Bleibe ehrlich! 15 deren Wohlgeruch das gesamte menschliche Leben durchzieht. Es ist die Bescheidenheit, diese allen wahrhaft großen Menschen eigentümliche Tugend, die nichts anderes ist als das Bewußtsein eigener Unvollkommen¬ heit. Sie ruht aus der Erkenntnis der menschlichen Schwäche und der göttlichen Gnade, wie sie das Lhristentum lehrt, weshalb sie mit jeder Hähern Begabung wächst, wo die Bescheidenheit mit dem Talente sich verbindet, da ermöglicht sie die Freude an jeder schönen Gabe, ohne den zu kränken, dem sie nicht geworden; wo die Demut den Grund des Lebens bildet, da wird keine geistige Größe verkannt, keine erhabene Erscheinung beneidet und in den Staub gezogen; denn die Religion hat alles geheiligt. Und der wenig empfangen, erschaut in dem, dem viel gegeben ward, die Reichtümer seines Gottes; alle aber rühmen nicht sich, sondern den, der einem jeden gegeben nach Wohlgefallen. So verschönert die Demut das Leben; doch das ist nicht genug; sie erhält das Leben, ja sie ist die unerläßliche Bedingung alles gesunden, wahrhaft menschlichen Lebens. Denn wo Demut, da ist freiwilliger Gehorsam, dieses Band der Geister, das einzige des Menschen würdige Band, das Geheimnis des Friedens. „Die Fähigkeit," sagt Wilhelm von Humboldt, „sich einem fremden willen, bloß weil es ein solcher Wille ist, auch geradezu gegen die Neigung zu unterwerfen, dieser Fähigkeit bedarf jeder, auch der Mann. Sie macht überdies das Gemüt milder, weicher und, so sonderbar es scheint, zugleich stärker, selbständiger und der Freiheit würdiger." Nimm den freien Gehorsam aus der Familie, dem Staats- und Völkerleben, und nichts bleibt mehr als rohe Gewalt und knechtische Erniedrigung. Ohne Demut wird der Herr ein Tyrann, der Diener ein stets murrender Sklave. Nach s. Hettmger. 16. kleide ehrlich! In einer Handelsstadt Norddeutschlands lebte ein Kaufmann, Namens Müller. Ihm begegnete oft ein junger, wohlgekleideter Mensch, der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr Müller er¬ widerte den Gruß zwar gern; aber da er sich nicht erinnerte, den jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so glaubte er, daß dieser ihn mit einem andern verwechsele. — Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde eingeladen, und als er zur bestimmten Zeit in dessen Hause eintraf, fand er den jungen Mann schon mit dem Hausherrn im Gespräch. Der Wirt wollte nun seine beiden Freunde miteinander bekannt machen; aber der jüngere sagte: „Das ist nicht nötig; wir kennen uns schon viele Jahre.“ — „Ich glaube, Sie sind im Irrtum“, erwiderte Herr Müller, „ich habe aller¬ dings seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von Ihnen be¬ kommen; aber sonst sind Sie mir ganz fremd.“'— Und doch kenne ich Sie lange“, antwortete der junge Mann, „und freue mich, Ihnen heute herzlich danken zu können.“ — „Wofür wollen Sie mir danken?“ fragte Herr Müller. — „Das ist allerdings eine alte Geschichte“, versetzte jener, „aber wenn Sie mir einige Augenblicke zuhören wollen, so werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern. Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe