Dauerleihgabe von:
Deutsches Institut für internationale pädago-
gische Forschung (DIPF), Frankfurt/Main
'J'-- ^
Lesebuch
ZiX, tn-
für
Gewerbliche Fortbildungsschulen
und
verwandte Anstalten.
V. Lösg.
Erweiterte Ausgabe.
Herausgegeben von
I. Möller.
Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl [ein;
dann bringt Arbeit Segen, dann ist Arbeit Gebet.
Alfred Krupp.
*
Ministeriell genehmigt.
13. Auflage
Preis: gebunden in Original-Ganzleinwandband M. 2.50.
München.
Druck und Verlag von R. Oldenbourg.
Abteilung für Schulbücher.
lo~
Georct-lnststu»
for ,!.r > optional®
Schuih . , .-.hun®
itr ' ivsig
^bhtilbucnuioliQ^B^t
^I§M
Deutsches In-nitiu
für In+ . -•
Pädagogik -M'schttstg
r
ßs'X
/6 (A3,/3)
Bibliv/Chek
Frankfurt / Main
2
se6
Worwort.
Liebe Schüler!
Die Lehrlingszeit bildet den Übergang vom schützenden elterlichen
Hause in das „feindliche Leben". Ihr sollt während derselben durch
eure Lehrherren und Prinzipale wie durch die Fortbildungsschule mit
den Fertigkeiten, Kenntnissen und Tugenden ausgerüstet werden, die euch
befähigen den Kampf ums Dasein mit glücklichem Erfolge zu bestehen.
Die erste Bedingung zur Erreichung dieses Zieles und die Grund-
lage eines wahrhaft glücklichen Lebens überhaupt bildet wahre Gottes-
furcht, ernster religiöser Sinn und edle Sittlichkeit. Aus diesen Tugenden
sprießt von selbst werktätige Nächstenliebe, hingebende Begeisterung für
Gott, König und Vaterland und reine Freude am Schönen und Guten.
Ein siegreicher Kampf mit den Gefahren des Lebens fordert aber auch
einen festen Charakter, der unerschütterlich festhält an dem als recht
und gut Erkannten, sich jedoch der Belehrung nicht verschließt. Wir
sind verloren, wenn wir unsere ideale Gesinnung verlieren; wir haben
aufgehört zu sein, wenn wir unsere Eigenart verlassen.
Eigenart soll sich auch in euren Arbeiten bekunden; denn gerade
darin besteht der Vorzug der Handarbeit vor der Maschine, daß sie die
Eigenart ihres Schöpfers beweist. Deutsche Arbeit galt im Mittelalter
als die gediegenste in ganz Europa, weil in ihr die Seele, der Geist
ihres Erzeugers zum Ausdrucke kam. Sucht auch ihr, soweit möglich,
nicht bloß mit den Händen sondern auch mit dem Kopfe und dem
Herzen zu arbeiten! Beherzigt die Worte Schillers: „Arbeit ist des
Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis". Euch Vorbilder in diesen
edlen Bestrebungen zu geben und euch selbst anzueifern ist eine Haupt-
aufgabe des vorliegenden Buches.
IV
Vorwort.
Ihr sollt daraus lernen, daß Religiosität und Sittlichkeit,
idealerSinn und fester Charakter, Gemeinsinn und Vaterlands-
liebe, daß Bildung des Geistes und Geschicklichkeit der Hände,
rastloser Fleiß und wirtschaftliche Kenntnisse die unerläßlichen
Grundbedingungen zum Erfolge sind, daß das höchste Glück in
dem Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung liegt.
Doch nicht während der Schule und Lehrzeit allein soll euch das
Buch belehrend und ratend zur Seite stehen, es möge euch auch begleiten
auf euren weiteren Lebenswegen.
Ihr werdet gar manches später erst begreifen und verstehen, was
euch in der Schule wegen der Kürze der Zeit und eurer geringen Lebens-
erfahrung nicht eingehend erklärt werden konnte. Nehmt daher das Buch
auch nach Beendigung der Schulzeit zur Hand, verwendet als Gehilfen
zu eurer Weiterbildung die eine oder andere Stunde zum Lesen einzelner
Abschnitte, und wenn ihr euren eigenen Herd gegründet habt, dann
blättert hier und da darin; ihr werdet gar manches finden, was euch
im geschäftlichen, gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Leben zum Vor-
teil gereichen kann.
Möge ein jeder von euch — das war der leitende Grundgedanke
bei Abfassung des Buches und ist unser Wunsch für eure Zukunft —
ein tüchtiger Geschäftsmann, ein wackeres Mitglied seiner Familie, ein
guter Staatsbürger, ein edler Mensch werden!
Gott segne euch und euren Beruf!
Die Herausgeber.
Inhaltsverzeichnis.
(Die mit * bezeichneten Stücke sind Gedichte.)
I. Teil.
Halte immer Gott vor Augen und handle recht!
Nr. L-eite Nr. Seite
»1. Gebet 1 •27. Der Sänger 30
*2. Der Graf von Habsburg . . 1 *28. Hans von Sagan 31
*3. Die Worte des Glaubens . . 3 29. Die Lehre der Natur . . . 32
*4. Lehren 4 30. Die Schule des Lebens. . . 33
5. Heilige den Sonntag! . . . 5 31. Das Loch im Ärmel.... 35
6. Du sollst den Sabbat heiligen 5 32. Was aus einem braven Hand-
7. Vaterlandsliebe 8 werter werden kann .... 37
*8. Eine Stimme aus der Be- *33. Der güldene Ring .... 40
freiungshalle 9 34. Der Weg in den Beruf . . 41
9. König Maximilian H. und sein •35. Zufriedenheit 42
Gesetz 9 36. Fleiß bringt Brot, Faulheit Not 43
•10. Wer ist ein Mann? . . . IO 37. Tobias Witt und Wills . . 45
11. Der Meineid 11 38. Meister Hämmerlein.... 46
*12. Deutscher Rat 12 39. Meister Pfriem 48
•13. Des Sängers Fluch.... 13 4O. Pünktlichkeit 51
*14. Morgenlied 15 *41. Der Glockenguß zu Breslau . 52
15. Ein Gespenst 15 42. Bücke dich l 53
*16. Rat des Vaters an seinen 43. Sei bescheiden! 54
Sohn 15 44. Wie ein alter Meister über
17. Moltke an seine Mutter . . 16 Höflichkeit dachte 55
18. Kindesliebe 17 45. Anstand 57
19. Der Solnhofer Knabe . . . 18 46. Von der Roheit 59
20. Altes Gold 2O •47. Das blinde Roß 61
*21. Freundschaft 21 48. Kaspar Winzcrer von Tölz . 62
22. Liebet eure Feinde I . . . . 22 49. Ein königlicher Wohltäter . . 64
23. Achtung vor dem Alter . . 24 *50. Ostermorgen 66
24. Sei hilfreich in der Not! . . 25 *51. Pfingsten 67
25. Die Neujahrsnacht eines Un- *52. Weihnacht 67
glücklichen 25 *53. Wanderlieder 68
•26. Pflichttreue 27 54. Sprüche 72
H. Teil.
Strebe großen Vorbildern nach!
•55. Segen der Pflicht 75 57. Ein Augsburger Goldschmied 79
56. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! 75 58. Die Fugger 81
VI
Inhaltsverzeichnis.
Nr Seite
»59. Albrecht Dürer.................83
60. Drei Nürnberger Meister . . 84
61. Hans Sachs.....................86
62. Joseph von Utzschneider . . 88
63. Joseph von Fraunhofer . . 91
64. Georg von Reichenbach . . 93
Nr. Seite
65. Friedrich König und Andreas
Bauer.....................96
66. Lothar v. Faber...........98
67. Werner Siemens..... 101
68. James Watt ..............104
69. Georg Stephenson .... 107
III.
Achte und ehre den Staat
70. Die Familie...................111
71. Die Gemeinde..................113
72. Die Ehrenämter des Bürgers 114
*■73. Aus „Hermann und Dorothea" 118
74. Die wundervolle Ordnung des
Staates......................119
75. Bon der Rechtspflege . . . 121
76. Wehrpflicht...................123
77. Mein Eintritt in dre Fremden-
legion .......................125
78. Von den Steuern und Abgaben 128
79. Schulze-Delitzsch und die Ge-
nossenschaften ...............130
80. Von den Versicherungen . . 132
81. Die soziale Gesetzgebung des
Deutschen Reiches .... 134
82. Die Arbeit....................138
83. Arbeitsteilung und Arbeits-
vereinigung ...... 141
84. Vom Eigentum................144
85. Vom Geld....................145
86. Vom Arbeitslohn .... 147
87. Vom Kapital................ 149
88. Vom Kredit..................152
IV.
Beobachte
107. Der Mensch, ein Glied der
Natur........................194
108. Der Mensch, der Herr der Natur 196
109. Voni Bau des menschlichen
Körpers......................199
110. Von Speise und Trank . . 200
111. Die Schädlichkeit des Tabak-
genusses für die Jugend . . 304
und seine Einrichtungen!
89. Von der Konkurrenz und dem
Preise der Waren .... 154
90. Ehrlich währt am längsten . 157
*91. Der Schatzgräber .... 158
92. Vom Wechsel..................158
93. Von der Buchführung . . . 161
94. Meister, Lehrling und Geselle 163
95. Der treue Diener .... 165
96. O Wandern, du freie Burschen-
lust! ....................167
97. Am Sonntag...................169
98. Das Wichtigste aus der Ge-
werbeordnung .............171
99. Hausindustrie................174
100. Kleingewerbe................176
101. Fabrikwesen.................178
102. Das deutsche Kunstgewerbe . 180
103. Die Aufgabe des Handwerks
in der Gegenwart und Zukunft 182
104. Die Werkzeuge von der ältesten
Zeit bis zur Gegenwart . . 184
105. Vom Handel.................187
106. Von den Verkehrsmitteln und
Verkehrswegen...............189
Teil.
Die Natur!
112. Gesundheitspflege in der Werk-
statt .............................205
113. Die Folgen der Trunksucht . 207
114. Die erste Hilfe bei Verletzten
und Scheintoten................209
115. Pferd, Rind, Kamel, Elefant
und Renntier — als Arbeiter 212
116. Die Lederindustrie .... 215
Inhaltsverzeichnis.
VII
Nr. Seite
117. Die Verarbeitung der Wolle 217
118. Der Wert der Fische . . . 220
119. DerSeidenspinneru.dieSeide 222
120. Rohstoffe aus dem Tierreiche 225
»121. Im Walde.....................227
122. DerWaldundseineBedeuiung 227
123. Die Tischler- oder Schreiner-
arbeiten ....................231
124. Die fremden Hölzer . . . 232
125. Pflanzen f. gewerbliche Zwecke 234
126. Die Getreidearten .... 237
127. Mauersteine und Mörtel. . 239
128. Die nutzbaren Gesteine . . 243
129. Der Ton u. seine Verwendung 248
130. Das Glas.....................253
131. Die Salze....................256
132. Das Eisen....................258
133. Der Bessemerstahl .... 260
134. Die Metallindustrie . . . 262
135. Silber aus Ton (Aluminium) 266
136. Brennbare Mineralien . . 269
137. Das Leuchtgas................271
138. Die Luftschiffahrt .... 273
139. Was ist eine chemische Ver-
bindung? ....................275
140. Die vier Hauptbildner der or-
ganischen Natur: Kohlenstoff,
Sauerstoff,Stickstoff,Wasserstoff 278
V.
Lerne Land ur
162. Das Bayerland.............335
•163. So is 's beinunsin Boarnland 337
164. Von der Floßfahrt.... 338
165. München............ . 339
166. Augsburg.................343
167. Regensburg. Die Walhalla
und die Befreiungshalle . . 345
168. Der Bayerische Wald . . . 347
169. Bauernhaus und Gehöfte in
Nordbayern...............349
170. Nürnbergs und Fürths In-
dustrie ..................352
171. Würzburg.................355
172. Die Oberrheinische Tiefebene.
Die Rheinpfalz...........357
Nr. Seite
141. Die Chemikalien des Klein-
gewerbes .....................281
142. Gärung und Fäulnis . . . 285
143. Die Verklärung durch die In-
dustrie ................ ... 293
144. Bedeutung der Maschinen . 296
145. Die einfachen Maschinen . . 298
146. Die schiefwirkende Kraft . . 301
147. Der einseitige Luftdruck . . 303
148. Das Barometer................306
149. Die Schwere, das absolute und
spezifische Gewicht .... 308
150. Die zehnteiligen Maße und
ihre Entstehung.............309
151. Die Wärme....................313
152. Das Thermometer .... 316
153. Über Pferdekraft und Atmo-
sphärendruck .................317
154. Die Dampfmaschine . . . 318
155. Vom Magnetismus . . . 320
156. Die Elektrizität.............322
157. Verwendung der Elektrizität 325
158. Der Telegraph................327
159. Telephon und Phonograph . 329
160. Die Kleinmotoren im Ge-
werbbetrieb.................332
•161. Die Ehre Gottes aus der
Natur.......................334
Leute kennen!
173. Deutschland ...... 359
»174. Des Knaben Berglied. . . 362
175. Die Flüsse, die Lebensadern
des Natur- und Völkerlebens 362
•176. Die deutschen Ströme. . . 363
177. Der Schwarzwald .... 364
•178. Elsaß...................367
179. Der Rheingau............368
180. Das Nationaldenkmal auf dem
Niederwald..............369
181. Der Thüringer Wald und
seine Industrie.........371
182. Leipzig und seine Messe . . 372
183. Berlin..................374
184. Rheinisch-westfälische Industrie 377
VIII
Inhaltsverzeichnis.
Nr. Seite Nr. Seite
185. Hamburg 380 194. Die Wolga 400
186. Die Nord- und Ostsee . . 382 195. Europas Überlegenheit über
187. Bon Deutschlands Binnen- die anderen Erdteile . . . 403
Handel und Verkehr . . . 385 196. Pflanzen-und Tierwelt Asiens 404
188. Der Außenhandel des Deut- 197. Der Suezkanal 406
scheu Reiches 387 198. Deutschlands Kolonien . . 408
189. Die Schweiz 390 199. Amerika 412
190. Wien 392 200. Das Meer 415
191. Frankreich 394 201. Der Golfstrom 418
192. Italien ...... 202. Die Erde als Stern unter den
193. England Sternen 420
VI. Teil.
Erkenne Gottes Walten in deines Volkes Geschichte!
*203. Muttersprache . . . . 425 221. Frankreichs Raub an Deutsch-
204. Die ersten Zusammenstöße der land 463
Römer mit den Bayern . . 426 222. Die Mordweihnacht bei Send-
205. Die Einführung und Ver- ling 466
breitung des Christentums in 223. Friedrich der Große . . . 469
Bayern 428 224. Maximilian III. Joseph von
206. Karl der Große 429 Bayern 471
207. Einfluß der Klöster auf das 225. Wittelsbacher Worte . . . 473
Gewerbe 431 226. Kurfürst Maximilian Jos. IV.,
208. Gründung Münchens 1158 . 433 erster König von Bayern 474
209. Friedrich Barbarossa . . . 434 227. Die Befreiungskriege . . . 476
210 Einfluß der Kreuzzüge auf *228. Am 18. Oktober 1813 . . . 479
Handel und Städtewesen 436 229. Geschichtliche Entwicklung der
211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe in neuerer Zeit . . 480
Gewerbe im Mittelalter . . 438 230. Der Handel der neuen Zeit. 482
212. Zünfte und Innungen im 231. Einst und jetzt 486
Mittelalter 442 232. König Ludwig I 4.39
213. Lehrlings- und Gesellenwesen 233. König Maximilian II. . . . 491
in früherer Zeit .... 444 234. König Ludwig II 493
214. Ein Bild der Städte aus dem *235. Heerbannlied
13. Jahrhundert 446 236. Anteil Bayerns am Deutsch-
215. Der Handel im Mittelalter 448 Französisch. Kriege (1870—1871) 496
216. Ludwig IV., der Bayer . . 450 237. Die Wiederaufrichtung des
217. Erfindungen u. Entdeckungen 454 Deutschen Reiches . . . . 497
218. Die erste Buchdruckerei in *238. Die Krone im .Rhein (1871) 500
Bamberg 456 239. Wilhelm I., Deutscher Kaiser 500
219. Die Renaissance .... 758 240. Luitpold, Prinzreg. v. Bayern 503
220. Kurfürst Maximilian I. von 241. König Ludwig III. v. Bayern 505
Bayern 459 *242. Deutsche Worte 510
Anhang: 1. Die Handwerkskammern. — 2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter
dem Rechtsschutze vor dem Gewerbegerichte. — 3. Geschichte der
Metallarbeiter
I. Teil.
Halte immer Gott vor Augen und handle recht!
1. Gebet.
Herr, den ich tief im Herzen trage, sei du mit mir!
Du Gnadenhort in Glück nnd Plage, fei du mit mir!
Im Brand des Sommers, der dem Manne die Wange bräunt.
Wie in der Äugend Uofenhage, fei du mit mir!
Behüte mich am Horn der Freude vor Übermut,
And wenn ich fetbft an mir verzage, fei du mit mir!
Gib deinen Geist zu meinem Liede, daß rein cs fei,
Und daß kein Wort mich einst verklage, fei du mit mir!
Dein Segen ist wie Tau den Ueben, nichts kann ich selbst;
Doch daß ich kühn das Höchste wage, fei du mit mir!
O du mein Trost, du meine Stärke, mein Sonnenlicht,
Bis an das Ende meiner Tage, fei du mit mir!
Deibel.
2. I>er Graf von Kabsburg.
1. Zu Aachen in seiner Kaiserpracht,
Im altertümlichen Saale,
Saß König Rudolfs heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.
Die Speisen trug derPfalzgrafdesRheins,
Es schenkte der Böhme des perlenden
Weins
Und alle die Wähler, die sieben,
Wie der Sterne Chor um die Sonne
sich stellt,
Umstanden geschäftig den Herrscher der
Welt
Die Würde des Amtes zu üben.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. *
1
2
2. Der Graf von Habsburg.
2. Und rings erfüllte den hohen Balkon
Das Volk in freud'gem Gedränge;
Laut mischte sich in der Posaunen Ton
Das jauchzende Rufen der Menge.
Denn geendigt nach langem, verderblichem
Streit
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit
Und ein Richter war wieder auf Erden;
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Fried-
liche mehr
Des Mächtigen Beute zu werden.
3. Und der Kaiser ergreift den goldnen
Pokal
Und spricht mit zufriedenen Blicken:
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget
das Mahl
Mein königlich Herz zu entzücken;
Doch den Sänger vermiss'ich, den Bringer
der Lust,
Der mit süßem Klang mir bewege die Brust
Und mit göttlich erhabenen Lehren.
So Hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und getan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren."
4. Und sieh! in der Fürsten umgebenden
Kreis
Trat der Sänger im langen Talare;
Ihm glänzte die Locke silberweiß,
Gebleicht von der Fülle der Jahre.
„Süßer Wohllaut schläft in der Saiten
Gold,
Der Sänger singt von der Minne Sold,
Er preiset das Höchste, das Beste,
Was das Herz sich wünscht, was der
Sinn begehrt;
Doch sage, was ist des Kaisers wert
An seinem herrlichsten Feste?"
5. „Nicht gebieten werd' ich dem
Sänger," spricht
Der Herrscher mit lächelndem Munde,
„Er steht in des größeren Herren Pflicht,
Er gehorcht der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt
und braust,
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern
schallt
Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen."
6. Und der Sänger rasch in die Saiten
fällt
Und beginnt sie mächtig zu schlagen:
„Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler
Held
Den flüchtigen Gemsbock zu jagen;
Ihm folgte der Knapp' mit dem Jäger-
geschoß.
Und als er auf seinem stattlichen Roß
In eine Au kommt geritten,
Ein Glöcklein hört er erklingen fern:
Ein Priester war's mit dem Leib des
Herrn,
Voran kam der Mesner geschritten.
7. Und der Graf zur Erde sich neiget hin,
Das Haupt mit Demut entblößet,
Zu verehren mit gläubigem Christensinn,
Was alle Menschen erlöset.
Ein Bächlein aber rauschet durchs Feld,
Von des Gießbachs reißenden Fluten
geschwellt,
Das hemmet der Wanderer Tritte;
Und beiseit' legt jener das Sakrament,
Von den Füßen zieht er die Schuhe
behend,
Damit er das Bächlein durchschritte.
8. „Was schaffst du?" redet der Graf
ihn an,
Der ihn verwundert betrachtet.
„Herr, ich walle zu einem sterbenden
Mann,
Der nach der Himmelskost schmachtet;
Und da ich mich nahe des Baches
Steg,
Da hat ihn der strömende Gießbach
hinweg
Im Strudel der Wellen gerissen.
Drum daß dem Lechzenden werde sein
Heil,
So will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
Durchwaten mit nackenden Füßen."
3. Die Worte des Glaubens.
3
11. „So mög' auch Gott, der all-
mächtige Hort,
Der das Flehen der Schwachen erhöret,
Zu Ehren Euch bringen hier und dort,
So wie Ihr jetzt ihn geehret!
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
Durch ritterlich Walten im Schweizer
Land;
Euch blüh'n sechs liebliche Töchter.
So mögen sie, rief er begeistert aus,
Sechs Kronen Euch bringen in Euer
Haus
Und glänzen die spätsten Geschlechter!"
12. Und mit sinnendem Haupt saß der
Kaiser da,
Als dächt' er vergangener Zeiten:
Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah,
Da ergreift ihn der Worte Bedeuten:
Die Züge des Priesters erkennt er
schnell
Und verbirgt der Tränen stürzenden
Quell
In des Mantels purpurnen Falten.
Und alles blickte den Kaiser an
Und erkannte den Grafen, der das
getan,
Und verehrte das göttliche Walten.
Schiller.
3. Z)ie Worte des Glaubens.
1. Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,
Sie gehen von Mund zu Munde;
Doch stammen sie nicht von außen her,
Das Herz nur gibt davon Knnde.
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.
2. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd' er in Ketten geboren.
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Mißbrauch rasender Toren!
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht!
9. Da setzt ihn der Graf auf sein
ritterlich Pferd
Und reicht ihm die prächtigen Zäume,
Daß er labe den Kranken, der sein be-
gehrt,
Und die heilige Pflicht nicht versäume,
Und er selber auf seines Knappen Tier
Vergnüget noch weiter des Jagens
Begier;
Der andre die Reise vollführet.
Und am nächsten Morgen, mit dankendem
Blick,
Da bringt er dem Grafen sein Roß zurück,
Bescheiden am Zügel geführet.
10. „Nicht wolle das Gott," rief mit
Demutsinn
Der Graf, „daß zum Streiten und Jagen
Das Roß ich beschritte fürderhin,
Das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem
Gewinst,
So bleib' es gewidmet dem göttlichen
Dienst!
Denn ich hab' es dem ja gegeben,
Von dem ich Ehre und irdisches Gut
Zu Lehen trage und Leib und Blut
Und Seele und Atem und Leben."
1
4
4. Lehren.
3. Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt' er auch straucheln überall,
Er kann nach der göttlichen streben;
Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
4. Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke;
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke;
Und ob alles in ewigem Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.
5. Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer,
Sie pflanzet von Mund zu Munde!
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
Euer Innres gibt davon Kunde.
Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
Solang er noch an die drei Worte glaubt. Schmer.
4. Lehren.
1. Wer ins Herze Gott will fassen,
Muß die Welt heraußen lassen:
Gott muß der heraußen lassen,
Wer ins Herze Welt will fassen.
3. Auf was Gutes ist gut warten
Und der Tag kommt nie zu spat,
Der was Gutes in sich hat:
Schnelles Glück hat schnelle Fahrten.
2. Die Welt ist ein gemeiner Tisch,
Drauf alle Menschen essen:
Wohl dem, der dessen, der ihn deckt,
Pflegt nimmer zu vergessen.
4. Ohr und Auge sind die Fenster
Und der Mund die Tür ins Haus;
Sind sie alle wohl verwahret,
Geht nichts Böses ein und aus.
Logau.
Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Mußt dich ums Vergang'ne nicht bekümmern;
Und wäre dir auch das verloren,
Mußt immer tun wie neugeboren.
Was jeder Tag will, sollst du fragen,
Was jeder Tag will, wird er sagen;
Mußt dich am eignen Tun ergötzen,
Was andre tun, das wirst du schätzen,
Besonders keinen Menschen hassen
Und das übrige Gott überlassen.
Goethe.
5. Heilige den Sonntag! — 6. Du sollst den Sabbat heiligen.
5
5. Heilige den Sonntag!
Nicht menschliche Einrichtung ist der Sonntag: er ist Gottes
heilige Stiftung. Der hat ihn gegründet durch seine Ruhe am
siebenten Schöpfungstage. Darum gebietet er zuerst Ruhe. Ruhe
braucht jedes Geschöpf. Ruhe braucht selbst die Erde, daß sie
sich erhole von ihrer Sommerarbeit. Ruhe braucht der Mensch;
denn es ist eitel Mühe und Arbeit auf der Erde. Im Schweiße
unseres Angesichtes sollen wir unser Brot essen; da muß der
Leib seine Ruhe haben. Wer die ganze Woche gebückt an seiner
Arbeit gestanden hat, der will sich auch einmal gerade aufrichten;
darum gebietet Gott: »Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine
Dinge beschicken, aber am siebenten ist der Sabbat des Herrn,
deines Gottes; da sollst du kein Werk tun.« — Doch die Ruhe
des Leibes ist nicht die einzige. Jeder Christ hat seinen äußeren
Beruf. Jeder Beruf hat seine eigene Art. Einer hat die Woche
über Gedanken des Handels und Wandels, ein anderer denkt an
sein Handwerk, ein dritter dient als Arbeiter seinem Herrn, das
Kind arbeitet für seine Schule. Wenn das ohne Rast fortginge,
so würden sich die Kräfte der Seele verzehren. Darum gibt uns
Gott einen Feier- und Ruhetag.
Indem ich aber an diesem Tage meinen irdischen Beruf bei-
seite lege, soll ich an einen anderen Beruf denken. Die Seele
soll den Sorgen und Gedanken des Alltagslebens entfliehen. Am
Sonnabend holt sich der Arbeiter seinen Lohn, wovon er die künftige
Woche leben will. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein,
es gibt auch einen Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit. Das
Brot und Wasser des Lebens reicht dir Gott am Sonntag. Darum
ist der Sonntag die Perle der Tage, die Kraft der Woche, der
Quell der Wüste. Brauche ihn, wozu er gesetzt ist! Ahifeid.
6. sollst den Saööat heiligen.
Kurfürst Max Joseph von Bayern besaß tief im Wald ein
altes Jagdschloß, von dem man die Aussicht in die Alpen hatte; in
der Nähe desselben lag ein kleines Dorf mit Kirche und Pfarrhaus.
Dort pflegte der Kurfürst jeden Herbst einige Wochen zu verleben um
sich an dem edlen Weidwerke zu erfreuen. Einst kam er wieder mit
seiner Gemahlin und einer Anzahl Hofkavaliere dorthin. Aber bald
nach seiner Ankunft begann es zu regnen und die ganze Woche hielt
das schlechte Wetter an. Erst am Samstag nachmittag heiterte sich
6
6. Du sollst den Sabbat heiligen.
der Himmel auf; sofort befahl der Kurfürst alles zur Jagd zu richten
für den kommenden Morgen.
Während droben auf dem Schlosse mit Tagesanbruch sich die
Jagdgesellschaft in Bewegung setzte, studierte unten im Pfarrhause des
Dorfes der Pfarrer gar emsig seine Sonutagspredigt; denn er erwartete
wie gewöhnlich den Kurfürsten und seine Gemahlin zum Gottesdienst.
Aber wie erstaunte, ja erschrak er, als er auf einmal den Schall von Jagd-
hörnern, das Bellen der Hunde vernahm und den Kurfürsten mit seinen
Kavalieren auf einem großen Jagdwagen wie im Flug vorüberfahren sah!
„So, so," sagte der würdige Pfarrherr nach einer Weile, „so hält der
durchlauchtigste Kurfürst seinen Sonntag! Welches Ärgernis! Hat er nicht
selbst einen hohen kurfürstlichen Erlaß ergehen und von den Kanzeln
verkünden lassen, daß das Jagen am Sonntag bei drei Talern Strafe
verboten sei?"
In großer Erregung ging der Greis in seinem Zimmer auf und
ab und überlegte, was er tun solle. Endlich kam er zu einem Ent-
schluß. Er hielt den Gottesdienst ab, dem die Kurfürstin mit dem Hof-
marschall und einigen Damen andächtig anwohnte, und trug seine Predigt
mit vieler Würde und großem Ernste vor; nach derselben entfaltete er
den kurfürstlichen Erlaß und las mit lauter Stimme:
„Wir Maximilian Joseph, Kurfürst von Bayern, tun kund und zu
wissen allen, die es angeht, hoch und niedrig, daß Wir mit gerechtem
Unwillen vernommen, wie es in Unseren Landen hin und wieder schlechte
Leute gibt, die den Sabbat schänden durch Lärmen und Toben in
Schenken und Wirtshäusern, durch Jagen, Fischen und andere weltliche
mit allerhand Störung und Aufsehen verknüpfte Hantierungen in und
außer dem Hause. Wir verordnen demnach, daß jeder, der sich solches
unterfängt und dadurch die dem allmächtigen Gott gebührende Ehre hint-
ansetzt, mit drei Reichstalern und im Wiederholungsfälle mit dem Dop-
pelten gestraft und daß diese Strafe an die Kirche des Ortes, so er
durch sein frevelhaftes Beginnen beleidigt und gekränkt, gezahlt werden
soll. Danach hat sich jedermann gebührend zu richten.
Maximilian Joseph."
Hierauf sprach der Pfarrer den Segen, verneigte sich gegen die Kur-
fürstin, verließ die Kanzel und beendete den Gottesdienst. Gegen Abend
kam die Jagdgesellschaft mit großer Jagdbeute in das Schloß zurück.
Alle waren sehr aufgeräumt und heiter, besonders der Kurfürst, da er
einen prächtigen Edelhirsch geschossen hatte.
Bei der Abendtafel fragte er die Kurfürstin, wie sie den Tag ver-
pacht habe. „Nun," erwiderte diese, „zuerst bin ich in die Kirche ge-
6. Du sollst den Sabbat heiligen.
7
gangen, wie es einem Christen am Sonntag geziemt, und habe die Predigt
angehört und dem Gottesdienst beigewohnt." „Ohne Zweifel," entgegnete
der Kurfürst etwas betroffen, „hat der alte Pfarrer sehr erbauend ge-
predigt?" „Gewiß, wie immer, und nach der Predigt hat er einen
kurfürstlichen Erlaß vorgelesen."
„Einen kurfürstlichen Erlaß? Wes Inhalts?"
„Nicht wahr, Herr Hofmarschall, war es nicht der Erlaß, in dem
Seine Durchlaucht das Jagen am Sonntag verbietet? Wenn es mir
recht ist, muß der Übertreter dieses Erlasses drei Reichstaler Strafe
zahlen."
„So ist es," rief der Kurfürst, lächelte etwas verlegen und sagte:
„Diesmal bin ich in der eigenen Falle gefangen worden. Lieber Hof-
marfchall, befehlen Sie, daß angespannt und der Herr Pfarrer zur Abend-
tafel hierher gebracht werde!"
Es entstand eine augenblickliche Stille, die aber der Kurfürst rasch
unterbrach, indem er von der Jagd sprach.
Der Pfarrer geriet in nicht geringe Aufregung, als der fürstliche
Wagen vor seinem Hause hielt um ihn nach dem Schlosse zu bringen.
Schnell aber verschwand seine Angst und seine Verlegenheit, als ihm
nach feinem Eintritt in den Speisesaal der Kurfürst die Hand entgegen-
streckte und ihn an seiner Seite Platz nehmen ließ. Bald schmeckte ihm
Speise und Trank ganz vortrefflich.
Nach Beendigung der Tafel wandte sich der Kurfürst auf einmal
an den Pfarrer und sagte mit ernster Stimme: „Nun habe ich mit Ihnen,
geistlicher Herr, ein Wort zu sprechen." Es entstand eine feierliche Stille
im Saal und der Pfarrer dachte erschrocken: „Jetzt kommt doch, was
ich im stillen befürchtet habe!" Der Kurfürst fuhr fort: „Seien Sie
ohne Sorge, mein lieber Herr Pfarrer! Ich habe eine Strafe von drei
Reichstalern zu zahlen; denn ich habe den kurfürstlichen Erlaß, den Sie
heute von der Kanzel verkündigten, übertreten."
Mit diesen Worten legte er eine Handvoll Dukaten in ein silbernes
Tellerchen, überreichte es dem Pfarrer und sprach lächelnd: „Gehen Sie
damit an der Tafel herum und sammeln Sie den gesetzlichen Strafbetrag
auch bei diesen Herren ein, die mit mir auf der Jagd gewesen sind!
Keiner von ihnen hat mich an den Sonntag und meinen Erlaß erinnert."
Der Pfarrer verbeugte sich untertänigst dankend und ging nun mit
dem silbernen Teller bei den Jagdgenossen umher. Bald war derselbe
mit einer ansehnlichen Summe bedeckt und der Pfarrer sprach seinen
herzlichsten Dank aus.
8 7. Vaterlandsliebe.
«War nur unsere Schuldigkeit," bemerkte der Kurfürst, „dem Ver-
dienste seinen Lohn, dem Vergehen seine Strafe! Im übrigen bleiben
wir Euch in Gnade gewogen." Mit diesen Worten hob er die Tafel auf.
Voll innigen Dankes betrachtete der Pfarrer zu Hause die große
Summe Geldes, die es ihm ermöglichte sein armseliges Kirchlein würdig
verschönern zu lassen. „Der liebe Gott," ries er aus, „weiß doch selbst
das Üble zum besten und sogar zu seiner Ehre zu wenden. Er sei
gelobt und gepriesen!"
7. Waterkandstiebe.
a. Nicht bloß spartanische Frauen haben ihre Gatten und Söhne dem
Tode fürs Vaterland geweiht, auch deutsche Mütter haben sich solchen Sinnes
rühmen dürfen. — Im Jahre 1404 bekriegte Herzog Gerhard von Holstein
die Ditmarsen, an denen er eine Niederlage und den Tod eines Bruders zu
rächen hatte. Zn seinem Heere zog auch ein Herr von Pogwisch samt acht
Söhnen. Die entscheidende Schlacht war geliefert. Da kommt anderen Tages
ein Bote zu der Mutter und spricht: „Liebe Frau, seid getrost! Eure acht
Söhne sind im Treffen gefallen, aber Euer Mann ist noch am Leben!"
Hierauf antwortete sie: „So ist er durch die Flucht entronnen? Und ist ihm
das Vaterland nicht so lieb gewesen wie meinen Söhnen?" Der Bote aber
sprach: „Wohl ist Euer Mann noch am Leben; aber er trägt eine schwere
Wunde, so daß er wohl nimmer wieder aufkommen wird." Da erhob die
starkmütige Frau Augen und Hände zum Himmel und sagte: „Gott sei
gelobt, daß er mir einen solchen Mann und solche Söhne gegeben hat, die
ihr Leben für das Vaterland gewagt haben und als tapfere Streiter in den
Tod gegangen sind!" Jacobs.
b. O Mensch, du hast ein Vaterland, ein heiliges Land, ein geliebtes
Land, eine Erde, wonach deine Sehnsucht ewig dichtet und trachtet.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des Himmels
zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und
seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brausten: da
ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo das erste Menschenange sich liebend über deine Wiege neigte, wo
deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug und dein Vater
dir die Lehren der Weisheit und des Christentums ins Herz grub: da ist
deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Und seien es kahle Felsen und öde Inseln und wohne Armut und Mühe
dort mit dir, du mußt das Land ewig lieb haben; denn du bist ein Mensch
und sollst es nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen!
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn, sondern
in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewißheit, daß du vom
Himmel stammest.
8. Eine Stimme aus der Befreiungshalle. — 9. König MaximilianII. und sein Gesetz. 9
Da ist Freiheit, wo du leben darfst, wie es dem tapferen Herzen gefällt,
wo du in den Sitten und Weisen deiner Väter leben darfst, wo dich beglücket,
was schon deinen Ureltervater beglückte.
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind das Allerheiligste auf Erden,
ein Schatz, der eine unendliche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste
Gut, was ein guter Mensch auf Erden besitzt und zu besitzen begehrt.
Arndt.
8. Kine Stimme aus der Wefreiungstzasse.
(1870.)
Horch! Es rauschen an der Donau hoch vom Berge leise Lieder;
Aus dem Tale klingt's wie Antwort; von den Felsen hallt es wider;
Denn die Geister jener Helden, die für Deutschlands Freiheit fochten,
Die den übermüt'gen Korsen mit dem Schwerte unterjochten,
Haben auch den Ruf vernommen: alle sind sie auferstanden;
Denn aufs neue gegen Frankreich brennt der Kampf in deutschen Landen
Und aus ihrer stillen Runde tritt hervor ein greiser König.
Wie ein ferner Donner hallet seine Stimme weithintönig:
„Der ich euch den Tempel baute eure Namen zu bewahren,
Für der Ewigkeit Geschlechter eure Taten aufzubahren,
Hört es, wieder hat der Gallier, den ihr einstens habt geschlagen,
In die friedgewohnten Lande uns den wilden Krieg getragen;
Aber unsre braven Enkel erbten auch mit deutscher Treue
Unsern Zorn, den heilig grimmen, und sie sammeln sich aufs neue;
Festgeeint und sturmbegeistert ziehen sie dem Kampf entgegen;
Eures Heldengeistes Feuer wogt in ihres Herzens Schlägen.
Der des Weltgerichtes Wage hält, der wird den Tag erschaffen,
Wo die alten Feinde wieder zittern vor den deutschen Waffen.
Dann sind neue Siege glorreich hier im Tempel einzubuchen,
Hoher Helden Namen werden hier ein ewig Denkmal suchen!"
Ludwig rief es und es dröhnte von der grauen Felsenwehre.
Trag es, heilig Echo, trag es hinwärts bis zum deutschen Heere!
Seidl.
9. König Maximilian II. und sein Gesetz.
Auf einer Reise, welche König Maximilian II. von Bayern im Jahre
1858 durch das bayerische Hochland unternahm, war er eines Tages mit
seiner Reisegesellschaft auch zum Höllental an der Zugspitze hinaufgestiegen.
Dort spannte sich ein Steg, ans alten, mächtigen Stämmen gefügt, über
die wohl 14 m breite und sehr tiefe Felsenschlncht. Doch da die Balken
des Steges vermorscht waren, so verbot eine Warnungstafel bei Strafe
das Betreten des baufälligen Steges. „Königlich Bayerisches Landgericht
Werdenfels" stand unter dem Verbot. Der König hatte das Verbot
10
10. Wer ist ein Mann?
gelesen, trotzdem zeigte er große Lust über oder doch wenigstens auf
den Steg zu gehen; denn der Blick von dem Steg in die gähnende
Tiefe mußte grauenvoll schön sein; zudem lagen unten auch die Trümmer
einer Lawine, welche vom diesseitigen Rande der Schlucht nicht gesehen
werden konnten. Als einer der Führer das Wort hatte fallen lassen,
man könne sich wohl bis zur Mitte des Steges wagen, wenn einer hinter
den andern gehe und jeder sich genau auf dem linken Balken halte, da
waren denn alle Warnungen der Begleitung vergebens, daß der König
nicht nutzlos so großer Gefahr sich aussetzen möge. Er wollte durchaus
die Lawine sehen und bestand um so mehr darauf, als er ärgerlich über
eine Lawine war, die, tags vorher niedergegangen, den Plan vereitelte
den Gipfel der Zugspitze zu besteigen.
Als jedoch alles Warnen, Zureden und Bitten beim König nicht
verfangen wollte, da deutete einer der Herren der Begleitung auf die
landgerichtliche Tafel und sprach: „In Eurer Majestät Namen ist dieses
Verbot erlassen, die Strafe in Ihrem Namen angedroht; Sie dürfen
Ihr eigenes Gesetz nicht mißachten! Betreten wir den Steg, so bricht
höchstens der Balken; betreten Sie ihn, so bricht Ihr eigener Rechts-
boden unter Eurer Majestät Füßen, auch wenn der Balken hält."
Der König, schon mit einem Fuß auf dem Stege, stutzte, sah den
Sprecher lächelnd an und sagte; „Sie haben recht!" und kehrte augen-
blicklich um.
Nach Reidelbach.
10. Wer ist ein Mann?
1. "Wer ist ein Mann?
Der beten kann
Und Gott dem Herrn vertraut!
Er zaget nicht:
Wenn alles bricht,
Dem Frommen nimmer graut I
2. Wer ist ein Mann?
Der glauben kann
Inbrünstig, wahr und frei;
Denn diese Wehr
Trügt nimmermehr,
Die bricht kein Mensch entzwei!
3. Wer ist ein Mann?
Der lieben kann
Von Herzen fromm und warm;
Die heil’ge Glut
Gibt hohen Mut
Und stärkt mit Stahl den Arm.
4. Dies ist der Mann,
Der streiten kann
Für Weib und liebes Kind!
Der kalten Brust
Fehlt Kraft und Lust
Und ihre Tat wird Wind!
5. Dies ist der Mann,
Der sterben kann
Für Freiheit, Pflicht und Hecht;
Dem frommen Mut
Deucht alles gut,
Es geht ihm nimmer schlecht!
11. Der Meineid.
11
Nit Herz und Mund und Hand.
Er läßt nicht ab
Bis an das Grab
Der sterben kann
Für Gott und Vaterland;
6. Dies ist der Mann,
7. So deutscher Mann,
So freier Mann,
Mit Gott dem Herrn zum Krieg I
Denn Gott allein
Mag Helfer sein,
Von Gott kommt Glück und Sieg.
11. |)er Meineid
Rudolf, Herzog von Schwaben, hatte dem Kaiser Heinrich dem
Vierten Treue geschworen, aber diesen Schwur gebrochen, indem er
nachher von ihm abfiel. Nun geschah es, daß er bald darauf in der
Schlacht bei Merseburg die rechte Hand verlor. Erschrocken hob er die
Hand auf, zeigte sie seinen Mannen und sprach: „Dies ißt die Hand,
mit welcher ich dem Kaiser Heinrich, meinem rechtmäßigen Herrn,
das Wort der Treue gegeben habe. Erwäget nun selbst, ob ich mit
Recht von ihm abgefallen bin!"
So augenscheinlich straft Gott den Meineidigen und stellt uns da-
durch die Heiligkeit und Wichtigkeit des Eides klar vor Augen. Die
Bedeutung des Eidschwurs im öffentlichen Leben darf nimmermehr ver-
kannt werden; er ist das letzte, äußerste Mittel, durch welches ein Mensch
zur Haltung eines gegebenen Versprechens verpflichtet, durch welches die
Wahrheit erforscht werden kann. Der Soldat schwört Treue seinem
Kriegsherrn, der Staatsbürger Treue der Verfassung. Von jedem
Menschen kann aber auch gefordert werden, daß er die Wahrheit seiner
Aussage vor Gericht durch einen Eid bekräftige. Es ist eine furchtbar
ernste Sache um einen Schwur; heißt doch schwören nichts anderes als
Gott, den Allwissenden und Allmächtigen, zum Zeugen dafür anrufen,
daß man die Wahrheit aussagen oder daß man ein Versprechen halten
wolle. Wer einen Eid ablegt, beruft sich auf das Höchste und Heiligste,
das in eines Menschen Herz kommen kann, eine feierlichere Art der Be-
teuerung gibt es nimmer. Aber eben daraus folgt auch: wer falsch
geschworen hat oder wer den Eid bricht, hat das Heiligste in den Staub
getreten, er hat den Gott aller Wahrheit mit Wissen und Willen zum
Zeugen der Unwahrheit gemacht.
Die Folgen des Meineides sind schrecklich bei Gott und Menschen.
Da der Meineidige das Wort in den Mund nimmt: „So wahr Gott
mir helfe!" sagt er sich damit von der göttlichen Barmherzigkeit los,
deren wir bedürfen im Leben und im Sterben; er ist, wenn er nicht
reuig Gottes Gnade anruft, ein ewig Verlorener. Aber auch vor
Menschen hat der Meineidige Treue und Redlichkeit verletzt, ohne welche
12
12. Deutscher Rat.
die menschliche Gemeinschaft nicht bestehen kann. So hat er denn
auch vor Menschen seine Last zu tragen: daß er der Verurteilung an->
heinifällt und Zuchthausstrafe erleiden muß, ist das Geringere; aber er
verfällt auch der allgemeinen Verachtung, er verliert Ehre und Ehren-
rechte und muß wie ein Geächteter unter redlichen Leuten wandeln.
Drum sei bei der Eidesleistung strengste Gewissenhaftigkeit heilige
Pflicht! Nur das beschwöre ein jeder, was er gewiß und sicher weiß;
nur das gelobe er, was er ausführen kann und nach Recht und Sitte
ausführen darf. Mag Reichtum und Vorteil auf dem Spiele stehen,
die Wahrheit steht am höchsten und reiner Sinn ist ein innerer Besitz,
der alles andere reichlich aufwiegt.
Dies edle Gut wahre dir, Jüngling, so gut du es vermagst! Wer
immer gleich mit Versicherungen bei der Hand ist, wie „auf Ehre, auf
Ehr' und Seligkeit!", der wird's bald dahin bringen, daß man nicht viel
auf seine Glaubwürdigkeit hält; denn so hohe Besitztümer verpfändet
man nicht leichthin, das hieße ein frevles Spiel damit treiben. Du hast
es in deiner Hand, daß dein bloßes Ja und Nein vollwichtig geachtet
wird wie edles Metall.
So schnell, oft um nichtiger Dinge willen, ist ein Eideswort ge-
sprochen und doch umfaßt es Zeit und Ewigkeit. Heilig sei dir der
Eid um der Wahrheit, um deines himmlischen und irdischen Wohles
willen! Nägelsbach.
12. Deutscher Kat.
1. Vor allem eins, mein Kind: sei treu und wahr,
Laß nie die Lüge deinen Mund entweih'n!
Von alters her im deutschen Volke war
Der höchste Ruhm getreu und wahr zu sein.
2. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran!
Noch bist du jung, noch ist es nicht so schwer:
Aus einem Knaben aber wird ein Mann,
Das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.
3. Sprich ja und nein und dreh' und deutle nicht;
Was du berichtest, sage kurz und schlicht,
Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht;
Dein Wort sei heilig, drum verschwend' es nicht!
13. Des Sängers Fluch.
13
4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
Zuerst ein Zwerg, ein Riese Hinternach,
Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an
Und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!"
5. Dann wach' und kämpf', es ist ein Feind bereit:
Die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr.
Kind! Deutsche kämpfen tapfer allezeit,
Du, deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr! RUnick.
13. I>es Sängers Akuch.
1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer;
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz,
Drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz.
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich,
Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich;
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut,
Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut.
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar,
Der ein' in goldnen Locken, der andere grau von Haar;
Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß,
Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.
4. Der Alte sprach znm Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn!
Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm' an den vollsten Ton,
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut' zu rühren des Königs steinern Herz."
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl;
Der König furchtbar Prächtig wie blut'ger Nordlichtschein,
Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein.
6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll,
Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll;
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor,
Des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor.
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger, goldner Zeit,
Von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit;
Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,
Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.
14
13. Des Sängers Fluch.
8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott;
Des Königs trotz'ge Krieger, sie bengen sich vor Gott;
Die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust,
Sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.
9. „Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?"
Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib;
Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
Draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt.
10. Und wie vom Sturm zerstoben ist all der Hörer Schwarm.
Der Jüngling hat verröchelt in seines Meisters Arm;
Der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß,
Er bind't ihn ausrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß.
11. Doch vor dem hohen Tore, da hält der Sängergreis,
Da faßt er seine Harfe, sie, aller Harfen Preis;
An einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt,
Dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt:
12. „Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer Klang
Durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang;
Nein, Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt,
Bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt!
13. Weh euch, ihr duft'gen Gärten im holden Maienlicht!
Euch zeig' ich dieses Toten entstelltes Angesicht,
Daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt,
Daß ihr in künst'gen Tagen versteint, verödet liegt.
14. Weh dir, verruchter Mörder, du Fluch des Sängertums!
Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut'gen Ruhms!
Dein Name sei vergessen, in ew'ge Nacht getaucht,
Sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht!"
15. Der Alte hat's gerufen, der Himmel hat's gehört:
Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört;
Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht,
Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.
16. Und rings statt duft'ger Gärten ein ödes Heideland,
Kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand,
Des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch:
Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.
2. Uhland.
14. Morgenlied. — 15. Ein Gespenst. — 16. Rat des Vaters an seinen Sohn. 15
14. Morgentied.
1. Verschwunden ist die finstre Nacht,
Die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
Die Sonne kommt mit Prangen
Am Himmel ausgegangen.
Sie scheint in Königs Prunkgemach,
Sie scheinet durch des Bettlers Dach,
Und was in Nacht verborgen war,
Das macht sich kund und offenbar.
2. Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
Der über diesem Haus gewacht,
Mit seinen heil'gen Scharen
Uns gnädig wollt' bewahren.
Wohl mancher schloß die Augen schwer
Und öffnet sie dem Licht nicht mehr,
Drum freue sich, wer neu belebt
Den frischen Blick zur Sonn' erhebt! Schmer.
15. Gin Gespenst.
Ich weiß wohl, lieber Leser, daß du nicht an Gespenster glaubst
wie ich auch nicht. Es gibt aber ein Gespenst, das ich oft gesehen habe
bei Leuten, die auf harten Bänken, und bei Leuten, die auf weichen
Polstern sitzen. Ich habe es am Hellen Tage, bei der einsamen Öllampe
und beim Schein von hundert Wachskerzen gesehen.
Du kennst die Sage, daß der Geist des Menschen, der gewaltsam
um sein Leben gekommen, als Gespenst in der Welt umwandle. Viele
Menschen schlagen die Zeit, das kostbarste aller Güter, gewaltsam tot
durch Nichtstun oder dadurch, daß sie etwas treiben, was nicht viel mehr
als Nichtstun ist, und da kommt dann das Gespenst der gemordeten
Zeit, die Langeweile, und setzt sich den Mördern, wo sie sind, auf
den Nacken; es macht kein Geräusch, es macht nur gähnen. Willst du
das Gespenst von dir bannen, mußt du immer etwas Rechtes tun oder
denken. B. Auerbach.
16. Wat des Waters an seinen Sohn.
1. Du wanderst in die Welt hinaus
Auf dir noch fremden Wegen,
Doch folgt dir aus dem stillen Haus
Der treusten Liebe Segen.
2. Ein Ende nahm das leichte Spiel,
Es naht der Ernst des Lebens;
Behalt im Auge fest dein Ziel,
Geh keinen Schritt vergebens!
16
17. Moltke an seine Mutter.
3. Nimm auf die SchullernLast und Müh'
Mil frohem Gottvertrauen
Und lerne, wirkend spät und früh,
Den eignen Herd dir bauen!
4. Wer sich die Ehre wählt zum Hort,
Den kann kein Schalk verführen,
Gerader Weg, gerades Wort
Soll dich zuni Ziele führen.
7. Und nun ei:
Und eine letzte B
Bewahr' dir treu
Des Vaterhauses
5. Halt hoch denKopf, was auch dir droht.
Und werde nie zum Knechte;
Brich mit dem Armen gern dein Brot
Und wahre seine Rechte!
6. Treib nicht mit heil'gen Dingen Spott
Und ehr' auch fremden Glauben
Und laß dir deinen Herrn und Gott
Von keinem Zweifel rauben!
letzter Druck der Hand
te:
im fremden Land
Sitte! Sturm.
17. Moltke an seine Mutter.
Bujukdere bei Konstantinopel den 30. November 1835.
Liebe Mutter!
Wie lauge ist es her, daß ich keine Nachricht von Dir habe;
möchtest Du doch gesund und zufrieden sein! Aber ich hoffe, Gott wird
Dich beschützen und erhalten. Wenn Du diese Zeilen, wie ich annehme,
zu Weihnachten erhältst, so ersiehst Du wenigstens, daß ich mancherlei
Schwierigkeiten glücklich überwunden, daß ich gesund geblieben und
durch einen schönen Aufenthalt in einer ganz neuen Welt gelohnt bin.
Möchte ich Dich doch nur ein Viertelstündchen hier an mein
Fenster führen können, unter welchem die kristallklaren Wellen des
Bosporus plätschern, gerade als wenn man in der Kajüte eines großen
Kriegsschiffes sitzt. Jene Berge, die so nahe, daß man die Fenster der
Häuser darauf zählen kann, sind ein anderer Weltteil, sind Asien. Rechts
in einem kleinen Wiesental siehst Du eine Gruppe riesenhafter Pla-
tanen, sie tragen den Namen Gottfrieds von Bouillon, der unter ihnen
geruht haben soll, als er mit den Kreuzrittern nach Palästina zog.
Auf jenen Bergen ragt das alte genuesische Kastell mit dem Wappen
der Republik und der Jahreszahl 1100 über dem Torweg. Links blickst
Du in die hohe See; es ist das Schwarze Meer, der gefürchtete Pontus
Euxinus. Schnell, geräuschlos eilen die leichten Boote unter meinen
Fenstern vorüber, mächtige Kriegsschiffe ankern ganz nahe an den Häusern
und die Dampfschiffe brausen mit flatternden Flaggen vorbei. Die aus-
gedehnten Begrübnisplätze sind wahre Zypressenwälder, der Lorbeer ist
hier ein Baum und die Pinie sticht mit hellem, saftigem Grün gegen
die fast schwarze, regungslose Zypresse ab. Überall blühen noch Rosen
in den Gärten und wir haben Tage, wo die Wärme noch lästig wird..
18. Kindesliebe.
17
Wenn ich nach Berlin zurückkomme, werde ich Dir auch mein
Skizzenbuch schicken. Ich bitte Dich aber innig mir Nachricht von Dir
nach Neapel zukommen zu lassen. Du kannst Dir die vielen Fragen
denken, welche ich an Dich zu richten habe.
Am heiligen Abend werde ich in Gedanken bei Euch sein und hoffe,
in Athen, wenn nicht in Alexandrien, auf Eure Gesundheit zu trinken.
Mitte Januar denke ich in Neapel zu sein, von wo aus ich Dir wieder
schreiben werde.
Für heute lebe wohl, liebe Mutter; halte dich nur gesund und
schone Deine Kräfte! Laß auch die Fußdecke legen und pflege Dich ein
bißchen! — Du kannst es wohl tun, denn Du hast lange genug für uns
gearbeitet. Nochmals tausend Grüße!
Mit herzlicher Liebe und Dankbarkeit der Deinige.
Helmut.
Nach H. Moltke.
18. Kindesliebe.
Ein jeder soll Ehrfurcht haben vor seinem
Vater und seiner Mutter. Moses, 3. B.
Ein preußischer Offizier, der sehr reich und aus vornehmer Familie
war, hielt sich eine Zeitlang als Werber zu Ulm in Schwaben auf.
Endlich bekam er Befehl zu seinem Regimente zurückzukehren und
bald machte er sich reisefertig.
Am Abend vor seiner Abreise meldete sich bei ihm ein junger
Mann um sich anwerben zu lassen. Er war sehr schön gewachsen,
schien wohlerzogen und brav; aber wie er vor den Offizier trat, zitterte
er an allen Gliedern. Der Offizier schrieb dieses der jugendlichen
Schüchternheit zu und fragte, was er besorge. »Ich fürchte, daß Sie
mich abweisen«, versetzte der junge Mensch, und indem er dieses
sagte, rollte eine Träne über seine Wange. »Nicht doch,« antwortete
der Offizier, »Sie sind mir vielmehr außerordentlich willkommen. Wie
konnten Sie so etwas fürchten?« »Weil Ihnen das Handgeld, welches
ich fordern muß, vermutlich zu hoch kommen wird.« »Wieviel ver-
langen Sie denn?« »Eine dringende Notwendigkeit zwingt mich
hundert Gulden zu fordern und ich bin der unglücklichste Mensch
auf der Welt, wenn Sie sich weigern mir so viel zu geben.«
»Hundert Gulden ist freilich viel; aber Sie gefallen mir; ich
glaube, daß Sie Ihre Pflicht tun werden, und ich will nicht mit Ihnen
handeln. Hier ist das Geld; morgen reisen wir von hier ab I«
Der junge Mensch war entzückt. Er bat darauf den Offizier um
die Erlaubnis noch einmal nach Hause gehen zu dürfen um eine
heilige Pflicht zu erfüllen; in einer Stunde versprach er wieder da zu
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 2
Bib’ioA
Frankfurt / ivU'm
18
19. Der Solnhofer Knabe.
sein. Der Offizier traute seinein ehrlichen Gesicht und ließ ihn gehen.
Weil er indes in dem Benehmen des jungen Mannes etwas Besonderes
bemerkt hatte, so schlich er selbst ihm von ferne nach um zu erfahren,
wo er hingehen würde. Er sah ihn stracks nach dem Stadtgefängnisse
laufen, wo er anklopfte und eingelassen wurde. Der Offizier ging
ebenfalls hinein und sah alles, was vorging und was den Jüngling
bewogen hatte sich anwerben zu lassen.
Der Vater des letzteren saß im Gefängnisse wegen einer Schuld
von hundert Gulden, die er nicht bezahlen konnte. Der Sohn hatte
sich deshalb anwerben lassen um ihn mit dem Handgelde zu befreien.
Sobald er in das Gefängnis trat, redete er mit dem Aufseher und gab
ihm die hundert Gulden in Verwahrung. Dann eilte er zu seinem
Vater, fiel ihm um den Hals und verkündigte ihm seine Freiheit.
Der Offizier war ihm nachgegangen und sah den ehrwürdigen
Greis, der seinen braven Sohn an sein Herz drückte und mit seinen
Tränen benetzte ohne ein Wort zu reden. Er konnte es nicht übers
Herz bringen, daß ein so guter Sohn seine Freiheit verkaufen sollte;
deswegen trat er hervor und sagte zu dem Greise: »Beruhigen Sie
sichl Ich will Sie eines so braven Sohnes nicht berauben; lassen Sie
mich teilnehmen an einer so edlen Tatl Er ist frei und es reut mich
die Summe nicht, die er so gut angewendet hat.«
Vater und Sohn fielen ihm zu Füßen. Der Sohn bat zwar den
Offizier ihn mitzunehmen und sagte, er möchte einem so guten Herrn
nicht gerne Schaden verursachen; aber der großmütige Mann bestand
darauf, daß er bei seinem Vater bleiben sollte, führte beide an seiner
Hand aus dem Gefängnisse und reiste fröhlich von Ulm ab, weil er
sich bewußt war zwei gute Menschen glücklich gemacht zu haben.
Pustkuehen-Glanzow.
19. I)er Solnhofer Knaöe.
Vor langer Zeit lebte bei Solnhofen an der Altmühl eine arme
Witwe, die sich mit dem wenig einträglichen Sandhandel beschäftigte.
Mühsam trug sie den znckerweißen Sand auf dem Rücken in die um-
liegenden - Orte, wo die Hausfrauen Tische, Bänke, Geschirre u. s. w.
damit scheuerten. Sie hatte einen Knaben von zwölf Jahren, der im
Sommer die Ziegen des Dorfes hütete und im Winter mit seiner Mutter
in den unterirdischen Felsklüften Sandnester aufsuchte und ausbeutete.
Benedikt, so hieß der Knabe, war seiner Mutter mit kindlicher Liebe zu-
getan und bewies dieselbe auch dadurch, daß er in den Tagen der Not
nie über seinen Hunger klagte und überhaupt alles vermied, was ihr das
Herz schwer machen konnte.
19. Der Solnhofer Knabe.
Id
Gerne weilte der muntere Knabe bei seinen Ziegen auf den luftigen,
einsamen Höhen, es fehlte ihm aber nicht an Unterhaltung. Da lag der
damals noch unbenutzte Kalkfchiefer so am Tage, daß es ihm leicht war
Platten davon herauszuheben. Einmal legte er eine Schieferplatte, wie
er sie aus dem Boden gebrochen hatte, auf seinen Schoß, zeichnete mit
einer Kohle ein Viereck darauf und klopfte mit seinem Hämmerlein auf
dem einen schnurgeraden Kohlenstrich sanft auf und ab; denn es freute
ihn der helle Klang der Platte. Aber auf einmal wurden die hellen
Töne dumpf und immer dumpfer wie bei einer zersprungenen Glocke
und zuletzt sprang die Tafel gerade in der Richtung des Kohlenstriches
entzwei. Ist es da so gegangen, dachte nun Benedikt, so kann es bei
den übrigen drei Seiten ebenso gehen; und sieh, bald lag eine vollkommen
viereckige Platte auf seinen Knieen! Derselbe Versuch gelang ihm auch
an andern Platten. Um sie zu polieren nahm er von dem Sande,
womit seine Mutter handelte, und mengte Wasser dazu. Er rieb die
Steine aneinander und so gewann er bald einige sehr schöne, glänzende
Platten.
Als Benedikt eines Abends mit seiner Mutter bei der Suppenschüssel
saß, erzählte sie ihm, daß sie mit Sand in Eichstätt gewesen und dort
dem Bischof so nahe gekommen sei, daß sie jedes feiner Worte verstanden
habe. Dieser beratschlagte mit seinen Domherren in der neuen Kirche,
die er hatte bauen lassen, mit welchen Steinen der Fußboden belegt
werden sollte. Der eine riet das, der andere jenes, bis der hochwürdigste
Herr der Unterhaltung damit ein Ende machte, daß er sagte: „Nun,
morgen um die elfte Stunde haben wir die fremden Steinmetzen hierher
bestellt und wollen die Proben beschauen, die sie von allerlei Sand- und
Marmelsteinen bei sich haben. Aber ich fürchte, ein solches Pflaster
möchte für den bischöflichen Beutel zu teuer kommen. Wir werden uns
wohl die Backsteine gefallen lassen müssen."
„So, so!" versetzte Benedikt, warf seinen Löffel in die Schublade,
wünschte seiner Mutter gute Nacht und ging unters Dach hinauf in
seine Schlafstätte. Aber er konnte nicht schlafen; er erhob sich von
seinem Lager und der Gedanke an die Pflastersteine trieb ihn hinaus
auf die Berge, wo seine Steine lagen, und mit diesen eilte er in der
mondhellen Nacht schnurstracks gen Eichstätt.
Hier hatten sich schon bald nach der zehnten Stunde des Morgens
in der neuen Kirche etliche Steinmetzen versammelt, die der Bischof aus
Tirol, vom Fichtelgebirge und dem Rheingau auf seine Kosten berufen
hatte. Die Steinproben wurden ihnen von ihren Gesellen in kleinen höl-
zernen Kästen nachgetragen und nebeneinander auf eine lange Tafel
2*
20
20. Altes Gold.
gestellt. Bald trafen auch mehrere Grafen und Herren aus der Nachbar-
schaft ein; endlich erschien der Fürstbischof mit der ganzen Geistlichkeit
und seinen weltlichen Beamten hinter sich. Er nahm die schön geschliffenen
Steinproben aus den Kästlein und es war keine darunter, die ihm und
seinem Gefolge nicht gefallen hätte. Als der Bischof aber von den Stein-
metzen die Höhe des Preises vernahm, da fuhr er mit der Hand hinters
Ohr und der Schatzmeister schüttelte den Kopf und die Grafen und
Herren machten große Augen.
In diesem Augenblick trat unser Benedikt, dem der Schweiß von
der langen Wanderung auf der Stirne stand, vor den Bischof und
küßte den Saum seines Kleides. Dann nahm er drei viereckige Schiefer-
platten, eine blaßgelbe, eine braungraue und eine marmorierte, aus
seiner Schürze und zeigte sie dem Bischof. Die geschliffenen Seiten
glänzten und ließen erkennen, wie schön die Steine erst dann werden
müßten, wenn eine kunstgeübte Hand darüber käme.
Der Bischof war über die Schönheit der Steine verwundert und
auf sein Befragen antwortete der Knabe munter: „Ich gehöre dem
Sandweibe von Solnhofen und die Steine habe ich auf dem Berge
hinter dem Kloster dortselbst gemacht. Und wenn Ihr noch mehrere
braucht, so dürft Ihr mir nur Euere Steinhauer mitgeben und ich will
ihnen zeigen, wie sie es anfangen müssen." Sogleich entschied sich der
Bischof für die Pflastersteine des Sandbuben und entließ die mißver-
gnügten Steinmetzen in ihre Heimat. Den Knaben aber nahm er mit
sich in seinen Palast, ließ ihm hier ein reichliches Mahl vorsetzen und
versicherte ihm, daß er für ihn und seine Mutter sorgen werde. Darüber
war der Knabe hocherfreut. Schon nachmittags eilte ein bischöflicher
Baumeister mit ihm nach Solnhofen um das Steinlager zu untersuchen.
Bald regten sich hier fleißige Hände und in kurzer Zeit war das neue
Gotteshaus mit den herrlichen Solnhofener Platten belegt.
Der Bischof hielt Wort. Nachdem Benedikt bei einem Steinmetz-
meister in Eichstätt in der Lehre gewesen, ließ er sich in Solnhofen
nieder und hatte fortwährend so viele Bestellungen an Pflaster- und
Quadersteinen, daß es ihm und seiner guten Mutter nie mehr an dem
täglichen Brote gebrach. Nach Stöber.
20. Aktes Gold.
„Der Baum trägt die Äpfel, aber nicht für sich selber."
Nun, das weiß doch jedes Kind, daß der Apfelbaum seine Äpfel nicht ißt,
sondern die Leute! Gewiß hast du da recht! Aber denkst du nicht, daß
21. Freundschaft.
21
hinter dem selbstverständlichen, einfachen Worte etwas steckt oder vielmehr
drinnen ein goldener Kern? — Zuvörderst will das Sprüchlein fragen: wer
hat's dem Baume gegeben, nicht für sich, denn er bedarf ihrer ja nicht, son-
dern für andere Apfel zu tragen? Da will's hinaufweisen — nicht in den
Gipfel des Apfelbaumes, sondern drüber hinaus, höher hinauf, zu dem blauen
Himmel, wo der wohnt, der alles segnet, was da lebet, mit Wohlgefallen,
und will dich die Gottesgabe erkennen lehren, daß du des Dankens nicht
vergessest. — Aber noch mehr will's dich lehren: der Baum trägt die Äpfel
für die Menschen und für die Vöglein und andere Tiere, die sich, außer den
Vöglein, daran erquicken. Merk's: er ist kein Neidsack, der etwa nur an sich
denkt, sondern gern seine Gaben teilt und mitteilt an die, die sie nicht haben.
Nun, Freund, wie mancher bittet um sein täglich Brot und hat's nicht; du
aber hast's reichlich und der gab dir's, der die Apfel wachsen und den Baum
tragen läßt seine goldene Last, nicht für sich, sondern für andere. Fühlst du
und verstehst du die stille Predigt des Apfelbaumes? — Der Baum trägt die
Apfel, aber nicht für sich — er hält sie auch nicht, sondern wenn sie reif
sind, goldgelb mit roten Bäckchen, dann läßt er sie fallen, daß der hungernde
und durstende Wanderer sich einen oder drei aufraffe und sich damit erquicke.
Merk's, er ist kein Geizhals! Er teilt seine Gaben gern mit. Er läßt sie
fallen zum Segen aller, die darnach verlangen. Verstehst du, was der liebe
Gott dem Apfelbaume ins Herz geschrieben hat? Schreib dir's auch
hinein! Sei kein Geizhals; denn der ist Gottes und der Menschen
Feind. „Der ist böse, der nur sich selber gut ist", sagt auch das
Sprichwort und der Apfelbaum, der die Apfel trägt, aber nicht für sich,
liefert das Beispiel dazu. Lrtel.
21. Ireundschaft.
1. Ein Freund, der mir den Spiegel zeiget,
Den kleinsten Flecken nicht verschweiget,
Mich freundlich warnt, mich herzlich schilt,
Wenn ich nicht meine Pflicht erfüllt:
Der ist mein Freund,
So wenig er's auch scheint.
2. Doch wenn mich einer schmeichelnd preiset.
Mich immer lobt, mir nichts verweiset,
Zu Fehlern gar die Hände beut
Und mir vergibt, eh' ich bereut:
Der ist mein Feind,
So freundlich er auch scheint.
(Sellen.
22
22. Liebet eure Feindei
22. Liebet eure Aeinde!
In einem Walde des westlichen Rußland lebte einst ein wackerer
Förster mit seinem jungen Weibe, zwei holden Kindern und einigen
Jägerburschen in glücklicher Abgeschiedenheit. Auch zu ihnen war
indessen schon die Kunde von den traurigen Verheerungen gekommen,
welche die Cholera in den östlichen Teilen des Landes anrichtete und
wie sie immer nach Westen vordränge. Schon hatte deshalb der Förster
in der nächsten Stadt sich Verhaltungsmaßregeln geben lassen, auch
einige Arzneien eingekauft, als eines Nachmittags ein Jägerbursche die
Botschaft bringt, daß in dem nächsten Dorfe die Cholera in ihrer
ganzen Furchtbarkeit ausgebrochen und bereits viele Bewohner der
Krankheit erlegen seien. Schnell beschließt der kleine Familienrat jede
Verbindung mit dem angesteckten Dorfe aufs strengste zu meiden und
auf die Annäherung jedes Fremden ein wachsames Auge zu haben. So
kommt der Abend.
Die Mutter bettet ihre Kleinen zur nächtlichen Ruhe und rückt sich
einen Sessel an die Seite des Gatten um mit ihm noch manche häus-
liche Sorge zu besprechen. Da schlagen die Hunde an und der ein-
tretende Jäger meldet: „Draußen ist der Müller vom benachbarten
Dorf; er flieht vor der gräßlichen Seuche und bittet um ein schützendes
Obdach. Bleich und verstört sieht er aus, ganz unheimlich wird mir
in seiner Nähe. Wenn Ihr erlaubt, so hetze ich die Hunde auf ihn;
denn wer kann dem Menschen trauen?" Wohl wußte es der Förster
ebensogut wie sein Jäger, daß jenem Manne nicht zu trauen sei; denn
seitdem er ihn wegen Jagdfrevels wiederholt angezeigt, hatte dieser Müller
unermüdlich Ränke geschmiedet das Glück des Försters zu zerstören. —
„Den Besuch," erwiderte er, „habe ich wohl nicht erwartet; denn seit
vier Jahren zeigte er sich als mein Todfeind und mied meine Schwelle.
