daß er die Heimfahrt wieder aufschob und zur großen Freude
Kriemhildens es sich noch länger in Worms gefallen ließ.
5. Wie Günther nach Island fuhr.
Nun war aber auch für den König Günther die Zeit gekommen,
daß seine Freunde ihm rieten, sich eine würdige Königin zu wählen,
und da er von Brunhilden gehört hatte, daß sie die schönste Jungfrau
sei, so erklärte er sich entschlossen, um ihre Hand zu werben.
Das war aber eine sehr gefährliche Sache; denn Brunhilde war von
unmenschlicher Stärke und nahm keines Mannes Bewerbung um ihre
Hand an, wenn er sich nicht bereit erklärte, drei Kampfspiele mit ihr zu
bestehen, nämlich mit ihr den Speer zu schießen, den Kampfstein zu
werfen und den Kriegssprung zu thun. Dabei stellte sie die Bedingung,
daß er sein Leben lassen sollte, sobald er nicht als Sieger aus allen
drei Wettkämpfen hervorginge. Darum waren Günthers Brüder und
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Freunde in nicht geringen Sorgen, als sie seinen Entschluß vernahmen; da
er jedoch darauf beharrte, so riet Hagen, er sollte sich der Hilfe Siegfrieds
für die gefährliche Reise versichern.
Günther folgte dem Rate Hägens und bat den kühnen Siegfried um
seinen Beistand. Siegfried horchte hoch auf, als er Brnnhildens Namen
hörte; denn er kannte die gewaltige Kampfjungsrau, weil er sie früher aus
einem Zauberschlafe geweckt hatte. Seit jener Zeit glaubte Brnnhilde, ein-
mal selbst die Gattin des starken Siegfried zu werden, Nachdem dieser aber
seine Gedanken auf die liebliche Kriemhilde gerichtet hatte, war ihm die
ganze Begegnung mit Brunhilden wie ein längst vergessener Traum der
Kindheit, und darum antwortete er auf Günthers Frage, ob er ihm die
Hand Brunhildens erwerben helfen wollte: „Ja, ich will es, Günther, wenn
du mir zum Lohne dafür die Hand deiner Schwester Kriemhilde geben willst."
„Das soll geschehen", sagte Günther, und alsbald wurde die Fahrt
nach dem Jsensteine, dem im hohen Norden gelegenen Sitze Brunhildens,
vorbereitet und ins Werk gesetzt. Auf Siegfrieds Rat hatte Günther
nur ein mäßiges Gefolge mitgenommen, in welchem natürlich der viel-
erfahrene Hagen von Tronje nicht fehlen durfte.
6. Wie Günther Brunhilden gewann.
Als sie zu Schiffe rheinabwärts nach dem Jsensteine gefahren und der
stolzen Brunhilde gemeldet waren, wendete sich diese vor allen anderen an
den ihr bekannten Siegfried und fragte nach seinem Begehr. Aber Sieg-
fried sagte: „Thut mir nicht zu große Ehre an, Herrin; hier ist mein Herr,
der edle König Günther von Bnrgunderland, ich aber bin nur sein demüti-
ger Dienstmann."
Da fragte Brunhilde den König Günther, und als dieser seinen
Wunsch aussprach, die Kampsspiele mit ihr um den Preis ihrer Hand und
seines Lebens zu bestehen, sagte sie rasch entschlossen: „Euch geschehe nach
Eurem Willen", und gab Befehl, ihre Waffen zu bringen.
Als nun die Diener Brunhildens einen ebenso gewaltigen als kost-
baren Schild, einen riesigen Speer und einen überaus wuchtigen Wurfstein
brachten, erschraken die Freunde Günthers nicht wenig und zitterten für sein
Leben, und er selbst versprach sich wenig Gutes von dem Kampfe, als er-
sah, wie die stolze und streitbare Jungfrau sich rüstete und die Ärmel des
Gewandes zum Kampfe aufschlug.
Aber Siegfried war unvermerkt nach dem Schiffe gegangen, hatte dort
die Tarnkappe aufgesetzt und trat nun unsichtbar dicht an Günther heran
und flüsterte dem Hocherstaunten zu: „Fürchtet Euch nicht, Günther, ich bin
Siegfried, der zu Euch spricht, ich will Euch zum Siege verhelfen. Nehmt
Ihr nur die Gebärde des Kämpfenden an und überlasset mir die That, so
wird es Euch an nichts fehlen."
Da faßte Günther wieder Mut und that, wie Siegfried geraten hatte.
Inzwischen war der Kreis gebildet, in welchem der Kampf vor sich gehen
sollte, und als alles bereit war, ergriff Brunhilde den riesigen Speer und
warf ihn mit furchtbarer Gewalt gegen den Schild Günthers, der gewiß
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durch den überstarken Wurf zum Fallen gekommen wäre, wenn er nicht
durch Siegfrieds unsichtbare Kraft und Hilfe gehalten und geschützt worden
wäre. So aber strauchelte er nur ein wenig, zog den Speer scheinbar
aus seinem Schilde — das heißt, er nahm die Gebärde des Herausziehen-
den an, während Siegfried ihn in der That herauszog, der nun auch den
Speer gegen Brunhildens Schild mit solcher Kraft zurückschleuderte, daß sie
in die Kniee sank und sich nur mit Mühe aufrecht erhielt. Da rief Brun-
hilde, die nicht wissen konnte, daß Siegfried den Speer geworfen hatte,
wider Willen die Kraft des Gegners anerkennend: „Habt Dank, König
Günther, für Euren starken Schuß; laßt uns nun sehen, wer im Wurf und
Sprung Meister ist."
Und sie nahm den wuchtigen Stein, schleuderte ihu fort und sprang
ihm im kühnen Königssprunge weit nach; aber Siegfried, der den Stein
nach ihr ergriff, schleuderte ihn noch weiter und sprang ihm auch noch
weiter nach, obgleich er den König Günther, der auch jetzt wieder die Miene
des Kämpfenden angenommen hatte, im Sprunge mit sich durch die Luft
tragen mußte. Brunhilde sah sich als besiegt an und forderte sofort ihre
Dienstmannen auf, dem Könige Günther zu huldigen. Zwar funkelten
ihre Augen vor Zorn wegen der erlittenen Niederlage, aber sie weigerte sich
nicht, dem Könige Günther als rechtmäßige Gemahlin in sein Land zu
folgen.
7. Wie in Worms die Doppelhochzeit gefeiert wurde und Siegfried noch
einmal Brnnhilden besiegen mutzte.
Als Brunhilde mit Günther in Worms ankam, wurde sie mit hohen
Ehren und allen Bezeigungen der Liebe empfangen, zumal von der würdigen
Königin Ute und von Kriemhilden, die in der jungen Königin eine Schwester
gefunden zu haben glaubte und sie mit echt schwesterlicher Herzlichkeit
empfing und begrüßte.
Siegfried aber erinnerte den König Günther an seine Zusage, und
da dieser Wort hielt, so wurde auch aus Siegfried und Kriemhilden ein
Paar, und das Fest der Doppelvermählung wurde bei Hofe mit aller
Pracht gefeiert.
Es war ein gar schöner Anblick, als die beiden neuvermählten Paare
dasaßen, und mancher der Anwesenden stellte wohl Vergleichungen zwischen
den beiden jungen Frauen an. Sie waren beide von hoher Schönheit,
aber ans Brunhildens Stirne lag ein herber Ernst, während aus Kriem-
hildens Antlitz der ungetrübte Glanz der Freude an dem geliebten Manne
leuchtete. Jeder sah ihr das Glück ihres Herzens an den Augen an und
freute sich mit ihr desselben — bis auf eine, die ihr dieses Glück nicht
gönnte. Das war die Königin Brunhilde, die früherer Tage gedachte,
in denen sie, die Heldenjungfrau, gehofft hatte, selbst dereinst die Gattin des
Heldenjünglings Siegfried zu werden, des einzigen, den sie für würdig
erachtet hatte, ihre Hand zu erhalten. Und nun saß sie an der Seite eines
andern Mannes, den sie trotz des Sieges, den er, wie sie glauben mußte,
über sie davongetragen hatte, doch nicht als den rechten Mann anerkennen
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und lieben konnte, und sah den hehren Helden, den sie geliebt hatte, als
glücklichen Gatten einer andern Frau, der sie solches Glück nimmermehr
gönnen konnte. Darum ward ihre Stirn finster von schweren Unmuts-
schatten, und unwillkürlich traten ihr die Thränen in die Augen.
Günther bemerkte es und fragte nach dem Grunde ihrer Betrübnis.
„Wie sollte ich fröhlich sein können", antwortete sie, „da ich deine
Schwester, die doch von königlichem Blute ist, an einen deiner Dienstmannen
verheiratet sehe."
Günther, der am besten wußte, wie es mit Siegfried stand, wurde
verlegen, und sagte, daß er ein Held von untadeliger Geburt sei, der seine
Schwester wohl verdient habe. Als sie aber wissen wollte, wodurch er sie
denn verdient habe, machte Günther Ausflüchte und sagte, sie solle es zur
rechten Zeit erfahren. Aber das erbitterte Brunhilden nur noch mehr,
also daß sie den ganzen Tag über mißmutig und finster blieb; und als
Günther ihr freundlich nahte, stieß sie ihn unwillig von sich und sagte:
„Nein, König Günther, zwischen uns kann von keiner Freundschaft die Rede
sein, bevor Ihr mir nicht den Grund sagt, weshalb Siegfried die Hand Eurer
Schwester erhalten hat." Als Günther ihr aber liebreich näher trat, ergriff
ihn die Gewaltige plötzlich in wildem Zorne und band ihm Hände und
Füße zusammen. Nur nach langem Bitten befreite sie ihn von den Banden.
Als Siegfried seines Schwagers betrübte Miene sah und nach der
Ursache seines Kummers fragte, klagte ihm Günther sein Leid. Siegfried
aber tröstete ihn und versprach ihm, Brunhilden zum zweiten Male in der-
selben Weise, wie er es einst auf dem Jsensteine gethan hatte, bezwingen
zu helfen.
Siegfried schlüpfte wieder in seine Tarnkappe und ging unsichtbar mit
Günther in Brunhildens Gemach. Diese zeigte zwar dieselbe Wildheit und
fragte den König Günther, ob er Lust habe, ihre Kraft noch einmal zu
fühlen; aber dieser ließ sich nicht irre machen, sondern trat schnell auf sie
zu, und in diesem Augenblicke ergriff sie der unsichtbare Siegfried mit so
kräftigen Armen, daß sie in die Kniee sank und um Gnade flehen mußte.
„Laßt es genug sein, König Günther", sagte sie; „ich sehe, daß Ihr stärkere
Kraft habt als ich und in Wahrheit mein Herr seid." Siegfried aber
hatte diesen Augenblick geschickt zu benutzen verstanden und ihr nicht nur
einen Ring vom Finger gestreift, sondern ihr auch einen Gürtel genommen
und sich mit beiden unsichtbar, wie er gekommen, wieder entfernt; denn er
wußte, daß Brunhilde nun nicht mehr stärker war als ein gewöhnliches
sterbliches Weib.
8. Wie Siegfried mit seinem Weibe heimkam.
Als die für die Hochzeit der beiden königlichen Paare angesetzten Tage
vorüber waren, nahmen Siegfried und Kriemhilde Abschied von der alten
Königin Ute und ihren Söhnen und reisten nach Santen, wo sie von dem
alten Könige Siegmund aufs herzlichste empfangen wurden; Sieglinde aber,
die Mutter Siegfrieds, war gestorben und konnte sich des Glückes, daß ihr
Sohn in Worms gefunden hatte, nicht mehr erfreuen.
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Siegmund legte die Regierung zu Gunsten seines Sohnes nieder, und
Siegfried gewann als starker, gerechter und milder König die Liebe seines
Volkes in noch höherem Grade als vorher. Das Söhnlein, das ihm der
Himmel schenkte, nannte er seinem Schwager zu Ehren Günther, wie auch
Günther den Sohn, der ihm bald daraus beschert wurde, Siegfried nannte.
S. Wie Günther Siegfrieden zu einem Feste bat.
So schien zwischen den beiden Königsfamilien die schönste Freundschaft
zu herrschen. Aber es schien nur so, denn Brunhilde konnte es nicht ver-
gessen, daß der Held, der ihr einst bestimmt gewesen, der Gatte eines andern
Weibes geworden war, und lauerte nur auf eine Gelegenheit, das Glück der
Verhaßten zu zerstören.
Daher fragte sie, nachdem bereits mehrere Jahre vergangen waren,
ihren Gemahl, den König Günther, ob denn seine Schwester Kriemhilde
mit ihrem Gemahle nicht einmal zum Besuche nach Worms kommen könnte.
Günther wies auf die große Entfernung Santens hin und machte verlegene
Ausflüchte, als Brunhilde äußerte, es sei doch die Pflicht eines Lehnsmannes,
sich von Zeit zu Zeit bei seinem Lehnsherrn sehen zu lassen.
Aber Brunhilde hörte nicht aus, ihn zu bitten und stellte sich, als
ließe ihr die Sehnsucht nach Kriemhilden keine Ruhe; und da auch Günther
ein aufrichtiges Verlangen empfand, die Schwester und den Schwager nach
so langer Zeit einmal wieder zu sehen, so schickte er Boten nach Santen,
um die lieben Verwandten zum Besuche nach Worms einzuladen.
Die Einladung ward freundlich aufgenommen, und selbst der alte
König Siegmund entschloß sich, mit seinem Sohne den Rhein hinauf nach
Worms zu fahren.
Ist. Wie die Königinnen einander schalten.
In Worms erregte die Ankunft der lieben Gäste hohe Freude, zumal
bei der alten Königin Ute und ihren Söhnen; aber auch Brunhilde zeigte
sich äußerlich hoch erfreut. Eine Reihe von Festlichkeiten wurde Siegfried
zu Ehren veranstaltet, bei denen er selbst, wie bei seiner ersten Anwesen-
heit in Worms, immer den ersten Preis ritterlicher Kraft und Gewandt-
heit gewann.
Mit stolzer Freude blickte Kriemhilde auf den geliebten Gatten, und
arglos, wie sie war, sprach sie zu Brunhilden, indem sie aus Siegfried
hinzeigte, die bewundernden Worte:
„Ist er nicht der Herrlichste von allen? Wie der lichte Vollmond vor
den Sternen, so leuchtet er vor allen Recken. Wahrlich, er verdiente, über
die ganze Welt zu herrschen!"
„Wenn auf der Welt niemand lebte als er und du", sagte Brunhilde,
„so möchtest du recht haben; so lange aber Günther noch lebt, kann er
keinen Anspruch auf die erste Stelle unter den Königen erheben, da er doch
nur meines Gatten Dienstmann ist, wozu er sich selbst auf dem Jsensteine
mir gegenüber bekannt hat."
Unmöglich, sagte Kriemhilde, könne sie von ihren Brüdern einem
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Dienstmanne zum Weibe gegeben worden sein, und sie bitte daher die
Schwägerin, ihr Wort zurückzunehmen. Als aber diese sich hartnäckig
weigerte, flammte auch in Kriemhildens sanftem Herzen der Zorn auf, und
mit dem ganzen Stolze der beleidigten Gattin sagte sie: „Wohlan denn,
noch heute sollen die Mannen der beiden Könige sehen, daß ich edelfrei bin
von Art und Geburt, und daß Siegfried höher steht als Günther, denn
vor Günthers Weibe werde ich in die Kirche gehen."
Da befahl Brunhilde der Schwägerin, mit ihrem Gefolge sich von
ihr und ihrem Gefolge fern zu halten, wenn sie in die Kirche gehen wollte.
Kriemhilde ging sogleich fort und befahl ihren Frauen, sich aufs
kostbarste zu kleiden und legte selbst die prachtvollsten Gewänder an, wodurch
sie Brunhildens Neid nur noch mehr reizte.
Zur großen Verwunderung der Leute, die nichts von dem Streite der
Königinnen wußten, schritt zu der Zeit, wo der Gottesdienst beginnen sollte,
Kriemhilde mit ihrem Gefolge abgesondert von Brunhilden und ihren
Frauen auf die Kirche zu. Aber rasch und herrisch trat ihr Brunhilde, ent-
gegen und sagte laut: „Nimmer soll eines Dienstmannes Weib vor der
Gattin eines Königs den Vortritt haben."
Da hielt auch Kriemhilde nicht länger an sich, sondern sagte: „Hättest
du doch geschwiegen, du Thörin; nicht Gattin eines Königs darfst du dich
nennen, sondern höchstens seine Magd!"
Brunhilde erbleichte vor Zorn und fragte, wem diese entehrende
Benennung hier gelten sollte.
„Dir selbst", sagte Kriemhilde; „denn nicht Günther hat dich bezwungen,
sondern Siegfried, mein herrlicher Gemahl, den du in schnöder Verleumdung
einen Dienstmann Günthers genannt hast."
Brunhilde konnte nur mit der Drohung antworten, daß sie Günthern
die gröbliche Kränkung ihrer Ehre klagen werde, und sie sah so bleich und
elend aus, daß Kriemhilde Mitleid mit ihr fühlte und ihr noch einmal
Frieden und Freundschaft anbot, wenn sie nur ihren Gatten Siegfried nie
wieder einen Dienstmann nennen wollte; aber Brunhilde schwieg und
weinte, und Kriemhilde ging vor der Burgunderkönigin an der Spitze
ihres Gefolges in die Kirche.
Nach beendigtem Gottesdienste eilte Brunhilde vor den Ausgang der
Kirche und wartete, bis ihre Schwägerin kam, von der sie Beweise für ihre
ehrenschändende Behauptung forderte.
Kriemhilde zeigte ihr den Ring, den Siegfried Brunhilden abgenommen
hatte, als er Günthern zu Liebe ihre Kraft gebrochen hatte, und als Brun-
hilde den Ring für gestohlen erklärte, zeigte Kriemhilde ihr auch den Gürtel
und ging mit den Worten: „Hättest du doch geschwiegen!" mit ihrem Ge-
folge ungehindert von dannen.
11. Wie Siegfried verraten ward.
Brunhildens Hochmut war gebrochen; aber je tiefer sie gedemütigt
war, desto höher richtete sie sich empor in dem Gefühl furchtbarer und nie
zu sühnender Rache. Vor allem klagte sie Günther ihr Leid und teilte
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ihm den Schimpf mit, den ihr Kriemhilde öffentlich angethan hätte.
Günther setzte Siegfried zur Rede, aber dieser bekräftigte in Gegenwart
mehrerer bnrgundischen Ritter mit einem Eide, daß er nimmer sich einer
Sache gerühmt habe, die Frau Brunhilden zur Schande gereichen könne.
Ohne Zweifel, fügte er hinzu, habe Kriemhilde sich vergessen; er werde
Sorge tragen, daß dergleichen nicht wieder geschehe, und er bitte Günthern
gleichfalls, seines Weibes zu hüten, auf daß nicht von neuem ein Streit die
beiden Frauen entzweie.
In seiner Arglosigkeit glaubte Siegfried, der ganze Streit könne
wirklich in solcher Weise beigelegt werden, und auch Kriemhilde, die Sieg-
frieds strafende Vorwürfe demütig über sich ergehen ließ, glaubte noch an
Versöhnung.
Aber Brunhilde war auf den Tod beleidigt, und nur durch blutigen
Tod konnte die Schande abgewaschen werden, die ihr Kriemhilde angethan
hatte. Daher flössen ihre Thränen nach wie vor, und sie stillte ihren Lauf
nicht, als Hagen zu ihr kam, dem der Streit der Königinnen bis dahin noch
unbekannt geblieben war. Verwundert fragte er nach der Ursache ihrer
Thränen, und als er sie erfahren hatte, brauste der gewaltige Mann zornig
aus und gelobte auf der Stelle, die Herrin an Siegfried zu rächen, der
doch allein an allem schuld sei. Denn in der Ehre seiner Herrin und
Königin war seine eigene Ehre aufs tiefste beschimpft, und nur Siegfrieds
Tod konnte diesen Schimpf von Brunhilden und allen Burgundern nehmen.
Daher redete er in bitterfeindlichem Sinne gegen Siegfried mit seinen
Verwandten und den Rittern des Hofes, und die meisten, vor allen
Ortwin und Gernot, stimmten ihm darin bei, daß Siegfried den Tod
verdient habe; Nur Gieselher sprach heftig dagegen, und auch Günther,
der ja Siegfrieds Unschuld am besten kennen mußte, sträubte sich gegen
den Tod seines edlen Schwagers.
Aber die Saat des Mißtrauens war einmal gesät, und als sie auf-
gegangen war, war sie nicht mehr zurückzuhalten. Unfreundliche Blicke
wurden zwischen den Burgundern und den Mannen aus Niederland gewechselt,
und außer Siegfried selbst, der keinem etwas Arges zutraute, war fast keiner
am Königshofe, der sich nicht schlimmer Dinge von der Zukunft versehen hätte.
Günther war schwach, und Hagen, der das wohl wußte, ruhte nicht,
ihm spitze Worte ins Ohr zu raunen und den König, als er von Sieg-
frieds allzu großer Stärke sprach, auf den Weg der List und des Verrates
zu weisen. Und Günther war willig, unwürdige Pfade zu gehen.
Da stiftete Hagen Leute an, die in Sachfentracht an den Hos des
Königs Günther kommen mußten, als wären sie Boten der Könige Lüdiger
und Lüdegast, die den Burgundern von neuem Krieg ankündigten. Günther
that sehr betrübt; der ehrliche Siegfried fragte ihn wie damals, als die
Könige wirklich wider Günther zu Felde gezogen, nach der Ursache seines
Kummers und war auch jetzt wieder von Herzen bereit, seinem Schwager
in der Bedrängnis beizustehen.
Als man sich aber angeblich zu der bevorstehenden Heerfahrt rüstete,
war Kriemhildens Herz von trüben Ahnungen erfüllt, und als eines Tages
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Hagen sie in ihrem Zimmer besuchte, teilte sie ihm in ihrer Arglosigkeit
mit, welche Sorge ihr das Gemüt beschwere, und bat ihn innig, im Kriege
ihrem geliebten Manne treu und hilfreich zur Seite zu sein.
„Siegfried ist zwar durch seine Hornhaut so geschützt", sagte sie, „daß
ich ohne Sorgen sein könnte; aber er hat doch eine verwundbare Stelle, die
nicht von der Hornhaut bedeckt ist, weil ihm ein Lindenblatt zwischen die
Schulterblätter gefallen war, als er sich in dem Blute des geschlagenen
Drachen badete."
Hagen versprach alles zu thun, was in seinen Kräften stünde, und
bat sie, die verwundbare Stelle durch ein seidenes Kreuzchen auf der Klei-
dung Siegfrieds zu bezeichnen, damit er ihn um so sicherer beschützen könne.
Und die Arglose sagte es zu.
Am andern Morgen spähte Hagen, als er den Helden Siegfried er-
blickte, nach dessen Rücken, und als er das verabredete Zeichen auf seiner
Kleidung sah, wußte er, daß es nunmehr keiner Kriegsfahrt mehr bedürfe,
sondern daß der mörderische Plan bequemer ausgeführt werden könnte.
Denn er kannte ja nun die verwundbare Stelle Siegfrieds.
Darum mußten auf sein Anstiften wieder die als sächsische Königs-
boten verkleideten Männer kommen und Botschaft von den Königen Lüdiger
und Lüdegast bringen, als wenn sie die angedrohte Kriegserklärung wieder
zurücknehmen und nach wie vor in Frieden mit dem Könige Günther
leben wollten.
Als Siegfried das hörte, war er betrübt darüber, daß ihm die Gelegen-
heit genommen war, seinem Schwager aufs neue mit seinen treuen Diensten
zu helfen; aber Günther suchte ihn mit falschen Worten zu trösten und ver-
anstaltete auf Hägens Rat zum Ersatz für die Kriegsfahrt einen großen
Jagdzug nach dem wildreichen Odenwalde.
12. Wie Siegfried erschlagen ward.
Als am andern Morgen die Jagdhörner zum Aufbruche bliesen und
Siegfried Abschied nahm von seiner geliebten Gattin, fühlte sie unmensch-
liche Angst in ihrem Herzen, und sie bat ihn unter Thränen, zurückzubleiben
und nicht mit auf die Jagd zu gehen, von der sie schweres Unheil ahne.
Im Traume habe sie zwei Berge über ihn zusammenfallen sehen, und
unter den einstürzenden Trümmern sei er ihren Blicken entschwunden. Und
in einem andern Traume habe sie gesehen, wie zwei wütende Eber ihn
über die Heide gejagt hätten, und alle Blumen wären rot geworden von
dieser Jagd.
Siegfried suchte sie zu trösten, so gut er konnte, indem er sie daran
erinnerte, daß er im Kreise guter Freunde und Verwandten auf die Jagd
gehe, von der er in kurzer Zeit gesund und froh zurückzukehren hoffe.
Zurückbleiben könne er nicht, ohne schimpflichen Vorwurf auf sich zu laden.
Und er küßte sie und nahm Abschied von ihr, um sich dem schon versammelten
Jagdzuge anzuschließen.
Als man vor den Odenwald jenseits des Rheins gekommen war,
schlugen Günthers Leute ein Zeltlager auf, während die Helden von
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kundigen Jägern und Spürhunden begleitet in den Wald gingen und eine
heiße Jagd gegen Wildeber, Auerochsen und Riesenhirsche eröffneten. Sieg-
fried hatte eine große Anzahl erlegt, als er den Jagdruf aus König Gün-
thers Horn vernahm, der die Jäger zum Imbiß in das Lager lud. Sieg-
fried wandte sein Roß, aber da sprang vor ihm aus dem Busch ein wilder
Bär auf, der die Gefährten Siegfrieds nicht wenig erschreckte. Aber
Siegfried rief ihnen voll fröhlicher Jagdlust zu: „Laßt meinen Hund aus
ihn los! Ich hoffe, er soll uns noch zu einem fröhlichen Spaße dienen."
Der Hund wurde losgelassen, und Siegfried sprengte mutig hinter-
drein. Aber der Bär sprang in seiner Angst in eine tiefe Kluft, in die
kein Reiter weiter als bis zur Hälfte der Tiefe ihm folgen konnte. Da
sprang Siegfried vom Rosse, lief dem Bären in seinen Schlupfwinkel nach,
packte ihn mit starken Armen, schnürte ihm Maul und Vordertatzen fest und
zog ihn erst zu Fuße und dann, als er sein Roß wieder bestiegen hatte,
auch zu Roß unter großem Jubel seiner von oben zuschauenden Gefährten
hinter sich her, bis er die Höhe wieder erreicht hatte.
Mit freudigem Staunen betrachteten die Gefährten den starken
Helden, und auch die Burgunder dünkte sein Anblick, als er in das Lager
einritt, ein überaus herrlicher zu sein und keinem andern vergleichbar.
Aber wie erschraken sie, als Siegfried den wilden Bären seiner Fesseln ent-
ledigte und frei in das Lager lausen ließ. Im ganzen Umkreise heulten
die Hunden, die an den Leinen lagen, laut auf, der Bär aber lief in Wut
und Angst hin und her und geriet endlich in die Feldküche, wo er es so
toll zwischen den Kesseln und Feuerbränden trieb, daß Günther befahl, die
Hunde loszulassen, und jeder nach seinem Bogen oder Speer griff, um das
rasende Tier zu töten. Aber es hätte vielleicht noch manches Unheil an-
gerichtet, wenn nicht Siegfried rasch hinzugesprungen wäre und mit einem
gewaltigen Schwerthiebe das wütende Tier getötet hätte.
Alle, die es sahen, mußten ihm das Zeugnis geben, er sei der stärkste
und unerschrockenste Held unter allen Männern der Erde.
Als sich die Jagdgesellen zu Tisch setzten, waren die Speisen gut und
reichlich, aber alle scharf gesalzen und an einem guten Trünke fehlte es
gänzlich. Als Siegfried, der heftigen Durst hatte, darüber klagte, schob
Günther die Schuld auf Hagen, und dieser sagte zu seiner Entschuldigung,
er habe geglaubt, die Jagd solle im Spessart stattfinden, und deshalb sei
der Wein dorthin vorausgeschickt.
„Hätten wir nur ein fließendes Wasser in der Nähe!" sagte Siegfried.
„Ich kenne", sagte Hagen, „in der Nähe einen kühlen Born, der die
Wurzeln einer schönen Linde netzt, dorthin können wir ziehen und unseren
Durst löschen."
Das gefiel dem Helden, und schon waren sie auf dem Wege, da sagte
Hagen: „Alle Welt rühmt des Helden Siegfried Schnelligkeit, möchte er
uns sehen lassen, daß niemand ihm im Laufe folgen kann."
„Laßt uns immerhin einen Wettlauf nach dem Brunnen veranstalten",
sagte Siegfried, „und wenn es Euch recht ist, so will ich mir die Wette
noch schwerer machen und mein ganzes Jagdgerät, Gewand und Waffen,
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bei mir behalten, während Ihr die Oberkleider ablegen und also leichter nur
mir laufen mögt."
Den Vorschlag ließen Hagen und Günther sich gern gefallen und
legten die Oberkleider ab und liefen wie zwei wilde Panther durch den
Klee; aber Siegfried kam viel früher als sie an den Born, wo er den Speer
an die Linde stellte und Schild und Schwert, Bogen und Köcher an dem
Brunnen niederlegte; aber den kühlen Trunk gönnte er sich trotz seines
Durstes noch nicht, sondern wartete ehrerbietig, bis Günther kam, denn ihm
als dem Herrn des Landes gebührte die Ehre des ersten Trunkes.
Aber schmachvollen Lohn erhielt der Held für diese Ehrerbietigkeit.
Denn als er den König Günther hatte trinken lassen und sich nun selbst zu
der kühlen Flut niederbeugte, da trug Hagen schnell Siegfrieds Schwert
und Bogen auf die Seite, ergriff rasch den an die Linde gelehnten Speer
und schleuderte ihn, während Siegfried noch trank, durch das Kreuz, das
Kriemhilde auf des Gatten Gewand genäht hatte, daß das Blut des Helden
hoch an seinem Mörder emporspritzte.
Wütend sprang der Todwunde, dem die Speerstange noch zwischen
den Schulterblättern aus dem Leibe hervorragte, vom Brunnen auf und
suchte vergebens Schwert und Bogen, ergriff sodann den Schild, stürzte
mit ihm dem fliehenden Hagen nach und traf, ob er gleich bis ins innerste
Leben verwundet war, den schnöden Meuchelmörder so gewaltig aufs Haupt,
daß er niederstürzte und unrettbar verloren gewesen wäre, wenn Siegfried
sein gutes Schwert zur Hand gehabt hätte. Aber schon begannen dem
herrlichen Helden die Kräfte zu schwinden, und mit dem Zeichen des Todes
auf dem bleichen Antlitze sank Kriemhildens Gatte in die Blumen, über die
sein Herzblut sich in breiten Strömen ergoß.
Noch einmal raffte sich der Sterbende auf und rief Wehe über den
feigen Mord, den er zum Lohne für seine treue Freundschaft erleiden mußte,
und klagte um seine Gattin Kriemhilde und um seinen unmündigen Sohn,
den er daheim gelassen hatte.
„Wehe", rief er, „daß man mir nachsagen wird, ich habe Meuchel-
mörder zu Blutsverwandten!"
Schon schüttelte ihn der Todeskamps, aber noch immer bewegte ihn
der Gedanke an sein geliebtes Weib, und noch einmal öffnete er den Mund
und sagte zu Günthern und seinen Brüdern: „Vergesset nicht, daß sie Eure
Schwester ist, und handelt an ihr, wie es Euch die Fürstentug'end gebietet."
Dann sank er in die Blumen zurück und verstummte für immer. —
Noch jetzt singt das Volk am Rheine in einer tief ergreifenden Weise
über den Tod des Helden:
Und da er lag im Haine, und da sein Blut hinrann,
da singen selbst die Steine um ihn zu trauern an;
da trauerten die Bäche um ihn, das Laub, das Gras,
da trauerte mitsammen, was auf der Erde was.
Und sollten denn die Herzen nicht Trauer tragen all,
nicht alle Lippen klagen um solches Helden Fall?
Und sollten denn die Augen nicht spenden Thränenzoll,
x da der dem Tod erlegen, der aller Siege voll?
Wilhelm Osterwald.
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3. Aie Karolinger.
9. Karl« des Grossen Krönung und Walten.
Karl der Grosse, der mächtigste Herrscher des Mittelalters,
folgte seinem Vater Pipin im Jahre 768 auf dem fränkischen
Throne. Das Frankenreich war dem tapferen und kühnen Karl
jedoch nicht gross genug, obgleich es das heutige Frankreich
und die Länder am Rheine umfasste. Darum suchte er es durch
Eroberungen noch weiter auszudehnen.
Zunächst bekämpfte er die Sachsen, aber erst nach 30 Jah-
ren gelang es ihm, sie völlig zu unterwerfen und zum Christen-
tum e zu bekehren. In derselben Zeit besiegte er aber auch die
Longobardenin Oberitalien, die Mauren in Spanien, die Bayern
und Avaren in den Ländern an der Donau, die Slaven im
Nordosten und die Dänen im Norden. Auf diese Weise gründete
Karl auf dem Boden des untergegangenen weströmischen Reiches
ein neues gewaltiges Reich, in dem alle deutschen Stämme sich
vereinigten und zum Christentume bekannten.
Da Karl die christliche Kirche und die Geistlichkeit ehrte,
so bat ihn der Papst Leo III. um Schutz vor seinen Feinden.
Karl gewährte ihm denselben und zog selbst um das Jahr 800
nach Rom. Dort erschien er am Tage des Weihnachtsfestes in
der Peterskirche. Andächtig kniete er auf den Stufen des Altars
nieder, um zu beten. Da trat plötzlich der Papst vor den König
hin, setzte ihm eine goldene Kaiserkrone auf das Haupt und salbte
ihn mit geweihtem Öle zum römischen Kaiser und zum Schirm-
herrn der Christenheit. Das versammelte Volk aber rief mit
lautem Jubel: „Heil und Sieg Karl dem Grossen, dem von Gott
gekrönten, friedenbringenden Kaiser!“ So wurde die römische
Kaiserwürde, die seit dem Untergange des alten Römerreiches
vor mehr als dreihundert Jahren aufgehört hatte, wiederher-
gestellt; sie machte ihn zum obersten Herrscher in der ganzen
Christenheit.
Karl war aber auch solcher Würde und Auszeichnung wert,
denn er war nicht bloss ein Kriegsheld, der mit dem Schwerte
dareinschlug, er war auch ein Vater seiner Völker, der lieber
aufbaute als zerstörte. Um die geistige Bildung seiner Völker
zu fördern, legte er Schulen an, die mit den Kirchen und
Klöstern verbunden waren, und in denen Lesen, Schreiben und
die christliche Lehre die Hauptgegenstände des Unterrichts aus-
machten. Zu Lehrern bestellte er geschickte Männer aus Italien
und Griechenland. Er gründete auch an seinem Hofe eine Schule,
in welche alle seine Diener, hohe und niedere, ihre Söhne schicken
mussten.
Das Vaterland.
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Mit ganzer Seele hing Karl an dem Christen turne; nie
versäumte er ohne die dringendste Not den Gottesdienst; andäch-
tig sah man ihn Knieen und mit Demut sich vor dem Herrn aller
Herren beugen. Er sorgte für gute Geistliche und beschenkte
die neu gegründeten Bistümer, Kirchen und Klöster reichlich.
Die Mönche unterrichteten
in den Klosterschulen Kna-
ben und Jünglinge, sie sorgten
für die Armen und nahmen
Reisende gastfreundlich auf.
Zur Verherrlichung des Got-
tesdienstes liess Karl Sän-
ger aus Italien kommen; denn
die Deutschen verstanden da-
mals noch nicht zu singen, son-
dern rauh und hart stiefsen
sie die Töne heraus, so dass
es klang, „wie wenn ein
Lastwagen über einen Knüp-
peldamm daherrollt.“
Audi liebte Karl seine
Muttersprache über alles.
Als König lernte er noch
schreiben; er arbeitete mit
den Gelehrten seines Hofes
an einer deutschen Gramma-
tik; er liess die alten Gedichte
von Königen und Helden
sammeln und gab den Mona-
ten anstatt der lateinischen
Bezeichnungen deutsche Na-
men (Wintermonat, Hornung,
Karl der Grosse. 768—814. Lenzmonat, Ostermonat,
Wonnemonat, Brachmonat, Heumonat, Erntemonat, Herbstmonat,
Weinmonat, Windmonat, Christmonat), die sich leider nicht erhalten
haben.
Vorzügliche Sorgfalt verwandte Karl auf die Rechtspflege.
Er reiste oft umher, um in eigener Person zu richten und zu
schlichten. Wo er selbst nicht nach dem Rechten sehen konnte,
thaten es seine Grafen, die im Namen des Königs die einzelnen
Landschaften und Gaue verwalteten.
Karl hatte nur eine Schar stehender Truppen, das Gefolge
genannt. Zog der König in den Krieg, so wurde der Heerbann
aufgeboten; dann waren alle waffenfähigen Freien verpflichtet,
sich mit ihrem Gefolge mit Rüstung und Lebensrnitteln auf
3 Monate zum Kriegszuge zu stellen.
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Über den grossen Angelegenheiten des Reiches vergass Karl
nicht die kleinen des Hauses. Er durchsah mit Sorgfalt die
Rechnungen seiner Verwalter über Einnahme und Ausgabe. Es
ist noch eine Anweisung übrig, welche er für diese entworfen. Er
bestimmt darin genau, gleich einem erfahrenen Landwirte, wie
Butter und Käse, Honig und Wachs bereitet, wie Wein gepresst,
Bier gebraut, wie viel Eier, wie viel Hänse, Enten und Hühner
verkauft werden sollten.
Vom Bauen war er ein grosser Freund. Von 163 Land-
wohnungen und Schlössern, die sein Familieneigentum waren,
hat er die meisten gebaut, auch viele Kirchen errichtet und
erneuert. Unter den Bauten, die er aufführen liess, zeichneten
sich besonders seine von italienischen Baumeistern ausgeführten
Pfalzen (Paläste) zu Aachen, zu Nimwegen und zu Ingel-
heim aus.
Karl war ein echt deutscher Mann, von starkem Körperbau
und schlanker Gestalt, sieben seiner eigenen Füsse hoch, dabei
so kraftvoll, dass man von ihm erzählte, er hätte Hufeisen wie
Brot zerbrechen können und einst einen Sarazenen bis auf den
Sattelknopf gespalten. Sein Gesicht war meist heiter, denn er
war ein Freund unschuldigen Scherzes; seine grossen, hellen Augen
blickten sanft und wohlwollend, aber wenn er zürnte, glichen sie
flammenden Feuern. Eine geradlaufende Nase, gesunde Gesichts-
farbe und schwarzes, langwallendes Haar zierten sein Haupt. Sein
Gang war männlich, fest und voll Würde, seine Stimme hell und
wohlklingend. Bis in sein achtundsechzigstes Lebensjahr wusste
er nichts von Krankheit; denn er bewegte sich viel, war ein
trefflicher Reiter, Fechter und Schwimmer. Sein Hauptvergnügen
war die Jagd, und wenn er dem Hofe ein Fest bereiten wollte,
liess er eine Treibjagd anstellen. Alles setzte sich zu Pferde, und
unter dem Klange der Hörner und dem Gebelle zahlreicher Hunde
ging es hinaus in den grünen Wald, und mancher heisse Kampf
mit wilden Bären, Ebern und Auerochsen wurde bestanden. —
In Speise und Trank war Karl mäfsig. Speiste er mit den
Seinigen allein, so kamen nur vier Schüsseln auf den Tisch.
Wildbret war seine Lieblingsspeise. Häufig liess er sich bei
Tafel die Geschichten der Vorzeit oder alte Heldenlieder vor-
lesen. Vielen Schlaf bedurfte der seltene Mann nicht, oft verliess
er nachts sein Lager, um zu arbeiten oder andächtig zu den
Sternen hinaufzuschauen.
Karls Kleidung war nach deutscher Art und einfach. Er
trug Gewänder, von der fleifsigen Hand seiner Gemahlin oder der
Töchter verfertigt, Strümpfe und leinene Beinkleider, mit farbigen
Bändern kreuzweise umwunden, ein leinenes Wams und darüber
einen einfachen Rock mit seidenem Besätze, seltener einen kurzen
Mantel von weiseer oder grüner Farbe, im Winter einen Pelz von
3*
36
Fischotter; erst in späteren Jahren trug- er ein wollenes Unterkleid.
Stets hing ein grosses Schwert mit goldenem Griffe an seiner Seite.
An Reichstagen und hohen Festen erschien er in voller Majestät
mit einer goldenen, von Edelsteinen strahlenden Krone auf dem
Haupte, angethan mit einem lang herabhängenden Purpurmantel,
mit goldenen Bienen besetzt.
Die letzten Lebensjahre Karls des Grossen wurden durch
den Verlust seiner beiden hoffnungsvollsten Söhne, Pipin und
Karl, getrübt. Als er seine Kräfte täglich mehr abnehmen sah,
liess er, im Vorgefühle baldiger Auflösung, seinen noch übrigen
Sohn Ludwig nach Aachen kommen. Nachdem er ihm in der
Marienkirche in Gegenwart einer grossen Volksmenge die wich-
tigen Pflichten eines Regenten ans Herz gelegt hatte, musste sich
Ludwig mit eigener Hand die goldene Krone aufsetzen. Nicht
lange überlebte Karl diese Krönung. Nur wenige Monate darauf
ergriff ihn ein Fieber, welches sich in den letzten Jahren oft ein-
gestellt hatte, heftiger als zuvor. Eifrig beschäftigte er sich nun
mit dem Heile seiner Seele; am fünften Tage seiner Krankheit
empfing er das heilige Abendmahl und am siebenten nahte sein
Tod. Mit sterbender Hand machte er auf Stirn und Brust das
Zeichen des heiligen Kreuzes, legte dann seine Hände gefaltet
über die Brust zusammen und sprach mit geschlossenen Augen
und leiser Stimme: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen
Geist!“ So entschlief der grosse Mann im 72. Jahre seines Lebens
nach einer fast 47jährigen ruhmvollen Regierung am 28. Januar
814. — Noch an demselben Tage wurde der Leichnam gesalbt
und unter lautem Wehklagen des Volkes in einer Gruft der
Marienkirche beigesetzt. Hier safs er auf goldenem Throne, in
vollem Kaiserschmucke, auf dem Haupte die Krone und ein Stück
des heiligen Kreuzes, an der Seite das Schwert, um die Hüfte
die goldene Pilgertasche, auf den Knieen ein goldenes Evangelien-
buch, zu den Füssen Scepter und Schild. In Sagen und Liedern
aber lebte sein Ruhm noch lange fort, und Jahrhunderte hindurch
wurde alles Grosse und Schöne an seinen Namen geknüpft.
Spiess.
10. Wie Kaiser Karl Schulvisitation Hielt.
1. Als Kaiser Karl zur Schule kam und wollte visitieren,
da prüft' er scharf das kleine Volk, ihr Schreiben, Buchstabieren,
ihr Vaterunser, Einmaleins und was mau lernte mehr;
zum Schluffe rief die Majestät die Schüler um sich her.
2. Gleich wie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen,
zu seiner Rechten hieß er steh'n die Fleißigen, die Braven.
Da stand im groben Linuenkleid manch schlichtes Bürgerkind,
manch Söhnlein eines armen Knechts von Kaisers Hofgesind.
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3. Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
und wies sie mit erhabner Hand zur Linken in die Ecke.
Da stand im pelzverbrämten Rock manch feiner Herrensohn,
manch ungezognes Mutterkind, manch junger Reichsbaron.
4. Da sprach nach rechts der Kaiser mild: „Habt Dank, ihr frommen Knaben,
ihr sollt an mir den gnäd'gen Herrn, den güt'gen Vater haben;
und ob ihr armer Leute Kind und Knechtessöhne seid:
in meinem Reiche gilt der Mann, und nicht des Mannes Kleid."
5. Dann blitzt' sein Blick zur Linken hin, wie Donner klang sein Tadel:
„Ihr Taugenichtse, bessert euch, ihr schändet euren Adel!
Ihr feinen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesicht,
ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen nicht."
6. Da sah man manches Kinderaug' in frohem Glanze leuchten,
und manches stumm zu Boden seh'n, und manches still sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
wen heute Kaiser Karl belobt, und wen er ausgeschmählt.
7. Und wie's der große Kaiser hielt, so soll man's allzeit halten
im Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten:
Den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, den Stand nach dem Verstand,
so steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland.
Gerok.
11. Das weiße Sachsenroß.
1. Es jagt der Sturm im grünen Wald,
er reitet und zwängt der Eichen Wucht.
Die alte Weser muß ihre Wellen
vor Zorn und Angst am Fels zerschellen,
und vom Gebirg' und aus der Schlucht
des Donners Siegesrufen hallt.
2. Einfränk'scher Mann, gar müd' und still,
verlassen irrt im fremden Land,
die Glieder brechen ihm fast zusammen,
doch löscht ihm nichts des Auges Flammen.
Da steht ein Hüttlein an dem Strand:
„Hallo, ein Fremder Obdach will!"
3. Ein Sachse, hoch, mit stolzem Blick,
sieht lang' und fremd den Franken an:
„Kommst du, um Gastfreundschaft zu bitten,
so bist du sicher in Sachsenhütten!" —
Da trat den Herd der Franke an,
er nahm den Becher und gab ihn zurück.
4. Sie sitzen ernst am heil'gen Herd,
sie sehen schweigend einander an,
und stumm bewundert immer wieder
ein jeder des andern Heldenglieder.
Da hebt zuletzt der Franke an:
„Bei Gott, wir sind einander wert.
5. Wenn solcher viel das Sachsenland
zum Kampf ob unsern König stellt,
so möchte Karol bitter klagen,
daß Sachs' und Frank' noch Schlachten
schlagen."
Da führt' der Sachs' ihn an der Hand
hinaus aufs regengrüne Feld.
6. Ein weißes Roß, gar stark und schön,
sprang auf der freien Weide frei.
„O, laß das schöne Roß uns fangen",
so sprach der Franke mit Verlangen. —
„Gefangen hat's noch keiner geseh'n,
doch auf mein Locken kommt es frei."
7. Und wie er es gerufen mild,
da kommt es lustig wiehernd nah
und bäumt die schlanken Vorderfüße
und bringet seine besten Grüße.
Da spricht der Sachse: „Siehe da,
das ist des Sachsenvolkes Bild!"
8. Der Franke reichet ihm die Hand:
„Das war ein Wort zu seiner Zeit!
Du sollst von fränk'scher Großmut hören;
dem Kampf der Völker will ich wehren;
du, denke dieser Stunde heut';
ich bin der König Karl genannt."
88
9. Der Sachse reicht ihm auch die Hand:
„Hast fränk'sche Großmut du genannt,
so lern' auch Sachsentreue kennen.
Ich will dir deinen Gastfreund nennen:
Herr Karl, du bist in mächt'ger Hand,
ich bin der Wittekind genannt."
10. Da rief der Karl: „Ja, treu und freik
Das edle Roß, das ist dein Bild.
Nun soll der gold'ne Frieden tagen;
du sollst die Herzogskrone tragen;
das weiße Roß, das führ' im Schild,
für ewig sei es treu und frei!"
Max v. Oer.
12. Klein Roland.
1. Frau Bertha saß in der Felsenkluft,
sie klagt ihr bittres Los;
klein Roland spielt in freier Luft,
des Klage war nicht groß.
2. „O König Karl, mein Bruder hehr!
O, daß ich floh von dir!
Um Liebe ließ ich Pracht und Ehr',
nun zürnst du schrecklich mir.
3. O Milon, mein Gemahl, so süß!
die Flut verschlang mir dich,
die ich um Liebe alles ließ,
nun läßt die Liebe mich.
4. Klein Roland, du mein teures Kind,
nun Ehr' und Liebe mir;
klein Roland, komm' herein geschwind!
Mein Trost kommt all' von dir.
5. Klein Roland, geh' zur Stadt hinab,
zu bitten um Speis' und Trank;
und wer dir giebt eine kleine Gab',
dem wünsche Gottes Dank!"
6. Der König Karl zur Tafel saß
im gold'nen Rittersaal;
die Diener liefen ohn' Unterlaß
mit Schüsseln und Pokal.
7. Bon Flöten, Saitenspiel, Gesang
ward jedes Herz erfreut,
doch reichte nicht der helle Klang
zu Berthas Einsamkeit.
8. Und draußen in des Hofes Kreis,
da saßen der Bettler viel,
die labten sich an Trank und Speis'
mehr als am Saitenspiel.
9. Der König schaut in ihr Gedräng'
wohl durch die offne Thür,
da drückt sich durch die dichte Meng'
ein feiner Knab' herfür.
10. Des Knaben Kleid ist wunderbar,
vierfarb' zusammengestückt,
doch weilt er nicht bei der Bettlerschar,
herauf zum Saal er blickt.
11. Herein zum Saal klein Roland tritt,
als wär's sein eigen Haus:
er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt'
und trägt sie stumm hinaus.
12. Der König denkt, was muß ich seh'n,
das ist ein sondrer Brauch;
doch weil er's ruhig läßt gescheh'n,
so lassen's die andern auch.
13. Es stund nur an eine kleine Weil',
klein Roland kehrt in den Saal;
er tritt zum König hin mit Eil'
und faßt seinen Goldpokal.
14. „Heida! halt an, du kecker Wicht!"
Der König ruft es laut.
Klein Roland läßt den Becher nicht,
zum König auf er schaut.
15. Der König erst ganz finster sah,
doch lachen mußt' er bald:
„Du trittst in die gold'ne Halle da,
wie in den grünen Wald.
16. Du nimmst die Schüssel von Kö-
nigs Tisch,
wie man Äpfel bricht vom Baum:
du holst, wie aus dem Brunnen frisch,
meines roten Weines Schaum." —
17. „„Die Bäuerin schöpft aus dem
Brunnen frisch,
die bricht die Äpfel vom Baum;
meiner Mutter ziemet Wildbret und Fisch,
ihr roten Weines Schaum."" —
18. „Ist deine Mutter so edle Dam',
wie du berühmst, mein Kind,
so hat sie wohl ein Schloß lustsam
und stattlich Hofgesind'?
19. Sag an, wer ist denn ihr Truchseß?
Sag an, wer ist ihr Schenk?" —
„„Meine rechte Hand ist ihr Truchseß,
meine linke, die ist ihr Schenk."" —
20. „Sag an, wer sind die Wächter
treu?" —
„„Meine Augen blau, alle Stund'."" —
„Sag an, wer ist ihr Sänger frei?" —
„„Der ist mein roter Mund!"" —
21. „Die Dam' hat wack're Diener, traun!
Doch liebt sie sondre Livrei,
wie Regenbogen anzuschau'n,
mit Farben mancherlei." —
— 39 —
Hilf Himmel! in meinem Prunksaal reich
den Bettelstab in der Hand!"
29. Frau Bertha fällt zu Füßen ihm,
das bleiche Frauenbild.
Da regt sich plötzlich der alte Grimm,
er blickt sie an so wild.
30. Frau Bertha senkt die Augen schnell,
kein Wort zu reden sich traut;
klein Roland hebt die Augen hell,
den Ohm begrüßt er laut.
31. Da spricht der König mit mildem
Ton:
„Steh' auf, du Schwester mein!
Um diesen deinen lieben Sohn
soll dir verziehen sein."
32. Frau Bertha hebt sich freudevoll:
„Lieb Bruder mein, wohlan!
Klein Roland dir vergelten soll,
was du mir Gut's gethan.
33. Soll werden seinem König gleich,
ein hohes Heldenbild;
soll führen die Färb' von manchem Reich
in seinem Banner und Schild.
34. Soll greifen in manches Königs Tisch
mit seiner freien Hand;
soll bringen zu Heil und Ehre frisch
sein seufzend Mutterland!"
Uhland.
4. Die sächsischen Kaiser.
13. Heinrich der Städteerbaner.
Die Sage erzählt, daß der fromme, mächtige Herzog Heinrich von
Sachsen, als die Gesandten der Fürsten ihm die Botschaft von seiner Wahl
zum Könige gebracht hätten, gerade beim Vogelfang beschäftigt gewesen sei.
Daher hat man ihm den Beinamen Finkler oder Vogelsteller gegeben.
Aber er verdiente wohl eher noch, der Große zu heißen. Denn dieser
Heinrich I., mit dem nun die Reihe der Kaiser aus dem Stamme der
Sachsen beginnt, war ein gar trefflicher Herrscher. Er wußte die trotzigen
deutschen Herzöge zum Gehorsam zu zwingen. Dann galt es, die äußeren
Feinde zu bekämpfen, vor allen die schrecklichen Ungarn. Aber dazu war
Heinrichs Macht anfänglich noch zu gering; er mußte das Volk zuerst zu
dem schweren Kampfe tüchtig machen. Daher schloß er zunächst einen
neunjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn, den er freilich mit einem
jährlichen Zinse an die Feinde bezahlen mußte. Allein nun hatte er doch
fürs erste Ruhe vor ihren plündernden Einfällen. Und diese Zeit der
Ruhe benutzte er aufs beste. Es fehlte damals in Deutschland noch an
22. „„Ich hab' bezwungen der Kna-
ben acht
von jedem Viertel der Stadt,
die haben mir als Zins gebracht
vierfältig Tuch zur Wat.""*) —
23. „Die Dame hat nach meinem Sinn
den besten Diener der Welt.
Sie ist wohl Bettlerkönigin,
die offne Tafel hält?
24. So edle Dame darf nicht fern
von meinem Hofe sein.
Wohlauf, drei Damen! auf, drei Herr'n!
Führt sie zu mir herein!"
25. Klein Roland trägt den Becher flink
hinaus zum Prunkgemach,
drei Damen auf des Königs Wink,
drei Ritter folgen nach.
26. Es stund nur an eine kleine Weil',
der König schaut in die Fern',
da kehren schon zurück mit Eil'
die Damen und die Herr'n.
27. Der König ruft mit einemmal:
„Hilf Himmel! seh' ich recht?
Ich hab' verspottet im offnen Saal
mein eigenes Geschlecht!
28. „Hilf Himmel, Schwester Bertha,
im grauen Pilgergewand! fbleich,
*1 Wat, ein veraltetes Wort für Kleid und Kleiderstoff, mM. wat, pl. waete.
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festen Plätzen. Die Orte lagen offen da, ohne Mauern, ohne Gräben,
niemand konnte beim Eindringen der Feinde seine Habe in Sicherheit
bringen. Daher legte Heinrich jetzt befestigte Städte an; man nannte sie
Burgen und ihre Einwohner Bürger. Aber es hielt schwer, Leute zu
finden, die in diesen Städten wohnen mochten, denn die Deutschen liebten
von alters her das Wohnen auf dem Lande und sagten: „Sollen wir uns
ins Gefängnis fetzen? Die Städte mit ihren engen Mauern sind nichts
anders als Gefängnisse." Da befahl Heinrich, die Leute sollten losen, und
jeder neunte Mann vom Lande sollte
in die Stadt ziehen. In der Stadt
aber wurde ein Teil des Ertrages der
Felder in Vorratskammern aufbewahrt
und dem Landmanne in Kriegszeiten
eine sichere Zuflucht gewährt.
Allmählich blühten diese Städte
empor. Die Bürger, welche im
Kriege die Waffen zu führen hatten,
trieben im Frieden Handel und aller-
lei Gewerbe, und so fanden sie hinter
ihren Stadtmauern nicht nur Schutz
vor Gefahr, sondern gelangten auch
nach und nach zu erhöhtem Wohlstände.
Heinrich aber wollte fein Land
nicht bloß durch Festungen vor den
Räubereien der Ungarn schützen; er
wollte den wilden Feinden auch eine
wohlgerüstete Kriegsmacht entgegen-
stellen. Daher verbefferte er das H e e r -
wesen und übte seine Scharen aufs
eifrigste in den Waffen. Namentlich
schuf er eine tüchtige Reiterei. Denn
gerade durch ihreraschenPferde waren
die Ungarn am meisten gefährlich.
Nachdem sich Heinrich so auf den Krieg
vorbereitet hatte, zog er, ehe noch der
Waffenstillstand mit den Ungarn abge-
laufen war, zuerst gegen die S l a v e n aus. Mitten im Winter rückte er über das
Eis gegen ihre Hauptstadt Brennabor (jetzt Brandenburg) an der Havel
heran und eroberte sie samt dem umliegenden Lande. Dann ging er auf
die Normannen los, besiegte sie und nahm ihnen das Land Schleswig weg.
Jetzt gedachte Heinrich, es auch mit den gefürchteten Ungarn aufzu-
nehmen. Der neunjährige Waffenstillstand war zu Ende. Da kamen
ungarische Gesandte und forderten wieder den alten Zins. Aber Heinrich
wies sie zurück. Ja, man erzählt, er habe ihnen einen räudigen, an
Schwanz und Ohren verstümmelten Hund reichen lassen, um die Über-
mütigen recht zu verhöhnen. Alsbald brachen nun die Feinde in zahl-
Heinrich I. 919—936.
41
loser Menge, gleich einem Heuschreckenschwarme alles verheerend, ins Land
ein. Aber es ging nicht mehr wie früher. Die Bauern konnten jetzt
ihr Vieh und ihre sonstigen Habseligkeiten in die ummauerten Städte
flüchten, wo die Ungarn nicht einzudringen vermochten. König Heinrich
aber sammelte seine mutigen Krieger um sich und ermunterte sie zur
Schlacht. „Gedenket des Elends", rief er, „das die wilden Feinde über
euch gebracht; gedenket daran, wie sie eure Hütten verbrannt, eure Habe
geraubt, eure Frauen und Kinder gemordet, eure Kirchen und Altäre zer-
stört haben. Krieger! Der Tag der Vergeltung ist gekommen. Seid
Männer und betet zu Dem dort oben, der Hilfe sendet in der Stunde der
Not!" Und Gott sandte Hilfe. Nicht weit von der Stadt Merseburg
in Sachsen*) kam es zur Schlacht. Der König selbst führte seine Scharen
zum Kampfe; vor ihm flatterte die große Reichssahne mit dem Bilde des
Erzengels Michael. Und als nun das wohlbewaffnete, stattliche Heer gegen
die Raubhorden losstürmte, da war der Sieg bald entschieden. So schnell
sie konnten, ergriffen die erschrockenen Feinde die Flucht. Aber Heinrich
war rasch hinter ihnen her und ließ alle, welche Widerstand leisteten,
niederhauen, die Gefangenen aber als Räuber und Mörder an den Bäumen
aufknüpfen.
Das Lager der Ungarn, samt allem Raube, den sie dort zusammen-
geschleppt hatten, fiel in die Hände der Deutschen. Da sank der fromme
Heinrich samt seinem ganzen Heere auf die Kniee und dankte Gott für den
herrlichen Sieg. Das deutsche Volk aber frohlockte und pries seinen König
als Retter und Vater des Vaterlandes. Und durch alle Lande verbreitete
sich der Ruf von Heinrichs Tugend und Tapferkeit. Denn er war es, der
Deutschland aus schwerer Bedrängnis wieder aufgerichtet und zu Macht
und Ehren gebracht hatte. Andrä.
14 Heinrich der Finkler.
1. Herr Heinrich sitzt am Vogelherd recht froh und wohlgemut;
aus tausend Perlen blinkt und blitzt der Morgenröte Glut.
2. In Wies und Feld und Wald und Au', horch, welch ein süßer Schall!
Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag, die süße Nachtigall!
3. Herr Heinrich schaut so fröhlich drein: „Wie schön ist heut die Welt!
Was gilt's? Heut giebt's 'neu guten Fang!" Er lugt zum Himmelszelt!
4. Er lauscht und streicht sich von der Stirn das blondgelockte Haar.
„Ei doch! Was sprengt denn dort herauf für eine Reiterschar!"
5. Der Staub wallt auf, der Hufschlag dröhnt, es naht der Waffen Klang.
„Daß Gott! Die Herr'n verderben mir den ganzen Vogelfang!
6. Ei nun, was giebt's?" — Es hält der Troß vorm Herzog plötzlich an;
Herr Heinrich tritt hervor und spricht: „Wen sucht ihr da? Sagt an!"
*) Nach neueren Forschungen hat der Schlachtort Ri ade geheißen, doch ist
derselbe nicht genau nachzuweisen; jedenfalls lag er im Gebiete der Unstrut.
42
7. Da schwenken sie die Fähnlein bunt und jauchzen: „Unsern Herrn!
Hoch lebe Kaiser Heinrich! Hoch des Sachsenlandes Stern!"
8. Dies rufend, knie'n sie vor ihm hin und huldigen ihm still
und rufen, als er staunend fragt: „'s ist deutschen Reiches Will'!"
9. Da blickt Herr Heinrich tiefbewegt hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabst mir einen guten Fang, Herr Gott, wie dir's gefällt!"
Vogl.
15. Die Krönung Ottos I.
Am 8. August des Jahres 936 stand in der Säulenhalle zu
Aachen, welche die Kaiserpfalz mit dem Münster verband — beide
hatte Karl der Grosse erbauen und Marmor und Säulen dazu
aus Rom und Ravenna herbeischaffen lassen — der Marmorstuhl
Karls des Grossen, der Erzthron des Reichs; liier versammelten
sich die Grossen aus allen deutschen Landen, erhoben Otto auf
den Thron und gelobten ihm unter Handschlag Treue auf immer-
dar und Beistand gegen alle seine Widersacher. So huldigten
sie ihm nach alter Sitte auf fränkischer Erde als Karls des
Grossen Nachfolger und König der Franken. Deshalb hatte Otto
auch sein weites sächsisches Kleid mit dem knappen fränkischen
Gewände vertauscht. Nur als Franke und auf fränkischem Boden,
meinte man damals und hat man noch lange nachher gemeint,
könne der neue König die Krone empfangen. In feierlichem Zuge,
von den Herzogen, Grafen und Herren begleitet, begab sich dann
Otto zum Münster.
Wer nach Aachen kommt, wird dieselbe Kirche noch heute
dort sehen. In der Gestalt eines Achteckes steigt sie zu mächtiger
Höhe empor, und oben umkreist sie ein zwiefacher Umgang von
Arkaden, welche mit Säulen geziert sind; in der Mitte aber auf
dem Boden ist die Stelle bezeichnet, wo Kaiser Karl sein Grab
gefunden. Die Gänge oben erfüllte damals dicht gedrängt das
Volk, das von weit und breit zum grossen Feste herbeigeströmt
war. In dem unteren Raume aber erwartete der Erzbischof
Hildebert von Mainz — der sich erst nach langem Hader mit
den Erzbischöfen von Köln und Trier das Recht der Krönung er-
stritten hatte — mit allen Erzbischöfen, Bischöfen und Priestern,
die sich eingestellt hatten, den jungen König. Als dieser an der
Pforte erschien, schritt er ihm entgegen, den Krummstab in der
Rechten, und führte ihn mit der Linken bis in die Mitte des Münsters,
wo Kaiser Karls Grabstein liegt und Otto von allen Seiten
erblickt werden konnte. Hier wandte er sich um und rief
laut zu dem Volke: „Sehet, ich führe euch Otto zu, den Gott zu
eurem Könige erwählt, König Heinrich bestimmt und alle Fürsten
erhoben haben! Gefällt euch solche Wahl, so erhebt eure Rechte
zum Himmel!“ Alle erhoben die Hände, und donnernd hallte es
in der Runde: „Heil und Segen dem neuen Herrscher!“
43
Darauf schritt der Erzbischof mit Otto bis zum Altare vor,
wo Schwert und Wehrgehenk, Mantel und Spangen, Scepter,
Stab und Diadem, die Zeichen der königlichen Würde, bereitlagen.
Zuerst nahm er Schwert und Wehrgehenk und sprach, zum Könige
gewendet: „Nimm hin dies Schwert und triff damit alle Feinde
des Herrn, Heiden und schlechte Christen! Denn darum hat dir
Gottes Wille alle Gewalt über das Keich der Franken verliehen,
dass die ganze Christenheit sicheren Frieden gewinne.“ Dann
ergriff er den Mantel mit den Spangen und legte ihm denselben
an mit folgenden Worten:
„Die Säume dieses Gewandes,
die bis zur Erde herab-
wallen, sollen dich mahnen,
bis an das Ende auszuharren
im Eifer für den Glaubeu
und in der Sorge für den
Frieden.“ Und als er ihm
Scepter und Stab überreichte,
sprach er: „An diesen Zei-
chen lerne, dass du väterlich
züchtigen sollst, die dir unter-
geben sind! Vor allem aber“,
fuhr er fort, „strecke deine
Hand aus voll Barmherzigkeit
gegen die Diener Gottes wie
gegen die Witwen und Waisen,
und nimmer versiege auf deinem
Haupte das Ol des Erbarmens,
auf dass du hier und dort die
unvergängliche Krone zum
Lohne empfangest!“ Mit diesen
Worten nahm er das Ölhorn,
salbte ihn mit dem heiligen
Öle, das die Kirche als ein
Zeichen der Barmherzigkeit
ansieht, und setzte ihm unter
Beihilfe des Erzbischofs Wik-
Otto I. 936—973.
fried von Köln das goldene Diadem auf das Haupt. Als so die Krö-
nung vollbracht war, stieg Otto, schon im Glanze der Krone, zu
dem Throne empor, der zwischen zwei Marmorsäulen von wunder-
barer Schönheit erhöht war, von wo er das ganze versammelte
Volk überblickte und von allen gesehen werden konnte. Hier
blieb er, während die Messe gehalten wurde; dann stieg er vom
Throne herab und kehrte zur Pfalz Karls des Grossen zurück.
Hier war inzwischen an marmorner Tafel das Königsmahl
mit auserlesener Pracht bereitet. Mit den Bischöfen und Herren
44
setzte sich der neue Herrscher zu Tische; es dienten ihm aber
beim Krönungsmahle die Herzöge der deutschen Länder. So ist
es damals zuerst geschehen und oft dann in der Folge; es war
ein Zeichen, dass die Herzöge der einzelnen Länder den König,
der über das ganze Volk gesetzt war, als ihren Herrn erkannten,
dass sie nichts anderes sein sollten und wollten als die ersten
seiner Dienstleute. Denn wie an dem Hofhalte der deutschen
Fürsten von alters her die mächtigsten und angesehensten unter
den Dienstleuten als Mundschenk, Kämmerer, Truchsess und Mar-
schall die Person des Fürsten umgaben und ihrer warteten, so
leistete damals der Lothringerherzog Giselbert, in dessen Gebiet
Aachen lag, die Dienste des Kämmerers und ordnete die ganze
Feier; der Frankenherzog Eberhard sorgte als Truchsess für die
Tafel, der Schwabenherzog Hermann stand als oberster Mund-
schenk den Schenken vor, und Arnulf von Bayern nahm für die
Kitter und ihre Pferde als Marschall Bedacht, wie er auch die
Stellen bezeichnet hatte, wo man lagern und die Zelte aufschlagen
konnte. Denn die Stadt reichte nicht aus, die Zahl aller der
Herren, die nach Aachen geritten waren, in sich zu fassen. Als
die Festlichkeiten beendet waren, lohnte Otto einem jeden der
Grossen mit reichlicher Gunst und grossen Geschenken, und froh
kehrten alle in die Heimat zurück. Giesebrecht.
16. Kaiser Otto I. und Heinrich.
1. Zu Quedlinburg*) im Dome ertönet Glockenklang,
der Orgel Stimmen brausen zum ernsten Chorgesang:
es sitzt der Kaiser drinnen mit seiner Rittermacht,
voll Andacht zu begehen die heil'ge Weihenacht.
2. Hoch ragt er in dem Kreise mit männlicher Gestalt,
das Auge scharf wie Blitze, Von gold'nem Haar umwallt;
man hat ihn nicht zum Scherze den Löwen nur genannt,
schon mancher hat empfunden die löwenstarke Hand.
3. Wohl ist auch jetzt Vom Siege er wieder heimgekehrt,
doch nicht des Reiches Feinden hat mächtig er gewehrt;
es ist der eigne Bruder, den seine Waffe schlug,
der dreimal der Empörung blutrotes Banner trug.
4. Jetzt schweift er durch die Lande, geächtet, flüchtig hin;
das will dem edlen Kaiser gar schmerzlich in den Sinn,
er hat die schlimme Fehde oft bitter schon beweint:
„O Heinrich, du mein Bruder, was bist du mir so feind!"
5. Zu Quedlinburg im Dome ertönt die Mitternacht,
Vom Priester wird das Opfer der Messe dargebracht;
*) Richtiger: zu Frankfurt am Maine.
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es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz,
Gebet in heil'ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.
6. Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein;
es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein;
er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin,
die Knie' er ihm umfasset mit tiefgebeugtem Sinn.
7. „O Bruder, meine Fehle, sie lasten schwer auf mir,
hier liege ich zu Füßen, Verzeihung flehend, dir!
Was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein;
vergieb, o strenger Kaiser, vergieb, du Bruder mein!"
8. Doch strenge blickt der Kaiser den sünd'gen Bruder an:
„Zweimal hab' ich vergeben, nicht fürder mehr fortan!
Die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt,
nach dreier Tage Wechsel da fällt dein schuldig Haupt!"
9. Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich,
und Stille herrscht im Kreise gleich wie im Totenreich;
man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub,
denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub.
10. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt,
das ew'ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand;
er liest mit lautem Munde der heil'gen Worte Klang,
daß es in alle Herzen wie Gottes Stimme drang:
11. „Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? genügt ich hab',
wenn ich dem sünd'gen Bruder schon siebenmal vergab?
Doch Jesus sprach dagegen: Nicht siebenmal vergieb,
nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb!"
12. Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt,
er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust;
ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht.
Nie schöner ward begangen die heil'ge Weihenacht. y. Mähler.
17. Otto mit dem Barte.
(Sage.)
Kaiser Otto der Große wurde in allen Landen gefürchtet; er war
strenge, trug einen schönen roten Bart, und was er bei diesem Barte
schwur, machte er wahr und nnabwendlich. Nun geschah es, daß er zu
Bamberg eine prächtige Hofhaltung hielt, zu welcher geistliche und welt-
liche Fürsten des Reiches in großer Zahl kommen mußten. Am Oster-
morgen zog der Kaiser mit allen diesen Fürsten in das Münster, um die
feierliche Messe zu hören, indes in der Burg zu dem Gastmahle die Tische
bereitet wurden; man legte Brot und setzte schöne Trinkgefäße auf. An
des Kaisers Hofe aber diente damals ein edler und wonnesamer Knabe;
sein Vater war Herzog in Schwaben und hatte nur diesen einzigen Erben.
Das schöne Kind kam von ungefähr an die Tische gegangen, griff nach
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einem weichen Brote mit feinen schönen, weißen Händen, nahm es ans nnd
wollte essen. Wie es nnn einen Teil des weißen Brotes abbrach, ging da
mit seinem Stabe des Kaisers Trnchseß, welcher die Anssicht über die Tafel
haben sollte, der schlng zornig den Knaben anfs Hanpt so hart nnd unge-
füge, daß ihm Haar nnd Hanpt blntig ward. Das sah ein anserwählter
Held, genannt Heinrich von Kempten; der war mit dem Kinde ans
Schwaben gekommen nnd dessen Znchtmeister (Erzieher), nahm einen großen
Knüttel und spaltete des Truchsessen Schädel, daß er wie ein Ei zerbrach
und der Mann zu Boden sank.
Unterdessen hatten die Herren Gott gedient und kehrten zurück. Da
sah der Kaiser den blutigen Estrich und vernahm, was sich zugetragen hatte.
Heinrich von Kempten wurde auf der Stelle vorgesordert, und Otto, von
tobendem Zorn entbrannt, rief: „Daß mein Truchseß hier erschlagen liegt,
schwöre ich bei meinem Barte an Euch zu rächen." Als Heinrich von
Kempten diesen teuren Eid anssprechen hörte und sah, daß es sein Leben
galt, faßte er sich, sprang schnell auf den Kaiser los und ergriff ihn bei dem
langen, roten Barte. Damit schwang er ihn plötzlich aus die Tafel, daß
die kaiserliche Krone von Ottos Haupte in den Saal fiel, und zuckte, als
die Fürsten herzusprangen, sein Messer, indem er laut ausrief: „Keiner
rühre mich an, oder der Kaiser liegt tot hier!" Alle traten zurück; der
unverzagte Heinrich aber sprach: „Kaiser, wollt Ihr das Leben haben, so
versprecht mir Sicherheit!" Der Kaiser, der das Messer an der Kehle stehen
sah, hob alsbald die Finger in die Höhe und gelobte dem edlen Ritter bei
kaiserlichen Ehren, daß ihm das Leben geschenkt sein solle. Sobald Heinrich
Gewißheit hatte, ließ er den roten Bart aus seiner Hand und den Kaiser
aufstehen. Dieser setzte sich ohne Zögern auf den kaiserlichen Stuhl, strich
sich den Bart und sprach zu seinem Peiniger: „Ritter, Leib und Leben habe
ich Euch zugesagt; damit fahrt Eurer Wege! Hütet Euch aber vor meinen
Augen, daß sie Euch nimmer wiedersehen, und räumet mir Hof und Land!
Ihr seid mir zu schwer zum Hofgesind, und mein Bart müsse immerdar
Euer Schermesser meiden!" Da nahm Heinrich von allen Rittern und Be-
kannten Urlaub und zog gen Schwaben aus sein Land und Feld, das er
vom Stifte zum Lehen trug, und lebte einsam und in Ehren.
Danach über zehn Jahre begab es sich, daß Kaiser Otto einen schweren
Krieg führte jenseits des Gebirges und vor einer festen Stadt lag. Da
fehlte es ihm an Rittern und Mannen, und er sandte her nach dentschen
Landen, wer ein Lehen von dem Reiche trage, solle ihm schnell zu Hilfe
eilen bei Verlust des Lehens und seines Dienstes. Nun kam auch ein Bote
zum Abt von Kempten, ihn zu der Fahrt zu mahnen. Der Abt sandte
wiederum seine Dienstlente und forderte Herrn Heinrich auf, dessen er vor
allen bedürftig war. „Ach, edler Herr, was wollt Ihr thun!" antwortete
der Ritter. „Ihr wißt doch, daß ich des Kaisers Hnld verwirkt habe.
Lieber gebe ich Euch meine zwei Söhne hin und lasse sie mit Euch ziehen."
„Ihr aber seid mir nötiger als sie beide zusammen", sprach der Abt; „ich
darf Euch nicht von diesem Znge entbinden, oder ich leihe Euer Land
anderen, die es besser zu verdienen wissen." „Traun", antwortete der edle
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Ritter, „ist betn so, daß Land und Ehre auf dem Spiele stehen, so will
ich Euer Gebot leisten, es komme, was da wolle, und des Kaisers Drohung
möge über mich ergehen." Hiermit rüstete sich Heinrich zu dem Heerzuge
und kam bald nach Welschland zu der Stadt, wo die Deutschen lagen;
jedoch barg er sich vor des Kaisers Antlitz und floh ihn. Sein Zelt ließ
er ein wenig seitwärts vom Heere aufschlagen.
Eines Tages badete er daselbst in einem Zuber und konnte aus
dem Bade in die Gegend schauen. Da sah er einen Haufen Bürger aus
der belagerten Stadt kommen und den Kaiser ihnen eutgegeureiten zu einem
Gespräch, das zwischen beiden Teilen verabredet worden war. Die treulosen
Bürger hatten aber eine List ersonnen; denn als der Kaiser ohne Waffen
und arglos zu ihnen ritt, hielten sie gerüstete Mannschaft im Hinterhalte
und überfielen den Herrn mit frechen Händen, daß sie ihn fingen und
schlügen. Als Herr Heinrich diesen Treubruch und Mordaufall geschehen
sah, ließ er Baden und Waschen, sprang aus dem Zuber, nahm den Schild
mit der einen, sein Schwert mit der andern Hand und lief bloß und nackend
dem Gemenge zu. Kühn schlug er unter die Feinde, tötete und verwun-
dete eine große Menge und machte sie alle flüchtig. Darauf löste er dem
Kaiser die Baude und lief schnell zurück, legte sich in den Zuber und badete
nach wie vor.
Als Otto wieder zu seinem Heere gelangte, wollte er erkunden, wer
sein unbekannter Retter gewesen wäre. Zornig saß er im Zelte auf seinem
Stuhle und sprach: „Ich war verloren, wenn mir nicht zwei ritterliche
Hände geholfen hätten; wer aber den nackten Manu erkennt, führe ihn zu
mir her, daß er reichen Lohn und meine Huld empfange; kein kühnerer
Held lebt hier, noch anderswo." Nun wußten wohl einige, daß es Herr
Heinrich von Kempten gewesen war; doch fürchteten sie den Namen dessen
auszusprechen, dem der Kaiser den Tod geschworen hatte. „Aus dem Ritter",
antworteten sie, „lastet schwere Ungnade; möchte er deine Huld wieder gewinnen,
so ließen wir ihn vor dir sehen." Da nun der Kaiser sagte, und wenn er
ihm gleich seinen Vater erschlagen hätte, so solle ihm vergeben sein, nannten
sie ihm Heinrich von Kempten. Otto befahl, daß er alsbald herbeigebracht
würde; er wollte ihn aber erschrecken und ihn übel empfangen. Als Heinrich
von Kempten herbeigeführt worden war, gebärdete der Kaiser sich zornig
und sprach: „Wie getraut Ihr Euch, mir unter die Augen zu treten? Ihr
wißt doch wohl, warum ich Euer Feind bin, der Ihr meinen Bart gerauft
und ohne Schermesser geschoren habt, daß er noch ohne Locke steht. Welch
hoffärtiger Übermut hat Euch jetzt dahergeführt?" — „Gnade, Herr!" sprach
der kühne Degen. „Ich kam gezwungen hierher; mein Fürst, der hier
steht, gebot es bei seinen Hulden. Gott sei mein Zeuge, wie ungern ich
diese Fahrt gethan; aber meinen Diensteid mußte ich lösen. Wer mir das
übel nimmt, dem lohne ich so, daß er sein letztes Wort gesprochen hat."
Da begann Otto zu lachen: „Seid mir tausendmal willkommen, Ihr auser-
wählter Held! Mein Leben habt Ihr gerettet, das würde ich ohne Eure
Hilfe verloren haben!" So sprang er auf und küßte ihm Augen und
Wangen. Ihre Feindschaft war dahin und eine lautere Sühne gemacht.
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Der hochgeborene Kaiser lieh und gab ihm großen Reichtum und brachte
ihn zu Ehren, deren man noch gedenkt. Grimm.
18. Willig!«.
Im Jahre 1009 wurde Willigis, der Lehrer Kaiser Ottos III.,
ein frommer und gelehrter Mann, zum Bischöfe von Mainz gewählt;
er war aber von geringer, armer Herkunft und sein Vater ein
Wagnersmann gewesen. Deswegen hassten ihn die adeligen Dom-
herren und Stiftsgenossen, nahmen Kreide und malten ihm ver-
driefsweise Räder an die Wände und Thüren seines Schlosses und
gedachten, ihm damit eine Schmach zu thun. Als der fromme
Bischof ihren Spott vernahm, da hiess er einen Maler rufen; dem
befahl er, mit guter Farbe in alle seine Gemächer weifse Räder
in rote Felder zu malen, und liess dazu setzen einen Reim, der
sagte: „Willigis, Willigis, denk, woher du kommen sis.“ Daher
rührt, dass seit der Zeit alle Bischöfe zu Mainz weifse Räder
im roten Schilde führen. Andere fügen hinzu, Willigis habe
aus Demut ein hölzernes Pflugrad stets an seiner Bettstätte
hängen gehabt. Grimm.
5. Die fränkischen Kaiser.
19. Heinrich IV. zu Canossa.
Mit dem Papste Gregor VH. und fast sämtlichen deutschen Fürsten
verfeindet, ward der deutsche Kaiser Heinrich IV. von dem ersteren in den
Bann gethan und infolge dessen von den Fürsten auf dem Fürstentage zu
Tribur am Rhein förmlich seines Thrones verlustig erklärt. Zu seinem
Schrecken erhielt Heinrich noch die Nachricht, daß im nächsten Frühjahre
1077 die deutschen Fürsten in Augsburg einen Reichstag halten wollten,
zu welchem auch der Papst eingeladen werden sollte, um Heinrichs Sachen
zu entscheiden. Der arme König wußte sich nicht mehr zu helfen, noch zu
raten. Endlich kam er auf den Gedanken, er wolle dem Papste gute Worte
geben; denn wenn es ihm gelänge, seinen Zorn zu besänftigen, wäre er doch
der traurigen Notwendigkeit überhoben, vor allen versammelten Fürsten als
ein reuiger Sünder erscheinen zu müssen. Schnell war der Entschluß
gefaßt; aber es fehlte an Geld zu der weiten Reise. Demütig bat er seine
alten Freunde, die oft an seiner Tafel geschwelgt hatten, um einen Vorschuß;
aber er erhielt nichts; und so mußte er ärmlicher abreisen als ein gewöhnlicher
Edelmann. Einige Tage vor Weihnachten, mitten im strengen Winter, reiste
Heinrich von Speier ab. Frau Bertha, seine edle Gemahlin, mochte ihn
nicht verlassen. Obwohl es Heinrich nicht verdient hatte, denn Bertha war
von ihm sehr schnöde behandelt worden, und der König hatte sie ganz ver-
stoßen wollen, so scheuete sie doch nicht die Gefahr und Mühseligkeit der
Reise, und wollte jede Not treu mit ihrem Gemahle teilen. Auch das kleine
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Söhnchen nahm sie mit, und nur ein Diener verstand sich dazu, mitzureisen.
So zog eine Königsfamilie nach Italien. Die Feinde Heinrichs waren aber
bereits geschäftig gewesen, ihm die Pässe Tirols und der Schweiz zu verlegen,
um die Aussöhnung mit Gregor über die festgestellte Frist hinauszuschieben.
So ward der König gezwungen, einen großen Umweg durch Frankreich zu
machen. Die Reise war sehr beschwerlich, noch ehe man ins Gebirge gelangte;
denn es gab damals noch nicht so bequeme Heerstraßen wie jetzt. Völlig
unwegsam wurde aber die Bahn, als man ins Gebirge kam. Die hohen
Bergrücken waren mit ungeheuren Schneemassen bedeckt, und ein eiskalter
Wind riß den armen Reisenden die Haut ab vom Gesicht und von den Händen.
Der Schnee war so hart gefroren wie Eis und so glatt, daß Menschen und
Pferde jeden Augenblick in die Abgründe zu fallen Gefahr liefen. Und
doch war die größte Eile nötig; denn bald war das Jahr verflossen, welches
die Fürsten als Frist gesetzt hatten. Wegweiser hatten dem Könige eine
Bahn durch den tiefen Schnee brechen müssen; mm hatte man endlich den
Gipfel erreicht. Aber hier schien es unmöglich, weiter zu kommen; denn
die Seite nach Italien zu war so abschüssig und glatteisig, daß man keinen
Fuß fest aufsetzen konnte. Doch was half es? Man mußte hinunter auf
Leben oder Tod. Die Männer krochen auf Händen und Füßen, in bestän-
diger Angst, hinabzurollen in den gähnenden Abgrund; die Königin aber
und ihre Kammerfrau wurden in Rinderhäute eingenäht und so von den
Führern hinabgezogen. Den Pferden band man die Füße zusammen und
ließ sie an Stricken hinab; die meisten kamen dabei um. Endlich — endlich
kam man in der Ebene an. Die eine Angst war glücklich überstanden,
aber eine zweite begann für den unglücklichen Kaiser.
Gregor war bei Heinrichs Ankunft gerade auf der Reise nach Deutsch-
land zum Reichstage nach Augsburg begriffen und eben in Oberitalien an-
gelangt. Er erschrak nicht wenig, als er hörte, der Kaiser sei im Anmarsche;
denn er vermeinte, Heinrich komme, um sich für die ihm angethane Schmach
zu rächen. Und wirklich hätte Heinrich solches thun können, denn die lom-
bardischen Großen und Bischöfe kamen ihm frohlockend entgegen in der Hoff-
nung, er würde sie gegen den herrschsüchtigen Gregor anführen. Sie boten
ihm alle ihre Hilfe an, aber Heinrich wies sie ab mit den Worten: „Ich bin
nicht gekommen, zu kämpfen, sondern Buße zu thun."
Gregor war schnell von seinem Wege abgewichen und in das feste
Schloß Canossa zu seiner Freundin, der reichen Markgräfin Mathilde
von Toskana, geflohen, da er noch nicht wußte, mit wie reumütigem Sinne
Heinrich zu ihm kam. Er freute sich aber nicht wenig, als er hörte, daß der
deutsche König sich als büßender Pilger ihm nahe. Sobald Heinrich in
Canossa angelangt war, ließ er durch die Markgräfin den Papst bitten, ihn
vom Bannspruche zu lösen; er wolle sich ja jeder Bußübung unterziehen,
die der heilige Vater ihm auferlegen würde. Seine Bitte ward ihm gewährt.
Es war damals so Sitte, daß der öffentliche Sünder, der sich um Los-
sprechung (Absolution) von der Kirchenbuße bemühte, mit einem wollenen
Hemde angethan wurde. In diesem Kleide der Reue und Buße mußte er eine
geraume Zeit lang an der Kirchenthür stehen und vor der ganzen Gemeinde sich
Das Vaterland. 4
50
demütigen. Auch mußte er so lange fasten und beten, bis er durch des
Priesters Absolution wieder in den Schoß der Kirche zurückgeführt wurde.
Das sollte aber keine Demütigung vor Menschen, sondern eine Demütigung
vor Gott sein, vor welchem Bettler und Fürsten gleich sind. Dieser Buß-
Übung mußte sich nun auch Heinrich in Canossa unterwerfen; der König
von Deutschland und Italien stand hier, bloß mit einem wollenen Hemde
angethan, mit entblößtem Haupte und barfuß, im Schloßhose, unter freiem
Himmel ans des Papstes Entscheidung harrend. Drei Tage lang mußte
der Unglückliche so stehen, ohne sich durch Speise und Trank zu erquicken.
Die Markgräfin und die anderen Freunde Gregors wurden durch das Wei-
nen und Wimmern Heinrichs so gerührt, daß sie unter Thränen Fürbitte
beim Papste einlegten; ja einige riefen sogar, das sei mehr als apostolische
Strenge, das sei tyrannenmäßige Grausamkeit. Endlich am vierten Tage
ließ der Papst den Büßenden vor sich kommen und sprach ihn unter der
Bedingung vom Banne los, daß er ruhig nach Deutschland gehe, sich aller
königlicheil Gewalt entschlage, bis auf einem Reichstage entschieden sei, ob
er König bleiben solle oder nicht.
Einen so harten Bescheid hatte Heinrich doch nicht erwartet. Mit
Unwillen und Zorn im Herzen schied er von Gregor, nach der günstigeil
Stunde sich sehnend, ivo er sich rächen konnte. A. W. Grube.
20. Heinrich IV. und Heinrich V.
Heinrich IV.
1. Zu Speier*) im letzten Häuselein,
da liegt ein Greis in Todespein,
sein Kleid ist schlecht, sein Lager hart,
viel Thränen rinnen in seinen Bart.
2. Es hilft ihm keiner in seiner Not,
es hilft ihm nur der bittre Tod.
Und als der Tod ans Herze kam,
da tönt's auf einmal wundersam.
Heinrich V.
5. Zu Speier, der alten Kaiserstadt,
da liegt auf gold'ner Lagerstatt,
mit mattem Aug' und matter Hand,
der Kaiser, Heinrich der Fünfte genannt.
6. Die Diener laufen hin und her,
der Kaiser röchelt tief und schwer.
Und als der Tod ans Herze kam,
da tönt's auf einmal wundersam.
3. DieKaiserglocke, die lange verstummt,
von selber dumpf und langsam summt,
und alle Glocken groß und klein
niit vollem Klange fallen ein.
7. Die kleine Glocke, die lange verstummt,
die Armensünderglocke summt,
und keine Glocke stimmt mit ein,
sie summt so fort und fort allein.
4. Da heißt's in Speier weit und breit:
Der Kaiser ist gestorben heut'!
Der Kaiser starb, der Kaiser starb;
weiß keiner, wo der Kaiser starb? —
8. Da heißt's in Speier weit und breit:
Wer wird denn wohl gerichtet heut'?
Wer mag der arme Sünder sein?
Sagt an, wo ist der Rabenstein?
Max von Oer.
21. Wickher.
1. Fern von des Rheines Heimatstrand
zog ins gelobte heil'ge Land
mit Gottfried Bouillon schlecht
und recht
Wickher, ein deutscher Lanzenknecht.
Durch Palästinas Berg'und Thäte
ward's manchem heiß im Sonnen-
strahle;
die Rüstung, die der Recke trug,
drückt' ihn und seinen Gaul genug.
') Nach der Geschichte starb Heinrich IV. zu Lüttich.
51
Da dacht' er an den grünen Rhein
und seinen kühlen, gold'nen Wein;
und wie er dachte, wie er träumte,
kam's, daß er hinterm Zuge säumte.
Er sprach: „DieHitze drückt zu sehr,
zur Nachtzeit hol' ich ein das Heer!"
Und legt sich in die kahle Heide,
das Rößlein labt sich auf der Weide.
Doch will ihn kaum der Schlaf
umhüllen,
da störet ihn ein furchtbar Brüllen,
und sieh, es stürzt ein mächtig Tier
aufs Rößlein aus dem Waldrevier.
Der wackre Deutsche war nicht faul,
er liebte seinen treuen Gaul,
war gleich bereit, mit Schild und
Schwert
zu kämpfen für das gute Pferd.
2. Kaum sieht das Tier den fremden
Mann,
läßt es das Roß und fällt ihn an.
Da sieht er weh'n die langen Mähnen,
dazwischen den weiten Rachen gähnen,
die Augen blitzen wie Feuer hell,
der Leib ist stark, die Füße schnell,
es springt an den Schild mit der
Krallentatze.
„Ei", rief der Knecht, „verfluchte
Katze!"
Und rüstig spaltet er sogleich
des Tieres Haupt mit einem Streich.
Voll Schmerzen brüllt's zum letzten
Mal,
und röchelnd stürzt es dann zu Dhal.
Der Deutsche sieht's mit kaltem Blut;
da scheint der Pelz ihm gar zu gut,
er trennt ihn sauber mit dem Schwert
und legt ihn hinten auf das Pferd.
3. Der Abend kam indes heran,
und weiter zog der deutsche Mann.
So kam er in ein Dorf geritten,
da liefen die Leute aus den Hütten
und staunten an die zottige Haut,
riefen ihm zu und jubelten laut,
sagten, nun wäre die Gegend frei,
er habe erlegt den großen Leu.
Als er die Männer höret sagen,
daß er der Tiere König erschlagen,
von dessen Muth und wilder Stärke
man jhm erzählt viel Wunderwerke,
da wendet sich der Knecht fürbaß,
der längst den harten Strauß vergaß,
besieht die Haut sich für und für:
„Eine gelbe Katze schien es mir.
Längst hätt' ich gern den Leu geseh'n,
nunist'smirschierimTraumgescheh'n,
daß ich gar einen hab erschlagen!"
Und ritt davon mit gutem Behagen.
Wolfg. Müller.
6. Die Koßenstaufen.
22. Die Weiber von Weinsberg.
Der erste Hohenstaufe, der König Konrad, lag
mit Heeresmacht vor Weinsberg seit manchem langen Tag.
Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest,
die unverzagten Städter, die hielten es noch fest.
5. Der Hunger kam, der Hunger! Das ist ein scharfer Dorn.
Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn:
„Ihr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert,
und öffnet ihr die Thore, so trifft euch doch das Schwert."
Da sind die Weiber kommen: „Und muß es also sein,
10. gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein!"
Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt,
da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.
4*
52
„Die Weiber mögen abzieh'n, und jede habe frei,
was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei;
15. laßt zieh'n mit ihrer Bürde sie ungehindert fort,'
das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort."
Und als der frische Morgen im Osten kaum gegraut,
da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut;
es öffnet leise, leise sich das bedrängte Thor,
20. es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor.
Ties beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht,
sie tragen ihre Eh'herrn, das ist ihr liebstes Gut.
„Halt an die argen Weiber!" ruft drohend mancher Wicht;
der Kanzler spricht bedeutsam: „Das war die Meinung nicht."
25. Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr gelacht:
„Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht;
gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht,
und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht."
So war das Gold der Krone wohl rein und unentweiht.
30. Die Sage schallt herüber aus halbvergess'ner Zeit.
Im Jahr elfhnndertvierzig, wie ich's verzeichnet fand,
galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland.
Chamiffo.
23. Friedrich Barbarossa und Hartmann von
Siebeneichen.
Bei Susa stehet einsam ein abgelegenes Haus,
es ruhet dort der Kaiser von seinen Nöten aus.
Ach wehe, Barbarossa, wer wies dir diesen Pfad!
Das Haus ist rings umstellet von Mördern und Verrat.
5. Es sprach der Wirt voll Reue: „Wie ist es mir so leid!
Ich wollte gern dich retten; doch nun ist's, nicht mehr Zeit."
Da ries der Kaiser zürnend: „Verderben diesem Ort,
wo fallen soll ein Kaiser durch feigen Meuchelmord!
Gott schütz' die deutsche Krone, Gott schütz' die Seele mein!
10. Und muß ich heute sterben, so soll's in Ehren sein."
Da rief ein Ritter flehend und kniete hin vor ihn:
„Herr Kaiser, eine Gnade, die werde mir verlieh'n!"
„Mein Reich", sprach Barbarossa, „das wird im Grab bald sein,
drum will ich gern gewähren, kann ich noch 'was verleih'n."
15. „Das Größte", sprach der Ritter, „hast, Kaiser, du gewährt;
für dich den Tod zu leiden, das ist's, was ich begehrt."
Des Kaisers Purpurmantel hat er drauf umgethan,
und legte dann ihm selber des Dieners Kleider an.
Der Kaiser ging von dannen, den Wächtern rief er zu:
20. „Bin Barbarossas Diener, laßt ziehen mich in Ruh.
Die Herberg zu bereiten, ward ich vorausgesandt,
sein Nahen soll ich künden daheim im Vaterland."
53
Da ließen sie den Kaiser zum sichern Thor hinaus;
sie selber aber brachen um Mitternacht ins Haus.
25. Sie traten vor den Ritter, der dort als Kaiser schlief;
sie stießen ihre Schwerter ihm in das Herz so tief.
„Nun fahre heim, du Kaiser!" so
rief die wilde Schar;
nicht wußte ja die böse, daß er ge-
rettet war,
gerettet durch die Treue, die litt
den Opfertod,
30. die kühn die Brust den Mördern
für ihren Kaiser bot.
Mit Kränzen deutscher Eichen
schmück' ihn, mein Vaterland!
Hartmann von Siebeneichen,
so ist der Held genannt*).
Streckfuß.
24. Schwäbische Kunde.
1. Als Kaiser Rotbart lobesam
zum heil'gen Land gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen Heer
durch ein Gebirge, wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Not,
viel Steine gab's und wenig Brot,
und mancher deutsche Neitersmann
hat dort den Trunk sich abgethan.
Den Pferden war's so schwach im
Magen,
fast mußte der Reiter die Mähre T,
tragen.
Nun war ein Herr aus Schwaben- ,
land,
von hohem Wuchs und starker Hand;
desRößlein warsokrank und schwach,
er zog es nur am Zaume nach;
er hätt' es nimmer aufgegeben,
und kostet's ihm das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
hinter dem Heereszug zurück.
2. Da sprengten plötzlich in die Quer
fünfzig türkische Reiter daher;
die huben an auf ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
gingseinesWegesSchrittvor Schritt,
Friedrich Rotbart. 1152—1190.
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und thät nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
DawalltdemDeutschenauchseinBlut,
er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt ererstseinSchwertmitMacht;
er schwingt es auf des Reiters Kopf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
*) Nach der Geschichte haben die Bürger Susas dem Hartmann von Sieben-
eichen um dieser seltenen Treue willen das Leben geschenkt.
54
haut auch den Sattel noch zu Stücken
und tief noch in des Pferdes Rucken.
Zur Rechten sieht man wie zur Linken
einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus:
sie fliehen in alle Welt hinaus,
und jedem ist's, als würd' ihm mitten
durch Kopf und Leib hindurch ge-
schnitten.
3. Drauf kam des Wegs 'ne Christen-
schar,
die auch zurückgeblieben war;
sie sahen nun mit gutem Bedacht,
was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser ver-
nommen;
der ließ denSchwaben vor sich kommen;
ersprach:„Sag'an, mein Ritter werl,
wer hat dich solche Streich' gelehrt?"
Der Held bedacht' sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im
Schwang',
sie sind bekannt im ganzen Reiche,
man nennt sie halt nur Schwaben-
streiche!"
Uhland.
25. Friedrich Rotbart.
1. Tief im Schlosse des Kyffhäusers,
bei der Ampel rotem Schein,
sitzt der alte Kaiser Friedrich
an dem Tisch von Marmorstein.
2. Ihn umwallt der Purpurmantel,
ihn umfängt der Rüstung Pracht;
doch auf seinen Augenwimpern
liegt des Schlafes tiefe Nacht.
3. Vorgesunken ruht das Antlitz,
drin sich Ernst und Milde paart;
durch den Marmortisch gewachsen
ist sein langer, gold'ner Bart.
4. Rings wie eh'rne Bilder stehen
seine Ritter um ihn her,
harnischglänzend, schwertumgürtet,
aber tief im Schlaf wie er.
5. Heinrich auch, der Osterdinger,
ist in ihrer stummen Schar,
mit den liederreichen Lippen,
mit dem blondgelockten Haar.
6. Seine Harfe rubt dem Sänger
in der Linken ohne Klang;
doch auf seiner hohen Stirne
schläft ein künftiger Gesang.
7. Alles schweigt, nur hin und wieder
fällt ein Tropfen vom Gestein,
bis der große Morgen plötzlich
bricht mit Feuerglut herein;
8. Bis der Adler stolzen Fluges
um des Berges Gipfel zieht,
daß von seines Fittichs Rauschen
dort der Rabenschwarm entflieht.
9. Aber dann, wie ferner Donner,
rollt es durch den Berg herauf,
und der Kaiser greift zum Schwerte,
und die Ritter wachen auf.
10. Laut in seinen Angeln tönend,
springet auf das eh'rne Thor,
Barbarossa mit den Seinen
steigt im Waffenschmuck empor.
11. Auf dem Helm trägt er die Krone
und den Sieg in seiner Hand,
Schwerter blitzen, Harfen klingen,
wo er schreitet durch das Land.
12. Und dem alten König beugen
sich die Völker allzugleich,
und aufs neu zu Aachen gründet
er das heil'ge deutsche Reich.
Geibel.
26. Kyffhäusersasten.
Ein junger Schäfer saß einst auf dem Kyffhäuser und blies ein
anmutiges Liedlein auf seiner Schalmei. Das hörte der Kaiser im Innern
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des Berges mit Wohlgefallen. Er schickte einen der Zwerge, die um ihn
waren, hinaus und ließ den Schäfer rufen. Unerschrocken folgte der Schäfer
feinem Führer und blies dem Kaiser die lieblichsten Weisen vor, die er wußte.
Als er fertig war, fragte ihn der Kaiser, ob noch die Raben um den Berg
flögen. „Ja!" antwortete der Schäfer. Da sprach der Kaiser: „So muß ich
noch hundert Jahre schlafen!" Dann zeigte der Zwerg dem Hirten die prächtige
Halle, die kostbaren Waffen und Truhen voll Gold und fragte ihn auch,
welchen Dank er begehre. Als der Schäfer sagte: „Keinen!", da brach der
Zwerg den Fuß von einem Fasse, reichte ihn hin und sprach: „Nimm das
und geh!" Der Hirte kam hinauf, und der Berg that sich wieder zu. Der
Fuß des Fasses aber war von lauterem Golde. —
Drei Musikanten gingen einst auf den Kyffhäuser. Als sie oben
angelangt waren, riefen sie: „Wo ist Prinzessin Ute?" Da sing sogleich ein
Hahn an zu krähen, und neben ihnen stand Ute, Kaiser Rotbarts Tochter.
Sie begrüßten sie und sagten, daß sie dem Kaiser ein Ständchen bringen
wollten. Sie spielten drei Stücke, erhielten aber nur Eichenzweige, welche
ihnen die Prinzessin an den Hut steckte. Unzufrieden mit diesem Lohne,
rissen zwei von ihnen die Zweige von den Hüten. Darauf gingen sie zum
Junker der nahen Rotenburg in der Hoffnung, für ihr Spiel mit Golde
bezahlt zu werden. Vor dem Thore der Burg angekommen, riefen sie:
„Juchhe, juchhei! Mach' auf, Pförtner, daß wir dem Ritter und seiner
Gemahlin eins aufspielen!" Dabei schwenkten sie ihre Hüte. Doch sieh!
an dem Hute des einen Musikanten klinkerte und klankerte es, und wie er
zusah, hatte er einen goldenen Eichenzweig am Hute. Da eilten die andern
beiden schleunigst zum Kyffhäuser zurück, um ihre Zweige aufzusuchen, aber
sie waren verschwunden. Bechstein.
7. Kaiser aus verschiedenen Käusern.
27. Rudolf von Habsburg als Richter.
Von der ungemeinen Geistesgegenwart und Klugheit, mit welcher
Rudolf das Recht handhabte, giebt folgende Geschichte einen Beweis. Als
er einst nach Nürnberg kam, um dort einen Reichstag zu halten, baten ihn
viele Bürger, ihnen Recht zu sprechen. Unter diesen war auch ein Kauf-
mann, der einem vornehmen Gastwirte zu Nürnberg, bei welchem er ein-
gekehrt war, 200 Mark Silber in einem ledernen Beutel aufzuheben gegeben
hatte. Als der Kaufmann bei seiner Abreise das Geld zurückverlangte,
leugnete der betrügerische Wirt, welcher keinen Empfangsschein ausgestellt
hatte, die ganze Sache. Nachdem der Kaiser sich nach allen Umstünden
genau erkundigt und vom Kaufmanne gehört hatte, daß der Wirt mit
unter den Abgeordneten der Stadt sein werde, welche an diesem Tage dem
Kaiser ihre Aufwartung machen würden, so befahl er dem Kaufmanne,
abzutreten und sich verborgen zu halten. Jetzt kamen die Abgeordneten.
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Rudolf unterredete sich mit ihnen, fragte sie nach ihren Namen und Gewerben
und sagte dann im Verlaufe des Gespräches zu dem Wirte: „Höre, du hast
einen hübschen Hut, ich gebe dir mei-
nen dafür." Der Wirt machte sich
eine Ehre daraus, mit dem Kaiser
zu tauschen, und Rudolf setzte den
neuen Hut recht wohlgefällig aus.
Später ging der Kaiser aus dem
Zimmer heraus, ries einen Bürger
herbei und sagte ihm: „Lauf eilig
zu des Gastwirts Frau und sage
ihr, ihr Mann verlange unverzüg-
lich den ledernen Beutel mit dem
Gelde des Kaufmannes; zum Wahr-
zeichen schicke er hiermit seinen Hut!"
Die Frau gab das Geld willig her,
der Bürger brachte es dem Kaiser,
dieser steckte es zu sich und trat mit
dem Hute wieder in den Saal. Als
er nun die Abgeordneten entließ,
befahl er dem Gastwirte dazubleiben
und rief nun auch den Kaufmann
herbei. Dieser erzählt seine Klage;
jedoch standhaft leugnete der Wirt,
das Geld empfangen zu haben.
Aber auf einmal zog der Kaiser den
Beutel hervor, überführte den
betrügerischen Wirt und verurteilte
ihn zu einer bedeutenden Geldstrafe.
Hauff.
