Wirtschaftliche Bedeutung der Auswanderung. 233 kann nach genauen Ermittelungen selbst die Auswanderung bei ihrem heutigen Umfange nur 1/io der Volkszunahme im Deutschen Reiche ab¬ führen. Sollte also über kurz oder lang Übervölkerung zu fürchten sein, ¿0 wäre dieselbe durch die jetzige Auswanderung nicht abwendbar. 4. Da durch Staatsgesetz die Auswandererfreiheit gewährleistet ist, frühere Verbote mancher Regierungen sich in ihrer Wirkung auch nicht bewährt haben, so ist man darauf bedacht, die Schäden, die dem Vater¬ lande durch die Auswanderung erwachsen, auf andere Weise gut zu machen. Gesetzlich beschränkt ist die Auswanderung nur hinsichtlich der Wehrpflicht, wodurch wehrpflichtigen Personen die Auswanderung nicht gestattet oder erschwert wird. Viele erhalten auch nur die Er¬ laubnis, sich bedingungsweise im Auslande aufzuhalten, bleiben deutsche Untertanen und müssen im Falle eines Krieges auf kaiserliche Auffor¬ derung zurückkehren. Durch diese Gesetze wird das Land vor Schwächung der Wehrkraft geschützt. Sodann ist man bemüht, diejenigen örtlichen Schäden zu be¬ seitigen, welche eine Massenauswanderung verursachen. So werden bei¬ spielsweise im deutschen Osten, namentlich in der Provinz Posen, große Güter seitens der Behörde (Ansiedelungskommission) aufgekauft und zu Bauerngrundstücken zerstückelt. Den Einwanderern aus dem Westen gewährt man bei der Ansiedelung mancherlei Vorteile, so daß sich neuer¬ dings immer mehr Schwaben und Westdeutsche in Posen ansiedeln. Zu¬ gleich — eigentlich in erster Linie — wird hierdurch die Erstarkung des Deutschtums im deutschen Osten erstrebt. 5. Endlich ist man bestrebt, die wegziehenden Landsleute in solchen überseeischen Gebieten zu vereinigen, wo sie deutsche Sprache, Sitten und Gebräuche bewahren, ihre Nachkommen in deutscher Weise erziehen und mit dem Mutterlande in geistigem und wirtschaftlichem Zusammen¬ hange bleiben. Freilich hat diese Arbeit ihre großen Schwierigkeiten, da Deutschland keine klimatisch günstigen Kolonien besitzt, also die Ansiedelungen in fremdem Machtgebiet erfolgen müßten. Seit dem eifrigen Vorgehen des Zentralvereins für Handelsgeographie in Berlin betrachtet man Südamerika in seinen südlicheren Teilen als das für obige Zwecke am günstigsten gelegene Land, wenngleich noch immer recht ungünstige Berichte über die Behandlung von deutschen Auswan¬ derern aus jenen Ländern nach Deutschland dringen. Doch ist dort schon insofern ein kleiner Anfang gemacht, als sich in Südbrasilien be¬ reits ein fester Stamm deutscher Kolonisten befindet, welcher gut vor¬ wärts kommt. Unter andern Vereinen hat sich auch die deutsche Kolonialgesellschaft der Sache angenommen und in Deutsch-Südwestafrika erfolgreiche Versuche zu verzeichnen. Hervorzuheben ist ferner, daß die Kolonialgesellschaft in Berlin ein Auskunftsbureau errichtet hat, welches allen Auswanderungslustigen unentgeltlich gute und zuver¬ lässige Auskunft über die überseeischen Verhältnisse erteilt, um den Auswanderer zu belehren und vor Schaden zu bewahren. — Hoffen wir, daß es gelingt, auch die deutsche Auswanderung so zu gestalten, daß sie unserem Vaterlande zum Segen und Ruhme gereiche. Tromnau, Kulturgeographie des Deutschen Reiches. Aus Dr. Wohlrabes Lesebuch.