Doch die Not versöhnt! Schon jetzt hat er Vertrauen zu uns gefaßt,
vielleicht wird er uns herzlich lieben, wenn wir ihm freundlich begegnen."
Kopfschüttelnd geht der Jäger und alsbald tritt in das nur spär-
lich erhellte Zimmer eine unheimliche Gestalt. Lange schwarze Haare
verbergen in wilder Verwirrung des Mannes tief gerunzelte Stirne,
die Wangen sind bleich und abgezehrt, das Rot der Lippen ist erstorben
und der Blick aus schwarzen, hohlen Augen schweift unstüt und miß-
trauisch im Zimmer umher. Die Kuiee Mauken, die Brust keucht von
angestrengtem Laufe. Der Müller reicht seine Hände den Wirten und
diese, wenngleich aufs höchste betroffen, weichen doch nicht zurück; getrost
schlagen sie ein und erwidern den krampfhaften Druck des Gastes mit
22. Liebet eure Feinde!
23
Milde und Freundlichkeit. Kein Wort von vergangenen Zeiten. Mit
liebreicher Teilnahme und frommem Sinne spricht der Förster über die
gegenwärtige Bedrängnis, düster und abgebrochen nur antwortet der
Müller. Unterdessen hat die emsige Hausfrau in Eile ein erquickendes
Nachtessen aufgetragen und ein Bett mit sauberer Wäsche bereitet. Darauf
wünscht sie ihm eine sanfte Ruhe und geht mit ihrem Gatten in die
anstoßende Kammer zu den schlafenden Kleinen. Hier danken sie noch
Gott für seinen Segen während des Tages, befehlen sich und die Ihrigen
seiner gnädigen Obhut und erflehen Labung und himmlischen Frieden
für des Müllers zerrüttetes Gemüt. Alsbald umfängt sie ein süßer
Schlummer.
Doch nach wenigen Stunden schon weckte sie ein heftiges Pochen.
„Der Müller ist," so ruft ein Jägerbursche herein, „von der gräßlichen
Cholera befallen. Erlaubt, Herr, daß wir ihn eiligst hinausschaffen,
damit nicht auch Ihr mit Weib und Kindern verderbt!"
„Mit nichten, da sei Gott vor!" erwiderte entschlossen der Förster.
„Wartet des Kranken, wie ich euch gelehrt habe, gleich bin ich selbst
da!" Und so nimmt er die lieben Kleinen vom Lager, trägt sie hinauf
in die Bodenkammer und eilet hinab zu dem Kranken. Bald folgt ihm
die Gattin. Aber welch entsetzlicher Anblick bietet sich hier dar! Von
den heftigsten Krämpfen gefoltert, windet und wälzt sich der Müller auf
seinem Lager; schon verrät sein ganzer Körper alle gräßlichen Zeichen
der furchtbaren, zerstörenden Krankheit. Indes noch ein anderer Schmerz
scheint in der Brust des Mannes zu wüten. Denn je mehr der Förster
und seine Gattin in emsiger Liebe um ihn bemüht sind, desto heftiger
bebt er vor ihrem Anblick zurück. Bald birgt er sein Gesicht in die
Kissen, bald schlägt er mit geballten Fäusten die Stirne, während ein
gräßliches Lächeln um die blauen Lippen zuckt. Jetzt führt er vom Lager
auf und von Gewissensbissen gefoltert, ruft er aus: „Werft mich hinaus
in die Waldeinsamkeit! Ein Ungeheuer, wie in der Wüste nicht seines-
gleichen ist, beherbergt und pflegt ihr. Ich wußte wohl, daß ich von
der verzehrenden Krankheit ergriffen war; deshalb rannte ich rachedürstend
hierher durch meinen Tod euch alle zu verderben I Du furchtbarer Richter,
ist denn kein Erbarmen vor dir?"
Und ganz erschöpft sinkt der Müller auf sein Lager zurück. Mit
gefalteten Händen, den Blick zum Himmel gerichtet, steht der Förster da
und sein Weib. Aber der ewige Richter winkt dem Todesengel, daß er
vorübergehe an dem Hause des Gerechten. In tiefen Schlaf sinkt der
Kranke und heftiger Schweiß dringt aus seinen Poren. Als er erwacht,
sieht er seine wackeren Wirte in liebevoller Tätigkeit um sich. Was er
24
23. Achtung vor dem Alter.
seit langem nicht mehr getan, er betet. Dann drückt er die Hände der
Edlen an seine Brust und die Tränen der Versöhnung, des Dankes und
der Liebe fließen reichlich; nach wenigen Tagen verläßt der Müller ge-
nesen das Krankenlager. Slüymer.
23. Achtung vor dem Atter.
Wer das Alter nicht ehrt,
Ist des Alters nicht wert.
Das Alter ist eine schöne Krone; man findet sie aber nur auf dem
Wege der Mäßigkeit, der Gerechtigkeit und der Weisheit.
Im alten Sparta gab es ein Gesetz, wonach die Jünglinge bei An-
kunft eines Greises aufstehen, wenn er sprach, schweigen, wenn er ihnen
auf der Straße begegnete, ihm aus dem Wege gehen mußten.
Alexander der Große, um welchen die reichsten Glücksgüter sich ver-
einigten ihn stolz zu machen, wußte dennoch im Angesichte des Alters
sich zu demütigen. Als ihn einst auf seiner Siegesbahn Frost und Schnee
aufhielten, ließ er ein Feuer anzünden und setzte sich auf seinen könig-
lichen Sessel um sich zu wärmen. Da erblickte er unter seinen Kriegern
einen vom Alter niedergebeugten Mann, der vor Kälte zitterte. Sogleich
sprang er zu ihm hin, nahm den Greis bei der Hand und setzte ihn auf
seinen eigenen Stuhl.
„Es gibt keinen bösen Menschen," sagt der italienische Jugend-
schriftsteller Parini, „wenn es nicht ein solcher ist, der gegen das Alter
und das Unglück unehrerbietig ist." Eines Tages zürnte er einem
Jünglinge, den man wegen eines schweren Vergehens bei ihm angeklagt
hatte. Zufällig begegnete er ihm auf der Straße, als derselbe gerade
einen alten Mönch führte und um Hilfe gegen einige Buben rief, die
ihn deshalb verspotteten und verfolgten. Parini eilte aus den Jüngling
zu, nahm ihn in seine Arme und sprach: „Vor einem Augenblicke
noch hielt ich dich für verderbt; jetzt aber, da ich Zeuge deiner Achtung
für das Alter bin, glaube ich wieder, daß du zu vielen Tugenden fähig
sein wirst."
Die Ehrfurcht vor dem Alter birgt tiefe sittliche Schönheit in sich;
selbst diejenigen, welche sie unterlassen haben, sind gezwungen andern,
von denen sie geübt wird, den vollsten Beifall zu spenden. Ein Greis aus
Athen suchte bei den olympischen Spielen einen Platz, aber alle Reihen
waren besetzt. Nachdem er bei seinen Landsleuten von einem Orte zum
andern geschoben und von vielen noch gar ausgelacht worden war, kam
er an die Reihen, in denen die Spartaner saßen. Diese, ihren vater-
ländischen Sitten getreu, standen sogleich auf und ließen ihn zwischen
24. Sei hilfreich in der Not! — 25. Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen. 25
sich Platz nehmen. Da brachen die Athener in ein lautes Beifallsgeschrei
aus und der Greis sagte: „Die Athener wissen, was sich schickt, aber
die Spartaner führen es aus."
Nicht minder wie dem Alter sind wir auch den Vorfahren und
ihren Einrichtungen Ehrfurcht und Schonung schuldig. Silvio PeMo.
24. Sei hilfreich in der Wot!
Wer übertrifft den Mann, der stets sich mild gezeigt?
Der, welcher Wohltat übt und es zugleich verschweigt. Hagedorn.
Vertrau' auf Gott,
Sei stark in Not,
Gib Armen Brot,
Bedenk den Tod! —
Mann mit zugeknöpften Taschen,
Dir tut niemand was zulieb;
Hand wird nur von Hand gewaschen,
Wenn du nehmen willst, so gib! Goethe.
In einem bramischweigischen Städtchen brach eines Tages Feuer
aus. Die Flamme hatte das Dach eines Hauses ergriffen irnd näherte
sich einem Boden, auf welchem einige Fässer Pulver standen. Die
Gefahr war groß, und da dieser Umstand schnell bekannt geworden war,
wollte niemand znm Löschen heran. Endlich stürzte ein Taglöhner, der
in dem gefährlichen Hause zu arbeiten pflegte, auf den Boden, rollte
die Fässer an das Dachfenster, das am weitesten von der Flamme ent-
fernt war, und übergab sie hier, wo keine Gefahr der Entzündung
bestand, den Außenstehenden. Jetzt konnte mit Sicherheit gelöscht werden.
Das Feuer wurde gedämpft und nicht nur das Haus sondern der ganze
mitbedrohte Teil des Städtchens gerettet.
Einige Tage nachher traf ein Bekannter mit dem Taglöhner zu-
sammen, lobte seine Entschlossenheit und den Dienst, den er seinem
Brotherrn und der ganzen Stadt erwiesen hatte, und setzte hinzu, er sei
doch sehr verwegen gewesen. Da antwortete jener: „Verwegen meinen
Sie? Nein, glauben Sie mir, aus Verwegenheit hab' ich es nicht getan!
Ich dachte so: wenn das Pulver auch losgeht und dich trifft, so ist
der Schaden so groß nicht. Aber wenn du das Pulver herausschaffst,
so ist doch noch manches zu retten und du hast in dem Hause so viel
Gutes genossen; auch die Stadt bleibt bewahrt. Und da dacht' ich:
in Gottes Namen denn! und holte die Fässer heraus. Sehen Sie, das
war es und nicht Verwegenheit!" Jacobs.
25. Die Neujalirsnacht eines Unglücklichen.
Ein alter Mensch stand in der Neujahrsmitternacht am Fenster
und schaute mit dem Blicke einer bangen Verzweiflung auf zum
unbeweglichen, ewig blühenden Himmel und herab auf die stille,
26
25. Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen.
rsiiis, weiße Erde, worauf jetzt niemand so freuden- und schlaflos
war als er. Denn sein Grab stand nahe bei ihm; es war bloß
vom Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend verdeckt
und er brachte aus dem ganzen reichen Leben nichts mit, als
Irrtümer, Sünden und Krankheiten, einen verheerten Körper, eine
verödete Seele, die Brust voll Gift und ein Alter voll Reue. Seine
schönen Jugendtage wandten sich heute als Gespenster um und
zogen ihn wieder vor den holden Morgen hin, wo ihn sein Vater
zuerst auf den Scheideweg des Lebens gestellt hatte, der rechts
auf der Sonnenbahn der Tugend in ein weites, ruhiges Land voll
Licht und Ernten und voll Engel bringt und welcher links in
die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze
Höhle voll heruntertropfenden Giftes, voll zischender Schlangen
und finsterer, schwüler Dämpfe. Ach, die Schlangen hingen um
seine Brust und die Gifttropfen auf seiner Zunge und er wußte
nun, wo er war.
Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum
Himmel hinauf: »Gib mir die Jugend wiederI 0 Vater, stelle
mich wieder auf den Scheideweg, damit ich anders wähleI«
Aber sein Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah
Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker er-
löschen und er sagte: »Es sind meine törichten Tagei« — Er
sah einen Stern aus dem Himmel fliehen und im Falle schimmern
und auf der Erde zerrinnen. »Das bin ich!« sagte sein blutendes
Herz und die Schlangenzähne der Reue gruben darin in den
Wunden weiter. Die lodernde Phantasie zeigte ihm schleichende
Nachtwandler auf den Dächern und die Windmühle hob ihre
Arme drohend zum Zerschlagen auf und eine im leeren Toten-
hause zurückgebliebene Larve nahm allmählich seine Züge an.
Mitten in dem Kampf floß plötzlich die Musik für das Neujahr
vom Turm hernieder wie ferner Kirchengesang. Er wurde
sanfter bewegt. Er schaute nach dem Himmel und über die
weite Erde und er dachte an seine Jugendfreunde, die nun
glücklicher und besser als er, Lehrer der Erde, Väter glücklicher
Kinder und gesegnete Menschen waren, und er sagte: »0, ich
könnte auch wie ihr diese erste Nacht mit trockenen Augen
verschlummern, wenn ich gewollt hätteI Ach, ich könnte
glücklich sein, ihr teuren Eltern, wenn ich eure Neujahrswünsche
und Lehren erfüllt hätte I« Im fieberhaften Erinnern an seine
Jünglingszeit kam es ihm vor, als richte sich die Larve mit
26. Pflichttreue.
27
seinen Zügen im Totenhause auf; endlich wurde sie durch den
Aberglauben, der in der Neujahrsnacht Geister und Zukunft
erblickt, zu einem lebendigen Jüngling. Er konnte es nicht
mehr sehen; er verhüllte das Auge; tausend heiße Tränen
strömten versiegend in den Schnee; er seufzte nur noch leise,
trostlos und sinnlos: »Komme nur wieder, Jugend, komme
wieder U
Und sie kam wieder; denn er hatte nur in der Neujahrsnacht
so fürchterlich geträumt. Er war noch ein Jüngling; nur seine
Verirrungen waren kein Traum gewesen. Aber er dankte Gott,
daß er, noch jung, in den schmutzigen Gängen des Lasters um-
kehren und sich auf die Sonnenbahn der Tugend zurückbegeben
konnte, die ins reine Land der Ernte leitet.
Kehre mit ihm um, Jüngling, wenn du auf seinem Irrwege
stehst! Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter
werden; aber wenn du einst jammervoll rufen würdest: komme
wieder, schöne Jugend! — so würde sie nicht wiederkommen!
Jean Paul (Richter).
26. Wffichttreue.
Eiskalt die Nacht, am Nordseestrand
Wütet ein Sturm über See und Sand.
Die Brandung donnert, die Wogen roll'n,
Wie Himmel und Meer miteinander groll'n.
Die Fischer im Dorf, von Sorgen erfüllt,
Hören es, wie die Windsbraut brüllt,
Die wuchtig über die Dünen fegt,
Wildgrimmig auf Giebel und Dächer schlägt.
Nun dröhnt bei des Morgens Dämmerschein
Ein Kanonenschuß in das Donnern hinein.
Ein Schiff in Not! Da springen sie auf,
Alte wie Junge, zum Strand im Lauf
Und sehen gescheitert, fest auf dem Riff,
Ein unabbringlich verlorenes Schiff.
Das Rettungsboot klar, hinein und fort,
Wenn's menschenmöglich, zum Schreckensort!
Doch wo ist Harro? Der Führer fehlt,
Der alle mit seinem Mut beseelt.
Im nächsten Dorf blieb er zu Nacht,
Hat auch wohl statt zu schlafen gewacht.
Sie können nicht warten, dort gähnt das Grab
Seeleuten wie sie — so stoßen sie ab.
28
26. Pflichttreue.
Sie legen sich in die Riemen mit Macht;
Die Dollen ächzen, die Planke kracht,
Die Wellen schwingen und schleudern das Boot,
Sturzseen bringen's in grausige Not,
Daß denen am Strande das Herz erbebt;
So haben noch keinen Nordwest sie erlebt.
Doch die auf dem Wasser, in Stürmen erprobt,
Trotz bieten sie allem, was wider sie tobt;
Sie steuern dem Schiffe näher und nah
Und endlich, endlich sind sie nun da,
Von denen als Retter mit Jubel begrüßt,
Denen das Leben schien eingebüßt.
Das Deck überschwemmt schon, versunken das Gut,
Die Masten nur stehn noch in steigender Flut,
Dran klammern sich die Verschlagnen und harr'n,
Daß ihnen die Glieder in Kälte starr'n.
Die Fischer bergen sie Mann für Mann,
Nur einen niemand noch retten kann;
Er selber kann sich nicht regen mehr
Und das Boot ist voll, ist schon zu schwer,
Liegt schon zu tief in den brechenden Well'n,
Fort müssen sie ohne den armen Gesell'n.
Er sieht sie scheiden mit tränendem Blick,
Ohne Hoffnung besiegelt sein traurig Geschick.
Nun rückwärts an Land! Es braust und stürmt,
Daß Woge sich über Woge türmt.
Der Himmel ist schwarz, die See ist weiß
Vom wirbelnden Schaum, es perlt der Schweiß
Auf all den Gesichtern, wetterbraun,
Die um sich Tod und Verderben schau'n.
Doch keiner verzagt und keiner erschlafft,
Sie kämpfen sich durch mit Riesenkraft;
Und wie das Boot aus der Brandung fliegt,
Da sind sie am Land und haben gesiegt.
Da ist auch Harro; sein erstes Wort:
„Habt ihr sie alle?" „Nein, einer blieb dort,
Er hing zu hoch in den obersten Rah'n,
Wir konnten ihm nicht mit Rettung nah'n."
„So holen wir ihn!" spricht er in Ruh'.
„Unmöglich, Harro! Der Sturm nimmt zu,
Wir kommen nicht ab, wir kommen nicht an,
Wir müssen preisgeben den einen Mann."
So meinen sie alle, doch Harro spricht:
i
26. Pflichttreue.
29
„An Bord! 's ist unsere heilige Pflicht!
Wer hilft?" Sie schweigen. „So fahr' ich allein!"
Da tritt auf ihn zu sein Mütterlein:
„Harro, dein Vater blieb draußen in See
Und nimmer verwind' ich das bittere Weh;
Auch Uwe, dein Bruder, mein Jüngster fuhr aus
Und kommt nie wieder, nie wieder nach Haus.
Der brave Junge, ich hatt' ihn so lieb,
Gott weiß, wo die Flut auf den Sand ihn trieb!
Nun willst auch du noch —" „Mutter, ich muß!
Und käm' ich aus Wetter und Wogenguß
Wie Uwe, dein Liebling, nicht wieder zu Land,
Wir stehen alle in Gottes Hand."
Sie hält ihn, sie bittet, sie weint und fleht,
Daß er nicht, ihr letzter Hort noch, geht:
„Denk an mich, deine Mutter! Ich alte Frau —"
„Ja, Mutter, weißt du denn so genau,
Ob der auf dem Wrack dort, todesmatt,
Nicht auch daheim eine Mutter noch hat?"
Er springt ins Boot, vier Mann ihm nach,
Für solchen Seegang zu wenig, zu schwach;
Doch fahren sie los und versuchen ihr Glück.
Dreimal wirft sie die Brandung zurück,
Dann sind sie hinüber; bald hoch und steil
Saust auf den Kamm, bald wie ein Pfeil
Schießt tief ins Wellental der Bug
Des tapfern Boots auf seinem Zug,
Verfolgt von den Blicken der Bangenden hier,
Atemlos spähen sie starr und stier.
Die fünf gelangen zu Wrack und Mast,
Noch hängt im Tauwerk oben der Gast.
Harro nun entert die Wanten empor,
Holt selbst ihn herunter, der fast erfror.
Doch er lebt und sie rudern mit ihm zurück —
Das Schwerste vom schweren Wagestück.
Sie kommen, im Boote, von Gischt umblinkt,
Erhebt sich Harro am Steuer und winkt;
Und ehe der Kiel berührt den Grund,
Legt er zum Rufe die Hand an den Mund
Und schreit mit markerschütterndem Ton:
„Mutter, ich bring' ihn! 's ist Uwe, dein Sohn!"
Wolf.
30
27. Der Sänger.
27. Ser Sänger.
1° „Was hör' ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laßt den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!"
Der König sprach's, der Page lief;
Der Knabe kam, der König rief:
„Laßt mir herein den Alten!"
2. „Gegrüßet seid mir, edle Herr'n,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit
Sich staunend zu ergötzen."
3. Der Sänger drückt die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein
Und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ ihm zum Lohne für sein Spiel
Eine goldene Kette bringen.
4. „Die goldene Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern!
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.
5. Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet;
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
Laßt mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen!"
28. HanS von Sagan.
31
6. Er setzt ihn an, er trank ihn aus:
„O Trank voll süßer Labe!
O dreimal hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke." Goethe.
28. Kans von Sagan.
1. Es lebe hoch im Liede der edle Handwerksstand!
Manch köstlich Kleinod danken wir seiner treuen Hand.
Ich weiß euch einen Schuster, im Handwerk recht geschickt,
Der tapfer auch dem Feinde am Zeuge hat geflickt.
2. Den Schuster soll man preisen, der treu und ehrenhaft
Sein Handwerk treibt wie dieser mit rechter Meisterschaft.
Die Pfuscher aber jagen zu unserm Land hinaus,
Die vor dem Feinde zagen und träge sind zu Haus.
3. Zu Rudau war's in Preußen, wo mancher Held erblich;
Es sank die Kreuzesfahne, das Heer des Ordens wich;
Schon stürzten wie die Wölfe die Sieger auf den Raub,
Da hob ein Schuster mutig die Fahne aus dem Staub.
4. Und in dem blauen Ärmel, wie er den Pfriemen hielt,
So hat er mit dem Schwerte nach ihrem Herz gezielt.
„Ihr Ritter," rief er „folget dem Schuster, der euch führt!
Ich will euch treulich lehren, wie man die Hände rührt.
5. Das Fell weiß ich zu gerben und kenne Schnitt und Stich;
Zu Königsberg im Kneiphof, dort lehrten sie es mich."
Er rief's und fuhr zur Rechten und scharf zur Linken aus;
„Ihr Ritter, lernet fechten! Ein Schuster lacht euch aus."
6. Sie schlagen mit dem Schuster beschämt und zornig drein
Und rot war von dem Blute der blaue Ärmel sein.
Hans Sagan hieß der Schuster, Hans Sagan hieß der Held,
Der also schlug die Sieger zu Rudau in dem Feld.
7. „Nun fordre eine Gnade nach deines Herzens Lust!"
So spricht der Ordensmeister und drückt ihn an die Brust.
„Ein Schuster will ich bleiben, mein Handwerk sei geehrt;
Es gibt mir alles reichlich, was nur mein Herz begehrt.
32
29. Die Lehre der Natur.
8. Nur eines bitt' ich: Feire am Fest der Himmelfahrt
Den Tag, an dem ein Schuster die Fahne hat bewahrt!
Zum Kneiphof lade jährlich zum Mahl die Bürgerschaft
Und laß das Schenkbier kreisen, es gibt dem Handwerk Kraft!"
9. Der Meister nahm die Worte des Schusters treu in acht:
Zu Königsberg ward jährlich gezecht am Tag der Schlacht.
Er lieh den blauen Ärmel und eine güldne Krön'
Dem Königsberger Schuster als Wappenschild zum Lohn.
Der Ärmel und die Krone sind noch das Schild der Stadt;
Die Stadt sei hoch gepriesen, die solche Schuster hat! P^u.
29. Die Delire der Natur.
Unter den Jüngern Hillels, des weisen Lehrers der Söhne
Israels, befand sich einer mit Namen Saboth; den verdroß jeg-
liche Arbeit also, daß er sich dem Müßiggänge und der Träg-
heit hingab. Hillel aber war bekümmert um den Jüngling und
beschloß ihn zu heilen.
Zu dem Ende führte er ihn hinaus in das Tal Hinnon bei
Jerusalem. Daselbst war ein stehendes Gewässer, voll Gewürm
und Ungeziefer und bedeckt mit schlammigem Unkraut.
Als sie das Tal erreicht hatten, legte Hillel seinen Stab
nieder und sprach: »Hier wollen wir ausruhen!«
Der Jüngling aber verwunderte sich und sagte: »Wie, Meister,
an diesem häßlichen Sumpfe? Merkst du nicht, welch ein ver-
giftender Dunst daraus emporsteigt?«
»Du hast recht, mein Sohn,« antwortete der Lehrer, »dieser
Sumpf gleicht der Seele eines Müßiggängers. Wer möchte in
seiner Nähe weilen!«
Darauf führte Hillel den Jüngling zu einem wüsten Acker,
auf welchem nur Dornen und Disteln wuchsen; die erstickten
das Korn und die heilsamen Kräuter. Da lehnte sich Hillel auf
seinen Stab und sprach: »Sieh! Dieser Acker hat einen guten
Boden allerlei Nützliches und Erfreuliches zu tragen. Aber man
hat sein vergessen und ihn versäumt. So bringt er jetzt stach-
lichte Disteln und Dornen und giftiges Gesäme. Darunter nisten
die Schlangen und Molche. Vorhin sahest du die Seele — jetzt
erkenne das Leben des Müßiggängers 1« Da wurde Saboth er-
griffen von Scham und Heue und sprach: »Meister, warum führest
30. Die Schule des Lebens.
33
du mich in solch öde und traurige Gegenden? Sie sind das
strafende Bild meiner Seele und meines Lebens L
Hillel aber antwortete und sprach: »Da du meinen Worten
nicht glauben wolltest, so habe ich versucht, ob die Stimme
Gottes in der Natur zu deinem Herzen dringen möchte.« —
Saboth aber drückte seinem Lehrer die Hand und sagte: »Es
ist dir nicht mißlungen; ein neues Leben — du sollst es sehen
— ist mir aufgegangen I«
Also geschah es. Saboth ward ein tätiger Jüngling. Da
führte ihn Hillel in ein fruchtbares Tal an den Ufern eines klaren
Baches, der in lieblichen Windungen zwischen fruchtbaren Bäumen,
blumigen Wiesen und dunkeim Gebüsche dahinströmte. — »Sieh
hier,« sagte darauf der Greis zu dem erfreuten Jünglinge, »das
Bild deines neuen, tätigen Lebens! Die Natur, die dich gewarnt
hat, mag dich nun auch belohnen. Ihre Anmut und Schönheit
kann nur den erfreuen, der in ihrem Leben sein eigenes schaut.«
Curtmann.
30. pie Schute des Lebens.
Es gibt verschiedene Schulen, welche uns die zu einem menschen-
würdigen Dasein nötigen Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln. Als
vorzüglichste und höchste Schule aber steht das ganze lange Leben eines
Menschen selber da. Sobald er geboren ist, beginnt das Lernen. Zuerst
lernt er die Glieder bewegen, die Hand öffnen und schließen, dann die
Angen rühren und dorthin schauen, wo er etwas hörte; endlich lernt er
sitzen, kriechen, gehen, laufen, springen und er kann reden und jauchzen.
Nun beginnt der Wirkungskreis größer zu werden: tausenderlei Gegen-
stände umgeben ihn, sie reizen seine Aufmerksamkeit und fordern ihn zur
Untersuchung auf; er hat vielerlei Bedürfnisse, denen er abhelfen muß;
er betrachtet die Dinge, ob sie ihm nützen oder schaden und denkt nach,
wozu er sie gebrauchen kann. Seine Vorstellungen über die Wesenheit der
Welt vermehren sich, sie verbinden sich untereinander und werden Kennt-
nisse. Im weiteren Verlaufe wählt er einen Beruf, d. h. eine bestimmte
Wirksamkeit für das ganze Leben, wodurch er sich, später der Familie
unb dem ganzen Hause Unterhalt verschafft.
In diesem Beruf kann er von Tag zu Tag lernen, wie er dessen
Ausübung verbessern und bis zu dem höchsten ihm erreichbaren Punkt ver-
vollkommnen könne. Hierbei kommt er mit verschiedenen Menschen in
Berührung, er lernt die Sitten und Gebräuche mannigfaltiger Gegenden
und Völker kennen, er schützt und wägt die Gegenstände und Verhältnisse
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 3
34
30. Die Schule des Lebens.
und weiß, was sie wert sind und was nicht. Er dehnt seine Wirksamkeit
über seine Familie hinaus, er sucht seiner Heimatgemeinde zu nützen,
er will das Beste seines Vaterlandes mit besorgen helfen, er will Anstalten
gründen, wodurch die Menschheit glücklicher werde. Ist er weise, so
genießt er auch die Freuden der Welt mit Maß und mit Einsicht und lernt
auch hierin immer mehr sich Grenzen setzen und die Würde bewahren;
denn in der Tat, kein Lernen ist schwieriger als das, die Freuden, die
Gott in die Welt gelegt hat, richtig zu genießen und vieles Unglück, ja,
das meiste, das über die Menschen gekommen ist, hat seinen Ursprung
darin, daß sie sich durch Übermaß schwächten und ihre Kraft zu jedem
Nötigen und Großen verloren. So geht der Mensch durch die Schule
des Lebens; er ist immer in ihr; er lernt alle Tage etwas und seine
Erfahrungen wachsen, bis er auf dem Totenbette liegt — und selbst da
noch kann er das Erlernte über seine Zeit hinaus fruchtbar machen,
wenn er es ausgezeichnet hat und so der Nachwelt hinterläßt.
Die Ursache aber, weshalb die Menschen in der Schule des Lebens
lernen, ist die Not. Weil er Speise braucht, weil er Kleider, Obdach,
andere Dinge, selbst Vergnügungen braucht, muß der Mensch eine Wirk-
samkeit entfalten, wodurch er sich das alles verschafft. Und wo die
Umstünde am allerungünstigsten sind, dort muß er seinen Verstand am
meisten anstrengen und dort kommen gewöhnlich die außerordentlichsten
Erzeugnisse des Geistes zustande. Selbst ganze Völker sind so empor-
gekommen und haben den Gipfel hohen Glanzes erreicht, wenn die Not
ihre Seelenkräfte und ihren Willen anspannte. Solange die alten Römer
im Kampfe mit ihren mächtigen italischen Nachbarn lagen, solange sie
an der berühmten afrikanischen Stadt Karthago einen Feind hatten, den
sie fürchten mußten, waren sie einfach, müßig, tapfer und verrichteten
Taten des höchsten Ruhmes und der höchsten Aufopferung; nachdem sie
aber aus diesen Kümpfen als Sieger hervorgegangen, überließen sie sich
dem Genusse, wurden feig und töricht und gingen zu Grunde. Das steinige,
unfruchtbare Ufer des Mittelmeers, wo einst die Phönizier wohnten,
zwang dieses Volk auf der weiten See seine Nahrung zu suchen, wodurch
sie das erste Handelsvolk der Alten Welt und die Vermittler wohltätiger
Ersindungen wurden.
So zeigt sich auch noch heutzutage, daß dort, wo die Natur alles
mit verschwenderischer Freiheit spendet, die Menschen meistens trüge und
ohne Ersindungsgeist sind, hingegen in den weniger reich bedachten
kühleren Ländern der gemüßigten Zonen die tüchtigsten und geistvollsten
Völker wohnen; die ganz kalten Länder ertöten wieder den Geist und
setzen ihm unüberwindliche Hindernisse entgegen. Nach Stifter.
31. Das Loch im Ärmel.
35
31. Aas Loch im Krrnek.
1. Ich hatte einen Spielgesellen und Jugendfreund, namens Al-
brecht, erzählte einst Herr Marbel seinem Neffen Konrad. Wir beide
waren überall und nirgend, wie nun Knaben sind, wild, unbändig. Unsere
Kleider waren nie neu, sondern schnell besudelt und zerrissen. Da gab's
Schläge zu Hause; waren die einmal abgeschüttelt, blieb's beim alten.
Eines Tages saßen wir in einem öffentlichen Garten auf einer Bank
und erzählten einander, was wir werden wollten. Ich wollte General-
leutnant, Albrecht Generalsuperintendent werden.
„Aus euch beiden gibt's in Ewigkeit nichts!" sagte ein steinalter
Mann in feinen Kleidern und weißgepuderter Perücke, der hinter unserer
Bank stand und die kindischen Entwürfe angehört hatte.
Wir erschraken. Albrecht fragte: „Warum nicht?"
Der Alte sagte: „Ihr seid guter Leute Kinder; ich sehe es euren
Röcken an; aber ihr seid zu Bettlern geboren; würdet ihr sonst diese
Löcher in euren Ärmeln dulden?" Dabei faßte er jeden von uns an
den Ellenbogen und bohrte mit den Fingern in die daselbst durchgerissenen
Ärmel hinaus. — Ich schämte mich, Albrecht auch. „Wenn's euch,"
sagte der alte Herr, „zu Hause niemand zunäht, warum lernt ihr's
nicht selbst? Im Anfang hättet ihr den Rock mit zwei Nadelstichen ge-
heilt; jetzt ist's zu spät und ihr kommt wie Bettelbuben daher. Wollt
ihr Generalleutnant und Generalsuperintendent werden, so fangt an beim
kleinsten! Erst das Loch im Ärmel geheilt, ihr Bettelbuben, dann denkt
an etwas anderes!"
Wir beide schämten uns von Herzensgrund, gingen schweigend davon
und hatten das Herz nicht etwas Böses über den bösen Alten zu sagen.
Ich aber drehte den Ellenbogen des Rockürmels so herum, daß das Loch
einwärts kam, damit es niemand erblicken möchte. Ich lernte von meiner
Mutter spielend nähen; denn ich sagte nicht, warum ich's lernen wollte.
Sobald sich an meinen Kleidern eine Naht öffnete, ein Fleckchen sich
durchschabte, ward's sogleich gebessert. Das machte mich aufmerksam;
ich mochte an unzerrissenen Kleidern nun nicht mehr Unreinlichkeit leiden.
Ich ging sauberer, ward sorgfältiger, ffeute mich und dachte, der alte
Herr in der schneeweißen Perücke hatte so unrecht nicht. Mit zwei
Nadelstichen zur rechten Zeit rettet man einen Rock, mit einer Handvoll
Kalk ein Haus; mit einem Glas Wasser löscht man eine angehende
Feuersbrunst; aus roten Pfennigen werden Taler, aus kleinen Samen-
körnern Bäume, wer weiß wie groß.
2. Albrecht nahm die Sache nicht so streng. Es war sein Schaden.
Wir waren beide einem Handelsmann empfohlen; er verlangte einen im
3 *
36
31. Das Loch im Ärmel.
Schreiben und Rechnen geübten Lehrburschen. Der Krämer prüfte uns;
dann gab er mir den Vorzug. Meine alten Kleider waren heil und
sauber; Albrecht im Sonntagsrock ließ Nachlässigkeiten sehen. Das sagte
mir der Herr Prinzipal nachher. „Ich sehe Ihm an," sagte er, „Er
hält das Seine zu Rat; aus dem anderen gibt's keinen Kaufmann." Da
dachte ich wieder an den alten Herrn und an das Loch im Ärmel.
Ich merkte wohl, ich hatte in anderen Dingen, in meinen Kennt-
nissen, in meinem Betragen, in meinen Neigungen, noch manches Loch
im Ärmel. Zwei Nadelstiche zu rechter Zeit bessern alles ohne Mühe,
ohne Kunst. Man lasse nur das Loch nicht größer werden; sonst braucht
man für das Kleid den Schneider, für die' Gesundheit den Arzt, für die
moralischen Löcher die strafende Obrigkeit. — Es gibt nichts Unbedeuten-
des und Gleichgültiges, weder im Guten noch im Bösen. Wer das nicht
glaubt, kennt sich und das Leben nicht. Mein Prinzipal hatte auch ein
abscheuliches Loch im Ärmel, nämlich er war rechthaberisch, zänkisch,
despotisch, launenhaft; das brachte mir oft Verdruß. Ich widersprach;
da gab's Zank. Holla, dachte ich, es könnte ein Loch im Ärmel geben
und ich ein Zänker und gallsüchtig und unverträglich wie der Herr
Prinzipal werden. Von Stunde an ließ ich den Mann recht haben;
ich begnügte mich recht zu tun und bewahrte meinerseits den Frieden.
Als ich ausgelernt hatte, trat ich in ein anderes Geschäft. Gewöhnt,
mit wenigen Bediirfnissen des Lebens froh zu sein (denn wer viel hat,
ist nie ganz froh), sparte ich manches. Gewöhnt, mir kein Loch im Ärmel
zu verzeihen, schonend aber über dasjenige an fremden Ärmeln wegzu-
sehen, war alle Welt mit mir zufrieden wie ich mit aller Welt. — So
hatte ich beständig Freunde, beständig Beistand, Zutrauen, Geschäfte.
Gott gab Segen. Der Segen liegt im Rechttun und Rechtdenken wie
im Nußkern der fruchttragende hohe Baum.
So wuchs mein Vermögen. Wozu denn? fragte ich; du brauchst
ja nicht den zwanzigsten Teil davon. — Prunk damit treiben vor den
Leuten? — Das ist Torheit. — Soll ich in meinen alten Tagen noch
ein Loch im Ärmel ausweisen? — Hilf andern, wie dir Gott durch
andere geholfen! Dabei bleibt's. Das höchste Gut, das der Reichtum
gewährt, ist zuletzt Unabhängigkeit von den Launen der Leute und ein
großer Wirkungskreis. — Jetzt, Konrad, gehe auf die hohe Schule, lerne
etwas Rechtes; denke an den Mann mit der schneeweißen Perücke; hüte
dich vor dem ersten kleinen Loch im Ärmel; mach's nicht wie mein
Kamerad Albrecht! Er ward zuletzt Soldat und wurde in Amerika
totgeschossen.
Zschokke.
32. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
37
32. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
In dem Dorfe Kippenheim bei Lahr lebte in den sechziger
Jahren des 17. Jahrhunderts ein Paar Eheleute, schlichte und
rechtliche Leute, die das Wörtlein des Herrn im Herzen trugen:
»Wandle vor mir und sei fromm I« Sie hatten ein Söhnlein, zart-
gliederig und schwach wie Zwirn, und alle Welt sagte: »Der kann
nur ein Schneider werden; denn der liebe Gott hat ihm das
Schneidersiegel aufgedrückt.« Das wurde den guten Eheleuten,
die Stulz hießen, so oft gesagt, daß sie am Ende wie ans Evan-
gelium glaubten, ihr Jörgei müsse ein Schneider werden. Sie
waren arm, konnten aber doch so viel zusammenbringen, daß
sie das Lehrgeld erschwangen, und Jörgei wurde ein Schneider.
Andere Leute meinten aber wieder, es sei doch schade um den
guten Kopf des Jungen, der wohl zu mehr tauge als zum Schneider.
Diese aber dachten nicht daran, daß auch ein Schneider,
wenn er ein rechter ist und nicht bei dem Schnitte seiner Wan-
derzeit bleibt, sondern mit der Zeit fortschreitet, etwas werden
kann. In dem Jörgei Stulz aber steckte so einer; denn der Junge
hatte viel Verstand, hatte Schönheitssinn und Gewandtheit. Sein
Meister lobte ihn gar sehr; allein dies Lob galt nicht bloß seiner
Gelehrigkeit sondern auch seinem Gehorsam, seiner Gefälligkeit
und seinen guten Sitten. Es zeigte sich auch da wieder, daß
Redlichkeit und Gefälligkeit gegen jedermann ein Schlüssel sind,
der nicht nur alle Türen sondern auch alle Herzen ausschließt.
Als die Lehrzeit aus war, ist unser Stulzchen, dem der Sinn
in die weite Welt stand, auf die Wanderschaft gegangen. Geld
hatte er wenig mitgenommen, aber sehr gute Zeugnisse vom
Meister und, was mehr Wert war, auch Frömmigkeit und guter
Eltern reichen Segen. Von dem sagt die Schrift, er baue den
Kindern Häuser, und bei meiner Treu! dem Jörgei Stulz hat er
sie gebaut.
Der ist dann nach der Schweiz gewandert, hat überall ge-
arbeitet und gelernt, war überall gern gesehen und wert gehalten
und ist darauf nach Frankreich gegangen. In Paris hat er sich
erst recht einen feinen Geschmack verschafft. Da er sparsam war
und die Kneipen- und Herbergswirtschaft mied, sparte er sich
schon ein schönes Stück Geld, schickte seinen lieben Eltern regel-
mäßig Unterstützungen und ließ keinen Armen ohne eine Gabe;
denn er wußte selbst auch, wie das Hungerbrot schmeckt. In
38
32. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
Frankreich behagte ihm die Wirtschaft nicht. Er machte sich
daher ans die Beine und ging nach England — das heißt, er
ging ans Meer und dann fuhr er hinüber. Überall kann man
geschickte Leute brauchen, absonderlich in London, wo man auf
ein schönes Kleid etwas hält und auch nicht knickerig bezahlt.
Durch seine Geschicklichkeit wurde er Geselle beim Hof-
schneider und darauf Obergeselle, nämlich der, welcher zuschneidet.
Er war auch mittlerweile gewachsen und ein hübscher Mensch
geworden, der sich nett kleidete und andere noch netter zu kleiden,
besonders aber kleine Naturfehler herrlich zu verstecken verstand.
Das zieht bei den vornehmen Leuten, die den Verdruß hassen.
Nach einigen Jahren starb sein Meister, der Hofschneider,
und er wurde sein Nachfolger; ja, der König von England, Georg
der Vierte, der auch ein Freund von schönen Kleidern war, ge-
wann ihn erstaunlich lieb.
In England wie anderwärts drehen sich alle Fahnen nach
dem Winde, der vom Schlosse weht. Der reiche englische Adel
wollte nun auch nur vom Meister Stulz gekleidet sein. Der aber
suchte sich fast lauter tüchtige deutsche Gesellen zu verschaffen;
denn die Deutschen sind in England als die besten Arbeiter be-
kannt und geliebt. Der Stulz hielt sich gut, hatte die feinste und
beste Ware, arbeitete nach dem besten und neuesten Geschmack
und nahm Geld ein über die Maßen, obwohl er niemals jemanden
übernahm.
Solange seine Eltern lebten, überhäufte er sie mit Wohl-
taten und gar manche leidende Seele segnete den deutschen
Schneider.
Was sagt ihr aber dazu, liebe Leser, wenn ich euch melde,
daß der Georg Stulz aus Kippenheim im Lauf von dreißig Jahren
ein Vermögen erworben hatte, das sich auf mehr als eine Milhon
belief? Aber es ist wahrhaftig wahr!
Als aber fünfzig Lebensjahre hinter ihm lagen und es bergab
ging, fand er, daß die Luft in England, die feucht, dick und
nebelig ist, seiner Gesundheit schlecht bekam. Er hing nun
Schere und Bügeleisen an den Nagel und ließ sich in Hyöres im
südlichen Frankreich nieder, wo eine gar gesunde Luft ist und
Leute, die bei uns schnell an der Auszehrung sterben würden,
noch viele Jahre leben können, weswegen auch viele reiche Leute
hinziehen. Er kaufte sich dort ein fürstliches Landgut und war
32. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
39
ein großer Herr — aber niemals stolz; denn er erzählte seinen
Gästen gar zn gern von seiner Herkunft, seinem Handwerk, und
wie er sich geplagt.
Daß ihr nun wißt, wie ungeheuer reich er war, ist noch
nicht alles. Die Hauptsache ist, wie er seinen Reichtum anwandte.
Ich habe euch schon erzählt, daß Wohltun sein Glück war. Es
ist aber auch über die Maßen, wie er Wohltaten spendete. In
Marseille steht eine evangelische Kirche, die hat er fast ganz
allein aus seinen Mitteln erbaut. Die Bibelgesellschaft daselbst
hat er reich begabt; der katholischen Kirche in Hyöres ließ er
eine große Orgel bauen, ließ in der Stadt die Brunnen herstellen,
neue graben, stiftete ein Krankenhaus und dergleichen herrliche
Anstalten. Und daß ein solcher Mann seinen Geburtsort nicht
vergaß, versteht sich wohl von selbst.
Wenn ihr einmal nach Kippenheim kommt und den Namen
Georg Stulz nennt, so ziehen die Leute die Hüte ab und sagen:
»Gott vergelt’s ihm, was er an den Armen tat!« Dann zeigen
sie euch die Kirche, das Krankenhaus und so weiter und sagen:
»Das hat er alles gebaut und gestiftet!« Und kommt ihr nach
Karlsruhe, der Hauptstadt des schönen Badener Landes, so wird
man euch erzählen, daß er ungeheure Summen schenkte zur
Polytechnischen Schule, zum Armenhaus und zum Waisenhaus.
Das war ein edler Mensch. Als Schneiderlein ist er in die Welt
gezogen, blutarm, aber reich am Herzen. Da hat Gottes Segen
Früchte getragen. Der Name Georg Stulz wurde und wird nicht
nur von dankbaren Menschen sondern von Gottes Engeln liebend
und segnend genannt!
Sein Landes? ^err, der Großherzog von Baden, der gerne das
Verdienst seines Landeskindes ehren wollte, hat seine Brust mit
dem Orden vom Zähringer Löwen geschmückt und ihn nachmals
mit vielen Ehren in den Freiherrnstand erhoben.
Am 17. November 1832 starb in Hyöres der Freiherr Georg
Stulz von Ortenberg, wie ihn sein Landesherr benannte, und an
seinem Grabe flössen reiche Tränen der Liebe; denn er starb
als Vater der Armen und Bedrängten. In Kippenheim steht sein
Denkmal; aber das zerfällt mit der Zeit. Größer und schöner
ist dagegen das, welches er sich gründete durch Wohltätigkeits-
anstalten, die fortdauern zum Segen der leidenden Menschen.
Hom.
40
33. Der güldene Ring.
33. I>er güldene Uirig.
1. Der Herberg mancher Gilden,
Der Burschen Burg und Ruh',
Der wanderte spät abends
Ein Korps Gesellen zu.
Der Drang war groß, die Tür war klein
Und jeder will der Erste sein
Im Haus.
2. Der Herbergsvater guckt hinaus
Und spricht den Gruß: „Woher zu wandern?
Könnt ihr nicht alle Mann der Erste sein,
So sei es einer nach dem andern.
Wie's Handwerk folgt, so sprechet ein!"
Nun will erst recht ein jeder Erster sein.
Der Schuster spricht: „Wenn ich nicht wär',
Wo kämen Stiesel zum Wandern her?"
„Vom Leder!" fiel der Gerber ein.
„Nein, von der Haut!" schlug Metzger drein.
„Was Stiefel! Backe ich kein Brot,
So seid ihr auch in Stiefeln tot."
..Und mahl' ich nicht, so bäckst du Stroh;
Dann, mein' ich, wär es auch noch so."
„Und schmied' ich keinen Pflug,
So mahlt der Müller Wind; dann sind wir just so klug."
3. „Klug hin, klug her — der Maurer muß voraus!
Wo wär' die Herberg hier, baut' ich kein Haus?"
„Wie aber, Bruder, willst ins Haus hinein,
Bringt nicht der Schlosser erst die Schlüssel rein?"
„Pah, ohne Schlüssel bau' ich erst' und letztes Haus!"
Fuhr wie sein Hobelspan der Schreiner 'raus.
„Und Bruder, hast dein letztes fertig du,
Dann komm' ich, Nagelschmied, und schließe zu!"
Allein, ganz fix, nähnadelfein
Bügelt der Schneider hinterdrein:
„Ist Leut' begraben eine Kunst?
Nein, Leute machen, das ist ein'."
„Du machst doch keine, kleiner Schneider?"
„Nein, ich nicht, aber meine Kleider!"
Mit Gunst! Der kleine Schneider war hinein.
34. Der Weg in den Beruf.
41
Doch fest, als tät' er einen Balken fassen,
So griff der lange Zimmer mann mal aus:
„Fürn Schneider hab' ich just das Loch gelassen.
Kopf weg!" und warf den Schneider wieder 'naus.
4. „Sacht, Kinder, immer sacht!"
Ruft Herbergsvater steuernd jetzt heraus.
„Den Fehler hier hab' ich gemacht!"
Und hebt die Türe samt der Angel aus.
„So wahr mein Haus hier steht in Gottes Hand
Und ist zum Güldnen Ringe zubenannt,
So sollet ihr herein mitsammen wandern;
Habt ihr doch Wert erst einer nach dem andern.
Denn alle Gilden sind ein güldner Kranz,
Drin jedes Blatt hat seinen Wert und Glanz.
Jedwedes Reis, wo es auch Platz genommen,
Zum güldnen Ringe ist es gleich willkommen.
Drum kommt mir alle Mann zugleich herein,
Soll keiner erster oder letzter sein." Scherenberg.
34. Der Weg in den Weruf.
Schon welkte das frisch gemähte Wiesengras in der Mittagsonne,
als Anton dem Nachbar, der ihn bis zur letzten Station vor der
Hauptstadt mitgenommen hatte, die Hand schüttelte und dann rüstig auf
der Landstraße vorwärts schritt.
Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrten die
Sensen der Schnitter am Wetzstein und oben in der Luft sang die un-
ermüdliche Lerche. Vor dem Wanderer strich die Landschaft in hügelloser
Ebene fort; am Horizont hinter ihm erhob sich der blaue Zug des Ge-
birges. Kleine Bäche, von Erlen- und Weidengruppen eingefaßt, durch-
rannen lustig die Landschaft; jeder Bach bildete ein Wiesental, das auf
beiden Seiten von üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen
Seiten stiegen die hellen Glockentürme der Kirchen aus dem Boden aus,
jeder als Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und roten Dächern, die
mit einem Kranz von Gehölz umgeben waren. Bei vielen Dörfern konnte
man an der stattlichen Vaumallee und dem Dach eines großen Gebäudes
den Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhüusern lag.
Anton eilte vorwärts, wie auf Sprungfedern fortgeschnellt. Vor
ihm lag die Zukunft, sonnig gleich der Flur, ein Leben voll strahlender
Träume und grüner Hoffnungen. Nach langer Trauer in der engen
Stube pochte heute sein Herz zum erstenmal wieder in kräftigen Schlägen,
42
35. Zufriedenheit.
in der Fülle der Jugendkraft strahlte sein Auge und lachte sein Mund.
Alles um ihn glänzte, duftete, wogte wie in elektrischem Feuer, in langen
Zügen trank er den berauschenden Wohlgeruch, der aus der Erde aufstieg.
Wo er einen Schnitter im Felde traf, rief er ihm zu, daß heut' ein
guter Tag sei, und einen guten Tag rief jeder Mund dem schmucken
Jüngling zurück. Im Getreidefelde neigten sich die Ähren am schwanken
Stiel auf ihn zu, sie nickten und grüßten und in ihrem Schatten schwirrten
unzählige Grillen ihren Gesang: „Lustig, lustig im Sonnenschein". Auf
der Weide saß ein Volk Sperlinge; die keinen Barone des Feldes flüchteten
nicht, als er vor dem Stamme stehen blieb; ja sie beugten die Hälse
herunter und schrien ihn an: „Guten Tag, Wandersmann, wohin,
wohin?" Und Anton sagte leise: „Nach der großen Stadt, in das Leben."
„Gutes Glück!" schrien die Sperlinge, „frisch vorwärts!" Freytag.
35. Zufriedenheit.
1. Was frag’ ich viel nach Geld und Gut,
Wenn ich zufrieden bin?
Gibt Gott mir nur gesundes Blut,
So hab’ ich frohen Sinn
Und sing' aus dankbarem Gemüt
Mein Morgen- und mein Abendlied.
2. So mancher schwimmt im Überfluß,
Hat Haus und Hof und Geld
Und ist doch immer voll Verdruß
Und freut sich nicht der Welt.
Je mehr er hat, je mehr er will,
Nie schweigen seine Klagen still.
3. Da heißt die Welt ein Jammertal
Und deucht mir doch so schön,
Hat Freuden ohne Maß und Zahl,
Läßt keinen leer ausgehn.
Das Käferlein, das Vögelein
Darf sich ja auch des Maien freu’n.
4. Und uns zuliebe schmücken ja
Sich Wiese, Berg und Wald;
Die Vögel singen fern und nah,
Daß alles widerhallt.
Bei Arbeit singt die Deich' uns zu,
Die Nachtigall bei süßer Ruh’.
36. Fleiß bringt Brot, Faulheit Not.
43
5. Und wenn die goldne Sonn’ aufgeht
Und golden wird die Welt,
Wenn alles in der Blüte steht
Und Ähren trägt das Feld:
Dann denk’ ich: »Alle diese Pracht
Hat Gott zu unsrer Lust gemacht.!
6. Drum bin ich froh und lobe Gott
Und schweb’ in hohem Mut
und denk’: »Es ist ein lieber Gott,
Er meint’s mit Menschen gut!«
Drum will ich immer dankbar sein
Und mich der Güte Gottes freun. MiUer
36. Akeiß bringt Wrot, Aautsieit Wot.
Ein gesunder, fleißiger Mensch kann in unserm Vaterlande sein
Brot verdienen und mehr noch als das, er kann auch etwas ersparen
und wohlhabend werden. Neulich erzählte ein im Anfang der dreißiger
Jahre stehender Mann im Kreise seiner Bekannten: „In diesen Tagen
habe ich endlich das lang ersehnte Ziel erreicht, ich habe mir jetzt durch
viele Mühe und langjähriges Zurücklegen einzelner Pfennige zehntausend
Mark erspart. Nun fühle ich mich frei und unabhängig von den Launen
mißgünstiger Menschen; ich vermag von den Zinsen meines Kapitals
bereits einen guten Teil meiner Bedürfnisse zu bestreiten, nun kann ich
auch einen eigenen Herd gründen und ,eigener Herd ist Goldes wert'."
Neugierig fragte ich den frisch dareinschauenden Mann, wie er sich
denn eine so große Summe erworben. Nach langem Drängen gab er
endlich folgende Aufklärung: „In meinem sechzehnten Jahre kam ich,
mit guten Schulkenntnissen ausgerüstet, in die kaufmännische Lehre, und
da ich schon manches wußte, was andere erst lernen mußten, erhielt
ich außer Kost und Wohnung wöchentlich noch 4 Ji 50 Ich legte
einen Teil meines Lohnes zurück und nach einem Jahre hatte ich 150 Ji
beisammen; im zweiten Jahre konnte ich bereits eine Staatsobligation
von 300 Ji kaufen und nun war mein Heimatland mein Schuldner.
Verschiedene Stimmen riefen zwar: ,Man genießt nur einmal sein
Leben; in der Jugend spart man nicht, das kannst du tun, wenn du
alt bist!' Doch ich schenkte diesen Lockstimmen kein Gehör; durch Pflicht-
treue erwarb ich mir das besondere Wohlwollen meines Lehrherrn und
nach zwei Jahren erhöhte dieser meinen Wochengehalt auf sechs Mark.
44
36. Fleiß bringt Brot, Faulheit Not.
Im Vierten Jahre wurde ich Gehilfe und erhielt als solcher im Jahre
840 JC, die ich wieder gut verzinslich anlegte.
Um die Welt und andere Geschäftshäuser kennen zu lernen begab
ich mich auf die Wanderschaft. Wie getrost konnte ich dieses tun! Weit
über tausend Mark waren schon mein Eigentum. Selbst wenn es mir
nicht gelang sogleich eine Stelle zu bekommen, brauchte ich keine Sorge
zu haben jemand zur Last zu werden oder gar zu betteln. Bald war
ich so glücklich eine Beschäftigung zu finden. Ich arbeitete unverdrossen,
oft bis tief in die Nacht hinein. Das gefiel meinem Herrn und er war
für mein Fortkommen außerordentlich besorgt. Eines Tages trat er zu
mir und sprach: ,Jch habe eine Arbeit, welche Sie abends und morgens
vor den Geschäftsstunden leicht zu fertigen imstande sind; Sie können
sich dadurch in manchem Monate noch 60 erwerben/ Rasch sagte
ich zu und freue mich noch heute darüber. Frühzeitig stand ich auf
und das Sprichwort: Morgenstund' hat Gold im Mund' bewahrheitete
sich in seinem ganzen Umfange. Denn die neue Arbeit trug mir drei-
fachen Gewinn ein.
Ich hatte Druckbogen zu verbessern; sorgsam verglich ich die Hand-
schrift des Verfassers mit dem Drucke und merkte die Fehler an. Da-
durch gewöhnte ich mich erstens an Genauigkeit und Pünktlichkeit und
lernte auch manches von dem Inhalte des Gedruckten.
Zweitens konnte ich den Einladungen meiner Kameraden zu ihren
Vergnügungen nicht folgen, ich hatte keine Zeit dazu; drittens verdiente
ich viel Geld."
„Und haben Sie bei dieser angestrengten Tätigkeit Ihre Gesund-
heit nicht untergraben?" wendete ich ein. „Durchaus nicht, ich habe mich
bei jener Arbeit sehr wohl befunden. Die Stimmung meines Gemütes
war eine fortgesetzt heitere, da es mit jedem Tage vorwärts ging; mein
Leben war ein sehr geregeltes und das übt auf das Wohlbefinden des
Menschen einen größeren Einfluß aus, als die meisten zugeben möchten.
Am Abend erging ich mich in Gottes freier Natur und am Sonntag
nachmittag schüttelte ich den Laden- und Straßenstaub von den Füßen
und durchstreifte mit gleichgesinnten Freunden die Umgegend meiner neuen
Heimat. Außer frischem Mut brachten wir rote Backen mit nach Haus.
Und was besonders schwer ins Gewicht füllt, ist der Umstand, daß diese
Spaziergänge nichts oder doch nur wenig kosteten. Läßt ja Gott die
Sonne scheinen, Gräser und Blumen wachsen und die Vöglein zwitschern
und singen; durch die Bäume des Waldes zieht für Reiche und Arme
dieselbe erfrischende und stärkende Luft und aus den Bergen genießen
37. Tobias Witt und Mills.
45
wir umsonst herrliche Rundschau. Durch solche Ausflüge und darauf-
folgenden gesunden Schlaf neu gestärkt, ging ich wohlgemut wieder an
meine Arbeit."
37. Koöias Witt und Wills.
Herr Tobias Witt war aus einer nur mäßig großen Stadt gebürtig
und nie weit über die nächsten Dörfer hinausgekommen. Dennoch hatte
er mehr von der Welt gesehen als mancher, der sein Erbteil in Neapel
oder Paris verzehrt hat. Er erzählte gern allerhand kleine Geschichtchen,
die er sich hier und da aus eigener Erfahrung gesammelt hatte.
Einmal besuchte den Herrn Witt ein junger Anfänger, Herr Mills;
der wollte sich zu einem kleinen. Handel etwas Geld von ihm borgen.
„Viel," fing er an, „wird dabei nicht herauskommen, das sehe ich vor-
her; aber es rennt mir so von selbst in die Hände. Da will ich's doch
mitnehmen."
Witt. Und wie viel meint Er denn wohl, lieber Wills, daß Er
braucht?
Wills. Ach, nicht viel, eine Kleinigkeit, einhundert Tälerchen etwa!
Witt. Wenn's nicht mehr ist, die will ich Ihm geben. Recht gern!
Und damit Er sieht, daß ich Ihm gut bin, so will ich Ihm obendrein
noch etwas anderes geben, das unter Brüdern seine tausend Reichstaler
wert ist. Er kann reich damit werden.
Wills. Aber wie, lieber Herr Witt? Obendrein?
Witt. Es ist nichts als ein kleines Geschichtchen. — Ich hatte
hier in meiner Jugend einen Weinhüudler zuni Nachbar, ein gar drolliges
Männchen, Herrn Grell mit Namen. Der hatte sich eine einzige Redens-
art angewöhnt, die brachte ihn zum Tore hinaus.
Wills. Ei, das wäre! Die hieß?
Witt. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr Grell?
Was haben Sie bei dem Handel gewonnen?" — „Eine Kleinigkeit," fing
er an, „ein fünfzig Tälerchen etwa. Was will das sagen?" — Oder
wenn man ihn anredete: „Nun, Herr Grell, Sie haben auch bei dem
Bankrott verloren?" — „Ach was!" sagte er wieder. „Es ist der Rede
nicht wert. Eine Kleinigkeit von einigen hundert Talern." Er saß in
schönen Umstünden, der Mann; aber, wie gesagt, jene einzige Redensart
hob ihn glatt aus dem Sattel. Er mußte zum Tore damit hinaus.
Wie viel war es doch, Herr Wills, das Er wollte?
Wills. Ich bat um hundert Taler.
46
38. Meister Hämmerlein.
Witt. Ja recht, mein Gedächtnis verläßt mich. — Aber ich hatte
doch noch einen anderen Nachbar, das war der Kornhündler Tomm. Der
baute mit einer anderen Redensart ein ganzes großes Haus auf mit
Hintergebäuden und Warenlager. Was dünkt Ihn dazu?
Wills. Ei, die möchte ich wissen! Die hieß?
Witt. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr Tomm?
Was haben Sie bei dem Handel verdient?" — „Ach, viel Geld," fing
er an, „viel Geld!" und da sah man, wie ihm das Herz im Leibe lachte;
„ganze hundert Reichstaler!" Oder wenn man ihn anredete: „Was ist
Ihnen? Warum so mürrisch, Herr Tomm?" — sagte er wieder: „Ich
habe viel Geld verloren, viel Geld! Ganze fünfzig Reichstaler!" — Er
hatte klein angefangen, der Mann; aber, wie gesagt, das ganze große
Haus baute er auf mit Hintergebäuden und Warenlager. — Nun, Herr
Wills, welche Redensart gefüllt Ihm besser?
Wills. Ei, das versteht sich, die letztere!
Witt. Aber — so ganz war er mir doch nicht recht, der Herr
Tomm. Denn er sagte auch: „Viel Geld!" wenn er den Armen oder
der Obrigkeit gab; und da hätte er nur immer sprechen mögen wie der
Herr Grell, mein anderer Nachbar. — Ich, Herr Wills, der ich zwischen
der doppelten Redensart mitteninne wohnte, ich habe mir beide gemerkt;
und da spreche ich nun nach Zeit und Gelegenheit bald wie der Herr
Grell und bald wie der Herr Tomm.
Wills. Nein, ich halt's mit Herrn Tomm. Das Haus und das
Warenlager gefüllt mir.
Witt. Er wollte also?
Wills. Viel Geld! Viel Geld, lieber Herr Witt! Ganze hundert
Reichstaler!
Witt. Sieht Er, Herr Wills, es wird schon werden! Das war
ganz recht. — Wenn man von einem Freunde borgt, so muß man sprechen
wie der Herr Tomm, und wenn man einem Freunde aus der Not hilft,
so muß man sprechen wie der Herr Grell. Engei.
38. Meister Kämmertein.
Vor Jahren starb in einem preußischen Dorfe der Gemeindeschmied
Jakob Horn. Im gewöhnlichen Leben hieß er nicht anders als Meister
Hämmerlein.
„Meister Hämmerlein? Ei, warum denn Meister Hämmerlein?"
Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er ging und stand, sein
38. Meister Hämmerlein.
47
Hämmerlein und ein paar Nägel in der Tasche zu führen und an allen
Toren, Türen und Zäunen zu hämmern, wo er etwas los und ledig
fand; vielleicht auch, weil er durch sein Hämmerlein Gemeindefchmied des
Dorfes geworden war.
„Wie wäre denn das zugegangen?"
Ganz natürlich, wie ihr sogleich hören sollt. Sein Vorfahr war
gestorben. Vier wackere Burschen hatten sich um den Dienst gemeldet
und dem und jenem allerlei versprochen. Meister Hämmerlein hatte sich
nicht gemeldet und nichts versprochen; er hämmerte bloß ein wenig an
einer Gartentüre und erhielt dafür den Dienst.
„Und bloß für ein bißchen Hämmern?"
Bloß für ein bißchen Hämmern! An einer Gartentüre, nahe am
Dorfe, hing schon wochenlang ein Brett herab. Meister Hämmerlein
kam mit seinem Felleisen des Weges daher. Flugs langte er einen
Nagel und sein Hämmerlein aus der Tasche und nagelte das Brett fest.
Das sah der Dorfschulze. Ihm schien es sonderbar, daß der landfremde
Mensch das Brett nicht los sehen konnte, das doch selbst der Eigentümer
des Gartens wohl zwanzigmal so gesehen hatte ohne es festzumachen.
Er wollte ihn anreden; aber der Bursche war fort, ehe er ihm nahe
genug kam.
Ein paar Stunden darauf ging der Schulze in die Dorfschenke.
Sogleich siel ihm der junge Mensch auf. Er saß ganz allein an einem
Tischchen und verzehrte sein Abendbrot. „Ei willkommen!" rief der
Schulze, „treffen wir uns hier, guter Freund?" Der junge Mensch
stutzte, sah ihm steif ins Gesicht und wußte nicht, woher die Bekannt-
schaft kam.
„Seid Ihr nicht der junge Wanderer," fragte der Schulze, „der
diesen Abend da draußen am Wege das Brett einer Gartentüre fest ge-
macht hat?" — „Ja, der bin ich." — „Nun gut, so kommt, Nachbar
Hans," sagte der Schulze zu dem Eigentümer des Gartens, der zufällig
auch zugegen war, „kommt und bedankt Euch bei dem wackern Fremd-
ling! Er hat im Vorbeigehen Eure zerbrochene Gartentüre wieder
zurechtgemacht." — Nachbar Hans schmunzelte, sagte seinen Dank, setzte sich
neben den Schulzen traulich zu dem Fremdling und alle Gäste lauschten
auf ihr Gespräch. Es betraf das Handwerk und die Wanderungen des
jungen Schmiedes und in allen erwachte der einmütige Wunsch ihn zum
Gemeindeschmied zu bekommen, weil allen der Zug gemeinnütziger Denk-
art gefallen hatte.
Hämmerlein mußte bleiben, und da er schon am folgenden Morgen
einen Beweis von seiner Geschicklichkeit in der Vieharzneikunde und im
48
39. Meister Pfriem.
Hufbeschlage gab, so war nur eine Stimme für ihn: „Dieser und kein
anderer soll Gemeindeschmied werden!" Man schloß den Vertrag mit
ihm ab und Meister Hämmerlein war unvermutet Schmiedemeister eines
großen Dorfes, das er wenig Stunden zuvor auch nicht einmal dem
Namen nach gekannt hatte.
Sage mir nun noch einer: „Wer ungebeten zur Arbeit geht, geht
ungedankt davon."
Zu seiner Besoldung gehörte unter anderm ein Grundstück, das er
mit Kartoffeln oder Gemüsepflanzen bestellte. Da er den Acker zum
erstenmal in Augenschein nahm, bemerkte er auf dem Fahrwege verschiedene
Löcher, in welche die Wagen bald rechts bald links schlugen. „Warum
füllt ihr denn die Löcher nicht mit Steinen aus?" fragte Meister Hämmer-
lein die Nachbarn, welche ihm den Acker zeigten. — „Ja," sagten
diese, „man kann immer vor andern Arbeiten nicht dazu kommen." —
Was tat aber Meister Hämmerlein? — So oft er auf seinen Acker ging,
las er von ferne schon Steine zusammen und schleppte deren oft beide
Arme voll bis zu den Löchern. Die Bauern lachten, daß er, der selbst
kein Gespann hielt, für andere den Weg ausbesserte; aber ohne sich
stören zu lassen fuhr Meister Hämmerlein fort, jedesmal wenigstens ein
paar Steine auf dem Hin- und Herweg in die Löcher zu werfen, und
in etlichen Jahren waren sie ausgefüllt. — „Seht ihr's?" sagte er nun;
„hätte jeder von euch, der leer die Straße fuhr, auf dem Wege die
Steine zusammengelesen, auf den Wagen geladen und in die Löcher ge-
worfen, so wäre der Weg mit leichter Mühe in einem Vierteljährchen
eben geworden." Schl-z.
39. Meister Pfriem.
Meister Pfriem war ein kleiner, hagerer, aber lebhafter Mann, der keinen
Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem nur die aufgestülpte Nase
vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig,
seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links hin. Er
bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser und hatte in allem recht.
Ging er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen und
einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die
Luft, daß er selbst davon begossen ward. „Ungeschicktes Ding," rief er ihm
zu, indem er sich schüttelte, „konntest du nicht sehen, daß ich hinter dir her-
kam?" Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so
fuhr er mit dem Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit
genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb
länger als eineu Monat bei ihm; denn er hatte an der besten Arbeit immer
etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh
39. Meister Pfriem.
49
länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hin-
länglich geschlagen. „Warte," sagte er zu dem Lehrjungen, „ich will dir
schon zeigen, wie man die Haut weich schlägt!" holte den Riemen und gab
ihm ein paar Hiebe über den Rücken. Faulenzer nannte er sie alle. Er
selber brachte aber doch nicht viel vor sich, weil er keine Viertelstunde ruhig
sitzen blieb. War seine Frau frühmorgens aufgestauden und hatte Feuer an-
gezündet, so sprang er aus dem Bett und lief mit bloßen Füßen in die Küche.
„Wollt Ihr mir das Haus anzünden?" schrie er, „das ist ja ein Feuer, daß
man einen Ochsen dabei braten könnte! Oder kostet das Holz etwa kein
Geld?" Standen die Mägde am Waschfaß, lachten und erzählten sich, was
sie wußten, so schalt er sie aus: „Da stehen die Gänse und schnattern und
vergessen über dem Geschwätz ihre Arbeit. Und wozu die frische Seife?
Heillose Verschwendung und obendrein eine schändliche Faulheit: sie wollen die
Hände schonen und das Zeug nicht ordentlich reiben." Er sprang fort, stieß
aber einen Eimer voll Lauge um, so daß die ganze Küche überschwemmt ward.
Richtete man ein neues Haus auf, so lief er ans Fenster und sah zu.
„Da vermauern sie wieder den roten Sandstein," rief er, „der niemals aus-
trocknet; in dem Hause bleibt kein Mensch gesund. Und seht einmal, wie
schlecht die Gesellen die Steine aufsetzen! Der Mörtel taugt auch nichts;
Kies muß hinein, nicht Sand. Ich erlebe noch, daß den Leuten das Haus
über dem Kopf zusammenfällt." Er setzte sich und tat ein paar Stiche, dann
sprang er wieder auf, hakte sein Schurzfell los und rief: „Ich will nur hinaus
und den Menschen ins Gewissen reden." Er geriet aber an die Zimmerleute.
„Was ist das?" rief er, „ihr haut ja nicht nach der Schnur! Meint ihr, die
Balken würden gerade stehen? Es weicht einmal alles aus den Fugen."
Er riß einem Zimmermann die Axt aus der Hand und wollte ihm zeigen,
wie er hauen müßte; als aber ein mit Lehm beladener Wagen herangefahren
kam, warf er die Axt weg und sprang zu dem Bauer, der nebenherging.
„Ihr seid nicht recht bei Trost," rief er, „wer spannt junge Pferde vor einen
schwer beladenen Wagen? Die armen Tiere werden Euch aus dem Platze
umfallen." Der Bauer gab ihm keine Antwort und Pfriem lief vor Arger
in feine Werkstätte zurück. Als er sich wieder zur Arbeit setzen wollte, reichte
ihm der Lehrjunge einen Schuh. „Was ist das wieder?" schrie er ihn an,
„habe ich Euch nicht gesagt, Ihr solltet die Schuhe nicht so weit ausschneiden?
Wer wird einen solchen Schuh kaufen, an dem fast nichts ist als die Sohle?
Ich verlange, daß meine Befehle nicht mangelhaft befolgt werden." „Meister,"
antwortete der Lehrjunge, „Ihr mögt wohl recht haben, daß der Schuh nichts
taugt; aber es ist derselbe, den Ihr zugeschnitten und selbst in Arbeit ge-
nommen habt. Als Ihr vorhin aufgesprungen seid, habt Ihr ihn vom Tisch
herabgeworfen und ich habe ihn nur aufgehoben. Euch aber könnte es ein
Engel vom Himmel nicht recht machen."
Meister Pfriem träumte in einer Nacht, er wäre gestorben und befände
sich auf dem Wege nach dem Himmel. Als er anlangte, klopfte er heftig an
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 4
50
39. Meister Pfriem.
die Pforte. „Es wundert mich," sprach er, „daß sie nicht einen Ring am
Tor haben, man klopft sich die Knöchel wund." Der Apostel Petrus öffnete
und wollte sehen, wer so ungestüm Einlaß begehrte. »Ach, Ihr seid's, Meister
Pfriem," sagte er, „ich will Euch wohl einlassen; aber ich warne Euch, daß
Ihr von Eurer Gewohnheit ablaßt und nichts tadelt, was Ihr im Himmel
seht; es könnte Euch übel bekommen." „Ihr hättet Euch die Ermahnung
sparen können," erwiderte Pfriem; „ich weiß schon, was sich ziemt, und hier
ist, Gott sei Dank, alles vollkommen und nichts zu tadeln wie auf Erden."
Er trat also ein und ging in den weiten Räumen des Himmels auf und
ab. Er sah sich um, rechts und links, schüttelte aber zuweilen mit dem Kopf
oder brummte etwas vor sich hin. Indem erblickte er zwei Engel, die einen
Balken wegtrugen. Es war der Balken, den einer im Auge gehabt hatte,
während er nach dem Splitter in den Augen anderer suchte. Sie trugen
aber den Balken nicht der Länge nach, sondern quer. „Hat mau je einen
solchen Unverstand gesehen?" dachte Meister Pfriem; doch schwieg er und
gab sich zufrieden. „Es ist im Grunde einerlei, wie man den Balken trägt,
geradeaus oder quer, wenn man nur damit durchkommt und wahrhaftig, ich
sehe, sie stoßen nirgend an."
Bald hernach erblickte er zwei Engel, welche Wasser aus einem Brunnen
in ein Faß schöpften; zugleich bemerkte er, daß das Faß durchlöchert war
und das Wasser von allen Seiten herauslief: sie tränkten die Erde mit Regen.
„Alle Hagel!" platzte er heraus, besann sich aber glücklicherweise und dachte:
„Vielleicht ist's bloßer Zeitvertreib; macht's einem Spaß, so kann man der-
gleichen unnütze Dinge tun, zumal hier im Himmel, wo man, wie ich schon
bemerkt habe, doch nur faulenzt." Er ging weiter und sah einen Wagen,
der in einem tiefen Loche stecken geblieben war. „Kein Wunder", sprach er
zu dem Mann, der dabei stand, „wer wird so unvernünftig aufladen? Was
habt Ihr da?" „Fromme Wünsche," antwortete der Mann, „ich konnte da-
mit nicht auf den rechten Weg kommen; aber ich habe den Wagen noch
glücklich herausgeschoben und hier werden sie mich nicht stecken lassen." Wirk-
lich kam ein Engel und spannte zwei Pferde vor. „Ganz gut," meinte Pfriem,
„aber zwei Pferde bringen den Wagen nicht heraus, viere müssen wenigstens
davor." Ein anderer Engel kam und führte noch zwei Pferde herbei, spannte
sie aber nicht vorn, sondern hinten an. Das war dem Meister Pfriem zu
viel. „Tolpatsch," brach er los, „was machst du? Hat man je, solange die
Welt steht, auf diese Weise einen Wagen herausgezogen? Da meinen sie
aber in ihrem dünkelhaften Übermut alles besser zu wissen." — Er wollte
weiter reden; aber einer von den Himmelsbewohnern hatte ihn am Kragen
gepackt und schob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus. Unter der Pforte
drehte der Meister noch einmal den Kopf nach dem Wagen und sah, wie er
von vier Flügelpferden in die Höhe gehoben ward.
In diesem Augenblick erwachte Meister Pfriem. „Es geht freilich im
Himmel etwas anders her als auf Erden," sprach er zu sich selbst, „und da
40. Pünktlichkeit.
51
laßt sich manches entschuldigen; aber wer kann geduldig mit ansehen, daß
man die Pferde zugleich hinten und vorn anspannt? Freilich, sie hatten
Flügel, aber wer kann das wissen? Es ist übrigens eine gewaltige Dumm-
heit Pferden, die vier Beine zum Laufen haben, noch ein paar Flügel an-
zuheften. Aber ich muß aufstehen, sonst machen sie mir im Hause lauter
verkehrtes Zeug. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht gestorben bin."
SB. Grimm.
40. Pünktlichkeit.
Nur durch eine richtige Würdigung des Wertes der Zeit wird man
gewohnheitsmäßig pünktlich. Pünktlichkeit ist die Pflicht jedes anständigen
Mannes und die Zwangspflicht des Geschäftsmannes. Durch nichts wird
das Vertrauen rascher erweckt als durch die Ausübung dieser Tugend
und durch nichts wird dasselbe leichter erschüttert als durch ihre Ab-
wesenheit. Wer seine Verabredungen pünktlich innehält und niemanden
warten läßt, zeigt, daß er Achtung für des andern Zeit wie für seine
eigene hat. Daher ist die Pünktlichkeit eine Art, unsere persönliche Hoch-
achtung gegen diejenigen an den Tag zu legen, mit denen wir im Ge-
schäftsleben zusammenkommen. Sie ist auch eine Art Gewissenhaftigkeit;
denn eine Verabredung ist ein ausdrücklicher oder stillschweigender Ver-
trag, und wer ihn nicht hält, bricht sein Wort, geht unredlich mit an-
derer Leute Zeit um und leidet auf diese Weise unfehlbar Schaden an
seinem guten Rufe. Man kommt natürlich zu dem Schluß, daß, wer
nachlässig mit der Zeit ist, es auch mit dem Geschäfte sein wird und daß man
ihm also keine wichtigen Angelegenheiten anvertrauen darf. Als der Sekretär
Washingtons, des Präsidenten der Nordamerikanischen Freistaaten, sich
bei ihm wegen Zuspätkommens mit der Ungenauigkeit seiner Uhr ent-
schuldigte, sagte ihm sein Herr ganz ruhig: „Dann müssen sie sich entweder
eine andere Uhr oder ich muß mir einen anderen Sekretär anschaffen."
Wer nachlässig mit der Zeit und der Benutzung derselben ist, wird
gewöhnlich die Gemütsruhe anderer beständig stören. Ein jeder, mit dem
der Unpünktliche zu tun hat, wird von Zeit zu Zeit in einen fieberhaften
Zustand versetzt; der Unpünktliche kommt ja beständig zu spät, ist regel-
mäßig nur in der Unregelmäßigkeit. -Er kommt zu spät in seinen Ver-
abredungen; er erreicht den Bahnhof, nachdem der Zug fort ist; er trägt
seinen Brief auf die Post, wenn sie geschlossen ist. Auf diese Weise ge-
rät jedes seiner Geschäfte in Verwirrung und jeder von den Beteiligten
wird verstimmt. Im allgemeinen haben Leute, die nie die rechte Zeit
einhalten, auch nie rechten Erfolg. Die Welt läßt sie beiseite liegen und
sie helfen die Zahl der Unzufriedenen und derer vermehren, die auf ihr
Schicksal schmähen. Samuel Smiles.
52
41. Der Glockenguß zu BreSlau.
41. Der Glockenguß zu Wreslau.
War einst ein Glockengießer zu Breslau in der Stadt,
Ein ehrenwerter Meister, gewandt in Rat und Tat.
Er hatte schon gegossen viel Glocken, gelb und weiß,
Für Kirchen und Kapellen zu Gottes Lob und Preis.
Und seine Glocken klangen so voll, so hell, so rein;
Er goß auch Lieb' und Glauben mit in die Form hinein.
Doch aller Glocken Krone, die er gegossen hat,
Das ist die Sünderglocke zu Breslau in der Stadt.
Im Magdalenenturme, da hängt das Meisterstück,
Rief schon manch starres Herze zu seinem Gott zurück.
Wie hat der gute Meister so treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände gerührt bei Tag und Nacht!
Und als die Stunde kommen, daß alles fertig war,
Die Form ist eingemauert, die Speise gut und gar,
Da ruft er seinen Buben zur Feuerwacht herein:
„Ich lass' auf kurze Weile beim Kessel dich allein;
Will mich mit einem Tranke noch stärken zu dem Guß,
Das gibt der zähen Speise erst einen vollen Fluß.
Doch hüte dich und rühre den Hahn mir nimmer an,
Sonst wär' es um dein Leben, Fürwitziger, getan!"
Der Bube steht am Kessel, schaut in die Glut hinein;
Das wogt und wallt und wirbelt und will entfesselt sein.
Und zischt ihm in die Ohren und zuckt ihm durch den Sinn
Und zieht an allen Fingern ihn nach dem Hahne hin.
Er fühlt ihn in den Händen, er hat ihn umgedreht;
Da wird ihm angst und bange, er weiß nicht, was er tät,
Und läuft hinaus zum Meister die Schuld ihm zu gestehn,
Will seine Knie umfassen und ihn um Gnade fleh'n.
Doch wie der nur vernommen des Knaben erstes Wort,
Da reißt die kluge Rechte der jähe Zorn ihm fort.
Er stößt sein scharfes Messer dem Buben in die Brust;
Dann stürzt er nach dem Kessel, sein selber nicht bewußt.
Vielleicht daß er noch retten, den Strom noch hemmen kann!
Doch sieh, der Guß ist fertig, es fehlt kein Tropfen dran.
42. Bücke dich!
53
Da eilt er abzuräumen und sieht und will's nicht seh'n,
Ganz ohne Fleck und Makel die Glocke vor sich stehn.
Der Knabe liegt am Boden, er schaut sein Werk nicht mehr:
„Ach, Meister, wilder Meister, du stießest gar zu sehr!"
Er stellt sich dem Gerichte, er klagt sich selber an;
Es tut den Richtern wehe wohl um den wackern Mann.
Doch kann ihn keiner retten und Blut will wieder Blut;
Er hört sein Todesurtel mit ungebeugtem Mut.
Und als der Tag gekommen, daß man ihn führt hinaus,
Da wird ihm angeboten der letzte Gnadenschmaus.
„Ich dank' euch," spricht der Meister, „ihr Herren, lieb und wert;
Doch eine andre Gnade mein Herz von euch begehrt.
Laßt mich nur einmal hören der neuen Glocke Klang!
Ich hab' sie ja bereitet, möcht' wissen, ob's gelang."
Die Bitte ward gewähret, sie schien den Herr'n gering;
Die Glocke ward geläutet, als er zum Tode ging.
Der Meister hört sie klingen so voll, so hell, so rein;
Die Augen gehn ihm über, es muß vor Freude sein.
Und seine Blicke leuchten, als wären sie verklärt;
Er hat in ihrem Klange wohl mehr als Klang gehört.
Hat auch geneigt den Nacken zum Streich voll Zuversicht;
Und was der Tod versprochen, das bricht das Leben nicht.
Das ist der Glocken Krone, die er gegossen hat,
Die Magdalenenglocke zu Breslau in der Stadt.
Die ward zur Sünderglocke seit jenem Tag geweiht:
Weiß nicht, ob's anders worden in dieser neuen Zeit.
W. Müller.
42. Bücke dich!
Als der berühmte Benjamin Franklin noch ein Jüngling von
18 Jahren war, besuchte er einst den Prediger Mather in Boston.
Dieser nahm ihn sehr liebreich auf und führte ihn beim Weg-
gehen einen kürzeren Weg aus seinem Hause. Die Nebentür
aber war so niedrig, daß ein erwachsener Mensch sich bücken
mußte um nicht an den Querbalken zu stoßen. Franklin sprach
während des Fortgehens mit seinem leutseligen Führer und sah
daher nicht aufmerksam vor sich hin. — »Gebückt, gebückt!«
54
43. Sei bescheiden!
rief auf einmal der Prediger; aber in dem Augenblicke fühlte
schon Franklin den Balken an der Stirn. »Merk’ Er sich den
kleinen Unfall k sagte der Prediger. »Er ist jung und hat die
Welt vor sich. Bück' Er sich auf dem Weg und Er wird sich
manchen harten Puff ersparen.«
Diese Lehre machte auf den jungen Franklin einen so tiefen
Eindruck, daß er sich ihrer in einem Alter von 79 Jahren noch
erinnerte und die Geschichte einem Sohne des erwähnten Predigers
erzählte, indem er hinzusetzte: »Dieser gute Rat Ihres seligen
Vaters, so in Kopf und Herz eingeprägt, ist mir ungemein nütz-
lich gewesen und noch jetzt fällt er mir gewöhnlich ein, wenn
ich sehe, wie der Hochmut so oft ge demütigt wird und wie so
mancher sich unglücklich macht, weil er die Nase zu hoch trägt.«
Franklin.
43. Sei bescheiden!
Demut, diese schönste Tugend,
Ziert das Alter wie die Jugend. Castem.
Bescheidenheit, ein Schmuck des Mannes, steht jedem sein.
Wenn jemand bescheiden bleibt, nicht beim Lobe, sondern beim
Tadel, daNN ist er's. Jean Paul.
Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.
Goethe.
Wer sein Meister ist und sich beherrschen kann,
Dem ist die ganze Welt und alles untertan. Fiemmmg.
Bescheidenheit ist eine Tugend, welche jedem Alter, jedem Stande
Anmut verleiht; ganz besonders aber gereicht sie der Jugend zur schönsten
Zierde. Nichts ist unschöner und abstoßender als Anmaßung und Un-
bescheidenheit; es sind das immer die Zeichen eines rohen Charakters,
eines wenig gebildeten Verstandes. Mit Widerwillen wenden wir uns von
dem Emporkömmling ab, der sich seiner Abkunft schämt und mit Hochmut
auf die unter ihm Stehenden schaut. Wohltuend wirkt aber die entgegen-
gesetzte Handlungsweise; hiervon ein Beispiel.
Der frühere Erzbischof von Bamberg, Michael v. Deinlein, stammte
von armen, einfachen Bauersleuten ab. Infolge seines ausdauernden
Fleißes, seiner hervorragenden Begabung und seines streng sittlichen
Lebens aber gelang es ihm sich zu der so hohen Würde emporzuschwingen.
Auch in dieser angesehenen Stelle blieb der Kirchenfürst bescheiden und
demütig, erinnerte sich gern an seine früheren ärmlichen Verhältnisse und
ließ auch seine armen Eltern in seinem Palaste wohnen.
44. Wie ein aller Meister über Höflichkeit dachte.
55
Unter den Prunkgeräten des erzbischöflichen Palastes war ein ein-
faches Kästlein; in demselben stand ein irdener, unscheinbarer Topf, der
durchaus nicht zur Umgebung paßte. Hierüber befragt, erklärte der
Bischof: „Mit diesem Topfe habe ich mir gar manches Jahr als armes
Studentlein mein Mittagsmahl bei gutherzigen Leuten geholt; ich halte
ihn deshalb hoch in Ehren. Er erinnert mich täglich an meine frühere
Armut, an meine.Wohltäter und an die Gnade des lieben Gottes, der
mich aus Niedrigkeit zu solch hoher Stellung emporgehoben hat." So
sprach der Erzbischof und bekundete damit eine wahrhaft christliche Demut
und Bescheidenheit.
44. Wie ein alter Meister üöer Köftichkeit dachte.
Ich habe einmal ein Sprüchlein gelesen, das lautet: „Mit dem
Hut in der Hand kommt man durch das ganze Land." Das gab mir
gar vielen Stoff zum Denken.
Wahre Höflichkeit und Bescheidenheit sind Zwillinge; sie lassen sich
nicht trennen. Warum haben denn wir Alten die Höflichkeit an jungen
Leuten so gern? Es ist wahrhaftig nicht Verdruß über verletzte, dem
Alter schuldige Ehrerbietung, wenn uns das unhöfliche Wesen mancher
Jünglinge unangenehm berührt; es ist die Überzeugung, daß so ein
junger Mensch auf ganz verkehrtem Weg ist, der ihn, wenn nicht ins
Verderben, so doch weit ab von seinem Lebensweg führen muß. Solche,
die mit dem Kopfe durch die Wand rennen wollen, werden bald spüren,
daß die Wand härter ist als ihr Kopf; sie werden sich diesen entweder
ganz einrennen oder doch die Hörner abstoßen. Beides macht Schaden.
Die allergewöhnlichste Höflichkeit kann sich jeder, auch im niedrigsten
Stande, aneignen oder angewöhnen; er darf nur achtgeben, wie es ge-
bildete Leute machen, die z. B. kein fremdes Zimmer betreten ohne erst
anzuklopfen, nicht mit der Pfeife oder Zigarre im Munde jemand be-
suchen, nicht unflätig in die Stube spucken, nicht beim Eintreten die
Mütze oder den Hut aufbehalten u. s. w. Für die wohltuendste Höflich-
keit gegen groß und klein halte ich das schnelle Begreifen und feine
Erraten, wie wir jemand gefällig sein können, ohne daß er uns darum
bittet. In diesem Sinne kann auch ein sonst rauher, derber Mann recht
höflich sein. Ein Beispiel wird das verdeutlichen. In einer Nachbarstadt
wurde einmal ein Kirchenkonzert abgehalten, dem ich auch beiwohnte; um
einen Platz zu bekommen ging ich zeitig dorthin. Die Kirche füllte sich
bald so an, daß ein guter Platz nicht mehr zu haben war; endlich gab es
gar keinen Sitzplatz mehr. Eine Menge junger Herrchen sah mit Neid auf
mich, ja einer bot mir eine Mark für einen Sitz. Ich war aber ermüdet
56 44. Wie ein alter Meister über Höflichkeit dachte.
vom langen Wege, hielt für meine alten Glieder das Sitzen für zuträglicher
als das Stehen und lehnte das Angebot kurz ab. Jetzt trat eine Frau
in mittleren Jahren ein. Betrübt sah sie sich um, kein Plätzchen war mehr
zu finden. Ich kannte sie nicht, dachte aber in meinem Herzen: „Dieser
Mutter — sie hatte ein Mädchen bei sich — wird es ein Gefallen
sein, wenn sie sich setzen kann." Freundlich nahm sie den Platz an,
den ich ihr freundlich bot, und dankbar rühmte sie daheim ihrem Manne
die Höflichkeit eines Unbekannten, wie ich später zufällig erfuhr.
Wie oft hatte ich Gelegenheit Fremden den Weg zu weisen! Was
nützt das viele Beschreiben, dachte ich, du gehst selbst eine Strecke mit.
Und wie dankbar freundlich nahmen es die Leute an und wollten gar
nicht glauben, daß ein Mensch dem andern so hilfreich uneigennützige
Dienste leisten könne! Was dann einer im Orte tut, das wird der
ganzen Gemeinde zugerechnet und die Fremden sagen daheim und wohin
sie sonst kommen: „In N. gibt es höfliche Leute wie nirgends!" Und
bringt solche Höflichkeit auch keinen unmittelbaren Nutzen — denn wenn
man sie sich bezahlen läßt, so ist es keine Gefälligkeit und Höflichkeit
mehr—so bringt sie doch Land und Ort in guten Ruf. Auch kommt
wohl einmal eine Gelegenheit, bei der dir die Gefälligkeit unerwartet
vergolten wird. So ging es mir z. B. mit der Frau, der ich beim
Kirchenkonzerte meinen Platz abtrat. Ich hatte viele Jahre darauf in
der Residenz in Gemeindeangelegenheiten zu tun; dabei sollte und
mußte ich mit der höchsten Landesbehörde selbst verkehren. Du lieber
Himmel! wenn unsereiner in eine so große Stadt kommt, sieht er den
Wald vor lauter Bäumen nicht, weiß nicht, wo aus noch ein. Da
stand ich auf der großen Schloßstraße und gaffte die hohen Häuser an
und sann, wie ich's anfangen sollte um vor die rechte Schmiede zu
kommen. Auf einmal ruft eine weibliche Stimme: „He, lieber Mann,
was suchen Sie denn? Ich sehe auf und — wunderbar — es war
die Frau vom Kirchenkonzert! Ehe ich noch den Hut recht abgezogen
hatte, stand schon ein Dienstmädchen neben mir, das mich einlud hinaus
ins Zimmer zu kommen. Daß ich es kurz mache! Hier war ich an
die rechte Schmiede gekommen. Der Mann der Frau wies mir die
Wege, gab mir Rat und — meine Angelegenheit wurde bald und gut
zu Ende gebracht. Wer hätte mir damals in der Kirche gesagt, daß
der Mann jener Frau bald in die Hauptstadt befördert werden und
mir für solche geringe Höflichkeit ein zehnfacher Vergelter sein würde?
Kurz, Höflichkeit macht Edelmann und Bürger, jung und alt, Mann
und Weib beliebt. Wer's besser wissen will, versuche es mit der Un-
höflichkeit. Er wird wohl sehen, wie weit er kommt. Nach Weber.
45. Anstand.
57
45. Anstand.
Anstand nennen wir das schickliche Benehmen in allen Verhältnissen
des Lebens, namentlich in gesellschaftlichen Beziehungen. Der Anstand
muß auf sittlicher Grundlage beruhen und darf nicht zu einem mechanischen
Nachäffen von Förmlichkeiten herabsinken.
Der wahrhaft Höfliche ist immer bescheiden und vermeidet sich vor-
zudrängen und glänzen zu wollen: fern ist ihm daher ein anmaßender
Ton, eine herausfordernde Sprache, eine Unterhaltung, die sich nur um
seine Person dreht. In achtungsvoller Bescheidenheit, in zuvorkommender
Dienstfertigkeit, in herzlicher Teilnahme an Leid und Freud' seiner Mit-
menschen bekundet er wahren Anstand, der ebenso fern ist von über-
triebenen Höflichkeitsbezeigungen wie rücksichtslosem und plumpem Be-
nehmen gegen andere.
Dies sollen auch dir, lieber Schüler, die Richtpunkte sein in deinem
Verhalten gegenüber deinem Nebenmenschen. Im besonderen aber
merke dir:
I. Vom Grüßen.
Dein Gruß sei stets ehrerbietig und bescheiden nicht bloß deinen
Vorgesetzten sondern allen Personen gegenüber, denen du einen Gruß
schuldest! Zieh deinen Hut oder deine Mütze anständig und höflich ab,
lüpfe sie nicht bloß, als ob du Spatzen darunter hättest; grüße nicht
erst im letzten Augenblicke! Sieh dem zu Grüßenden bescheiden ins Ge-
sicht; nimm deine Kopfbedeckung immer mit der Hand ab, die demjenigen
entgegengesetzt ist, den du grüßen willst. Begegnet dir z. B. jemand,
so geh rechts vorbei und nimm mit der rechten Hand den Hut ab; bist
du gezwungen an einer vor dir gehenden oder stehenden Person vorüber-
zuschreiten, so tu es an der linken Seite derselben! Hast du keine Kopf-
bedeckung auf oder trügst du etwas in beiden Händen, so mache eine
höfliche Verbeugung!
II. Auf der Straße.
Auf der Straße geh aufrecht, sieh auf deinen Weg und schlendere
die Arme nicht hin und her! Die Hände in die Hosentaschen zu stecken
oder die Daumen in die Armlöcher der Weste zu hängen ist nicht schick-
lich. Gehst du mit einer höher gestellten Person, so gebührt dieser die
rechte Seite; bei schlechtem Zustande des Weges überlasse ihr den besseren
Teil desselben! Mit Bekannten in der Mitte der Straße oder des Geh-
weges stehen zu bleiben, wodurch andere Leute gezwungen werden aus-
zuweichen, ist nicht bloß unschicklich sondern in einzelnen Städten, z. B.
58
45. Anstand.
in München, sogar verboten. Stöcke, Regenschirme u. s. w. unter dem
Arme zu tragen ist unpassend und auch gefährlich, wenn eine größere
Zahl von Personen auf den gleichen Gehwegen sich bewegt. Vermeide
es auf der Straße zu essen! Bist du in einem Straßenbahnwagen, in
welchem Mangel an Sitzplätzen ist, so überlasse alten Personen und auch
Frauen das Vorrecht auf dieselben.
III. Bei Besuchen.
Kleide dich anständig, aber nie geckenhaft! Halte deine Hände, dein
Gesicht und deine Kleider stets reinlich, tritt nie mit beschmutztem Gesichte,
zerrauften Haaren oder schmutzigen Kleidern und Schuhen in ein Zimmer,
streife deine Schuhe vor der Türe sorgfältig ab und schüttle den Schnee
oder die Regentropfen von deinen Kleidern! Bevor du ein Zimmer be-
trittst, klopfe an die Türe und erwarte die Erlaubnis zum Eintritt!
Klopfe nie schnell nacheinander, sondern warte, wenn dir auf das erste
Mal nicht geantwortet wurde, eine Weile, ehe du zum zweiten Male
klopfst. Ist dir der Eintritt bewilligt, so öffne langsam die Türe, grüße
die anwesenden Personen und bleibe so lange in der Nähe der Türe
stehen, bis dir ein anderer Platz angewiesen wird. Ist das geschehen,
so betrachte nicht neugierigen Auges Bilder und Einrichtung des Zimmers.
Findest du geöffnete Briefe oder Bücher, so hüte dich einen Einblick in
dieselben zu tun. Mit den Fingern auf dem Tische, an den Fenstern
u. s. w. zu trommeln ist unartig. Wenn du mit jemand sprichst, so sieh
nicht auf die Seite. Sehr unziemlich ist es beim Sprechen jemand zu
berühren, den Angesprochenen beim Rocke zu fassen oder in Gesellschaft
auf jemand zu deuten. Ebenso schickt es sich nicht fortwährend auf die
Uhr zu sehen, als sei man ungeduldig fortzugehen.
Begibst du dich zu einer hochgestellten Persönlichkeit in das Zimmer,
so schließ die Türe nach rückwärts, d. h. so, daß du gegen die Persön-
lichkeit gewendet bist! Verneige dich und bleibe dann ruhig stehen, bis
du aufgefordert wirst zu sprechen! Nach Beendigung der Unterredung
suche zur Türe hinauszugehen, indem du stets gegen die Persönlichkeit
gewendet bleibst! Vergiß nicht, noch im Innern des Zimmers eine Ver-
beugung zu machen! Bei gleichzeitigem Verlassen des Zimmers laß
Höhergestellten und Frauen den Vortritt; der Hausherr verläßt zuletzt
das Zimmer.
Höchst unschicklich ist es mit einer Zigarre im Munde in ein fremdes
Zimmer zu gehen. Bei vornehmem Besuch schickt es sich auch nicht den
Besuch mit der Zigarre im Munde zu empfangen. Es ist unanständig
46. Von der Roheit.
59
in Gesellschaft mit einzelnen Personen zu flüstern oder jemand in seiner
Rede zu unterbrechen.
Nase, Ohren oder Fingernägel reinigt man nie angesichts fremder
Personen. Man spuckt nie auf den Boden. Ist ein Spucknapf nicht
vorhanden, so benutzt man das Taschentuch. Beim Niesen oder Husten
wende dich abseits und halte die Hand oder das Taschentuch vor den
Mund oder die Nase!
IV. Bei Tische.
Bist du irgendwo als Gast geladen, so komme nicht zu spät zum
Essen! Auch am häuslichen Tische triff nicht zu spät ein! Wie jenes
dem Hausherrn und den übrigen Gästen, so ist dieses deiner Familie
gegenüber eine Rücksichtslosigkeit. Sprich nicht während des Essens;
iß nicht zu schnell und nimm den Mund nicht zu voll! Kaue nicht laut,
sondern iß langsam, ruhig und leise! Vermeide das Gähnen, Schlucksen,
Niesen, das Auswerfen besonders auf den Boden sowie den häufigen
Gebrauch des Taschentuchs! Ist ein zweites Gericht zu erwarten und
dir wünschenswert, so laß Messer und Gabel nicht auf dem Teller
liegen! Knochen, Fett u. dgl. dürfen nicht auf den Teller gespuckt, son-
dern müssen unbemerkt mittels der Gabel, die man zu diesem Zweck an
die Lippen hält, auf den Teller gelegt werden. Suche nie über den
Teller eines andern weg einen Gegenstand zu erreichen! Es schickt sich
nicht mit dem Tellertuch über das Gesicht zu fahren, mit der Gabel,
dem Becher oder einem andern Gegenstände zu spielen. Es gehört sich
nicht einer Person den Rücken zuzuwenden, um mit einer andern zu
sprechen oder über die zunächstsitzende Person wegzureden. Sprich nie
mit vollem Munde! Lege dich nicht faul in den Stuhl zurück, auch lasse
die Ellenbogen nicht aus dem Tische ruhen! Den Zahnstocher gebrauche
nur nach dem Essen und möglichst unbemerkt! Steh nicht eher vom
Tische auf, als bis das Mahl vorüber ist und die Wirtin das Zeichen
dazu gibt I Nach beendeter Mahlzeit versäume nicht dich dankend von dem
Gastgeber zu verabschieden! Vergiß nicht, wo du geladen warst, nach
einigen Tagen einen Dankbesuch zu machen!
46. Won der Woheit.
Mit rohen Menschen will kein Gebildeter zu tun haben; der Edle
verabscheut sie und geht ihnen aus dem Wege; der Anständige weist sie
von sich und duldet sie in keiner Gesellschaft. Die Rohen haben ihre
Freude an unanständigen Reden, schamlosen Gebärden, an grobem Ton,
am Schreien und Toben, am Fluchen und Schimpfen, am Quälen,
60
46. Von der Roheit.
Ärgern, Zerstören und Freveln. Ihr Lebensweg führt ins Zuchthaus
oder doch ganz nahe vorbei.
Es ist ein sehr natürliches Bestreben, daß wir das Andenken an
große Begebenheiten und große Männer auf die Nachwelt zu bringen
und durch Denkmäler gleichsam lebendig zu erhalten suchen; tun wir doch
dasselbe für unsere Toten, auch wenn sie nichts getan haben, was ihren
Namen berühmt machen könnte. Auf dem schlechtesten Kirchhofe findet
man Denksteine, und wären es nur einfache Kreuze; und das eben ist
das Schöne, daß das einfachste Denkmal ebensogut wie das kostbarste
die Erinnerung an die Verstorbenen weckt und von der Liebe der Hinter-
bliebenen Zeugnis gibt.
Nun gilt es schon bei allen gebildeten Leuten für einen ruchlosen
Frevel, wenn ein roher Mensch an dem Denkmal eines Verstorbenen
rührt. Sollten da nicht erst recht die Denkmäler, die ein ganzes Volk
seinen großen Toten gesetzt hat, heilig sein? Ist es nicht eine Schande
für ein Volk, wenn es die Kunstwerke mancherlei Art, die der Staat,
die Gemeinden oder Privatleute auf Straßen und öffentlichen Plätzen,
in Gärten und Promenaden aufgestellt haben, durch besondere Wächter
oder Einfiiednngen gegen den Frevel roher Menschen schützen muß?
Viele jedoch sind dem Mutwillen des Frevlers leicht erreichbar. Nichts
kann sie besser schützen als die Pietät, d. i. ehrfurchtsvolle Gesinnung.
Es ist darum ein abscheuliches Bubenstück, wenn jemand zerstört oder
beschädigt, was der Fleiß des Künstlers in langer Zeit geschaffen, was
wohldenkende Menschen hingestellt haben, damit jeder Vorübergehende
es mit Lust beschaue und mit genieße.
Und doch gibt es noch ärgeren Frevel als den genannten; das ist
der Baumfrevel oder die mutwillige Beschädigung der Bäume an den
Landstraßen und des jungen Anwuchses in den Gärten, öffentlichen
Anlagen und Wäldern. Wer ein Kunstwerk oder ein Denkmal beschädigt,
der versündigt sich an seinem Nächsten, dessen Arbeit und Freude er
mutwillig zerstört; der Baumfrevler versündigt sich zugleich an einem
Gebilde Gottes, das keine menschliche Kunst wiederherstellen kann.
Und was soll ich von denen sagen, die ein lebendes Geschöpf Gottes
mißhandeln, quälen und martern, die ihm eine Last aufladen, welche es
nicht tragen oder ziehen kann, die ihm die Nahrung verkümmern, deren
es zu seinem Bestehen bedarf? Nichts will ich von ihnen sagen, denn
die Heilige Schrift hat ihnen längst das Urteil gesprochen: „Der Gerechte",
heißt es in den Sprüchen Salomons, „erbarmt sich seines Viehes; aber
das Herz des Gottlosen ist unbarmherzig." Weber.
47. Das blinde Roß.
61
47. Pas ötinde Woß.
„Was ragt dort für ein Glockenhaus
Im Ring des Markts hervor?
Den Flug des Windes ein und aus
Hemmt weder Tür noch Tor.
Tritt Volkslnst oder Schrecken ein,
Wenn diese Glocke schallt?
Und was besagt das Bild von Stein,
In hoher Roßgestalt?"
„Ihr seid der erste Fremdling nicht,
Der nach den Dingen fragt;
Was unsre Chronik davon spricht,
Sei willig Euch gesagt.
Des Undanks Rügenglocke heißt
Das edle Altertum
Und unsrer wackern Väter Geist
Umschwebt es noch mit Ruhm.
Undank war schon zu ihrer Zeit
Der schnöde Lohn der Welt;
Drum hat der Alten Biederkeit
Dies Schrecknis aufgestellt.
Wer jener Schlange Stich empfand,
Dem war die Macht verlieh'n,
Er konnte stracks mit eigner Hand
Die Rügenglocke zieh'n.
Da kam, wenn's auch bei Nacht geschah,
Die Obrigkeit herbei
Und fragt' und forschte, hört' und sah,
Was hier zu schlichten sei.
Da galt nicht Rang, da galt nicht Gold,
Mocht's Herr sein oder Knecht:
Die Richter sprachen ohne Sold
Für jeden gleiches Recht.
Es sind wohl hundert Jahre her,
Da lebte hier ein Mann,
Der durch geschäftigen Verkehr
Viel Hab und Gut gewann.
Von Reichtum zeigte seine Tracht,
Sein Keller und sein Herd;
Auch hielt er sich zur Lust und Pracht
Ein wunderschönes Pferd.
Einst ritt er in der Dämmerung;
Da stürzten aus dem Hain
Mit Mordgeschrei und Tigersprung
Sechs Räuber auf ihn ein.
Sein Leben, um und um bedräut,
Hing nur an einem Haar;
Doch seines Rosses Schnelligkeit
Entriß ihn der Gefahr.
Es brachte, hoch mit Schaum bedeckt,
Ihn wnndenfrei nach Haus.
Er breitete, zum Dank erweckt,
Des Pferdes Tugend aus.
Er tat ein heiliges Gelübd':
Mein Schimmel soll fortan
Den besten Haber, den es gibt,
Bis an den Tod empfah'n.
Allein das gute Tier ward krank,
Ward steif und lahm und blind
Und den ihm angelobten Dank
Vergaß sein Herr geschwind.
Er bot es feil und ward nicht rot
Und jagt' es Knall und Fall,
Weil niemand einen Heller bot,
Mit Schlägen aus dem Stall.
Es harrte sieben Stunden lang
Gesenkten Haupts am Tor,
Und wenn ein Tritt im Hause klang,
So spitzt' es froh das Ohr.
Doch glänzte schon der Sterne Pracht
Und niemand rief's herein
Und es durchschlief die kalte Nacht
Auf frostigem Gestein.
Und noch am andern Tage blieb
Der arnie Gaul dort stehn,
Bis ihn des Hungers Stachel trieb
Nach Nahrung fortzugehn.
Die Sonne strahlte hell; doch ihn
Umhüllte Finsternis
Und er, der sonst geflügelt schien,
Ging sacht und ungewiß.
62
48. Kaspar Winzerer von Tölz.
Er hob und schob vor jedem Tritt
Den rechten Fuß voran
Und prüfte tastend, Schritt vor Schritt,
Die Sicherheit der Bahn.
Durch alle Gassen streifte so
Am Boden hin sein Mund
Und ein verstreutes Hälmchen Stroh
War ihm ein werter Fund.
Schon von des Hungers wilder Macht
Verzehrt bis aufs Gebein,
Geriet er einst um Mitternacht
Ins Glockenhaus hinein.
Er suchte gierig Sättigung,
Ergriff der Glocke Strang
Und setzte nagend sie in Schwung,
Daß sie die Stadt durchklang.
Den Richtern scholl der Ruf ins Ohr:
Sie kamen eilig an
Und hoben ihre Hand' empor,
Als sie den Kläger sah'n.
Sie kehrten nicht mit Scherz und Spott
Zurück in ihr Gemach,
Sie riefen staunend: „Es war Gott,
Der durch die Glocke sprach!"
Und auf den Markt geladen ward
Der reiche Mann sofort.
Geweckt vom Boten, sprach er hart:
„Ihr träumt! Was soll ich dort?"
So ging er trotzig; doch er stand
Zur Demut schnell bekehrt,
Als er den Kreis der Richter fand
Und mitten drin sein Pferd.
„Kennt Ihr dies Wesen?" — hob
das Haupt
Der edlen Richter an —
»Des Lebens wärt Ihr längst beraubt,
Hütt's nicht so brav getan!
Und was ist seiner Tugend Lohn?
Ihr gebt's, o Mann von Eis,
Dem Wettersturm, dem Bubenhohn,
Dem Hungertode preis!
Die Rügenglocke hat getönt,
Der Kläger stehet hier;
Durch nichts wird Eure Tat beschönt
Und so gebieten wir:
Daß Ihr sogleich das treue Pferd
In Euern Hausstall führt
Und bis ans Ende pflegt und nährt,
Wie Euch als Christ gebührt!"
Der Reiche sah nicht wenig scheel,
Weil ihn der Spruch verdroß;
Doch fühlt er seines Undanks Fehl
Und führte heim das Roß. —
So meldet ehrlich, kurz und plan
Die Chronik den Verlauf
Und zum Gedächtnis stellte man
Nachher das Steinbild auf."
Langbein.
48. Kaspar Winzerer von Fötz.
Als nach Ersindung des Schießpulvers die Kriegflihrung sich gänzlich
umgestaltete, traten an die Stelle der ritterlichen Scharen die großen
Soldheere zu Fuß. Man nannte sie Landsknechttriippen oder ober-
ländische Knechte. Sie stritten mit mächtigen Spießen, die eine Länge
bis zu 5 na hatten.
Ritter Kaspar Winzerer von Tölz war einer der ersten, die ein
solches Soldheer für den Kaiser warben und ausbildeten. Wie er dies
Handwerk verstand, können wir daraus ersehen, daß ihn seine Sold-
knechte „der frummen Landsknechte mildiglichen Vater" nannten. Der
48. Kaspar Winzerer von Tölz.
63
Kern seiner „Kinder" bestand aus Altbayern. Am Sitze des Pflegers
zu Tölz wurde die Werbetrommel gerührt und das Sturmfähnlein auf-
gepflanzt. Hier konnte man sich zum Solddienste melden. Jedes Fähn-
lein zählte vierhundert gute Knechte. Im Heere Winzerers waren gar
manche Tölzer, Jsarwinkler und Söhne des bayerischen Hochlands
überhaupt; denn Kaspar Winzerer war für Altbayern, was der berühmte
Landsknechtvater Georg von Frundsberg für Schwaben war. Aus seinem
Leben sind besonders folgende Taten bemerkenswert.
Während des unseligen Landshuter Erbfolgekrieges (1504) suchte
böhmisches Kriegsvolk wie vor Zeiten die Hussiten die Oberpfalz heim
und raubte und sengte. Da brachen der Herzog Albrecht von Bayern
und der Kaiser Maximilian in Person gegen sie auf. Winzerer stieß
mit seinen Fußknechten bei Regensburg zu ihnen. Am nächsten Morgen
rückte die vereinte Macht über Stadtamhof hinaus zur Brücke über den
Regen gen Wenzenbach. Die Böhmen bildeten hier mit ihrem Schanz-
zeug eine feste Wagenburg. Beim Kampfe kam der Kaiser in arge
Not. Als die Bedrängnis am höchsten war, drangen die Landsknechte
unter Winzerer todverachtend vor, retteten den Kaiser und erstürmten
die Wagenburg. Die Böhmischen wurden so furchtbar geschlagen, daß
nur wenige derselben ihr Heimatland erreichten. Dieser Sieg über
einen Feind, der schon unsägliches Unglück über Deutschland gebracht,
war ein Hauptereignis der damaligen Zeit. Der Kaiser schlug den
tapferen Winzerer, dessen Waffengefährten Georg von Frundsberg
und ein paar andere noch auf dem Schlachtfelde zu goldenen Rittern,
verlieh jedem eine güldene Kette nebst vergoldetem Schwerte und solchen
Sporen.
Nach dem Tode seines Vaters ward der edelfeste Ritter Kaspar
Winzerer Pfleger zu Tölz. Er gehörte auch zum Rate des Herzogs
von Bayern.
Als Winzerer einmal nach Wien reiste und den Kaiser besuchte, lud
ihn dieser zum Turniere. Kaiser Maximilian, der letzte Ritter, würdigte
den bayerischen Helden der großen Ehre und ritt mit ihm selbst in die
Schranken. Winzerer und sein erlauchter Partner waren vom Kopf bis
zum Fuß in vollständiger Eisenrüstung und prallten aneinander, daß
vom gewaltigen Stoß die Lanzen splitterten und die Schäfte in die Luft
flogen. Keiner der beiden aber wurde bügellos.
Auch in dem Kriege zwischen dem König Franz I. von Frankreich
und dem Kaiser Karl V. von Deutschland erwarb sich unser Lands-
knechtobrist Winzerer mit seinem Fähnlein Lorbeeren. König Franz
war in Italien eingebrochen und belagerte Pavia. Ein deutsches Heer
64
49. Ein königlicher Wohltäter.
rückte zum Entsatz heran. Ein Wald von Landsknechtspießen starrte
der erlesenen französischen Ritterschaft entgegen. Der König von Frank-
reich ward gefangen. Über 10000 Feinde lagen tot. Nie war ein
Sieg der Deutschen vollständiger gewesen. Zum Ruhme des Sieges
entstanden mehrere Landsknechtlieder, sog. Paveser Weisen, die lange
Zeit gesungen wurden.
Als siebenundsiebzigjähriger Greis veranstaltete Kaspar Winzerer
zu Ehren eines Gastes in Brannenburg ein Turnier. In Erinnerung
an glanzvolle, vergangene Tage ritt er selbst noch einmal in die Schranken.
Sein Gegner war ein junger Frundsberg in der Vollkraft der Jahre.
Der greise Held stach mit jugendlichem Feuer. Da plötzlich erhielt er
einen Lanzenstich in die Halsschlagader und verblutete.
In der Pfarrkirche zu Tölz ist hinter dem Hochaltar sein Grabmal
aus rotem Marmor mit gemeißeltem Bild und mit Inschrift zu sehen.
Ein zweites Denkmal wurde ihm ans dem Marktplatz von Tölz errichtet;
hier steht er mit der Lanze aus Erz gegossen auf einem Sockel, der seine
Haupttaten in Flachbildwerk aus Erzguß aufweist und zum Vergleich
mit der Gefangennahme Franz' I. zu Pavia auch die Napoleons III.
bei Sedan zeigt. Nach Sepp und Bronner.
49. Km königlicher Wohltäter.
Es war an einem kalten, rauhen Dezembertage. Die Sonne konnte
die schneebedeckte Erde nicht mehr erwärmen; doch funkelten in ihren
Strahlen die Schneekristalle auf den Bäumen und Wegen des Englischen
Gartens bei München wie kostbares Edelgestein. Der glänzende Wagen
Seiner Majestät des Königs Ludwig II. von Bayern, welchem ein Vor-
reiter im scharfen Trab vorauseilte, flog über den knirschenden Schnee
durch den herrlichen Park. Am sogenannten Prinzenweg, unweit des
Kleinhesseloher Sees, verließ der König, der die Einsamkeit liebte, den
Wagen und ließ denselben langsam weiterfahren. Der in einen Pelz-
mantel gehüllte Fürst hatte kaum einige hundert Schritte auf seinem
Spaziergang getan, als von einem Seitenpfad ein ungefähr acht Jahre
alter Knabe des Weges daherkam. Der schmächtige Junge war in seinem
dürftigen Anzuge gegen die durchdringende Külte zu wenig geschützt und
erschauerte sichtlich, als der scharfe, schneidende Nordwind ihm entgegen-
pfiff. Das Körbchen an seiner Seite schwankte hin und her und die
treuherzigen, blauen Augen schauten wie hilfeflehend aus dem blaffen
Gesicht.
„Wo gehst du hin, Kleiner, und was hast du da in deinem Korbe?"
fragte der König, sich gütig zu dem Knaben wendend, der nicht wußte,
49. Ein königlicher Wohltäter.
65
wer der leutselige, hohe Herr sei. „Ach, Herr," antwortete das Kind,
in seine erstarrten Hände hauchend, „ich muß zu meiner Mutter heim.
In meinem Korbe habe ich gebetteltes Brot, davon kocht uns der Vater
eine Suppe." „Warum kocht denn die Mutter nicht?" forschte der
König weiter, da ihm die offene Antwort gefiel. „Die Mutter ist
krank," klagte das Kind, „sie hat sich bei Herrschaften durch Putzen und
Waschen verdorben und liegt schon seit einem halben Jahre wie lahm
an Händen und Füßen. Der Vater kann nichts mehr verdienen, weil
er die kranke Mutter pflegen und meine vier kleinen Geschwister warten
muß." „Was hat dein Vater für eine Arbeit?" fragte der Monarch.
„Er ist ein Flickschuster," antwortete der Kleine; „aber wenn er auch
einmal zum Schustern Zeit fände, so könnte er doch nicht arbeiten, weil
er kein Geld hat um Leder zu kaufen. Das letzte Bettstück hat der
Vater verkauft um Holz dafür zu bekommen, damit wir nicht erfrieren.
Wir liegen alle auf Stroh. Bis ich heimkomme, brennt Feuer im Ofen;
dann wärmen wir uns und bekommen von den Brotbrocken, die mir
gute Leute in Schwabing geschenkt haben, eine warme Suppe. Wir
haben heute noch gar nichts zu essen gehabt." Nachdem sich der König
die Wohnung des Knaben hatte sagen lassen, eilte der kleine Bettler mit
einem treuherzigen „B'hüt Gott, Herr!" weiter, froh in dem Gedanken
bald aus der grimmigen Külte in eine warme Stube zu kommen.
Seine Majestät ließ alsbald genaue Erkundigungen einziehen, ob
die Angaben des Knaben auf Wahrheit beruhen. Es verhielt sich in
der Tat alles so, wie der Kleine gesagt hatte. In der Wohnung des
Flickschusters herrschte bitteres Elend; ja die Not war in Wirklichkeit
noch viel größer, als das Kind in seiner einfachen, schlichten Weise sie
hatte schildern können. Nur das unerschütterlichste Gottvertrauen schützte
die Unglücklichen vor Verzweiflung. Nach wenigen Tagen wurde die
schwerbedrängte Familie von unbekannter Hand mit guten Betten und
den nötigen Möbeln beschenkt. Ein Arzt besuchte ungerufen die kranke
Frau, sorgte für richtige Pflege, gute, kräftige Kost und erquickenden
Trank und gab der Kranken bei genauer Befolgung seiner Vorschriften
die beste Hoffnung auf baldige Wiederherstellung ihrer Gesundheit; der
Flickschuster erhielt ohne sein Zutun von einem Lederfabrikanten einen
größeren Vorrat von Leder auf Abzahlung zugesandt. Bald hatte er
auch Arbeit genug. Die niederen Bediensteten des Kgl. Marstalles ließen
auf einmal alle ihre Flickarbeiten bei ihm besorgen. Ein hoher Befehl
hatte dies so verlangt. Wenige Wochen nach der Zeit der größten Not
leuchteten am Christabend in der steundlichen Stube des braven, fleißigen
Flickschusters die Kerzen des Weihnachtsbaumes mit den vor Freude
Lesebuch für Gcwerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Au-gabe. * ö
66
50. Ostermorgen.
strahlenden Augen der Kinder um die Wette. Die überglücklichen Eltern
aber weinten Tränen des Dankes und flehten auf ihren unbekannten
Wohltäter den Segen des Himmels im reichsten Maße herab. Von Zeit
zu Zeit ließ sich der edle Fürst noch mehrmals nach der Familie des
Flickschusters angelegentlich erkundigen. Dieselbe kam durch Fleiß und
Sparsamkeit allmählich wieder in ganz gute Verhältnisse.
Nach der Jugendlust.
50. Ostermorgen.
1. Die Lerche stieg am Ostermorgen
Empor ins klare Luftgebiet
Und schmettert’, hoch im Blau verborgen,
Ein freudig Auferstehungslied.
Und wie sie schmetterte, da klangen
Es tausend Stimmen nach im Feld:
Wach’auf, das Alte ist vergangen,
Wach’auf, du froh verjüngte Welt!
2. Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen,
Und lobt den Herrn mit frohem Schall!
Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen,
Ihr grünen Halm’ und Blätter all!
Ihr Veilchen in den Waldesgründen,
Ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,
Ihr sollt es alle mitverkünden:
Die Lieb’ ist stärker als der Tod.
3. Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen,
Die ihr im Winterschlafe säumt,
In dumpfen Lüften, dumpfen Schmerzen
Ein gottentfremdet Dasein träumt!
Die Kraft des Herrn weht durch die Lande
Wie Jugendhauch, o laßt sie ein!
Zerreißt wie Simsen eure Bande
Und wie die Adler sollt ihr sein!
4. Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen
Gebrochen an den Gräbern steht,
Ihr trüben Augen, die vor Tränen
Ihr nicht des Frühlings Blüten seht,
51. Pfingsten. — 52. Weihnacht.
67
Ihr Grübler, die ihr fernverloren
Traumwandelnd irrt auf wüster Bahn,
Wacht auf! Die Welt ist neugeboren,
Hier ist ein Wunder, nehmt es an!
5. Ihr sollt euch all des Heiles freuen,
Das über euch ergossen ward!
Es ist ein inniges Erneuen
Im Bild des Frühlings offenbart.
Was dürr war, grünt im Weh’n der Lüfte,
Jung wird das Alte fern und nah,
Der Odem Gottes sprengt die Grüfte.
Wacht auf! Der Ostertag ist da. Geibei.
51. Pfingsten.
1. Das Fest der Pfingsten kommt im Hall der Glocken,
Da jauchzt in Frühlingsschauern die Natur;
Auf jedem Hauch des Waldes und der Flur
Schwebt eine Ros’ als Flamme mit Frohlocken —
2. 0 Geist, der einst in goldnen Feuerflocken
Aufs Haupt der Jünger brausend niederfuhr,
Von deinem Reichtum einen Funken nur
Hernieder send’ ihn auf des Sängers Locken!
3. Ich weiß es wohl, nicht würdig bin ich dein;
Doch hast du nie die Tugend je gemessen,
Der Glaube zieht, die Sehnsucht dich allein.
4. Der Armen hast du nimmermehr vergessen,
Du kehrtest in der Fischer Hütten ein
Und an der Sünder Tisch bist du gesessen. Geibei.
52. Weihnacht.
1. Wie bewegt mich wundersam
Euer Hall, ihr Weihnachtsglocken,
Daß ihr kündet mit Frohlocken,
Daß zur Welt die Gnade kam.
2. Überm Hause schien der Stern
Und in Lilien stand die Krippe,
Wo der Engel reine Lippe
Hosianna sang dem Herrn. —
5*
68
53. Wanderlieder.
3. Herz, und was geschah vordem,
Dir zum Heil erneut sich’s heute:
Dies gedämpfte Festgeläute
Ruft auch dich nach Bethlehem.
4. Mit den Hirten darfst du zieh’n,
Mit den Königen aus Osten
Und in ihrer Schar getrosten
Muts vor deinem Heiland knien.
5. Hast du Gold nicht und Rubin,
Weihrauch nicht und Myrrhenblüte:
Schütt' aus innerstem Gemüte
Deine Sehnsucht vor ihn hinl
6. Sieh, die Händchen, zart und lind,
Streckt er aus, zum Born der Gnaden,
Die da Kinder sind, zu laden;
Komm und sei auch du ein Kind!
53. Wanderlieder,
a) Bleibe nicht am Boden heften!
1. Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften.
Überall sind sie zu Haus.
2. Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jeder Sorge los;
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.
b) Der Wanderer.
1. Ein Sträußchen am Hute, den Stab in der Hand,
Geht rastlos ein Wandrer von Lande zu Land.
Er sieht so manch Städtchen, er sieht manchen Ort;
Aber fort muß er wieder, ins Weite fort.
2. Da sieht er am Berge ein Häuschen wohl stehn,
Von Blumen umgeben und Trauben so schön.
Dort könnt's ihm gefallen, dort sehnt er sich hin;
Aber fort muß er wieder, muß weiter zieh'n.
Osidsl.
Goethe.
63. Wanderlieder.
69
Z. Da steht er am Grabe und schauet zurück;
Nichts hat er genossen vom irdischen Gluck.
Und hat er vollendet die irdische Bahn,
So tritt er ein' andere Wanderschaft an. Volksweise.
e) Morgenwanderung.
1. Wer recht in Freuden wandern will,
Der geh der Sonn' entgegen;
Da ist der Wald so kirchenstill,
Kein Lüftchen mag sich regen;
Noch sind nicht die Lerchen wach,
Nur im hohen Gras der Bach
Singt leise den Morgensegen.
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,
Darin uns aufgeschrieben
In bunten Zeilen manch ein Spruch,
Wie Gott uns treu geblieben;
Wald und Blumen, nah und fern,
Und der helle Morgenstern
Sind Zeugen von seinem Lieben.
3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
Durch alle Sinne leise,
Da pocht ans Herz die Liebe auch
In ihrer stillen Weise;
Pocht und pocht, bis sich's erschließt
Und die Lippe überfließt
Von lautem, jubelndem Preise.
4. Und plötzlich läßt die Nachtigall
Im Busch ihr Lied erklingen;
In Berg und Tal erwacht der Schall
Und will sich aufwärts schwingen
Und der Morgenröte Schein
Stimmt in lichter Glut mit ein:
Laßt uns dem Herrn lobsingen! ©eisei
d. Hoffnung.
1. Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden
Und streut er Eis und Schnee umher,
Es muß doch Frühling werden.
2. Und drängen die Nebelnoch so dicht
Sich vor den Blick der Sonne,
Sie wecket doch mit ihrem Licht
Einmal die Welt zur Wonne.
70
53. Wanderlieder.
3. Blast nur, ihr Stürme, blast mit
Macht,
Mir soll darob nicht bangen!
Auf leisen Sohlen über Nacht
Kommt doch der Lenz gegangen.
4. Da wacht die Erde grünend auf,
Weiß nicht, wie ihr geschehen,
Und lacht in den sonnigen Himmel
hinauf
Und möchte vor Lust vergehen.
5. Sie flicht sich blühende Kränze
ins Haar
Und schmückt sich mitRosen und Ähren
Und läßt die Brünnlein rieseln klar,
Als wären es Freudenzähren.
6. Drum still! und wie es frieren
mag,
O Herz, gib dich zufrieden!
Es ist ein großer Maien tag
Der ganzen Welt beschieden.
7. Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden,
Nur unverzagt auf Gott vertraut:
Es muß doch Frühling werden! Gcibu.
6) Im Walde.
1. Dort draußen im Walde, da ist meine Welt,
Da wo mir's auf Erden am besten gefällt;
Da flüstern die Bäume, da murmelt der Quell,
Da singen die Vöglein so lustig und hell.
2. Da lagre ich mich in das schwellende Grün,
Wo Sträucher und Kräuter mich duftend umblüh'n.
Da ist es so traulich, da lausch' ich und seh',
Wie Hirsche dort springen und Hüslein und Reh'.
3. Und hält mich der Winter im dunstigen Haus,
Da wünsch' ich: „Ach, könnt' ich doch wieder hinaus!"
Und kommt dann der liebliche Frühling zurück,
So spring' ich zum Walde und finde mein Glück. £agfr.
f. Vergiß mir nie das Vaterhaus!
1. Vergiß mir nie das Vaterhaus,
Wo du auch seist im Weltgebraus!
Da, wo die erste Liebe blühte,
Des Lebens Frühling dir erschien,
Die reinste Freudensonne glühte,
Dahin laß die Gedanken zieh'n!
O halt es heilig, dies irdische Haus,
Und zögst du ans Ende der Welt hinaus!
53. Wanderlieder.
71
2. Vergiß mir nie das Vaterhaus
Da droben überm Weltgebraus!
Da wohnt die rechte Vaterliebe,
Ein ewiger Frühling bricht dort au
Und fernhin schwindet alles Trübe
Auf jener lichten Sonnenbahn.
O halt es heilig, dies himmlische Haus,
Das hebt über Zeit und Welt hinaus!
g. Gott grüße dich!
1. Gott grüße dich! Kein andrer Gruß
Gleicht dem an Innigkeit.
Gott grüße dich! Kein andrer Gruß
Paßt so zu aller Zeit.
2. Gott grüße dich! Wenn dieser Gruß
So recht von Herzen geht,
Gilt bei dem lieben Gott der Gruß
So viel als ein Gebet.
h. Dem Vaterlande.
1. Treue Liebe bis zum Grabe
Schwör' ich dir mit Herz und Hand;
Was ich bin und was ich habe,
Dank' ich dir, mein Vaterland.
2. Nicht in Worten nur und Liedern
Ist mein Herz zum Dank bereit;
Mit der Tat will ich's erwidern
Dir in Not, in Kampf und Streit.
3. In der Freude wie im Leide
Ruf' ich's Freund und Feinden zu:
Ewig sind vereint wir beide
Und mein Trost, mein Glück bist du.
4. Treue Liebe bis zum Grabe
Schwör' ich dir mit Herz und Hand;
Was ich bin und was ich habe,
Dank' ich dir, mein Vaterland!
Sprüngli.
Sturm.
Hoffmann von Fallersleben.
72
54. Sprüche.
54. Sprüche.
Mit gutem Gewissen sitzt man weich auf harter Bank. — Gut Ge-
wissen und armer Herd ist Gott und aller Ehren wert. — Zufrieden
sein ist große Kunst, zufrieden scheinen großer Dunst, zufrieden werden
großes Glück, zufrieden bleiben Meisterstück. — Fleiß ist des Glückes
Vater. — Schwere Arbeit in der Jugend ist sanfte Ruhe im Alter. —
Ordnung ist vieler Tugenden Mutter. — Strecke dich nach der Decke,
sonst kommst du mit den Füßen ins Stroh! — Schick' dich in die Welt
hinein; denn dein Kopf ist viel zu klein, daß die Welt sich schicke drein. —
Untreue schlägt ihren eignen Herrn. — Übermut tut selten gut. —
Erst besonnen, dann begonnen. — Leide und trage, dein Weh nicht klage,
an Gott nicht verzage! — Man ißt um zu leben und lebt nicht um zu
essen. — Wenn's am besten schmeckt, soll man aufhören. — Früh mit
den Hühnern zu Bette, auf mit dem Hahn um die Wette!
Wer zwei Werke zusammen tut, die werden selten beide gut. —
Zu sehr eilen Schaden tut, müßig eilen, das ist gut. — So richtig
handelt keiner in der Welt, daß jedermann es auch für richtig hält.
Der gute Wille ist die beste Tat für den, der andres nicht zu
geben hat. — Es wird kein Kleid zum Schaden sein dem Manne, dessen
Herz ist rein; und hat ein falsches Herz der Mann, kein Kleid ihm
etwas nützen kann; reines Herz und froher Mut sind in jedem Kleide
gut. — In die Zeit sich jeder schicken soll, eine schlechtere wird noch
kommen Wohl. Nach Freidank.
Was verkürzt mir die Zeit?
Tätigkeit!
Was macht sie unerträglich lang?
Müßiggang!
Was bringt in Schulden?
Harren und Dulden!
Was macht gewinnen?
Nicht lange besinnen!
Was bringt zu Ehren?
Sich wehren!
Wohl unglückselig ist der Mann,
Der unterläßt das, was er kann,
Und unterfängt sich, was er nicht versteht;
Kein Wunder, daß er zu Grunde geht.
Goethe.
54. Sprüche.
73
Wo es drei Worte tun, da wende vier nicht an
Und nicht zwei Worte, wo's mit einem ist getan! —
Am besten machst du gleich dein Ding im Anfang recht;
Nachbesserung macht oft Halbgntes völlig schlecht. —
Wer allzu eiferig bekräftigt sein Versprechen,
Beweist dir damit den Willen es zu brechen. Rückert.
Prahle nicht heute: „Morgen will
Dieses oder das ich tun";
Schweige doch bis morgen still,
Sage dann: „Das tat ich nun!"
Tu du redlich nur das Deine,
Tu's im Schweigen und Vertrau'n:
Rüste Balken, haue Steine!
Gott, der Herr, wird bau'n.
Proben gibt es zwei, darinnen
Sich der Mann bewähren muß:
Bei der Arbeit recht Beginnen,
Beim Genießen rechter Schluß.
Geibel.
II. Teil.
Strebt großen Vorbildern nach!
Laßt uns loben die berühmten Männer
und unsere Vorfahren in ihrem Geschlechte!
Jesus-Sirach 44, 1.
Wer nicht die Körner säet,
Dem wachsen nicht die Ähren;
Und wer die Saat nicht mähet,
Woran will der sich nähren? — Rücken.
Ein Legen ruht im schweren Werke;
Dir wächst, wie du'g vollbringst, die Stärke;
Bescheiden zweifelnd fingst du's an
Und stehst am Ziel — ein ganzer Mann. Geiber
Der Zweck der tätigen Menschengilde
Ist die Urbarmachung der Welt,
Ob du pflügest des Geist's Gefilde
Oder bestellest das Ackerfeld.
Was du Jrd'sches willst beginnen, heb zuvor
Deine Seele im Gebet zu Gott empor!
Einen Prüfstein wirst du finden im Gebet,
Ob dein Jrd'sches vor dem Göttlichen besteht. Rucken.
Wer was Treffliches leisten will,
Hätt' gern was Großes geboren,
Der sammle still und unerschlafft
Im kleinsten Punkt die höchste Kraft! Schiller.
55. Segen der Pflicht. — 56. Hilf dir selbst, so hilft dir Gottl
75
55. Segen der
1. Es ist ein tiefer Segen,
Der aus dem Wort dir spricht:
„Erfülle allerwegen
Getreulich deine Pflicht!"
2. Das nehme wahr dein Wille
Wie gleichen Pendelschlag,
Der nur erst, schweigt er stille,
Die Ruh' dir stören mag. —
3. Welch Ziel du magst erstreben,
Sei's nah, sei's hoch und fern,
Weiht nicht die Pflicht dein Leben,
So fehlt dein guter Stern:
4. Der Stern, der wunderhelle,
Mit reinem Himmelslicht
Von seiner ew'gen Quelle
Dir zum Gewissen spricht.
5. Das Glück mag bilden, ründen,
Erhöh'n und Schmuck verleih'n;
Doch muß um fest zu gründen
Die Pflicht geschäftig sein;
6. Du freust dich an Gestalten,
Du nennst mit Stolz, was dein;
Doch wahren und erhalten,
Das kann die Pflicht allein.
7. Wie sie mit freud'gen Sorgen
Ihr Tagwerk gestern tat,
So tut sie's heut' und morgen
Und nimmt von sich nur Rat.
8. Der Lüg' und allem Schlechten
Geht sie bedacht vorbei;
Schritt hält sie mit dem Rechten
Und dienend ist sie frei.
9. O, halte sie in Ehren,
Die fromme Schaffnerin!
Sie birgt noch im Entbehren
Dir köstlichen Gewinn
10. Und rettet dir aus trüber
Bedrängnis dieser Welt,
Was übers Grab hinüber
Dir Wort und Treue hält.
Hammer.
56. Kits dir selbst, so hilft dir Gott!
Ein Millionär äußerte einst zu seinen Kindern: „Millionen zu ver-
dienen ist mir leicht geworden; sauren Schweiß aber hat es mich gekostet
die ersten fünfhundert Taler zu verdienen." Er sprach damit den be-
deutungsvollen Erfahrungssatz aus, daß es immer die Anfänge eines reich
gesegneten und segenbringenden Wirkens sind, welche dem aufstrebenden
Menschen die meisten Schwierigkeiten verursachen. Gar viele Männer,
die auf irgend einem Gebiete der menschlichen Tätigkeit bahnbrechend
gewirkt haben, durchliefen eine harte Lebensschule und errangen ihr Ziel
nur im Kampfe mit Hindernissen aller Art. Aber Gott hilft denen,
welche sich selbst helfen.
Der Fürst der niederländischen Maler, Paul Rubeus, begann
seine Tätigkeit als Farbenreiber bei dem Maler Adam van Noort, nach-
dem er bei einer Gräfin Page gewesen war. Nur heimlich konnte er
76
56. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!
sich in seiner Kunst üben, am frühen Morgen oder an freien Sonn-
tagen; jeden Pfennig darbte er sich vom Munde ab um Leinwand und
Farben zu kaufen. Während seine kühne Phantasie bereits die größten
Gemälde entwarf, mußte er die niedrigsten Lehrliugsdienste leisten oder
durfte höchstens Striche oder Linien zeichnen. Aber seine Ausdauer, sein
Fleiß und seine Selbstverleugnung rangen sich durch alle Hemmnisse;
er ward einer der größten Maler, welche die Geschichte kennt, und hinter-
ließ bei seinem Tod im Jahre 1640 eine Menge vortrefflicher Werke.
Der berühmte bayerische Sprachforscher Andreas Schmeller,
als der Sohn armer Korbffechtersleute am 6. August 1785 zu Tirschen-
reuth in der Oberpfalz geboren, mußte in seiner Jugend die härtesten
Entbehrungen ertragen. Nur durch die Unterstützung gutherziger Men-
schen und durch eigene Tätigkeit erhielt er die knappen Mittel zum
Besuche der höheren Schulen. Wohl vorbereitet, verließ er dieselben,
fand aber trotzdem keine Anstellung. In allen seinen Bestrebungen ge-
täuscht, ließ er sich für ein spanisches Regiment anwerben. Als gemeiner
Soldat mußte der geistig so hochstehende achtzehnjährige Jüngling alle
Entbehrungen, Anstrengungen und Demütigungen des schweren Dienstes
im heißen Spanien ertragen. Und erst nach vielen Mühsalen und ver-
geblichen Versuchen gelang es ihm zum Bibliothekar und Professor in
München ernannt zu werden. Sein bayerisches Wörterbuch sowie seine
übrigen Werke der Sprachforschung erhoben ihn zu einer Zierde der
deutschen Wissenschaft. — Einer seiner Nachfolger auf dem Lehrstuhle
der deutschen Sprache an der Universität München, der im Jahre 1892
verstorbene Professor Matthias Lexer, hütete in seiner Jugend die
Ziegen. Nur durch eisernen Fleiß und bewundernswerte Beharrlichkeit
erwarb er sich einen hochangesehenen Namen.
Johann Stiglmayer, der Begründer der modernen Erzgießerei,
geboren 1791 in Fürstenfeldbruck als der Sohn eines unbemittelten
Schmiedes, gab sich als Knabe viel Mühe einen Lehrer zu finden, der
ihn im Zeichnen unterrichtete. Als ihm dies endlich gelungen war und
er später bei einem Goldschmied in der Lehre stand, benutzte er jede
Freistunde um sich im Zeichnen zu vervollkommnen. Durch seinen aus-
dauernden Fleiß gelang ihm dies so sehr, daß er in der Feiertagsschule
den ersten Preis von 100 Gulden errang. Diese Auszeichnung und das
unverkennbare Talent des Knaben bewirkten seine Aufnahme in die von
König Max I. 1808 gestiftete Akademie der Bildenden Künste. Mit eiserner
Ausdauer übte er sich nun im Gravieren, so daß er bald als Müuz-
graveur angestellt wurde. Um ihn in der Erzgießerei ausbilden zu lassen
sandte ihn König Max nach Italien. Allein der Italiener Righetti
56. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!
77
erschwerte ihm den Zutritt zur Erzgießerei. Stiglmayer baute sich nun in
der Nähe von Neapel mit eigenen Händen einen Ofen und begann dort
den Versuch ein Bild zu gießen; schon der zweite Versuch gelang. Auf
einer Reise von Bonito nach Neapel wurde er von Räubern angefallen
und außer seinen geringen Habseligkeiten aller Zeichnungen und Skizzen
beraubt, die er in den Sammlungen Roms gemacht hatte. So hatte er
mit Entbehrungen und Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen, bis er
endlich durch König Maximilian I. 1824 an die Spitze der neu zu er-
richtenden Erzgießerei gestellt wurde, aus der so manches Meisterwerk
seiner Schöpfung hervorging.
Viele derselben wie andere zahlreiche Gebilde in Kunst und Wissen-
schaft sind zum Gemeingute des Volkes geworden durch die Erfindung
eines anderen Mannes, des geistreichen Alois Senefelder. Nach
einer entbehrungsreichen Jugend und zweijährigen herben Erfahrungen
als Schauspieler suchte er als Schriftsteller sein Fortkommen. Da er
die Druckkosten seiner Werke nicht aufbringen konnte, spornte ihn sein
edles Streben und sein Feuereifer zum Versuch an, seine Werke auf
irgend eine zweckmäßige, billige Weise des Druckes selbst zu veröffent-
lichen. Unter mancherlei Sorgen und nach vielfachen Versuchen gelang
ihm endlich die Erfindung der Lithographie oder des Steindrucks, eine
Erfindung, die seinen Namen unsterblich macht.