28. Rudolfs Ritt zum Grabe.
1. Auf der Burg zu Germersheim, stark am Geist, am Leibe schwach,
sitzt der greise Kaiser Rudolf, spielend das gewohnte Schach.
2. Und er spricht: „Ihr guten Meister, Ärzte, sagt mir ohne Zagen,
wann aus dem zerbroch'nen Leib wird der Geist zu Gott getragen?"
3. Und die Meister sprechen: „Herr, wohl noch heut erscheint die Stunde!"
Freundlich lächelnd spricht der Greis: „Meister, Dank für diese Kunde!"
4. „Aus nach Speier! Auf nach Speier!" ruft er, als das Spiel geendet,
„wo so mancher deutsche Held liegt begraben, sei's vollendet!
5. Blast die Hörner! Bringt das Roß, das mich oft zur Schlacht getragen!"
Zaudernd steh'u die Diener all', doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!"
6. Und das Schlachtroß wird gebracht. „Nicht zumKampf, zum ew'geu Frieden",
spricht er, „trage, treuer Freund, jetzt den Herrn, den lebensmüden!"
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7. Weinend steht der Diener Schar, als der Greis auf hohem Rosse,
rechts und links ein Kapellan, zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse.
8. Trauernd neigt des Schlosses Lind' vor ihm ihre Äste nieder,
Vögel, die in ihrer Hut, singen wehmutsvolle Lieder.
9. Mancher eilt des Wegs daher, der gehört die bange Sage,
sieht des Helden sterbend Bild und bricht aus in laute Klage.
10. Aber nur von Himmelslust spricht der Greis mit jenen Zweien;
lächelnd blickt sein Angesicht, als ritt' er zur Lust im Maien.
11. Von dem hohen Dom zu Speier hört man dumpf die Glocken schallen,
Ritter, Bürger, zarte Frauen weinend ihm entgegen wallen.
12. In den hohen Kaisersaal ist er rasck, noch eingetreten:
sitzend dort auf gold'nem Stuhl hört man für sein Volk ihn beten.
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!" spricht er dann mit bleichem Munde
drauf verjüngt sich sein Gesicht um die mitternächt'ge Stunde.
14. Da auf einmal wird der Saal hell von überird'schem Lichte,
und entschlummert sitzt der Held, Himmelsruh' im Angesichte.
15. Glocken dürfen's nicht verkünden, Boten nicht zur Leiche bieten;
alle Herzen längs des Rheins fühlen, daß der Held verschieden.
16. Nach dem Dome strömt das Volk, schwarz, unzähligen Gewimmels;
der empfing des Helden Leib, seinen Geist der Dom des Himmels.
I. Kerner.
29. Wilhelm Teil.
(Sage.)
Unter dem Kaiser Albrecht that Gessler, Landvogt zn Uri und
Schwyz, den Landleuten daselbst grossen Zwang an, hielt sie streng und
hart und nahm sich vor, eine Feste in Uri zu hauen, damit er und andere
Landvögte nach ihm um so sicherer dort wohnen möchten, wenn Auf-
ruhr entstünde, und auch das Land in desto grösserer Furcht und im
Gehorsam erhalten würde. Er fing also an, auf einem bei Altars, dem
Hauptflecken, gelegenen Hügel den Bau ins Werk zu richten, und wenn
ihn jemand fragte, wie die Feste heissen werde, antwortete er: „Zwing-
uri wird ihr Name sein.“ Das verdross die edlen Landsassen und
gemeinen Landleute in Uri, und als sie sich das merken liessen, wurde
Gessler grimmig und drohete, er wolle sie so weich und zahm machen,
dass man sie um einen Finger winden könne. Da liess er zu Altars am
Platze hei der Linde, wo viele vorübergingen, eine Stange aufrichten,
einen Hut oben darauf legen und gebieten, dass jeder, der vorüberginge,
sich dem Hute neigen sollte, als ob der König selbst zugegen wäre,
widrigenfalls ihn Verlust seines Gutes und Leihesstrafe treffen würde.
Auch stellte er einen steten Wächter hin, der diejenigen anzeigen sollte,
welche dem Gebote nicht Folge leisteten. Dieser grosse Übermut drückte
das Volk noch ärger als der Bau des Schlosses; doch wagten sie aus
Furcht vor des Kaisers Ungnade und gewaltiger Macht keine Wider
setzlichkeit. Da ging an einem Sonntage im November ein redlicher,
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frommer Landmann, Wilhelm Teil genannt, an dem aufgesteckten Hute
vorüber, ohne sich vor ihm zu neigen. Das ward dem Landvogt angezeigt.
Morgens danach, am Montage, beruft er den Teil vor sich und fragt,
warum er seinem Gebote nicht gehorsam gewesen wäre und dem Kaiser
wie auch ihm zum Trotz sich vor dem Hute nicht geneigt hätte. Teil
gab zur Antwort: „Lieber Herr, es ist von ungefähr und nicht aus Ver-
achtung geschehen; ich dachte nicht, dass es Euer Gnaden so hoch
ansehen würden.“ Nun war der Teil ein guter Armbrustschütze, dass
man einen besseren kaum fand, und hatte hübsche Kinder, die ihm lieb
waren. Die liess der Landvogt holen und sprach: „Teil, welches unter
den Kindern ist dir das liebste?“ Teil antwortete: „Herr, sie sind mir
alle gleich lieb.“ Da sprach der Landvogt: „Woldan, Teil, du bist ein
guter Schütze, wie ich höre. Nun wirst du deine Kunst vor mir bewähren
und einem deiner Kinder einen Apfel vom Haupte schiessen. Triffst du
ihn nicht auf den ersten Schuss, so kostet es dir dein Leben.“ Der Teil
erschrak und bat den Landvogt um Gottes willen, dass er ihm den Schuss
erliefse; denn es wäre unnatürlich, dass er auf sein liebes Kind schiessen
sollte; er wolle lieber sterben. Der Landvogt aber sprach: „Du thust
den Schuss oder stirbst mit dem Kinde.“ Nun sah Teil, dass er nicht
ausweichen konnte, bat Gott inniglich, dass er ihn und sein liebes Kind
behüten möge, nahm seine Armbrust, spannte sie, legte den Pfeil auf und
steckte noch einen Pfeil in das Koller. Der Landvogt selber legte dem
Kinde den Apfel aufs Haupt. Teil zielte und schoss ihn glücklich dem
Kinde vom Scheitel. Der Landvogt verwunderte sich des meisterhaften
Schusses und lobte den Teil wegen seiner Kunst. „Aber eins“, sprach
er, „wirst du mir sagen: was bedeutet es, dass du noch einen Pfeil in das
Koller stecktest?“ Teil erschrak und sprach: „Das ist so der Schützen
Gewohnheit.“ Der Landvogt aber wusste wohl, dass Teil etwas anderes
im Sinne gehabt hatte, und redete ihm gütlich zu: „Teil, nun sage mir
fröhlich die Wahrheit und fürchte nichts. Du sollst deines Lebens sicher
sein, aber die gegebene Antwort nehme ich nicht an.“ Da sprach Teil:
„Wohlan, Herr, da Ihr mich meines Lebens versichert habt, so will ich
Euch die gründliche Wahrheit sagen: Hätte ich des Apfels auch gefehlt,
Eurer wahrlich würde ich mit diesem zweiten Pfeile nicht gefehlt haben.“
Darüber erschrak der Vogt und sprach: „Deines Lebens habe ich dich
zwar versichert; weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich erkannt
habe, so will ich dich an einen Ort fahren lassen, wo du weder Sonne
noch Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei.“ Hierauf liess er
ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen Brunnen fahren
und von dort seinen Gefangenen über Land durch Schwyz in sein Schloss
Küfsnacht führen. Als sie nun auf dem See waren, da entstand ein so
ungestümer Sturmwind, dass sie alle elend zu verderben meinten. Da
sprach der Diener einer zum Landvogt: „Herr, ich sehe Eure und unsere
Lebensgefahr; nun ist der Teil ein starker Mann und versteht sich gut
darauf, mit einem Fahrzeuge umzugehen; man sollte ihn jetzt in der
Not gebrauchen.“ Sogleich wandte sich der Landvogt an Teil mit den
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Worten: „Wenn du dich getrauest, uns aus dieser Gefahr zu helfen, so
wollt’ ich dich deiner Bande entledigen.“ Der Teil gab zur Antwort:
„Ja, Herr, ich getraue uns mit Gottes Hilfe wohl zu retten.“ Also ward
er losgebunden, trat an das Steuerruder und fuhr redlich dahin; doch
lugte er allenthalben auf gute Gelegenheit zu entrinnen. Und als er der
Felsenplatte nahe kam, welche seitdem den Namen Teilsplatte hat,
ersah er seinen Vorteil und ermunterte die Knechte, fest anzuziehen, bis
sie vor jene Platte kämen; denn dann hätten sie das Schlimmste über-
wunden. Also kamen sie der Platte nahe; da drückte er das Schiff mit
Macht an den Felsen, erraffte sein Schiefszeug, welches im Schiffe beim
Steuerruder lag,, und that einen Sprung hinaus auf die Platte; das Schiff
aber stiefs er mit Gewalt weit hinter sich in den See zurück. Nun
kletterte er den Berg hinauf und floh durch das Land Schwyz bis auf
die Höhe an der Landstrafse bei Küssnacht, und wo dort eine hohle
Gasse ist, verbarg er sich im Gebüsch, den Landvogt erwartend. Dieser
und seine Diener kamen, mit genauer Not dem See entronnen, durch den
Hohlweg geritten.
Teil hörte in seinem Versteck allerlei Anschläge des Landvogts
wider ihn, nahm seine Armbrust und durchschoss den Vogt mit einem
Pfeile, dass er tot vom Rosse zu Boden sank. Hierauf entfloh Teil über
das Gebirge gen Uri. Das Volk aber freute sich überall, wo die That
ruchbar wurde, dass es seines schlimmsten Gewaltherrn entledigt war.
kassier.
30. Kaiser Albrechts Tod.
Stauffacher: Von einer großen Furcht sind wir befreit,
der Kaiser ist ermordet.
Walther Fürst: Gnäd'ger Gott!
Landleute: Ermordet? Was? Der Kaiser! Hört! Der Kaiser!
Melchthal: Nicht möglich! Woher kam Euch diese Kunde?
Stauffacher: Es ist gewiß. Bei Brück fiel König Albrecht
durch Mörderhand. Ein glaubenswerter Mann,
Johannes Müller, bracht' es von Schaffhausen.
Walther Fürst: Wer wagte solche grauenvolle That?
Stauffacher: Sie wird noch grauenvoller durch den Thäter.
Es war fein Neffe, feines Bruders Kind,
Herzog Johann von Schwaben, der's vollbrachte.
Melchthal: Was trieb ihn zu der That des Vatermords?
St auf fach er: Der Kaiser hielt das väterliche Erbe
dem ungeduldig Mahnenden zurück;
es hieß, er denk' ihn ganz darum zu kürzen,
mit einem Bischofshut ihn abzufinden.
Wie dem auch fei, der Jüngling öffnete
der Waffenfreunde bösem Rat fein Ohr,
und mit den edlen Herr'n von Eschenbach,
von Tegerfelden, von der Wart und Palm
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beschloß er, da er Recht nicht konnte finden,
sich Rach' zu holen mit der eignen Hand.
Walther Fürst: O sprecht, wie ward das Gräßliche vollendet?
Staufsacher: Der König ritt herab vom Stein zu Baden,
gen Rheinfeld, wo die Hosstadt war, zu zieh'n,
mit ihm die Fürsten Hans und Leopold,
und ein Gefolge hochgeborner Herren.
Und als sie kamen an die Reuß, wo man
aus einer Fähre sich läßt übersetzen,
da drängten sich die Mörder in das Schiss,
daß sie den Kaiser vom Gefolge trennten.
Drauf, als der Fürst durch ein geackert Feld
hinreitet — eine alte große Stadt
soll drunten liegen aus der Heiden Zeit —
die alte Feste Habsburg im Gesicht,
wo seines Stammes Hoheit ausgezogen,
stößt Herzog Hans den Dolch ihm in die Kehle,
Rudolf von Palm durchrennt ihn mit dem Speer,
und Eschenbach zerspaltet ihm das Haupt,
daß er heruntersinkt in seinem Blut,
gemordet von den Seinen, auf dem Seinen.
Am andern Ufer sahen sie die That,
doch, durch den Strom geschieden, konnten sie
nur ein ohnmächtig Wehgeschrei erheben.
Am Wege aber saß ein armes Weib;
in ihrem Schoß verblutete der Kaiser.
Melchthal: So hat er nur sein frühes Grab gegraben,
der unersättlich alles haben wollte.
Weiß man, wo sich die Mörder hingefiüchtet?
Stausfacher: Sie flohen alsbald nach vollbrachter That
auf fünf verschied'nen Straßen auseinander
und trennten sich, um nie sich mehr zu seh'n.
Herzog Johann soll irren im Gebirge.
Walther Fürst: So trägt die Unthat ihnen keine Frucht!
Rache trägt keine Frucht! Sich selbst ist sie
die fürchterliche Nahrung, ihr Genuß
ist Mord, und ihre Sättigung ist Grausen.
Schiller („Wilhelm Teil").
31. Ter fromme Schweppermann.
Der deutsche Kaiser Ludwig der Bayer hatte die große, ent-
scheidende Schlacht bei Mühldorf gewonnen, in welcher er den Gegen-
kaiser Friedrich den Schönen von Österreich besiegte. Er selbst
hatte als tapferer Ritter mitgefochten und manchen blutigen Hieb
geführt; aber die Anführung des Heeres hatte er klüglicherweise nicht
selbst übernommen, sondern einem kriegserfahrenen alten Ritter,Namens
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Schweppermann, überlassen. Die vorsichtigen Anordnungen dieses
Anführers waren es dann auch, wodurch die hartnäckige Schlacht zu
Gunsten Ludwigs entschieden worden war. Als nun am Abend die
Feinde gänzlich das Feld geräumt hatten, und man für die Ver-
wundeten gesorgt und die Gefangenen untergebracht hatte, da be-
gannen die siegreichen Ritter samt dem Kaiser zu fühlen, daß sie
den ganzen Tag gekämpft, aber nichts gegessen und getrunken hatten.
Aber da war guter Rat teuer. Alle umliegenden Dörfer waren
längst geplündert, wo nicht gar abgebrannt, und die Diener des
Kaisers liefen lauge vergebens umher, bis endlich einer mit einem
Korbe voll Eier zurückkam, welchen er seinem Herrn zu Füßen
stellte. — „Ist das alles?" fragte Ludwig. „Alles, Ew. Majestät,
ivas wir auf weit und breit haben finden können." — „Nun", sagte
lächelnd der Kaiser, „dann müssen wir gewissenhaft teilen, damit
keiner von den braven Rittern hier ganz hungrig schlafen gehen muß.
Ihr Herren, tretet in den Kreis, damit jeder seinen Anteil empfange."
Nun zählte er selbst die Eier und fand, daß nur eins mehr da
war, als Ritter nmherstanden. „Gott segne uns das wenige, was
er uns beschert hat!" rief er, indem er selbst ein Ei nahm, und zu
seinem Diener sich wendend: „Jetzt teile sie aus! Jedem ein Ei, dem
frommen Schweppermann zwei!" Dem alten Krieger gingen die
Augen über, als er sah, wie er von seinem Kaiser geehrt wurde.
Zwar bat er und noch viele andere Ritter mit ihm, der Kaiser möge
erst besser für sich sorgen, sie würden schon noch etwas finden, aber
Ludwig blieb bei seinem Ausspruche. „Ich habe nicht mehr gethan,
als jeder brave Ritter; aber der Schweppermann hat mehr gethan
als ein Dutzend von uns; ihm gebührt die Ehre!" Noch jetzt, nach
500 Jahren, liest man des Kaisers Worte: „Jedem ein Ei, dem
frommen Schweppermann zwei!" ans dem Grabsteine des letzteren.
Curtman.
8. Wilder ans der Kulturgeschichte des
Mittelalters.
32. Das Rittertum im Mittelalter.
Anfänglich bestanden die Heere der Deittschen, wie auch der meisten
übrigen Völker Europas, größtenteils aus Fußgängern. Der Reiter waren
nur wenige, aber alle schwer gerüstet. Sie trugen Helme und Panzer,
ihre Waffen waren Lanzen und furchtbare Schwerter. Wegen des Auf-
wandes, den eine solche Rüstung erforderte, konnten nur die Reichen und
Vornehmen zu Pferde dienen. Darum gab der Reiterdienst eine Art von
Ansehen. und Adel, und immer strenger suchten sich die Reiter von den
unteren Ständen, welchen bald allein der Dienst zu Fuße überlassen blieb,
abzusondern. Um einen solchen Vorzug zu behaupten und immer mehr
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hervorzuheben, war das ganze Leben des Adels kriegerisch von Jugend auf.
Körperliche Kraft und Gewandtheit ging ihm über alles; um höhere Aus-
bildung des Geistes kümmerte er sich wenig. Mancher Adelige konnte nicht
einmal seinen Namen schreiben. Dagegen lernte er von Jugend auf ein
wildes Roß tummeln und Lanze und Schwert mit Gewandtheit führen.
Wegen der immerwährenden Übung mußte er wohl der ausgezeichnetste
Krieger werden. Denn zu einer Zeit, wo das Pulver noch nicht erfunden
war, konnte nur körperliche Kraft und Gewandtheit die Schlacht entscheiden.
Und wie hätte sich in der Schlacht der leichte Fußgänger mit dem geübten
Reiter messen können, der, vom Kopfe bis zu den Füßen mit Eisen bedeckt,
jeder feindlichen Waffe trotz bieten konnte! So machten in den damaligen
Zeiten die Adeligen die vornehmsten Krieger aus; nach ihrer Anzahl wurde
fast einzig die Stärke des Heeres bestimmt. Von ihrem Reiterdienste be-
kamen sie den Namen Ritter.
Mit der Zeit bildeten die Ritter einen besonderen Stand. Religion,
Ehre, Tapferkeit und Hochachtung gegen das weibliche Geschlecht waren
die vier Haupttugenden der Mitglieder. Die Aufnahme in diesen Stand
erforderte eine vieljährige Vorbereitung und war mit großen kirchlichen
Feierlichkeiten verbunden. Schon im siebenten Jahre ward der Knabe
von edler Herkunft in das Schloß eines anderen Ritters gebracht. Hier
lernte er als Bube oder Page im Dienste seines Herrn und im ehrfurchts-
vollen Umgänge mit Edelfrauen die Anfangsgründe der Rittertugenden.
Er wartete bei der Tafel auf, säuberte die Waffen, hielt seinem Herrn beim
Aufsteigen den Bügel und übte sich im Fechten, Schießen und Reiten, um
seinen kleinen Körper gewandt und stark zu machen. Im vierzehnten Jahre
ward er durch Umgürtung eines Schwertes, welches vom Priester am Altare
feierlich eingesegnet war, wehrhaft. Nun hieß er Knappe (Knabe) oder
Junker. Von nun an begleitete er seinen Herrn zu jeder Stunde und zu
jedem Geschäfte, zu der Lust der Jagd, den Festen und Waffenspielen, so
wie in den Ernst der Schlacht. Treue Anhänglichkeit an seinen Herrn war
die erste Pflicht. Und hatte er in der Schlacht mit Schild und Schwert
seinen Herrn gerettet, so trug er den größten Ruhm davon, den ein adeliger
Jüngling sich erwerben konnte.
Hatte der Knappe unter diesen ritterlichen Übungen das einundzwan-
zigste Jahr erreicht, so konnte er zum Ritter geschlagen werden. Zu dieser
wichtigen Handlung mußte er sich durch den Empfang der heiligen Sakra-
mente, durch Fasten und Beten vorbereiten; auch mußte er sich zuvor baden
und eine Nacht in voller Rüstung in einer Kapelle zubringen. Und kam
daun endlich nach langem Sehnen der Morgen des Tages, welcher der schönste
und glorreichste in des Jünglings Leben war, so wurde er im feierlichen
Zuge zur Kirche geführt. Knappen trugen die Rüstung, den Streitkolben,
den Schild und das Schwert, Edelfrauen den Helm, die Sporen und das
Wehrgehenk. Ehrfurchtsvoll kniete der Knappe am Altare nieder und
beschwor mit feierlichem Eide das Gelübde, die Wahrheit zu reden, das
Recht zu behaupten, die Religion samt ihren Häusern und Dienern, alle
Schwachen und Unvermögenden, alle Witwen und Waisen zu beschirmen,
ö3
keinen Schimpf gegen Edelsrauen zu dulden und alle Ungläubigen zu ver^
folgen. Hierauf empfing er aus der Hand eines Ritters oder einer Edel-
frau Sporen, Handschuh und Panzer. Nun kniete er vor dem Ritter nieder,
der ihn dreimal mit flacher Klinge sanft auf Hals und Schulter schlug.
Das war der Ritterschlag. Dann schmückte man den jungen Ritter
auch mit Helm, Schild und Lanze und führte ihm ein Pferd vor, auf welches
er sich sogleich schwang, und das er dann fröhlich durch die Menge der
Zuschauer tummelte. Große Feste beschlossen die Feierlichkeiten des Tages.
i
Von nun an durste er selbst die geringste Beleidigung nicht ungerächt lassen.
Der .Zweikampf, dasjenige Gottesurteil, welches für das ehrenvollste und
ritterlichste galt, entschied in vielen Fällen über Streitigkeiten der Ritter
unter einander. Warf einer dem andern seinen Handschuh vor die Füße,
so war das ein Zeichen der Herausforderung, so wie das Aufnehmen des-
selben ein Zeichen des angenommenen Zweikampfes.
Wenn nun der Ritter im vollen Harnische einherritt, so daß das vor-
geschobene Visier selbst das Gesicht verdeckte, so war es ganz unmöglich, ihn
zu kennen. Es war deshalb ein äußeres Abzeichen nötig, um sich den
Seinigen im Kampfe kennbar zu machen. Hierzu wählte er das Bild eines
64
Löwen, eines Hirsches, eines Bären und seit den Kreuzzügen häufig das
Bild des Kreuzes in vielerlei Gestalten in seinem Schilde. Das war der
Ursprung der Wappen, die zuerst aus die Waffen gemalt wurden. Durch
Thaten der Kühnheit und Stärke bekamen diese Wappen etwas Feierliches;
sie gingen vom Vater auf den Sohn erblich über. Damit man aber die
verschiedenen Seitenlinien, die dasselbe Wappen im Schilde führten, von ein-
ander unterscheiden könne, so brachte man wohl noch besondere Verzierungen
am Helme an, die man Kleinode nannte. Jetzt brauchte man nur den
Schild und das Helmkleinod zu betrachten, und man kannte sogleich den Ritter.
Seitdem die großen und kleinen Lehen erblich geworden waren, wurden
auch die Namen der Ritter von ihren Besitzungen entlehnt. Früher nannte
man jeden bei seinem Vornamen: Rudolf, Gottfried u. s. w., wie dieses zum
Teil noch jetzt in Spanien üblich ist. Jetzt kamen noch Geschlechtsnameu
hinzu, die meist von den Burgen und Besitzungen entlehnt wurden, wie
Rudolf von Habsburg, Gottfried von Bouillon u. s. w. So sind die meisten
Namen unserer adeligen Familien entstanden, nur daß jetzt fast gar keine
mehr das Stammschloß besitzt, welches ihr den Namen gab. Am Ende
wurde sogar das bloße Wörtchen „von" als Zeichen ritterlichen und also
adeligen Standes angesehen und bei Erhebung in den Adelstand seit dem
sechzehnten Jahrhunderte den alten bürgerlichen Familiennamen vorgesetzt.
Auf ihren Burgen lebten übrigens die Ritter wie kleine Könige in
Reichtum, Pracht und heiterem Lebensgenüsse. Ein Fest drängte das
andere. Beim frohen Becher ergötzten sie sich an den Erzählungen ihrer
Großthaten. Andere, welche kein Eigentum besaßen, zogen mit ihren
Knappen zu Roß von Land zu Land, kehrten als Gäste ein bei anderen
Rittern und gingen, wie einst die griechischen Helden Herkules, Jason,
Theseus, aus Abenteuer aus. Solche nannte man fahrende Ritter. Bald
kamen wunderbare Erzählungen von Abenteuern in Umlauf, welche diese
Ritter sollten bestanden haben. Da hatte der eine gegen fürchterliche Riesen,
der andere gegen Zauberer, der dritte sogar gegen feuerspeiende Drachen
gekämpft!
Manche Ritter aber vergaßen die Würde ihres Standes so sehr,
daß sie fast nur von Streit und Fehde, von Raub und Plünderung
lebten. Aus ihren auf steilen Felshöhen erbauten Raubburgen über-
fielen die Ritter mit ihren Reisigen den armen Wanderer, den Bauern
und den Städter, warfen die Knechte nieder und führten den Raub froh-
lockend mit sich fort auf ihre Burg. Auch an den Felsenuferu der
Flüsse erhoben sich drohend ihre Burgen und forderten von den vorüber-
fahrenden Schiffen willkürliche Zölle. Noch sieht man, besonders au
den Ufern des Rheins und der Donau, als Überreste jener Zeit viele
Schlösser und Burgen, die jetzt mit ihren verwitterten Zinnen und Türmen
still und friedlich über den Strom und das bewegte Leben auf demselben
Hinschauen. Lustig dampfen und segeln jetzt die Schiffe an diesen Schreck-
nissen der Vorzeit vorüber. In den häufigen Fehden der Ritter unter einander
wurden nicht selten die blühendsten Saatfelder, des friedlichen Landmannes
ganzer Wohlstand, von den Husen der wilden Streitrosse zertreten. Gegen
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solchen Übermut und solche Räubereien des Adels vermochten die damaligen
schwachen Kaiser keinen Schutz zu gewähren. Auf ihren festen Burgen
trotzten die Adeligen allen Verordnungen des Kaisers. Sie betrachteten ihr
ehrloses Handwerk als ein Recht des Stärkeren. Das waren die traurigen
Zeiten des Faustrechts. Erst die Erfindung des Pulvers und das dadurch
ganz veränderte Kriegswesen machten
33. Der
1. „Was hör' ich draußen vor dem Thor,
was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
im Saale wiederhallen!"
Der König sprach's, der Page lief;
der Knabe kam, der König rief:
„Laßt mir herein den Alten!" —
2. „„Begrüßet seid mir, edle Herr'n,
gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit,
sich staunend zu ergötzen.""
3. Der Sänger drückt' die Augen ein
und schlug in vollen Tönen;
die Ritter schauten mutig drein,
und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
ließ ihm, zum Lohne für sein Spiel,
eine gold'ne Kette reichen.
dem Rittertume ein Ende.
Welker.
Sänger.
4. „„Die gold'ne Kette gieb mir nicht,
die Kette gieb den Rittern,
vor deren kühnem Angesicht
der Feinde Lanzen splittern;
gieb sie dem Kanzler, den du hast,
und laß ihn noch die gold'ne Last
zu andern Lasten tragen.
5. Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet;
das Lied, das aus der Kehle dringt,
ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins;
laß mir den besten Becher Weins
in purem Golde reichen.""
6. Er setzt' ihn an, er trank ihn aus:
„,,O Trank voll süßer Labe!
O dreimal hochbeglücktes Haus,
wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich,
und danket Gott so warm, als ich
für diesen Trunk euch danke.""
Goethe.
34. Die Femgerichte.
Es waren damals böse Zustände in Deutschland zu den Zeiten des
Faustrechts. Die Gerichte galten gar wenig, das Wort des Richters ward
nicht gehört, und ein jeder that, wozu er die Macht in Händen hatte.
Unter diesen Umständen bildeten sich in Westfalen die sogenannten
heimlichen oder Femgerichte. In Dortmund war der Hauptstuhl dieser
Gerichte. Sie standen unmittelbar unter dem Kaiser und richteten in seinem
Namen über alle schweren Verbrecher. Der oberste Richter eines solchen
Gerichts hieß Fr ei graf, weil diese Gerichte eigentlich die Fortsetzung der
alten Grafengerichte waren, in welchen der Graf im Namen des Kaisers
Recht sprach, und weil ferner nur freigeborene Männer zu Richtern in den-
selben gewählt werden konnten; eben deshalb hießen diese Richter auch
Freischöffen und die Gerichte selbst Freigerichte. Nur in Westfalen durften
sie gehalten werden (auf roter Erde, wie es in der alten Gerichtssprache
heißt); allein ihre Gewalt dehnten sie bald über ganz Deutschland, ja bis
nach Preußen und Livland aus und nahmen freie und unbescholtene
Männer aus allen deutschen Landschaften zu Freischöffen auf. Ritter,
Grasen und Fürsten strebten nach dieser Ehre; selbst Kaiser haben es nicht
Das Vaterland. 5
66
unter ihrer Würde gehalten, Schöffen des Freigerichtes zu werden, wie denn
z. B. Kaiser Sigismund im Jahre 1429 am Freistuhle zu Dortmund feier-
lich zum Schöffen eingeweiht worden ist. Alle Schöffen hatten unter sich
einen uralten Schöffengruß und geheime Zeichen, woran sie sich erkannten,
und wurden daher Wissende genannt, und der furchtbarste Eid verpflichtete
sie, von den Geheimnissen und Beschlüssen des Gerichts keinem Menschen,
selbst Vater, Mutter und Bruder nicht, irgend etwas zu entdecken.
Der Platz dieser Gerichte war der alte Malplatz des Grafengerichts
in den verschiedenen Gauen Westfalens, auf einem Berge oder Hügel, unter
dem Schatten einer Linde, oder an einer Quelle im Thale, am Fuße
uralter Eichen. Hier bestieg der Freigraf den Stuhl, vor sich das Schwert
mit dem Kreuzesgriff, auf welchen Kläger und Verklagte schworen, und den
Strick als Zeichen des Rechts über Leben und Tod. Dann eröffnete er das
Gericht, und von dem Augenblicke an durften nur Wissende zugegen sein,
deren außer den eigentlichen Richtern oft hunderte umherstanden. Ein
Nichtwissender, der es versuchte, sich einzuschleichen, wurde auf der Stelle an
dem nächsten Baume aufgeknüpft. Daher hieß das Gericht auch das heim-
liche Gericht, weil es für jeden Nichtwiffenden geschloffen war, und von
diesem Namen, sowie von der Furchtbarkeit des Gerichts selbst, welches jeden
Verbrecher in seinem geheimsten Schlupfwinkel aufzuspüren vermochte, mag
bei dem Volke die Sage entstanden sein, daß sich das geheime Gericht in
stiller Nacht in Felsenhöhlen und unterirdischen Gewölben zu versammeln
pflegte.
Wenn jemand bei dem Freigerichte verklagt war, so ward er durch
den Ladebrief mit sieben Siegeln vorgeladen; war er ein Ritter, der auf
seiner Raubburg verschlossen wohnte, so hefteten die Frouboten die Ladung
des Nachts an seinem Thore an und schlugen dreimal laut an das Thor,
daß der furchtbare Klang durch die stille Nacht in das Ohr des Verbrechers
drang. Erschien der Angeklagte auf die Ladung, so ward er in den Kreis der
Richter geführt, die Klage ward ihm vorgehalten, und er konnte, wenn er
unschuldig war, sich mit dem Reinigungseide frei schwören, den er und seine
Eideshelser, wenn er deren hatte, ablegten. Konnte er es nicht, sondern
mußte seine Schuld bekennen, oder ward er durch den Eid des Klägers und
seiner Zeugen überführt, so ward das Urteil auf der Stelle vollzogen.
Meist war es die Todesstrafe, und der Verurteilte ward an den nächsten
Baum gehenkt. Gelindere Strafen waren Landesverweisung und Geldbuße.
Kam der Angeklagte auf dreimalige Ladung nicht, so hatte er dadurch
selbst seine Schuld anerkannt; es ward die Feme, d. i. die Acht des Frei-
gerichts, gegen ihn ausgesprochen, und er war nun in dem Zustande des
zum Tode verurteilten Verbrechers, den die Strafe früh oder spät ganz sicher
erreichte. Denn jeder Freischöffe, welchem der Spruch des Gerichts kund
gethan ward, war nun verpflichtet, die Strafe an dem Verurteilten voll-
strecken zu helfen, und wo dieser gesunden ward, im geheimsten Versteck oder
auf offener Straße, da ward er an den nächsten Pfosten oder Baum auf-
gehenkt, und zum Zeichen, daß er von der heiligen Feme gerichtet sei, ward
ein Messer neben ihm in das Holz gesteckt.
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Eine lange Zeit hielt die Furcht vor diesen Gerichten manchen von
bösen Thaten zurück. Nachher aber artete das Gericht selbst aus; schlechte
Menschen drängten sich hinein und übten unter dem Deckmantel desselben
die grausamsten Handlungen gegen unschuldige Menschen aus. Es verbreitete
sich ein allgemeiner Haß gegen die Femgerichte; Fürsten, Ritter und Städte
schlossen Bündnisse gegen dieselben, und endlich wurden sie durch den ewigen
Landfrieden des Kaisers MaximilianI. im Jahre 1495 aufgehoben und
die öffentlichen Gerichte wieder in ihre Ehre eingesetzt. Kohlrausch.
9. Aas Weformationszeitalter.
35. Dr. Marlin Luther.
1. Luthers Jugend.
Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren.
Sein Vater hieß Hans Luther und war ein armer Bergmann; er
stammte aus einem Bauernhause im Dorfe Möhra bei Eisenach. Seine
Mutter hieß Margarete und war eine geborene Ziegler. Als das Kind
ein halbes Jahr alt war, zogen seine Eltern nach dem nahen Mansfeld.
Hier wuchs der kleine Martin mit noch anderen Geschwistern in frommer
Zucht und strenger Arbeit heran. Schon in früher Kindheit lernte er die
Armut mit ihren Leiden und Freuden kennen; denn die Familie hatte mit
mancherlei Sorge zu kämpfen. Es wurde den Eltern blutsauer, die Kinder
zu ernähren. Oft mußte Martin mit der Mutter in den Wald gehen, um
dürres Holz zu sammeln und auf dem Rücken heimzutragen.
Da die braven Eltern wünschten, daß der begabte Knabe etwas
Tüchtiges lerne, so schickten sie ihn schon in seinem 4. Jahre in die Schule.
War Weg und Wetter schlecht, so trug ihn der Vater auf seinen Armen
dahin. Die Erziehung war damals strenger als jetzt. Vater und Mutter
ziichtigten ihren Sohn oft wegen kleiner Vergehen bis auf das Blut, und
der Lehrer strich ihn an einem Vormittage fünfzehnmal mit der Rute;
aber trotzdem hat Luther später gesagt: „Sie haben es herzlich gut mit
mir gemeint."
Als Martin Luther 14 Jahre alt war, brachte ihn sein Vater aus
die lateinische Schule in Magdeburg. Dort mußte er, wie andere arme
Schüler, sein täglich Brot vor den Häusern der Reichen ersingen; aber oft
bekam er Scheltworte statt Brot. Darum nahm ihn sein Vater nach einem
Jahre von Magdeburg weg und schickte ihn auf die lateinische Schule in
Eisenach, wo Verwandte der Mutter lebten. Der Vater hoffte, daß
diese sich des jungen Schülers annehmen würden, aber diese Hoffnung er-
füllte sich nicht. Martin mußte daher auch in Eisenach seinen dürftigen
Unterhalt mit Singen vor den Thüren gewinnen. Da sandte Gott ihm
unerwartet Hilfe. Eine fromme und reiche Frau, Namens Ursula Cotta,
wurde von Luthers schönem Gesänge und herzlichem Gebete so sehr gerührt,
daß sie ihn in ihr Haus aufnahm und an ihrem Tische essen ließ.
Nun lernte er drei Jahre lang mit großem Fleiße die alten Sprachen; auch
5*
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übte er sich eifrig in der Beredsamkeit, in der Musik und Dichtkunst. Bald
übertraf er alle seine Mitschüler an Kenntnissen und Fertigkeiten.
Unterdessen hatte Gott den Fleiß des Vaters und die Sparsamkeit
der Mutter gesegnet. Sie hatten in Mansfeld ein Haus und zwei Schmelz-
öfen erworben; auch war der verständige und redliche Vater ein Ratsherr
geworden. Ohne Sorge konnte nun der Sohn die Hochschule in Erfurt
beziehen, wo er nach des Vaters Wunsche die Rechtsgelehrsamkeit studieren
sollte. Der junge Student war ein „hurtiger und fröhlicher Geselle",
studierte steißig, betete jeden Morgen, versäumte keine Vorlesung und
fragte seine Lehrer oft um Rat. Als er eines Tages die Universitäts-
bibliothek besuchte, sah er ein großes Buch, das an einer Kette hing. Es
war eine Bibel in lateinischer Sprache. Er hatte noch keine gesehen, ob-
schon er 20 Jahre alt war. Begierig schlug er sie auf. Doch wie erstaunte
er, als er fand, daß sie viel mehr enthielt, als er gehört und geglaubt hatte;
denn er meinte, das, was an Sonn- und Feiertagen in der Kirche vorge-
lesen wurde, sei die ganze Bibel. Nun kam er, so oft als er konnte, in die
Bibliothek, um in seiner lieben Bibel zu lesen.
Nachdem er mit Ehren die Prüfungen überstanden hatte, wurde er
1505 zum Doktor der Philosophie oder Weltweisheit ernannt. Sein
Vater glaubte, sein Sohn werde nun ein berühmter Rechtsgelehrter werden,
aber Gott hatte es anders beschlossen.
2. Luther im Kloster.
Eines Tages wurde Luthers Freund Alexius auf einer Gasse in Er-
furt tot aufgefunden; man hatte ihn erstochen. Dieses Ereignis erfüllte das
Gemüt des Jünglings mit Schrecken und schwerer Sorge. Er legte sich
die bange Frage vor: „Wenn Gott nun mich so schnell aus dem Leben
abgerufen hätte, würde ich bereit gewesen sein, vor Gottes Richterstuhl zu
treten?" Als er bald darauf von einer Reise zu seinen Eltern nach Erfurt
zurückkehrte, überraschte ihn unterwegs ein fürchterliches Gewitter. Ein
Blitzstrahl fuhr krachend vor ihm nieder, so daß er erschreckt zur Erde fiel
und ausrief: „Hilf, liebe Sankt Anna, ich will ein Mönch werden!"
Obgleich er dieses Gelübde in der Angst seines Herzens gethan, so hielt er
es doch treu. Er beschloß, der Welt zu entsagen und sein Leben Gott zu
weihen. Zu diesem Zwecke trat er in das Augustinerkloster zu Erfurt
ein und wurde gegen den Willen seines Vaters ein Mönch. Als Mönch
hoffte er nach dem Glauben seiner Zeit die Ruhe und Zufriedenheit zu
finden, nach der sein Herz sich sehnte. Er glaubte, im Kloster mit frommen
Bußübungen die ewige Seligkeit sicherer zu erwerben.
Demütig unterwarf er sich den Vorschriften des Augustinerordens.
Anfangs mußte er die niedrigsten Dienste verrichten: er hütete die Thüren,
kehrte die Kirche, fegte die Zellen, läutete die Glocken und ging mit dem
Sacke auf dem Rücken in der Stadt umher, um für das Kloster zu betteln.
Außerdem war er so eifrig im Beten, Wachen, Fasten und Kasteien, daß
sein Leib abmagerte, und er wie ein Schatten die Klostergänge dahinschlich.
So oft er konnte, las er in der Bibel des Klosters, obgleich die anderen
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Mönche darüber murrten und sprachen: „Ei, lieber Bruder Martin, nicht
mit Studieren, sondern mit Betteln dient man dem Kloster." Je mehr er
aber in der Bibel las, desto mehr wurde es ihm klar, daß die äußere
Frömmigkeit nicht vor Gott gerecht machen kann. Er wurde endlich un-
tröstlich darüber, daß es ihm nicht gelingen wollte, den rechten Weg zur
Seligkeit zu finden. Trübsinnig und traurig lag er in seiner Zelle. Da
erbarmte sich ein alter Klosterbruder seiner. Er zeigte ihm eine Stelle in
der heiligen Schrift, wo gesagt wird, daß der sündige Mensch an Gottes
Barmherzigkeit glauben muß, daß er aus Gnade selig wird, ohne des Ge-
setzes Werke. Jetzt sah Luther ein, daß Gottesfurcht, Liebe zu Gott und
Gottvertrauen mehr wert sind, als Messelesen, Rosenkranzbeten, Heiligen-
verehrung, Wachen, Fasten und Kasteien. Da wurde es hell in seinem
Kopfe und ruhig in seinem Herzen. Aus dem Evangelium schien ihm die
gesuchte Wahrheit wie Sonnenlicht entgegen; immer klarer wurde es ihm,
daß die reine Lehre Jesu mit der Lehre der Kirche nicht mehr überein-
stimme. Bald darauf empfing er die Priesterweihe, bei welcher sich sein
Vater mit ihm aussöhnte.
3. Luthers Berufung nach Wittenberg und seine Reise nach Rom.
In der Zeit, als Luther im Kloster so untröstlich war, kam einmal
der ehrwürdige Vorsteher der Augustinerklöster, Dr. Johann Staupitz,
nach Erfurt. Der junge, gelehrte Mönch, der so eifrig nach der wahren
Frömmigkeit forschte, gefiel ihm. Er nahm sich seiner an und tröstete ihn.
Er vergaß ihn auch nicht wieder; denn als nach einigen Jahren der Kur-
fürst von Sachsen, Friedrich der Weise, in Wittenberg eine Universität
gründete und für dieselbe tüchtige Lehrer brauchte, erinnerte sich Dr. Staupitz
des gelehrten Dr. Luther. Er empfahl ihn dem Kurfürsten, und dieser be-
rief ihn 1508 nach Wittenberg als Professor. Als solcher lehrte er
bald so gewaltig, daß die Studenten von nah und fern herbeieilten, um ihn
Zu hören. Außerdem war Luther Prediger an der Stadtkirche. Seine
Predigten erregten großes Aufsehen; denn er predigte nur das, was in der
heiligen Schrift stand. Alles, was er sagte, kam ihm ans dem Herzen.
Manche glaubten, eine ganz neue Lehre zu hören; es war aber keine neue
Lehre, die er verkündigte; es war die Lehre Jesu, die rein und unver-
fälscht in den Evangelien zu lesen ist, von dem Papste und seinen Priestern
aber entstellt und verderbt worden war.
Auch als Professor gehörte Luther noch dem Augustinerorden an. Da
geschah es, daß er im Jahre 1510 im Auftrage desselben nach Rom reisen
mußte. Luther that das gern, denn er freute sich auf die Wallfahrt nach
der „heiligen Stadt", wo das „Oberhaupt der Kirche", der „Nachfolger
Petri", der „Stellvertreter Christi aus Erden", regierte. Luther glaubte,
in Rom die frömmsten Menschen zu finden, aber er täuschte sich gewaltig.
Er fand die Priester und Mönche unwissend, scheinheilig und sittenlos; selbst
vom Papste erfuhr er nichts Gutes. Leichtfertig lasen die Priester die
Messen, gedankenlos plapperten sie ihre Gebete her. Nirgends sah er
-etwas von der Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, wie sie
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der Heiland gelehrt hat. Das betrübte den frommen Luther gar sehr,
trotzdem glaubte er noch immer an die Macht und die Würde des Papstes,
an die Lehren von der Messe und dem Fegefeuer u. s. w. Auch rutschte er
noch wie andere Pilger auf seinen Knieen die Stufen der „heiligen Treppe"
hinan, weil er dadurch Vergebung der Sünden zu erlangen hoffte.
Nach Wittenberg zurückgekehrt, forschte er um so eifriger in der Schrift
nach dem rechten Glauben; auch wartete er seines Amtes in alter Treue,
bis ihn Gott zu größeren Thaten berief. Hugo Weber.
36. Ter Anfang der Reformation.
1. Ter Ablatzkrämer Tetzel.
Zu den Irrlehren und Mißbräuchen der Kirche gehörte der Ablaß.
Darunter verstand man anfangs den Erlaß von Strafen, welche die Kirche
auf grobe Sünden gelegt hatte. Allein der Verfall der Kirche war jetzt so
groß geworden, daß man glaubte, die Vergebung der Sünden für Geld
verkaufen zu können. Und gern zahlten die Leute ihr Geld an die Ablaß-
verkäufer, welche der Papst aussandte, weil sie dadurch wegen ihrer Sünden
beruhigt wurden; auch glaubten manche, mit einem Ablaßzettel in der Hand
ungescheut sündigen zu können.
Als 1517 der Papst Leo X., der zum Baue der prächtigen Peterskirche
in Ron: sehr viel Geld brauchte, einen allgemeinen Ablaß ausschrieb, zog
auch ein Mönch, Namens Tetzel, in Sachsen umher, um Ablaß zu verkaufen.
Er trieb sein Geschäft sehr unverschämt. Auf Straßen und Märkten, in
Kirchen und Wirtshäusern stellte er sich mit zwei Kasten aus; in dem einen
waren die Ablaßzettel, in dem anderen lag das gelöste Geld. Für alle
Sünden war Ablaß zu haben, selbst für Diebstahl und Straßenraub, für Mein-
eid und Mord. Auch die Seelen der Verstorbenen, welche angeblich ihre
Sünden im Fegefeuer büßten, konnte man für Geld erlösen. Dabei rief
Tetzel aus: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel
springt." Haufenweise lief das unwissende Volk zu ihm hin und kaufte
sich Ablaß.
2. Luthers Sätze gegen den Ablatz.
Als Tetzel auch in der Nähe von Wittenberg sein Wesen trieb, wurde
Luther tief entrüstet über solche Betrügerei. Er sah, wie das Volk, im
Vertrauen auf den Ablaß, ganz leichtfertig wurde. Wenn er als treuer
Seelsorger die Leute zu ernster Buße ermahnte, sagten sie: „Das haben
wir nicht nötig, wir haben uns ja Vergebung der Sünden erkauft." Da
fing Luther an, frei und kräftig gegen diesen Unfug zu predigen. Aber
damit war der feurige Doktor noch nicht zufrieden. Am 31. Oktober 1517
schlug er an die Schloßkirche zu Wittenberg 95 Sätze an, in welchen
er erklärte, daß der Ablaßhandel ganz gegen die heilige Schrift sei, daß nie-
mand die Macht habe, Sünden zu vergeben außer Gott, und daß allein
herzliche Reue und Buße zur Vergebung führen können. Das war der
Anfang der Reformation.
71
3. Luthers Lossagung vom Papste.
Luthers Sätze machten großes Aufsehen. Jedermann las sie mit
Begierde. In wenig Wochen kannte man sie in ganz Deutschland. Das
verdankte man der herrlichen Erfindung Gutenbergs. Viele Leute stimmten
den Sätzen zu und wünschten wie Luther eine Verbesserung der Kirche;
andere wieder waren dagegen. Überall sprach man von dem mutigen
Mönche in Wittenberg. Sobald der Papst davon hörte, befahl er, Luther
solle in Rom erscheinen, um sich zu verantworten. Hier erwartete ihn
schwere Strafe, aber Luther ging nicht hin. Sein Landesherr, der Kur-
fürst Friedrich der Weise von Sachsen, hatte den frommen und freimütigen
Mann so lieb gewonnen, daß er fest erklärte: „Ich lasse es nicht zu, daß
man den Dr. Luther nach Rom schleppt. Man mag ihn in Deutschland
verhören." Und das geschah denn auch. Der Papst schickte einen Ge-
sandten, der ließ Luthern vor sich nach Augsburg kommen und sprach zu
ihm: „Widerrufe deinen Irrtum!" Luther aber antwortete: „Beweiset mir
aus dem Worte Gottes, daß ich Irrtum gelehrt." Das vermochte der
Päpstliche nicht; darum fing er an zu schelten und zu drohen. Endlich rief
der Kardinal aus: „Geh und komme nicht wieder, du wolltest denn einen
Widerruf thun!" Da Luther seines Lebens nicht sicher war, verließ er
eilig des Nachts die Stadt und kehrte nach Wittenberg zurück. Auch ein
anderer Abgesandter des Papstes richtete nicht viel aus, doch versprach
Luther zu schweigen, wenn seine Gegner schweigen wollten. Doch diese
schwiegen nicht, schrieben heftige Schriften gegen ihn und nannten ihn einen
Ketzer. Da schrieb auch Luther kühne Schriften, in welchen er alle
Irrtümer und Mißbräuche des Papstes aufdeckte und die Lehre der heiligen
Schrift verkündete. Zehn Tage lang stritt Luther mit seinem heftigsten
Gegner, Dr. Eck aus Ingolstadt, auf der Pleißenburg in Leipzig, aber
Luther wurde nicht besiegt. Frei und offen erklärte er: „Nicht der Papst,
sondern Christus ist das Haupt der Kirche."
Solche Worte drangen dem Volke zu Herzen, und von Tag zu Tag
mehrte sich die Zahlseiner Anhänger. Da that ihn der Papst in den Bann.
Luther aber fürchtete sich nicht. Mit einer großen Schar von Studenten
und Magistern zog er vor das Elsterthor zu Wittenberg, ließ dort ein
Feuer anschüren und warf vor allem Volke die päpstliche Bannbulle in die
Flammen. Hiermit sagte er sich vom Papste völlig los. Andrä.
37. Ter Fortgang der Reformation.
1. Luthers Bcrusttug vor den Reichstag.
Nicht lange darnach hielt der Kaiser Karl V. einen Reichstag in der
Stadt Worms. Der war sehr groß und glänzend; beinahe alle deutschen
Fürsten waren auf demselben anwesend. In ihrer Mitte erschien ein Ge-
sandter vom Papste, der sprach: „Sehet ihr nicht, welch großes Unheil der
Mönch von Wittenberg durch seine Irrlehren anrichtet? Laßt seine Bücher
verbrennen und übergebt den gebannten Ketzer den Händen des Papstes,
ans daß er seine Strafe empfange." Allein die Fürsten antworteten: „Es
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ziemt sich in deutschen Landen nicht, daß einer ungehört verdammt werde!"
Und so dachte auch der Kaiser. Man beschloß daher, den Doktor Luther
nach Worms zu entbieten, damit er sich vor Kaiser und Reich veranworte.
Und Kaiser Karl schickte einen Herold mit einem Geleitsbriefe nach Witten-
berg, um Luthern zu holen.
Getrosten Mutes und in Gottes Namen trat Luther die Reise an.
Er fuhr in einem offenen Wägelchen, das ihm der Rat von Wittenberg
geschenkt hatte. In allen Orten, durch die er kam, lief das Volk zusammen,
um den kühnen Mann zu sehen, der es gewagt hatte, dem Papste zu wider-
sprechen. Als er sich der Stadt Erfurt näherte, kam ihm ein langer Zug
Menschen zwei Meilen weit zu Pferde und zu Fuße entgegen, und in der
Stadt konnte der Wagen im Gedränge kaum von der Stelle. In Eisenach
wurde er krank, doch noch ehe er sich ganz erholt hatte, reiste er weiter.
„Herr Doktor, ziehet nicht fort," riefen die Leute, „man wird euch in Worms
gewiß zu Pulver verbrennen." Aber er antwortete herzhaft: „Wenn sie
gleich ein Feuer machten zwischen Wittenberg und Worms, bis an den
Himmel hinan, so will ich doch, weil ich gefordert bin, im Namen des Herrn
erscheinen, Christum bekennen und denselbigen walten lassen." Als er endlich
nahe bei Worms war, kam ihm ein Bote von einem Freunde entgegen, der
ihn warnte: „Gehet nicht in die Stadt; dort stehet es sehr übel." Luther
aber sprach: „Und sollten zu Worms soviel Teufel sein, als Ziegel auf
den Dächern, doch wollt' ich hinein." Unter gewaltigem Zulaufe des
Volkes zog er denn in die Stadt; eine Menge von Reitern, die ihn einge-
holt hatten, begleiteten seinen Wagen, und mehr als 2000 Menschen drängten
sich ihm nach bis in die Herberge. Dort wurde er von vielen Grafen,
Rittern und Herren bis spät in die Nacht besucht. Es kam auch der junge
Landgraf Philipp von Hessen zu ihm, gab ihm die Hand und sagte: „Habt
ihr recht, Herr Doktor, so helfe euch Gott!"
2. Luther vor Kaiser und Reich.
Am folgenden Tage, am 17. April 1521, wurde Luther vor die
Reichsversammlung beschieden. Als er durch den Vorhof kam, wo mehrere
Ritter standen, klopfte ihn ein alter berühmter Kriegsheld, Georg von
Frundsberg, aus die Schulter und sagte: „Mönchlein, Mönchlein, du
gehest jetzt einen Gang, dergleichen ich und mancher Oberster in der aller-
ernstesten Schlacht nicht gethan haben. Bist du aber auf rechter Meinung
und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen nur fort, Gott wird
dich nicht verlassen!" Jetzt öffneten sich die Saalthüren und Luther trat ein.
Da stand er vor dem Kaiser Karl und der ganzen edlen Versammlung der
Kurfürsten, Herzöge, Grafen, Bischöfe des deutschen Reiches. Alle Augen
schauten aus ihn. Man wies ihm die Bücher, die er geschrieben, und
fragte ihn, ob er sie für die seinigen erkenne und ob er sie widerrufen
wolle. Die erste Frage bejahte er; wegen der zweiten bat er, weil sie den
Glauben und die Seligkeit beträfe, um kurze Bedenkzeit. Und als man am
nächsten Tage eine runde, richtige Erklärung verlangte, ob er widerrufen
wolle oder nicht, sprach er mit fester Stimme: „Weil denn Kaiserliche
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Majestät, Kurfürstliche und Fürstliche Gnaden eine schlichte, einfältige, richtige
Antwort begehren, fo will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne
haben soll, nämlich also: Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen
Schrift oder mit klaren und hellen Gründen überwunden werde, so kann
und will ich nicht widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas
gegen das Gewissen zu thun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders,
Gott helfe mir! Amen!"
3. Die Wirkung seiner Rede.
Luther hatte nicht vergeblich geredet. Selbst der gestrenge Kaiser
sagte: „Dieser Mönch spricht unerschrocken und mit getrostem Mute." Der
alte Herzog Erich von Braunschweig, sonst ein Feind der neuen Lehre, schickte
ihm eine silberne Kanne mit Einbecker Bier, daß er sich damit erquicke.
Besonders freute sich der Kurfürst Friedrich der Weise über Luthers Frei-
mütigkeit. „Gar schön", sagte er abends zu einem Vertranten, „hat Doktor
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Martinus Luther geredet vor dem Kaiser und allen Fürsten des Reiches;
er ist mir nur zu herzhaft gewest." Und viele tapfere Edelleute kamen in
Luthers Herberge, hießen ihn gutes Mutes sein und sprachen: „Man sagt,
sie wollen euch verbrennen; aber das darf nicht geschehen; wir müssen eher
alle mit verbrennen." Einige Fürsten suchten ihn indes durch gütliches
Zureden zum Widerrufe zu bestimmen; er aber antwortete: „Ist das Werk
aus Menschen, so wird es bald untergehen; ist es aber aus Gott, so werdet
ihr es nicht dämpfen können." Darauf drängten seine heftigsten Wider-
sacher in den Kaiser, er möge dem hartnäckigen Ketzer das sichere Geleite
brechen und ihn gefangen nehmen; doch der Kaiser erklärte: „Und wenn
in der ganzen Welt keine Treue zu finden wäre, so muß sie doch beim
deutschen Kaiser zu finden sein."
4. Luther auf der Wartburg.
So konnte Luther unter kaiserlichem Schutze von Worms abreisen.
Gleichwohl war der Kaiser, der es mit dem Papste hielt, ein heftiger Feind
der neuen Lehre. Er erklärte sich entschlossen, alle Macht daran zu setzen,
dieselbe auszurotten. Daher sprach er über Luther und alle seine Anhänger
die Reichsacht aus. Niemand, so hieß es, solle den gottlosen Ketzer
hausen, Höfen, ätzen und tränken; wer ihn finde, solle ihn sangen und zur
Bestrafung einliefern. Allein Luther war schon in Sicherheit. Sein Kur-
fürst wollte ihn nimmermehr der Rache seiner Feinde preisgeben. Darum
ließ er Luther, als derselbe auf seiner Heimreise in die Nähe von Eisenach
kam, von einigen verkappten Rittern aus dem Wagen reißen und auf die
Wartburg bringen.
Alle Welt meinte nun, Luther wäre tot; aber es ging ihm aus der schönen
Wartburg ganz wohl. Er hieß dort Junker Görg, trug einen ritterlichen
Waffenrock, ließ sich den Bart wachsen und lebte wie ein Rittersmann.
Zugleich benutzte er die Einsamkeit, um manche Schrift gegen das Papsttum
und seine Widersacher zu schreiben. Daran merkte die Welt wohl, daß der
Gottesmann noch am Leben sei, aber niemand erfuhr den Ort. Das Aller-
wichtigste aber, was Luther auf der Wartburg that, war seine Übersetzung
der Bibel in die deutsche Sprache. Sie wurde das beste Rüstzeug
für die Ausbreitung der evangelischen Lehre; denn nun konnte auch der
gemeine Mann das Wort Gottes lesen und daraus ersehen, daß Luther
recht hatte. Die Bibelübersetzung war eine sehr schwere Arbeit. Luther
wurde davon manchmal krank und meinte dann, der Teufel verfolge ihn,
um sein Werk zu zerstören. Einst, heißt es, glaubte er, sogar den Teufel leib-
haftig an der Wand zu sehen; aber herzhaft griff er nach dem Tintenfasse
und warf es nach dem Bösen.
Unterdessen hörte Luther, daß unter seinen Anhängern in Wittenberg
allerlei Unordnung und Schwärmerei ausgebrochen war. Da wurde ihm
bange, sein Reformationswerk könnte auf falsche Wege geraten. Er verließ
daher nach 10 Monaten die Wartburg und kehrte, trotz Bann und Acht,
plötzlich nach Wittenberg zurück. Dort gelang es denn auch der Macht
seiner Predigt, die Ordnung bald wieder herzustellen. Andrä.
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38. Tie Vollendung der Reformation.
1. Luther und Melanchthou.
Es war für die Reformation von großem Segen, daß Luther einen
Freund fand, der ihm in feiner Arbeit treu zur Seite staud. Das war
Philipp Melanchthou, ein sehr gelehrter und dabei milder und ruhiger
Mann. Schon als 21jähriger Jüngling wurde er Professor iu Witten-
berg. Tausende von Schülern versammelten sich um ihn, und sein Ruhm
war bald so hoch gestiegen, daß mau ihn den Lehrer Deutschlands
nannte. Dieser Mann schloß sich mit ganzem Herzen Luther und seiner
Sache an. Sein tiefes Wissen und seine vortrefflichen Schriften förderten
die neue Lehre, und wenn Luther einmal allzufeurig dareinfahren wollte,
so mäßigte ihn der besonnene Rat des sanften Melanchthou. —
Beide Männer waren nun eifrig thätig, die Reformation ins Leben
einzuführen. Die Mißbräuche der Kirche wurden beseitigt, die lateinische
Messe wurde abgeschafft, den Mönchen Freiheit erteilt, die Klöster zu ver-
lassen, den Geistlichen erlaubt, in die Ehe zu treten. Luther selbst legte die
Mönchskutte ab und verheiratete sich mit Katharina von Bora, einer-
tugendhaften Jungfrau, die früher Nonne gewesen war. Für den neuen
evangelischen Gottesdienst besorgte Luther ein Gesangbuch; er selbst
dichtete schöne Lieder, wie z. B. Ein' feste Burg ist unser Gott. Für
den Unterricht im Christentume schrieb er einen trefflichen Katechismus.
Den Gemeinden wurden tüchtige Prediger des Evangeliums gestellt, auch
wurde mit allem Eifer für Errichtung von Schulen gesorgt. Bald hatte
sich die Reformation nicht nur in Sachsen befestigt, sie fand auch in vielen
anderen Gegenden Deutschlands Eingang bei Fürsten und Volk und ver-
breitete sich auch nach anderen Ländern. —
Der Kaiser hatte zwar immer die Absicht, die neue Lehre mit Ge-
walt zu unterdrücken; aber Gott fügte es, daß er in viele Kriege verwickelt
wurde, die ihn von Deutschland fern hielten. Als er endlich einen Reichs-
tag zu Speier abhielt und die weitere Verbreitung der Reformation ver-
bot, da fühlten sich die evangelischen Fürsten schon stark genug, daß sie
dagegen protestierten. Seitdem nannte man die Lutheraner auch Pro-
testanten. Ein Jahr daraus, 1830, versammelte der Kaiser einen
Reichstag in Augsburg. Da schrieb Melanchthou ein Büchlein, in
welchem er das Ganze der evangelischen Lehre zusammenfaßte. Es wurde
die Augsburgische Konfession (Glaubensbekenntnis) genannt und von den
evangelischen Fürsten dem Kaiser überreicht. Dieser hätte jetzt gern mit
den katholischen Fürsten zum Schwerte gegriffen, aber äußere Feinde
drohten, so daß der Kaiser noch jahrelang verhindert wurde, gegen die
protestantischen Fürsten einen Krieg zu führen.
2. Luthers Tod.
Luther betete und arbeitete für sein großes Werk bis au sein Ende.
Unablässig riet er zum Frieden, damit sich um seiner Lehre willen kein
Krieg entzünde. Das ist denn auch nicht geschehen, so lange er lebte.
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Durch die angestrengte Arbeit war sein Körper endlich schwach und ge-
brechlich geworden. Obgleich schmerzhafte Krankheit ihn niederbeugte, reiste
er doch mitten im Winter 1546 nach Eisleben, um zwei feindliche Brüder
zu versöhnen. Dort, in seiner Geburtsstadt, starb er am 18. Februar.
Seine letzten Worte waren: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen
Geist; du hast mich erlöset, du mein getreuer Gott." Seine Leiche wurde,
von vielen trauernden Menschen begleitet, nach Wittenberg gebracht und
mit großen Feierlichkeiten in der Schloßkirche bestattet. Tausende weinten
an seinem Grabe. Der treue Melanchthon lebte noch 14 Jahre. Dann
erhielt er neben Luther seine Grabstätte.
Andrä.
39. Luther beim Tode seines Töchterleins.
Magdalenchen, das liebe Töchterlein des frommen Mannes Luther, lag
einstmals sehr krank darnieder. Das betrübte den Vater tief, nnd er betete,
da er bei ihr am Bette saß: „Ich habe sie sehr lieb; aber, lieber Gott! da
es dein Wille ist, daß du sie hinwegnehmen willst, will ich sie gern bei dir
wissen." Darnach wandte er sich zu seiner Tochter und sagte zu ihr: „Leuchen,
mein Töchterlein, du bleibest gern hier bei deinem Vater und ziehest auch
gern zu jenem Vater?" Sie sprach: „Ja, Herzensvater, wie Gott will."
Da sagte der Vater: „Du liebes Töchterlein, der Geist ist willig, aber das
Fleisch ist schwach!" und wandte sich herum und sprach: „Ich habe sie ja
sehr lieb." Da nun Magdalencken in den letzten Ziigen lag und jetzt sterben
wollte, fiel der Vater vor dem Bette auf seine Kniee, weinte bitterlich und
betete , daß Gott sie erlösen wolle. Indem kommt ihr Bruder, der damals
au einem entfernten Orte in die Schule ging. Nach diesem hatte sie sehr
verlangt, also baß der Vater ihn hatte auf einem Wagen holen lassen. Als
sie ihren lieben Bruder sieht, entschläft sie in des Vaters Armen.
Die Mutter war wohl auch in derselben Kammer, doch weiter vom
Bette, um der Traurigkeit willen. Da sprach der Vater zu ihr: „Liebes
Weib, bedenke doch, wo sie hinkommt; ihr ist ja wohl. Ich hätte sie auch
gern behalten; doch geschehe Gottes Wille." Und da das Kind in den Sarg
gelegt ward, sah er es an und sprach: „Du liebes Leuchen, wie wohl ist
dir geschehen! Du wirst wieder auferstehen und leuchten wie ein Stern, ja,
wie die Sonne." Mathesius.
40. Di-. Luthers Wohlthätigkeit.
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach
Dr. Luther einst um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen Thaler in
seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geldstücke wurden damals
Joachimsthaler genannt, nach der Stadt Joachimsthal im Erzgebirge, wo
sie geprägt wurden; davon heißen sie heutzutage Thaler. Als Luther nun
angesprochen ward, bedachte er sich kurz, griff fröhlich nach dem Thaler mit
den Worten: „Jochen, heraus, der Herr Christus ist da," und gab ihn dem
armen Manne. —
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Einmal kam zum Dr. Luther ein armer Student, der nach Hause
reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther um eine Gabe;
der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und wurde sehr betrübt, daß er
nichts zu geben hatte. Wie er so traurig in der Stube umhersah, erblickte
er einen schönen silbernen Becher, den er von seinem Kurfürsten zum Geschenk
erhalten hatte. Da lief er mit fröhlichem Blicke hinzu, ergriff das Kleinod
und reichte es dem Studenten, indem er sprach: „Ich brauche keinen silbernen
Becher." Und als der Student sich weigerte, ihn anzunehmen, drückte
Luther den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen und sprach: „Da,
nimm ihn, trag ihn zum Goldschmied, und was du dafür lösest, das behalte."
Bäßler.
41. Kaiser Karl V. am Grabe Luthers.
In Wittenberg, der starken Lutherseste,
ist Kaiser Karl, der Sieger, eingedrungen.
Wohl ist den Stamm zu fällen ihm gelungen,
doch neue Wurzeln schlagen rings die Äste.
In Luthers Feste hausen fremde Gäste,
doch Luthers Geist, der bleibet uubezwungen,
da, wo des Geistes Schwert er hat geschwungen,
da ruhen billig auch des Leibes Reste. —
Am Grabe steht der Kaiser, tief gerühret.
„Auf denn, und räche dich an den Gebeinen,
der Flamme gieb sie preis, wie sich's gebühret!"
So hört man aus der Diener Troß den einen.
Der Kaiser spricht: „Den Krieg hab' ich geführet
mit Lebenden, um Tote laßt uns weinen!"
Hagenbach.
42. Der Pilgrim vor St. Just.
1. Nacht ist's, und Stürme sausen für und für,
hispan'sche Mönche, schließt mir auf die Thür!
2. Laßt hier mich ruh'n, bis Glockenton mich weckt,
der znm Gebet euch in die Kirche schreckt!
3. Bereitet mir, was euer Haus vermag,
ein Ordenskleid und einen Sarkophag!
4. Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein!
Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein.
5. Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt,
mit mancher Krone ward's bediademt.
6. Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt,
hat kaiserlicher Hermelin geschmückt.
7. Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich
und fall' in Trümmer, wie das alte Reich.
August Graf v. Platen.
LS. Gustav Adolf.
Als die Protestanten im 30 jährigen Kriege aufs härteste bedrängt
waren, kam ihnen der Schwedenkönig Gustav Adolf zu Hilfe. Dieser
König war seinen Soldaten in allen Tugenden ein Muster und Vorbild.
Sein Heer war klein, aber Frömmigkeit, Tapferkeit und Manneszucht machten
es stark; er litt nicht, daß es plünderte, und hielt mit ihm täglich unter
freiem Himmel einen feierlichen Gottesdienst. Mit Gebet und Gesang landete
es an der pommerschen Küste; betend und singend ging es in die Schlacht.
Zunächst wollte Gustav Adolf Magdeburg zu Hilfe eilen, das von
Tilly hart belagert wurde; aber die Kurfürsten von Sachsen und Branden-
burg fürchteten sich vor dem Kaiser und verwehrten ihm den Durchzug durch
ihre Länder. So kam es, daß er Magdeburg nicht retten konnte. Es
wurde erobert. Raub- und mordgierig drangen Tillys wilde Scharen in
die unglückliche Stadt; sie mißhandelten die Einwohner, metzelten alles
nieder, was ihnen in den Weg kam, dnrchspießten die Säuglinge an der
Mutterbrust, schonten weder Kind noch Greis und plünderten alle Häuser.
In der Verwirrung brach Feuer ans, und die herrliche Stadt verbrannte
bis auf den Dom und einige Fischerhütten; viele Tausende von Menschen
kamen dabei um. Darauf zog Tilly nach Sachsen. Jetzt mußte der Kur-
fürst die Schweden um Hilfe bitten. Gustav Adolf eilte rasch herbei, be-
siegte den gefürchteten Tilly bei Breitenfeld in der Nähe von Leipzig
und durchzog siegreich gauz Deutschland. Tilly stellte sich ihm zwar noch
einmal am Lech entgegen, wurde aber geschlagen und von einer Kanonen-
kugel tödlich verwundet. Überall wurde nun Gustav Adolf von den
Protestanten als Retter ihres Glaubens begrüßt, und bald gab es kein
kaiserliches Heer mehr, das dem siegreichen Helden entgegentreten konnte.
In dieser Not wandte sich der Kaiser Ferdinand an Wallenstein.
Dieser herrschsüchtige und stolze Mann ließ sich endlich durch flehentliche
Bitten bewegen, ein Heer zu werben; allein der Kaiser mußte ihm versprechen,
ihn ganz frei schalten und walten zu lassen. Bei Nürnberg trafen Gustav
Adolf und Wallenstein zusammen; doch dieser wagte keine Schlacht und
zog aus dem ausgesogenen Franken nach Sachsen. Verheerung, Raub,
Mord und Brand bezeichneten seinen Weg. Rasch eilte der Schwedenkönig
ihm nach. Am 6. November 1632 kam es bei Lützen zur Schlacht. Lange
schwankte der Sieg hin und her, bis sich der König mitten in das Getümmel
begab, um seine Schweden zu ermutigen. Da zerschmetterte eine Kugel
seinen Arm. Als man ihn aus dem Gefechte führen wollte, schoß ihn ein
Reiter durch den Rücken. Mit dem Seufzer: „Mein Gott, mein Gott!"
sank er vom Pferde und verhauchte unter Rosseshufen sein Leben. Mit Wut
stürzten sich nun die Schweden auf ihre Feinde; sie trieben die Kaiserlichen
in die Flucht, aber der Sieg war zu teuer erkauft. Erst am anderen Tage
fand man des Königs Leichnam, bedeckt mit Blut und Wunden, am „Schweden-
steine". Ein schönes Denkmal bezeichnet die Stätte seines Todes; das schönste
Denkmal aber hat das evangelische Volk diesem Helden durch die Gustav-
Adolf-Stiftung errichtet. Hugo Weber.
79
44. Pliinder««gssce»e aus dem 3vjährigen Kriege.
Das erste, was diese Räuber thaten, war, daß sie ihre Pferde einstelleteu
und die Hühner und die Schafe wacker nach einander niedermetzigten. Hernach
hatte jeglicher seine sonderbare Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Unter-
gang und Verderben anzeigete. Dann, ob zwar etliche anfingen, zn sieden
und zu braten, daß es sahe, als solle ein Bankett gehalten werden, so waren
hingegen andere, die durchstürmten das Hans unten und oben; andere machten
von Tuch, Kleidungen und allerlei Hausrat große Päcke zusammen, als ob
sie irgend einen Krempel-Markt anrichten wollten, was sie aber nicht mitzu-
nehmen gedachten, ward zerschlagen und zugrunde gerichtet; etliche durch-
stachen Heu und Stroh mit ihren Degen, etliche schütteten die Federn aus
den Betten und füllten hingegen Speck, andere dürr Fleisch und Gerät
hinein, als ob alsdann besser darauf zu schlafen wäre. Andere schlugen Ofen
und Fenster ein, gleichsam als hätten sie einen ewigen Sommer zn verkün-
digen. Kupfer- und Zinngeschirr schlugen sie zusammen und packten die
verbogenen und verderbten Stücke ein; Bettboden, Tische und Stühle und
Bänke verbrannten sie, Häfen und Schüsseln mußten endlich alles entzwei;
den Knecht legten sie gebunden auf die Erde, steckten ihm ein Sperrholz ins
Maul, und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstiger Mistlachen-Wasser
in den Leib, das nannten sie einen schwedischen Trunk, wodurch sie ihn
zwungen, eine Partei anderwärts zn führen, allda sie Menschen und Vieh
hinwegnahmen und in unseren Hof brachten.
Christoph v. Grimmelshausen.
10. Aas Zeitalter Iriedrichs des Großen.
43. Der erste Hohenzoller in Brandenburg.
Freudig ward Friedrich I. von den Städten und Ständen ausge-
nommen, als er im Sommer des Jahres 1412 in der Mark erschien. Alle
begrüßten ihn als den Retter des Landes, und gern leisteten sie ihm den
Eid der Treue. Er gebot nun sogleich einen Landfrieden und also auch
das Aufhören des wilden Fehdewesens und machte es den Rittern zur Pflicht,
die Städte uud Schlösser, welche ihnen verpfändet worden waren, gegen
Empfang der Pfandsumme wieder herauszugeben. — Aber Dietrich und
Johann von Quitzow, Kaspar Hans von Putlitz, Wichard von Rochow und
Achim von Bredow, diese fünf verbanden sich gegen den neuen Landesherrn.
„Und wenn es das ganze Jahr Burggrafen vom Himmel regnete, so sollten
sie dennoch in der Mark nicht aufkommen", — sagten sie, rückten im Bunde
mit den Pommern dem neuen Landesherrn entgegen und besiegten ihn.
Der Sieg blieb indes ohne Folgen. Vergeblich bemühte sich Friedrich, sie
durch seine Freundlichkeit und Herzensgüte zu gewinnen; vergebens bot er
ihnen Verzeihung und sicherte ihnen den Besitz ihrer rechtmäßig erworbenen
Güter; sie verharrten bei ihrem Trotze. Da wandte sich Friedrich an den
Kaiser. Der erklärte die Widerspenstigen für Rebellen und sprach die Reichs-
80
acht über sie aus. Noch zögerte der Kurfürst. Als aber die Ritter auch
nun noch nicht aufhörten, die Mark durch ihre Fehden zu verwüsten, da
mußte Friedrich Ernst gebrauchen. Mit vier Heeren rückte er zu gleicher
Zeit vor die Schlösser Friesack, Plaue, Golzow und Bütow.
Das Haupt der Rebellen, Dietrich von Quitzow, befand sich in Frie-
sack, und hier leitete Friedrich selbst die Belagerung. Lachend erwartete
Dietrich die Feinde. Friesack war eine der festesten Burgen in der Mark.
Das Mauerwerk, mit vielen starken Türmen versehen, hatte außerordent-
liche Stärke. Die Besatzung, mit dem beste Mute beseelt, schaute mit Ver-
trauen auf ihren Herrn, der sie so oft zu Sieg und Beute geführt hatte.
Mit Lebensmitteln war man überreichlich versehen, und so fiel es niemandem
in der Burg ein, daran zu denken, daß eine Eroberung derselben möglich
sein könnte. Am allerwenigsten hatte Dietrich selber einen solchen Gedanken.
Ein Held wie er hätte nach dem bisherigen Laufe der Dinge in einer solchen
Feste einer ganzen Welt getrotzt. — Die Belagerung hatte begonnen, und
die Besatzung befand sich auf ihrem Posten. Da geschah ein furchtbares
Krachen. Die ganze Burg erzitterte; klirrend zersprangen die Scheiben in
den Zimmern; prasselnd fiel der Kalk von den Wänden, und donnernd
stürzten Steine und Steintrümmer in den Burghof. In größter Bestürzung
und betäubt von dem unerhörten Getöse, lief alles in der Burg zusammen.
Niemand in der ganzen Mark hatte je etwas Ähnliches vernommen. Was
mochte es sein? — Es war die faule Grete, eine Kanone, welche Kugeln
von 24 Pfund schoß. Friedrich hatte sie aus Franken mitgebracht; er besaß
nur die eine. In der Mark war sie etwas ganz Neues. Zwar hatte der
Mönch Berthold Schwarz das Schießpulver schon gegen das Jahr 1350
erfunden, und Dietrich selbst besaß einige kleine Donnerbüchsen; aber von
dieser Größe und von solcher Wirkung hatte man hier noch keine gesehen.
Da Friedrichs Kanone wegen ihrer Schwere nur sehr langsam fortgeschafft
werden konnte, so ward sie von dem Volke die faule Grete genannt. — Es
währte nicht lange, so war die Mauer von Friesack an einer Stelle zer-
trümmert, und man gab auf der Burg ein Zeichen, daß man sich ergeben
wollte. So wurde die Feste genommen. Dietrich von Quitzow fand sich
aber nicht mehr darin. Er hatte sich auf geheimen Pfaden geflüchtet, diente
späterhin bald diesem, bald jenem fremden Fürsten, machte auch bisweilen
noch feindliche Einfälle in die Mark, wobei er unter andern die Stadt Nauen
einäscherte, ist aber endlich, von allen verlassen, beim Kloster Marienborn
im Magdeburgischen gestorben. — Nun zog Friedrich mit der faulen Grete
vor Plaue, worin sich Johann von Quitzow verteidigte. Obgleich die Burg
14 Fuß dicke Mauern hatte, und obgleich Johann wegen seiner Tapferkeit
und Verwegenheit nicht minder berühmt war, als sein Bruder Dietrich, so
half doch das alles nichts. Die faule Grete zertrümmerte die dicken Mauern,
und Plaue fiel. Johann suchte ebenfalls zu entfliehen, ward aber ergriffen
und ins Gefängnis zu Kalbe an der Saale gesetzt, wo er auch gestorben
sein soll. — Nunmehr hatte Friedrich leichtes Spiel. Die andern Verbün-
deten, von denen Hans von Putlitz schon früher gefangen worden war, er-
gaben sich und wurden späterhin begnadigt. Henning.
81
4(k Der große Kurfürst.
Das hervorragendste Ereignis in dem Leben des großen Kurfürsten
war die Schlacht bei Fehrbellin. Als er nämlich im Vereine mit anderen
deutschen Fürsten gegen die Franzosen ins Feld gerückt war, fielen die
Schweden, durch den französischen König Ludwig XIV. dazu bewogen, in
Brandenburg ein. Furchtbar waren die Verwüstungen, die sie in den Län-
dern an der Havel anrichteten. Der Kurfürst erfuhr diese Vorgänge mit
tiefem Schmerze, doch ohne sich dadurch in seiner Entschlossenheit beugen zu
lassen. Durch einen Brief ermahnte er die Brandenburger, nur noch eine
Zeit lang geduldig auszuharren; er werde bald kommen. Die Branden-
burger kamen seinem Wunsche nach. Tausende von Bauern rotteten sich zur
Notwehr zusammen und ließen ihre Fahnen wehen; auf den Fahnen aber
stand: „Wir Bauern sind von geringem Gut und dienen unserm Kurfürsten
mit Leib und Blut!" Der Kurfürst rückte nun rasch mit 15 000 Mann
heran. Magdeburg wurde besetzt, ein schwedisches Heer, das bei Rathenow
an der Havel lagerte, durch eine List des Feldmarschalls Derfflinger über-
rumpelt und zersprengt. Am 18. Juni 1675 stießen die Brandenburger
bei Fehrbellin auf die Hauptmacht der Schweden. Der Landgraf von Hessen-
Homburg, welcher die brandenburgische Vorhut führte, griff den Feind gegen
Befehl vorzeitig an; er kam dabei hart ins Gedränge und schickte um Hilfe.
Nun war ein rascher Entschluß nötig, es ward also gleich Kriegsrat ge-
halten. Derfflinger war gegen die Schlacht. Der Kurfürst aber meinte:
„Weil wir dem Feinde so nahe sind, so muß er Federn oder Haare lassen."
Da gab Derfflinger nach, und alsogleich entwickelte sich auch die Schlacht.
Anfänglich gerieten die Brandenburger in Nachteil. Als dies der
Kurfürst gewahrte, eilte er an den gefährdeten Platz. Nach der Chronik
glichen seine Augen „zween funkelnden Kometen". Er stellte sich an die
Spitze der Schwadronen und rief: „Getrost, tapfere Soldaten, ich, euer
Fürst und nun euer Kapitän, will siegen oder ritterlich mit euch sterben."
Dann ging es vorwärts. Nun ritt der Kurfürst ein weißes Roß, daran
erkannten ihn die Schweden und begrüßten ihn mit einem Hagel von
Kugeln. Sein Stallmeister Froben, der die Gefahr, in welcher der Kur-
fürst schwebte, rasch erkannte, ritt herzu und sprach: „Herr Kurfürst, ich
sehe, Euer Schimmel ist scheu geworden; gebt ihn mir und besteigt meinen
Braunen." Kaum waren die Rosse gewechselt, so sank der edle Froben, von
einer Kugel getroffen, zur Erde. Gleich darauf ward der Kurfürst von den
Schweden, die mit oft bewährter Tapferkeit fochten, umringt; aber neun
brandenburgische Reiter ließen ihre Klingen sausen und hieben ihn wieder her-
aus. Noch eine Weile schwankte die Schlacht. Da nahm die brandenburgische
Reiterei, an deren Spitze die Gestalt Derfflingers hervorstach, einen wuchtigen
Anlauf. Das brachte die Entscheidung: die Schweden wankten, wichen, flohen.
Anfangs fanden die Fliehenden in Fehrbellin Schutz. Als man zu einer Beschie-
ßung der Stadt riet, sagte der Kurfürst: „Ich bin nicht gekommen, mein Land zu
verwüsten, sondern es zu retten." Bald gelang es vollständig, die Schweden
Das Vaterland. 6
82
aus dem Lande zu vertreiben. Mit der ihnen abgenommenen Kriegsbeute
wurden die geplünderten Einwohner entschädigt.
Was dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm aber zu noch höherem Ruhme
gereicht, als die vielen von ihm erworbenen Kriegslorbeeren, das ist die
weise Fürsorge, die er dem Wohlergehen seiner Unterthanen, überhaupt
der inneren Entwickelung seines Reiches widmete. So zog er aus der
Schweiz und den Niederlanden tüchtige Kolonisten ins Land, nahm die
gewerbfleißigen Hugenotten, welche durch eine schmachvolle Maßregel aus
Frankreich verbannt waren, mit kluger Bereitwilligkeit aus; ferner begünstigte
er die Gewerbe und den Handel, ja er schuf sogar eine kleine Flotte und
erwarb an der Küste Afrikas einen Kolonialbesitz, der später freilich wieder
aufgegeben wurde. Mit vollem Rechte konnte sein berühmter Enkel, Fried-
rich der Große, später von ihm sagen: „Der hat viel gethan."
Deinhardt.
47. Die Schlacht bei Rotzbach.
Der Herbst des Jahres 1757 war gekommen, und mit den Blättern
schien Friedrichs Glück zu welken. Von allen Seiten bewegten sich seine
Gegner mit großen Heeresmassen, Verderben drohend, gegen ihn heran.
In Hannover waren 100 000 Franzosen eingebrochen und rückten in
Thüringen und gegen Magdeburg vor, ein Heer von 100 000 Mann
Russen war in das Königreich Preußen eingerückt, und während die Schweden
Schiffe ausrüsteten, um Pommern anzugreifen, zogen die Österreicher mit
großer Übermacht gegen Schlesien. Nichts schien den König mehr retten
zu können, seine Feinde triumphierten, seine Freunde trauerten; die Mark-
gräfin von Baireuth, Friedrichs Lieblingsschwester, insbesondere war in Ver-
zweiflung über den bevorstehenden Untergang ihres Hauses. Friedrich, der
von nun an mit Recht den Namen des Großen führen sollte, war von der
Gefährlichkeit seiner Lage noch lebhafter überzeugt als dritte; trotz des
Bewußtseins seiner geistigen Überlegenheit und trotz seiner mutigen Ausdauer
machte er sich wenig oder keine Hoffnung auf Rettung, doch er wollte mit
Würde enden, gerade in der höchsten Bedrängnis nichts von Nachgiebigkeit
hören, sondern den Tod des Helden auf dem Schlachtfelde suchen. Vom
Oktober an bereitete er sich zum Tode vor und machte schon sein Testament,
gleichwohl beschäftigte er sich in diesem furchtbaren Ernste seiner Lage voll
Gemütsruhe noch mit Tonkunst und Dichtung.
Zum Glück fehlte es seinen zahlreichen Gegnern an Übereinstimmung
und bei aller Überlegenheit der Macht an dem Entschlüsse, dem gefürchteten
Monarchen auf den Leib zu gehen; jeder wollte die Ehre, den Hauptschlag
zu thun, dem andern überlassen. Die Lage des Königs war gleichwohl
verzweifelt, und eine Unglücksbotschast drängte die andere.
Als die französische Armee unter Soubise Ende Oktober über die
Saale gegangen war und sich Leipzig näherte, brach Friedrich mit einem
kleinen Häuflein von nur 22 000 Mann von Erfurt auf, um in einer ent-
scheidenden Schlacht Sachsen zu retten oder zu sterben. Am 4. November
stieß er in der Gegend von Merseburg und Weißenfels, unfern der großen
83
alten Schlachtfelder, auf die französische Armee, die beinahe die dreifache
Stärke hatte; denn zu den 36 000 Franzosen unter Soubife waren 27 000
Mann Reichstruppen unter dem Prinzen Josef von Sachfen-Hildbnrghansen
gestoßen. Die Franzosen hatten sich der Saale bemächtigt und rechneten
darauf, ihr Winterquartier in Sachsen zu nehmen. Mit dem ,,Marquis de
Brandenburg“, wie sie Friedrich übermütig nannten, dachten sie leicht fertig
zu werden; geschah ihm doch schon, meinten sie, eine große Ehre, daß man
sich überhaupt mit ihm einließ. Ein so kleines Heer zu umzingeln schien
leicht, und schon hatte Soubise den Parisern versprochen, ihnen den König
als Gefangenen aufzuführen, — ein Schauspiel, dem sie mit Begierde ent-
gegensahen.
Es war am Morgen des 5. Novembers 1757. Der König war auf
den Boden des Herrenhauses zu Roßbach gestiegen und erforschte durch
das Fernrohr die Bewegung des Feindes. Dieser ließ sich ans einer
vorteilhaften Stellung in die Ebene locken und wollte die Preußen um-
gehen. Schon dehnte er sich links und rechts über ihre Flanken aus; seine
kriegerische Musik scholl herausfordernd herüber, und noch rührten sich die
Preußen nicht, außer daß sie ihr Mittagsmahl kochten und zur gewohnten
Stunde verzehrten. Den Franzosen schien dies ein sicheres Zeichen, daß sie,
an ihrem Schicksale verzweifelnd, ohne Kampf sich würden gefangen geben.
Auch der König hielt mit Behagen Tafel und stieg dann um zwei Uhr noch
einmal auf den Boden, ohne die Kanonenkugeln zu achten, die über den
Edelhof hinwegflogen.
_________-
6*
84
Plötzlich gab er Befehl zum Ausbruche. In weniger als einer halben
Stunde war das preußische Lager abgebrochen, zum Staunen des Feindes,
der an diesem Tage gründlich belehrt werden sollte, wie rasch und gewandt
die „schwerfälligen" Deutschen sein können. Französische Offiziere verglichen
selber diese Bewegung mit dem Wechsel einer Dekoration. Jetzt standen
Friedrichs Krieger geordnet unter den Waffen, der linke Flügel unter An-
führung des Königs, der rechte, welcher die Reichsarmee gegenüber hatte,
unter dem Herzoge von Braunschweig. Der Zufall wollte, daß eine Menge
Hasen, durch den Donner des Geschützes aus ihren Lagern aufgeschreckt,
zwischen beiden Heeren umherirrten. Einer derselben wurde von einer
französischen Kugel vor der Front der Preußen zerschmettert. Da riefen
diese: „Es wird gut gehen, die Franzosen schießen sich selber tot." Und
heiteres Gelächter lief durch die Reihen.
Die Preußen lehnten sich an eine Anhöhe, die Friedrich mit Geschütz
bepflanzen ließ. Plötzlich bricht Seydlitz, der verdeckt hinter dem Janus-
hügel gestanden hatte, hervor. Bevor er zum Angriffe schreitet, sprengt er
weit vor seine Front und schleudert vor den Augen der ganzen Linie seine
Tabakpfeife in die Luft, als Zeichen, daß es jetzt Zeit sei, zum Schwerte
zu greifen, und nun stürzen seine Schwadronen mit solcher Wucht auf die
überlegene Reiterei, daß sie in wenigen Minuten über den Haufen geworfen
ist. Bon der Höhe donnerten die preußischen Batterieen, als wenn Erd'
und Himmel zusammenstürzen wollten, wie ein Augenzeuge sagt. Im
Sturmschritte fällt nun das preußische Fußvolk vom linken Flügel, unter
Führung des Königs, auf die Infanterie des rechten Flügels der Franzosen.
Zwei Grenadierbataillone kommen durch eine Seitenbewegung dem Feinde
in den Rücken; das Flankenfeuer, das er unverhofft empfängt, bestürzt und
verwirrt ihn. Er wirft sich auf seinen linken Flügel, wo die Reichsvölker
stehen. Die Verwirrung ist unsäglich; wie Würgengel fallen die preußischen
Schwadronen über diesen Menschenknäuel her; Flucht oder Tod ist jetzt die
Losung. Selten ist eine so glorreiche Schlacht so rasch und mit so wenig
Opfern geschlagen worden. Schon gleich anfangs waren die bunt gemisch-
ten Reichsvölker, wie Spreu vor dem Winde, aus einander gestoben; nach
kaum anderthalbstündiger Gegenwehr wenden auch die Franzosen den Rücken.
Es war ein dahinstürzender Strom, ein Meer von Verfolgten und Ver-
folgern, und nur die früh einbrechende Novembernacht rettet die Trümmer
des feindlichen Heeres. Die wilde Jagd, der sie ein Ziel setzte, ward am
folgenden Tage wieder fortgesetzt. Merkwürdigerweise büßte der Feind
nur 600 bis 700 Mann an Toten, dagegen 2000 an Verwundeten und
5000 an Gefangenen ein, unter denen weit über 300 Offiziere; dazu eine
gute Zahl Kanonen, Fahnen und Standarten samt großem Kriegsvorrat.
Friedrichs eigener Verlust betrug nicht mehr als 91 Tote und 274 Ver-
wundete. Als man das französische Lager stürmte, schien man nicht in ein
Lager, sondern in ein großes Boudoir oder Putzzimmer gekommen zu sein
und fand eine reiche Beute an Köchen, Haarkünstlern, Schauspielern, Schlaf-
röcken, Pudermänteln, Haarbeuteln, wohlriechenden Wassern und Papageien,
denn alles dies hatten die Franzosen in großer Menge mit sich geführt.
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In die Flüchtlinge war ein panischer^ Schrecken gefahren, und viele
schienen gar nicht mehr haltmachen zu wollen. Die Straßen nach dem
Rheine, dem sie zueilten, waren mit Kürassen, langen Reiterstiefeln, Waffen
und allem, was sie abwerfen mochten, um es sich leicht zu machen, bedeckt.
Die thüringischen Bauern, denen die Franzmänner arg mitgespielt hatten,
machten förmlich Jagd auf sie und lieferten sie in großer Anzahl den Preu-
ßen aus. Durch ganz Deutschland, nicht allein durch Preußen, ging ein
lauter Jubel über die meisterhaft entworfene, meisterhaft ausgeführte, von
dem vollständigsten Erfolge begleitete Schlacht, welche den übermütigen
Erbfeind, der dem Vaterlande ungestraft so viel Leid zugefügt hatte, zu
Boden warf und uns endlich wieder das Vollgefühl unserer Manneskraft
gab. G. Wirth.
48. Der Choral von Leuthen.
1. Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. Rasch über Berg und Thal
von dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl;
die Preußen steh'n aus Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht;^)
des Tages Schreckenswerke rings umschleiert mild die Nacht.
2. Doch dunkel ist's hier unten nur, am Himmel Licht an Licht,
die gold'nen Sterne zieh'n herauf, wie Sand am Meer so dicht;
sie strahlen so besonders heut', so festlich hehr ihr Lauf,
es ist, als wollten sagen sie: „Ihr Sieger, blicket auf!"
3. Und nicht umsonst. Der Preuße fühlt's: es war ein großer Tag.
Drum still im ganzen Lager ist's, nicht Jubel noch Gelag;
so still, so ernst die Krieger all', kein Lachen und kein Spott. —
Auf einmal tönt es durch die Nacht: „Nun danket alle Gott!"
4. Der Alte, dem's mit Macht entquoll, singt's fort, doch nicht allein,
Kam'raden um ihn her im Kreis, gleich stimmen sie mit ein;
die Nachbarn treten zu, es wächst lawinengleich der Chor,
und voller, immer voller steigt der Lobgesang empor.
5. Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schar an Schar,
ein fallen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein auch der Husar,
auch Musika will feiern nicht, zu reiner Harmonie
lenkt Horn, Hobo' und Klarinett' die heil'ge Melodie.
6. Und stärker noch und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer,
am Ende wie aus einem Mund singt rings das ganze Heer;
im Echo donnernd wiederhallt's das aufgeweckte Thal,
wie hundert Orgeln braust hinan zum Himmel der Choral. H. Besser.
49. Friedrichs des Groszen Mut.
Geistesgegenwart und Mut besaß Friedrich wie wenige Menschen. In
der Schlacht bei Kollin führte er selbst mit dem Degen in der Hand eine
ff Die Griechen glaubten, ein plötzlicher Schrecken rühre von dem grauenhaften
Wald- und Hirtengotte Pan her. ff 5. Dezember 1757.
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Kompagnie gegen eine österreichische Batterie. Die Leute flohen, als sie in
den Bereich der feindlichen Kugeln kamen; Friedrich aber achtete nicht
darauf und ritt immer weiter, bis einer seiner Adjutanten ihm zurief:
„Wollen denn Ew. Majestät die Batterie allein erobern?" Jetzt erst
erkannte Friedrich seine mißliche Lage, hielt sein Pferd an, betrachtete die
Batterie durch ein Fernglas und kehrte dann langsam zu den Seinigen
zurück. — Am Abende des Schlachttages von Leuthen ritt er mit wenigen
Begleitern nach dem Schlosse zu Lissa, wo er Wider Erwarten eine große
Anzahl österreichischer Offiziere findet. Seine Freiheit steht auf dem Spiele;
die Feinde hätten ihn unmittelbar nach seinem schönsten Siege zum Gefangenen
machen können. Aber der König schreitet mit der ruhigsten Miene von der
Welt mitten durch sie hin und ruft ihnen zu: „Guten Abend, meine Herren.
Sie haben mich wohl hier nicht vermutet! Kanu man dennoch unterkommen?"
Da bücken sich die Offiziere, durch seinen zuversichtlichen Ton irre gemacht,
tief vor ihm und leuchten ihm demütig in sein Zimmer. Bald darauf
erschien eine Abteilung preußischer Husaren und nahm die Österreicher alle
gefangen. — Diese Unerschrockenheit, welche Friedrich in allen Gefahren bewies,
verlangte er aber auch von seinen Offizieren. Einem seiner Pagen wurde bei der
Belagerung einer Festung das Pferd unter dem Leibe erschossen, und er
selbst erhielt eine bedeutende Quetschung. Mit schmerzlichen Gebärden eilte
er davon, aber der König rief ihm zu: „Wo will Er hin? Will Er wohl
den Sattel mitnehmen?" Der Page mußte umkehren und den Sattel abschnallen
und durfte sich an die Kugeln nicht kehren, die ihn und den König umsausten.
Andrä.
50. Geschichten von Friedrich dem Groszen.
1. Friedrich der Groste und sein Page.
Friedrichs Dienerschaft bestand nur aus wenigen Personen, da die
Bedürfnisse seiner einfachen Lebensweise leicht befriedigt waren. Ellies
Abends, als der König nicht einschlafen konnte, klingelte er dem Pagen
im Nebenzimmer. Da niemand erschien, so klingelte er noch einmal.
Umsonst. Endlich stand Friedrich selbst auf, öffnete das Vorzimmer und
fand seinen Pagen auf einem Stuhle eingeschlafen. Er ging auf ihn zu
und wollte ihn aufwecken; doch bemerkte er in diesem Augenblicke in der
Rocktasche desselben ein beschriebenes Papier. Verwundert und neugierig
zog er es hervor und las. Es war ein Brief von der Mutter des Pagen,
welcher ungefähr folgendes enthielt: Sie danke ihrem Sohn für die
Unterstützung, die er ihr übersandt und sich von seinem Gehalte erspart
habe. Gott werde ihn dafür belohnen, und er solle diesem stets so
getreu wie seinem Könige ergeben sein, dann werde er Segen haben,
und sein irdisches Glück werde ihm gewiß nicht fehlen.
Der König ging leise in sein Zimmer zurück, holte eine Rolle mit
Dukaten und steckte sie mit dem Briese wieder in die Tasche des ruhig^ fort-
schlummernden Edelknaben. Bald darauf klingelte er so stark, dap der
Page erwachte. „Du hast wohl geschlafen?" fragte der König. Der Page
stammelte eine halbe Entschuldigung und eine halbe Bejahung her, fuhr in
87
der Verwirrung mit der einen Hand in die Tasche und ergriff betroffen
die Rolle Dukaten. Er zog sie hervor, ward blaß und sah den König
mit Thränen in den Augen an, ohne ein Wort reden zu können. „Was
ist dir?" fragte der König. „Ach! Ew. Majestät," erwiderte der Page,
indem er vor ihm auf die Kniee fiel, „man will mich unglücklich machen;
ich weiß von diesem Gelde nichts!" — „Ei," sagte der König, „wem es
Gott giebt, dem giebt er's im Schlafe. Schick's nur deiner Mutter, grüße
sie und versichere ihr, daß ich für dich und sie sorgen werde." ^
2. Frieselbisseii.
Von einem Dorfe in der Liegnitzer Gegend hatte der König durch den
Landrat gehört, daß daselbst die Bauern schon wiederholentlich in Strafe
genommen worden waren, weil sie sich durchaus weigerten, Kartoffeln an-
zubauen, was durch den König angeordnet war. Die Bauern behaupteten,
man bekäme von den Kartoffeln das Friese!, weshalb sie dieselben auch
Frieselbissen nannten. Friedrich hatte darauf dem Landrat und anderen
vornehmen Personen in Liegnitz aufgegeben, nicht nur die Bauern eines
besseren zu belehren, sondern auch selber Kartoffeln zu essen, damit das
dumme Volk solchen Beispielen nachfolge. Das alles aber hatte nichts
geholfen.
Nach den Hungerjahren 1771 und 1772 passierte der König einst
dies Dorf und war erstaunt, in dessen Nähe viele schöne Kartoffelfelder zu
sehen. Er ließ halten, machte das Buch zu, in dem er, wie gewöhnlich
unterwegs, gerade las, und sagte zu den versammelten Bauern: „Na, hat
euch der Hunger endlich zu Verstände gebracht? Schmecken die Friesel-
bissen jetzt?" — „Ach ja!" riefen die Bauern. — „Hat schon einer das
Friesel davon gekriegt?" — „Nein!" war die Antwort.— „Na, da merkt's
euch, daß ich euch nichts Schädliches anrate, sondern es gut mit euch meine,
und folgt künftig bei Zeiten." Er schlug das Buch wieder auf und ließ
weiter fahren. Die Bauern aber sagten: „A hot olles im Buche stiehn,
was passiert is! A wiß halt emol olles!"
Überall veranlaßte der große König die Vorgesetzten in Stadt und
Land, fleißig Kartoffeln auf ihren Tisch zu bringen, ja, er that dies selbst
aus seinen Reisen zum guten Beispiele für das Volk. So mußte bei seiner
Anwesenheit in Brieg stets ein Viertel Kartoffeln gekocht werden. Er
selbst aß einige davon, und seine Gäste und Diener mußten ebenfalls davon
essen. Ja, einigemale ließ er die dampfenden Kartoffeln auf den Balkon
des Kommandantenhauses in Brieg bringen und aß hier einige vor den
Augen des Volkes.
In solcher Weise sorgte Friedrich für das Wohl seines Volkes. Mit
Recht verehrten seine Unterthanen den „alten Fritz" wie einen Vater.
Wenn er unter sie trat in seiner blauen Uniform, den großen dreieckigen
Hut auf dem Kopfe, die Hand auf den Krückstock gestützt, so war das ein
festliches Ereignis für alle. Ganz Europa bewunderte ihn. 1786 starb
er, 74 Jahre alt, nach einer 46jährigen Regierung. Sein Bild wird in
den Herzen der Deutschen immerdar lebendig bleiben. O. Falch.
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51. Aus dem Leben Maria Theresias.
Maria Theresia besuchte öfters die öffentlichen Anstalten, welche sie selbst
gestiftet hatte, ganz unerwartet, untersuchte dann genau, wie es in denselben
zuging, erkundigte sich nach allem, ermahnte, belehrte, strafte und belohnte,
wie sie dazu die Veranlassung fand. Sie gab gern und mit kaiserlicher
Freigebigkeit reichlich das Erforderliche, um gute Zwecke zu erreichen; aber
sie hielt auch mit Ernst darauf, daß dasjenige, was sie dazu hergegeben hatte
und was von Seiten des Staates dafür gethan war, nicht vergebens ver-
wandt wurde.
Eines Tages besuchte sie das Kadettenstift und fragte den Direktor:
„Welcher von meinen lieben Söhnen in dieser Anstalt beträgt sich am lobens-
wertesten?" „Ihre Majestät", war die Antwort, „sie führen sich alle gut
auf, es ist über keinen Zögling besondere Klage zu führen, aber der junge
Vukassowich verdient das meiste Lob. Dies erteilten ihm auch die Lehr-
meister in Gegenständen der militärischen Übungen."
„Bravo, junger Dalmatier", sagte die Kaiserin, „aber ich wünschte
eine Probe von letzterem zu sehen; — man stelle eine Fechtübung an!"
Es geschah. Als der junge Vukassowich die Waffen in die Hand bekam,
erglühte alsbald sein Angesicht von edlem Feuer, er schien von einem andern
Geiste ergriffen. Sein Auge blitzte, seine ganze Gestalt erhöhte sich. Mit
vielem Geschick wich er den Angriffen seiner wechselnden Gegner aus, blieb
kalt bei der größten Lebhaftigkeit derselben, hatte aber nicht sobald eine oder
die andere Blöße, die sie sich gaben, bemerkt, als er sie mit ungestümem
Mute angriff und mit großer Gewandtheit so beharrlich bekämpfte, daß er
meistens Sieger blieb. Als solcher erhielt er von der Kaiserin, die dem
Übungskampfe mit vielem Interesse zugesehen, laute Belobung und ein
Geschenk von zwölf Dukaten, mit der Aufforderung, sich ferner gut zu führen,
indem sie solchen Falles weiter an ihn denken werde.
Nach etwa einem Monate kam die Monarchin wieder in die Anstalt
und ließ den Vukassowich rufen. Er erschien, aber nicht mit der vorigen
Unbefangenheit, vielmehr war eine gewisse Ängstlichkeit und Verlegenheit in
seinem Wesen unverkennbar. Auch die Kaiserin bemerkte dieselbe, und da
sie den Grund zu erraten vermeinte, fragte sie den Jüngling lächelnd: „Was
hat Er mit dem Gelde gemacht? Gestehe Er nur, Er hat es verspielt." —
Hoch errötend bekannte der junge Vukassowich, daß er es zwar nicht mehr
besitze, aber verspielt habe er es nicht. — „Nun, und wo ist es denn?"
fragte die Kaiserin weiter. „Ich habe es meinem Vater übersandt", sprach
ruhig der Jüngling. „Und wer ist Sein Vater?" fuhr die Monarchin
fort. „Er war Lieutenant in Ihrer Majestät Diensten", fuhr jener fort,
„ward im Felde Invalide und lebt in Dalmatien sehr kümmerlich von einer
geringen Pension. Ich glaubte von dem Gnadengeschenke Ihrer Majestät
keinen besseren Gebrauch machen zu können, als wenn ich mit ihm meinen
armen Vater unterstützte."
