315 die höchste Gefahr bringt. Einst schlich ein Gemsjäger mehrere Tage hindurch einer Gemse und ihren zwei Jungen nach. Ver¬ geblich hatte er sich bemüht, ihnen beizukommen. Da endlich, als er an einer steilen Wand emporgeklommen war, bemerkte er die Tiere in einer Nische des Felsens. Froh über die sichere Beute, drang unser kühner Jägersmann behutsam vor. Vor ihm lag eine steile unergründliche Schlucht, und hinter ihm stieg eine schroffe Felswand senkrecht auf. Nach diesen beiden Seiten war ein Entkommen der Tiere unmöglich. Nur in der Nähe des Eingangs der Nische waren die Felsen zerklüftet und bildeten einige Absätze, über die hinweg wohl die alte Gemse fliehen konnte, für die Jungen aber waren sie zu hoch. Vorsichtig näherte sich jetzt der Jäger; doch kaum bemerkte die Gemsen¬ mutter ihren Feind, so stürzte sie auf ihn ein und riss ihn mit den Hörnern zu Boden. Seine Lage war höchst gefährlich. Die Büchse half ihm nichts, denn er musste mit beiden Händen sich festhalten, um nicht in die fürchterliche Tiefe zu stürzen, und nur mit dem einen Fusse konnte er sich gegen die auf ihn eindringende, durch Verzweiflung und Mutterliebe zur grössten Wut gereizte Gemse wehren. Da es unserem Jäger nach und nach gelang, etwas näher zu rücken, und die Gemse wohl einsah, dass sie den Feind nicht in den Abgrund zu stürzen vermochte, so eilte sie schnell zu ihren Jungen zurück, lief ängst¬ lich schreiend um sie herum und machte sie so auf die ihnen drohende Gefahr aufmerksam. Jetzt sprang sie auf einen der Absätze und meckerte nun verlangend zu den Kleinen hinab, als wollte sie diese zu sich herauf rufen. Die kleinen Tiere sprangen auch möglichst hoch an dem Felsen empor, aber sie vermochten nicht, den Absatz zu gewinnen. Da fand denn die Mutterliebe einen anderen und glücklicheren Ausweg. Die alte Gemse stellte sich mit den Hinterfüssen auf den Boden der Grotte und be¬ rührte hoch ausgreifend mit den Vorderfüssen die Felswand. So bildete sich eine Brücke für ihre Jungen, welche denn auch die Absicht der Mutter sogleich verstanden, wie ein Paar Katzen auf den Rücken derselben sprangen und den rettenden Felsvor¬ sprung erreichten. Dies alles war das Werk einiger Augen¬ blicke, während welcher sich der Jäger aufrichten und seine Büchse herabreissen konnte. Doch als er sie abschoss, war nichts von den Gemsen zu sehen, und die Kugel prallte an den Fels¬ wänden der Nische ab. Nicht selten geschieht es, dass der Gemsjäger den ganzen Tag nicht ein einziges Tier erblickt oder ihm nicht nahen kann. Der Abend bricht herein, dichte Nebel lassen ihn kaum wenige Schritte weit sehen, und so muss er auf den kalten Bergen, etwa in einer Höhle, ohne jede Bequemlichkeit übernachten und ist der Gefahr ausgesetzt, zu erfrieren.