Benjamin Franklin, der Erfinder des Blitzableiters, verschaffte
sich lange als Buchdrucker seinen Unterhalt. Durch Fleiß, Sparsamkeit
und Genügsamkeit gelangte er bald zu Wohlstand. Diese Eigenschaften
wie sein unermüdliches Vorwärtsstreben machten ihn zu einem großen
Staatsmann und zugleich zu einem der wissenschaftlich gebildetsten
Männer seiner Zeit. Bekannt ist der Satz, der unter einer Büste
Franklins steht: „Er entriß dem Himmel den Blitz, das Zepter den
Tyrannen."
Sein berühmter Landsmann Thomas Edison, der Erfinder
des Phonographen und des elektrischen Glühlichtes, erwarb sich anfäng-
lich als Zeitungsjunge auf den Bahnhöfen sein Brot. Von dem
Wunsche beseelt telegraphieren zu lernen, verwandte er 5 Monate lang
die Nächte dazu, um die zur Bedienung der Telegraphenapparate er-
forderlichen Kenntnisse zu erwerben. Es gelang ihm nach vieler Mühe
eine Stellung als Telegraphenbeamter zu erlangen und nun begann er
jene Versuche, die zu den großartigsten und merkwürdigsten Erfindungen
der Neuzeit führten.
Während Georg Stephenson, der Erbauer der ersten Lokomo-
tive, als Jüngling in einem Kohlenbergwerke die niedersten Dienste ver-
78
56. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!
richtete, beschäftigte sich August Borsig, der die erste deutsche Loko-
motive baute, in seiner Jugend mit Zimmermannsarbeiten. Weil er in
einem Lehrkurs auf dem Gewerbe-Institut in Berlin in der Chemie
dlirchaus nichts leistete und zum Militär wegen seines dicken Halses
nicht brauchbar war, wurde er Maschinenbauer.
Richard Arkwright, dem die Welt die Erfindung der Baum-
wollspinnmaschine (1771) verdankt, war das jüngste von 13 Kindern,
deren Eltern kaum so viel besaßen um sie taufen zu lassen. Lesen und
schreiben mußte er durch sich selbst lernen. Er übte zuerst das Geschäft
eines Barbiers aus, gab aber dasselbe bald auf um seiner Neigung
zur Mechanik zu folgen. Seine Erfindung machte ihn zum reichen
Mann.
Gottlob Nathusius, einer der größten Industriellen Deutsch-
lands, erblickte unter dem Dache der Armut 1760 das Licht der Welt.
Als Krämerlehrling arbeitete er mit rastloser Tätigkeit an seiner Selbst-
bildung, las jedes Stück Papier auf um vielleicht auf demselben etwas
zu finden, was auf Handel und Industrie Bezug hatte, und darbte sich
sein Frühstück ab, um mit dem Erlöse für dasselbe sich Bücher bei
einem Antiquar zu kaufen. Mit staunenswerter Anstrengung und unter
den größten Entbehrungen erwarb er sich eine ganz bedeutende kauf-
männische Bildung. Ihr verdankte er es, daß er als erster Buchhalter
und später als Teilhaber in ein angesehenes Handelshaus nach Magde-
burg kam. Als mit dem Tode Friedrichs II. das Tabakmonopol auf-
hörte, legte er eine Tabakfabrik an, die bald eine außerordentliche Aus-
dehnung annahm. Später begründete er auf seinem Gute neben groß-
artigem landwirtschaftlichen Betriebe eine ganze Reihe der umfassendsten
und verschiedenartigsten gewerblichen Anstalten. So war aus dem armen
Krämerlehrling einer der hervorragendsten und reichsten Männer in
Deutschland geworden.
Peter Rosegger, der allbeliebte Dichter der steirischen Alpen-
welt, war in seiner Jugend ein Schneider. Er selbst schrieb an die
Schneiderinnung zu Plauen: „Ich gedenke mit Freude, ja mit Stolz
der Zeit, da ich fast neun Jahre lang dem Schneiderhandwerk angehört
habe. Es war für mich eine zufriedene, glückliche Zeit. Manchmal,
wenn das Weltleben mich verstimmt, greife ich noch zum Werkzeug. Da
ist mir, als hätte ich die Nadel noch gar nie aus der Hand gelegt,
obwohl das schon vor 23 Jahren geschehen ist. Und da erfahre ich
denn, wie ich dabei alsdann wieder wohlgemut werde. Ich danke meinem
Geschick, daß es mich nun auf meinen Posten gestellt hat, auf welchem
ich nach geringen Kräften für mein Volk manchmal Gutes wirken kann;
57. Ein Augsburger Goldschmied.
79
aber ich danke ihm auch, daß es mich den Segen der schlichten Hand-
arbeit kennen lernen ließ. Im treuen Handwerke liegt mehr Würde
als in manch anderem durch niedrigen Hochmut aufgebauschten Stand;
und gottlob, die Zeiten gingen vorüber, wo der brave Mann sich seines
Handwerks geschämt hat."
So zeigen alle diese Beispiele, daß ernste Beharrlichkeit und eiserner
Wille, zielbewußte Tätigkeit und sparsame Genügsamkeit den Menschen
über alle Hindernisse hinwegtragen, daß aber auch der gütige Schöpfer
dem redlichen Streben seine Unterstützung nicht versagt.
57. Hin Augsburger Goldschmied.
Die freie Reichsstadt Augsburg war am Ende des Mittelalters eine
der stolzesten Handelsstädte Deutschlands und die Heimat kunstgewerb-
licher Leistungen. Ihre Bürgerschaft galt als die reichste und selbst-
bewußteste in Deutschland. Die Ehre, als Fremder zum Bürger von
Augsburg ernannt zu werden, wurde gleichwie einstens im alten Rom
als ein besonderer Vorzug angesehen.
Eine solche Auszeichnung widerfuhr im Jahre 1581 dem Goldschmied
Andreas Attemstett aus Friesland. Und diese Auszeichnung ist um
so höher zu achten, als gerade damals in Deutschland sich die Gold-
schmiedekunst aus dem Rohen der Schmiedearbeit und aus der früheren
Plumpheit emporgehoben hatte und ihre höchste Blüte zu jener Zeit in
Augsburg entfaltete.
Als junger Mann war Attemstett von seiner nordischen Heimat durch
Deutschland und Italien gewandert, hatte bei den tüchtigsten und ge-
feiertsten Meistern gearbeitet und sich durch rastlosen Eifer und ein-
gehendes Studium der alten Vorbilder eine Vollkommenheit in seinem
Handwerk angeeignet, die dem gebildeten Geschmacke nach alten Mustern
kunstreiche Gestaltung zu geben wußte. Als er nach seiner Rückreise in
München dem Herzog Albrecht V. von Bayern seine Zeichnungen vorlegen
durfte, war dieser kunstsinnige Fürst so entzückt davon, daß er Andreas
in seine Dienste nahm und ihm die Ausführung verschiedener großer
Arbeiten für Kirchen übergab.
Der junge Meister wollte nun in Augsburg seine Werkstätte auf-
schlagen und dort Bürger werden um an dem Platze zu sein, an dem
sich ihm alle Hilfsmittel leicht und nach Auswahl darboten. Aber die
Augsburger Ratsherren waren nicht gewillt den Fremden als ihnen
ebenbürtig zuzulassen. Neid und Heimtücke der reichsstädtischen Gold-
schmiede machten sich gegen den Günstling des bayerischen Herzogs
80
57. Ein Augsburger Goldschmied.
geltend. Da entschloß sich Attemstett knrz und stolz auf die Augs-
burger Bürgerwürde zu verzichten und sich in dem nahen Städtchen
Friedberg anzusiedeln.
Hier nun schuf er die herrlichen Kunstwerke, mit denen der Herzog
Albrecht freigebig die Kirchen von München schmückte. Seine Werkstätte
wurde das Ziel vornehmer Herren, die Bestellungen bei ihm machten
oder die Arbeiten besichtigen wollten, an denen der Meister schuf. Von
vielen deutschen Höfen kamen nach dem freundlichen Städtchen bei Augs-
burg die ehrenvollsten Aufträge zu Meister Attemstett.
Alle seine Arbeiten zeichneten sich durch künstlerischen Geschmack wie
durch Feinheit und Gediegenheit der technischen Ausführung aus. Das
Nationalmnseum in München birgt einen herrlichen Elfenbeinschrank;
die wunderbaren Emailarbeiten an demselben sind von Attemstett und
zählen zu den besten dieser Gattung. Die Schatzkammer sowie die reiche
Kapelle der Residenz dortselbst rechnen zu ihren kostbarsten und schönsten
Schützen eine Anzahl von bewundernswerten Arbeiten aus Meister
Attemstetts kunstgewandter Hand. Ebenso werden einige der unver-
gleichlichsten Werke der Schatzkammer in Wien ihm oder seinem Sohne
David zugeschrieben.
Die Augsburger Goldschmiede mußten nun auch die Schönheit und
Kunstfertigkeit in den getriebenen Werken, in den Schmelz- und Email-
arbeiten des Friedberger Meisters anerkennen und boten nun ihrerseits
alles auf, daß er in ihre Genossenschaft trete und sein Ruhm derselben
zugute käme. Attemstett ließ sich jedoch dazu nicht bestimmen. In
Friedberg hatte er sich Haus und Hof erworben, dort eine Familie ge-
gründet; dort war die Stätte seines Ruhmes und dort wollte er nun
auch bis zu seinem Tode bleiben. Hochherzig dagegen zeigte er sich den
Augsburgern als Freund und Gönner; bei manchen großen Bestellungen
gab er den geschickten Goldschmieden in der Stadt einen Anteil daran
und ließ sie so an seinem Ruhme und Glücke mitgenießen. Um sich er-
kenntlich dafür zu zeigen und ihm die einst zugefügte Zurücksetzung ver-
gessen zu machen, überreichte ihm der Rat von Augsburg endlich aus
eigenem Antriebe den Bürgerbrief. Attemstett lehnte diese Auszeichnung
nicht ab, blieb aber auch ferner in Friedberg wohnen. Doch fand er
als Augsburger Bürger seine Ruhestätte 1591 auf dem Friedhofe zu
Augsburg. Wie hoch ihn seine Mitbürger und die Goldschmiede von
Augsburg ehrten, bezeugten sie in der Inschrift auf dem ihm gesetzten
Grabstein; dieselbe lautet in deutscher Übersetzung: „Ein Bildner und
Künstler in erhabner Gold- und Silberarbeit wie kein zweiter in der
Stadt und auf dem Erdkreise."
58. Die Fugger.
81
58. Z)ie Augger.
Durch zielbewußte, rührige Tätigkeit rangen sich die Fugger aus
einfachen Verhältnissen zu einem der edelsten und reichsten Geschlechter
empor, übten jahrhundertelang hervorragenden Einfluß auf das Ansehen
und den Wohlstand unseres Vaterlandes und waren die Träger deutschen
Fleißes, deutschen Handels und deutschen Ruhmes in allen Himmelsgegenden.
Der Stammvater der jetzt fürstlichen und gräflichen Familie Fugger
war Hans Fugger. Er verkaufte den geringen väterlichen Besitz im Dorfe
Graben am Lechfelde und zog als Webergeselle 1365 nach Augsburg.
Durch Verheiratung mit einer Bürgerstochter erlangte er das Bürger-
recht und wurde nach Verfertigung eines wohl gelungenen Meisterstücks
in die Weberzunft aufgenommen. Neben der Weberei trieb er auch den
Leinwandhandel in dem von seinen Schwiegereltern überkommenen Hause
am Gögginger Tor und erwarb sich durch Fleiß und Geschicklichkeit ein
für die damalige Zeit beträchtliches Vermögen von 3000 Gulden. Er
errang sich auch die Achtung seiner Mitbürger in so hohem Grade, daß
ihn die Weberzunft zu einem ihrer Vertreter in den Rat wählte. Dieses
Amt war um so ehrenvoller, als in Augsburg die Weberzunft das höchste
Ansehen unter den Zünften genoß.
Rach seinem Tode 1409 erreichte das Vermögen eines seiner Söhne
(Andreas) schon eine solche Höhe, daß er allgemein der „reiche Fugger"
genannt wurde. Der eigentliche Begründer des Hauses aber ist der
zweite Sohn Jakob (der „Vorgeher" der Weberzunft). Er war ein be-
deutender Handelsmann, der wegen seiner Wohltätigkeit und seines leut-
seligen Wesens von seinen Mitbürgern hochgeachtet wurde. Unter seinem
Sohne Ulrich breitete sich der Fuggersche Handel über ganz Deutschland,
Ungarn, Polen, Italien und die Niederlande aus; er war der Erste,
der mit dem Hause Österreich Handelsverbindungen einging und den
Kaiser Friedrich III. und dessen ganzen Hofstaat auf seinem Zuge nach
Trier mit goldenen, silbernen, seidenen und wollenen Gewändern versah.
Bald erstreckte sich der Handel der Fugger auch über Europa hinaus.
Schon der im Jahre 1493 geborene Anton gründete mit den Welsern
ein eigenes Handelshaus in Antwerpen zur Betreibung des ostindischen
Handels und seine Schiffe befuhren beinahe alle Meere.
Das Ansehen und der Reichtum der Familie wuchs zusehends;
hundert Jahre nach dem Tode des Webers Hans Fugger waren seine
Nachkommen die reichsten Kaufleute in Europa; ohne ihre Geldhilfe
vermochten die mächtigsten Fürsten keine irgendwie bedeutende Unter-
nehmung zu vollführen und Herzoge und Kaiser standen in ihrem
SciiBiirf) für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 6
82
58. Die Fugger.
Schuldenbuche. Ihr Reichtum war so groß und weltkundig, daß in
Spanien das Sprichwort entstand: „Er ist reich wie ein Fugger.' Ja,
Kaiser Karl V. selbst soll, als man ihm den königlichen Schatz zu
Paris zeigte, in gerechtem Stolz auf solche Untertanen ausgerufen haben:
„In Augsburg habe ich einen Leinweber, der das alles mit Gold be-
zahlen kann."
Dieser Leinweber beherbergte auch mehrmals den Kaiser, als der-
selbe nach Augsburg kam, in seinem Hause und unterhielt das Kaminfeuer
in dem vom Kaiser bewohnten Gemache mit Zimt- und Mahagoniholz,
das damals großen Wert besaß. Einmal soll er sogar das Feuer mit einer
bedeutenden Schuldverschreibung seines hohen Gastes angezündet haben.
Dieser Kaiser erhob aber auch unterm 14. November 1530 Anton
und dessen Bruder Raimund in den Grafenstand, nahm sie unter die
Reichsstände auf und verlieh ihnen fürstliche Gerechtsame, ja sogar das
Vorrecht goldene und silberne Münzen zu schlagen. Wie hätte der
arme Leinweber Hans Fugger wohl staunen müssen, wenn er gesehen
hätte, wie sein Geschlecht so binnen 160 Jahren Sitz und Stimme auf
den Reichstagen sich erwarb und mit den vornehmsten Geschlechtern in
verwandtschaftliche Beziehungen trat! Er, der Ahn, besaß nur einige
Morgen Land bei Augsburg, sie, die Nachkommen, eine ganze Grafschaft
am rechten Ufer der Donau, der übrigen Güter und Schätze nicht zu
gedenken. Er war froh mit dem Erwerb des täglichen Unterhalts und
trug seines Fleißes Früchte selbst zur nahen Stadt; sie lebten in Fülle,
liehen Königen und Kaisern und ließen die Flaggen ihrer Schiffe im
Mittelmeer wie auf der Ostsee und auf dem Ozean bis zu den beiden
Indien wehen.
Den ihnen verliehenen hohen Rang adelten aber die Nachkommen
des armen Leinwebers auch durch ihre Bürgertugenden und durch ihre
wohltätige Sorge für die Not der Dürftigen. So erkauften sie schon
gegen Ende des 15. Jahrhunderts in der Jakobervorstadt einen großen
Platz nebst einer Anzahl von Gebäuden, ließen diese niederreißen und
51 Häuser mit 106 Wohnungen erbauen (1519); in diesen fanden arbeit-
same Hausarme Augsburgs für den geringen jährlichen Mietzins von
zwei Gulden ein bequemes Unterkommen. Diese Anstalt, welche gewisser-
maßen eine eigene Stadt mit eigener Kirche für sich selbst bildete, ist noch
jetzt unter dem Namen „die Fuggerei" eine Merkwürdigkeit Augsburgs
und eine Wohltat für dessen Bewohner. Auch viele andere wohltätige
Stiftungen verdanken den Fuggern ihren Ursprung.
Nicht weniger waren sie auf die Förderung der Künste und Wissen-
schaften bedacht. Sie waren im Besitz ausgezeichneter Kunst- und Bücher-
69. Albrecht Dürer.
83
sammlnngen, unterstützten Künstler und Gelehrte mit fürstlicher Frei-
gebigkeit und machten ihre Paläste und Gärten zu Meisterwerken der
Baukunst und des damaligen Geschmacks.
Der Dreißigjährige Krieg aber und öftere Teilungen entzogen nach
und nach der Familie ihren Glanz und Reichtum; doch blüht dieselbe noch
in einer fürstlichen (seit 1803) und mehreren gräflichen, standesherrlichen
Familien fort und besitzt noch ansehnliche Güter in Bayern und Württemberg.
59. Albrecht Aürer.
Das war Herr Max, der Kaiser,
Der war an Adel reich,
An ritterlichem Mute
Kam ihm kein Ritter gleich.
Das war Herr Albrecht Dürer,
Der seine Kunst verstand,
Ein hochberühmter Meister
Im deutschen Vaterland.
Da kam der Max zum Dürer;
Den Meister wollt' er seh'n,
Der ewige Gedanken
In Bildern ließ erstehn:
Gedanken also herrlich,
So hoch, so ernst, so rein,
Daß sie der Erde zeigen
Des Himmels Widerschein.
Vom Lob des edlen Kaisers
Beschämt der Dürer schweigt;
Da wanket seine Leiter,
Indem er niedersteigt.
Den Edelmann zur Seite,
Den rief Herr Max zur Hand,
Daß er dem Dürer halte
Die Leiter an der Wand.
Der Edelmann, der zaudert,
Ihm dünkt der Dienst zu schlecht;
Er spricht: „Des Malers Leiter,
Die hält gar wohl mein Knecht."
Da sprach gar ernst der Kaiser:
„Wie tut dein Stolz mir leid,
Der nicht den Künstler ehret,
Des Adel Gott geweiht!
Ich kann als Kaiser machen
Den Knecht zum Edelmann;
Doch Gnaden, hoch wie diese,
Nur Gott verleihen kann."
Drauf schenkte Max dem Dürer
Und seiner Zunft zur Stund'
Drei silberweiße Schilde
Auf himmelblauem Grund.
Ihr jungen Herr'n und Grafen,
Ehrt dieses Wappen fein;
Und seid ihr arm an Taten,
Dann glaubt nicht reich zu sein!
Zu allen Künstlern aber
Des Dürer Wappen spricht:
Wenn ihr nicht malt wie Dürer,
Dann dünkt euch Dürer nicht!
Dem Adel und den Künsten
Ist Demut hohe Zier;
Das lehret dich der Dürer,
Der Kaiser sagt es hier.
6
Pocci.
84
60. Drei Nürnberger Meister.
60. Prei Nürnberger Meister.
Nürnberg gebührt neben Augsburg das Verdienst die Wiege der
deutschen Kunstfertigkeit und des deutschen Geschmackes im Mittelalter
gewesen zu sein. Die Bewohner dieser altertümlichen Reichsstadt waren
weltberühmt durch ihren Kunstsinn, durch die Feinheit ihres Gold- und
Silbergeschmeides, die Vielfältigkeit und Schönheit ihrer Geschirre und
Bildnereien aus Metall und Holz, durch ihre bewundernswerte Geschick-
lichkeit in Verfertigung von Werkzeugen zur Natur- und Größenlehre.
Die in dem betriebsamen Nürnberg kunstreich gefertigten Gold-, Silber-
und Drahtzieherarbeiten wie andere Erzeugnisse des Kunstfleißes wurden
durch den blühenden Handel nach allen Teilen der Welt versandt. Die
Stadt selbst wurde mit herrlichen Werken der Baukunst, der Bildhauerei
und Bildgießerei geschmückt. Wer kennt nicht den herrlichen gotischen
Bau der Lorenzerkirche mit ihren zwei schlanken Türmen und wer weiß
nicht, daß dieser Tempel neben dem wunderbaren „Englischen Gruß"
von Veit Stoß das herrlichste Kunstwerk Adam Krafts umschließt?
Adam Kraft (oder auch Krasft) ist einer der vorzüglichsten deutschen
Bildhauer in der Zeit des Übergangs von der mittelalterlichen zur neueren
Kunst, der Gotik zur Renaissance. Er wurde wahrscheinlich um 1430
in Nürnberg geboren und verlebte auch dort den größten Teil seines
Lebens. Dies ist reich an wechselnden Schicksalen, reich an Erfolgen
und Ruhm, aber auch reich an Mühsalen und Entbehrungen; ja, Kraft
soll in äußerster Dürftigkeit 1507 im Spital zu Schwabach gestorben
sein. — Er war ein kräftiger Mann und gewandter Bildhauer, der
mit der rechten wie mit der linken Hand gleich geschickt zeichnen und
arbeiten konnte. Als Gesellen nahm er keine gelernten Bildhauer, son-
dern nur starke Bauernburschen an, die er dann mit allem Fleiß unter-
richtete. Kraft erreichte in feiner Kunst eine vollendete Meisterschaft, so
daß er dem Stein Leben und Empfindung einzuhauchen schien. Daher
wurde ihm auch nachgerühmt, daß er die früher von dem Mönche
Thiemo in Niederalteich geübte, dann später verlorene Kunst gekannt
habe Steine in Formen zu gießen. Wie Albrecht Dürer in der Malerei,
so strebte Kraft in der Bildhauerkunst nach entschiedener Charakteristik
und treuer Lebeuswahrheit; trotzdem suchen seine Kunstwerke an Zier-
lichkeit ihresgleichen. Sein Hauptwerk ist das Sakramentshäuschen in
der St. Lorenzerkirche zu Nürnberg, an dem er von 1493 bis 1500
gearbeitet hat. Dasselbe, 19 m hoch, ruht auf den lebensgroßen Ge-
stalten des Meisters und seiner beiden Gesellen und strebt in den zier-
lichsten Türmchen, Säulen, Pfeilern und Knäufen, mit Darstellungen
aus der Leidensgeschichte Christi geschmückt, durchsichtig und erhaben
60. Drei Nürnberger Meister.
85
empor, eine wunderbare Filigranarbeit von Stein. Die Verzierungen
an diesem wie an seinen anderen Werken zeigen die glänzendste Ent-
faltung des spätgotischen Stiles. Außer einer großen Reihe anderer
Schöpfungen zählt zu seinen vorzüglichsten Arbeiten das Grabmal des
verdienten Kirchenmeisters Sebald Schreyer, welches in fortlaufender
Handlung die Kreuztragung, Grablegung und Auferstehung Christi dar-
stellt. Dasselbe ist eine der schönsten Zierden der Sebalduskirche in
Nürnberg.
Das großartigste Werk dieses Gotteshauses ist jedoch das Grabmal
des heiligen Sebaldus von Krafts Freund, Peter Bischer. Dieser,
der Sohn eines tüchtigen Meisters der Rotschmiedekunst, wurde in Nürn-
berg um das Jahr 1455 geboren. In seiner Jugend durchreiste er als
Geselle mehrere Länder und studierte wahrscheinlich in Italien selbst die
alten Bildhauerwerke dieses klassischen Landes. Im Jahre 1487 trat
er als Meister in die Zunft der Erzgießer und Notschmiede ein und
lebte von da an mit Adam Kraft und Sebastian Lindenast in freund-
lichstem Verhältnisse und in stetem künstlerischen Verkehr. Seine Ar-
beiten zeichnen sich durch formgerechte Zeichnung, natürliche Gruppierung,
Adel des Ausdrucks, fleißige Ausführung und künstlerische Gewandtheit
aus. Dabei wurde er von seinen fünf kunstsinnigen Söhnen, die mit
ihren Familien bei ihrem leutseligen und munteren Vater im Hause
lebten, wacker unterstützt; wahrscheinlich wurden auch von ihnen die
Modelle selbst verfertigt. Nach und nach erwarb sich Peter Bischer einen
so großen Ruf, daß kein Fürst oder Kunstliebhaber nach Nürnberg kam,
der ihn nicht in seiner Gießhütte aufgesucht und mit ihm sich unter-
halten hätte. — Sein schönstes und umfangreichstes Kunstwerk ist das
tempelförmige Gehäuse um den silbernen Sarkophag des heiligen Sebald
in der diesem Heiligen geweihten Kirche in Nürnberg. Dieses Denkmal,
an dem er mit seinen Söhnen von 1507 an zwölf Jahre arbeitete, ist
an Zeichnung und Ausführung namentlich der zwölf Apostel und der
übrigen Heiligenfiguren sowie seiner eigenen Person in seiner Arbeits-
tracht das großartigste und beste Werk der Erzgießerei im deutschen
Mittelalter, obwohl schon Spuren der Renaissance sich bemerkbar machen.
Ein anderes bedeutendes Werk war ein von der Familie Fugger be-
stelltes, von Bischer jedoch nicht mehr vollendetes Gitter, das an Größe,
Schönheit und Kunst unübertroffen war. Dasselbe wurde von dem
Nürnberger Magistrat im Rathause aufgestellt, aber 1806 als altes
Metall veräußert. Außer diesen außerordentlichen, ohne Ziselierung ge-
fertigten Kunstwerken sind uns noch viele seiner künstlerischen Arbeiten
erhalten. — Bischer wurde von seinen Mitbürgern hoch geachtet und
86
61. Hans Sachs.
1520 zum Mitglied des Großen Rates ernannt. Doch erfreute er sich
dieser Ehrung nicht mehr lange, da er am 7. Januar 1529 starb.
Seine Büste ließ König Ludwig I. in die Walhalla und Ruhmeshalle
aufnehmen.
Der dritte im Bunde dieser beiden als Künstler und Menschen
gleich großen Männer war Sebastian Lindenast, der Verfertiger
vieler in Kupfer getriebener Werke. Namentlich gingen aus seiner kunst-
geübten Hand die Bildnisse des Kaisers und der sieben Kurfürsten her-
vor, die das herrliche von Jörg Heuß 1506—1509 hergestellte Uhrwerk
an der Frauen- oder Marienkirche in Nürnberg schmückten. Kaiser Karl IV.
sitzt auf dem Throne, um ihn herum gehen ein Herold, vier Posaunisten
und die sieben Kurfürsten, alle sich vor dem Kaiser verneigend. Der
Tod läutet alle Stunden die Glocke. Leider ist von den nahezu meter-
hohen Figuren nur noch die Gestalt des Kaisers und seines Heroldes
erhalten. Dem ernsten, stillen Künstler, der bei seinen Mitbürgern in
hohem Ansehen stand, verlieh Kaiser Maximilian I. das Privilegium
seine getriebenen Arbeiten aus Kupfer versilbern und vergolden zu dürfen.
Diese Erlaubnis zeigt von der hohen Wertschätzung des ehrbaren Kupfer-
schmiedes und wurde nach seinem 1520 erfolgten Tode seinem gleich-
namigen Sohne nicht mehr erteilt.
Diese drei Männer waren in inniger Freundschaft miteinander ver-
bunden. Gar oft an Feiertagen abends saßen sie im trauten Kreise
beisammen um sich im Zeichnen zu üben. Denn ihre Ansicht war, daß
derjenige Meister rückwärts gehe, der über seine Lehrjungenjahre hinaus
zu sein glaube und nichts mehr lerne.
61. Kans Sachs.
Ein Eichkranz, ewig jung belaubt,
Den setzt die Nachwelt ihm aufs Haupt.
In Froschpfuhl all das Volk verbannt,
Das seinen Meister je verkannt. Goethe.
Unter der glanzvollen Herrschaft der hohenstaufischen Kaiser zog
ein Singen und Klingen durch ganz Deutschland, das, angeregt und zum
Teil hervorgerufen durch die Kreuzzüge, dem aufstrebenden Rittertum
poetischen Glanz verlieh. Auf den Burgen der Ritter und an den Höfen
der Fürsten erklang der höfische Minne ge sang, den Lieblichkeit, Tiefe
und Zartheit der Empfindung auszeichneten. Allein mit dem Sinken
und der Entartung des Ritterstandes, dem ja die Mehrzahl der Minne-
sänger angehörte, und mit dem Emporkommen des rüstig vorwärts
strebenden Bürgertums zog sich der Minnegesang von den Höfen der
61. Hans Sachs.
87
Fürsten und den Burgen des Adels in die aufblühenden Städte. Die
Dichtkunst ging aus den Händen der Herren in die der Meister über;
aus dem Minnegesang wurde allmählich (im 14. und 15. Jahrhundert)
der Meistergesang, der nach festen Regeln schulmäßig gelernt und
schulmäßig geübt wurde. Die Handwerker verbanden nämlich mit ihren
religiösen Bruderschaften auch Singschulen und versammelten sich in ihren
Feierstunden zu Sing- und Dichtübungen, zum Teil in der Kirche.
Solche zunftmäßig eingerichtete Singschulen finden wir in Mainz, Frank-
furt, Augsburg Nürnberg u. s. w.
Einer der vorzüglichsten Meistersinger aus der schon fortgebildeten
Schule war Hans Sachs. Dieser hervorragendste unter den deutschen
Dichtern des 16. Jahrhunderts wurde am 5. November 1494 als der
Sohn eines Schneiders in Nürnberg geboren. Obwohl er für den
Handwerkstand bestimmt war, erhielt er doch eine gelehrte Bildung auf
der Lateinschule seiner Vaterstadt. Mit seinem 15. Jahre trat er nach
dem Wunsche seines Vaters als Lehrling in das Schuhmacherhandwerk
ein, während er gleichzeitig von dem Leineweber Bernhard Nunenbeck
in der „holdseligen Kunst" des Meistergesanges unterrichtet wurde. In
seinem 17. Jahre begann er seine Wanderschaft, auf der er namentlich
die Städte aufsuchte, in denen Meisterschulen bestanden. Er arbeitete
unter andern in Regensburg, Passau, Salzburg und München, wo-
selbst er sein erstes Gedicht „An den Main und Rhein" verfaßte:
„In Bayern, Franken und am Rhein
Fünf gantze Jahr ich wandern that
In diese und die andern Statt."
Nachdem er noch in Leipzig, Lübeck und Osnabrück gearbeitet und
gesungen hatte, kehrte er 1516 wieder in seine Heimat zurück, ließ sich
dort als Schuhmachermeister nieder und verheiratete sich 1519. Hoch-
geachtet und geehrt von seinen Mitbürgern und Freunden, lebte er nun
hier der Ausübung feines Handwerks und der Dichtkunst. Am Ende
seines Lebens verlor der noch als Greis so rührige Mann Gehör und
Sprachvermögen. Da saß er dann schneeweiß und grau wie eine Taube
an Haar und Bart hinter seinem Pulte vor feinem großen Buche und
neigte nur noch das weiße Haupt gegen die Besuchenden und sah sie mit
seinem milden, lieblichen Greifenantlitz freundlich an, bis er im zweiund-
achtzigsten Jahre seines Lebens, am 19. Januar 1576, sanft ent-
schlummerte.
Bald nach seiner Seßhaftmachung schloß er sich der in Nürnberg
bestehenden Meisterschule an und ward nach kurzer Zeit infolge seiner
Kunst und feines Eifers ihr „Vorsteher", eine Anerkennung, die nicht
88
62. Joseph von Utzschneider.
gering war. Durch ihn gewann die Schule tüchtige, sittliche Lebens-
anschaunng und neuen, lebhaften Aufschwung. Doch sieht man seinen
Meistergesängen oft die handwerksmäßige Fertigkeit und das Ringen mit
der Form allzusehr an.
Trotzdem war er ein wirklicher Dichter, wie dies bereits Wieland
und nach ihm Goethe erkannte, der den berühmten Nürnberger Meister-
singer wieder zu Ehren brachte in seinem Gedichte „Hans Sachsens
poetische Sendung". Er war ein reich begabtes Talent, schnell und
sicher in der Auffassung des Gegebenen, in der Darstellung leicht und
ungezwungen, milde und gemäßigt, dabei von heiterer Laune und er-
götzlichem Humor. Seine gesunde, kernige Natur bewahrte ihn vor
Einseitigkeit und Leidenschaftlichkeit; wie er sich spielend und leicht im
Leben bewegte, so wirkte seine schaffende Kraft ruhig und ungestört
und ist seine Dichtung das Abbild seiner selbst. Unser ehrlicher Dichter
hielt sich in dem engeren Kreise bürgerlicher Sitte und Anschauung und
benutzte zu seinen Gedichten alle Erscheinungen des bürgerlichen Lebens,
das er bald von seiner heiteren und ergötzlichen bald von seiner ernsten
Seite auffaßte.
Hans Sachs ist der fruchtbarste Dichter der Reformationszeit. Als
er zwei Jahre vor seinem Tode seine Gedichte zusammenzählte, fand es
sich, daß er 6048 Dichtungen der verschiedensten Art geschaffen hatte.
Er war aber auch bis in sein 78. Lebensjahr rastlos tätig und besaß
eine staunenswerte Belesenheit in den Schriften alter und neuer Zeiten.
Alle Völker und alle Zeiten, Geschichte wie Sage mußten dem viel-
umfassenden, geistreichen Mann Stoffe liefern für seine Werke. Und
bei der gerechten Bewunderung, die uns ergreift, wie nur ein Schuster
das alles habe lesen können, fesselt uns zugleich das Erstaunen über
das angemessene Gewand, in welches er seine Stoffe zu kleiden versteht.
Der schlichte Handwerker, der sich nicht an die Gelehrten, sondern an
den gemeinen Mann wendet, war der lauterste Sittenprediger seines
Volkes und der begeisterte Freund seines deutschen Vaterlandes.
Mit vollem Rechte verdiente daher unser Schuhmacher und Meister-
singer Hans Sachs, daß seine Büste von König Ludwig I. in der Ruhmes-
halle aufgestellt und ihm in seiner Vaterstadt am 24. Juni 1874 ein
Denkmal errichtet wurde. S5i!l-
62. Josepß von Whschneider.
Unter den Männern, welche sich um die Wohlfahrt unseres Vaterlandes,
insbesondere um das Gewerbewesen und dessen Kräftigung verdient ge-
macht haben, gebührt Joseph von Utzschneider ein hervorragender Platz.
62. Joseph von Utzschneider.
89
Joseph Utzschneider wurde am 2. März 1763 als das älteste von
9 Kindern unbemittelter Landleute zu Rieden am Staffelsee geboren.
Schon im achten Jahre kam er in die Lateinschule zu Polling. Zu jung
und unerfahren, wurde der Bauernknabe ein Gegenstand des Spottes
der Söhne vornehmer Eltern; da er deren Neckereien nicht ertragen
wollte, so entlief er bald wieder nach Rieden. Später machte er auf
dem Gymnasium und der Marianischen Landesakademie zu München
staunenerregende Fortschritte. Infolge seines ausdauernden Fleißes und
seiner hervorragenden Begabung wurde er bereits im Alter von
20 Jahren nach glücklichem Bestehen der Vorprüfungen zum Professor
an der Militärbildungsanstalt in München ernannt; außerdem über-
trug ihm die Herzogin Maria Anna die Verwaltung ihres Gutes Schwaig-
anger. Schon als Student war er einige Zeit Sekretär der Herzogin
gewesen, deren entschiedenes Wohlwollen er sich durch seine Geschick-
lichkeit in der Ausführung aller Aufträge, besonders aber durch seine
Treue und Verschwiegenheit in allen dienstlichen Verrichtungen er-
worben hatte.
Auf ihr Betreiben wurde der einundzwanzigjährige Utzschneider zum
Kurfürstlichen Hofkammerrat ernannt; in dieser Stellung war er besonders
für die Hebung der Forstwirtschaft und die Gründung einer Forstschule
mit Erfolg tätig. Nicht wenig war er bemüht für die Urbarmachung
einiger Moosgründe in Oberbayern und die Regelung der Verhältnisse
im Donaumoose, das bisher eine unabsehbare Wildnis und der furcht-
bare Herd beständiger Seuchen gewesen war.
Nach dem Tode Karl Theodors beehrte der neue Landesherr-
Maximilian Utzschneider mit gleichem Vertrauen wie sein Vorgänger;
er übertrug ihm verschiedene neue, ehrenvolle Ämter und betraute ihn
namentlich mit der Ordnung der ganz zerrütteten Geldangelegenheiten
des Landes. Mit der ihm eigenen rastlosen Tätigkeit und mit dem
Feuereifer, der seine Bestrebungen kennzeichnete, nahm er diese schwierige
Aufgabe in Angriff, zog sich aber bald so viele Feinde zu, daß er am
10. Januar 1801 seiner Stellung enthoben wurde.
Was Utzschneider nun nicht mehr als Beamter wirken konnte, wollte
er als Privatmann auf dem Gebiete der Industrie tun. Alles, was
deren Aufschwung fördern und dem Vorteile seiner Mitbürger dienen
konnte, ergriff sein scharfblickender, energischer Geist; reiche Quellen
nützlicher Arbeit zu schaffen und die Befähigten durch sein Beispiel zu
gleichem Streben zu ermuntern war das Losungswort des Mannes,
„welcher den Wohlstand aller, nicht den Reichtum einzelner wünschte";
Geldgewinn lag ihm fern. — Er gründete eine Lederfabrik, die sich in
90
62. Joseph von Utzschneider.
kurzer Zeit vortrefflich entwickelte, und errichtete in München und Benedikt-
beuern in Verbindung mit dem bekannten früheren Artilleriehauptmanne
Reichenbach und dem Mechaniker Liebherr ein mathematisch-physikalisches
Institut, das bald die Pflanzschule für Feinmechanik nicht bloß in Deutsch-
land sondern in ganz Europa wurde. Zu demselben wurde bald auch
Fraunhofer beigezogen, auf dessen Lebensgang Utzschneider durch Unter-
stützung in seiner Jugend den größten Einfluß übte. Lange konnte der
Staat solche Talente und eine solche rege Tätigkeit nicht entbehren.
Deshalb berief König Maximilian I. 1807 Utzschneider wieder in den
Staatsdienst und übertrug ihm hervorragende Ämter, namentlich auch
die Verwaltung der Salinen. Hatte er schon früher die Salzbergwerke
zu Reichenhall für den Staat erworben, so errichtete er jetzt die Solen-
leitung von Reichenhall nach Rosenheim.
Sein größtes und dankenswertestes Verdienst war die Regelung
der Grundsteuer; zu diesem Zwecke war auf Utzschneiders Antrag eine
allgemeine, genaue Landesvermessung vorgenommen und die Kgl. Steuer-
kataster-Kommission gegründet worden; durch dieses Werk erwarb er sich
nicht nur den Beifall der Regierung sondern auch die Anerkennung
der Steuerpflichtigen. — Von weniger glücklichem Erfolge war Utz-
schneiders Bestreben begünstigt, die durch den langen Krieg zerrütteten
bayerischen Geldangelegenheiten in allseits befriedigender Weise zu
ordnen. Infolgedessen legte er am 19. September 1814 alle seine
Ämter nieder; den ihm gesetzlich zustehenden Ruhegehalt lehnte er ab,
treu seinem Grundsätze: „Nur Arbeit verdient Lohn."
Zum zweiten Male ins Privatleben zurückgetreten, wandte Utz-
schneider seine Tätigkeit abermals gewerblichen Unternehmungen zu. Er
gründete eine Tuchfabrik, errichtete 1815 eine Brauerei und bewirt-
schaftete einen großen Bauernhof, den er in der Nähe von Giesing ge-
kauft hatte und auf welchem er namentlich den Bau der Runkelrüben
und die Herstellung von Sirup und Zucker betrieb; überall leuchtete er
seinen Berufsgenoffen fördernd als Vorbild voran.
Die Einführung der Verfassung vom Jahre 1818 und die dadurch
herbeigeführte Errichtung des Stadtmagistrats München brachte ihn
ins öffentliche Leben wieder zurück. Denn er entschloß sich die ehren-
volle Wahl eines Bürgermeisters der Stadt München anzunehmen, eine
Ehrenstelle, die er freilich nach einigen Jahren wieder niederlegte. Da-
gegen wirkte er im Interesse der Landwirtschaft, des Gewerbes und der
Volksbildung als Abgeordneter im Ständehause bis zu seinem Tod. —
Aber auch außerdem war er für Landwirtschaft und Industrie allent-
halben tätig. So übernahm er 1827 unentgeltlich die Leitung der
63. Joseph von Fraunhofer.
91
Gewerblichen und Polytechnischen Schule in München, während er auf
dem von ihm erkauften Gut Erching eine Landwirtschaftsschule gründete.
Inmitten seiner unermüdlichen Tätigkeit trat der Tod an ihn, den
noch rüstigen, körperlich schönen, nur durch den Verlust eines Auges
etwas entstellten Mann heran. Auf einer Fahrt zum Ständehause
wurden die Pferde am Giesinger Berge scheu, der Wagen stürzte um
und Utzschneider wurde tödlich verwundet. Zwei Tage später, am
31. Januar 1840, schied er aus dem Leben und wurde unter beispielloser
Teilnahme der Bevölkerung (im alten oder südlichen Gottesacker) begraben.
„Dem edelsten Vaterlandsfreunde" wurde das Grab in der Nähe der
Ruhestätten seiner Ruhmesgenossen Reichenbach und Fraunhofer bereitet.
63. Joseph von Araunhofer.
„Das Glaserhaus im Thiereckgüßchen ist eingestürzt; mehrere
Menschen liegen unter den Trümmern!" erscholl am 21. Juli 1801 der
Jammerruf durch Münchens Gassen. Schnell war der menschenfreund-
liche Kurfürst Maximilian Joseph an der Unglücksstätte, und wo er
war, da waltete helfende Liebe. Er munterte zur Rettung auf, half
selber. Durch solches Bemühen entstieg aus dem Schutte der Glaser-
lehrling Joseph Fraunhofer, gerade noch zur rechten Zeit aus der Ein-
klemmung zwischen zwei Türpfosten befreit. „Daß Gott erbarm'! Er ist
noch dazu ein armer Waisenknabe!" ertönte eine mitleidsvolle Stimme.
Da sprach der gute Max: „Er ist keine Waise mehr, ich werde ihm
Vater sein." Und aus dem geretteten Knaben ist jener große Mann
geworden, der uns durch seine Erfindung der Riesenfernrohre die Gestirne
des Himmels näher gebracht hat.
Unter dem Dache der Armut wurde am 6. März 1787 Joseph
Fraunhofer als der Sohn eines Glasers in Straubing geboren.
Not und Entbehrungen waren die Begleiter seiner Jugend. Schon
in seinem zwölften Jahre verlor er seinen Vater durch den Tod. Bald
darauf kam er zu dem Hofspiegelmacher und Glasschleifer Philipp Weichsel-
berger in München in die Lehre. Da er kein Lehrgeld zahlen konnte,
sollte er sechs Jahre lernen. Vielleicht würde sein Dasein spurlos
verschwunden sein, hätte nicht der Einsturz des Hauses die Aufmerk-
samkeit auf ihn gelenkt. Kurfürst Max beschenkte den geretteten Knaben
mit 18 Dukaten und versprach, wie wir gehört haben, ihm ein Vater
zu sein.
Auf seine Anregung hin nahm sich namentlich Utzschneider des
Glaserlehrlings an. Er besuchte ihn öfter und überzeugte sich bald von
den in treffenden Bemerkungen kundgegebenen geistigen Fähigkeiten und
92
63. Joseph von Fraunhofer.
der großen Lernbegierde des Knaben, der bis dahin fast ganz ohne
Unterricht geblieben war. Er nahm sich desselben mit liebender Für-
sorge an und brachte ihm wiederholt lehrreiche Bücher. Mit allem
Eifer gab sich Fraunhofer nun dem Studium besonders der Mathematik
und Optik hin trotz des Verbotes seines Lehrmeisters, bei dem er nach
wie vor in der Lehre blieb. Nur die wenigen Stunden des Abends
nach der Arbeitszeit und die freie Zeit an Feiertagen konnte er seinen
Studien widmen. Um dieser Einschränkung ein Ende zu machen ver-
wendete er einen Teil des vom Kurfürsten Max erhaltenen Geschenkes,
um sich von seinem Lehrmeister für das letzte halbe Jahr seiner Lehr-
zeit loszukaufen. Mit dem Reste erwarb er sich eine Schleifmaschine
und beschäftigte sich nun mit dem Schleifen optischer Gläser und mit
Gravierarbeiten in Metall.
Um sich Verdienst zu erwerben stellte er ohne alle Anleitung Be-
suchskarten her. Allein die Wirren des Krieges hinderten den Absatz
derselben und so sah sich Fraunhofer gezwungen wieder zu seinem Hand-
werk zurückzukehren. Denn seine Bescheidenheit und seine Zaghaftigkeit
verhinderten ihn sich an den Kurfürsten oder an Utzschneider zu wenden.
Der letztere war aber durch seine vielfältigen Unternehmungen zu sehr
in Anspruch genommen um Fraunhofer seine Aufmerksamkeit zu widmen.
Vergessen hatte er ihn aber dennoch nicht. Er beauftragte seinen Freund
Schiegg sich nach demselben zu erkundigen. Dieser besuchte ihn wieder-
holt, überzeugte sich von der Tüchtigkeit des durch Unglück Verschüchterten
und brachte ihn zu Utzschneider. Mit ihm kam Fraunhofer in das
mechanische Institut und wurde mit Reichenbach bekannt. Nach kurzen!
Gespräche mit ihm erklärte dieser: „Das ist der Mann, den wir suchen;
der wird uns leisten, was uns noch gefehlt hat." Und er hatte richtig
vorausgesehen.
Fraunhofer trat im Jahre 1806 als Optiker in das mathematische
Institut, welches Utzschneider, Reichenbach und Liebherr zu München
gegründet hatten. Mit bewundernswerter Geschicklichkeit und eisernem
Fleiß arbeitete er hier und vermehrte durch tiefgehendes Studium seine
Kenntnisse. Im Jahre 1809 errichtete er mit Reichenbach und Utzschneider
zu Benediktbeuern das berühmte optische Institut, dessen Leitung er bald
übernahm. Fraunhofer entwickelte nun eine staunenswerte Tätigkeit.
Zunächst erfand er eine Maschine zum Polieren großer, mathematisch
genauer Kugelflächen; dann begann er Flintglas zu bereiten, welches in
allen Schichten dasselbe Brechungsvermögen besaß und das englische an
Güte und Brauchbarkeit weit übertraf. Sein rastloser, schöpferischer
Geist förderte eine Reihe von Erfindungen und Entdeckungen zutage,
64. Georg von Reichenbach.
93
die für die Wissenschaft von größtem Werte sind. Dabei fertigte er
selbst seine Schleif- und Poliermaschinen und die sämtlichen Instrumente,
die er zu seinen Versuchen brauchte. Das Institut errang sich bald
einen Weltruhm und die aus demselben hervorgegangenen Instrumente,
besonders das große Riesenfernrohr (Refraktor) für die Sternwarte zu
Dorpat, erregten die allgemeine Bewunderung der Zeitgenossen.
Nach dem Ausscheiden Reichenbachs wurde das Institut zunuächst von
Fraunhofer und Utzschneider gemeinschaftlich, seit 1818 aber von ersterem
allein fortgeführt und 1819 nach München verlegt. (Nach Fraunhofers
Tod ging die Leitung auf Georg Merz über.) Hier wurde der ehemalige
Glaserlehrling zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften und zum
Vorstande des physikalischen Kabinetts ernannt und in den Adelsstand
erhoben.
Allein lang sollte er sich nicht der zahlreichen ihm übertragenen
Ehren und Würden erfreuen. Von Jugend auf schwächlich, hatte er
schon längere Zeit an Drüsengeschwüren gelitten. Die fortwährende
geistige Anstrengung, die Hitze und die Dünste beim Schmelzen der
Gläser am Glasofen, die anstrengenden Vortrüge in der Akadmie hatten
die Kräfte seines Körpers gebrochen. Und so erlag dieser gottbegnadete
Mann der Arbeit und Wissenschaft am 7. Juni 1826, erst 39 Jahre
alt, einer langwierigen Krankheit. Mit tiefem Leide begleitete Münchens
Bevölkerung den hochverdienten Mann, der auch seines edlen Charakters,
seines sanften, milden Wesens und seiner reinen Sittlichkeit wegen hoch-
geachtet wurde, zur letzten Ruhestätte neben Reichenbach.
64. Georg von Hleichenöach.
Wo eines Utzschneider und eines Fraunhofer gedacht wird, darf
Reichenbach nicht vergessen werden. Er ist ein würdiges Mitglied dieses
Dreigestirns, das München und Bayern zu so hohem Ruhme gereicht.
Georg Reichenbach wurde am 24. August 1772 zu Durlach in
Baden geboren. Von seinem Vater, einem gebildeten Mechaniker, der
als Oberstleutnant der Artillerie in München 1822 starb, erhielt er die
erste Anleitung zu praktischer Tätigkeit und dadurch den festen Grund zu
seiner Bildung.
Während seines Besuches der Militärschule zu Mannheim erregte
die Ausführung einiger glücklich gelungener mechanischer Arbeiten die
Aufmerksamkeit des Grafen von Rumford. Auf seine Empfehlung hin
ließ Kurfürst Karl Theodor ihm eine Unterstützung zu einer Reise nach
England angedeihen um seine weitere Ausbildung zu fördern. Hier
94
64. Georg von Reichenbach.
lernte Reichenbach bei I. Watt den Bau der Dampfmaschinen kennen,
hielt sich längere Zeit in einer der größeren Erzgießereien auf und rich-
tete feine größte Aufmerksamkeit auf die Instrumente und Arbeiten der
Sternwarten in Greenwich und Edinburgh.
Mit reichen Kenntnissen ausgerüstet, kehrte er nach fast dreijährigem
Aufenthalte 1793 in sein Vaterland zurück und trat als Artillerieleutnant
in das bayerische Heer ein. Im Jahre 1796 wurde er nach München ver-
setzt und bald darauf zum Hauptmann befördert; in dieser Stellung konnte
er neben seinen Berufsarbeiten im Zeughause seinen Studien eifrig obliegen.
Sein Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, die bisherigen unbehilflichen
Instrumente für Mechanik und Vermessungszwecke durch eine Kreisteilungs-
maschine zu verbessern. Selbst während des Feldzuges verließ ihn dieser
Gedanke nicht und trat plötzlich, während er zu Cham im Quartiere lag,
am 10. Juli 1801 klar vor feine Seele. Nach seiner Rückkehr aus dem
Felde säumte er nicht den Plan auszuführen. Es entstand bald die erste
bewunderungswürdige Maschine, welche den Kreisbogen in die feinsten, für
das bloße Auge nicht mehr sichtbaren Linien zu teilen fähig ist. Dadurch
wurde die Sicherheit der Messung und Berechnung ungemein vermehrt
und der Grund zur Umgestaltung und Verbesserung vieler mathema-
tischer und optischer Instrumente gelegt.
Da er bisher nur in einer kleinen Werkstätte mit dem Mechaniker
Liebherr gearbeitet hatte, suchte er nun eine größere Anstalt zu gründen;
beide fanden bald an Utzschneider, der die bedeutenden erforderlichen
Mittel schaffte, einen tätigen Genossen und so entstand das mechanisch-
mathematische Institut unter der Beteiligung der drei Genannten. Die
aus demselben hervorgegangenen Instrumente übertrafen alle bisherigen
Leistungen in diesem Fache, namentlich infolge der von Reichenbach er-
fundenen Kreisteilungsmaschine. Im Jahre 1809 traten Utzschneider und
Reichenbach mit Fraunhofer zu einer neuen Vereinigung zusammen,
welche die Herstellung neuer Fernrohre bezweckte.
Außer verschiedenen Erfindungen, die den Aufschwung des neuen
Institutes mitbegünstigten, führte Reichenbach auch in den Eisenwerken
bei dem Bau der Öfen und der Gebläse zweckdienliche und nützliche
Verbesserungen ein. Aus seiner Werkstätte gingen viele geschickte Arbeiter
hervor, die das von ihm Gelernte zur Verbesserung ihrer Gewerbe zu
verwenden vermochten.
Ein neues Feld seiner ersprießlichen Tätigkeit eröffnete sich, als er
auf Betreiben Utzschneiders zum Salinenrat ernannt und ihm der Bau
der Solenleitung von Reichenhall nach Traunstein und Rosenheim über-
tragen wurde. Diese schwierige Aufgabe löste er durch die Erfindung
64. Georg von Neicheubach.
9b
einer Wassersäulcnmaschine; sieben Maschinen brachte er auf der 17 Stan-
den langen Solenleitnng an. Dieses mit bewundernswerter Kühnheit
und Sicherheit ausgeführte Werk, das er in kürzester Zeit mit geringen
Kosten vollendete, trug seinen Namen durch ganz Europa.
Sein Meisterwerk aber ist die 120 km lange Solenleitnng von
Berchtesgaden nach Reichenhall und die dabei aufgestellte größte und
wirksamste aller Wassersäulenmaschinen zu Jlsank. Diese hebt die ge-
sättigte Sole durch Druck auf eine senkrechte Höhe von 218 m; dieses
Riesenwerk galt lange Zeit durch seine gefahrlose Handhabung und durch
seinen ruhigen Gang als ein Glanzpunkt der neuen Mechanik.
Schon früher (1811) war Reichenbach aus dem Militürverband
getreten um sich ganz seinem neuen Berufe widmen zu können. Un-
ermüdlich tätig, errichtete er ein einfaches, zweckdienliches Wasserwerk, um
den Botanischen Garten und das allgemeine Krankenhaus in München
mit Wasser zu versorgen, verbesserte die Maschinen in den Salinen,
erfand eine neue Loch- und Schneidemaschine für Pfannenbleche, fertigte
für die Gewehrfabrik zu Amberg neue und zweckmäßige Maschinen und
hob dadurch diese Anstalt zu großer Bedeutung. Außer verschiedenen
Verbesserungen an anderen Waffen erfand er ein von Eisen geschmiedetes,
mit Drallzügen versehenes Geschütz und Spitzkugeln dazu und legte
infolge Aufforderung des Kaisers von Österreich in Wien eine Stück-
bohrerei nach seinem Plan an. So war er nach den verschiedensten
Richtungen hin tätig und anregend. Und als er 1820 zum Direktor
der obersten Baubehörde ernannt worden war, trug er mit reger Un-
ermüdlichkeit viel zur Förderung nützlicher Werke bei. Dafür fand er
auch vielfache Anerkennung und Auszeichnung, wie auch nach seinem Tode
seine Büste von König Ludwig I. in der Ruhmeshalle aufgestellt wurde.
Infolge eines unglücklichen Sturzes bei einer Brunnenuntersuchung
in Augsburg zog er sich ein Gehirnleiden zu, dem er am 21. Mai 1826
erlag.
Reichenbach war ein hochbegabter, rastlos tätiger Gelehrter und
tüchtiger Praktiker, dessen großartige Werke uns zur Bewunderung hin-
reißen. Seine Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, sein offenes, biederes
und uneigennütziges Wesen, seine immer bereite Freundschaft, sein heiterer,
versöhnlicher Charakter, sein liebevolles häusliches Walten zwingen uns
aber auch ihn als Menschen zu achten, zu ehren und zu lieben. Bayern
mag ihn mit Stolz seinen Sohn nennen. Wenn er auch nicht in seinen
Grenzen geboren war, so hat er doch seines Lebens größten und besten
Teil in Bayern und für dasselbe verbracht.
96
65. Friedrich König und Andreas Bauer.
65. Ariedrich König und Andreas Wauer.
Die Kunst Gutenbergs erhielt erst rechtes Leben und großartige
Entwicklung durch die Erfindung der Schnelldruckpresse. Diese verdanken
wir zwei Männern, die ein gütiges Geschick zur rechten Zeit zusammen-
führte, Friedrich König und Andreas Bauer.
Friedrich König, geboren am 17. April 1774 zu Eisleben am
Harz, erhielt von seinem Vater, einem Ökonomen, eine sorgfältige Er-
ziehung. Nachdem er die Gymnasialstudien vollendet hatte, erlernte er die
Bnchdrnckerknnst in Leipzig und studierte eifrig fremde Sprachen und Ge-
schichte. Später besuchte er ein Jahr die Universität in Leipzig und be-
gründete dann dort eine Buchhandlung, bei deren Betrieb er aber wegen
der ungünstigen Zeitverhültnisse einen Teil seines Vermögens verlor.
Schon während seiner Lehrzeit war ihm der Gedanke aufgetaucht statt
der schwer und langsam arbeitenden Handpresse eine Maschine zu er-
finden, welche dem großen Zeit- und Kraftaufwand der Arbeiter steuern
und die Buchdruckerkunst auf eine höhere Stufe heben könnte.
Nach vielen mühevollen Versuchen hatte er seine Pläne zur Reife
gebracht und es fehlte nur an den nötigen Geldmitteln ihnen Gestaltung
zu geben. Er wandte sich zu diesem Zwecke an verschiedene deutsche
Regierungen um Unterstützung; allein alle seine Bemühungen schlugen
fehl. Er ging nun nach England, trat in London als Vuchdruckergehilfe
in die Buchdruckerei Weiße ein und wurde später Geschäftsführer der-
selben. Endlich fand er auch in dem reichen Buchdrucker Thomas
Bensley den Mann, der das richtige Verständnis für seine Erfindung
besaß; mit ihm schloß er denn auch 1807 einen Vertrag zur Ausführung
seiner Ideen. Um diese Zeit lernte er Andreas Friedrich Bauer kennen,
dessen Kenntnisse in der Mechanik zur raschen und sicheren Durch-
führung des Werkes von nicht geringem Werte waren.
Bauer war am 18. August 1783 als der Sohn eines Schreiner-
meisters zu Stuttgart geboren; nach den entsprechenden Vorstudien be-
schäftigte er sich auf der Universität Tübingen hauptsächlich mit den
mathematischen Wissenschaften und erwarb sich den Doktorgrad. Seine
Vorliebe für Mathematik aber bewog ihn bei dem geschickten Mechaniker
Vaumann in Stuttgart einzutreten, um sich in Herstellung mechanischer
und optischer Instrumente auszubilden. Dies gelang ihm auch bei seinem
Eifer und seinen Vorkenutnissen in solchem Grade, daß er in kurzer Zeit
unter den Arbeitern dieser Werkstätte den ersten Rang einnahm. Um seine
Kenntnisse und Fertigkeiten zu erweitern ging er nach London; hier traf
er mit König zusammen und beide traten bald in die innigste Verbindung.
65. Friedrich König und Andreas Bauer.
97
Nach dreijähriger Arbeit war die erste Schnellpresse vollendet; sie
verrichtete alle bisher von Menschenhand geleisteten Arbeiten; sie besorgte
selbständig das Nehmen und Verteilen der Farbe, das Schwärzen der
Lettern, den Druck und gab stündlich 800 Abdrücke, die nur eingelegt
und fertig durch die Hand herausgenonnnen zu werden brauchten. Jede
der folgenden Maschinen zeigte neue Verbesserungen; so wurde zunächst
der zylindrische Druck angewendet, dann folgten zweizylindrische Doppel-
maschinen und 1816 wurde die erste Schön- und Wiederdruckmaschine
hergestellt, welche das Papier gleichzeitig auf beiden Seiten bedruckte.
Sind auch im Laufe der Jahre an der Schnelldruckpresse viele
Verbesserungen und einfachere Konstruktionen angewendet worden, so
stützen sich doch alle auf die wesentlichen Grundsätze der König-Bauerschen
Ersindung.
So groß für König der Ruhm seiner Erfindung war, so bedeutend
waren auch die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellten durch die
Umtriebe der Arbeiter an den Pressen; denn sie glaubten ihre Existenz
durch die Maschinen bedroht. Dazu trat die Habgier seines Geschäfts-
teilhabers Bensley feindlich gegen ihn auf; dieser suchte die neue Er-
findung nur zu seinem persönlichen Vorteil auszunützen und durch
allerlei Schliche und Unredlichkeiten König zu verdrängen. Um allen
Streitigkeiten zu entgehen brachte dieser große Opfer und verließ
England.
Nun verband er sich mit Bauer zur selbständigen Ausführung
von Druckerpressen. Die bayerische Negierung überließ ihnen unter
vorteilhaften Bedingungen das ehemalige Kloster Oberzell bei Würzburg,
woselbst sie 1818 eine Fabrik einrichteten. Groß und vielfach aber
waren jetzt die Schwierigkeiten, die ihnen hier bei Ausführung ihrer
Erfindung entgegentraten. Infolge der langen Kriegszeit lag die Industrie
gänzlich danieder; Mechaniker gab es wenige, Maschinenarbeiter fehlten
in Deutschland noch gänzlich. Die beiden Fabrikanten mußten daher
letztere aus Bauernburschen erst heranziehen, sie einzeln abrichten und
in der Handhabung der Werkzeuge unterweisen; ebenso waren sie ge-
zwungen mit den einfachsten Mitteln ihre Gießerei zu gründen, Werk-
zeuge oft selbst anzufertigen u. s. f. Doch gelang es ihrer Tatkraft und
Ausdauer nach vier Jahren zwei Schnellpressen nach verbessertem Ver-
fahren herzustellen. Auch wurde im Laufe von zehn Jahren ihre Fabrik
eine Musterschule für Maschinenarbeiter, die auf den Maschinenbau in
Deutschland von hohem Einflüsse war.
Der Ruf ihrer nun vereinfachten und für Bücherdruck und andere
typographische Arbeiten eingerichteten Pressen vermehrte sich so rasch,
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 7
98
66. Lothar v. Faber.
daß bereits im Jahre 1859 aus ihrer mit 120 Arbeitern besetzten Fabrik
51 Schnellpressen, darunter viele für Frankreich und Rußland, hervor-
gegangen waren und schon im Jahre 1865 die eintausendste Maschine
vollendet wurde.
Ein weiteres Verdienst dieser beiden strebsamen Männer besteht
darin, daß sie die erste Maschinenpapier-Fabrik in Süd- und Westdeutsch-
land (im Kloster Schwarzach) einrichteten.
Manche frühere Entbehrungen, unausgesetzte geistige und körperliche
Anstrengung, dazu ein Herzübel riefen in König während seiner letzten
Lebensjahre dauernde Kränklichkeit hervor und führten am 17. Januar
1833 seinen Tod herbei. Nun führte Bauer in seinem und der Witwe
Königs Interesse die Fabrik in steigender Ausdehnung fort, bis auch ihn
am 27. Februar 1860 der Tod abrief.
„König war ein Mann von hoher wissenschaftlicher Bildung und
feurigem Geiste, von strengem Ehrgefühl und lauterster Redlichkeit."
Wohlwollen gegen jedermann, väterliche Fürsorge für seine Untergebenen,
Anspruchslosigkeit, biederer Sinn und scharfer Verstand bei tüchtiger
wissenschaftlicher Bildung waren die Charakterzüge Bauers.
Nach Pleickhard Stumps.
66. Lothar v. Falber.
Am Ausgange des Mittelalters fing man in Italien an Stifte
aus einer Mischung von Blei und Zinn herzustellen um damit
Linien und Zeichnungen zu fertigen; man nannte sie »Bleistifte«.
Diese Bezeichnung wurde auch auf das jetzt unter diesem Namen
bekannte Schreib- und Zeichnungsmaterial übertragen, obwohl
unsere Bleistifte nicht aus Blei, sondern aus Graphit hergestellt sind.
Solche Bleistifte wurden zum ersten Male 1565 in England
gefertigt, nachdem ein Jahr vorher die berühmte Graphitgrube
zu Borrowdale in Cumberland entdeckt worden war. Mit der
Zeit aber nahm diese Grube, aus deren Graphit die trefflichsten
Stifte gewonnen wurden, an Ergiebigkeit ab; daher fing man im
18. Jahrhundert in Frankreich an als Bindemittel des Graphits
den Ton zu benutzen. Dieses Verfahren führte auch die baye-
rische Regierung in der von ihr im Jahre 1816 errichteten Blei-
stiftfabrik in Obernzell bei Passau ein, die aber bald in Privat-
hände überging.
Die jetzt so ausgedehnte Bleistiftfabrik in Stein, einem Dorfe
unweit der Stadt Nürnberg, führt ihren Ursprung auf einen sehr
bescheidenen Anfang zurück. Im Jahre 1761 hatte nämlich Kaspar
66. Lothar v. Faber.
99
Faber dort mit der Herstellung von Bleistiften begonnen. Der
Absatz aber war gering und Faber fuhr selbst seine Erzeugnisse
auf einem Schubkarren zu den Kaufleuten in Nürnberg und Fürth.
Auch der Sohn und Enkel desselben vermochten dem Geschäfte
keinen Aufschwung zu geben; denn es stand ihnen nicht der
kaufmännische Geist und Betrieb fördernd zur Seite.
Erst als Johann Lothar Faber, der Urenkel des Begründers,
im Jahre 1839 die Leitung der Fabrik übernahm, kam ein neuer
Geist in das Geschäft. Am 12. Juni 1817 geboren, suchte Lothar
sich eine möglichst allgemeine kaufmännische Bildung in Nürn-
berg zu erwerben. Um diese zu erweitern ging er nach Paris,
woselbst das industrielle Leben damals in vollster Blüte stand.
Da traten dem Jüngling zuerst die großartigen Beziehungen,
welche Paris mit dem In- und Ausland unterhielt, lebendig ent-
gegen; er überschaute die Blüte einer freien, regen Industrie, die
Straßen, auf denen der Handel von der Heimat in die Ferne
hinauszieht, das Bild eines großartigen Verkehrs, der kein Pro-
dukt seinem Augenmerk entgehen läßt und einen ewig regen
Wechselverkehr zwischen Anbietern und Abnehmern herbeiführt.
Nun erwachte in ihm die Sehnsucht, auch die vaterländische In-
dustrie zu Ehren und Ansehen zu bringen und sie aus ihren engen
Schranken in den Wettkampf auf dem Weltmarkt zu führen.
Als er mit 22 Jahren infolge des Ablebens seines Vaters im
Jahre 1839 die Leitung der kleinen Fabrik übernehmen mußte,
verfolgte er mit aller Kraft den von ihm gefaßten Gedanken und
Lebensplan. Sein Wahlspruch bildete die Grundlage seines Han-
delns: »Wahrheit, Sittlichkeit und Fleiß«. Er ging eben von der
Überzeugung aus: kein menschliches Werk kann dauernden Er-
folg haben, wenn es in irgend einer Beziehung auf Unwahrheit
beruht oder mit dem Herkommen und den Sittengesetzen in Wider-
spruch gerät oder sich von der Pflicht unermüdeter Tätigkeit
und angestrengten Fleißes lossagt. Für den Besitzer und Leiter
einer Fabrik schienen ihm diese Grundsätze um so unerläßlicher,
als er durch seine Stellung für das Wohl und Wehe so vieler
Menschen verantwortlich ist.
Lothar Faber machte sich bald von den Nürnberger Kauf-
leuten, die bisher die Bleistifte in Verkehr gebracht hatten, unab-
hängig und bereiste selbst einen großen Teil Europas um selb-
ständige Handelsverbindungen anzuknüpfen und an geeigneten
Orten Niederlagen zu errichten. Seine Bemühungen waren so
7*
100
66. Lothar v. Faber.
erfolgreich, daß er bald eine Zweiganstalt in Neuyork unter
seinem Bruder Eberhard gründen konnte, während sein Bruder
Johann ihm in Stein selbst hilfreich zur Seite stand. Auch in
Paris wurde ein Geschäftshaus errichtet und in Italien, Rußland
und England wurden Zweigniederlassungen geschaffen, von denen
aus die Faberschen Bleistifte nach allen Märkten der Erde ver-
breitet wurden. Das treffliche Fabrikat fand allenthalben die
verdiente Anerkennung und wurde auf allen größeren Industrie-
ausstellungen Europas und Amerikas mit goldenen Preismedaillen
gekrönt. Dazu sollte die Fabersche Fabrik durch eine überraschende
Entdeckung in eine ausnahmsweis günstige Lage versetzt werden.
Der russische Großhändler Johann Peter Alibert hatte näm-
lich im Jahre 1847 auf der Höhe des Felsengebirges Batugal,
dem später nach ihm benannten Alibertberge in Sibirien, nahe
an den Grenzen von China, ein großes Lager von Graphit ent-
deckt, der dem Cumberlandschen an Güte gleichkam. Er schloß
mit Faber, als dem größten Fabrikanten, einen Vertrag ab, kraft
dessen dieser gegen eine bedeutende Kapitaleinlage allen Graphit,
welcher aus den sibirischen Bergwerken kommt, zur Bleistift-
fabrikation geliefert erhält. Das neue Material, welches man mit
unsäglicher Mühe zutage fördert und zum nächsten Hafen bringt,
wird teils roh im Naturzustände verwendet teils zu Staub zer-
mahlen und künstlich verarbeitet. Dabei wird ein Grad von
Gleichmäßigkeit, Feinheit, Härte und Reinheit erreicht wie nie
zuvor. Die Faberschen Bleistifte eroberten sich den Weltmarkt
und schlugen die englischen vollständig.
Als Stifthalter und Deckung wird für die feineren Sorten nur
Zedernholz aus Florida verwendet. Faber suchte diese amerika-
nische Pflanze, eine Wacholderart, auch in Deutschland ein-
heimisch zu machen und legte zu diesem Zwecke mit günstigstem
Erfolge eine Pflanzschule auf seinem Mustergute bei Nürnberg
an. — Im Jahre 1861 gründete er auch eine große Schiefertafel-
fabrik zu Geroldsgrün in Oberfranken und schuf dadurch manchem
armen Bewohner des Frankenwaldes eine neue Erwerbsquelle.
Während Faber sich auf jede Weise bestrebte allen Zwecken
der Fabrikation in vollkommener Weise zu genügen, ließ er
zugleich das sittliche und materielle Wohl seiner Arbeiter, deren er
über 1000 beschäftigte, nicht außer acht. Er errichtete nicht bloß
eine Spar- und Kranken-Unterstützungskasse für seine Arbeiter
sondern gründete auch eine Kleinkinder-Bewahranstalt, schuf eine
67. Werner Siemens.
101
Fortbildungsschule, legte eine Bibliothek an, baute Arbeiter-
wohnungen, unterstützte den Bau eines Schulhauses mit Kapital
und ließ aus eigenen Mitteln eine Kirche in Stein aufführen.