„Braver Jüngling!" rief die Monarchin, und befahl ihm, Feder, Tinte
und Papier zu holen und zu schreiben, was sie ihm vorsagen werde. Es
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geschah, und die Kaiserin diktierte: „Liebster Vater! Den Brief, den ich
Ihnen hier schreibe, diktiert mir die Kaiserin. Mein Fleiß, meine Auffüh-
rung und meine kindliche Liebe gegen den armen Vater haben der Kaiserin
so wohl gefallen, daß der Herr Vater von dieser Stunde an eine jährliche
Pension von 200 Gulden bekommen wird, und daß ich soeben wieder ein
Geschenk von 24 Dukaten erhalte. Ihr gehorsamster Sohn I. Vukassowich."
A. H. Petiscus.
52. Kaiser Josef H. und der Amtmann.
Einst herrschte in Böhmen arge Teuerung, so daß viele Einwohner
die bitterste Not litten. Da ließ Josef Getreide in großer Menge nach
Böhmen schaffen und reiste selbst dorthin, um zu sehen, ob auch alles ordent-
lich verteilt werde. Unerkannt kam er in eine kleine Stadt. Vor dem
Amtshause hielten mehrere mit Korn beladene Wagen; die Bauern aber,
denen die Wagen gehörten, standen dicht beisammen und sprachen heftig mit
einander. Um die Ursache befragt, antworteten sie dem Kaiser: „Hier
warten wir schon sehr lange und haben noch einen Rückweg von acht Stun-
den zu machen." — „Das ist wahr", setzte der anwesende Amtsschreiber
hinzu, „und außer ihnen warten noch die Einwohner des Ortes seit mehre-
ren Stunden vergeblich auf die Austeilung des Getreides." Der Kaiser,
welcher nur einen einfachen Oberrock trug, trat daraus mit dem Amtsschreiber
in das Haus und sprach zu dem Amtmann, der eben große Gesellschaft hatte:
„Ich bin kaiserlicher Offizier und möchte Sie ersuchen, die armen Leute drun-
ten abzufertigen, die schon so lange gewartet haben." — „Die Bauern können
noch länger warten", versetzte der Amtmann, „ich werde mich durch sie nicht
in meinem Vergnügen stören lassen." — „Aber man muß doch menschlich
sein und die Leute nicht ohne Not plagen." — „Sie haben mir keine
Lehren zu geben, mein Herr! Ich weiß, was ich zu thun habe." — „Nun
denn", rief der Kaiser entrüstet, „so muß ich Ihnen sagen, Herr Amt-
mann, daß Sie mit dem Korn und seiner Austeilung gar nichts mehr zu
schaffen haben. Sie sind von dem Kaiser, den Sie hier vor sich sehen, als
ein Unwürdiger Ihres Amtes entsetzt. Die Verteilung aber besorgen Sie,
Herr Amtsschreiber, Sie sind von heute an Amtmann!" Andrä.
11. Deutschlands Kalk und Erhebung.
53. Die Königin Luise.
1. Wer die Königin Luise war.
Der gute Engel Preußens war in der Zeit der tiefsten Erniedrigung
die Königin Luise, die Gemahlin Friedrich Wilhelms III. von Preußen und
die Mutter des Kaisers Wilhelm. Diese hohe Frau war ein Bild der An-
mut und Freundlichkeit; in ihrem Gemüte wohnten Frömmigkeit und Wohl-
wollen gegen jedermann. Gar leutselig verkehrte sie mit den schlichtesten
Landleuten. Wenn in Paretz bei Potsdam, wo sie oft im Sommer mit
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ihrem Gemahle weilte, das Erntefest gefeiert wurde, fo mischte sie sich unter
die lustigen Tänze der Landleute und tanzte Wohl einmal selbst mit. Die
Jugend umringte sie jubelnd, wenn sie bei einem Dorfseste von Bude zu
Bude ging, um Geschenke für die Kinder einzukaufen. Sie freute sich herz-
lich, wenn die Kinder ihr nachriefen: „Mir auch was, Frau Königin!"
Als Napoleon I. Preußen in den Schlachten bei Jena und Auerstädt
1806 besiegt und darauf erobert hatte, mußte die edle Königin mit ihrem
Gemahle bis Königsberg fliehen, und sie war es, welche in diesen Unglückstagen
durch ihren Glauben die Hoffnungslosen ermutigte. Mit gebeugtem Her-
zen, aber mit Würde trat sie in Tilsit dem Eroberer entgegen. Sie wollte
lieber Salz und Brot essen, ja lieber sterben, als vom Wege des Rechtes
abweichen.
Ihre Kinder waren ihre Schätze; ihre Angen ruhten mit Zufrieden-
heit und Hoffnung auf ihnen. Von ihren: zweiten Sohne, dem Kaiser Wil-
helm, schrieb sie in einem Briefe an ihren Vater, den Herzog Karl von
Mecklenburg-Strelitz: „Unser Sohn Wilhelm wird, wenn nicht alles trügt,
wie sein Vater, einfach, bieder und verständig." Wir wissen jetzt, daß das
Mutterherz sich nicht in ihm getäuscht hat.
Leider vermochte die edle Frau die Befreiung des Vaterlandes nicht
zu erleben. Das harte Schicksal hatte ihre Gesundheit gebrochen, wie ein
rauher Sturm die Lilie knickt. Schon im Sommer 1809 drückte der König
seiner Luise die Augen zu —seines Lebens Sterne, die ihm aus seiner dunk-
len Bahn so treu geleuchtet. H. Weber.
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2. Die Königin Luise und ihr Lehrer.
Ein bejahrter Lehrer, welcher der Königin Luise von Preußen in ihrer
Jugend zu Darmstadt im Schönschreiben Unterricht erteilt hatte, faßte den
Entschluß, nach Berlin zu reisen, um seine Schülerin vor seinem Ende noch
einmal zu sehen. Er kam in Berlin an und ließ sich bei der Königin als
einen alten Bekannten ans Darmstadt melden. Die Fürstin ließ ihn sogleich
vor sich kommen und freute sich sehr, ihn wiederzusehen. Sie unterhielt
sich einige Stunden mit ihm, und auch der König, der dazu kam, nahm An-
teil an dem Gespräche. Die Königin fragte ihn endlich, ob er denn kein
Anliegen habe, indem sie sich nicht vorstellen könne, daß er so ohne allen
besonderen Zweck die weite Reise unternommen habe. Allein er versicherte,
er brauche nichts, sondern habe sein gutes Auskommen, und der einzige
Beweggrund seiner Reise sei gewesen, seine ehemalige Schülerin noch ein-
mal wiederzusehen. Der König machte ihm hierauf den Vorschlag, daß er die
Merkwürdigkeiten Berlins besehen und um 1 Uhr sich wieder einfinden und
zu Mittag mit ihm essen sollte. Der alte Mann wollte aber das Aner-
bieten nicht annehmen und entschuldigte sich. Allein der König wiederholte
es ihm in vollem Ernste und sagte ihm noch, sie seien ganz allein, er solle
nur kommen. Der Lehrer fand sich auch wirklich zur bestimmten Zeit ein
und aß mit an des Königs Tafel. Als sie aufstanden, übergab ihm die
Königin ihr mit Edelsteinen eingefaßtes Bildnis und sagte zu ihm: „Neh-
men Sie, mein lieber alter Lehrer, diese Kleinigkeit zum Andenken von
Ihrer ehemaligen Schülerin, die sich recht herzlich freut, ihrem Lehrer noch
einmal danken zu können!" Der alte Mann, im höchsten Grade überrascht
und gerührt, konnte keine Silbe hervorbringen. Nur einige Thränen, die
ihm über die Wangen herabrollten, zeigten zur Genüge feine dankbaren
Gefühle. Der König sagte hierauf noch, es fei dafür gesorgt, daß er, so-
bald es ihm beliebe, von Berlin nach Darmstadt mit Extrapost frei zurück-
reisen könne. Eylert.
3. Warum Kaiser Wilhelm die Kornblumen so liebt.
In Preußens trübster Zeit saß eines Tages die Königin Luise in
Königsberg in einem Garten, als ein armes Mädchen an sie herantrat und
ihr, ohne eine Ahnung, wer die Dame sei, einen Strauß frisch gepflückter
Kornblumen zum Kaufe anbot. Die Königin sprach nach ihrer Gewohn-
heit freundlich mit dem Kinde und erfuhr, daß sie eine kranke Mutter habe,
die nichts verdienen könne. Mit Thränen in den Augen nahm die Königin
dem Mädchen die blauen Lieblinge ab und beschenkte es reichlich. Dann
rief sie ihre um sie herum spielenden Kinder zu sich und zeigte der kleinen
Prinzessin Charlotte und dem kleinen Prinzen Wilhelm, wie sich ohne
Faden und Schere aus diesen Blumen leicht ein Kranz flechten lasse. Den
geflochtenen Kranz setzte sie darauf der Prinzessin auf. Dabei machte
sie die Kinder auf die schönen blauen Blumen aufmerksam und fügte
hinzu, wie man genügsam sein und sich an den schlichtesten Gaben der Natur
erfreuen könne. Die von der königlichen Mutter gegebenen Lehren drangen tief
in das Gemüt der Kinder, denn von jenem Tage an wurde die Kornblume
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nicht nur zur Lieblingsblume Charlottens und Wilhelms, sondern auch für
beide zu einem Erinnerungszeichen an die früh verklärte Mutter.
Als im Jahre 1817 die Prinzessin Charlotte als Braut des Groß-
fürsten Nikolaus, des nachmaligen Zaren, nach Petersburg reiste, wurde sie
vom Prinzen Wilhelm bis Königsberg begleitet. Hier fand sie in sinniger
Weise die Zimmer des Schlosses auf Befehl ihres Bruders mit den herr-
lichsten Kornblumen geschmückt. Es sollte ein Zeichen sein, daß sie das An-
denken der Mutter in diesem Sinnbilde festhalten wollten. Und sie haben
es in kindlicher Liebe festgehalten. Beim Betreten des russischen Bodens
trug Charlotte einen Kornblumenkranz als Abschiedsgruß der Heimat, und
wenn sie später als Kaiserin bei einer Ausfahrt Kornblumen erblickte, ließ
sie oft den Wagen halten, um sie zu pflücken und an die Lippen zu drücken.
Und Kaiser Wilhelm? Er liebt sie noch heute als ein teures Angedenken
an seine erhabene Mutter. H. Weber.
54. Andreas Hofer.
(20. Febr. 1810.)
1. Zu Mantua in Banden
der treue Hofer war,
in Mantua zum Tode
führt ihn der Feinde Schar;
es blutete der Brüder Herz,
ganz Deutschland, ach, in Schmach und
Mit ihm das Land Tirol! (Schmerz!
2. Die Hände auf dem Rücken
Andreas Hofer ging
mit ruhig festen Schritten,
ihm schien der Tod gering;
der Tod, den er so manchesmal
vom Jselberg geschickt ins Thal
im heil'gen Land Tirol.
3. Doch als aus Kerkergittern
im festen Mantua
die treuen Waffenbrüder
die Hand' er strecken sah,
da rief er aus: „Gott sei mit euch,
mit dem verrat'nen deutschen Reich
und mit dem Land Tirol!"
4. Dem Tambour will der Wirbel
nicht unterm Schlägel vor,
als nun Andreas Hofer
schritt durch das finstre Thor.
Der Sandwirt, noch in Banden frei,
dort stand er fest auf der Bastei,
der Mann vom Land Tirol.
5. Dort soll er niederknieen;
er sprach: „Das thu' ich nit;
will sterben, wie ich stehe,
will sterben, wie Ich stritt,
so wie ich steh' auf dieser Schanz;
es leb' mein guter Kaiser Franz,
mit ihm sein Land Tirol!"
6. Und von der Hand die Binde
nimmt ihm der Korporal,
Andreas Hofer betet
allhier zum letzten Mal;
dann ruft er: „Nun, so trefft mich recht!
Gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr
Ade, mein Land Tirol!" (schlecht!
v. Mosen.
55. Die Rückkehr der Franzosen ans Rußland.
In den ersten Tagen des Jahres 1813 fielen die Schneeflocken; weiß
wie ein Leichentuch war die Landschaft. Da bewegte sich ein langsamer
Zug geräuschlos auf der Landstraße zu den ersten Häusern der Vorstadt.
Das waren die zurückkehrenden Franzosen. Sie waren vor einem Jahre
der aufgehenden Sonne zugezogen mit Trompetenklang und Trommelgerassel,
in kriegerischem Glanze und mit empörendem Übermute. Endlos waren die
Truppenzüge gewesen, Tag für Tag ohne Aufhören hatte sich die Masse
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durch die Straßen der Stadt gewälzt, nie hatten die Leute ein so ungeheures
Heer gesehen, alle Völker Europas, jede Art von Uniformen, Hunderte von
Generälen. Die Riesenmacht des Kaisers war tief m die Seelen gedrückt,
das kriegerische Schauspiel mit seinem Glanze und seinen Schrecken füllte
noch die Phantasie.
Aber auch einem furchtbaren Verhängnis sah man entgegen. Einen
Monat hatte der endlose Durchzug gedauert, wie Heuschrecken hatten die
Fremden von Kolberg bis Breslau das Land ausgezehrt. Denn schon im
Jahre 1811 war eine Mißernte gewesen, kaum hatten die Landleute Samen-
hafer erspart; den fraßen 1812 die französischen Kriegspferde; sie fraßen
den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh, die Dörfer mußten das Schock
Häckselstroh mit 18 Thalern, den Centner Heu mit 2 Thalern bezahlen.
Und gröblich, wie die Tiere, verzehrten die Menschen. Vom Marschall bis
zum gemeinen Franzosen waren sie nicht zu sättigen. König Hieronymus
hatte in Glogan, keiner großen Stadt, täglich 400 Thaler zu seinem Unter-
halte erpreßt. Die Offiziere hatten von der Frau des armen Dorfgeistlichen
gefordert, daß sie ihnen die Schinken in Rotwein koche; den fettesten Rahm
tranken sie aus Krügen, auch der Gemeine bis zum Trommler hatte getobt,
wenn er des Mittags nicht 2 Gänge erhielt; wie Wahnsinnige hatten sie
gegessen.
Schon damals indes ahnten das Volk und die Franzosen selbst, daß
sie so nicht zurückkehren würden. —
Aber, was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im Volke
geträumt hatte. Es war eine Herde armer Sünder, die ihren letzten Gang
angetreten hatten, es waren wandelnde Leichen. Ungeordnete Haufen aus
allen Truppengattungen und Nationen zusammengesetzt, ohne Kommandoruf
und Trommel, lautlos wie ein Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren
unbewaffnet, keiner beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung
zerlumpt und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer
Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und Schultern ge-
hängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte zu haben: alte Säcke,
zerrissene Pferdedecken, Teppiche, Häute von Katzen und Hunden. Man sah
Grenadiere in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke wie spanische
Mämel trugen. Nur wenige hatten Helm oder Tschako, jede Art Kopftracht
trugen sie, bunte und weiße Nachtmützen, wie sie der Bauer hatte, tief in
das Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein Stück Pelz zum Schutz der Ohren
darüber geknüpft, Tücher auch über dem untern Teile des Gesichts. Und
doch waren der Mehrzahl Ohren und Nasen erfroren und feuerrot, er-
loschen lagen die dunkeln Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer
Schuh oder Stiesel, glücklich war, wer in Filzsocken oder Pelzschuhen den
elenden Marsch machen konnte. Vielen waren die Füße mit Stroh um-
wickelt, mit Decken, Lappen, dem Felle der Tornister oder dem Filze von
alten Hüten. Alle wankten, auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch
die Garden unterschieden sich von den übrigen wenig, ihre Mäntel waren
verbrannt, nur die Bärenmützen gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen.
So schlichen sie daher, Offiziere und Soldaten durch einander mit gesenktem
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Haupte, in dumpfer Betäubung. Alle waren durch Hunger und Frost und
unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden.
Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstraße heran, in der Regel,
sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel über den Häusern
lag. Schrecklich war das lautlose Erscheinen der Franzosen, entsetzlich waren
die Leiden, welche sie mit sich brachten; die Kälte in ihren Leibern sei nicht
fortzubringen, ihr Heißhunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk.
Wurden sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten sie mit Gewalt an
den warmen Ofen, als wollten sie hineinkriechen, vergebens mühten sich
mitleidige Hausfrauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten.
Gierig verschlangen sie das trockene Brot, einzelne vermochten nicht aufzu-
hören, bis sie starben. Bis nach der Schlacht von Leipzig lebte im Volke
der Glaube, daß sie mit ewigem Hunger vom Himmel gestraft seien. Noch
dort geschah es, daß Gefangene in der Nähe des Lazaretts sich die Stücke
toter Pferde brieten, obwohl sie bereits regelmäßige Kost erhielten; doch
damals behaupteten die Bürger, das sei ein Hunger von Gott, einst hätten
sie die schönsten Weizengarben ins Lagerfeuer geworfen, hätten gutes Brot
ausgehöhlt und auf dem Boden gekollert, jetzt seien sie verdammt, durch
keine Menschenkost gesättigt zu werden. —
Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heimkehrenden
Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle Krankenstuben überfüllt, giftige
Fieber verzehrten dort die letzte Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt
sind die Leichen, welche dort herausgetragen wurden, auch der Bürger
mochte sich hüten, daß die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von
den Fremden vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe müde und
hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Straße aber sangen:
„Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd, Flüchtling ohne Schuh, nirgends
Rast und Ruh. So hat sie Gott geschlageu mit Mann und Roß und
Wagen!" und hinter ihnen gellte der höhnende Ruf: „Die Kosaken sind da!"
Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens, und schneller
wankten sie znm Thore hinaus. G. Freytag.
56. Das Franzosenheer.
1. Mit Mann und Roh und Wagen,
so Hat sie Gott geschlagen.
Es irrt durch Schnee und Wald umher
das grotze, màcht'ge Franzenheer;
der Kaiser auf der Flucht,
Soldaten ohne Zucht.
2. Mit Mann und Roh und Wagen,
so Hat sie Gott geschlagen;
Jager ohne Gewehr,
Kaiser ohne Heer,
Heer ohne Kaiser,
Wildnis ohne Weiser.
3. Mit Mann und Roß und Wagen,
so hat sie Gott geschlagen;
Trommler ohne Trommelstock,
Kürassier im Weiberrock,
Ritter ohne Schwert,
Reiter ohne Pferd.
4. Mit Mann und Roß und Wagen,
so hat sie Gott geschlagen;
Fähnrich ohne Fahrü,
Flinten ohne Hahn,
Büchsen ohne Schuß,
Fußvolk ohne Fuß.
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5. Mit Mann und Roß und Wagen,
so hat sie Gott geschlagen;
Feldherr'n ohne Witz,
Stückleut' ohn' Geschütz,
Flüchter ohne Schuh,
nirgends Rast und Ruh.
6. Mit Mann und Roß und Wagen,
so hat sie Gott geschlagen;
Speicher ohne Brot,
aller Orten Not,
Wagen ohne Rad,
alles müd' und matt,
Kranke ohne Wagen;
so hat sie Gott geschlagen.
Arndt.
57. An mein Volk.
So wenig für mein treues Volk, als für Deutsche bedarf es einer
Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt beginnt; klar liegen
sie dem unverblendeten Europa vor Augen. Wir erlagen unter der Über-
macht Frankreichs. Der Friede, der die Hälfte meiner Unterthanen mir
entriß, gab uns seine Segnungen nicht, denn er schlug uns tiefere Wunden
als selbst der Krieg. Das Mark des Landes ward ausgesogen. Die Haupt-
festungen blieben vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt, so wie
der sonst so hoch gebrachte Kunstfleiß unserer Städte. Die Freiheit des
Handels war gehemmt, und dadurch die Quelle des Erwerbes und des
Wohlstandes verstopft. Das Land ward ein Raub der Verarmung. Durch
die strengste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte ich meinem
Volke Erleichterung zu schaffen und den französischen Kaiser endlich zu
überzeugen, daß es sein eigener Vorteil sei, Preußen seine Unabhängigkeit
zu lassen. Aber meine reinsten Absichten wurden durch Übermut und
Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen wir, daß des Kaisers Ver-
träge mehr noch wie seine Kriege uns langsam verderben mußten. Jetzt
ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern Zustand schwindet.
Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Lithauer! Ihr wißt, was
ihr seit sieben Jahren erduldet habt; ihr wißt, was euer trauriges Los ist,
wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an
die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, an den großen Friedrich! Bleibet
eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig erkämpften:
Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft!
Gedenkt des großen Beispiels unserer mächtigen Verbündeten, gedenkt der
Spanier und der Portugiesen; selbst kleine Völker sind für gleiche Güter
gegen mächtigere Feinde in den Kampf gezogen und haben den Sieg errungen;
erinnert euch an die heldenmütigen Schweizer und Niederländer! Große
Opfer werden von allen Ständen gefordert werden, denn unser Beginnen
ist groß, und nicht gering die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Ihr
werdet jene lieber bringen für das Vaterland, für euren angeborenen König,
als für einen fremden Herrscher, der, wie so viele Beispiele lehren, eure
Söhne und eure letzten Kräfte Zwecken widmen würde, die euch ganz fremd
sind. Vertrauen auf Gott, Ausdauer, Mut und der mächtige Beistand
unserer Bundesgenossen werden unseren redlichen Anstrengungen siegreichen
Lohn gewähren. Aber welche Opfer auch von einzelnen gefordert werden
mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben,
für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen,
Preußen und Deutsche zu sein. Es ist der letzte entscheidende Kampf, den
wir bestehen für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unseren Wohlstand.
Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen ehrenvollen Frieden oder einen
ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet ihr getrost entgegen gehen,
weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben vermag. Allein wir dürfen mit
Zuversicht vertrauen. Gott und unser fester Wille werden unserer gerechten
Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sichern, glorreichen Frieden und
die Wiederkehr einer glücklichen Zeit.
Breslau, den 17. März 1813. Friedrich Wilhelm (III.)
Hippel.
58. Das preußische Volk im Jahre 1813.
Von Memel bis Demmin, von Kolberg bis Glatz war in dem unver-
geßlichen Frühlinge und Sommer des Jahres 1813 unter den Preußen
nur eine Stimme, ein Gefühl, ein Zorn und eine Liebe, das Vaterland
zu retten, Deutschland zu befreien und den französischen Übermut einzu-
schränken. Krieg wollten die Preußen, Gefahr und Tod wollten sie, den
Frieden fürchteten sie, weil sie von Napoleon keinen ehrenvollen preußischen
Frieden hoffen konnten. „Krieg, Krieg!" schallte es von den Karpathen
bis zur Ostsee, von dem Niemen bis zur Elbe; „Krieg!" rief der Edelmann
und Landbesitzer, der verarmt war; „Krieg!" der Bauer, der sein letztes
Pferd unter Vorspann und Fuhren tot trieb; „Krieg!" der Bürger, den
die Einquartierungen und Abgaben erschöpften; „Krieg!" der Tagelöhner,
der keine Arbeit finden konnte; „Krieg!" die Witwe, die ihren einzigen
Sohn in das Feld schickte; „Krieg!" die Braut, die den Bräutigam zugleich
mit Thränen des Stolzes und des Schmerzes entließ. Jünglinge, die kaum
wehrhaft waren, Männer mit grauen Haaren und wankenden Knieen,
Offiziere, die wegen Wunden und Verstümmelungen lange ehrenvoll entlassen
waren, reiche Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahlreicher Familien und
Verwalter weitläufiger Geschäfte, in Hinsicht jedes Kriegsdienstes entschuldigt,
wollten sich selbst nicht entschuldigen; ja, sogar Jungfrauen unter mancher-
lei Verstellungen und Verladungen drängten sich zu den Waffen. Alle wollten
sich üben, rüsten und für das Vaterland streiten und sterben. Preußen war
wieder das Sparta geworden, als welches seine Dichter es einst besangen;
jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dorf schallte von Kriegslust und Kriegs-
musik und war in einen Übungs- und Waffenplatz verwandelt; jede Feuer-
esse war eine Waffenschmiede. Das war das Schönste bei diesem heiligen
Eifer und fröhlichen Gewimmel, daß alle Unterschiede von Ständen und
Klassen, von Altern und Stufen vergessen und aufgehoben waren; daß
jeder sich demütigte und hingab zu dem Geschäfte und Dienste, wo er der
Brauchbarste war; daß das eine große Gefühl des Vaterlandes und seiner
Freiheit und Ehre alle andern Gefühle verschlang, alle andern sonst erlaubten
Rücksichten und löblichen Verhältnisse aufhob. Die Menschen fühlten es,
sie waren gleich geworden durch das lange Unglück, sie wollten auch gleich
sein im Dienste und im Gehorsam. Und so sehr erhob die heilige Pflicht
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und das gemeinsame Streben, wovon sie beseelt waren, alle Herzen, daß
das Niedrige, Gemeine und Wilde, deut in getümmelvollen Zeiten der
Bewaffnungen und Kriege eine so weite Bahn geöffnet ist, nicht aufkommen
konnte. Die heilige Begeisterung dieser unvergeßlichen Tage ist durch keine
Ausschweifung und Wildheit entweiht worden; es war, als fühlte auch der
Kleinste, daß er ein Spiegel der Sittlichkeit, Bescheidenheit und Rechtlichkeit
sein müsse, wenn er den Übermut, die Unzucht und Prahlerei besiegen
wollte, die er an den Franzosen so sehr verabscheut hatte. Was die Männer
so unmittelbar unter den Waffen und für die Waffen thaten, das that das
zartere Geschlecht der Frauen durch stille Gebete, brünstige Ermahnungen,
fromme Arbeiten, menschliche Sorgen und Mühen für die Ausziehenden,
Kranken und Verwundeten. Wer kann die unzähligen Opfer und Gaben
jener Zeit zählen, die zum Teil unter den rührendsten Umständen dargebracht
worden sind? Wer kann die dem Vaterlande ewig teuren Namen der Frauen
und Jungfrauen aufrechnen, welche in einzelnen Wohnungen oder in Kranken-
häusern die Nackenden gekleidet, die Hungrigen gespeist, die Kranken gepflegt
und die Verwundeten verbunden haben? So geschah es von einem Ende
des Reichs bis zum andern, doch gebührte Berlin der Vorrang; diese Stadt
hat bewiesen, daß sie verdient, der Sitz ihrer Herrscher zu sein. Freue dich
deiner Ehren, wackre Stadt! Die alten Unbilden sind vergessen. Ruhm
und Glück werden wieder ihren Wohnsitz bei dir aufschlagen. Ich sage nur
das eine: Es war plötzlich, wie durch ein Wunder Gottes, ein großes
und würdiges Volk erstanden.
So hat das preußische Volk sich offenbart; so sind die Wunder, die
uns Deutschen vom Guadalquivir und Ebro, vom Dniepr und von der
Düna verkündigt wurden, auch bei uns erneuert; so ist Gott und Gottes
Kraft und eine Begeisterung, die wir nicht begreifen können, auch unter uns
erschienen. Die Preußen hatten Fehrbellin und Hochstädt, Turin und
Malplaquet, sie hatten die Tage von Roßbach und Leuthen, die Schlachten
von Torgau und Zorndorf — sie haben nie Tage gehabt, wie die von
Groß-Görschen und von der Katzbach, von Dennewitz und von Leipzig; denn
sie haben nie vorher weder mit einem so großen Geiste, noch für eine so
große Sache das Schwert gezogen. Daß wir jetzt frei atmen, daß wir
fröhlich zu den Sternen blicken und Gott anbeten, daß wir unsere Kinder
wieder mit Freuden ansehen können, als die da künftig freie Männer sein
werden: das danken wir nächst Gott diesen Beginnern der deutschen Herr-
lichkeit; sie sind uns übrigen Deutschen, wie verschiedene Namen wir auch
führen mögen, die glorrreichen Vertreter und das erste Beispiel der Freiheit
und Ehre geworden. Arndt.
59. Lützows wilde Jagd.
1. Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein,
hör's näher und näher brausen?
Es zieht sich herunter in düstern Reih'n
und gellende Hörner schallen darein
und erfüllen die Seele mit Grausen.
Das Vaterland.
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Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
2. Was zieht dort rasch dnrch den finstern Wald
und streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt;
das Hurra jauchzt und die Büchse knallt,
es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
3. Wo die Reben dort glühen, dort braust der Rhein,
der Wütrich geborgen sich meinte;
da naht es schnell mit Gewitterschein
und wirft sich mit rüstigen Armen hinein
und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
4. Was braust dort im Thale die laute Schlacht,
was schlagen die Schwerter zusammen?
Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht,
und der Funke der Freiheit ist glühend erwacht
und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
5. Wer scheidet dort röchelnd vom Sonnenlicht,
unter winselnde Feinde gebettet?
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht,
doch die wackern Herzen erzittern nicht;
das Vaterland ist ja gerettet!
Und wenn ihr die schwarzen Gefall'nen fragt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
6. Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
auf Henkersblut und Tyrannen! —
Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt;
das Land ist ja frei und der Morgen tagt,
wenn wir's auch nur sterbend gewannen!
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
Theodor Körner.
60. Theodor Körner
Bei Wöbbelin im freien Feld,
auf Mecklenburger Grunde,
da ruht ein jugendlicher Held
an seiner Todeswunde.
Er war mit Lützows wilder Jagd
wohl in die Schlacht gezogen;
da hat er frisch und unverzagt
die Freiheit eingesogen.
Was ihm erfüllt die Heldenbrust,
das hat er uns gesungen,
daß Todesmut und Siegeslust
in unser Herz gedrungen.
99
Und wo er sang zu seinem Troß,
zu seinen schwarzen Rittern,
das Volk stand auf, der Sturm brach los
in tausend Ungewittern.
So sind die Leier und das Schwert,
bekränzt mit grünen Eichen,
dem Krieger wie dem Sänger wert,
ein teures Siegeszeichen.
Wenn uns beim Wein dein Lied erklingt,
wenn an den Wehrgehenken
die Helle Eisenbraut uns winkt,
wir werden dein gedenken.
Förster.
61. Der Trompeter an der Katzbach.
1. Von Wunden ganz bedecket
der Trompeter sterbend ruht,
an der Katzbach hingestrecket,
der Brust entströmt das Blut.
2. Brennt auch die Todeswnnde,
doch sterben kann er nicht,
bis neue Siegeskunde
zu seinen Ohren bricht.
3. Und wie er schmerzlich ringet
in Todesängsten bang,
zu ihm herüber dringet
ein wohlbekannter Klang.
4. Das hebt ihn von der Erde!
Er streckt sich starr und wild —
dort sitzt er auf dem Pferde,
als wie ein steinern Bild.
5. Und die Trompete schmettert —
fest hält sie seine Hand —
und wie ein Donner wettert
Viktoria in das Land.
6. Viktoria! — so klang es,
Viktoria! — überall,
Viktoria! — so drang es
hervor mit Donnerschall.
7. Doch als es ausgeklungen,
die Trompete setzt er ab;
das Herz ist ihm zersprungen,
vom Roß stürzt' er herab.
8. Um ihn herum im Kreise
hielt's ganze Regiment.
Der Feldmarschall sprach leise:
„Das heißt ein selig End'!"
Mosen.
62. Die Leipziger Schlacht.
1. „Wo kommst du her in dem roten Kleid
und färbst das Gras auf dem grünen Plan?"
Ich komme her aus dem Männerstreit,
ich komme rot von der Ehrenbahn.
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
drob müssen die Mütter und Bräute klagen;
da ward ich so rot.
2. „Sag' an, Gesell, und verkünde mir,
wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht?"
Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
das manches Auge voll Thränen macht;
da flogen die Kugeln wie Winterflocken,
und Tausenden mußte der Atem stocken
bei Leipzig, der Stadt.
3. „Wie heißen, die zogen ins Todesfeld,
und ließen fliegende Banner aus?"
Die Völker kamen der ganzen Welt
und zogen gegen Franzosen aus,
7*
100
die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen,
und die nach dem Kaiser von Österreich heißen,
die zogen all' aus.
4. „Wem ward der Sieg in dem harten Streit?
Wer griff den Preis mit der Eisenhand?"
Die Welschen hat Gott wie Spreu zerstreut,
die Welschen hat Gott verweht wie den Sand;
viel Tausende decken den grünen Rasen;
die übrig geblieben, entflohen wie Hasen,
Napoleon mit.
5. „Nimm Gottes Lohn! Habe Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut!
Das klang wie englische Zimbeln hell!
Hab' Dank der Mär' von dem blutigen Streit!
Laß Witwen und Bräute die Toten klagen,
wir singen noch fröhlich in späten Tagen
die Leipziger Schlacht."
6. O Leipzig, du freundliche Lindenstadt,
dir ward ein leuchtendes Ehrenmahl!
So lange rollet der Zeiten Rad,
so lange scheinet der Sonnenstrahl,
so lange die Ströme zum Meere reisen,
wird noch der späteste Enkel preisen
die Leipziger Schlacht.
7. O Leipzig! gastlich versammelst du
aus allen Enden der Völker Schar!
Auf! ruf's dem Osten und Westen zu,
daß Gott der Helfer der Freiheit war,
daß Gott der Tyrannen Gewalt zerstoben,
damit sie im Osten und Westen loben
die Leipziger Schlacht! E. M. Arndt.
63. Die drei
1. Es waren drei Gesellen,
die stritten widern Feind,
und thäten stets sich stellen
in jedem Kampf vereint.
Der ein' ein Österreicher,
der andr' ein Preuße hieß,
davon sein Land mit gleicher
Gewalt ein jeder pries.
Woher war denn der dritte?
Nicht her von Öst'rreichs Flur,
auch nicht von Preußens Sitte,
von Deutschland war er nur.
Gesellen.
2. Und als die drei einst wieder
standen im Kampf vereint,
da warf in ihre Glieder
Kartätschensaat der Feind.
Da fielen alle dreie
aus einen Schlag zugleich;
der eine rief mit Schreie:
„Hoch lebe Österreich!"
Der andre, sich entfärbend,
rief: „Preußen lebe hoch!"
Der dritte, ruhig sterbend,
was rief der dritte doch?
101
3. Er rief: „Deutschland soll leben!
Da hörten es die zwei,
wie rechts und links daneben
sie sanken nah dabei.
Da richteten im Sinken
sich beide nach ihm hin,
zur Rechten und zur Linken,
und lehnten sich an ihn.
Da rief der in der Mitten
noch einmal: „Deutschland hoch!"
Und beide mit dem dritten
riefen's, und lauter noch.
4. Da ging ein Todesengel
im Kampfgewühl vorbei,
mit einenr Palmenstengel,
und liegen sah die drei.
Er sah auf ihrem Munde
die Spur des Wortes noch,
wie sie im Todesbunde
gerufen: „Deutschland hoch!"
Da schlug er seine Flügel
um alle drei zugleich
und trug zum höchsten Hügel
sie auf in Gottes Reich.
Rückert.
64. Blücher am Rhein.
Die Heere blieben am Rheine steh'n.
Soll man hinein nach Frankreich geh'n?
Man dachte hin und wieder nach,
allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Rach Frankreich geh'n ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?" — „Der Feind?
Dahier!"
„Den Finger drauf, den schlagen wir!
Wo liegt Paris?" — „Paris? Dahier!"
„Den Finger drauf, das nehmen wir!
Nun schlagt die Brücken übern Rhein!
Ich denke, der Champagner-Wein
wird, wo er wächst, am besten sein!
Vorwärts!"
Kopisch.
65. Blüchers Marsch nach Waterloo.
Napoleon entwickelte unaufhörlich neue Streitkräfte, sein Geschütz wirkte
verheerend, seine Truppen rückten entbrannt zu neuen Angriffen vor: die
Kräfte Wellingtons erschöpften sich. Es war hohe Zeit, daß Blücher auf
dem Kampfplatze erschien; doch zeigte sich von ihm noch keine Spur, und die
Lage der Dinge wurde jeden Augenblick bedenklicher.
Blücher war seinem Versprechen gemäß am 18. Juni früh morgens
von Wavre in zwei Heerzügen aufgebrochen; der eine, den Heerteil von
Zielen begreifend, zog rechts über Froman aus Ohain, dem linken Flügel
Wellingtons zu; der andere, aus den Heeresteilen von Pirch und Bülow
bestehend, ging links über Neus-Cabarets und St. Lambert dem rechten
Flügel Napoleons in Seite und Rücken; der dritte Heeresteil unter Thiel-
mann sollte bei Wavre stehen bleiben und nur, wenn dort kein Feind erschiene,
den übrigen als Unterstützung nachrücken. Blücher hatte am 17. an den
Folgen eines Sturzes mit dem Pferde im Bette zubringen müssen, und am
18. in der Frühe, als er unmittelbar aus dem Bette wieder aufs Pferd
sollte, um mit seinen Truppen zur neuen Schlacht auszurücken, war man
für den übel zugerichteten Greis nicht ohne Sorgen; der Wundarzt wollte
ihn zu guterletzt einreiben. Blücher aber versetzte, als er die Anstalten
sah: „Ach, was noch erst schmieren! Laßt nur sein; ob ich heute balsamiert
oder unbalsamiert in die andere Welt gehe, wird auf eins herauskommen."
Er erhob sich, ließ sich ankleiden und setzte sich wohlgemut zu Pferde,
obgleich ihm bei jeder Bewegung die gequetschten Glieder schmerzten. Als
er sah, wie stark es geregnet hatte, und daß es noch immer fortregnen werde.
102
sagte er: „Das sind unsere Alliierten von der Katzbach, da sparen wir dem
Könige wieder viel Pulver." — Blücher begab sich an die Spitze des Heeres-
teils von Bülow, der voranzog und zuerst an den Feind kommen mußte.
Er that alles, um den Marsch zu beschleunigen; allein schon gleich anfangs
wurde derselbe durch ein zufälliges Hindernis unerwartet aufgehalten: in
Wavre entstand eine Feuersbrunst, welche die Hauptstraße sperrte und die
Truppen zu Umwegen nötigte, wodurch ein beträchtlicher Zeitverlust entstand.
Weiterhin wurde es noch schlimmer; der unaufhörliche Regen hatte den
Boden ganz durchweicht, die Bäche geschwellt, jede kleinste Vertiefung mit
Wasser gefüllt. Die schmalen Wege durch Wald und Gebüsch nötigten zu
häufigem Abbrechen der Glieder. Das Fußvolk und die Reiterei kamen mit
Mühe fort, das Geschütz machte unsägliche Beschwer; der Zug rückte zwar
immer vor, aber mit solcher Langsamkeit, daß zu befürchten war, er werde
zur Schlacht viel zu spät eintreffen und weit über den Zeitpunkt hinaus,
in welchem er für Wellington noch die versprochene Hilfe sein könne.
Offiziere kamen und brachten Nachrichten von dem Gange der Schlacht, von
Napoleons übermächtigem Andränge, und wie sehr die Ankunft der Preußen
ersehnt werde. Blücher in heftigen Sorgen, sein gegebenes Wort nicht zu
lösen, rief sein: „Vorwärts, Kinder, vorwärts!" anfeuernd in die Reihen
der Truppen, überall fördernd stogen seine Blicke und Worte umher; wo
ein Hindernis entstand, wo eine Stockung sich zeigte, war er sogleich gegen-
wärtig; doch alle Anstrengung gab noch immer nur geringe Aussicht, zu
rechter Zeit anzulangen. Neuerdings trieb er zu verdoppelter Eile an; die
Truppen erlagen fast den Mühseligkeiten; aus dem Gemurmel der in
103
Schlamm und durch Pfützen Fortarbeitenden klang es hervor, es ginge nicht,
es sei unmöglich. Da redete Blücher mit tiefer Bewegung und Kraft seine
Krieger an: „Kinder, wir müssen vorwärts! Es heißt wohl, es geht nicht,
aber es muß gehen, ich habe es ja meinem Bruder Wellington versprochen!
Ich habe es versprochen, hört ihr wohl? Ihr wollt doch nicht, daß ich
wortbrüchig werden soll?" — Und so ging es denn mit allen Waffen unauf-
haltsam vorwärts. Varnhagen von Ense.
66. Der deutsche Mann.
1. Wer ist ein Mann?
Der beten kann
und Gott dem Herrn vertraut.
Wenn alles bricht,
er zaget nicht:
dem Frommen nimmer graut.
2. Wer ist ein Mann?
Der glauben kann
inbrünstig, wahr und frei;
denn diese Wehr
trügt nimmermehr,
die bricht kein Mensch entzwei.
3. Wer ist ein Mann?
Der lieben kann,
von Herzen ftomm und warm;
die heil'ge Glut
giebt hohen Mut
und stärkt mit Stahl den Arm.
4. Dies ist der Mann,
der streiten kann
für Weib und liebes Kind;
der kalten Brust
fehlt Kraft und Lust,
und ihre That wird Wind.
5. Dies ist der Mann,
der sterben kann
für Freiheit, Pflicht und Recht;
dem frommen Mut
deucht alles gut,
es geht ihm nimmer schlecht.
6. Dies ist der Mann,
der sterben kann
für Gott und Vaterland;
er läßt nicht ab
bis an das Grab
mit Herz und Mund und Hand.
7. So, deutscher Mann,
so, freier Mann,
mit Gott dem Herrn zum Krieg!
Denn Gott allein
mag Helfer sein,
von Gott kommt Glück und Sieg.
E. M. Arndt.
12. Deutschlands Mückkehr zur Einheit,
Einigkeit und Wacht.
67. Des Deutschen Vaterland.
1. Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Preußenland? Jst's Schwabenland?
Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht?
Jst's, wo am Belt die Möve zieht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
2. Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Bayerland? Jst's Steierland?
Jst's, wo des Marsen Rind sich streckt?
Jst's, wo der Märker Eisen reckt?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
104
und Gott im Himmel Lieder singt.
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
7. Das ist des Deutschen Vaterland,
wo Eide schwört der Druck der Hand,
wo Treue hell vom Auge blitzt
und Liebe warm im Herzen sitzt.
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
8. Das ist des Deutschen Vaterland,
wo Zorn vertilgt den welschen Tand,
wo jeder Frevler heißet Feind,
wo jeder Edle heißet Freund.
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
9. Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott, vom Himmel sieh darein
und gieb uns rechten deutschen Mut;
daß wir es lieben treu und gut.
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
Arndt.
68. Von Ems nach Berlin.
(1870.)
Tiefer Friede ruhte über der Welt. Auch der lang hinausgesponnene
Kampf des Winters mit dem Sommer war beendet, und der warme Sonnen-
schein war zur Herrschaft gekommen. Die Eisenbahnzüge füllten sich täglich
mehr mit fröhlich den Städten entfliehenden Reifenden; Kranke und Ange-
griffene eilten hoffnungsvoll in die Bäder, in die Berge, an die See.
Auch das alte Bad Ems hatte sich neu belebt durch zahlreichen Zuzug
aus allen Teilen der Erde. In deni waldigen, bergumschloffenen Thale,
wo die Lahn ihre klare Flut rheinwärts rollt, umschwirrten die verschieden-
sten Sprachen die warmsprudelnden Heilquellen, und vornehme Herren und
Damen ergingen sich in den daran grenzenden Anlagen.
Seit einigen Wochen ragte eine hohe und mächtige Gestalt um Hauptes-
länge hervor: ein Greis mit silberweißem Haar und Bart, aber jugend-
frisch noch in feinem Schritt und in seiner ganzen Erscheinung. Meist in
einfacher, schwarzer Kleidung erscheinend, verriet doch feine feste, stramme
Haltung auf den ersten Blick den Soldaten; ein schärferes Auge entdeckte
unter dem einfachen und leutseligen Wesen des alten Herrn den hochge-
borenen Fürsten.
Es ist ein König, der alljährlich nach dem anstrengenden, arbeitsvollen
Winter in Ems einige Wochen sich Erholung gönnt, obgleich er auch hier
noch täglich stundenlang mit seinen Räten arbeitet. In dem warmen
Sprudel, welcher hier heilkräftig der Thalsole entquillt, will er sich erfrischen
und stärken zu neuer Arbeit. Die Bewohner des Städtchens, wie seine
regelmäßigen Besucher, freuen sich jedesmal über feine Ankunft; jedermann
hat ihn lieb wie einen alten Freund.
3. Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Pommernland? Westfalenland?
Jst's, wo der Sand der Dünen weht?
Jst's, wo die Donau brausend geht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
4. Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Jst's Land der Schweizer? Jst's Tirol?
Das Land und Volk gefiel mir wohl.
Doch nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
5. Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das, große Land!
Gewiß ist es das Österreich,
an Ehren und an Siegen reich?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
6. Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne endlich mir das Land! —
So weit die deutscheZunge klingt
105
Vor allem ist er gern gesehen bei der Kinderwelt zu Ems. Wie denken
sich doch die Kleinen einen König so ganz anders, ehe sie einen echten und
wirklichen gesehen! Dieser trägt keine goldene Krone und keinen Purpur-
mantel, ja nicht einmal Scepter und Reichsapfel, wie sie's in den Bilder-
büchern gesehen; er hat meist nur ein Stückchen in der einen, eine Cigarre
in der andern Hand, gerade wie Papa, und er trägt gewöhnlich einen Hut
und einen schwarzen Rock mit weißer Weste, gerade wie Onkel; doch wenn
er auch im Militärrocke und mit der Soldatenmütze spazieren geht, sieht er
so freundlich und zutrauenerweckend aus, daß sich keines vor ihm fürchtet.
Und wenn eins ihm die Hand giebt, trotz Mamas Verbot, so schilt er nicht,
sondern lächelt und schüttelt das Händchen ganz herzlich.
So faßt sich denn einmal ein Emser Bub ein Herz, läuft plötzlich aus
den alten Herrn zu, umspannt seine Kniee und ruft: „Bist du wirklich der
König Wilhelm?" — „Ja, ich denke, kleiner Mann", lautet die Antwort;
„und wie heißt denn du, und was willst du werden?" — „Ich heiße auch
Wilhelm, und Soldat will ich werden", ruft der Kleine freudestrahlend,
„aber weißt du, König Wilhelm, einer von denen mit den roten Aufschlägen
itnb den weißen Federbüschen, damit ich auch meine Uniform brauchen
kann." „Gott segne dich, mein Junge", erwidert der König, „und wenn
du einmal groß wirst, dann sag' meinem Sohne Fritz, du wolltest unter
die Soldaten mit den roten Aufschlägen und weißen Federbüschen, der alte
König Wilhelm habe dir's erlaubt." Und glücklich springt der Bursch da-
von, um Mama ganz brühwarm die denkwürdige Begegnung zu berichten.
Die kleinen Mädchen von Ems haben natürlich nicht solche kriegerische
Wünsche und begegnen in ihrer angeborenen Schüchternheit ihm weniger
keck. Indessen kommt es doch auch vor, daß eines oder das andere sich
ganz in die Nähe hin wagt, namentlich, wenn er auf eiuer Bank der An-
lagen sitzt, wo er nicht so groß aussieht; ja zuweilen rollt selbst ein Spiel-
ball ganz dicht an seine Füße. Die Angehörigen des Kindes und andere
Kurgäste blicken etwas verlegen auf die Scene, der König aber, feine Unter-
haltung unterbrechend, winkt dem zaghaften Kinde, seinen Ball sich zurück-
zuholen oder wirft ihn demselben freundlich selbst hin.
Nur wenige Wochen sollte dieses friedliche Stillleben dauern. Wie ein
Blitz aus heiterem Himmel fielen in dasselbe die Berichte von den leiden-
schaftlich aufbegehrenden Reden in Frankreichs Hauptstadt. Das glatte
Gesicht des französischen Unterhändlers, der plötzlich im Bade auftaucht,
scheint freilich keinen Sturm zu künden; aber so oft es sich dem geraden,
deutschen Antlitz des Königs genaht, läßt sie darauf Spuren der unmutigen
Bewegung zurück.
Immer rücksichtsloser wird die aus Paris ertönende Sprache, in so feine
Redensarten sie auch der gewandte Botschafter zu kleiden weiß; immer
weiter gehen die Forderungen, mit denen man den friedlich seiner Kur leben-
den Fürsten stört.
Von der Promenade zurückgekehrt, ging der König in seinem Gemache
erregt mit großen Schritten auf und ab. Vor seiner Seele lebten die
Erinnerungen der alten Zeit wieder auf. Dreiundsechzig Jahre zurück —
106
1807 am 1. Januar war der zehnjährige Prinz Wilhelm ins Heer getreten,
als seine Familie mit ihm flüchtig in Königsberg geweilt. Wenig fehlte
damals, und der übermütige Corse hätte das Wort gesprochen: „Das Haus
Hohenzollern hat aufgehört zu regieren!" Aber auf die Zeiten der Schmach
war die Erhebung gefolgt, 1813—1814. Als kaum siebzehnjähriger
Jüngling war der jetzt ergraute Mann damals an der Seite seines Vaters
mit nach Paris gezogen. Und jetzt — sollten die Zeiten sich erneuern?
Lange sinnend hatte der König so verweilt — jetzt richtete er das
Haupt still und langsam empor. „Gott, du bist mein Zeuge", ruft er,
„daß ich den Krieg nicht will; wenn sie mich aber dazu aufs neue zwingen,
dann werde ich ihnen zeigen, daß auch der dreiundsiebzigjährige Mann noch
vermag, was einst der siebzehnjährige Jüngling vollbracht!"
Es klopft an die Thür. Der eintretende Adjutant erbittet für Graf
Benedetti eine Audienz.
„Sagen Sie dem Grafen, ich hätte ihm nichts weiter mitzuteilen",
erwidert der König mit ruhiger Stimme.
Gleich darauf wird Frankreichs Gesandtschafter aus den Vorgemächern
des Monarchen gebührend hinauskomplimentiert. —
Der 15. Juli war angebrochen. Kurgäste und Emser Einwohner
standen zahlreich um das Kurhaus versammelt. Da erschien der König,
zur Reise in seine Residenz gerüstet. Ein begeistertes, nicht endenwollendes
Hochrufen begrüßt ihn; Blumen bedecken seinen Weg. Er erwidert —
Thränen der Rührung in den Augen — einige Worte und ruft den Ver-
sammelten zu: „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!" Die Equipage führt
ihn fort bis zum Bahnhöfe. Auch dort ein dreifaches Hoch, und fort braust
der Zug.
Und nun geht es den 84 Meilen langen Weg von Ems nach Berlin,
den der Dampfwagen in kaum einem Tage zurücklegt. Schweigsam lehnt
der König in dem Armstuhle seines Saloncoups, selten schweift sein Blick
hinaus auf die reichgesegneten Fluren seines Landes. Gar manche Sorge
lagert noch auf seinem Haupte. „Wie werden die Hessen, wie wird Han-
nover die neue Wendung der Dinge aufnehmen? Wird Süddeutschland fest
und unerschütterlich zu uns stehen?"
Da fährt der Zug in einen großen Bahnhof. Es ist Kassel. Der
Perron ist von Menschen überfüllt. Nicht nur die obersten Spitzen der
bürgerlichen und militärischen Behörden, Tausende von Bürgern aller Stände,
aller Parteien geleiten den Oberbürgermeister, um die von ihm überreichte
Ergebenheitsadresse mit herzlicher Zustimmung zu begleiten. Und niemand
weicht von dem Perron, bis der König mit seinem Gefolge im Wartesalon
sein Diner beendet hat. Als er heraustritt und wieder in den Wagen steigt,
erneuern sich die jubelnden Hochrufe, das Hüte- und Tücherschwenken. Mit
solcher Begeisterung und Liebe empfangen ihn die Hessen.
Tiefgerührt und bewegt winkt der Monarch wieder und wieder vom
Fenster seines Coups dem Publikum seinen Dank zu, und dann geht es
rasch vorwärts.
Es ist eine denkwürdige Reise. Die Liebe und Begeisterung des
107
Volkes, das auf allen Stationen, ja oft weite Strecken längs der Bahn,
in großen Scharen versammelt ist und ihm zuruft: „Auf nach Frankreich!
Auf nach Paris! Hoch König Wilhelm!" scheinen ihn mehr zu tragen als
die Flügel des Dampfes, die den Zug dahintreiben.
Der Empfang der Hannoveraner in Göttingen, der Braunschweiger in
Börsfum thun ihm ganz besonders wohl; er weiß jetzt, daß nun ein Sinn
in Norddeutschland herrscht, und er zweifelt nicht mehr, daß auch der Süden
denselben teilen werde. Und ist noch ein Rest von Sorge in seinem Herzen,
jetzt weicht er, als es in Brandenburg hineingeht. Sein ernstes Gesicht
heitert sich auf, als erseinen Sohn, den Kronprinzen erblickt, und als gleich
dahinter B i s m a r ck, M o l t k e und R o o n erscheinen; in ihrer Begleitung macht
er den letzten Teil seiner Reise.
Der blumen- und guirlandenbekränzte Potsdamer Bahnhof empfängt
den Zug in Berlin. Der Perron ist überfüllt — ein donnerndes Hurra,
untermischt mit dem Rufe: „Nieder mit Frankreich!" ertönt. Der König
steigt aus seinem Salonwagen, reicht dem greisen Wrangel seine Hand
und schreitet dann langsam, die Hände links und rechts reichend, nach
allen Seiten freundlich grüßend und von den Damen Blumensträuße ent-
gegennehmend, ins Wartezimmer.
Nach kurzem Verweilen besteigt der König seinen Wagen und fährt
langsam durch die dichtgedrängten, ihm zujubelnden Menschenmassen nach
feinem Palais. Orkanartig erdröhnt dort noch einmal ein hunderttausend-
stimmiges Hurra, der König richtet einige Worte des Dankes von der
Rampe an das Volk, dann tritt er in sein Palais.
Doch nicht lange wird dem von der anstrengenden Fahrt ermüdeten
Monarchen Ruhe gegönnt; die Volksmenge umsteht noch immer den Palast
und läßt nicht nach, bis er sich aufs neue am Fenster zeigt. Da entblößen
sich rasch alle Häupter, und aus vieltausendstimmigem Chor braust die
Nationalhymne zu ihm hinauf, männlich, gewaltig und doch oft vor innerer
Erregung und Mannesthränen zitternd. Der Feuergeist von 1813 leuchtet
aus dem Gesänge hervor.
Es ist 11 Uhr. Noch immer wogt das Volk auf und ab vor dem
Palaste. Da erscheint Moltke, der schweigsame Denker der Schlachten.
Stürmisches Willkommen wird ihm von allen Seiten zu teil, fast hebt
man ihn auf die Schultern, um ihn ins Palais zu tragen. Eine halbe
Stunde später, da die begeisterten Rufe nicht aufhören, treten einige Schutz-
leute unter die Versammelten: der König ließe bitten nach Hause zu gehen,
er habe noch viel zu arbeiten diese Nacht! „Der König will Ruhe! Nach
Hause! Nach Hause!" erschallt es durch die Menge, und in wenig Augen-
blicken ist der ganze Platz geleert.
Noch spät in die Nacht hinein brannte die Lampe in dem königlichen
Arbeitszimmer; und doch hat man schon in der Frühe des nächsten Mor-
gens den rastlosen Fürsten wieder aus dem Portale des Palais hinaus-
treten sehen, einen leichten Soldatenmantel übergeworfen und eine einfache
Dienstmütze aus dem Kopse.
Ausübung militärischer Pflichten, ernste und lange Beratungen mit
108
den Ministern, Audienzerteilungen warteten ja des Königs nach seiner
Rückkehr in die Residenz.
Das königliche Palais ist vom Morgen bis zum Abend von Volks-
massen umdrängt, und so oft der König sich am Fenster zeigt, ist des Bei-
falljanchzens kein Ende. Und wenn er im offenen Wagen ausführt, wird
er mit immer neuem Jubel begrüßt: es ist, als wolle jedermann ihn durch
seine Liebe und Begeisterung entschädigen für die ihm voll Frankreich an-
gethane Unbill. Daheim.
69. Wilhelm am Grabe Luisens.
1. Zu Charlottenburg im Garten
in den düstern Fichtenhain
tritt, gesenkt das Haupt, das greise,
unser teurer König ein.
7. Wieder sitzt ein Bonaparte
ränkevoll ans Frankreichs Thron,
und zum Kampfe zwingt uns heute
wieder ein Napoleon.
2. Und er steht in der Kapelle,
seine Seele ist voll Schmerz,
drin zu seiner Eltern Füßen
liegt des frommen Bruders Herz.
3. An des Vaters Sarkophage
lehnet König Wilhelm mild,
seines Vaters Auge ruhet
auf der Mutter Marmorbild.
4. „Heute war's vor sechzig Jahren",
leise seine Lippe spricht,
„als ich sah zum letzten Male
meiner Mutter Angesicht.
5. Heute war's vor sechzig Jahren,
als ihr deutsches Herze brach
um den Hohn des bösen Feindes,
um des Vaterlandes Schmach.
6. Jene Schmach hast du gerochen
längst, mein tapfrer Vater du,
aber Frankreich wirft aufs neue
heute uns den Handschuh zu.
70. Die Wa
1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen
Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
„Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!"
2. Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
und aller Augen blitzen hell,
8. Tret' ich denn zum neuen Kampfe
wider alte Feinde ein,
dann soll's mit dem alten Zeichen,
mit dem Kreuz von Eisen sein.
9. Der Erlösung heilig Zeichen
leuchte vor im heil'gen Krieg,
und der alte Gott im Himmel
schenkt dem alten König Sieg.
10. Blicke segnend, Mutterauge!
Vater, sieh, dein Sohn ist hier,
und auch du, verklärter Bruder,
heute ist dein Herz bei mir!"
11. Leise weht es durch die Halle —
König Wilhelm hebt die Hand,
all' die gold'nen Sprüche funkeln
siegverheißend an der Wand.
12. Zn Charlottenburg im Garten
aus dem düstern Fichtenhain
tritt der König hoch und mächtig,
um sein Antlitz Sonnenschein.
Hesekiel.
>t am Rhein.
der Deutsche, bieder, fromm uud stark,
beschützt die heil'ge Landesmark.
„Lieb Vaterland re.
3. Er blickt hinauf in Himmelsau'n,
da Heldenväter niederschau'n,
und schwört mit stolzer Kampfeslust:
Du, Rhein, bleibst deutsch, wie meine
Brust!
„Lieb Vaterland re.
109
4. So lang' ein Tropfen Blut noch glüht,
noch eine Faust den Degen zieht,
und noch ein Arm die Büchse spannt,
betritt kein Feind hier deinen Strand!
„Lieb Vaterland rc.
5. Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
die Fahnen flattern hoch im Wind:
Am Rhein, am Rhein, am deutschen
wir alle wollen Hüter sein! sRhein,
„Lieb Vaterland rc.
Schneckenburger.
71. In» Elsatz.
Als es bekannt im Dorf: die Preußen nahn,
faßt wilder Schrecken die Gemüter an.
Vergebens, daß der Prediger die Flucht
des ganzen Dorfs zurückzuhalten sucht.
Und so geschah's. Die Preußen rückten ein,
die Bauern floh'n in Wildnis und Gestein.
Da lauschen sie, die armen Schelme,
mit bleichem Antlitz und mit zagem Blick,
erschrocken vor dem blanken Glanz der Helme;
im Orte blieb der Pfarrer nur zurück.
Man trägt ihm auf, zu seinen flüchtigen Kindern
zu geh'n und sie zu rufen; er erklärt:
„Nicht möglich sei's gewesen, sie zu hindern,
auch folge keiner ihm zurück zum Herd."
Umsonst, daß er hinan den Bergpsad eilt
und rings beschwicht'gend unter ihnen weilt;
angstvoll und zagend blickten alle nieder,
nicht einen der Gemeinde bringt er wieder.
Was nun beginnen mit so armem Volk?
Der Oberst läßt die Militärmusik sich sammeln,
und nun bläst sie, daß es schallt
und wiederklingt in Felsgeklüft und Wald,
das Lied: Ein' feste Burg ist unser Gott!
Sie blasen, und der mächtige Choral
erfüllt die Wälder und durchtönt das Thal;
die Mannschaft, ganz erfaßt vom frommen Drang,
fällt ein in Luthers alten Kriegsgesang; —
wer ungefährdet schritt durch Tod und Grau'n,
versteht es recht, dies Lied voll Gottvertrau'n.
Die droben singen den Choral nicht mit,
wie feierlich und hehr er auch erklungen,
der Bann der Sorge hält sie noch bezwungen,
doch näher kommen alle Schritt für Schritt;
bis einer aus der Schar, der ält'ste, spricht:
„Wer mit uns beten mag, der kränkt uns nicht!
Kommt heim!" — Des Abends sitzen in der Stube
Enkel, Ahne, Mann und Weib und Bube;
das alte Lied voll wunderbarer Macht,
das Lutherlied hat sie zurückgebracht. A. Meißner.
110
72. Die Trompete von Gravelotte.
1. Sie haben Tod und Verderben gespie'n;
wir haben es nicht gelitten;
zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterie'n,
wir haben sie niedergeritten.
2. Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,
tief die Lanzen und hoch die Fahnen —
so haben wir sie zusammengesprengt,
Kürassiere wir und Ulanen.
3. Doch ein Blutritt war's, ein Todesritt.
Wohl wichen sie unseren Hieben;
doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,
unser zweiter Mann ist geblieben.
4. Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,
so lagen sie bleich aus dem Rasen,
in der Kraft, in der Jugend dahingerafft.
„Nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!"
5. Und er nahm die Trompet', und er hauchte hinein,
da — die mutig mit schmetterndem Grimme
uns geführt in den herrlichen Kampf hinein,
der Trompete versagte die Stimme!
6. Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz
entquoll dem metallenen Munde;
eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz;
um die Toten klagte die wunde.
7. Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein,
um die Brüder, die heute gefallen;
um sie alle — es ging uns durch Mark und Bein —
erhob sie gebrochenes Lallen.
8. Hub nun kam die Nacht, und wir ritten hindann;
rundum die Wachtfeuer lohten;
die Rosse schnoben, der Regen rann, —
und wir dachten der Toten, der Toten. Freiligrath.
73. Die preußische Landwehr vor Metz.
(Beim Ausfalle Bazaines am 7. Oktober 1870.)
Der Landwehr gebührt die Ehre des Tages. Sie war es, die den
französischen Angriff aufhielt, bis kein Mann mehr stand, der ein Zünd-
nadelgewehr halten konnte. Sie führte auch den großen allgemeinen Schlag,
der die Franzosen aus den Dörfern fegte. Ich habe die preußische Linie
vor dem heutigen Tage im Kampfe gesehen. Ich sah sie auf Hand und
Fuß die Höhen von Speichern erklettern; ich sah sie aufmarschieren in der
111
Schlacht vom 14. August; ich sah sie standhalten vor der Mitrailleuse
auf den Abhängen von Gravelotte, und ich sah, wie sie die Franzosen am
1. September in die Festung Sedan hineinwarf. Ich habe glauben gelernt,
daß die Männer der preußischen Linie vermögen, was nur irgend einem
Heere der Welt möglich ist. Aber gestern habe ich erst die Tüchtigkeit der
Landwehr kennen gelernt. Ruhig in den Verschanzungen am Boden liegend
und gelassen die in ihrer Nähe niederfallenden Kugeln auflesend; entschlossen
und unaufhaltsam in ihrem Vordringen; unwiderstehlich in dem Bajonett-
Angriff, mit dem sie die Dörfer säuberten — stellte sie eine Truppe dar,
die das Herz eines Mannes erfreuen muß. Nichts war bemerkenswerter
als die Ruhe, mit welcher die Verwundeten, die nur irgend gehen konnten,
sich auf sich selbst verlassend und Unterstützung ablehnend, hinter die Front
gingen. Und es waren keine leichten Wunden, mit denen die Wackeren
zurückkehrten. Ich selbst begegnete einem, der durch die Lunge geschossen
war, und dem der Atem röchelnd durch die Wunde drang. Aber es geht
dem Zuschauer zu Herzen, wenn er die Tapfern sterben sieht. Der Land-
wehrmann kann nicht leichtes Herzens in den Kamps gehen wie der Soldat
von der Linie, der niemand hungernd zurückläßt, wenn er auf dem Schlacht-
felde blutet. Für jeden zweiten Landwehrmann, der da gefallen, giebt es
eine Witwe nun daheim im Vaterlande, und bei dem Gedanken an meine
Kinder schwillt mir das Herz, wenn ich mir die Zahl der Waisen in den
freundlichen Dörfern und freundlichen Ebenen Deutschlands vorstelle, welchenoch
nicht wissen, daß ihnen der gestrige Tag den Vater geraubt. Nicht daß es schien,
als ob die Landwehrmänner lange bei dem Gedanken an Frau und Kinder
verweilten. Der haarige Kerl, der schon einiges Grau im Barte und wer
weiß wie viele junge Vögel daheim im Neste hatte, ging gerade so kühn
auf den Feind, wie der muntere junge Freiwillige, dem nur die Braut nach-
weint, wenn er fällt. Aber die Deutschen beten gern, und mir schien, daß
mancher einen Augenblick das Haupt beugte, als es vorwärts ging, als
wäre er in der Kirche. Und was die Religion anbetrifft, wer war das,
glaubt ihr wohl, der dort in den Kampf mit hineinstürzte im weißen Haare,
mit fliegenden Rockschößen? Das war der Divisions-Prediger, eine mächtige
Flasche in der einen und das Gebetbuch in der andern Hand. Der gute
Mann, der da im Kugelregen dahineilte, war ganz außer Atem und über
und über mit Schmutz bespritzt, denn wie er mir keuchend erzählte, war
sein Pferd ihm schon unter dem Leibe erschossen worden. Als ich ihn
wiedersah, saß er hinter einer Mauer im Dorfe unter einer Gruppe hin-
gestreckter Krieger und erhob unter dem Brüllen der Geschütze seine Stimme
im Gebete zu Gott. Aus einer englischen Zeitung.
74. Der Sieg von Sedan.
1. Was donnern die Kanonen?
Was kündet der Glocken Mund?
Den Deutschen in allen Gauen
wird freud'ge Märe kund.
2. Laßt Siegesfahnen prangen;
die Welt hat wieder Ruh.
Das französische Heer gefangen
und -der Kaiser, der Kaiser dazu!
112
5. Drum donnern die Kanonen,
drum dröhnt der Glocken Mund;
den Deutschen in allen Zonen
wird freud'ge Märe kund.
6. Es donnere jubeltönig
hinaus über Land und Meer:
Heil Deutschlands Heldenkönig!
Heil Deutschlands Heldenheer!
Friedrich Bodenstedt.
7ö. Der Kaisertag zu Versailles.
Während die kriegerischen Ereignisse in raschem Fortschritte die gänz-
liche Niederwerfung Frankreichs beschleunigten, kam in Versailles ein Tag
heran, der dem Werke der vereinten Kraft Deutschlands das Siegel auf-
drückte durch die feierliche Erneuerung des deutschen Kaisertums, das die
deutschen Fürsten und Völker dem greisen König Wilhelm schon im Dezember
1870 dargeboten hatten.
In dem Schlosse Ludwigs XIV., jenes gottlosen französischen Fürsten,
dessen ganzes Sinnen und Trachten auf Deutschlands Zersplitterung und
Erniedrigung gegangen war, ward am 18. Januar 1871 durch eine feier-
liche Handlung König Wilhelm als deutscher Kaiser ausgerufen.
Unter all der prahlerischen Eitelkeit in dem berühmten, großen Spiegel-
saale des Versailler Schlosses steht ein bescheidener Altar mit zwei brennen-
den, goldenen Kronleuchtern und davor ein preußischer Geistlicher in feinem
schmucklosen, einfachen Anzuge. Ihm gegenüber haben der König, der
Kronprinz und viele fürstliche Gäste Platz genommen. Bismarck und
Moltke stehen in der Nähe des Königs. Ein Soldatensängerchor leitete
die kirchliche Feier durch ein „Jauchzet dem Herrn alle Welt" mit Posaunen-
begleitung ein und sang die Liturgie. Ein kriegerisches „Helm ab zum
Gebet!" und die Predigt des Hofpredigers Rogge aus Potsdam über den
gerade auf diese Feier so passenden 21. Psalm folgte: „Du überschüttest
ihn mit gutem Segen, du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt ....
du setzest ihn zum Segen ewiglich .... denn der König hofft aus den
Herrn und wird durch die Güte fest bleiben .... Sie gedachten dir Übles
zu thun und machten Anschläge, die sie nicht konnten ausführen . ..."
Mit einem brausenden „Nun danket alle Gott!" schloß die kirchliche Feier.
Der König erhob sich und schritt, gefolgt von allen Prinzen und Fürsten
und dem Grafen Bismarck, durch die Galerie gerade auf die Erhöhung zu,
wo alle Fahnenträger standen. Am Rande der Erhöhung stand der greise,
fast 74jährige König, zu seiner Rechten der Kronprinz, links der Bundes-
kanzler; die Fürsten traten hinter den König. Mit bewegter Stimme sagte
der König, daß ihm die Kaiserkrone von allen deutschen Fürsten und freien
Reichsstädten und den Vertretern des norddeutschen Bundes angetragen
worden sei, und daß er sie annehme und in diesem Sinne heute eine Bekannt-
machung an das deutsche Volk erlasse, die der Bundeskanzler jetzt verlesen
werde. — Dieselbe lautete:
3. Es ward eine Schlacht geschlagen
bei Sedan aus dem Feld,
davon wird man singen und sagen
bis an das Ende der Welt!
4. Da schlug seine Schicksalsstunde
dem dritten Napoleon,
da blutet aus schwerer Wunde
der Marschall Mac Mahon.
113
An das deutsche Volk!
wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, verkünden
hiermit:
Nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen
Nus an Uns gerichtet haben, mit der Herstellung des deutschen Reiches
die leit mehr denn 6 0 Jahren ruhende Kaiserwürde zu erneuern und
zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des deutschen Bundes
die entsprechenden Bestimmungen vorhergesehen sind, bekunden wir hier-
mit, daß wir es als Pflicht gegen das gesamte Vaterland betrachten,
diesem Rufe verbündeter deutschen Fürsten und freien Städte Folge zu
leiste« und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden
Das Vaterland 8
114
XDtr und Unsere Nachfolger in der Krone Preußens fortan den Raiser-
titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des deutschen
Reiches führen und hoffen zu Gott, daß es dem deutschen Volke gegeben
sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland
einer segensreichen Zukunft entgegen zu führen, wir übernehmen die
kaiserliche würde in dem Bewußtsein, in deutscher Treue die Rechte des
Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die
Unabhängigkeit Deutschlands zu stützen und die Kraft des Volkes zu
stärken, wir nehmen sie in der Hoffnung, daß es dem deutschen Volke
vergönnt sein werde, den Lohn seiner heißen und opferwilligen Kämpfe
in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche
dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrteSicherheit gegen erneuerte
Angriffe Frankreichs gewähren werden. Uns aber und Unseren Nach-
folgern in der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Ulehrer des
deutschen Reiches zu sein, nicht in kriegerischen Eroberungen, sondern in
den Werken des Friedens auf dein Gebiete nationaler Wohlfahrt, Frei-
heit und Gesittung!
Dann trat der Großherzog von Baden vor und rief mit lauter
Stimme: „Es lebe hoch König Wilhelm, der deutsche Kaiser!"
Unter dem langen Jubelruse der großen Versammlung ward manches
Auge naß, und dem greisen König-Kaiser stürzten die Hellen Thränen aus
den Augen. Man sah, wie die stattliche Gestalt erschüttert war vor Rüh-
rung. Der Kronprinz von Preußen huldigte dem Kaiser durch Handkuß —
aber der Vater schloß ihn in die Arme und küßte ihn wieder und immer
wieder unter glücklichen Thränen. Auch seinen Bruder Karl und seinen
Vetter, Admiral Adalbert, seinen Schwiegersohn, den Großherzog von Baden,
schloß der König in die Arme; die älteren Fürsten brachten ihren huldigen-
den Glückwunsch durch Handschütteln, die jungen Prinzen durch Handkuß
dar. Die ganze übrige Versammlung huldigte dem Kaiser durch Vortreten
und tiefe Verbeugung, die der Kaiser durch freundliches Kopsneigen erwiderte.
Als der Kaiser das Königsschloß der Ludwige verließ, sank die Hohen-
zollernsahne nieder, und die neue deutsche Kaiserfahne rauschte in die Höhe.
Während der ganzen deutschen Kaiserseier donnerten die deutschen Kanonen
gegen Frankreichs Hauptstadt. Robert König.
76. Kaiser
1. Wer ist der greise Siegesheld,
der uns zu Schutz und Wehr
fürs Vaterland zog in das Feld
mit Deutschlands ganzem Heer?
Wer ist es, der vom Vaterland
den schönsten Dank empfing?
Vor Frankreichs Hauptstadt siegreich stand
und heim als Kaiser ging?
Du, edles Deutschland, freue dich,
dein König hoch und ritterlich,
dein Kaiser Wilhelm ist's.
Wilhelm.
Wer hat für dich in blut'ger Schlacht
besiegt den ärgsten Feind?
Wer hat dich groß und stark gemacht,
dich brüderlich geeint?
Wer ist, wenn je ein Feind noch droht,
dein bester Hort und Schutz?
Wer geht für dich in Kampf und Tod,
der ganzen Welt zu Trutz?
Du, edles Deutschland, freue dich,
dein König hoch und ritterlich,
dein Kaiser Wilhelm ist's.
Hoffmann v. F.
115
77. Ein Volk, ein Herz, ein Tater land,
1. Ob wir. in Not und Schmach versunken,
in blut’gem Hader uns entzweit,
uns blieb ein lichter G-ottesfunken, —
der Traum der deutschen Herrlichkeit.
Und häuften sich die Leidenstage,
dass schon der Treusten Hoffnung schwand,
fort klang’s wie eine heil’ge Sage:
Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland!
2. Das klang durch unsre schönsten Lieder,
das traf die deutsche Brust mit Macht,
von Strom und Bergen hallt es wieder,
an unsern Marken hielt es Wacht.
Und als des Kampfes wilde Flammen
entlobten von verruchter Hand,
da standen endlich wir zusammen,
ein Volk, ein Herz, ein Vaterland!
3. Und herrlich ist das Werk gelungen,
der Feind geworfen in den Staub,
mit unserm Blut ihm abgerungen
der nie verjährte, schnöde Raub;
des Sieges volle Kränze schlingen
um uns ein unzerreißbar Band,
nun soll’s in Ewigkeit erklingen:
Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland!
Albert Träger.
Lan- im- Leute.
78. Das Lied der Deutschen.
1. Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält,
von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt —
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt!
2. Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang
sollen in der Welt behalten
ihren alten schönen Klang,
uns zu edler That begeistern
unser ganzes Leben lang, —
deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang.
3. Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland:
danach laßt uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand —
blüh' im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland! Hoffmann v. F
8*
116
79. Bon Vaterland nnd Freiheit.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des Himmels
zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und
seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brauseten: da
ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo das erste Menschenaug' sich liebend über deine Wiege neigte; wo
deine Mutter dich zuerst mit Freuden aus dem Schoße trug und dein Vater
dir die Lehren der Weisheit und des Christentums ins Herz grub: da ist
deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Und seien es kahle Felsen und Inseln, und wohne Armut und Mühe
dort mit dir, du mußt das Land ewig lieb haben; denn du bist ein Mensch
und sollst es nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn, sondern
in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewißheit, daß du vom
Himmel stammst.
Da ist Freiheit, wo du in Sitten und Weisen und Gesetzen deiner
Väter leben darfst; wo dich beglücket, was schon deine Urälterväter beglückte,
wo keine fremden Unterdrücker über dich gebieten und keine fremden Treiber
dich treiben, wie man Vieh mit den Stöcken treibt.
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind ein Schatz, der eine unent-
behrliche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste Gut, was, außer
der Religion, in der noch eine höhere Freiheit ist, ein guter Mensch aus
Erden besitzt und zu besitzen begehrt. E. M. Arndt.
89. Deutschland.
Deutschland gehört zu den schönsten Ländern, welche die Sonne begrüßt
in ihrem ewigen Lause.
Unter einem gemüßigten Himmel, unbekannt mit der sengenden Luft
des Südens und mit der Erstarrung nördlicher Gegenden, in der größten
Abwechselung, der reichsten Mannigfaltigkeit, köstlich für den Anblick, erhei-
ternd und erhebend für das Gemüt, bringt Deutschland alles hervor, was
der Mensch bedarf zur Erhaltung und zur Förderung des Geistes, ohne ihn
zu verweichlichen, zu verhärten, zu verderben. Der Boden ist fähig zu
jeglichem Anbau. Unter dem bleibenden Schnee der Alpen dehnen sich die
herrlichsten Weiden aus, von der Wärme doppelt belebt, die an jenem wir-
kungslos vorüberging. An der kahlen Felswand zieht sich ein üppiges
Thal hinweg. Neben Moor und Heide, nur von der bleichen Binse und
der Brombeerstaude belebt, und menschlichem Fleiße nichts gewährend als
die magere Frucht des Buchweizens und des Hafers, erfreuen das Auge
des Menschen die kräftigsten Fluren, geeignet zu den schönsten Saatfeldern
und zu den herrlichsten Erzeugnissen des Gartenbaues. Fruchtbäume pran-
gen in unermeßlicher Menge und in jeglicher Art, vom sauern Holzapfel bis
zur lieblichen Pfirsiche. Hoch aus den Bergen des Landes erhebt unter
Buchen und Tannen die gewaltige Eiche ihr Haupt zu den Wolken empor
und blickt über Abhänge und Hügel hinweg, welche den köstlichen Wein
117
zeugen, die Freude der Menschen, in der Ferne wie in der Nahe, gesucht
und gewünscht von Hohen wie von Geringen.
Kein reißendes Tier schreckt, kein giftiges Gewürm droht, kein häßliches
Ungeziefer quält. Aber Überfluß gewährt das Land an nützlichem Vieh,
an kleinem wie an großem, für des Menschen Arbeit, Zweck und Genüsse.
Das Schaf trägt Wolle für das feinste Gespinst, der Stier verkündigt Kraft
und Stärke in Bau und Gestalt, das Pferd geht tüchtig einher im Fuhr-
werk, prächtig vor dem Wagen der Großen und stolz als Kampfroß unter
dem Krieger, hier ausdauernd und dort.
In ihrem Innern verbirgt die Erde große und reiche Schätze. Aus
vielen und unerschöpflichen Quellen sprudelt sie freiwillig dem Menschen
Heilung zu und Gesundheit und Heiterkeit. Den fleißigen Bergmann belohnt
sie bald mit dem edelsten Gewürze, dem Salze, bald mit Silber und Gold,
hinreichend für den Verkehr und die Verzierung des Lebens, bald mit
Eisen in Menge, dem Manne zur Waffe und Wehr, zu Schutz und Schirm
dem Volke.
Ein solches Land, mit so reichen Gaben, Eigenschaften und Kräften
ausgestattet, ist von der Natur unverkennbar bestimmt, ein großes und star-
kes Volk zu ernähren in Einfalt und Tugend, und eine hohe Bildung des
Geistes in diesem Volke durch Übung und Anstrengung zu erzeugen, zu
erhalten, zu fördern.
Auch ist das Land nicht umsonst bestimmter Grenzen beraubt, gegen
Morgen wie gegen Abend, und selbst gegen Mitternacht. Die Bewoh-
ner können sich gegen den Neid, die Habsucht und den Übermut fremder
Völker auf nichts verlassen, als aus ihre eigene Kraft. Es giebt für sie
keine Sicherheit, als in ihrem festen Zusammenhalten, in ihrer Einigkeit, in
ihrer sittlichen Macht.
Endlich ist den Bewohnern dieses Landes durch große und schöne Ströme
das Meer geöffnet und der Zugang zur Welt. Aber das Meer drängt sich
nicht so verführerisch an sie hinan, oder zwischen sie hinein, daß sie verlockt
und dem heimatlichen Boden entfremdet werden könnten. Vielmehr kann
der edlere Mensch dem Gedanken an eine deutsche Erde und an einen
deutschen Himmel nicht entgehen, und dieser Gedanke scheint in ihm die Sehn-
sucht erhalten zu müssen zu der Welt seiner Geburt und die Liebe zu dem
Boden seines Vaterlandes. Luden.
81. Die Erde.
Nach dem Augenscheine und nach allgemeinem Glauben wäre die Erde
mit allen ihren Bergen und Thälern eine große, runde Fläche, gleich einer
ungeheuren großen Scheibe. Am Rande derselben weiter hinaus kommt
nichts mehr; dort ist gleichsam der Himmel an sie gefügt, der wie eine große,
hohle Halbkugel über ihr steht und sie bedeckt. Dort geht am Tage die
Sonne aus und unter, bald früher, bald später, bald links an einem gewissen
bekannten Berge oder Hause, bald rechts,und bringt Tag und Nacht, Sommer
und Winter hervor; bei Nacht der Mond und die Sterne, und sie scheinen
nicht gar entsetzlich hoch über unsern Häuptern zu stehen.
118
Das wäre nun alles gut, wenn's niemand besser wüßte; aber die Stern-
seher und Kalendermacher wissen's besser. Denn erstlich, wenn einer daheim
weggeht und will reisen bis ans Ende der Erde, an den Rand, wo man
einen aufgehenden Stern mit der Hand weghaschen und in die Tasche stecken
kann, und er geht am ersten April vom Hanse ans, so hat er den rechten
Tag gewählt. Denn er sann reisen, wohin er will, durch Deutschland,
durch Polen, durch Rußland, nach Asien hinein, durch die Länder der Heiden,
vom Lande anss Wasser und vom Wasser wieder anss Land und immer
weiter. Aber endlich, wenn er sich ans einen Baumstamm setzt und will
daran denken, wie lange er schon von den Seinigen weg sei, und wie weit
er noch zu reisen habe aus Ende der Erde nud wieder zurück: auf einmal
wird's ihm heimlich in seinem Gemüte; es wird ihm nach und nach alles,
wie es daheim war; er hört seine Landessprache wieder sprechen; zuletzt
erblickt er von weitem einen Kirchturm, den er auch schon gesehen hat,
und wenn er auf ihn zugeht, kommt er in ein wohlbekanntes Dorf und
hat nur noch zwei Stunden oder drei, so ist er wieder daheim und hat das
Ende der Erde nie gesehen. Nämlich, er reist um die Erde, wie man einen
Strich mit Kreide um die Kugel herumzieht, und kommt zuletzt wieder auf
den alten Fleck, von dem er ausging.
Es sind schon viele solcher Reisen nm die Erde nach verschiedenen Rich-
tungen gemacht worden. In 80 bis 100 Tagen, je nachdem es geht, ist
alles geschehen. Der kühne englische Seekapitän Cook ist zuerst und zwar
zweimal um die ganze Erde herum gereist und von der andern Seite her
wieder heimgekommen. Aber das dritte Mal haben ihn die Wilden auf
der Insel Owaihi totgeschlagen.
Daraus und aus mehreren sicheren Angaben erkennen die Gelehrten
folgendes: die Erde ist nicht bloß eine ausgebreitete, ruud abgeschnittene
Fläche, nein, sie ist eine ungeheuer große Kugel. Weiter: sie hängt und
schwebt frei und ohne Unterstützung, wie ihres Orts die Sonne und der
Mond, in dem unermeßlichen Raume des Weltalls, unten und oben zwischen
lauter himmlischen Sternen. Weiter: sie ist rings um und um, wo sie Land
hat und wo die Hitze oder der bittere Frost es erlaubt, mit Pflanzen ohne
Zahl besetzt und mit Tieren und vernünftigen Menschen belebt. Man muß
nicht glauben, daß aus diese Art ein Teil der Geschöpfe mit dem Kopfe ab-
wärts hinge und in Gefahr stehe, von der Erde weg und in die Luft herab
zu fallen. Dies ist lächerlich. Überall werden die Körper durch ihre
Schwere an die Erde angezogen und können ihr nicht entlausen. Überall
nennt man unten, was man unter den Füßen hat, und oben, was über dem
Haupte hinaus ist. Niemand merkt oder kann sagen, daß er unten sei.
Alle sind oben, so lange sie die Erde unter den Füßen und den Himmel
voll Licht oder Sterne über sich haben.
Aber der Leser wird nicht wenig staunen, wenn er's zum ersten Male
hören sollte, wie groß diese Kugel sei. Denn der Durchmesser der Erde
beträgt in gerader Richtung von einem Punkte der Oberfläche durch den
Kern oder Mittelpunkt hindurch zum andern Punkte 1720 deutsche Meilen.
Der Umkreis der Kugel aber beträgt 5400 deutsche Meilen. Ihre Ober-
119
fläche aber beträgt über 9 Millionen Meilen im Gevierte, und davon sind
über zwei Dritteile Wasser und ein Dritteil Land. Ihre ganze Masse aber
beträgt mehr als 2662 Millionen Meilen im Kubikmaße. Das haben die
Gelehrten mit großer Genauigkeit ausgemessen und ausgerechnet und sprechen
davon wie von einer gemeinen Sache. Aber niemand kann die göttliche
Allmacht begreifen, die diese ungeheuer große Kugel schwebend in der unsicht-
baren Hand trägt und jedem Pflänzlein darauf seinen Tau und sein Ge-
deihen giebt und dem Kindlein, das geboren wird, einen lebendigen Odem
in die Nase. Man rechnet, daß jetzt 1400 Millionen Menschen zu gleicher
Zeit auf der Erde leben und bei dem lieben Gott in die Kost gehen, ohne
die Tiere.
So viel für diesmal von der Erde. Gleichwohl, wenn ein Mensch
von derselben sich aufheben und in gerader Richtung langsam oder geschwind
zum Abendstern aufsteigen könnte, der unter allen Sternen mit der nächste
ist (Merkur ist noch näher), so würde er noch merkwürdigere Dinge sehen.
Der Stern würde vor seinen Augen immer größer werden, zuerst wie der
Mond, bald darauf wie ein großes Rad, zuletzt wie eine unübersehbare
Kugel oder Fläche. Sein Licht würde ihm immer milder erscheinen, weil
es sich immer über eine größere Fläche verbreitete, ja er würde in einer
gewissen Entfernung davon schon Berge und Thäler entdecken und zuletzt auf
einer neuen Erde landen. Aber in dem nämlichen Verhältnisse müßte unter
ihm die Erde immer kleiner werden, und glänzender ihr Licht, weil es sich
auf einen kleinen Raum zusammendrängt. In einer gewissen Entfernung
hätte sie für ihn noch den Umfang wie ein großes Rad, hernach wie eine
Schützenscheibe, hernach wie der Mond, und endlich, wenn er gelandet wäre,
würde er sie weit draußen am Himmel als einen lieblichen Stern unter den
anderen erblicken und mit ihnen aus- und untergehen sehen. „Sieh dort",
würde er zu dem sagen, mit dem er zuerst bekannt würde, „sieh jenen lieblichen
Stern; dort bin ich daheim, und mein Vater und meine Mutter leben auch
noch dort. Die Mutter ist eine geborene Soundso." Es müßte ein wunder-
sames Vergnügen sein, die Erde unter den Sternen des Himmels und ganz
als Ihresgleichen wandeln zu sehen. Hebel.
82. Die Sonne.
Die Sonne, so nahe sie zu sein scheint, wenn sie früh hinter
den Bergen in die frische Morgenluft hinauf schaut, ist doch zwanzig
Millionen Meilen weit von der Erde entfernt. Weil aber eine solche
Zahl sich geschwinder aussprechen als erwägen und ausdenken lässt, so
merke: Wenn auf der Sonne eine grosse, scharf geladene Kanone stünde,
und der Konstabler, der hinten steht und sie richtet, zielte auf keinen
andern Menschen als auf dich, so dürftest du deswegen in dem näm-
lichen Augenblicke, als sie losgebrannt wird, noch herzhaft anfangen, ein
neues Haus zu bauen und könntest darin noch lange Zeit ruhig essen
und trinken und schlafen. Denn wenn auch die Kugel in schnurgerader
Richtung und immer in gleicher Geschwindigkeit fort und fort flöge, so
120
könnte sie doch erst nach Verlauf von fünf und zwanzig Jahren von der
Sonne hinweg auf der Erde anlangen, wiewohl eine Kanonenkugel einen
scharfen Flug hat und zu einer Weite von 200 m nicht mehr als den
sechzigsten Teil einer Minute bedarf. Dass nun weiter die Sonne nicht
bloss eine glänzende Fensterscheibe des Himmels, sondern, wie unser Erd-
körper, eine schwebende Kugel sei, begreift man schon leichter. Aber
wer vermag mit seinen Gedanken ihre Grösse zu umfassen, nachdem sie
aus einer so entsetzlichen Ferne solche Kraft des Lichts und der Wärme
noch auf die Erde ausübt und alles segnet, was ihr mildes Antlitz bescheint?
Der Durchmesser der Sonne ist 108 mal grösser als der Durch-
messer der Erde. Aber im Körpermasse beträgt ihre Masse fast andert-
halb Millionen mal so viel als die Erde. Wenn sie inwendig hohl wäre,
so hätte nicht nur unsere Erde in ihr Raum, auch der Mond, der doch
50 000 Meilen von uns absteht, könnte darin ohne Anstoss auf- und
niedergehen, ja, er könnte fast noch einmal so weit von uns entfernt sein,
als er ist, und doch ohne Anstoss um die Erde herumspazieren, wenn er
wollte. So gross ist die Sonne und geht aus der nämlichen allmächtigen
Hand hervor, die auf der Erde das Mohnsamenkörnlein in seiner Schale
bildet und zur Reife bringt; eines so unbegreiflich wie das andere.
Denn sollten wir eine Sonne und ein Mohnsamenkörnlein machen, mit
einem fruchtbaren Keime darin, uns wäre beides gleich unmöglich.
Hebel.
1. An der Word- und Astsee.
83. Ebbe und Flut.
Ein sonderbares Schauspiel ist an den Küsten der Nordsee die täglich
zweimal eintretende Ebbe und Flut. Da stürzen sich, wenn die Ebbe ein-
tritt, in eiliger Hast Ströme und Flüsse ins Meer hinaus. Alle Gewässer
sind in Bewegung, aus allen Kanälen, Gräben und Zweigadern des Landes
strömt es heraus, wie in den Straßen einer Stadt nach einem heftigen
Regen. Überall wachsen trockene Länder aus dem Meere heraus und
nehmen zusehends an Umfang zu. Jede Insel, an der man vorübersährt,
umgiebt sich mit einem breiten Gürtel Vorland, das sich sofort mit Men-
schen bevölkert, die den Krabben und anderen im Schlamme zurückgebliebenen
Seetieren nachstellen. Im Schlamme bezeichnet man noch Stellen, wo
einst blühende, jetzt vom Meere verschlungene Orte gestanden haben sollen.
Gewöhnlich wird der Wasserspiegel durch die Ebbe um 4 m, zuweilen auch
um 6 m erniedrigt.
Endlich entsteht ein Stillstand in den Strömen. Es scheint, als
wären alle während der Ebbe so rasch eilenden Flüsse in ruhige Seeen ver-
wandelt. Allmählich aber kommt wieder Leben und Regsamkeit in die
versiegenden Gewässer. Das Meer drängt erst leise rückwärts. Die süßen
Gewässer, welche aus dem Innern des Landes her sich einen Ausgang
erringen wollen, geraten mit ihm in Streit, ans welchem an vielen Punkten
121 —
mächtige Wirbel entstehen. Endlich siegt der Oceanos. Seine Schulter
hebt sich gewaltig, und er zieht siegreich zu allen Thoren des Landes ein.
Alle großen und kleinen Kanäle des Landes füllen sich mit flüssigem Stoffe,
und viele schwellen an bis an den Rand. Die weiten, kahlen Sandbänke
schmiegen sich wieder unter die feuchte Decke des Oceans, zu dessen Gebiete
sie gehören, wie Unterthanen sich den Armen ihres Herrschers fügen. Die
Fischer, Austern- und Krabbensucher, die Strandspaziergänger ergreifen die
Flucht und verbergen sich hinter ihren Dämmen und Deichen. Die Vor-
lande der Inseln verschwinden wieder, und diese selbst schmelzen auf die
Hälfte ihres Territoriums zusammen. Kleine Landesteile, die noch eben
mit dem Festlande zusammenhingen, lösen sich und werden zu Inseln. Die
Hafendämme der Städte, vorher riesengroß, schrumpfen fast zu nichts zu-
sammen. Alle Gräben, Kanäle, alle Meeres- und Flußarme füllen sich bis
an den Rand der Deiche. Das Schiff, aus dem wir etwa fahren, hebt sich
mächtig in die Höhe, und wir schauen hinweg über die Dämme ins Innere
des tiefen und niedrigen Landes. Seichte Gräben werden selbst für große
Schiffe fahrbar. Alle Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, und
die, schief aus die Seite geneigt, traurig dalagen, richten sich gemach wieder
empor und erheben sich allmählich, wie arme Kranke, die man der frischen
Luft zurückgab. Endlich lösen sie sich völlig aus dem klebrigen Boden und
schweben beweglich und schwankend empor auf dem klaren Elemente, wie
flüchtende Enten, die vom unbequemen Festlande aus den glatten Teich
sich gerettet. Nun wird in allen Häfen und an allen Ufern gerüstet.
Schiffe aller Größen und Arten spannen die Segel auf, lösen sich vom
Strande und tragen ihre Reisenden und ihre Waren von User zu Ufer.
Auch die großen Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme den
Augenblick der Fluthöhe erwarten, ziehen landeinwärts und schwimmen mit
gebauschten Segeln und vollem Wasser in die sicheren Thore des Fest-
landes ein.
Die Ebbe gewährt noch ein anziehenderes Bild als die Flut. Da
liegt das arme Schiff gestrandet am Ufer und erweckt unser Mitleid. Da
kriecht das Bettelvolk der Küstenstädte, die zerlumpten Kinder und die armen
Muschelsammler und Krabbenfänger, hervor und schleicht an den Bollwerken
der Häfen herum, an denen seine Ernte gereist ist, nämlich die Muschel, die
das Meer hier säte und pflanzte. Mit der Flut ist nur der Reiche und
Glückliche im Bunde, der seine stolzen Schiffe auf ebener Bahn entsendet.
Die Ebbe enthüllt aber auch eine Menge Geheimnisse der Tiefe, welche die
Flut mit Wasser überzieht. Da kommen die hübschen Muscheln und die
Ungetüme des Meeres zu Tage, die sich bei Eintritt der Ebbe versäumten.
Da sieht man die versandeten Wracks und Balken der ehemals gestrandeten
Schiffe; da zeigen sich im Sonnenscheine die Korallen und Kräuter, die in
der dunklen Tiefe des Meeres wachsen. Selbst in der Luft herrscht zur
Zeit der Ebbe regeres Leben, denn die Vögel machen sich heran, um der
Ebbe zu folgen. Auch sie finden ihre Tafel auf den Sandbänken reichlich
gedeckt. Die Strandläufer, die Möven, selbst die Schnepfen und Störche
flattern oder wandeln am Strome oder auf den entblößten Lagunen (Untiefen),
122
um auf das Seegewürm Jagd zu macheu. Währeud der Flutzeit, die ihuen
eiueu Teil ihrer Nahruug eutzieht, sitzeu sie dauu ruhig am Laude, auf deu
Wieseu, hiuter deu Deichen, um der Verdauung zu Pflegen. Kohl.
84. Die Halligen.
Au der Westküste von Schleswig finden sich, umflutet von den
Wogen der Nordsee, mehrere Inseln, die als Überreste einer zusammen-
hängenden Landstrecke, welche dem Meere zum Raube geworden ist, den
Bewohner des Küstenlandes daran erinnern, sich mit allen ihm zn Ge-
bote stehenden Mitteln der Fluten zn erwehren. Die größeren dieser
Eilande sind teils durch Deiche, teils durch Dünen vor den Wogen
geschützt, die täglich neue Versuche machen, die letzten Brocken ihres
großen Raubes in den gierigen Schlund des Meeres hinabzuziehen. Im
Gegensatze dieser größeren, durch Deiche und Dünen gesicherten Inseln
werden die kleineren Eilande Halligen genannt. Diese Halligen sind flache
Grasfelder, kaum zwei bis drei Fuß über dem gewöhnlichen Stande der
Flut, und werden daher oft wohl zweimal an einem Tage vom Meere über-
schwemmt. Die bedeutendsten Halligen sind noch nicht eine halbe Quadrat-
meile groß; die kleineren, oft nur von einer Familie bewohnten, sind kaum
einige tausend Fuß lang und breit; die kleinsten sind unbewohnt und dienen
nur dazu, ein wenig Hen zu gewinnen, das aber sehr oft, ehe es geborgen
werden kann, von den Fluten weggespült wird. Das gewonnene Hen
wird in Diemen zusammengehänft, über die ein an beiden Enden mit
Steinen belastetes Flechtwerk von Stroh herabhängt; hierdurch gewinnen sie
eine solche Festigkeit, daß nur mit eisernen Spaten etwas abgestochen werden
kann; und diese Heuberge an der Seite des Hauses geben oft noch eine Zu-
flucht, wenn die Mauern von der Gewalt der Wellen niederstürzen. Ans
künstlichen Erderhöhungen oder Werften stehen die einzelnen Wohnungen,
die selten mehr Raum ans der sich schräg absenkenden Höhe lassen, als zn
einem schmalen Gange um die Hütte erforderlich ist. Daher trifft man
denn auch auf allen Halligen keinen Fleck Gartenland für ein wenig Ge-
müse, keinen einzigeil Strauch mit einer erquickenden Beere, keinen Baum
mit einem Ruheplatze im Schatten. Nicht einmal gutes Trinkwasser findet
man dort. Auf der Werste wird ein Behältnis ansgegraben und ringsum
mit Grassoden (Rasen) belegt; dahinein läßt man das Regenwasser von
obenher rinnen oder von den Seiten durchsickern; es dient den Schafen zur
Tränke und den Menschen zur Bereitung ihres Thees, obwohl es von dem
salzigen Boden den widerlichsten Geschmack angenommen hat. Nicht einmal
die Freude eines täglich reichen Fischfanges genießt der Bewohner der
Hallig. Ein widriges, trübes Gelbgrau ist die gewöhnliche Farbe der Ge-
wässer um ihn her; und vor dem Aufenthalte in einer Meeresstrecke, die bei
der Ebbe stundenweit ihren Schlammboden aufdeckt, hüten sich die Fische
und überlassen gern dem Seehunde und der häßlichen Roche das wenig ein-
ladende Gebiet.
Doch glücklich die Hallig, wenn hiermit ihr Bild vollständig gezeichnte
123
wäre. Aber es bleibt noch eine furchtbare Seite übrig. Zur Gewohnheit
sind die Überschwemmungen geworden, die alles flache Land überflutend bis
an die Wersten hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten
mit ihrem weißen Schaume anschlagen. Da blicken denn die Wohnungen
aus der weiten Wassersülle nur noch als Strohdächer hervor; man glaubt
es kaum, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer, Frauen und
Kinder vielleicht ruhig um ihren Theetisch her sitzen und nicht einmal einen
flüchtigen Blick auf den umdrängenden Ocean werfen. Manches fremde, aus
seiner Bahn verschlagene Schiff segelte schon in solchen Zeiten bei nächtlicher
Weile über eine Hallig weg, und die erstaunten Seeleute glaubten sich von
Zauberei umgeben, wenn sie aus einmal neben sich ein freundliches Kerzen-
licht durch die hellen Fenster einer Stube schimmern sahen, die, halb von
den Wellen bedeckt, keinen andern Grund als diese Wellen zu haben schien.
Aber oft bricht auch sogleich mit der Flut ein Sturm aus das bange Eiland
ein. Die Wasser steigen gegen sechs Meter über ihren gewöhnlichen Stand
hinauf. Das Meer sendet immer von neuem seine volle, breite Gewalt
gegen die einzelnen Werften, um sie aus seiner Bahn wegzuschieben. Den
Erdhügel, der eine Zeit lang zitternd widerstand, giebt nach; bei den unaus-
gesetzten Angriffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter.
Die Pfosten des Hauses, welche mit Vorsicht eben so tief in die Werften
eingesenkt wurden, wie sie darüber hervorstehen, werden entblößt; das
Meer faßt sie, rüttelt sie. Der erschreckte Bewohner des Hauses rettet
erst seine besten Schafe hinauf auf den Boden, dann flieht er selbst nach.
Und es war hohe Zeit. Denn schon stürzen die Mauern, und nur noch
einzelne Ständer halten den schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht.
Mit furchtbarem Siegerübermute schalten nun die Wogen im untern
Teile des Hauses; sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem
Spiel durcheinander, schlagen sich immer freieren Durchgang und reißen
endlich alles hinaus auf den weiten Tummelplatz ihrer Kraft. Immer weniger
werden der Stützpunkte des Daches. Ängstlich lauscht das Ohr, ob nicht
das Brausen des Sturmes abnehme, ängstlich pocht das Herz bei jeder
Erschütterung; immer ängstlicher drängen sich die Unglücklichen zusammen.
In der Finsternis sieht keiner das entsetzte Antlitz des andern; im Donner-
groll der tobenden Wogen verhallt das bange Gestöhne; aber jeder kann
an seiner eigenen Qual die marternde Angst seiner Lieben ermessen. Der
Mann preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungsvoller
Todesgewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen werden von der
drängenden Flut gehoben, durch alle Fugen quillt das Wasser. Da kracht
ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf ertönt! Der Dachboden senkt sich
nach einer Seite, ein neuer Flutenberg schäumt herauf, und im Sturmgeheul
verhallt der letzte Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern sich
einander Trümmer und Leichen zu.
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt sie über alles,
und der aus Sturmflut Gerettete baut sich nirgends sonst wieder an als
auf dem Flecke, wo er alles verlor, und wo er in kurzem wieder alles und
sein Leben mit verlieren kann. Biernatzkp.
124
85. Strandbild,
1. Das Fischerdorf ist leer.
Am Strande steh’n die Frauen,
die aufs bewegte Meer
mit trüben Blicken schauen.
3. Hier Planken an den Strand
strömt’s aus dem Flutenreiche,
daneben ruht im Sand
wohl manche nasse Leiche.
2. Es war ein arger Sturm,
der sich zur Nacht erhoben,
die Leuchte auf dem Turm
erlosch vor seinem Toben.
4. Das Meer verschlang den Pest;
froh stiefsen sie vom Lande,
jetzt ist’s ein Totenfest —
nur Witwen steh’n am Strande.
Rudolf Gottschall.
86. Tic Sturmflut iu der Ostsee am 13. Nov. 1872.
Während die Nordsee nicht selten mit furchtbaren Überschwemmungen
in das Besitztum der Menschen einbricht und die Bewohner der Küste zu
unablässigem Ringen mit dem wilden Elemente zwingt, streckt sich die Ostsee
wie ein großer Binnensee friedlich hin; vom Ocean entlegen und durch die
dänischen Inseln beinahe abgesperrt, bleibt sie vom regelmäßigen Wechsel
der Ebbe und Flut so gut wie unberührt, und um ihr von Nordost nach
Südwest gedehntes, buchtenreiches Meeresbecken haben sich deshalb Städte
und Dörfer in reichem Kranze herumgelegt, in sorgloser Sicherheit, denn
nicht schützten Deiche den Anbau und das Eigentum der Menschen.
Aber am 13. November 1872 zerriß eine Sturmflut, wie sie noch nie
über diese Gewässer dahingegangen, den blühenden Kranz am Gestade der
Ostsee. Es mag immerhin nach mancher Ansicht ein unterirdischer Stoß
wie bei einem Erdbeben die Wasser wild aufgewühlt haben; sicher ist, daß
ein heftiger Wind aus Westen das sonst abfließende Wasser im Kattegat so
wie in der Ostsee aufstaute, bis der am 12. November nach Nordost um-
springende Sturm den vollen Wogenschwall mit um so größerer Wucht
wieder zurückwarf. Der furchtbare Nordost hielt 24 Stunden lang an und
lvuchs zum Orkan. So quoll die hochgehende Wassermenge vom finnischen
und rigaischen Meerbusen her in südwestlicher Richtung vorwärts; die Küste
Gotlands nur streifend, traf sie mit vollem Andränge Bornholm und andere
dänische Inseln, die Südspitze von Falster wurde sogar gänzlich überschwemmt;
dann verheerte sie die Insel Femarn und warf sich mit unwiderstehlicher
Gewalt auf die deutsche Küste und in die tief ins Land einschneidenden
Buchten hinein. Es war ein Schrecknis von unerhörter Furchtbarkeit;
das Wasser stieg mehr als 3 m über seine gewöhnliche Höhe und über-
traf den bisher bekannten höchsten Wasserstand von 1694 um 6 dm,
den des Jahres 1836 um 67 cm; wie entsetzlich die hochgeschwollene
See vordrang, beweist die Thatsache, daß die Stadt Oldenburg in Holstein,
welche zwei Stunden von der Ostsee entfernt liegt, noch von dem Wasser
erreicht und ein Haus in der Stadt sogar noch verwüstet wurde. Niemand
war aus ein solches Naturereignis vorbereitet; denn wenn auch alte Ge-
schichtsbücher der Hansestädte von einer wilden Flut erzählen, welche 1304
125
bte jetzige Insel Rügen von Pommern abriß, so waren seitdem über 5 Jahr-
hunderte vergangen, und die Begebenheit hastete nicht mehr in der Menschen
Gedächtnis; so weit beglaubigte geschichtliche Nachrichten reichen, hatte man
von einem solchen Wüten der Ostsee nicht gehört. Man betrachtete auch
diesmal das Anschwellen des Wassers allgemein als eine der sonst wohl
vorkommenden Sturmfluten, die gewisse Grenzen nicht überstiegen; daher
überraschte der Eintritt der wirklichen Überschwemmung, die gegen 9 Uhr
abends ihren Höhepunkt erreichte, fast überall in dem Maße, daß die Bevöl-
kerung an der seichten, durch Deiche nicht geschützten Küste sich kaum zu
retten vermochte. Von den Städten wurden Stralsund, Rostock, Warne-
münde, Kiel, Apenrade schwer beschädigt; am furchtbarsten litt Eckernförde
an Schleswigs Küste. Die kleine Stadt liegt auf einer schmalen, von S.
nach N. hinlaufenden Landzunge, welche östlich von der Ostsee, westlich von
einem Einschnitt derselben, dem Windebyer Noor, begrenzt wird; ein etwa
9 m breiter, starker Damm verbindet die Stadt mit dem kleinen Bade-
orte Borby. In der Frühe des 13. Novembers rollte die Sturmstut an
dem Strande empor, fegte die nahegelegene Häuserreihe weg und drang in
die Straßen der Stadt; alsdann wühlte das Wasser binnen anderthalb
Stunden den mächtigen Damm hinweg und füllte das Noor, bis es auch
aus diesem wie aus einer überfließenden Schale in die Straßen sich ergoß.
Nur wenige Stunden noch — und die ganze Stadt wäre hinweggeschwemmt
worden; aber glücklicherweise sprang der Wind nach Südost um, und das
Wasser strömte rasch ab. Aber eine Stadt in Trümmern blieb zurück; denn
gegen drittehalb hundert Häuser waren zerstört oder beschädigt, über 160
Familien obdachlos geworden.
Niemand vermag das Elend zu beschreiben, das diese Flut an dem
einen Unglückstage von der Insel Usedom an Pommerns Küste bis nach
Jütland entlang getragen hat. Wer möchte auch allen Spuren des Ver-
derbens leidtragend nachgehen? Es genüge, um das entsetzliche Unglück zu
fassen, ein Blick aus die holsteinische Küste. Das Seebad Travemünde
wurde arg verheert, in dem nahegelegenen kleinen Badeorte Niendorf ver-
loren 38 Familien ihr Obdach; die Insel Femarn wurde fast ganz über-
schwemmt, am Sunde, der die Insel von Holstein trennt, versank das Lotsen-
haus mit seinen Bewohnern; von dem Dorfe Dahme blieb nur der dritte
Teil stehen, 40 Wohnhäuser zertrümmerte des Wassers Andrang, das kleine
Rietbruch verschwand ganz; auf dem einzigen Hofe Klostersee ertranken 350
Kühe. Und ähnlich wie hier bot die ganze weitgestreckte Ostseeküste ein
Bild der Zerstörung; es war, als ob ein Todesengel an ihr entlang gegangen
wäre. Einzelne kleine Ortschaften wurden gänzlich vom Erdboden getilgt.
Tausende von Wohnhäusern zertrümmert; weite, fruchtbare Landstrecken
lagen mit ödem Schlamme unb Gerölle überdeckt; Wasser und Erde hatten
sich zu einem unfruchtbaren Brei in einander gemischt, für gewinnbringenden
Anbau auf Jahre lang unbrauchbar. Vielfach lagen die Schiffe, von der
Windsbraut fortgeschleudert, auf dem festen Lande, und ihr Kiel furchte den
Boden, über den bis dahin nur der Pflug hinweggegangen war; einzelne
waren in nahegelegene Waldungen geworfen, wo sie wie ein Wrack zwischen
126
den Bäumen festsaßen. Ungeheuer waren die Verluste an Vieh, welches
ertrunken, an Booten und Netzen der Strandbevölkerung, an Hausgerät und
allem, was durch Gebrauch und Andenken dem Menschen wert und
lieb ist; in Schleswig-Holstein allein überstieg der Verlust an Privateigen-
tum 1 Million Thaler. Und nicht selten weinte der seiner Habe Beraubte
auch noch um das Leben eines in der Sturmflut dahingerissenen Angehörigen.
Wunderbar war die Rettung eines Knaben. Als das Lotsenhaus am
Sunde von Femarn von den Wogen zerstört war, trug die Flut das noch
Zusammenhaltende Gebälk des Daches in die offene See hinaus. Daran
klammerten sich der Lotse und sein Weib und ihr dreizehnjähriger Sohn.
Aber nach einigen Stunden erlahmten die Kräfte der vom eisigen Sturme
halberstarrten Menschen. Eine Welle spülte zuerst die Frau hinunter
in die Tiefe des Meeres, eine andere verschlang bald darnach den Lotsen.
Nur der Knabe hielt sich aus dem wunderbaren Fahrzeug, ja, er hatte
Besonnenheit, die noch hastenden Ziegel des Daches abzulösen und in die
See zu schleudern, um auf diese Weise das Gebälk zu erleichtern. So trieb
er ohne Nahrung und Schlaf, einsam und hilflos, von der Kälte des Windes
und der spritzenden Wogen erstarrt, über 24 Stunden in der schaurigen
Öde des Meeres umher; zweimal sah er die Sonne aufgehen, und noch
immer kam keine Rettung. Endlich gewahrte ihn und sein seltsames Fahr-
zeug der Kapitän eines französischen Schiffes; der menschenfreundliche Mann
setzte unter großer Gefahr ein Boot aus, und es gelang ihm, den Knaben,
der wie durch ein Wunder so lange das Leben gefristet hatte, zu retten.
Er brachte ihn in den Kieler Hafen hinein, und hier erholte sich das Kind
unter sorgsamer Pflege so rasch, daß es schon nach wenigen Tagen in die
Heimat zurückgesandt werden konnte.
Zweierlei Erhebendes nimmt der Mensch hinweg aus diesen Schreck-
nissen der Naturgewalten. Man steht im dumpfen, starren Staunen am
Gestade, sagt ein Augenzeuge, zu nichts fähig, als die Allmacht zu bewundern,
welche nach diesem Riesenkampfe der Elemente gegen einander dennoch wieder
Frieden zu stiften vermochte. Das ist das erste: über unserer menschlichen
Ohnmacht führt ein allmächtiger und allgütiger Gott alles herrlich hinaus.
Und das zweite: der trübe, schaurige Novembertag hat viele schöne Werke
barmherziger Bruderliebe gesehen; wie mancher hat wie im Liede vom braven
Manne hochherzig sein Leben für das Leben der Bedrängten eingesetzt, wie
mancher die Hungernden und Frierenden gesättigt und bekleidet. Und als
die Größe des Unglücks bekannt wurde, da ergriff ein edler Wetteifer, zu
helfen und zu trösten, das ganze Volk. Hat doch die eine Stadt Hamburg
über 100 000 Thaler hergegeben, und in Schleswig-Holstein allein sind
250000 Thaler an freiwilligen Beiträgen zusammengeflossen. Und ähnlich
rührte es sich im ganzen, großen Vaterlande; selbst unsere kaum zu uns
zurückgekehrten Brüder im Elsaß spendeten mit offenen Händen. Das scheint
wie ein freundliches Licht durch das Dunkel; und wie herbe auch das Unglück
gewesen ist, aus dem Menschenleid und Jammer wuchs trostvoll die edle
Blüte der Menschenliebe empor.
Kallsen.
127
2. In der Tiefebene.
87. Vrl8 Marschland.
Das Marschland teilt sich von der Geest so scharf ab, dass man
die Grenze meistens mit einem Stocke angeben kann. Ich sagte mei-
nem Kutscher, er solle da anhalten, wo wir in die Marsch kämen; er
that es, und es fand sich, dass die Pferde mit den Füssen schon in dem
klebrigen Marschboden steckten, während die Hinterräder des Wagens
noch auf dem sandigen, trockenen Geestwege standen.
Nach anhaltendem Regenwetter wird der Marschboden zu einem so
tiefen, klebrig-dickmusigen Schlamme, dass im Herbste zuweilen geradezu
aller Verkehr in den Marschen aufhört. Muss man reisen, so ist man
zufrieden, wenn man zwei Stationen an einem Tage zurücklegt.
Obwohl ich die Marschen oft gesehen hatte, überraschte mich doch
auch hier wieder der Anblick dieser eigentümlichen Bodengestaltung.
Vor mir, zur Hechten und zur Linken, lagen unabsehbare Wiesenfluren,
in der Nähe und Ferne mit Herden weidender Kinder bedeckt; selbst
von den entlegensten Weiden schimmerten noch wie Wiesenblümchen
die bunten Rücken der Ochsen und Kühe. Wie die Rinder, so sind
auch die Wohnungen der Leute weit und breit verstreut. Sie liegen
auf künstlich errichteten Hügeln von 3 bis 5 m Höhe, die „Wurten“
genannt werden und die den Bewohnern und allen ihren Habseligkeiten
als Zufluchtsort bei grossen Überschwemmungen dienen. Auf solchen
Wurten wohnen nicht nur die Friesen, sondern überhaupt alle Leute an
der ganzen Küste von Schleswig und Holstein bis nach Hamburg hin, an
allen Ufern der untern Elbe und Weser, der Jalide, der Ems und in
128
einem grossen Teile der Niederlande. Wie Burgen ragen die Hügel-
wohnungen aus dem Grasmeere hervor, und man sieht bis weit an die
Grenze des Horizonts noch viele solcher Burgen auftauchen.
Auf diese Würfen wird auch alles mit hinaufgezogen, was die
Feuchtigkeit der Wiesengründe nicht verträgt, namentlich der Gemüse-
garten. Kohl und Rüben werden überall an den Abhängen dieser Hügel
gebaut. Im Sommer sind die Würfen alle von dem in der Blüte stehen-
den Raps gelb gefärbt. Auch steht hier und da ein Baum auf dem
Gipfel des Berges neben dem Hause. Sonst ist in der Marsch seihst
nirgends ein Busch oder Baum zu erblicken. Die Häuser sind hier in
einem ganz anderen Stile gebaut als auf der Geest; sie sind nur ein-
stöckig, lang, von Ziegeln, ohne vielen Holzaufwand, wie in Holland,
und über den niedrigen Thüren ist immer nur ein kleiner, schmaler Bogen,
der schneeweifs angekalkt ist, der einzige übertünchte Streifen am ganzen
Hause. Neben den Thüren findet man immer zwei eiserne Ringe an-
geschlagen, um Reitpferde daran anzubinden; denn bei der argen Weg-
losigkeit der Marsch im Herbst und Winter reiten die Bewohner lieber
zu einander, selbst die Weiber, die von ihren Männern hinten auf das
Kreuz des Pferdes genommen werden.
Einen eigentümlichen Zug bilden in der Landschaft die Deiche, die
sich in langen Linien durch die Wiesen erstrecken. Man unterscheidet
sie in Binnen- und Haff- oder Seedeiche. Mit dem letzten Namen wird
der äussere Deich, der gegen die See schützt und unmittelbar an der
Küste hinläuft, bezeichnet. Wenn das Land nach dem Meere zu an-
wächst und dann durch seine Eindeichung ein neuer „Haffdeich" entsteht,
so wird der alte dadurch ein Binnendeich; denn man lässt diese bestehen,
weil seine Wegschaffung sehr kostspielig sein würde, und weil er auch
beim etwaigen Durchbruch des Haffdeiches doch noch schützen könnte. —
Weil die Deiche erhaben und daher meistens trockener sind als die tief-
liegenden Marschen, so fährt man gern auf ihrem Rücken hin, und es
bilden sich daher namentlich auf den Binnendeichen Wege aus. Auf
den Haffdeichen zu fahren, erlaubt man aber nicht in allen Marschländern,
weil die Wagen dem Deiche schaden. — Die auf den hohen Deichen sich
bewegenden Wagen, Fussgänger und Reiter gewähren in der Ferne
einen eigentümlichen Anblick. Sie sehen gespenstisch aus und man
begreift, warum die Marschbewohner so oft Gespenster auf den Deichen
wandeln sehen.
Als letzte Eigentümlichkeit muss man noch die tiefen Gräben
erwähnen, die um alle Marschwiesen und Marschäcker gezogen sind, um
sie trocken zu legen, und dann die Kanäle und Schleusen, um die süssen
Landgewässer ins Meer abzuführen. Im Sommer sind die Gräben zum
Teil trocken und voll Vieh, das darin grast. Die Kühe schienen mir
ausserordentlich zahm, sanft und klug; denn eine jede, bei der wir vor-
beifuhren, hob ihren Kopf aus dem Grase empor, blickte uns neugierig
an und brüllte, als wollte sie uns begrüssen.
Kohl.
129
88. Im Spreewalde.
Es ist ein frischer, duftiger Morgen am Anfange des Juni. Die
Sonne badet sich in den unzähligen Wasserstrassen, die weite, üppige
Wiesenflächen und fruchtbare Felder wie die Maschen eines Netzes
kreuzweise durchziehen. Schnell und lautlos gleitet unser Kahn über
das blitzende Wasser dahin; ein kräftiger, schmucker Bursche steht am
Hinterteile des Fahrzeuges und schiebt es durch eine lange Stange
geschickt weiter. Wir sind im wendischen Spreewalde. Wir gleiten
an einzelnen, zerstreut liegenden Bauernhäusern vorüber, die höchst
schmucklos aus Holz gezimmert und mit Rohr bedeckt sind. Die Bewohner
sind fast sämtlich auf den Äckern thätig. Es sind derbe und frische
Kerngestalten mit blondem Haare, blauen Augen und runden, gutmütigen
Gesichtern. Die Männer sind in grobe, graue Leinwand gekleidet. Die
Tracht der Frauen ist malerisch bunt: rot und blau und gelb gestreifte
Röcke, ein eng anschliessendes Mieder, weifse, aufgeschürzte Hemdärmel
und ein rot und gelb geblümtes Busen- und Kopftuch, leicht zum
Schutze gegen die Sonne um den Kopf geschlungen. Auf Schuhe und
Strümpfe verzichtet der Spreewälder während des ganzen Sommers.
Diese Leute sind spärliche Reste des einst so mächtigen wendischen
Volksstammes. Sie sprechen heute noch die Sprache, welche ihre Väter
vor tausend Jahren geredet haben, und halten an den Sitten und Ge-
bräuchen der Altvordern fest. Die Wildnis, welche vor Zeiten der Spree-
wald war, urbar zu machen, hat viel Arbeit gekostet. Die unzähligen
Gräben mussten mit dem Spaten gegraben und abgedämmt werden, um
den Sumpfboden trocken zu legen. Dadurch sind die fettesten Wiesen,
das fruchtbarste Gartenland entstanden. Die Zwiebeln, Gurken und der
Meerrettich des Spreewaldes sind weit und breit gesuchte Ware. Auch
die Wiesen bringen viel ein, das Spreewaldheu geht sogar bis Berlin.
Im Winter stehen alle Wiesen voll grosser Heuhaufen. Wenn das Eis
trägt, kommen die Händler zu Schlitten und kaufen die Vorräte auf.
Wir gleiten unter uralten, hohen Bäumen dahin; mächtige Eschen
und Buchen, Erlen und Eichen schlingen ihre grünen Zweige zum kühlen,
luftigen Dache ineinander und spiegeln sich tief unten im dunkeln, feuchten
Blau wieder. Schlanke Weiden neigen sich über das Ufer und spielen
mit den gelben Blütenzweigen in der Flut. Die Waldeinsamkeit hallt
wieder von dem Jubel der Vögel. Am Wasserrande sitzt ein wendisches
Mädchen in sauberer Volkstracht. Sie spielt mit Blumen im Schosse
und plätschert sorglos mit den braunen Füssen im Wasser. Langsam
singt sie eine schwermütige, eintönige Weise; es ist ein wendisches Volks-
lied, wie sie es an den Winterabenden von den Frauen und Mädchen in
der Spinnstube singen hörte.
Helles Jubeln und kindliches Lachen tönt uns entgegen; eine Flotte
von flachen Kähnen, breit und viereckig wie Fähren, schwimmt lustig auf
uns zu. Wendenkinder sind die Fährleute, Wendenkinder die Passagiere.
Die Knaben sind auf das schmuckloseste bekleidet; ein leinenes Höschen,
Das Vaterland. 9
130
vielfach geflickt und doch zerrissen, ein gerade nicht sehr sauberes
Hemd — weiter nichts. Die Mädchen nehmen sich schon schmucker
aus; die weifsen Hemdärmel stehen hübsch zu dem roten Kopftuche und
dem bunten Löckchen. Einige tragen sogar ein weifses Häubchen mit
Schleifen oben auf dem Kopfe und gefältelten Flügeln an der Seite. Die
Schule ist aus; die Kinder gehen nicht, sie schwimmen nach Hause; aber
der Jubel ist derselbe wie bei unseren Kindern, wenn endlich die drei
langen, heissen Sommerstunden glücklich vorüber sind.
Weiter gleitet unser Kahn. Wir sind in dem grössten wendischen
Kirchdorfe, Burk. Ein wunderliches Dorf! Fast jede einzelne Hütte
steht auf einem besonderen Inselchen, von herrlichen Bäumen über-
schattet. Sind diese Inselchen nur durch schmale Gräben von einander
getrennt, so ist zwischen ihnen eine Verbindung durch hohe, einfache
Brücken bewirkt. An jedem Ufer ist nämlich ein hoher Baumstamm in
die Erde getrieben, auf beiden ruht ein Brett, und zwei schräg daran
gelegte Stämme, mit Leisten benagelt, dienen als Treppe hinauf. Die
Brücken sind so hoch, damit auch ein mit Heu beladener Kahn frei unten
durchfahren kann. Im übrigen besteht die Verbindung zwischen den
Inseln im Sommer durch die Kähne. Das ist ein immerwährendes Be-
gegnen und Vorübergleiten dieser kleinen, abgestumpften Fahrzeuge, die
sich auf den engen Wasserstrassen mit der grössten Leichtigkeit aus-
weichen. Sonntags fährt alt und jung in vollem Putze zu Kahn in die
Kirche. An den langen, dunklen Herbstabenden tragen die Spreewäld-
lerinnen ihre altertümlichen Spinnräder mit den bunt bebänderten Kun-
keln in die Fahrzeuge und schwimmen in die Spinnstube. Aus ihren
kleinen, runden Fenstern leuchtet dann das rote Kienlicht, und uralte
Volkslieder klingen durch den stillen Abend. Zu Kahn werden auch die
Früchte des Feldes und das Gras der Wiesen heimgebracht oder auf die
Märkte der nahen Städte geschafft.
Im Winter ändert sich das Bild. Sind die (Gräben nur notdürftig
zugefroren, so binden sich Knaben und Mädchen ihre Eisen unter die
Holzschuhe und laufen in die Schule; Männer und Weiber gleiten auf
den Schlittschuhen in erstaunlicher Geschwindigkeit über das blanke Eis
in die Kirche, in die Spinnstube, in die Schenke zum Tanze. Jeder
Schlittschuhläufer trägt eine lange Stange in der Hand, um sich durch
sie über dem Wasser zu halten, wenn das dünne Eis unter den Füssen
des Tollkühnen einbricht; dann schüttelt er das Wasser aus den Kleidern
und läuft munter weiter, als sei nichts geschehen.
Doch jetzt sind wir noch im lachenden Sommer, und wieder begeg-
nen wir einer Flotte von Kähnen, wieder schallt uns Lust und Jubel
entgegen. Eine stattliche Hochzeitsgesellschaft fährt nach Burk zur
Kirche. Lustig, wenn auch manchmal die Ohren zerreifsend. schmettert
die Musik voran, begleitet von Jauchzen und Pistolenschüssen aus allen
Kähnen. Die Braut trägt ein schwarzes Kleid und eine grosse, weifse
Haube mit schwarzer Kopfbinde. Die weifsen, steif gestärkten und dicht
gefältelten Leinwandflügel der Haube sind von dem Umfange eines ziem-
131
liehen Wagenrades. Ein schwarzer, hoher Hut, ein langschöfsiger Rock
und ein riesiger Blumenstrauss mit bunten Bändern im Knopfloche
schmücken den Bräutigam.
Aber Freude und Leid sind oft nahe bei einander. Noch ehe wir
unsere Fahrt beendet haben, gleitet still und feierlich eine lange Reihe
von Kähnen an uns vorüber. Auf dem ersten Kahne steht ein Sarg,
mit einem grossen, weifsen Tuche bedeckt. Darinnen schläft ein alter
Bauer seinen letzten Schlaf. Alle Leidtragenden haben ihre Gesichter
in die kummervollsten Falten gelegt. So fordert es streng die Sitte.
Von Zeit zu Zeit bricht ein allgemeines Weinen und Wehklagen aus,
wie auf Kommando. Die Weiber setzen eine Ehre darein, in den gellend-
sten Tönen zu jammern. Niemand, der zu Leichengefolgen gebeten ist.
darf sich von dieser allgemeinen Traurigkeit ausschliefsen. Schwarzer
Flor weht von den Hüten der Männer; im Gegensatze dazu ist die tiefste
Trauerfarbe der Weiber weiss. Aber nicht allein das Leichengefolge
muss um den Verstorbenen trauern, auch sein Vieh soll teilnehmen an
der allgemeinen Traurigkeit. Kaum hatte der alte Vater seine Augen
für immer geschlossen, so ging der älteste Sohn in das Bienenhaus,
klopfte an jeden Bienenkorb und sagte: „Bienchen, Bienchen, stehet auf!
Euer Wirt ist gestorben.“ Und als sie den Sarg aus dem Hause in den
Kahn trugen, ging der Sohn in den Stall, störte das Vieh auf, streute
ihm Futter und wehklagte: „Stehet auf! Stehet auf! Soeben tragen sie
euern Wirt hinaus, und er kehrt nie wieder.“ Wallner.
89. Die norddeutschen Moore.
Die Moorlandschaften gehören zu den trostlosesten Strichen von ganz
Deutschland. Kein Strauch unterbricht diese unabsehbaren Öden; sie sind
spärlich mit kurzem, schilfigem Moorgrase und Binsen bewachsen, und
stellenweise tritt braunes, übelschmeckendes Wasser zutage. Eine Toten-
stille herrscht aus ihnen, höchstens unterbrochen durch das Geschrei des
Kiebitz oder den klagenden Laut des Moorhuhns. Meist sind diese Moräste
1—3 m, hier und da an 6 m mächtig. Wehe dem Unkundigen, der es
wagte, über solchen Boden zu wandern! Ohne die langen Brettersandalen
der Eingeborenen wird er an vielen Stellen unfehlbar in das tiefe Moor
allmählich versinken, wenn nicht baldigst mit Tauen und Brettern Hilfe
geleistet wird.
Das Moorbrennen ist erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
aufgekommen, obwohl man schon früher die düngende Kraft der Asche
kannte. Der Vorgang ist folgender. Zuerst teilt man die zum Brennen
bestimmte Fläche in große Vierecke ab und zwar durch Gräben von 3 m
Siefe und l1/2 m Breite. Ein solches Viereck wird nun der Länge nach
mit tiefen Furchen durchzogen und dann längere Zeit dem Austrocknen über-
lassen. Darauf hackt man den Boden 3—6 dm tief ein und läßt den
Acker so den Winter über liegen. Im Frühlinge wird der nur grob um-
gerissene Boden möglichst fein zerschlagen, bis er endlich bei trockenem Wetter
9*
132
zerriebenem Torfe gleicht. Dann streut man an vielen Stellen glühende
Kohlen auf den Boden, so daß bei mäßigem Winde bald der ganze Acker
in Flammen steht. Oft stehen bei gutem Wetter Tausende, ja Hundert-
tausende solcher Mooräcker in Brand und entsenden von der Zuidersee bis
zur Elbe dicke Rauchwolken, die sich bald zu einer großen Moorrauch-At-
mosphäre vereinigen. Bei günstigem Wetter wird ein Acker in einem Tage
hinlänglich durchgebrannt, und nun sät man Buchweizen sofort in die heiße,
ja glühende Asche. Die Schalen der Körner müssen, wenn es gut sein soll,
in der Glut knistern. Das Zudecken des Samens überläßt man dem
Regen. Man sät auch Roggen und Hafer und steckt Kartoffeln, aber nur
nebenbei; der Hanptbau ist der Buchweizen.
Dieses Moorbrennen, dessen Nutzen man bisher überschätzt hat, ruft
für das Vaterland die unangenehme Erscheinung des Höhenrauches hervor,
der namentlich bei Nordwestwind bis in weite Fernen des inneren Landes
getragen wird, und der norddeutsche Dichter hat recht, wenn er ruft:
„Ganz Deutschland riecht's, wenn unsre Moore rauchen". Daniel.
3. In deutschen Mittelgebirgen.
W. Brockenreise.
Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen wie Gespenster beim
dritten Hahnenschrei. Ich stieg wieder bergauf und bergab, und vor
mir schwebte die schöne Sonne, immer neue Schönheiten beleuchtend.
Der Geist des Gebirges begünstigte mich ganz offenbar und ließ mich
diesen Morgen seinen Harz sehen, wie ihn gewiß nicht jeder sah.
Aber auch mich sah der Harz, wie mich nur wenige gesehen; in
meinen Augenwimpern flimmerten eben so kostbare Perlen, wie in den
Gräsern des Thales. Morgentau feuchtete meine Wangen, die rauschenden
Tannen verstanden mich, ihre Zweige thaten sich von einander, beweg-
ten sich hinauf und herab, gleich stummen Menschen, die mit den
Händen ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's wunderbar
geheimnisvoll, wie Glockengeläute einer verlorenen Waldkirche. Man
sagte, das seien die Herdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und
rein gestimmt sind.
Nach dem Stande der Sonne war es Mittag, als ich auf eine
solche Herde stieß, und der Hirt, ein freundlicher, blonder, junger
Mensch, sagte mir, der große Berg, an dessen Fuß ich stünde, sei
der alte, weltberühmte Brocken. Viele Stunden ringsum liegt kein
Hans, und ich war froh genug, daß mich der junge Mensch einlud,
mit ihm zu essen. Wir setzten uns nieder zu einer Mahlzeit, die ans
Käse und Brot bestand; die Schäfchen erhaschten die Krumen, die lieben,
blanken Kühlein sprangen um uns herum, klingelten schelmisch mit ihren
Glöckchen und lachten uns an mit ihren großen, vergnügten Angen.
Wir tafelten recht königlich, nahmen darauf recht freundschaftlich
Abschied, und fröhlich stieg ich den Berg hinaus. Bald empfing mich
133
eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich in jeder Hinsicht
Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz
leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer
werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken
übersät, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese
Steine umranken oder sprengen und mühsam den Boden suchen, woraus
sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine,
gleichsam ein Thor bildend, über einander, und oben darauf stehen
die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und
erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freien
Luft zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewal-
tigen Höhe emporgeschwungen, und, mit den umklammerten Steinen
wie zusammengewachsen, stehen sie fester, als ihre bequemen Kollegen
im zahmen Forstboden des flachen Landes. — Aus den Zweigen der
Tannen kletterten Eichhörnchen, und unter denselben spazierten die
rotbraunen Hirsche. Wenn ich solch ein liebes, edles Tier sehe, so
kann ich nicht begreifen, wie gebildete Leute Vergnügen daran finden,
es zu hetzen und zu töten.
Allerliebst schossen die goldenen Sonnenlichter durch das dichte
Tannengrün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln.
Überall schwellende Moosbünke; denn die Steine sind fußhoch von
den schönsten Moosarten wie mit hellgrünen Sammetpolstern bewachsen.
Liebliche Kühle und träumerisches Quellengemurmel! Hier und da
sieht man, wie das Wasser unter den Steinen silberhell hinrieselt
und die nackten Baumwurzeln und Fasern bespült. Wenn man sich
nach diesem Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleichsam die geheime
Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des
Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen
und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Wasserfälle. Da läßt
sich gut sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel
singen abgebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit
tausend Zungen, wie mit tausend Angen schauen uns an die seltsamen
Bergblumen, sie strecken nach uns aus die wundersamen, breiten,
drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen
Sonnenstrahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich grüne Märchen,
es ist alles wie verzaubert, es wird immer heimlicher und heimlicher.
Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghaster
werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammen-
zuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträucher und Berg-
kräuter übrig bleiben. Da wird es auch schon fühlbar kälter. Die
wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht sicht-
bar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl die
Spielbälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen in der
Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen und Mistgabeln
einhergeritten kommen. In der That, wenn man die obere Hälfte
des Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötz-
134
lichen Blocksberggeschichten zu denken. Es ist ein äußerst erschöpfen-
der Weg, und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brocken-
haus zu Gesicht bekam. H. Heine.
91. Thüringen.
1. Thüringen, du holdes Land,
wie ist mein Herz dir zugewandt!
Deine Bergeshäupter ragen
auf gen Himmel kühn und stolz,
und auf ihrem Scheitel tragen
sie der Eichen stolzes Holz.
Deiner Wälder grüne Hallen
Bäche sich so klar und hell,
und des Rasens Teppich breitet
bunt sich zwischen Waldessaum,
daß der Fuß des Wandrers gleitet
stets auf hundertfarb'gem Raum.
3. Thüringen, du holdes Land,
wie ist mein Herz dir zugewandt!
Ein Stück Thüringerwald. (Manebach, 1 Stde. v. Ilmenau.)
hegen, Pflegen edles Wild,
und das Lied der Nachtigallen
frisch aus Busch und Haine quillt.
2. Thüringen, du holdes Land,
wie ist mein Herz dir zugewandt!
Silbern springt in deinen Gründen
mancher frische Labequell,
und durch deine Thäler winden
Früh auf deinen Feldern reifet
gold'ner Ähren Segenswucht,
daß, so weit das Auge schweifet,
üppig glänzt die reife Frucht.
Jubelnd tönet uns entgegen
arbeitsfroher Schnitter Lied,
wenn ringsum auf allen Wegen
I nun die Ernte heimwärts zieht.
135
4. Thüringen, du holdes Land,
wie ist mein Herz dir zugewandt!
Alte wunderbare Sagen
nachts durch deine Wälder geh'n.
Horch, von ihnen rauschen, klagen,
alte Wipfel auf den Höh'n!
Auf den Bergen, in den Gründerc,
und wohin das Auge blickt,
hat mit ihren Duftgewinden
Dichtung hold das Land geschmückt.
L. Storch.
92. Das Fichtelgebirge.
Fast in dem Mittelpunkte des deutschen Bodens liegt ein kleines, ab-
gerundetes Massengebirge, an welches sich nach verschiedenen Seiten hin
Bergketten anschließen, und dessen Quellen nach Ost, Süd, West und Nord
in die Elbe, die Donau und den Rhein abfließen. So streckt es die Arme
der von ihm auslausenden Bergketten und Gewässer nach allen Richtungen
in das weite deutsche Laud hinein. Es ist das Fichtelgebirge.
Nicht zackig und hochaufstrebend wie die Alpen, nicht so massig wie
der Harz, aber ernst und schön baut sich aus sanftgewölbten Bergreihen
das Gebirge aus. Zwischen dunklen Nadelwäldern schauen auf den Höhen
säulenartig getürmte Granitmassen herab; auf ihnen erheben sich hier und
da noch die Überreste einer alten Burg von ehemaligen Raubrittern und
grüßen, oft weithin sichtbar, ernst in die Thäler, erinnernd an eine ferne,
glücklich überwundene Zeit.
In der Gegend von Berneck steigt die Hauptmasse des Gebirges steil
auf. Die höchsten Kuppen sind der Schneeberg und der Ochsenkopf.
Letzterer, 1025 m hoch und „das Haupt und das Herz des Fichtelgebirges",
stellt sich in der Ferne als Kegel dar, ist aber ein 1 Meile langer, von Osten
nach Westen streichender Bergrücken, der mit Granitblöcken ganz überschüttet
ist. In einem dieser gewaltigen Blöcke ist ein Ochsenkopf eingeritzt. Die
Ersteigung des Schneeberges, 1063 m hoch, erfordert etwa 1 Stunde vom
Fuße an. Oben ist eine J/2 Stunde im Umfange haltende Fläche mit
Granittrümmern vollständig überschüttet. Das Backöfle, ein 8 m hoher Felsen,
ist der höchste Punkt. Man überschaut von da das ganze Gebirge, den
Thüringerwald, große Teile der Oberpfalz, des Vogtlandes und ein Stück
von Böhmen. Hochmoore, die bei jedem Fußtritte schwanken, aber dennoch
in trockener Jahreszeit tragen, füllen die . oberen Thalmulden aus. Die
längsten Stangen finden in denselben keinen Grund. Aus ihrem Schoße
schickt das Gebirge nach Norden die Saale, gegen Osten die Eger, gegen
Süden die Naab, gegen Westen den Main. Mühsam müssen sich diese
Flüsse teilweise durch enge Thäler winden, häufig über große Steinblöcke
stürzen und so als rechte Gebirgssöhne erst den ruhigen Lauf der Ebene
erlernen.
In den Hochgebirgsthälern und droben auf den luftigen Höhen wird
es jedem Wanderer wohl im Herzen; da erfreut er sich an riesigen Felsen-
massen, an duftigen Kräutern, an zierlich gebauten Moosen, die die Hoch-
moore bedecken, und an der reinen, gesunden, staubfreien Lust. Das Volk
ist arm, obgleich wir im Gebirge Ortsnamen wie Goldkronach, Goldhof,
Goldmühle und Goldberg finden. Während der arme Mann nrt den dichten
136
Wäldern Gras sammelt oder Baumpech auskratzt, Holz fällt oder harte
Granitblöcke zerschlägt, Kohlen oder Wagenschmiere brennt, träumt er sich
oft als den reichsten Mann, dem nur der letzte Schlüssel zu seinem Reich-
tume fehle, denn nach dem Volksglauben soll jeder, auch der gemeinste Stein
auf dem Fichtelgebirge edle Metalle bergen. Darum sagt der Volkswitz:
„Auf dem Fichtelgebirge wirft der Bauer einen Stein nach der Kuh, aber
der Stein ist mehr wert als die Kuh."
Von besonderer Schönheit sind das Mainthal, das Steinachthal
und das Egerthal. Die Gebirgsindustrie hat sich nicht selten in diesen
Thälern angesiedelt, um die Wasserkraft zu benutzen, und zahlreiche Hammer-
werke, Spiegelschleisereien und dergl. verbreiten Leben in die sonst so stillen
Thäler. Hier bei dieser Beschäftigung trifft man noch unversehrt und
wohlerhalten die kräftige Gestalt des Fichtelgebirgers, große, stämmige Bur-
sche mit tiefgebräunten Gesichtern, trotzend dem Sturme und Wetter, ent-
schieden im Gegensatze zu manchen Bezirken des Gebirges, wo durch
Stubenbeschäftigung, Weberei, ein zum Teil ziemlich schwächlicher Menschen-
schlag kümmerlich das Leben fristet.
In kleinen Häusern sitzen diese lebendigen Maschinen, nur selten durch
einen Blick in die sie umgebende schöne Natur erfreut. Draußen ist rings-
um alles lebendig, die Sonne scheint so freundlich, Bäume und Kräuter
stehen in Blüte, aber die armen Menschen haben keine Zeit, aus ihren täg-
lichen Mühen und Sorgen einen Blick hinaus zu senden. Im ewigen
Einerlei schwirrt das Weberschiffchen durch ihre Hand, im ewigen Einerlei
dreht sich der Zeiger der alten Schwarzwälder Uhr an der Wand. Wie
wenig hat ein solcher Mensch auf der Erde gehabt, wenn der Wagen vor-
führt, um ihn zur letzten Ruhestätte zu führen! Hugo Weber.
93. Das Erzgebirge.
Das Erzgebirge umfaßt den größten und volkreichsten Teil des König-
reichs Sachsen. Dort erheben sich die meisten und höchsten Berge des
Landes; dort sind die Quellen der größeren Flüsse, mit Ausnahme der
Elbe; dort ist das Vaterland des sächsischen Bergbaues, des Klöppelwesens,
zum Teil auch der Baum- und Schaswollenweberei und der Holzwaren-
arbeiten. Während man oben klöppelt, spinnt und webt, wird unter der
Erde geklettert, gehämmert und gekarrt.
Vom Dresdner und Leipziger Kreise steigt das Land allmählich an;
es erhebt sich wellenförmig, in stetem Wechsel von Berg und Thal, bis zu den
höchsten Punkten an der böhmischen Grenze. Es ist reich an Naturschön-
heiten aller Art, aber auch an Gegenden, wo nur düstere Wälder und kahle
Bergrücken dem Auge sich darstelleu, wo kein Singvogel nistet und nur
selten eine Biene summt, wo keine Rebe prangt, selten Korn gedeiht und
gewiß Unzählige sterben, die nie eine Pfirsische oder Weintraube gesehen,
geschweige denn gekostet haben. Ausgedehnte Waldungen bedecken besonders
die höheren Gegenden und versorgen einen großen Teil des Niederlandes
mit Holz. Auch an Tors und Steinkohlen ist kein Mangel. Die wellen-
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förmige Gestalt und die felsige Beschaffenheit des Bodens erschweren Feld-
und Gartenbau; das rauhe Klima vereitelt in den höchsten Gegenden nicht
selten die größten Anstrengungen des Landmannes. Der beste Segen der
Felder sind Hafer, Lein und Kartoffeln. Letztere vertreten meistenteils die
Stelle des Brotes. Sie geben dem Armen, oft nur mit Salz, seltener mit
Butter oder Leinöl, sein Morgen-, Mittag- und Abendbrot. Gar oft zählt
man sie den Kindern wie Leckerbissen zu; und sich daran satt essen zu können,
ist mancher Familie eine wahre Erquickung. Ohne Getreidezufuhr aus
den anstoßenden Landschaften würde der arme Erzgebirger oft hungern
müssen.
Der Erzgebirger ist zufrieden mit wenigem, dabei treuherzig im
Umgänge. Ganz besonders eigen ist ihm der Fleiß und die Sorge für den
Erwerb, zu dem ihn die Natur zwingt; denn fast jede Gabe läßt sie nur
mit Mühe oder Gefahr sich abgewinnen. Halbe Stunden weit trägt der
Erzgebirger in Körben guten Boden auf nackte Felsen. Bergabhänge
bepflügt er, die der Bewohner der Ebene kaum erklettern kann. Mühsamer
wird nirgends der Landbau betrieben, und frühzeitiger wohl nirgends die
Jugend zur Arbeit angehalten als im Erzgebirge. Mit dem sechsten Jahre
schon hilft das Kind verdienen, in der Klöppelstube, wie am Spinnrocken
und bei der Hüttenarbeit. — Eigen ist ferner dem Erzgebirger, gleich dem
Tiroler und Savoyarden, das gewerbfleißige Wandern in ferne Gegenden
und die doch stets lebendige Sehnsucht uach den Bergen und Thälern der
Heimat. Den Strichvögeln gleich, ziehen aus manchen Gegenden im Früh-
jahre Hunderte mit Bändern, Spitzen, Blechwaren u. s. w. in alle Länder
deutscher Zunge, ja oft nur mit Axt und Kelle, um anderwärts zu zimmern
und zu mauern. Zum Winter über kehrt fast alles heim, um nicht selten
in ärmlicher Wohnung den sauer errungenen Verdienst mit Weib und Kind
zu verzehren.
Dichte Nebel, welche höchstens in der Mittagsstunde weichen, kündigen
dem Erzgebirger den Winter an, der ihm gewöhnlich in der fürchterlichsten
Gestalt erscheint. Wochenlang schneit es oft ununterbrochen fort, nicht selten
so heftig, daß man sich aus den Häusern schaufeln muß; bisweilen muß
man sogar aus dem Dache steigen, um einen Gang zur Hausthüre oder
Gucklöcher für die Fenster der Unterstuben zu schaffen. Ein zwei bis drei
Meter hoher Schnee ist in strengen Wintern nicht selten. Stürme, die
nirgends fürchterlicher heulen, bilden oft zehn bis fünfzehn Meter hohe
Windwehen. Um Unglück zu verhüten, werden Signalstangen gesetzt; doch
vergeht selten ein Winter, ohne daß Menschen im Schnee umkommen.
Dessenungeachtet heißt der Erzgebirger den Winter jedesmal willkommen;
denn er bringt ihm die Schlittenbahn, welche die Wege ebnet und Verkehr
und Geselligkeit befördert. Man fährt nicht, sondern fliegt gleichsam, der
Gefahr trotzend, über Berg und Thal, und selbst Kinder gleiten in Schlitten
die steilen Höhen hinab. Überhaupt ist die Jugend dort weit abgehärteter
als im Niederlande, und oft, wenn man hier schon nach Pelz und Mantel
greift, springen dort Kinder unter freiem Himmel barfuß in der dürftigsten
Kleidung herum. Engelhardt.
138
94. Ans dem schlesischen Gebirge.
1. „Nun werden grün die Brombeerhecken;
hier schon ein Veilchen — welch ein Fest!
Die Amsel sucht sich dürre Stecken,
und auch der Buchfink baut sein Nest;
der Schnee ist überall gewichen,
die Koppe nur sieht weiß ins Thätl-
ich habe mich vom Haus geschlichen,
hier ist der Ort — ich wag's einmal: Rübezahl!
2. Hört' er's? Ich seh' ihm dreist entgegen!
Er ist nicht bös. Auf diesen Block
will ich mein Leinwandpäckchen legen.
Es ist ein richt'ges, volles Schock.
Und fein! Ja, dafür kann ich stehen!
Kein bess'res wird gewebt im Thal. —
Er läßt sich immer noch nicht sehen!
Drum frischen Mutes noch einmal: Rübezahl!
3. Kein Laut! — Ich bin ins Holz gegangen,
daß er uns hilft ick unsrer Not!
O, meiner Mutter nasse Wangen —
im ganzen Haus kein Stückchen Brot!
Der Vater schritt zu Markt mit Fluchen —
fäiii)’ er auch Käufer nur einmal!
Ich will's mit Rübezahl versuchen.
Wo bleibt er nur? Zum dritten Mal: Rübezahl!
4. Er half so vielen schon vor Zeiten —
Großmutter hat mir's oft erzählt.
Ja, er ist gut den armen Leuten,
die unverschuldet Elend quält.
So bin ich froh denn hergelaufen
mit meiner richt'gen Ellenzahl!
Ich will nicht betteln, will verkaufen.
O, daß er käme! Rübezahl! Rübezahl!
5. Wenn dieses Päckchen ihm gefiele,
vielleicht gar bät' er mehr sich aus!
Das wär' mir recht. Ach, gar zu viele,
gleich schöne liegen noch zu Haus!
Die uähm' er alle bis zum letzten.
Ach, fiel auf dies doch seine Wahl!
Da löst' ich ein selbst die versetzten,
das wär' ein Jubel! Rübezahl! Rübezahl!
6. Dann trat’ ich froh ins kleine Zimmer
und riefe: Vater, Geld genug!
Dann zagt' er nicht, dann sagt' er nimmer:
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Ich web' euch nur ein Hungertuch!
Dann lächelte die Mutter wieder
und tischt' uns auf ein reichlich Mahl!
Dann jauchzten meine kleinen Brüder. —
O käm', o käm' er! Rübezahl! Rübezahl!" —
7. So rief der dreizehnjähr'ge Knabe;
fo stand und rief er, matt und bleich.
Umsonst, nur dann und wann ein Rabe
flog durch des Gnomen altes Reich.
So stand und paßt' er Stund' auf Stunde,
bis daß es dunkel war im Thal,
und er halblaut mit zuckendem Munde
ausrief durch Thränen noch einmal: Rübezahl!
8. Dann ließ er still das busch'ge Fleckchen
und zitterte und sagte: Hu!
und schritt mit seinem Leinwandpäckchen
dem Jammer seiner Heimat zu;
oft ruht er aus aus moos'gen Steinen,
matt von der Bürde, die er trug.
Ich glaub', fein Vater webt dem Kleinen
zum Hunger- bald das Leichentuch! Rübezahl?!
Freiligrath.
9ö. Das Riesengebirge.
Dieser höchste Teil des ganzen deutschen Berglandes erhebt sich als
ein steiler und düsterer Wall aus den Vorbergen in Schlesien zu einem
5 Meilen langen, 1000 bis 1300 m hohen Kamme vom Bober im Süden
bis zum Queis im Norden. Sein Anblick ist erhaben, und die Volkssage
machte ihn zum Sitze eines mächtigen Berggeistes Rübezahl. Auf der
böhmischen Seite ist ein zweiter Kamm, zwischen beiden eine tiefe Schlucht;
an den Enden aber verbinden Hochwiesen beide Kämme. Die Gipfel erheben
sich noch 200 m höher. Am Ende des Schmiedeberger Kammes liegt die
schwarze Koppe, 1445 m hoch, und von da führt der Forstkamm zum
höchsten Gipfel, der 1610 m hohen Schneekoppe. Aus ihrer steilen
Spitze steht jetzt eine Kapelle und ein Gasthaus. Die Aussicht bei hellem
Wetter ist erhaben. Man sieht von Breslau bis Prag und vom Glatzer
Berglande bis in die sächsische Ebene das Land wie auf einer Landkarte.
Eine weitere Wanderung führt zu anderen Gipfeln, tiefen Klüften und
Wasserbecken. Bis etwa 1000 m Höhe rechnet man Viehweiden, dann
folgen Tannenwälder bis 200 m höher, darüber hinaus ist der Kamm
öde oder trägt nur knorriges Knieholz, nach Böhmen hinein auch moorige
Wiesen, die Quellgebiete der Flüsse, mit Gräsern, Alpenkräutern, Moos und
Flechten bewachsen. Isländisches Moos, Veilchenmoos und der wundersame
Teufelsbart, mit dem die Wanderer ihre Hüte schmücken, finden sich auf den
höchsten Höhen.
In den Thaldörfern sitzen viele Weber und Spinner, weiter oben
140
Wiesen- und Herdenbesitzer in zerstreuten Wohnungen, Banden (d. i. Buden)
genannt, den Sennhütten der Alpen ähnlich. Ihre Zahl ist fast 3000, einige
sind auch Gasthäuser, und in allen findet der Wanderer willige Aufnahne
und Kost. Auf dem Steinfundament steht das feste Holzhaus, sein Dach
reicht tief hinab, wohl bis an die Erde in den Winterbauden. Das Innere
ist Flur und Küche, Wohnung und Stallung. Gewöhnlich am Johannis-
tage wird das Vieh „zu Berge" getrieben. Unter dem Schalle der langen
Hellahörner, dem Gesänge der Hirten und dem Geläute der Glocken, deren
jedes Rind eine an einem verzierten Holzbügel trägt, steigt die blökende
Herde zu den Sommerweiden, und nun beginnt um die Bauden herum ein
fröhliches Hirtenleben bis Ende September. Butter und Käse (die gewürzigen
„Koppenkäse") werden zu eigenem Bedarf und zum Handel bereitet. Der
Winter dauert vom Oktober bis Mai und bringt viel Schnee. Die Bauden
sind oft im Schnee begraben, nur der aufsteigende Rauch zeigt ihre Stelle,
der Weg ins Thal ist verschwunden, auch der zum Nachbar, selbst Leichen
müssen oft wochenlang oben im Schnee aufbewahrt werden. Die Bauern
versehen sich daher zu rechter Zeit mit allen Vorräten für den Winter und
stapeln unter dem Dache Futter für das Vieh auf. Auch hier giebt es
Schneestürze, doch werden sie nicht so verderblich wie die Lawinen in den
Alpen; dagegen machen Schlittenfahrten auf günstigen Berglehnen großes
Vergnügen. Im Sommer wechseln dichte Nebel, Regen und Sonnenschein
mit Winden und Stürmen; die Gipfel sind oft in Wolken gehüllt, Wind-
stöße zerreißen sie, heftige Regengüsse stürzen herab, starke Gewitter entladen
sich an den Abhängen und Thalrändern, treffen aber auch die Gipfel. Auf
der Koppe schlug der Blitz am 18. Oktober 1828 in einer Stunde fünfmal
ein. Daniel.
96. Der Schwarzwald.
Der Wasgau bildet den westlichen, der Schwarzwald den östlichen Wall
der lachenden oberrheinischen Tiefebene. Der Schwarzwald ist nächst dem
Riesengebirge und dem Böhmerwalde das erhabenste deutsche Bergland.
22 Meilen lang erstreckt er sich vom Rheinthale vor Basel bis zum Murg-
und Enzthale und ist 5—6 Meilen breit. Der obere Teil bis zur Kinzig ist
ein wildes Gebirge mit großen Bergmassen und tiefen Schluchten; die Gegend
um den höchsten Punkt, den 1495 m hohen Feldberg, hat mit ihren zackigen
Gipfeln, düsteren Thalengen und hochgelegenen Seeen fast die Natur der
Alpen. Alle Thäler und Gipfel an der Westseite haben eine wilde Natur,
sanfter ist die nach dem Stufenlande Schwabens, dem Neckarlande, gerichtete
Seite. Ein scharfer Kamm wie auf dem Thüringer Walde fehlt dem
Schwarzwalde, dagegen treten breite Bergrücken auf, und gleich unter dem
Feldberge liegt eine 1000 m hohe, rauhe Hochfläche, über welche die Straße
aus dem Höllenthale nach Lenzkirch sich hinwindet. Außer den hohen
Gipfeln des oberen Gebirges ist auf dem unteren Schwarzwalde der
831 m hohe, breite Rücken des Roßbühl mit dem Paffe des Kniebis zu
merken, mit mehreren Hochfeeen, mit den Quellen von vier rauschenden
Flüssen, mit einem wichtigen Straßenknoten (von Kehl nach Freudenstadt)
141
und der weiten Aussicht über die Rheinebene, den Schwarzwald, Schwaben
und die Alpen bis zu den Tiroler Bergen.
Die Vorberge des Schwarzwaldes in der Rheinebene prangen mit
Laubwäldern, Obsthainen und Weinbergen. Über ihnen im Gebirge ist
dunkler Tannenwald, in den Thälern sind Laubwälder und üppige Wiesen,
hoch oben aber werden Gipfel und Hochflächen kahl oder geben nur kümmer-
liche Hafer- und Kartoffelernten. Will man eine unwirtbare Gegend bezeichnen,
so sagt man z. B. wohl „wie auf dem Dobel im Schwarzwalde". Der
Waldreichtum hat ehemals, ehe noch Amerika und Asien festeres Schiffsbau-
holz lieferten, dem Gebirge große Wichtigkeit verliehen. Viele Tausende der
stärksten Tannenstämme sind hier von den Holländern gekauft, den Rhein
hinunter geflößt und zu den Kriegs- und Handelsflotten verarbeitet worden.
Das ganze Gebirge ist jetzt noch reich an wunderbaren Sagen aus alter
Zeit. Besonders um die Bergseeeu herum spukt noch heute viel Aberglaube
von Kobolden, Nixen und Berggeistern.
Die Bewohner des Schwarzwaldes sind ein gutmütiges, frohes,
fleißiges und kunstsinniges Volk mit ernstem Wesen. Der Gewerbfleiß des
Gebirges ist außerordentlich groß, und der Wald liefert noch heute den
meisten Stoff desselben. Noch manche „Holländertanne" schwimmt den Rhein
hinab, um der Mastbaum eines großen Schiffes zu werden. Hölzerne
Geräte aller Art wandern in die Nachbarländer, und die Schwarzwälder
Uhren haben ihren Weg durch ganz Europa, bis China, nach Afrika und
nach Amerika gesunden. Das ist hier ein eigentümlicher Erwerbszweig. Von
der einfachsten Wanduhr, welche fast ganz aus Holz gefertigt ist und in
Norddeutsch land noch für einen Thaler gekauft wird, bis zu den künstlichsten
Spieluhren mit Kuckuck und Orgelwerk, welche in Indien und China, auch
schon in Moskau und Spanien mit 100 —1000 Thalern bezahlt werden,
gehen Kisten aus Kisten voll aus den stillen Bergdörfern m alle Lande.
Still sind aber nur die sinnigen, künstlerischen Meister und ihre Arbeiter,
sonst hämmert, pocht, hackt, bohrt, klappert und sägt es lustig Tag und Nacht in
den Thälern entlang. Hier werden die Zifferblätter aller Größen geschnitzt,
lackiert und bemalt, dort nur Zeiger gegossen und gefeilt, dort die Gewichte,
dort die Ketten dazu bereitet, dort die Räderwerke gefertigt; endlich setzt der
Meister die Uhr zusammen, und große Kaufhäuser in Neustadt, Furtwangen
u. s. w. besorgen die Versendung, oder der Schwarzwälder, der Uhrenhändler,
zieht selbst mit seiner Ware in alle Welt. Die Uhren zeichnen sich nicht
allein durch genauen Gang und Dauerhaftigkeit, sondern auch durch ihre
Form, Einfachheit und dann durch die künstlichste Einrichtung der vollkomme-
neren Stücke aus, welche als berühmte Musterstücke bewundert werden. —
Andere Zweige der Industrie sind Blechwaren, z. B. Löffel, welche auf
eigenen Mühlen geschlagen werden, Glas, Schmiedeeisen, Kohle, Pech u. a.
_ Das Haus des Schwarzwälders hat Ähnlichkeit mit dem Schweizer-
hause. Das Schindeldach ragt weit über die sensterreichen Holzwände, die
Zimmer sind mit Holz getäfelt, und Treppen führen von außen auf einen
Gang und zu den oberen Gemächern.
Vieles noch wäre von den Thälern des Schwarzwaldes zu erzählen.
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Es fei nur eins genannt, das der Wiese. In ihm weilte Hebel so gern,
welcher seinen Schwarzwäldern und allen Deutschen ans dem Herzen zu
reden, zu belehren und zu dichten verstand, wie kaum ein anderer Bolksdichter.
Auch Anerbachs Name wird unvergessen sein, der uns die schönen Dorf-
geschichten aus dem Schwarzwalde erzählt hat. Nach Daniel.
97. Zwei Berge Schwabens.
(1. Jan.
Der Hohenstaufen.
1. Zur Wendenacht des Jahres,
beim stillen Sternenlicht,
ward mir ein wunderbares,
erhabenes Nachtgesicht.
2. Nachts um die zwölfte Stunde
stand ich am Bergesrand,
sah dämmern in der Runde
mein schwäbisch Heimatland.
3. Vom Zollern bis zum Staufen
sah ich die Schwaben alp
am Horizont verlausen,
der Mond beschien sie salb.
4. Aus Nachtgewölken ragte
des Stauseu kahles Haupt,
das edle, vielbeklagte,
des Diadems beraubt.
5. Doch wie die Wolken wallten,
wuchs langsam draus empor
von riesigen Gestalten
ein geisterhafter Chor.
6. Die alten Schwabenkaiser,
das edle Staufenblut,
die starken Eichenreiser,
die tapfre Löwenbrut,
Der Hohenzollern.
7. Sie reckten ihre Glieder,
sie standen hoch und stark,
als fühlte jeder wieder
das alte Heldenmark.
8. Voran dem stolzen Trosse
erhob sich feierlich
der alte Barbarosse,
der Kaiser Friederich.
9. Er trug die Kaiserkrone,
den Mantel und das Schwert,
womit er einst vom Throne
des Reiches Macht gemehrt.
10. Dann drängten sich die Söhne,
die Enkel her um ihn,
zuletzt der bleiche, schöne,
der Knabe Konradin.
11. Ein jeder mit den Waffen,
den Kronen, die er trug;
auch sah ich Wunden klaffen
bei manchem Mann im Zug.
12. Und ohne Steg und Brücken
ging wolkenleis ihr Gang
den vielgezahnten Rücken
der Schwabenalp entlang.
143
18. Und allgemach im vollern,
im klaren Tageslicht
erhub der Hohenzollern
erwachend sein Besicht.
19. Den Kaiserpurpur legte
das Morgenrot ihm an,
zu krönen ihn, bewegte
die Sonne sich heran.
20. Und bis hinab zum Staufen
mit Hellem Rosenschein
begann's zu überlaufen
die grauen Bergesreih'n.
21. Ein Adler that sich wiegen,
die Schwingen ausgespannt,
mit stolzen Wendeflügen
hoch ob dem deutschen Land.
22. Und rings im Land erklangen
die Glocken allzugleich,
den Segen zu empfangen
fürs deutsche Kaiserreich.
Gerok.
4. In den Alpen.
98. Die Alpen.
1. Unter den Alpen versteht man die im südlichen Teile von Deutschland
und in der Schweiz sich erhebenden, weit ausgedehnten Gebirge, deren
Gipfel größtenteils mit ewigem Eis und Schnee bedeckt sind. Am höchsten
sind die Kuppen an den Grenzen der Schweiz gegen Italien.
Auf den Alpen weiden zahlreiche Viehherden, die von den Hirten,
welche Älpler oder Sennen heißen, gehütet werden. Hier werden den kurzen
Sommer über jene weltberühmten Käse bereitet, deren Güte sich stets nach
der Höhe der Alp richtet, aus der sie- gemacht werden, sodaß die Käse der
höchsten Alpen denen weit vorgezogen werden, welche man, wenn gleich auf
schönen Alpen, doch in geringerer Höhe oder gar in den Thälern bereitet.
Die Männer versehen hier das Geschäft des Melkens und der Käsebereitung.
Butter wird wenig gemacht, sie ist auch nicht von besonderer Güte. Wäh-
rend des Sommers wohnt der Senn in hölzernen Hütten, Sennhütten
genannt, in denen auch der Reisende oft ein Obdach sucht und dann mit
der einzigen Kost dieser Hirten, Milch, Molken und Käse, vorlieb
nehmen muß.
2. Wo die grünen Alpen aufhören, beginnt die Gegend des ewigen Eises
und Schnees, welche die höheren Gipfel bekleiden. Diese Grenze ist oft so
13. Die Nebelmäntel schleiften
langhin am Bergessanm,
die Wolkenschuhe streiften
der Wälder Wipfel kaum.
14. Und wo zur letzten Strecke
sich das Gebirg' verzweigt,
als Hüter an der Ecke
die Zollernburg aufsteigt,
15. Da schien der Zug zu halten;
im letzten Mondenschein
zerflossen die Gestalten
zu grauen Wolkenreih'n.
16. Mir schien's, die Fürsten legen
am Berg die Kronen hin,
mir war's, die Geister flögen
wie segnend rings um ihn.
17. Und wie ich stand und lauschte,
kühl streifte mir's das Haar,
ein Morgenwehen rauschte,
aufstieg das junge Jahr.
144
scharf abgeschnitten, daß man den einen Fuß auf Rasen, den andern auf
Eis setzen, mit der einen Hand den Schnee berühren, mit der andern blühende
Pflanzen greifen kann. Die Berge mittlerer Größe oder solche, deren
Gipfel rund und flach sind, bedeckt gewöhnlich nur Schnee; die noch höheren
aber, zumal wenn die äußerste Spitze ein scharfer Felsengrat oder eine eim
zelne Klippe bildet, ragen mit diesen nackten Spitzen über ewiges Eis hinaus.
Die höchsten Kuppen aller dieser Gebirge werden gewöhnlich in der Schweiz
Hörner genannt, z. B. Schreckhorn, Wetterhorn rc. Hier fällt alljährlich
eine außerordentliche Menge Schnee; er gefriert an seiner äußern Rinde
und schmilzt nur teilweise im heißen Sommer an der Oberfläche. Diese
Berge bieten daher zu allen Jahreszeiten das prächtigste Schauspiel dar,
besonders wenn bei Auf- und Untergang der Sonne das ganze Land im
Schatten liegt und nur diese höchsten einzelnen Schneekuppen, von den
Sonnenstrahlen vergoldet, in unbeschreiblicher Herrlichkeit einsam hervor-
ragen und glühen; man nennt dies das Alpenglühen.
Was der Berg wegen des schroffen Abhanges nicht zu halten vermag,
oder was die Stürme herabwehen, das füllt die nahe gelegenen Thäler an,
in denen daher der Schnee im Winter sich sehr anhäuft. In milderen
Thälern löst die Frühlingswärme diese Schncemaffen auf, und es finden
sich dann dort die schönsten Alpenwiesen. In höher liegenden Thälern aber
kann der Sommer diese Massen nicht überwinden; der Schnee bleibt nun
immer liegen und bildet einen Gletscher oder Firn. Jeder Gletscher ist
daher eine mit Schnee angefüllte Vertiefung. An der Oberfläche, an den
Seiten und vorzüglich im Grunde, wo das Eis die Lust und den Erdboden
berührt, schmilzt es am stärksten; daher fließen aus jedem Gletscher mächtige
Bäche hervor; diese unterwühlen die ganze Masse und bilden zuweilen in
145
sehr heißen Sommern da, wo ihnen der Bach entströmt, die prächtigsten
Eisgewölbe. Dieses beständige Untergraben der Gletscher ist schuld, daß
sie häufig zusammenbrechen; mit donnerähnlichem Getöse entstehen tiefe
Spalten und Schlünde, die in wenigen Stunden sich bilden und, wieder
zusammengerückt, dem Wanderer besonders dann sehr gefährlich werden,
wenn frisch gefallener Schnee sie bedeckt und eine trügerische Brücke über sie
wirft. Diese Zertrümmerung verändert beständig die Oberfläche der Glet-
scher; die meisten zeigen ein wunderbares Gemisch von Eisklippen, Er-
höhungen und Vertiefungen. Aus den Eisspalten brechen, bei plötzlicher
Luftveränderung, häufig eiskalte Luftströme hervor, welche feine Eiskörner
mit sich führen und wie Schneegestöber um sich her verbreiten; dies nennt
man das Gletschergebläse. Die Gletscher sind in einer beständigen
Ein Gletscher.
Zunahme begriffen; sie nehmen zu, sowohl an Dicke und Höhe, als an Aus-
dehnung, indem sie weiter in die Thäler sich hinabsenken, bis sie einmal
wieder in sehr heißen Sommern auf einige Zeit zurückgedrängt werden.
Sie bedecken alle Bergabhänge und Thäler der höheren Alpen; man zählt
ihrer über 400; manche darunter sind 6 bis 7 Stunden lang und x/2 bis 3/4
Stunden breit. Sie werden aber nur dem unvorsichtigen Reisenden oder dem
allzukühnen Jäger gefährlich.
3. Größer ist die Gefahr, welche vielen Einwohnern der Schweiz und
jedem im Hochgebirge Reisenden von den Lawinen oder Lauinen droht.
Damit bezeichnet man Schnee- oder Eismassen, welche von den Hochgebirgen
in die Tiefe stürzen und oft sowohl durch unmittelbare Gewalt, als durch
den Luftdruck große Verheerungen anrichten, Ströme verstopfen, Häuser
und Wälder fortreißen und Menschen und Tiere durch Ersticken töten. Sie
Das Vaterland. 10
146
entstehen, wenn bei tiefem Schnee gelinde Witterung eintritt, so daß derselbe
locker wird und zum Zusammenballen sich eignet, was vorzüglich im Früh-
linge der Fall ist. So wurden am 12. Dezember des Jahres 1809 in
den Bergbezirken der Schweiz, in Bern, Glarus, Uri, Schwyz und Grau-
bünden, in einer Nacht und fast in der nämlichen Stunde durch die Lawinen
ganze Familien erdrückt, ganze Viehherden mit den Ställen zerschmettert,
Wiesen und Gartenland bis auf die nackten Felsen abgehoben und weggeführt
und ungeheure Wälder so zerstört, daß die Bäume teils in die Thäler
gestürzt, teils geknickt und zerschmettert über einander lagen, wie die Halme
auf dem Felde nach dem Hagelschlage. Sind doch in dem einzigen kleinen
Lande Uri mit einem Schlage 11 Menschen unter dem Schnee vergraben
worden und nicht mehr auferstanden, gegen 30 Häuser und über 150 Heu-
ställe zerstört worden und 359 Stück Vieh umgekommen. Die Schweizer,
mit der Natur, ihren Erscheinungen und Ereignissen wohl vertraut, sahen
dies schreckliche Verderben voraus. Denn auf allen Bergen hatte ein frisch
gefallener, tiefer Schnee gelegen, und darauf war am 12. Dezember Tau-
wind und Sturm gefolgt. Da dachte nun jedermann schon an ein großes
Unglück. Wer sich und seine Wohnung für sicher hielt, schwebte in Betrüb-
nis und Angst für die Armen, die es treffen würde; und wer sich ohne
Rettung wußte, sagte zu seinen Kindern: „Morgen geht uns die Sonne
nicht mehr auf; bereitet euch zu euerm Ende, betet und befehlt dem Herrn
über Leben und Tod eure Seele!" — Da rissen sich auf einmal und aller
Orten von den Kuppen der höchsten Berge die Lawinen los, stürzten mit
entsetzlichem Tosen und Krachen über die langen Bergwände herab, wurden
immer größer und größer, schossen immer schneller und schneller, toseten
und krachten immer fürchterlicher und jagten die Luft dermaßen vor sich her,
daß, noch ehe die Lawine selbst ankam, durch den orkangleichen Luftstrom
ganze Wälder zusammenkrachten und Ställe, Scheunen und Häuser wie
Spreu davonflogen; und wo die Lawinen sich in die Thäler niederstürzten,
da wurden stundenlange Strecken mit allen Wohngebäuden, die darauf
standen, und mit allem Lebendigen, das darin atmete, erdrückt und zer-
schmettert. Einer von zwei Brüdern in Uri, die mit einander hausten, war
ans dem Dache, das hinten an den Berg anstößt, und sagte: „Ich will den
Zwischenraum zwischen dem Berge und dem Dächlein mit Schnee ausfüllen
und alles eben machen, damit, wenn die Lawine kommt, sie über das Haus
wegfährt, und daß wir vielleicht"............und als er eben sagen wollte:
„daß wir vielleicht mit dem Leben davonkommen", da führte ihn die plötz-
liche Windsbraut, die der Lawine vorausgeht, vom Dache hinweg und hob
ihn, schwebend in der Lust, gleich einem Vogel, über den Abgrund. Und
als er eben in Gefahr war, in die unermeßliche Tiefe hinabzustürzen, da
streifte die Lawine an ihm vorbei und warf ihn seitwärts an den Berg hin.
Er sagte, es habe ihm nicht wohl gethan; aber in der Betäubung habe er
einen Baum umklammert, sich an ihm festgehalten, bis alles vorüber gewesen;
dann sei er glücklich wieder heim zu seinem Bruder gegangen, der auch noch
lebte, obgleich der Stall neben dem Häuschen wie mit einem Besen weg-
gewischt war. Da konnte man auch sagen: Der Herr hat seinen Engeln befohlen
147
über dir, daß sie dich auf den Händen tragen; denn er macht Sturmwinde
zu seinen Boten, und Lawinen, daß sie seine Befehle ausrichten!
4. Viel schrecklicher noch als die Lawinen, aber zum Glück ancki weit
seltener, sind die sogenannten Erd- oder Bergfälle. Der fruchtbare
Boden, welcher einen Bcrgabhang bedeckt, ruht ans einem Thon- oder
Wurzellager, das von der Feuchtigkeit allmählich ausgelöst und untergraben
wird. Treten nun ungewöhnlich starke Regengüsse ein, so löst sich die ganze
obere Erdschicht mit Wäldern und Getreide von ihrer Grundfeste und rutscht
mit zunehmender und unwiderstehlicher Gewalt in das Thal; ja zuweilen,
so ungeheuer ist die Gewalt des Sturzes, verbreitet der Erdfall seine Ver-
heerungen über das Thal hinaus bis auf die gegenüber liegenden Berg-
abhänge. Einer der gräßlichsten Fälle dieser Art ereignete sich am 2. Sep-
tember 1806 bei Goldau im Bezirke Schwyz. Ein Reisender erzählt
diese jammervolle Begebenheit auf folgende Weise. „Es war am 2. Sep-
tember 1806, als, nach den heftigsten Regengüssen während mehrerer Tage,
abends um 5 Uhr, unter einem noch nie gehörten Donnern und Krachen,
die oberste Höhe des Roßberges, Spitzebühl genannt, jählings zusammen-
stürzte. Verheerend hatte die ungeheure Masse der Felsenschichten, Erde
und Waldung, mit der Schnelligkeit eines wütenden Waldstroms, sich in
zwei Armen in das schöne Thal hinabgestürzt und die Dörfer Busingen und
Goldau nebst dem größten Teile von Lanerz in Schutt verwandelt, die
Mehrzahl der Einwohner aber erschlagen. Viele Hütten friedlicher Hirten
wurden von der fortgeschobenen Kiesmasse zerdrückt oder von ungeheuern
Felsenstücken mit unbeschreiblicher Gewalt zermalmt und zertrümmert. In
diesem Augenblicke hoben sich neue Felsenberge aus der Tiefe empor. Uralte
Tannenwälder rissen sich von dem Abhange des Berges los und ver-
sanken, ohne nur eine Spur übrig zu lassen. Noch andere gewaltige Massen
hatten sich durch die ganze Breite des Thals hoch an den Abhang des
gegenüber liegenden Rigi-Berges hinausgewälzt oder waren wie leichte Bälle
über Häuser und Bäume hinweg geschleudert worden. In Goldau selbst
sahen mehrere Einwohner die Unglück drohende Masse von der Spitze des
Noßberges sich ablösen und heranbewegen, als plötzlich von der Kapelle au?
die Sturmglocke ertönte. Auf ihren furchtbaren Ruf drängte sich alles,
was sich in der Nähe befand, in das Heiligtum zum Gebete. Noch ein
Augenblick, so stürzte unter den herabrollenden Bergtrümmern die Kirche
zusammen, und ein Grab verschlang sie alle, Männer und Weiber, Greise
und Kinder. — Während der eine Teil des Bergfalls Goldau und seine
herrliche Gegend begrub, hatte der andere sich gegen Lauerz hinausgeschoben
und bis an das Dorf und den See hinauf alles, was er auf seinem Wege
traf, mit sich weggerissen. Das helle Blau des Lauerzer Seees verwandelte
sich plötzlich in eine widrige Lehmfarbe, seine sanften Wellen in tobende
Meereswogen, welche mit reißender Gewalt gegen das Dorf Sewen hinauf
sich wälzten, hier Häuser ans ihrem Grunde hoben und dort weit von ihrer
Stelle versetzten. Aus dem See selbst trieben Balken, Gerätschaften, Heu-
schober, Obstbäume und Trümmer von Gebäuden in wilder Unordnung
umher. In Lauerz stellte sich nach dieser grauenvollen Verwüstung die
10*
148
herrlichste und die ödeste Natur in einem herzerschütternden Gegensatze dar;
denn der Erdstrom war zwar bis tief in das Dorf und auf die Höhe der
Kirche vorgedrungen, hatte aber hier plötzlich seine Kraft verloren, und
durch dies glückliche „Bis hierher und nicht weiter!" wurden die äußersten
Häuser des Dorfes, wie durch ein Wunder der göttlichen Allmacht, vor
dem Untergange bewahrt. Noch stehen diese Wohnungen unberührt und
unbeschädigt nach wie vor zwischen schattenreichen Fruchtbäumen neben ein-
ander und erinnern an das alte anmutige Lauerz. Aber so wie man sich
wendet, und kaum drei Schritte von dieser belebten Stelle, eröffnet sich der
Schauplatz jener grauenvollen Verheerung. Mitten unrer den Ruinen und
wie in einer furchtbaren Wüste stehend, zeigt sich der Kirchturm, losgerissen
von der eingestürzten, nicht mehr sichtbaren Kirche. Ein tiefes Schweigen
ruht auf dieser traurigen Einöde."
Ein beinahe ebenso großer Bergsturz fand im Jahre 1881 statt.
Dieser begrub den größten Teil des stattlichen Dorfes Elm und mit ihm
viele Bewohner. Nach Tschudi.
99. Der Alpenjäger.
1. Willst du nicht das Lämmlein hüten?
Lämmlein ist so fromm und sanft,
nährt sich von des Grases Blüten,
spielend an des Baches Ranft.
„Mutter, Mutter, laß mich gehen
jagen nach den wilden Höhen!"
2. Willst du nicht die Herde locken
mit des Hornes munterm Klang?
Lieblich tönt der Schall der Glocken
in des Waldes Lnstgesang.
„Mutter, Mutter, laß mich gehen
schweifen auf des Berges Höhen!"
3. Willst du nicht der Blümlein warten,
die im Beete freundlich stch'n?
Draußen ladet dich kein Garten;
öd' ist's auf den wilden Höh'n!
„Laß die Blümlein, laß sie blühen!
Mutter, Mutter, laß mich ziehen!"
4. Und der Knabe ging zu jagen,
und es treibt und reißt ihn fort,
rastlos fort mit blindem Wagen
an des Berges finstern Ort;
vor ihm her mit Windesschnelle
flieht die zitternde Gazelle.
5. Auf der Felsen nackte Rippen
klettert sie mit leichtem Schwung,
durch den Riß geborst'ner Klippen
trägt sie der gewagte Sprung;
aber hinter ihr vermögen
folgt er mit dem Todesbogen.
6. Jetzo auf den schroffen Zinken
hängt sie, auf dem höchsten Grat,
wo die Felsen jäh versinken,
und verschwunden ist der Pfad.
Unter sich die steile Höhe,
hinter sich des Feindes Nähe.
7. Mit des Jammers stummen Blicken
fleht sie zu dein harten Mann,
fleht umsonst, denn loszudrücken,
legt er schon den Bogen an. —
Plötzlich aus der Felsenspalte
tritt der Geist, der Bergesalte.
8. Und mit seinen Götterhänden
schützt er das gequälte Tier.
„Mußt du Tod und Jammer senden",
ruft er, „bis herauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde;
was verfolgst du meine Herde?"
Schiller.
100. Der Geisslbube.
Der im Gebirge herumstreifende Wanderer trifft häufig Ziegen-
herden in einsamen Alpengegenden, bald frei wandernd, bald
unter Obhut eines wetterbraunen, barfüfsigen Jungen. Die Ziegen
149
sind selten scheu, gewöhnlich ganz zutraulich und munter. In
manchen Schweizerbergen folgen sie dem Fremden stundenweit,
um eine Prise Salz oder ein Stück Brot zu erbetteln. Gewöhnlich
ist ein halbes Dutzend der Ziegen einer Ochsen- oder Pferdeherde
beigegeben, und ihre Milch ist fast die einzige Nahrung der
Hüter; oft finden sich auch einige Ziegen im Gefolge einer Kuh-
herde, oder sie werden auch zu Herden vereinigt und zur Alp
getrieben. In diesem Falle teilt man sie im Appenzeller Lande
in Haufen von je 12 Stück ab; ärmere Bauern, die keinen ganzen
Haufen besitzen, stofsen ihre Ziegen zusammen und halten ge-
meinschaftlich einen Geifsbuben, der magere Kost und noch
150
geringere Löhnung erhält. Mit grosser Kühnheit schweifen die
Tiere in den steilsten Gebirgsbänken umher, um vereinzelte
Grasbüschel oder zarte, leckere Stäudchen zu rupfen. Dabei
geschieht es nicht selten, dass sich die Ziege an eine Stelle ver-
steigt, wo sie sich weder vor- noch rückwärts mehr getraut.
So bleibt sie denn oft zwei bis drei Tage ohne Nahrung zwischen
Tod und Leben, bis der Geifsbube sie entdeckt und zu „lösen“
sucht. Dies thut er mit wunderbarer Verwegenheit; manchmal
bindet er sie an ein Seil, um sie die Felswand heraufzuziehen.
Es ist in der That merkwürdig, dass der Mensch sich da zu
klettern getraut, wo selbst die leicht füfsige Ziege den Mut ver-
loren hat. Freilich sind die Geifsbuben, die den ganzen Sommer
über zwischen den Felsen leben, ausserordentlich gewandt im
verwegensten Klettern und kennen die Gefahr so wenig, dass
sie sich zuweilen erbieten, die jähsten Felsenköpfe und Gebirgs-
seiten durch beliebig zu bezeichnende Narben und Falten zu
erklimmen, wo weder Hand noch Fuss im steilen Absturz haften
zu können scheint. Selten fallen die Ziegen tot, es sei denn,
dass sie sich im Hörnerkampfe über den Felsenrand hinausstofsen,
oder von einem fallenden Steine, einer Lawine oder Geierschwinge
ergriffen werden.
Die wegen ihrer Steilheit und Abgelegenheit für das grosse
Vieh unzugänglichen Weideplätze werden bis zu einer Höhe von
7000 Fuss gewöhnlich durch Ziegenherden abgeweidet. Hier trifft
der Wanderer, nachdem er halbe Tage lang in den endlosen
Trümmer- und Eislabyrinthen umhergestiegen ist, ohne eine Spur
von Menschen oder Vieh zu bemerken, plötzlich und zu seinem
höchsten Erstaunen eine elende Stein- und Mooshütte, einen ver-
wilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmutz um die Wette
gebräunt haben, und eine kleine, höchst muntere Ziegenherde,
die sich malerisch auf den einzelnen Blöcken, an den Grasbändern
der Felsen und weit an den Flühen (Felswänden) hinan verteilt
hat und den fremden Besucher mit neugierigen und mutwillig
frohen Blicken betrachtet. Gewöhnlich bringt eine solche Herde
drei bis fünf Monate in den ödesten und wildesten Gebirgslagen
zu, ohne irgend eine andere Pflege zu gemessen, als dass ihnen
der Junge von Zeit zu Zeit ein bisschen Salz auf einen Felsen
streut, um sie beisammen zu halten.
Diese Hirtenbuben führen wohl das armseligste Leben, das
mitten unter den Wohnsitzen gebildeter Menschen gefunden wird.
Im Frühlinge ziehen sie mit ihrer bestimmten Zahl von Tieren
ins Gebirge, ohne Strümpfe und Schuhe, in der ärmlichsten Be-
kleidung, mit einem langen Stecken, einem Salztäschchen, oft mit
einem Wetterhute und etwas magerem Käse und Brot versehen.
Das ist ihre einzige Speise während des ganzen Sommers. Von
warmer Nahrung ist keine Rede. Ein anderer Junge aus dem
151
Thale bringt ihnen alle vierzehn Tage, oft auch nur alle Monate
neues Brot und neuen Käse. Diese Nahrungsmittel werden in
der Zwischenzeit beinahe ungenießbar. Dazu plagt den armen
Tropf die Langeweile, gegen die er jedoch zuweilen in irgend
einer nützlichen Beschäftigung ein Schutzmittel sucht. Bei schlech-
tem Wetter kauert er wochenlang ohne Feuer, ohne Wort, vor
Kälte und Hunger zitternd, in feuchtem Loche, aus dem er nur
hervorkriecht, um seine Tiere zu überblicken, die es, obgleich
sie schutzlos den Unbilden der Witterung preisgegeben sind, doch
verhältnismässig weit besser haben als ihr Hirte. Gegen den
Herbst hin rückt die Gesellschaft gegen die milderen Kuhalpen
hinunter, und wenn Frost und Schnee auch hier mächtig werden,
treibt der Bube zu Thal, um einen unglaublich elenden Lohn in
Empfang zu nehmen. Es klingt fast fabelhaft, wenn versichert
wird, dass manche dieser Geifsbuben ein solches Sommerleben
so lieb gewonnen haben, dass sie es nicht leicht mit einem anderen,
menschlicheren vertauschen würden. Tsclmdi.
101. Hans Euler.
1. „Horch, Marthe, draussen pocht es! Geh, lass den Mann herein!
Es wird ein armer Pilger, der sich verirrte, sein! —
Grüss Gott, du schmucker Krieger! Nimm Platz an unserm Tisch,
das Brot ist weiss und locker, der Trank ist hell und frisch.“
2. „„Es ist nicht Trank und Speise, wonach es not mir thut;
doch so Ihr seid Hans Euler, so will ich Euer Blut!
Wisst Ihr, vor Monden hab’ ich Euch noch als Feind bedroht;
dort hatt’ ich einen Bruder, den Bruder schlugt Ihr tot.
3. Und als er rang am Boden, da schwur ich es ihm gleich,
dass ich ihn wollte rächen, früh oder spät, an Euch! “ “ —
„Und hab’ ich ihn erschlagen, so war’s im rechten Streit,
und kommt Ihr ihn zu rächen: — wohlan, ich bin bereit!
4. Doch nicht im Hause kämpf ich, nicht zwischen Thür und Wand;
im Angesichte dessen, wofür ich stritt und stand!
Den Säbel Marthe, weifst du, womit ich ihn erschlug;
und sollt’ ich nimmer kommen: Tirol ist gross genug!“
5. Sie gehen mit einander den nahen Fels hinan,
sein gülden Thor hat eben der Morgen aufgethan; —
der Hans voran, der Fremde recht rüstig hinterdrein,
und höher geht mit beiden der liebe Sonnenschein.
6. Nun steifn sie an der Spitze. — Da liegt die Alpenwelt,
die wunderbare, grosse, vor ihnen aufgehellt;
gesunk’ne Nebel zeigen der Thäler reiche Lust,
mit Hütten in den Armen, mit Herden an der Brust.
152
7. Dazwischen Riesenbäche, darunter Kluft an Kluft,
daneben Wälderkronen, darüber freie Luft,
und, sichtbar nicht, doch fühlbar, von Gottes Ruh’ umkreist,
in Hütten und in Herzen der alten Treue Geist.
8. Das seh’n die beiden droben, — dem Fremden sinkt die Hand;
Hans aber zeigt hinunter aufs liebe Vaterland:
„Für das hab’ ich gefochten, dein Bruder hat’s bedroht;
für das hab’ ich gestritten, für das schlug ich ihn tot!“
9. Der Fremde sieht hinunter, sieht Hansen ins Gesicht,
er will den Arm erheben, den Arm erhebt er nicht:
„„Und hast du ihn erschlagen, so war’s im rechten Streit;
und willst du mir verzeihen, komm, Hans, ich bin bereit!““Seidl.
5. Deutsche Ströme.
102. Das Lied von den deutschen Strömen.
1. Laßt uns die deutschen Ströme singen
im deutschen, festlichen Verein
und zwischendurch die Gläser klingen,
denn sie beschenken uns mit Wein;
auf ihre Töne laßt uns lauschen,
die alle jetzt herüberweh'n,
und bald der Welle lautes Rauschen,
bald ihren leisern Gruß versteh’n!
2. Zuerst gedenkt des alten Rheines,
der flutend durch die Ufer schwillt,
und seines gold'nen Labeweines,
der aus der Traube luftig quillt;
denkt seiner schön bekränzten Höhen
und seiner Burgen im Gesang,
die stolz auf seine Fluren sehen,
die jüngst das deutsche Volk bezwang!
3. Tief in des Fichtelberges Klüften,
mit grauen Nebeln angethan,
umweht von nördlich kalten Lüften,
beginnt der Main die Heldenbahn.
Er kämpft in'mutigem Gefechte
sich hin bis zu dem Vater Rhein
und drängt, bekränzt mit Weingeflechte,
in seine Ufer sich hinein.
4. Im Land der Schwaben auferzogen,
eilt rasch und leicht der Neckar hin,
wenn auch nicht mit gewölbten Bogen
gewalt’ge Brücken drüber zieh'n;
doch spiegeln, gleich den schönsten Kränzen,
sich Dörfer in der klaren Flut
und dunkelblau mit sanftem Glänzen
der Himmel, der darüber ruht.
5. Gestiegen aus verborg’nen Quellen,
im grünen, lustigen Gewand,
um welches tausend Falten schwellen,
strömt weit die Donau durch das Land.
Die Städte, die sich drin erblicken,
erzählen von vergang’ner Zeit
und fragen dann mit stillem Nicken:
Wann wird die alte Pracht erneut?
6. Durch alle Gau’n der freien Sachsen
ergeht sich stolz das Riesenkind;
es sieht, wie sonst, die Eichen wachsen,
doch sucht es seinen Wittekind.
Und denkt es der gesunk'nen Helden,
dann zögert es im raschen Lauf
und wünscht, was alte Sagen melden,
herauf, aus seiner Flut herauf.
7. So nah dem hochbeglückten Lande,
wo Zwingherrnblut die Erde trank
und nach gelöstem Sklavenbande
das Römerjoch zu Boden sank,
vernimm, o Weser, unsre Grüße,
sie sollen jubelnd zu dir zieh'n;
voll Ernst und stiller Würde fließe,
du Freiheitsstrom, zum Weltmeer hin!
8. Es sei der Oder jetzt gesungen
der letzte schallende Gesang!
Einst hat ja laut um sie gerungen
das deutsche Volk im Waffenklang.
Als es sich still und stark erhoben
in seiner ganzen Riesenmacht,
da half der Helfer ihm von oben,
geschlagen ward die Völkerschlacht.
153
9. So rauscht, ihr Ströme, denn zusammen
iu ein gewaltig Heldenlied!
Zum Himmel schlagt, ihr hellen Flammen,
die ihr im tiefsten Herzen glüht!
Eins wollen wir uns treu bewahren,
doch eins erwerben auch zugleich:
du Herr, beschütz' es vor Gefahren,
und zu uns komm' dein freies Reich!
Max v. Schenkendorf.
103. Die erste und letzte Arbeit der Elbe.
1. Kommst du von der Riesenbaude auf den Koppenplan und verfolgst
den Fussweg, der am Rande des Riesengrundes entlang führt, so gelangst
du auf einem durch Stangen bezeichneten Pfade zur weifsen Wiese, süd-
westlich von der Schneekoppe. Die weifse Wiese bildet eine flache
Senkung, die sich an ihrem tiefsten Teile zu einer Schlucht verengt. In
dieser Senkung liegt die Wiesenbaude, ein Gehöft, das während des
ganzen Jahres bewohnt ist. An ihren nördlichen Abhängen und in den
Einschnitten der Schlucht liegen selbst im Juni noch einzelne Schneemassen,
so dass es guten Grund hat, wenn man die Wiese als „weifse“ bezeichnet.
Aus ihr, sowie aus dem ganzen sumpfigen Gebiete umher, rieseln kleine
Wasseradern zusammen. Nicht weit von der Wiesenbaude vereinigen
sie sich zu einem massigen Bache, etwa einen Schritt breit. Eine Stein-
platte führt als Steg hinüber. Dies ist das Weisswasser, der Anfang
der Elbe. Das Wasser ist krystallklar und dabei eiskalt.
In der Wiesenbaude hat die Elbe, kaum entstanden, schon eine
Arbeit zu verrichten. Dicht vor dem Gebäude ist nämlich der Bach in
ein hölzernes Gerinne gefasst und stürzt sich in jähem Laufe auf ein
Wasserrad, das er schnell umtreibt. Neugierig schauen wir im Innern
des Hauses nach, welchem Zwecke die Wasserkraft der jungen Elbe dienen
muss. Der ganze Unterhalt der Bewohner beruht auf der Viehzucht.
Rings umher auf den Wiesen weiden Kühe und Ziegen. Sie verzehren
Gräser und Kräuter, deren Wurzeln durch die Zuflüsse des Weisswassers
getränkt werden. Sie stillen ihren Durst aus der klaren Elbe. Treibt
sie der Hirt am Abend nach den Stallungen, so werden sie gemolken;
aus ihrer Milch wird Butter und Käse bereitet.
Die Welle des erwähnten Wasserrades führt in das Innere eines
Gemaches; dort wird die Bewegung durch ein Schwungrad geregelt und
dann auf eine Stange übertragen, welche die Stempel zweier Butter-
fässer in Bewegung setzt. Das ist die erste Arbeit der Elbe: sie
buttert.
2. Auch die letzte Arbeit des deutschen Stromes ist von eigentüm-
licher Art. Die Elbe weitet sich unterhalb Hamburg mehr und mehr aus,
schliesslich kann man schon nicht mehr beide Ufer gleichzeitig sehen. Ihre
Fluten sind trübe und lehmig. Sie haben vieles erlebt. Aus jedem
deutschen Ländchen, das ihre zahlreichen Zuflüsse durchzogen, haben
sie ein wenig Erde als Andenken mitgenommen. Hier an der Mündung
154
stauet sich das Wasser durch die Flut des Meeres, die täglich zweimal
ihre Wellen dem Strome entgegentreibt. Die Erd- und Sandkörnchen
sinken zu Boden und bilden Untiefen, die durch die wechselnde Strömung
des Flusses und durch die Einwirkung des Meeres sich vielfach verändern.
Schwarze und weifse Tonnen, mit Tauen an Ankern auf dem Grunde
befestigt, bezeichnen schwimmend dem Schiffer das Fahrwasser, in wel-
chem er mit dem tiefgehenden Seeschiffe die Schlamm- und Sandbänke
vermeidet. Eine rote Tonne bezeichnet zuletzt die Stelle, wo das Meer
mit seinem klaren, hellgrünen Wasser beginnt. Sandbänke und Untiefen
ziehen sich am linken Ufer der Elbe bis zum Meere hin und werden dem
unkundigen Schiffer leicht gefährlich. Dicht an der Elbmündung, noch
ausserhalb Neu werk, das mit seinem Leuchtturme den Ankommenden
leitet, ist noch eine gefährliche Untiefe; sie wird durch eine Bake eigen-
tümlicher Art dem Schiffer selbst bei Nacht und Nebel kenntlich gemacht,
vorzüglich bei Wind und bewegtem Wasser. Aus Balken ist dort ein
schwimmendes Floss gezimmert und durch feste Ankerketten gehalten.
Auf dem schwankenden Gestelle erhebt sich ein Glockenstuhl mit schweben-
der, leicht beweglicher Glocke. Je höher und lebhafter die Wellen
gehen, je gefährlicher jene Stelle jedem Fahrzeuge werden kann, desto
heftiger schaukelt auch der Glockenstuhl, und desto lauter läutet die
Glocke. Auf den Glockenstuhl hinauf führt eine Leiter als rettendes
Asyl für den Schiffbrüchigen, der hier etwa Fuss fasst. Droben ist in
sicherem Verschlüsse, für jeden anderen geheiligt, ein kleiner Vorrat von
Lebensrnitteln und Getränken, der von Zeit zu Zeit erneuert wird. Die
läutende Glocke dient als warnende Stimme, welche weithin schallt und
die Gefahr- mit metallener Zunge verkündet. Sie ruft aber auch, gleich
einem rettenden Engel, demjenigen Mut zu, der etwa verzweifelnd auf
loser Planke umhertreibt.
Das ist die letzte Arbeit der Elbe, sie läutet, läutet zugleich
sich selbst das ruhmreiche Abschiedsgeläut nach einem segensvollen,
gewaltigen Leben. Wagner.
104* Bilder vom Rheine.
a. Der Whein.
Von drei Stufen senkt sich der Rhein in seinem Laufe zum Meere
herab. Der Hochrhein beginnt fast im Herzen der Schweiz. H^r hängen
die Quellen des Vorderrheins an dem Ostabhange des St. Gotthards,
die des Hinterrheins an den himmelhohen Felsgipfeln des Rheinwaldes.
Gegen 300 Gletscher senden ihm aus den Felsgalerien der Wolken und
Stürme, des Eises und Schnees ihre vollen, tobenden Gewässer zu. Raschen
Laufes stürzen diese über graue Felsblöcke und schwarze Schlünde und
läutern sich in etwa 15 kleinen Seeen, die noch in dem oberen Stockwerk der
Alpen liegen, wo nur der Schrei des Adlers und der Donner der Lawinen
die schaurige Stille unterbricht. Später in einem Bette vereint, eilen sie
den tieferen Thälern der Alpen zu. Immer reicher wird der Schmuck der
155
Gegend, immer belebter Ufer und Wasser. Statt der Eiskronen, der Gletscher-
meere und Schneehörner erscheint der bunte Teppich der Matten. Zahlreiche
Ortschaften liegen an beiden Armen; bei Reichenau vereinen sich diese.
Seine Quellen liegen über 2000 m über der See, und seine Wasser stürzen
sich so jäh ab, daß sie schon bei Reichenau, nach etwa 8 Meilen, weit über
1300 m tiefer fließen. Bon hier bis zum Bodeusee fällt der Rhein noch
mehr, denn der Spiegel dieses Sees liegt 400 m über dem Spiegel der
Nordsee. Bei Basel hat er nur noch 250 m Seehöhe und also auf seinem
langen Lauf zur Nordsee nur geringen Fall.
Eine der merkwürdigsten Stellen am Hinterrhein ist die Via mala,
durch welche südwärts der Weg zu den Alpenstraßen des Splügen und
Bernhardin führt. Sie ist eines der großartigsten Naturschauspiele in
den Alpen, von wahrhaft erschütternden Eindrücken. Eine zum Teil in den
Felsen gesprengte 8 m breite Straße, zu deren Seiten schwarzgraue Schiefer-
wäude bis über 300 m aufsteigen und der hellgrüne Rhein über Sturztrümmer
schäumt, verengt sich stellenweise grausenhaft und führt über drei Brücken,
deren mittlere fast 120 m hoch über dem Rheine schwebt. Der vereinigte
Rhein nähert sich der Hauptstadt Graubündens, Chur, und die Eisenbahn,
die, dem steinigen Flußbett entlang, von Chur an dem berühmten Badeorte
Ragaz vorüber nach Rorschach führt, gewährt einen reizenden Einblick in
die malerische Alpenwelt. Der tiesgelegene, 7 Meilen lange und fast 2 M.
breite, mit Städten reich bekränzte Bodensee nimmt den Rhein auf, der,
bei Stein heraustretend, eine westliche Richtung nach Schaffhausen nimmt,
wo er, 100 m breit, durch malerische Felszacken gespalten, den berühmten
20 m tiefen Wasserfall bildet. Bald darauf empfängt er das schöne Alpen-
kind, die Aar mit der Limmat und Reuß, wendet sich von Basel aus
nördlich und tritt in eine Tiefebene ein, die gegen 40 M. lang ist und von
Gebirgen ebenmäßig eingerahmt wird. Bon seinen Quellen bis Basel heißt
er Hochrhein, von da bis Mainz Oberrhein, von da bis Bonn Mittel-
rhein, weiter abwärts Niederrhein. Östlich vom Oberrhein erhebt sich der
Schwarzwald mit seiner Fortsetzung, dem Odenwalde, westlich zieht sich der
Wasgau hin. Die Gebirgsrücken und die vielen schiffbaren Flüsse, die in
den Rhein münden, vorzüglich Neckar und Main, sind die natürlichen Straßen,
die aus der fruchtbaren Rheinebene und ihren zahlreichen Städten in das
Innere der angrenzenden Landgebiete führen. Und so ergiebt sich auf dem
schönen Strome und in seinem Thale ein äußerst lebhafter Verkehr von
Menschen aller Stände. Dampfschiffe, Flöße, Nachen fahren und kreuzen
fast beständig auf ihm, Eisenbahnen ziehen sich an beiden Ufern hin, und ein
buntes Leben entwickelt sich in seiner Nähe von Basel bis zu seiner Mündung.
Am Fuße der ihn umgebenden Berge wechseln Weinberge und Obsthaine
in üppiger Fülle, während höher hinauf altes Burggemäuer, mit Epheu
und wilden Reben umkränzt, in die Ebene schaut. Helle Wiesengründe
sondern sich von dem dunkelfarbigen Grün der Edeltannen. Wenn der
Rhein den Hunsrück und Taunus durchbrochen hat, rauscht er, zwischen
engen Felswänden eingeklemmt, bis zum Siebengebirge. Von da begleiten
ihn Berge nur noch zur rechten Seite bis zur Mündung der Ruhr. Jene
156
Strecke von Mainz bis Bonn wird am meisten gepriesen. Hier haben die
Berge herrliche Formen, die Rebe klettert zu den gefährlichsten Stellen der
Felsen hinan; hohe Walnußbäume beschatten die schmalen Ebenen am Strome,
alle Arten von Obstbäumen bezaubern im Frühjahre durch eine unvergleich-
liche Blütenpracht und schütten im Herbste ihren Segen aus; Städte und
Felsenschlösser, mächtige Festen und herrliche Kirchen, Klöster und Land-
häuser zieren die Ufer. Grube.
b. Per Wheinfall bei Schasihausen.
Der Herr ist groß und herrlich in seinen Werken; wer ihrer achtet, hat
eitel Lust daran. Die Berge verkündigen seinen Ruhm, die Ströme rauschen
von seiner Ehre, die Lilie des Feldes, die Blume des Thales predigt
seinen Namen.
Wie schön ist der Züricher See, von grünen Hügeln umgeben, auf
denen hie und da freundliche Landhäuser stehen, die sich in der klaren Flut
spiegeln; wie majestätisch ragen im Hintergründe die mit ewigem Schnee und
Eis bedeckten Felskuppen und Berge empor, um deren Häupter die Wolke
des Himmels sich lagert! Ich hatte in der Frühe Zürich verlassen, war über
die hölzerne Rheinbrücke bei Eglisau gegangen und näherte mich nachmittags
dem Dorfe Laufen. Lange vorher, ehe ich es erreichte, führte der Wind
ein dumpfes Brausen an mein Ohr, das stärker wurde, je mehr ich mich dem
Dorfe näherte. Endlich stand ich vor dem Rheinfalle, bewundernd und die
Allmacht des Höchsten preisend. Eine ungeheuere Wassermasse stürzt 20 m
hoch über einen Felsendamm, zwischen einzelnen Felsenmassen schäumend und
brausend und eine Wolke von Dampf aussprühend, in die sprudelnde Tiefe.
Es hat etwas Sinnebetäubendes, das unaufhörliche Sprühen, Dampfen und
Stürzen, das ohne Ende sich drängende Fluten und Zerstäuben der Gewässer
zu sehen, das unaufhörliche Brausen und Donnern zu hören; selbst nach
längerer Betrachtung blieb meine Seele nicht ohne Aufregung. Auf leichtem
Nachen ließ ich mich hinüberfahren bis zu dem Fuße des Berges, aus welchem
das Schloß Laufen liegt; ich betrat das hölzerne Gerüst, das an den Rand,
oder vielmehr in den Wasserfall selbst hineingebaut ist, und der Eindruck,
den ich hier empfing, läßt sich durch keine Worte wiedergeben. Das Gerüste
bebte unter meinen Füßen, die Felsen schienen zu beben, der feine Wasser-
dunst durchnäßte mich. Ich stand über eine halbe Stunde an dieser Stelle;
wie könnte man die alle Gedanken übersteigende Schnelligkeit schildern, mit
welcher unaufhörlich Fluten herabstürzen; wie das Getöse, das Zischen,
Brausen, laute Krachen, die tausend verschiedenen Töne der sich überflutenden
Wassermassen! Stumm und anbetend steht der Mensch neben diesen Wunder-
werke des Schöpfers.
Schon eine halbe Stunde vor dem Falle, nachdem der Rhein unter
der Brücke bei Schaffhausen hingeströmt ist, ist das Bett des Rheins so ab-
schüssig und der Fluß so reißend, daß er nicht befahren werden kann. Ich
ging des anderen Tages am Ufer entlang und betrachtete die zahllosen, aus
der Flut hervorragenden Klippen, durch welche sich sprudelnd und schäumend
die Wellen hindurchzwangen. Als mich der leichte Nachen wieder an das
157
andere Ufer gebracht hatte, dämmerte es schon; ich setzte mich auf die Ruhe-
bank unter einem Baume und betrachtete nochmals die ganze Breite und
alle Abteilungen des Falles. Der Mond stieg am Himmel auf und warf
feine Strahlen auf die leuchtende und schimmernde Wasserflut. Sein Licht
brach tausendfach in den aufsprühenden Perlen, die weißen Punkten ähnlich
erschienen. Sein Bild wiegte sich schaukelnd auf den ab- und niederwallenden
Wellen; ich feierte einen der glücklichsten Abende meines Lebens auf dieser
Stelle. Fr. Hoffmann.
6. Sonntags am Mein.
1. Des Sonntags in der Morgenstund',
wie wandert's sich so schön
am Rhein, wenn rings in weiter Rund'
die Morgenglocken geh'n.
2. Ein Schifflein zieht auf blauer Flut,
da singt's und jubelt's drein;
du Schifflein, gelt, das fährt sich gut
in all' die Lust hinein?
3. Vom Dorfe ballet Orgelton,
es tönt ein frommes Lied,
andächtig dort die Prozession
aus der Kapelle zieht.
4. Und ernst in all' die Herrlichkeit
die Burg herniederschaut
und spricht von alter, guter Zeit,
die auf den Fels gebaut.
5. Das alles beut der prächt'ge Rhein
an seinem Rebenstrand
und spiegelt recht im hellsten Schein
das ganze Vaterland,
6. Das fromme, treue Vaterland
in seiner vollen Pracht,
mit Lust und Liedern allerhand
vom lieben Gott bedacht.
Reinick.
ä. Pas mederrheinische Wergkand.
Die ganze rheinische Berglandschaft, welche sich bis zu einer Höhe von
800 m erhebt, würde als eine sehr einförmige, wellige Ebene erscheinen,
wenn sie nicht von tiefen Thälern in ihrer ganzen Ausdehnung durchschnitten
würde. Während auf den Hochflächen nur Kornbau und Hafer gedeihen,
schmücken Obsthaine und Weinreben die sanften Abdachungen wie die steilsten
Bergwände der tief eingeschnittenen Thäler. Die Bäche bewässern schmale
Wiesengründe, treiben Mühlen oder Hammerwerke. Diese engen Thäler
haben durch die geschütztere Lage ein milderes Klima als die hochgelegenen
Umgebungen. Sie sind mit blühenden Ortschaften und wohlhabenden Städten
angefüllt. Außer dem Rheine sind es namentlich die Flüsse Mosel, Lahn,
Sieg und Ruhr, welche das rheinische Hochland in verschiedene Gebirgs-
landschaften spalten. Die wichtigsten sind folgende:
1. Der Hunsrück. Ein schöner, kräftiger Menschenschlag bewohnt
ihn. Alle Ortschaften tragen deutsche Namen. Die Bewohner sind rein
deutschen Blutes. Viele große, fruchtbare, weinreiche Flußthäler umgeben
ihn, das des Rheins, der Mosel, Saar und Nahe. An seinem Südsuße
breitet sich eine fruchtbare, anmutige Landschaft aus. Hier liegen die wich-
tigen Steinkohlenlager von Saarbrücken mit reichen Eisenlagern in Ver-
bindung; hier wird auch Braunstein gewonnen. Achatgruben beschäftigen
zwischen einsamen Bergen ein Völkchen von kunstreichen Arbeitern, unter
denen wenige sind, die mit ihren Sachen nicht einige europäische Hauptstädte
besucht hätten. Frauen und Mädchen bestellen das Feld und leiten das
158
Ochsengespann, aber in zierlicher Tracht, die von dem einträglichen Fleiße
der Männer zeugt.