Für all diese seine Tätigkeit fand Faber auch die wohl-
verdiente äußere Anerkennung. So wurde er 1864 zum lebens-
länglichen Mitgliede des bayerischen Reichsrates ernannt und
1881 von König Ludwig II. in den erblichen Freiherrnstand des
Königreichs erhoben.
Als Reichsrat erhielt er reiche Gelegenheit seine bewährten
Lebensanschauungen im öffentlichen Leben zur Geltung zu
bringen; und wie er bisher für seine Arbeiter segensreich gewirkt
hatte, so war er nun auch für das Wohl des ganzen Landes
tätig. Besonders trat er mit aller Entschiedenheit seines Charakters
für die Entwicklung des Gewerbe- und Schulwesens ein. Großes
Verdienst gebührt ihm auch für seine Bemühungen zur Errich-
tung des Gewerbemuseums in Nürnberg.
Bis in sein hohes Alter hinein widmete sich Faber in voller
körperlicher und geistiger Rüstigkeit unermüdet den Arbeiten
seines Geschäftes. Da riß ihn am 26. Juli 1896 der Tod aus
seiner rastlosen Tätigkeit und seinem segensreichen Wirken. —
Faber ist uns ein Beispiel, wie unermüdete Tätigkeit, rast-
loses Vorwärtsstreben und strenge Ehrlichkeit den Mann von
Stufe zu Stufe emporheben zu seinem und seiner Mitbürger Glück
und Ehre.
67. Werner Siemens.
Vor 6O Jahren brauchten Mitteilungen noch Tage und Wochen,
bis sie an verhältnismäßig nicht weit entfernte Orte gelangten; jetzt
werden in wenigen Minuten, ja Sekunden wichtige Nachrichten nach
allen Ländern der Erde verbreitet. Wem verdanken wir diesen groß-
artigen Aufschwung?
Der Telegraph ist es, der das Wort mit Gedankenschnelle weiter
trägt. Zu seiner Einführung in Deutschland wie zur Vervollkommnung
und praktischen Verwendung desselben hat Werner Siemens viel bei-
getragen.
Ernst Werner Siemens, der älteste von fünf Brüdern, die sich
durch Erfindungen hervorgetan haben, ist am 13. Dezember 1816 in
Lenthe bei Hannover geboren, wo sein Vater als Amtmann, d. i. Kron-
gutpüchter, tätig war. Werner erhielt seine erste Jugendbildung auf
dem Gymnasium zu Lübeck, da diese Stadt dem späteren Wohnsitze
102
67. Werner Siemens.
seiner Eltern am nächsten lag. Früh zeigte der Knabe einen hervor-
ragenden Sinn für Naturwissenschaften und technische Fragen. Im
18. Jahre trat er als Freiwilliger zu Magdeburg in die preußische
Artillerie ein. Als er den praktischen Dienst mit der Waffe erlernt hatte,
konnte er im Jahre 1835 die Artillerie- und Ingenieurschule zu Berlin
beziehen. Er fand hier reichliche Gelegenheit neben seiner militärischen
Tätigkeit auch das Studium der Mathematik, Physik, Chemie und Techno-
logie zu pflegen. Nach zwei Jahren kehrte er als Unterleutnant zu
seinem Regimente zurück und setzte seine begonnenen Studien eifrigst fort.
Bald machte er Versuche um den Zusammenhang der Dinge nach Ursache
und Wirkung zu erkennen. Als erste Frucht dieser seiner Arbeiten ergab
sich ein neues Verfahren für Herstellung von Vergoldungen und Ver-
silberungen auf galvanischem Wege. Er erkannte sofort, daß dieses Er-
gebnis auch wirklichen Wert habe, und nahm 1841 auf seine Ersindnng
ein preußisches Patent.
Zu jener Zeit waren neue Versuche aufgetaucht die von Stirling
1816 erfundene Heißluftmaschine umzugestalten und für das Gewerbs-
leben nützlich zu machen. Das veranlaßte auch Werner Siemens mit
seinen Vorschlägen für die Einrichtung einer derartigen Maschine hervor-
zutreten. Er veröffentlichte darüber 1844 einen Aufsatz nebst Zeichnung.
Diese Arbeit ist für die Geschichte der Technik von bleibender Bedeutung.
Seinen Bruder Wilhelm sandte er nach England, um seine sinnreiche
Einrichtung der Regulatoren (mit Differentialwirkung) für Wärme-
maschinen zur Verwertung zu bringen. Er selbst war inzwischen nach
Berlin zur Dienstleistung bei den Artilleriewerkstätten beordert worden;
hier fand er für seine Neigungen ein angemessenes Arbeitsfeld und kam
auch mit gleichgesinnten jungen Männern in Berührung. Die An-
wendung des elektrischen Funkens zur Messung der Geschwindigkeit der
Geschosse im Rohr und außerhalb desselben stammt aus dieser Zeit von
ihm und bedeutet einen gewaltigen Fortschritt. Hierdurch angeregt, erfand
er auch einen von den früheren Apparaten abweichenden Zeigertelegraphen
mit Selbstunterbrechung. Dieser 1847 patentierte Apparat fand rasch
große Verbreitung auf den deutschen Eisenbahnen. Um die Telegraphen-
leitungen besser zu isolieren umgab er die Drähte mit Guttapercha.
Sein Versuch gelang und erregte großes Aufsehen. Infolge davon
wurde Siemens 1847 in die preußische Kommission für Einführung
elektrischer Telegraphen berufen. Im Jahre 1848 legte er unter An-
wendung derart isolierter Leitungen die ersten unterseeischen Minen mit
elektrischer Zündung im Hafen von Kiel. Während seines dortigen Auf-
enthaltes entwarf und leitete er auch den Bau jener berühmten Strand-
67. Werner Siemens.
103
batterie zum Schutze des Hafens von Eckernförde, die 1864 den Dänen
so verhängnisvoll werden sollte.
Zur Verwertung seiner Erfindungen auf telegraphischem Gebiete
gründete er im Jahre 1847 gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Halste
die Firma Siemens & Halste, deren Kabel und Drähte den Erdball
umspannen und welche die Geburtsstätte so vieler Erfindungen auf
elektrischem Gebiete geworden ist.
Im Winter 1848/49 baute Siemens im Auftrage der preußischen
Regierung die erste längere Telegraphenlinie auf dem europäischen Fest-
lande von Berlin nach Frankfurt. Von Berlin nach Eisenach war sie
unterirdisch; dabei verwendete er Drähte mit seiner Guttaperchaumhüllung;
von Eisenach bis Frankfurt lief die Leitung oberirdisch auf Stangen
mit den von ihm erfundenen Glockenisolatoren. Im Jahre 1849 schied
Siemens aus dem Heere um sich ausschließlich dem Telegraphenwesen
zuzuwenden; er verblieb aber noch einige Zeit im Staatsdienste, da er
den Bau einer Anzahl großer Telegraphenlinien in Deutschland zu Ende
führen wollte.
Bei diesen Arbeiten sammelte er höchst wertvolle Erfahrungen;
namentlich lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Ursachen der Störungen
des Telegraphenbetriebs sowie die Hilfsmittel zu deren Beseitigung und
gab die erste Anweisung zum Auffinden von Fehlern in den Leitungen.
In einer Schrift trat er kräftig für die unterirdischen Leitungen ein
und empfahl die Guttapercha gegen schädliche Einflüsse durch eine Blei-
umhüllung zu schützen.
Bald versuchte er auch die mehrfache Telegraphie; es sollte ein
und derselbe Telegraphendraht zum Hin- und Zurücktelegraphieren be-
nützt werden. Zu diesem Zwecke verband er sich mit Frischen 1854.
Dieser hatte schon das Gegensprechen auf der Linie Hannover-Göttingen
zur Anwendung gebracht. Mit ihm erfand er nun das neue Verfahren
zum Gegensprechen.
Von 1850 an gründete er mit Hilfe seiner Brüder Karl, Wilhelm und
Walter Zweigniederlassungen der Firma Siemens & Halske in Peters-
burg, Wien, London, Paris und Tiflis. Er überzog fast ganz Rußland
mit Telegraphenlinien, legte unterirdische Kabel an zwischen Petersburg
und Kronstadt, durch das Rote Meer nach Indien, zwischen Europa und
Amerika. Durch viele Verbesserungen und neue Erfindungen und späterhin
durch Vervollkommnung des Telephons hat Werner Siemens mit seinen
Mitarbeitern gemeinsam in erster Linie dazu beigetragen das Telegraphen-
wesen zu der Höhe zu heben, auf der es nunmehr eine vollständige
Umwandlung der menschlichen Verkehrsvcrhältnisse hervorgebracht hat.
104
68. James Watt.
Noch mit vielen anderen wichtigen Erfindungen hat der immer
rührige Mann unsere Zeit beglückt. Er wußte nicht nur die zur Mit-
arbeit geeigneten Kräfte aufzufinden, sondern er verstand es auch den-
selben ein selbständiges Feld der Tätigkeit zuzuweisen. Durch Abhand-
lungen und geistreiche Vorträge wirkte er überall anregend und fördernd.
Auch stellte er sein Vermögen in uneigennütziger Weise in den Dienst
der Wissenschaft und des praktischen Verkehrs. Hat er doch 1886 mit
hochsinniger Opferwilligkeit den Reichsbehörden zur Gründung einer
Reichsanstalt für physikalisch-technische Untersuchungen eine halbe Million
Mark zur Verfügung gestellt I Am 6. Dezember 1892 ereilte den un-
ermüdlichen Mann der Tod.
An vielen äußeren Ehren und Auszeichnungen hat es Werner
Siemens für sein Schaffen und Streben nicht gefehlt; aber größer wird
die Auszeichnung sein, daß neben den großen Männern, welchen wir die
Wiedergeburt unseres Vaterlandes verdanken, die Nachwelt auch Werner
Siemens rühmend nennen wird; denn durch ihn sind die unserer Zeit
eigentümlichen Fortschritte des naturwissenschaftlichen Erkennens der ge-
samten Menschheit dienstbar gemacht worden.
Nach d. Leseb. v. Vollmer u. Dorenwell.
68. James Walt.
James Watt, der Schöpfer der heutigen Dampfmaschine, war einer
der fleißigsten und beharrlichsten Männer, die je im Dienste der Mensch-
heit gearbeitet haben.
Als Sohn armer, aber ehrbarer Eltern wurde er am 19. Januar
1736 in der schottischen Stadt Greenock geboren. Obwohl geweckten
Geistes, vermochte er infolge seiner schwachen Gesundheit sich nur eine
mangelhafte Schulbildung anzueignen; erst in den beiden letzten Jahren
des Schulbesuches traten seine ausgezeichneten Fähigkeiten besonders für
das Studium der Mathematik mehr hervor.
Durch Kränklichkeit gezwungen, verlebte er seine jungen Jahre in
stiller Zurückgezogenheit und gewöhnte sich früh an Nachdenken und
Forschen.
Aus allen seinen Spielen machte er bei der großen Regsamkeit
seines Geistes Studien; schon als sechsjähriger Knabe zeichnete er wieder-
holt geometrische Figuren mit Kreide auf den Boden. Sein und seiner
Kameraden Spielzeug zerlegte er und fügte es geschickt wieder zusammen,
ja, es gelang ihm sogar zum Erstaunen aller eine Elektrisiermaschine
zusammenzusetzen. — Eines Tages beobachtete er, während seine An-
gehörigen Tee brauten, mit der größten Aufmerksamkeit, wie der Deckel
68. James Watt.
105
Des Teekessels sich hob und senkte und wie der Dampf, der aus der
Kanne aufstieg, an seinem Löffel oder an seiner Tasse zu Wasser wurde.
Es hatten sich in dieser Stunde die ersten Keime von der Idee der Ver-
dichtung des Dampfes in seinen Geist gesenkt.
Mit 19 Jahren trat Watt bei einem berühmten Verfertiger von
Reißzeugen und Meßinstrumenten in London in die Lehre; er arbeitete
und studierte mit solchem Fleiß, daß er nach Verlauf eines Jahres
zur selbständigen Arbeit befähigt war. Aber infolge einer Erkältung
und ernster Erkrankung war er gezwungen nach Schottland zurück-
zukehren.
Die Luftveränderung war von heilsamer Wirkung. Bald nach
seiner Genesung gründete er in Glasgow eine Werkstätte. Zwar wider-
setzten sich die Zünfte seiner Niederlassung aufs hartnäckigste; aber der
Verwaltungsrat der Universität nahm ihn unter seinen Schutz und
machte ihn zum Universitätsmechaniker. — Seine Geschicklichkeit, sein
Eifer und sein Fleiß brachten ihn bald in den Ruf großer Tüchtigkeit;
durch die Trefflichkeit seiner Gedanken und die Richtigkeit seiner Schlüsse
setzte der 21 jährige Arbeiter die Männer der Wissenschaft und Kunst
in Erstaunen. Lehrer und Schüler achteten den jungen Meister und
suchten seinen Umgang. Im Jahre 1763 errichtete Watt eine selbständige
Werkstätte und verheiratete sich mit seiner Base; ihr reicher Geist und
ihr heiteres Gemüt entriß ihn der Entmutigung und Menschenscheu, der
er durch seinen leidenden Zustand und seine nicht gerade günstigen Geld-
verhältnisse verfallen war.
Da gab ein glücklicher Umstand seinem Geist eine neue Richtung.
Die Hochschule übertrug ihm die Ausbesserung eines Modells einer alten
Newcomenschen Dampfmaschine. Bevor er an die Arbeit ging, vertiefte
er sich mit gewohnter Gründlichkeit in die Wissenschaft über die Natur
der Wärme und des Dampfes; auch suchte er mit emsigem Eifer seine
Kenntnisse in der Mechanik und im Baufach zu ergänzen und zu er-
weitern. Dann erst begann der gewissenhafte Mann mit der Ausbesse-
rung des Modells. Er erkannte, daß bei demselben dadurch sehr viel
Wärme verloren ging, daß man die Dämpfe in demselben Zylinder ver-
dichtete, in welchem der Kolben sich bewegte. Nach verschiedenen Ver-
suchen kam er auf den glücklichen Einfall in einem besonderen Behälter,
getrennt von dem Zylinder, in welchem das Wasser in Dampf verwandelt
wurde, den Dampf zu verdichten; es war dann nicht mehr nötig den
Zylinder durch kaltes Wasser abzukühlen. Dadurch wurde ganz be-
deutend an Kohlenbedarf gespart, dagegen Kraft gewonnen und der Gang
der Maschine ruhiger und genauer. Diese geistreiche Vorrichtung, die
w~
106 68. James Watt.
Erfindung des Kondensators, hat Watts Namen unsterblich gemacht. Er
ist dadurch der Erfinder der heutigen Dampfmaschine geworden.
Im Jahre 1768 nahm Watt, der fast beständig mit äußeren Wider-
wärtigkeiten zu kämpfen hatte, ein Patent auf seine Erfindung und ver-
band sich mit einem unternehmenden Mann zur Gründung einer Gesell-
schaft für Herstellung dieser neuen „Feuermaschinen", wie man sie nannte.
Von derselben unterstützt, baute er eine Dampfmaschine für eine Stein-
kohlengrube. Nach und nach wurde sie noch verbessert, bis sie einen
hohen Grad der Vollkommenheit erreichte und sich vortrefflich bewährte.
— Allein die Gesellschaft erlitt außerordentliche Verluste und Watt
sah sich mit einem Schlage wieder in seine frühere drangvolle Lage zu-
rückversetzt. In seiner Genügsamkeit arbeitete er wieder unverdrossen als
Landmesser und Baumeister.
Seine Freunde aber brachten ihn mit einem ausgezeichneten Ge-
schäftsmann, Boulton von Sohr bei Birmingham, in Verbindung. Dem
Scharfblicke dieses unternehmungslustigen Mannes war die große Be-
deutung der neuen Erfindung nicht entgangen; er hatte auch die Mittel
und den Mut sie praktisch zu verwerten. Es war ein Glück, daß die
echte Erfindernatur und der gewiegte Geschäftsmann sich zusammenfanden.
Worin Watt sich schwach bewies, das war Boultons Stärke: Watt war
in seinem stillen Sinn und seiner Neigung zu einsamer Arbeit dem un-
ruhigen Geschäftstreiben entschieden abhold; Boulton dagegen war der
gediegene, einflußreiche Geschäftsmann. Er stellte sein ganzes großes
Vermögen zum Bau Wattscher Maschinen zur Verfügung. Bald ent-
standen ausgedehnte Werkstätten; in denselben wurden zunächst Schöps-
pumpen von ungewöhnlicher Größe für Bergwerke gebaut und diesen
unentgeltlich abgelassen; nur mußten diejenigen, welche die Maschinen
brauchten, ein Drittel des an Kohlenbedarf ersparten Geldes an Watt
und Boulton abgeben. Das ergab bei der großen Ersparnis von Heiz-
material bedeutende Summen; die Gesellschaften boten bald viel Geld,
wenn man sie von der freudig eingegangenen Verbindlichkeit löse.
Die folgenden 10 Jahre waren für Watt die an Ideen fruchtbarsten
seines Lebens. Außer einer Reihe durchgreifender Verbesserungen der
Dampfmaschine, durch welche sie allmählich ihre jetzige Gestalt erhielt,
erfand er eine Maschine zum Briefabschreiben, eine Vorrichtung zum
Trocknen von Geweben mittels eingeschlossenen Wasserdampfes, einen
Mikrometer zur Messung der Entfernungen u. s. w.
Im Jahre 1800 überließ er seinem Sohne das Geschäft. Er selbst,
der durch seine Arbeiten zum reichen Mann geworden war, zog sich auf
sein Gut bei Birmingham zurück. Hier verlebte der Begründer der
69. Georg Stephenson.
107
britischen Gewerktätigkeit, stets leutselig, bescheiden und gemeinsinnig,
seinen Lebensabend in körperlicher und geistiger Frische. Am 25. August
1819 starb er im 83. Lebensjahre.
69. Georg Stephenson.
Um die Fuhrwerke, mit denen die Götterbilder umhergefahren
wurden, auf den Tempelstraßen leichter fortbewegen zu können, hatten
die alten Griechen Spurstraßen in Stein ausgehauen. Ebenso waren
schon frühzeitig in den Bergwerken Spurbahnen im Gebrauch, auf denen
die mit Rädern versehenen Holzkasten fortgerollt wurden. Als 1767 die
Eisenpreise bedeutend sanken, führten einige englische Eisenwerkbesitzer statt
der bisherigen hölzernen Langschwellen der Spurbahnen solche aus
Eisen ein. Diese Art wurde auch später beibehalten, nur wurde das Guß-
eisen durch Walzeisen ersetzt.
Als bewegende Kraft für die Fortschassung der Lasten auf diesen
Spurbahnen wurden zuerst hauptsächlich Pferde verwendet. Der erste
Versuch Kohlenwagen auf solchen Spurbahnen durch Dampfmaschinen
fortzuziehen wurde 1804 in Süd-Wales gemacht. Die wesentlichste Ein-
richtung und Vervollkommnung der Dampfmaschine zum Fortziehen von
Lasten verdanken wir aber dem geistreichen Stephenson, der mit Recht
der Erfinder der Lokomotive und damit der Begründer des Eisenbahn-
wesens genannt werden kann.
Als Kind eines armen Maschinenheizers wurde Georg Stephen-
son am 9. Juni 1781 in dem Arbeiterdörfchen Wylem bei Newcastle
im nördlichen England geboren. Schon in frühester Jugend mußte er
durch Kühhüten zum Unterhalte der in dürftigen Verhältnissen lebenden
Familie beitragen. Doch ließ ihm diese Beschäftigung Zeit genug seiner
Lieblingsneigung zu folgen; er verfertigte Pfeifen, baute Mühlenräder,
die das vorüberfließende Büchlein trieb, und stellte Maschinen aus
Lehm her.
Sein Streben war nur darauf gerichtet gleich seinem Vater an
einer Maschine beschäftigt zu werden. Bald sollte sein Wunsch in Er-
füllung gehen. Nachdem er einige Zeit mit seinem älteren Bruder als
Hilfsbursche in den Kohlenwerken gearbeitet und das Maschinenpferd
getrieben hatte, wurde er Gehilfe seines Vaters, bald selbst Heizer und
mit 17 Jahren Wärter einer Dampfmaschine an einem Kohlenschacht.
Er ließ es sich nun ernstlichst angelegen sein die Maschine in allen
ihren Teilen kennen zu lernen. In seinen Mußestunden zerlegte er sie,
stellte sie wieder zusammen, suchte die einzelnen Teile auszubessern und
108
69. Georg Stephenson.
studierte sie bis in die kleinsten Einzelheiten. Nie ging er über anscheinend
kleine Dinge hinweg, sondern bemühte sich alles gründlich und möglichst
gut zu tun. Dadurch wurde er allmählich der geschickte Arbeiter, den
später alle Welt bewunderte.
War Georg zwölf Stunden bei seiner Maschine beschäftigt gewesen,
so eilte er am Abend zur Schule um das Wissenswerteste sich anzu-
eignen. Denn bis zu seinem 18. Jahre war es ihm noch nicht gegönnt
gewesen eine Schule zu besuchen. Jetzt benutzte er jede Minute um
lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Daneben beschäftigte er sich noch
mit Schuhmacherei und dem Reparieren von Uhren. Nur seiner kräftigen
Gesundheit hatte er es zu verdanken, daß er so ausdauernden Fleiß
betätigen konnte.
Aber sein Streben wurde auch belohnt. Durch Fleiß, Sparsam-
keit und Mäßigkeit hatte er es dahin gebracht, daß er im Alter von
22 Jahren schon seinen eigenen Hausstand begründen konnte. Aber
auch jetzt ruhte er nicht. Jede freie Abendstunde verwendete er zu seiner
Ausbildung und zur Herstellung von Modellen und Apparaten. Da traf
ihn ein herber Schlag durch den Tod seines treuen Weibes. Aber er
fand in der Arbeit den Wunderbalsam, dem selbst der schwerste Kummer
weichen muß. Doch erschöpften die Sorgen für seinen erblindeten Vater
und die Ausgaben für einen Ersatzmann beim Militär seine geringen
Ersparnisse. Georg verzagte nicht; nach wie vor verrichtete er seine
Dienste an der Maschine, flickte Schuhe, reparierte Uhren und schnitt
sogar den Frauen das Tuch zu den Kleidern zu.
Da gelang es ihm einst eine unbrauchbar gewordene Dampfmaschine
wieder in Gang zu setzen sowie eine Pumpmaschine zweckentsprechend
herzurichten. Dadurch lenkte der bescheidene Mann die Aufmerksamkeit
der Ingenieure und Bergwerksbesitzer auf sich. Im Jahre 1812 wurde
er als Maschinenmeister angestellt. Nun erhielt er ein höheres Einkommen
und hatte auch mehr freie Zeit. Diese verwendete er namentlich dazu
eine Idee, die ihn schon länger beschäftigte, nämlich die Herstellung eines
Dampfwagens, zu verwirklichen. Nach langem, gründlichem Studium
legte er den Pächtern der Kohlengruben, bei denen er als Maschinen-
meister angestellt war, den Plan zum Bau einer Lokomotive vor. Sie
gaben ihm das erforderliche Geld und nach zehnmonatlicher Arbeit
wurde am 25. Juli 1814 die erste Lokomotive in Bewegung gesetzt.
Die Maschine war unstreitig die beste von allen, die bis dahin gebaut
worden waren; aber Stephenson war dennoch nicht zuftieden mit ihr.
Doch brauchte er zur Ausführung seiner Gedanken viel Geld. Und dies
brachte ihm die Erfindung einer Sicherheitslampe für Grubenarbeiter.
69. Georg Stephenson.
109
Mit dem ihm hierfür geschenkten Ehrenpreis gründete er eine eigene
Maschinenfabrik, die hauptsächlich mit dem Bau und der Verbesserung
der Lokomotiven sich beschäftigte. Nun wurde unter der Leitung
Stephensons die erste für den allgemeinen Verkehr bestimmte Eisenbahn
von Stockton nach Darlington erbaut und 1825 vollendet. Freilich
gingen die Lokomotiven kaum rascher als ein Pferd; aber Stephenson
verfolgte seine Erfindung weiter und vervollkommnete sie immer mehr.
Zur Geltung kam sie erst durch die Eisenbahn zwischen der nament-
lich für die Einfuhr von Wolle damals bedeutsamen Hafenstadt Liver-
pool und der betriebsamen Fabrikstadt Manchester. Aber welche Kämpfe
hatte der geistreiche Erfinder zu bestehen um die neue Einrichtung durch-
zusetzen ! Die Landbesitzer, die Pächter und Bauern, wie ein großer Teil
der Städter stellten sich dem Unternehmen feindlich gegenüber und die
Gelehrten wie das Parlament behandelten Stephenson als einen un-
fruchtbaren Schwärmer. Trotzdem ließ sich der unermüdliche Mann,
der in einem mehr als 40 jährigen Leben mit Schwierigkeiten aller Art
gekämpft hatte, nicht abschrecken unentwegt sein Ziel zu erringen. Und
der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Als am 15. September 183O
die neue Bahn eröffnet wurde, war dies ein nationales Fest, zu dem
eine große Menge Menschen herbeiströmte. Stephenson hatte versprochen,
daß seine Maschine die Schnelligkeit von 16 km in der Stunde erreichen
werde, und siehe, sie bewegte sich mit einer durchschnittlichen Geschwindig-
keit von 24 km in der Stunde fort und gewann den Preis über alle
anderen Maschinen. Die von ihm erbaute Maschine „Rakete" zeigte als
wichtigste Einrichtung das Blasrohr, durch welches der Dampf in den
Schornstein stieg und so den nötigen Zug hervorrief, sowie den Röhren-
kessel. Dadurch wurde die größte Umwandlung in der Mechanik seit
der Erfindung der Dampfnmschine durch Watt hervorgebracht. Stephen-
sons Ruhm war gesichert; auch erwarb er sich bald ein bedeutendes
Vermögen. In Verbindung mit seinem Sohne Robert brachte er die
Dampswagen zu großer Vollendung und lieferte für die allenthalben
entstehenden Eisenbahnen die ersten Lokomotiven. Bald waren die
wichtigsten Städte Englands durch Eisenbahnen verbunden und mit
einer wahrhaft wunderbaren Schnelligkeit ging die Ausbreitung der
Eisenbahnen vor sich. Das Eisenbahnzeitalter begann. Als Zeichen
des Dankes für die von Stephenson dem Eisenbahnwesen wie der
Industrie überhaupt geleisteten Dienste wurde seine Bildsäule in New-
castle auf der großen Eisenbahnbrücke über den Tyne aufgestellt. Er
selbst starb, reich an Gütern, am 12. August 1848. — Nicht nur sein
Geschick als Techniker und Erfinder sondern auch seine unverwüstliche
110
69. Georg Stephenson.
Ruhe und Ausdauer zwingen uns die vollste Bewunderung ab. Wurde
er auch verkannt, verfolgt und angefeindet, fo ermutigte ihn dies nur
noch mehr unverzagt weiter zu kämpfen und zu ringen. Seine Erfolge
machten ihn nicht wankend in seiner Bescheidenheit, Selbstentsagung und
Aufopferungsliebe im Dienste der Menschheit.
Stephensons großartige Erfindung hat in Verbindung mit Dampf-
schiffahrt und elektrischer Telegraphie einen neuen Kulturabschnitt für
alle Völker der Erde herbeigeführt. Zeit und Raum werden überbrückt,
die Entfernungen verschwinden, die Produktionsgebiete fließen ineinander
über, die Menschen werden einander näher gerückt und dadurch in ihrer
Kulturentwicklung gefördert.
Die Unsterblichkeit ist ein großer Gedanke,
Ist des Fleißes der Edlen wert.
Wer den Besten seiner Zeit genug getan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.
Nur wenn Glück und Fähigkeit sich einen
Mit dem Willen, wird dem Mann der Lohn.
König Ludwig I.
Ein weiser Mann stirbt nicht ganz, er lebt durch seine Werke immer.
Der Mensch, der nützen will, muß denken, suchen, vergleichen, überlegen
und dann erst aus dem Besseren wählen und das Gewühlte zweckmäßig
anlegen und durchzuführen suchen. Kremmayr.
Gott, dein Licht! dann sehen wir, was wir tun sollen;
Gott, deine Kraft! dann wollen wir, was wir sollen;
Gott, deinen Segen, dein Gedeihen! dann vollbringen wir,
was wir wollen.
Newton.
Klopstock.
Schiller.
III. Teil.
Achte unii ehre den Staut and seine Einrichtungen!
Das ist der größte Vorteil für die Menschhett,
Daß jeder für die andern alles tue
Und jeder von den allen es empfange.
Wie wenig bringt der einzelne dem Ganzen,
Wie viel empfängt der einzelne von allen! s^efer.
Heil'ge Ordnung, segensreiche
Himmelstochter, die das Gleiche
Frei und leicht und freudig
bindet,
Die der Städte Bau gegründet,
Die herein von den Gefilden
Rief den ungeseü'gen Wilden,
Eintrat in der Menschen Hütten,
Sie gewöhnt zu sauften Sitten
Und das teuerste der Bande
Wob, den Trieb zum Vater-
lande!
70. Aie
In der Heiligen Schrift wird uns
ein Weib zuführte, weil es ihm nicht
Dadurch setzte Gott die Ehe ein. Auf
Taufend fleiß'ge Hände regen,
Helfen sich in munterm Bund
Und in feurigem Bewegen
Werden alle Kräfte kund.
Meister rührt sich und Geselle
In der Freiheit heil'gem Schutz;
Jeder freut sich seiner Stelle,
Bietet dem Verächter Trutz.
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis;
Ehrt den König seine Würde,
Ehret uns der Hände Fleiß.
Schiller.
Aamitie.
Immer geht vom HauSwesen jede wahre und
beständige und echte Volksgröße aus; im Familienglück
lebt die Vaterlandsliebe und der Hochaltar unseres
Volkstums steht im Tempel der Häuslichkeit; für sie
kann jeder leben, er sei reich oder arm. vornehm oder
gering, einfältig oder gelehrt. Mann oder Weib.
Jahn.
berichtet, daß Gott der Herr dem Adam
gut schien, daß der Mensch allein sei.
dieser beruht die Familie. Von ihr ist
112
70. Die Familie.
alle Entwicklung ausgegangen. Die erste Stufe derselben ist das Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern. Selbst in der Tierwelt zeigt es sich, daß die
Alten für ihre Jungen sorgen. Habt ihr es nie betrachtet, wie der Vogel unab-
lässig Nahrung herbeiholt seine hungrigen Jungen zu speisen? Wie ist die Henne
ängstlich besorgt um ihre Küchlein! Ist es nicht rührend zusehen, wie sie die
Kleinen unter ihre Flügel sammelt um sie zu schützen und zu wärmen? Die
Reisenden erzählen uns, daß auch unter den wilden Völkern, die jeder andern
Ordnung Hohn sprechen, ein Band der Liebe zwischen Eltern und Kindern
besteht, das sich hauptsächlich in der Sorge der Mutter für das leibliche Leben
der letzteren kundgibt. Bei den gesitteten Völkern, besonders bei den christlichen,
begnügen sich Vater und Mutter nicht, dem Kinde die notdürftigste Nahrung
zu reichen; sie trachten vielmehr aufs eifrigste darnach, daß ihre Kinder auch der
geistigen und sittlichen Güter, welche die Bildung gewährt, teilhaftig werden.
Auch die Großeltern, Paten und Vettern sind den Kindern in Liebe zugetan;
sie alle nehmen Anteil an der Sorge für das leibliche und geistige Wohl der
Kinder. Frühmorgens versammelt der Vater die Familienglieder zum Morgen-
gebet; das nannten unsere Vorfahren Morgensegen, weil von ihm ein Segen
über die Tagesarbeit ausgeht. Die Mutter ist vom frühen Morgen an mit
der Wartung der Kinder und der Besorgung des Hauswesens beschäftigt, sie
ruhet nimmer; sie lehret die Mädchen und wehret den Knaben. Reinlich müssen
die Kleinen zur Schule gehen, pünktlich treffen sie dort ein; treu und fleißig
erledigen sie ihre häuslichen Aufgaben.
Der Vater geht seinem Geschäfte und Berufe nach, ihm obliegt die Er-
haltung und Förderung der Seinen. Die Kinder ehren und achten ihre Eltern
und gehorchen ihnen freudig. Ohne Murren folgen sie den Worten des Vaters;
gern beachten sie die mahnende und warnende Stimme der Mutter. Liige und
Unredlichkeit wird nicht geduldet, sondern hart bestraft. Da hört man keine
rohen Worte und keinen Fluch. Freundlich und höflich begegnen alle Familien-
glieder einander; den Fremden kommt man gastfreundlich entgegen. Am Sonntag
ziehen alle ihre guten Kleider an und begeben sich zur Kirche. Auch das Kind
soll frühzeitig die Stätte lieb gewinnen, an der man Gottes Ehre predigt.
Am Sonntag nachmittag gehen die Eltern mit ihren Kindern hinaus in Gottes
schöne Natur. Da werden die Kleinen hingewiesen auf den Segen des Schöpfers,
der sich in Wald und Flur zeigt.
So wird die Familie zu der Stätte, wo die Kinder die ersten und nach-
haltigsten Anregungen für alle Tugenden empfangen. Gottesfurcht und Vater-
landsliebe, Treue und Gehorsam, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, Ordnungs-
liebe und Pünktlichkeit, Fleiß und Aufmerksamkeit, das sind Tugenden, die
jeder Mensch besitzen muß, wenn er ein glücklicher Mensch und ein tüchtiges
Glied der menschlichen Gesellschaft sein will. Die hohe Bedeutung der Familie
hat die Kirche erkannt; darum legt sie ihr eine besondere Heiligkeit bei. Aber
auch der Staat weiß, welchen Wert ein gutes Familienleben für ein geordnetes
Staatswesen hat. Ist doch der kindliche Gehorsam die Vorschule für den staats-
71. Die Gemeinde.
113
bürgerlichen Gehorsam; wurzelt doch in der Liebe zur Familie die Vaterlands-
liebe. Darum unterstützt der Staat auch die Familie. Seine Gesetze über
die Ehe, das Eigentum, das Erbrecht sowie seine Fürsorge für Witwen und
Waisen zeigen das. Nach Schanzes Lesebuch.
71. Pie Gemeinde.
Öfters kommt es vor, daß eine einzige Familie einen Ort bewohnt;
gewöhnlich entsteht aus der Vereinigung mehrerer nachbarlich nebeneinander
wohnenden Familien eine Ortschaft, welche für sich ein Gemeindegebiet mit einer
politischen Gemeinde bilden kann. In der Regel jedoch gehören zu einer
politischen Gemeinde mehrere nebeneinander liegende Ortschaften. Die Politische
Gemeinde bildet unter der Oberaufsicht des Staates eine öffentliche Körperschaft
mit dem Rechte der Selbstverwaltung nach Maßgabe der Gesetze und erfüllt
innerhalb des örtlichen Verbandes die ihr eigentümlichen Zwecke. Nach der
Gemeindeorduuug (vom 29. April 1869 und 19. Januar 1872) gibt es Ge-
meinden mit städtischerVerfassung und Gemeinden mit Landgemeinde-
verfassung; für die Marktgemeinden gilt in der Regel die städtische
Verfassung.
Die wichtigsten Körper der Selbstverwaltung sind in Deutschland von jeher
die Orts g em eind en (auch Gemeinden schlechthin genannt) gewesen; sie
unterscheiden sich von den größeren kommunalen Verbänden oder den politischen
Gemeinden dadurch, daß sie auf dem unmittelbaren nachbarschaftlichen
Zusammeuwohnen der Genossen beruhen und unter der Leitung eines Orts-
führers die gemeinsamen Interessen des engsten räumlichen Verbandes besorgen.
Neben der politischen oder bürgerlichen Gemeinde bestehen für die ver-
schiedenen religiösen Bekenntnisse die kirchlichen Gemeinschaften, denen als
Kirchengemeinden die Bedürfnisse ihrer Mitglieder obliegen. Sie bauen
und unterhalten meist auch ihre Kirchen; außerdem leiten sie mit ihren Geist-
lichen und den aus der Kirchengemeinde erwählten weltlichen Vertretern ihre
Angelegenheiten selbständig. Die politische Gemeinde umfaßt oft räumlich das
gleiche Gebiet wie die Kirchengemeinde; es kommt aber auch vor, daß die
politische Gemeinde von größerem oder kleinerem Umfang ist als die Kirchen-
gemeinde. Es kann also der Fall eintreten, daß die Kirchengemeinde mehrere
politische Gemeinden umschließt.
Wie der Staat sein Staatsgebiet, so hat die politische Gemeinde ihr Ge-
meindegebiet; wie der Staat, so hat auch sie ihre Bürger, nämlich die Ge-
meindebürger, ihren Grund und Boden, ihre Obrigkeit, ihre Verfassung und
Verwaltung. Sie gleicht in Bezug auf den Zweck dem Staate, nur findet der
Zweck in den räumlichen Interessen der politischen Gemeinde seine natürliche Grenze.
In der Gemeinde handelt es sich darum, daß die gemeinsamen Ange-
legenheiten einer Mehrzahl von Personen so besorgt werden, wie es den
Zwecken des Ganzen und den Bedürfnissen des einzelnen am besten entspricht.
Solcher gemeinsamen Angelegenheiten gibt es viele, selbst in der kleinsten Gemeinde.
Dahin gehört z. B. die Anlage und Unterhaltung von Straßen und öffent-
lichen Bauten, wie des Rathauses, der Kirchen, Schulen, Spitäler, Waisen-
häuser, Wasserleitungen u. s. w., ferner die Verwaltung des gemeinsamen Ver-
mögens. Denn in der Regel besitzt eine Gemeinde Äcker, Wiesen, Wälder oder
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. • 8
i 14
71. Die Gemeinde.
andere Liegenschaften, aus deren Erträgnissen sie die Ausgaben für obengenannte
und ähnliche Zwecke bestreitet. Der Ertrag des Grundbesitzes reicht aber in
den meisten Fällen nicht hin um alle diese Verpflichtungen erfüllen zu können.
Die Gemeinde erhebt darum mancherlei Steuern und verlangt je nach dem
Vermögen, dem Besitzstand und dem Einkommen der einzelnen Gemeindeglieder
Beiträge (Umlagen), teils regelmäßig für jedes Jahr teils für bestimmte
Zwecke, wie für einen Schulhansbau. Die Besorgung aller Gemeindeangelegen-
heiten erfordert natürlich Arbeit und Beamte, welche für ihre Leistungen bezahlt
werden müssen.
Eine weitere sehr wichtige Ausgabe der Gemeindeverwaltung bildet die
Orts Polizei, welche von dem Haupte der Gemeinde, dem Bürg er meister,
gehandhabt wird. Es ist darunter besonders das zu verstehen, was die Ordnung,
Sicherheit und Wohlfahrt der Gemeinde betrifft, so die Einhaltung der orts-
polizeilichen Vorschriften, die Sorge für die Reinlichkeit auf den Strafen und
Plätzen und die Verhütung alles dessen, was der Gesundheit der Ortsbewohner
nachteilig sein könnte; die Wohnungsaufsicht, die Aufrechthaltnng der Ordnung
auf dem Markte, die Löschanstalten, das Gesindewesen u. s. f., kurz alles das,
was man die Hausordnung einer Stadt oder eines Dorfes nennen könnte.
Endlich bilden auch die Wahlen für die Gemeindeämter einen wichtigen
Teil der Gemeindeverwaltung selbst. Denn wie es auf der einen Seite not-
wendig ist, daß einer regiere und die andern sich unterordnen, so ist es auf
der andern billig, daß die einzelnen Gemeindebürger selbst dabei mitzusprechen
haben, wen sie für den Tüchtigsten halten um ihre Angelegenheiten zu besorgen.
Alle diese Geschäfte werden nach bestimmten Staatsgesetzen, der Gemeinde-
ordnung, und unter Aufsicht des Staates besorgt.
Die Spitze der Gemeindeverwaltung bildet der Gemeindevorstand oder
der Bürgermeister, der Vorsitzender des Magistrates oder des Gemeinde-
ausschusses ist. Der Gemein de ans schuß wird gebildet aus dem Bürger-
meister, dem Stellvertreter desselben, Beigeordneter genannt, und mehreren
Gemeindebevollmächtigten, welche im Ausschuß die Gemeindebürger, von denen
sie gewählt worden sind, vertreten müssen. In Städten und Märkten
mit städtischer Verfassung werden vorbehaltlich der Befugnisse der
Bürgerschaft die Gemeindeangelegenheiten besorgt durch den Magistrat als
Verwaltungsbehörde sowie durch die Gemeindebevollmächtigten als Gemeinde-
vertretung, welche lediglich den Gemeindebehörden (Magistrat oder Ausschuß)
beschränkend hinzutritt, ohne eine Wirksamkeit nach außen entfalten zu dürfen
oder zu müssen. In Gemeinden mit Landgemeindeverfafsung
dagegen wird die Gemeindeverwaltung vorbehaltlich der Befugnisse der Ge-
meindeversammlung durch den Gemeindeausschuß geführt. Dem Bürgermeister,
als Vorstand desselben, fällt eine Reihe von Aufgaben zu. Er führt u. a.
das ganze Inventar über alles bewegliche Vermögen der Gemeinde, sorgt für
die Aufbewahrung der Gemeinde- und Stiftungsrechnungen, er überwacht das
Kassa- und Rechnungswesen der Gemeinde und der Stiftungen, er hat bezüglich
der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten die Beschlußfassung des Gemeinde-
ausschusses und der Gemeindeversammlung vorzubereiten und zu leiten. Auch
ist er vcrpsiichtet bei Rechtsstreitigkeiten unter Gemeindebewohnern ohne Hilfe
der Gerichte zu vermitteln (Vermittlungsamt).
72. Die Ehrenämter deS Bürgers.
115
Etwas anderes als der Gemeindeausschuß ist natürlich die Gemeinde-
versammlung, welche von allen Gemeindebiirgern der Gemeinde gebildet
wird; sie muß u. a. besonders gehört werden bei Gründung und Vergrößerung
neuer Gemeindeanstalten, denn es werden dadurch die Gemeindeumlagen erhöht
werden müssen, und bei der Bewilligung der Umlagen, deren Höhe allein die
Gemeindeversammlung bestimmt, wollen alle Gemeindebürger ein Wörtchen
mitreden.
Eine jede Gemeinde grenzt an eine andere; die Wege führen aus einer
Gemeinde in benachbarte Gebiete. Wie Straßen, so sind auch Brücken, Kanüle
und Flüsse häufig mehreren Gemeinden gemeinschaftlich; kurz zahlreiche An-
gelegenheiten berühren mehrere Gemeinden zugleich. Deshalb wird durch ver-
schiedene Gesetze bestimmt, daß zwischen solchen Gemeinden derartige Ange-
legenheiten auch gemeinsam verwaltet werden sollen. Zu diesem Zwecke ver-
einigen sich mehrere benachbarte Gemeinden zu einem Distrikte und mehrere
solche zu einem Kreise und ist bestimmt, wie in den Distrikts- und Land-
ratsversammlungen jene gemeinsamen Interessen zu Pflegen sind.
Wir ersehen daraus, daß besonders die Spitzen der Gemeindeverwaltung
eine Fülle von wichtigen Aufgaben zu lösen haben. Daher sollen wir die
Persönlichkeiten, denen die Verwaltung der Gemeinde anvertraut ist, vor allem
ehren und die Anordnungen gerne befolgen, die zum Heile der Gesamtheit
wie des einzelnen erlassen werden.
72. I>ie Ehrenämter des Würgers.
Wir Menschen gleichen einem fruchtbaren Regen;
jeder von uns ist ein Wassertröpfchen. Nicht ein
einzelner Tropfen, so groß er auch immer ist, macht
das Feld fruchtbar; aber jeder, auch der kleinste,
trägt dazu bei. Lafontaine.
Das Wohl der Gemeinden und des Staates stellt an die Bürger die ver-
schiedensten Anforderungen. Seitdem auf Grund des Verfassungsrcchtes den
Gemeinden freie Selbstverwaltung in solchen Diilgen gegeben ist, welche die
örtlichen Verhältnisse betreffen, haben sich auch die Verwaltnligsarbeiten sehr
vermehrt. Da die ganze Gemeinde dieselben nicht besorgen kann, so werden
von den Gemeindegliedern verschiedene Bürger, die das Vertrauen der anderen
besitzen, gewählt um diese Arbeiten zu übernehmen. Zur Teilnahme an der
Selbstverwaltung, Beratung und Abstinlmung, zur Wählbarkeit und zum
Wahlrecht für Gemeindeämter ist jeder Gemeindebürger berechtigt, zur Über-
nahme der Ämter verpflichtet. Die Ablehnung eines Gemeindeamtes kann
seitens des Gewählten nur erfolgen, wenn er das 60. Lebensjahr überschritteil,
durch Krankheit verhindert ist oder ein Gemeindeamt bereits geführt hat.
Jedem Bürger gereicht es zur Ehre, wenn ihn das Vertrauen seiner Mit-
bürger zu einem solchen Amte ruft.
In Landgemeinden wählen die Gemeindebürger einen Gemeinde-
ausschuß, welcher aus dem Bürgermeister, einem Beigeordneten
als Stellvertreter desselben und den Gemeindebevollmächtigten besteht.
Von den letzteren besorgt ein Bürger als Pfleger oder Kassier die Geldgeschäfte,
während anderen die Aufsicht über den Gemeindegrund, die Straßen und
Brücken zufällt oder das Armenwesen übertragen ist. Dem Biirgermeister
8»
116
72. Die Ehrenämter des Bürgers.
obliegt die Ortspolizei und der Vollzug aller Gemeindebeschlüsse. Ist in der
Gemeinde eine Pfarrkirche, so bildet die bürgerliche Gemeinde auch eine
kirchliche. In letzterer versieht die Geschäfte der Pfarrer mit einem Mitglieds
der Gemeindevertretung und mehreren von den Mitgliedern der Kirchengemeinde
selbst gewählten Kirchenverwaltungsräten, wovon einer als Pfleger die Kasse
führt. Befindet sich im Orte eine Schule, so ist die Feststellung und Auf-
bringung des gesamten Bedarfs sowie ihre Einrichtung und Erhaltung Aufgabe
der politischen Gemeinde (vorbehaltlich der Verpflichtungen des Kreises und
Staates sowie besonderer rechtlicher Verpflichtungen). Die Aufsicht über den
Schulbesuch obliegt der Lokalschulinspektion; die Leitung des Unterrichts und
der geistigen Erziehung gebührt dem Loknlschulinspektor.
In Gemeinden mit städtischer Verfassung steht als vollziehende Behörde
an der Spitze der Verwaltung der Ma g istrat. Derselbe setzt sich in mittel-
baren Städten aus dem Bürgermeister und den bürgerlichen M a g i st r a t s -
rät en, in unmittelbaren aus einem oder mehreren rechtskundigen Bürger-
meistern und rechtskundigen und bürgerlichen Magistratsrüten zusammen.
Dieser Behörde steht das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten
als Vertretung der Gemeindebürger zur Bewilligung der Umlagen, Verwendung
der städtischen Gelder und Beschlußfassung in wichtigen Fällen zur Seite.
In der Pfalz, wo diese Einrichtung nicht besteht, fallen auch diese Aufgaben
dem Gemeinde- oder Stadtrat zu. Für das Armen- und Bauwesen, den
Gemeindewaisenrat, die Spitäler und andere gemeinnützige Anstalten bilden
sich unter Zuziehung weiterer Bürger besondere Körperschaften, welche diese
Zweige der städtischen Verwaltung besorgen und fördern. Die Volksschulen
werden von der Lokalschulkommission beaufsichtigt, welche aus dem
Bürgermeister, den Pfarrern, mehreren Magistratsmitgliedern und einigen
Lehrern besteht. In größeren Städten bilden sich außerdem noch Bezirks-
schuliuspektionen, denen ebenfalls weitere Bürger zugeteilt werden. Für die
Bezirke innerhalb größerer Städte wählt der Magistrat D istri kts v o rsteh er.
In Bayern ist stets eine größere Anzahl von Gemeinden zu einem
Distrikte vereinigt. Die Distriktsgemeinde umfaßt alle Gemeinden eines
Bezirksamtes, doch kann auch bei mehreren unter einem Bezirksamte vereinigten
Amtsgerichtsbezirken jeder einen Distrikt bilden. Die Distriktsgemeinde vertritt
der Distriktsrat und der Distrikts a us schuß. Der Distriktsrat wird
aus den Vertretern der einzelnen Gemeinden, den Vertretern der höchst-
besteuerteu Grundbesitzer und den Vertretern des Staatsärars für seinen
steuerbaren Grundbesitz gebildet. Dem Distriktsrate obliegt die Sorge für
die Straßen, Brücken- und Krankenhäuser des Bezirkes, die gemeinsamen Feuer-
löschanstalten und die Unterstützung mit Armenlasten überbürdeter Gemeinden.
Die Distrikte selbst sind wieder vereinigt zum Kreise oder zur Provinz.
In dieser größeren Körperschaft wird die Kreisbevölkerung der Kreisregierung
gegenüber durch die Landräte vertreten. Der Landrat besteht aus den
Vertretern der Distriktsgemeinden und der unmittelbaren Städte, der größeren
Grundbesitzer, drei Vertretern aller Pfarrer und einem Vertreter der etwa in
dem Kreise befindlichen Universität. Ihm obliegen Beiträge für Schulen,
Kreis-, Gesundheits- und Wohltätigkeitsanstalten, Ausgaben für Bodenkultur
und die Bestreitung des Uferschutzes der öffentlichen Flüsse. Die Beschlüsse
72. Die Ehrenämter des Bürgers. 117
und Anträge des Landrates werden vom Könige durch den Landratsabschied
verbeschieden.
Durch geheime und direkte Wahl der wahlberechtigten bayerischen
Staatsbürger erfolgt die Berufung zu den Ehrenämtern der Abgeordneten
in den Landtag (Kammer der Abgeordneten) Diese Vereinigung, welche
das Wohl der Bevölkerung des Landes gegenüber der Staatsregierung wahr-
nimmt, sucht mit dieser und der Kammer der Reichsräte das Gesamt-
wohl aller Einwohner zu fördern. Die Beratung und Zustimmung der Volks-
vertretung ist zu allen Gesetzen erforderlich, zur Erhebung der direkten und
Mehrung oder Änderung der indirekten Steuern.
Auch hat dieselbe das Recht Vorschläge zu neuen Gesetzen, Wünsche und
Anträge sowie Beschwerden der Staatsbürger oder Gemeinden zu Prüfen und
unter Stellung eines Antrages vor den Thron zu bringen.
Mit dem vollendeten 25. Lebensjahre erreicht jeder Staatsbürger die
Befähigung sich an der Wahl der Reichstagsabgeordneten zu beteiligen.
Dem Reichstage kommt die Vertretung der Reichsbevölkerung gegenüber dem
Bundesrate zu. Außerdem obliegt ihm auch die Beratung der Reichs-
gesetze, die Genehmigung der Zölle und indirekten Steuern (auf Rübenzucker,
Salz, Tabak und Branntwein, Wechsel- und Spielkartenstempel u. s. w.)
Damit die Staatsregiernng die Wünsche des Handel- und Gewerbestandes
kennen lernt und über die Lage von Handel und Gewerbe unterrichtet ist,
bestehen Handels - und Gewerbekammern. Diese Kammern werden von
den Kaufleuten und von den Gewerbetreibenden einzelner Bezirke oder größerer
Handelsplätze gewählt und haben die Aufgabe die Angelegenheiten ihrer
Wähler zu vertreten. Die Handelskammern trachten insbesondere danach die
Wünsche des Handelsstandes in Bezug auf Post, Telegraphie, Eisenbahn- und
Zollwesen u. dgl. kennen zu lernen und der Staatsregierung zu übermitteln.
In bestimmten Fällen werden auch Sachverständige aus dem Haudelsstande
als Beisitzer zu den Kammern für Handelssachen bei den Landgerichten gewählt.
Sie haben in diesen Fällen alle Rechte und Pflichten richterlicher Beamten.
Was die Handelskammern für den Handel, das sind die Gewerbe-
kammern für die industriellen Gewerbe. Daneben wahren die Handwerks-
kammern die Interessen des Handwerkes und der Gewerbetreibenden.
Auch in der Rechtspflege tritt an den Bürger die Verpflichtung heran
mitzuwirken. Für minder wichtige Strafsachen bestehen an den Amtsgerichten
die Schöffengerichte. Alle Jahre wird aus den im Amtsgerichtsbezirke
wohnenden Bürgern, welche eine gewisse Steuer zahlen, eine bestimmte Zahl
für ein Jahr als Schöffen ausgelost, wovon immer zwei mit dem Amts-
richter die gerichtlichen Entscheidungen zu treffen haben. Sie sprechen sich
mit demselben darüber aus, ob der Angeklagte eine bestimmte Tat begangen
hat und ob und wie er zu bestrafen sei.
Zur Ahndung schwerer Verbrechen treten bei den Landgerichten zu
bestimmten Zeiten die Schwurgerichte zusammen, welche aus rechtskundigen
Richtern und den aus den Bürgern gewählten Geschworenen bestehen.
Zu jeder Schwurgerichtssitzung werden dreißig Geschworene ausgelost und
von diesen zwölf zur Hauptverhandlung bestimmt. Sie haben im Gegensatz
zu den Schöffen bloß über die Schuldfrage mit „ja" oder „nein" zu entscheiden.
118
73. Aus „Hermann und Dorothea".
Etwaige mildernde Umstände können von ihnen dem Angeklagten zugebilligt
werden. Ihr Wahrspruch wird vom Obmann im Sitzungssaal bekannt gegeben
und auf Grund dieses Wahrspruchs dann vom Gerichtshof das Urteil erlassen.
Wird in einem Orte an einem Verbrecher die Todesstrafe vollzogen, so
wählt der Bürgermeister eine Anzahl Bürger, welche als Urkundpersonen dem
traurigen Akte beizuwohnen haben.
Außer den vorgeführten Ehrenämtern werden die Bürger noch zu den
Schieds- und Gewerbegerichten beigezogen; sie wirken als Schätzleute bei
Abschätzung von Grund und Boden und als „Siebenerausschuß" bei Grenz-
begehungen mit. Auch als Obmänner, Bezirksvorsteher u. s. w. dienen sie
dem Gesamtwvhle der Bürger.
73. Aus „Kermann und Aorolßea".
Was wäre das Haus, was wäre die Stadt, wenn nicht immer
Jeder gedächte mit Lust zu erhalten und zu erneuen
Und zu verbessern auch, wie die Zeit uns lehrt und das Ausland!
Soll doch nicht als ein Pilz der Mensch dem Boden entwachsen
Und verfaulen geschwind an dem Platze, der ihn erzeugt hat,
Keine Spur nachlassen von seiner lebendigen Wirkung!
Sieht man am Hause doch gleich so deutlich, wes Sinnes der Herr sei.
Wie man, das Städtchen betretend, die Obrigkeiten beurteilt;
Denn wo die Türme verfallen und Mauern, wo in den Gräben
Unrat sich häufet und Unrat auf allen Gassen herumliegt,
Wo der Stein aus der Fuge sich rückt und nicht wieder gesetzt wird,
Wo der Balken verfaulet und das Haus vergeblich die neue
Unterstützung erwartet: der Ort ist übel regieret.
Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket,
Da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal,
Wie der Bettler sich auch an lumpige Kleider gewöhnet.
Darum hab' ich gewünscht, es soll sich Hermann auf Reisen
Bald begeben und seh'n zum wenigsten Straßburg und Frankfurt
Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist.
Denn wer die Städte geseh'n, die großen und reinlichen, ruht nicht,
Künftig die Vaterstadt selbst, so klein sie auch sei, zu verzieren.
Lobt nicht der Fremde bei uns die ausgebesserten Tore
Und den geweißten Turm und die wohlerneuerte Kirche?
Rühmt nicht jeder das Pflaster, die wasserreichen, verdeckten,
Wohlverteilten Kanüle, die Nutzen und Sicherheit bringen,
Daß dem Feuer sogleich beim ersten Ausbruch gewehrt sei?
Ist das nicht alles gescheh'n seit jenem schrecklichen Brande?
Bauherr war ich sechsmal im Rate und habe mir Beifall,
74. Die wundervolle Ordnung des Staates.
119
Habe mir herzlichen Dank von guten Bürgern verdienet,
Was ich angab, emsig betrieben und so auch die Anstalt
Redlicher Männer vollführet, die sie unvollendet verließen.
So kam endlich die Lust in jedes Mitglied des Rates.
Alle bestreben sich jetzt und schon ist der neue Chausseebau
Fest beschlossen, der uns mit der großen Straße verbindet.
Aber ich fürchte nur sehr, so wird die Jugend nicht handeln.
Denn die einen, sie denken auf Lust und vergänglichen Putz nur;
Andere hocken zu Haus und brüten hinter dem Ofen. Goethe.
74. Die wundervolle Ordnung des Staates.
Als Abraham und Lot in Streit über ihre besten Weideplätze
gerieten, da war Abraham friedfertig genug und sprach: »Laß
doch keinen Zank sein zwischen mir und dir, zwischen meinen
und deinen Hirten!« Und sieh, Lot zog nach Sodoma und
Abraham blieb in Kanaan 1 Sie konnten dieses Auskunftmittel
zum Frieden auch leicht ergreifen, denn sie waren als Nomaden
nirgend angesiedelt. Hätten sie aber einen festen Wohnsitz ge-
habt, so wäre ihnen nichts übrig geblieben als sich zu vertragen.
Und was wäre wohl das nächste gewesen um häufigen Streit zu
vermeiden? Offenbar mußten sie ihren Besitz genau abgrenzen.
Aber nicht jedermann ist so freundschaftlich und verträglich wie
Abraham und Lot und auch die Lebensverhältnisse sind nicht
immer so einfach. Denn bei Vermehrung der Bevölkerung, der
Entwicklung des Tauschhandels und der Gewerbe wurden die
Fragen über das Eigentum immer schwieriger; leicht konnte
auch ein unruhiger Kopf oder eine habgierige Seele einen Streit
über das »Mein und Dein« heraufbeschwören; es konnten Ruhe-
störungen entstehen und Gewalttaten aller Art veranlaßt werden.
Um dies zu verhindern hat Gott die weltliche Ordnung ein-
gesetzt. Sie stellt feste Gesetze auf, durch welche Handel und
Wandel geregelt und jedem das Maß seiner Freiheit zugewiesen
wird, damit er seine Mitmenschen nicht in ihren Ansprüchen
auf die gleiche Freiheit beeinträchtigt. Die Obrigkeit bestimmt
nicht nur, was als Recht gilt, sie wacht auch darüber, daß es
nicht übertreten werde.
Schon das Zusammenleben nomadischer Hirtenstämme ist un-
denkbar ohne gewisse rechtliche Bestimmungen und ohne
die Unterordnung der Menge unter ein gemeinsames Oberhaupt.
120
74. Die wundervolle Ordnung des Staates.
Noch weniger läßt sich dies bei einer aus so verschiedenartigen
Gliedern zusammengesetzten Gesellschaft denken wie derjenigen, in
der wir leben. Es müssen noch weit genauere, ja man möchte sagen,
wundervolle Bestimmungen getroffen werden, damit jedem das
Seine werde: dem Käufer und Verkäufer, dem Gläubiger und
Schuldner, dem Herrn wie dem Knecht, dem Untertanen wie
dem Fürsten u. s. w. Alle Stände müssen getreulich zusammen-
stehen und sich gegenseitig unterstützen. Der Nährstand bildet
die Grundlage des ganzen Staates; der Wehrstand schützt und
verteidigt das Land und seine Bewohner und der Lehrstand sorgt
für Verbreitung von Gesittung und Bildung unter der Bevölkerung.
Ein solch streng geordnetes, wohlgegliedertes Ganze aber, worin
jedem seine Rechte und Pflichten angewiesen sind und für die
Vollziehung beider gesorgt wird, ist der Staat.
Mit diesem Worte haben wir die vollkommenste Form des
gesellschaftlichen Zusammenlebens bezeichnet. Alle Güter des
Kulturlebens finden in seinem Schoß ihren Schutz und ihre Pflege.
Was würde aus uns werden, wenn plötzlich alles das auf-
hörte, was wir jetzt an staatlicher Fürsorge genießen; wenn jeder
sich selbst zu schützen hätte und uns keine Obrigkeit bewachte I
Wie schnell wären all die Güter vernichtet, deren wir uns jetzt
erfreuen 1 Es würde nur mehr das Recht des Stärkeren gelten
und alle Bande der heiligen Ordnung müßten sich lösen.
Manche denken sich zwar in ihrer Verblendung den Staat
nur als einen unbequemen Gebieter und Steuerforderer und sagen,
er sei nicht notwendig, die nämliche Ordnung ließe sich auch
erreichen durch ein einfaches Übereinkommen der Bürger unter-
einander. Wie lange würde es aber mit einer Vereinigung
dauern, an der jemand teilnimmt wie z. B. an einem Turn- oder
Sängerbünde, dem man heute beitritt and den man morgen wieder
verläßt! Gewiß ist es eine lobenswerte Sache um die vielen Vereine,
welche die Menschen, zumal in unseren Zeiten, gründen: um Spar-
kassen, Witwenkassen, Lebens-, Feuer-, Wasser- und Hagelver-
sicherungen u. dgl. Aber all diese Genossenschaften können
sich nur da bilden, wo schon ein Staat vorhanden ist, und sie
haben ihren Bestand nur unter dem Schutze der staatlichen
Ordnung, die der Dichter eine segensreiche Himmelstochter
nennt. Auch die Stadt- oder Dorfgemeinde kann ihre Zwecke
nur erfüllen, insofern sie als ein Glied in jenes größere Ganze
eingefügt ist.
75. Vvn der Rechtspflege.
121
Der Staat also regelt die gegenseitigen Beziehungen seiner
Bürger, er schützt und fördert sie in Ausübung ihrer Tätigkeit.
Er gibt die Gesetze über Eigentum, Gewerbebetrieb, Bildungs-
wesen u. s. w. und hält sie aufrecht; er ist durch verständige
und sorgfältige Verwaltung darauf bedacht, Eintracht, Wohlstand
und Bildung im Innern zu fördern. Für so viele Vorteile legt
er aber auch dem Bürger gewisse Leistungen und Verpflichtungen
auf, wie Steuerpflicht und Heeresdienst. Er bestellt die Wächter
des Gesetzes und bestimmt die Strafen für Übertretung; er
sorgt durch seine Heeresmacht und durch Bündnisse mit anderen
Staaten dafür, daß die Angriffe der Feinde abgewehrt werden.
Zur Regelung seiner Angelegenheiten bedarf der Staat aber
auch einer Reihe von Beamten. Die Oberaufsicht über das ganze
Staatswesen (in Bayern) obliegt dem Gesamtstaatsministerium. Das
Oberhaupt des Staats ist der König, seine Person ist heilig und
unverletzlich. Ihm und dem Gesetze ist jeder Untertan unver-
brüchliche Treue und unbedingten Gehorsam schuldig.
Nach Deimling.
75. Won der Wechtspffege.
Es wäre eine schöne Sache, wenn es unser den Menschen keine
Streitigkeifen gäbe, wenn jeder freiwillig dem Gesetze gehorchte, den
anderen ihre Rechte unverkümmert zugestünde und wenn keiner weder
aus Gen'innsucht noch aus Zorn noch aus Rachsucht sich hinreißen ließe
Handlungen zu begehen, welche mit einem geordneten Gemeinwesen un-
verträglich sind. Das ist nun aber, wie die Menschen einmal sind, nicht
möglich; und es genügt deshalb nicht, daß der Staat festsetzt, was als
Recht gelten soll, sondern er muß auch dafür sorgen, daß dieses Recht
von allen anerkannt und an den Übertretern gerächt werde. Man muß
indessen nicht glauben, daß von zwei Streitenden immer einer ein Böse-
wicht sein müsse. Meistens sind beide von ihrem Rechte überzeugt und
es ist zuweilen auch für einen Gelehrten schwer zu erkennen, wer eigent-
lich recht hat. Außerdem gibt es freilich Vergehungen, bei denen es
höchstens zweifelhaft sein kann, ob einer sie begangen, nicht aber, ob er
damit im Recht war oder nicht.
Jene Fälle, in welchen es sich um streitige Rechtsansprüche, nament-
lich über das Eigentum, handelt, nennt man das bürgerliche Recht.
Dahin gehören z. B. alle Erbschaftsangelegenheiten, alles, was sich auf
Kauf und Verkauf, auf Pacht- und Mietverhältnisse oder auch Darlehen
bezieht. Wenn zwei Personen sich darüber nicht einigen können, tritt
der Staat mit seiner Hilfe ein, d. h. die angerufenen Gerichte entscheiden
122
75. Von der Rechtspflege.
und die Staatsgewalt zwingt jeden dem richterlichen Spruche sich zu
fügen. Anders ist es, wenn ein Verbrechen begangen worden ist. Hier
tritt der Staat selbst durch einen Staatsanwalt als Kläger und Richter
auf, d. h. derjenige, welcher sich durch Diebstahl, Mord, Aufruhr an
den Gesetzen des Staates vergangen hat, wird, sobald seine Tat bekannt
ist, auch wenn kein anderer Bürger für sich wegen Beschädigung Klage
führt, zur Rechenschaft gezogen und nach den Bestimmungen des Straf-
rechts behandelt. Denn es kommt hier nicht bloß das Recht eines ein-
zelnen in Frage, sondern die Sicherheit und das Ansehen des Staates
selbst würde Not leiden, wenn solche Vergehungen ungeahndet und solche
Mitglieder des Gemeinwesens unbestraft blieben.
In allen jenen Fällen, in denen es sich um die Bestrafung eines
Bürgers handelt, werden in vielen Staaten bei der Entscheidung außer
den Rechtskundigen Männer aus dem Volk als Geschworene hinzu-
gezogen. Diese haben nur auszusprechen, ob ihnen ein Angeklagter
des Verbrechens, dessen er bezichtigt ist, schuldig erscheint oder nicht.
Die gelehrten Richter haben hierbei das Amt, durch Voruntersuchung
und durch die Leitung der Gerichtsverhandlung die tatsächlichen Umstände
des Vergehens bis ins kleinste klarzulegen und für den Fall der Schuld
die Strafe nach dem Gesetzbuche zu bestimmen. Da die Geschworenen
auf Grund der angehörten Verhandlung, wobei die Zeugen vernommen
werden und der Angeklagte sich selbst verteidigen oder durch einen
Rechtsanwalt verteidigen lassen kann, nur ihre Überzeugung auszusprechen
haben über die Schuld oder Nichtschuld, bedürfen sie keiner eigentlichen
Rechtsgelehrsamkeit; es genügt ein klarer Verstand und ein redliches
Gewissen. Für die Verhandlung und Entscheidung von geringeren
Strafsachen sind auch bei den Amtsgerichten Schöffen zugezogen.
Wie es bei Gerichtsverhandlungen zugeht, davon kann sich jeder leicht
eine Vorstellung verschaffen, da dieselben, soweit nicht besondere Gründe
in einzelnen Fällen dagegen sprechen, öffentlich sind.
In bürgerlichen Streitigkeiten aber, bei welchen alles lediglich auf
die Auslegung des Rechts ankommt, entscheidet allein der fachmännisch
gebildete und vom Staate angestellte Richter. Die Rechtsverhältnisse sind
jedoch oft so verwickelt, daß die Richter selbst in Verlegenheit kommen;
es kann vorkommen, daß zwei derselben über die gleiche Sache eine ver-
schiedene Meinung haben. Deshalb begnügt sich eine gute Rechtsver-
fassung nicht damit für alle Fälle nur eine einmalige Aburteilung zu-
zulassen; es kann der Verurteilte nämlich in wichtigen Dingen ein
höheres Gericht anrufen, damit seine Sache nochmals geprüft und ein
neuer Spruch gefüllt werde. Gegen Urteile der Landgerichte in Straf-
76. Wehrpflicht.
123
sachen und der Schwurgerichte kann an das Reichsgericht in Leipzig Revision
eingelegt werden. Für Verwaltungsrechtssachen besteht in Bayern der
Verwaltungsgerichtshof, der in letzter Instanz Recht spricht.
Die Rechtsanwälte sind die Fürsprecher für die streitenden Parteien
und notwendig, weil die rechtlichen Formen oft so verwickelt sind, daß
ein Rechtsunkundiger nicht damit umgehen kann. Das Prozesseführen
wird freilich teuer durch die Rechtsanwälte, denn diese müssen ebensogut
wie andere Leute von ihrer Arbeit leben. Allein ein guter Rechtsbeistand
verhütet auch manchen Prozeß, wenn er die Parteien zu einem gütlichen
Vergleiche bewegt und prozeßsüchtige Leute von vornherein abweist.
Deimling.
76. Wehrpflicht.
Bei den alten Deutschen war jedem freien Manne durch die Geburt
schon das Wafseurecht und die Wehrpflicht eigen; namentlich waren Recht
und Pflicht' des Kriegsdienstes an den freien Grundbesitz gebunden. Im
Alter von 14 oder 15 Jahren wurde der Jüngling in der Volksversammlung
wehrhaft gemacht und damit ein Glied des Staates. An einem allgemeinen
Kriege mußte jeder wehrhafte Freie teilnehmen; das Aufgebot sämtlicher freien,
wehrfähigen Männer hieß der Heerbann. Auf einzelnen Streifziigeu schloß
sich an die Fürsten ein Gefolge junger Männer an, die auch im Frieden mit
ihnen lebten. Aus demselben entwickelte sich der Adel als eine deutsche
Kriegerkaste und aus diesem wiederum das Rittertilm und die Ritterschaft,
die zu Pferde kämpfte. Seit dem Untergange des Rittertums machten die
Landsknechte als Fußvolk lange Zeit den Kern der deutschen Heere aus.
Mit der allmählichen Einführung der Feuerwaffen bildeten sich die geworbenen
Söldnerheere und seit dem 17. und 18. Jahrhundert verschwinden die gebil-
deten und besitzenden Klassen größtenteils aus dem Heere. Die deutsche
Neichsarmee jener Zeit war infolge ihrer bunten Zusammensetzung, ihrer
verschiedenartigen Bekleidung, Bewaffnung und Abrichtung das Gespötte
von ganz Europa. Mit der Französischen Revolution beginnen dann allmäh-
lich die Aushebungen aus der gesamten Bevölkerung mit Stellvertretungen
in der Weise, daß sich der Vermögliche einen Ersatzmann stellen konnte, der
für ihn die Lasten des Soldatendienstes übernahm. Diese Bestimmungen
galten in verschiedenen deutschen Staaten bis nach dem Jahre 1866.
In Preußen dagegen, wo schon unter Friedrich dem Großen in Kriegs-
zeiten neben angeworbenen Söldnern auch ausgehobene Landeskinder (Kanto-
nisten) in das Heer eingestellt waren, wurde im Jahre 1814 die allgemeine
Wehrpflicht eingeführt und jeder körperlich tüchtige und mit keiner entehrenden
Strafe belegte Mann vom 20. bis zum 40. Lebensjahre für dienstpflichtig
erklärt. Diese allgemeine Wehrpflicht ohne Stellvertretung wurde durch Gesetz
vom 9. November 1867 auf den ganzen Norddeutschen Bund ausgedehnt und
auch in die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 über-
nommen. Nachdem die einzelnen Teile der Wehrordnung durch eine Reihe
124
76. Wehrpflicht.
von Gesetzen weiter entwickelt worden waren, wurden die sämtlichen Bestim-
mungen über die Wehrpflicht und das Ersatzwesen zusammengefaßt in der
„Deutschen Heerordnung" und „Wehrordnung" vom28.September
1875. Die hauptsächlichsten Bestimmungen der jetzt geltenden Heerordnung
vom Jahre 1902 und der nunmehrigen Wehrordnung von 1904 sind folgende:
Jeder Deutsche ist persönlich vom 17. bis zum 45. Lebensjahre wehr-
pflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen. Er
hat sich bis zum 1. Februar desjenigen Jahres, in welchem er sein 20. Jahr
vollendet, bei der Gemeindebehörde seines Wohnortes zur Aushebung zu
melden und hat bei der noch in demselben Jahre stattfindenden Ausmusterung
persönlich vor den Ersatzbehörden zu erscheinen. Von den tauglichen Militär-
pflichtigen wird die zur gesetzlichen Friedensstärke des Heeres nötige Zahl
nach dem Lose in den Dienst eingereiht. Ausgeschlossen von der Ehre in
das Heer eintreten zu können sind die mit Zuchthaus Bestraften.
Die Armee setzt sich aus dem stehenden Heere, der Landwehr unb dem
Landstürme zusammen.
Die Dienstpflicht im stehenden Heere dauert 7 Jahre; die
Mannschaften der Kavallerie und der reitenden Feldartillerie haben 3 Jahre,
alle übrigen Mannschaften 2 Jahre ununterbrochen bei der Fahne zu dienen.
Nach abgeleistetem aktiven Dienst werden die Mannschaften zur Reserve
beurlaubt. Jeder Reservist ist während des Reserveverhältnisses zu zwei
Übungen verpflichtet, deren Dauer je acht Wochen nicht überschreiten soll.
Die Landwehr wird in 2 Aufgebote eingeteilt. Die Mannschaften
der Landwehr ersten Aufgebotes können zweimal auf 8 bis 14 Tage zu
Übungen einberufen werden; dagegen ist die Landwehr zweiten Aufgebotes,
in welche die zum aktiven Dienste nicht tauglich Erklärten eingereiht werden,
während der Friedenszeit zu Übungen nicht verpflichtet.
Die Ersatzreserve dient zur Ergänzung des Heeres bei Mobil-
machungen und zur Bildung von Ersatztruppen. Die Ersatzreservepflicht
dauert vom 20. bis zum 32. Lebensjahre. Sämtliche Angehörige der Reserve,
Landwehr und Ersatzreserve, bilden den Benrlaubtenstand des Heeres und
sind der militärischen Kontrolle unterworfen.
Der Landsturm besteht aus allen Wehrpflichtigen vom vollendeten
17. bis 45. Lebensjahre, welche weder dem Heere noch der Marine angehören.
Derselbe hat im Kriegsfall an der Verteidigung des Vaterlandes teilzunehmen,
kann jedoch in Fällen außerordentlichen Bedarfes auch zur Ergänzung des
Heeres und der Marine herangezogen werden.
Um im allgemeinen wissenschaftliche oder gewerbliche Ausbildung möglichst
wenig durch die Wehrpflicht zu stören, können junge Leute, wenn sie die
erforderliche sittliche und körperliche Befähigung besitzen, schon nach vollendetem
17. Lebensjahre freiwillig in den Dienst des Heeres und der Marine ein-
treten. Das Recht zum einjährig-freiwilligen Dienste tvird durch den Nach-
77. Mein Eintritt in die Fremdenlegion.
125
weis einer höheren wissenschaftlichen Ausbildung erlangt. Der Einjährig-
Freiwillige kann bei einem beliebigen Truppenteile des Reiches mit der
Waffe, als Arzt, Veterinär oder Pharmazeut vom 17. bis 23. Lebensjahre
eintreten.
Die Angehörigen der aktiven Armee sind an die allgemein geltenden Ge-
setze gebunden; doch können sie nicht zum Reichs- und Landtage wählen, nicht
an politischen Vereinen und Versammlungen oder Ehrenämtern teilnehmen.
Die Übertretung der Standespflichten und der Gesetze überhaupt wird nach
dem Militürstrasgesetzbuche durch Militärgerichte abgeurteilt. Die Auswande-
rung ist während der Militärpflicht von besonderer Genehmigung abhängig.
Das deutsche Heer gliedert sich in 25 Armeekorps, zu denen Bayern 3,
Sachsen 2, Württemberg 1 und Preußen mit den übrigen deutschen Staaten
19 Armeekorps (einschließlich des Gardekorps) stellt.
Im Kriege stehen die Truppen aller deutsche,: Staaten unter dem unmittel-
baren Oberbefehl des Deutschen Kaisers. In Friedenszeiten ist der König von
Bayern der oberste Kriegsherr der bayerischen Truppen.
77. Wein Eintritt in die Iremdenlegion.
Seit mehr denn 80 Jahren fallen ungezählte Söhne Deutschlands der Frem-
denlegion zum Opfer. Frankreich erobert seine Kolonien mit deutschen Sol-
daten, düngt seinen afrikanischen Besitz mit deutschem Blute. Tausende von
jungen Reichsangehörigen liegen in den Sümpfen Madagaskars, in der fieber-
durchdmngenen Erde Tonkings begraben. Für Frankreich ist die Legion eine
höchst willkommene und vor allem billige Hilfstruppe; denn der Tagessold
der Mannschaft (4 Pf.) ist äußerst kärglich, und wird der Legionär infolge
der furchtbaren Entbehrungen und Leiden invalid und dienstuntauglich, so
schickt man ihn einfach weg und überläßt ihn seinem Schicksal. Durch die
Bildung der Legion sündigt Frankreich gegen die einfachsten Gesetze der
Menschlichkeit.
Unerfahrene, ja minderjährige Leute werden auf alle erdenkliche Weise an-
geworben. Haben sie dann einen Vertrag auf fünf Jahre unterzeichnet, so sind
sie rettungslos dem fürchterlichen tropischen Klima Afrikas überliefert. Jede
erlittene Disziplinarstrafe bedeutet eine unfreiwillige Verlängerung der schreck-
lichen Dienstzeit: denn es wird dem Rekruten verschwiegen, daß die Legion auf
diese Weise ihre Verträge gewaltsam oft um zehr: und noch mehr Jahre ver-
längert, bis der Tod im Felde oder im Lager das unglückliche Opfer erlöst.
Abenteuerlust, Wandertrieb oder sonst eine Torheit, fast nie aber eine ehren-
rührige Handlung treibt die jungen Deutschen in das Garn der französischen
Werber. Die wenigsten sehen ihre Heimat wieder, von diesen der größte Teil
als seelische und körperliche Krüppel. Heute sind drei Viertel aller Legionäre
Deutsche. Es ist hohe Zeit der deutschen Jugend an das Herz legen: „Deut-
sches Blut, du gehörst dem deutschen Vaterland!" Um meine jungen Leser zu
tvarnen und sie vor meinem traurigen Schicksal zu bewahren, will ich erzählen,
wie ich zur Fremdenlegion kam.
126
77. Mein Eintritt in die Fremdenlegion.
Noch heute ist mir das Erstaunen meiner liebelt Mutter lebhaft im Gedacht-'
ni§, da ich ein 17 jähriger Bursche mit der Bitte vor sie hintrat: „Liebes Mütter--
ïem, bitte, laß mich freimütig zum Militär eintreten!" Meinem teuern Vater
tonnte ich leider diesen Wunsch nicht vortragen, da er zur damaligen Zeit be-
reits 14 Jahre in kühler Erde ruhte. Meine Mutter, zwar erstaunt und überrascht
durch meine Bitte, schlug mir dieselbe nicht ab, ebensowenig aber konnte sie mir
ihr Jawort zu meinem Vorhaben geben. Sie verwies mich an meinen Vormund
um die Sache mit ihm, der selbst zwölf Jahre Militärdienst abgeleistet hatte,
zu beraten. Durch fortgesetztes Drängen und Bitten wußte ich mir die Ein-
willigung meiner Mutter sowohl als auch meines Vormundes zu erkämpfen.
Meine Absicht ging dahin mich in Metz dem 8. Kgl. Bayerischen Infanterieregiment
einreihen zu lassen. Sowie ich im Besitze eines vom Stadtmagistrat ausgestellten
Meldescheines war, machte ich mich auf die Reise, nicht ahnend, daß mich diese
zwar nicht nach Metz, wohl aber in die französische Fremdenlegion nach Afrika
führen sollte.
In der herrlichen, vielbesungenen Münsterstadt Straßburg angekommen,
benutzte ich die gebotene Gelegenheit mir diese Perle deutscher Städte etwas
näher anzusehen. Nach einigen Stunden Manderns durch die Stadt suchte ich
ein Restaurant auf um eine Erfrischung zu mir zu nehmen. In demselben traf
ich zwei Herren an, welche sich in fast auffälliger Weise bemühten mich in ein
Gespräch mit ihnen zu verwickeln. Sorglos und unerfahren ging ich bereitwilligst
darauf ein und nach nicht langer Zeit waren die beiden sowohl über meine Per-
son als auch über Zweck und Ziel meiner Reise unterrichtet. Mit größter Bered-
samkeit suchten sie nrich unter allerlei Begründungen von meinem gefaßten Ent-
schluß abzubringen und mich willfährig zu machen, mit ihnen nach Frankreich
auszuwandern, um, wie sie vorgaben, mich dort in meinem Beruf weiter zu ver-
vollkommnen und erst nach erreichtem Pflichtalter zur Militärmusterung nach
Deutschland zurückzukehren. Ich hatte in diesen zwei Herren französische Werbe-
agenten vor mir, welche der Fremdenlegion stets frisches Rekrutenmaterial zu-
führen. Sie hüten sich jedoch streng innerhalb der deutschen Grenzpfähle auch
nur ein Wort darüber fallen zu lassen, zu welchem Zweck die jungen Leute, welche
in schamlosester Weise hintergangen werden, bei ihrer Ankunft in Frankreich
bestimnck sind. Ich leugne nicht, daß das Zureden der Agenten seine Wirkung
bei mir unerfahrenen Menschen nicht verfehlte und ich zum Schluß einwilligte
ihnen nach Frankreich zu folgen.
Wir bestiegen den Zug und fort ging's der französischen Grenze zu. Diese
konnten wir unbehelligt ohne jeden Anstand überschreiten und noch am Abend
des nämlichen Tages befand ich mich in der französischen Grenzfestung Nancy.
Die erste Aufgabe der Werber war nun die, mich sobald als möglich aller Geld-
mittel zu entblößen um mich hernach ihrem Ansinnen um so gefügiger zu machen.
In dem Gasthause, wo sie mich untergebracht hatten, wurden mir für Bekösti-
gung und Quartier übermäßig hohe Preise abverlangt. Beziehen doch diese
Agenten eigene Provisionen für Zuführung von solchen Gästen, welche der fran-
zösischen Sprache nicht mächtig sind und die wohl oder übel zahlen müssen. Was
sollte ich denn beginnen? Der Landessprache war ich unkundig, meine Begleiter
bewachten mich mit Argusaugen, damit ich mich ihrem Einflüsse nicht entziehen
konnte, und so mußte ich mich von diesen Leuten in ein paar Tagen aussaugen
lassen, bis ich wirklich keinen Pfennig mehr mein eigen neunen konnte, obwohl
77. Mein Eintritt in die Fremdenlegion.
127
ich erst drei Tage zuvor mit ganz beträchtlichem Betrage in der Tasche au-
gekommen war. Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, wie leichtsinnig und unüber-
legt ich gehandelt, als ich mich diesen mir gänzlich fremben Menschen in so leicht-
gläubiger Weise angeschlossen hatte. Ohne Auslandspaß, keinen Pfennig Geld
mehr in der Tasche und, was das Allerschlimmste war, der Sprache des Landes
unkundig, das war meine Lage an diesem Morgen. Ich war also gewiß nicht
beneidenswert. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an das Menschlich-
keitsgefühl meiner Begleiter. Da kam ich aber schön an. In höhnischer Weise
erklärten sie mir, daß sie nicht willens seien meinen Arbeitsvermittler zu spielen.
Ihr Vorschlag war, mich in die Fremdenlegion anzuwerben, andernfalls würden
sie mich der französischen Gendarmerie als nüttellos übergeben, welche mich
den deutschen Grenzbehörden ausliefern würde. Ich hätte dann Bestrafung
als deutscher Deserteur zu gewärtigen. Hütte ich freilich das deutsche Militär-
reglement damals so gekannt wie zur Stunde, so hätte ich ihrer Drohungen ge-
lacht und erklärt, daß ich nie und nimmer in die Legion eintreten werde. So
aber schenkte ich ihren Worten Glauben, weil ich eben als 17 jähriger Bursche
keine Ahnung von unseren deutschen Militürgesetzen hatte. Lieber wollte ich
in die Legion eintreten, als meinen Angehörigen die Schande machen als deut-
scher Deserteur abgeurteilt zu werden. Hätte ich doch nur einen einzigen deut-
schen Berater an meiner Seite gehabt! Wie viel Jammer, Herzeleid, gefahrvolle
Lebenslagen und oft übernrenschliche Anstrengungen wären mir erspart ge-
blieben! Aber freundlos in fremden Landen stand ich da, gewissenlose!: Scheu-
salen vom Schicksal in die Hand gespielt.
Willig ließ ich es deshalb geschehen, daß man mich dem Kommandeur des
Bezirkskommandos Nancy vorführte, um für die Legion ausgemustert zu werden.
Das militärürztliche Untersuchungsergebnis lautete: ,,Ucm pour 1e serviee ckuns
les colonies“ (Gut für den Dienst in den Kolonien). — Nach der Untersuchung
wurde mir ein französisch verabfaßter Vertrag zur Unterschrift vorgelegt, laut
welchem ich mich für eine fünfjährige Dienstzeit in der Legion verpflichtete.
Gedankenlos setzte ich meinen Namen darunter und verpfändete damit meine
persönliche Freiheit fünf Jahre der französischen Republik. Denn mit der Unter-
schrift des Vertrages war ich französischer Soldat und somit den französischen
Militärgesetzen unterstellt. Amtliche Ausweise über ihre Person haben die An-
zuwerbenden nicht vorzulegen; daraus ergibt sich, daß die Fremdenlegion auch
ein willkommenes Asyl für solche wird, denen der Boden in ihrem Vaterlande
zu heiß geworden ist und die sich dann dem rächenden Arm des Gesetzes dadurch
entziehen, daß sie unter irgend einem Namen in die Legion eintreten. Welch
seelische Qualen ein junger, unverdorbener Mensch während seiner Dienstzeit in
solcher Umgebung zu erdulden hat, das kann nur derjenige richtig würdigen,
den das traurige Schicksal persönlich betroffen hat. Er muß große Willenskraft
und festes, unerschütterliches Gottvertrauen besitzen, unr nicht ebenfalls in
diesen: Meere von geistigem Kot und Morast moralisch zu Grunde zu gehen.
Da die Garnisonen der Legion nicht in Frankreich selbst, soi:dern nur in
dessen Kolonien liegen, so steckte man mich in Na>:cy sofort in eine Kaserne, wo
ich meinen Transport nach der Hafenstadt Marseille abwarten mußte.
Nach Georg Wentler.
128
78. Von den Steuern und Abgaben.
78. Won den Steuern und Abgaben.
Zahllos sind die Wohltaten, die wir dem Staate verdanken. Er sorgt für
Erziehung und Unterricht, fördert Künste und Wissenschaften, hebt Land- und
Forstwirtschaft und unterstützt Handel, Gewerbe und Industrie. Ja wir dürfen
wohl sagen, daß es kein Gebiet menschlicher Tätigkeit gibt, für dessen Gedeihen
die Regierung nicht durch zweckmäßige Einrichtungen in musterhafter Weise
Sorge trägt.
Diese Fülle von Aufgaben kann aber der Staat nur mit Hilfe seiner Be-
amten lösen, die im Auftrag des Königs bemüht sind das Beste des Volkes zu
fördern; diese müssen für ihre Arbeitsleistung auch entsprechend bezahlt werden.
Wenn wir wissen, daß hier eine Eisenbahn gebaut, dort eine Schule errichtet
wird, so begreifen wir, daß der Staat hierzu auch Geld haben muß. Zum Glück
besitzt unser Vaterland ein ausgedehntes Eisenbahnnetz, schöne Waldungen, herr-
liche Güter, ergiebige Bergwerke und Salinen, woraus der Staat einen Gewinn
zieht. Aber diese Erträgnisse reichen zur Bestreitung der dem Staat erwachsen-
den Ausgaben bei weitem nicht aus; deshalb müssen die Bewohner des Landes
zu den Ausgaben des Staates nach Kräften beitragen. Das sollen sie aber gerne
tun; denn die Sicherheit, deren sie sich für ihre Person und ihr Eigentum er-
freuen, und die Förderung, die sie von seiten des Staates in ihren Arbeits-
leistungen erfahren, verdanken sie allein seinen Einrichtungen. Daher sind auch
die Klagen über die Abgaben, die man im bürgerlichen Leben häufig hört, keines-
wegs gerechtfertigt. In einem geordneten Staatswesen übersteigen die Abgaben
durchaus nicht die Kräfte des Besteuerten. Die Hauptsache ist eben auch hier wie
anderswo der wirtschaftliche, häusliche Sinn. Legt der Steuerpflichtige jede
Woche den treffenden Teil der Abgabe zurück, so wird er den kleinen Betrag
kaum empfinden; wenn er freilich das nicht tut, sondern am Zahlungstage die
ganze Summe aus der augenblicklichen Einnahme bestreiten will, dann ist aller-
dings die Abgabe eine Last. Ein guter Wirtschafter sorgt aber beizeiten.
Die Zahlungen, welche von den einzelnen an den Staat für seine Leistungen
zu entrichten sind, nennt man Steuern. Diese werden auf zweifache Weise
erhoben. Einzelne Steuern fordert die Behörde aus dem nächsten Wege sofort
von dem, der sie wirllich zu zahlen hat. Dies geschieht z. B. mit der Steuer,
die jeder von seinem Einkommen entrichten muß. Diese Art der Steuer nennen
wir direkte Steuern; sie bemessen sich nach der Steuerkraft des einzelnen Staats-
bürgers. Der Staat erhebt aber auch gewisse Steuern auf einem Umwege.
Dies ist z. B. der Fall bei dem Biere. Der Staat legt eine Steuer aus jedes
Glas Bier, das wir trinken. Es wäre aber sehr umständlich, wenn wir für jedes
Glas Bier, das wir getrunken, sofort den kleinen Betrag bei der Steuerbehörde
entrichteu müßten. Der Einfachheit halber verlangt der Staat vom Bierbrauer
für alles Malz, das er verbraucht, die treffende Steuer. Der Bierbrauer erlegt
aber im voraus die Summe uud erhöht deshalb den Preis des Bieres um den
Betrag derselben; auf diese Weise zahlt auch der Biertrinker seine Steuer. Weil
diese und ähnliche Abgaben mittelbar auf Umwegen erhoben werden, nennt
78. Von den Steuern und Abgaben.
129
man sie indirekte Steuern. Diese haben gegenüber den direkten den Vorzug,
daß sie von dem Steuerpflichtigen in ganz kleinen, ja oft unmerklichen Beträgen
geleistet werden. Eine andre reiche Einnahmequelle fließt dem Staat aus den
Zöllen zu; sie sind eine auf Ein- und Ausfuhr von Waren gelegte Abgabe. Durch
diese erhält der Staat nicht nur Geld sondern schützt auch das einheimische Gewerbe.
Bei der im Deutschen Reiche herrschenden Doppelstellung müssen die ein-
zelnen Staaten nach zwei Richtungen hin ihre finanzwirtschaftliche Tätigkeit
entfalten; denn es muß der Haushalt des Reiches neben dem der Einzelstaaten
besorgt werden. Infolgedessen haben wir jetzt in Deutschland Reichsfinanzen
neben Landessinanzen, Einnahmen und Ausgaben des Reiches neben denen
der Einzelstaaten. Die Reichssteuern sind fast alle indirekter, die Landessteuern
direkter und indirekter Natur.
Die wichtigsten Einnahmequellen des Reiches fließen neben den Beiträgen
der Einzelstaaten (Matrikularbeiträgen) aus den Zöllen, den Steuern auf Tabak und
Zucker, Salz und Branntwein, Schaumwein und Zigaretten, Zündwaren und
Leuchtmittel, der Reichsstempel-, Wechselstempel- und Spielkartenstempelsteuer,
der Statistischen Gebühr, der Reichserbschast- und der Reichszuwachssteuer.
Die Steuerbehörden bilden in Bayern die Rentämter, denen die Kreis-
regierungen, Kammer der Finanzen, vorgesetzt sind. Das Steuersystem umfaßt
die Einkommensteuer als Hauptsteuer und die Ertrags st euern
(Grund-, Haus-, Gewerbe- und Kapitalsteuer) als Nebensteuern. Die Veran-
lagungsperioden sind jetzt einjährige und mit der Veranlagung sind insbesondere
Gemeinde, Rentamt und Steuerausschuß befaßt.
Der Einkommen st euer unterliegen die gesamten Jahreseinkünfte
in Geld- und Geldeswert des Steuerpflichtigen, gleichviel ob sie aus Grund-
vermögen, aus Gewerbebetrieb, aus Kapitalvermögen, aus Beruf oder sonstigen
Bezügen herrühren. Sie wird nach Maßstab eines Tarifs berechnet, der dem
Gesetze beigegeben ist. Durch die H a u s st e u e r wird die Nutzung aus Häu-
sern in Städten, Märkten und auf dem platten Lande mit einer Auflage belegt.
Den Maßstab für die Besteuerung bildet ihre Mietertragsfähigkeit, welche in
dem jährlichen wirklichen (Mietzins, Mietschilling) oder dem möglichen (ge-
schätzten oder angeglichenen) Mietertrag gesucht wird. Die Grund st euer
ist eine direkte Staatsauflage auf Grund und Boden. Der Maßstab der Be-
steuerung ist bei allen Grundstücken der aus deren Flächeninhalt und der nach
ihrer natürlichen Ertragsfähigkeit erhobene mitteljährige Ertrag. Das
Gewerbe st euergesetz erfaßt alle Gewerbe nach dem gleichen Grund-
satz und richtet die Steuer in der Weise ein, daß sie sich einerseits nach einem
Tausendsatze des Wertes des Betriebskapitals anderseits nach einem Hundert-
satze des Ertrages bemißt. Sie setzt sich also aus zwei Größen, aus einer
Betriebskapitals- und einer Ertragsanlage, zusammen. Nur bei ertragslosen
und ganz kleinen Gewerben erleidet dieser Grundsatz eine Ausnahme. Die
Gewerbesteuer ist nach einem dem Gesetze beigegebenen Tarife zu berechnen.
Der Kapitalrenten st euer unterliegen die Kapitalrenten, d. h. die
Lesebuch für Bewerbt. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 9
130
79. Schulze-Delitzsch und die Genossenschaften.
Ertrüge in Geld und Geldeswert aus Kapitalvermögen. Bei ihrer Veranlagung
bildet der Jahresbetrag der steuerbaren Kapitalrente den Maßstab. Es ist Ge-
wissenssache jedes Kapitalisten die Zinserträgnisse getreulich anzugeben.
Auf die Hinterziehung der Steuern sind, gesetzlich hohe Strafen gelegt, die
sich bis zum zehnfachen Betrag der Jahressteuer steigern können. Bei bedeuten-
den Unglücksfällen kann sich der Steuerpflichtige einen angemessenen zeitlichen
Nachlaß der Steuer (Grundsteuer) gesetzmäßig erwirken; nur muß das Gesuch
um Steuernachlaß bei der Gemeindebehörde rechtzeitig eingereicht werden, so
daß der erlittene Schaden noch vollständig festgestellt werden kann; den Säu-
migen trifft der Verlust des Anspruchs auf Nachlaß.
Der Staat räumt auch andern öffentlichen Körperschaften das Recht ein
Steuern und Abgaben zu fordern. So erhebt jeder einzelne Kreis für sich von
allen Steuerpflichtigen des Kreises zur Bestreitung der Kreislasten nach dem Ver-
hältnis der Staatssteuer eine Kreisumlage. In ähnlicher Weise werden
die Bedürfnisse der Distrikte durch Distriktsumlagen gedeckt.
Die Ausgaben der Gemeinden sind sehr verschieden. Sie werden aus den
Zinsen des Gemeindevermögens, der Stiftungen u. s. w. und, soweit dies nicht
reicht, aus den G e m e i n d e u m l a g e n gedeckt^). Bei Berechnung derselben
sind sämtliche Grundsteuern, Haussteuern, Gewerbesteuern und Steuern vom
Gewerbebetrieb im Uncherziehen mit den 272 fachen Beträgen, sämtliche Kapital-
rentensteuern mit den 1 V2 fachen Beträgen, sämtliche Einkommensteuern mit
den Väschen Beträgen in Ansatz zu bringen. Durch das Warenhaussteuer-
gesetz, die Besitzveränderungsabgaben und das Hundeabgabengesetz sind den
Gemeinden neue Einnahmequellen erschlossen worden.
Die Festsetzung der Staatssteuern erfolgt durch die Ständekammern im
Einvernehmen mit den Staatsministerien unter Genehmigung des Königs.
Die Höhe der Kreisumlagen wird durch den Landrat, die der Distriktsumlagen
durch den Distriktsrat bestimmt. Die Gemeindeumlagen bewilligen im all-
gemeinen die Gemeindebevollmächtigten bezw. der Gemeinde- oder Stadtrat
in der Pfalz. Die von einzelnen Kirchengemeinden mit obrigkeitlicher Erlaubnis
zu erhebenden Kirchenumlagen setzt im allgemeinen die Kirchenverwaltung
fest. Die Protestantische Kirche r. d. Rh. u. die Vereinigte Protestantische Kirche
der Pfalz haben die Berechtigung, für die Befriedigung von kirchlichen Be-
dürfnissen allgemeiner Natur, welche durch Leistungen des Staates oder sonstige
Mittel nicht ausreichend gedeckt sind, Kirchensteuern zur Erhebung zu
bringen. (Ges. v. 15. Aug. 1908.) In dieser Weise regelt jede politische Ver-
einigung ihren Haushalt nach ganz bestimmten wirtschaftlichen Grundsätzen.
79. Schutze-Petitzsch und die Genossenschaften.
Der Gründer der deutschen Genossenschaften ist der Reichstagsabgeordnete
Schulze aus Delitzsch. Er vertrat den Grundsatz, daß niemand ein Recht auf
0 Die früher eingeführten Verbrauchssteuern auf Fleisch, Getreide u. a. sind
durch die neuesten gesetzlichen Bestimmungen aufgehoben worden.
79. Schulze-Delitzsch und die Genossenschaften.
131
fremde Unterstützung zusteht, daß vielmehr ein jeder durch vernünftigen Gebrauch
der eigenen Kraft und gehöriges Wirtschaften sich selbst helfen und auf eigenen
Füßen stehen soll. Das Ganze kann nicht gedeihen, wenn der einzelne untüchtig
ist. Indessen reichen die Kräfte des einzelnen oft nicht aus seine Bedürfnisse
an Schutz, Nahrung und Wohnung zu befriedigen. Für diesen Fall sagt Schulze:
„Was du nicht allein vermagst, dazu verbinde dich mit andern, die das gleiche
wollen; mehrere lleine Kräfte vereint bilden eine Großkraft." An der Ameise
und an der Biene können wir diese Erscheinungen am bequemsten beobachten.
Bienenstöcke und Ameisetchaufen sind tierische Genossenschaften. Diese kleinen
Wesen führen dadurch staunenswerte Werke aus, daß sie ihre im einzelnen win-
zigen Kräfte vereinigen.
Gegenüber der allgemein zur Einführung gelangten Fabrikindustrie ist der
einzelne Arbeiter und der kleine Handwerker machtlos. In der Vereinzelung
gelingt es.ihm nur teilweise, sich zu unabhängiger oder angesehener Stellung
emporzuarbeiten. Seitdem durch das Auskommen der Fabriken das Kapital
im gewerblichen Verkehr eine Großmacht geworden ist, welche überall die Arbeit
sich dienstbar zu machen sucht, hat sich die Lage des kleinen Gewerbetreibenden
verschlechtert. Durch den engen Zusammenschluß aller gleichstrebenden Kräfte
ist Hilfe möglich. Das Streben nach Vereinigung bei den Menschen ist sehr alt,
weil man stets erkannte, daß mit vereinten Kräften Großes sich erreichen läßt.
Nicht nur in alten Zeiten vereinigten sich unsere Vorfahren zu Gemeinden, Gauen
und Völkerschaften, nicht nur im Mittelalter bildeten sich Zünfte und Gilden,
sondern auch heute sehen wir den Grundsatz der Genossenschaften im staatlichen
und wirtschaftlichen Leben durchgeführt. Der Geist der Geuossenschaft ist der
Geist der fetzigen Gesellschaft.
Hermann Schulze ist es gelungen durch seine Tatkraft, Ausdauer und Be-
sonnenheit dem Handwerker und Arbeiter den Weg zur Selbständigkeit in: Er-
werb auszuschließen.
Schulze lernte alle gewerblichen Verhältnisse, besonders die Notlage des
Handwerkerstandes gründlich kennen. Das Heilmittel erblickte er in dem Zusam-
menschluß der getrennten kleinen Kräfte in einheitlich zusammenwirkenden,
genossenschaftlichen Verbindungen mit dem Grundsätze der Selbsthilfe, Selbst-
verantwortlichkeit und Gegenseitigkeit. Dem Bestreben das deutsche Handwerk
aus Armut, Abhängigkeit und Selbstentwürdigung zu erlösen weihte Schulze
seine besten Kräfte. Um seine Gedanken zu verwirklichen gründete er in Delitzsch
einen Handwerkerverein, durch persönliches Eingreifen kam er der Entwicklung
desselben zu Hilfe. Nicht nur durch Reden sondern auch durch Schriften regte er
im ganzen Vaterlande zur Bildung von Genossenschaften an. Dies sind Gesell-
schaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, welche die Förderung des Kredits,
des Erwerbs oder des Haushalts ihrer Mitglieder vermittelst gemeinschaftlichen
Geschäftsbetriebes bezwecken. Hierzu rechnet Schulze-Delitzsch insbesondere:
1. Die Vorschuß-, Kredit-, Darlehensvereine und Volksbanken, welche den
Bedarf ihrer Mitglieder an Barschaft und Kredit vermitteln;
9*
132
80. Von den Versicherungen.
2. Rohstoffvereine, in denen Handwerker desselben Erwerbszweiges zu gemein-
schaftlichem Bezüge der Rohstoffe im großen, wohl auch zu gemeinsamer An-
schaffung von Maschinen und kostspieligen Arbeitsverrichtungen zusammentreten;
3. Die Konsumvereine, in denen man sich zum Ankauf der nötigen Lebens-
und Wirtschaftsbedürfnisse vereinigt um sich ebenfalls die Vorteile des Groß-
bezugs zu sichern;
4. Die Krankenkassen und Gesundheitspflege-Vereine, durch welche man sich
billige Arzneimittel und ärztliche Behandlung verschafft.
Ferner zählt er dazu die eigentlichen Genossenschaften zum gemeinschast-
lichen Geschäftsbetriebe, in welchem die Herstellung und der Verkauf der Er-
zeugnisse auf Rechnung und Gefahr der Gesamtheit geschieht. Eine andere Gruppe
von Genossenschaften sind solche Vereine, welche lediglich den Bildungszwecken
dienen, nämlich die Handwerker-, Gewerbe- und volkswirtschaftlichen Vereine.
Nicht weniger hoch als die materiellen Vorteile, die das Genossenschafts-
wesen den Beteiligten darbietet, ist die sittliche Einwirkung desselben auf die
Haltung der arbeitenden Klassen anzuschlagen. Selbstgefühl und Selbstachtung
werden in jedem Mitgliede geweckt und gestärkt. Selbstverantwortlichkeit und
Selbsthilfe sind die Grundlagen der sittlichen Würde, der bürgerlichen Gleich-
berechtigung und der wirtschaftlichen Selbständigkeit, ohne welche von einer
wirklichen Hebung der arbeitenden Klassen nicht die Rede sein kann.
Nach Boyes.
80. Won den Wersicherungen.
Der Mensch dämmt die reißenden Gewässer der Gebirgsströme ein, bannt
die Flamme in die feuersicheren Heizräume seiner Wohnungen und Werkstätten
und weist dem Blitz eine sichere Bahn. Aber nicht immer gelingt es durch schützende
Vorkehrungen den Schaden der entfesselten Naturkräfte zu verhüten; ihre uner-
warteten Ausbrüche vernichten oft den Menschen und sein Hab und Gut. Des-
halb suchte man nach Mitteln und Wegen den Schlägen der entfesselten Elemente
auszuweichen und, wo sie der Mensch machtlos über sich ergehen lassen muß,
ihre Wunden zu heilen oder doch weniger fühlbar zu machen. Diese Mittel fand
der Mensch in den gemeinsamen Schutzeinrichtungen. Manche Gefahren können
überhaupt leichter abgewehrt werden durch Zusammenwirken der Gefährdeten,
während andern nur durch rechtzeitige Hilfe unbetroffener Personen erfolg-
reich entgegengetreten werden kann. Zu solchen zweckmäßigen Vorkehrungen
gehören auch die Versicherungsanstalten, welche Schadenersatz gewähren, so
gegen Feuersgefahr, Hagelschlag, Unfälle u. s. w.
Wer eine Versicherung abschließen will, gibt der Versicherungsgesellschaft
(Assekurant) den Geldwert des Gegenstandes an, den er versichern will. Dafür
zahlt er gewöhnlich im voraus als Vergütung (Prämie) einen gewissen Betrag,
der sich während der Versicherungsdauer jährlich wiederholt. Über den Ver-
sicherungsabschluß wird eine Urkunde, der Versicherungsvertrag oder die Po-
lice, ausgefertigt.
Der Versicherte bringt durch die jährliche Zahlung allerdings ein großes
Opfer, hat aber dafür die Beruhigung, daß ihm die Versicherungsgesellschaft
80. Von den Versicherungen.
133
oen möglicherweise in der Zukunft eintretenden Schaden ersetzt. Die Ge-
sellschaft ist ihrerseits durch die Beitrage der vielen Versicherten gegen Ver-
luste gedeckt.
Am weitesten verbreitet ist die Feuerversicherung; sie ist nächst der See-
versicherung die älteste Versicherungsart. Spuren hiervon finden sich in Deutsch-
land schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Die Versicherung der Besitzwerte
gegen Feuerschaden ist ein Gebot der Vorsicht, das niemand außer acht lassen
sollte. Ein Brand kann in wenigen Stunden unser Hab und Gut zerstören und
die Wohlfahrt ganzer Familien und Gemeinden gefährden. Die Gelegenheit
verbrennbares Eigentum gegen Feuerschaden zu versichern ist eine äußerst viel-
seitige; die Bedingungen hierfür sind so erleichtert, daß ein Entschuldigungs-
grund für unterlassene Versicherung hieraus nicht abgeleitet werden kaun. Und
doch versichern sich so viele nicht. Die Immobilien sind im großen imb ganzen
wohl genügend versichert; es trafen nämlich in Bayern im Jahre 1964 über
6 Milliarden Mark auf die Gebäude-Braudversicherung. Der Wert der Mobilien
dagegen wird nicht annähernd durch die Versicherungssumme gedeckt; nur etwas
über die Hälfte der Haushaltungen ist bei uns in die Mobiliarversicherung aus-
genommen. Besonders ist die große Masse der unselbständigen Arbeiter in dieser
Beziehung noch höchst fahrlässig. Wie oft hört mau von ihnen die Worte: „Un-
sere Hausgeräte, unsere Kleider haben ja wenig Wert; warum versichern?"
Mag der Geldwert jenes Besitzes auch an und für sich kein erheblicher sein, für
den Betreffenden ist er immer ein hoher, ja ein so hoher, daß im Falle der
Vernichtung durch Feuer ein sofortiger Ersatz aus eigenen Mitteln unmöglich ist
und die Mildtätigkeit der Mitmenschen angerufen werde,: muß. Das ist wahr-
lich kein gesundes Verhältnis. Mau entwürdigt sich und die Seinen, wenn der
Hausvater das kleine Opfer scheut, das vor dem Bettelstab oder erniedrigender
Abhängigkeit bewahrt. Auch dem Landmann ist Gelegenheit geboten, seine
Feldfrüchte gegen den Schaden eines Hagelschlages wie seinen Viehstand gegen
die durch Unfälle und Seuchen entstehenden Verluste durch Versicherungen zu
schützen. Leider benutzt aber auch der Landmann diese Versicherungen noch
immer viel zu wenig.
Noch schlimmer steht es mit der Lebensversicherung; von je hundert Erwach-
senen sind in Bayern sieben bis acht Personen in derselben aufgenommen. Gar
vielen scheint eine solche Versicherung unbegreiflich; „denn gegen den Tod",
sagen sie, „ist ja kein Kräutlein gewachsen". Es ist wohl wahr, die Lebensver-
sicherung kann die Zeit des Todes nicht hinausschieben oder gar den erloschenen
Lebensfunken anfachen; aber sie gewährt dem Versicherten ein sorgenfreies
Alter und mildert das bittere Leid, welches der Tod des Vaters den hilflosen Waisen
und der verlassenen Witwe bereitet. Das möge jeder bedenken und sich fragen,
ob es nicht ratsam oder gar eine heilige Pflicht sei einen Teil seiner jährlichen
Ersparnisse auf diesem Gebiete anzulegen. — Die Lebensversicherungs-Gesell-
schaften befassen sich jedoch nur mit der Versicherung größerer Summen und
haben die meisten derselben den Miudestbetrag aus 1500 Mark begrenzt; außer-
dem können die Beiträge nur in ganz-, halb- oder vierteljährigen Zahlungen
geleistet werden. Diese Verhältnisse machen es vor allem dem wenig bemittelten
Arbeiter, welcher für die notwendigste Versorgung seiner Angehörigen nur Ge-
ringes erübrigen kann, nicht gut möglich sich an der Lebensversicherung zu
beteiligen. Diese Lücke auszufüllen bezweckt die Sterbekasse. Bei derselben
134 81. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches.
können kleinere Beträge versichert werden und es ist hiernach jedem mög-
lich seinen Hinterbliebenen für die Zeit schwerer Not ein kleines Kapital sicher-
zustellen.
Um aber auch denjenigen, welche nicht aus eigenem Antriebe für die Zu-
kunft sorgen »vollen oder können, für die Zeit der Not Hilfe zu gewähren, hat
der Staat zwangsweise Versicherungen eingeführt, die jetzt in ein einheitliches
Gesetz, die Reichsversicherungsordnung, zusammengefaßt sind.
81. Pie soziale Gesetzgebung des Peutschen Meiches.
Die wichtigsten Gesetze des Deutschen Reiches, welche der Unterstützung
unb dem Schutze des Arbeiters dienen, sind die Arbeiterversicherungsgesetze,
nämlich das Gesetz über die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die
Invaliden- und Altersversicherung, sowie das Arbeiterschutzgesetz. Den Anstoß
zu diesen Gesetzen gab Kaiser Wilhelm I. Am 17. November 1881 richtete er
eine Botschaft an den Reichstag, worin er es ausspricht, daß der Staat zur Unter-
stützung des Arbeiters verpflichtet sei. Er sagt: „Schon im Februar d. I. haben
Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden
auf dem Wege der Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.
Wir halten es für Unsere kaiserliche Pflicht dem Reichstage diese Aufgabe von
neuem ans Herz zu legen und würden Wir mit um so größerer Befriedigung
auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurück-
blicken, wenn es Uns gelänge dereinst das Bewußtlein mitzunehmen, dem Vater-
lande neue und dauernde Bürgschaften seines innern Friedens und den Hilfs-
bedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie An-
spruch haben, zu hinterlassen. In Unsern darauf gerichteten Bestrebungen sind
Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf
die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen. In
diesem Sinne wird zunächst der Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung
der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht aus die im Reichs-
tage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Unrarbeitung unter-
zogen, um die erneute Beratung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm
eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des
gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch
diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig wer-
den, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres
Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese
Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch
eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Funda-
menten des christlichen Volkslebens steht...."
Mit diesen herrlichen Worten gab Kaiser Wilhelm I. das Ziel und die Richt-
linien für unsere heutige Arbeiterversicherung an.
81. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches. 135
Der Reichstag beschäftigte sich zunächst mit der Fertigstellung und Durch-
beratung des Krankenkassengesetzes, während die in Verbindung
mit demselben eingebrachte Vorlage eines Unfallversicherungsgesetzes zurück-
gestellt wurde.
Kaiser Wilhelm I. legte in einer weiteren Botschaft vom 14. April 1883
dem Reichstage aufs neue die Dringlichkeit des gesetzlichen Schutzes der
Arbeiter gegen Betriebsunfälle ans Herz. Nur einige Sätze
wollen wir aus dieser Botschaft hervorheben. Der Kaiser sagt: „Mit Sorge er-
füllt es Uns, daß die wichtige Vorlage für die Unfallversicherung bisher nicht
weiter gefördert worden ist.... Unsere kaiserlichen Pflichten gebieten Uns aber,
kein in Unserer Macht stehendes Mittel zu versäumen um die Besserung der Lage
der Arbeiter und den Frieden der Berufsklassen untereinander zu fördern, so-
lange Gott Uns Frist gibt zu wirken. Darum wollen Wir dem Reichstage durch
diese Unsere Botschaft von neuem und in vertrauensvoller Anrufung seines be-
währten treuen Sinnes für Kaiser und Reich die baldige Erledigung der hierin
bezeichneten wichtigen Vorlagen dringend ans Herz legen."
Der neue Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes wurde
an eine Kommission verwiesen, welche denselben durchberiet und mit geringen
Änderungen an das Haus zurückbrachte. Mit einer überwältigenden Mehrheit
wurde das Gesetz angenommen und am 1. Oktober 1885 konnte es in Kraft
treten. In rascher Folge wurde die Unfallversicherung dann weiter auch auf
solche Arbeiterkreise ausgedehnt, welche in dem ursprünglichen Entwürfe nicht
berücksichtigt waren um das Zustandekommen des Gesetzes nicht weiter zu ver-
schleppen. Zunächst wurde es auf die großen Transportbetriebe des Festlandes
ausgedehnt, dann weiterhin auf die Land- und Forstwirtschaft, auf den Bau-
betrieb und auf die bei der Seeschiffahrt tätigen Personen.
Bevor noch der Unfallversicherung alle in Aussicht genommenen Betriebe
unterworfen waren, nahm man bereits die an dritter Stelle in der kaiserlichen
Botschaft hervorgehobene Versicherung der Arbeiter wegen
Alters und Erwerbsunfähigkeit in Angriff. Im Reichsamte des
Innern wurden zunächst die Grundzüge des Gesetzes ausgearbeitet uud anr
17. November 1887, dem Jahrestage der kaiserlichen Botschaft, veröffentlicht.
Nachdem man so der öffentlichen Meinung Gelegenheit gegeben hatte sich mit
dem Stoffe zu beschäftigen, wurde ein förmlicher Gesetzentwurf ausgearbeitet
und mit Genehmigung Kaiser Friedrichs III. im April 1888 dem Bundesrate
zur Beschlußfassung vorgelegt.
Inzwischen starb Kaiser Friedrich III. Sein Sohn und Nachfolger, unser
jetziger Kaiser Wilhelm II., trat die Erbschaft seiner Väter an. Wiederholt sprach
er es aus, daß er sich voll und ganz auf den Boden der Botschaft Kaiser Wil-
helms I. stelle und daß seine landesväterliche Fürsorge na-
m e n t l i ch den Arbeitern gelte. Bei der Eröffnung des Reichstages
am 25. Juni 1888 sprach er: „Insbesondere eigne Ich Mir die von Ihm (Kaiser-
Wilhelm I.) am 17. November 1881 erlassene Botschaft ihrem vollen Umfange
136
81. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches.
nach an und werde im Sinne derselben fortfahren dahin zu wirken, daß die
Reichsgesetzgebung für die arbeitende Bevölkerung auch ferner den Schutz er-
strebe, den sie im Anschluß an die Grundsätze der christlichen Sittenlehre den
Schwachen und Bedrängten im Kampfe ums Dasein gewähren kann."
Am 24. Mai 1889 wurde das Gesetz vom Reichstage angenommen und am
1. Januar 1891 trat es in Kraft. So waren die nächsten Ziele der Botschaft
Kaiser Wilhelms I. erreicht. Aber noch beschäftigte den Kaiser eine weitere Sorge
für den Arbeiter. Nach seinem Willen sollte demselben ein besserer und wirk-
samerer Schutz für Gesundheit und Sittlichkeit zuteil werden
als bisher. Zu diesem Zwecke bedurfte es einer gründlichen Umgestaltung
der Gewerbeordnung. Damit durch diese Umgestaltung die deutsche In-
dustrie und das deutsche Gewerbe in ihrem Wettbewerb auf dem Weltmärkte
nicht leiden und so auch zum Nachteile der Arbeiter geschädigt würden, ver-
anlaßte der Kaiser eine internationale Konferenz zur Beratnug
dieser Frage.
Am 4. Februar 1890 richtete er an den Reichskanzler und den Handels-
minister zwei Erlasse, welche in ihrer Tragweite und Bedeutsamkeit der kaiser-
lichen Botschaft vom 17. November 1881 gleichkommen. In dem Erlaß an den
Reichskanzler sagt er:
„Ich bin entschlossen zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter
die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Meiner Fürsorge
durch die Notwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Welt-
märkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz
zu sichern. In der Überzeugung, daß auch andre Regierungen von dem Wunsche
beseelt sind die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über
welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon Verhandlungen führen, will
Ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch meine
dortigen Vertreter amtlich angefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind
mit Uns in Unterhandlung zu treten behufs einer internationalen Verständigung
über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter ent-
gegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit
zutage getreten sind."
Die vom Kaiser angeordneten Einladungen ergingen und die Abgesandten
sämtlicher eingeladenen Regierungen nahmen an den Verhandlungen teil. Die
Konferenz beschäftigte sich mit folgenden Punkten: 1. Regelung der Arbeit in
Bergwerken, 2. Regelung der Sonntagsarbeit, 3. Regelung der Kinderarbeit,
4. Regelung der Arbeit junger Leute, 5. Regelung der Arbeit weiblicher Per-
sonen, 6. Ausführung der vereinbarten Bestimmungen. Am 29. März 1890
hatte die Konferenz ihre Arbeiten beendet und die fremden Abgesandten über-
mittelten ihren Regierungen die Ergebnisse der Verhandlungen.
Für Deutschland gingen aus denselben zwei wichtige Gesetze hervor, näm-
lich das Gesetz über die Gewerbegerichte und das Gesetz über
die Abänderung der Gewerbeordnung (Arbeiterschutz-
81. Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches.
137
g e s e tz). Das Gewerbegericht hat den Zweck, Streitigkeiten im Arbeitsverhält-
nis schnell und billig durch ein aus Arbeitgebern und Arbeitern zusammenge-
setztes Gericht zu erledigen und bei den häufig vorkommenden Arbeiterausstünden
als Einigungsamt zu dienen.
In der Herbsttagung 1890 ging dem Reichstage der Entwurf über die Ab-
änderung der Gewerbeordnung zu. Nach langen und anstrengenden Beratungen
wurde derselbe am 8. Mai 1891 mit großer Mehrheit vom Reichstage als Gesetz
angenommen und am 1. Juni 1891 vom Kaiser vollzogen.
Einen bedeutungsvollen Um- und Ausbau erfuhr die deutsche Arbeiter-
versicherung im Jahre 1911 durch die Reichsversicherungsordnung,
welche u. a. die einzelnen Versicherungszweige in ein einheitliches Gesetz zusam-
menfaßt, den Versicherungsschutz erweitert und eine Witwen- und Waisenver-
sorgung gebracht hat. Durch das Versicherungsgesetz für Angestellte wurde auch
den Privatbeamten eine möglichst sorgenfreie Zukunft gewährleistet.
Der vorstehende kurze Überblick über die soziale Gesetzgebung des Deut-
schen Reiches durch zwei Jahrzehnte von 1881—1911 zeigt eine rege, umfassende
und segensreiche Tätigkeit zum Schutze der Arbeiter gegen die Mißstände, welche
unser heutiges gewerbliches Leben veranlaßt hat. Das Deutsche Reich
besitzt eine gesetzliche Arbeiterversicherung wie kein
zweiter Staat Europas.
Welchen Segen die Arbeiterversicherung bereits gestiftet hat, möge man aus
folgenden Angaben erkennen.
Auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 zog unter anderen Aus-
stellungsgegenständen des deutschen Reichsversicherungsamtes besonders ein ge-
waltiger Obelisk die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Er sollte die groß-
artigen Wirkungen der deutschen Arbeiterversicherung in den ersten 14 Jahren
ihres Bestehens (1885—1899) veranschaulichen. Der Obelisk besaß eine Grund-
fläche von 2 qm und eine Höhe von 25 m. Eine solche mächtige Säule würde
man erhalten, wenn man die innerhalb der genannten 14 Jahre den Arbeitern
zugeführten Entschädigungen in Höhe von 2 500 000 000 (— 2 y2 Milliarden)
Mark in gemünztem Golde aufeinanderlegte.
Der menschenfreundlichen Anregung des großen Kaisers Wilhelm und der
Tätigkeit der Reichsregierung ist es zu danken, daß in Deutschland nahezu die
gesamte Arbeiterschaft gegen Krankheit, Unfall und Invalidität sichergestellt ist
und alltäglich fast eine Million Mark für diese Arbeiterfürsorge aufgewendet
wird, in Staaten ohne Zwangsversicherung genießt kaum ein Zehntel der Ar-
beiter eine derartige Fürsorge und diese bleibt hinter den Leistungen der
deutschen Arbeiterversicherung erheblich zurück. Mit Recht darf das Deutsche
Reich stolz auf diese sozialen Arbeitergesetze sein, denn sie sind eine groß-
artige Einrichtung. Nach WM.
138
82. Die Arbeit.
82. Are Arbeit.
Heil der Arbeit! — Träges Leben
Gibt uns kein erheiternd Los;
Nie wird rühmlich sich erheben,
Der die Hand legt in den Schoß.
Nur muß Fleiß auch Früchte bringen;
Denn die Lust zum Schaffen flieht
Den, der unter stetem Ringen
Seines Harms kein Ende sieht.
Mancher wird ins Elend fallen,
Der sich in die Zeit nicht schickt
Und statt mut'gem Vorwärtswallen
Planlos aufs Vergangne blickt.
Leer und nichtig sind die Träume
Von der „alten, guten" Zeit,
In der Werkstatt enge Räume
Trägt sie keinen Segen heut. Weise.
Unter Arbeit versteht man im allgemeinen jede menschliche Tätigkeit,
besonders wenn dieselbe mit Mühe und Anstrengung verknüpft ist.
Arbeit im wirtschaftlichen Sinn ist aber nur die bewußte menschliche
Tätigkeit, welche auf die Hervorbringung von etwas Nützlichem gerichtet
ist. Wenn jemand einen Haufen Quadersteine heute von ihrer Stelle,
wo sie im Hofe liegen, fortschafft auf eine andere Stelle und sie morgen
wieder zu der ersten Stelle bringt, so ist diese Tätigkeit allerdings eine
recht mühevolle; aber als Arbeit können wir dieselbe nicht bezeichnen,
weil dadurch nichts Nützliches geschaffen worden ist. Wenn wir um
spazieren zu gehen eine bestimmte Wegstrecke durchwandern, so ist das
keine Arbeit, während der Bote, der dieselbe Strecke zurücklegt um irgend
eine Bestellung auszurichten, mit Recht von sich sagt, daß er gearbeitet
habe und für diese Arbeit einen Lohn beansprucht.
Mit jeder Arbeit ist aber auch eine geistige Tätigkeit verbunden.
Von einer rein körperlichen Arbeit kann man demnach nicht sprechen,
ebensowenig wie man von einer Arbeit behaupten kann, daß sie lediglich
eine Tätigkeit des Geistes sei. Denn der Gelehrte, welcher durch ernst-
liches Nachdenken die Lösung irgend einer schwierigen Frage gefunden
hat, begnügt sich keineswegs mit dem bloßen Denkakte, sondern er voll-
endet seine Denkarbeit, indem er deren Ergebnis in Worten ausspricht
oder schriftlich niederlegt.
Auch ist nicht zu übersehen, daß gerade bei denjenigen Arbeiten,
welche eine besondere Anstrengung der Körperkräfte erfordern, wie z. B.
die meisten Arbeiten des Landmannes, diese Kräfte allein selten aus-
reichen, sondern fast immer durch die Anwendung von Werkzeugen unter-
82. Die Arbeit.
139
stützt werden. Bei allem Fleiß würde wohl kaum ein Mensch imstande
sein, den zu seinem unb seiner Familie Lebensunterhalt nötigen Bedarf
an Körnerfrüchten dem Boden abzugewinnen, wenn er diesen nur mit
seinen Händen bearbeiten müßte und ihm die Benutzung der Hacke, des
Pfluges u. s. w. versagt wäre. Diese Werkzeuge aber, deren Er-
findung bis in die Uranfänge der Kultur hinaufreicht, verdanken wir
vorzüglich der geistigen Tätigkeit des Menschen. In der Wirklichkeit
sind also die körperliche Arbeit und die geistige stets miteinander ver-
bunden, wenn auch bei der einen Beschäftigung mehr der Körper, bei
der anderen mehr der Geist in Anspruch genommen wird. Arbeiter
sind wir demnach alle, wofern wir nur Nützliches schaffen und unsere
Kräfte zu unserm eigenen Wohle wie zum Besten der Gesellschaft an-
strengen.
Die Arbeit stempelt die Naturdinge zu wirtschaftlichen Gittern und
verleiht allem, was da ist, seinen eigentümlichen Wert; sie öffnet die
Goldminen im Schoße der Erde, entlockt dem Boden die Saat und
sorgt in tausendfältiger Weise für die Befriedigung all unserer Bedürf-
nisse. In wie hohem Grade die Arbeit den niedern oder höheren Wert
eines Produktes bedingt, möge hier noch an einem Beispiele klar ge-
macht werden. Unstreitig ist ein Pfund Gold mehr wert als ein Pfund
Eisen; denn man kann für ein Pfund Gold schon eine ziemliche Anzahl
von Zentnern des anderen Metalls kaufen. Dennoch kostet ein Pfund
von den winzig kleinen Metallschrauben, wie sie zur Uhrenfabrikation
erforderlich sind, mehr als vier Pfund reines Gold. Was hier dem
Eisen den ungewöhnlich hohen Wert verleiht, ist die mit außerordent-
licher Geschicklichkeit und Genauigkeit ausgeführte Arbeit. Fände sich
auch nur an dem kleinsten Teile dieser Schräubchen ein mit bloßem
Auge nicht wahrnehmbarer Fehler, so würde der Uhrmacher sich um-
sonst abmühen, mit denselben eine richtig gehende Uhr zusammenzusetzen.
Da nur durch die Arbeit die wirtschaftlichen Güter entstehen, der
Mensch aber dieser zur Fristung seines Lebens nicht entraten kann, so
folgt daraus, daß die Arbeit für den Menschen eine Notwendigkeit ist.
Sogar nur zeitweilige Arbeitseinstellungen, welche sich bloß auf eine
Klasse oder eine größere Gemeinschaft von Arbeitern erstreckten, die so-
genannten Arbeiterstreike, haben nicht allein den beteiligten Arbeitern
selbst namenloses Elend gebracht sondern sind auch für andere Gesell-
schaftsklassen von großem Nachteil gewesen. Der Mensch, welcher nicht
arbeiten will, verkennt nicht allein die wirtschaftliche Notwendigkeit der
Arbeit sondern macht sich auch einer Pflichtverletzung schuldig; denn die
Arbeit ist auch eine Pflicht. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du
140
82. Die Arbeit.
dein Brot essen", so lautet das große Wirtschastsgesetz, welches schon
den ersten Menschen verkündet wurde, und das Sprichwort sagt: „Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Mit Recht bestrafen daher auch
die staatlichen Gesetze den arbeitsfähigen Bettler, welcher statt selbst zu
arbeiten von der Arbeit anderer leben will.
Natürlich sind diejenigen von der Arbeitspflicht ausgenommen,
welchen die zur Arbeit erforderlichen Kräfte, körperliche oder geistige,
mangeln, die Arbeitsunfähigen. Für diese arbeitet die Gesellschaft und
gewährt ihnen den Lebensunterhalt.
Hieraus ergibt sich des weiteren, daß jeder die Pflicht hat mehr
hervorzubringen, als zur Fristung seines eigenen Lebens notwendig ist.
Wer arbeitsfähig ist und mehr verzehrt, als er hervorgebracht hat, von
dem kann man mit Recht sagen, er lebe auf Kosten seiner Mitmenschen.
Die Arbeit ist aber auch für den Menschen eine Wohltat und die
Quelle des Glücks. Sie gibt jedem, auch dem Ärmsten, die Mittel an
die Hand nicht allein das zum Leben Nötige zu erwerben sondern sich
auch Wohlstand, ja Reichtum, Ehre und Ruhm zu verschaffen. Nur
ihr verdanken wir die ungeheure Entwicklung aller menschlichen Fähig-
keiten auf allen Gebieten des Lebens. Die Arbeit verschafft uns erst
den rechten und wahren Genuß unseres Daseins; denn nichts ist er-
hebender, nichts gewährt eine größere Zufriedenheit als das Bewußtsein
getreuer Arbeit.
Die menschlichen Kräfte, welche bei der Arbeit zur Anwendung
kommen, sind bei dem einen größer als bei dem anderen und auf dieser
Verschiedenheit beruht auch die Ungleichheit der Menschen in Bezug auf
ihre äußere Lage. Auch die Arbeitskraft ist der Ausbildung und Ent-
wicklung fähig. Daher bedürfen die menschlichen Fähigkeiten einer sorg-
samen Pflege, vor allem aber die geistigen; denn der Geistesarbeit ver-
danken wir die verschiedenen Hilfsmittel, welche die menschliche Tätig-
keit in so wunderbarer Weise unterstützen. Obgleich nun die einzelnen
Berufsarten besondere Kenntnisse voraussetzen, so ist doch für jeden,
der sein Brot einmal verdienen will, die Aneignung einer gründlichen
Schulbildung unerläßlich. Nicht minder wichtig ist auch die rechtzeitige
Übung und Entwicklung der körperlichen Kräfte und Fähigkeiten (Turnen
— Handfertigkeitsunterricht). Die hohe Bedeutung des Jugeudunter-
richts für das wirtschaftliche Leben wird immer mehr anerkannt und
der gewaltige Aufschwung der Industrie ist nicht zum geringsten Teil
eine Frucht der Verallgemeinerung des Unterrichts.
Neben der Bildung ist die sittliche Tüchtigkeit des Arbeiters in
Hinsicht auf seine Arbeit von größter Wichtigkeit. Wird er zur Über-
83. Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung.
141
zeugung gelangen, daß die Arbeit eine Notwendigkeit, ein Gesetz der sitt-
lichen Weltordnung ist, dann wird er in der Arbeit nicht eine drückende
Last erblicken. Sein Grundsatz wird sein: „Bete und arbeite!"
Wie sehr der sittlich tüchtige, charakterfeste und zuverlässige Ar-
beiter geschätzt wird, das sehen wir alle Tage. Fleiß, Ordnung und
Sparsamkeit erhöhen die Arbeitsfähigkeit in wunderbarer Weise, während
ein müßiges, unordentliches und ausschweifendes Leben die schönsten
Gaben vernichtet und den leiblichen, geistigen und sittlichen Untergang
herbeiführt. Nach Moorineister.
83. Arbeitsteilung und Aröeitsvereinigung.
Bei der Mannigfaltigkeit der menschlichen Beschäftigung ist es für den
einzelnen nötig sich auf eine bestimmte Berufstätigkeit zu beschränken. Diese
Einschränkung ist ein wesentliches Mittel zur Förderung und Vervollkomm-
nung unserer Arbeit.
Damit die Menschen der gegenwärtigen Gesellschaft mit Brot versehen
werden können, müssen Bauer, Müller, Bäcker, Fuhrleute, Kaufleute und
zahlreiche Hilfsarbeiter, wie Handwerker, Mühlenbauer u. s. w., zusammen-
wirken.
Um ein wollenes Kleid herzustellen bedarf es einer Menge von Ar-
beitern. Zuerst muß durch Schafzucht die Wolle gewonnen werden. Diese
wird dann geschoren, verpackt und versandt nach dem Ort, wo sie gereinigt,
gekämmt, gesponnen, gefärbt und zu Tuch verwebt werden soll. Dieses wird
appretiert, kommt in den Handel und gelangt in die Hände des Schneiders,
der es zuschneidet und näht. Allein der Schneider kann nur schneiden mit
der Schere und nähen mit Nadel und Faden. Schere, Nadel und Faden
sowie alle sonstigen Hilfswerkzeuge und Hilfsarbeiten setzen eine große Anzahl
von Gewerben voraus, die ineinander greifen zu einem und demselben Zwecke.
Das ist die Teilung der Arbeit.
Die Arbeitsteilung kann nur durchgeführt werden, wo eine Gesamtarbeit
in eine Reihe von einzelnen Arbeiten zerlegt werden kann und wo für diese
speziellen Arbeiten auch besondere Personen verwendet werden. Es erfordert
mithin die Teilung der Arbeit das Zusammenwirken einer mehr oder weniger
großen Anzahl von Menschen. Dieser Fall ist in hohem Maße vorhanden
bei der Uhrenfabrikation, indem man die Anfertigung einer Uhr in 102 ver-
schiedene Zweige zerlegt, ferner bei der Seiden-, Baumwollen- und Wollen-
indnstrie. Bei der Nadelfabrikation zählt Adam Smith 18 verschiedene Ver-
richtungen auf. Eine Menge Arbeiten, die früher der Handwerksmeister
lieferte, werden jetzt in der Fabrik unter Anwendung der Arbeitsteilung ge-
fertigt. Die Herstellung in der Fabrik wird daher auch billiger. Bei An-
fertigung eines Türschlosses in der Fabrik besorgt jeder Arbeiter nur eine
Verrichtung: der eine schneidet mit der Maschinenschere die Bleche, wobei
142
83. Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung.
jedes Blech seine Größe und Form erhält, ohne daß der Arbeiter sie mit
Winkel und Maßstab vorzureißen braucht; ein anderer preßt mit einem Druck
sämtliche Löcher in das Blech für den Schlüssel, Riegel, Drücker, für Schrauben-
und Befestigungsstücke, ohne daß er die Bleche einzuteilen hat u. s. w. Schon
hieraus sehen wir, daß die Arbeitsteilung viele Vorteile gewährt.
Es wird vor allem Zeit erspart, wenn der Arbeiter nicht von einer
Verrichtung zur anderen übergehen muß; denn dabei sind Ortsveränderungen,
Zubereitungen, Benutzung anderer Werkzeuge n. s. w. nötig.
Sie erhöht die Fertigkeit und Sicherheit desjenigen, der immer die gleiche
Arbeit verrichtet. Was anfangs langsam und unvollkommen zustande kam,
wird später schneller und vollkommener geschaffen. Dies gilt nicht nur von
körperlichen sondern auch von geistigen Leistungen.
Die Arbeitsteilung befördert die Vervollkommnung und Erfindung neuer
Ideen, Methoden und Werkzeuge. Wer anhaltend in gleicher Weise und
mit dem gleichen Gegenstand beschäftigt ist, entdeckt oft neue Beziehungen
und Vorteile.
In einer großen mechanischen Werkstätte sind Fähigkeiten der verschie-
densten Art nötig, vom Durchschläger an bis zum Monteur, Werkführer,
Zeichner und Direktor. Durch die Teilung der Arbeit wird es möglich der
Liebhaberei, der Fachrichtung gerecht zu werden und dadurch das höchste Maß
der Leistungen zu erzielen. Ebenso kann man dadurch selbst geringe und
unfähige Arbeitskräfte zu einer besonderen Arbeit erziehen.
Die Teilung der Arbeit fördert und vervollkommnet also im hohen
Grade die Produktion. Diese Teilung wird besonders begünstigt durch Be-
nutzung der Naturkräfte.
Die Arbeitsteilung hängt indessen wesentlich von der Natur der Beschäf-
tigung ab. Es gibt auch Arbeiten, bei welchen ohne Nachteil entweder keine
oder nur beschränkte Teilung der Arbeit eintreten kann.
Ein Bauer kann nicht das ganze Jahr hindurch säen, pflügen und ernten,
sondern er muß zu verschiedenen Zeiten verschiedene Arbeiten besorgen.
Die Arbeitsteilung ist beschränkt durch den Absatz, den das Produkt
finden kann. Wollte jemand eine große Schmiede einrichten und darin nur
Ketten einer und derselben Art machen, so würde es sich bald zeigen, daß
die nähere Umgebung kein genügendes Absatzgebiet für die vielen gefertigten
Ketten sei. Der Unternehmer wäre daher genötigt die Ketten in entfernteren
Gegenden zum Verkaufe anzubieten. Allein dadurch würden die Ketten ver-
möge der Spesen, wie Fracht, Zölle, Provisionen an Reisende oder Agenten,
möglicherweise teuerer als diejenigen, welche am Orte hergestellt werden.
Die streng durchgeführte Arbeitsteilung einer größeren Industrie hat
meistens die Folge, daß diese Industrie mit ihren Hilfsindustrien sich in
gewissen Gegenden zu einem größeren Ganzen zusammenschließt.
Durch diese örtliche Vereinigung zur massenhaften Produktion gleich-
artiger Gegenstände werden besondere Vorteile erreicht. Der eine Zweig unter-
88. Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung.
143
stützt den anderen; der Fortschritt des einen führt sofort den Fortschritt aller
herbei. Daher bringt ein großer Jndustriemittelpunkt Leben, Entwicklung
und Gedeihen.
Die Vereinigung gewährt auch Vorteile mit Rücksicht auf den Absatz.
Große Jndustrieplätze sind auf dem Weltmarkt bekannt. Jeder weiß, daß
man an solchen Plätzen mit den besten Hilfsmitteln und nach neuestem
Geschmack schnell, billig, gut und schön arbeitet. Der Bedarf ist um so leichter
zu beziehen, je größere Auswahl sich findet.
Bisher ist nur die Lichtseite der Arbeitsteilung betrachtet worden; sie
hat aber auch ihre Schattenseite.
Jede regelmäßige, anhaltende Arbeit übt auf den Menschen einen gewissen
Einfluß aus. Im allgemeinen kräftigt sie den Menschen, gibt seinem Wesen
Ernst und Ausdauer, Sicherheit und Selbständigkeit wie Bewußtsein erfüllter
Pflicht. Das Eisen bildet andere Menschen als der Seidenfaden, der Hammer
andere als die Nadel, die Arbeit im Freien andere als das Stubensitzen,
Körperarbeit andere als Denkarbeit oder künstlerische Beschäftigung.
Wenn nun schon im allgemeinen die Beschäftigung auf den Menschen
wirkt und ihm gewisse Eigentümlichkeiten aufdrückt, so wird das noch in viel
höherem Maße der Fall sein bei einer Beschäftigung, die jeden Tag, jede
Stunde, ja jede Minute dieselbe ist. Die Arbeitsteilung zerlegt das Ganze
in einzelne Teile und weist jedem Arbeiter einen solchen Teil zu; sie verurteilt
ihn dazu, vielleicht sein Lebtag dieser einzelnen bestimmten Tätigkeit zu ob-
liegen. Ewig nur an ein kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich
der Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus.
Für den Arbeiter selbst wird die Arbeitsteilung um so eher nachteilig,
je mechanischer die Verrichtung ist und je weniger sie die Mittätigkeit des
Geistes erfordert. Einseitigkeit, geistige Abstumpfung und Gleichgültigkeit
für die höheren Güter der Menschheit sind nicht selten die Folgen solcher
maschinenartigen Beschäftigung. Leicht tritt auch bei der Arbeitsteilung Über-
produktton ein; dann entstehen Absatzstockungen, Arbeiterentlassungen, Brot-
losigkeit.
So geht Hand in Hand mit den Fortschritten der Gewerbe und Wissen-
schaften eine Störung des Gleichgewichts der menschlichen Anlagen und Kräfte
sowie eine Verkümmerung gewisser Seiten der menschlichen Natur. Soll des-
wegen die Arbeitsteilung beschränkt oder aufgehoben werden? Gewiß nicht,
denn ein solches Beschränken oder Aufgeben ist gleichbedeutend mit Rückgang
in der Kultur.
Die Nachteile der Arbeitsteilung lassen sich wesentlich mildern durch an-
gemessene Abkürzung der Arbeitszeit. Dadurch gewinnt der Mensch die so
nötige Zeit zur Erholung, Erfrischung und Ausgleichung der Kräfte, und
wer Zeit hat sich zu erholen, geht mit frischem Mut und neuen Kräften
wieder ans Werk. Nach Autenheimer.