2. Die Eifel. Sie zeichnet sich vorzüglich durch vulkanische Kegel-
berge und durch Seeen aus. Bei Nieder-Mendig und Mayen bereitet man
aus der dort lagernden Lava treffliche Mühlsteine, die durch halb Europa,
ja nach Amerika verschickt werden. Der fruchtbarste, am besten angebaute
Teil der Eifel ist das Maifeld, das sich nach Neuwied und Koblenz hinab-
senkt. Hier ist eine Fülle von wohlhabenden Ortschaften; hier bewahrt noch
ein Kirchlein am einsamen Waldsee die roh gehauenen Steinbilder Genovevas
und Siegfrieds auf.
3. Der Taunus. Den größten Reichtum desselben machen seine
berühmten Heilquellen aus. Tausende von Gästen aus den reichsten und
vornehmsten Klassen aller Teile von Europa suchen in Ems, Wiesbaden,
Schwalbach und Schlangenbad Heilung; Millionen von Krügen mit Selters-
wasser rc. bringen selbst über den Ocean hin eine erwünschte Erquickung.
4. Der Westerwald. Von großer Bedeutung sind die reichen
mineralischen Schätze desselben, vorzüglich das Eisen. Jm Siegenschen Lande
sieht man überall den Boden von Stollen durchwühlt und Rauchwolken an
Rauchwolken aus den Hüttenwerken aufsteigen. Man wird hier mit berg-
männischem Gruße empfangen und hört selten andere als bergmännische
Gespräche. Fast jedermann ist bei Berg- und Hüttenwerken beschäftigt.
So hat das rheinische Gebirgsland die reichsten Fluren, die edelsten
Weine. Es birgt in seinem Innern Steinkohlen, Eisen, Quecksilber und
Achat. Städte wie Frankfurt, Mainz, Trier, Lüttich, Aachen, Bonn, Köln,
Düsseldorf, Elberfeld umgeben die Süd-, West- und Nordgehänge. Sehen
wir nun noch reichhaltige Salzquellen rings am Fnße des Gebirges, so
müssen wir gestehen, es giebt nicht leicht eine andere Berglandschaft, die von
schöneren Strömen durchflossen, von reicheren Thälern durchfurcht, von
einem kostbareren, mit Schätzen der Ober- und Unterwelt mannigfacher aus-
gestatteten Saume eingefaßt wäre. Mendelssohn.
e. pie
1. Jch weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin.
Ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein.
Der Gipfel der Berge funkelt
im Abendsonnenschein.
2. Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar.
Ihr gold'nes Geschmeide blitzet,
sie kämmt sich ihr goldenes Haar.
Lorelei.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei,
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
3. Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh.
Er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Fischer und Kahn,
und das hat mit ihrem Singen
die Lorelei gethan. Heine«
159
105. Der Reiter und der Bodensee.
Der Eeiter reitet durchs helle Thal,
aufs Schneefeld schimmert der Sonne Strahl;
er trabet im Schweifs durch den hellen Schnee,
er will noch heut’ an den Bodensee;
noch heut’ mit dem Pferd in den sichern Kahn,
will drüben landen vor Nacht noch an.
Auf schlimmem Weg, über Dorn und Stein,
er braust auf rüstigem Ross feldein,
aus den Bergen heraus, ins ebene Land,
da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand.
Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt,
der Weg wird eben, die Bahn wird glatt.
In weiter Fläche kein Bühl, kein Haus,
die Bäume gingen, die Felsen aus.
So flieget er hin eine Heil’, und zwei,
er hört in den Lüften der Schneegans Schrei;
es flattert das Wasserhuhn empor,
nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr;
keinen Wandersmann sein Auge schaut,
der ihm den rechten Weg vertraut.
Fort geht’s, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee.
Wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See?
Da bricht der Abend, der frühe, herein;
von Lichtern blinket ein ferner Schein.
Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum,
und Hügel Schliessen den weiten Raum.
Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn,
dem Rosse giebt er den scharfen Sporn.
Und Hunde bellen empor am Pferd,
und es winkt im Dorf ihm der warme Herd.
„Willkommen am Fenster, Mägdelein,
an den See, an den See, wie weit mag’s sein?1'
Die Maid, sie staunet den Reiter an:
„Der See liegt hinter dir und der Kahn,
und deckt’ ihn die Rinde von Eis nicht zu,
ich spräch, aus dem Nachen stiegest du.“
Der Fremde schaudert, er atmet schwer:
„Dort hinten die Eb’ne, die ritt ich her!“
Da recket die Magd die Arm’ in die Höh’:
„Herr Gott! so rittest du über den See;
an den Schlund, an die Tiefe bodenlos,
hat gepocht des rasenden Hufes Stofs!
Und unter dir zürnten die Wasser nicht?
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht?
160
Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut,
der hungrigen Hecht’ in der kalten Flut?“
Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär,
es stellen die Knaben sich um ihn her;
die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
„Glückseliger Mann, ja, segne du dich!
Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch;
brich mit uns das Brot und iss vom Fisch!“
Der Reiter starret auf seinem Pferd,
er hat nur das erste Wort gehört,
es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
Es siehet sein Blick nur den grässlichen Schlund,
sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.
Im Ohr ihm donnert’s wie krachend Eis,
wie die Well’ umrieselt ihn kalter Schweifs.
Da seufzt er, da sinkt er vom Ross herab, —
da ward ihm am Ufer ein trocken Grab. Schwab.
106. Die Donau.
Auf dem Schwarzwalde, in Donaueschingen, in dem Hofe
des Schlosses Fürstenberg, befindet sich ein runder, mit Mauer -
werk eingefasster und mit einem Eisengitter umgebener Brunnen,
zu dem man auf Stufen hinabsteigt. Hier luallt die Donau-
quelle aus der Erde. Von dem Brunnen führt eine Kastanien-
allee zur Brege, einem Flüsschen, das schon ein Stück gelaufen
ist. Unter dieser Allee ivird der Abfluss des Schlofsbrunnens in
einer Rohre unterirdisch weitergeführt und tritt erst bei dem Ein-
flüsse in die Brege wieder zu Tage. Nun muss die grössere
Brege ihren Namen an die Donau abgeben, obgleich diese noch
einem Knaben zwischen seinen gespreizten Beinen hindurchlauf eil
kann. Wer ahnt es hier wohl, dass diese Donau, immer nach
Osten vordringend, endlich zu einem Strome anwächst, der nach
einem Laufe von 375 Meilen sich mit einer unübersehbaren
Mündung in das schwarze Meer er giesst?
Das Flüsschen, rechts und links durch Zuflüsse gespeist, ver-
tieft und verbreitert sich mehr und mehr und wird zum Flusse,
durchbricht zwischen Tuttlingen und Sigmaringen den schwä-
bischen Jura und bildet in Schlangenwindungen ein enges, felsiges
Thal. Von Sigmaringen bis Ulm strömt sie, immer in nord-
östlicher Richtung, durch moorige Riedgegenden, verstärld sich
dann durch grössere Flüsse, wird schiffbar, strebt durch Ebenen
hin, an Donauwörth vorüber, nach Ingolstadt zu und erreicht
endlich bei Regensburg ihren nördlichsten Punkt. Hier ist sie
Zwischen Linz und Wien hat sie ihr herrlichstes Stück.
Hier und da spaltet sie sich in Anne, grosse und kleine, von
Wild und Wasservögeln belebte Inseln umfassend. Ruinen, Schlösser,
Paläste, Klöster, Wallfahrtsorte, friedliche Dörfer, kleine und
grössere Städte, Einsiedeleien, senkrecht abfallende Felsen, ferne
Berge, dunkle Schluchten, offene Thäler, schroffe Abhänge, lachende
Das Vaterland. 11
— 161 —
schon 300 Schritte breit und vermag schon Schiffe mit einer Last
von 1000 Centnern zu tragen.
Nun schlägt sie die Richtung nach Südost ein. An der
Ruhmeshalle der Deutschen, an der Walhalla vorüber, schlängelt
sie sich durch liebliche Gegenden weiter, bald, von Bergen und
Bargen, bald von Wiesen und Feldern umrahmt, bis sie bei Passau
den Boden des deutschen Reiches verlässt.
162
Auen ziehen am Auge des Reisenden vorüber, wenn er dieses
Stück befährt.
Bei Nussdorf, dem Hafen von Wien, überlassen wir die
Donau ihrem weiteren Schicksale auf fremdländischem Boden.
Bei unserem Scheiden müssen wir aber unwillkürlich daran
gedenken, dass sie mit ihrem bescheidenen Anfange, ihrem beweg-
ten Laufe und grofsartigen Ende so recht das Bild manches
Menschenlebens ist. H. Weber.
6. Zn deutschen Städten.
107. Berlin, die deutsche Kaiserstadt.
Die Gegend von Berlin gehört zwar zu den reizlosesten der Mark
und steht hinter Potsdam, Spandau, Brandenburg weit zurück, aber trotz
des Sandes hat es die Kultur dahin gebracht, daß die köstlichsten Blumen
in Gemüsegärten rings um die Stadt gedeihen. Sie liegt fast ganz in der
Thalniederung der Spree, die hier 3 m tief und über 100 w breit und
für kleine Fahrzeuge schiffbar ist.
Früher war Berlin mit einer circa 2 Meilen langen und 1 m dicken
Mauer umgeben, die jetzt, nachdem sich die Stadt über dieselbe hinaus er-
weitert hat, stückweise niedergerissen worden ist. Stellen wir uns ans die
Kurfürstenbrücke, in deren Nähe die Reiterstatue des großen Kurfürsten steht,
so stehen wir zwischen dem alten Berlin und Köln, zwischen der alten nörd-
lichen Stadt des bürgerlichen, gewerblichen Verkehrs und der südlichen Stadt
moderner Pracht und Feinheit. Im alten Berlin ist die Königsstraße die
Hauptpulsader. Ein ununterbrochener, doppelter Wagenzug bedeckt den
Damm der Straße; ein rastlos sich verändernder Menschenstrom wogt an
beiden Seiten auf den Bürgersteigen. Gehen wir über die Kurfürstenbrücke,
so gelangen wir auf die Spreeinsel, das alte Köln. Ein Gang von da ans,
quer durch die Stadt nach dem Brandenburger Thore, läßt uns die
Hauptstadt in der Großartigkeit ihrer Prachtbauten und Denkmäler
erblicken.
Das königliche Schloß, auf der entgegengesetzten Seite der Insel
gelegen, ist ein großes, längliches Viereck mit 5 Portalen. Hohe Feste des
königlichen Hauses werden hier gehalten, und im großen weißen Saale
werden die Reichs- und Landtage eröffnet und geschlossen. In der Nähe
des Schlosses ist der Schloßplatz und der Lustgarten. An der Nordseite
des letzteren liegt das alte und neue Museum, von Schinkel im Stile eines
griechischen Tempels erbaut; in demselben befinden sich kostbare Sammlungen
von Gemälden, Kupferstichen, Statuen, ägyptischen und nordischen Alter-
tümern und das ethnographische Kabinett. Einen herrlichen Schmuck des
neuen Museums bilden die Kaulbachschen Wandgemälde. Vor der Treppe
des alten Museums steht die 1500 Ctr. schwere Granitschale, die aus einem
großen erratischen Blocke gearbeitet worden ist.
163
Von da gehen wir über die Schloßbrücke, aus welcher acht allegorische
Marmorgruppen den Lebenslauf des Kriegers darstellen. Wir haben nun
zur Rechten das imposauteZeughaus, ein großes Quadrat von fast 100m
Seitenlänge; dann folgen rechts und links die Königswache, die Kom-
mandantur, das Kronprinzenpalais, das Opernhaus, das Uni-
versitätsgebäude, die Akademie und die Bibliothek; in der Nähe
stehen die Denkmäler von Gneisenau, Jork, Blücher, Scharnhorst und Bülow
und das kolossale Reiterstandbild Friedrichs des Großen. Dicht dabei liegt
der einfache Palast des Kaisers, in welchem er in der Regel wohnt.
Von diesem großartigsten Teile der Hauptstadt zieht sich bis zum
Pariser Platze am Brandenburger Thore die Prachtstraße Berlins, „Unter
den Linden", hin. Sie hat eine fünffache Teilung. In der Mitte ist eine
breite, nur für Spaziergänger bestimmte Allee. Neben dieser läuft zu beiden
Seiten ein Weg für Reiter, den abermals Baumreihen einfassen, alsdann
folgt auf jeder Seite die Fahrstraße und daun erst das Trottoir. Sie wird
von drei Hauptstraßen durchschnitten, von welchen die Friedrichsstraße über
eine Stunde lang ist. Herrliche Läden, hinter deren mächtigen Scheiben die
kostbarsten Erzeugnisse der Kunst und Industrie prangen, befinden sich in
den Untergeschossen der palastartigen Häuser. Endlich kommen wir zum
Brandenburger Thor. Es ist ein prächtiger Sandsteinbau mit fünf
Durchgängen, der oben einen von 4 m hohen Rossen gezogenen Triumph-
wagen trägt, gelenkt von der Viktoria, der Siegesgöttin, mit dem preußischen
Adler und dem eisernen Kreuze; von Napoleon entführt, kehrte sie 1814 mit
anderen Trophäen wieder zurück.
Unmittelhar vor dem Thore beginnt der Tiergarten, ein großer
Lustwald mit schönen Anlagen und Wasserpartieen, Lusthäusern und
Gastwirtschaften.
Das wäre eine Wanderung quer durch Berlin. Daß es in Berlin
außer dem bereits Erwähnten noch viele nennenswerte Straßen, Plätze,
Gebäude, Denkmäler (z. B- das herrliche Siegesdenkmal), Vorstädte,
Fabriken re. re. giebt, kann sich der Leser von selbst denken. Wollten wir sie
alle mit ihm aussuchen, wir würden bald mit ihm ermüden. Zu dem kommt
noch hinzu, daß der ungeheuere Wagenverkehr für Fremde nicht ungefährlich
ist. Außer 3000 Droschken fahren noch einige hundert Omnibusse und
Pferdebahnwagen auf mehr als 30 Linien von dem äußersten Ende in das
Centrum der Stadt und umgekehrt. In dem unausgesetzten, donnerähnlichen
Getöse der Wagen kann man keinen einzelnen durch das Ohr unterscheiden
und sich also nur durch die Augen vor dem Überfahrenwerden hüten. Um
eine der belebtesten Straßen zu überschreiten, muß man oft längere Zeit
stehen bleiben, bis der Wagenzug eine Lücke zeigt; daun traben die unter-
dessen zu Hausen angesammelten Fußgänger in größter Eile über die Straße.
An den Kreuzwegen namentlich ist es keine Kleinigkeit, sich vor den von
vier Seiten her eilenden Wagen zu hüten, und die zwei Augen, mit denen
man sich sonst überall doch leidlich durchschlägt, sind für Berlin eigentlich
nicht ausreichend. Nach Daniel.
11*
164
108. Der Glockenguss zu Breslau.
1. War einst ein Glockengießer zu Breslau in der Stadt,
ein ehrenwerter Meister, gewandt in Rat und That.
2. Er hatte schon gegossen viel Glocken, gelb und weiss,
für Kirchen und Kapellen, zu Gottes Loh und Preis.
3. Und seine Glocken klangen so voll, so hell, so rein; —
er goss auch Lieb' und Glauben mit in die Form hinein.
4. Doch aller Glocken Krone, die er gegossen hat,
das ist die Sünderglocke zu Breslau in der Stadt.
5. Im Magdalenenturme, da hängt das Meisterstück,
rief schon manch starres Herze zu seinem Gott zurück.
6. Wie hat der gute Meister so treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände gerührt bei Tag und Nacht!
7. Und als die Stunde kommen, dass alles fertig war,
die Form ist eingemauert, die Speise gut und gar —
8. Da ruft er seinen Buben zur Feuerwacht herein:
Ich lass’ auf kurze Weile beim Kessel dich allein,
9. Will mich mit einem Trünke noch stärken zu dem Guss,
das giebt, der zähen Speise erst einen vollen Fluss.
10. Doch hüte dich und rühre den Hahn mir nimmer an,
sonst wär’ es um dein Leben, Fürwitziger, gethan!
11. Der Bube steht am Kessel, schaut in die Glut hinein;
das wogt und wallt und wirbelt und will entfesselt sein
12. Und zischt ihm in die Girren und zuckt ihm durch den Sinn
und zieht an allen Fingern ihn nach dem Hahne hin.
13. Er fühlt ihn in den Händen, er hat ihn umgedreht;
da wird ihm angst und bange, er weiss nicht, was er thät, —
14. Und läuft hinaus zum Meister, die Schuld ihm zu gesteh’n,
will seine Knie’ umfassen und ihn um Gnade fleh’n.
15. Doch wie der nur vernommen des Knaben erstes Wort,
da reifst die kluge Rechte der jähe Zorn ihm fort.
16. Er stösst sein scharfes Messer dem Buben in die Brust,
dann stürzt er nach dem Kessel, sein selber nicht bewusst.
17. Vielleicht, dass er noch retten, den Strom noch hemmen kann!
Doch sieh, der Guss ist fertig, es fehlt kein Tropfen dran.
18. Da eilt er abzuräumen — und sieht — und will’s nicht seh’n
ganz ohne Fleck und Makel die Glocke vor sich steh’n.
19. Der Knabe liegt am Boden, er schaut sein Werk nicht mehr.
Ach, Meister, wilder Meister, du stießest gar zu sehr!
20. Er stellt sich dem Gerichte, er klagt sich selber an; —
es thut den Richtern wehe wohl um den wackern Mann.
165
21. Doch kann ihn keiner retten, und Blut will wieder Blut; —
er hört sein Todesurtel mit ungebeugtem Mut.
22. Und als der Tag gekommen, dass man ihn führt hinaus,
da wird ihm angeboten der letzte Gnadenschmaus.
23. Ich dank’ euch, spricht der Meister, ihr Herren, lieb und wert;
doch eine and’re Gnade mein Herz von euch begehrt.
24. Lasst mich nur einmal hören der neuen Glocke Klang!
Ich hab’ sie ja bereitet, möcht’ wissen, ob’s gelang.
25. Die Bitte ward gewähret, sie schien den Herr’n gering:
die Glocke ward geläutet, als er zum Tode ging.
26. Der Meister hört sie klingen so voll, so hell, so rein;
die Augen geh’n ihm über, es muss vor Freude sein!
27. Und seine Blicke leuchten, als wären sie verklärt;
er hatt’ in ihrem Klange wohl mehr als Klang gehört.
28. Hat auch geneigt den Nacken zum Streich voll Zuversicht,
und was der Tod versprochen, das bricht das Leben nicht.
29. Das ist der Glocken Krone, die er gegossen hat,
die Magdalenenglocke zu Breslau in der Stadt.
30. Die ward zur Sünderglocke seit jenem Tag geweiht;
weiss nicht, ob’s anders worden in dieser neuen Zeit.
Wilh. Müller.
109. Frankfurt am Main.
1. Die besten seiner Helden, sie lagen in Sachsen tot,
da floh Carolus Magnus, der Kaiser, in grosser Not.
2. „Lasst eine Furt uns suchen längshin am schönen Main;
o weh, da liegt ein Nebel, der Feind ist hinterdrein!“ —
Z. Nun betet Kaiser Carol auf Knieen an seinem Speer,
da teilte sich der Nebel, eine Hirschin ging daher.
4. Die führte ihre Jungen hinüber zum andern Strand, —
so machte Gott den Franken die rechte Furt bekannt.
5. Hinüber zogen alle, wie Israel durchs Meer,
die Sachsen aber fanden im Nebel die Furt nicht mehr.
6. Da schlug der Kaiser Carol mit seinem Speer den Sand:
„Die Stätte sei hinfüro der Franken Furt genannt.“
7. Er kam da bald zurücke mit neuer Heeresmacht,
damit er der Sachsen Lande zu seinem Deich gebracht. —
8. Doch dort am Main erpranget nun eine werte Stadt,
die reich ist aller Güter und edle Bürger hat.
9. Es ward da mancher Kaiser gekrönt mit Carols Krön’
und feierlich gesetzet auf goldgestickten Thron.
166
10. Da briet man ganze Dinier, es strömte der Fülle Horn,
es schöpfte jeder Arme Wein sich ans reichem Born.
11. Im Dörner füllte dem Kaiser der Erzschenk den Pokal,
mit Kaiserbildern wurden bedeckt alle Wände im Saal.
3 2. Bedeckt sind alle Wände bis an den letzten Saum, —
kein neuer Herrscher fände zu seinem Bildnis Daum.
13. Der erste deutsche Kaiser gab Namen dieser Stadt,
die auch den letzten Kaiser in ihr gekrönet hat.
Kopiscli.
110. Hamburg.
Nie vergesse ich, wie ich als zwölfjähriger Knabe die majestätischen
Türme Hamburgs aus der Ferne zum ersten Male erblickte. Wie riss
ich die Augen auf, als ich in seine Mauern eingetreten war und von
dem Lärm seiner Strassen umtost wurde! Bald heftete sich mein Blick
auf die prachtvollen Läden mit ihren zur Schau gestellten Schätzen,
bald auf die hohen Giebel, in welchen, wie mein Begleiter mir erzählte,
auch noch Menschen wohnten. Mir schwindelte, so stürmten die Ein-
drücke auf mich ein. Welches Gehaste und Getreibe in den Strassen!
Welche Menge von Wagen, von der prächtigen Equipage des reichen
Kaufherrn bis zum einfachen Lohnfuhrwerk, vom breiten, hochbepackten
Lastwagen bis zur schottischen Karre, mit welcher der Eigentümer die
Gassen durcheilt! Hier hielten Juden auf offener Strasse mit verlegenen
und beschädigten Kostbarkeiten Markt, dort boten Fischweiber, Sand-
träger, Gemüsehändler, Torfbauern in unverständlichem, gellendem,
schnarrendem oder kreischendem Tone ihre Ware feil.
Seit jenem Tage, wo ein Peitschenhieb über die Wange den er-
staunten Knaben aus seinen Träumen unsanft schreckte, ist manches Jahr
verflossen; manches hat sich an dem Bilde, welches seine Seele damals
von der Grofsstadt aufnahm, geändert. Die herrliche Nicolaikirche, in
rein gotischem Stile erbaut, ist seitdem neu erstanden und erhebt ihren
wundervollen Turm bis zu einer schwindelnden Höhe. Unfern von ihr
zeigt die alte Petrikirche ihre schlanke, hochaufstrebende Pyramide wie
vor dem grauenvollen Brande, der im Jahre 1842 fast halb Hamburg
in Asche legte. Um die Neustadt, die jenem Unglücke ihren Ursprung
verdankt, zieht sich in iveitem Bogen nord- und ostivärts ein lieb-
licher Kranz von Villen. Er umsäumt die seenartigen Erweiterungen
der Alster, die Binnen- und Aufsenalster, und erstreckt sich strom-
abwärts, das malerische Elbufer entlang, bis Blankenese. Ein Netz von
Pferdeeisenbahnen hält im Verein mit zahlreichen Alster- und Elb-
dampfböten den Verkehr des äusseren Haynburg mit den inneren Stadt-
teileyi aufrecht. Hamburg gegenüber, an den Ufern der vom Strom
gebildeten Flussinseln (Werder), erheben sich Fabriken und Werften1),
breiten sich neue Quaianlagen und Docks-) in grosser Zahl aus. Eine
L Schiffsbauplätze. 2) Künstliche, mit Schleusen versehene Wasserbecken, in
welchen Schiffe ausgebessert werden.
167
aus eisernen Kreuzbögen kühn erbaute, grossartige Eisenbahnbrücke
spannt sich über zwei Elbarme und verbindet die alte freie Reichs- und
Hansestadt mit der Stadt Harburg in der preussischen Provinz Hannover.
Überall gewahrt man das Bestreben, sich auszudehnen und neue Verkehrs-
wege zu schaffen.
Die einst die Stadt umschlief senden Festungsmauern sind in herr-
liche Anlagen mit prangendem Rasengrün, zierlichen Blumenbeeten und
schönen Baumgruppen venvandelt worden. Hier wandelt und ruht es
sich angenehm nach einem Gange durch die engen Gassen der Altstadt,
in ivelchen der Grofshandel sein lärmendes Treiben entfaltet. Umschattet
von hohen Kastanien und Ulmen, liegt der alte Stadtgraben so still und
friedlich zu unseren Füssen da, als hätte er nie die Bestimmung gehabt,
die Stadt gegen die Einfälle feindlicher Nachbarn zu schirmen.
Wie ganz anders ist das Bild der Fleete1)) welche vornehmlich
die Altstadt wie ein Netz durchziehen und von der in die Elbe mün-
denden Alster gespeist werden. Auf ihren schmutzigen Fluten drängen
sich Frachtfahrzeuge verschiedener Art zwischen hochaufsteigenden
Häusern und Speichern dahin, unter Schleusen und Brücken hindurch.
Hier „löscht“ man, dort wird eine Ladung entgegengenommen. Es fehlt
nicht an lautem Ruf und Gegenruf der auf den Kähnen, Schuten2) und
Böten arbeitenden kräftigen Gestalten. Die Fleete sind mit der Grösse
und Bedeutung Hamburgs unzertrennlich verbunden. In ihnen vollzieht
sich der Ein- und Austausch des Welthandels; in den Speichern, tvelche
sie einfassen, lagern die Schätze aller Weltteile, über welche der Kauf-
mann in seinem Comptoir verfügt.
Wir eilen durch die Altstadt hindurch. Wie wunderlich erscheinen
uns die alten, zum Teil noch aus der Zeit des Hansabundes stammenden
Häuser mit ihren geschnitzten Balkenköpfen, den vorspringenden Stock-
werken, die aus unzähligen Fenstern mit kleinen Scheiben nach der
Strasse hinaussehen. Unser Weg führt an der ehrwürdigen Michaelis-
kirche vorbei und windet sich dann einen Hügel hinauf, den Hamburgs
Seemannshaus krönt. Daneben ragt auf einer andern Kuppe die
deutsche Seewarte und lässt die Flagge des Reichs wehen.
Welch ein grofsartiger Anblick bietet sich dem überraschten Auge
dar! Zu unseren Füssen breitet sich der stolze Strom und ein „Wald
von Masten“, Hamburgs Hafen, aus. Welch ein Kommen und Gehen
auf dem Strome! Unaufhörlich ertönt die Dampf pfeife, klingt das
Lichten der Anker, dazwischen der Sang der Matrosen und das Rasseln
der Kräne.3) Von der Landungsbrücke löst sich ein Flufsdampfer,
vollgedrängt von fröhlichen Menschen, die das schöne Wetter zu einer
Lustfahrt hinauslockt. Majestätisch gleitet einer der gewaltigen Meeres-
riesen heran, von jubelndem Zuruf der harrenden Menge begrüfst. Dort
rechts von uns rüstet sich ein ähnlicher Dampfer zur Fahrt über den
Ocean. Geschäftig werden die letzten Güter an Bord gebracht. Es 6
6 Kanalartige Gewässer. 2) Große flache, offene Kähne. 3) Geräte,
welche schwere Lasten sowohl in die Höhe heben als auch seitwärts fortbewegen.
168
ist Ansio andererhabe, welche die Eigentümer selbst keuchend herbei-
schleppen. Bald ist das Schiff „klar“, und dann — kommt der Abschied
vom Vaterland. Links fesselt unsern Blick der Mastenwald, ein wirres
Durcheinander, wie es uns scheinen mag. Doch bald entdecken wir eine
musterhafte Ordnung. In langen Reihen, an dicken Pfählen wohl
„vertäut“, liegen sie da, die Schiffe aus aller Herren Länder, zwischen
sich förmliche Strassen bildend, auf welchen Böte und Jollenx) in ge-
schäftiger Eile sich tummeln. Von den Mastspitzen wehen Wimpel und
Flaggen, so verschiedenartig an Gestalt und Farbe, wie die Nationen
an Tracht und Sitte und die Schiffe in Bauart, Grösse und Zweck.
In einem besonderen Teile des Hafens liegen zu Hunderten die kleinen
Flufsfähr zeuge, „Zillen“ und „Kähne“, die aus Böhmen und Sachsen,
„Oberländer“, die aus der Mark die Erzeugnisse des Bodens und der
Industrie herbeibringen, „Ewer“2) und „Jachten“3), die aus den kleinen
Häfen der unteren Elbe, der Nord- und Ostsee kommen, um die grosse
Stadt mit Lebensmitteln zu versorgen und dafür wieder Kaufmanns-
waren heimzubringen.
Aus den verschiedenen Armen der Elbe, die ihre Inseln umfliefsen,
zieht täglich eine bunte Proviantflotte segelnd und rudernd heran. Fahr-
zeuge von mannigfachen Formen und Kunstnamen tragen aufeinander
getürmte Milcheimer, Frucht- und Gemüsekörbe. Die Elbe herauf segelt
eine andere Flotte; es sind die Seefischer von Helgoland und die Fluss-
fischen von Blankenese mit ihrer Beute für den Fischmarkt.
Gern zeigt der Hamburger dem Fremden die neuen Quaianlagen.
Sie liegen hart am Strome, der hinreichende Tiefe hat, um den grossen
Dampfern zu gestatten, unmittelbar an ihnen anzulegen. Die gewaltigen
Dampfkräne sind beständig in Bewegung, sie ihrer kostbaren Fracht
zu entladen und diese mit einer Schwenkung, welche dem Uneingeweihten
angst und bange macht, in die unmittelbar daneben langhin sich
streckenden Speicher zu befördern, von wo Güterzüge den weiteren
Transport vermitteln.
Schwesterlich schliefst sich unmittelbar an Hamburg das auf hol-
steinischem Boden liegende, gleichfalls bedeutende Altona (d.i. Allzunah)
an, so dass sie nur eine grosse Stadt zu bilden scheinen. Das Gedeihen
beider Städte hängt von dem schönen Strome ab, der von hier an seine
Wasser fülle in einem durchschnittlich 8 km breiten Bette der 90 km
von Hamburg entfernten Nordsee entgegenwälzt. Jul. Sclimarje.
111. In Leipzig.
1. Auf der Leipziger Meffc.
In Leipzig finden alljährlich 3 Messen statt. Die Oster- und Michaelis--
messe währen 4 Wochen, die Neujahrsmesse aber dauert nur 14 Tage. Schon
wochenlang vorher rasseln die schweren Rollwagen von den Bahnhöfen zur i)
i) Vorn und hinten rundlich-spitz zulaufende Böte. 2) Flachbodige Segel-
schiffe auf der unteren Elbe. 3) Küstenfahrzeuge.
169
innern Stadt, hochbeladen mit Kisten, Ballen und Fässern, gilt es doch,
mehr als 200 000 Ctr. Meßgüter, welche aus allen Ländern der Welt, zum
großen Teile aber auch aus Sachsen selbst, anlangen, sicher au Ort und
Stelle zu bringen. Da haben die Rollknechte, Aufläder, Packer und Markt-
helfer tüchtig zu thun. Alles, was der Gewerbsleiß der Menschen schafft,
ist auf der Messe zu finden, das feinste Seidenzeug wie der geringste Kattun,
die zarteste Spitze wie die gröbste Leinwand, überhaupt „Stoffe" aller
Farben und Muster, außerdem Kurzwaren, Spielsachen, Porzellane, Gläser,
Geschirre — kurz, alles, was das Menschenherz begehrt. Die größte Rolle
spielen aber die Tuche, die Rauchwaren und das Leder. Dazu haben
unzählige Tiere ihre Wolle, ihren Pelz und ihre Haut hergeben müssen,
vom heimischen Schafe bis zum fernen Kamele, vom heimischen Kaninchen
bis zum russischen Zobel, vom heimischen Zicklein bis znm amerikanischen
Büffel. Wer noch nie eine Messe sah, kann sich keinen Begriff von der
Menge der Waren machen. Allein an Schweinsborsten, die doch nur einen
geringen Handelsartikel bilden, werden ans mancher Messe gegen 5000 Ctr.
verkanst.
Die erste Woche ist dem Großhandel gewidmet. Da füllen sich die
Straßen, Höfe nnd Durchgänge der Häuser mit Menschen; jeder Winkel
wird mit Waren besetzt; überall hängen fremde Firmen. Mancher Leipziger
Kaufmann ränmt dann sein „Gewölbe" einem fremden Verkänser ein;
manche Familie zieht sich auf Küche und Kammer zurück, um die Zimmer
zu vermieten. Da die Gasthöfe den Menschenstrom nicht fassen können, so
hat jeder Leipziger das Recht, Meßfremde zu beherbergen. Kommen doch
durchschnittlich 25 000 Fremde auf Tage und Wochen nach Leipzig, aber
noch größer ist die Zahl derjenigen, welche nnr einen Tag bleiben und mit
den Abendzügen wieder zur Heimat reisen. Da ist ein Gewühl und Ge-
wimmel, ein Fahren und Lanfen, ein Handel und Wandel an allen Ecken
und Enden. Oft hat man Mühe, durch das Getümmel von Käufern,
Gaffern und Packträgern, Rollwagen, Droschken und Karren hindurch zu
kommen. Der reiche Kaufherr wie der Dorfkrämer, der Fabrikbesitzer wie
der Handwerker, der Familienvater wie der Dienstbote — alle versorgen
sich auf der Messe. Aber auch Ausländer, wie Franzosen, Engländer,
Italiener, Russen, Türken und Griechen mit Pelz und Fez, polnische Juden
mit langem Rock und langem Bart, ja sogar Amerikaner sind auf der Messe
vertreten.
2. Wie in Leipzig ein Buch entsteht.
Leipzig ist auch der Mittelpunkt und der Hauptsitz des deutschen Buch-
handels. Hier sind Tausende von Menschen als Buchhändler, Schriftgießer
und Schriftsetzer, Buchdrucker und Buchbinder, Noten- und Kupferstecher,
Schriftsteller, Zeichner und Holzschneider beschäftigt. Millionen von Büchern
und Zeitungen gehen von und durch Leipzig in alle Welt.
Wie ein Buch entsteht, das möchtest du wohl wissen. Laß dir's
erzählen! Wissen doch viele Menschen nicht, wie viel Mühe seine Entstehung
verursacht, wie viele Hände zuvor zugreifen und einander helfen müssen, bis
es „erscheint" und in die Hände des Lesers kommt. Der erste, der daran
170
arbeitet, ist der Schriftsteller, Herausgeber oder Verfasser. Erdenkt
sich den Plan und den Inhalt des Buches aus und schreibt ihn nieder.
So entsteht das Manuskript oder die Handschrift. Mit diesem geht er nun
in eine Verlagshandlung, deren es so viele in Leipzig giebt. DerVerleger
kauft dem Verfasser die Arbeit seines Geistes ab, besorgt das Papier, sucht
eine der zahlreichen Druckereien auf und übergiebt das Manuskript zum
Satz. In dem Saale der Druckerei steht Setzer neben Setzer; vor jedem
befindet sich ein Schriftkasten, der in viele Fächer geteilt ist und die ver-
schiedenen Lettern enthält, d. h. kleine, in der Schriftgießerei gegossene
Metallstäbchen, auf deren Ende der Buchstabe erhaben dargestellt ist.
Einer der Setzer erhält das Manuskript. Er greift flink in die Ab-
teilungen seines Kastens hinein, holt Buchstaben für Buchstaben heraus
und reiht sie zu Worten und Zeilen aneinander. Natürlich muß er dabei
die Buchstaben verkehrt lesen können. Die leeren Räume zwischen den
Worten und Zeilen füllt er mit Stäbchen aus, die keinen Buchstaben tragen.
Die gesetzten Zeilen fügt er in einer Form zu Seiten aneinander. Dabei
muß er aber, noch viel mehr als die Kinder in ihren Heften, darauf sehen,
daß die Zeilen gerade sind, daß die Anfänge genau übereinander, die
Überschriften genau in der Mitte stehen und dergl. mehr. 8 Seiten geben
eine Form. Sind 2 Formen oder 16 Seiten gesetzt, so werden sie mit
Druckerschwärze überstrichen. Man drückt einen Bogen Papier daraus und
erhält dadurch den Korrekturbogen, welchen der Verfasser genau durchsehen
muß, denn mancher Fehler hat sich während des Satzes eingeschlichen. Der
Verfasser streicht die Fehler an, der Setzer nimmt die falschen Buchstaben
heraus und setzt die richtigen dafür ein.
Nun geht es ans Drucken. Bei dieser Arbeit muß aber die Maschine
helfen. Die Form wird zusammengeschraubt, damit sich kein Buchstabe ver-
schiebt, und in die Schnellpresse eingesetzt, welche vom Dampfe bewegt wird.
An dem einen Ende steht ein Mädchen, neben sich einen Stoß weißer Druck-
bogen. Die Maschine bewegt sich. Eine Walze daran bestreicht die Form
mit Druckerschwärze. Das Mädchen legt einen Bogen sorgfältig an eine
bestimmte Stelle der Maschine. Diese zieht den Bogen in ihr Inneres und
preßt ihn aus die Form — er ist bedruckt. Während nun die Maschine
den Bogen wieder wegführt, wird die Form schon aufs neue mit Schwärze
überzogen, denn ein neuer Bogen ist im Anzuge; der bedruckte aber kommt
am anderen Ende heraus und wird von der Maschine wie von einem
Arbeiter, der Hände hat, sauber auf eine gewisse Stelle gelegt. Natürlich
wird zuerst nur die eine Seite der Bogen bedruckt, und dieselben müssen
den Weg durch die Maschine noch einmal machen, nachdem die andere Form
eingesetzt worden ist. Ist alles Papier bedruckt, so ist der Bogen aus-
gedruckt; ein starker Stoß Papier liegt da, auf jedem Bogen steht natürlich
dasselbe. Hat nun ein Buch 10 Bogen, so müssen 10 solcher Stöße gedruckt
werden. Viele wissen auch nicht, daß der Satz wieder abgelegt werden
muß, daß jeder Buchstabe wieder einzeln aus der Form herausgenommen
und in den Setzerkasten geworfen werden muß, um zu neuem Satze ver-
wendet zu werden. Das ist eine sehr mühsame Arbeit. Da müssen die
171
Augen gar schnell Spiegelschrift lesen und die Finger gar flink greifen und
sicher werfen.
Nun kommt die Arbeit der Buchbinder, die in Leipzig gar große
Werkstätten haben. Der Buchbinder falzt die Bogen, heftet und beschneidet
sie und bindet sie sauber und fest ein. Ist das Buch eine Prachtausgabe,
so werden die Buchdeckel wunderschön vergoldet oder mit eingepreßten
Bildern geschmückt. Vom Buchbinder kommen die fertigen Bücher zum
Verleger. Dieser schickt sie an die Buchhändler aller Orten und rechnet
später mit diesen aus der Leipziger Buchhändlermesse ab. H. Weber.
112. Tas Straßburger Münster.
Das berühmte Straßburger Münster ist ein Werk deutscher Kunst; der
Erbauer Erwin war aus Steinbach, einem Städtchen im Badischen. Die
Sandsteine wurden aus dem Wasgau herbeigeschafft; jeder, der freiwillig
half, glaubte ein gutes Werk zu thun. So kam mit Hilfe von 100 000
Menschen der Bau in 13 Jahren unter Dach. Das Portal ist mit schönen
bildlichen Darstellungen geschmückt. Die Rose über dem Eingänge (ein
zirkelrundes Fenster) ist von buntem Glase und hat 16 m im Durchmesser.
Das Eigeutümliche an einer solchen gotischen oder besser deutschen
Kirche besteht darin, daß diese großen, schweren Massen, mit breiten Unter-
lagen, mit Leichtigkeit zum Himmel streben, so daß das Ganze eher wie
gewachsen, denn wie gebaut aussieht. Dabei ist jedes Einzelne zierlich und
fleißig gearbeitet und das Ganze leicht und durchsichtig aufgebaut. Die
Säulen, welche das Dachgewölbe tragen, fahren oben wie Baumäste aus-
einander, daß man die darauf ruhende Last nicht gewahr wird; die Fenster
sind mit Spitzbogen geziert, die glatten Wände durch Nischen (Vertiefungen)
und hervorstehende Mauerpfeiler unterbrochen. Die Türme steigen, mit
Ranken, Röhren und Knospen geschmückt, als große Blumen endigend,
leicht in die Luft. Es ist durch die Kunst ein wunderbares Leben und
Bewegen in den starren, kalten Stein gekommen und verbindet sich eine
Tiefe und Fülle des Gefühls damit und eine Erhebung des Geistes, die man
nur fassen kann, wenn man ein solches Meisterwerk deutschen Sinnes und
deutscher Kunst länger und öfter zu betrachten Gelegenheit hatte. Wir
treten durch den Haupteingang in das Heiligtum, welches ernst und feierlich
seine Räume vor uns aufthut — ein Gotteshaus. Die Grundform ist das
Kreuz, das Fundament und der Mittelpunkt des christlichen Glaubens, aus
dem alles beruht und erbaut ist. Da, wo die beiden Teile des Kreuzes sich
durchschneiden, erhebt sich ein Turm und eine Kuppel (gewölbtes Dach),
um die Stelle anzudeuten, wo das Herz dessen geschlagen hat und im Tode
gebrochen ist, der für uns alle sein Leben dahingegeben hat. Am Chor
(das immer nach Osten liegt) ruhte sein dornengekröntes Haupt. Hierher
mußte der Baumeister alle Kunst und Aufmerksamkeit wenden. Das Chor
ist oft mit gemalten Fenstern geschmückt, durch die das Tageslicht in unge-
wissen Farben bricht. Die kreisförmig im Chor stehenden kleinen Kapellen,
jede mit Säulchen und Zieraten geschmückt, bilden gleichsam einen Kranz
172
von Rosenknospen um das Haupt des Erlösers. Dem Chore gegenüber,
wie zu den Füßen des Heilands, ist der Haupteingang (Portal), der auf
jeder Serie mit einem Turme geziert ist. Die schönsten Münster in Deutsch-
land sind zu Straßburg, Köln, Ulm, Freiburg im Breisgau und Wien.
Im Münster zu Straßburg ist auch eine Uhr, welche im Jahre 1571
mit großer Kunst verfertigt wurde. Sie zeigt, außer den Stunden und
Wochentagen, den Lauf der Planeten und den Auf- und Untergang des Mondes.
Die vier Stundcnviertel werden auf vier verschiedenen Glocken geschlagen;
das erste Viertel schlägt die Figur eines Knaben, das zweite ein Jüngling,
das dritte ein Mann und das vierte ein Greis. Inzwischen erscheint der
Tod, der die Stunde ausschlagen will; er wird aber so lange vom Heilande
zurückgehalten, bis vier Viertel zu Ende geschlagen haben. Um 3, 7 und 11
Uhr ertönt ein Glockenspiel, welches aus Weihnachten, Ostern und Pfingsten
ein Danklied spielt. Jedesmal, wenn ein solches Musikstück ausgeklungen
hat, streckt ein Hahn auf der Spitze des Türmchens den Hals aus, schüttelt
die Flügel und kräht zweimal. Es geht die Sage, der Künstler habe vor-
gehabt, in einer anderen Stadt eine ähnliche Uhr zu bauen; aber der Rat,
um der Stadt den alleinigen Ruhm dieses Kunstwerks zu erhalten, ließ jenen
einsperren und ihm die Augen ausstechen. Er bat, man möge ihn noch
einmal aus seinem Kerker zu der Uhr führen, er habe etwas daran zu
ändern; nun bog und hämmerte er an einem Drahte, das Werk blieb stehen
und war selbst von den Geschicktesten nicht mehr in Gang zu bringen. Es
stand lange verstäubt beiseite, bis es in neuerer Zeit wieder hergestellt
wurde. Lauckhard.
113. Nürnberg.
Von allen Seiten nimmt sich Nürnberg mit seinen Tiirmepaaren und
der alles überragenden Burg stattlich und edel aus. Gräben, eine hohe,
doppelte Mauer und nahezu hundert feste Türme, meist im Quaderbau
ausgeführt, umgeben es, wie sie es vormals schützten. Zehn Thore, die
vier Hauptthore mit gewaltigen, runden Türmen bewehrt, führen in das
Innere der Stadt, deren Strassen zwar meist abschüssig, krumm, winkelig
und enge sind, aber überall das Gepräge einer grossen Vergangenheit an
sich tragen. Nirgends ein Einerlei, nirgends Reihen von Häusern von
gleicher Gestalt und Höhe, nirgends eine Spur von Beschränkung und
Vorschrift. Schmale, alte Häuserchen mit vorspringenden Giebeln und
Erkern legen sich nachbarlich vertraut an das Prachtgebäude des reichen
Handelsherrn, und diese Unregelmässigkeit der Gassen erhöht nur das
Malerische derselben. Wunderlich sehen die hohen, roten Dächer aus,
über denen sich oftmals ein Türmchen mit altmodischer Wetterfahne er-
hebt. Schön ausgezierte Fenster und Thüren, geschnitzte Tragbalken,
mannigfach gewundene Säulen und Figuren aller Art, alte Erker mit
schönen gotischen oder neueren Verzierungen: alles das fesselt das Auge
bei jedem Tritte. Hier prangen noch Wappen in Stein und Metall über
den Thoren, dort stehen alte Heiligenbilder bald in Nischen zwischen den
Fenstern, bald auf Postamenten an den Ecken zwischen den Stockwerken.
173
Da sind oft Fenster von dreierlei Grösse an ein und demselben Hause,
dabei Erkerchen und Türmchen mit den wunderlichsten Zieraten. Die
meisten dieser alten Nürnberger Häuser sind unten von Stein, in den
oberen Teilen von Holz und Fachwerk erbaut.
Doch wir treten in eins dieser mittelalterlichen Häuser. Die schwere
Thür öffnet sich mühsam, und wir gelangen in einen dunklen, grossen
Raum. Die ausgeschnitzte, breite Treppe führt zu einem Söller hinauf,
welcher das erste Stockwerk umfasst. Das steinerne Geländer ist, wie
bei den Söllern vor den Rittersälen alter Burgen, von gotischer Arbeit^
zierlich geschnitzte Säulen tragen die Decken. Gartenkübel mit Feigen-
bäumchen und Lorbeersträuchen stehen auf dem Geländer, und umher-
liegendes Spielzeug verrät, dass die Kinder des Hauses hier ihren vor-
züglichsten Tummelplatz haben. Oft tritt aus der Mitte der Galerie noch
ein Erker weit hinaus, und ein Tisch in demselben, bedeckt mit weiblichen
Arbeiten, zeigt an, dass die Hausfrau als Zeugin bei den Spielen der
Kleinen hier waltet. Im Hofe plätschert in zierlicher Einfassung ein
Springbrunnen, und Arbeitsgerät hängt jetzt da, wo vormals die Waffen-
rüstungen des Mannes ihren Platz hatten. Die Zimmer im Innern des
Hauses sind hoch und geräumig, dabei altertümlich ausgetäfelt, oder
wohl gar mit kunstreich gewirkten Tapeten behängen. Glasschränke
stehen an den Wänden und in ihnen kostbare Gefäfse von buntem Porzellan,
venetianisch feine Deckelgläser, Humpen und Becher mit Sinnsprüchen
und Familienwappen. In den grossen, glänzenden, gehöhnten Schränken
und den zierlich ausgelegten Kommoden liegt das weifse Linnen, während
die Küchen von spiegelblank geputztem Kupfer- und Messinggeschirr
funkeln. Kunstreich geschnitzte Tische und Stühle, welche mit dem
Äusseren des Hauses im Einklänge stehen, weisen auf jene frühere Zeit
zurück, wo hier ein reicher Kaufmann oder ein hochgebietender Ratsherr
Haus und Hof hielt.
Wir verlassen das altertümliche Haus, dergleichen es so viele giebt,
und gelangen durch das Gewirr sich kreuzender und windender Strassen
zu dem Hauptmarkte. Mit Bewunderung ruht hier unser Blick auf dem
„schönen Brunnen“, einem der herrlichsten Denkmäler aus Nürnbergs
Vergangenheit. Ein wunderbares Werk der Steinmetzarbeit, rankt er
sich frei und leicht in vier Absätzen zu einer Höhe von ungefähr neun-
zehn Meter auf. In seiner Nähe befinden sich die Stände der Gärtner
und Landleute. Letztere sind ein kerniger Menschenschlag, dessen
malerische Tracht von der reinlichen und netten Kleidung der Nürnberger
Bürgertöchter angenehm absticht. Dort auf dem Trödel- und Fisch-
markte ist es, wo der derbe Nürnberger Volkswitz noch in alter Weise
laut wird.
Auf unserm Weitergange besuchen wir die herrlichen Kirchen zu
St. Lorenz und zu St. Sebald. In letzterer befindet sich das prächtige
Grabmal St. Sebalds mit den zwölf Aposteln, das höchste Heiligtum
deutscher Kunst, das berühmteste Werk des Rotgiefsers Peter Vischer
und seiner Söhne. Weiter gehen wir zu dem Hause Albrecht Dürers,
174
des grossen deutschen Malers, Kupferstechers und Holzschneiders, zu
seinem Denkmale und zu seinem Grabe auf dem Johanniskirchhofe, auf
dem auch Meister Hans Sachs begraben liegt.
Und nun bergan zur Burg! Kühn und ehrfurchtsgebietend thront
sie auf dem Scheitel eines Sandsteinfelsens und überragt mit ihren Türmen
die ganze übrige Stadt. Siegreich trotzten ihre Mauern allen Stürmen
des Krieges; denn nie fiel Nürnbergs Schloss dem Feinde in die Hände.
Hier hausten oft die Kaiser des deutschen Reiches. Hier geboten vom
Jahre 1210 an die Edlen aus dem Hause Hohenzollern als kaiserliche
Burggrafen, bis sie im Jahre 1417 durch Kaiser Sigismund mit der
Kurmark belehnt wurden. Der schwarze Aar, der damals dem Felsen-
neste entflog, breitet jetzt seine Schwingen schützend über das ganze
deutsche Vaterland aus. Noch immer aber beschattet eine alte Linde
den Schlosshof, welche schon zur Zeit Gustav Adolfs, der unter ihrem
Schatten ruhte, ein uralter Baum war.
Eine schöne Aussicht bietet der Platz vor der Burg. Unter uns
liegen in malerischer Abstufung die sich kreuzenden Strassen der Stadt.
Um die Stadt liegen Garten an Garten, weiterhin Dorf an Dorf und
fruchtbare Ebenen, mit Tannenwäldern untermischt. Ausgebreitet liegt
das nahe Fürth da; deutlich erkennt man noch das fernere Erlangen.
Nach Westen zu umziehen blaue Höhen den Horizont.
Wenn einer Deutschland kennen | dich, nimmer noch veraltet,
und Deutschland lieben soll, j du treue, fleiss’ge Stadt,
muss man ihm Nürnberg nennen, wo Dürers Kraft gewaltet,
der edlen Künste voll; j Hans Sachs gesungen hat! Meyer.
Deutsche Naturvilder.
1. Aer Zaßreskauf im Waterl'ande.
114. Frühlingsglanbe.
1. J)ie finden Lüste find erwacht,
sie sünseln und weften Tag und Nacht,
sie schassen an asten Enden.
G frischer Hust, o neuer Atang!
Nun, armes Herze, fei nicht dang!
Nun muft sich alles, alles wenden.
2. Lsie Welt wird schöner mit jeden. Tag,
man weit! nicht, was noch werden mag;
das Mühen will nicht enden.
Gs Gicht das sernsie, tiessie That.
Nu», armes Herz, vergift der Guat!
Nun muft sich alles, alles wenden.
Uhland.
11». Ter Frühling, ei» Levcngeber der Natur.
1. Es flogen die Vögel davon im vorigen Jahre, zu einer Zeit, da
die Sonnenoch warm über unseren Häuptern schien,,, da noch keine Stürme
die Nacht furchtbar machten, da noch ein großer Überfluß auf unseren
175
Wiesen und Feldern für sie bereit lag. Wir wußten wohl, was ihr
Abzug bedeutete, nämlich des Sommers Ablauf und des Winters baldige
Annäherung. Sie ließen sich nicht verlocken. Ihr Schöpfer hatte
ihnen den Trieb nach einem wärmeren Lande eingepflanzt und ihrem
Leibe Flügel gegeben, dasselbe ferne Land zu erreichen. Sie flogen
davon und sahen den allgemeinen Tod nicht, sahen ihren eigenen Tod
nicht. Viele tausend Geschöpfe ihrer eigenen und anderer Art, die
ihnen nicht folgen konnten, gruben sich verborgen ihr Grab und legten
sich selbst hinein, schweigend erwartend, ob Gott sie wieder erwecken
werde aus dem langen Winterschlafe. Denn allmählich fing auch die
Erde an zu altern, die Mutter der Lebendigen. Die grüne Farbe
ward blässer, die gelbe Saat brachte der Ackersmann in seine Scheunen,
täglich ward die Stoppel weißer. Zuletzt suchte das Vieh auch seinen
Stall wieder, das draußen nicht mehr dem Froste und dem Hunger
widerstehen konnte. Länger ward die Nacht als der Tag und immer
dunkler. Des Lichtes und der Wärme beraubt, fiel das Laub von den
Bäumen, ein Spiel der Winde. Heftiger wehten die Winde und schlugen
Wellen. Der Himmel war nicht freundlich mehr, darum trauerte die
Erde. Alle Gewächse hatte sie verloren, ihre liebsten Kinder; sie war
allein noch und starb auch. „Stirbst du, so will ich dir ein Sterbe-
kleid anziehen", und er bedeckte die Erde mit dem schönsten Weiß, mit
seinem reinen Schnee. Der Sperling, der fast allein, sah es an; er
verließ nun auch die Erde, die ihm kein Körnchen mehr geben konnte,
und suchte die Wohnung der Menschen. Wir aber blickten hinaus in
die öde, stille, totenstille Natur und fragten uns: „Werden wir den
Frühling erleben?" Manchen Bruder und manche Schwester mußten
wir in die harte Erde begraben. Uns leuchtet noch der Augen Licht;
wir sehen mit gefühlvollem Blicke den Frühling an, der da ist ein
Lebengeber der ganzen Natur.
2. Überall ist Leben, junges, frisches, fröhliches Leben, zwar nach
einem Kampfe, der mehrere Wochen gedauert hat. Der kalte Ost wider-
stand lange dem sanften West. Doch die Vögel waren gewiß, daß
dieser bald siegen würde; daher sang die Lerche längst ihren Jubel,
daher kam der Storch in die Armut unserer Gegend, wohl wissend,
wie reich sie bald sein würde, und unsere Kinder wurden von schwachen
Sonnenstrahlen auf ihre Sitzplätze gelockt, in ihrem Blute fühlend, daß
der Frühling käme. Nun ist er da. Der schwere Kampf zwischen
Leben und Tod ist ausgekämpft. Alles lebt, die ganze Natur lebt
wieder. Seht hinaus! Die Erde trägt Grün; täglich wächst die junge
Saat höher; immer dichter wird das Gras; das Leben kocht in den
Pflanzen und Bäumen; jeden Morgen hat sich eine neue Blume anfgethan;
jeden Morgen haben sich neue Blüten entfaltet; Millionen liegen an
den Brüsten der Natur und saugen Leben ein; Millionen, unzählige
Millionen Pflanzen und Samenkörner werden von Gärtners und
Landmaünes Händen ihr an die Brust gelegt, daß sie denselben Milch
und Leben gebe, mit zu schmücken den Garten, mit zu zieren das Feld,
176
mit zu füllen dereinst die Scheuern der Menschen. Alles lebt. Wo
kommt ihr her, die wir tot glaubten? Du Gewürm, erstarrt und
begraben, durchbrichst die Erde, die dich deckte, und wimmelst umher, wohin
wir nur unsern Fuß setzen. Woher, ihr Mücken im Sonnenstrahle?
Wir sahen euch lange nicht, und nun schwärmt ihr unzählig auf jedem
Pfade. Ihr Bienen des Stocks, wer weckt euch aus dem trägen, tiefen
Schlummer, daß ihr jetzt voll regen Lebens um jeden Blumen- und
Blütenkelch summet? Und ihr Vögel in den Lüften, wer lockt euch her
in bunter Zahl, daß ihr jetzt die Höhe bevölkert und den stillen Morgen
mit euren Liedern begrüßt? Das thut der Frühling, der da ist ein
Lebengeber der ganzen Natur. Klaus Harms.
116. Frühlingsmahl.
Wer hat die weißen Tücher
gebreitet über das Land,
die weißen, duftenden Tücher
mit ihrem grünen Rand?
2. Und hat darüber gezogen
das hohe, blaue Zelt,
darunter den bunten Teppich
gelagert über das Leid?
z. Tr ist es selbst gewesen,
der gute, reiche Wirt
des Himmels und der Lrden,
der nimmer ärmer wird.
7. Und du
hier trinke trunken dich,
und sinke selig nieder
aufs Rnie und denk' an mich!"
4. Tr hat gedeckt die Tische
in seinem weiten Saal
und ruft, was lebt und webet,
zum großen Frühlingsmahl.
5. Wie strömt's aus allen Blüten
herab von Strauch und Baum!
Und jede Blüt' ein Becher
voll süßer Düfte Schaum!
6. Hört ihr des Wirtes Stimme?
„Heran, was kriecht und stiegt,
was geht und steht auf Trden,
was unter den Wogen sich wiegtk
mein Himmelspilger,
Wilst. Müller.
117. Wie der Wald erwacht.
Wenn noch die Sterne fröhlich am blauen Nachthimmel schimmern,,
beginnt es im Walde sich zu regen. Die Amsel erwacht sie schüttelt
den Tau von ihrem schwarzglänzenden Gefieder, wetzt den Schnabel am
Zweige und hüpft höher hinauf am Ahornbaume. Sie wundert sich fast,
dass der Wald noch fortschläft. Zweimal, dreimal ruft sie über die
Berge hin. Dann flötet sie mit Macht ihre Weisen, bald lustig, bald
klagend. Rasch erwacht nun das Leben im Walde. Der Kuckuck lässt
seinen Lockruf hören. — Aus den Schornsteinen im Dorfe erheben sich
bläuliche Rauchsäulen; in den Gehöften bellen hin und wieder die Hunde;
eine Kuhglocke ertönt. Nun erheben sich alle Vögel aus ihren dunklen
Büschen. Wie manches kleine, arme Vöglein lebt freudig auf! Hat es
doch eine bange, angstvolle Nacht hinter sich. Es safs auf seinem
177
Zweige, den Kopf ins Gefieder gedrückt. Da flog im Sternenschein
eine Eule durch die Bäume und wählte sich eine Beute. Aus seinem
Eichhornneste kam der Marder herunter. Durch das Gebüsch schlich
der lauernde Fuchs. Das Vöglein sah alle. In der Luft, auf dem Baume,
auf dem Boden lauerte das Verderben viele Stunden lang. Angstvoll
safs es und wagte sich nicht zu regen. Ein paar junge Buchenblätter ver-
deckten und schützten es. Wie fröhlich hüpft es jetzt hervor, da es Tag
wird! In klaren Schlägen ruft der Buchfink; hell singt das Rotkehlchen
vom Wipfel des Lärchenbaumes, der Weidenzeisig im Erlengebüsch. Da-
zwischen trillert der Hänfling, kollert die Baummeise, jubelt der Distel-
fink, quiekt der Zaunkönig, piept das Goldhähnchen, trommeln die Spechte.
Wenn aber am Mittage die Sonne heiss auf den Boden scheint, dann
kommen auch für den Wald einige Stunden der Ruhe. Leise nur zittern
einzelne Blätter. Hier und da zieht ein Schmetterling durch das sonnige
Grün dahin. Dort schwirrt eine goldglänzende Fliege oder eine blau-
schimmernde Libelle. Still nagt die Raupe am jungen Blatte. Sonst
herrscht eine ängstliche Stille. Tschudi.
118. Die Fülle des Sommers.
Kaum, dass man ein Blatt findet, das nicht zahlreich bewohnt wäre!
Kaum, dass wir einen Schritt thun können, ohne Lebendiges vor unseren
Füssen wahrzunehmen! Wolken von kleinem Geflügel spielen im Sonnen-
scheine! Nirgends, nirgends, o Mensch, bist du in dieser Zeit allein!
Es wühlt unter deinem Sitze; es zirpt dir zur Seite; es schwebt über
deinem Haupte; es singt hinter dir; es flattert vor dir; überall ist des
Lebendigen Fülle zu dieser Sommerzeit. Es sind Wesen, die mit sein
wollen auf Erden nach ihres Schöpfers Willen, denen er angewiesen hat
ihren Ort, denen er gegeben hat zu dem Bedürfnisse die Werkzeuge, es-
zu befriedigen; die den Schmerz und die Freude kennen und die Freude
suchen wie du, o Mensch, und dir verwandt sind.
Wolltest du verachten der eines? Du kannst hundert töten mit
einem Fufstritte, aber auch ein einziges bilden? Nein, musst du be-
kennen, dazu gehört eine Gotteshand, Gottes Allmachtshand. Wie stark
auch dein Arm, wie behende deine Finger und Werkzeuge, wie kunstreich
dein Verstand ist, du kannst doch kein einziges schaffen, von welchen Gott
so viele tausend mal tausend geschaffen hat, dermassen, dass du nicht
zählen kannst, wie weit du mit deinen Augen nur reichst, xvie viel auf
einem einzigen Baume nur lebt; denn es ist allenthalben von allerlei
Art, ivoget und treibt, wimmelt und summt in lauter Lebensfülle zur
Sommerzeit. Klaus Harms.
119. Der Herbst, ein reicher Zahlmeister.
Der Herbst ist der Zahlmeister des Jahres. Der Sommer hat
wohl schon manche Bezahlung aus Abschlag gemacht; aber der Herbst
führt doch die Hauptkasse. Auch hat erdicht bloß einen Zahltag,
Das Vaterland. 12
178
sondern gar viele, also daß die Menschen beinahe nicht Hände genug
zum Einnehmen haben. Hat man den Herbst nur erblickt, so hat er
etwas zu verschenken, und er schenkt nicht wie ein Geiziger, daß man
nicht weiß, ob es ihm Ernst sei oder nicht, sondern er hat seine Hände
immer offen, so lange er nur etwas zu verschenken hat. Darum findet
der Herbst überall fröhliche Gesichter. Wie schön putzt er aber auch
seine Gaben aus! Betrachtet nur die rotbäckigen Äpfel an den Bäumen,
große und kleine und von allen Mustern; und dann die Birnen, von
denen manche aussehen, als ob sie von Wachs gemacht seien! Aber diese
sind nicht immer die besten, und es heißt auch bei ihnen oft: „Der
Schein trügt." Manche haben eine rauhe Schale, sind aber inwendig
doch voll Saft und Wohlgeschmack, ähnlich den braven Menschen
in groben Kitteln. Die Pflaumenbüume hängen oft so voll, daß die
Äste die Last kaum tragen können und ordentlich froh sind, wenn die
Menschen nur zugreifen. Die Nußbäume warten oft gar nicht darauf;
sie haben monatelang in der Stille geschafft, öffnen jetzt ihre grünen,
bitteren Schalen und lassen die süßen Kerne zur Erde fallen. Die Hasel-
nußsträucherhaben ebenfalls ihre Nüsse in Bereitschaft und lassen sie
aus gar zierlichen, grünen Bechern oben heraussehen, damit die Menschen
gleich wissen, was in ihnen steckt. Da kommen dann die Knaben und
Mädchen und langen zu und knacken, ohne daß es ihnen die Sträucher
wehren. Aber alle Nüsse bekommen sie doch nicht; denn das Eichhörn-
chen hat sich auch seinen Teil geholt, um für den kalten Winter Vor-
rat zu haben. Im Herbste rupft man auch den nützlichen Flachs,
der fast nicht genug zu loben und zu preisen ist, so gering er auch aus-
sieht. Von der Seide macht man ein gewaltiges Rühmen, aber der
Flachs ist doch der Meister, denn ein seidenes Kleid kann man gar
leicht entbehren, aber nicht ein Hemd.
Von den Schatzgräbern, diesen Betrügern, mag ich nichts hören,
aber die Schatzgräber im Herbste sehe ich mit Lust. Gold und Silber
graben sie freilich nicht aus dem Boden, aber dafür etwas, was tausend-
mal mehr wert ist. Geht in ein Haus, in welches ihr wollt, und ihr
werdet nicht vergeblich nach Kartoffeln fragen, wenn ihre Zeit da ist.
Was wollten arme Eltern mit ihren vielen Kindern anfangen, wenn sie
nicht eine tüchtige Schüssel voll Kartoffeln ans den Tisch setzen könnten!
Aber auch die Reichen wissen diese gemeine, unansehnliche Knolle zu
schätzen und sehen sie gern auf ihren Tafeln.
So groß aber der Nutzen und Segen der Kartoffeln ist, so geht
es doch bei der Ernte ganz still her, und man hört nichts von Jubeln
und Jauchzen und Böllern und sieht nichts von geputzten Wagen und
Menschen. Diese Ehre widerfährt nur den Weintrauben und dem
Weine. So ist der Mensch! Allen Respekt vor dem Weine, denn er
erfreut des Menschen Herz; aber wenn man aus den Nutzen sieht, so
sind doch die Trauben mit den Kartoffeln nicht zu vergleichen. Nur
wenige Menschen können Wein trinken, aber alle können Kartoffeln
haben. Der Wein hilft keinem hungrigen Magen, aber die Kartoffeln
179
thun es auf hunderterlei Art. Der Wein hat schon Hunderte in das
Verderben gestürzt, aber die Kartoffeln haben schon Tausende aus dem
Verderben gerissen. Der Wein ist nur ein Freund der Reichen, die
Kartoffeln aber sind Freunde der Reichen und der Armen.
Walther.
120. Ein Wintertag im Walde.
Voll und schwer sind die Schneeflocken herabgerieselt, fast die ganze
Nacht hindurch, bis zum herandämmernden Morgen. Dann hat ein gelinder
Frost die lose Schneedecke überhaucht und gefestigt. Ein solcher Wintertag
ist vorzugsweise dazu geeignet, um die heimische Natur auch in dieser Jahres-
zeit in aller ihrer Schönheit kennen zu lernen; wir wandern daher heute
schon früh hinaus in den stillen, tiefverschneiten Wald.
Sobald uns das Waldesdunkel aufgenommen, macht sich die Ruhe
und Waldeseinsamkeit so recht fühlbar. Außer dem knirschenden Geräusch
unserer eigenen Schritte ist weithin kein Laut zu vernehmen, und in gleicher
Weise erscheint uns der ganze Wald starr, ohne Bewegung und Leben.
Wo die Strahlen der Morgensonne
durch die dichten Wipfel der Nadelholzbäume
brechen, umgolden sie die weiße Schneerinde,
welche sich von dem Grün der Kieferngebüsche
gar wunderschön abhebt.
So weit unsere Blicke reichen, reihen
sich zu beiden Seiten des Weges die Baum-
stämme ziemlich dicht aneinander und machen
fast den Eindruck einer unendlichen Säulen-
halle, deren Wölbungen die Baumkronen bilden, Kreuzschnabel,
und deren Boden die schneeweiße Decke ist.
Plötzlich erweitert sich das Walddickicht an einer Seite zur weithin
übersehbaren Fläche, von den Forstleuten „Lichtung" oder „Blöße" genannt,
hier und da von einigen einzelnen Bäumen bestanden. Dies ist ein Plan
des Forstes, auf welchem vor kurzer Zeit das hohe Holz heruntergeschlagen
worden. Die einzelnen Stämme hat man als „Samenbäume" stehen
lassen, damit von ihren Sämereien die Fläche wieder angesät und allmäh-
lich bewaldet werde. Hier machen wir halt.
Wohl verwahrt mit warmen Kleidern und Schnhzeug, so daß wir der
gelinden Kälte zu trotzen vermögen, stellen wir uns nun so hinter einem
dichten Busche auf, daß wir durch denselben gedeckt sind, d. h. von besonders
scheuen wilden Tieren nicht bemerkt werden, unsererseits aber gute Um-
schau halten können.
Ein knisterndes Geräusch lenkt unsere Aufmerksamkeit seitwärts nach
dem Walde hinein. Hier bietet sich unseren Blicken eine eigentümliche Erschei-
nung. Eine Gesellschaft Kreuzschnäbel tummelt sich in den Zweigen. Es sind
wunderliche Vögel, deren selbstgeschäftiges Treiben mit der tiefen Waldesruhe
so recht übereinstimmt und doch das Bild zu einem lieblich lebensfrohen
macht. Gleich Rubinen erglänzen sie im dunkelroten Gesieder auf den
12*
180
grünen, weißüberzogenen Zweigen; hier wiegt sich einer, mit dem Kopfe
nach unten hängend, an den schwankenden Reisern, dort bricht ein anderer
mit dem sonderbaren, kreuzweise übereinandergebogenen Schnabel bedächtig
die Schuppen der harten Kiefern- und Fichtenzapfen auseinander, um die
Samen darunter hervorzuholen. Dies Ausbrechen verursacht eben jenes
leise und einförmige Knistern. Ein dritter Kreuzschnabel sitzt auf dem
höchsten Wipfel einer kleinen Fichte und läßt sein einfaches Lied ertönen.
Merkwürdig, trotz Sturm und Graus, Eis und Schnee ist doch gerade
jetzt die Brutzeit dieser sonderbaren Bögel. Unter einem dichten Kiefern-
zweige, vor dem Schnee wohlverwahrt, finden wir ein Nest mit ganz kleinen
Jungen, welche die Mutter sorgsam bedeckt und gegen die Kälte verwahrt,,
während der Vater die ganze Familie füttern und ernähren muß.
Der Wintertag bricht nur langsam an; wohl dringt schon hin und wieder
ein Strahl der Morgensonne durch das Schneegewölk, doch im übrigen hüllt
noch graue Dämmerung die ganze Natur in ihr düsteres Gewand. Bor
uns, weit jenseits der Lichtung, wird es lebendig. Gestalten tauchen aus
dem trüben Düster auf, von denen wir anfangs nicht unterscheiden können,
ob es Menschen oder Tiere sind. Sie nähern sich langsam, und da jetzt
ein Sonnenstrahl hervorbricht, sehen wir, daß es Hirsche sind. Ein altes,,
stattliches „Tier", eine Hirschkuh, schreitet voran, dann zwei jüngere,
darauf wiederum eine alte Hirschkuh mit einem Kälbchen, und zuletzt ein
sehr großer männlicher Hirsch mit gewaltigem Geweih; alle eilen nun, nachdem
sie sich gesichert haben, d. h. sich umgeschaut, ob keine Gefahr zu besorgen,,
ziemlich schnell daher, und zwar wenden sie sich geradezu nach der andern
Seite der Lichtung, wo dicht am Waldesrande eine Fütterung für sie ange-
bracht ist.
Die jungen Leser werden sich darüber wundern, daß man die Hirsche
im Walde füttert. Dies ist aber in der That der Fall, und zwar werden
die Fütterungen für allerlei Wild, also auch für Rehe, Hasen, Rebhühner
u. s. w. eingerichtet, einerseits, um diese Tiere vor Not und Verderben im
harten Winter zu bewahren, und andererseits, um sie davon abzuhalten,
daß sie Schaden an wertvollen Forst- und Naturgewächsen verursachen.
Von den Hirschen aufgescheucht, huscht eine Schwarzdrossel oder
Amsel bei uns vorüber, jener schöne, tiesschwarze Vogel mit goldgelbem
Schnabel, der zu den angenehmsten Frühlingssängern gehört. Dann sehen
wir am Waldesrande eine Schar Seidenschwänze, welche auf den jungen
Ebereschenbäumen nach einzelnen Vogelbeeren umhersuchen. Diese schön
gezeichneten Vögel sind nordische Wanderer, welche unserm deutschen Vater-
lande nur im Winter angehören. Mit einemmal wird es rings um uns
her lebendig; eine Schar jener munteren und überaus nützlichen Vögelchen,
Kohl- oderFink-, Tannen-, Hauben-und Blaumeisen, Goldhähn-
chen, Baumrutscher, Kleiber (Blauspecht) und ein einzelner kleiner
Specht ziehen sich zwitschernd und singend um die Waldesecke, indem sie
von den Obstgärten eines Dorfes nach denen des andern zu streichen. An
ihrem lustigen und zutraulichen Wesen, besonders aber an der Emsigkeit,
mit der sie Baum und Strauch absuchen, um dieselben von den schädlichen
181
Kerbtierbruten zu befreien, darf sich das Herz des Naturfreundes innig
erfreuen. Plötzlich läßt eine Kohlmeise einen schrillen Warnungsruf
erschallen, und augenblicklich ist die ganze Schar in das schützende Dickicht
verschwunden. Ein Sperber, der arge, blutdürstige Feind der kleinen
Vögel, streicht hier am Rande des Waldes umher, auf die Schwarzdrosseln,
Meisen oder andere Vögel Jagd zu machen. Diesmal ist es aber ver-
geblich; denn in dem dichten Kiefern- und Fichtengebüsche sind die Vögel-
chen wohlgeborgen.
Auch der Erzräuber Reineke, der mordgierige Fuchs, stöbert, vom
Hunger getrieben, drüben am Waldrande umher und wagt sich sogar quer
über die Lichtung und nach dem Felde hinaus, was er zu anderer Jahres-
zeit bei Tage niemals thut. Dort bewegt es sich plötzlich in einer alten,
hohen Föhre vor uns, und pfeilschnell schießt ein Eichkätzchen daraus
hervor, verfolgt von einem Marder, seinem bittersten Feinde. Während-
dessen kommt hurtig ein Hase über die Lichtung daher, welchen Reineke
aus seinem warmen Lager aufgestört hat, ohne ihn jedoch zu erwischen, und
der nun ebenfalls im schützenden Dickicht schleunigst sich zu verbergen sucht.
Weiterhin nach dem Felde zu erhebt sich ein gewaltiges Geschrei. Auch
eine große Waldeule hat der Hunger hervorgetrieben, und sie wird nun
von Krähen und Elstern mit Hallo so lange verfolgt, bis sie wieder einen
schützenden Schlupfwinkel aufgefunden hat.
So sehen wir allenthalben rings umher Kampf und Streit, größten-
teils verursacht oder doch augenblicklich zur Geltung gekommen durch die
Not der bösen Jahreszeit, durch die Wintersnot, welche eingekehrt ist, wie
bei den armen Menschen, so auch bei den Tieren. Während aber die
klare Wintersonne jetzt voll und herrlich über das Gewölk sich erhebt, zeigt
sich uns noch ein anderes Kampfbild.
Die Hirsche fressen jetzt an der zweiseitigen Futterkrippe, welche von
einem Strohdache überdeckt ist, um das aufgesteckte Heu vor dem Naßwerden
zu schützen. Eine Hirschkuh mit ihrem Kälbchen und der größte männliche
Hirsch wandern nahe herzu. Zwei andere Männchen aber bleiben seitwärts
auf der Lichtung stehen. Eifersucht, Zorn und Wut funkeln aus ihren
Blicken, und eben wollen sie kämpfend auf einander losstürzen. Jetzt
prallen sie klappernd mit dem Geweihe zusammen, und das weithin schallende
Geräusch macht den alten, sehr starken Bock aufmerksam. Noch ein-, zwei-
mal fahren sie in Wut zusammen, dann eilt der Alte in mächtigen Sprüngen
herbei, um sie auseinander zu treiben. Aber noch ein anderer „dritter
Mann" ist zugegen. Langsam erhebt sich das Feuerrohr des Jägers, mit
welchem wir hinausgegangen sind; ein Knall, und zum Tode getroffen
stürzt der „Schaufler" mit dem breiten Geweihe zusammen. In vielfachem
Wiederhall bricht sich der Donner des Schusses an den Waldwänden. Die
Hirsche sausen wie der Sturmwind davon, und die Krähen fliegen mit
Geschrei dem Felde zu, während der Fuchs das Dickicht zu gewinnen sucht
und die Vögelchen nach dem tieferen Innern des Waldes flüchten.
Der Mensch hat sich den frei lebenden Tieren in seiner Furchtbarkeit
gezeigt. Doch das ist sein Recht; denn er darf ja in vernunftmäßiger
182
Weise alle seine Nebengeschöpfe zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benutzen.
Ein gellender Pfiff ruft den an der Waldecke harrenden Schlitten herbei,
die Beute wird aufgeladen, und der glückliche Schütze freut sich auf den
wohlschmeckenden Sonntagsbraten. Wir aber haben bei dieser Gelegen-
heit eine Anzahl der im deutschen Walde frei lebenden Tiere in ihrem
Thun und Treiben kennen gelernt. Karl Nuß.
2. Vaterländische Mlanzen.
121. Ans
1. Mit dem alten Förster heut'
bin ich durch den Wald gegangen,
während hell im Festgeläut'
aus dem Dorf die Glocken klangen.
2. Golden stoß ins Laub der Tag,
Vöglein fangen Gottes Chre,
fast, als ob's der ganze Hag
wüßte, daß es Sonntag wäre.
3. And wir kamen ins Revier,
wo, umraufcht von alten Räumen,
junge Stämmlein fonder Zier
sproßten auf besamten Räumen.
4. Feierlich der Alte sprach:
„Siehst du über unsern Wegen
hochgewölbt das grüne Dach?
Das ist unsrer Ahnen Segen!
5. Denn es gilt ein ewig Recht,
wo die hohen Wipfel rauschen;
von Geschlechte zu Geschlecht
geht im Wald ein heilig Lauschen.
6. Was uns not ist, uns ¡um Heil
ward's gegründet von den Vätern,
aber das ist unser Teil,
daß wir gründen für die Spätern.
122.
dem Walde.
7. Drum im Forst auf meinem Stand
ist mir's oft, als böt' ich linde
meinem Ahnherrn diese Hand,
jene meinem Gindeskinde.
8. And sobald ich pflanzen will,
pocht das Her;, so daß ich's merke,
und ein frommes Sprüchlein still
muß ich beten zu dem Werke:
9. „Schüh'euch Gott, ihr Reiser schwank!
Mögen unter euren Lronen,
rauscht ihr einst den Wald entlang,
Gottesfurcht und Freiheit wohnen;
10. Und ihr Cnkel, still erfreut
mögt ihr dann mein Segnen ahnen,
wie's mit frommem Dank mich heut'
an die Väter will gemahnen."
11. Wie verstummend im Gebet,
schwieg der Mann, der tiefergraute,
klaren Auges, ein Prophet,
welcher vorwärts, rückwärts schaute.
12. Segnend auf die Stämmlein rings
sah' ich dann die Händ' ihn breiten;
aber in den Wipfeln ging's
wie ein Gruß aus alten Zeiten.
Emanuel Geibel.
Die Weide.
Am Ufer des Baches stehen zwei Weidenbäume mit rötlichen, biegsamen
Zweigen. Noch schlafen alle anderen Bäume und Sträucher, wenn im ersten
Frühjahre die Weidenknospen hervorbrechen. Aus ihren braunen Hüllen
schauen kleine Kätzchen oder Lämmchen hervor, wie die Kinder sagen. Weich
wie Seide und weißlich von Farbe sind die Blütenkätzchen der einen Weide,
gelb die der andern. Diese letzteren enthalten eine Menge kleiner Blütchen
mit Staubfäden, an welchen der goldene Blütenstaub hängt. Bienen und
Hummeln kommen von weit und breit herbei, um sich den Blütenhonig
schmecken zu lassen. Dabei hängt sich der gelbe Blütenstaub an ihre rauhen
Pelze. Jetzt fliegen sie hinüber zu der Weide mit den weißen Kätzchen, um
auch dort den Honig zu kosten, und streifen den Goldstaub an den weißen
183
Kätzchen ab, die ihn gern aufnehmen. Bald bilden sich aus dem Blüten-
staube kleine Körnchen mit weißem Federkleide. Der Wind sät die Samen-
körner wieder aus, und in dem nächsten Jahre sprießen eine Menge junger
Weidenbäumchen aus dem feuchten Grunde auf. — Muntere Knaben ziehen
dann hin und schneiden die Weidenzweige zu Pfeifen ab. Der Küfer bindet
mit ihnen die Faßreifen zusammen, und in der Hand des Korbmachers
fügen sie sich willig zu zierlichen Körben und Geflechten. Auch der Gärtner
bindet mit ihnen das Bäumchen an den schützenden Pfahl und den Weinstock
an das Geländer. H. Wagner.
123. Die Obstbimme.
Schon der Name sagt, daß die Bedeutung der Obstbäume in der
Frucht liegt. Ihr opfern sie in der That Schönheit und Größe, wie ja
das Nützliche nur selten auch das Schöne ist. Der Freiheit der Natur in
Wald und Feld entrissen, stehen sie als Diener und Nährer des Menschen
in der Umzäunung seiner Gärten, von seiner Kunst gezogen und geschult.
Aber auch abgesehen davon ist die Gestalt wirklich das Unscheinbarste an
den Obstbäumen. Ohne kräftigen Stamm, ohne augenfällige Höhe, ohne
malerisch in einander greifende Verzweigung, gleichen sie bloßen Holz-
gestellen, und ihr trübes, graugrünes Laub ist nicht geeignet, sie zu beleben.
Nur der Nußbaum, kräftig und wohlgemut, entfaltet sich in stattlicher
Breite. Die Zweige, die sich leichtgebogen hinausschwingen, treten von
unten auf voll um den Stamm und dehnen sich weit umher. Oben gliedern
sie sich zu einem ansehnlichen Wipfel, wenn nicht die Kälte seine Entwick-
lung hindert. Die Rinde ist glatt und mattfarbig und stimmt wie das
herbduftige, langgeschlitzte Laub zu der strotzeuden Wässerigkeit des Baumes.
Auch Birn- und Apfelbaum machen zuweilen eine Ausnahme von der gewöhn-
lichen, unscheinbaren Gestalt der Obstbäume. Der erstere namentlich erhebt
sich öfter zu bedeutender Größe, seine Blätter haben einen frischeren Glanz,
die Zweige schließen sich zu ruuden Wipfeln. Zugleich ist er der einzige
Fruchtbaum, der hier und da noch verwildert umhersteht und aus dem
Kornfelde mächtig emporragt, ein traulicher Sammelplatz der Schnitter und
der Alten. Der Apfelbaum ist niedriger und flacht seine Zweige nicht zu
Schirmdächern ab; man erkennt die Vorsorge, mit welcher er die sonnen-
bedürstige Frucht dem reisenden Strahl entgegenhält. Er gehört an das
Strohdach des Bauern, in den Grasgarten, aus die Landstraße.
Den einzigen Reiz gewährt den Obstbäumen ihre Blüte. Was wäre
der Mai ohne sie? Welche Ueberraschung, wenn dann zuerst der Pfirsich
über Nacht aufsteht, an allen Zweigen schimmernd, wie ein purpurnes Wunder
des Frühlings! Wie leuchtet der duftige Schnee des Kirschbaums! Kein
grüner Punkt ist zu entdecken in der blühenden Fülle. Wie rosig dämmert's
um deu bienendurchsummten Apfelbaum. Wie schön, wenn im Windeswehen
Tausende von Blättchen herabwirbeln und taumeln, niedliche Trinkschalen,
aus denen taudurstige Käfer nippen! Der Zauber der Frühlingsverjüugung
tritt gerade hier besonders ergreifend entgegen, und mit den Blüten am
184
Baum erwachen die im Gemüte, die Gefühle der Freude und Lust, der
Dankbarkeit und der Hoffnung.
Mehr sinnlich ist der Farbenreiz, mit dem uns das Obst ergötzt, so
wie der Reiz des Genusses der Frucht. Die knappen, festen Nußschalen
mit ihrem Milchkern, so lockend ausgehängt und so kunstvoll erbeutet, dgs
sind helle Punkte des Jugendlebens. Der dralle Ball des Apfels, die
gelbe Honigglocke am Birnbaum, die saftschwelleude, flaumumhüllte Apri-
kose, alle die Gaben Pomonas lachen und winken mit ihren roten Wangen
dem Knaben, der sie erklettert, dem Wanderer, der sie herablangt, dem
Fahrenden, dem sie sich bequem in den Schoß legen. Wer, wenn er an
lauen Tagen im Baumschatten lagert und plötzlich die reife Frucht aus der
Stille über ihn herabschlägt, wer dächte nicht eben ans Suchen und Essen?
Bei dem fühlenden Menschen freilich tritt noch eine tiefere Stimmung hinzu;
es ist die der Bewunderung und Dankbarkeit, in welche der Reichtum der
Naturgaben ihn überall versetzt. Uhlands Lied auf den Apfelbaum spricht
diese Stimmung in herzlicher, gemütvoller Weise aus. Der Baum ist ihm
der wundermilde, gesegnete Wirt, der den Hungrigen und Durstigen labt.
Masius.
124. Die Linde.
Kein Baum ist in den deutschen Landen so volkstümlich wie die Linde.
Mögen auch die Dichter die Eiche als den national-deutschen Baum besingen
und sie „deutsche Eiche" nennen, das Volk weiß weniger von ihr, und die
Linde ist und bleibt des Volkes Liebling. Davon zeugt ihre häufige An-
pflanzung, davon zeugen die Volkslieder aller Zeiten. Die Linde lebt in
den ältesten Liedern, die anderer Bäume nur nebenbei gedenken, sie meist
nicht einmal nennen, weil sie dem Volke nur eben Waldbäume sind. Aber
die Linde ist des Volkes Freund und Nachbar, sejn Genosse in Lust und
Leid, auf dem Tanzplatze wie auf dem Kirchhofe. Es hegt und pflegt
keinen andern Baum ohne besonderen Nutzen, nur weil es ihn liebt und
schön findet. Wenn der nützliche kleinere Obstbaum zum Hausbaum geworden
ist, so ist die mächtige Linde so recht eigentlich der Gemeindebaum, das all-
gemeine Eigentum, die Freude aller. Nur auf Burgen und in Klöstern
war die Linde Hausbaum. Dort wurde der Gast im Sommer bewirtet.
Unter der Linde wurde gezecht, gespielt, erzählt. Dort wurde der reisende
Spielmann angehört.
Die Linde ist der Baum der Kultur. Sie gehört nicht in den wilden
Wald, wenigstens in Deutschland nicht, und wird dort mißachtet und unter-
drückt, während sie in der Kulturlandschaft der Ebene und des Hügellandes
in ihrer ganzen Herrlichkeit auftritt. Die Linde liebt, wie die Nachtigall
und die Schwalbe, die Nähe des Menschen, weil sie hier gesichert, begünstigt
und geachtet wird. Sie hat ihre Waldsreiheit verloren, um desto herrlicher
sich zu entfalten. Die Linde hat eine so ungeheure Lebensfähigkeit und
Zähigkeit, Schicksale zu ertragen, wie kein anderer Baum. Sie erträgt
alle Behandlung, Druck und Schmach, und erhält und erhebt sich schnell
wieder, so wie sie sich frei davon machen kaun. Sie läßt sich den Kopf
185
abschlagen, um alsbald einen, noch häufiger mehrere neue zu bilden. Ihrer
Äste beraubt und als trauriger Stumpf dasteheud, verjüngt sie sich kräftig
und bildet in wenigen Jahren eine neue, schöne Krone. Sie läßt sich, ohne
zu trauern, in fremden Boden verpflanzen und gewöhnt sich überraschend
schnell an den neuen Standort, auch dort Schönheit und Duft verbreitend.
Jeder Hauptast ist fähig, den Stamm fortzusetzen, jede Knospe, einen neuen
Stamm zu bilden. Als alter Baum innen ganz hohl, lebt sie noch Jahr-
hunderte und ersetzt nach außen an Holzwuchs, was sie am Kerne verlor.
Ja, der innerlich faule, ausgehöhlte Stamm sendet aus dem gesunden Holze
Wurzeln in sein Inneres, und so bildet sich im Stamme selbst daraus ein
neuer Stamm. Durch Sturm und Blitz ihrer stärksten Äste, ja der Hälfte
des Stammes beraubt, grünt und blüht sie dennoch fort. Sie nimmt willig
fremde Formen an und läßt sich in der Zucht der Gartenschere halten, ohne
die Fähigkeit zu verlieren, nach jahrelanger Schererei ein großer, lebens-
kräftiger Baum zu werden. Und ihre herrlichen Blüten, zu welchen tausend
und abertausend Bienen fliegen, um köstlichen Honig zu saugen, welche
die ganze Gegend durchwürzen, — sind sie nicht ein Bild des deutschen
Geistes mit seinem Duft, der die Welt erfüllt?
Allgemein deutsche Sagen von Bedeutung giebt es nicht von der Linde,
dagegen viele örtliche. Eine der bedeutendsten ist die vom „Wunderbaum"
bei Süderhadstade in Ditmarschen. Von ihm ging die Sage, er werde so
lange grünen, wie die Freiheit den Ditmarschen, dann verdorren, aber eine
Elster werde ihr Nest darauf bauen und fünf weiße Junge ausbrüten.
Und so geschah es. — Blutlinden, Feinlinden, Geisterlinden, Gerichtslinden
u. s. w. giebt es viele. Noch häufiger sind die heiligen Linden, indem es
sehr gebräuchlich war, die Linden als Bildstöcke für Marien- und Heiligen-
bilder zu benutzen. Mehrere Orte haben von solchen Linden ihren Namen
erhalten, z. B. Heiligenlinde in Ostpreußen, wo, wie man sagt, alle Bäume
der Gegend sich nach der Linde und dem dort gegründeten Kloster hinneigten.
Das Kloster Mariaschein in Böhmen hat eine heilige Linde, die vom Kreuz-
gange des Klosters umgeben wurde. Überhaupt sind die Linden von je-
her mit heiliger Scheu geschont worden, und mancher bedeutende Park wurde
wegen eines solchen Baumes verändert. Jeden andern Waldbaum würde
man als Hindernis weggeschlagen haben, höchstens hätte er in einem andern
Park Schonung erhalten.
Noch mehr als ein Sagenbaum ist die Linde ein Gedenkbaum.
Unsere Vorfahren pflanzten Linden, um ein merkwürdiges oder freudiges
Ereignis zu bezeichnen, wie noch jetzt, obgleich in neuerer Zeit von den
Gebildeteren die Eiche bevorzugt wird. Obschon nun die Eiche ein noch
dauernderes Denkmal bildet, so erreichten doch die alten Pflanzungen ihren
Zweck sicherer und schneller. Die Linde wächst während eines Menschen-
alters zu einem ansehnlichen Baume heran, so daß die Erinnerung noch
dasteht, wenn derselbe schon groß ist, daher weniger leicht vergessen wird.
Dagegen wächst die Eiche so langsam, daß man häufig schon vergessen hat,
warum sie gepflanzt wurde, ehe sie ein Ansehen erhält. Dazu kommt, daß
die Linde an bewohnten Plätzen vortrefflich gedeiht, während die Eiche bei
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den Wohnungen der Menschen ein Fremdling bleibt, der nicht an seinem
Platze ist, weil er in den freien, einsamen Wald gehört. Linden, an welche
sich wichtige Ereignisse knüpfen, giebt es und gab es viele, besonders in der
Schweiz, so die Linde in Altdorf, welche den Tellsschuß sah, — die zum
Andenken an die Mnrtner Schlacht gepflanzte Linde in Freiburg, worunter
noch jetzt das sogenannte Lindengericht an Markttagen abgehalten wird, —
ferner die Linde an der Stelle, wo das berühmte Beinhaus bei Murten
stand, welches 1798 von den Franzosen zerstört wurde. Geringere Ver-
anlassungen znm Pflanzen von Linden kommen fast in jeder Stadt vor.
Auf den Dörfern werden noch immer Erinnerungslinden gepflanzt, während
die Städte nach Denkmälern von Erz und Stein trachten. Man kann
sagen, die Linde sei ein Baum der Ortschronik.
Endlich ist die Linde der Baum der Freude und Jugendlust und
der Baum des Todes. Um die Dorflinde tanzt die Jugend, und die
Linde beschattet den Friedhof und umgiebt die Kirche. Die Linde ist ein
schöner Baum, wird groß, hat herrlich duftende Blüten, die sogar heilsam
sind, und, was wohl besonders hervorzuheben ist, sie wächst verpflanzt sehr
leicht an und verträgt viel — genug Eigenschaften, um einen solchen Baum
vorzuziehen. Aus demselben Grunde und aus Ursache ihrer bedeutenden,
nicht zu verwechselnden Gestalt wurde die Linde auch ein Baum der
Zusammenkünfte. Die Linde verbreitet weit dichten Schatten, unter ihm
ist es trocken, der Stamm bildet einen guten Hintergrund für den Sprecher,
daher ihr Wert für Volksversammlungen. Eine verabredete Zusammen-
kunft kann auch keinen besseren Platz haben, denn die Dorflinde ist mit
keinem andern Baume zu verwechseln. Noch jetzt finden Mai-, Pfingst-
und Kirmestänze in Deutschland hier und da unter den Linden statt. Der
Baum ist dann meist mit Steinen umgeben, und oft sind die ausgestreckten
Aeste mit Säulen unterstützt und diese wieder durch Gebälk verbunden, so
daß eine Art Gebäude entsteht, welches bei schlechtem Wetter gedeckt werden
kann. Solche Dorflinden sind nicht immer stolze Bäume mit schönen
Kronen, sondern viel häufiger verstümmelt, so daß sie eigentlich nur eine
Art Laube bilden.
Die Linde ist erhaben und lieblich zugleich, erhaben und edel durch
ihren riesigen Wuchs, während ihre äußere Blüte stets den Eindruck der
weiblichen Anmut macht. Schon der Name Linde deutet auf Weichheit und
Anmut. Lind bedeutet weich, mild, lieblich und angenehm. Lind ist ihr
Blatt, lind ihre reizende Blüte, lind ihre Sprache im Wind, jenes liebliche
Flüstern, welches durch die langgestielteu, leicht beweglichen, keinen Wider-
stand bietenden, weichen Blätter und noch im höheren Maße durch die den
Blütenstiel zierenden Blattflügel hervorgebracht wird. H. Jäger.
125. Die Eiche.
Wie man den Löwen mit Recht den „König der Tiere" nennt, weil
ihm der Schöpfer das Siegel der Kraft auf die Stirne gedrückt, so ist auch
unter allen unsern Waldbäumen die Eiche eine königliche Majestät, vor der
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jede andere Baumgröße sich beugen, und welche der Mensch mit Ehrfurcht
betrachten muß. In der Eiche vereinigt sich Schönheit und Stärke mit fast
unvergänglicher Dauer; in ihr lebt eine Riesenkraft, die sich zwar langsam,
aber sicher und majestätisch entwickelt. An Höhe mit den hohen Fichten
und schlanken Tannen wetteifernd, übertrifft sie an Stärke die stärksten;
mit ihr verglichen, ist jeder andere Baum schwach. Mau findet Eichen
von 8 m im Umfange und 40 m Höhe. Die berühmte Fairlops-Eiche
in der englischen Grafschaft Essex maß einen Meter vom Boden IO m im
Durchmesser, und unter ihrem Schatten, dessen Umfang 90 m im Durch-
messer betrug, wurde lange Zeit hindurch am 2. Juli jeden Jahres ein
Markt gehalten, auf welchem man keine Bude jenseits dieses Bereiches zu
errichten erlaubte. Eine Eiche von 30 Jahren kann aber ein Knabe noch
mit seiner Hand umspannen, und erst nach 2OO Jahren ist der mächtige
Baum völlig ausgewachsen. Dafür geht aber auch sein Alter noch über
fünf Jahrhunderte hinaus. Ein alter Eichbaum mit feiner rauhen, geborstenen,
von Moos durchfurchten Rinde steht inmitten der jungen, schnell lebenden
Baumwelt da wie ein greiser Erzvater unter seinen Kindern, Kindeskindern
und Urenkeln. Geschlechter auf Geschlechter sind entstanden und vergangen
wie eine Blume des Feldes; aber der Alte ist im Sturme der Jahrhunderte
unerschüttert geblieben, eine wunderbare Gotteskraft hat ihn erhalten zum
lebendigen Zeugnis einer längst entschwundenen Zeit, von welcher nur die
Sage berichtet.
Was für Geschichten könnte manche Eiche erzählen, würde ihr die Rede
verliehen! Die Eiche, von deren Holze der altertümliche Schrank und der
unverwüstliche Tisch, den du von deinen Großeltern überkommen hast, gear-
beitet wurde, sie hat vielleicht noch die alten heidnischen Sachsen, deine
Stammväter, unter ihrem Schatten lagern sehen, ihrem tapferen Streite
mit den mächtigen Franken zugeschaut und sich altdeutscher Größe und Herr-
lichkeit gefreut, wenn sie dem nervigen Arme des kriegslustigen Jünglings
einen festen Zweig darreichte zum Stiele für die wuchtige Streitaxt.
Wie die sinnigen Griechen die mächtige Eiche dem mächtigsten ihrer
Götter, dem erhabenen Donnerer Zeus, geweiht hatten, so war auch unseren
Altvordern dieser Königsbaum dem mächtigen Donnergott Thor geheiligt,
der im zuckenden Blitz und rollenden Donner sich den Sterblichen offenbarte.
Der heilige Eichenhain durfte nicht von Uneingeweihten, allein nur vom
opfernden Priester betreten werden, und wo eine heilige Eiche stand, würde
keines Menschen Hand gewagt haben, sie ihres Laubes oder ihrer Zweige
zu berauben oder gar umzuhauen. Dieses Recht hatte allein der aus der
Gewitterwolke zerschmetternd niederfahrende Wetterstrahl ihres Gottes.
Die alten Deutschen, obwohl sie Heiden waren, hatten doch ein nicht minder
seines Gefühl für das Leben und Weben der unsichtbar in der Natur wal-
tenden Gotteskraft als wir, ihre christlichen Nachkommen. Von gemauerten,
künstlich erbauten Tempeln wußten sie nichts. Sie fanden die heilige Stätte
für ihre Gottesverehrung in jenen von Menschenhänden unberührten, durch
göttliche Allmacht erbauten Eichenwäldern. Dort, im geheimnisvollen Dunkel
und in feierlicher Stille, vernahmen sie das leise Wehen der Gottheit. Ein-
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gesne ihrer Götter mochten auf Bergesgipfeln und Felsenhöhen und an
Flußnfern wohnen; aber der allgemeine Gottesdienst des Volkes hatte feinen
Sitz im grünen Hain, und nirgends hätte er auch einen würdigeren Platz
finden können. Denn tritt nur hinein in die erhabene Stille eines Eichen-
waldes; sei es in der Frühe des Morgens, wenn die hohen Laubkronen im
ersten Sonnenstrahle glänzen, oder am heißen Mittage, wenn auf dem
schwellenden Moose in der grünen Dämmerung wechselnde Lichtringe spielen,
oder am Abend, wenn die gewaltigen Zweige von einem milden Goldschim-
mer überzogen sind: ist es dir nicht auch, als spräche eine Stimme in dir
und zu dir: „Die Stätte, darauf du wandelst, ist eine heilige Stätte!" und
als flüsterten die Blätter, von sanft wehender Luft bewegt, geheimnisvolle
Worte einer höheren Offenbarung? —In betn heiligen Dunkel der deutschen
Eichenwälder saßen einst die Priesterinnen unserer Väter und lauschten dem
prophetischen Rauschen der Blätter, um der harrenden Menge den Ansspruch
der Götter zu verkünden. Hier barg man auch die geweihten Fahnen und
holte sie mit Ehrfurcht hervor, wenn der Schlachtruf in den Gauen wieder-
hallte und die Tapfern aufrief zum Streit. Und wer dann mutig gefochten
und den Sieg errungen hatte, den krönte ein Kranz von Eichenlaub, und
diese Blätterkrone galt mehr als eine goldene Fürstenkrone. Desgleichen,
wenn die alten Deutschen über Krieg oder Frieden beraten wollten, so
versammelten sie sich nicht zwischen den vier engen Wänden eines Hauses,
sondern sie kamen zusammen in einem größeren Saale, dessen Boden ein
grüner Teppich von Gras und Waldblumen und dessen Säulen die hohen
Eichbäume waren.
Jetzt ist dieses alte, tapfere und starke Geschlecht deutscher Männer
aus den Wäldern geschwunden; aber noch heute, wie vor einem Jahrtausend,
hebt mit kräftigem Wüchse die Eiche ihr stolzes Haupt in die Luft, und
herrliche Eichwälder sind noch immer unsers schönen Vaterlandes schönste Zier.
Grube.
126. Die Buche.
Neben der Siche gebührt der Buche der preis unter unseren
Waldbäumen. Sie liebt sanft gehobene Flächen und tritt gern von
den Höhen des Gebirges auf die sonnigen Hügelzüge am Fuße herab.
Durch ganz Thüringen, in den Harzthälern, aus Rügen, in den hol-
steinischen Marschen herrscht dieser Baum; aber in unvergleichlicher
Fracht des Wachstums blickt er über die Buchten von Kopenhagen,
wie überhaupt der Norden das Buchenland ist.
Unter allen Bäumen ist die Buche der geselligste, sie schlägt ihre
Wurzeln nicht tief ins Erdreich, sie muß sie mit ihren Schwesterbäumen
kreuzen. So mit verschlungenen Wurzeln und Wipfeln trotzt ein Buchen-
wald den Stürmen und dem Sonnenbrand. Allein, ohne andern Schutz
erliegt die Buche bald der Witterung. Zn Zugendkrast leicht und doch
stolz, wie aus Stahl steigt der runde Schaft hinauf. Glatt und dicht
umschließt ihn die silbergraue Rinde. Fast meint man daran die Härte
des Holzes zu erkennen, das in der knappen Bekleidung gleichsam nackt
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erscheint und in seinen Anschwellungen das Bild eines muskelstraffen
Armes giebt. Ls ist bedeutsam, daß nach altem deutschen Glauben diesen
Baum der Blitz nicht berühren durfte. Ast und Zweig treten erst in
der Höhe hervor. Das stumpseiförmige Blatt bildet meist dachartige
Schichten, die spitz auslaufen, oder es fliegt flockig auseinander, ohne
in Masten zu verschmelzen. Festgewebt und an den kurzen Stiel ge-
heftet, giebt es sich nicht zum leichten, tönenden Spiel des Windes.
wer den Thüringer Wald oder die Harzthäler durchzogen hat,
wird den Zauber kennen, den ein Buchenwald ausübt. Gewaltige
Blöcke, von Farnkraut umwuchert, liegen zu den Füßen der ernsten
Bäume, unter denen hervor kühlatmend der <Vuell seine Silberfäden
zwischen Blumen und wurzeln hindurchzieht. Über den Wipfeln aber
brennt der Mittag. Zedes Blatt wird ein Sonnentropfen, ein funkeln-
der Smaragd, und grüngoldenes Märchenlicht dämmert durch die
Halle. Der Fingerhut steckt feine Kerzen auf, aus den Steinritzen
schlüpft die Lidechse, blauflügelige Libellen wiegen sich auf den Halmen.
Dazwischen schießt ein Sonnenblitz an den Stämmen nieder, über den
Moosteppich gaukeln schillernde Lichtkugeln, alles ist seltsam still, wie
verzaubert; aber unten, wo das Waldthor sich öffnet, winken wiesen
und Dörfer, da leuchtet ein Flüßchen auf, und befreundet grüßt
melodisches Herdengeläut. Masius.
127. Mehle und Tanne.
Der häufigste Baum in unseren deutschen Nadelwäldern ist die
Fichte. Der Harz und das sächsisch-böhmische Grenzgebirge tragen
fast nur Fichtenwald. Im Schwarzwalde herrscht die stolze Tanne,
auch Weiss- oder Edeltanne genannt, während man die Fichte auch
Rottanne nennt. Im allgemeinen Ansehen sind sich beide sehr ähnlich,
obgleich ein geübter Blick schon von weitem Tanne und Fichte unter-
scheidet. Der Stamm der Tanne ist vollholziger, d. h. er fällt nach der
Spitze hin nicht so schnell ab und kommt daher der Walzenform etwas
näher. Vier Tannenstämme haben daher denselben Massengehalt an
Holz wie fünf Fichtenstämme von gleicher Länge und von gleichem
Durchmesser auf dem Stockabschnitt. Die Zweige der Tanne stehen
wagerechter, die oberen sogar etwas aufwärts gerichtet. Die Rinde ist
immer grauweiss, was ihr eben den Namen Weisstanne zum Unterschiede
von der Fichte oder Rottanne verschafft hat, welche an einer, wenig-
stens an der oberen Stammhälfte mehr rotbraunen Rinde kenntlich ist.
Das Grün der Tanne ist ein satteres, an der unteren Seite der mehr
buschigen Zweige ein deutliches Blaugrün, hervorgebracht durch die
blaugrüne Unterseite der breiteren Nadeln. Es genügt, einmal die
unterscheidenden Kennzeichen von Tanne und Fichte genau gegeneinan-
der erwogen zu haben, um diese Unterschiede auch im ganzen und
grossen wirksam zu finden. Beide Bäume erhalten dadurch einen ganz
verschiedenen Charakter, den sie auch den Waldungen aufdrücken, welche
190
sie bilden. Die Tanne ist ein kühnerer Baum. Der bis oben hinaus nur
sehr langsam abfallende Stamm reckt fast trotzig und gebieterisch seine
kürzeren, straffen Zweige horizontal hinaus, während der nach oben
schnell schmächtig zulaufende Fichtenstamm seine langen, schwächeren
Äste demütig hangen lässt. Der Saum eines fernen Fichtenwaldes
gleicht einem grünen Zeltlager; der eines Tannenwaldes sieht wilder und
struppig aus. Zwei so nahe verwandte Bäume malen für das aufmerk-
sam vergleichende Auge doch zwei verschiedene Waldlandschaften. Der
Schwarzwald, der Thron der edeln Tanne, hat einen ganz anderen Cha-
rakter als der Harz, wo die Fichte herrscht. RofsmäMer.
128. Der Bäume Bedanken.
1. Im Walde da regt sich ein Plaudern und Flüstern,
wenn kühlende Dämmerung ladet zur Ruh’;
da stehen sie traulich beisammen im Düstern,
die Buchen und Eichen, die Tannen und Rüstern,
und schicken viel heimliche Reden sich zu.
2. „Ihr Schwestern, ich will’s im Vertrauen euch sagen,“
nimmt rauschend die Eiche, die stolze, das Wort;
„mich treibt es, hinauf in den Himmel zu ragen,
bis über die Wolken die Krone zu tragen,
stets höher zu tragen, Jahrhunderte fort.“
3. „So hoch sich erheben! Mir bangte vor Blitzen!“
entgegnet die Buche, die tüchtige, drauf,
„mir g’niigt es, bescheiden und wacker zu nützen,
die Müden zu schirmen, die Armen zu schützen;
wie zehrt’ ich im Eifer so gerne mich auf!“
4. „Nein“, schüttelt die Birke die zierlichen Locken,
„mir hiesst in den Adern ein leichtes Geblüt;
so lange die Freuden mir leuchten und locken,
so will ich mich freu’n, eh’ die Säfte mir stocken,
das Leben ist flüchtig, die Jugend verblüht.“ —
5. „Das ewige Grünen! das ewige Freuen!“
erwidert die Tanne, die strengere, nun,
„der Lust bin ich müde; mich soll es nicht reuen,
die grünenden Nadeln zur Erde zu streuen,
auf immer zu schlummern, auf immer zu ruh’n.“
6. Sahlweide dagegen: „0 fröhliches Leben,
die Zweige zu wiegen im sonnigen Blau,
die Falter zu schauen, ihr Schillern und Schweben,
zu trinken, wie würzige Säfte der Reben,
mit durstigen Zügen erquickenden Tau!“
7. „Vor allem ergötzt mich der Vögelein Singen“,
so lässt sich vernehmen der Ahorn darauf:
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„wenn schlagende Drosseln vorüber sich schwingen,
und schmetternde, helle Jagdhörner erklingen,
durchzittert mich Lust von der Wurzel zum Knauf.“
8. So hört man im Walde das Flüstern und Plaudern
von tausend redseligen Zungen umher;
doch nun, wie sie plötzlich erschrecken und zaudern!
Wie bange die Dipfel sich sträuben und schaudern!
Es naht sich ein Wetter, so dunkel und schwer.
9. Schon fallen des Donners gewichtige Keile
mit hohlem Gepolter ins knarrende Holz;
hier fahren der Blitze vielschneidige Beile
und schlagen mit mächtigen Hieben in Eile
zu Boden der Eiche hochfahrenden Stolz.
10. Die Buche, dass nun ihren Segen sie thue,
sie fiel einem Armen zum freundlichen Los.
Bald kam auch die Tanne, die ernste, zur Kühe;
sie bot ihre Bretter dem Müden zur Truhe
und sank in der Grüfte verschwiegenen Schoss.
11. Die lustige Weide gab ihr Gewinde
der weinvollen Tonne zum schürzenden Keif.
Die Birke, die leichte, bot Keiser und Rinde
zur strafenden Rute dem fehlenden Kinde,
der Mutter zum Fliegen abwehrenden Schweif.
12. Nach Wunsche muss alles dem Ahorn gelingen;
er dienet, gewölbt, einer Laute zur Brust;
und wenn die metallenen Saiten sich schwingen,
und helle melodische Weisen erklingen,
da zittert der Liederentzückte vor Lust. Adolf Stöber.
129. Der Weinbau an der Mosel.
Es giebt keine Gegend in Deutschland, welcher der Weinbau solchen
Reiz verleiht, und wo er zu so großen Bauten und Anstrengungen Ver-
anlassung giebt als an der Mosel. Kein deutscher Fluß, weder Rhein noch
Donau, hat an seinen Usern so hohe, buntgestaltete Bergabhänge. Da geht
Stuse über Stufe, Terrasse über Terrasse hinaus, und selbst die höchsten
Spitzen zeigen noch Reben und erscheinen als Himmelstische, auf denen die
schönsten Trauben aufgetragen sind. Die Bergpfade, welche vom Ufer des
Flusses zu diesen höchstgelegenen Terrassen hinausführen, erfordern oft über
eine Stunde mühsamen Ansteigens, und unwillkürlich wird man an die
Senner und Älpler der Schweiz erinnert, welche ihre Milch kaum weiter
herabholen, als diese Winzer ihren Traubensaft. Mit welchen Mühen ist
nicht der Weinbau in dieser Gegend verbunden! Erde und Dünger, in denen
die Stöcke wachsen sollen, müssen vom Flusse aus hoch in die Felsenbrüche
geschafft werden, und jene Bergesspitzen, die nur zum Nestbau des Adlers noch
tauglich erscheinen, müssen noch das süße, goldene Blut der Traube erzeugen.
— 192 —
Mannigfaltige Anstalten aller Art, ja selbst großartige Bauten mußten
unternommen werden, um Raum für die Rebstocke zu gewinnen. Da giebt
es große, von hoch emporragenden Pfeilern getragene Gewölbe, auf deren
Decke dann das Chor oder der Weingarten geordnet ward. Der Weinstock
wird an den steilsten Stellen herumgeführt, damit er das an ihren Wänden
zurückprallende warme Sonnenlicht einsauge. Ein Gewölbe erhebt sich oft
über dem andern, und Verbindungswege auf hohen Brückenbogen springen
über die unter ihnen grünenden Weingärten hinweg.
Geh während des Winters hinaus an die Gebirgsgelände der Mosel
und sieh, wie der fleißige Winzer schiefert, d. h. die Schiefersteine aus dem
Felsen hervorkratzt, zerhackt und in den Weinbergen umherstreut. Sie
halten den Boden feucht, und sind sie verwittert, dann düngen sie ihn. So
bekommt der Berg immer eine neue, jugendliche Kraft, die er dem Weinstocke
mitteilt. Doch dies ist nicht die einzige Winterarbeit. Gestattet es die
Witterung, dann werden auch die Mauern in den Weinbergen ausgebessert,
Hangende, mit Einsturz drohende Felsen untermauert und gestützt. So
bricht allmählich der Frühling an. Die Stöcke werden aufgestellt, der
Boden wird gelockert, gedüngt und umgegraben. Aber welche unsägliche
Mühe erfordert nicht die Düngung. Da muß beinahe jede Gabel voll
Dünger auf dem Rücken der Leute stundenweit in die Berge hinausgetragen
werden, und wie oft muß der Winzer es erleben, daß ein heftiger Platz-
regen all' seine Arbeit zerstört und in wenig Minuten den Boden herab-
schwemmt, den er unter großer Anstrengung in vielen Tagen und Wochen
mühsam hinaufschleppte. Nie darf er seine Stecklinge außer acht lassen,
und von der diesjährigen bis zur nächsten Ernte geht ohne Unterbrechung
eine Kette von Arbeit.
Wer möchte es dem Winzer verargen, wenn er nun in Frohsinn und
Heiterkeit die letzte Hand an die schöne, gereifte Frucht legt? Aus allen
Dörfern ziehen ganze Gesellschaften von Winzern, Männern, Weibern und
Kindern hinaus in die Berge. Den Korb auf dem Rücken, das Winzer-
messer in der Hand, so eilen sie die Fußpfade hinan, und es entwickelt sich
mit dem wachsenden Tage allmählich eine äußerst unterhaltende Thätigkeit
längs der Ufer des Flusses. Während bisher, sowohl im Winter als Früh-
ling und Sommer, der Winzer einsam auf seinem Berge beschäftigt war, so
ist jetzt die ganze Familie um ihn versammelt, ja, selbst von fernher sind
Freunde und Verwandte gekommen, um die Freuden der Weinlese mit ihm
zu teilen. So kärglich diese auch nicht selten ausfallen mag, so ist es
vennoch althergebrachte Sitte, dabei zu jubeln und zu schießen, sich zu necken,
lustig zu sein und die Freunde zu traktieren. Reist man dann längs der Ufer
des Flusses oder auf diesem selbst, so erblickt man überall im Thale die
Wagen mit ihren Kufen und ihrem Ochsengespann, während die in den Felsen
und Klüften verteilten Leute das edle Bergnaß herabholen und den gewonnenen
Reichtum in den Bottichen am Uferwege wie zur Parade aufstellen. Und
wie die Wege, so belebt sich auch der Fluß; denn nicht selten hat der Mosel-
bewohner seinen Weinberg aus der einen Seite des Flusses, während Dorf,
Äcker und Wiesen auf der entgegengesetzten liegen. Darum besitzt fast jede
193
größere Wirtschaft, oder mehrere kleine zusammen, ihren Moselnachen, und
es entsteht eine Thätigkeit auf dem Wasser, wie man sie auf dem Rheine
oder anderen Flüssen, welche den Besitz der Uferbewohner mehr als die
Mosel auseinander halten, nicht kennt.
Der Weinbau ist der zahlreichen Bevölkerung der Moselufer alles,
ihre einzige Erwerbsquelle. Kornfelder giebt es fast gar nicht; die Wiesen,
ja das Vieh haben sie nur des Weinbaues wegen. Freilich ist dieser in
guten Jahren auch außerordentlich beträchtlich, und es giebt einzelne Dörfer,
die in denselben oft 1000 — 2000 Fuder Wein (das Fuder zu sechs Ohm)
erzeugen. Die ganze Weinernte des Moselthales von Trier bis Koblenz
wird in besonders guten Jahren zu 100000, in mittelmäßigen zu 50 bis
80000 Fuder veranschlagt, während die Gesamtbevölkerung des etwa
13 Quadratmeilen großen Weinlandes 130000 Köpfe betragen mag.
Kohl.
130. Die Kastanie.
Die Roßkastanie hat auf grünem Kandelaber
die Blüten gelb und rot als Kerzen aufgesteckt,
der Regen will sie löschen, aber
zu höherem Glanz hat er sie aufgeweckt. Rückert.
131. Die Lebensgescliieiite des Flachses.
Am Sonntage war der Vater mit dem Kinde am blühenden Flachs-
felde vorbeigegangen, und es hatte sich ein Pflänzchen genau angesehen.
Wie zierlich streckte sich der schlanke Stengel! Wie stand er keck auf
einem Fusse! Am unteren Teile des Stengels standen zwei und zwei,
am oberen einzelne schöne, grüne, zarte Blättchen in bestimmten Ent-
fernungen, und oben wiegten sich die wundervollen, himmelblauen Blüten.
Jetzt trinken sie draussen den kühlen Nachttau. Der schöne Mond und
die funkelnden Sterne erzählen ihnen köstliche Geschichten vom blauen
Himmel und den Blumenengeln. Heimchen singen ihnen ein schönes
neues Lied, Mäuschen gehen zwischenhin wie in einem Lustparke spazie-
ren, und Johanniswürmchen leuchten dazu. Sie können die Äuglein
Schliessen, wann sie wollen, und morgen schlafen, so lange es ihnen beliebt.
Ihre Nahrung ist süsser Hegen und goldener Sonnenschein; und sie können
mit einander pispern und wispern, so viel sie mögen, niemand schilt
sie deshalb, sie behalten immer ihren Platz! Wie hat es solch ein Flachs-
pflänzchen doch so gut!
„Allein, allein, allein, allein, —
wie kann der Mensch sich trügen!“
würde Herr Urian sagen. Solches Leinenpflänzchen hat seine liebe Not,
so schlimm als ein Kind, ja wohl noch etwas schlimmer. Höre zu, wie’s
ihm ergeht! Man fühlt das eigene Unglück kaum halb, wenn man erfährt,
dass einem andern noch weit Betrübteres widerfährt!
Nicht lange währet die Herrlichkeit des Leinfeldes. Die blauseidenen
Blütenblättchen fallen auf die braune Erde, die Kapseln werden dunkel,
Das Vaterland. 13
194
die grünen Blätter werden fahl und dürr; die Pflänzchen stehen kahl
und ohne Schmuck. Eine Schar Männer. Frauen und Kinder kommt
zum Felde. Unbarmherzig fassen sie die Pflänzchen und ziehen sie mit-
samt der Wurzel aus. Gleich armen Sündern und Verbrechern bindet
man sie in Bündel und schleppt sie fort. Wo geht es hin? 0 Schrecken!
An einem düsteren Teiche macht man halt. Ein Bündel wird gefasst,
und — ein Schwung, ein Wurf — da liegt es rettungslos im Wasser.
Ein zweites, drittes folgt, es folgen alle. „Hinab mit ihnen!“ schreit
man, „Steine drauf!“ Mächtige Steine drücken die zarten Pflänzchen
hinunter in die schwarze Tiefe. Viele Tage vergehen, sie sind noch in
dem Pfuhle. Ekelige Frösche und Wasserschnecken schwimmen zu ihnen
heran; allerlei Gewürm kriecht in die Bündel hinein. Die Binde der
Stengel fängt an zu faulen, schon wird sie weich und schlüpfrig, bald
ist es aus mit ihnen.
Da wird es am Rande des Teiches wieder lebendig. Die Männer
und Frauen nahen wieder und ziehen die Ertränkten hervor ans Tages-
licht. Man löst die Bündel auf und streut die Pflänzchen übers Feld.
Wie sehen sie aber jetzt aus, so schlüpfrig und so schmutzig! Welch
übler Geruch verbreitet sich rings umher! Alle Kinder, die sich früher
so sehr über die schönen Flachspflänzchen freuten, laufen jetzt mit zuge-
haltenem Naschen schnell vorbei, wenn sie ihr Weg ans Feld führt. Der
kalte Wind streicht scharf in der Nacht darüberhin, der Strahl der Sonne
sengt sie bei Tage. Der Stengel wird dürr und bleich. Sobald er
völlig ausgedörrt ist, wird er von neuem aufgerafft und in das Haus
gebracht.
Hier stehen Mädchen und Frauen mit Flachsbrechen bereit. Zwei
scharfe Latten sind so befestigt, dass sie Raum genug übrig lassen, um
einer dritten Latte freie Bewegung zwischen ihnen zu gestatten. In
diese Martermaschine werfen die Unbarmherzigen die blassen Stengel,
und jedes feste Teilchen in ihnen wird losgequetscht und zersplittert.
Die meisten der dürren, harten Stückchen liegen unter der Flachsbreche
auf einem grossen Haufen beisammen. Doch hängen ihrer noch viele
zwischen den feinen Fäden, in welche die Flachshalme sich jetzt aufgelöst
haben. Schon lauern Hecheln auf sie. Lange, scharfe Drahtspitzen
stehen in einer furchtbaren Reihe wie eine Compagnie Soldaten mit
blitzendscharfen Lanzen; es ist die Hechel. Mitten hinein wirft man
den zerquetschten, aufgerissenen Flachs und zieht ihn zwischen den
Drahtstiften hindurch. Jedes Fäserchen, das stärker ist, als man es
wünscht, muss da zurück und fällt als Werg zur Erde.
Der Flachs ist rein. Die grauen Fädchen sind glänzend und fein
in der Hand des munteren Mädchens. Nun wird alles Leid zu Ende
sein; denn das Mädchen windet sie leise und sauft um einen zierlichen
Stab und umschlingt sie mit einem zierlichen, schönen Bande. So steht
der Flachs dann in der warmen Stube, die Mädchen und Frauen sitzen
beisammen im Kreise, die Lampe brennt im traulichen Zimmer. Das
Holz im Ofen knistert lustig, und das Mütterchen erzählt wunderschöne
195
beschichten. Die Bäder schnurren, und die Mädchen spinnen den Flachs
zu einem feinen Faden. Der feine Flachs am Stabe war eben aufmerk-
sam aufs Mütterchen, das gerade vom kleinen Däumling und vom
„Tischchen, deck’ dich“ erzählte, da ward er von den Fingern erfasst
und umgedreht zum festen Faden. Eingewickelt in den grossen Knäuel,
ist er auf der Spindel und konnte das Ende nicht einmal erfahren. Der
Weber wartet schon auf ihn. Viele Fäden spannt er auf den Webstuhl,
andere wirft er zwischen durch. „Klipp, klipp, klapp!“ geht es den
ganzen Tag, vom frühesten Morgen bis zur späten Nacht,
Nach kurzer Zeit hat sich der Flachs zur Leinwand umgewandelt.
Grau und unansehnlich ist sie aber noch, kein Mensch mag sie so leiden,
kein Kind ein Hemdehen oder Kleidchen von ihr haben; drum geht ihre
Qual von neuem an. Auf grünem Anger wird sie ausgespannt und liegt
den ganzen Tag im heissen Sonnenschein. Männer gehen zwischen den
ausgespannten Stücken durch und begiefsen sie mit Wasser. Wochen-
lang geht diese Wasserfolter fort, bis die unansehnliche, graue Farbe sich
nach und nach ins schönste Weiss verwandelt hat. Das weisse Linnen
blinkt von fern wie Schnee. Es wird zuletzt getrocknet, zusammengerollt
und in des Kaufmanns Laden neben vielen anderen Stücken aufgestellt.
Zum Kaufmanne kommt die Mutter und sucht das schönste Stück
sich aus. Das Kind daheim braucht neue Hemdehen und ein neues Tüchlein
übers Bett, Die scharfe Schere spreizt ihre langen Beine und fährt
mitten durch die Leinwand, hier links, dort rechts, wie es die Form
des Hemdehens verlangt, das aus ihm gefertigt werden soll. Die spitze
Nadel mit dem langen Faden durchbohrt die Linnenstücke an tausend
Stellen, und der Faden verbindet sie zum Kleidungsstücke. Doch auch
jetzt ist die Not des Flachses noch nicht zu Ende. Kaum hat das Kind
das feine, weisse Schürzchen oder Kleidchen, den schönen Kragen, der
aus dem Linnen angefertigt wurde, angezogen, so hat es unvorsichtig
hier einen Schmutzfleck, dort ein Tintenkleckschen darauf gemacht; die
Kleider müssen zur Wäsche ins heisse Wasser, in die scharfe Lauge von
heissender Seife. Hin und her wird die Wäsche gequält, gerieben und
gezupft, gleich einem Diebe aufgehangen, mit glühenden Plätteisen
gepeinigt, vom Kinde selbst beim Spiel gar übel mitgenommen, hier
geschlitzt und dort vom Dorn durchstochen, bis das Linnen endlich so
dünn und schlecht geworden ist, dass kein Stich mehr halten will.
Da pfeift auf der Strasse ein sonderbarer Mann ein abenteuerliches
Lied. Die Kinder kommen zur Mutter und bitten: „Komm, bring das
alte, zerrissene Linnen zum Hadernsammler!“ — denn der Mann hat
rund um sich die schönsten bunten Bilder, und stets erhält das Kindlein
eins davon, wenn ihm die Mutter das alte Linnen giebt. Nun geht’s dem
Flachse auf seine alten Tage schlimm. Lange Zeit hat er dem Menschen,
seinem Herrn, treulich gedient, doch nun er alt und schwach geworden
ist, wird er in den Sack gesteckt und „Lump“ geheissen. Der Lumpen-
sammler hat den Sack gefüllt und wirft ihn auf den Wagen zu vielen
anderen Säcken mit gleichem Inhalte.
13*
196
Wo geht die Reise hin? Es schlängelt sich der Weg den Berg
hinan zum finsteren Walde. Zwischen schwarzen Fichten geht es fort
ins düstere, enge Felsenthal. Ein wilder Giessbach schäumt über grosse
Blöcke, die ihm bei jedem Schritte den Weg versperren. Dort am brausenden
Wasser steht ein Haus mit einem Schaufelrade, das Tag und Nacht sich
umdreht und Wasserfunken sprüht. Ein Lärmen ist in dem Hause, als
sollte die Erde untergehen. Ein Pochen und Stampfen und Poltern tobt
hier den ganzen Tag, als wär’ ein furchtbares Gewitter hier gefangen
und wollte sich befreien. Der Lumpensammler hält an, ein Mann er-
scheint in der Thür des Hauses. Man schreit sich gegenseitig einen
„Guten Morgen“ in die Ohren, die Lumpen werden abgeladen, genau
besehen und verkauft. Klein geschnitten und rein gewaschen kommen sie
in Tröge mit gewaltigen Stampfen. Unten an den Stampfen sind scharfe
Messer, die zerreifsen das arme Linnen in tausend kleine Fäserchen.
Aus all den alten Spitzenkragen und Tüchlein, aus den weifsen Kleidchen
und Schürzchen wird ein weifser, dicker Brei. Diesen schöpfen geschickte
Männer mit grossen Formen aus Draht heraus und legen die dünne
Schicht auf gleich grosse Stücke Filz, bis aus vielen solchen Doppellagen
ein hoher Packen entsteht. Dieser wird gepresst und dann getrocknet.
Aus den alten Kleidern ist schönes, weisses Papier entstanden. Es
ist dasselbe Stück, auf dem diese Geschichte erzählt ist, damit das Kind
sich tröstet, wenn ein kleiner Unfall es verdriesslich stimmen will. Es
soll das Kind dann daran denken, dass sein Schreibebuch viel Schlimmeres
erlebt hat, und dass ihm noch Schlimmes genug bevorsteht, bis es als
Fidibus des Vaters Pfeife anzündet und durch das offene Fenster als feiner
Rauch zum blauen, hellen Himmel steigt, wo alle Not ein Ende hat.
H. Wagner.
132. Der Wegerich.
Von der ersten Frühlingszeit bis zu dem letzten schönen Tage im
Jahre steht an allen Wegen ein Pflänzchen, das heißt Wegerich oder
Wegebreit. Es ist sehr unscheinbar und gar nicht schön. Stengel und
Zweige hat es nicht, sondern es liegt breit und platt mit seinen leder-
artigen, dunkelgrünen Blättern auf dem Boden. Kommt seine Bliitezeit, daun
geht mitten aus den Blättern heraus ein Schaft. Der hat oben eine röt-
lich-weiße Blütenähre mit einer Menge kleiner Blüten. Aus diesen stehen
die Staubgefäße hervor und bilden eine Art von Bürstchen. Weil das
Pflänzchen so arm aussieht, so wird es wenig beachtet. Die Kinder bücken
sich wohl nach dem Vergißmeinnicht und nach der Kettenblume; aber nach
dem Wegerich greift selten eins. Für die frohen Menschen ist das Pflänz-
chen freilich weniger geschaffen, als für die traurigen. Der Landmann weiß
recht gut, daß es für böse Wunden und Eiterbeulen ein treffliches Heilkraut
ist. Und von der Großmutter bis auf den Enkel herab hat es noch man-
ches andere gute Zeugnis; denn es beruhigt das Blut, und wer es im
Frühlinge als Thee trinkt, dem giebt fein Saft gesunden Magen und heile
Haut. Was will man mehr von einem so unscheinbaren, einzelnen Kränk-
197
lein! Man will nicht mehr, aber es giebt noch mehr. Sind seine Blüten
ansgefallen, so hat sich an jedem Blümchen ein Samenkorn angesetzt. Das
ist künstlich in einer kleinen Kapsel geborgen. Viele Menschen, die das
Pflänzchen zertreten und so ohne ihren Willen unsres Herrgottes Saat-
leute werden, wissen das nicht. Aber jedes Finklein weiß es. Das ist
seine Wissenschaft, von der Mutter ihm angeerbt und angefüttert. Wenn
es die Flügel regen kann, dann fliegt es zu der vollen Ähre des Wegerichs,
die ist seine stets gedeckte Tafel. Wer dann ein Auge hat für der Geschöpfe
Thun und Treiben, der sieht mit Vergnügen, wie der Distelfink die gelben
Schwingen ausbreitet, sich flatternd an den Wegerich hängt und mit ihm
umfällt. Schier auf den Rücken kommt er zu liegen, und so hält er seine
Schnabelweide, welche nicht nur für heute oder morgen reicht, sondern für
lange, lange Zeit. Wenn der Schnee alles bedeckt, so kommen die Ammern
in die Dörfer und mischen sich unter die Spatzen, wohin sie nicht gehören,
weil böse Gesellschaft gute Sitten verdirbt. Der Fink aber sucht die Raine
auf und findet leicht die Samenähre des Wegerichs, die über den Schnee
hervorragt. Sie hält ihre Körner fest, bis sie gesucht werden. Was aber
die Finken zerstreuen, das ist gesät fürs neue Jahr. Glaubrccht.
3. MaterlmrdisHe Tiere.
133. Bildliche und sprichwörtliche Redensarten
bezüglich der Haustiere.
1. Hund. Einen wie einen Hund behandeln. Müde fein wie ein
Hund. Hundemüde. Einen alten Hund ist schwer bellen lehren. Tote
Hunde beißen nicht. So bekannt sein wie ein bunter Hund. Der Knüttel
liegt beim Hunde. Da liegt der Hund begraben. Damit kann er keinen
Hund vom Ofen locken. Kommt man über den Hund, fo kommt man auch
über den Schwanz. Er ist ganz auf den Hund gekommen (in schlechte
Umstände des Vermögens oder der Gesundheit); auf dem Hunde sein. Wie
ein begossener Hund (Pudel) (beschämt). Es nimmt kein Hund ein Stück
Brot von ihm. Hunde, die viel bellen, beißen nicht. Leben wie Katzen
und Hunde. Der Hund frißt wieder, was er gespieen hat. Wer den Hund
werfen will, findet wohl einen Stein. Mehr Hunde als Knochen. Viele
Hunde sind des Hasen Tod. Was ist die Hundsrose? Hundskamille? eine
Hundemahlzeit? Welche Tage heißen Hnndstage?
2. Katze. Eine Katze im Sacke kaufen. Sich wegschleichen wie die
Katze vom Taubenschlage. Wenn sagt man: Hast du dich mit Katzen gerauft?
Er fällt immer aus die Füße wie die Katzen. Mit jemandem spielen wie
die Katze mit der Maus. Die Katze läßt das Mausen nicht. Jemehr man
die Katzen streichelt, desto höher heben sie den Schwanz. Weder Hund
noch Katze haben, besitzen. Wenn die Katze fort ist, so tanzen die Mäuse
auf dem Tische. Der besten Katze entwischt manchmal eine Maus. Ein-
gesperrte Katzen fressen keine Mäuse. Um die Sache herum gehen, wie die
198
Katze um den heißen Brei. Wer wird der Katze die Schelle anhängen?
Seid nicht wie die Katzen, die vorne lecken und hinten kratzen. Bei Nacht
sind alle Katzen grau. Welchen Menschen nennen wir eine Katze? eine
Schmeichelkatze? Was nennt man Geldkatze? neunschwänzige Katze? einen
Katzenbuckel machen — katzenbuckeln? Katzengesicht? Katzenjammer? Katzen -
liebe? Katzenmusik (jemandem eine Katzenmusik bringen)? Katzenpfötlein
(eine Pflanze)? Katzensilber (Glimmer)? Katzensprung (nur ein Katzen-
sprung sein)? Miezchen an Bäumen?
3. Maus. Mit Speck fängt man Mäuse. Wenn die Maus satt
ist, dann schmeckt das Mehl bitter. Wenn man die Maus auf den Speck
bindet, so will sie nicht fressen (anbeißen). Er hat ein Mäuschen davon
pfeifen hören. Welchen Menschen nennt man ein Mäuschen? Was versteht
man unter mausen (verschieden von maustern)? Mäusenester im Kopfe
haben? mäuschenstill? mausetot? Was ist die Maus am Daumen?
Mäusegerste? Mäuserohr?
4. Pferd. Sich vom Pferde auf den Esel setzen (vom Pferde auf
den Esel kommen). Das Pferd hinter den Wagen spannen. Einem geschenkten
Gaul sieht man nicht ins Maul. Er sitzt zu Pferde und sucht darnach.
Mit einem gemieteten Pferde und einer geliehenen Peitsche reitet (fährt) es
sich gut. Sich aufs hohe Pferd setzen; auf dem Fohlen oder faulen Pferde
(einer Lüge) betroffen werden. Was ist Pferdearbeit? eine Roßkastanie?
5. Kuh. Etwas ansehen wie die Kuh das neue Thor. Blinde
Kuh spielen. Was hilft's, wenn die Kuh einen Eimer Milch giebt und wirft
ihn wieder um? Wer prozessieren will um eine Kuh, der geb' sie lieber zu.
Was sind Kubpocken? Kuhblumen? Da stehen die Ochsen am Berge.
6. Esel. Wo man einen Esel krönt, ist Stadt und Land gehöhnt.
Ein Esel gefällt dem andern. Wer sich zum Esel macht, dem will jeder
seinen Sack auflegen (den will jeder reiten). Der Esel hat sich in eine
Löwenhaut gehüllt. Den Esel beim Schwänze aufzäumen. Um des Esels
Schatten zanken. Man ruft den Esel nicht zu Hofe, als daß er Säcke trage.
Den Esel schimpft das Maultier Langohr, oder ein Esel schimpft den andern
Sackträger. (Der Topf wirst dem Kessel vor, daß er schwarz sei.) Ein
lebender Esel ist besser als ein totes Pferd. Man kennt den Esel an seinen
Ohren. Ein Eselsohr guckt überall hervor. Ein Esel bleibt ein Esel und
käme er gen Rom. Was ist eine Eselsbrücke? Was sind Eselsohren (in
Büchern) ?
7. Schaf. Der geduldigen Schafe gehen viele in einen Stall. Sein
Schäfchen scheren. Sein Schäfchen im Trocknen haben (eigentlich: sein
Schiffchen im Trocknen haben). Was ist ein gutes, frommes Schaf? lamm-
fromm? ein räudiges Schaf? ein verlorenes, wiedergefundenes Schaf?
Schafgarbe? ein Wolf im Schasskleide?
8. Bock. Er wird die Schafe von den Böcken scheiden. Den Bock
zum Gärtner machen, setzen. Bockbier (eigentlich Einbecker Bier). Welche
Gestelle nennt man Böcke? Einen Bock (Verstoß, Fehler) machen, schießen.
Bockbeinig (widerspenstig). Ins Bockshorn jagen (in die Enge treiben^
in Schrecken setzen).
— 199 —
9. Hahn und Henne. Es wird weder Heime (Huhn) noch Hahn
darnach krähen. Hahn im Korbe sein. Jemandem den roten Hahn aufs
Dach setzen. Herumlaufen wie eine Henne, die legen will. Ein blindes
Huhn findet wohl auch noch ein Körnchen. Kluge Hühner legen auch in
die Nesseln. Ich habe noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen. Was ist
der Hahn eines Fasses? einer Flinte? der Wetterhahn? der Hahnenfuß?
Hahnenkamm? ein Hühnerauge? Hühnertod? Jütling.
134. Der Schäferhund.
Der Schäferhund unterscheidet sich dadurch von den anderen, daß
die Spitzen der Ohren nicht überhangen, sondern aufrecht stehen.
Seine Gestalt ist nicht gerade die schönste unter den Hunden, aber er
steht vorn an unter denen, die ihrem Herrn am treuesten dienen. Er
ist ein ganz vortreffliches Tier, lernt nach kurzer Zeit jeden Blick und
Wink des Schäfers kennen, jedes Wort verstehen und mit großer Aus-
dauer jegliche Beschwerde ertragen. Es giebt in der That Schäferhunde,
welche jedes Wort ihres Herrn verstehen. Ein aufmerksamer Beobachter
erzählte, daß er gehört habe, wie ein Schäfer seinem Hunde befahl,
den „Raps" besonders in acht zu nehmen. Das Tier stutzte, wahr-
scheinlich weil es das Wort früher noch nicht gehört hatte. Weizen
und Roggen, Hafer und Gerste, Wiese und Feld waren ihm bekannt,
vom Raps jedoch wußte er noch nichts. Nach kurzer Ueberlegung
machte er die Runde um die Herde, untersuchte die einzelnen Felder
und blieb endlich dei demjenigen stehen, dessen Frucht sich von den
ihm bekannten Früchten unterschied: das mußte das Rapsfeld fein,
und dem war auch wirklich so! — Man verwendet den Schäferhund
gewöhnlich schon im ersten Jahre seines Alters als Wächter der Herde,
muß ihn aber öfter züchtigen wegen der ihm angeborenen Bissigkeit
und Heftigkeit. Mit der Zeit lernt er seinen Beruf vollständig aus-
füllen. Das Tier, welches sich von der Herde entfernt, holt er zurück;
wenn ein leckeres Schaf sich dem Rande des Kleefeldes nähert, rasch
sieht es den Hund vor sich; störrige Schafe packt er am Hinterbeine,
aber ohne zu beißen; er führt die Herde an, damit kein Schaf
vorauslaufe, er schließt sie, damit keins zurückbleibe. — Beim Kuh-
hirten ist sein Betragen ein anderes. Er beobachtet seinen Herrn
genau und merkt auf, wenn dieser etwas befiehlt. Rinder, welche
nicht gehorchen, muß er wirklich beißen, sonst lernen sie ihn nicht
fürchten. Einer Kuh darf er nur nach den Hinterbeinen beißen, nie
nach dem Schwänze oder an die Seiten. Schlügt ein Rind nach
ihm, so muß er sich wohl in acht nehmen, aber dennoch beißen. Geht
ein Rind mit den Hörnern auf ihn los, so trägt er dennoch den Sieg
davon, indem er das Tier in die Schnauze beißt und sich daran hängt.
Lämmer und Mutterschafe darf er nie beißen, er muß dann bloß so
thun, als ob er beißen wollte. Brehm.
200
135. Der Iltis.
Die Schatten der Nacht legen sich über Feld und Flur. Da schimmern
zwischen den breiten Klettenblättern der Hecke hindurch zwei grünlichblaue
Flämmchen. Es sind die Augen des Iltis. Im dichten Strohdache der
Scheune hat er den ganzen Winter über ein warmes Lager gehabt. Zum
Danke würgte er dem Vater die beste Henne, stürzte ihm den Bienenkorb
um und fraß den Honig. Mit Anfang des Sommers zieht er in das
Feld, blutdürstig wie der wildeste Mordgeselle. Leise hebt der Iltis die
Beine, und von seinen Sprüngen hörst du nicht das mindeste Geräusch; die
behaarten Sohlen seiner Pfoten geben ihm einen weichen Tritt, wie ihn die
Katze hat. Bei jedem Sprunge biegt sich der schlanke, etwa 1/<i Meter
lange Leib im Bogen nach oben; wie eine Schlange gleitet er zwischen
Gras und Kräutern hindurch.
Ein Mäuschen hüpft in der Ackerfurche, flink wie ein Tanzmeister;
aber der Iltis versteht das Springen noch besser, ein Satz und ein Biß —
kaum, daß das Tierchen noch einen Notschrei ausstoßen konnte, so ist sein
Kopf schon zermalmt. Ein schlechter Anfang, meint der Iltis, aber etwas
ist besser als nichts. Er zieht weiter zum Hamsterbau. Der alte Geiz-
hals sitzt vor seinem Hause und putzt sich mit den Pfoten den Tau vom
Barte. Da springt ihm der Iltis von hinten auf das Genick, und ehe der
Erschrockene sich umwendet, um mit den kräftigen Zähnen sich zu wehren,
sind ihm schon die Halsadern zerrissen. Die Mahlzeit lohnt sich schon besser,
spricht der Mörder; aber das Beste ist das weiche Nest, es giebt ein hübsches
Sommerquartier. Die Mordlust treibt ihn weiter; am Feldraine macht er
halt. Hier riecht es nach Honig, die Hummeln haben gewiß schon einge-
tragen. Er kratzt sie heraus und verspeist die süße Frucht ihrer Arbeit.
Eine Kröte schleicht zwischen den Kohlpflanzen umher und sucht die Schnecken
ab. Schlechtes Fleisch das! knurrt der Iltis, kaum zwei Tropfen Blut
im ganzen Tiere, und obendrein kalt wie Bachwasser, aber für den Fall
der Not ist es doch zu brauchen. Er will sie eben nach dem Hamsterloche
schleppen, als es dicht neben ihm raschelt. Ein Aal macht einen Nacht-
spaziergang nach dem Erbsenfelde. Nur wenige Windungen macht er noch
vorwärts, und die scharfen Zähne des Iltis sitzen ihm im Fleische. Es giebt
einen wilden Kampf, denn der Aal ist ein kräftiger Bursche und nimmt es
schon mit einem Feinde auf. Aber der Iltis faßt den glatten Gesellen so,
daß dieser sein Gebiß nicht gebrauchen kann, zerbeißt ihm den Schädel und
schleppt ihn in die Vorratskammer des Hamsters. Wenige Minuten darauf
ist er schon wieder auf der Jagd. Dort hinter dem Klee hat eine alteReb-
henne ihr Nest; sie sitzt aus den Eiern und schläft. Der Iltis faßt sie
und beißt ihr den Kopf ab. Hungrig ist er nicht mehr, er will nur etwas
Leckeres haben; so säuft er ein wenig Blut, frißt das Gehirn und schleppt
dann das Rebhuhn zu Kröte und Aal. Dann kehrt er zurück und holt
auch die Eier, eins nach dem andern, geschickt drückt er sie mit dem Kinne
gegen die Brust und trägt sie in seinen Schlupfwinkel, ohne eins zu zer-
brechen. Hindert ihn morgen etwa das Wetter am Ausgehen, so öffnet er
201
sie vorsichtig mit den Zähnen und leckt sie aus. Kein Tier des Feldes
ist vor dem Iltis sicher, selbst die Kreuzotter nicht.
Das Beste am Tiere ist der Balg. Mitte Winters bezahlt ihn der
Kürschner am teuersten. Wenn sich der unangenehme Geruch verloren hat,
den das Tier bei Lebzeiten hatte, so nimmt sich der braunschwarze Pelz mit
weichem, gelblichen Wollhaar recht hübsch aus. H. Wagner.
136 Rotz und Reiter.
Als ich am 29. Juni 1866 nach Langensalza kam, fand ich auf
Straßen und Plätzen ein ungewöhnliches Menschengewühl. Ich brauchte
nicht lange nach der Ursache zu forschen. Die hannöversche Kavallerie
erschien von nah und fern, um ihre Pferde in die Hände der preußischen
Bevollmächtigten abzuliefern. Vor dem Mühlhäuser Thore geschah die
Übergabe, und hier war das Gedränge von Mensch und Tier am stärksten.
In langen, unübersehbaren Reihen standen Roß und Reiter. Gleich in der
ersten Reihe erblickte ich einen Schimmel, welcher mir sehr bekannt vorkam.
Ich trat näher, richtig, Mann und Pferd gehörten vor der Schlacht zu
meiner Einquartierung. Das schöne Tier hatte schon damals meine Auf-
merksamkeit erregt, in seiner jetzigen Abgetriebenheit erkannte ich es nur
als Schimmel und an seinem Herrn wieder. Bei meiner Annäherung
erinnerte sich der Hannoveraner auch meiner Person, streckte mir die Hand
entgegen und rief: „Ah, find Sie nicht mein freundlicher Wirt aus dem
Dorfe —"
„N..........", ergänzte ich, als ihm der Name des Ortes nicht gleich
beifallen wollte.
„Richtig, N..........", wiederholte er. „Ich erzählte Ihnen, daß
mein Vater ebenfalls ein Bauer sei, ein Ostfriese, was Sie sehr interessierte.
Lassen wir das jetzt; aber haben Sie doch die Güte, mir für dieses Geld-
stück im nächsten Bäckerladen Brot zu kaufen! Nicht wahr, du armer Her-
kules", wandte er sich an sein Roß, „hast gestern Abend die letzte Ration
bekommen und seitdem nicht ein Körnchen Hafer gesehen? Wir armen
Schelme haben keine Fourage mehr, und die Preußen geben noch nichts her;
so muß ich selbst mich deiner erbarmen. Das Knappern an der Baumrinde
sagt mir zur Genüge, wie es mit ihm steht."
Mit größter Bereitwilligkeit sprang ich zu dem Bäcker und brachte
das Verlangte; auch holte ich noch aus dem nahen Gasthofe einen Eimer
frischen Wassers. „Dank, tausend Dank!" rief der Reiter, als ich mit dem
kühlen Trünke ankam. „Sie sind ein braver Mann und haben auch ein
Herz für die unvernünftige Kreatur. Wie doch das arme Tier so begierig
frißt und dabei seine dankbaren Blicke auf uns richtet! O, es ist ein gutes
Pferd und weiß genau wie ein Mensch, wer es mit ihm gut meint!" Und
in der That: bei jedem Bissen, welchen sein Herr ihm darreichte, bog und bewegte
es nach Pferdeart die Ohren, blickte ihn freundlich an, stieß ihn mit dem
Kopfe, gleichsam als wollte es Scherz und Kurzweil mit ihm treiben,
wieherte, hob die Augen nach seinen vierbeinigen Gefährten mit dem bedeu-
202
tungsvollen Blicke: „Wer von euch hat einen so guten Herrn, der bctr
Bissen des Mundes teilt?"
„Sie haben wohl Ihr Pferd recht lieb?" fragte ich den Dragoner,
als ich die gegenseitige Zärtlichkeit des Rosses und seines Reiters sah.
„Trifft man solche Zuneigung auch bei Ihren Kameraden?"
„Ja", antwortete er, „der hännöversche Kavallerist hat nur Sinn für
sein Pferd, und dieses kennt und liebt nur ihn; denn es ist nicht selten aus
seiner väterlichen Besitzung geboren, groß geworden und mit ihm ins
Regiment getreten. Daher macht er sich nicht bloß eine gute Pflege, son-
dern auch eine vorzügliche Dressur seines Pferdes zur Aufgabe. Viele
unserer Kavalleristen könnten mit ihren Pferden jeden Augenblick vor einem
gewählten, kunsterfahrenen Publikum mit den seltensten Kunstreiterstücken
zur Schau auftreten. Auch mein Schimmel ist wohldressiert. Herkules",
rief er diesem zu, „gieb mir einen Fuß!" Das Pferd hob den rechten
Vorderfuß. „Einen Kuß!" Es reichte die Lippen. „Mache ein Kompli-
ment!" Es kniete mit beiden Borderfüßen nieder und bog den Kopf.
„Wie spricht das Pferd?" Laut begann es zu wiehern. „Hast du deinen
Herrn lieb?" Es nickte, legte mit sichtbarem Verständnisse seinen Kopf auf
dessen Schulter und strich mit demselben seine Wangen. „Was machst du
mit dem Feinde?" Bei dieser Frage richtete es sich trotz des verwundeten
Hinterfußes stolz in die Höhe, blickte wild um sich und stieg endlich kerzen-
gerade zur Luft hinein, biß, hieb und schlug wild um sich. „Brav, mein
treues Tier, aber was ist das Ende von Reiter und Pferd?" Alsbald
verschloaud des Rosses Wildheit; es sank zusammen, fiel auf die Kniee,
reckte und streckte sich und lag scheinbar ohne Leben, völlig tot.
„Erhebe dich, mein treues Roß!" gebot der Dragoner. „Es kommt
jetzt die gefürchtete Stunde der Trennung." Er deutete auf die sich nähern-
den preußischen Bevollmächtigten, welche den hannöverschen Kavalleristen
ihre Pferde abnahmen. Mühsam erhob sich das Pferd; seine, wenn auch
leichte, aber vernachlässigte Wunde machte ihm sichtbar große Schmerzen.
Je mehr sich die preußischen Offiziere näherten, desto größer wurde
die Aufregung des Dragoners, und öfteres Erröten wechselte mit Erblassen.
„Sind Sie krank?" fragte ich teilnehmend; „haben Sie vielleicht selbst
eine Wunde?" Bei diesen Worten sah er nach dem linken Arme und
sprach: „Allerdings habe ich einen Streifschuß in den linken Arm bekommen,
und das Bivouac bei Tag und Nacht im strömenden Gewitterregen hat die
Wunde verschlimmert. Das alles möchte sein, wenn ich nur Pferd und
Waffe behielte und nicht wie ein Lump abziehen müßte."
„Kamerad", rief ich besorgt, „entschlagen Sie sich solch trüber Ge-
danken! Ihr und des Pferdes Schicksal ist nicht zu ändern; fügen Sie sich
ins Unabänderliche. Nehmen Sie Abschied von ihrem Rosse, schnell, die
preußischen Herren treten heran!"
Da faßte der unglückliche Mann das Pferd um den Hals, gab ihm
noch unzählige Küsse, wandte sich endlich, hielt die strömenden Augen zu
und eilte ohne Umsehen zum Thore hinein. Ich folgte ihm, nahm ihn auf
meinen Wagen und führte ibn mit nach Hause. Dort verfiel der Patient
203
in ein wildes Fieber und lag über Nacht in wilden Träumen. Ich zog am
andern Morgen den Arzt des nahen Marktfleckens zu Rate; denn ich fühlte
für den jungen Mann das innigste Mitleid und mochte ihn gern dem Leben
und seiner Familie erhalten. Meine Gattin und die andern Hausgenossen
übernahmen am Tage seine Pflege, ich selbst und mein zuverlässiger Knecht
bewachten ihn in der Nacht.
An einem der folgenden Tage rief mich die in öffentlichen Blättern
angekündigte Auktion dienstuntauglicher Kavalleriepferde wieder zur Stadt.
Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich bei der Durchmusterung der zu Ver-
kauf stehenden Rosse den Schimmel Herkules erblickte! Sogleich faßte ich
den Entschluß, das Pferd zu kaufen. Der Auktionator bot für das klapper-
dürre, lahme Tier drei Thaler an. Als ein Nachgebot nicht erfolgte, rief
ich: „Vier Thaler!" und erhielt das Pferd unter allgemeinem Gelächter
meiner Bekannten und Gutsnachbarn. Das wurmte mich doch ein wenig,
aber je weiter ich mich auf dem Heimwege von der Verkaussstätte entfernte,
desto mehr vergaß ich Spott und Spötter und fühlte mich glücklich in dem
Gedanken: „Was wird der Dragoner sagen, wenn er sein Roß erkennt
und wieder erhält!"
Doch mit diesem stand es übel. Das Fieber tobte gewaltig in seinen
Adern, und fast schien es uns, als sollte er, statt auf dem Bette der Ehre,
hier auf rühmlosem Krankenlager enden. Die rüstige Jugendkraft siegte
endlich; das Fieber schwand, und die Besinnung kehrte zurück, doch uicht der
fröhliche Jugendmut. Selbst Gedächtnis und Interesse für das treue Roß
schienen dem Armen erloschen. Nie sprach er von demselben, nie nannte er
seinen Namen; auch für alles andere war er teilnahmlos und verbrachte
die Tage in einem stillen, traurigen Dahinbrüten. Jetzt schien mir ein
Besuch bei dem Schimmel, welcher Pflege und Futter nur von einem in die
Uniform des Dragoners gekleideten Knechte angenommen und sich merklich
erholt hatte, das einzige Heilmittel. Darum redete ich eines Tages den
Gemütskranken an und sprach: „Kamerad, wenn Sie sich wieder kräftig
fühlen, sollen Sie mich gelegentlich in den Pserdestall begleiten, um ihr
Urteil über ein angekauftes Pferd abzugeben." Schon sah ich in dem
Zornblitzen seiner Augen einer abschlägigen Antwort entgegen; aber er
kämpfte die Regung des Unwillens nieder und erwiderte mit trauriger
Stimme: „Morgen, lieber Herr, nicht heute; ich muß mich erst au den An-
blick eines Pferdes wieder gewöhnen."
Wirklich legte er am nächsten Morgen das bequeme Hauskleid ab und
zog die Uniform wieder an, und so begaben wir uns nach dem Pferdestalle.
Ein Blick genügte, um den Liebling wieder zu erkennen. „Herkules, mein
Herkules, du lebst noch, ich habe dich wieder!" rief der Dragoner mit zittern-
der Stimme. In fliegender Eile stürzte er nach dem Rosse, welches bei
dem Klange seiner Stimme die Ohren spitzte und mit einem freudigen Wie-
hern antwortete. Von nun an besorgte der junge Mann die Wartung und
Pflege seines Rosses mit eigener Hand, führte es auf den nahen Wiesen
spazieren und übte und stärkte dessen lahmen Fuß. Durch diese Beschäf-
tigung vergaß er seines Leides und schöpfte neuen Lebensmut.
204
Endlich waren Reiter und Roß völlig genesen. Das letztere warf
den schönen Hals stolz in die Höhe, streckte den Schweif weit von sich und
stieg keck und kerzengerade in die Luft. Sein schlanker Leib hatte sich mit
glänzendem Haar bedeckt, die Haut ließ jede Ader und Muskel durch-
schimmern, die Füße tanzten in Lust und Leben. Wie gafften und wunder-
ten sich bei diesem Anblicke die damaligen Lacher und Spötter!
Eines Tages kam Besuch auf das Gehöft. Der langgestreckte Korb-
wagen und das eigentümliche Pferdegeschirr verwiesen auf Hannover. Er-
ratet ihr die Namen der fremden Gäste? Es waren Vater und Bruder
unsers Dragoners, aus weiter Ferne gekommen, den schmerzlich Entbehrten
heim zu führen. Groß war die Freude des Wiedersehens! Auch das treue
Roß erhielt davon seinen gebührenden Anteil. Der Abend war nicht lang
genug, all' die Erlebnisse von Reiter und Pferd zu erzählen; die Nacht noch
fand uns in tiefen Gesprächen.
Am folgenden Morgen fuhr der Korbwagen wieder vor, an dessen
Seite Herkules, lose angebunden, die Rückreise machen sollte. Als sein
Herr das Tier herbeiführte, rief er ihm zu: „Herkules, bedanke dich bei
unserm guten Hausherrn!" Sogleich kniete es nieder und berührte mit
den Lippen meine Hände und Kleider, gleichsam, um sie zu küssen. Dann
sprang das kluge Tier auf und wieherte laut, als ahne es den Heimzug.
Sein Herr selbst hatte bei der Tiefe seiner Gefühle kein lautes Wort. Er
drückte uns fest an sein lantschlagendes Herz und sprang dann hastig zu
den Seinigen in den Wagen, der alsbald dahinsauste. Gartenlaube.
187. Der Steinadler.
Der Steinadler ist ein königlicher Vogel, der durch Größe und Hal-
tung Bewunderung erregt; er ist 94 bis 106 em lang und klaftert mit
ansgespannten Flügeln gegen 21/2 m. Der abgerundete Schwanz mißt
36 cm; die zusammengeschlagenen Flügelspitzen erreichen das Ende desselben
nicht. Das Männchen (gewöhnlich etwas kleiner und heller gefärbt als das
Weibchen) sieht von fern fast ganz schwarz aus, ist aber eigentlich schwarz-
braun, die Befiederung der Fußwurzeln und Oberschenkel lichtbrann, der
spitzfederige Hinterhals rostbraun, der Schwanz an der Wurzel weiß, dann
aschgrau und schwarzgefleckt, mit breiter, schwarzer Endbinde. Je älter der
Vogel wird, desto mehr bräunt sich sein Gefieder ab. Die Jungen sind
kohlschwarz und haben schmutzigweiße Federfüße. Der Schnabel ist horn-
blau, mit gelber Wachshaut gesäumt und 5 am lang, von der Wurzel an
gekrümmt; die Iris ist goldfarbig, im hohen Alter feuerfarben. Der Lauf
ist bis an die Zehen mit kurzen, derben, lichtbraunen Federn dicht besetzt;
die Zehen sind hellgelb, die Ballen groß und derb, die schwarzen Krallen
groß und sehr spitz, die hinteren 8 em lang. Das Gewicht eines alten
Vogels steigt selten über 12 Pfund.
Dieser schöne, mächtige Adler ist in der Schweiz durchaus nur
Alpentier und findet sich in allen Zügen unserer Hochgebirge zerstreut
vor. Nur im Winter, wenn die Murmeltiere unter der Erde liegen,
205
die Gemsen, Hasen, Schafe und Ziegen in die tieferen Wälder und
ins Thal ziehen, verläßt er in den Alpen seine Horste, um die Thäler und
Niederungen zu durchstreifen, und auch daun nur auf kurze Zeit. Der
Steinadler ist kühner, rüstiger und lebhafter als der Lämmergeier, von
dem er sich auch durch seinen hüpfenden Gang unterscheidet. Stundenlang
scheint er in unermeßlicher Höhe am blauen Himmel zu hangen und ohne
Flügelschlag in weiten Kreisen dahinzuschweben. Mutig, kräftig, klug,
scharfsichtig und von sehr feiner Witterung, ist er zugleich außerordentlich
scheu und vorsichtig, selten einsam seiner Beute nachspähend, gewöhnlich mit
seinem Weibchen das Revier regelmäßig zonenweise absuchend. Sein helles
„Pfülüf" oder „Hiä—hiä" klingt weit durch die Lüfte und erfüllt das
kleinere Geflügel mit Schrecken. Wenn er sich seiner Beute nähert, stößt
er oft ein „Kik—kak—kak" aus, senkt sich allmählich festen Blickes auf sein
Opfer und stößt dann blitzschnell in schiefer Linie aus dasselbe und packt es
mit der eisernen Klammer seiner tief eingeschlagenen Fänge. Keins unserer
Der Steinadler.
kleineren Tiere ist vor seiner Kralle sicher. Rehkülber, Hasen, wilde Gänse,
Lämmer, Ziegen, die er kühn vor Ställen und Häusern wegholt, Füchse,
Dachse, Katzen, Feld- und Waldhühner, Hunde, Trappen, Störche, zahmes
Geflügel, selbst Ratten, Maulwürfe und Mäuse sind ihm angenehm, vor-
züglich aber Hasen, die er seinen Jungen stundenweit mit ungeschwächter
Kraft zuträgt. Den Vierfüßler rettet der flüchtigste Laus nicht, eher den
kleinen Vogel der hastige Flug. Der Adler setzt seine Jagd mit eben so
großer Beharrlichkeit wie List fort und ermüdet das flinke Rebhuhn und
die rasche Waldschnepfe durch fortgesetzte Verfolgung. Oft jagt er dem
Wanderfalken seine Taube, dem Habichte sein Haselhuhn ab. Wo er ein-
mal gute Beute gemacht, dahin kehrt er gern zurück. Im Winter stößt
er oft auf Aas. In der Gefangenschaft kann er ohne völlige Erschöpfung
4—5 Wochen lang hungern.
An den unzugänglichen Felswänden, und lieber im Innern des Hoch-
gebirges als in den Vorbergen, baut er aus groben Prügeln, Stengeln,
Heidekraut und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, den er in der
206
Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge in einer über-
dachten Felsenspalte anlegt. Das Weibchen legt 3—4 weiße, braungespren-
kelte, sehr große Eier. Den in der Mitte des Mai ausschlüpfenden 1 bis
2 Jungen bringen die Eltern allerlei Wildbret, besonders Schneehühner, Hasen
und Murmeltiere, zu, und zerfleischen es, um die Jungen zu unterrichten,
vor ihren Augen am Rande des Nestes, indem sie es säuberlich aus dem '
Balge herausschälen.
Wenn sie nicht gestört werden, behalten sie den Horst mehrere Jahre bei.
Um zu den zum Horstbau nötigen Prügeln zu gelangen, stürzen sie mit ein-
gezogenen Flügeln blitzschnell aus einen Baum hinunter, packen mit den
Fängen einen dürren Ast, der von der Wucht ihres Sturzes krachend bricht,
und tragen das Holz dem Horstplatze zu.
Man hat oft gestritten, ob die Steinadler gelegentlich auch auf Kinder
stoßen. So selten dies auch geschehen mag, so ist doch der Vogel mutig
und stark geuug dazu, und wenigstens ein verbürgtes Beispiel haben wir
aus Graubünden dafür. Dort, in einem Bergdorfe, schoß ein Steinadler
aus ein zweijähriges Kind herab und trug es weg. Durch das Geschrei
herbeigerufen, verfolgte der Vater den Räuber in die Felsen, und da die
Last des Vogels ziemlich stark war, gelangte er nach großer Mühe dazu,
ihm das übel zugerichtete Kind abzujagen, das, an den Augen zerhackt, bald
starb. Lange lauerte der Vater dem Mörder auf, der sich stets in der'
Gegend umhertrieb. Endlich gelingt es ihm, ihn in einer aufgestellten
Fuchsfalle zu fangen. Ergrimmt eilt er auf ihn zu und packt ihn in der
Wut so unvorsichtig, daß ihn der Vogel mit seinem freien Fuße und
Schnabel schwer verwunden kann. Einige Nachbarn erschlugen hierauf mit
Prügeln den gefangenen Adler, der gegenwärtig ausgestopft in Winter-
thur steht. Tschudü
138. Der Bussard.
Der Bussard oder Mäuscfalk ist über die ganze nördliche Erde ver-
breitet, auch in Deutschland gemein. Teils zieht er im Herbste, oft scharen-
weise, hochfliegend und schön schwebend, hinweg, teils bleibt er und über-
wintert bei uns. Er schreit laut, hoch und gedehnt „hiä", oder abgebrochen
„gä, gä, gä, gä", nährt sich von Mäusen, Maulwürfen, jungen Hasen, jungen
Vögeln, Fröschen, Regenwürmern, sängt häufig Schlangen und trägt solche
auch seinen Jungen zu. In der Not frißt er Aas oder nimmt dem Wander-
falken seine gute Beute ab, die jener feiger Weise hergiebt.
Der Bussard ist ein sehr nützlicher Vogel, der allgemeine Schonung
verdient. Im Herbste frißt er so viele Mäuse, Maulwürfe und Hamster,
daß er davon schneckenfett wird; die Maulwürfe zieht er aus der Erde her-
vor, indem er, während sie wühlen, plötzlich zupackt. Öfters lauert er
ihnen stundenlang aus. Die Haut seiner Zehen ist so derb, daß selbst große
Ratten und Hamster, die er gepackt hat, sie nicht durchzubeißen vermögen.
Er frißt im Hunger einen ganzen Hamster stückweise, ohne etwas von Haut
und Knochen übrig zu lassen. Aus Knochen und Haar bildet er das
207
Gewölle. Kann er eine Zeit lang nur Frösche haben, so wird ihm unwohl.
Aus den stärksten Schuppen der Schlangen bildet er dagegen Ballen. Er
horstet auf hohen Bäumen und legt zwei bis vier grünlichweiße, hellbraun
gefleckte Eier.
Merkwürdig sind die Schlangenkampfe der Bussarde. Es gewährt ein
herrliches Schauspiel, wenn ein Bussard eine recht große Ringelnatter mit
den Krallen gepackt hat, und diese sich so um ihn herumwindet, daß er kaum
mehr stehen kann, schwankt und sich mit den Flügeln stützen muß. Frißt er
viele Blindschleichen hinter einander, so kriecht ihm manches dieser glatten
Tierchen, ehe er sich's versieht, wieder zum Schnabel heraus; zuweilen zer-
bricht es, und der Leib eilt weg, während er den sich krümmenden Schwanz
zu verschlucken bemüht ist. Kommt er an eine Kreuzotter, so sagt ihm gleich
der erste Blick, daß sie giftig ist. Er sucht sich beim Kampfe vor ihren
Bissen zu sichern und zerreißt und frißt jedesmal zuerst den Kopf, in welchem
bekanntlich das Gift steckt, während er bei giftlosen Schlangen bald beim
Schwänze, bald beim Leibe, bald beim Kopfe zu fressen ansängt. Als die
beiden Bussarde, die ich besaß, ziemlich erwachsen waren, und der größte
einmal auf dem Boden, der kleinste auf der Bank saß, legte ich vor jenem
eine große Kreuzotter nieder. Ruhig, mit gesträubtem Gefieder stand er da,
blickte sie unverwandt an und schien den Augenblick zu erwarten, wo er sie
mit Vorteil angreifen könnte. Jetzt warf ich einen halben Frosch hinter die
Otter; er stürzte los, packte, ohne den Frosch zu berühren, die Otter mit den
Krallen mitten am Leibe und wollte eben mit der sich verzweiflungsvoll
krümmenden und um sich beißenden in eine Ecke hüpfen, als plötzlich der
andere Bussard von der Hobelbank herabstieß und das Schwanzende der
Schlange ergriff. Sie rissen sich um den Raub, indem jeder mit der einen
Kralle ihn hielt, mit der andern Kralle gegen seinen Kameraden heftig
kämpfte. Eiligst trennte ich die Hitzköpfe und ließ dem die Beute, der sie
zuerst gepackt hatte. Er hielt sie schreiend und heftig mit den Flügeln
schlagend zwischen beiden Krallen; sie biß unaufhörlich zischend um sich,
und die Bisse trafen teils seine Federn oder die Luft, teils glitten sie an
dem Hornpanzer seiner Füße ab. Den Kopf, welchen er hoch hielt, konnte
sie nicht treffen. Jetzt zielte er mit dem Schnabel nach ihrem Kopfe, traf
und zermalmte ihn. Dann wartete er in gespannter Aufmerksamkeit ab,
bis das Untier ganz kraftlos zu sein schien, riß zuerst den Kops in Stücke,
die er verschlang, und fraß darauf den Hals und das Übrige. Schon
während er noch fraß, hatte ich bemerkt, daß fein linker Fuß etwas lahm
war; bald schwoll er da, wo die Zehen vom Fuße ausgehen, so bedeutend
auf, als es nur die zähe Hautbedeckung gestatten konnte. An dieser Stelle
ist der Fuß nur mit kleinen Schuppen bedeckt; daher hatten die Giftzähne
der Otter hier durchdringen können. Ohne weiter ein Zeichen des Schmerzes
zu äußern, als daß er den schwellenden Fuß unter die Federn zog, setzte
er sich gelassen nieder. Mit Einbruch der Nacht sank die Geschwulst schon;
am folgenden Tage war sie kaum noch bemerkbar; auch trat er häufig
wieder mit dem Beine auf, und am dritten Tage war er wieder ganz
gesund. Lenz.
208
139. TLe Wiege im Schilfe.
Der König über alle die flinken Gesellen, die in unzähliger Menge im
Schilfe der Teiche und Sümpfe wohnen, ist der Rohrsänger. Er ist so
lang wie eines Kindes Hand. Dort sitzt er auf einem schlanken Halme
und schaukelt sich. Aus dem Rücken ist er schwärzlich braun, am Halse weiß
und an dem Bauche gelblich. Über jedem Auge ist ein weißer Streifen. —
Jetzt fliegt er auf und hat in schnellem Schwünge mit seinem kurzen, spitzen
Schnabel eine Fliege weggeschnappt, jetzt eine Mücke, jetzt wiederum ein
Würmchen, das sich vorwitzig ans dem Schlamme des Ufers wagte. An den
biegsamen Schilshalmen klettert er hinauf, hinab, so flink als sei's auf ebener
gebaut. Immer neue Halme und Blättchen werden eingeflochten, bis die
Wand rundum ganz dicht ist. Außenhin kommen die gröberen, innen hinein
die feineren Bestandteile. Ganz zuinnerst wird das Nestchen mit Federn
ausgefüttert. Diese suchen beide Vöglein unverdrossen weit und breit zu-
sammen, wo etwa ein anderer Vogel eine verloren hat. Ins fertige,
warme Nest legt dann das Weibchen die kleinen, buntgesprenkelten Eier,
es setzt sich darauf und brütet sie.
Wie geht's aber dem Vögelchen im Schilfe, wenn ein Gewittersturm
daherbraust? Die schwachen Halme des Rohres werden ja dann hin- und her-
gepeitscht, daß sie mit Blatt und Blütenbüscheln das aufgeregte Wasser schlagen.
Wird dann das Nestchen nicht zerrissen? Und werden die Eier samt dem Tier-
chen nicht herausgeschleudert? — Nein, denn der Rohrsänger befestigt sein
Nest nur an recht zähen Halmen. Diese geben nach, aber sie reißen nicht. Er
Der Rohrsänger.
Erde. Nun sitzt er in einem
dichten Blütenbüschel wieder
still. Das Sonnenlicht glänzt
auf seinem zarten, glatten
Federkleide. Er singt ein
niedliches Liedchen, fein und
lieblich; das tönt durchs
Blattgelispel und durch das
Gesumm der Mücken. Ein
zweites Vöglein fliegt hinter
dichtem Gebüsche empor. Es
hörte den lockenden Gesang
und kommt herzu. Es hat
dieselbe Größe und dieselbe
Farbe; das ist sein Weibchen.
Die beiden spielen nun zu-
sammen und schmausen da-
zwischen. Sie suchen dürre
Blättchen und zähe Halme
und wickeln sie geschickt um
drei oder vier Stengel des
Schilfes. Es wird ein Nest
209
macht das Nest auch nicht flach und schüsselförmig, sondern tief, gleich einem
Beutel. In demselben sind Vogel und Eier geschützt. Kommt Wetternacht
und Regen, tief verborgen sitzt der Vogel mit seinen Eiern oder mit den
ausgeschlüpften Jungen, die sich unter seinen Flügeln wärmen. Die Sonne
leuchtet bald wieder, und dann kommt auch die Schar der Würmer und
Insekten wieder hervor, welche den Jungen und den Alten als Leckerbissen
dienen. H. Wagner.
140. Frosch und Kröte.
Wenn nach einem Gewitterregen im Sommer die Sonne wieder durchs
bricht und voll und klar im wundervoll blauen Raume leuchtet, da umgol-
den ihre Strahlen die freudigste Regfamkeit aller lebenden Wesen. Blatt
und Blüte erheben wieder straff und kräftig ihre Häupter, und jedes Tier-
chen, jedes geringste Geschöpfchen hüpft und springt und jauchzt vor Lust
und Wonne. Auch die vorhin fast verdorrten Gemüsepflanzen erholen sich
wieder. Sie saugen begierig das erquickende Naß ein, und ihre Verderber,
die bisher tief in der feuchten Erde an den Faserwürzelchen zehrten, kommen
auf die Erdoberfläche hervor, um sich auch einmal der warmen Luft und
des Lichtes zu erfreuen. Hier schlängelt sich ein dicker Regenwurm über
das Beet daher, und rings um ihn herum regen sich noch viele gleich ihm.
Auch fette Schnecken schleichen sich unter den Blättern hervor, und Maden
und Larven leben und weben vergnügt auf der warmen, dampfenden, schwarzen
Gartenerde. Wir bedauern die armen, armen Gewächse; denn sie müssen
ja die Scharen aller dieser gierigen Fresser ernähren, die ihnen Saft und
Kraft aussaugen und ihre zartesten und edelsten Teile schonungslos zerstören.
Aber weise und wohlthätig erscheint uns wieder und immer wieder
die Natur in ihrem Walten und allen ihren Einrichtungen. Auch gegen
das Überhandnehmen dieser Verderber der Pflanzenwelt hat sie ihre Mittel,
und ihre Sicherheitswächter nahen auch hier bereits. Ein tüchtiger brauner
Grasfrosch, der Herr und Gebieter eines bewachsenen Maulwurfshügels,
hat von seinem hohen Sitze aus schon eine Weile das Treiben da unten
mit angesehen. Jetzt hat er endlich seine Wahl getroffen und den günstigen
Augenblick erspäht; mit einem gewaltigen Satze platscht er mitten unter das
Gewürm, packt den großen Regenwurm und würgt ihn trotz seines Sträubens
hinunter, indem er mit den Vorderfüßen händeartig nachhilft. Während-
dessen ist eine Kröte unter einem Steine hervorgekrochen, hat sich bedächtig
umgeschaut und ergreift nun eben so bedächtig, doch sehr geschickt, eine
Schnecke, einen Wurm oder eine Larve nach der andern und verzehrt sie.
So treiben sie beide es sehr fleißig, ganz still und bedächtig, aber rastlos
und hurtig, und bald finden sich noch viele ihrer Vettern ein, die alle
getreulich bei dem nützlichen Werke helfen, bis der ganze Garten möglichst
gesäubert ist von Wurm und Schnecke, von Made, Raupe und Fliege.
Denn auch einige Laubfrösche sind aus dem nahen Haine hinzugekommen,
und diese klettern auf den Gewächsen umher und haschen im kühnen Sprunge
auch die beflügelten Kerbtiere.
Das Vaterland.
14
210 —
Die Kröten und Frösche sind für die meisten Menschen höchst wider-
liche Geschöpfe. Und wahrlich, das Aussehen der meisten von ihnen ist
auch durchaus nicht lieblich. Deshalb knüpft der Volksglaube auch allerlei
Bedeutungen und Märchen an sie, besonders an die Kröten, und man schlägt sie
meistens tot, wo man sie findet. Dies ist jedoch ein sehr großes Unrecht, das
man gegen den Naturhanshalt begeht; denn wie wir gesehen haben, gehören
Kröten und Frösche zu den sehr nützlichen Tieren, zu unseren besten Freunden.
In einigen Gegenden ist ihr Nutzen auch schon anerkannt, und die
Folge davon ist, daß sie von jedem verständigen Menschen geschont und
unbehelligt gelassen werden. Ja, in Frankreich und England weiß man
ihre Nützlichkeit bereits so zu schätzen, daß mau sie kauft, um sie in Gemüse-
und Blumengärten als Aufseher und Beschützer der Gewächse zu verwenden.
Es wird dort ein sehr lebhafter Handel mit ihnen getrieben, und die Fänger
und Züchter von Fröschen und Kröten erwerben jährlich bedeutende Summen.
Die Entwickelung aller Froschtiere ist eine recht sonderbare. Das
Weibchen legt seine Eier ins Wasser, jedoch nur in süßes. Nach einer
gewissen Zeit, die je nach der Gattung verschieden ist, kriechen die Jungen
aus. Diese nennt man Kaulquappen, und sie haben nicht die entfernteste
Ähnlichkeit mit dem Tiere, das aus ihnen entstehen soll. Ohne Beine, mit
Kiemen hinter dem Kopfe, einem breitgedrückten, säbelartigen Schwänze und
einem Schnäbelchen statt der Schnauze, schwimmen sie, kleinen Fischchen
gleich, im Wasser umher. Dann erscheinen zuerst die Hinterbeine; ihnen
folgen die vorderen Füße; dann bilden sich allmählich die Augen aus; die
Kiemen und der Schwanz fallen ab, und der Schnabel macht einem breiten
Maule Platz. Das Tierchen sucht dann bald das Land auf und lebt hin-
fort, statt wie bisher von weichen Pflanzenstoffen, von allerlei Tieren. Bis
zur völligen Entwickelung braucht ein Frosch vier Jahre, und daher erreicht
er, wie fast sämtliche Amphibien, auch ein sehr hohes Alter. Der aus
der Kaulquappe entstandene Frosch atmet durch Lungen. Den Winter brin-
gen sie alle erstarrt, ohne zu atmen, in Erdlöchern oder im Schlamme zu.
Bekanntlich sind die meisten Glieder der Frosch- und Krötenfamilie
sehr musikalisch. Der schwermütige Gesang der Kreuzkröten oder Unken
hallt aus der Entfernung am schönen Sommerabende sehr lieblich daher,
kann aber in der Nähe durch sein ununterbrochenes Einerlei äußerst lästig
werden. Eben so unermüdlich läßt der grüne Wasserfrosch seine quarrende
Stimme erschallen, während man das Murren des Grasfrosches nur zeit-
weise hört. Die meisten von ihnen, besonders die lauteren, blasen während
des Gesanges an der unteren Seite der Kehle die Haut zu einer großen
Blase auf. In Carolina in der nordamerikanischen Union giebt es gar
einen Frosch, dessen Ton dem fernen Gebrüll eines Ochsen gleicht, und der
daher Ochsenfrosch heißt. Nuß.
141. Eidechse und Blindschleiche.
Die sonnige Seite eines nahen Hügelabhanges beherbergt in heim-
lichen Höhlungen eine zahlreiche Gesellschaft, die flink und munter
211
auf Rauh auszieht. Es sind liebliche, bunte und sehr zierliche
Eidechsen, deren eine wir aufmerksam beobachten wollen. Munteren
Laufes schlängelt sie sich in einer Furche entlang und schlüpft
dann in das dichte Gras des Raines. Hier verhält sie sich erst einen
Augenblick ganz regungslos, um zu lauschen, ob auch nicht vielleicht
irgend welche Gefahr ihr drohe. Dann huscht sie hervor und be-
ginnt nun ihr munteres und nützliches Treiben. Hier dicht am
Rande einer kleinen Pfütze er packt sie flink einen grossen Regen-
wurm, weiss ihn geschickt vollends aus der Erde zu ziehen und
verschlingt ihn. Nicht lange, da erschnappt sie behend eine Fliege,
noch eine, eine Mücke, einen Käfer, Erdfloh, und so fährt sie fort,
immer flink, gewandt und unermüdlich, bis ganze Scharen von diesen
kleinen Pflanzenverderbern in ihren Rachen hinabgeschwunden sind.
Dann huscht sie eilig zurück ins schützende Obdach, um ein wenig
zu ruhen, — und nicht lange, so ist sie wieder da und fährt rüstig
fo-it in der Vertilgung schädlicher Tierarten.
Wie man sie daher überall in Feld und Wald möglichst zu
schlitzen und zu hegen suchen sollte, so dürfte es auch dringend
anzuraten sein, in jedem Garten einen passenden, trockenen, sonnigen
und grasbewachsenen Rain mit ihnen zu bevölkern.
Im Frühlinge trifft man immer die Pärchen dicht bei einander,
im lustigen Spiel. Die Weibchen legen unter Spreu und Moos oder
auch in Ameisenhaufen, lockere Erde u. s. w. fünf bis acht fast
kugelrunde, etwa haselnufsgrofse und ganz weifse Eier, welche eine
weiche, aber sehr zähe Haut und kein Eiweifs, sondern nur Dotter
haben. Aus denselben schlüpfen im August oder September die aller-
liebsten Jungen, welche das Handwerk ihrer Eltern gar nicht erst
zu erlernen brauchen, sondern sofort ganz ebenso beiveglich und flink,
ganz ebenso geschickt im Klettern, Insektenfangen u. s. w. sind wie
die Alten. Wenn man zufällig gefundene Eidechseneier zur Ent-
wickelung gelangen lassen will, so darf man sie keineswegs lange an
der Luft liegen lassen, wo sie eintrocknen und zusammenschrumpfen,
sondern man muss sie wieder in lose und ein wenig feuchte Erde thun,
wo dann bei massiger Wärme die Jungen auskriechen. Sie sind in
einem Glaskasten oder dergleichen leicht zu erziehen und zu erhalten.
14*
212
In der Gefangenschaft sind die Eidechsen sehr liebenswürdig„
Man füttert sie mit Fliegen, Käferchen, überhaupt mit allerlei
Kerbtieren und Würmern, welche man ihnen jedoch sämtlich noch
lebendig geben muss. Sie werden dann bald so zahm und zutrau-
lich , dass sie sofort herbeischlüpfen, sobald man den Käfig berührt,
und bei guter Wartung kann man sie wohl Jahre hindurch erhalten.
Im Freien sind sie meistens sehr vorsichtig und scheu und
huschen beim Nahen des Menschen sogleich schleunigst davon in
ein sicheres Versteck. Geängstigt und in die Enge getrieben, lassen
sie ein heiseres Zischen hören, und, gegriffen und in die Hand
genommen, versuchen sie auch wohl zu beifsen, vermögen dies aber
mit ihren winzigen und kleinen Zähnen nicht.
Ebenfalls zu den Eidechsen gehört die Blindschleiche, die
aber meist noch zu den Schlangen gezählt wird. Eine Schlange
ist sie nun aber entschieden nicht. Ihr ganzer Körperbau, die gar
nicht dehnbaren, fest zusammenhängenden Kinnbacken lehren sie
uns ganz entschieden als Eidechse kennen, und sie unterscheidet
sich von diesen ihren Schwestern durch nichts als die fehlenden Füsse.
Wenn nun aber schon alle unsere einheimischen Schlangen, bis auf
die alleinige Kreuzotter, durchaus giftlos urtd unschädlich sind, wie
sollte da diese Eidechse Schlangengift besitzen?
Die Blindschleiche ist in der That das unschuldigste und harm-
loseste, ja zugleich eins der allernützlichsten unserer freilebenden
Tiere. Sie vermag nimmermehr irgend welchen Schaden zu stiften, —
selbst hart angegriffen, kann sie mit ihren feinen Zähnchen uns kaum
die Haut ritzen, dagegen ernährt sie sich aber besonders von nackten
Landschnecken und allerlei schädlichem Geivürm, und da sie eine
Länge von wohl 45 cm erreicht, so vertilgt sie davon natürlich
bedeutende Mengen. Statt sie daher auf das emsigste zu verfolgenT
sie zu martern und zu töten, wo sie sich blicken lässt, sollte der
Landmann sie in Garten, Feld und Wiese als einen will-
kommenen Gast betrachten, sie schützen und hegen.
Man nennt die Blindschleiche auch Hasehvurm oder Bruch-
schlange. Den Namen Blindschleiche hat ihr der Volksmund
ihrer sehr kleinen Augen und ihrer schleichenden Fcnibeivegung
wegen gegeben, den letzteren aber einer Eigenschaft wegen, die sie
mit allen Eidechsen gemeinsam hat. Ihnen allen bricht nämlich bei
jeder rauhen Berührung gar leicht der Schwanz ab und der Blind-
schleiche sogar so leicht, dass man selten ein älteres Exemplar mit
noch unbeschädigter Schwanzspitze findet. Der Schwanz ivächst ihnen
aber in einiger Zeit ivieder nach oder rundet sich doch wenigstens
ah. Die Blindschleiche kommt in fast ganz Europa vor und ist
bei uns in Deidschland dank ihrer starken Vermehrung, trotz der
vielfachen Verfolgungen, fast überall häufig zu finden. Sie legt ganz
in der Weise der anderen Eidechsen acht bis sechzehn Eier, aus
denen die Jungen meistens bald hervorschlüpfen. In der Gefangen-
213
schaft halt sie sich ebenfalls sehr gut und kann, ohne zu sterben,
bis sechs Monate lang fasten. Alle Eidechsen verkriechen sich zur
Winterruhe in die Erde, wo sie erstarren und dann, von den ersten
Sonnenstrahlen im März erweckt, wieder hervorkommen. Ohne
schützende Decke können sie den Frost nicht überdauern. Die Blind-
schleichen bereiten sich ganz eigentümliche Winter Zufluchtsstätten.
Sie graben bis einen Meter lange Höhlungen in die Erde, in denen
sie gesellig den Winterschlaf beginnen. Dort liegen sie, teils in
einander verschlungen, teils einzeln zusammengerollt, ganz hinten
die grössten und ältesten, dann kleinere und vorn nach dem Aus-
gange zu, ivelcher letztere mit Gras, Laub und Erde sorgsam ver-
wahrt ist, die jüngsten und kleinsten. In dieser Weise halten sie *
aber nicht bloss den Winterschlaf, sondern leben sie überhaupt
gesellig bei einander.
Auch ausser den unverständigen Menschen haben alle Eidechsen
und vornehmlich die Blindschleichen leider viele Feinde. Die wirk-
lichen Schlangen, Nattern und Ottern, dann viele Vögel, Bussard,
Storch, Krähe, selbst Hühner und Enten, ferner Säugetiere, Igel,
Spitzmaus, Wiesel, Iltis, Katzen und dergleichen fressen sie und,
ihre Jungen oder verfolgen und töten sie wenigstens. Rufs.
142. Der Hering.
Der Hering bewohnt den ganzen nördlichen Ocean, insbesondere
jedoch das deutsche Nordmeer; denn die Zahl derer, die sich an die Küsten
von Amerika und die asiatischen bis Japan hin verlieren, ist nicht so
gross. Sein eigentlicher Aufenthaltsort ist übrigens noch immer nicht in
Erfahrung gebracht, da sich die Behauptung, dass er im Polarkreise lebe
und auswandere, nicht bestätigt hat. Vielmehr ist am wahrscheinlichsten,
dass er auf dem Boden der See zubringt, sich aus dem an den Küsten
abgesetzten Bogen entwickelt, und dass nur die vollwüchsigen in unsäg-
lichen Mengen südlich ziehen, denn Heringslaich wird durch Stürme oft
an die englischen Küsten geworfen. Um Island und Spitzbergen und
Grönland, überhaupt jenseit des 67. Grades, sieht man ihn nicht. Erst
von den Schetlandsinseln an wird man seine Züge recht gewahr. Allein
auch an den Küsten von Norwegen, England und der Ostsee ist der
Hering zu Hause. Doch wechselt er zu Zeiten seinen Wohnort, so dass
gar manchmal grosse Fischereigebäude auf den englischen und schottischen
Inseln und Küsten wieder verfallen sind und die Unternehmer ihre Kapitale
dabei verloren haben.
Mit dem April schon zeigen sich die ersten Heringe, reichlicher aber
erst im Mai und Juni, und bilden da Bänke oder Heere von 5 bis 6 Meilen
Länge, 2 bis 3 Meilen Breite und einer ansehnlichen Tiefe. Ihre Menge
füllt oft dermassen den Ocean, dass eingeworfene Lanzen zwischen ihnen
stehen bleiben. So wie sie sich an die Oberfläche erheben, gewährt ihre
Menge einen prächtigen Anblick; ihre Bewegungen verursachen ein Ge-
214
rausch wie das Plätschern des Regens. Bisweilen sinken sie auf zehn
bis fünfzehn Minuten und heben sich dann wieder. In der Nacht scheiucn
sie zu leuchten.
Die Alten kannten den echten Hering nicht, da er sich nicht im
Mittelmeere findet; auch weiss man nicht, wann sein Fang im grossen
zuerst versucht worden ist. Doch fand er schon im Mittelalter statt, denn
Papst Alexander III. erlaubte um das Jahr 1160 den Norddeutschen,
diese Beschäftigung auch an Sonn- und Festtagen zu treiben. — Im Jahre
1164 war der Heringsfang bereits bei den Holländern im Gange; iw
siebenzehnten Jahrhunderte erreichte er jedoch bei ihnen seine grösste
Höhe und wurde der rechte Arm der Stärke ihres Landes genannt. In
* der That erregt es Bewunderung, zu sehen, wie ein kleines Sumpfland
es dahin brachte, mit den grössten europäischen Reichen Krieg anzufangen,
das Schicksal ganzer Völker in der Wagschale zu halten und grössere
Reichtümer als seine Nachbarn zusammenzuhäufen, und dies alles durch
den Fang eines kleinen Fisches. Aber dieser Fang beschäftigte 450 000
Menschen und brachte schon damals jährlich hundert Millionen ein. Durch
ihn wurden die kleinsten Knaben mit der See vertraut und bildeten sich
zu unerschrockenen, den Tod verachtenden Matrosen. Darum sagte man
im Scherz, Amsterdam sei auf Heringe gebaut. — Schon um dieselbe Zeit
brachte diese Fischerei auch den Deutschen jährlich 30 Millionen Mark
ein, und alle nordischen Länder, ja selbst Spanien und Frankreich, nahmen
ihren Anteil. Jetzt hat England viel von diesem, die Goldminen von
Peru an Wert übertreffenden Erwerbszweige an sich gerissen, und mit
zwölfhundert Fahrzeugen hat man dort binnen zwei Jahren jedesmal
fünfzig bis achtzig Millionen Stück gefangen. Oft kommen so grosse
Mengen an, dass sie nicht alle genossen werden können und zu Dünger
verbraucht werden müssen. Man schätzt gegenwärtig die Menge aller
Heringe, welche jährlich gefangen werden, auf tausend Millionen.
Die Fahrzeuge, welche die Holländer Buysen nennen und deren
sich auch die anderen Völker bedienen, sind sehr lang. Sie werden von
zwei Kriegsschiffen begleitet zum Schutze und zur Aufnahme der Kranken.
Sobald die Heringe angekommen, werden grosse Netze ausgespannt, welche
oben durch leere Tonnen gehalten, unten mit Steinen beschwert sind, so
dass sie durch das eingesogene Wasser steif wie eine Wand stehen. Die
von Hanf gefertigten halten nur ein Jahr, man macht sie daher jetzt
von gelber persischer Seide, wo sie doch wenigstens drei Jahre halten.
Sie werden zuvor geräuchert, damit ihre helle Farbe die Heringe nicht
scheu mache. Die Weite der Maschen ist gesetzlich vorgeschrieben und
darf nicht enger als einen Zoll sein, damit man nicht zu viel junge
Brut fange. Die anströmenden Heringe gehen oft augenblicklich in die
Netze hinein, in denen sie mit den breiten Kiemendeckeln hängen bleiben,
und wenn das Glück gut ist, kann man schon nach zwei Stunden das
Netz aufwinden. Man thut es gern des Nachts. Jetzt werden die schnell
sterbenden Fische herausgenommen, ihnen die Kehle aufgeschnitten und
sie von den Kiemen und Därmen entleert und dann vorläufig in Fässer
215
mit Seewasser geworfen. Darauf werden sie ausgewaschen, in Salzlake
geworfen und endlich bei ihrer Ankunft ordentlich in Tonnen, mit
Schichten Seesalz dazwischen, verpackt, welches Verfahren im vierzehnten
Jahrhundert der berühmte Wilhelm Henkels (f 1397) erfand, weshalb
auch Kaiser Karl V. sein Grabmal besuchte. Die Holländer, welche sich
auch noch gegenwärtig an das von ihm vorgeschriebene Verfahren halten,
liefern auch jetzt noch die besten Heringe; wenigstens sind ihnen die
Engländer darin noch nicht gleich gekommen. Die Erfindung des Räucherns
jedoch, wodurch die Bücklinge entstehen, indem man die Heringe, nachdem
sie vierundzwanzig Stunden im Salz gelegen, in eine hölzerne Gabel schiebt
und dann im Rauche aufhängt, gebührt den Franzosen. — Bekannt ist
der besondere Wert, welchen man auf die ersten angekommenen Heringe
legt, und welche die vornehmsten Personen, denen sie überreicht werden,
mit einem teuren Geschenk bezahlen. Wenn früh bei der Ankunft die
Tonne in Amsterdam noch 560 Gulden kostet, so ist sie nachmittags kaum
sechzig wert. Auch wählt man allerdings die besten zuerst aus. — Der
Hering ist eine sehr gesunde Speise; ja man schätzt ihn häufig als ein das
Wohlbefinden herstellendes, überhaupt wohlthätiges Nahrungsmittel und
hat ihn wegen des Reizes, den er gewährt, selbst als eine Art Heilmittel
benutzt, namentlich die Heringsmilch gegen Halsschwindsucht. Voigt.
143. Ein Nestbauer unter den Fischen.
Unter allen den für die übrigen Fische schädlichen Räubern ist
sonderbarerweise gerade der winzige Stichling einer der allerver-
derblichsten. Während nämlich die anderen doch nur immer je einen
oder höchstens einige Fische verschlingen können, vertilgen die Stichlinge
als Laich und Brut ihre Hunderte und Tausende. Dazu kommt noch,
dass die Stichlinge sich leicht ins Ungeheuerliche vermehren. Wenn sie
auch keineswegs zu den Fischen gehören, welche sehr grosse Eiermengen
absetzen (sie haben deren meistens nur zwischen ein- und zweihundert),
so haben sie doch dafür gar keine wirksamen Bekämpfen, und, indem sie
alle andere Fischbrut verzehren, kommt es wohl gar dahin, dass sie in
einem Gewässer zuletzt ganz allein hausen. Jeder alte, erfahrene Hecht,
Barsch und dergleichen hütet sich, einen Stichling zu verschlingen. Und
wenn ein junger, noch unerfahrener Raubfisch dies versucht, so muss er
es jedesmal mit dem Leben bezahlen. Der Stichling bleibt ihm mit aus-
gebreiteten Stacheln im Rachen stecken und spielst diese so fest ein, dass
er ihn weder hinabschlingen, noch wieder von sich geben kann, sondern
elendiglich verhungern muss, mit der Beute im Maule. Nur der Lachs
vermag die Stichlinge ohne Gefahr massenweise zu verzehren. Auch in
deutschen Gewässern kommen die Stichlinge in zahlloser Menge vor, und
darum finden wir leicht Gelegenheit, dies Fischchen von einer wahrhaft
überraschenden Seite kennen zu lernen.
An einer flachen, sandigen, hier und da mit Grasbüscheln und mit
versunkenem Gesträuch übersäeten Stelle finden wir nach einigem Suchen
216
eines der grössten Wunderwerke unserer einheimischen Natur: ein Fisch-
nest. Still und träumerisch blickt der Wasserspiegel, nur dann und wann
murmeln leise die Wellen, gleich als wollten sie flüsternd uns Kunde
geben von dem sonderbaren Geheimnis, das hier der Schoss der dunklen
Flut birgt. Wir verhalten uns lautlos und sehen dem Thun und Treiben
der merkwürdigen Fische zu. Ein Stichlings-Männchen, welches sich durch
die lebhaft rötliche Kehle kennzeichnet, trägt Grasfäserchen, Holzstücke,
Wurzeln u. s. w. emsig im Maule zusammen, formt dies alles in leidlich
geschickter Weise zu einem Neste zusammen und klebt und befestigt es
dann mit dem Schleime seines Körpers. Um die Baustoffe gegen das Fort-
reissen durch das unruhige Wasser zu bewahren, werden sie, dem Bau
der Vogelnester ähnlich, zwischen die Reiser des Gesträuchs geflochten.
Eine Art der Stichlinge überhäuft die Wände des Nestes, um sie recht
haltbar zu machen, mit feinem Sande, was andere unterlassen. Im wesent-
lichen stimmen sie aber überein. Nachdem ein solches Nest vollendet,
mit regelrechten Öffnungen versehen und sicher zusammengeleimt ist, legen
mehrere Weibchen gemeinschaftlich ihren Laich hinein. Wie das Männ-
chen aber der alleinige Erbauer des Nestes ist, so beschützt und bewacht
er jetzt auch die Eier. Die anderen Stichlinge, welche sich den Laich
aller übrigen Fische woldschmecken lassen, sind auch lüstern nach dem
ihrer eigenen Verwandten. Unser kleiner Hausherr steht aber unermüdlich
auf der Lauer und weiss sein Familienheiligtum gar tapfer zu verteidigen;
mit gespreizten Stacheln schiefst er wütend hervor, und die Liebe giebt
ihm — wie ja fast aller Tierwelt — Heldenkräfte. Und naht ihm dann
ein Übermächtiger, ein grösserer Raubfisch, so weiss er trefflich zur List
seine Zufluchtzu nehmen: er schiefst hastig an jenem vorüber, weit dahin
und thut, als ob er eine Beute verfolge, wodurch die Aufmerksamkeit
des Feindes meistens von seinem Neste ab- und auf jene eingebildete
Beute gelenkt wird. So steht er da als ein tapferer Kämpe für seinen
häuslichen Herd. Rufs.
144, Ter Hirschkäfer.
Unter allen Käfern des Vaterlandes ist der Hirschkäfer der größeste.
Das Männchen ist ein schönes Tier von 5—9 cm Länge und schwarz-
brauner Farbe. Von dem Weibchen unterscheidet es sich auf den ersten
Anblick durch seine über 3 cm langen, nach innen gebogenen Oberkiefer; sie
gleichen kleinen Hirschgeweihen. Mit denselben vermag er nicht nur tüchtig
zu kneipen, sondern auch ziemlich schwere Körper zu fassen und von der
Stelle zu wälzen. Auch bedient er sich derselben zur Herbeischaffung seiner
Nahrung; er zerreißt nämlich mit ihnen die jnngen Zweige der Eichen; den
Saft, welcher aus den verwundeten Stellen ausströmt, leckt er mit seinen
pinselartigen Unteitiefern aus.
Das Weibchen legt die fünfzehn bis zwanzig gelblichen, länglichrunden
Eier in den Moder faulender Eichen. Die aus ihnen ausgekrochenen Lar-
ven sehen fast aus wie die Engerlinge der Maikäfer. Fünf Jahre haben
217
sie ihren Aufenthalt in der Baumerde oder im modernden Holze und
werden zuletzt so lang und so dick wie ein recht großer Finger. Im
sechsten Jahre verfertigen sie
sich mit Hilfe ihrer Gebiß-
zangen und der Füße eine hohle,
eigroße Kugel. In derselben
verpuppen sie sich. Drei Mo-
nate nach der Verpuppung kriecht
der vollkommene Käfer aus.
Weil aber sein Körper ganz
weich ist, bleibt er noch einige
Monate in seiner Höhle. Im
Mai oder Juni bricht er aus
ihr hervor und wählt nun als
Wohnort einen Eichenwald, in
welchem er den Tag über in
Baumhöhlen sitzt, des Abends
aber zwischen den Zweigen fröh-
lich umherschwärmt.
Poppig.
145. Der Borkenkäfer.
Zwei kleine Raser kamen
an einem kalten Herbstabend
zu der großen Fichte und
sprachen: „wir sind unschul-
dig vertriebene ^eute. -Lr-
barme dich unser und laß uns
den Winter über wohnen
unter deiner Rinde, wir wol-
len dir Kopfgeld entrichten."
Die Fichte aber blendete das
Kopfgeld, und sie antwortete
und sprach: „Kommt und
wohnet unter meiner Borke,
so lange ihr Schoß und Zoll
gebt." Und die zwei Käser
richteten sich unter der Rinde
des Baumes ein und zeugten 20 Kinder und starben. Die 20 zeugten
200 und starben, die 200 zeugten 2000 und starben, die 2000 zeugten
zehnmal so viel und starben auch. Da gebrach es nach und nach
der Krone des Baumes an Saft, und als sie diesen Rlangel den
untersten Wedeln klagte und sprach: „warum gebricht es mir an
Saft?" antworteten diese: „Die Käfer, die in der Borke deines
Der Hirschkäfer. (Ein wenig vergrößert.)
218
Stammes Hausen, benehmen dir und uns die Nahrung." Da ward
es dem Baume sehr bange um sein Leben. Er ließ sich von dem
Sturme schütteln, daß ein Teil seiner Wurzeln
riß, aber die Raser spotteten seiner in ihren Win-
keln und Löchern. Er hüllte sich in eine schnei-
dende Rälte, daß ein Teil seiner Rinde borst und
entzwei riß, aber die Raser und ihre Rladen lachten
seiner und gruben und wühlten sich nur tiefer in den
Baum und seine Borke. Darauf verklagte der ge-
ängstete Baum seine Blutsauger bei Fimmel und
Erde; aber ehe der Prozeß aus ward, starb er, und
die Raser mästeten sich an seinen! Rlarke, bis sie ihn
verließen und einen andern Baum ergriffen. Wer
bOfach vergrößert. Ghren hat zu hören, der höre! A. Stöber.
Wimm
146. Der Seidenspinner.
An den Zweig des Maulbeerbauines legt der Seidenschmetterling seine
Eier. Diese sind noch nicht so groß als der Kopf einer Stecknadel. Die
Sonne brütet sie aus. Wenige Tage genügen, um in dem erwärmten Ei
ein kleines Räupchen zu entwickeln. Es ist so klein, daß es im winzigen
Ei hinlänglich Platz hat. Jetzt aber wird ihm die Zeit zu lang, der Hun-
ger plagt es, der Aufenthalt im engen Raume gefällt ihm nicht mehr, es
sehnt sich hinaus!
Zwei tüchtige Freßzangen sind ihm verliehen, mit ihnen zernagt es die
Schale. Zum ersten Male erblickt es das Licht der Welt, emsig beißt es
weiter, bis das Loch so groß ist, daß das kleine schwarze Räupchen heraus-
schlüpfen kann. Nun streckt es sich und freut sich über den warmen Sonnen-
schein, die angenehme Lust und hauptsächlich übers grüne Maulbeerblatt.
Es fühlt großen Hunger, und da es zwei Äuglein am Kopfe hat und sech-
zehn Füße besitzt, so kriecht es auf das junge Blatt und hält sein erstes
Frühstück. Nun macht es Tag und Nacht nichts anderes, als daß es frißt.
Doch so fleißig es auch Blatt für Blatt vertilgt, der Maulbeerbaum ist doch
noch fleißiger und treibt immer neue Blätter, so daß es unserm Räupchen
nicht an Futter mangelt. Endlich, nachdem es 6 bis 7 Tage gefressen, sitzt
es still, wird blaß und scheint sterben zu wollen. Sonderbar bewegt es
den Kopf nach allen Seiten. Nach 1 bis 2 Tagen springt ihm seine Haut
auf, und heraus windet sich das Räupchen und streift sein altes Kleid ab,
welches ihm zu enge geworden. Ist es nun nackt? Bewahre! Unter der
alten Haut ist bereits eine neue gewachsen. Das neue Kleid ist frischer und
munterer gefärbt, es ist auch weiter als das abgeworfene.
Nun geht das Speisen von neuem los, bis nach 7 Tagen die Haut
abermal zu eng ist und abgestreift wird. So macht es die Raupe zum
dritten und vierten Male. Jedesmal ist das neue Kleid heller gefärbt und
geräumiger als das vorige. Aus dem kleinen Räupchen, das dem Ei ent-
floh, wird nach 5 bis 6 Wochen eine Raupe, so lang wie ein kleiner Finger.
219
Aus dem Safte des Maulbeerblattes hat nun die weißgraue Raupe eure
Menge klaren Saft in ihrem Innern angesammelt. Sie hört nun auf
zu fressen und sucht ?
ängstlich mit dem ^
Kopfe eine Ecke oder
einen Winkel zu er-
reichen, wo sie den
Hellen, feinen Faden, welcher ihrem Munde entquillt, ankleben kann. Run
dreht sie sich im Kreise herum urrd zieht den Faden, ähnlich einem Knäuel-
den ein Kind aus Garn oder
Zwirn sich wickelt, nur mit dem
Unterschiede, daß das Kind bei
seinem Knäuel von innen anfängt
und nach außen wickelt, die Raupe
aber die äußeren Fäden zuerst
spinnt und dann erst die inneren.
Sie spinnt so 3 bis 4 Tage
und bereitet, ohne den Faden
einmal abzureißen, einen läng-
lich runden Ball. Dieser Ball
führt den Namen Cocon und
ist von weißer oder gelber Farbe.
Der Faden, aus dem der
Cocon gewoben wird, zählt
300 m Länge. Ganz im Innern
läßt die Raupe einen leeren
Raum, ein Kämmerchen. Hier
liegt sie nach vollbrachtem Werke
müde und matt. Sechs Wochen
hat sie gefressen, viermal das
Kleid gewechselt und nun 3 Tage
im Tanze sich gedreht, um den
prächtigen Seidenfaden zu spinnen.
Nun ist sie schläfrig. Zum letzten
Male streift sie den Arbeitsrock
ab, aber mit ihm auch die sech-
zehn Beine, die beiden Augen
und die beiden Zähne; denn die
Raupe hat nichts mehr zu lausen,
nichts mehr zu sehen im finsteren
Kämmerlein und nichts mehr zu
beißen. So legte sie Haut und
Haare, Augen, Füße und Zähne auf ein Häufchen, wie der Arbeiter am Feier-
abend das Handwerkszeug und seine schmutzigen Kleider ablegt. Die Raupe,
welche sich nun in eine Puppe verwandelt hat, scheint gestorben. Finster
ist es um sie her, kein Lüftchen dringt zu ihr, sie liegt im Sarge und regt
220
sich nicht. Und doch ist sie gerade jetzt besonders fleißig und bringt das
Schönste hervor, was sie hervorzubringen vermag. Unter der harten Schale
der Puppe ordnen sich in der Zeit von 14 Tagen die Teile der Puppe in
angenehmster Weise. Die Hülle springt, und ein Schmetterling schlüpft ans.
Zwei helle Augen stehen ihm am Kopfe, ein WeißesPelzwams umhüllt seinen
Leib, und vier Flügel machen es ihm möglich, durch die Luft zu flattern,
außerdem besitzt er sechs Beine, die ihm zum Laufen und Sitzen dienen.
Wie kommt er aber aus seinem Kerker heraus? Er müßte rettungs-
los darin umkommen, wenn ihm nicht der weise Schöpfer am Munde ein
Bläschen mit einer scharfen Säure geschaffen hätte, durch die er den Seiden-
cocon erweicht, ein Loch gewinnt und durch dasselbe sich hindurchzwängt.
Durch dies Loch wird aber der Seidenfaden zerrissen und unbrauchbar.
Man gestattet daher nur den Schmetterlingen das Ausschlüpfen, welche
zum Eierlegen bestimmt sind. Ein Schmetterlingsweibchen legt 400 bis
500 Eier. In heißen Gegenden, wo die Seidenraupe zu Hause ist und im
Freien lebt, heftet der Schmetterling die Eier an die Zweige der Maulbeer-
bäume, gerade wie unsere einheimischen Schmetterlinge es thun; bei uns in
den Seidenbau-Anstalten (Stuben, in denen die Raupen gefüttert werden)
läßt man den Schmetterling die Eier auf ein Stück weicher Leinwand legen
und bewahrt sie an einem kühlen und trockenen Orte bis zum nächsten
Frühlinge ans, um dann wieder kleine Räupchen ausschlüpfen zu lassem
Die meisten Cocons aber, welche man der Seide wegen benutzt, werden
durch heiße Wasserdämpfe oder durch Ofenhitze zehn Minuten lang erhitzt,
um die innewohnende Puppe zu töten.
Man wickelt nun mittelst eines Haspels die in warmem Wasser er-
weichten Cocons ab, doppelt die Fäden nach Belieben, färbt die Seide mit
allerlei Farben und webt dann aus derselben schöne seidene Kleiderstoffe,
Tücher und Bänder. H. Wagner.
S47. Die Ameisen.
Die Ameisen zerfallen wie die Bienen in drei Stände, oder vielmehr
in drei durch die Natur selbst errichtete Kasten: in Männchen, Weib-
chen und Arbeiter. Alle haben sechs Füsse, einen dreiteiligen Leib,
drei Brustringel und einen durch einen Bauchstiel davon geschiedenen
Hinterleib. Am Kopfe sitzen zwei hornige, säbelartig gekrümmte Ober-
kiefer, deren scharfe Schneiden wagerecht gegen einander wirken und
eine bedeutende Kraft entwickeln. Sie sind Waisen und Werkzeuge zu-
gleich, die beim Bauen der Wohnungen, beim Einsangen der Tiere, bei
Raufereien und Zänkereien mit den Feinden treffliche Dienste leisten.