144
84. Vom Eigentum.
84. Wom Eigentum.
Zwei Knaben, Karl und Fritz, gehen auf der Landstraße. Kurz
vor dem nächsten Dorfe findet Karl einen goldenen Ring mit einem
Edelsteine. Karl scheut sich den Ring zu behalten; denn er weiß, daß
derselbe fremdes Eigentum ist. — Er übergibt ihn dem Bürgermeister
des Dorfes, damit dieser nach dem Eigentümer des Ringes forsche. Auf
dem gleichen Wege sieht Karl in der am Rande der Straße befindlichen
Kiesgrube eine versteinerte Muschel von seltener Form. Fritz springt
ihm voran und nimmt die Muschel. Karl verlangt sie für sich mit den
Worten: „Sie ist mein, denn ich habe sie zuerst gesehen!" Fritz fühlt,
daß Karl recht habe, und gibt sie ihm ohne Widerrede. Die Muschel
ist nun das Eigentum Karls, er ist Besitzer der Muschel.
Jeder unverdorbene, rechtliche Mensch achtet das Eigentun: seines
Mitbürgers; er verlangt aber auch, daß man seinen Besitz nicht antaste.
Wenn man kein Eigentum haben dürfte, so würde niemand arbeiten.
Wer wird einen Baum pflanzen, wenn er fürchten muß, daß jeder
Vorübergehende ungestraft die Früchte desselben abbrechen darf! Wer
würde ein Haus bauen, in dem irgend ein Fremdling nach Belieben
Wohnung nehmen könnte; wer ein Pferd aufziehen, welches der Nachbar
nach Belieben einspannte! Wer würde Flachs bauen und Leinwand
bereiten, in welche ein Fremder ohne weiteres sich kleidete! Welche Vor-
stellung muß sich ein rechtlich denkender Mensch von einem Lande machen,
in dem ein Bewohner das Eigentum des anderen ungestraft hinweg-
nehmen darf! Gewiß wird niemand in einem solchen Lande wohnen
wollen.
Die Mittel und Wege, welche uns das Eigentum einer Sache, z. B.
eines Buches, eines Pferdes, eines Hauses oder Grundstücks, verleihen,
sind mannigfaltig.
Es kann geschehen:
1. durch Kauf, indem man eine Geldsumme dafür bezahlt;
2. durch Tausch, indem man eine andere Sache von Wert da-
gegen gibt;
3. durch Schenknng, wenn man die Sache unentgeltlich (umsonst)
erhält;
4. durch Erbschaft aus dein Nachlaß verstorbener Eltern und Ver-
wandten oder
5. dadurch, daß man eine herrenlose (freie) Sache — wie die oben-
genannte Muschel — sich zueignet, von ihr Besitz ergreift. Auch durch
Arbeit wird vielfach Eigentum erworben. Das Wasser, welches unter
85. Vom Geld.
145
der Erdoberfläche verborgen ist, gehört niemand. Sobald ich aber einen
Brunnen grabe, so ist das Wasser, welches sich in demselben ansammelt,
mein Eigentum; ich kann es ausgießen oder verkaufen oder verschenken.
Ich habe mir dieses Wasser verschafft durch meine Arbeit. Und hätte
ich den Brunnen durch Arbeiter graben lassen, so wäre ich dennoch der
Eigentümer; denn ich mußte die Arbeiter bezahlen mit meinem Gelde.
Das Eigentum kann infolge des Verfügungsrechtes auf andere über-
tragen werden entweder vorübergehend durch Vermieten, Verpachten,
Leihen oder bleibend durch Verkaufen, Verschenken, Vererben.
Das Eigentumsrecht gestattet unbedingt über den Besitz zu ver-
fügen, insoweit es dem Sittengesetz und den Staatsgesetzen nicht wider-
streitet.
Der Besitz von Eigentum gewährt große Vorteile. Er sichert den
Lebensunterhalt in der Gegenwart und nächsten Zukunft; er erleichtert
die Ausbildung in allgemein menschlicher wie in beruflicher Hinsicht; er-
wacht die Beschränkung der mühsamen Arbeit auf ein vernünftiges Maß
möglich sowie die Gewährung von Erholung, Abwechslung und Lebens-
genüssen; er macht selbständiger, unabhängiger; er erzielt und erhöht
den Einfluß auf andere u. s. w. Auch die geistigen Bedürfnisse des
Menschen können um so eher befriedigt werden, je weniger er durch wirt-
schaftliche Not daniedergehalten ist.
Diese Vorteile sind so einleuchtend, daß alle Menschen nach Eigen-
tum streben, und sie wirken so mächtig im menschlichen Gemüt, daß
im allgemeinen kein Trieb im Menschen stärker und andauernder ist als
der Erwerbstrieb. Allerdings kann der Erwerbstrieb ausarten, wenn
er zu Geiz und Habsucht wird; wenn er auf Mittel und Wege führt
andere zu übervorteilen; wenn er sich durch Fälschung, Unterschlagung
und Diebstahl das Eigentum anderer anzueignen sucht. Davor schützt
mehr und mehr eine gute Erziehung und eine feste, geordnete Rechts-
verwaltung. ' Nach Fischer.
85. Wom Geld.
Die Menschen waren schon in frühester Zeit darauf angewiesen
Gegenstände des Bedarfes untereinander auszutauschen. Man gab eine
Ware gegen eine andere hin. Namentlich scheint man das Vieh gerne
zum Tausche benutzt zu haben. Dasselbe ließ sich zwar leicht fort-
schaffen; immerhin verursachte dies auch Schwierigkeiten, so daß man
bequemere Tauschmittel suchte. Für kleine Beträge wußte man sich zu
helfen; im südlichen Afrika z. B. sammelte man eine beliebte Art
Muscheln, die Kauris, und benutzte sie als Tauschmittel; im östlichen
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 10
146
86. Vom Geld.
Afrika verwendete man handgroße Steinsalzstücke, im südlichen Asien
zusammengepreßten Tee. Diese und andere Dinge hatten aber einen
geringen Wert und man mußte beim Eintausche vieler oder wertvoller
Güter immer wieder große Massen des Tauschmittels bei sich führen.
Man suchte deshalb nach einem kostbaren Zahlungsmittel, nach einem
Gegenstand, der außerdem überall bekannt und beliebt, leicht teilbar
war und sich verhältnismäßig wenig abnutzte. Ein solches Mittel fand
man in den seltener vorkommenden, deshalb wertvollen edlen Metallen,
dem Gold und Silber. Beim Tausch wogen sich die alten Völker das
edle Metall zu und das ist lange Zeit geschehen, ehe man Geld nach
heutiger Art herstellte. Aus jener alten Zeit stammen noch die Gewichts-
namen für Geld, z. B. das englische „Pfund Sterling", das italienische
lira — Pfund.
Das Geld ist ein bequemes, sicheres und zuverlässiges Tauschmittel;
bequem, weil es sich leicht mittragen und befördern läßt, sicher, weil es
überall anerkannt wird, zuverlässig, weil es sich wenig abnutzt. Daraus
folgt, daß es selbst Tauschwert besitzt, noch dazu einen solchen, der für
lange Zeit ein gleich hoher bleibt. Man benutzt das Geld zum Messen
und Bestimmen des Preises. Die Höhe des Tauschwertes, der Preis
der Waren, wird in Geld ausgedrückt. Weil dieses Verfahren allgemein
durchgeführt wurde, war es notwendig, daß das Geld in gleichmäßigen
und gleichwertigen Stücken hergestellt wurde; deshalb nahm mit Fug
und Recht die Regierung die Beschaffung der Geldstücke des Landes in
die Hand. Man nannte die Einteilung der Münzen, die Bestimmung
der Gewichtsmengen in edlem Metall für jede Geldsorte, den Münz-
fuß. Diese von der Obrigkeit geprägten Münzen wurden das gesetzliche,
darum wahre Zahlungsmittel; so entstand der Ausdruck Währung,
der also das Geld in seiner Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel
bezeichnet als das Gut, welches zwangsweise als Zahlungsmittel an-
genommen werden muß.
In früherer Zeit benutzte man zur Herstellung von Münzen haupt-
sächlich Silber. Man hatte demgemäß in Silber die Zahlung zu
leisten; das war die Zeit der Silber Währung. Später, als die
Völker reicher geworden waren und immer größere Zahlungen zu leisten
hatten, führte man die Bestimmung ein, daß größere Summen nur in
Gold gezahlt werden durften. Dies hatte die Prägung einer sehr
großen Anzahl von Goldmünzen zur Folge; so entstand die Gold-
währung, die auch in Deutschland gilt und bei welcher Silbermünzen
nur zur Zahlung kleinerer Beträge und zum Ausgleiche benutzt werden,
also Scheidemünze sind.
86. Vom Arbeitslohn.
147
Trotzdem das Metallgeld für den Verkehr im Verhältnis zu den
früheren Tauschmitteln eine sehr große Erleichterung war, erwies es sich
noch als zu unhandlich, namentlich wenn es sich um die Bewegung
großer Summen handelte. Deshalb kamen schon frühzeitig die Mongolen
und im 13. Jahrhundert die Perser auf den Gedanken Geld aus
Papier herzustellen. Der eigentliche Erfinder soll aber ein chinesischer
Kaiser, der 806 n. Chr. lebte, gewesen sein. In Europa wurden zu
verschiedenen Zeiten der Not Münzen, die aus wertlosen Dingen ge-
fertigt waren, vorübergehend verwendet; so gab Kaiser Barbarossa aus
Mangel an Silber sogenannte Augustalen aus, die aus Leder geprägt
waren. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts kam das Papiergeld in
Österreich und Rußland, im nächsten Jahrhundert in Sachsen und
Frankreich und 1806 in Preußen auf. Das Papiergeld besteht in
Scheinen, welche der Staat oder gewisse Geldinstitute (Banken) aus-
stellen und als Zahlungsmittel in Umlauf setzen. Das vom Staat aus-
gegebene Papiergeld hat Zwangskurs, d. h. es muß zu dem vorgeschrie-
benen Wert als Zahlungsmittel angenommen werden. Außerhalb der
Grenzen dieses Staates bringt man diesem Papiergeld mehr oder weniger
Vertrauen entgegen, je nach dem Kredit, den dieser Staat genießt. Die
von den Banken ausgegebenen Scheine heißen Banknoten. Zur Ausgabe
von Noten bedürfen die Banken in der Regel die Genehmigung des
Staates. Man ist nicht verpflichtet Banknoten von Privatgesellschaften
anzunehmen.
Reichskassenscheine und Banknoten werden im Vertrauen angenom-
men, daß sie an den Kassen zu jeder Zeit gegen bares Metallgeld um-
getauscht werden.
Wer Reichskassenscheine, Banknoten und Münzen nachmacht oder
verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Ver-
kehr bringt, wird gesetzlich strenge bestraft. Nach Pache.
86. Wom Arbeitslohn.
Mit der Arbeit verhält es sich im Grunde nicht anders als mit
der Ware; auch sie ist abhängig von Angebot und Nachfrage; Arbeit-
geber und Arbeitnehmer stehen zueinander in einem ähnlichen Verhält-
nisse wie Verkäufer und Käufer. Der Arbeiter bietet seine Arbeit an;
der Arbeitgeber sucht sie. Es leuchtet demnach ein, daß auch der Lohn
für die Arbeit (d. h. der Preis derselben) von Angebot und Nachfrage
abhängig ist. Bedarf ein Arbeitgeber vieler Arbeiter und sind diese
nicht zahlreich vorhanden, so werden sie höhere Forderungen stellen
10*
148
86. Vom Arbeitslohn.
können und der Arbeitgeber wird höheren Lohn gewähren müssen; findet
sich umgekehrt ein Überfluß von Arbeitern, so werden diese auch billiger
zu haben sein. Daß außerdem auch noch der Lohn von der Eigenart
der Leistungen abhängt, lehrt ohnehin die tägliche Erfahrung. Ein
Packträger, Straßenkehrer, Mörtelträger u. s. w. wird nicht jenen Lohn
beanspruchen können oder erhalten wie ein Uhrmacher, ein Graveur, ein
Kunsttischler. Warum? Weil die von den erstgenannten zu verrichtenden
Arbeiten wenig Geschicklichkeit, also keine besondere Vorbildung erforden
und deshalb von den meisten Leuten leicht ausgeführt werden können,
während die der letztgenannten eine Ausbildung voraussetzen, die nur
wenige sich erworben haben. Derartige Vorbildung fordert aber nicht
nur Zeit und Kraftaufwand sondern auch Opfer an Kapital, welche
später durch den Arbeitsertrag wieder ersetzt werden müssen. Darum
wird auch die geistige Arbeit besser bezahlt als die bloß körperliche.
Innerhalb derselben Beschäftigungsart ist dann der Lohn auch ver-
schieden nach den eigenartigen Leistungen des einzelnen. Ein Schneider-
geselle, welcher besser, schöner und rascher arbeitet, erhält mehr Wochen-
lohn als ein anderer, der in seinen Leistungen hinter jenem zurückbleibt.
Bei vielen Geschäften ist die Löhnung nach Stück und nicht nach Zeit
eingeführt, so daß es in die Hand des Arbeiters selbst gegeben ist sich
einen höheren Lohn zu erwerben. Der Lohn, den der Unternehmer seinen
Arbeitern gewährt, wird ferner bestimmt durch den Preis und den Ab-
satz der gefertigten Gegenstände. Denn eigentlich verbinden sich Unter-
nehmer (Kapitalist) und Arbeiter zur Erzeugung von Waren und der
Gewinn sollte sich auch unter beide teilen, da die erzeugte Ware als
Eigentum beider zu betrachten ist. Die Sache verhält sich aber in Wirk-
lichkeit doch einigermaßen anders. Für die meisten Unternehmungen ist
ein Anlage- oder Betriebskapital erforderlich, zu dem der Arbeiter nichts
beiträgt, sondern das der Arbeitgeber allein beschaffen muß. Ferner
kann eine erzeugte Ware oft nicht sogleich, ja manchmal erst nach
langer Zeit verkauft werden. Der Arbeiter aber kann so lange nicht zu-
warten. Er muß also die Arbeit dem Unternehmer allein überlassen,
der damit auch das alleinige Risiko für den Absatz übernimmt. Der
Arbeiter begnügt sich mit einer Abfindung, die ihm nach gegenseitigem
Übereinkommen in der Form des Lohnes gewährt wird. Abgesehen von
der Verzinsung' des Anlage- und Betriebskapitals, muß der Unternehmer
auch einen Gewinnanteil für seine Arbeit in Anspruch nehmen. Ist der
Absatz der Ware günstiger, so wird auf den Unternehmer allerdings ein
verhältnismäßig großer Gewinnanteil treffen und es erscheint in diesem
Falle der Arbeiter im Nachteil. Allein wenn der Absatz ein ungünstiger
87. Vom Kapital.
149
ist, muß der Unternehmer auch allein den Verlust tragen; denn der
Arbeiter hat seinen Gewinnanteil schon zum voraus empfangen. Es
halten sich also für beide Teile Vor- und Nachteile die Wage.
Volkswirtschaftslehre für jedermann.
87. Wom Kapital.
I.
Eines Tages hatten sich die Nachbarn und Nachbarinnen unter dem
großen, schattigen Nußbaum des Dorfes zusammengefunden und die Kinder
hörten dem Gespräche der Erwachsenen aufmerksam zu.
Es war soeben die Rede davon, daß Karl, der Sohn eines Tisch-
lers, ein kleines Haus nebst einem ziemlich großen Acker für 15000 Mark
gekauft habe. Er hatte sogleich 3000 Mark angezahlt und den Rest
wollte er später in Teilzahlungen begleichen. Denn er verdiente täglich
31/2 Mark und verbrauchte nur 2 Mark.
„Wenn er so fortführt sparsam zu sein, wird er sich ein Vermögen
erwerben", sagten alle.
Die jungen Leute, welche dabei saßen und zuhörten, wollten auch
alle reich werden.
„Ihr braucht nur zu arbeiten und zu sparen, d. h. ihr müßt nicht
zu viel ausgeben", sagte Vater Richard zu ihnen.
„Vor allem sparen!" fügte der Lehrer hinzu. „Wenn ihr noch
so andauernd und hart arbeitet, aber jeden Tag das ausgebt, was ihr
an demselben Tag verdient, also von der Hand in den Mund lebt,
werdet ihr nie in den Besitz eines Kapitals gelangen. Durch Arbeit
kann man Geld gewinnen, durch Sparsamkeit es bewahren und ver-
mehren."
„Also das Kapital besteht aus G^ld?" fragte Paul. — „Gewiß!"
riefen mehrere der Umstehenden zugleich.
„Nicht immer", versetzte der Lehrer. „Hier seht ihr ein Fünfmark-
stück! Das ist doch Geld, nicht wahr?" — „Gewiß!"
»Nun gut. Wenn ich für das Geld Brot kaufe, so ist das kein
Kapital. Kaufe ich dagegen für das Geld ein Buch, welches ich zum
Unterricht gebrauche, so ist das mein Werkzeug — das Buch ist mein
Hammer, mein Hobel. — und da die Werkzeuge einen Teil des Kapitals
bilden, so sind die 5 Mark, welche ich für das Buch ausgab, als Kapital
anzusehen. Das Geld, welches man zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
ausgibt, ist kein Kapital, sondern Einkommen."
150
87. Vom Kapital.
Die Zuhörer waren über das, was der Lehrer gesagt hatte, etwas
verdutzt. Er mußte also damit anfangen ihnen auseinanderzusetzen, daß
das Geld an sich zu nichts dienen kann; man kann es nicht essen und
man kann mit einem Geldstück nicht schreiben, sägen, nähen oder das
Feld damit bearbeiten. Das Geld ist nur nützlich als Mittel zum Zweck.
Das Geld vertritt also bald Brot bald ein Werkzeug bald irgend etwas
anderes.
Nachdem er an diese Wahrheit erinnert hatte, wandte er sich an
einen Weber: „Ihr macht Leinwand, Nachbar Gutmann, was gebraucht
Ihr dazu?"
„Einen Webstuhl und Garn!"
„Eure Hände, Eure Arbeit genügen also dazu nicht. Ihr müßt
durchaus Garn haben, welches Euer Rohmaterial ist, und einen Web-
stuhl, welcher Euer Instrument, Eure Maschine ist. Nun wohl, Euer
Webstuhl, Euer Garn, der Raum, in welchem sich Euer Webstuhl be-
sindet, die Vorräte, welche Ihr haben müßt um auf Zahlung warten
zu können, bilden Euer Kapital. All diese Hilfsmittel braucht Ihr zur
Herstellung der Leinwand. Alles, was außer Eurer Arbeit zu diesem
Zwecke erforderlich ist, bildet das Kapital."
„Sind der Pflug, die Ochsen, die Schafe ebenfalls Kapital?"
„Ohne Zweifel! Denken wir uns einen jungen Mann, welcher
anfängt Geld zu verdienen und jeden Tag eine Mark erspart. Nach
100 Tagen hat er 100 Mark. Ist dies ein Kapital? Wir wissen es
noch nicht; denn es kommt darauf an, was er mit dem Gelde anfängt.
Augenblicklich und solange er es in seiner Schublade verwahrt, ist es
nur ein Mittel um etwas zu bekommen. Er kann sich entschließen, das
Geld für sein Vergnügen auszugeben; in diesem Falle wäre es kein
Kapital. Legt er es aber in der Sparkasse auf Zinsen, so ist es ein
Kapital; denn es erzeugt Einkommen. Wenn er durch seine Er-
sparnisse endlich dazu gelangt sich für sein Geld einen Webstuhl und
Garn kaufen zu können, so hat er sein Geld in ein Industriekapital
umgewandelt, welches, beiläufig gesagt, ihm viel mehr einbringen kann,
also produktiver ist.
So gelangt man durch Sparen zum Kapital. Sparen heißt sich
einschränken; wer sich aber einschränkt, kann etwas zurücklegen. Es ist
nicht nötig viel zu verdienen, um sparen zu können; man kann dies
auch bei geringem Verdienst; man muß nur weniger ausgeben, als man
einnimmt. Halm bei Halm baut sich der Vogel sein Nest und aus
kleinen Bächen entstehen große Flüsse."
-------,---------------- - -- - I
87. Vom Kapital. 151
II.
Einer der Nachbarn wollte nicht zugeben, daß das Garn ebensogut
als Kapital betrachtet werden könne wie der Webstuhl oder das Korn
ebensogut Kapital sei wie der Acker.
Der Lehrer antwortete: „Auch andere haben ebenso wie Ihr be-
merkt, daß Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Arten von Kapital
bestehen. Man hat sie deshalb mit verschiedenen Namen bezeichnet und
nennt das eine „stehendes Kapital" — Anlagekapital, das andere „um-
laufendes Kapital" — Betriebskapital. Der Webstuhl bleibt im Arbeits-
raum und verläßt diesen nicht; das Garn dagegen wird herbeigebracht,
zu Leinwand verarbeitet, verschickt und wieder durch anderes Garn er-
setzt. Das Garn und die Leinwand gelangen wie das Geld von einer
Hand in die andere oder, wie man sagt, „sie laufen um". Beachtet also,
daß umlaufen soviel sagen will als „den Eigentümer wechseln". Der
Webstuhl ist also ein stehendes Kapital, das Garn ein umlaufendes Kapital.
Wohlverstanden ist aber der Webstuhl nicht das einzige stehende
Kapital. Man kann alle diejenigen Gegenstände dahin rechnen, welche
man nicht oft erneuert und womit man keinen Handel treibt. Dagegen
rechnet man zum umlaufenden Kapital sowohl das Vieh, welches man
mager kauft um es zu mästen und wieder zu verkaufen, als auch das
Garn des Webers, das Leder des Schuhmachers, das Tuch des Schneiders,
die Kohlen zum Heizen und das Öl zum Schmieren der Maschine, das
Geld zur Bezahlung der Steuer, der Miete, der Gehalte der Angestellten,
der Löhne der Arbeiter und Dienstboten, der Sämereien zur Aussaat
und die vielen unvorhergesehenen Ausgaben.
„Ist nun z. V. der Wagen ein stehendes oder umlaufendes Kapital?"
— „Ein umlaufends Kapital". „Ihr urteilt nach dem Anschein. Ehe
man sich aber darüber entscheiden kann, muß man wissen, wozu der
Wagen dient. Erfahre ich, daß er einem Wagenfabrikanten gehört, so
weiß ich, daß er eine Ware ist, also ein umlaufendes Kapital; denn er
geht von einem Eigentümer zum anderen, von Hand zu Hand. Gehört
er aber einem Lohnkutscher, so bildet er ein stehendes Kapital. Er ist
das Werkzeug des Kutschers; mit Hilfe seines Wagens leistet er nur den
Dienst mich zu befördern, welchen Dienst ich ihm bezahle. Wenn aber
nun der Wagen ein Luxuswagen ist, dann ist er keineswegs ein Kapital;
denn er produziert nichts. Er ist ein Gegenstand der Konsumtion, des
Verbrauchs. Der Eigentümer benutzt ihn so lange, bis er unbrauch-
bar geworden ist, was man ebenfalls konsumieren nennt. Das Wort
konsumieren bedeutet nicht bloß verzehren oder essen sondern auch ver-
brauchen, ausnutzen."
152
88. Vom Kredit.
„Noch eine andere Frage: die Kenntnisse des Arztes, zu welcher
Art von Kapital gehören diese? Ihr wundert Euch, daß Kenntnisse
ein Kapital sein sollen. Aber sind seine Kenntnisse nicht das Werkzeug
für seine Arbeit? Mit Hilfe seines Wissens, seiner Kenntnisse heilt er
Euch; er schafft Euch Gesundheit und Ihr zahlt ihm den Euch erwiesenen
Dienst. Das Kapital des Arztes, des Rechtsanwalts, des Lehrers,
des Ingenieurs ist ein geistiges und kann wie die meisten Werkzeuge
zu den stehenden Kapitalien gerechnet werden." „Das ist wirklich
so," bemerkte Vater Reinhard. „Ich schicke meinen Sohn in die
Schule und lasse ihn jahrelang lernen, was viel Geld kostet. Mein
Sohn arbeitet und sammelt jeden Tag in seinem Kopf zwar keine
Fünfmarkstücke, aber nützliches Wissen und Kenntnisse. Nach einer ge-
wissen Zeit kann er Nutzen davon ziehen. Jetzt begreife ich, daß Kennt-
nisse ebenfalls ein Kapital sind."
„Der Handwerker," schloß der Lehrer die Unterhaltung, „welcher
sein Handwerk gründlich gelernt hat und geschickt ist, besitzt ebenfalls
ein Kapital, nämlich seine Geschicklichkeit; denn man bezahlt ihn besser
als den ungeschickten und besser als den Tagelöhner, welcher nur den
Dienst seiner beiden Arme bieten kann." Nach Block.
88. Wom Kredit.
Wenn eine Eisenhandlung einem Schmied das Jahr hindurch das
Eisen liefert gegen das Versprechen, daß am Ende des Jahres die
Rechnung bezahlt werde, so gibt die Handlung dem Schmied Kredit.
Wenn der Schmied seine Arbeit den Kunden liefert und ebenfalls nicht
sogleich, sondern erst später bezahlt wird, so gewährt er seinen Kunden
Kredit. Er setzt voraus, daß sie ihn zahlen können und wollen. Wenn
der Schmied Gesellen hat und diese erhalten ihren Lohn alle zwei Wochen
vom Meister, so geben sie während dieser zwei Wochen dem Meister
Kredit. Vertraut der Kapitalist einem Handwerker eine gewisse Summe
als Betriebskapital an, so genießt dieser Handwerker beim Kapitalisten
Kredit. Der Kapitalist hat Vertrauen zum Handwerker sowie zum Er-
trag seines Berufes und hofft, daß nicht nur das Kapital sicher angelegt
sei, sondern auch die Zinsen davon regelmäßig entrichtet werden.
Der Kredit ist mithin das Vertrauen einem Menschen Gegenstände
von Wert zu übergeben, ohne sofortige Gegenleistung zu erhalten, bloß
auf das Versprechen hin den ausbedungenen Gegenwert später zu erstatten.
Der Kreditgeber wird Kreditor oder Gläubiger (Glaubengewährender),
der Kreditnehmer Debitor oder Schuldner genannt.
88. Vom Kredit.
153
Der Schuldner muß gewisse persönliche Eigenschaften besitzen, welche
Zutrauen einflößen. Dahin rechnen wir besonders Fleiß, Geschicklich-
keit, Sparsamkeit und Redlichkeit. Unter Umständen genügen jedoch diese
persönlichen Eigenschaften nicht, sondern es wird vom Gläubiger vielfach
auf das Vermögen gesehen, welches der Schuldner besitzt um allenfallsige
Versprechen erfüllen zu können. Einem Manne, der vermöglich ist, wird
bei gleichen persönlichen Eigenschaften eine größere Summe anvertraut
als einem vermögenslosen.
Beim Kreditnehmen kommt sehr viel auf die pünktliche Ersiillung
der eingegangenen Verpflichtungen an. Wer den Zins oder die Rück-
zahlung des Kapitals an dem festgesetzten Tage leistet, genießt mehr Ver-
trauen beim Kreditgeber als derjenige, der damit zu spät kommt oder
gar eine Mahnung abwartet. Der erstere erhöht den Kredit, der letztere
schwächt denselben. In der kaufmännischen Welt wird mit äußerster
Strenge darauf gehalten, daß Zahlungs- oder Lieferungsversprechen zur
verabredeten Zeit ohne den geringsten Aufschub erfüllt werden. Im
allgemeinen weniger genau sind hierin die übrigen Stände. Es gibt
Geschäftsleute, die ganz gut am Verfalltag ihren Zins zahlen könnten;
allein sie warten und warten, weil sie sich von dem Gelde nicht trennen
können. Indessen zur Ablieferung müssen sie sich denn doch einmal ent-
schließen, wenn sie nicht durch das Gesetz dazu angehalten sein wollen.
Daß ein solches Verhalten Unverstand ist, der die betreffenden Leute
wirtschaftlich schädigt, leuchtet ein.
Das Kreditgeben beruht wesentlich auf der Rechtssicherheit. Der
Staat schützt die Rechte des Eigentums. Es bestehen besondere Gesetze,
welche die Verhältnisse zwischen Gläubiger und Schuldner ordnen. Er-
füllt ein Schuldner seine Verpflichtungen nicht, so kann er vermöge der
Gesetze dazu angehalten werden. Der Kredit kann weder erzwungen
noch gesetzlich bestimmt werden. Er muß wie Achtung und Zuneigung
als freier Ausfluß des persönlichen Willens erworben werden.
Doch hat der Kredit seine Schattenseiten durch den Mißbrauch, der
mit dem Vertrauen anderer getrieben wird. Die Leichtigkeit mit Hilfe
des Kredits große, gewinnbringende Geschäfte zu machen verleitet nicht
selten zu gewagten, unsicheren Spekulationen; man kauft Massen von
Waren in der Hoffnung sie bis zur Zahlungszeit mit Gewinn wieder
absetzen zu können. Diese Hoffnung schlägt häufig fehl; man verkauft
entweder gar nicht oder mit Verlust und letzterer ist oft größer als die
Summe dessen, was man sein Eigentum nennen darf. Zur Verfallzeit
kaun man nicht bezahlen und der Kredit ist aus immer dahin.
Nach Palm und Beege.
154
89. Von der Konkurrenz und dem Preise der Waren.
89. Won der Konkurrenz und dem preise der Waren.
a) Konkurrieren heißt mitbewerben. Ist eine Stelle zur Besetzung
ausgeschrieben und melden sich mehrere, so nennt man diese Ange-
meldeten Konkurrenten. Wer die besseren Eigenschaften besitzt, wird die
Stelle wohl erhalten. Einem Handwerksmeister, der noch einen Gesellen
braucht, bieten sich im Lauf des Tages mehrere zum Eintritt an. Der
Meister kennt keinen derselben; allein er prüft ihre Zeugnisse, die sie
von früheren Meistern erhalten, und gibt nun demjenigen den Vorzug,
dessen Zeugnisse die besseren sind.
Ein größerer Bau soll hergestellt werden. Zeichnung und Kosten-
anschlag liegen im Bauamte zu jedermanns Einsicht offen. Die einzelnen
Arbeiten sollen vergeben werden und es ist hierzu ein Bietungstermin
anberaumt. Demjenigen unter den Bietern, welcher bei vorausgesetzter
preiswerter Arbeit dieselbe am billigsten herstellt, wird in der Regel die
Arbeit übertragen. In beiden Fällen waren die Beteiligten, welche sich um
dieselbe Stelle, um dieselbe Arbeit bewarben, unter sich Konkurrenten.
Man sieht, daß die Konkurrenz da eintritt, wo mehrere die gleiche Dienst-
leistung oder die gleichen Produkte auf demselben Platz anbieten. Die-
jenigen, welche das Angebot machen, nennt man auch wohl Produzenten,
die Abnehmer oder Nachfragenden Konsumenten. Wo nur einer an-
bietet, besteht keine Konkurrenz.
Welches sind nun die Wirkungen der Konkurrenz auf die Produ-
zenten und Konsumenten?
Die Konkurrenz weckt den Wetteifer des Produzenten. Jeder der-
selben will den Vorzug vor dem anderen erhalten, jeder die größere
Gunst des Publikums erwerben. Zufolge dieses Wettkampfes wird die
Tätigkeit und Einsicht sämtlicher Produzenten gefördert; jeder muß sich
bestreben die Bedürfnisse der Abnehmer zu berücksichtigen und ihnen gerecht
zu werden. Dadurch ruft die Konkurrenz einen großen Trieb zur Selbst-
erziehung und geschäftlichen Ausbildung hervor.
Besonders bemerkenswert sind die Vorteile der freien Konkurrenz
für den Konsumenten. Ohne Konkurrenz gibt es keine Auswahl. In
diesem Fall ist man auf das angewiesen, was gerade geboten wird, ob
es gut oder schlecht, billig oder teuer ist. Anders verhält es sich bei
vorhandener Konkurrenz; diese vermehrt die Produktion, also das An-
gebot. Da der Preis der Ware oder der Dienstleistung sich nach dem
Mehr oder Weniger des Angebots richtet, so bewirkt die Konkurrenz
billigere Preise. Billigere Preise und gute Beschaffenheit aber sind die
Forderungen der Abnehmer.
89. Von der Konkurrenz und dem Preise der Waren.
155
Mit diesen Vorteilen der Konkurrenz gehen aber auch Nachteile
Hand in Hand. Die Konkurrenz verschlechtert vielfach die Fabrikate;
sie drückt in manchen Erwerbszweigen zeitweilig die Preise so tief herab,
daß der Hersteller kaum mehr dabei bestehen kann; sie führt manchen
Unternehmer zum Bankrott; sie verleitet häusig zur Anwendung un-
erlaubter, verwerflicher Mittel, sogar oft zur Fälschung und Betrug.
In den meisten Fällen regelt die Macht der Zeit die Verhältnisse;
sie beseitigt die Störungen, welche der Unverstand und die Schlechtigkeit
im wirtschaftlichen Leben verursachen. Die Käufer wenden sich mit Un-
willen von denen ab, von welchen sie übervorteilt oder hintergangen
werden, und strafen sie dadurch, daß sie ihr Angebot unbeachtet lassen.
In wichtigen Fällen schreiten die Strafgerichte ein, z. B. bei Fälschung
von Lebensmitteln.
Der Staat pflegt außerdem noch viele Waren gegen erdrückende
Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Wenn z. B. in einem Staate
der Winzer den Wein um zu geringen Preis verkaufen muß, weil der
Markt schon von anderen Ländern her überreich versehen wird, so sucht
der Staat den inländischen Erzeugnissen dadurch aufzuhelfen, daß er
fremden Wein mit einem Eingangszoll belegt. Einen solchen Zoll nennt
man Schutzzoll; er wird vorzugsweise auf die Erzeugnisse verschiedener
Industriezweige gelegt, z. B. auf Gespinste und Gewebe, Metallwaren,
Luxusgegenstände u. dgl. Wenn eine derartige Besteuerung der Einfuhr
zum Schutze der einheimischen Erzeugnisse den gesamten Handelsbezie-
hungen eines Staates zu Grunde liegt, so nennen wir dies Schutzzoll-
system. Im Gegensatz zu demselben steht das Freihandelssystem, bei
welchem kein Schutzzoll erhoben, sondern der Konkurrenz freier Spiel-
raum gelassen wird.
Manche Waren werden in gewissen Ländern nur vom Staate her-
gestellt oder verkauft, wie in Frankreich, Italien und Österreich der
Tabak, in anderen Ländern das Salz. Der Staat bestimmt dann auch,
unabhängig von jeder Konkurrenz, den Preis der Ware. Ein solches
Vorrecht des Staates nennt man Monopol (Tabak- und Salzmonopol)
und die vom Staate festgesetzten Preise Monopolpreise.
d) Jede nützliche Sache oder Dienstleistung hat ihren Wert. Die
Arbeit, die der Geselle seinem Meister leistet, der Gegenstand, den der
Handwerksmann verfertigt oder liefert, haben einen Wert. Der Geselle
bekommt für seine Arbeit einen entsprechenden Lohn; der Handwerksmann
erhält für den gelieferten Gegenstand eine bestimmte Geldsumme und
das nennt man den Preis der Ware.
156
89. Von der Konkurrenz und dem Preise der Waren.
Natürlich kann der Geschäftsmann seine Erzeugnisse nicht um jeden
Preis verkaufen. Um keine Einbuße in seinem Geschäfte zu erleiden,
muß er in gewissenhafter Weise die Auslagen für Rohstoffe, die Arbeits-
löhne und die Geschäftsunkosten, wie Kapitalzins, Miete, Transport-
spesen, Versicherungsprämie u. s. w., in Rechnung ziehen. Nur auf diese
Weise vermag er die Fabrikationskosten eines Gegenstandes genau zu
bestimmen. Man nennt sie auch Kosten- oder Selbstkostenpreis
und er wird aus der Summe aller Auslagen, welche für die Herstellung
eines Gegenstandes verwendet werden, ermittelt.
Nun muß aber auch der Geschäftsmann für die Mühe und Arbeit
bei Herstellung des Gegenstandes angemessen bezahlt werden, d. h. so,
daß er und seine Familie anständig von seiner Arbeit leben können.
Rechnet man zu dem Kostenpreis noch den Teil hinzu, welcher dem
Unternehmer zukommen soll, so erhält man den natürlichen Preis.
Der Gegenstand kann nun über und unter dem natürlichen Preis
verkauft werden. Der Erlös für den verkauften Gegenstand ist der
Verkaufs- oder Marktpreis. Sinkt der Marktpreis unter den
natürlichen Preis, so kommt der Produzent hierdurch zu Schaden; fällt
er längere Zeit unter den Kostenpreis, so wird der Unternehmer in der
Folge zu Grunde gehen.
Hält sich der Marktpreis anhaltend wesentlich höher als der natür-
liche Preis, so gewährt er dem Unternehmer einen reichlichen Gewinn
und veranlaßt Konkurrenz. Allein größere Konkurrenz vermehrt auch
das Angebot. Dadurch werden die Preise herabgedrückt. Man ersieht
hieraus, daß ein Bestreben vorhanden ist den Marktpreis mehr und
mehr dem natürlichen Preis zu nähern, also die Schwankungen unter
und über demselben auszugleichen. Der Marktpreis hängt vom Angebot
und der Nachfrage ab. Wird viel angeboten und wenig begehrt, so
sinkt der Preis; im umgekehrten Falle steigt derselbe.
Indessen hat auch die Meinung vom zukünftigen Begehren und
Anbieten Einfluß auf das Steigen und Fallen der Preise. Den Kauf
und Verkauf sowie die Fabrikation für den zukünftigen, nicht sofortigen
Bedarf nennt man Handel und Fabrikation auf Spekulation. Beruht
die Spekulation auf nüchterner Erfahrung und hoher Wahrscheinlichkeit,
so ist sie berechtigt. Fußt sie dagegen auf bloßen Möglichkeiten oder
gar Unwahrscheinlichkeiten, so ist sie ein unberechtigtes und bedenkliches
Wagnis. Wird sie in diesem Fall ohne Mitwissen derer unternommen,
welche beim Mißlingen derselben dargeliehene Gelder oder Rohstoffe
verlieren, so ist sie verwerflich. Ein wildes Spekulationsunwesen straft
sich wie jeder Mißbrauch menschlicher Freiheit von selbst. Nach Palm.
90. Ehrlich währt am längsten.
157
90. Khrtich ivästrt am längsten.
Üb' immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab!
Wie im übrigen Leben, so müssen auch im Erwerbsleben die Grund-
sätze der Sittlichkeit das Ganze beherrschen. „Besser gutlos denn ehr-
los", sagt ein altes Sprichwort und „Ehrlich währt am längsten, schuftig
lebt in Ängsten" ein anderes. So selbstverständlich dies erscheint, so
wird es doch oft vergessen; nicht nur, daß viele Menschen in einzelnen
Fällen die Regeln der Sittlichkeit, wo es sich um Erwerb handelt,
weniger streng beachten; es gibt sogar Leute, welche geradezu leugnen,
daß im Wirtschaftsleben die Gesetze der Sittlichkeit maßgebend sein
könnten. Das vornehmste der letzteren, die Wahrhaftigkeit, wird als
unannehmbar beiseite geschoben um der Lüge, dem Betrüge Platz zu
machen. Daß diese Auffassung eine des gesitteten Menschen unwürdige
ist, braucht nicht besonders bewiesen zu werden; sobald sie allgemein
wird, kommt der Erfolg jeder wirtschaftlichen Tätigkeit in Frage und
somit geht die Wirtschaft des ganzen Volkes zurück. Holland und Eng-
land Hütten niemals zu so hoher wirtschaftlicher Blüte gelangen können,
wenn dort nicht von alters her die Geschäftswelt reell, d. h. wahr und
gewissenhaft, gewesen wäre; und wenn die Engländer in den letzten
Jahren einige ihrer auswärtigen Handelsverbindungen verloren, so hat
dies seinen Grund zum Teil darin, daß sie an ihren früheren Grund-
sätzen nicht mehr so strenge festhalten.
Und wie es im großen und ganzen geht, so geht es auch im ein-
zelnen. Es kann ja wohl ein Mann Erfolge haben, trotzdem er unehr-
lich wirtschaftet, und auf einen solchen Manu zeigen dann alle diejenigen,
welche beweisen wollen, daß Treue und Ehrlichkeit im Geschäftsleben
überflüssig sei. Die Fälle, daß der unsolide Geschäftsmann vorankommt,
sind aber seltene Ausnahmen; die meisten derartigen Leute gehen zu
Grunde. Es würde auch wunderbar sein, wenn dem nicht so wäre.
Der Unerfahrene kann wohl einmal betrogen werden, wird sich aber
nach Erkenntnis des Betruges vom Betrüger abwenden. Das Geschäft
des Unehrlichen wird immer mehr zurückgehen anstatt sich zu erweitern.
Im großen wirtschaftlichen Verkehr macht sich dies allerdings erst nach
längerer Zeit fühlbar; im kleinen aber tritt der Rückschlag bald ein.
Jene Gewerbetreibenden, welche sich unehrlicher Mittel bedienen, um
einen außerordentlichen Gewinn zu machen oder die ehrliche Konkurrenz
zu verdrängen, werden schnell ihre Kunden verlieren und der allgemeinen
Verachtung anheimfallen. Nach Kall?.
158
91. Der Schatzgräber. — 92. Vom Wechsel.
91. Per Schatzgräber.
1. Arm am Beutel, krank am Herzen,
Schleppt' ich meine langen Tage.
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!
Und zu enden meine Schmerzen
Ging ich einen Schatz zu graben.
„Meine Seele sollst du haben!"
Schrieb ich hin mit eignem Blut.
2. Und so zog ich Kreis' um Kreise,
Stellte wunderbare Flammen,
Kraut und Knochenwerk zusammen:
Die Beschwörung war vollbracht.
Und auf die gelernte Weise
Grub ich nach dem alten Schatze
Auf dem angezeigten Platze;
Schwarz und stürmisch war die Nacht.
3. Und ich sah ein Licht von weiten
Und es kam gleich einem Sterne
Hinten aus der fernsten Ferne,
Eben als es zwölfe schlug.
Und da galt kein Vorbereiten:
Heller ward's mit einem Male
Von dem Glanz der vollen Schale,
Die ein schöner Knabe trug.
4. Holde Augen sah ich blinken
Unter dichtem Blumenkränze;
In des Trankes Himmelsglanze
Trat er in den Kreis herein.
Und er hieß mich freundlich trinken
Und ich dacht': es kann der Knabe
Mit der schönen, lichten Gabe
Wahrlich nicht der Böse sein.
5. „Trinke Mut des reinen Lebens!
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst mit ängstlicher Beschwörung
Nicht zurück an diesen Ort.
Grabe hier nicht mehr vergebens!
Tages Arbeit, abends Gäste,
Saure Wochen, frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort!" Goeth«.
92. Worn Wechsel.
Ein wesentliches Hilfsmittel des kaufmännischen Verkehrs ist der
Wechsel.
Wechsel kannte im gewissen Sinne schon das Altertum. Als Plato
nach Ägypten ging um sich bei den Priestern der Isis und des Osiris
Weisheit zu erholen, verkaufte er das Öl von seinem Landgute an einen
nach Ägypten fahrenden Kaufmann; er selbst fuhr auf dessen Schiffe
mit, hatte inzwischen Pfandrecht an der Ware und empfing in Ägypten
sein Geld, als der Kaufmann das Öl verkauft hatte. Auch Verbür-
gungen unter Kausteuten kamen bereits im Altertum vor und ersetzten
einigermaßen unsern Wechselverkehr.
92. Vom Wechsel.
159
Bei der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Münzsorten und dem
Verbote, in anderer als ortsüblicher Münze Zahlung zu leisten, ent-
wickelte sich im Mittelalter bald von Italien aus ein bedeutendes Wechsel-
geschäft. Lombardische und florentinische Wechsler schlugen in den be-
deutenden Meßstädten ihre Zahltische auf und tauschten unter Zuschlag
eines Aufgeldes fremde Münzen gegen solche um, die an dem betreffenden
Orte gültig waren. Bald brachten die Reisenden ihre Zahlungsmittel
nicht mehr in barem Gelde mit, sondern übergaben dieselben einem
Wechsler ihres Wohnortes, der ihnen dafür einen schriftlichen Auftrag
zur Zahlung der entsprechenden Summe an einen Geschäftsfreund des
Bestimmungsortes einhändigte. Im 13. Jahrhundert finden sich in
Italien die ersten Urkunden, die als Wechsel gelten können; im folgenden
Jahrhundert breitete sich der Wechselverkehr in Italien immer weiter
aus, während er in Deutschland noch verpönt war. So wurden in
Frankfurt noch i. I. 1394 Meßgüste, die mit Wechseln bezahlen wollten,
gestraft. Zur weiteren Ausbreitung trug die Unsicherheit, die damals
allenthalben herrschte, viel bei. Denn durch Wechsel ließen sich bedeu-
tende Werte ganz unbemerkt weithin verführen; außerdem konnten mittels
Wechsels rasch größere Zahlungen geleistet und dabei dem Zahler das
zeitraubende Aufzählen, dem Empfänger die Mühe erspart werden, welche
das Durchmustern, Wiegen und Probieren der Münzen erforderte.
Wegen der Unsicherheit der Aufbewahrung in einer offenen Herberge
pflegten die Handelsleute das Geld für die Wechsel, die sie mit sich
führten, nicht sofort zu erheben, sondern sich vorerst nur zu versichern,
daß der Wechsel an Zahlungs Statt angenommen werde. Zur Bekräf-
tigung ließen sie sich von dem Wechsler eine schriftliche Erklärung der
Annahme (Akzept) auf den Wechsel setzen. Auch nach Abschluß ihrer
Einkäufe holten sie nicht bares Geld, sondern gaben dem Verkäufer den
angenommenen (akzeptierten) Wechsel in Zahlung; dies geschah durch eine
kurze schriftliche Erklärung auf der Rückseite des Wechsels (in äorso,
Indossament). Indossament ist also ein neues Wechselversprechen mit
Wiederholung des früheren. Dadurch wird die Anwesenheit des Kauf-
manns am Zahlungsorte gänzlich entbehrlich gemacht. Hauptsächlich in
Frankreich bildete sich das Indossament im 17. Jahrhundert aus; die
Kaufleute in Deutschland und Italien sträubten sich aber lange dagegen.
Noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts war es in Neapel verboten einen
Wechsel mehr als einmal in Umlauf zu setzen, zu girieren (giro ----- Um-
lauf, Kreis). Dagegen wurde später eifrig darnach getrachtet das In-
dossament namentlich von guten Häusern zu erlangen. In England
kamen Wechsel mit 150 Indossamenten auf den Markt. Denn mit dem
160
92. Vom Wechsel.
Indossament nimmt die Umlauffähigkeit des Wechsels durch die Mög-
lichkeit des Diskontierens (des Abrechnens) zu. Dadurch können Ge-
schäftsleute, die nur über ein müßiges Kapital verfügen, den Wechsel vor
seiner Verfallzeit gegen einen kleinen Zinsabzug verkaufen. Während es in
Deutschland im 18. Jahrhundert noch als anrüchig galt seine Wechsel
diskontieren zu lassen, wurde es bei Engländern und Holländern zur Ge-
wohnheit Wechsel und andere Schuldscheine recht rasch zu diskontieren.
Mit der Zeit wurden in den Kreis der Wechsel auch Forderungen
aus Darlehen gezogen und es entwickelte sich der Unterschied zwischen
gezogenen und eigenen oder trockenen Wechseln. In dem gezogenen
oder trassierten Wechsel, auch Tratte genannt, beauftragt der Aussteller
(Trassant) einen anderen (den Bezogenen oder Trassaten) an eine dritte
Person (den Remittenten) eine bestimmte Geldsumme zu einer bestimmten
Zeit zu zahlen. Es wirken also bei dieser Art von Wechsel, der den
Charakter einer Anweisung trägt, drei Personen zusammen. In den
eigenen oder trockenen Wechseln, auch Solawechsel genannt, verpflichtet
sich dagegen der Aussteller selbst zur Zahlung der Wechselsumme an
einen zweiten; es ist also Aussteller und Zahler in einer Person ver-
einigt. Gegen diese Art von Wechsel trat anfangs die Geistlichkeit auf,
weil hier die Absicht eines Geldumtausches häufig bloßer Vorwand war
und sich die gesetzlichen Zinsverbote umgehen ließen; daher rührt auch
die Bezeichnung trockene oder tote Wechsel, weil sie unwirksam waren.
Doch hat auch hier die Macht der Zeit den Sieg davongetragen.
So hat sich allmählich ein wahrhaft großartiges Netz des Wechsel-
verkehrs über die ganze Kulturwelt ausgebreitet. Im Königreich Eng-
land allein, ohne Schottland und Irland, belief sich 1828 die Masse der
gleichzeitig umlaufenden Wechsel auf 80 Millionen Pfund Sterling. Da
die deutsche Wechselsteuer bei ihrer Einführung im Jahre 1874 sechs
Millionen Mark eintrug, so liefen damals Wechsel für 12 Milliarden
Mark in Deutschland um. Der Wechsel hat für den Geldverkehr eine
ähnliche Bedeutung erlangt wie die Eisenbahn für den Personen- und
Frachtverkehr und wie der Telegraph und das Telephon für den Nach-
richtenverkehr.
Mit der Ausbildung des Wechselverkehrs stellte sich auch die Not-
wendigkeit von Wechselordnungen ein, von Festsetzung der Rechtssätze, die
denselben betreffen. Die älteste Wechselordnung ist die von Bologna aus
dem Jahre 1454; in Deutschland wurden zuerst in Hamburg 1603, dann
in Nürnberg 1662 gesetzliche Bestimmungen des Wechselverkehrs erlassen.
Das ursprünglich nur einzelnen Ständen zustehende Wechselrecht geht in
den neueren Wechselordnungen mehr und mehr zu einer allgemeinen
93. Von der Buchführung.
161
Auffassung des Volkes, ja der Welt im ganzen über. Die Fähigkeit sich
wechselmäßig zu verpflichten war ursprünglich auf die Kaufleute be-
schränkt und noch bis ins 19. Jahrhundert bei den meisten Völkern
nur ein Vorrecht gewisser Gutsherren, Fabrikanten u. s. w.
Vor 1849 gab es in Deutschland allein 56 verschiedene Wechsel-
rechte; seit diesem Jahre erhielt die allgemeine deutsche Wechselordnung
in den meisten deutschen Staaten durch besondere Einführungsgesetze
bindende Kraft. Dieselbe wurde durch die 1862 in Nürnberg tagende
Kommission, die das Deutsche Handelsgesetzbuch beriet, in einigen Punkten
erläutert und durch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April
1871 zum Reichsgesetz erklärt; durch Gesetz vom 22. April 1871 wurde
dasselbe in Bayern eingeführt.
So großen Wert der Wechsel für den kaufmännischen Verkehr hat,
so gefährlich kann das Ausstellen und Annehmen eines solchen für den
Unkundigen werden; er ist ein zweischneidiges Schwert. Da der Wechsel
jetzt den verschiedenartigsten Geschäftszwecken dienstbar gemacht wird und
die Wechselfähigkeit unbeschränkt ist, bleibt die Kenntnis des Wechselrechtes
für jeden Geschäftsmann unerläßlich. Wer dasselbe nicht kennt, hüte sich
einen Wechsel auszustellen oder zu akzeptieren. Hat er aber einen solchen
ausgestellt, so trachte er mit allen Mitteln darnach denselben zur Verfall-
zeit einzulösen oder schlimmsten Falles dessen Verlängerung (Prolongation)
zu erreichen. Denn das Wechselrecht räumt dem Gläubiger bedeutend
größere Rechte ein als das gewöhnliche Zivilrecht. — Der kleine Ge-
schäftsmann bediene sich des Wechsels nur im äußersten Falle, wenn er
desselben durchaus nicht entbehren kann! Bei Barzahlung kauft er ja
auch billiger.
93. Won der Buchführung.
Ordnung und Pünktlichkeit sind der
goldene Boden des Handwerks.
Die Buchführung befaßt sich mit dem Vermögen und dessen Ver-
änderungen; sie ist die Grundlage des kaufmännischen Gewerbebetriebs;
ohne sie ist eine gediegene Geschäftsführung nicht wohl denkbar. Viele
Handwerker sagen zwar: „Ich verstehe mein Geschäft gut und brauche
deshalb keine Buchführung; ich weiß genau, was ich schuldig bin; wer
etwas zu bekommen hat, wird sich schon melden; auch weiß ich, was
ich zu fordern habe, und kann leicht ohne Buchführung berechnen, ob
ich nach Jahr und Tag in meinen Vermögensverhältnissen vor- oder
rückwärts gekommen bin; für ein schwaches Gedächtnis genügen einige
Bemerkungen im Kalender oder auf der Schiefertafel."
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 11
162
93. Von der Buchführung.
Bei einem ganz kleinen Geschäftsbetrieb und bei sehr treuem Ge-
dächtnis mögen wohl einige Bemerkungen im Kalender hinreichen, aber
nur der betreffende Handwerker allein wird eine solche Buchführung
verstehen, kein zweiter jedoch sich darin zurecht finden. Und wenn das
Haupt der Familie nicht mehr besteht, was dann? Die Hinterbliebenen
müssen auf gut Glück sich der Redlichkeit anderer anheimgeben und haben
gar oft mehr oder minder den Schaden.
Diejenigen, welche Forderungen haben, werden sich wohl melden,
können aber, selbst ohne Wissen und Willen, mehr verlangen, als ihnen
zusteht; ob aber alle kommen werden, die Zahlung zu leisten haben,
bleibt doch sehr fraglich. Darum muß man jedem, der einen größeren
Hausstand führt und ein Handwerk betreibt, aufs eindringlichste empfehlen
die Buchführung nicht zu unterlassen. Für den Kaufmann ist sie gesetz-
lich vorgeschrieben; da aber nach den geltenden Gesetzesbestimmungen
auch Gewerbetreibende, deren Betrieb über den Umfang des Handwerks
hinausgeht, vor Gericht als Kaufleute angesehen und beurteilt werden,
so sind auch für dieselben die Bestimmungen des Allgemeinen Deutschen
Handelsgesetzes maßgebend. Nach § 38 u. f. des Handelsgesetzbuches
müssen die Handelsgeschäfte des Kaufmanns und die Lage seines Ver-
mögens aus den zu führenden Büchern vollständig zu ersehen sein.
Bücher, die so geführt sind, daß nur der Buchführende selbst sich darin
auskennt, sind keine ordnungsmäßigen; soll die Buchführung andern
verständlich sein, so ergibt sich die Notwendigkeit die allgemein gebräuch-
liche Art und Weise der Buchführung nicht zu verlassen.
Neben den eigentlichen Handelsbüchern bildet die Korrespondenz
die Hauptgrundlage zur vollständigen Kenntnis der Geschäftsvorgänge.
Jeder Kaufmann ist verpflichtet, die empfangenen Handelsbriefe aufzu-
bewahren und die ausgehenden Handelsbriefe nach der Zeitfolge in ein
Kopierbuch einzutragen.
Es gibt bei einer einfachen, für jedermann klaren und verständ-
lichen Buchführung keine Schwierigkeiten; sie nimmt auch kaum mehr
Zeit in Anspruch als jede noch so mangelhafte.
Die Buchführung hat aber auch noch andere, gar nicht zu unter-
schätzende Vorteile. Eine geordnete Buchführung stellt uns vor Augen,
wieviel wir zum Leben nötig haben, und dies wird uns veranlassen
uns an eine weise Einschränkung zu gewöhnen. Die Mittagssonne
scheint nicht den ganzen Tag. Gedenke der Handwerker daher in guten
Tagen auch an Zeiten, in welchen die Geschäfte aus verschiedenen Ur-
sachen stocken, wodurch die Einnahmen geschmälert werden können!
Die Buchführung verleiht eine große Sicherheit und Festigkeit in allen
94. Meister, Lehrling und Geselle.
163
geschäftlichen Unternehmungen. Sie erweckt Vertrauen, Vertrauen zu
sich selbst, Vertrauen seiner Mitbürger. Herrscht in einem Staate über
Soll und Haben, über Ausgabe und Einnahme ein gewisses Dunkel,
dann fehlt das Vertrauen und man sagt: „Dort herrscht polnische
Wirtschaft." Wie im großen, so auch im kleinen.
Schon aus diesen wenigen Andeutungen erhellt, daß es nicht genug
ist, daß der Handwerksmann sein Geschäft gut versteht; es ist für
denselben unbedingt notwendig, daß er auch die Buchführung kennt und
anwendet, wenn er nicht an seinem Vermögen Einbuße erleiden will.
94. Meister, Lehrling und Geselle.
Wer soll Meister sein? Wer was ersann.
Wer soll Geselle sein? Wer was kann.
Wer soll Lehrling sein? Jedermann. Gocthe.
Gehen wir einmal in Meister Konrads Werkstätte! Dort sind außer
dem Meister vier Gesellen und zwei Lehrlinge beschäftigt. Der Meister
ist ein angesehener Mann in der Stadt. Er ist nicht nur sehr geschickt
sondern auch durchaus ehrenhaft. Pfuschereien und Betrügereien ist er
feind. Sein gegebenes Wort hält er streng. Darum läßt jedermann
gern bei ihm arbeiten. Man kennt des Meisters Wahlspruch: „Betet
und arbeitet! Tut Ehre jedermann! Habt die Brüder lieb! Fürchtet
Gott! Ehret den König!" Der Meister hat es auch bewiesen, daß er
diese vielsagenden Worte des Apostels verstanden hat. Einem Meister
aus einer Großstadt, der von jenen Worten nichts wissen wollte, sagte
er: „Von der Erfüllung dieser Worte hängt das Wohl des einzelnen
wie der Gesamtheit ab. Seitdem darauf in weiten Kreisen wenig mehr
geachtet wird, haben Stolz und Eigennutz, Lug und Trug, Genußsucht
und Unzufriedenheit, Haß und Zwiespalt sich wie wilde Wasser über
unser Volk ergossen und in Haus und Werkstütte, Schule und Kirche,
Gesellschaft und Staat namenloses Elend gebracht. Gott und der Kirche
Christi wandte man den Rücken und entfesselte im Menschen die Leiden-
schaft und Begehrlichkeit. Friede und Wohlstand, Arbeitslust und
Hoffnungsfreudigkeit sind aus manchem Hause und mancher Werkstätte
geschwunden; denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer denken nicht mehr an
den Herrn im Himmel. Pflichttreue und Opserfreudigkeit haben dem
Leichtsinne und dem Hasse, dem Neide und der Zuchtlosigkeit da Platz
gemacht, wo Meister und Gesellen, Herrschaften und Dienstboten sich
nicht mehr als Gotteskinder lieben."
Meister Konrad lebte und handelte aber auch nach Viesen Grund-
sätzen, hielt alle seine Angehörigen zu Zucht und Gottesfurcht an und
11*
164
94. Meister, Lehrling und Geselle.
gab ihnen hierin selbst das beste Beispiel. In seiner Jugend hatte sich
Meister Konrad mit vielen Kosten diejenigen Kenntnisse im Deutschen,
Rechnen, in der Buchführung u. s. w. erwerben müssen, ohne welche ein
Handwerksmeister in der Gegenwart nicht mehr vorwärts kommen kann.
Darum freute er sich, daß seinen Lehrlingen in der Gewerblichen Fort-
bildungsschule des Ortes Gelegenheit geboten war sich tüchtige Schnl-
kenntnisse anzueignen. Gern gewährte er denselben daher die zum Be-
such der Schule vorgeschriebene Zeit; ja er hielt die lässigen zum regel-
mäßigen und pünktlichen Schulbesuche an. Er zeigte ihnen, wie dringend
notwendig dem Handwerker diese Kenntnisse seien, wie gar mancher
geschickte Handwerker jetzt zu Grunde gehe, weil ihm die tüchtige Bil-
dung fehle.
Meister Konrad war seinen Gesellen ein Freund, seinen Lehrlingen
ein Vater. Die Lehrlinge wies er selbst in liebevoller, väterlicher Weise
in allen vorkommenden Arbeiten an. Er drang darauf, daß sie ein
offenes, freundliches und heiteres Wesen zeigten und sich in ihrem Be-
nehmen gegen ihn, die Gesellen und Mitlehrlinge bescheiden und höflich
erwiesen. Reinlichkeit und Ordnung in der Kleidung wie in der Werk-
stätte machte er ihnen zur Pflicht. Auch von den Gesellen sah er es
gerne, wenn sie seinen Anordnungen und Wünschen strenge Folge
leisteten oder ihre, wenn auch abweichende Meinung ihm bescheiden vor-
trugen. Er schürfte ihnen ein die Lehrlinge nicht mit Härte zu be-
handeln oder ihnen üble Laune entgelten zu lassen, sondern in denselben
die heranreifenden Gesellen zu sehen und ihrem Mangel an Kenntnissen
entgegenzukommen. Verträglichkeit und Friede in der Werkstätte war
Pflicht. Auch munterte er die Gesellen stets zu ihrer Fortbildung auf;
denn später, sagte er, wenn sie sich einmal selbst ansässig machten, würde
ihnen hierzu wenig Zeit bleiben. So suchte er durch freundliche und,
wenn es sein mußte, auch ernste Weisungen seine Lehrlinge und Gesellen
zu guten Sitten anzuhalten und vor Ausschweifungen zu bewahren.
Die Folge dieser Denk- und Handlungsweise war, daß ihn auch alle liebten
und ehrten. Besonders muß man anerkennen, daß Meister Konrad ein
sparsamer Mann war, der auch seine Gesellen und Lehrlinge in erfolg-
reicher Weise zum Sparen anleitete. Wenn auch manchem jungen Mann
das anfänglich nicht gefallen wollte, so hat er es dem Meister doch
später sehr gedankt.
Nie war Meister Konrad müßig. War er nicht in der Werkstätte
tätig, dann saß er an seinem Schreibtisch, machte Einträge in seine Bücher,
die stets in mustergültiger Ordnung waren, oder schrieb Briefe und
Rechnungen. Einige Abende in der Woche widmete er der Erholung;
95. Der treue Diener.
165
am liebsten weilte er bei den Seinigen in der Familie. Mit regem
Anteil verfolgte er die Hebung des Gewerbestandes. „Wenn wir nicht
alle einträchtig zusammenstehen," sagte er, „kann das Gewerbe nicht ge-
fördert werden." In den Sitzungen der Innung und des Gewerbe-
vereins mißte man ihn ungern, weil er infolge seiner tüchtigen Bildung
und reichen Erfahrung stets die rechten Mittel und Wege in den ver-
schiedensten Angelegenheiten angeben konnte.
Daß man einem solchen Meister gern die Söhne als Lehrlinge
anvertraute, läßt sich denken. Er nahm nie mehr an, als er mit gutem
Gewissen in seiner Werkstätte zu tüchtigen Handwerkern heranbilden
konnte; denn es war ihm eine heilige Pflicht um die Ausbildung der
jungen Leute. Lehrlinge, welche sich der väterlichen Zucht des Meisters
willig unterwarfen, seinen Weisungen gern Folge leisteten und auf-
merksam und fleißig waren, wurden tüchtige Gesellen und in anderen
Werkstätten mit Freuden aufgenommen. Sie waren dann dem Meister
auch dankbar. An seinem Geburtstage oder zum Neujahr erhielt Meister
Konrad aus der Fremde gar manchen Dankesbrief, der ihn sehr erfreute;
erkannte er doch daran, daß seine Arbeit nicht vergeblich gewesen. Von
den Schülern des Meisters ist jetzt schon mancher selbst Meister geworden;
nun erst erkennt er klar, wie richtig Meister Konrad gehandelt hat,
wie nötig auch seine Strenge oft war und welchen Segen Gottesfurcht
und Vaterlandsliebe, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit, tüchtige Schul-
kenntnisse und große Geschicklichkeit bringen.
Nach Schanze.
95. I)er treue Diener.
Major v. Tellheim. Just, sein Diener,
v. Tellheim. Bist du da!
Just (indem er sich die Augen wischt). Ja!
v. Tellheim. Du hast geweint?
Just. Ich habe in der Küche meine Rechnung geschrieben und die
Küche ist voll Rauch. Hier ist sie, mein Herr!
v. Tellheim. Gib her!
Just. Haben Sie Barmherzigkeit mit mir, mein Herr! Ich weiß
wohl, daß die Menschen mit Ihnen keine haben; aber —
v. Tellheim. Was willst du?
Just. Ich hätte mir eher den Tod als meinen Abschied vermutet,
v. Tellheim. Ich kann dich nicht länger brauchen; ich muß mich
ohne Bedienten behelfen lernen. (Schlägt die Rechnung auf und liest.) „Was
der Herr Major mir schuldig: drei und einen halben Monat Lohn, den
166
95. Der treue Diener.
Monat 6 Tlr., macht 21 Tlr. Seit dem ersten dieses an Kleinigkeiten
ausgelegt 1 Tlr. 7 Gr. 9 Pf.; Summa Summarum 22 Tlr. 7 Gr.
9 Pf." — Gut, und es ist billig, daß ich diesen laufenden Monat ganz
bezahle.
Just. Die andere Seite, Herr Major!
v. Tellheim. Noch mehr? (liest.) „Was dem Herrn Major ich
schuldig: an den Feldscher sür mich bezahlt 25 Tlr.; für Wartung und
Pflege während meiner Kur für mich bezahlt 39 Tlr.; meinem ab-
gebrannten und geplünderten Vater auf meine Bitte vorgeschossen ohne
die zwei Beutepferde zu rechnen, die er ihm geschenkt, 50 Tlr. Summa
Summarum 114 Tlr. Davon abgezogen vorstehende 22 Tlr. 7 Gr.
9 Pf., bleibe ich dem Herrn Major schuldig 91 Tlr. 16 Gr. 3 Pf."
— Kerl, du bist toll!
Just. Ich glaube es gern, daß ich Ihnen weit mehr koste; aber
es wäre verlorene Tinte es dazu zu schreiben. Ich kann Ihnen das
nicht bezahlen, und wenn Sie mir vollends die Livree nehmen, die ich
auch noch nicht verdient habe — so wollt' ich lieber, Sie hätten mich
in dem Lazarette krepieren lassen.
v. Tellheim. Wofür siehst du mich an? Du bist mir nichts
schuldig und ich will dich einem von meinen Bekannten empfehlen, bei
dem du es besser haben sollst als bei mir.
Just. Ich bin Ihnen nichts schuldig und doch wollen Sie mich
verstoßen!
v. Tellheim. Weil ich dir nichts schuldig werden will.
Just. Darum? nur darum? — So gewiß ich Ihnen schuldig
bin, so gewiß Sie mir nichts schuldig werden können, so gewiß sollen
Sie mich nun nicht verstoßen. — Machen Sie, was Sie wollen, Herr
Major, ich bleibe bei Ihnen, ich muß bei Ihnen bleiben. —
v. Tellheim. Und deine Hartnäckigkeit, dein Trotz, dein wildes,
ungestümes Wesen gegen alle, von denen du meinst, daß sie dir nichts
zu sagen haben, deine tückische Schadenfreude, deine Rachsucht —
Just. Machen Sie mich so schlimm, wie Sie wollen! Ich will
darum doch nicht schlechter von mir denken als von meinem Hunde.
Vorigen Winter ging ich in der Dämmerung an dem Kanäle und hörte
etwas winseln. Ich stieg hinab, griff nach der Stimme und glaubte
ein Kind zu retten und zog einen Pudel aus dem Wasser. Auch gut,
dachte ich. Der Pudel kam mir nach; und ich bin kein Liebhaber von
Pudeln. Ich jagte ihn fort, umsonst; ich prügelte ihn von mir, um-
sonst. Ich ließ ihn des Nachts nicht in meine Kammer; er blieb vor
96. O Wandern, du freie Burschenlust!
167 ,
der Tür auf der Schwelle. Wo er mir zu nahe kam, stieß ich ihn
mit dem Fuße; er schrie, sah mich an und wedelte mit dem Schwänze.
Noch hat er keinen Bissen Brot aus meiner Hand bekommen und doch
bin ich der einzige, dem er hört und der ihn anrühren darf. Er springt
vor mir her und macht mir seine Künste unbefohlen vor. Es ist ein
häßlicher Pudel, aber ein gar zu guter Hund. Wenn er es länger
treibt, so höre ich endlich auf den Pudeln gram zu sein.
v. Teil heim (für sich). So wie ich ihm! Nein, es gibt keine
völligen Unmenschen! Just, wir bleiben beisammen!
Just. Ganz gewiß! — Sie wollten sich ohne Bedienten behelfen?
Sie vergessen ihre Blessuren, und daß Sie nur eines Armes mächtig
sind! Sie können sich ja nicht allein ankleiden. Ich bin Ihnen un-
entbehrlich und bin — ohne mich selbst zu rühmen, Herr Major —
und bin ein Bedienter, der — wenn das Schlimmste zum Schlimmen
kommt — für seinen Herrn betteln und stehlen kann.
Lesstng. Aus „Minna von Barnhelm*.
96. H Wandern, du freie Wurschenkn st!
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt;
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
In früherer Zeit konnte kein Handwerker Meister werden, wenn
er nicht eine gewisse Zeit in der Fremde zugebracht hatte. In der
Gegenwart, in der man mit der Eisenbahn in 24 Stunden halb Europa
durchfahren kann, würde diese Bestimmung allerdings nicht am Platze
sein; aber immerhin gilt auch in der Jetztzeit der Mann, der in der
Fremde viel gesehen und gelernt hat, noch etwas bei seinen Genossen.
Selbstverständlich ist es, daß das Reisen allein den Mann noch nicht
macht; sondern dazu gehört auch die Beobachtung der Sitten und Ge-
bräuche anderer Menschen, das Ablauschen der Geschicklichkeiten der-
selben, Lust zur Weiterbildung u. s. w. Darum halte man den-
jenigen, der eine Gegend nur vom Eisenbahnzuge und eine Stadt nur
vom Bahnhöfe aus gesehen hat, nicht für einen solchen, der ein Urteil
über Menschen, Länder und Städte abgeben könnte. Beim Wandern
bleibt es immer eine Hauptsache, daß man zu Fuß geht. Dadurch
wird das Blut gehörig in Wallung gebracht, die Muskeln werden
straff, das Herz pocht vernehmlicher, die Augen leuchten heller, die
Wangen röten und runden sich, das Gemüt wird erhoben und für
Gottes Natur begeistert. Körper und Geist kommen beim Wandern
gleich gut weg.