Die Waffen der Männchen und Weibchen sind zarter gebaut als die der
Arbeiter; die Augen dagegen treten bei jenen weiter hervor als bei diesen,
obschon sie nie nach Arbeit umschauen. Auch überragen sie die
Arbeiter an Körperlänge und haben ausserdem zum Unterschiede von
diesen Flügel, welche sie jedoch nur schwingen, wenn sie sich zu ihrem
Vergnügen in die Luft erheben wollen, denn das Arbeiten ist ihre Sache
221
eben nicht. In grossen Schwärmen erheben sie sich, wie die Mücken,
und halten hoch über der Erde gesellige Tänze. Bald darauf sterben die
Männchen, die Weibchen aber kommen nach solchen Tänzen gewöhnlich
mit zerbrochenen oder ausgerissenen Flügeln zurück, denn diese sind bei
keinem Insekt so verletzlich als bei den Ameisen. Der zahlreichste Stand
ist der der Arbeiter. Sie bilden die Hauptmasse der Bevölkerung, und
wenn sie auch nicht zur Vermehrung derselben beitragen, so hängt doch
von ihrer Einsicht und Thätigkeit die Erhaltung des Staates ab. Rüstig
und unermüdlich baut der kleine Körper mit den starken Oberkiefern den
ganzen Sommer hindurch an der Wohnung; aber so viel Fleiss und Aus-
dauer sie auch im Bauen entwickeln — die Sorgfalt, mit welcher sie auf
die Jugend achten, überbietet doch alles und ist wahrhaft rührend. Hier
ist kein Opfer zu gross, es wird gebracht, kein Unternehmen zu gefähr-
lich, es wird gewagt, als ob sie wüssten, dass auf eine sorgfältige Pflege
und Erziehung der Jugend alles ankäme und ihr Staat zugrunde ginge,
wenn sie sich hierin eine Vernachlässigung zu schulden kommen liessen.
Die Kinder werden nämlich nicht in der Familie bei den Eltern, sondern
gemeinschaftlich in den Sälen und Gewölben ernährt und erzogen. Das
Weibchen und Männchen kümmern sich nicht um sie, desto mehr der schon
mit täglicher Arbeit hart belastete dritte Stand. Vom Frühjahre bis zum
August hinein legen nämlich die Weibchen Eier, die so winzig klein sind,
dass man sie kaum sehen kann. Sie liegen in den verschiedenen Kammern
des Gebäudes. Was man im gewöhnlichen Leben für Ameiseneier aus-
giebt, sind die aus den Eiern gewordenen Puppen. Ehe jedoch die Puppe
entsteht, ist aus dem Ei erst eine weisse Made geworden. Dieser arme
Wurm ohne Füsse würde elendiglich umkommen, wenn sich seiner nicht die
Arbeiter als zärtliche Wärterinnen mütterlich annähmen. In geschäftiger
Eile kommen sie herbei, um den hungrigen Kleinen Nahrung zu reichen,
und leiden lieber selbst Mangel, wenn nur ihre Pfleglinge keine Not leiden.
Nach 10—14 Tagen spinnt sich das Würmlein ein weisses Sterbe-
hemdehen, um sein bisheriges Wesen mit einem besseren zu vertauschen.
Aus der Made wird in der weissen Hülle eine Puppe. Aufmerksamer
können die Kindermägde nicht sein, als es die Arbeiter gegen die Puppen
sind, deren Wartung ihnen gleichfalls obliegt. Ist schöner Sonnenschein,
so tragen sie dieselben mit ihren nur an schwere Arbeit gewöhnten Kiefern
so behutsam vor die Thore der Stadt, als ruheten die verwaisten Püppchen
in den zartesten Armen. Regnet es, so kommt alles in Thätigkeit; jeder
rennt mit einer Puppe in den Armen, die er ins Trockene der Wohnung
flüchtet. Auch hier begeben sie sich mit ihnen, je nach der Witterung,
bald nach oben, bald nach unten. Bei solcher Pflege entwickelt sich die
Puppe, die weder Speise noch Trank zu sich nimmt, im Sonnenscheine
allmählich zur Ameise. Ist die Zeit gekommen, dass das Gespinst zer-
rissen werden muss, so sind auch die immer geschäftigen Arbeiter gleich
mit ihrer Hilfe da. Unerklärlich bleibt’s, wie sie den geeigneten Zeitpunkt
wissen können. Drei bis vier Arbeiter setzen sich zur rechten Zeit auf
das seidene Gewebe der Puppe, zerbeissen an der Stelle, wo der Kopf
222
liegt, mit der scharfen Schneide ihrer Kiefer die Fäden, einen nach dem
andern, enthüllen den Kopf des Gefangenen, und will es so noch nicht
gehen, so schneiden sie mit grosser Geduld noch einen Schlitz in die Hülle.
Haben sie den Ankömmling endlich von der äussersten Hülle befreit, so
ist ihm noch ein zweites, taffetartiges Häutchen abzunehmen. Mit der
grössten Sorgfalt befreien sie ihn auch von dieser Fessel. Fühlhörner,
Kopf, Füsse werden behutsam einzeln entbleist, dann werden die Über-
bleibsel der Hüllen gesammelt und in die fernsten Räume der Wohnung
auf die Seite geschafft. Da gewöhnlich eine Menge junger Ameisen zu
gleicher Zeit ausschlüpft, so entsteht dann eine grosse Thätigkeit im
Haufen. Es fehlt auch nicht an Beispielen, dass die Arbeiter den Jungen
in den ersten Tagen, wo sie das elterliche Haus verlassen, auf Sträu ehern
und Kräutern liebend nachklettern, um ihnen, wenn es not thut, zur Hilfe
nahe zu sein. Die Wohlfahrt und die Erhaltung des jungen Geschlechts
ist das Band und das Gesetz, welches alle Tierstaaten zusammenhält.
Unbewusst baut und arbeitet die Ameise an der Wohnung, hegt und pflegt
sie die Jungen, und schon längst würde dieses Geschlecht aus dem Reiche
der Tiere verschwunden sein, wenn sie unbekümmert für die Nachkommen
leben wollten. Um die Gattung zu erhalten, stattete die Natur sie mit
den herrlichsten Gaben aus, mit Lust zur Arbeit und mit zartem Gefühl
für die Jungen. Wehe aber auch dem Feinde, der sie in ihrem Thun und
Treiben stört! Kühn treten sie ihm entgegen, trotzig sperren sie die
Mäuler auf und setzen sich mit ihren Kiefern zur Wehr. Sie sind bereit,
Gut und Blut einzusetzen und sich bis auf den letzten Mann zu verteidigen.
Rührend ist es, zu sehen, wie sie bei einer herannahenden Gefahr sich
ganz vergessen und nur an die Jungen denken. Diese werden zuerst in
Sicherheit gebracht. Hunderte eilen sogleich herbei, um sie über Berg
und Thal zu sclüeppen. Nicht selten geschieht es, dass eine Ameise, die
durch den Feind in zwei Teile zerstückelt wurde, mit der Puppe zwischen
den Kiefern noch weiter rennt, während ihr der Hinterleib fehlt.
Karl Gude.
4. Hierfaöefn.
148. Der Wolf auf dem Totenbette.
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden
Blick auf sein vergangenes Leben zurück. „Ich bin freilich ein Sünder",
sagte er, „aber doch, hoffe ich, keiner von den größten. Ich habe
Böses gethan, aber auch viel Gutes. Einstmals, erinnere ich mich,
kam mir ein blökendes Lamm, welches sich von der Herde verirrt hatte,
so nahe, daß ich es gar leicht hätte würgen können, und ich that
ihm nichts.
Zu eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen
eines Schafes mit der bewunderungswürdigsten Gleichgiltigkeit an, ob
ich schon keine schützenden Hunde zu fürchten hatte."
223
„Und das alles kann ich dir bezeugen", fiel ihm Freund Fuchs,
der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort; „denn ich erinnere mich
noch gar wohl aller Umstände dabei. Es war zu eben der Zeit, als
du an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich
hernach aus dem Schlunde zog." Lessing.
149. Der Rabe und der Fuchs.
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte
Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen
Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich
ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: „Sei mir gesegnet, Vogel des
Jupiter!" — „Für wen siehst du mich denn an?" fragte der Rabe. —
„Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. „Bist du nicht der
rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche
herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe
ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein
Gott durch dich zu schicken noch fortführt?"
Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler ge-
halten zu werden. „Ich muß", dachte er, „den Fuchs aus diesem
Irrtume nicht bringen." — Großmütig dumm ließ er ihm also seinen
Raub herabfallen und flog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit bos-
hafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes
Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte
Schmeichler! Lessing.
159. Die Gans.
Die Federn einer Gans waren so weiß wie Schnee. Stolz auf
dieses blendende Geschenk der Natur, glaubte sie eher zu einem Schwane,
als zu dem, was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich von
Ihresgleichen ab und schwamm einsam und majestätisch auf dem Teiche
herum. Bald dehnte sie ihren Hals, dessen verräterischer Kürze sie mit
aller Macht abhelfen wollte; bald suchte sie ihm die prächtige Biegung
zu geben, in welcher der Schwan das würdige Ansehen eines Vogels
des Apollo hat. Doch vergebens; er war zu steif, und mit aller ihrer
Bemühung brachte sie es nicht weiter, als daß sie eine lächerliche
Gans ward, ohne ein Schwan zu werden. Lessing.
151. Der Wolf, der Fuchs und der Kranich.
Der Wolf verzehrte ein geraubtes Lamm mit großer Begierde.
Da sagte ihm der Fuchs, der dazu kam: „Oheim, du schlingst so gierig,
du wirst dir den Magen verderben." Der Wolf aber kehrte sich nicht
224
daran und fraß, so viel er konnte. Auf einmal blieb ihm ein Knochen
im Halse stecken; da konnte er nicht weiter, und er fing an zu schreien
und zu bitten: „Vetter Fuchs, schaffe mir Hilfe, oder ich sterbe!" Der
Fuchs dachte zwar: „Warum frißt du so viel?" Er ging aber doch
und holte den Kranich, der weit und breit als ein geschickter Wund-
arzt bekannt war. — Der Kranich kam, setzte sich die Brille auf und
schaute dem Wolf in den Rachen. Dann steckte er den langen Schnabel
tief hinein, zog den Knochen geschickt heraus und verordnete, wie der
Wolf sich weiter verhalten solle. Nach etlichen Monaten, als der Wolf
wieder besser war, verlangte der Kranich von ihm den Lohn für seine
Bemühung. „Das ist ja unverschämt von dir, daß du noch eine Be-
lohnung verlangst. Dein Schnabel steckte tief in meinem Rachen, und
ich konnte dich damals töten; ich schenkte dir aber das Leben, und du
bist noch nicht zufrieden? Ich werde dich noch jetzt auffressen, wenn
du nicht machst, daß du fortkommst!" — „Ist das wohl recht?" sagte
der Kranich zu dem Fuchse, der ihn gerufen hatte. „Ja", sagte der
Fuchs, „Undank ist der Welt Lohn." Grimm.
152. Der Habicht und die Störche.
Sin Habicht schoß auf eine Lerche
im Angesichte zweier Störche
und würgte, rupfte, speiste sie.
„Ach", sprach der eine Storch, „die arme Lerche! Sieh,
vorhin sang sie so artig noch!" —
„Storch", sprach der Habicht, „spare doch
die Seufzer nur; den du verzehrt,
der arme Frosch, der ist beklagenswert;
vorhin quakt er so artig noch!"
Gleim.
153. Der
1. Ein Hänfling, den der erste Flug
aus seiner Eltern Neste trug,
hub an die Wälder zu beschauen,
und kriegte Lust, sich anzubauen.
Ein edler Trieb — denn eig'ner Herd
ist, sagt das Sprichwort, Goldes wert.
2. Die stolze Glut der jungen Brust
macht' ihm zu einem Eichbaum Lust.
Hier wohn' ich, sprach er, wie ein König,
dergleichen Nester giebt es wenig.
Kaum stand das Nest, so ward's verheert
und durch den Donnerstrahl verzehrt.
5. Da baut' er sick
und las ein dunkles
wo er den Wolken
doch nicht die Erde
ein Ort, der in der
Da lebt er noch un
Hänfling.
3. Es war ein Glück bei der Gefahr,
daß unser Hänfling auswärts war;
er kam, nachdem es ausgewittert,
und fand die Eiche halb zersplittert.
Da sah er mit Bestürzung ein,
er könne hier nicht sicher sein.
4. Mit umgekehrtem Eigensinn
begab er sich zur Erde hin
und baut' in niedriges Gesträuche —
so scheu macht' ihn der Fall der Eiche.
Doch Staub und Würmer zwangen ihn
zum andern Mal davon zu zieh'n.
das dritte Haus
Büschchen aus,
icht so nahe,
vor sich sahe,
Ruhe liegt,
d lebt vergnügt.
Lichtwer.
225
154. Der Löwe und der Wolf.
1. Am Fuss der wüsten Partherfelder
schlug- König Löw’ mit Meister Bär
den Richtstuhl auf. Das Volk der Wälder
stand nach der Ordnung um sie her.
2. Die Kuh erschien zuerst und klagte
der Tiere strengem Oberhaupt,
ihr Kind, das Kalb, hab’, eh' es tagte,
ein unbekannter Dieb gerauht.
3. Der Löwe sah umher, zu hören,
wem sonst davon was wissend sei.
„Ich", sprach der Wolf, „kann heilig schwören,
Herr König, ich war nicht dabei.“
4. „Und wer verklagt dich?“ sprach der König.
„Verleumder“, fiel ihm jener ein,
„ich bin jetzt krank und esse wenig
und kann es nicht gewesen sein.“
5. „Schweig“, rief der Löwe, „das Gewissen
lässt einen Buben nirgends ruh’n,
du hast der Kuh ihr Kalb zerrissen,
der Bär soll dir desgleichen thun.“
6. So starb der Wolf, und wie man saget,
verriet sein Bauch, was er gethan.
Wer sich entschuldigt, eh’ man klaget,
der giebt sich selbst zum Thäter an. Lichtwer.
155. Die Schlange und der Aal.
„Betrachte mich einmal“,
sprach eine Schlange zu dem Aal,
„bin ich nicht wunderschön;
ist wohl noch eine Haut
so schön gefleckt zu seh’n?“
„Schön -ist“, antwortete der Aal,
„die deinige, die meinige nur glatt.
Wie aber kommt’s, das sag’ einmal,
dass man mich lieber hat
und lieber sieht als dich?
Ein jeder, der dich sieht,
hat Furcht und Schrecken im Gesicht,,
ruft Hilf und flieht.“
Die wunderschöne Schlange
spricht:
„Er flieht? Warum? Das weiss ich
nicht!“
„Ich aber weiss es“, spricht der Aal,
„auch wissen es die Menschen alle,
die dich im Grase liegen seh’n.
Von aussen bist du schön —
von innen Gift und Galle.“
Krummache r
lö
Das Vaterland.
226
156. Der unzufriedene Esel.
In einem harten Winter wünschte sich ein Esel sehnlich, bald sein
Bündel Stroh und sein kaltes Nachtlager mit wärmerem Wetter und
mit einem Mundvoll frischen Grases zu vertauschen. — Das wärmere
Wetter und das frische Gras kamen, aber mit ihnen zugleich stellte
sich so mannigfache Arbeit ein, daß der Esel bald des Frühlings so
überdrüssig als des Winters ward und sich desto mehr nach dem
Sommer sehnte.
Auch dieser erschien, aber mit ihm zugleich die Ernte. Wie oft
mußte jetzt der Esel Korn und Feldfrüchte bald nach Hanse und bald
in die Mühle tragen! Wie ängstlich seufzte er über den Sommer, und
wie inständig wünschte er sich den Herbst!
Der Herbst brach an; Äpfel, Trauben und andere Früchte wurden
reif; Holz- und Wintervorrat mußten eingesammelt werden. Nie glaubte
der arme Langohr noch so übel daran gewesen zu sein, und aufs
kläglichste flehte er den Winter an, doch ja herbeizueilen, weil er dann
Ruhe zu finden hoffe. Meißner.
157. ver Kreuzschnabel.
1. Als der Heiland litt am Kreuze,
himmelwärts den Blick gewandt,
fühlt er heimlich sanftes Zucken
an der stahldurchbohrten Hand.
3. Blutbeträuft und ohne Kasten,
mit dem Schnabel zart und klein,
möcht’ den Heiland es vom Kreuze,
seines Schöpfers Sohn, befrei’n.
2. Hier, von allen ganz verlassen,
sieht er eifrig mit Bemüh’n
an dem einen starken Nagel
ein barmherzig’ Vöglein zielfn.
5. Krenzesschnabel heisst das Vöglein
ganz bedeckt von Blut so klar,
singt es tief im Fichtenwalde
märchenhaft und wunderbar.
4. Und der Heiland spricht in Hilde:
„Sei gesegnet für und für!
Frag' das Zeichen dieser Stunde
ewig, Blut und Kreuzeszier!"
Julius Mosen.
158. Vom Wolf und Lämmlein.
Lin Wolf und ein Lämmlein kamen beide von ungefähr an einen
Bach, um zu trinken. Der Wolf trank oben am Bache, das Lämm-
lein aber fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward,
lief er zu ihm und sprach: „warum trübst du mir das Wasser, daß
ich nicht trinken kann?" Das Lämmlein antwortete: „wie kann ich dir
das Wasser trüben? Trinkest du doch über mir und möchtest es mir
wohl trüben." Der Wolf sprach: „wie? Fluchst du mir noch dazu?"
Das Lämmlein antwortete: „Ich fluche dir nicht." Der Wolf sprach:
„Ja, dein Vater that mir vor Monden auch ein solches." Das Lämm-
lein antwortete: „Bin ich doch dazumal noch nicht geboren gewesen,
wie kanil ich entgelten, was mein Vater gethan haben soll?" Der Wolf
227
sprach: „5o hast du mir aber meine Wiesen und Äcker abgenaget und
verderbet." Das Lämmlein antwortete: „Wie ist das möglich, hab' ich doch
keine Zähne?" „<£i," sprach der Wolf, „und wenn du gleich viel ausreden
und schwatzen kannst, will ich dennoch heut' dich nicht ungefressen lassen",
und würgte also das unschuldige Lamm und fraß es. — Wer fromm
ist, muß viel leiden. Der Böse bricht den Hader vom Zaune.
Gewalt geht vor Recht. Wenn der Wolf will, hat das Lamm
unrecht. Luther.
Spiegelbilder deutschen Lebens.
1. ZUM Erzählen.
159. Wie schön leuchtet der Morgenstern.
Wir waren wohl oft in großer Angst und Not, erzählte ein alter
Dorfschulmeister in Schlesien, wenn wir im siebenjährigen Kriege auf
jenen Anhöhen die Österreicher, hier in den Schluchten unsere Preußen
schlagfertig stehen sahen. Weder Pferd noch Kuh, weder Milch noch Brot
gab es in unserm Dörfchen mehr; fast in jeder Nacht hörten wir die Kanonen
donnern, und mit jedem neuen Morgen stellte sich auch neues Elend und
neuer Jammer für uns ein.
Einst hatten wir wieder die ganze Nacht hindurch schießen gehört; an
Zubettegehen war gar nicht mehr zu denken, weil man in jeder Nacht horchen
mußte, ob die Flamme nicht schon im Dachgiebel knisterte. Eben hatte ich
mein Morgenläuten besorgt, guckte zum Schallloche hinaus, um zu schauen,
was uns an dem schrecklichen Tage wohl wieder bevorstehen könne, und zog,
zum Himmel blickend und Gott dankend, mein Mützchen vom Kopfe, da mir
alles ganz ruhig schien. Ehe ich es jedoch wieder aufgesetzt hatte, jagte ein
alter schwarzer Husar zum Kirchhofe herein, warf sich vom Pferde und band
seinen Braunen an meinen Fensterladen. Wie mir zu Mute ward, kann
man sich leicht vorstellen. Ich flog mehr, als ich ging, die Turmtreppe
hinunter. Er aber ließ mir nicht einmal Zeit, meinen „guten Morgen!"
anzubringen, sondern rief mir in barschem Tone zu: „Geb er mir den
Kirchenschlüssel, Schulmeister!" Ich erschrak; denn obgleich das bißchen
Kirchenvermögen und der vergoldete Kelch mit der Hostienschachtel in Sicher-
heit gebracht waren, so befand sich doch noch eine ziemlich reiche Altar-
bekleidung mit Tressen in der Kirche. Ich legte mich auf Bitten und Vor-
stellungen; allein der alte Kriegsmann wollte davon nichts wissen. Er sah
mit einer ganz eigenen Manier bald auf mich, bald auf seinen Säbelgriff,
daß ich, um Unglück zu verhüten, voranging, um die Kirchenthür zu öffnen.
Meine Frau, die hinter der Hausthür gehorcht hatte, und die vor der Gefahr
immer verzagter, in der Gefahr aber immer entschlossener war als ich, kam
aus Besorgnis um mich aus freien Stücken hinter uns her.
15*
228
Der Husar drängte sich in der Halle hastig voran, ging, ohne sich
umzusehen, an der Sakristei und dem Altar vorüber und schritt, so schnell
es sein Alter erlaubte, klirr! klirr! die Chortreppe hinauf. Hier setzte er
sich, Atem schöpfend, aus eine Bank und rief mir gebieterisch zu: „Schul-
meister, mach Er die Orgel auf und geb Er mir ein Gesangbuch!" — Ich
that augenblicklich, was er verlangte, meine Frau mußte die Bälge ziehen,
der Husar hatte ein Lied ausgeschlagen und sagte nun in einem milderen
Tone: „Wie schön leuchtet der Morgenstern! Spiel Er das, lieber Schul-
meister; aber so recht fein und ordentlich, Er versteht mich wohl!"
Ich spielte mit Herzenslust, und nach geendetem Vorspiel fiel der
Soldat mit einer tiefen Baßstimme ein; meine Frau hinter der Orgel und
ich thaten ein Gleiches. Mein Herz wurde so mutig, daß ich mich oft nach
meinem Zuhörer umschaute und ihm ganz dreist in das Gesicht sah. Er
saug mit großer Andacht, hatte die Hände gefaltet, und die hellen Thränen
fielen über den eisgrauen Kuebelbart auf das Buch hinab. Jetzt war das
Lied beendet; ich ging auf ihn zu; er schüttelte mir treuherzig die Hand und
sprach: „Großen Dank, Herr Kantor! Wo ist der Gotteskasten?" — Mein
früherer Argwohn, daß es auf Plünderung abgesehen sei, war nun gänzlich
verschwunden. Ich holte unsere Armenbüchse, und der Husar warf ein
Achtgroschenstück hinein. „Wir beide aber, wir teilen den Rest, Herr Schul-
meister!" sagte er dann, indem er noch zwei Achtgroschenstücke aus der
Tasche zog, „da nehm Er das eine für seine Mühe!" Ich schlug es aus;
aber er war so ungestüm, daß ich es schlechterdings mehmen mußte. „Nehm
Er, nehm Er", sprach er; „es klebt kein Blut daran!" — Jetzt verließ er
das Gotteshaus, und wir begleiteten ihn. Sowohl meine Frau als ich
waren unglaublich bewegt; ich konnte mich aber nicht enthalten, unsern
wunderbaren Gast auf dem Kirchhofe zu fragen, wie ihm denn der Gedanke
gekommen sei, hier seine Morgenandacht zu halten.
„Das will ich Euch wohl sagen, Ihr lieben Leute", antwortete er,
indem er uns beide bei der Hand nahm. „Gestern Abend sollte ein ver-
lorener Posten ausgestellt werden, um mitten unter den herumschweifenden
Patrouillen den Feind auf einem gewissen Punkte zu beobachten. Jeder
von uns wußte, was die Sache auf sich hatte; — wir sind seit einigen
Wochen brav daran gewesen. — Unser Rittmeister fragte nach Freiwilligen;
niemand bezeigte Lust. Endlich ritt ich vor, und meine drei Jungen konnten
ja wohl den alten Vater nicht allein lassen. — Er braucht es nicht zu
wissen, Herr Schulmeister, wie wir es anfingen; — genug, wir schlichen
uns durch und hielten die ganze Nacht auf einer buschigen Anhöhe. Links
und rechts blitzte es um uns her; wir sahen bald hier, bald dort feindliche
Mannschaften. Nicht meinetwegen — denn wie lange werde ich noch reiten? —-
sondern nur wegen meiner Söhne seufzte ich in der finsteren Nacht: „Herr,
erhalte uns!" — Kaum hatte ich das heraus, als es anfing zu dämmern,
und der Morgenstern mir ins Auge blitzte. „Wie schön leuchtet der
Morgenstern!" fiel mir in diesem Augenblicke aus meiner Jugendzeit ein;
gar manches, was ich seitdem gethan, und — was wohl nicht allemal recht
war, hing sich wie eine Bleilast daran; ich rechnete nach, seit wie viel
229
Jahren ich in keine Kirche gekommen, und ich that Gott das Gelübde, wenn
ich diesmal davon käme, wieder einmal eine Andacht zu halten. Das hab'
ich denn nun gethan, und Er kann wohl denken, ob mir's zu Herzen ging,
als wir sangen: „Du Herr bist's, der mich diese Nacht durch seine Engel hat
bewacht!" Mit diesen Worten setzte er sich auf und ritt davon. Ahlfeld.
160. Der Schneider in Pensa.
Der Schneider in Pensa — was ist das für ein Männlein? Sechs
und zwanzig Gesellen auf dem Brett jahraus, jahrein, für halb Rußland
Arbeit genug und doch kein Geld — aber einen frohen, heiteren Sinn, ein
Gemüt treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches Blut,
rheinländische Gastfreundschaft.
Im Jahre 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für die
Kriegsgefangenen an der Beresina oder in Wilna, ging eine auch durch
Pensa, welches für sich schon mehr als einhundert Tagereisen weit von Lahr
oder Pforzheim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder englische Uhr,
wer eine hat, nimmer geht wie daheim, sondern um ein paar Stunden zu
spät. In Pensa ist der Sitz des ersten russischen Statthalters in Asien,
wenn man von Europa aus hereinkommt. Also wurden dort die Kriegs-
gefangenen abgegeben und dann weiter abgeführt in das tiefe, fremde Asien
hinein, wo die Christenheit ein Ende hat, und niemand mehr das Vater-
unser kennt, wenn's nicht einer gleichsam als eine fremde Ware aus Europa
mitbringt. Also kamen eines Tages, mit Franzosen untermengt, auch sechzehn
Rheinländer, badische Offiziere, die damals unter den Fahnen Napoleons
gedient hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa, er-
mattet, krank, mit erfrorenen Gliedmaßen und schlecht geheilten Wunden,
ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Trost, in Pensa an und fanden in diesem
unheimischen Lande kein Ohr mehr, das ihre Sprache verstand, kein Herz
mehr, das sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den andern mit
trostloser Miene anblickte: Was wird aus uns werden? — oder: Wann
wird der Tod unserm Elende ein Ende machen? — und: Wer wird den
letzten begraben? — da vernahmen sie, mitten durch das russische und
kosakische Kauderwelsch, wie ein Evangelium vom Himmel, unvermutet eine
Stimme: „Sind keine Deutsche da?"— Und es stand vor ihnen auf
zwei nicht ganz gleichen Füßen eine liebe, freundliche Gestalt, das war der
Schneider von Pensa, Franz Anton Egetmaier, gebürtig aus Breiten im
Neckarkreise des Großherzogtnms Baden.
Hat er nicht im Jahre 1799 das Handwerk gelernt in Mannheim?
Hernach ging er auf die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig
nach Petersburg hinein? Ein deutscher Schneider schlägt sieben- bis acht-
mal hundert Stunden Weges nicht hoch an, wenn's ihn inwendig treibt.
In Petersburg aber ließ er sich unter ein russisches Kavallerieregiment als
Regimentsschneider aufnehmen und ritt mit ihm in die fremde, russische
Welt hinein, wo alles anders ist, nach Pensa, bald mit der Nadel stechend,
bald mit dem Schwerte. In Pensa aber, wo er sich hernach häuslich und
230
bürgerlich niederließ, ist er jetzt ein angesehenes Männlein. Will jemand-
in ganz Asien ein sauberes Kleid nach der Mode haben, so schickt er nach
dem deutschen Schneider in Pensa; verlangt er etwas von dem Statthalter,
der doch ein vornehmer Herr ist und mit dem Kaiser reden darf, so hat's
ein guter Freund vom andern verlangt, und hat auf dreißig Stunden Weges
ein Mensch ein Unglück oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schnei-
der von Pensa an, er findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rat, Hilfe, ein
Herz und ein Auge voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur kein Geld.
Einem Gemüte, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohlthun
reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812 eine schöne
Freudenernte! So oft ein Transport von unglücklichen Gefangenen kam,
warf er Schere und Elle weg und war der erste auf dem Platze, und:
„Sind keine Deutsche da?" war seine erste Frage; denn er hoffte von
einem Tage zum andern, unter den Gefangenen Landsleute anzutreffen,
und freute sich, wie er ihnen Gutes thun wollte, und liebte sie schon voraus
ungesehenerweise. „Wenn sie nur so oder so aussehen!" dachte er, „wenn
ihnen nur recht viel fehlt, damit ich ihnen recht viel Gutes erweisen kann."
Doch nahm er, wenn keine Deutsche da waren, auch mit Franzosen fürlieb
und erleichterte ihnen, bis sie weiter geführt wurden, ihr Elend nach Kräften.
Diesmal aber, und als er unter so viele gefangene Landsleute, auch
Darmstädter und Badenser und andere, hineinrief: „Sind keine Deutsche
da?" — da mußte er zum zweiten Male fragen, denn das erste Mal
konnten sie vor Staunen und Ungewißheit ihm nicht antworten, das süße,
deutsche Wort in Asien erklang in ihren Ohren wie ein Harsenton. Und
als er hörte: „Deutsche genug!" und von jedem erfragte, woher er sei? —
da sagte einer: „von Mannheim am Rheinstrom!" der andere sagte: „von.
Bruchsal", der dritte: „von Heidelberg", der vierte: „von Gochsheim". —
Da zog es wie ein warmes, auslösendes Tauwetter durch den ganzen
Schneider hindurch. „Und ich bin von Breiten!" sagte das herrliche Ge-
müt, „Franz Anton Egetmaier aus Bretten!" wie Joseph in Ägypten zu
deu Söhnen Israels sagte: Ich bin Joseph, euer Bruder! — Und die
Thränen der Freude, der Wehmut und heiligen Heimatliebe traten allen in
die Augen, und es war schwer zu sagen, ob sie einen freudigeren Fund an
dem Schneider machten, oder der Schneider an seinen Landsleuten, und
welcher Teil am gerührtesten war. Jetzt führte der gute Mensch seine
teuren Landsleute im Triumph in seine Wohnung und bewirtete sie mit
einem erquicklichen Mahle, wie in der Geschwindigkeit es aufzutreiben war.
Jetzt eilte er zum Statthalter und bat ihn um die Gnade, daß er seine
Landsleute behalten dürfe. „Anton", sagte der Statthalter, „wann hab'
ich Euch etwas abgeschlagen?" Jetzt lief er in der Stadt herum und suchte
für diejenigen, die in seinem Hause nicht Platz hatten, die besten Quartiere
aus. Jetzt musterte er die Gäste einen nach dem andern: „Herr Lands-
mann", sagte er zu einem, „mit Eurem Weißzeug sieht es windig aus, ich
werde noch für ein halb Dutzend neue Hemden sorgen. Ihr braucht auch
ein neues Röcklein", sagte er zu einem andern. „Eures kann noch gewendet
und ausgebessert werden", zu einem dritten, und so zu allen; und äugen-
231
blicklich wurde zugeschnitten, und alle sechs und zwanzig Gesellen arbeiteten
Tag und Nacht an Kleidungsstücken sür seine werten, rheinländischen Freunde.
In wenig Tagen waren alle neu oder anständig ausstaffiert.
Ein guter Mensch, auch wenn er in Nöten ist, mißbraucht niemals
fremde Gutmütigkeit, deswegen sagten zu ihm die Rheinländer: „Herr
Landsmann, verrechnet Euch nicht! Ein Kriegsgefangener bringt keine Münze
mit, so wissen wir auch nicht, wie wir Euch für Eure großen Auslagen wer-
den schadlos halten können, und wann." — Darauf erwiderte der Schneider:
„Ich finde hinlängliche Entschädigung in dem Gefühl, euch helfen zu können.
Benutzt alles, was ich habe, seht mein Haus und meinen Garten als das
Eurige an!" So kurzweg und ab, wie ein Kaiser oder König spricht, wenn,
eingefaßt in Würde, die Güte hervorblickt;— denn nicht nur die hohe, fürst-
liche Geburt und Großmut, sondern auch die liebe, häusliche Demut giebt,
ohne es zu wissen, bisweilen dem Herzen königliche Sprüche ein. — Jetzt
führte er sie, freudig wie ein Kind, in der Stadt bei seinen Freunden herum
und machte Staat mit ihnen.
Hier ist nicht Raum genug, alles Gute zu rühmen, was er seinen
Freunden erwies. So sehr sie zufrieden waren, so wenig war er es; jeden
Tag fand er neue Mittel, ihnen den unangenehmen Zustand der Kriegs-
gefangenschaft zu erleichtern und das fremde Leben in Asien angenehm zu
machen. War in der lieben Heimat ein hohes Geburts- oder Namensfest,
es wurde am nämlichen Tage von den Treuen auch in Asien mit Gastmahl,
mit Vivat und Freudenfeuer gehalten, nur etwas früher, weil dort die
Uhren anders gehen; kam eine frohe Nachricht von dem Vorrücken und
den Siegen der hohen Verbündeten in Deutschland an, der Schneider war
der erste, der sie wußte und seinen Kindern — er nannte sie nur noch seine
Kinder — mit Freudenthränen zubrachte, darum, daß sich ihre Erlösung
nahete. Als einmal Geld zur Unterstützung der Gefangenen aus dem
Vaterlande ankam, war ihre erste Sorge, ihrem Wohlthäter seine Auslagen,
zu vergüten. „Kinder", sagte er, „verbittert mir meine Freude nicht!" —
„Vater Egetmaier", sagten sie, „thut unserm Herzen nicht wehe." Also
machte er ihnen zum Anschein eine kleine Rechnung, nur um sie nicht zu
betrüben und um das Geld wieder zu ihrem Vergnügen anzuwenden, bis
die letzte Kopeke aus den Händen war. — Das gute Geld war zu einem
andern Gebrauche zu bestimmen; aber man kann nicht an alles denken;
denn als endlich die Stunde der Erlösung schlug, da gesellte sich zur Freude
ohne Maß der bittere Schmerz der Trennung und zum bitteren Schmerze
— die Not, denn es fehlte an allem, was zur Notdurft und zur Vorsorge
auf eine so lauge Reise in den Schrecknissen des russischen Winters und
einer unwirtbaren Gegend nötig war, und ob auch auf den Mann, so lange
sie durch Rußland zu reisen hatten, täglich dreizehn Kreuzer verabreicht
wurden, so reichte doch das Wenige nirgends hin. — Darum ging in diesen
letzten Tagen der Schneider — sonst so frohen, leichten Mutes — still und
nachdenkend herum, als der etwas im Sinne hat, und war wenig mehr zu
Hause. „Es geht ihm recht zu Herzen!" sagten die Herren Rheinländer
und merkten nichts; aber auf einmal kam er mit großen Freudenschritten,
232
ja mit verklärtem Antlitze zurück: „Kinder, es ist Rat! Geld genug!" —
Was war's? — Die gute Seele hatte für zweitausend Rubel das Haus ver-
kauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden", sagte er, „wenn nur ihr
ohne Sorgen und Leid und Mangel nach Deutschland kommt." O du
heiliges, lebendig gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und seiner Liebe:
„Verkaufe, was du hast, und gieb es denen, die es bedürftig sind, so wirst
du einen Schatz im Himmel haben." Du wirst einst weit oben rechts zu
erfragen sein, wenn die Stimme gesprochen hat: „Kommet her, ihr Geseg-
neten! Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset; ich bin nackt
gewesen, und ihr habt mich gekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen,
und ihr habt euch meiner angenommen!" — Doch der Kauf wurde zu
großem Troste für die edlen Gefangenen wieder rückgängig gemacht. Nichts-
destoweniger brachte er auf eine andere Art noch einige hundert Rubel für
sie zusammen und nötigte sie, was er hatte von kostbarem russischen Pelz-
werk, mitzunehmen, um es unterwegs zu verkaufen, wenn sie Geldes bedürf-
tig wären oder einem Unglück widerführe.
Den Abschied vermag ich nicht zu beschreiben, keiner, der dabei war,
vermag es; sie schieden unter tausend Segenswünschen und Thränen des
Dankes und der Liebe, und der Schneider gestand, daß dieses der schmerz-
lichste Tag seines Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen unterwegs
unaufhörlich und noch immer von ihrem Vater in Pensa, und als sie in
Bialystock in Polen ankamen und Geld antrafen, schickten sie ihm dankbar
ihre Schuld zurück. Hebel.
161. Kannitverstan.
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und
Gundelfingen so gut wie in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand
aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden
mit seinem Schicksale, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in
der Luft herumfliegen; aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher
Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu
ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll
prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen
war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er
auf seiner ganzen Wanderschaft von Duttlingen bis nach Amsterdam noch keins
gesehen hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude,
die sechs Kamine auf dem Dache, die schönen Gesimse und die hohen Fenster,
größer als an des Vaters Hanse daheim die Thür. Endlich konnte er sich
nicht enthalten, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter Freund", redete
er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses
wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternblumen
und Levkojen?" — Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu
thun hatte und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache ver-
stand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz
und schnauzig: „Kannitverstan" und schnurrte vorüber. Dies war ein
233
holländisches Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf
deutsch so viel als: Ich kann Euch nicht verstehen. Aber der gute Fremd-
ling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das
muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er und
ging weiter. Gass aus, Gass ein kam er endlich an den Meerbusen, der
da heißt: Het Ey, oder auf deutsch das Ipsilon. Da stand nun Schiff an
Schiff und Mastbaum an Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er
es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwür-
digkeiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff
seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt
war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen große Reihen von
Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden
mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und
Pfeffer und anderer Gewürze darunter. Als er aber lange zugesehen hatte,
fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie
der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land
bringe. „Kannitverstan", war die Antwort. Da dachte er: Haha, schaut's
da heraus? Kein Wunder, wem das Meer solche Reichtümer an das Land
schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und solcherlei Tuli-
panen vor die Fenster in vergoldeten Scherben. Jetzt ging er wieder zurück
und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein
armer Mensch sei unter so vielen reichen Leuten in der Welt. Aber als
er eben dachte: Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser
Herr Kannitverstan es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen
Leichenzug. Bier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz
überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie
einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und
Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar an Paar, verhüllt in schwarze
Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt
ergriff unsern Fremden ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten
Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und er blieb mit dem Hute
in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Doch machte er
sich an den letzten vom Zuge, der eben in der Stille ausrechnete, was er
an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Centner um 10 Gulden
aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Ent-
schuldigung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein",
sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und nachdenklich
mitgeht?" „Kannitverstan!" war die Antwort. Da fielen unserm
guten Duttlinger ein paar große Thränen aus den Augen, und es ward
ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. Armer Kannitverstan!
rief er aus; was hast du nun von all deinem Reichtume? Was ich einst
von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leichentuch, und
von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte
Brust oder eine Raute. Mit diesen Gedanken begleitete er die Leiche, als
wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannit-
vcrstan hinabsinken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen
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Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von man-
cher deutschen, auf die er nicht acht gab. Endlich ging er leichten Herzens
mit den anderen wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch
verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und, wenn es ihm
wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt so reich
seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in
Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges
Grab. Hebel.
162. Der Rittmeister Kurzhagen.
In dem Regiments des berühmten, von Friedrich dem Großen hoch-
geehrten Generals von Zielen stand auch ein Rittmeister mit Namen
Kurzhagen. Er war klug, tapfer und hatte ein kindliches Gemüt. Seine
Eltern waren arme Landleute im Mecklenburgischen. Mit dem Verdienst-
orden auf der Brust rückte er nach Beendigung des siebenjährigen Krieges
in Parchim ein.
Die Eltern waren von ihrem Dörfchen nach der Stadt gekommen,
um ihren Sohn nach Jahren wieder zu sehen, und erwarteten ihn auf
dem Markte. Wie er sie erkannte, sprang er rasch vom Pferde und um-
armte sie unter Freudenthränen. Bald daraus mußten sie zu ihm ziehen
und aßen allezeit mit an seinem Tische, auch wenn er vornehme Gäste hatte.
Einst spottete ein Offizier darüber, daß Bauern bei einem Rittmeister
zu Tische säßen. „Wie, sollte ich nicht die ersten Wohlthäter meines
Lebens dankbar achten?" war seine Antwort. „Ehe ich des Königs
Rittmeister wurde, war ich ihr Kind."
Der brave General von Zielen hörte von diesem Vorfall, und bat
sich selbst nach einiger Zeit mit mehreren Vornehmen bei dem Rittmeister
zu Gaste. Die Eltern des letzteren wünschten dieses Mal selbst, nicht an
dem Tische zu erscheinen, weil sie sich verlegen fühlen würden. Als man
sich setzen wollte, fragte der General: „Aber Kurzhagen, wo sind Ihre
Eltern? Ich denke, sie essen mit Ihnen an einem Tische." Der Rittmeister
lächelte und wußte nicht sogleich zu antworten.
Da stand Zielen auf und holte die Eltern selbst herbei; sie mußten
sich rechts und links an seine Seite setzen, und er unterhielt sich mit ihnen
aufs freundlichste. Als man anfing, Gesundheiten auszubringen, nahm er
sein Glas, stand auf und sprach: „Meine Herren, es gilt dem Wohlergehen
dieser braven Eltern eines verdienstvollen Sohnes, der es beweist, daß ein
dankbarer Sohn mehr wert ist als ein hochmütiger Rittmeister!" —
Später fand der General Gelegenheit, dem Könige von der kindlichen
Achtung zu erzählen, welche der Rittmeister seinen Eltern erwiesen, und
Friedrich II. freute sich sehr darüber. Als Kurzhagen einst nach Berlin
kam, wurde er zur königlichen Tafel gezogen. „Hör Er, Rittmeister",
fragte der König, um seine Gesinnung zu erforschen, „von welchem Hause
stammt Er denn eigentlich? Wer sind Seine Eltern?" — „Ew. Majestät",
antwortete Kurzhagen ohne Verlegenheit, „ich stamme aus einer Bauern-
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Hütte, und meine Eltern sind Bauersleute, mit denen ich das Glück teile,
was ich Ew. Majestät verdanke."
„So ist's recht", sagte der König erfreut; „wer seine Eltern achtet,
der ist ein ehrenwerter Mann; wer sie gering schätzt, verdient nicht geboren
zu sein." — Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot,
das Verheißung hat.
v. Pustkuchen Glanzow.
163. Der arme Musikant und sein Kollege.
Ich habe mich immer recht in die Seele hinein geärgert, wenn ich
das Wort hören mußte: „Man hört in unseren Tagen nichts Gutes mehr!"
Da sollte man doch denken, unsere Zeit sei die allerschlechteste seit Adams
Tagen, und die Menschen seien allesamt Unmenschen. Ich sag's jedem ins
Gesicht, es ist nicht wahr, wenn's auch Schufte genug giebt. Eine schlechte
That wird überall erzählt; aber wenn einmal eine gute geschieht, schweigt
man davon. Die guten Menschen legen sich damit nicht an den Laden
und lasseu's nicht austrompeten, wie es die Pharisäer machten. Darum
will ich auch nicht stille schweigen, wenn ich eine gute That hier oder dort
höre, und will gleich eine erzählen, die noch nicht alt ist.
An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein großes
Volksfest. Der Prater ist eben eine sehr große, öffentliche Gartenanlage
voll herrlicher Bäume und ist der Hauptspaziergang und Belustigungsort
der Wiener. Viel Volks strömte hinaus, und jung und alt, vornehm
und gering freuten sich dort ihres Lebens; auch viele Fremde kamen,
die sich an der Volkslust ergötzten. Wo fröhliche Menschen sind, da hat
auch der etwas zu hoffen, der an die Barmherzigkeit seiner glücklichen
Mitmenschen gewiesen. So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgel-
männer, Geiger, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten.
In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension zum
Unterhalte nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht. Er griff daher
zur Geige, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein Böhme gewesen
war. Er spielte unter einem alten Baume im Prater, und seinen treuen
Pudel hatte er so abgerichtet, daß der vor ihm saß und den alten Hut
im Maule hielt, in den die Leute ihre Pfennige oder Kreuzer warfen.
Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel saß vor ihm mit dem
Hute wie immer; aber die Leute gingen vorüber, und der Hut blieb leer.
Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten Barmherzigkeit
mit ihm haben müssen. Dünnes, weißes Haar deckte kaum seinen Schädel;
ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Kleid. Gar manche
Schlacht hatte er mitgekämpft, und fast jede hatte ihm in einer Narbe
einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Verlieren keine Sorge nötig
war. Nur drei Finger an der rechten Hand hielten den Bogen. Eine
Kartätschenkugel hatte die zwei anderen bei Aspern mitgenommen, und fast
zu gleicher Zeit nahm ihm eine größere Kugel das Bein weg. Und doch
sahen heute die fröhlichen Leute nicht auf ihn, und er hatte doch für den
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letzten Kreuzer Saiten auf seine Violine gekauft und stielte seine alten
Märsche und Tänze mit aller Kraft. Trübe und traurig sah der alte
Mann aus die wogende Menschenmasse, auf die fröhlichen Gesichter, auf
die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ihrem Lachen drang ein Stachel in
seine Seele — heute Abend mußte er hungern auf feinem Strohlager im
Dachstübchen. Sein Pudel war in der That besser daran; er fand doch
vielleicht auf dem Heimwege einen Knochen unter einem Gosfensteine, an
dem er seinen Hunger stillen konnte.
Schon war's ziemlich spät am Nachmittag, und feine Hoffnung war
so nahe am Untergange wie die Sonne; denn schon kehrten die Lustwand-
ler zurück. Da legte sich ein recht tiefes Leid auf das wetterharte, vernarbte
Gesicht. Er ahnte nicht, daß nicht weit von ihm ein stattlich gekleideter
Herr stand, der ihm lange zuhörte und ihn mit dem Ausdrucke tief empfun-
denen Mitleids betrachtete. — Als endlich alles fruchtlos blieb und die
müde Hand den Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein Bein ihn kaum
mehr trug, setzte er sich auf einen Stein und stützte die Stirn in die hohle
Hand. Er weinte heimlich.
Der Herr aber, der dort am Stamme der alten Linde lehnte, hatte
gesehen, wie die verstümmelte Hand die Thränen abwischte, damit das
Auge der Welt die Spuren nicht sähe. Es war aber, als wenn die
Thränen ihm wie siedend heiße Tropfen auf das Herz gefallen wären, so
rasch trat er herzu, reichte dem Alten ein Goldstück und sagte: „Leihet mir
Eure Geige ein Stündchen!" Der Alte sah voll Dankes den Herrn an, der
mit der deutschen Sprache so holperig umging, wie er mit der Geige. Was
er aber wollte, verstand der Invalide doch und reichte ihm seine Geige.
Sie war nun so schlecht nicht; nur der gewöhnliche Geiger kratzte so übell
Er stimmte sie glockenrein, stellte sich ganz nahe zu dem Invaliden und
sagte: „Kollege, jetzt nehmt Ihr das Geld und ich spiele." — Und nun fing
er an zu spielen, daß der Alte seine Geige neugierig betrachtete und meinte,
sie fei es gar nicht mehr; denn der Ton ging wunderbar in die Seele, und
die Töne rollten wie Perlen dahin. Manchmal war's, als jubilierten Engel-
stimmen in der Geige, und dann wieder, als klagten Töne schweren Leids
aus ihr heraus, die das Herz so bewegten, daß die Augen feucht wurden.
Jetzt blieben die Leute stehen, sahen den stattlichen Herrn an und
horchten auf die wundervollen Töne; jedermann sah's, der Mann geigte
für den Armen, aber niemand kannte ihn. Immer größer ward der Kreis
der Zuhörer. Selbst die Kutschen der Vornehmen hielten an. Und was
die Hauptsache war, jedermann sah ein, was der kunstreiche Fremde beab-
sichtigte, und gab reichlich. Da fiel Gold und Silber in den Hut und auch
Kupfer, je nachdem das Herz war. Der Pudel knurrte. War's Ver-
gnügen oder Ärger? Er konnte den Hut nicht mehr halten, so schwer war
er geworden. „Macht ihn leer, Alter", riefen die Leute dem Invaliden
zu „er wird noch einmal voll!" Der Alte that's, und richtig! er mußte ihn
noch einmal leeren in seinen Sack, in den er die Violine zu stecken pflegte.
Der Fremde stand da mit leuchtenden Augen und spielte, daß ein Bravo
über das andere erscholl. Alle Welt war entzückt. Endlich ging der Geiger
237
in die prächtige Melodie des Liedes: „Gott erhalte Franz den Kaiser!" über.
Alle Hüte und Mützen flogen von den Köpfen: denn die Österreicher liebten
ihren edlen Kaiser Franz von ganzem Herzen, und er verdiente es auch;
allgemach wurde der Volksjubel so groß, daß plötzlich alle Leute das Lied
sangen. Der Geiger spielte in der größten Begeisterung, bis das Lied zu
Ende war; dann legte er rasch die Geige in des glücklichen Invaliden Schoß,
und ehe der alte Mann ein Wort des Dankes sagen konnte, war er fort.
„Wer war das?" rief das Volk. — Da trat ein Herr vor und sagte:
„Ich kenne ihn sehr wohl, es war der ausgezeichnete Geiger Alexander
Boucher, welcher hier seine Kunst im Dienste der Barmherzigkeit übte. Laßt
uns aber auch sein edles Beispiel nicht vergessen." Der Herr hielt seinen
Hut hin, und aufs neue flogen die Geldstücke hinein. Alles gab, und als
dann der Herr abermals das Geld in des Invaliden Sack geschüttet hatte,
ries er: „Boucher lebe hoch!" — „Hoch! hoch! hoch!" rief das Volk. Und
der Invalide faltete seine Hände und betete: „Herr, belohne dns ihm reichlich!"
Und ich glaube, es gab an diesem Abende zwei Glückliche mehr in
Wien. Der eine war der Invalide, der nun weithin seiner Not enthoben
war, und der andere Boucher, dem sein Herz ein Zeugnis gab, um das man
ihn beneiden möchte. D. v. Horn.
164. Ein Zug aus dem Leben Mendelssohn-
Bartholdys.
Ob die kleinen Leser den Mann kennen, dessen Name hier oben zu
lesen ist, weiß ich nicht mit Gewißheit; einem oder dem andern ist es doch
bekannt, daß er ein reichbegabter Mann war, dessen Herz zu den edlen gezählt
werden mußte, der gar herrliche Musik schrieb und im deutschen Vaterlande
nimmer vergessen werden wird. Hochangesehen und geehrt war er ohnehin,
wie er es verdiente. Ein Stücklein möcht' ich hier erzählen von ihm, das
mir ein alter, würdiger Geistlicher mitteilte, der es aus dem Munde der
Mutter, von der hier die Rede sein wird, vernahm, die in dankbarer Ver-
ehrung gar herzinnig die Huld des seltenen Mannes pries.
Ein junger Mann, namens Krebs, aus Lichtenan bei Lauban in der
preußischen Oberlausitz, Sohn einer unbemittelten Witwe, die außer ihm
noch für andere vier Kinder zu sorgen hatte, war eine Reihe von Jahren
als Diener im Hause Felix Mendelssohn-Bartholdys in Leipzig. Er war
ein guter Mensch und in Liebe treu ergeben seinem lieben, guten Herrn;
aber er war auch ein guter Sohn und Bruder, der seiner Lieben nicht ver-
gaß, als es ihm gut ging, und die schweren Sorgen des treuen Mutter-
herzens dadurch zu erleichtern suchte, daß er dem lieben Mütterlein daheim
alle Monate zwei Thaler sandte von seinem ehrlich verdienten Lohne und
dies nie vergaß. Das muß wohl der Herr Mendelssohn gewußt und seine
Freude daran gehabt haben, wie wir, die wir's hier hören und lesen und
es gerne allen Söhnen ans Herz legen möchten, die in gleicher Lage sind,
mit der Mahnung unsres lieben Herrn und Heilandes: „Gehet hin und
thut desgleichen!" Solche Brotkreuzer aus lieber Kindeshand thaten der
238 —
braven Witwe zu Lichtenau gar wohl, und es ruhte der Segen der Liebe
darauf, den der droben im Himmel spricht, der so ergreifend sagt: „Kann
auch eine Mutter ihres Kindleins vergessen?" und in das Wort das andere
still einschließt: „Darf auch ein Kind seiner Mutter vergessen, die es mit
Seufzen groß zog?"
So waren denn mehrere Jahre diese lieben Kindesgaben der armen
Mutter zugeflossen, und oft hatte sie sie mit Freudenthränen, mit Dank
gegen den Herrn und mit dem Segensgebete für den lieben Sohn empfangen,
da — kam ein Brief von Leipzig an, von fremder Hand geschrieben.
Zitternd erbricht ihn die Mutter. — Er war von Herrn Mendelssohns
Hand und enthielt die niederbeugende Nachricht, der liebe Sohn sei gefähr-
lich erkrankt und wünsche, noch einmal sein Haupt an die treue Mntterbrnst
zu legen; sie möge doch eiligst kommen. Zugleich hatte der edle Mann zehn
Thaler eingelegt, damit etwa der Mangel nicht ein Hemmnis der Reise
werde. — Du armes Mutterherz, welch eine schwere Reise war das für
dich! Wie magst du gepocht, gebebt, gebetet haben! — Und doch ruht der
gute Sohn schon im kühlen Grabe, als die Mutter die Türme Leipzigs
erblickt. Sie kommt an, und Herr Mendelssohn ist's, der sie liebevoll
empfängt, der sie sanft vorbereitet auf den schweren Schlag, der sie erwartet,
der mit ihr dann trauert um den Sohn und linden, heiligen Trost in ihre
Seele flößt. Er beschäftigt sich ausschließlich mit ihr; er geht mit ihr zum
teuern Grabe; er thut alles, ihre Seele aufzurichten. — Bergelt's ihm
Gott droben im Himmel, wo er nun auch schon ist! So sag' ich aus Herzens-
grunde, und gewiß ihr alle mit mir, ihr kleinen Leser.
Aber damit ist's eben noch nicht am Ende. Mendelssohn behält die
arme Mutter bei sich, so lange sie bleiben kann und will. Und als sie end-
lich die traurige Heimreise antritt, händigt er ihr des Sohnes Ersparnis
ein mit einhundert und fünfzig Thalern, legt zwölf Thaler für die Heim-
reise zu und eine Urkunde in ihre Hand, worin er sich verpflichtet, so lange
die Witwe Krebs lebe, ihr monatlich zwei Thaler auszuzahlen; und das
hat er ehrlich bis zu seinem Tode gehalten.
Item, da wird das heillose Wort der Leute: „Man hört doch gar
nichts Gutes mehr!" einmal wieder gründlich zu Schanden.
Mir ist's eine Freude gewesen, diesen schönen Zug von einem Manne
zu erzählen, den ich zwar nie gesehen, aber der mir durch seine herrlichen
Tonwerke schon manche köstliche Stunde, schon manche Erhebung des Herzens
bereitet hat, und der mir dadurch noch um vieles lieber geworden ist. Dem
alten, lieben Pfarrer aber, der mir's schrieb und verbürgte, drücke ich im
Geiste die Hand. — Möge es in vielen Herzen ein Saatkörnlein werden,
das da aufgeht und Früchte trägt! O. v. Horn.
163. Aus dem Leben Gellerts.
Eines Tages ging Gellert vor einem Thore Leipzigs spazieren.
Plötzlich hörte er unter lautem Weinen und Wehklagen eine arme Frau
hinter sich herlaufen. Er blieb stehen und fragte sie teilnehmend nach
239
hem Grunde ihres Leids. Die Frau wollte nicht heraus damit; als
aber Gellert ihr freundlich zuredete, wurde sie zutraulich und erzählte
ihm nun, daß sie mit ihrem Manne und vier Kindern ein kleines Häus-
chen bewohne, das dem reichen Kaufmanne N. gehöre. Seit fünf Wochen
lägen Mann und Kinder krank; sie habe nichts in dieser Zeit verdienen
können, niemand borge ihr mehr einen Mund voll Brot, und nun wolle
der harte Hausherr, weil sie ihm dreißig Thaler Miete schuldig sei, sie
aus dem Hause werfen samt den Kranken. Sie habe, wehklagte die
unglückliche Frau, keinen Heller für Brot und Arzenei und müsse also den
Tod der Ihrigen vor Augen sehen, und niemand erbarme sich. „Ach",
rief sie aus, „wenn's nur schon vorüber wäre; im Grabe wär's uns allen
wohl!" Diese Klagen gingen wie ein zweischneidig Schwert durch Gellerts
weiches Herz. So wenig Geld er auch gerade damals hatte, so war er
doch schnell entschlossen, zu helfen. Er bat die arme Frau, mit ihm in seine
Wohnung zu gehen. Als er dort ankam, suchte er alles, was er hatte,
zusammen, und fand nur noch dreißig Thaler. Mit Dank gegen Gott,
daß er eben noch so viel hatte, gab er der Frau das Geld und sagte ihr,
sie solle es zu dem Kaufmann N. tragen, aber nicht eher als um 11 Uhr.
Die glückliche Frau ergoß sich in heißem Danke und versprach, seine Be-
fehle genau zu vollziehen.
Gellert kannte den Kaufmann N. Er kleidete sich sogleich um und
ging vor 11 Uhr zu ihm. Als er in des Kaufmanns Stube trat, fand er
ihn beim Einrollen einer sehr großen Geldsumme und sah es ihm deutlich
an, daß er ungelegen kam. Der Kaufmann strich unwillig das Geld in
eine Schublade des Tisches und wollte eben eine unwirsche Frage thun, als
er sich noch besann und Gellert höflich grüßte.
Gellert setzte sich und sagte: „Von Ihnen kann man gewiß viel Gutes
lernen; denn ein so gesegneter Mann, wie Sie, wird es nicht unterlassen,
von seinem Reichtume den gesegnetsten Gebrauch zu machen. Sie kennen
gewiß die große Kunst, anderen wahrhaft wohlzuthun." Der Kaufmann,
der mit seinen Gedanken noch halb bei seinem Gelde war, verstand nicht
recht, was Gellert wollte, und antwortete sehr zerstreut: „Ach ja, ganz recht!"
Gellert fuhr fort, mit der Wärme seines edlen Herzens von den
Freuden des Wohlthuns und der Menschenliebe zu reden. Selbst noch
ergriffen von dem Andenken an die arme Frau, sprach er so ergreifend,
daß der Geizhals in seines Herzens Grunde bewegt wurde. Da öffnete
sich die Thür, und die arme Frau trat herein und legte die dreißig
Thaler auf den Tisch, indem sie sagte: „Da haben Sie das Geld! Aber
nun geben Sie mir auch das Briefchen wieder, das mein armer, kranker
Mann geschrieben hat, damit Sie uns nicht aus dem Hause werfen lassen!"
Noch erfüllt von Gellerts schönen Worten, geriet der Kaufmann in eine
große Verlegenheit.
Er suchte das zu bemänteln und sagte: „Ei, das hätte ja Zeit gehabt!
Wie kann Sie nur so reden? Sie sieht ja, daß ich — Besuch — habe —
doch —Er besann sich schnell; der Geldhunger übermannte ihn, und er
begann das auf dem Tische liegende Geld zu zählen.
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„Ja, ja", sagte die Frau, „Zeit hin, Zeit her! Sie haben mich
heute früh hart angefahren. Einen kranken Mann und vier todkranke
Kinder, kein Geld für Arzenei, keins für 23rot; ach, das ist hart! Und nun
noch aus dem Hause geworfen werden, das ist entsetzlich! Als ich in der
Verzweiflung herumlief, da begegnete ich da diesem Herrn —" (Gellert
winkte ihr, zu schweigen). „Ja", fuhr sie fort, „Winken Sie nur, ich muß
es doch sagen — der gab mir das Geld."
Der karge Reiche fuhr betroffen herum und sah Gellert an. Was
dieser ihm eben gesagt, war noch frisch in seinem Gedächtnisse. „Sie
haben das gethan?" fragte er mit Erstaunen. Tief ergriffen von dem
Gedanken, daß der arme Gellert das gethan, wandte er sich jetzt zu der
Frau und sagte: „Hier haben Sie das Briefchen, aber auch die dreißig
Thaler. Pflegen Sie Ihren kranken Mann und Ihre Kinder damit!"
Und zu Gellert sagte er: „Ich sehe, Sie können nicht nur schon reden,
sondern auch schön handeln! Um aber mein Unrecht einigermaßen wieder
gut zu machen, so erlauben Sie mir, daß ich Sie zu der armen Familie
begleite! Sie sollen mich auch von einer anderen Seite kennen lernen!"
Mit Freuden nahm dies Gellert an. Beide fanden die Familie im
tiefsten Elende. Gellert übernahm es, ihr ärztliche Hilfe zu verschaffen,
und der Kaufmann sorgte für alle übrigen Bedürfnisse. Von nun an ging
der Familie ein neues Leben aus, und der Kaufmann, auf dessen Herz
Gellerts Wort und Beispiel so verbessernd gewirkt, ließ es bei dieser WoHO
that nicht bewenden; er nahm den ältesten Sohn in seine Dienste, zahlte
für die übrigen Kinder das Schulgeld und erwies sich als unermüdeter
Wohlthäter derselben. O. v. Horn.
166. Das Glück durch die Gelbwurst.
Der alte Tuchfabrikant Keller pflegte gern folgende Geschichte zu
erzählen: Ich war erst kurze Zeit aus der Fremde zurück und hatte mein
eigenes, kleines Geschäft angefangen. Da war die Leipziger Ostermeffe,
und ich reise hin und nehme einen Kreditbrief von 1000 Speziesthalern
mit. Das war, wenn man alle Winkelchen zusammenkehrt, mein ganzes
Vermögen; ich war aber jung und gesund, und was glaubt man da nicht
mit 1000 Speziesthalern machen zu können. Ich reise also nach Leipzig
und gebe meinen Kreditbrief im Hause Frege und Comp. ab. Der alte
Frege läßt meinen Namen in sein Buch einschreiben und wünscht mir gute
Geschäfte. Ich sehe aber bald, daß sich mit 1000 Thalern nicht viel
machen läßt. Was thut's? Geht nicht viel, so geht wenig; besser leiern
als feiern, sagt das Sprichwort. Ich suche mir also eine Partie Wolle
aus und gehe hin, um mein Geld zu holen. Da sagt mir der alte Frege,
es sei gut, daß ich komme, er habe nicht gewußt, wo ich logiere. Ich
hatte das gerne nicht gesagt, da ich wieder wie einst als Handwerksbursche
in der Herberge wohnte. „Nun", sagte der alte Frege, „essen Sie morgen
Mittag bei mir, Sie werden da noch große Gesellschaft finden." Ich
konnte nichts Rechtes daraus erwidern und ging weg. Ich erkundigte mich
241
nun, was man bei einer solchen Einladung zu thun hat und was dabei
herauskommt. Mau sagt mir, daß es Sitte sei, daß jedes große Hand-
luugshaus seine Empfohlenen durch eine Einladung, wie man sagt, abfüttert,
daß nicht viel dabei herauskommt, als daß man das Essen teuer bezahleil
muß, indem es mindestens l1/« Thaler Trinkgeld an die Bedienterl kostet.
Das war mir nun gar nicht lieb. Ich rechnete aus, daß mir von
1000 Thaler nur noch 998^2 blieben, und für ein Mittagessen konnte ich
nicht so viel ausgeben. Andern Mittags war ich kurz resolviert. Ich
kaufe mir für zwei Groschen Gelbwurst, für sechs Pfennige Brot, steck' es
zu mir uild geh' hinaus vor das Thor, in das sogenannte Rosenthal.
Mein Tisch war schnell gedeckt. Ich setz' mich ans eine Bank und wickele
meine Sachen heraus, ich zerschneide die Gelbwurst in sechs Teile und lege
sie neben mich hin; das, sage ich, ist meine Suppe, das mein Fleisch, das
mein Gemüs mit Beilage, das meine Fische und das mein Braten und
Salat. Ich glaube nicht, daß sie drinnen in der Stadt, bei Frege, mehr
hatten, und daß es ihnen besser schmeckt. Ich war eben an der süßen
Schüssel, sie war sehr gut zubereitet, da seh' ich einen Mann auf einevl
schönen Braunen daherreiten. Der, deilk' ich, macht sich noch ein bißchen
Bewegung vor dem Essen, daß es ihm besser schmeckt. Ich wünsche ihm
meinen gesunden Magen, ich brauchte kein Pferd müde zu reiten, um tüchtig
einhanen zu können. Schneller, als ich dies sage und denke, ist der Reiter
bei mir, und zu meinem Schrecken seh' ich, es ist der Herr Frege selber. In
meiner Angst fällt mir der letzte Bissen von meiner süßen Speise aus der
Hand, und der voraufspringende Hund schnuppert's gleich auf; ich wickele
schnell mein Papier zusammen und weiß mir gar nicht zu helfen. „Ei,
Herr Keller!" sagt der Herr Frege, „was machen Sie da? Glauben Sie,
Sie bekommen bei mir nicht genug zu essen?"
Was soll ich darauf sagen? Ich denk', du bleibst bei der Wahrheit.
Ich sag' ihm nun, daß es sich bei mir nicht austragen will, gegen zwei
Thaler Trinkgeld für ein einzig Mittagessen zu geben, und so und so, und
daß ich mir vorgenoinmen habe, mich heute abend oder morgen früh zu
entschuldigen, weil ich nicht kommen kann. — Da lacht er ganz laut auf
und sagt: „Ja, das müssen Sie ja thun, sonst werd ich bös; ich erwarte
Sie um fünf Uhr, fehlen Sie ja nicht, wünsch' gesegnete Mahlzeit!" Und
fort war er mit seinem Braunen. Ich weiß nun gar nicht, was ich machen
soll; ich denk' aber nun, fressen wird er dich nicht, er muß um fünf Uhr
noch genug haben vom Mittag her. — Wie's also fünf Uhr geschlagen hat,
geh' ich hin, man weist mich in sein Kontor, und da kommt er mir entgegen,
nimmt mich bei der Hand und führt mich in das Kabinettchen und sagt zu
mir: „Lieber Herr Keller, Sie haben für 10 000 Thaler Kredit bei mir;
wenn Sie aber das Doppelte brauchen und auch noch mehr, sagen Sie mir's
nur offen." — Ich sag': „Sie irren sich, ich habe nur für 1000Thaler."
Da sagt er mir: „Es bleibt dabei, wie ich schon gesagt habe; Sie sind
ein Mann, der zu sparen weiß, und heut' abend essen Sie ganz aiiciu bei
mir in meiner Familie." Und so hab ich's auch gemacht, und da hat mir
noch besonders gefallen, daß er die Geschichte seiner Frau und seinen
Das Vaterland. 16
242
Kindern nicht erzählt hat, bis ich von Leipzig fort gewesen bin. Er hat
wohl gemerkt, daß es mir leid thäte, wenn man auch in aller Güte darüber
lachen würde. So ist's mir durch die Gelbwurst möglich geworden, eine
der größten Tuchfabriken anzulegen, und so lange der alte Frege gelebt hat,
habe ich jede Messe bei ihm allein zu Nacht gegessen, und da ist immer
zuletzt noch Gelbwurst aufgetragen worden. Bertholt» Auerbach.
167. Die Posaune des Gerichts.
Gerade dort, wo die Gemarkungen zweier Dörfer sich scheiden, mitten
im Walde, wurde in der Frühlingsnacht zur. Zeit des Vollmondes eine
schreckliche That vollbracht. Ein Mann knieete auf einem andern, der leb-
los dalag. Eine Wolke verhüllte das Antlitz des Mondes; die Nachtigall
hielt inne mit ihrem schmetternden Gesang, als der Knieende den Dahin-
gestreckten aussuchte und alles, was er fand, zu sich steckte. Jetzt nahm er
ihn auf die Schulter und wollte ihn an den Strom, der ferne rauschte, hinab-
tragen, um ihn dort zu versenken. Plötzlich blieb er stehen, keuchend
unter der toten Last. Der Mond war herausgetreten und warf sein sanftes
Licht durch die Stämme, und es war, als ob auf den Strahlen des Mondes
die Töne eines herzzerreißenden Liedes getragen würden. Ganz nahe blies
ein Posthorn die Weise des Liedes: „Denkst du daran!" Dem Tragenden
ward's, wie wenn die Leiche aus seinem Rücken lebendig würde und ihn
erwürge. Schnell warf er die Last ab und sprang davon, immer weiter
und weiter. Endlich am Strome blieb er stehen und lauschte hin; alles
war still, und nur die Wellen flössen schnell dahin, als eilten sie fort von
dem Mörder. Dieser ärgerte sich jetzt, daß er die Spuren seiner That
nicht vertilgt hatte und sich von sonderbarer Furcht forttreiben ließ. Er
eilte nun zurück, wandelte hin und her, bergauf und bergab; der Schweiß
rann ihm von der Stirn; es war ihm, als ob er Blei in allen Gliedern
hätte. Mancher Nachtvogel flog aus, wenn er durchs Dickicht drang; aber
nirgends fand er das Gesuchte. Er hielt an, um sich zurecht zu finden,
um sich die Gegend genauer zu vergegenwärtigen; aber kaum war er drei
Schritte gegangen, so war er in der Irre. Alles flimmerte vor seinen
Augen, und es war ihm, wie wenn die Bäume auf- und niederwandelten
und ihm den Weg verstellten. Der Morgen brach endlich an; die Vögel
schwangen sich auf und sangen ihre hellen Lieder; vom Thäte und aus den
Bergen hörte man Peitschen knallen. Der Mörder machte sich eiligst davon.
Die Leiche wurde gefunden und nach dem Dorfe gebracht, in dessen
Gemarkung sie lag. An der rechten Schläfe trug der entseelte Körper
Spuren eines Schlages, wie von einem scharfen Steine. Kein Wanderbuch,
kein Kennzeichen war zu finden, aus dem man die Herkunft des Entseelten
entnehmen konnte. Auf dem Kirchhofe, der neben der Kirche hoch oben aus
dem Hügel liegt, an dessen Fuße die Landstraße, in Felsen gehauen, sich
vorüberzieht, sollte nun des andern Tages der tote Fremde begraben wer-
den. Eine unzählige Menge Menschen folgte dem Zuge. Sie waren aus
ollen benachbarten Dörfern gekommen; jeder wollte seine Unschuld, seine
243
Trauer und seine Teilnahme bekunden. Still, ohne laute Klage, nur mit
tiefem Weh im Herzen, bewegte sich der Zug den Berg hinan. Der Geist-
liche hielt eine ergreifende Rede. Zuerst redete er den Entseelten an und
sprach:
„Auf dem Wege bist du gefallen. Wer weiß, wohin dein Herz sich
sehnte, welches Herz dir entgegenschlug. Möge der, der alles kennt und
alles heilt, Ruhe und Frieden in die Seelen der Deinigen senden. Unbekannt
bist du gefallen von unbekannter Hand. Niemand weiß, woher du kamst,
wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang und deinen Ausgang kennt,
hat dich Bahnen hinaufsteigen lassen, die unser Auge nie mißt. Zu welcher
Kirche du gehörtest, welche Sprache du redetest, wer mag den stummen
Mund fragen? Du stehst jetzt vor ihm, der über allen Kirchen thront, den
alle Sprachen nennen und doch nicht zu fassen vermögen." — „Erhebet mit
mir eure Hände", fuhr der Geistliche zu den Versammelten fort, und alle
hoben die Hände empor; dann sprach er wieder: „Wir heben unsere Hände
empor zu dir, o Allwissender! Sie sind rein von Blutschuld. Hier im Lichte
der Sonne bekennen wir: Wir sind rein von der That. Die Gerechtigkeit
aber wird nicht ausbleiben. Wo du auch weilest, der du deinen Bruder in
Waldesnacht erschlugst, das Schwert schwebt unsichtbar über deinem Haupte,
und es wird fallen und dich zerschmettern. Kehre um, so lauge es noch
Zeit ist. Häufe nicht Frevel auf Frevel; denn einst, wenn sie ertönt, die
Posaune des Gerichts------------"
Da plötzlich hörte man von der Straße herauf das Posthorn erschallen.
Das Lied erklang: „Denkst du daran", — alles schwieg und hielt den
Atem an. — Aus der Mitte der Versammlung stürzte ein junger Mann
nieder und rief: „Ich biu's!" — Nachdem man ihn aufgehoben, gestand ei-
reumütig seine That, wie er in der Stadt das Geld des Herrn, bei dem
er diente, verspielt habe; wie er den Fremden, den er nur niederwerfen
wollte, ermordet habe; wie das Posthorn ihn verwirrt, wie er seine Hand
brennend gefühlt, als er sie zum Himmel erhob, und wie jetzt dieselben Töne
des Posthorns ihm das Geständnis abpreßten.
Still, ohne laute Klage, nur mir leisem Weh im Herzen, hatte sich
der Zug den Berg hinab bewegt; mit zitternder Seele, Thränen in den
Augen, laut das Unheil beklagend, kehrten viele heim. Zwei Menschen waren
aus ewig aus der Genossenschaft der Menschen geschieden.
Berthold Auerbach.
168. Der gekreuzte Dukaten.
Wenn ich nur hunderttausend Thaler hätte! Das hast du vielleicht
auch schon oft gedacht und gesagt. Ich nehme dir den Hunderttausend-
Wunsch nicht übel, es ist keine schlimme Sache ums Reichsein; aber das
Glück macht es doch nicht aus, davon kann ich eine Geschichte erzählen.
Ein junger Mann hatte seine hunderttausend Thaler geerbt, und er
begnügte sich auch damit; er wollte bloß sein Geld verzehren, arbeiten aber
wollte er nicht; das, meinte er, sei nur etwas für unbemittelte Leute.
16*
244
Daher hatte der Herr Adolf gar kein Geschäft als essen, trinken, schlafen^
spazieren gehen oder reiten und was ihm sonst noch einfiel. Ja, das Ans-
und Anziehen war ihm viel zu viel, und er hielt sich einen Kammerdiener. Wenn
er des Morgens erwachte, wußte er eigentlich gar nicht, warum er aufstellen
sollte; es warteten kein Geschäft und keine Freunde auf ihn. Darum blieb
er auch fein liegen, bis ihm das zu beschwerlich war. Fast ging es ihm lvie
jenem Engländer, der aus purer Langeweile, um sich nicht mehr aus- und
anziehen zu müssen, sich das Leben nahm. Das Nichtsthun und die Ver-
treibung der Langeweile sind eigentlich schon ein Selbstmord. Herr Adolf
machte dann jeden Vormittag seinen Spazierweg, damit er den Nachmittag
für sich frei und nichts mehr zu thun habe. Meist lag er auf dem Sofa,
gähnte und rauchte. Dabei hatte er mitunter noch seine besonderen Gedanken
Jeder Mensch, dachte er, hat so eine Summe von Kraft mit auf die Welt
bekommen, die für seine siebenzig Jährlein oder auch mehr ausreichen muß.
Wenn ich also einen schweren Stuhl von einem Orte an den andern hebe.
ist damit ein Stück von meiner Lebenskraft aufgewendet und verbraucht —,
drum laß ich's hübsch bleiben. Ans solche Gedanken kann ein Nichtsthuer
kommen!
Der Herr Adolf ward aber dick und kränklich und mußte seinen Leib
pflegen. Das war auch noch ein Geschäft.
Das Jahr durch ging dem Herrn Adolf manch schönes Stück Geld durch
die Hand, und dabei hatte er die besondere Liebhaberei, daß er bei jeder
Goldmünze, die er ausgab, ein kleines, zierliches Kreuz unter die Nase des
geprägten Herrschers machte. Er dachte wenig dabei, denn er hatte ja
Geld genug; ihn kümmerte überhaupt nicht, wie's anderen Menschen erging,
obgleich er manchmal aus angeborener Gutmütigkeit einem Armen etwas
schenkte. Ich will nur einmal sehen, dachte er, ob nach langer Umher-
wanderung in der Welt mir einmal wieder so ein Goldstück unter die Hände
kommen wird. Da nun der Herr Adolf gar nichts war, so nahm er sich
ernstlich vor, etwas zu werden, und er ward ein Reisender. Das ist noch
immer ein Titel, wenn man sonst weiter nichts ist. Er reiste nämlich von
einer Stadt in die andere, von einem Land ins andere und ließ sich's überall
Wohlsein, und wo er etwas zu bezahlen hatte, da gab er die mit seinem
Ordenskreuze gezierten Goldstücke hin. Noch nie aber war es ihm vor-
gekommen, daß er eins wieder gesehen hätte. Endlich war er des Herum-
reisens auf dem festen Lande müde, er verließ die alte Welt und schiffte
sich nach Amerika ein. Nun war der Herr Adolf noch etwas mehr als
ein Reisender, er war sogar ein Auswanderer. Diesmal aber ging's gar
schlecht auf der See, fünf Tage und fünf Nächte wütete ein gewaltiger
Sturm; alles, was ans dem Schiffe war, mußte mit Hand ans Werk legen,
aber alles vergebens, das Schiff ging unter, und nur der Beherztheit des
Schiffshauptmanns gelang es, die Mannschaft und die Reisenden in eine
Schaluppe zu rethen. Nach zwei Tagen fürchterlichen Umherirrens und
schrecklicher Hungersnot, in welcher viele starben, wurden die Verschlagenen
von einem Kauffahrteischiffe aufgenommen und in den Hafen von Boston
gebracht. — Arm, hilflos und verlassen irrte hier Adolf umher, und er
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wünschte sich oft, daß er mit den anderen von den Wellen begraben wäre.
Da sah er einen Mann eilig des Weges gehen; mit niedergeschlagenem
Micke bat er ihn um eine Gabe. Der Mann griff in die Tasche, reichte
ihm ein Stück Geld und war schnell verschwunden. Als Adolf wieder seinen
Blick emporhob und das Geld betrachtete, wollte er seinen Augen kaum
trauen, — es war ein holländischer Dukaten, der das Ordenszeichen von
seiner eigenen Hand unverkennbar trug. Sei es nun, daß der Mann sich
vergriffen hatte, oder daß er wirklich eine so namhafte Gabe schenken wollte,
Adolf dachte nicht lange darüber nach, und er weinte helle Thränen auf das
einzige Goldstück, das ihm von seinem ganzen Reichtume als Bettlergabe
wieder zugekommen war. Mit Wehmut dachte er daran, daß er es wieder
weggeben und vielleicht nie mehr sehen sollte. Da begegnete ihm eine große
Menge von Arbeitern, die an einer Straße arbeiteten; schnell war er ent-
schlossen und ließ sich unter ihre Zahl einschreiben. Ein sonderbarer Gedanke
tröstete ihn bei dieser ungewohnten Lebensweise. „Ich brauche eigentlich
nicht zu arbeiten", sagte er sich in der ersten Zeit und fühlte dann an seine
Brust, wo er den Dukaten verborgen hatte, „ich habe ja Geld und könnte
eine ganze Woche und länger davon leben oder etwas anderes damit an-
sangen; aber ich arbeite, weil mir's Vergnügen macht." Dann aber machte
er einen Spaß daraus und sagte oft: „Ich arbeite bloß zu meinem Ver-
gnügen. Ich arbeite, damit ich was zu essen habe, und das Essen macht
mir dann Vergnügen." Nach und nach aber erkannte er, daß nichts Ent-
würdigendes, ja die Ehre und der Lebenszweck allein darin liege, für den
Genuß seines Daseins und für das, was man von der Welt hat, auch etwas
zu thun. Früher hatte er gedacht, durch das Wegrücken eines Stuhles, ja
durch jede Thätigkeit seine Lebenskraft zu schwächen; jetzt erkannte er, daß,
je mehr man seine Kräfte braucht, sie um so mehr wachsen und zunehmen,
daß die Lebenskraft durch Thätigkeit immer neu erzeugt wird.
So war Adolf, für den die Straßen früher nur da gewesen waren,
um als vergnügungssüchtiger Reisender darauf herumzurutschen, ein Bahn-
macher und Straßenarbeiter für andere. Mit der Zeit aber gelangte er
auch zur Stelle eines Aufsehers bei dem Straßenbau, und er freute sich in
dem Gedanken, daß von seinem Dasein auf der Welt noch andere Spuren
hinterblieben als die bloßen Kreuze auf dem Gelde, das ihm durch die
Hand gegangen war. Lange Zeit hatte er den Dukaten als Andenken auf-
bewahrt, bis er endlich eingesehen hatte, daß auch dieser nicht ruhen darf
in dem großen Weltverkehre, und er schenkte ihn einer armen Witwe, deren
Mann bei dem Straßenbaue verunglückt war. Bertholt» Auerbach.
169. Der Geitzbub von Solenhofen.
An der Altmühl, ungefähr eine Viertelstunde unterhalb Solenhofen,
ist eine Glashütte im Gange. Das Holz zu den Öfen kann leicht über die
jähen Bergwände herabgelassen werden, und der reine, zuckerweiße Sand
findet sich da und dort in Nestern einen oder wenige Schuhe unter dem
Rasen. Ehe man aber anfing, diesen Sand in Glas zu verwandeln, bestreuten
246
ober fegten schon die Hausfrauen in der Umgegend ihre Stubenböden, Tische
Bänke und hölzernen Geschirre damit und kauften ihn von Weibern, die ihn
bei Solenhofen gruben und in kleinen Säckchen zum Verkaufe in die um-
liegenden Orte trugen.
In der ältesten Zeit befaßte sich mehrere Jahre hindurch nur ein einziges
Weib mit diesem beschwerlichen Handel, bei welchem sie oft über fünfzig
Pfund auf dem Rücken aus- und ein paar Heller in der Tasche dafür heim-
trug. Sie war eine Witwe im mittleren Alter und hatte einen Knaben von
zwölf Jahren, der im Sommer die Ziegen des Ortes hütete und im Winter
mit seiner Mutter in den unterirdischen Felsklüften Sandnestcr aufsuchte
und ausbeutete, wenn man vor Schnee und Eis in den Boden kommen
konnte.
Einmal, in einem besonders harten Winter, wollte es den guten Leuten
gar nicht gelingen. Lange Zeit hindurch war der Boden so hart gefroren
und so hoch mit Schnee bedeckt, daß sie gar nicht zu ihrer unterirdischen
Nahrungsquelle gelangen konnten. Der kleine Vorrat an Sand, den sie
sich im Herbste gegraben hatten, ging zu Ende und mit ihm das Brot, das
sie sich für die erlösten Pfennige aus den benachbarten Orten mitzunehmen
pflegten. Dazu ging das Futter für ihre Ziegen auf die Neige, und in der
Hütte waren nun vier Geschöpfe, denen der Hunger aus den Augen sah.
Der Knabe liebte seine Mutter und bewies seine Liebe am meisten dadurch,
daß er nie über seinen Hunger klagte, sondern geduldig von einer Mahl-
zeit auf die andere wartete und überhaupt alles vermied und verbarg, was
ihr das Herz noch schwerer machen konnte. Aber fast die ganze andere
Hälfte seines Herzens war den Ziegen zugewandt, und es wollte ihm brechen,
wenn er sah, wie sie vom Hunger getrieben an der Kufe hinaussprangen
und vergebens Hals und Zunge ausstreckten, um die Neige darin zu erreichen.
Hätten sie von seinen schönen Worten und Vertröstungen auf den nahen
Frühling satt werden können, dann hätten sie reichliches Futter gehabt.
Aber so wurden sie immer magerer, und der Knabe entschloß sich endlich
für sie zu thun, was er noch nicht einmal für seine Mutter gethan hatte.
Er ging zum Abt des naheliegenden Benediktinerklostcrs und bat, er
möge ihm doch nur erlauben, das Heu aufzulesen, das die Klosterkühe unter
den Barren und unter die Streu würfen. Und da der Abt den Knaben
und seine Mutter wohl kannte und wußte, daß sie dessen bedürftig waren,
gab er es gern zu und sagte: „Mein Söhnlein, du darfst alle Tage, wenn
unsere Kühe zur Tränke getrieben werden, kommen und holen, was sie unter
dem Barren liegen lassen, und wenn der Bruder Küchenmeister etwas übrig
hat, so wird er es dir auch mitgeben für dich und deine Mutter." Dann
segnete er ihn, und froh und getröstet ging der Knabe von dannen.
In der Hütte der Witfrau hatte nun die Not ein Ende. Bald kam
auch der warme und freundliche Frühling. Die Witwe entdeckte wieder
eine ergiebige Sandgrube, und ihr Benedikt trieb als gedungenes Ziegen -
hirtlein die Ziegen des Dorfes auf die hohen, luftigen Berge. An Unter-
haltung fehlte es ihm auch auf den einsamen Höhen nicht. Da lag der
damals noch unbenutzte Kalkschiefer so am Tage, daß es ihm leicht ward,
247
Platten davon heraus zu holen, aus denen er mit einem ganz kleinen
Hammer regelmäßige Vierecke anfertigte.
Was man so oft in unrichtiger Weise Zufall nennt, führte den Knaben
zu einer wichtigen Erfindung. Benedikt legte einmal eine Schieferplatte,
wie er sie aus dem Boden gebrochen hatte, auf seinen Schoß, zeichnete mit
einer Kohle von feinem Hirtenfeuer ein Viereck darauf und sprach dann bei
sich: Wenn ich fünfzig solche viereckige Tafeln hätte, könnte ich unsere ganze
Hausflur damit belegen, wo jetzt die Hühner scharren, wenn es draußen
regnet. Und während er dies dachte, klopfte er mit seinem Hämmerlein auf
dem einen schnurgeraden Kohlenstrich sanft auf und ab; denn er freute fiel)
über den hellen Klang der Platte. Aber auf einmal wurden die hellen
Töne dumpf und immer dumpfer, wie bei einer zersprungenen Glocke, und
zuletzt sprang die Tafel gerade in der Richtung des Kohlenstriches mitten
entzwei. Ist es da so gegangen, dachte nun Benedikt, so kann es bei den
übrigen drei Seiten eben so gehen, und er hämmerte auch auf dem zweiten
Kohlenstrich eine Weile vorwärts und rückwärts. Sein Schluß war richtig.
Nachdem er noch einige Minuten so fortgeklopft hatte, lag eine vollkommen
viereckige Platte aus seinen Knieen. Eine zweite gelang nicht minder, und
so ging es fort. Früher schon hatte er manchmal zwei Schiefertrümmer an-
einander gerieben, um sie zu glätten, und gefunden, daß er damit am schnell-
sten zustande kam, wenn er von dem Sande, mit dem seine Mutter handelte,
dazwischenthat und Wasser dazunahm. Diese frühere Erfindung wandte
er nun auf seine Pflastersteine an und gewann so einige sehr schöne Platten.
Indes trieb er dies alles als eine bloße Spielerei und sagte davon
niemanden etwas, selbst seiner Mutter nicht. Seine schönsten Platten verbarg
er da und dort unter einem.Busche. Eines Abends aber, als er eingetrieben
hatte und seiner Mutter gegenüber an der Suppenschüssel saß, erzählte sie
ihm, daß sie mit Sand in Eichstädt gewesen und dort dem Bischöfe so nahe
gekommen sei, daß sie jedes seiner Worte verstanden habe. „Was sagte er
denn?" fragte Benedikt. „Er stand", antwortete die Mutter, „mitten unter
den Domherren in der neuen Kirche, die er hat bauen lassen, und berat-
schlagte mit ihnen, mit was für Steinen der Fußboden belegt werden dürfe.
Der eine riet dies und der andere das, bis der ehrwürdige Herr der Unter-
redung damit ein Ende machte, daß er sagte: „Nun, morgen um die elfte
Stunde haben wir die fremden Steinmetzen hierher bestellt und wollen die
Proben beschauen, die sie von allerlei Sand und Marmelsteinen bei sich
haben, aber wir fürchten, ein solches Pflaster möchte zu teuer kommen. Wir
werden uns wohl die Backsteine gefallen lassen müssen, die am wohlfeilsten
sind." „So, so!" versetzte Benedikt, warf seinen Löffel von Horn in die
Tischlade, wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und ging unter das Dach
hinauf in seine Schlafstätte.
Das Sandweib hatte übrigens den Fürstbischof ganz recht verstanden.
Schon bald nach der elften Stunde versammelteil sich in der neuen Kirche
zu Eichstädt etliche Steinmetzen, die der Bischof aus Tirol, dem Fichtel-
gebirge und dem Rheingau auf feine Kostell hatte kommen lassen. Tie Stein-
proben trugen ihnen ihre Gesellen in kleinen hölzernen Kasten nach und
248
stellten sie neben einander auf eine lange Tafel. Daraus fanden sich nach
und nach mehrere Grasen und Herren aus der Nachbarschaft ein, die schon
reichlich zu dem Kirchenbaue beigesteuert hatten und nun auch bei dem
Pflaster ein übriges thun sollten. Endlich erschien auch der Fürstbischof
mit der ganzen Geistlichkeit, und als alle beisammen waren, schien es fast,
als sollte eine Kirchenversammlung abgehalten werden; so viele waren ihrer.
Der Bischof nahm nun die schön geschliffenen Proben aus den Kästlein,
eine nach der andern, und es war keine darunter, die ihm und seinem
Gefolge nicht gefallen hätte. Auch waren zum Teil die kleinen Marmel-
steine in den Schubladen so neben einander gelegt, daß man schon im kleinen
sehen konnte, wie herrlich schön ein Steinpflaster davon im großen aus-
fallen würde. Aber als die fremden Steinmetzen nach einander sagten,
was der Qnadratsuß an Ort und Stelle koste, und als der Baumeister an
den Fingern berechnete, wie viel Quadratfuß er brauche, und als der Rent-
meister die Gesamtsumme in Goldgulden aussprach, fuhr der Bischof mit
der Hand hinter da^ Ohr, und sein Schatzmeister schüttelte mit dem Kopfe,
und die Grasen und Herren machten große Augen. Alle standen und sahen
einander schweigend an.
In diesem Augenblicke entstand unter dem Hauptportale der Kirche
ein Geräusch. Zwei Trabanten des Fürstbischofs wollten einen barfüßigen
Bauernknaben nicht hereinlassen und hielten ihre Hellebarden vor, aber der
Knabe duckte sich, schlüpfte darunter hinweg wie eine Henne unter der
Gartenthür und drängte sich dann ohne Umstände mitten durch die Ver-
sammlung, bis er vor dem Bischöfe stand, dem er den Saum seines Kleides
küßte. Seine Mütze nahm er zwischen die Kniee drei viereckige und zoll-
dicke Schieferplatten, eine blaßgelbe, eine blaugraue und eine marmorierte,
nahm er aus der Schürze, mit welcher sie umwickelt waren, und legte sie
auf die Tafel. Sie waren noch naß, denn er hatte sie erst in den Dom-
brunnen getaucht. Desto mehr aber glänzten die geschliffenen Seiten und
zeigten, wie schön die Steine erst dann werden würden, wenn eine kunst-
geübte Hand darüber käme. Seine Ware zu empfehlen, meinte der Knabe,
sei nicht nötig, sondern er schaute nur einem der Umstehenden nach dem
andern ins Gesicht und wischte sich mit der Schürze den Schweiß von der
Stirne. Als aber der Bischof anfing, ihn zu fragen, antwortete er munter
und sprach: „Ich gehöre dem Sandweibe von Solenhofen, und die Steine
habe ich auf dem Berge hinter dem Kloster gemacht. Und wenn Ihr noch
mehrere braucht, so dürft Ihr mir nur Eure Steinhauer mitgeben, so will
ich ihnen zeigen, wie sie es anfangen müssen."
Denn der Knabe war Benedikt, unser Ziegenhirtlein. Er hatte nach
der Abendsuppe nicht mehr geschlafen, sondern ein Gedanke, der ihm unter
dem Essen gekommen war, hatte ihn durch die Hinterthür hinaus auf den
Berg, wo seine Steine lagen, und von da mit ihnen in der mondhellen
Nacht gen Eichstädt getrieben, wohin er den Weg von dem Sandhandel
her genau kannte. Seine Mutter erschrak, als sie ihn in aller Frühe
wecken wollte und das Nest leer fand. Und sie konnte nicht einmal gehen,
ihn zu suchen oder ihm nachzufragen; denn die Ziegen waren schon alle
249
aus den Ställen gelassen und standen meckernd auf der Gasse oder naschten
von den Blumenstöcken an den Fenstern des Pfarrhauses. Übel oder wohl
mußte sie thun, als wäre Benedikt krank. Sie nahm Geißel und Stecken
und trieb das Vieh selbst auf den Berg, wo sie den langen, langen Tag
unter vergeblichem Warten und Sorgen zubrachte. Aber als sie abends
hinter der gehörnten Schar das Dorf hinunterging, kamen einige Maultiere
herauf ihr entgegen. Auf dem vordersten saß ihr Benedikt hinter einem
Knechte des Fürstbischofs und zwar so munter, daß die Witfrau sogleich
sah, es müsse ihm den Tag über nicht schlecht gegangen sein.
Und so war es auch. Der Bischof hatte sich sogleich für die Pflaster-
steine des Sandbuben entschieden und die fremden Steinmetzen wieder in
ihre Heimat entlassen. Den Knaben aber hatte er mit sich ins Haus ge-
nommen, gespeist und versichert, daß er für ihn und seine Mutter sorgen
wolle. Dann hatte er ihn mit dem Baumeister, der das Steinlager unter-
suchen sollte, nach Solenhofen zurückgehen lassen.
Der Bischof hielt Wort. Nachdem Benedikt bei einem Meister
Steinmetz in Eichstädt in der Lehre gewesen war, ließ er sich in Solenhofen
nieder und hatte fortwährend so viele Bestellungen an Pflaster- und
Quadersteinen, daß es ihm und seiner Mutter nie mehr an dem täglichen
Brote fehlte. K. Stöber.
170. Das Handelshaus Gruit van Steen.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Beginne des 17. Jahr-
hunderts eines der angesehensten, reichsten und festbegründetsten in Ham-
burg. Inhaber war damals Herr Hermann Gruit, der nach dem Tode
des ehrwürdigen Vaters mit der Handlung und dem Hause auch den alten
Jansen als Erbstück überkommen hatte, einen goldtreuen Diener des Hauses,
mit Leib und Seele, wie sonst dem alten, nun dem jungen Herrn zugethan,
welchen er schon als Kind auf den Knieen geschaukelt hatte. Wenige ver-
standen das Handelswesen damaliger Zeit bis in seine äußersten Verzweigun-
gen so von Grund aus wie der alte Jansen; daher galt auch sein Wort in
der Schreibstube wie das des Herrn selbst.
Der dreißigjährige Krieg verheerte schon seit zwanzig Jahren unser
armes Vaterland durch Raub, Mord und Brand von einem äußersten Ende
zum andern; Städte und Dörfer waren zu Hunderten verheert und ver-
lassen von den Bewohnern, die mit dem Viehe in die Wälder geflohen
waren, um sich vor den räuberischen, blutigen Händen der gottlosen Lands-
knechte zu retten. Bei diesem allen und bei der Unsicherheit der Landstraßen
in allen Ländern war es kein Wunder, daß der Handel stockte, und vor-
züglich der Betrieb ins Innere von Deutschland gelähmt war. Das fühlte
man auch im Kontor des Herrn Hermann Gruit, da schon seit längerer
Zeit viel seltener und weniger bepackt die Saumrosse und Frachtwagen vor
dem Hause hielten; und im Hause war es oft wochenlang so still wie in
einer Kirche, während es sonst manchen Tag in und vor dem Hause fast so
lebhaft herging als auf dem großen Markte.
250
Da geschah es eines Morgens, nachdem Herr Jansen im Kontor
lange den Kopf geschüttelt und dann noch länger gedankenvoll von seinen
Briefen weg hinaus an die branngetäfelte Zimmerdecke so starr geschaut
hatte, als wollte er die Fliegen oben zählen, daß er sechsmal nach einander
mit seinem Schwanenkiel in das große, silberne Tintenfaß tunkte, die über-
volle Feder gewaltig auf den Tisch stampfte und dadurch den vor ihm
liegenden, angefangenen Brief, von oben bis unten mit Tintenflecken mar-
moriert, aus einmal fertig machte. Herr Hermann ihm gegenüber fuhr fast
vom Sitze auf und sagte: „Ei, Jansen, seid Ihr denn heute, vielleicht zum
ersten Male in Eurem Leben, in den Ratskeller geraten und habt von einem
spanischen Fäßlein gekostet?" „Nein, Herr," antwortete Jansen mürrisch,
„aber so geht's nimmer; bei uns in Deutschland ist's aus mit Gewinn auf
gewöhnlichem Wege bei dem verwetterten Kriege. Potz Blitz und
Gustav! Was hilft uns unser großes Schiff, das immer an der Küste
tote eine Schnecke sich hinwindet, um uns die sündlich teuren Waren von
den geizigen Mynheers aus Holland herbeizuholen? Wir müssen zwanzig-
fach bezahlen, was wir aus der ersten Hand haben könnten von ihren
Nachbarn, den Engländern, und in Amerika selbst. Gebt mir auf ein Jahr
das Schiff und so viel Geld und Nürnberger Waren als möglich, und laßt
mich nach der neuen Welt fahren; Ihr wißt, der alte Jansen war schon
zweimal dort und versteht den Kram. Zwar, der alte Herr war auch
immer ängstlich und meinte, es lasse sich ohne großes Wagnis schon bei
uns was gewinnen; aber das ist nun anders geworden, darum muß man's
anders treiben."
Dastanden die beiden Herren auf, gingen lange im Zimmer auf und
ab und beratschlagten. Nachdem nun jedes Für und Wider hinreichend
erwogen worden, wie es verständigen Männern ziemt, ward beschlossen, daß
Jansen reisen sollte. Vier Wochen später schritt Herr van Steen in seinem
Ratsherrngewande mit Jansen neben und zwei schwerbepackten Dienern
hinter sich dem Hafen zu. Die den ganzen Hafendamm bedeckende Menge
Volks, die unter Musik und Jauchzen der Zurüstung und Abfahrt des
großen Handelsschiffes harrte, machte, als Herr Gruit mit Jansen ankam,
ehrerbietig Platz; denn der wackere Mann war geliebt und geachtet von
alt und jung, vornehm und gering. Einige Ratsherren, Freunde der
beiden, traten freundlich grüßend hinzu, und der ältere, ein Mann von
greisem Haar und Barte, sprach: „Freund Hermann, Euer Schiff ist schwer
bepackt und beladen; Ihr habt doch nicht zu viel gewagt? Denn weit ist
der Weg und gefährlich die Fahrt, und unser Jansen ist eben auch keiner
der Jüngsten mehr." Herr Hermann zuckte die Achseln und sprach: „Der
Jansen hat's auf sich; ihm, seiner Treue, Kenntnis und Geschicklichkeit hab'
ich vertraut und alles überlassen." Aber Jansen antwortete munter:
„Laßt's euch nicht anfechten, ihr Herren! Es ist das dritte Mal, daß ich
die Fahrt mache, und aller guten Dinge sind ja drei; darum hoffe ich fest,
wir sehen uns gesund und freudig wieder. Wir haben ja das Sprichwort:
„Gott verläßt keinen Deutschen", und den alten Jansen nun schon einmal
gar nicht; darum lebt wohl!"
251
Da bornierte der erste Sigualschuß zur Abfahrt, und das Boot, das
ihn einnehmen sollte zur Überfahrt nach dem Schiffe, war eben gelandet.
Der ehrliche Jansen drückte seinem Herrn noch einmal kräftig beide Hände,
ein paar Thränen träufelten doch dem alten Knaben in den grauen Bart,
und er stieg ein. Die Musik ertönte lebhafter; leicht hintanzend über die
spiegelglatte Fläche langte das Boot am Schiffe an. Die Leiter ward
herabgelassen, hinauf stieg Jansen, schnell ward die Leiter zurückgezogen,
eben so schnell ward der große Anker aufgewunden und das Boot befestigt;
und nun donnerte der letzte Kanonenschuß zur Abfahrt, die Wimpel flagg-
ten, und stolz flog das Schiff dahin, alle Segel gebläht von günstigeni
Winde; vom Verdeck winkte noch einmal Jansen mit dem Tuche das letzte
Lebewohl, und bald war das Schiff dem Auge kaum mehr sichtbar. Die
Menge verlief sich, und die Herren schritten unter freundlichen Gesprächen
ihren Wohnungen zu.
Drei Vierteljahr waren seitdem verflossen, und kein Jansen kam zurück,
noch irgend eine Nachricht von ihm; wohl aber hatten sich dunkle Gerüchte
von deutschen Handelsschiffen, welche in der Gegend von Neu-Amsterdam in
Südamerika gescheitert waren, verbreitet. Immer bedenklicher ward die
Miene des Herrn und immer sorgenvoller seine Stirn. Einen großen Ver-
lust nach dem andern hatte er erlitten durch den Fall mehrerer Handelshäuser
zu Brauuschweig, Nürnberg, Augsburg und Ulm, und täglich noch trafen
Unglücksbriefe ein. Herr Gruit war eben daran, die Bilanz zu ziehen.
Darum war's so still wie im Grabe im Kontor; kaum hörte man das leise
Schnarren der Federn der emsig schreibenden Handlungsdiener. Diese hoben
nur manchmal die Augenlider, ohne ihre Körperstellung zu verändern, wenn
ein schwerer Seufzer des Herrn Gruit wie ein klagender Geist durchs Zimmer
klang, oder ein großer Schweißtropfen von der gefalteten Stirn auf das
Papier niederfiel. Endlich schlug der Herr die Augen auf, sah starr nach
dem ihm gegenüber hangenden Bilde seines Vaters, und eine große, schwere
Thräne tropfte herab auf das Hauptbuch. Da schrak er zusammen, fuhr
mit der Hand über Stirn und Augen, wie aus schwerem Traume erwachend,
legte langsam die Feder nieder, klappte leise das Buch zu und ging langsam
hinauf in das Familienzimmer. Dort kleidete er sich in seine volle Amts-
kleidung als Ratsherr, küßte seine Frau und seine drei munteren Knaben
und ging mit der Äußerung, daß heute Sitzung wäre, sie sollten mit dem
Essen nicht warten, hinunter. Die grüne Gaffe entlang schritt er dem Rat-
hause zu; ein Diener trug ihm das schwere Hauptbuch nach. Im Ratssaale
legte er vor den erstaunten Genossen die Ehrenzeichen seiner Würde ab und
gab sich als insolvent an. Die Herren erschraten, sahen seine Bücher an,
erkannten durchaus seine Schuldlosigkeit und beschlossen einstimmig, daß ihm
eine halbjährige Frist gestattet sein sollte, als die äußerste Zeit, in welcher
man Jansen noch zurückerwarten könne, wenn das Schiff nicht verunglückt sei.
Das halbe Jahr und zwei Monate darüber waren schon verstrichen;
Jansen war nicht gekommen. Herrn Hermanns Umstände hatten, statt sich
zu heben, sich nur verschlimmert; da drangen die schon durch die Fristver-
günstigung erbitterten Gläubiger so ungestüm auf den strengsten Vollzug dev
252
Gant (Versteigerung seiner Besitztümer), daß der Magistrat nötgedrungen
dem Rechte in voller Ausdehnung seinen Gang lassen nmßte. Alles tvar
versiegelt worden, und dem armen Gruit nebst Familie nur das kleine
Stübchen, in welchem sonst der Hausknecht schlief, links am Haupteingange
des Hauses, geblieben.
Eben hatte die Versteigerung seiner Habe in der geräumigen Schreib-
stube gegenüber begonnen; gedrängt voll Menschen war das Zimmer; laut
tönte die Stimme des Ausrufers. Herrn Hermann drüben im Stübchen
klang dieser Ruf gar schrecklich, und mit jedem Niederfallen des Hanuners
fuhr es ihm wie ein Schwert durchs Herz; er saß, den Kopf in die Hand
gestützt, tiefsinnig am Fenster und starrte das Schild seines Nachbars, des
Wirts zum Westindienfahrer an, als wollte er es mit den Augen festnageln.
Die gute Frau Elisabeth aber saß am Ofen, die rotgeweinten Augen zur
Erde gewandt, die Hände gefaltet und fest zusammengepreßt, während die
beiden jungen Knaben/unbekümmert um alles, mit der großen Angorakatze
spielten, Fritz, der älteste, aber hielt den quer vor der Thür liegenden
zottigen B.E, den Haushund, bei beiden Ohren fest, als er auf ein Anklopfen
an die Thür knurrend aufspringen wollte, und sagte begütigend: „Sei nur
still, Voll, ich leid's nicht, daß sie dich verkaufen." Vorsichtig über den Hund
wegschreitend, trat Stephan, der Ratsdiener, herein, ein gutmütiger Alter,
der früher so oft mit freundlichem Bücklinge Herrn Hermann in besseren
Zeiten die Thür des Ratssaales geöffnet hatte, und sagte mit vor Mitleid
zitternder Stimme: „Herr Senator, den Lehnsessel soll ich holen." Da
wandte Herr Hermann den Blick und sprach seufzend: „Ach, das ist das
Härteste; doch dein Wille, o Gott, geschehe!" Es war der mit dem grünen
Sammet beschlagene Lehnsessel des seligen, alten Herrn, worin er sanft
verschieden war, nachdem er noch den väterlichen Segen erteilt hatte, bis
dahin als unberührbares Heiligtum im Hause gehalten.
Hinaus wurde der Sessel getragen, und ihm folgte mechanisch die ganze
Familie nach, als könnte sie sich nicht davon trennen, Fritz mit dem Voll
voraus. Der Ausklopfer rief: „Nummer 120, ein noch wohl erhaltener
Lehnsessel mit Sammet beschlagen" — und eine lange Pause folgte, da sich
alle Blicke nach der jammernden Familie gewandt hatten. Endlich rief die
schnarrende Stimme eines dicken Fleischers: „Vier Mark!" — „Also vier
Mark zum ersten ", rief der Auktionator mißmutig. In diesem Augenblicke
riß sich der schon seit einigen Minuten unruhig schnüffelnde Voll von Fritz
los und sprang wie besessen, freudig bellend, vors Haus, und zum offen
stehenden Fenster herein rief eine starke Baßstimme: „40 Mark zum ersten!"
Augenblicks darauf trat hastig ins Zimmer ein vor Eile glühender Mann
mit sonnenverbranntem Gesichte, in Schiffertracht, begleitet vom wedelnden
Voll, und wiederholte mit Donnerstimme: „400 Mark zum andern, zum
dritten und letzten!" und schlug mit seinem spanischen Rohre dergestalt auf
den Tisch, daß des Ausklopfers Papiere umherflogen und dieser, wie die
ganze Menge, zusammenschrak. „Herr Gott, unser Jansen!" ries Herr
Hermann und fiel ihm um den Hals. Ter aber fuhr fort: „Ja, ich bin's;
unser Schiff liegt voll Goldbarren und Waren im Hafen. Aus ist die
253
Auktion! Nun fort ihr alle!" Dabei schwenkte er das Rohr über den
Köpfen hin. „Morgen kommt auf das Rathaus, da soll alles samt Zinsen
bezahlt werden; denn wissen sollt ihr: unser alter Herrgott lebt noch,
unser gutes Haus steht noch, und die Firma Grnit van Steen floriert noch!
Und nun seid erst freudig gegrüßt in der Heimat, mein Herr Hermann und
und Frau Elisabeth, von eurem alten Jansen!" A. Barth.
171. Das Kirschenessen auf dem Schlachtfeld?.
Bei dem Städtchen Nachod in Böhmen stießen im Kriege von 1866
Österreicher mit Preußen zum ersten Mal feindlich ans einander; von jenen
gegen 34 000 Mann gegen 22 000 Preußen.
Ein heißer Kampf nötigte die Österreicher zum Rückzüge, den sic dur h
ein heftiges Artilleriefeuer deckten. Man erlaubte uns, so erzählt ein
preußischer Kampfgenosse, uns hinzustrecken, nicht allein um zu ruhen, sondern
auch um den hier und da immer noch einschlagenden Granaten zu entgehen.
Jetzt singen die Gespräche an. Ein jeder hatte so viel, so gar viel zu
erzählen. So viele hatten Freunde, Verwandte, ja Brüder zu suchen . . .
und fanden sie nicht mehr, oder mit blutigen Verbänden wieder. Noch
waren die Krankenwagen nicht gekommen, und bunt durcheinander lagen
hinter unseren Reihen Preußen und Österreicher und harrten mit Schmerzen,
daß man ihre Wunden verbinde, ihren Schmerz lindere, ihren tödlich brennen-
den Durst stille. Welch ein Tag, dieser 27. Juni! Die Strahlen der Sonne
fielen versengend auf unsere Helme, unsere Feldflaschen waren leer, und jetzt
lagen wir da auf der fast verdorrten Erde nach langem, ermüdendem Marsche,
nach 6stündigem Kampfe und lechzten nach einem Schluck Wasser und hätten
alles, was wir besaßen, für einen kühlenden Trunk hingegeben; und wenn
wir ihn gehabt, ich möchte es beschwören, so hätte keiner von uns daran
gedacht, ihn an seine Lippen zu setzen, sondern schleunigst denen gebracht,
deren Leben vielleicht nur noch nach Minuten zählte, und die auf dieser
Welt vielleicht nur noch einen Gedanken, einen Wunsch, einen Schmerzens-
schrei hatten: „Wasser . . . Wasser . . . Wasser!" — Ein Sergeant sprang
mit einem Male auf . . . „Nein!" rief er, „das geht nicht; ich habe noch
einen Schluck Wasser in meiner Flasche. Seit 10 Uhr bin ich in Versuchung,
ihn zu trinken, ich habe mich immer bezwungen; jetzt kann ich es nicht mehr!"
— Und er setzte die Flasche, die er aus seinem Brotbeutel gezogen, an
seinen Mund; doch ehe er noch die Lippen benetzt hatte, ließ er die Flasche
wieder sinken. „O, wie schlecht von mir!" sagte er, und mit einem Sprunge
war er bei einem verwundeten Österreicher und hatte ihm den Hals der
Flasche fest in die Zähne gepreßt. „So! Nun bin ich die Versuchung los!"
sagte er, indem er sich erhob, aber dessenungeachtet einen traurigen Blick auf
die jetzt leere Flasche warf.
Bald barstuf kam unser Hauptmann vorbei, und wir klagten ihm unser
Leid, d. h. unsern Durst. Er war einige Augenblicke ohne Antwort; dann
hob er zufällig den Kopf in die Höhe, stutzte einen Augenblick und rief
dann mit vergnügtem Gesichte: „Dumme Kerls! — haben da Kirschbänme
254
die Menge und beklagen sich über Durst!" Im ersten Augenblicke, glaube
ich, verstand niemand von uns, was der Hauptmann eigentlich sagen wollte;
wir sahen einander an, aber dann erscholl plötzlich ein so donnerndes „Hurra!
Kirschen!" daß die anderen Regimenter gewiß gedacht haben müssen, wir
griffen den Feind mit dem Bajonette an. Und nun stürzte alles den Bäumen
zu und wollte versuchen, ob man immer noch klettern könnte. Doch dies
wurde nicht geduldet, nur einige Mann durften hinaus, um für die anderen
zu pflücken. Dies dauerte einige Minuten. Da hatte ein kluger Kops einen
guten Einfall. Er zog sein Faschinenmesser und — 1, 2, 3 ... da lag
ein reichbeladener Ast unten. Die andern machten es ihm nach. Die
Sonne spiegelte sich in einem Dutzend geschwungener Faschinenmesser, und
bald war der Weg mit Ästen bedeckt. Alles wollte darauf losstürzen, alles
wollte seinen Teil an der unverhofften Beute haben, da rief ein Lieutenant:
„Denkt an die Verwundeten, Jungen, — an die Verwundeten!" Was wir
nun thaten — wir, die halb Verdursteten, das wird der Leser, der selbst
ein Herz hat, wissen. Es ist keines Lobes wert; es wäre unwürdig gewesen,
anders zu handeln — und doch . . . die Kirschen waren so verlockend rot
und saftig, und die Zunge klebte uns am Gaumen!
O, aber diese Blicke der Armen, die dalagen, diese Händedrücke, diese:
„Danke, Kamerad!" Ein österreichischer Jäger lächelte mir so sanft, so
freundlich zu, als wenn ich sein Bruder wäre; ich drückte ihm die Hand,
sprach ihm Trost zu, steckte noch eine Kirsche in seinen Mund, doch er ant-
wortete nicht: seine Hand entschlüpfte der meinen, seine Augen wurden
gläsern, stier! ... O, ich werde es mein Lebenlang nicht vergessen — er
lag tot vor mir ... mit ruhig lächelndem Gesichte, und die rote Kirsche
auf den bleichen Lippen! Wir haben seitdem viel gekämpft, viel gesiegt und
viel gelitten, aber dieser erste Tag meines Kriegslebens schwebt unvergänglich
vor meinem Geiste. K. Wagner.
172. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Es war i. I. 1846, als ein Lieutenant der Landwehr - Ulanen von
einem Feldmanöver bei Freienwalde in Pommern mit seinem Burschen nach
der Stadt zurückkehrte. Der Lieutenant mochte nach den Strapazen der
Übung wohl sein behagliches Quartier im Sinne haben, denn im sausenden
Galopp sah man die beiden Reiter dahinsprengen. Plötzlich, als sie gerade
den Staritzsee passierten, stürzte das Pferd des Burschen und warf seinen
Reiter kopfüber in den an dieser Stelle besonders tiefen See. Der des
Schwimmens unkundige Mann schien verloren; da springt der Offizier, die
Gefahr erkennend, vom Pferde und wirft sich ohne Besinnen m die Fluten,
aus welchen er denn auch mit großen Anstrengungen und eigener Lebens-
gefahr den Ertrinkenden herausholt. Da es von der Stelle des Unglücks bis
zur Wohnung des Lieutenants noch weit war, so mußte derselbe einen
längeren Ritt in der durchnäßten Kleidung bestehen, was zur Folge hatte,
daß der edle Retter eines Menschenlebens seit jener Zeit, als Erinnerung
an seine hochherzige That, ein rheumatisches Übel mit sich herumschleppt.
Der damalige Bursche des Herrn Lieutenants aber hat sich von seinem
Herrn nicht mehr getrennt und ist zur Zeit noch als Schäfer in dessen
Diensten; der Herr aber trägt heute noch mit Stolz die Rettungsmedaille
neben seinen höchsten und hohen Orden auf seiner Brust, denn der damalige
Landwehrlieutenant war kein anderer als — unser jetziger Reichskanzler,
Fürst Bismarck. K. Wagner.
173. Major Tellheim und sein Diener.
v. Tellheim. Bist du da?
Just (indem er sich die Augen wischt). Ja!
v. Tellheim. Du hast geweint?
Just. Ich habe in der Küche meine Rechnung geschrieben, und die
Küche ist voll Rauch. Hier ist sie, mein Herr!
v. Tellheim. Gieb her!
Just. Huben Sie Barmherzigkeit mit mir, mein Herr! Ich weiß
wohl, daß die Menschen keine haben; aber —
v. Tellheim. Was willst du?
Just. Ich hatte mir eher meinen Tod als meinen Abschied erwartet.
v. Tellheim. Ich kann dich nicht länger brauchen; ich muß mich
ohne Bedienten behelfen lernen. (Er schlägt die Rechnung auf und liest.)
„Was der Herr Major mir schuldig: Drei und einen halben Monat Lohn,
den Monat 6 Thaler, macht 21 Thaler. Seit dem ersten dieses an Kleinig-
keiten ausgelegt 1 Thaler 7 Gr. 9 Pf.: Summa Summarum 22 Thaler
7 Gr. 9 Pf." — Gut, und es ist billig, daß ich dir diesen laufenden
Monat ganz bezahle.
Just. Die andere Seite, Herr Major —
v. Tellheim. Roch mehr? (Liest.) „Was dem Herrn Major ich
-schuldig: An den Feldscher für mich bezahlt 25 Thaler. An Wartung
und Pflege während meiner Kur für mich bezahlt 39 Thaler. Meinem
abgebrannten und geplünderten Vater auf meine Bitte vorgeschossen, ohne
die zwei Beutepferde zu rechnen, die er ihm geschenkt, 50 Thaler: Summa
Summarum 114 Thaler. Davon abgezogen vorstehende 22 Thaler 7 Gr.
9 Pf., bleibe dem Herrn Major schuldig 91 Thaler 16 Gr. 3 Pf." —
Kerl, bist du toll! —
Just. Ich glaube gern, daß ich Ihnen weit mehr koste; aber es wäre
verlorene Tinte, davon zu schreiben. Ich kann Ihnen das nicht bezahlen,
und wenn Sie mir vollends die Livree nehmen, die ich auch noch nicht ver-
dient habe — so wollte ich lieber, Sie hätten mich in dem Lazarette
krepieren lassen.
v. Tellheim. Wofür siehst du mich an? Du bist mir nichts schuldig,
und ich will dich einem von meinen Bekannten empfehlen, bei dem du es
besser haben sollst als bei mir.
Just. Ich bin Ihnen nichts schuldig, und doch wollen Sie mich
verstoßen?
v. Tellheim. Weil ich dir nichts schuldig werden will.
Just. Darum? und nur darum? — So gewiß ich Ihnen schuldig
diu, so gewiß Sie mir nichts schuldig werden können, so gewiß sollen Sie
mich nun nicht verstoßen. — Machen Sie, was Sie wollen, Herr Major,
ich bleibe bei Ihnen, ich muß bei Ihnen bleiben. —
v. Tellheim. Und deine Hartnäckigkeit, dein Trotz, dein wildes,
ungestümes Wesen gegen alle, von denen du meinst, daß sie dir nichts zu
sagen haben, deine tückische Schadenfreude, deine Rachsucht —
Just. Machen Sie mich so schlimm, als Sie wollen; ich will darum
doch nicht schlechter von mir denken als von meinem Hunde. Vorigen
Winter ging ich in der Dämmerung an dem Kanäle spazieren und hörte
etwas winseln. Ich stieg herab, griff nach der Stimme, glaubte ein Kind
zu retten itnb zog einen Pudel aus dem Wasser. Der Pudel kam mir
nach; aber ich bin kein Freund von Pudeln. Ich jagte ihn fort, umsonst;
ich prügelte ihn von mir, umsonst. Ich ließ ihn des Nachts nicht in
meine Kammer; er blieb vor der Thür ans der Schwelle. Wo er mir zu
nahe kam, stieß ich ihn mit dem Fuße; er schrie, sah mich an und wedelte
nüt dem Schwänze. Noch hat er keinen Bissen Brot aus meiner Hand
bekommen, und doch bin ich der einzige, der ihn anrühren darf, und den er
hört. Er ist ein häßlicher Pudel, aber ein gar guter Hund. Wenn er es
länger treibt, so höre ich endlich auf, den Pudeln gram zu sein.
0. Tellheim. (Für sich.) So wie ich ihm! Nein, es giebt keine
völligen Unmenschen! — Just, wir bleiben beisammen.
Just. Ganz gewiß! — Sie wollten sich ohne Bedienten behelfen?
Sie vergessen Ihre Blessuren, und daß Sie nur eines Armes mächtig sind.
Sie können sich ja nicht allein ankleiden. Ich bin Ihnen unentbehrlich;
und bin — ohne mich selbst zu rühmen, Herr Major — und bin ein Bc^
dienter, der — wenn das Schlimmste zum Schlimmen kommt, für seinen
Herrn betteln und stehlen kann.
v. Tellheim. Inst, wir bleiben nicht zusammen.
Just. Schon gut! Lessing.
174. Tie Nachbarn.
Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die gelbe
und weiße Schürze vertrugen sich auss beste. Wenn dem Gerber ein Kind
geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe; und wenn der Bäcker in
seinenl großen Obstgarten an Stelle eines ausgedienten Invaliden eines
Rekruten bedurfte, ging der Gerber in seine schöne Baumschule und hob den
schönsten Mann aus, den er darin hatte, eine Pflaume oder einen Apfel
oder eine Birne oder eine Kirsche, je nachdem er aus diesen oder jenen
Posten, auf einen fetten oder mageren Platz gestellt werden sollte. — An
Ostern, an Martini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, welche keine
Kinder hatte, immer, einen großen Korb unter dem Arme, zu den Nach-
barsleuten hinüber und teilte unter die kleinen Paten aus, was ihr der
Hase oder der gute Märtel oder gar das Christkindlein selbst unter die
schneeweiße Serviette gelegt hatten. — Je mehr sich die Kindlein über die
257
reichen Spenden freuten, desto näher rückten sich die Herzen der beiden
Weiber; und man brauchte keine Zigeunerin zu sein, um aus dem Satze in
ihren Kaffeeschalen zu prophezeien, daß sie einander immer gut bleiben
würden.
Aber ihre Männer hatten ein jeglicher einen Hund, der Gerber als
Jagdliebhaber einen großen, braunen Feldmann und der Bäcker einen kleinen,
schneeweißen Mordax. Beide meinten, die besten und schönsten Tiere in
ihrem Geschlechte zu haben. Und da geschah es denn eines Tages, daß
Mordax ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann behauptete; denn er hatte
wahrscheinlich vergessen, daß es nicht gut sei, einem großen Herrn etwas
abzuschlagen. Vom Knurren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker
von seiner grünen Bank vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein
mit zermalmtem Genick vor ihm, und der Feldmann lies mit dem eroberten
Knochen und mit eingezogenem Schweife davon. Sehr ergrimmt und ent-
rüstet warf der Herr des Ermordeten dem Raubmörder einen gewaltigen
Stein nach. Aber, was hals's? Die Handgranate flog nicht dem Hunde
an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das Fenster, mitten auf den
Tisch, an dem er gerade die Augsburger las, und machte in den Wiener
Kongreß ein Loch. Ohne zu fragen, woher der Schuß gekommen sei, riß
der Gerber den zertrümmerten Fensterflügel auf und sing an zu schimpfen.
Der Nachbar in der weißen Schürze und mit den aufgestülpten Hemdärmeln
blieb nichts schuldig; Kinder und Leute liefen zusammen, und — hätte ich
ihn nur sehen können! — Satan stand gewiß in einer Ecke und blies mit
vollen Backen in das Feuer. Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst,
aber nur, um seinen Nachbar bei Gericht zu belangen. Die Sonne ging
über dem Zorne der beiden Männer unter, und den Tag darauf wurden
sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den totgebissenen
Mordax mit einem Reichsthaler zu büßen, da doch, wie er sich als Jagd-
liebhaber ausdrückte, der kleine Schäker nicht einen Groschen wert gewesen
sei. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten Fensterflügel und das Loch
in der Zeitung nicht viel weniger bezahlen und sich mit seinem Widerpart
in die aufgelaufenen Sporteln teilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft
befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freundliches Wort
mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die Nachbarin ihren
Weg rechts; saß der Bäcker im Posthause außen in der Stube beim Bier,
so nahm der Gerber seinen Platz im Kabinett. Für den ganz schuldlosen
Teil, für die Kinder des Gerbers, gaben weder der Osterhase, noch der
gute Märtel, noch das heilige Kind durch die Frau Patin mehr etwas ab.
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten, setzten sich
der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, um ihren Kaffee
zu trinken. Als aber die Gerberin die Tischlade herauszog, war kein Wecken
zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf den Zehen
stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, einen Groschen! Ich
hole das Brot." Dann wandte er sich in seiner kindlichen Eilfertigkeit an
den Vater und sagte: „Heut' aber lauf' ich nicht lange herum, und wenn
Das Vaterland. 17
es beim Thorbäcker kein Brot giebt, geh' ich wieder einmal zu dem Herrn
Paten hinüber." Der Gerber, der vielleicht die anklopfende Gnadenhand
des Herrn spürte, sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den kleinen
Helm ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre
Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Thore herein, laut singend,
wie es manchmal lebhafte Kinder mit ihren Gedanken zu machen pflegen,
daß es die ganze Gasse hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten!
Heut' geh' ich zum Herrn Paten!" Ungehalten über den argen Schreihals,
wollte sein Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster
aufbringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und —
kehrte nach wenigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt
des Ölzweiges hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand und ries,
über die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater
und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald wiederkommen."
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute einige
freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und gelbe
Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten die
Weiber einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren oft mit
ihren Thränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt hatte.
Denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell in einen
Nervenfieberschlas und aus diesem nach wenigen lichten Augenblicken in den
Todesschlummer. Karl Stöber.
175. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
In einer Handelsstadt Norddeutschlands lebte ein Kaufmann,
Namens Müller. Ihm begegnete oft ein junger, wohlgekleideter Mensch,
der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr Müller erwiderte den
Gruß zwar gern, aber da er sich nicht erinnerte, den jungen Menschen
je zuvor gesehen zu haben, so glaubte er, daß dieser ihn mit einem
andern verwechsele. Eines Tages nun war Herr Müller zu einem
Freunde eingeladen, und als er nun zur bestimmten Zeit in dessen
Hause eintraf, fand er denselben jungen Mann schon mit dem Haus-
herrn im Gespräch. Der Wirt wollte nun seine beiden Freunde mit
einander bekannt machen; aber der jüngere sagte: „Das ist nicht nötig;
wir kennen uns schon viele Jahre." — „Ich glaube, Sie sind im Irr-
tum", erwiderte Herr Maller; „ich habe allerdings seit einiger Zeit
manchen freundlichen Gruß von Ihnen bekommen, aber sonst sind Sie
mir ganz fremd." — „Und doch kenne ich Sie lange", antwortete der
junge Mann, „und freue mich, Ihnen heute herzlich danken zu können." —
„Wofür wollen Sie mir danken?" fragte Herr Müller. — „Das ist
allerdings eine alte Geschichte", versetzte jener; „aber wenn Sie mir
einige Augenblicke zuhören wollen, so werden Sie sich meiner doch
vielleicht noch erinnern.
Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun
259
Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe
voll der schönsten Äpfel zu sehen. Ich bekam nur selten Obst und
betrachtete daher recht lüstern die herrlichen, großen Apfel. Die
Eigentümerin sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer Ware
den Rücken zugekehrt. Da kam mir der Gedanke, einen einzigen Apfel
heimlich zu nehmen; ich dachte, die Frau behielte ja noch eine große
Menge. — Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben ganz
vorsichtig meine Bente in die Tasche stecken: da bekam ich eine derbe
Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den Apfel fallen ließ. „Junge!"
sagte zugleich der Mann, der mir die Ohrfeige gegeben hatte, „wie
heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß du zum ersten
Male dagegen sündigst; laß es zugleich das letzte Mal sein."
— Vor Scham wagte ich kaum die Augen aufzuschlagen, aber doch ist
mir das Antlitz jenes Mannes unvergeßlich geblieben. — In der Schule
war ich immer sehr aufmerksam, ich glaubte aber immer von neuem
die Worte zu hören: Laß es das letzte Mal sein. Und ich nahm
mir fest vor: ja, es soll gewiß das erste und letzte Mal sein. Aber
auch lange nachher, wenn ich aus dem Katechismus das siebente Gebot
aufsagen sollte, dachte ich mit heftigem Herzklopfen an jenen Morgen.
Als ich nach einigen Jahren die Schule verließ, ward ich Lehrling bei
einem Kaufmanne in Bremen; von dort ging ich später nach Südamerika.
Hier kam ich wohl manchmal in Versuchung, in Kaufmannsgeschäften
andere zu betrügen und so die Hand nach fremdem Gute auszustrecken;
aber dann war es mir immer, als fühlte ich von neuem die Ohrfeige,
und ich erinnerte mich der Worte: Laß es zugleich das letzte Mal
sein. So bin ich ehrlich geblieben, und in dem Vermögen, welches
ich mit herübergebracht habe, ist kein Pfennig unrechten Gutes. Gott
sei dafür gelobt!"
So erzählte der junge Mann; dann aber ergriff er die Hand des
Herrn Müller und sagte: „Darf ich nun diese Hand, die mir eine
solche Wohlthat erwiesen hat, recht dankbar drücken?"
Oldenburger Volksbote.
176. Ein Brief von Goethes Mutter.
Liebe Enkelein!
Es freut mich, daß Euch mein Christgeschenk Vergnügen gemacht hat;
ich höre aber auch das ganze Jahr von Eurer lieben Mutter, daß Ihr
geschickte und gute Mädel seid. Bleibt so, ja, werdet alle Tage noch besser,
so wie Ihr größer werdet; folgt Euren lieben Eltern, die es gewiß gut mit
Euch meinen: so macht Ihr uns allen Freude, und das ist denn gar hübsch,
wenn für alle Mühe, die Eure Erziehung kostet, Eure Eltern, Großmutter
und übrigen Freunde Freude an Euch haben! — Ihr müßt den Bruder
Eduard jetzt hübsch lausen lehren, damit, wenn das Frühjahr kommt, er
17*
260
mit Euch im Garten herumspringen kann. Das wird ein Spaß werden!
Wenn ich bei Euch wäre, lehrte ich Euch allerlei Spiele, als „Vögel ver-
kaufen", „Tuchdiebes ", Potzschimper Potzschemper" und noch viele anten;
es ist für Kinder gar lustig, und Ihr wißt ja, daß die Großmutter gern
lustig ist und gerne lustig macht.
Nun, Gott erhalte Euch in diesem Jahre gesund, vergnügt und munter;
das wird von Herzen freuen
Eure
treue Euch liebende Großmutter
Elisabeth Goethe.
2. Zum Singen und Sagen.
177. Muttersprache.
1. Muttersprache, Mutterlaut,
wie so wonnesam, so traut!
Erstes Wort, das mir erschallet,
süßes, erstes Liebeswort,
erster Ton, den ich gelallet,
klingest ewig in mir fort.
2. Ach, wie trüb ist meinem Sinn,
wann rch in der Fremde bin,
wann ich fremde Zungen üben,
fremde Worte brauchen muß,
die ich nimmermehr kann lieben,
die nicht klingen als ein Gruß.
3. Sprache, schön und wunderbar,
ach, wie klingest du so klar!
Will noch tiefer mich vertiefen
in den Reichtum, in die Pracht;
ist mir's doch, als ob mich riefen
j Väter aus des Grabes Nacht.
4. Klinge, klinge fort und fort,
Heldensprache, Liebeswort!
Steig' empor aus tiefen Grüften,
längst verscholl'nes, altes Lied,
leb'' aufs neu in heil'gen Schriften,
daß dir jedes Herz erglüht!
5. Überall weht Gottes Hauch,
heilig ist wohl mancher Brauch;
aber soll ich beten, danken,
geb' ich meine Liehe kund,
meine seligsten Gedanken,
sprech' ich wie der Mutter Mund.
M. v. Schenkendorf.
178. Ein echter Manu.
1. Ich kenn' einen Mann, einen echten Mann.
der niackcr fechten und beten kann.
Ein Ktick nach oben, dann dran und draus,
zerbricht die Klinge, so t-hut's der Knauf.
2. Für Freiheit, Ehr' und Vaterland
lieht immer fein Herz in hellem Brand;
er haßt die Lüge, vertritt das Recht
und nennt das Schlechte freimütig schlecht.
l 3. Im Haufe hält er auf Zucht und Scham,
ist allen Spöttern und Heuchlern gram,
teilt mit den Armen gern fein Brot
und weicht vom Freund nicht in der Rot.
4. Sein Wort ist fester als Demantstcin,
fein Ja ist Ja, fein Nein ist Nein.
Wie er sich nennt? — Was liegt daran?
. 's ist eben ein deutscher Ehrenmann.
Julius Sturm.
261
179. Der alte Sandmann nnd sein Sohn.
1. Üb' immer Treu' und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab,
und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab!
2. Dann wirst du wie auf grünen Au'n
durchs Pilgerleben geh'n;
dann kannst du sonder Furcht nnd Grau'n
dem Tod ins Antlitz seh'n.
- 3. Dann wird die Sichel und der Pflug
in deiner Hand so leicht;
dann singest du beim Wasserkrug,
als wär' dir Wein gereicht.
4. Dem Bösewicht wird alles schwer,
er thue, was er thu';
das Laster treibt ihn hin und her
und läßt ihm keine Ruh'.
5. Der schöne Frühling lacht ihm nicht,
ihm lacht kein Ährenfeld;
er ist auf Lug und Trug erpicht
und wiinscht sich nichts als Geld.
6. Der Wind im Hain, das Laub am Baum
saust ihm Entsetzen zu;
er findet nach des Lebens Traum
im Grabe keine Ruh'.
7. Sohn, übe Treu' und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab,
und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab!
8. Dann suchen Enkel deine Gruft
und weinen Thränen drauf,
und Sommerblumen, voll von Duft,
blüh'n aus den Thränen auf.
Ludwig Höllh.
189. Das Gewitter.
1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
in dumpfer Stube beisammen sind;
es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnt, Urahne gebückt
sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. —
Wie wehen die Lüfte so schwül!
2. Das Kind spricht: „Morgen ist's Feiertag;
wie will ich spielen im grünen Hag,
wie will ich springen durch Thal und Höh'n,
wie will ich pflücken viel Blumen schön!
Dem Anger, dem bin ich hold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
3. Die Mutter spricht: „Morgen ist's Feiertag;
da halten wir alle fröhlich Gelag;
ich selber, ich rüste mein Feierkleid,
das Leben, es hat auch Lust nach Leid,
dann scheint die Sonne wie Gold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
4. Großmutter spricht: „Morgen ist's Feiertag:
Großmutter hat keinen Feiertag;
sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;
wohl dem, der that, was er sollt'!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
— 1 ---I—
— 262 —
5. Urahne spricht: „Morgen ist's Feiertags
am liebsten morgen ich sterben mag!
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
was thu' ich noch auf der Welt?" —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt!
6. Sie hvren's nicht, sie sehen's nicht,
es flammt die Stube wie lauter Licht;
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
vom Strahl mit einander getroffen sind,
vier Leben endet ein Schlag —
und morgen ist's Feiertag! Gustav Schwab.
181. Das taube Mütterlein.
1. Wer öffnet leise Schloß und Thür?
Wer schleicht ins Haus hinein?
Es ist der Sohn, der wiederkehrt
zum tauben Mütterlein.
2. Er tritt herein. Sie hört ihn nicht,
sie saß am Herd und spann;
da tritt er grüßend vor sie hin
und spricht sie „Mutter!" an.
3. Und wie er spricht, so blickt sie auf,
und — wundervoll Geschick —
sie ist nicht taub dem milden Wort,
sie hört ihn mit dem Blick!
4. Sie thut die Arme weit ihm auf,
und er drückt sich hinein,
da hörte seines Herzens Schlag
das taube Mütterlein.
5. Und wie sie nun beim Sohne sitzt
so selig, so verklärt —
ich wette, daß taub Mütterlein
die Englein singen hört. Friedrich Halm.
182. Wenn du noch eine Mutter hast.
1. Wenn du noch eine Mutter hast,
so danke Gott und sei zufrieden;
nicht allen auf dem Erdengrund
ist dieses hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast,
so sollst du sie mit Liebe pflegen,
daß sie dereinst ihr müdes Haupt
in Frieden kann zur Ruhe legen.
2. Sie hat vom ersten Tage an
für dich gelebt mit bangen Sorgen,
sie brachte abends dich zur Ruh'
und weckte küssend dich am Morgen.
Und warst du krank, sie pflegte dein,
den sie mit tiefem Schmerz geboren;
und gaben alle dich schon aus,
die Mutter gab dich nicht verloren.
3. Sie lehrte dich den frommen Spruch,
sie lehrte dich zuerst das Reden;
sie faltete die Hände dein
und lehrte dich zum Vater beten.
Sie lenkte deinen Kindessinn,
sie wachte über deine Jugend,
der Mutter danke es allein, sgend.
wenn du noch gehst den Pfad der Tn
4. Und hast du keine Mutter mehr,
und kannst du sie nicht mehr beglücken;
so kannst du doch ihr frühes Grab
mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab, ein heilig Grab!
Für dich die ewig heil'ge Stelle!
: O, wende dich an diesen Ort,
, wenn dich umtost des Lebens Welle.
Wilh. Kaulisch.
263
18Z. Das Erkennen.
1. Ein Wanderbursche mit dem Stab in der Hand
kommt wieder heim aus dem fremden Land.
2. Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt:
von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt? —
3. So tritt er ins Städtchen durchs alte Thor,
am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
4. Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
oft hatte der Becher die beiden vereint.
5. Doch siehe, Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht. —
6. Und weiter wandert nach kurzem Gruß
der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
7. Da schaut aus dem Fenster sein Schätzel fromm:
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!"
8. Doch sieh' — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht! —
9. Und weiter geht er die Straß' entlang,
ein Thränlein hängt ihm an der braunen Wang'.
10. Da wankt von dem Kirchlein sein Mütterchen her,
„Gott grüß Euch!" — so spricht er und sonst nichts mehr.
11. Doch sieh, — das Mütterchen schluchzet voll Lust:
„Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust.
12. Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
das Mutterang' hat ihn gleich erkannt. — I. N. Vogl.
184. Ein Friedhofsgang.
1. Beim Totengräber pocht es an:
„Mach auf, mach auf, du greiser Mann!
2. Thu auf die Thür, und nimm den Stab,
mußt zeigen mir ein teures Grab!"
3. Ein Fremder spricht's, mit strupp'gem
Bart,
verbrannt und rauh, nach Kricgerart.
4. „„Wie heißt der Teure, der Euch starb
und sich ein Pfühl bei mir erwarb?""
ö. „Die Mutter ist es, kennt Ihr nicht
der Marthe Sohn mehr am Gesicht?"
6- „„Hilf Gott, wie groß, wie braun ge-
brannt,
hätt' nun und nimmer Euch erkannt.
7. Doch kommt und seht, hier ist der Ort,
nach dem gefragt mich Euer Wort.
8. Hier wohnt, verhüllt von Erd' und
Stein,
nun Euer totes Mütterlein.""
9. Da steht der Krieger lang'und schweigt,
das Haupt hinab zur Brust geneigt.
10. Ersteht und starrt zum teuren Grab
mit thränenfeuchtem Blick hinab.
11. Dann schüttelt er sein Haupt und
spricht:
„Ihr irrt, hier wohnt die Tote nicht.
12. Wie schlöss' ein Raum, so eng' und
klein,
die Liebe einer Mutter ein?"
I.N.Vogl.
264
185* Die Gottesmauer.
1. Drauß' vor Schleswig an der Pforte
wohnen armer Leute viel,
ach! des Feindes wilder Horde
werden sie das erste Ziel.
Waffenstillstand ist gekündet;
Dänen ziehen aus zur Nacht;
Russen, Schweden sind verbündet,
brechen ein mit wilder Macht.
Drauß' vor Schleswig, weit vor allen,
liegt ein Hüttlein ausgesetzt.
2. Drauß' vor Schleswig in der Hütte
singt ein frommes Mütterlein:
„Herr, in deinen Schoß ich schütte
alle meine Sorg' und Pein!"
Doch ihr Enkel, ohn' Vertrauen,
zwanzigjährig, neu'ster Zeit,
hat, den Bräutigam zu schauen,
seine Lampe nicht bereit.
Drauß' vor Schleswig in der Hütte
singt das fromme Mütterlein.
3. „Eine Mauer um uns baue
singt das fromme Mütterlein,
„daß dem Feinde vor uns graue,
nimm in deine Burg uns ein!"
„Mutter", spricht der Weltgesinnte,
„eine Mauer uns ums Haus
kriegt fürwahr nicht so geschwinde
Euer lieber Gott heraus!"
„Eine Mauer um uns baue!"
singt das fromme Mütterlein.
4. „Enkel, fest ist mein Vertrauen,
wenn's dem lieben Gott gefällt,
kann er uns die Mauer bauen,
was er will, ist wohl bestellt."
Trommeln rumdidum rings prasseln,
die Trompeten schmettern d'rein;
Rosse wiehern, Wagen rasseln;
ach, nun bricht der Feind herein!
„Eine Mauer um uns baue!"
singt das fromme Mütterlein.
5. Rings in alle Hütten brechen
Schweb' und Russe mit Geschrei,
fluchen, lärmen, toben, zechen,
doch dies Haus geh'n sie vorbei.
Und der Enkel spricht in Sorgen:
„Mutter, uns verrät das Lied!"
Aber sieh, das Heer vom Morgen
bis zur Nacht vorüberzieht.
„Eine Mauer um uns baue!"
singt das fromme Mütterlein.
6. Und am Abend tobt der Winter,
um die Fenster stürmt der Nord.
„Schließt die Läden, liebe Kinder!"
spricht die Alte und singt fort.
Aber mit den Flocken fliegen
nur Kosakenpulke 'ran;
rings in allen Hütten liegen
sechzig, auch wohl achtzig Mann.
„Eine Mauer um uns baue!"
singt das fromme Mütterlein.
7. „Eine Mauer um uns baue!"
singt sie fort die ganze Nacht.
Morgens wird es still: „O schaue,
Enkel, was der Nachbar macht!"
Auf nach innen geht die Thüre,
nimmer käm' er sonst heraus:
daß er Gottes Allmacht spüre,
liegt der Schnee wohl haushoch drauß'.
„Eine Mauer um uns baue!"
sang das fromme Mütterlein.
!
8. „Ja, der Herr kann Mauern bauen!
. Liebe, gute Mutter, komm,
Gottes Wunder anzuschauen!"
j spricht der Enkel und ward fromm.
I Achtzehnhundertvierzehn war es,
| als der Herr die Mauer baut';
^ in der fünften Nacht des Jahres
hat's dem Feind davor gegraut.
! „Eine Mauer um uns baue!"
> sang das fromme Mütterlein.
Cl. Brentano.
186. Die alte Waschfrau.
1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen
die Alte dort im weißen Haar,
die rüstigste der Wäscherinnen
im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sanerm Schweiß
ihr Brot in Ehr' und Zucht gegessen,
und ausgefüllt mit treuem Fleiß
den Kreis, den Gott ihr zugemessen.
265
2. Sie hat in ihren jungen Tagen
geliebt, gehofft und sich vermählt;
sie hat des Weibes Los getragen,
die Sorgen haben nicht gefehlt;
sie hat den kranken Mann gepflegte-
ste hat drei Kinder ihm geboren;
sie hat ihn in das Grab gelegt
und Glaub' und Hoffnung nicht ver-
loren.
3. Da galt's, die Kinder zu ernähren;
sie griff es an mit heiterm Mut,
sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt,
entließ sie segnend ihre Lieben;
so stand sie nun allein und-alt,
ihr war ihr heitrer Mut geblieben.
4. Sie hat gespart und hat gesonnen
und Flachs gekauft und nachts gewacht,
den Flachs zu feinem Garn gesponnen,
das Garn dem Weber hingebracht;
der hat's gewebt zu Leinewand;
die Schere brauchte sie, die Nadel,
und nähte sich mit eigner Hand
ihr Sterbehemde sonder Tadel.
5. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie
schätzt es,
verwahrt's im Schrein am Ehrenplatz;
es ist ihr erstes und ihr letztes,
ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
am Sonntag früh sich einzuprägen;
dann legt sie's wohlgefällig fort,
bis sie darin zur Ruh' sie legen. —
6. Und ich, an meinem Abend, wollte,
ich hätte, diesem Weibe gleich,
erfüllt, was ich erfüllen sollte
in meinen Grenzen und Bereich;
ich wollt', ich hätte so gewußt
am Kelch des Lebens mich zu laben,
und könnt' am Ende gleiche Lust
an meinem Sterbehemde haben.
A. v. Chamisso.
1. Dort unten in der Muffle
faff ich in suffer Ruff'
und sah dem Raderspiele
und sah den wassern zu;
2. Sah zu der blanken Sage,
es war mir wie ein Traum,
die bahnte lange wege
in einen Tannenbaum.
3. Die Tanne war wie lebend;
in Trauermelodie,
durch alls Fasern bebend,
sang diese worte sie:
4. „Du kehrst zur rechten Stunde,
o Wanderer, hier ein;
du bist's, für den die Wunde
mir dringt ins Ljerz hinein.
5. Du bist's, für den wird werden,
wenn kurz gewandert du,
dies fjol; im Schoß der Srden
ein Schrein zur langen Ruh'."
6. vier Bretter sah ich fallen,
mir ward's ums Lferze schwer,
' ein wörtlein wollt' ich lallen,
da ging das Rad nicht mehr.
Just. Kerner.
187. Der Wanderer in der Sägemühle.
188. Der güldene Ring.
Der Herberg' mancher Gilden,
der Burschen Burg und Ruh',
der wanderte spät abends
ein Gorps Gesellen zu.
— 266 —
Der Drang war groß, die Thür war klein,
und jeder will der erste sein
im Haus.
Der Herbergsvater guckt hinaus
und spricht den Gruß: „Woher zu wandern?
Könnt ihr nicht alle Mann der erste sein,
so sei es einer nach dem andern.
Wie's Handwerk folgt, so sprechet ein!"
Nun will erst recht ein jeder erster sein.
Der Schuster spricht: „Wenn ich nicht wär',
wo kämen Stiefel zum Wandern her?"
„Vom sederi" fiel der Gerber ein.
„Nein, von der Haut!" schlug Metzger drein.
„Was Stiefel! Backe ich kein Brot,
so seid ihr auch in Stiefeln tot."
„Und mahl' ich nicht, so bäckst du Stroh;
dann mein' ich, wär' es auch noch so."
„Und schmied' ich keinen Pflug,
so mahlt der Müller Wind; dann sind wir just so klug."
„Klug hin, klug her — der Maurer muß voraus!
Wo wär' die Herberg' hier, baut' ich kein Haus?"
„wie aber, Bruder, willst ins Haus hinein,
bringt nicht der Schlosser erst die Schlüssel 'rein?"
„pah, ohne Schlüssel bau' ich erst und letztes Haus!"
fuhr wie sein Hobelspan der Schreiner 'raus.
„Und, Bruder, hast dein letztes fertig du,
dann komm' ich, Nagelschmied, und schließe zu!"
Allein, ganz fix, nähnadelfein
bügelt der Schneider hinterdrein:
„Ist Leut' begraben eine Kunst?
Nein, Leute machen, das ist ein'."
„Du machst doch keine, kleiner Schneider?"
„Nein, ich nicht, aber meine Kleider!"
Mit Gunst! Der kleine Schneider war hinein.
Doch fest, als thät er einen Balken fasten,
so griff der lange Zimmermann 'mal aus:
„Für'n Schneider hab' ich just das Loch gelassen.
Kopf weg!" und warf den Schneider wieder 'naus.
„Sacht, Kinder, immer sacht!"
ruft Herbergsvater steuernd jetzt heraus.
„Den Fehler hier hab' ich gemacht!"
und hebt die Thüre samt der Angel aus.
„So wahr mein Haus hier steht in Gottes Hand
und ist zum güld'nen Ringe zubenannt,
267
so sollet ihr herein mitsammen wandern;
habt ihr doch wert erst einer durch den andern.
Denn alle Gilden sind ein güld'ner Kranz,
drin jedes Blatt hat seinen wert und Glanz.
Jedwedes Reis, wo es auch Platz genommen,
zum aüld'nen Ringe ist es gleich willkonnnen.
Drum kommt mir alle wann zugleich herein,
soll keiner erster oder letzter sein." Scherenberg-
18$. Die Tonne bringt es an den Lag.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß
zum Frühtrunk Meister Nikolas.
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein,
es war im heitern Sonnenschein.
Die Sonne bringt es an den Tag.
2. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
malt zitternde Kringelein dort an die Wand,
und wie den Schein er ins Auge saßt,
da spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag!"
3. „Wer nicht? Was nicht?" fragt die Frau sogleich.
„Was stierst du so an? Was wirst du so bleich?"
Und er darauf: „Sei nur still! Nur still!
Jch's doch nicht sagen kann noch will.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag!"
4. Die Frau nur dringender forscht und fragt,
mit Schmeicheln ihn und Schelten Plagt,
mit süßem und mit bitterm Wort,
sie fragt und plagt ihn fort und fort:
„Was bringt die Sonne nicht an den Tag?"
5. „Nein! Nimmermehr!" — „Du sagst es mir noch!" —
„Ich sag' es nicht!" — „Du sagst es mir doch!"
Da ward zuletzt er müd' und schwach
und gab der Ungestümen nach.
Die Sonne bringt es an den Tag.
6. „Auf der Wanderschaft — 's sind zwanzig Jahr',
da traf es sich einst gar sonderbar.
Ich hatte nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh',
war hungrig und durstig und zornig dazu.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
7. Da käm mir just ein Mann in die Quer',
ringsher war's still und menschenleer.
268
Halt! rief ich, du hilfst mir aus der Not!
Deu Beutel her! Souft schlag' ich dich tot!
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
8. Drauf sprach er: Vergieße nicht mein Blut,
acht Pfennige sind mein ganzes Gut!
Ich glaubt' ihm nicht; ich fiel ihn an:
er war ein alter, schwacher Mann.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
9. So rücklings lag er blutend da,
sein brechend Aug' in die Sonne sah;
da hob er zuckend die Hand empor,
da schrie er röchelnd mir ins Ohr:
„Die Sonne bringt es an den Tag!"
10. Ich macht' ihn vollends still und stumm
und kehrt' ihm die Taschen um und um.
Acht Pfennige, das war sein ganzes Geld!
Ich scharrt' ihn ein auf selbigem Feld.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
11. Dann zog ich weiter und weiter hinaus,
kam her ins Land, bin jetzt zu Hans.
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
so halte den Mund und sei gescheit.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag."
12. Doch die Sonn' hat eine Zunge nun;
denn die Zunge der Frau konnt' nimmer rnh'n.
Der Nachbarin erzählt sie leis,
was von des Mannes That sie weiß.
Nun bringt's die Sonne an den Tag! —
13. Die Raben ziehen krächzend zumal
nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund'?
Was hat er gethan? Wie ward es kund?
Die Sonne bracht' es an den Tag! Chamisso.
IW. Die Kapelle.
1. Droben stehet die Kapelle,
-schauet still ins Thal hinab.
Drunten singt bei Wies’ und QueUe
droh und hell der Hirtenknab’.
2. Traurig tönt das Glöcklein nieder,
schauerlich der Leichenchor.
Stille sind die frohen Lieder,
und der Knabe lauscht empor.
3. Droben bringt man sie zu Grabe,
die sich freuten in dem Thal.
Hirtenknabe! Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.
Uhland.
269
191. Die Rache.
Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn,
der Knecht wär' selber ein Ritter gern.
Er hat ihn erstochen im dunkeln Hain
und den Leib versenket im tiefen Rhein;
hat angelegt die Rüstung blank,
aus des Herrn Roß sich geschwungen frank.
Und als er sprengen will über die Brück',
da stutzet das Roß und bäumt sich zurück.
Und als er die güldenen Sporen ihm gab,
da schleudert's ihn wild in den Strom hinab.
Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt,
der schwere Panzer ihn niederzwingt. Uhland.
192. Das SchiffLein.
1. Ein Schifflein ziehet leise
den Strom hin seine Gleise.
Es schweigen, die drin wandern,
denn keiner kennt den andern.
2. Was zieht hier aus dem Felle
der braune Weidgeselle?
Ein Horn, das sanft erschallet,
das User wiederhallet.
3. Von seinem Wanderstabe
schraubt jener Stift und Habe
und mischt mit Flötentönen
sich in des Hornes Dröhnen.
4. Ein Mädchen saß so blöde,
i als fehlt ihr gar die Rede,
! jetzt stimmt sie mit Gesänge
i zu Horn und Flötenklange.
! 5. Die Rud'rer auch sich regen
, mit taktgemäßen Schlägen.
! Das Schiff hinunter flieget,
; von Melodie gewieget.
6. Hart stößt es aus am Strande...
Man trennt sich in die Lande.
: „Wann treffen wir uns, Brüder,
; auf einem Schifflein wieder?"
Uhland.
193. Das Schwert.
1. Zur Schmiede ging ein junger Held,
er hatt' ein gutes Schwert bestellt,
doch als er's wog in freier Hand,
das Schwert er viel zu schwer erfand.
2. Der alte Schinied den Bart sich streicht:
„Das Schwert ist nicht zu schwer noch leicht,
zu schwach ist Suer Arm, ich mein';
doch morgen soll geholfen sein."
3. „„Nein, heut', bei aller Ritterschaft!
durch meine, nicht des Feuers Kraft.""
Der Jüngling spricht's, ihn Kraft durchdringt,
das Schwert er hoch in Lüften schwingt. Uhland.
270
194. Der Vater und die Söhne.
1. Ein Vater schied von seinen Söhnen;
doch eh’ er schied, sucht’ er durch ein Symbol
zur Eintracht ihre Herzen zu gewöhnen.
„Ich scheide“, sprach er, „Söhne, lebet wohl!
2. Jedoch zuvor zerbrecht mir diese Pfeile,
gebunden wie sie sind!“ In grösster Eile
will jeder den Befehl vollzieh’n;
jedoch umsonst ist ihr Bemüh’n.
3. Der Vater löst hierauf das Band,
giebt jedem einen Pfeil besonders in die Hand.
„Zerbrecht mir den!“ sprach er mit trüben Blicken,
und schnell war jeder Pfeil in Stücken.
4. „Merkt, Söhne“, rief er, „am zerbrochenen Geschoss:
Die Eintracht nur macht stark und gross,
die Zwietracht stürzet alles nieder.
Lebt wohl und liebt euch stets als Brüder!“ Geliert.
195. Des armen Knaben Christbaum.
1. Was für ein fröhlich Thun und Treiben
am Weihnachtsmarkt bis in die Nacht,
wie funkelt durch erhellte Scheiben
der schönen Waren bunte Pracht!
Wer kaufen will, muss heut’ noch laufen,
dass er den Christbaum schmücken mag,
wer feil hat, will noch heut’ verkaufen,
denn morgen ist Bescherungstag.
2. Doch sieh, wie mit betrübten Mienen
dort an der Ecke, frosterstarrt,
vom nahen Gaslicht hell beschienen,
ein Knabe noch des Käufers harrt.
Er hat den Christbaum selbst geschnitten
mit saurer Müh’ im Tannenwald,
sein schüchtern Auge scheint zu bitten:
„0, kauft mir ab, die Nacht ist kalt!
3. Kauft ab, ihr könnt so lustig lachen,
ihr habt das Glück und ich die Not.
Was soll ich mit dem Christbaum machen?
Die Mutter krank, der Vater tot!“
Doch niemand, der des bleichen Kleinen
und seines Baums gewahren mag,
vorbei rennt jeder mit den Seinen —
und heut’ ist schon der letzte Tag!
271
4. Doch schau, da kommt mit munt’rem Schritte
in Sammetpelz und Federhut —
die schöne Mutter in der Mitte —
ein Kinderpärchen wohlgemut;
den Korb gefüllt mit Weihnachtsgaben,
trabt hinterher des Hauses Knecht: —
„0 Mutter, sieh den Baum des Knaben,
der ist für uns noch eben recht!“
5. Die schöne Mutter zahlt in Eile
dem Knaben sein Viergroschenstück,
er dankt — und schaut noch eine Weile
den Frohen nach mit trübem Blick.
Wie wird sein Christbaum morgen funkeln
im fremden Haus, im Kerzenschein,
und ach! im Kämmerlein, im dunkeln,
wie still wird seine Weihnacht sein! —
6. Drum Kinder, wenn, bekränzt mit Gaben,
euch euer Christbaum fröhlich brennt,
denkt, ob ihr nicht den bleichen Knaben
und seine kranke Mutter kennt?
Und geht und trocknet ihm die Wangen,
und lernet von dem heil’gen Christ,
dass zwar vergnüglich das Empfangen,
doch seliger das Geben ist! Gerok.
IW. Tanne
1. Jüngsthin hört’ ich, wie die Rebe
mit der Tanne sprach und schalt:
Stolze, himmelwärts dich hebe,
dennoch bleibst du starr und kalt!
2. Spend’ ich auch nur kargen Schatten
Wegemüden, gleich wie du,
führet doch mein Saft die Matten,
o wie leicht, der Heimat zu!
3. Und im Herbste, — welche Wonne
bring’ ich in des Menschen Haus;
schaff1 ihm eine neue Sonne,
wann die alte löschet aus!“
und Rebe.
4. So sich brüstend, sprach die Rebe;
doch die Tanne blieb nicht stumm,
säuselnd sprach sie: „Gerne gebe
ich dir, Rebe, Preis und Ruhm.
5. Eines doch ist mir beschieden:
mehr zu laben, als dein Wein.
Lebensmüde — welchen Frieden
Schliessen meine Bretter ein!“
6. Ob die Rebe sich gelängen
gab der Tanne, weiss ich nicht;
doch sie schwieg — und Thränen hangen
sah ich ihr am Auge licht.
J. Kerner.
272
3. Zum Wachdenken.
197. Der Greis und der Tod.
Ein alter Mann kam aus dem Walde und trug eine Last
Holz auf dem Rücken. Ermüdet und von der schweren Bürde
darniedergedrückt, warf er dieselbe endlich von den Schultern
und rief seufzend und vor Ungeduld: „Ach, lieber Tod, komm
doch endlich!“ Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, so stand
dieser auch schon vor ihm und sprach: „Da bin ich! Was ver-
langest du?“ „0 nichts, ganz und gar nichts“, antwortete der
erschrockene Greis, „ich habe dich bloss bitten wollen, dass du
mir dieses Bündel Holz wieder auf meine Schultern heben
möchtest.“ Äsop.
198. Zum 7. Gebot.
Im siebenjährigen Kriege pochte ein Rittmeister an dem Fenster
einer armseligen Hütte an. Ein Greis mit schneeweissem Haare trat
heraus. Der Rittmeister verlangte, der Alte sollte ihn auf ein Feld
führen, wo seine Reiter Futter für ihre Pferde haben könnten. Der
Greis gehorchte, führte aber die Reiter weit hinaus. Als sie eine Strecke
hin waren, kamen sie an ein schönes Gerstenfeld. „Hier ist, was wir
suchen“, sprach der Rittmeister. „Noch einen Augenblick Geduld!“
entgegnete der Alte. Endlich zeigte er ihnen einen Acker. Sie mäheten,
banden ein und machten sich auf den Rückweg. Jetzt sprach der Ritt-
meister: „Guter Vater, Ihr habt uns unnötig weit marschieren lassen;
das erste Feld war besser als dieses!“ — „Das kann wohl sein“, ver-
setzte der Greis, „aber es gehört nicht mir.“ Ahlfeld.
199. Vaterlandsliebe.
Als die Franzosen im Jahre 1809 gegen Wien vordrangen, sollte
ein Bauer der Führer einer Truppenabteilung werden. Mit ihr ge-
dachte der Feind durch einen Nachtmarsch einen wichtigen Plan aus-
zuführen. „Gott bewahre mich", sagte der Bauer, „das thu' ich
nimmermehr!" Heftig drang der französische Offizier, der den Vor-
trab befehligte, in ihn. Aber der Bauer blieb ruhig bei seiner
Weigerung. Der Offizier bestürmte ihn mit Versprechungen, er bot
ihm einen vollen Beutel mit Gold an; alles vergebens. Inzwischen
langte der Hauptzug der Feinde an, und ihr General war sehr er-
zürnt, den Vortrab noch hier anzutreffen. Als er erfuhr, daß der
einzige des Wegs kundige Mann sich durchaus nicht bewegen lasse, ihr
273
Wegweiser zu sein, ließ er den Bauer vorführen. „Entweder^, rief
er ihm zu, „du zeigst uns den rechten Weg, oder ich lasse dich tot-
schießen!" — „Ganz gut!" erwiderte der Bauer, „so sterb' ich als
rechtschaffener Unterthan und brauche nicht Landesverräter zu werden."
Da bot ihm der erstaunte General die Hand und sprach: „Geh' heim,
wackrer Mann! Wir wollen uns ohne Führer behelfen." Arndt.
200. H'ost im Unglücke.
Ein armer Mann reiste barfuss nach einer fremden Stadt, weil er
nicht so viel hatte, dass er seine Füsse bekleiden konnte. Der heisse
Sand, über den er ging, brannte sie wund. Er klagte über die Strenge
seines Schicksals und nannte die Vorsehung ungerecht, weil sie ihm nicht
einmal so viel geschenkt habe, als sie den Tieren des Feldes gebe.
Als er endlich eine grosse Stadt erreichte, sah er an einer Kirch-
thür einen armen Mann sitzen, dem beide Füsse abgenommen waren
Dieser Anblick machte ihn klug. „Meine Klage über die Vorsehung
war verwegen“, sprach er bei sich selbst. „Womit habe ich es ver-
dient, dass ich glücklicher bin als dieser Elende, der wie ein Wurm der
Erde von einem Orte zum andern kriechen muss?“ Er ging in die
Kirche, kniete nieder, bereute seine Ungeduld und setzte seine Reise
zufrieden fort. Der Weg machte in wenigen Tagen seine Füsse hart,
und er kam an sein Ziel, ohne zu wissen, dass er mit nackten Füssen
über den heissen Sand gewandert war. Herder.
201. Das böse Gewissen.
Ein Mann kehrte, als sich der Tag geneigt hatte, in ein Wirts-
haus ein, um darin zu übernachten. Er sass in der Ecke hinter dem
Tische und der Wirt auf der Bank am Ofen, und der Hausknecht mitten
in der Stube und machte eine Schnur an seine Peitsche. Da schrie
auf einmal der Wirt: „Hansjörg, ein Räuber! ein Räuber!“ Und der
Hausknecht fuhr auf, das Licht auf dem Tische zu putzen; denn es
hatte angefangen zu rinnen, weil ein Knoten im Dochte war. Aber auch
der Gast sprang vom Tische auf und über Hals und Kopf zur Thür
hinaus. Darüber fiel ihm eine Diebslaterne aus der Tasche, und der
Wirt sah nun, dass er zwei Räuber in der Stube gehabt habe: einen
auf dem Tische und einen hinter demselben. Also läuft das böse Ge-
wissen vor einem Knoten im Dochte davon. Stöber.
202. Der Einsiedler.
Vor alters lebte ein Mann, der war sehr aufbrausend und schnell
zum Zorn, und wenn er zornig gewesen, gereute es ihn wieder. Da
dachte er: „Das kommt von den bösen Menschen; liessen mich die in
Frieden, würde ich auch wohl sanftmütig sein. Ich will lieber fortgehen
in den wilden Wald und ein Einsiedler werden, da werde ich keinen
Das Vaterland. 18
274:
mehr hören und sehen und werde mich nicht mehr erzürnen.'' So geht
er fort in den Wald, sucht sich einen Ort, wo ein Brunnen vom Felsen
herabrinnt, und will sich da eine Hütte hauen. Über der Arbeit wird s
ihm warm, und er trägt seinen Krug zum Brunnen und stellt ihn unter,
dass er voll werde; der Krug aber fällt um, und er muss ihn zum zweiten
Male unterstellen. Nach einer Weile fällt der Krug abermals, und der
Einsiedler, statt ihn wieder aufzustellen, wird so zornig, dass er ihn
nimmt und am Felsen in tausend Stücke zerschlägt. Als er nun den
Henkel in der Hand hat und die Scherben auf dem Boden liegen sieht,
kommt er auf einmal wieder zu sich, erschrickt und spricht zu sich selbst:
„0, ich Thor, ich dachte, dass der Zorn in mich hineinkommt, nun sehe
ich, dass er aus mir herauskommt; darum will ich kein Einsiedler mehr
sein, sondern wieder zu meinen Brüdern gehen, dass sie mir guten Rat
geben und mir beten helfen, mein eigenes Herz zu bessern." —
Trau' dem nicht, der dir der nächste ist, der in einem Hause mit
dir wohnt, aus einem Löffel mit dir isst und in einem Bette mit dir
schläft, nämlich — dir selber! Caspars
203. Der freundliche Herr.
Was der Tau des Morgens für die Pflanzen ist, das ist das herzliche
Wort, der freundliche Blick für die Arbeiter in ihren sauren Stunden.
An einer Stätte im Harzgebirge heben die Kohlenbrenner noch
heute einen Karren mit großer Sorgfalt auf. Sie baten nämlich in
teurer Zeit ihren Herrn, einen Grafen, er möchte ihnen den Lohn
erhöhen. Der Oberaufseher meinte, es sei nicht nötig, die Arbeit
der Leute fei hinlänglich gelohnt. Da schlägt ihm der Graf vor, sie
wollen beide einmal selbst prüfen, wie schwer die Arbeit sei. So spannte
er sich selbst samt dem Oberaufseher in einen beladenen Karren, und
jeder fuhr den seinen hin bis an die bestimmte Stätte. Als sie da
waren, meinten beide, es sei doch eine recht saure Arbeit, und es
könne wohl den Leuten ein mehreres an Lohn gegeben werden. So
geschah es auch. — Lange ruht der Graf in der Erde; aber so oft
ein Fremdling an den Ort kommt, zeigen ihm die Arbeiter den einen
Karren und sagen ihm: „Den hat unser seliger Herr Graf gezogen!"
Noch heute erscheint ihnen diese Teilnahme als ein Licht in den
Mühen ihres Lebens. Ahlfeld.
204. Die halbe Flasche.
Nach der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden von
den Preußen geschlagen wurden, bat ein ans den Tod verwundeter
Schwede einen vorübergehenden preußischen Soldaten flehentlich um
einen Trunk. „Den sollst du haben, Kamerad", sagte dieser; während
er aber die Feldflasche losnestelte, ergriff der tückische Schwede eine
neben ihm liegende Pistole und feuerte sie schnell auf den gutmütigen
Preußen ab, fehlte ihn aber. „Es war gut gezielt", sagte dieser,
275
„Denn die Kugel pfiff mir just am Ohre vorbei, aber böse gemeint,
und ich kann dich deswegen nicht ungestraft lassen! Sieh, diese Flasche
ist voll guten Weins, und du hättest sie ganz bekommen, jetzt aber
bekommst du sie nur halb!" — Darauf that der Preuße einen tüchtigen
Schluck aus derselben, gab sie dann dem Schweden und ging ruhig
davon. Caspari.
205. Altes Gold.
„Wo ein Kirchturm ist, da reckt der liebe Gott den Finger in
die Höhe; denn es ist eine Kirche und ein Kirchhof dabei!" Also läßt
sich ein uraltes deutsches Sprichwort vernehmen, und das ist ein
goldenes, echtes und zeugt für den frommen Sinn unserer Voreltern.
Du lieber Gott! für viele in unseren Tagen reckt da der Herr den
Finger umsonst in die Höhe. Sie sehen ihn und denken dabei höch-
stens an das Zifferblatt der Uhr, ob's bald Mittag oder Feierabend
sein möchte. An ein Aufwärtsrichten des Herzens im Gebete denkt
selten einer, noch seltener daran, daß am Sonntage der Herr mit
dem ausgereckten Zeigefinger mahnt: „Lasset uns nicht verlassen unsere
Versammlungen, wie etliche pflegen!" nicht, daß ein Kirchhof dabei
ist, wo die Gräber sind, darinnen wir einst unser leiblich Teil zur
Ruhe legen, während die Seele vor ihren Herrn und Richter tritt.
O du, der du dies Sprichwort hier vielleicht zum ersten Male liesest,
schreib' dir's in die Seele! Gottes Finger ist der hohe Turm, von
dem die Glocke als ein Mahnruf dir in Ohr und Herz dringen soll.
Er erinnert dich: „Hier ist eine Kirche, darin haben dein Vater und
deine Mutter für dich gebetet. Komm und bete auch, daß deine
Seele den Herrn finde, der vom Tode errettet!" „Es ist ein Kirch-
hof dabei", mahnt er dich, „darauf auch du deine Ruhestätte finden
wirst, wenn's Gottes Wille ist." Denk' an den Tod, daß dir das
Leben zuteil werde! O. v. Horn.
206. Goldene Sprüche.
1. Für Gat nichts Gutes geben, ist eine böse That:
für Böses Böses geben, ist ein verkehrter Rat;
für Gutes Böses geben, ist schändlicher Beginn;
für Gutes Gutes geben, gebühret frommem Sinn;
für Böses Gutes geben, ist recht und wohlgethan;
denn daran wird erkennet ein rechter Christenmann. v. Logau.
2. Zufrieden fein ist große Kunst, z 3. Willst du, daß wir mit hinein
zufrieden scheinen bloßer Dunst, i in das Haus dich bauen,
zufrieden werden großes Glück, : laß es dir gefallen, Stein,
zufrieden bleiben Meisterstück. daß wir dich behauen. Rückert.
4. Thu' nur das Rechte in deinen Sachen,
das and're wird sich von selber machen. Goethe.
b. Der Schneeball und das böse Wort,
sie wachsen, wie sie rollen, fort.
Eine Handvoll wirf zum Thor hinaus,
ein Berg wird's vor des Nachbars Haus. W. Müller.
18*
276
207 Lerne multiplizieren.
Man vergißt im menschlichen Leben nichts so leicht als das Multipli-
zieren, wenn man es noch so gut in der Schule gelernt hat und kann. Und
doch lernt man in der Schule sür das Leben, und die Weisheit besteht nicht
im Wissen, sondern in der rechten Anwendung und Ausübung davon.
Es kann jemand einen Tag in den andern nur einen Groschen un-
nötigerweise ausgeben. Mancher, der den Groschen übrig hat, thut es
und meint, es sei nicht viel. Aber in einem Jahre sind es 365 Groschen
und in dreißig Jahren 365 Thaler weggeworfenes Geld, und das ist
doch viel.
Ein anderer kann einen Tag um den andern zwei Stunden unnütz und
in Müßiggang zubringen und meint jedesmal, für heute lasse es sich ver-
antworten. Das multipliziert sich in einem Jahre zu 730 Stunden und
in dreißig Jahren zu 21 900 Stunden oder 912 verlorenen Tagen des
kurzen Lebens. Das ist noch mehr als 365 Thaler. Die Erde hat 5400
deutsche Meilen im Umkreise. Das ist ein weiter Weg. Aber wenn man
in gerader Linie fortgehen könnte, und es wollte jemand jeden Tag nur
eine Stunde davon zurücklegen, so könnte er im dreißigsten Jahre wieder
daheim sein. Daraus ist zu lernen, wie weit ein Mensch in seinem Leben
es nach und nach bringen kann, wenn er zu einem nützlichen Geschäfte jeden
Tag nur eine Stunde anwenden will. Aber wer nie anfängt, der hört nie
auf, und wem wenig auf einmal nicht genug ist, der erfährt nie, wie man
nach und nach zu vielem kommt. Hebel.
208. Nützliche Lehren.
1. Es sagt ein altes Sprichwort: Selber essen macht fett. Ich
will noch ein paar dazusetzen: Selber Achtung geben macht verständig; und
Selber arbeiten macht reich. Wer nicht mit eigenen Augen sieht, sondern
sich auf andere verläßt, und wer nicht selber Hand anlegt, wo es nötig ist,
sondern andere thun läßt, was er selber thun soll, der bringt's nicht weit,
und mit dem Fettwerden hat es bald ein Ende.
2. Ein anderes Sprichwort heißt so: Wenn man den Teufel an
die Wand malt, so kommt er. Das sagt mancher und versteht's nicht.
Den bösen Geist kann man eigentlich nicht an die Wand malen, sonst wäre
es kein Geist. Auch kann er nicht kommen; denn er ist mit Ketten der
Finsternis in die Hölle gebunden. Was will denn das Sprichwort sagen?
Wenn man viel an das Böse denkt und sich dasselbe in Gedanken vorstellt
oder lange davon spricht, so kommt zuletzt die Begierde zu dem Bösen in
das Herz, und man thut's. Soll der böse Feind nicht kommen, so male
ihn nicht an die Wand! Willst du das Böse nicht thun, so denke nicht
daran, wo du gehst und stehst, und sprich nicht davon, als wenn es etwas
Angenehmes und Lustiges wäre.
3. Einmal ist keinmal. Dies ist das erlogenste und schlimmste
unter allen Sprichwörtern, und wer es gemacht hat, der war ein schlechter
277
Rechnungsmeister oder ein boshafter. Einmal ist wenigstens einmal, und
daran läßt sich nichts abmarkten. Wer einmal gestohlen hat, der kann sein
Leben lang nimmer mit Wahrheit und mit frohem Herzen sagen: Gott-
lob! Ich habe mich nie an fremdem Gnte vergriffen. Und wenn der Dieb
erhascht und gehenkt wird, alsdann ist einmal nicht keinmal. Aber das ist
noch nicht alles, sondern man kann meistens mit Wahrheit sagen: Einmal
ist zehnmal und hundert- und tausendmal. Denn wer das Böse einmal
angefangen hat, der setzt es gemeiniglich auch fort. Wer A gesagt hat, der
sagt auch gern B; und alsdann tritt zuletzt ein anderes Sprichwort ein,
daß der Krug so lange zum Brunnen gehe, bis er bricht.
4. Nun kommen zwei Sprichwörter, und die sind beide wahr, wenn sie
schon einander widersprechen. Von zwei unbemittelten Brüdern hatte der eine
keine Lust und keinen Mut, etwas zu erwerben, weil ihm das Geld nicht
zu den Fenstern hereinregnete. Er sagte immer: Wo nichts ist, kommt
nichts hin. Und so war es auch. Er blieb sein Leben lang der arme
Bruder Wonichtsist, weil es ihm nie der Mühe wert war, mit einer kleinen
Ersparnis den Ansang zu machen, um nach und nach zu einem größeren
Vermögen zu kommen. So dachte der jüngere Bruder nicht. Der pflegte
zu sagen: Was nicht ist, das kann werden. Er hielt das wenige, was
ihm von der Verlassenschaft der Eltern zuteil geworden war, 511 Rate
und vermehrte es nach und nach durch eigene Ersparnis, indem er fleißig
arbeitete und eingezogen lebte. Anfänglich ging es hart und langsam.
Aber sein Sprichwort: Was nicht ist, kann werden, gab ihm immer Mut
und Hoffnung. Mit der Zeit ging es besser. Er wurde durch unver-
drossenen Fleiß und Gottes Segen noch ein reicher Mann und ernährt jetzt
die Kinder des armen Bruders Wonichtsist, der selber nichts zu beißen und
zu nagen hat. Hebel.
209. Sprichwörter.
1. Einfache Sätze.
a. Der Schein trügt. Eigenlob stinkt. Unkraut vergeht nicht. Armut
schändet nicht. Der Klügste giebt nach. Versuchen schadet nicht.
b. Zeit ist Geld. Müßiggang ist Diebstahl. Schweigen ist Gold.
Reden ist Silber. Wille ist Werk. Menschengunst ist Dunst. Träume
sind Schäume.
e. Das Glück ist rund. Das Glück ist blind. Tadeln ist leicht.
Irren ist menschlich. Gedanken sind zollfrei. Allzuviel ist ungesund.
2. Erweiterte einfache Sätze.
a. Beifügungen. Gestohlenes Gut brennt. Stille Wasser sind
Uef. Unrecht Gut gedeihet nicht. Schnelle Hilfe ist doppelte Hilfe.
Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Ein guter Name ist ein
teures Gut. Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin. Keine Regel ohne
Ausnahme. Keine Rose ohne Dornen. — Fleiß ist des Glückes Vater.
278
Undank ist der Welt Lohn. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Das
Auge des Gesetzes wacht. Jeder ist seines Glückes Schmied.
b. Ergänzungen. Glück bedarf des Rates nicht. Der Gerechte
erbarmt sich seines Viehes. Eig'ner Herd ist Goldes wert. Der Arbeiter
ist seines Lohnes wert. Ein Blinder spottet des Hinkenden. — Dem
Verdienste seine Krone. Dem Mutigen gehört die Welt. Dem
Schuldigen klopft das Herz. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.
Dem Redlichen läßt Gott es gelingen. Dem Reinen ist alles rein. Gott
widerstehet dem Hoffärtigen. Niemand entgeht seinem Schicksale..
Jedem Narren gefällt seine Kappe. — Das Werk lobt den Meister.
Untreue schlägt den eigenen Herrn. Gutes Wort findet guten Ort.
Lügen haben kurze Beine. Dornen tragen keine Trauben. Die Katze
läßt das Mausen nicht. Ein Keil treibt den andern. Not bricht Eisen
Wohlgeschmack bringt Bettelsack. Borgen macht Sorgen. Wohlthun
bringt Segen. Neid macht Leid. Gott verläßt die Seinen nicht.
e. Umstände. Jederkehre vor seinerThür. Hinter denBergen
wohnen auch Leute. Morgenstunde hat Gold im Munde. Das Gute lobt
man aller Orten. — Geduldiger Schafe gehen viele in einen Stall.
Das Wetter schlägt gern in hohe Türme. Auf einen groben Klotz
gehört ein grober Keil. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme. Mau
muß den Teufel nicht andieWand malen. — Es fällt kein Meister vom
Himmel. Aus einem Brunnen fließen reine Wasser. Aus der Wolke
zuckt der Strahl. — Guter Rat kommt nie zu spat. Muttertreu ist täglich
neu. Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden. Ehrlich währt am
längsten. Nach gethaner Arbeit ist gut ruhen. Böser Gewinn fährt
bald dahin. — Neue Besen kehren gut. Ein gutes Kind gehorcht geschwind.
Mit Speck fängt man Mäuse. Eile mit Weile! Durch wiederholte
Streiche fällt auch die stärkste Eiche. Grobe Säcke muß man nicht mit
Seide nähen. Man kann nicht Feuer mit Feuer löschen. Das schlechteste
Rad am Wagen knarrt am meisten. — An vielem Lachen erkennt man
den Narren. Den Vogel erkennt man an den Federn. Durch Schaden
wird man klug. Wegen eines dürren Astes fällt der Gärtner keinen
Baum. Wider den Tod ist kein Kraut gewachsen. Kümmere dich nicht
um ungelegte Eier!
3.. Zusammengezogene Sätze.
Geld, Gewalt und Gunst breche/? Recht und Kunst. Frohsinn^
Mäßigkeit und Ruh' schließen dem Arzt die Thüre zu. Aushorcher und
Ratgeber sind des Teufels Netzeweber. Gutes Gewissen und armer Herd
sind Gott und aller Ehren wert. Menschen und Wind ändern sich ge-
schwind. Tanzen, Kartenspiel und Wein reißen große Häuser ein. Die
Krankheit kommt zu Pferd geritten und schleicht davon mit Schnecken-
schritten. Es gehen viele Wege nach Darbstadt und Mangelburg
Versprechen und Halten steht fein bei Jungen und Alten.
279
4. Zusammengesetzte Sätze.
a. Beigeordnete, aber unverbundene Sätze. Der Mensch denkt,
Gott lenkt. Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Ernst ist das Leben,
heiter ist die Kunst. Menschendienst hat Menschenlohn; Gottesdienst hat
Gotteslohn. Leiden währt nicht immer, Ungeduld macht's schlimmer. Mit
vielem hält man Haus, mit wenigem kommt man aus. Die Eintracht ist
ein festes Band, sie hält zusammen Leut' und Land. Alte soll man ehren;
Jungen soll man wehren; Weise soll man fragen; Narren muß man ertragen.
b. Beigeordnete und verbundene Sätze. Üb' immer Treu'
und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab. Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes, aber das
Herz des Gottlosen ist unbarmherzig. Mancher möchte leben und essen, aber
er hat das Arbeiten vergessen. Disteln und Dornen stechen sehr, aber böse
Zungen noch viel mehr. Erst wäg's, dann wag's. Des Lasters Bahn ist
anfangs zwar ein breiter Weg durch Auen, allein sein Fortgang bringt
Gefahr, sein Ende Nacht und Grauen. Der Tugend Pfad ist anfangs steil,
läßt nichts als Mühe blicken, doch weiter führet er zum Heil und endlich
zum Entzücken. Thöricht ist der Neid, denn er thut sich selbst nur leid.
Thu' nichts Böses, so widerfährt dir nichts Böses. Du mußt sparen, sonst
mußt du darben. Strecke dich nach der Decke, sonst kommst du mit den
Füßen ins Stroh. Volksmund.
210. Goldenes A-B-C.
Allzuscharf macht schartig. — Bete und arbeite! — Christus läßt
wohl sinken, aber nicht ertrinken. — Demut ist eine Mutter der Ehre. —
Ehrlich währt am längsten. — Fleiß ist des Glückes Vater. — Gut
Ding will Weile haben. — Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. — Irren
ist menschlich. — Jung gewohnt, alt gethan. — Kehre jeder vor seiner
Thüre! — Lügen haben kurze Beine. — Mitgegangen, mitgesungen, mit-
gehangen. — Neid ist des Glückes Gefährte. — Ordnung erhält die
Welt. — Probieren geht über studieren. — Omer durch geht nicht immer
an. — Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. — Stille Wasser sind tief.
— Tugend ist der beste Adel. — Undank ist der Welt Lohn. — Was früh
reif wird, fault bald. — Laß dir kein £ für ein U machen. — Zufrieden-
heit ist der beste Reichtum. Volksmund.
211. Rätsel.
Dem Knaben bin ich oft zum Spielen gut, dem Zornigen dien' ich zur
Kühlung seiner Wut. Den Angegriffenen kann ich schützen, den müden
Greisen unterstützen. Hebel.
Welche Zunge, die nicht spricht, giebt zuverlässigen Bericht? Schlichtet
anders kein Geschäft als mit Nachdruck und Gewicht? Gold und Silber
gilt ihr gleich, doch das Mehr und Minder nicht. Sie befriedigt die
280
Partei'«, wo sie sitzet zu Gericht, ob sie gleich im Ausspruch schwankt —
eben das ist ihre Pflicht. Rückert.
Zwei Eimer sieht man ab und auf in einem Brunnen steigen, und
schwebt der eine voll herauf, muß sich der and're neigen. Sie wandern
rastlos hin und her, abwechselnd voll und wieder leer, und bringst du diesen
an den Mund, hängt jener in dem tiefsten Grund; nie können sie mit ihren
Gaben in gleichem Augenblick dich laben. Schiller.
Auf einer großen Weide gehen viel tausend Schafe silberweiß; wie
wir sie heute wandeln sehen, sah sie der allerält'ste Greis. Sie altern nie
und trinken Leben aus einem unerschöpften Born, ein Hirt ist ihnen zugegeben
mit schön gebog'nem Silberhorn. Er treibt sie aus aus goldnen Thoren, er
überzählt sie jede Nacht und hat der Lämmer keins verloren, so oft er auch
den Weg vollbracht. Ein treuer Hund hilft sie ihn leiten, ein muntrer
Widder geht voran. Die Herde, kannst du sie mir deuten? Und auch den
Hirten zeig' mir an. Schiller.
Von Perlen baut sich eine Brücke hoch über einen grauen See; sie
baut sich auf im Augenblicke, und schwindelnd steigt sie in die Höh'. Der
höchsten Schiffe höchste Masten zieh'n unter ihrem Bogen hin, sie selber trug
noch keine Lasten und scheint, wie du ihr nahst, zu flieh'n. Sie wird erst
mit dem Strom und schwindet, so wie des Wassers Flut versiegt. So sprich,
wo sich die Brücke findet, und wer sie künstlich hat gefügt? Schiller.
Anhang.
1. Stabreime.*)
Blätter und Blüten; Dorn und Distel, durch dick und dünn; an
allen Ecken und Enden; Feuer und Flamme; Geld und Gut, Gift und
Galle; Haus und Hof, Herz und Hand, Haut und Haar, Himmel und
Hölle; Kind und Kegel, Kopf und Kragen, Kisten und Kasten; Land
und Leute, Lenz und Liebe, Leib und Leben; Mann und Maus; bei
Nacht und Nebel Roß und Reiter, Ruh und Rast; Schimpf und
Schande, Schutz und Schirm, Stumpf und Stiel, Stock und Stein,
Sammet und Seide; Tod und Teufel, Topf und Tiegel; Wind und
Wetter, Wind und Welle.
Blink und blank; dies und das; frisch, fromm, fröhlich, frei;
frank und frei; ganz und gar, gäng und gäbe, grün und gelb; hoch
und heilig, hoch und hehr, hin und her; kreuz und quer, kurz und
klein; matt und müde; sanft und selig, starr und steif.
*) Dieselben sind zu erklären und vorzüglich durch kalligraphische Übungen
dem Sprachschatze der Schüler zu übermitteln.
281
Biegen und brechen; drehen und deuten; hoffen und harren;
knittern und knattern; siegen oder sterben; thun und treiben, lichten
und trachten; vergeben und vergessen; wetten und wagen, weichen und
wanken, wiegen und wägen; zittern und zagen.
Bitterböse, blitzblau; goldgelb, grasgrün; himmelhoch, höllenheiß;
lendenlahm, lichterloh, lirumlarum; widerwillig, widerwärtig, wetter-
wendisch, wunderwas, windelweich.
Bimbam; Griesgram; Klingklang; Mischmasch; Piff, paff, puff;
Singsang, Schnickschnack; Ticktack; Zickzack.
2. Reimpaare. *)
Ach und Krach; Dach und Fach; Guß und Fluß; Gut und Blut;
Knall und Fall; durch Korn und Dorn; Handel und Wandel; in
Not und Tod; in Leid und Freud'; ans Weg und Steg; Lug und
Trug; Stein und Bein; in Saus und Braus leben; Sack und Pack;
außer Rand und Band; auf Schritt und Tritt; mit Sang und Klang;
in Schluft und Kluft; Hülle und Fülle.
Dann und wann; weit und breit; toll und voll; schlecht und
recht; hüben und drüben; dumm und stumm.
Gehen und stehen; hangen und bangen; stehlen und hehlen; lügen
und trügen; hegen und pflegen; schalten und walten; leben und sterben;
leben und weben.
3. Klangverwandle Wörter.**)
Aale, Ahle, alle, Allee; Aas, aß; Acht, acht; Ähre, Ehre; ahmen,
Amen; ablasen, abblasen, ablassen; äußern, eisern. — Bahre, Paar,
bar; backen, packen; Bad, bat, Pate; Bäder, Beter, Peter; bald,
ballt; Ballast, Palast; bang, Bank; Bären, Beeren; Baß, Paß; Be-
kleidung, Begleitung; beide, Beute, Gebäude; Bein, Pein; bedacht,
betagt; berichtigt, berüchtigt; bücken, picken; Biene, Bühne; Bier, Ge-
bühr; Blatt, platt; Boden, Boten; Bohle, Pole; bot, Boot. — Das,
daß; den, denn; Deich, Teich, Teig; Ton, Thon; Dorf, Torf; Drohne,
Throne; Dienste, Dünste, dünnste. — Eile, Eule; Ente, Ende; Eider,
Eiter, Euter; Eichen, Ei'chen, eigen. — Falz, Pfalz; Fall, Pfahl;
Färse, Ferse, Verse; fast, faßt; feil, Pfeil; Fiber, Fieber; Fliege,
Flüche, Pflüge, flügge; für, vier, führ', führte, vierte. — Gerber,
Körper; Garten, Garden, Karten; Gasse, Kasse; Geläute, Geleite;
Kerbe, Körbe; Gräte, Grete, Kröte; Gesinde, gesinnt; Gewand, ge-
wandt; Gewähr, Gewehr; Greis, Kreis; Grieche, krieche, Kriege, Krüge,
Krücke; Gunst, Kunst. — Heide, heute, Häute; hält, Held, hellt; heiser,
heißer; Heer, hehr, her, Herr; hindern, hintern. — Jacht, Jagd; ihm,
*) Dieselben sind zu erklären und vorzüglich durch kalligraphische Übungen dem
Sprachschatze der Schüler zu übermitteln.
**) Dieselben sind möglichst unter Hinweis auf die Ableitung zu erklären und
durch Diktierübungen einzuprägen.
im; ihn, in, Inn. — Kien, kühn, Kinn; Keile, Gäule, Keule; Kellner-
Kölner; Kamerad, Kammrad; Kante, kannte; Kiefer, Küfer. — Last
laßt, last; Leiter, leider, Hungerleider; Leere, Lehre; Lieder, Lider,
Liter; Lärche, Lerche. — Mantel, Mandel; Marter, Marder; mieden,
mieten, mitten, mühten, müden, Mieder; Miene, Mine; missen, müssen;
Mus, muß, Muße; man, Mann; Mahl, Mal. — Namen, nahmen,
nähme, nehme; nähst, näßt, Nest; niesen, genießen. — Orden, Orten;
Organ, Orkan; ölicht, Öllicht. — Reis, reiße, reise; redlich, rötlich;
Rad, Rat; Rand, gerannt; Ried, riet; ruhte, Rute. — Saal, Schick-
sal; säen, sehen, sähen; Sägen, Segen; Saite, Seite, Seide; Sand,
gesandt; sang, sank; sengen, senken; Säule, Seil, Zeile; Schaft, schafft;
Schild, schielt, schilt; sich, Sieg, siech; späht, spät; Sohle, Sole;
spielen, spülen; stählen, stehlen; stelle, Ställe; Stiel, Stil, stiehl, still;
Stränge, Strenge. — Der Tau, das Tau; Ton, Thon; Tod, tot,
töten; Uhrteil, Urteil. — War, wahr, Ware; Waden, waten; wägen,
wegen; weisen, weißen; Weiden, weiten; Wärter, werter, Wörter;
Werg, Werk; wider, wieder, Widder, Gewitter, erwidern; Wind, ge
winnt, Gewinst; wird, Wirt, verwirrt. — Zeichen, zeigen, zeugen;
Zähren, zehren, zerren.
Inhaltsverzeichnis.
Aas deutsche Walk in der Heschichte,
sjjr 1* alten ^eutfdjen* Verfasser Seite
1. Die Sitten der alten Deutschen...............................Duller 5
2. Die Kimbern und Teutonen.....................................Duller 8
3. Drusus' Tod......................................... • • Simrock 10
4. Armin, der Befreier Deutschlands....................... Grube 10
5. Das Kampfspiel..............................................Freytag 14
2. Die Völkerwanderung.
6. Attila, die Gottesgeißel............................Kohlrausch 18
7. Das Grab im Busento................................. v. Platen 20
8. Die deutsche Sage von Siegfried.....................Osterwald 20
3. Die Karolinger.
9. Karls des Großen Krönung und Walten...........................Spieß 33
10. Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt............................Gerok 36
11. Das weiße Sachsenroß................................... M. v. Oer 37
12. Klein Roland....................................................Uhland 38
4. Die sächsischen Kaiser.
13. Heinrich der Städteerbauer.......................................Andrä 39
14. Heinrich der Finkler......................................- Vogl 41
15. Die Krönung Ottos I.....................................Giesebrecht 42
16. Kaiser Otto I und Heinrich...........................v. Mähler 44
17. Otto mit dem Barte...............................................Grimm 45
18. Willigis.........................................................Grimm 48
5. Die fränkischen Kaiser.
19. Heinrich IV. zu Canossa.............................A. W. Grube 48
20. Heinrich IV. und Heinrich V.............................M. v. Oer 50
21. Wickher..............................................Wolfg. Müller 50
6. Die Hohenstaufen.
22. Die Weiber von Weinsberg...................................Ghamiffo 51
23. Friedrich Barbarossa und Hartmann von Siebeneichen . . Streckfuß 52
24. Schwäbische Kunde...............................................Uhland 53
25. Friedrich Rotbart...............................................Geibel 54
26. Kyffhäusersagen..............................................Bechstein 54
7. Kaiser aus verschiedenen Häusern.
27. Rudolf von Habsburg als Richter..................................Hauff 55
28. Rudolfs Ritt zum Grabe.................................F. Kerner 56
29. Wilhelm Tell....................................................Bäßler 57
30. Kaiser Albrechts Tod.......................................Schiller 59
31. Der fromme Schweppermann................................... Curtman 60
8. Bilder aus der Kulturgeschichte des Mittelalters.
32. Das Rittertum im Mittelalter.................................Weiter 61
33. Der Sänger...................................................Goethe 65
34. Die Femgerichte..........................................Kohlrausch 65
284
Nr.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
55.
56.
57.
58.
59.
60.
61.
62.
63.
64.
65.
66.
12.
67.
68.
69.
70.
71.
72.
73.
74.
75.
76.
77.
78.
79.
80.
81.
82.
o. Das Reformationszeitalter. «erfahr
Dr. Martin Luther..................................H. Weber
Der Anfang der Reformation................................Andrä
Der Fortgang der Reformation..............................Andrä
Die Vollendung der Reformation............................Andrä
Luther beim Tode seines Töchterleins.................Matthesius
Dr. Luthers Wohlthätigkeit...............................Bäßler
Kaiser Karl V. am Grabe Luthers.......................Hagenbach
Der Pilgrim vor St. Just..................................Malen
Gustav Adolf.......................................H. Weber
Plünderungsscene aus dem 30 jährigen Kriege . v. Grimmelshausen
Seite
67
69
71
75
76
76
77
77
78
79
IO. Das Zeitalter Friedrichs des Großen.
Der erste Hohenzoller in Brandenburg.......................Henning 79
Der große Kurfürst.......................................Deinhardt 81
Die Schlacht bei Roßbach.............................G. Wirth 82
Der Choral von Leuthcn...............................H. Besser 85
Friedrichs des Großen Mut.....................................Andrä 85
Geschichten von Friedrich dem Großen........................Kugler 86
Aus dem Leben Maria Theresias.............................Petiöcus 88
Kaiser Josef II. und der Amtmann..............................Andrä 89
11. Deutschlands Fall und Erhebung.
Die Königin Luise.......................................H- Weber 89
Andreas Hofer...........................................v. Mosen 92
Die Rückkehr der Franzosen aus Rußland...............G. Frehtag 92
Das Franzosenheer.............................................Arndt 94
An mein Volk..............................Friedrich Wilhelm 111. 95
Das preußische Volk im Jahre 1813.............................Arndt 96
Lützows wilde Jagd...................................Th. Körner 97
Theodor Körner..............................................Förster 98
Der Trompeter an der Katzbach.................................Mosen 99
Die Leipziger Schlacht........................................Arndt 99
Die drei Gesellen......................................... Nückcrt 100
Blücher am Rhein............................................Kopisch 101
Blüchers Marsch nach Waterloo...............Varnhagen v. Ense 101
Der deutsche Mann.............................................Arndt 103
Deutschlands Rückkehr zur Einheit, Einigkeit und Macht.
Des Deutschen Vaterland....................................Arndt
Von Ems nach Berlin.......................................Daheim
Wilhelm am Grabe Luisens.................................Hesekiel
Die Wacht am Rhein..............................Schneckenburger
Im Elsaß...........................................A. Meißner
Die Trompete von Gravelotte..........................Freiligrath
Die preußische Landwehr vor Metz................Engl. Zeitung
Der Sieg von Sedan....................................Bodenstedt
Der Kaisertag zu Versailles...........................R. König
Kaiser Wilhelm .................................Hoffmann v. F.
Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland.................Alb. Träger
103
104
108
108
109
110
110
111
112
114
115
Land und Leute.
Das Lied der Deutschen......................
Von Vaterland und Freiheit..................
Deutschland ................................
Die Erde....................................
Die Sonne ..................................
Hoffmann v. F.
.... Arndt
.... Luden
.... Hebel
.... Hebel
115
116
116
116
117
Sîr.
83.
84.
85.
86.
37.
88.
39.
90.
91.
92.
93.
94.
95.
96.
97.
98.
99.
100.
101.
102.
103.
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107.
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111.
112.
113.
114.
115.
116.
117.
118.
119.
120.
— 285 —
1. An der Nord- und Ostsee.
Ebbe und Flut ...................................
Die Halligen.....................................
Strandbild.......................................
Die Sturmflut in der Ostsee am 13. Nov. 1872 . .
Georg-Erkert-Instîtut
für international
Schulbi!chforschur>g
Braunschvveig
-SchiiibuchbibHcthek •
Verfasser Leite
. . . Kohl 120
. Biernatzky 122
R. Gottschall 124
. . Kalifen 124
2. In der Tiefebene.
Das Marschland.................................................Kohl 127
Im Spreewalde...............................................Wallner 129
Die norddeutschen Moore......................................Daniel 131
3. In deutschen Mittelgebirgen.
Brockenreise.........................................H. Heine 132
Thüringen............................................L. Storch 134
Das Fichtelgebirge...................................H. Weber 135
Das Erzgebirge...........................................Engelhardt 136
Aus dem schlesischen Gebirge............................Freiligrath 138
Das Riesengebirge............................................Daniel 139
Der Schwarzwald..............................................Daniel 140
Zwei Berge Schwabens.......................................Gerok 142
4. In den Alpen.
Die Alpen................................................. Tschudi 143
Der Alpenjäger.............................................Schiller 148
Der Geißbube................................................Tschudi 148
Hans Euler....................................................Seidl 151
5. Deutsche Ströme.
Das Lied von den deutschen Strömen . . M. v. Schenkendorf 152
Die erste und letzte Arbeit der Elbe.................H. Wagner 153
Bilder vom Rheine a. Der Rhein................................Grube 154
b. Der Rheinfall bei Schaffhausen . . Fr. Hoffmann 156
e. Sonntags am Rhein......................... Reinick 157
d. Das niederrheinische Bergland. . . Mendelssohn 157
6. Die Lorelei..............................H. Heine 158
Der Reiter und der Bodensee..................................Schwab 159
Die Donau . . .........................................H. Weber 160
6. In deutschen Städten.
Berlin, die deutsche Kaiserstadt.............................Daniel 162
Der Glockenguß zu Breslau........................With. Müller 164
Frankfurt am Main...........................................Kopisch 165
Hamburg...................................................Lauckhard 166
In Leipzig.............................................H. Weber 168
Der Straßburger Münster..................................Lauckhard 171
Nürnberg......................................................Meyer 172
Deutsche Aaiurbilder.
1 Der Jahreslauf im Vaterlande.
Frühlingsglaube.............................................Uhland 174
Der Frühling, ein Lebengeber der Natur..................Kl. Harms 174
Frühlmgsmahl.......................................Wilh. Müller 176
Wie der Wald erwacht.......................................Tschudi 176
Die Fülle des Sommers....................................Kl. Harms 177
Der Herbst, ein reicher Zahlmeister.......................Walther 177
Ein Wintertag im Walde....................... Karl Ruß 179
288
Nr. 2 Vaterländische Pflanzen. Verfasse Seite
121 Aus dem Walde............................................Geibel 182
122. Die Weide..........................................H. Wagner 182
123. Die Obstbäuine...........................................Masius 183
124. Die Linde ..........................................H. Jäger 184
125. Die Eiche...................................................Grube 186
126. Die Buche................................................Masius 188
127. Fichte und Tanne..................................Roßmäßler 189
128. Der Bäume Gedanken..................................A. Stöber 190
129. Der Weinbau an der Mosel..................................Kohl 191
130. Die Kastanie..............................................Rückert 193
131. Die Lebensgeschichte des Flachses..................H. WagNer 193
132. Der Wegerich........................................Glaubrecht 196
3. Vaterländische Tiere.
133. Bildliche und sprichwörtliche Redensarten bezüglich der
Haustiere................................................Jutting 197
134. Der Schäferhund.............................................Brehm 199
135. Der Iltis..........................................H. Wagner 200
136. Roß und Reiter....................................Gartenlaube 201
137. Der Steinadler............................................Tschudi 204
138. Der Bussard..................................................Lenz 206
139. Die Wiege im Schilfe...............................H. Wagner 208
140. Frosch und Kröte..............................................Ruß 209
141. Eidechse und Blindschleiche...................................Ruß 210
142. Der Hering..................................................Voigt 213
143. Ein Nestbauer unter den Fischen...............................Ruß 215
144. Der Hirschkäfer....................................Poppig 216
145. Der Borkenkäfer.....................................A. Stöber 217
146. Der Seidenspinner.....................................H. Wagner 218
147. Die Ameisen.................................................Elide 220
4. Tierfabeln.
148. Der Wolf auf dem Totenbette...............................Lessing 222
149. Der Rabe und der Fuchs....................................Lessing 223
150. Die Gans................................................ Lessing 223
151. Der Wolf, der Fuchs und der Kranich.................Grimm 223
152. Der Habicht und die Störche.................................Gleim 224
153. Der Hänfling......................................Lichtwer 224
154. Der Löwe und der Wolf.................................. Lichtwer 225
155. Die Schlange und der Aal.........................Krummacher 225
156. Der unzufriedene Esel..............................Meißner 226
157. Der Kreuzschnabel.................................Jul. Mosen 226
158. Vom Wolf und Lämmlein......................................Luther 226
Spiegelbilder deutschen Lebens.
1. Zum Erzählen.
159. Wie schön leuchtet der Morgenstern.................Ahlfclo 227
160. Der Schneider in Pensa......................................Hebel 229
161. Kannitverstan...............................................Hebel 232
162. Der Rittmeister Kurzhagen...............v. Pustkuchen Glanzow 234
163. Der arme Musikant und sein Kollege................O. v. Horn 235
164. Ein Zug aus dem Leben Mendelssohn-Bartholdys . . O. v. Horn 237
165. Aus dem Leben Gellerts............................D t». Horn 238
166. Das Glück durch die Gelbwurst.....................B. Auerbach 240
287
1
Nr.
167.
168.
169.
170.
171.
172.
173.
174.
175.
176.
177.
178.
179.
180.
181.
182.
183.
184.
185.
186.
187.
188.
189.
190.
191.
192.
193.
194.
195.
196.
197.
198.
199.
200.
201.
202.
203.
204.
205.
206.
207.
208.
209.
210.
211.
1.
2.
3.
4.
Verfasser
Die Posaune des Gerichts................................B. Auerbach
Der gekreuzte Dukaten...................................23. Auerbach
Der Geisbub von Solenhofen.................................K. Stöber
Das Handelshaus Gruit van Steen.........................A. Barth
Das Kirschenessen auf dem Schlachtfelde.................K. Wagner
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst . . . K. Wagner
Major Tellheim und sein Diener................................ Lessing
Die Nachbarn............................................K. Stöber
Eine Ohrfeige zur rechten Zeit .... Oldenburger Volksbote
Ein Brief von Goethes Mutter............................Clis. Goethe
2. Zum Singen und Sagen.
Muttersprache............................M. v. Schenkendorf
Ein echter Mann....................................Jul. Sturm
Der alte Landmann und sein Sohn....................L. Hölty
Das Gewitter..........................................Schwad
Das taube Mütterlein...............................F. Halm
Wenn du noch eine Mutter hast......................Kaulisch
Das Erkennen...............................................Vogl
Ein Friedhofsgang..........................................Vogl
Die Gottesmauer........................................Brentano
Die alte Waschfrau.....................................Chamisso
Der Wanderer in der Sägemühle............................Kerner
Der güldene Ring....................................Scherenberg
Die Sonne bringt es an den Tag........................Chamisso
Die Kapelle..............................................Uhland
Die Rache................................................Uhland
Das Schifilein...........................................Uhland
Das Schwert..............................................Uhland
Der Vater und die Söhne..............................Gellert
Des armen Knaben Christbaum..............................Gerok
Tanne und Rebe.....................................Z. Kerner
3. Zum Nachdenken.
Der Greis und der Tod............................................Äsop
Zum 7. Gebot..................................................Ahlfeld
Vaterlandsliebe.................................................Arndt
Trost im Unglücke............................................ Herder
Das böse Gewissen.........................................K. Stöber
Der Einsiedler................................................Caspari
Der freundliche Herr..........................................Ahlfeld
Die halbe Flasche.............................................Caspari
Altes Gold.......................................................Horn
Goldene Sprüche . v. Logau. Rückert. Goethe. W. Müller
Lerne multiplizieren............................................Hebel
Nützliche Lehren................................................Hebel
Sprichwörter................................................Volksmund
Goldenes A-B-C..............................................Volksmund
Rätsel...................................Hebel, Rückert, Schiller
Anhang.
Stabreime............................
Reimpaare...........................
Klangverwandte Wörter................
Inhaltsverzeichnis...................
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Verlag von Julius Klinkhardt in Leipzig und Kortin.
Lehr- und Lesebuch
Zur: Pflege ncrtioncrl'elL Mil'düng
herausgegeben » an
Dr. W. Jütting und Hugo Weber
-i. a)Für 8k!assige Bürgerschulen, Mittelschulen, Unter-unö Mittelklassen höherer Schulen.
1. Schuljahr. Fibel. (82 S.) Preis roh 0,45 Mk., geb. 0,60 Mk., für samt»
liche Ausgaben.
2. „ Wohnort I. (176 S.) geh. 0,70 Mk., geb. 1 Mk.
3. „ Wohnort II. (224 S.) geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
4. „ Heimat. (208 S.) geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
5. „ Vaterland I. (224 S.) geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
6. „ Vaterland II. (224 S.) geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
7. u. 8. „ Die weite Welt. (416 S.) geh. 1,40 Mk., geb. 1,75 Mk.,
oder Die Welt im Spiegel der Nationallittcratur. (424 S.) geh.
1,25 Mk., geb. 1,60 Mk.
b) größerer Berücksichtigung des litteraturkuiidücheu Unterrichts:
5. Schuljahr. Vaterland. (288 S.) geh. 1 Mk., geb. 1,35 Mk.
6. „ Die Welt im Spiegel der Nationallittcratur I. (224 S.)
geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
7. u. 8. „ Die Welt im Spiegel der Nationallittcratur II. (432 S.)
geh. 1,30 Mk., geb. 1,65 Mk.
7. u. 8. „ Teutsche Sprache und Dichtung. (68 S.) 0,40 Mk.
Für das 7. und 8. Schuljahr kann eventuell auch Weite Welt (einbändig) oder Die Welt im
Spiegel der Nationallittcratur (einbändig, siehe unter ö) eintreten.
B. Für 4—7 Massige Schulen.'
a) 3für 4Klussige Schulen.
Mittelstufe': Wohnort und Heimat. (264 S.) geh. 0,90 Mk., geb. 1,20 Mk.
Vaterland. (288 S.) geh. 1 Mk., geb. 1,35 Mk.
Weite Welt oder Die Welt im Spiegel der Nationallittcratur (siehe Gruppe ^a).
b) Für 5—7Klachge Schulen.
Wohnort. (264 S.) geh. 1 Mk., geb. 1,35 Mk.
Heimat. (208 S.) geh. 0,80 Mk., geb. 1,10 Mk.
Vaterland. (288 S.) geh. 1 Mk., geb. 1,35 Mk.
Weite Welt oder Die Welt im Spiegel der Nationallittcratur (siehe Gruppe Aa).
C. Für 2—4 Klllsslge Schulen (Landschulen).
Mittelstufe: Wohnort uttD Heimat. (264 S.) geh. 0,90 Mk., geb. 1,20 Mk.
Oberstufe: Vaterland und weite Welt. (368 S.) tzeh. 1,20 Mk., geb. 1,55 Mk.
v. Für IKlassige Schulen.
Vvlksschullesebnch. (384 S.) geh. 1,20 Mk., geb. 1,55 Mk.
E. Lehrbücher.
1. Lehrbuch f. Anschauungsunterricht und die Heimatkunde, brosch. 1,50 Mk.
2. Kleines Neallehrbuch. (128 S.) 0,50 Mk.cart. 0,60 Mk. Zu den Ausgaben 0,v,La.
3. GröszeresNeallchrbnch. (175S.)0,75Mk.geb. 1,05 Mk. Zu den Ausgaben Au.Bb.
4. Deutsche Sprache u. Dichtung. (68 S.) 0,40 Mk. Poetik, Metrik, Litteraturkunde.
5. Heimatkunde vom Königreich Sachsen. I. Kurs 0,35 Mk., II. Kurs 0,25 Mk.
Stöhner, Ernst, Kehr- und Kesebuch für städtische und geiverbiiche Fortbildungs-
schulen, roh 1,20 Mk., geb. 1,55 Mk.
Weber, Hugo, Kesebuch für ländliche Fortbildungsschulen, geh. 1 Mk., geb. 1,35 Mk
Die Einbände sind solid und haben Lederrücken.
Buchdruckerei Julius Klinkhardt, Leipzig.