168
96. O Wandern, du freie Burschenlust!
Hast du, lieber Schüler, deine Lehrzeit beendet, so bleibe nicht an
der Scholle haften, sondern geh in die Welt hinaus dich in deinem Be-
rufe zu vervollkommnen! Besuche die Handwerkstätten deines Geschäftes,
siehe, was für Dinge man dort herstellt, wie deine Genossen hierbei
ans Werk gehen! Spähe nach neuen Erfindungen und du wirst immer
besser vorbereitet. Wo sich günstige Gelegenheit bietet, da bleibe als
Geselle in Arbeit; passe recht auf, ob du etwas Neues lernen kannst,
und mache dich wieder ftemd, sobald es dir notwendig erscheint! So
bist du ein freier Mann, von dem der Dichter mit Recht sagen darf:
„Dem Wandersmann gehört die Welt
Mit allen ihren Weiten."
Viele deutsche Sprichwörter erkennen an, daß das Wandern für
Körper und Geist nützlich ist, daß der Besuch fremder Städte und
Länder den Geist bildet. Kein junger Uhrmacher sollte es versäumen,
die Städte Genf, Biel, La Chaux de Fonds, Lausanne, Offenbach, Tri-
berg, Freiburg mit ihrer hochentwickelten Uhrenfabrikation zu besuchen;
kein junger Maschinenbauer sollte an München, Nürnberg, Chemnitz,
Eßlingen, Magdeburg, Berlin, Stettin, Kiel vorüberwandern. Wie mag
einem jungen Goldarbeiter das Herz aufgehen, wenn er die herrlichen
Blüten der Goldschmiedekunst in München, Augsburg, Pforzheim, Lud-
wigsburg, Offenbach bewundert! Und dann für die verschiedenen Eisen-
arbeiter — welche reiche Gebiete eröffnen hier Thüringen, Westfalen,
die Rheinprovinz und die bayerische Rheinpfalz mit ihren vielen Fabrik-
städten und blühenden Jndnstrieen! Buchbinder können sich in ihrer
Geschicklichkeit in München, Ulm, Stuttgart, Freiburg, Einsiedeln,
Braunschweig vervollkommnen. Altdorf, Annaberg, Ruhla, Weimar,
Sonneberg bieten den Drechslern Aussicht auf Vermehrung ihrer Kennt-
nisse. Färber werden lohnende Arbeit in Prag, Breslau, Eupen, Gör-
litz, Hamburg, Heilbronn, Mülhausen finden. Jedem Schlosser wird
es zur Ehre gereichen, wenn er in München, Nürnberg oder Reut-
lingen, Solingen, Suhl, Kassel, Berlin in Arbeit gestanden ist. Da
allenthalben in Deutschland die Industrie blüht, so finden auch alle
Zweige des Gewerbes in den einzelnen Städten hervorragende Ver-
tretung. — Aber nicht allein die Städte unseres engeren und weiteren
Vaterlandes möge der wandernde Handwerksbursche bereisen; er sollte,
wenn es seine Mittel erlauben, auch das Ausland besuchen. Von frem-
den Völkern lernen und das Gute zur Verbesserung des Einheimischen
mit nach Hause bringen, soll sein Bestreben sein. Welch reiche Fülle
von Anregungen bietet jedem Gewerbebeslissenen die Königin der Luxus-
artikel, Paris, dem sich Wien würdig zur Seite stellt! Welch fördern-
97. Am Sonntag.
169
den Einfluß wird der Besuch der englischen Städte London, Birmingham,
Sheffield und anderer auf den jungen Gewerbsmann ausüben!
Darum, ihr jungen Freunde, beseht euch die Welt, solange ihr jung seid;
im Alter will sich's oft schwer machen die nötige Gelegenheit dann zu finden!
Nun wird man zwar einwenden: „Zum Reisen gehört Geld";
aber für einen jungen Handwerksgesellen ist die Sache nicht so schlimm.
Er kommt mit wenig Geld überall durch. Selbst wenn er sagen müßte:
„Kein Brot in der Tasche, im Beutel kein Knopf", so wird er doch
den Kopf darob nicht verlieren; denn für ihn gibt es überall Gelegenheit
etwas zu erhalten, und wenn das Geld zu Ende ist, da braucht er ja nur
Arbeit zu nehmen, die für einen braven Burschen überall zu haben ist.
Freilich bequemer und angenehmer ist die Wanderschaft, wenn der
Beutel wohlgespickt ist. Dann kann der junge Mann noch einmal so
freudig den Bündel schnüren und für ihn wird daun vielleicht auch
das Vergnügen größer sein als für den, der keinen Pfennig in der
Tasche hat. Durch ein einfaches Mittel, lieber Schüler, kannst du dir
das Geld zur Wanderschaft sparen. Gib kein Geld für unnützen Tand
und überflüssige Genüsse aus! So wirst du während des Jahres dir
ein hübsches Sümmchen erübrigen, welches dir die Wanderschaft er-
leichtern wird.
Wenn du, lieber junger Freund, diese Mahnung beherzigst und
wenn du deine Augen und Ohren in der Fremde hübsch offen hältst
und etwas Tüchtiges lernst, so wirst du im späteren Leben noch oft an
die Zeit der Wanderjahre zurückdenken und dem Dichter recht geben,
der singt:
O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!
Da wehet Gottes Odem so frisch in die Brust;
Da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:
„Wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt!"
Nach Arnold.
97. Am Sonntag.
Ohne Sonntag kein Werktag. — Am
Werktag schaffe alle Dinge, am Sonntag
höre, bet' und singe! — Was der Sonn-
tag erwirbt, man am Montag verdirbt. —
Vorbei an Kirch' und Schulhaus geht der
nächste Weg ins Zuchthaus. — Dreierlei
Werke sind am Tag des Herrn erlaubt:
Amtswerke, Notwerke, Liebeswerke.
Der berühmte englische Staatsmann Lord Palmerston (fi 1865)
erfreute sich noch im hohen Alter großer Rüstigkeit. Dieses Glück ver-
dankte er nach seinen eigenen Worten besonders dem Umstande, daß er
170
97. Am Sonntag.
sich während seines Lebens grundsätzlich der Sonntagsarbeit enthalten
habe. Er hatte getreulich die Worte des Herrn befolgt: „Sechs Tage
sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken; aber am siebenten
Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein
Werk tun noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch
deine Magd noch dein Vieh noch der Fremdling, der in den Toren
ist." Es wird also durch dieses Gesetz jede unnötige Arbeit am Sonn-
tage verboten; denn Körper und Geist sollen an diesem Tag aus-
ruhen von den Anstrengungen der Woche. Wie die Natur im Winter
ihre Tätigkeit einstellt um frische Kräfte zu sammeln für die Arbeit
im Lenz und Sommer, so soll auch der Mensch am Sonntage sich
Ruhe gönnen um für die kommende Arbeitswoche neu gestärkt zu sein.
Mit Recht verlangt daher auch das Reichsgesetz an Sonn- und Feier-
tagen die Einstellung oder wenigstens die Beschränkung der Arbeits-
tätigkeit.
Der Sonntag ist der Tag des Herrn. Es ruht über ihm der
Hauch der Andacht, der Vertiefung und Vergeistigung. Darum soll der
Mensch an diesem Tage nicht bloß daheim in der Stille seines Schöpfers
und Erhalters gedenken sondern auch mit der christlichen Gemeinde im
Hause Gottes sich zu gemeinsamer Andacht vereinen. Orgelton und
Glockenklang soll als eine Macht der Erhebung, der Erbauung, der Zucht
und Bewahrung auf seine Seele wirken. „Kirchengehen säumet nicht!"
gilt vor allem auch für den Handwerker und jeder Meister soll hierin
seinen Gesellen und Lehrlingen mit gutem Beispiel vorangehen.
Wie im Laufe der Woche, ist er auch am Feiertag das Muster,
nach dem sich seine Arbeiter richten. War er an den Werktagen im
Schweiße seines Angesichtes tätig, so überblickt er am Ruhetage noch
einmal seine Leistungen während der Woche und bringt seine Bücher
und Korrespondenzen in Ordnung. Er sucht sich weiter auszubilden in
seinem Berufe durch das Lesen von Fachzeitschriften und nützlichen
Büchern. Kein Tag ist hierzu so geeignet als der Sonntag; denn die
Ruhe des Körpers und der Seele macht den Geist empfänglich sich in
das Schrifttum unseres Volkes, in die Schöpfungen unserer Dichter und
Denker zu versenken, sich an großen Beispielen zu erbauen, im Geiste
weite Länder und Meere zu durchqueren. Und wie anregend wirkt
dieses Lesen, besonders wenn die ganze Familie daran teilnimmt, wenn
Lehrlinge und Gehilfen zuhören, wenn bekannte Meister und traute
Freunde sich einfinden! Es veranlaßt einen regen Austausch der Mei-
nungen, eine gegenseitige Belehrung, eine gewinnbringende Unterhaltung.
Dadurch wird aber auch der Geist der Zusammengehörigkeit und Ge-
98. Das Wichtigste aus der Gewerbeordnung.
171
selligkeit gefördert, das Familienleben in schöner Weise gepflegt und die
Gefahr vermieden, daß die einseitige Beschäftigung in der Werkstatt
einen nachteiligen Einfluß auf die Seele und den Geist des arbeitenden
Menschen ausübe.
Der Handwerker soll keineswegs ein Kopfhänger werden; im fröh-
lichen Gespräch, im belebenden Verkehr mit seinen Freunden und Mit-
meistern, in der Teilnahme an besseren geselligen Unterhaltungen soll
er des Lebens Freuden genießen. Namentlich wird ein Spaziergang
in Gottes herrlicher Natur seine Gesundheit stärken und Herz und Sinn
dem Schönen erschließen. Wie schön ist es, wenn Männer, Frauen
und Kinder, die während der Woche des Tages Last und Anstrengung
getragen, die in ihren Wohnungen oft kaum ein Stück vom Himmel
gesehen haben, nun einmal den ganzen blauen Himmel erblicken, die freie,
frische Luft genießen und sich erbauen an Gottes bewundernswerter
Schöpfung! Sie nehmen von dieser schönen Feier des Sonntags den Ein-
druck mit nach Hause, daß die ewige Liebe Gottes sie zu etwas Besserem
geschaffen und berufen hat als zu dem armen, schweren Erdenleben.
Solche Sonntagsfeier wird den Menschen auch abhalten seine
ganze freie Zeit im Wirtshause zu verbringen. „Freude in Ehren kann
niemand wehren"; aber das lange Wirtshaussitzen, das wüste Treiben
und Johlen ist des heiligen Tages und des Christen unwürdig. Wie
mancher sonst brave Mann ist durch diese Entheiligung des Sonntags
auf eine schiefe Bahn geraten, wie manches Hauswesen schon den Krebs-
gang gegangen! Der weise Salomo ruft aus: „Sei nicht unter den
Schlemmern und Säufern; denn sie werden verarmen!"
Aber nicht nur für den einzelnen wirkt die Sonntagsentheiligung
verderblich sondern auch für das ganze Volk; es geht sittlich und wirt-
schaftlich rückwärts. Mit Recht sagt Ernst Moritz Arndt in einer seiner
kernhaften Schriften: „Dem Volke, welches keinen Sonntag mehr hat,
wird bald nichts mehr heilig sein." Sorgt also, Handwerker und Bürger,
soviel an euch liegt, daß der Sonntag wieder gefeiert wird, wie er im
Mittelalter in den guten Bürgersfamilien begangen wurde: durch Ruhe
und Pflege des Geistes und Körpers, durch Erfüllung euerer religiösen
Pflichten, durch Fortbildung in euerem Berufe, durch Pflege des Familien-
lebens und anregender Gesellschaft wie durch veredelnden Genuß der Natur!
98. Aas Wichtigste aus der Gewerbeordnung.
Durch Artikel 4 der Reichsverfassung wurden die Bestimmungen
über den Gewerbebetrieb der Beaufsichtigung und Gesetzgebung des
Deutschen Reiches unterstellt. Infolgedessen wurde die im Jahre 1869
172
98. DaS Wichtigste aus der Gewerbeordnung.
für das Gebiet des Norddeutschen Bundes erlassene Gewerbeordnung
auch 1872 auf das Deutsche Reich und damit auch auf unser engeres
Vaterland Bayern ausgedehnt. Im Laufe der Zeit hat dieselbe mannig-
fache Abänderungen und Zusätze erhalten. Besonders wichtig sind die
im Jahre 1891 erlassenen Bestimmungen über die Sicherung der Sonn-
tagsruhe für die Arbeiter, den Schutz der Arbeiter gegen Gefahren für
Leben, Gesundheit und Sittlichkeit, die Beschäftigung von Kindern und
erwachsenen Arbeiterinnen. Gerade diese Gesetze zeigen, wie sehr die
Regierungen und die Vertreter des Volkes im Reichstage bemüht sind,
allen Anforderungen gerecht zu werden, die das Christentum und die
entwickelte Kultur in Bezug auf Schutz der Untertanen stellen. Dank-
bar sollte dies von allen Seiten anerkannt werden.
Nach dem Gewerbegesetz ist im allgemeinen jedermann berechtigt jedes
Gewerbe an einem bestimmten Ort oder im Umherziehen zu betreiben
(Gewerbefreiheit); er hat nur die Eröffnung des Betriebes der
Polizeibehörde der betreffenden Gemeinde, in der er sich niederlassen will,
anzuzeigen. Wird mit dem Gewerbe ohne diese Anzeige begonnen, so
kann die Fortsetzung des Betriebes polizeilich eingestellt werden. Zur
Ausübung bestimmter Geschäfte, z. B. zur Führung von Apotheken,
Wirtschaften, Trödelgeschäften u. s. w., sowie für die Anlage von Be-
trieben, die für das Publikum oder die Besitzer und Bewohner benachbarter
Grundstücke erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen herbei-
führen, ist die Genehmigung der Polizeibehörde erforderlich.
Nach dem Tod eines Gewerbetreibenden darf das Gewerbe für
Rechnung der Witwe oder, wenn minderjährige Kinder vorhanden sind,
für deren Rechnung durch einen Stellvertreter betrieben werden.
Durch die Gewerbe-Novelle vom Jahre 1897 wurde die Gewerbe-
freiheit wesentlich eingeschränkt und ein großes Gewicht auf die Heran-
bildung tüchtiger Handwerker gelegt, namentlich sollen die Gesellen- und
Meisterprüfungen die Hebung des Handwerkerstandes fördern.
Die Gewerbeordnung gestattet auch denjenigen, welche gleiche oder
verwandte Geschäfte selbständig betreiben, zur Förderung der gemein-
samen gewerblichen Interessen sich in Innungen zu vereinen; den-
selben sind auch gewisse Rechte eingeräumt. Auch kann durch die höhere
Verwaltungsbehörde angeordnet werden, daß innerhalb eines bestimmten
Bezirks zur Wahrung der gemeinsamen Interessen bestimmter Handwerker
sämtliche Gewerbetreibende, welche diese Handwerke ausüben, einer zu
errichtenden Innung als Zwangsinnung als Mitglieder angehören müssen.
Die Innungen umfassen nur die gleichen oder verwandten Ge-
schäfte; die Gewerbevereine dagegen, welche in fast allen größeren
98. Das Wichtigste aus der Gewerbeordnung. 173
Städten sich finden, sollen zur Hebung der Bildung in gewerblicher
Hinsicht und zur Förderung gemeinsamer Interessen der Industrie in
weiteren Kreisen dienen.
Einen noch größeren Wirkungskreis haben die für jeden Regierungs-
bezirk bestehenden Handels- und Gewerbekammern. Die Auf-
gaben derselben liegen in der Ausschließung neuer Bezugsquellen und
Absatzmärkte, in der Wahrung des Interesses der Industrie und des
Handels gegenüber den öffentlichen Verkehrs- und Kreditanstalten, den
Banken und Versicherungsanstalten. Sie haben Nachweise bezüglich der
Zustände im Gewerbe und Handel zu sammeln und diese mit den Wünschen
und Ansichten ihrer Bezirke den Regierungen zu übermitteln. Letztere
Prüfen dann auf Grundlage der eingegangenen Berichte die Zweckmäßig-
keit der bestehenden Einrichtungen und treffen entsprechende Maßregeln.
Denn eine Hauptaufgabe der Regierung ist die Hebung und Förderung
der Industrie und des Handels sowie der Schutz derselben. Ähnlich wie
die Handels- und Gewerbekammern für Handel und Industrie sind als
Organe für die Vertretung und Selbstverwaltung des Handwerks eines
Kreises Handwerkskammern gebildet. Sie suchen das Handwerk
nach jeder Richtung hin zu fördern, namentlich auch durch Überwachen
der Gesellen- und Meisterprüfungen.
Nach dem Gesetz über Markenschutz können Gewerbetreibende,
Kaufleute, Landwirte u. s. w. Zeichen, welche zur Unterscheidung ihrer
Waren von den Waren anderer Gewerbetreibenden auf den Waren selbst
oder auf deren Verpackung angebracht werden sollen, zur Eintragung
in die Zeichenrolle beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin anmelden.
Dadurch sichert sich der Gewerbetreibende und Kaufmann das Recht,
daß seine Kundschaft nicht durch Namensverwechslung beeinträchtigt werde.
Einen ähnlichen Zweck verfolgt das Gesetz, betreffend das Urheberrecht
an Mustern und Modellen. Durch dasselbe wird dem Urheber eines
gewerblichen Musters oder Modells das ausschließliche Recht gewahrt
solche Muster oder Modelle nachzubilden, ein Recht, das auch auf die
Erben des Urhebers übergeht. Doch genießt er den Schutz nur dann,
wenn er das Muster oder Modell zur Eintragung in das Muster-
register angemeldet und ein Stück oder eine Abbildung des Musters
u. s. w. bei der mit Führung des Handelsregisters beauftragten Behörde
niedergelegt hat.
Will der Erfinder einer technischen Neuerung oder Verbesserung
seine Erfindung zur alleinigen gewerbsmäßigen Ausnutzung schützen, so
hat er sich an das Patentamt in Berlin zu wenden. Nach geschehener
Prüfung wird dem Erfinder gegen eine Gebühr von 30 Mark ein
174
99. Hausindustrie.
Patent erteilt. Dies hat zur Folge daß niemand befugt ist ohne
Erlaubnis des Patentinhabers den Gegenstand der Erfindung gewerbs-
mäßig herzustellen, in Verkehr zu bringen oder feilzuhalten.
Aber nicht bloß für den Arbeitgeber (den Meister) sorgt das Gesetz
sondern auch für die Arbeitnehmer (Lehrling, Gesellen u. s. f.).
So dürfen die jungen Leute nur unter gewissen Bedingungen zur Arbeit
verwendet werden. Der Arbeitsvertrag ist Gegenstand freier Vereinbarung,
wie auch die Lohnverhältnisse durch gegenseitige Übereinkunft geregelt
werden. Wo Gewerbegerichte bestehen, entscheiden diese über die
Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Geselle und Meister).
Ist ein solches nicht vorhanden, so kann bei Streitigkeiten, wenn die Par-
teien nicht vorziehen sofort die Angelegenheit ans ordentliche Gericht
(Amtsgericht) zu bringen, jede Partei die vorläufige Entscheidung durch
den Bürgermeister der Gemeinde nachsuchen. Um dem Arbeiter im Falle
der Erkrankung und der damit verbundenen Erwerblosigkeit Hilfe zu ge-
währen, wurden die verschiedenen Kranken-,Hilfs-undUnter-
stützungskassen errichtet. Um bei Verunglückungen oder Beschädi-
gungen von Arbeitern diesen und ihren Angehörigen Unterstützungen zu-
zuwenden, ist durch die Reichsversicherungsordnung gesetz-
lich für die Zeit des Alters oder der Arbeitsunfähigkeit der Arbeiter ge-
sorgt worden.
Eine für die Ausbildung der Gewerbetreibenden höchst segensreiche
Einrichtung ist die von König Ludwig II. im Jahre 1880 gegründete
Wittelsbacher Stiftung. Durch dieselbe werden den einzelnen
Regierungsbezirken jährlich größere Summen zur Verfügung gestellt, um
tüchtigen Lehrlingen und Gehilfen für ihre weitere Ausbildung Unter-
stützung zu gewähren.
So helfen alle berufenen Faktoren zusammen um Handel und Ge-
werbe zu heben und die Arbeiterfrage einer günstigen Lösung zuzuführen.
99. Kausindustrie.
Neben der Landwirtschaft entwickelte sich schon in frühester Zeit die Haus-
industrie oder Heimarbeit. Der kleine Landbesitzer, welcher nicht Feld genug
besaß um seine ganze Arbeitskraft verwerten zu können, benutzte seine freie
Zeit zur Herstellung eines industriellen Erzeugnisses. Als sich infolge der mehr-
fachen Teilungen in vielen Familien der Landbesitz verkleinerte, gewänne::
die einzelnen Familienglieder mehr Zeit für ihre gewerbliche Tätigkeit und
die Anzahl derjenigen Leute, welche ihre ganze Zeit oder doch den überaus
größten Teil derselben der Erzeugung eines gewerblichen Gutes zuwendeten,
wuchs von Jahr zu Jahr. So sehen wir noch heutigen Tages Hundert-
99. Hausindustrie.
175
tausende von Familien auf dem platten Lande oder in kleinen Städten inner-
halb ihrer eigenen Räumlichkeiten während der Zeit, die der Betrieb der
kleinen Landwirtschaft nicht in Anspruch nimmt, mit industriellen Arbeiten
beschäftigt. Ebensoviele haben das frühere Nebengewerbe zum Hauptgewerbe
erhoben. Dieselben arbeiten teils in der Wohnung teils in besonderen Werk-
stätten, in der Regel mit eigenen Werkzeugen und Geräten, allein oder auch
mit den Familienangehörigen, selten mit Fremden. Alle Erzeugnisse dienen
dem Massenverbrauch.
Es gibt eine sehr große Anzahl von Gewerben, die in dieser Weise be-
trieben werden. In jedem gewerblichen Berufe, der keine teueren Maschinen
verlangt, ist Hausindustrie möglich. Der Stuhl des Leinwebers und Tuch-
machers kann in jeder Stube aufgestellt werden; ebenso ist es mit der Schnitz-
bank des Verfertigers von Spielzeug, dem Klöppelkissen der Spitzenklöpplerin
und auch das kleinste Wässerchen besitzt Kraft genug, die Hilfsmaschinen des
Glasschleifers zu treiben. So finden wir in der Gegend am Bodensee die
Strohflechterei, in den Alpen die Holzschnitzerei und Geigenfabrikation, in
Oberfranken die Korbflechterei, in Thüringen die Herstellung von Spielwaren,
in der Westschweiz die Uhrenfabrikation, in der Nordostschweiz die Musselin-
weberei und Stickerei u.s.w. als Hausindustrie.
Diese Art von Industrie hat große Vorzüge. Vater, Mutter und Kinder
arbeiten gemeinschaftlich an demselben Werke und sind infolgedessen während
der ganzen Arbeitszeit beieinander, wodurch das Leben innerhalb der Familie
sehr gefördert wird. Die Kinder sind unter beständiger Aufsicht und werden
zur Arbeitsamkeit von frühester Jugend an erzogen. Die Frauen können
selbst für ihren Haushalt sorgen. Dem Arbeiter ist es möglich, nach eigenem
Ermessen die Dauer seiner Arbeitszeit zu bestimmen und einen wohltuenden
Wechsel innerhalb derselben eintreten zu lassen.
Der Mann der Hausindustrie klebt an der Scholle. Die von Kindheit
an geübte Beschäftigung wählt der heranwachsende Mensch häufig auch für
sich und selbst die bitterste Not kann ihn selten bestimmen zu einem anderen
Berufe überzugehen. Er hungert, wenn es wenig zu verdienen gibt, und ist
lustig und guter Dinge, wenn der Lohn reichlich ausfällt; immer aber bleibt
er bei seiner zwanglosen Arbeit, zu der ihn niemals der Klang der Fabrik-
glocke ruft. Allerdings verfällt er dabei oft der Ausbeutung von Unternehmern
und Mittelspersonen. Durch sein Alleinstehen ist es ihm unmöglich die all-
gemeine Geschäftslage zu beurteilen oder Lohnherabsetzungen hintanzuhalten.
Ungünstige Verhältnisse des Arbeitsmarktes verschlechtern darum stets seine
Lage und selbst günstige werden ihm nur selten den entsprechenden Vorteil
bringen. Daher finden sich bei dieser Industrie dauernd niedrige Löhne. Die
Folge dieses geringen Verdienstes ist eine übermäßige Anspannung der Arbeits-
kräfte. Diese Übelstände steigern sich, wenn die Fabrikindustrie als Konkurrentin
der Hausindustrie auftritt; denn letztere kann sich dieser gegenüber nicht lange
halten. Entsteht ein Kampf zwischen beiden, so hat derselbe gewöhnlich sehr
176
100. Kleingewerbe.
traurige Folgen für die hausindustriellen Arbeiter, wenn sie nicht rechtzeitig
ihren bisherigen Erwerb aufgeben. Ihr Einkommen verringert sich immer
mehr und reicht oft nicht mehr zur Bestreitung der dringendsten Bedürfnisse hin.
Dieser Kampf, der tatsächlich mit Einführung der Dampfmaschinen be-
gonnen hat, ist auch heute noch nicht beendet; unrichtig ist aber die Ansicht,
daß die Hausindustrie überhaupt keine Zukunft habe. Sie ist noch immer
lohnend und auch der Fabrikindustrie gegenüber in beschränktem Maße
dauernd konkurrenzfähig, wo keine größeren kostspieligen Maschinen technisch
anwendbar sind, die Arbeit also wesentlich Handarbeit mit einfachen Werk-
zeugen und Geräten bleibt. Allenfalls verwendete kleine, nicht kostspielige
Maschinen, z. B. Nähmaschinen, werden ihr nur zum Vorteil gereichen. Auch
da, wo keine Arbeitsteilung die Herstellungskosten erheblich verringert, kann
die Hausindustrie noch bestehen.
In neuerer Zeit hat die Hausindustrie auf einigen Gebieten (z. B.
Zigarren-, Uhrenindustrie, Holzschnitzerei) sogar gegen früher an Ausdehnung
gewonnen. Eine weitere scheint namentlich auch auf dem Gebiete der Kunst-
industrie Möglich zu sein. Nach Pache.
100. Kleingewerbe.
Die Arbeit des Kleingewerbetreibenden unterscheidet sich von der Heim-
arbeit dadurch, daß der Hersteller irgend eines gewerblichen Erzeugnisses
sich auf eigene Kosten den Rohstoff verschafft. Er ist selbst Unternehmer.
Das umlaufende Kapital ist oft gering und der gewöhnlich mäßige Rein-
ertrag ist wesentlich Arbeitsertrag. Der Unternehmer (Meister) ist in seiner
Werkstätte als Arbeiter mittätig; denn die Geschäftsleitung nimmt nur einen
kleinen Teil seiner Zeit und Kraft in Anspruch. Gewöhnlich verwendet der
Meister nur wenige Hilsspersonen (Gesellen, Lehrlinge, andere Arbeiter), die in
den gleichen Arbeitsräumen und mit seinen Werkzeugen ihre Arbeiten besorgen.
Durch ihre Tätigkeit wird der Rohstoff nach Beschaffenheit und Form verändert.
Von jeher trachteten die Menschen darnach die Kraft ihrer Gliedmaßen
bei der Arbeit zu vermehren; sie formten sich den Hammer zur Verstärkung
der Fäuste, die Zange als Verbesserung der zusammengedriickten Finger, den
Löffel als eine Nachbildung der hohlen Hand u. s. w. Die Menschen
führen diese Dinge, die wir Werkzeuge nennen, mit der Hand und geben
denselben Kraft und Richtung. Aber die menschliche Hand, welche sich des
Werkzeuges bedient, ermattet bald; deswegen suchte der menschliche Geist
nach Hilfe; er fand diese in der Maschine, die nimmer ermüdet. Maschinen
kennt man schon seit langen Jahren. Die ersten derselben setzten Haustiere
in Bewegung, später machte sich der Mensch die Kraft des Windes und
Wassers dienstbar. Die Maschine trug zur Förderung des Kleingewerbes
ganz besonders bei. Der Schneider hat jetzt seine Nähmaschine, der Bäcker
seine Maschinen zum Kneten und Zerlegen des Teiges, der Schuhmacher
solche zum Schneiden der Leisten u. s. w.
100. Kleingewerbe.
177
Die Mannigfaltigkeit der maschinellen Hilfskräfte ist durch die unzähligen
Erfindungen und Vervollkommnungen der letzten vierzig Jahre so groß
geworden, daß es kaum mehr ein Gewerbe gibt, welches nicht mit Hilfe von
Maschinen betrieben wird oder doch betrieben werden könnte. Das Bestreben
des Kleingewerbes richtet sich nun auch darauf mechanische Betriebskräfte für
die Werkstätten zu erhalten. Diesem Umstande sind manche wichtige Erfin-
dungen der jüngsten Zeit entsprungen, welche die Herstellung billiger Motoren
für die Kleinindustrie bezwecken. Gas, Petroleum, die Ausdehnungsfähigkeit
der erwärmten Luft, die Kraft der komprimierten Luft, die auf kleine Motoren
übertragene Fallkraft des Wassers und in jüngster Zeit die Elektrizität sind
zu Hilfe gerufen worden um dem Handwerker den ersehnten Arbeitshelfer
zu verschaffen. Die größte praktische Bedeutung für die Kleinindustrie hat
zur Zeit die Gaskraftmaschine, welche in den verschiedensten Systemen bei
den kleinen Gewerbebetrieben in Anwendung kommt.
In dem Kampfe zwischen Handwerk und Großbetrieb ging eine Menge
von kleinen Unternehmungen bisher zu Grunde; dies führte zur Ansicht, daß
der kleine Handwerker nur noch ein Zweifaches zu tun vermöge, nämlich
mit Erzeugnissen seines Gewerbes zu handeln oder Ausbesserungen vorzu-
nehmen. Allerdings kauft z. B. der Spengler die Lampen billiger und besser
in der Fabrik, als er sie selber herzustellen vermag. Darum tut er gut,
sich bei diesem und manchem anderen Artikel auf den Handel und die Vor-
nahme von Ausbesserungen zu beschränken; ähnlich ist es beim Uhrmacher u. s. w.
Immerhin bleibt für jetzt, wahrscheinlich auch für die Zukunft, dem Mittel-
und Kleinbetrieb ein großes, vielleicht das größere Arbeits- und Absatzgebiet
gesichert. Denn die Hauptaufgabe des Kleingewerbes besteht darin, seine
Erzeugnisse den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen der Konsumenten
anzupassen. Demnach ist vorauszusehen, daß der Kleinbetrieb so lange
bestehen wird, als es noch solche persönliche Wünsche gibt. Es bedarf nur
eines Blickes auf das stetige Emporblühen der weitverzweigten Kunstgewerbe,
auf die Bekleidungsgewerbe, auf die Gewerbe der Buchdrucker, Möbelschreiner,
Kupfer-, Zeug- und Messerschmiede, Bäcker u. s. w. um sich zu überzeugen, daß
es noch ein gewaltiges Gebiet für das Kleingewerbe gibt. Ein Verschwinden
desselben ist für lange Zeit noch nicht zu fürchten. Vollzieht sich doch fort-
während die Umwandlung kleiner Betriebe in größere; ja es entstehen sogar
neue Handwerke. Als Beispiel seien nur die Erfindungen auf dem Gebiete
der Elektrizität angeführt, welche die Anfertigung der Glüh- und Bogen-
lampen, der zahlreichen Schaltungsapparate, der Telephone mit ihren
Leitungen und der unzähligen Menge Jnstallationsgegenstände unmittelbar
im Gefolge hatten.
„Wohl keine größere Stadt Deutschlands," sagt der Elektrotechniker
v. Miller, „dürfte für die Möglichkeit das Kleinhandwerk zu erhalten so
geeignet sein als München, weil kaum irgendwo für das Kleingewerbe der
Boden günsüger gelegt und besser vorbereitet ist. Das Kleingewerbe hat
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. • 12
178 101. Fabrikwesen.
hier noch immer ein bedeutendes Übergewicht über die eigentliche Groß-
industrie."
Freilich ist es nicht mehr möglich in der alten Weise der gemächlichen
Zunftzeit das Gewerbe zu betreiben; auch der Handwerker muß sich der
Neuzeit anschließen und von den Hilfsmitteln derselben Gebrauch machen.
Große Vorteile bietet ihm die Beteiligung an Genossenschaften, namentlich
an Rohstosfgenossenschaften, welche die Rohmaterialien in großen Mengen
und deshalb billiger einkaufen, an Maschinengemeinschaften, welche einzelne
teuere Maschinen (namentlich Motoren) zum gemeinsamen Gebrauch erwerben,
an Vorschußvereinen, welche dem Kleingewerbetreibenden unter möglichst
billigen Bedingungen Kredit gewähren. Nach Pache.
101. Aabrikivesen.
Die wichtigsten Fortschritte, welche unser heutiges geschäftliches Leben
von demjenigen früherer Zeitabschnitte grundsätzlich unterscheiden, beruhen
aus der fast unbegrenzten Unterstützung der menschlichen Arbeit durch die
Kraft des Dampfes. Unübersehbar sind die Verbesserungen, welche durch
die Erfindung der Dampfmaschine in allen Erwerbszweigen und besonders
in der Verarbeitung der von der Natur gelieferten Rohstoffe bewirkt worden
sind. Ein Staunen ergreift uns, wenn wir die gewaltigen Summen be-
trachten, die in den industriellen und den Verkehrsanlagen der Welt angelegt
sind. Um wieviel vermehren sich dieselben alljährlich und wie groß sind
die Warenschätze, welche durch die Wirksamkeit von Kapital und Arbeit
geschaffen werden! Neben diesen Fortschritten auf rein wirtschaftlichem Ge-
biete ging eine mächtige Förderung der geistigen und sittlichen Verhältnisse
der Menschheit einher. Die Bevölkerung ist im Zeitraume eines Jahr-
hunderts um das Doppelte, stellenweise noch mehr gewachsen.
Die Verwendung des Dampfes an Stelle der Menschenkraft hat in allen
wirtschaftlichen Betriebsarten eine vollständige Umwälzung bewirkt. Neben
einer außerordentlich vielfältigen Arbeitsteilung hat sie mit all den auf ihr
beruhenden Erfindungen und Verbesserungen im gewerblichen und industriellen
Betriebe das wunderbare Ineinandergreifen aller wirtschaftlichen Tätigkeiten
ermöglicht. Waren doch die Kosten der Dampfkraft weit billiger als die durch
dieselben ersetzten Menfchenkräfte. Dazu kommt, daß die Dampfmaschine in
vielen Fällen sparsamer ist bei der Verwendung des Stoffes, daß sie mit
mehr Kraft und Schnelligkeit, mit größerer Feinheit und Sicherheit arbeitet
als die Hand des Menschen. In sehr vielen Fabrikbetrieben liefert eine einzige
Maschine mehr und weit beffere Produkte, als viele Menschenhände bei noch
so großer Geschicklichkeit hervorzubringen vermöchten. Gerade die schwersten
und unangenehmsten Arbeiten werden häufig durch Maschinen besorgt und
auf diese Weise wird eine Menge von menschlichen Arbeitskräften wieder für
andere Beschäftigung verwendbar.
101. Fabrikwesen.
179
Nach Einführung der Dampfmaschine entwickelte sich aus dem Handwerke
das Großgewerbe, der Fabrikbetrieb. In den Fabriken setzen mächtige Dampf-
maschinen eine Anzahl kleinerer Maschinen in Bewegung, an denen dann
eine Menge von Leuten mitbeschäftigt ist. Mit dem Schlage der Stunde
beginnt die Arbeit; der Fabrikant führt nur die Aufsicht; er kennt oft den
einzelnen Arbeiter nicht. Er hat deswegen stets eine Anzahl von Leuten zur
Seite, welche nach den Angaben des Besitzers oder des Bestellers die Art
und Weise der Herstellung des Gewünschten bestimmen und die Kosten-
berechnung vornehmen. Eine Anzahl kaufmännisch gebildeter Leute besorgt
den brieflichen Verkehr mit der Kundschaft und führt die Bücher des Ge-
schäftes. Die Arbeiter sind in mehrere Gruppen verteilt, deren jede einen
bestimmten Teil des Erzeugnisses, ein gewisse Art der Ware zu fertigen hat,
und Werkmeister, Vorarbeiter führen die Aufsicht über die einzelnen Ab-
teilungen. Der Fabrikbetrieb gleicht einem großen, herrlich erdachten und
kunstvoll ausgeführten Uhrwerke; da greift ein Rädchen in das andere und
der Gang des Werkes wird dadurch in pünktlichster Weise geregelt. Das ist
freilich ein anderes Bild als in der beschränkten Werkstätte des Handwerkers,
wo der Meister mit wenigen Gesellen und Lehrlingen seiner Arbeit wartet.
Doch gibt es auch Handwerker (Bautischler, Drechsler u. s. w.), die dem Groß-
betriebe sehr nahe stehen. Die Grenzen zwischen Handwerk und Großbetrieb
sind heutigen Tages oft verwischt.
Die vielen Maschinen, welche die Arbeitsteilung notwendig macht, setzen
voraus, daß der Fabrikbesitzer über ein weit größeres Kapital verfügt als
der Handwerker, und hiermit ist ein erheblicher Vorteil verbunden; denn je
größer das vorhandene Kapital ist, um so höher ist auch der Prozentsatz des
Gewinnes.
Der Handwerker arbeitet der Hauptsache nach nur auf Bestellung; der
Fabrikant aber verfertigt in der Regel eine sehr große Zahl von Waren
und ist erst nachher bemüht dieselben zu verkaufen. Die Arbeit der Groß-
industrie ist Massenproduktion. Durch den Großbetrieb werden die Her-
stellungskosten bedeutend vermindert, die hergestellten Gegenstände können
weit billiger abgegeben werden als bei kleinerem Betrieb; infolgedessen
nimmt der Verbrauch zu. Mehr Leute als früher kaufen jetzt den nunmehr
billigeren Gegenstand. Man denke nur an die großartige Verbilligung der
Kleiderstoffe, welche durch die Erfindung des mechanischen Webstuhls herbei-
geführt wurde! Der vermehrte Verbrauch ruft aber wieder eine vermehrte
Produktion hervor und diese endlich eine größere Nachfrage nach Arbeits-
kräften. Denn wenn auch die Maschinen die Muskelkraft des Menschen in
vielen Fällen ersetzen, so können sie doch nicht der Regelung und Beauf-
sichtigung durch den Menschen entbehren.
Doch hat auch der Zabrikbetrieb seine Schattenseiten. Die Bedrängung
des Handwerks durch den Maschinenbetrieb, des Kleinbetriebs durch die
Großindustrie, der Einfluß der rein mechanischen Arbeit auf die geistige
12*
180
102. Das deutsche Kunstgewerbe.
Kraft der Arbeiter, die bei manchen Fabrikbetrieben unvermeidlichen, der
Gesundheit schädlichen Einrichtungen sind die bedenklichen Nachteile, welche
die Großindustrie und die mit ihr unzertrennliche Arbeitsteilung im Gefolge
hat. Es fehlt nicht an Bestrebungen der Arbeitgeber, diesen Übelständen
abzuhelfen oder doch ihre Wirkungen abzuschwächen durch Verkürzung der
Arbeitszeit, durch Sorge für die geistige Bildung des Arbeiters, durch Ein-
richtungen, welche dem Arbeiter ermöglichen feine Ersparnisse vorteilhaft
anzulegen, eine eigene Wohnung zu erwerben u. s. w. Auch die staatliche
Gewalt ist unausgesetzt darauf bedacht, für das Wohl und die Gesundheit
des Arbeiters zu sorgen durch Verbreitung der Bildung, Beaufsichtigung
des gesamten Fabrikwesens durch Fabrikinspektoren, Erlaß von Gesetzen zum
Wohl der Arbeiter. Nach Moormeister.
102. I)as deutsche Kunstgewerve.
Die Erzeugnisse des Gewerbes dienen einem bestimmten Gebrauche,
einem praktischen Zwecke. Dem entsprechend müssen sie auch gestaltet
sein. Es gibt jedoch auch Gegenstände, z. B. Möbel, Gefäße, die nicht
nur dem Bedürfnisse genügen sondern auch durch schöne Formen, durch
Verzierungen unser Schönheitsgefühl befriedigen, die durch die Kunst so
veredelt sind, daß sie zugleich als Kunstwerke betrachtet werden müssen.
Sie sind Erzeugnisse des Gewerbes, haben aber auch teil an der Kunst;
daher nennt man sie kunstgewerbliche Gegenstände und ihre Herstellung
ist Aufgabe des Knnstgewerbes oder der Kunstindustrie. Diese konnte
sich natürlich erst entwickeln, als die gewerblichen Gegenstände nach ihrer
Zweckmäßigkeit hin vervollkommnet waren. Doch hat es wohl von
jeher Handwerker gegeben, welche die Erzeugnisse ihres Handwerkes künst-
lerisch auszubilden bestrebt waren. Es bestand denn auch in früherer
Zeit kein Unterschied zwischen Künstler und Handwerker: die Handwerker
waren Künstler und die Künstler Handwerker. Daher hat sich auch im
Mittelalterdas deutsche Gewerbe zu einer Kunstfertigkeit emporgeschwungen,
die heute noch unsere Bewunderung erregt.
Mit der immer mehr sich steigernden Verwendung der Maschinen
zur Herstellung der verschiedensten Gegenstände wurden alle Produkte
billiger und schneller hergestellt als durch Menschenhände. Daher
mußten auch die Handwerker nach Billigkeit streben. Infolgedessen trat
die Rücksicht auf den Geschmack mehr und mehr zurück und wurden
die Fabrikate immer schlechter. Das deutsche Gewerbe verlor ein
Absatzgebiet nach dem anderen an die englischen und sianzösischen
Konkurrenten, welche die Schönheit der Form nie ganz aus dem Auge
verloren.
102. DaS deutsche Kunstgewerbe.
181
Angesichts der sich mächtig ausbreitenden Industrie des Auslandes
erwachte endlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch allenthalben
in Deutschland das Verlangen, das tief darniederliegende vaterländische
Kunstgewerbe vom Ausland unabhängig zu machen und ihm wieder seine
frühere Selbständigkeit zu erringen. Dieses patriotische Bestreben fand
zunächst in Münchens begeisterter Künstlerschaft wärmste Aufnahme und
Unterstützung. Von dieser Bewegung erfaßt, trat daselbst gegen Ende
des Jahres 1850 eine Reihe hervorragender Künstler, Maler, Bildhauer
und Architekten, unter Beiziehung von Vertretern und Freunden gewerb-
licher Tätigkeit, zu einer besonderen Vereinigung zusammen; sie stellte
sich die Aufgabe: „Verständnis, Liebe und Bedürfnis für künstlerische
Schönheit in den Werken der Industrie allenthalben wieder zu erwecken
und zu verbreiten, durch die Kunst das Handwerk zu heben und zu
veredeln und zu solchem Zwecke Künstler und Handwerker wieder wie
ehedem zu gegenseitiger Belehrung und Unterstützung zusammenzuführen."
Als Mittel zur Erreichung dieses Zieles sollten in erster Linie die An-
fertigung und Verbreitung mustergültiger Vorbilder, die Unterweisung
junger Kunsthandwerker im Zeichnen und Modellieren sowie die Er-
richtung einer Ausstellungs- und Verkaufshalle für gediegene Arbeiten
der Mitglieder, des weiteren auch belehrende Vorträge dienen.
Die so unter dem Namen: „Vereinigung zur Ausbildung der Ge-
werke", später „Kunstgewerbeverein" genannt, entstandene Körperschaft
erfreute sich alsbald großen Ansehens und Wachstums nicht allein in
München selbst sondern auch über dessen Grenzen hinaus.
Sie rief 1851 eine Zeichen- und Modellierschule ins Leben. Diese
wurde 17 Jahre später in die Kgl. Kunstgewerbeschule München um-
gewandelt. Um eine Umschau über die allenthalben in Deutschland er-
zielten Ergebnisse kunstgewerblicher Pflege zu halten, desgleichen einen
belehrenden Vergleich der Leistungen der Gegenwart mit den Meister-
werken früherer Jahrhunderte herbeizuführen, veranstaltete der Verein im
Jahre 1876 eine Kunstgewerbeausstellung im Glaspalaste zu München.
Diese war bahnbrechend für die weitere kunstgewerbliche Bewegung in
Deutschland. Durch sie wurde das Verständnis für deutsches Wesen
und Schaffen wieder geweckt und das Vertrauen auf deutsche Arbeit ge-
hoben. Dies gab sich vor allem durch einen Wetteifer in Gründung
von Kunstgewerbeschulen, Museen und Vereinen kund.
Ähnliche Zwecke wie der Knnstgewerbeverein München verfolgt das
Bayerische Gewerbemuseum zu Nürnberg. Es legt ein besonderes Gewicht
auf die Vorbildersannnlung, richtete aber auch öffentliche Vorträge und
eine ständige Ausstellung für Fabrikanten und Kaufleute ein. Neben der
182 103. Die Aufgabe des Handwerks in der Gegenwart und Zukunft.
Kunstgewerbeschule, welche in Nürnberg als Staatsanstalt schon be-
stand, wurden gesonderte Fachschulen für Galvanoplastik, feinen Metall-
guß u. s. w. ins Leben gerufen. Für das linksrheinische Bayern ist
von Bedeutung das Pfälzische Gewerbemuseum in Kaiserslautern, das
auf den verschiedensten Gebieten des Kunstgewerbes Musterleistnngen
aufweist und das Gewerbewesen in trefflicher Weise zu fördern be-
strebt ist.
In Berlin gründeten (1867) Private das Deutsche Gewerbemuseum.
Unter dem besonderen Schutze des verstorbenen Deutschen Kaisers Fried-
rich III. entwickelte sich auch die Sammlung mustergültiger Gegenstände
von kleinen Anfängen zu einem sehr bedeutenden Umfang. Bald
wurden mehrere Fachklassen damit verbunden, die neben der Kgl. Kunst-
schule und den verschiedenen gewerblichen Fachschulen den Sinn für
Schönheit und Geschmack in den Handwerkern nährten und pflegten. Alle
diese Bestrebungen erhoben das Handwerk auf die Stufe vollendeter
künstlerischer Technik und machten es unabhängig vom Ausland und
dessen Mustern. Die Erzeugnisse der deutschen Industrie wurden dadurch
für den Weltmarkt immer fähiger. Dies zeigte sich am deutlichsten bei
den verschiedenen Weltausstellungen zu Paris, Wien, Philadelphia,
Chicago und St. Louis. Wiederholt trug hier das deutsche Kunstgewerbe
den Sieg über die ausländischen Mitbewerber davon und eroberte sich
neue Absatzgebiete.
Wenn auch das deutsche Kunstgewerbe noch mitten in der Ent-
wicklung begriffen ist, so geht doch ein frischer, belebender Hauch durch
dasselbe. Ernstes Vorwärtsstreben, künstlerischer Sinn und rege Tätigkeit
beseelen unsere Handwerker und werden das deutsche Handwerk, unter-
stützt von Kirche, Staat und Gemeinde, wieder zu der hohen Bedeutung
emporheben, die es im Mittelalter einnahm.
103. Die Aufgave des Kandwerks in der Hegenwart
nnd Zukunft.
Schicke dich in die Zeit!
Die Handwerker und Gewerbetreibenden klagen häufig über das
Maschinen- und Fabrikwesen; sie sagen: „Wie schön war es ffüher!
Der Handwerker und Gewerbetreibende hat jahrtausendelang durch seiner
Hände Arbeit nur mit wenigen Werkzeugen sich redlich ernährt; doch
jetzt droht das Maschinenwesen und die Großindustrie der Fabriken, mit
ungeheurer Geldmacht ausgerüstet, das Kleingewerbe zu vernichten.
Viele haben ihren Wohlstand eingebüßt, ja manche sind ganz brotlos
103. Die Aufgabe des Handwerks in der Gegenwart und Zukunft. 183
geworden. Im Vereine mit dieser Macht scheint auch die allgemeine
Gewerbefreiheit alles aufzulösen."
Gewiß hat das Maschinen- und Fabrikwesen manches Bedenkliche
und Bedrohliche und gar manchem Handwerker ist dadurch ein empfind-
licher Schlag versetzt worden; gleichwohl sind die Klagen gegen dasselbe
vielfach unberechtigt und unvernünftig. Alles in der Welt ist der Ver-
änderung unterworfen und diesem Gesetze kann sich auch das Gewerbe
und vor allem das Handwerk nicht entziehen. Die Maschine hat den
Menschen von harter Sklavenarbeit bestell, vielen Tausenden Unterhalt,
Millionen bessere Nahrung, Kleidung und Wohnung, überhaupt ein
schöneres Dasein verschafft.
Aber auch dem Bedrohlichen, welches das Maschinenwesen an sich
hat, kann der Handwerker siegreich entgegentreten. „Schicke dich in die
Zeit und lerne sie verstehen! Dann hat das Handwerk auch heute
noch einen goldenen Boden." Das ist die Zauberformel, die ihm die
Zeit zuruft. Begib dich also auf ein Gebiet, wohin dir die Maschine
nicht folgen, wozu nur die Hand gebraucht werden kann! Verbinde
mit einer gediegenen Arbeit Kunstsinn und technische Fertigkeit; vereinige
Kunstgeschmack mit sorgfältigem Fleiß, Schönheitsgefühl mit praktischer
Brauchbarkeit und damit wirst du siegen! Auch die Verbindung mit
anderen Kleinmeistern deines Gewerbes zu gemeinsamem Betriebe wird
dir ersprießlich sein. Auf keinem anderen Wege kann das Gewerbe die
Gefahren, welche ihm von seiten der Maschine drohen, zu überwinden
hoffen. Da gilt kein Klagen, sondern der Handwerker muß frisch und
männlich das Unvermeidliche fassen, es zu seinem Vorteil umwandeln
um sich bei der Umgestaltung der Zeitverhältnisse zu erhalten. Der
deutsche Handwerkerstand hat schon viel größere Hindernisse und Miß-
stände überwunden; er hat sich im Mittelalter aus dem Elende der
Hörigkeit und Leibeigenschaft losgerissen und Glänzendes geleistet. Durch
eine tüchtige, kunstreiche, ehrliche und rechtschaffene Arbeit, durch Ver-
einigung der Arbeiter unter sich ist Deutschland im 15. Jahrhundert
groß und der Mittelpunkt der Gewerbe, des Handels und der Bildung
geworden. Folgt auch jetzt der deutsche Gewerbe- und Handwerkerstand
dieser Weisung, so wird er mit Hilfe der ihm innewohnenden sittlichen
Kräfte und einer gediegenen Bildung, welche die fortgeschrittene Zeit
fordert und auch bietet, siegreich aus aller Gefahr hervorgehen. Er
wird dann immer ein geachteter, wohlhabender Stand bleiben, immer
mit dem Ackerbautreibenden der Kern des Staates, die Quelle des
Reichtums, die Ehre und der Stolz des Landes sein, in welchem er seine
Werkstätte erbaut hat. mun.
184 104. Die Werkzeuge von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart.
104. Die Werkzeuge von der ältesten Zeit Vis zur Gegenwart.
In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gibt es keinen Still-
stand; einem ewigen Gesetze folgend, löst eine Zeit die andere ab, folgt
ein Geschlecht dem anderen, verdrängt ein Fortschritt den anderen. Deut-
lich sehen wir dieses Naturgesetz in der Entwicklung der Gewerbe wie
in der Veränderung der Werkzeuge von den Uranfängen bis zur Gegen-
wart. Roh und unbeholfen waren diese in den ältesten Zeiten, hoch-
entwickelt und vervollkommnet erscheinen sie in der Gegenwart.
In den ältesten Zeiten bestanden die Waffen und Werkzeuge aus
roh geschlagenen Kieseläxten; bald wurden diese Steinwerkzeuge besser
bearbeitet und gleichzeitig die Knochen der Tiere, besonders die Geweihe
der Renntiere, zu Werkzeugen benutzt. Als Säge dienten die mit
Zähnen besetzten Kinnbacken getöteter oder verendeter Tiere, als Bohrer
spitze Steine. Steinerne Äxte, Beile und Hammer findet man vielfach
bei Ausgrabungen vorgeschichtlicher Bestattungsplätze. Aus weichem Ton
stellte man mit Hilfe der Hände plumpe Töpfe her, die halbgebrannt
wurden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wurden die Stein-
werkzeuge fein geschliffen, Holz und Horn mit denselben geschickt be-
arbeitet. Ein wesentlicher Fortschritt wurde erzielt durch die allmähliche
Kenntnis und Anwendung der Metalle. Zunächst verdrängte die Bronze,
die man hauptsächlich zu gegossenen Werkzeugen verwendete, die Stein-
werkzeuge, bis auch sie wieder durch das Eisen ersetzt wurde. Aber
auch die Werkzeuge aus Metall waren sehr einfach und plump, zudem
gab es noch sehr wenige Arten. Das Messer, mit dem fast alle Gegen-
stände noch bearbeitet wurden, bestand nur aus Metall ohne einen
Griff aus einem anderen Stoffe; später wurden an den flachen Seiten
des Griffes zwischen den Schaftlappen Holzbeschläge angebracht wie auch
beim Schwerte oder Hammer. — Neben dem Messer erwies sich unter
den Werkzeugen aus Metall die Säge als eines der nützlichsten; man
konnte mit ihrer Hilfe das Holz durch seine Fasern schneiden und
Bretter herstellen. Bald reichte die Handsäge, gezogen durch die mensch-
liche Kraft, nicht mehr aus und man nahm Elementarkräfte, zuerst das
Wasser, später auch den Wind in Dienst zum Schneiden der Bäume
zu Brettern; es entstanden Sägmühlen, wobei gleichzeitig mehrere und
größere Sägen auf und nieder gezogen wurden. An der Mosel sollen
bereits im 14. Jahrhunderte Sägmühlen vorgekommen sein; erwiesen
ist, daß es in Augsburg bereits im Jahre 1323 eine Brettersägmühle gab.
Mit der Teilung der Arbeit und der Entwicklung der einzelnen
Gewerbe vermehrten sich auch die Werkzeuge und wurden mannigfaltiger,
104. Die Werkzeuge von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart. 185
besser und bequemer zu handhaben. Eine vollständige Umgestaltung
vieler Werkzeuge tritt ein durch das Aufkommen der Maschinen und
der Massenproduktion, namentlich durch die Verwendung des Dampfes
zu technischen Betrieben.
Gab es ursprünglich nur eine einzige Form von Hämmern, so ent-
stehen allmählich verschiedene Arten. Neben dem eigentlichen Hand-
hammer, der mit der Zeit eine breite Fläche (Hammerkopf) und eine
schmälere, spitz zulaufende Finne oder Pinne erhält, kommen die Zu-
schlaghämmer auf und bilden sich für die einzelnen Handwerker und die
einzelnen Verrichtungen derselben eigene Formen aus. Jetzt bestehen die
meisten Hämmer aus Schmiedeisen und haben verstählte Arbeitsflächen;
daneben gibt es für bestimmte Zwecke Hämmer aus Kupfer, Blei und
Holz. Mechanisch bewegte Hämmer sind die Fall- und Dampfhämmer,
durch welch letztere eine bis zu 10000 mal stärkere Schlagwirkung aus-
geübt werden kann als durch einen mit der Hand bewegten größeren
Zuschlaghammer.
Als Bohrer verwendete man früher mit Einschnitten versehene Eisen-
teile, um in Gegenstände aus Holz und andere feste Körper kreisrunde
Öffnungen zu machen; für härtere Stoffe, wie Eisen, sind dieselben erst
in neuerer Zeit zur Anwendung gekommen. Jetzt verwendet der Holz-
arbeiter Schneckenbohrer, Hohlbohrer, Zentrumsbohrer, Schrauben-
bohrer und auf der Drehbank namentlich Stahl- und Kanonenbohrer.
Auch die härtesten Metalle können dem Metallbohrer nicht widerstehen,
zu dessen Handhabung eigene Maschinen erbaut sind. Dazu gesellt
sich eine Unzahl der verschiedensten Werkzeuge, von denen man früher
keine Ahnung hatte. — Welche Veränderung hat die Nadel im Laufe
der Zeit erfahren! Bediente man sich ursprünglich zum Zusammen-
halten von Kleidungsstücken u. s. w. einfacher Vorrichtungen aus Holz
oder der Gräten der Fische, so finden sich schon bald nach der Be-
arbeitung der Metalle kunstvolle Nadeln allerdings nicht zum Nähen
wie jetzt, sondern zum Zusammenhalten des Mantels. Nur allmählich
entwickelte sich aus denselben die Nähnadel. Erst im 14. Jahrhundert
wurde die runde Näh- und Stecknadel in Nürnberg erfunden. Die
mühsame Tätigkeit der Handarbeit ist jetzt vielfach verdrängt durch die
Nähmaschine, deren Entwicklungsgeschichte bis ins 18. Jahrhundert zu-
rückreicht; doch stellte erst 1814 Joseph Madersperger in Wien eine
einigermaßen brauchbare Nähmaschine her. Walter Hunt in Neuyork
verfertigte 1834 die erste Maschine für den doppelten Steppstich. Gegen-
wärtig beträgt die Zahl der auf Nähmaschinen erteilten Patente bereits
mehrere Tausende.
186 104. Die Werkzeuge von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart.
Eine noch größere Umgestaltung erfuhr die Weberei, die eine der
ältesten Erfindungen ist. Der einfachste Webstuhl bestand aus zwei
Querbalken, die zwischen zwei Bäumen angemacht waren und an denen
man den Stoff ausspannte. Im Mittelalter wurde der Webstuhl be-
deutend verbessert und die Weberei auf einen hohen Grad der Voll-
kommenheit gebracht. Die wesentlichste Umgestaltung aber erfuhr die
Weberei durch die Einführung der mechanischen Webstühle. Die Band-
mühlen, auf denen 200 und mehr Bänder gleichzeitig gewebt werden,
sind die frühesten Maschinen der Art und waren schon gegen Ende des
16. Jahrhunderts bekannt. Der älteste Entwurf eines mechanischen
Webstuhles wurde 1678 von de Genne in London angegeben, kam aber
nicht zur Ausführung. Erst im Jahre 1813 gelang es Harracks den
Webstuhl so weit zu verbessern, daß er anfing eine Rolle in der Baum-
wollenmanufaktur zu spielen. Von 1822 an griff Roberts in Manchester
die Angelegenheit auf und förderte sie endlich zum erwünschten Ziele.
Anfangs dienten die Kraftstühle nur zum Weben glatter Stoffe, bald
aber wurden sie so vervollkommnet, daß sie auch zur Musterweberei
benutzt und mit der 1808 von Jacquard erfundenen Maschine verbunden
werden konnten. — Bei der Spinnerei war die Erfindung der Spindel
schon ein Fortschritt; diese wurde aber zurückgedrängt durch das von
Jürgens 1530 erfundene Spinnrad und dies wieder durch die von
Arkwright verbesserte Spinnmaschine. Der Strumpfwirkerstuhl wurde
schon im Jahre 1589 von dem Engländer Lee erfunden.
Auch in den Werkzeugen zur Herstellung und Bereitung der Lebens-
mittel ist eine große Umwandlung eingetreten. So bestanden die Vor-
richtungen um Getreide in Mehl zu verwandeln zu Moses' Zeiten
wahrscheinlich aus einer Art Mörser, in welchen man die vorher ge-
dörrte Frucht mit Keulen zerrieb. Auch die Frauen der alten Deutschen
zermalmten das Getreide zwischen zwei Steinen. Die Römer scheinen
Getreidemühlen angewandt zu haben, die in der Hauptsache aus zwei
Steinen bestanden, wovon der untere feststehend, der obere beweglich
war. Eine trichterförmige Öffnung im oberen Kegel führte das Ge-
treide entsprechend zu. Zwar hatten die Römer schon die Arbeit des
Zerreibens dem Wasser übertragen und waren bereits im 9. Jahr-
hundert auf dem Hochlande von Iran Windmühlen im Gebrauche, die
um das Jahr 1105 auch in Frankreich Verwendung fanden; aber welche
Wandlungen mußte die einfache Vorrichtung noch durchmachen, bis sie
zu unserer vollendeten Kunstmühle wurde! Und wer hätte früher daran
gedacht, daß die Arbeit des Teigknetens, das Maischen des Malzes mit
Maschinen besorgt würde?
105. Vom Handel.
187
So sehen wir auf allen Gebieten des Handwerks eine allmähliche
Vervollkommnung der Werkzeuge von der einfachsten und rohesten Gestalt
bis zur entwickeltsten und vollendetsten Form. Der strebende Menschen-
geist schafft neue Werkzeuge und zwingt die Naturkrüfte immer mehr in
seinen Dienst.
105. Aom Kandel.
Die Bedürfnisse des Menschen haben in unserer Zeit eine ungeheuere
Steigerung erfahren. Schon längst ist der einzelne davon abgekommen sie
durch eigene Erzeugung zu befriedigen; es ist die vielseitig ineinander-
greifende Tätigkeit einer großen Anzahl von Menschen nötig um den ein-
zelnen zu versorgen. Die Nahrung auch des einfachsten Mannes setzt sich
zum Teil aus Stoffen zusammen, welche weit entlegenen Ländern ent-
stammen, und der gewöhnlichste Beleuchtungsstoff muß über die Breite eines
Ozeans zu uns herangeführt werden. Die Arbeitserzeugnisse des einzelnen
werden immer weniger zu seinem eigenen, unmittelbaren Verbrauche ver-
wendet, sondern wandern noch durch viele Hände und oft weite Landstrecken
bis zu dem Orte ihrer Benutzung. Auch die Produkte eines Landes oder
eines Wirtschaftsgebietes werden dahin gebracht, wo sie am besten verwertet
werden können, und dagegen diejenigen Erzeugnisse herbeigeführt, welche
umgekehrt das Wirtschaftsgebiet zu seiner Erhaltung oder seinem Genusse
bedarf; diese Vermittlung ist Sache des Handels. Dieser ist längst aus
dem engen Kreise des Tauschgeschäftes unter Nachbarn herausgetreten; seine
Aufgabe ist jetzt die wirtschaftliche Gesamtbefriedigung des ganzen Erdballes
geworden.
Der leitende Beweggrund für den Handeltreibenden ist zunächst der
Nutzen, den ein derartiges Vermittlungsgeschäft mit sich bringen soll. Um
aber einen möglichst großen Vorteil zu erzielen bedarf der Handeltreibende
einer bedeutenden Fülle von Kenntnissen. Zunächst ist es seine Aufgabe die
Art und die Masse der Bedürfnisse eines Wirtschaftsgebiets kennen zu lernen.
Er muß sich also überzeugen von der Art und Stärke der Nachfrage nach
irgend welchen Waren. Die zweite Aufgabe ist zu erforschen, wo solche
Güter am besten und billigsten zu erwerben sind; der Händler hat sich
also nach dem Ort und der Art des Angebots zu erkundigen; da die Erzeug-
nisse nur zum Teil aus der ersten Hand ganz fertig hervorgehen, hat er sich
auch nach dem Ort und der Art ihrer Verarbeitung bzw. Veredlung um-
zusehen. Dazu tritt noch die Aufgabe sie nach dem Ort ihrer Verarbeitung
oder des Bedarfes hinzuführen; der Handel muß also die besten Verkehrs-
wege aufsuchen.
Unerläßlich ist eingehende Kenntnis von den Erzeugungsbedingungen
der Länder, von deren Boden, Klima und von der Arbeitskraft ihrer
Bewohner. So hat der Handel, welcher in die neuerschlossenen Länder des
Schwarzen Erdteils eindringt, nicht bloß Absatzgebiete zu suchen sondern vor
188
105. Vom Handel.
allem Erzeugungsgebiete zu schaffen. Schon des Gewinnes wegen muß der
Handel sich bemühen die Zahlungsfähigkeit der Länder zu erhöhen, welche
von ihm mit Waren beschickt werden. Daher veranlaßt er den Empfangenden
zur Arbeit und führt neue lohnende Kulturen ein, mit deren Ertrag die
erhaltenen Waren bezahlt werden können. Von nicht minder hoher Bedeutung
ist die Frage nach dem Wege, der einzuschlagen ist um die Forderungen des
Angebots und der Nachfrage auszugleichen, die Güter mit möglichst großem
Vorteil, d. h. möglichst gut, billig und schnell, von einer Stelle nach einer
anderen zu befördern. Der Handel muß sich also unausgesetzt um die Ver-
besserung der Verkehrswege, um die Auffindung und Beschaffung neuer
bemühen, welche geeigneter sind als die alten. Diese neuen Wege, z. B. die
Pacificbahnen Nordamerikas, die Hafengebiete, in welchen wichtige Schiffahrts-
linien münden, ziehen dann die menschliche Besiedlung an sich, verdichten die
Bevölkerung und erhöhen im allgemeinen ihren Wohlstand. So ist das ganze
Gebiet der Unterelbe wohlhabend und dicht bevölkert worden durch den
Hamburger Handel.
Die Bedürfnisse der verschiedenen Wirtschaftsgebiete wechseln; denn sie
sind durch die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung und durch die Neigungen
wie die Zahlungsfähigkeit und Arbeitskraft derselben bedingt. Auch die
Gütererzeugung ist dem Wechsel unterworfen; denn heute erscheint z. B. die
Herstellung einer gewissen Ware in irgend einem Lande nicht mehr ratsam,
weil es sich gezeigt hat, daß sie in einem anderen nunmehr besser und billiger
geliefert werden kann.
Kulturen erstehen und gehen wieder zu Grunde oder suchen vielmehr,
sobald sich solche darbieten, vorteilhaftere Stätten auf. So hat auf deutschem
Boden der Anbau von Färbepflanzen (Krapp, Waid, Safran) beträchtlich
abgenommen. Viele Gegenden Deutschlands, die früher mit Reps bestellt
waren, sind jetzt mit Zuckerrüben angebaut, da die Zuckerbereituug einen
riesigen Aufschwung genommen hat. In anderen Gebieten wurde der Anbau
von Flachs und Hanf wie der Färbepflanzen durch den Getreide- und Hopfen-
bau verdrängt (Holledau). Die Weidenkultur wird in manchen Gegenden
gepflegt, in denen man früher diese Pflanze gar nicht beachtete. Auch im
Viehstand Europas zeigt sich eine Abnahme, seitdem billigere und leistungs-
fähigere Erzeugungsgebiete für denselben in Amerika und Australien, teilweise
auch in den afrikanischen Kolonien sich aufgetan haben.
Abgesehen von persönlichem Vorteil, dem wohlverdienten Lohn der Arbeit,
ist der Handel also auch imstande fördernd auf die Kultur der Menschheit
einzuwirken; ihm ist aber auch die Aufgabe gestellt volkstümlich zu sein.
Unsere jetzigen Staaten haben sich unter der Einwirkung eines vielgegliederten
Zollsystems zu staatlich abgegrenzten Wirtschaftsgebieten gestaltet. Der Händler
kann seiner Heimat neue Absatzgebiete gewinnen. In fremden Ländern pflegt
er der Vorläufer der Kolonisten oder der erste Ansiedler selbst zu sein. Indem
er also den Erwerb von Kolonien vorbereitet, dehnt er damit die wirtschaft-
106. Von den Verkehrsmitteln und Verkehrswegen. 189
liche Tätigkeit des Mutterlandes mit ihrem Gewinn oder Nutzen auf neue
Gebiete aus. „Mit diesen Zielen im Auge wird der nationale Handel zu
einem patriotischen."
Der Handel, welcher der Vermittler zwischen den Produzenten und Kon-
sumenten ist, wird natürlich von allem, was irgend einen Erwerbszweig oder
eine Gegend hebt oder herabdrückt, in gutem und bösem Sinne mitgetroffen.
Da er zugleich der Vermittler zwischen den Nationen ist, so ist er bei Glück
und Unglück derselben mitbeteiligt. Es ist ein Nachteil für ihn, wenn irgend
ein Land verarmt; ein Vorteil, wenn es reich wird. Als vermittelndes und
bewegendes Element hat der Handel klar ausgesprochene Interessen. Er muß
die freieste und leichteste Bewegung und eine stetige, mit Ruhe und Ordnung
gepaarte Fortentwicklung fordern. Wegen seiner innigen Verbindungen mit
dem Allgemeinen muß er sich aber auch anderen Interessen, sobald diese
höher stehen, unterordnen. Macht die Ausbildung der Gewerbe und Fabriken
eine Beschränkung der Handelsfreiheit nötig, so mag das dem einzelnen
Kaufmann oder einzelnen Handelsstädten Nachteil bringen, der Handel im
allgemeinen wird Ersatz finden durch die größere Warenmenge, die er bald
durch den Aufschwung der Gewerbe und Fabriken erhält.
Der Handeltreibende hat sich endlich von der Geldwirtschaft eingehende
Kenntnis zu verschaffen. Für einen Teil der Waren wird wiederum durch
andere Waren Zahlung geleistet, für die überwiegende Masse aber durch
Edelmetalle in rohem oder gemünztem Zustande, also durch Geld (oder diesem
gleichwertige Papiere, z. B. Wechsel). Das gemünzte Edelmetall wird aber
im allgemeinen nur von den Kulturvölkern als Zahlungsmittel benutzt; bei
nicht kultivierten Volksstämmen wird es ganz oder zum Teil durch andere
Zahlungsmittel ersetzt. Keines davon kommt an Verbreitung der Kauri-
muschel gleich. Die Anwohner des Niger nehmen Kolanüsse als Geld, andere
Afrikaner Zeugstreifen und Mittelafrika am liebsten Messingdraht, dazu
Eisengeld und Salzstücke als Kleingeld; die Mongolei zahlt mit Teeziegeln,
die Bewohner von Celebes mit Zeugstreifen.
Alle diese Aufgaben obliegen in erster Linie freilich nur dem Großhandel;
aber auch dem Klein- oder Detailhandel, der unmittelbar die Konsumenten
versorgt, fällt im wirtschaftlichen Leben eine wichtige Rolle zu.
106. Won den Werkehrsinittetn und Werkehrswegen.
Es gibt wohl kaum ein Gebiet, auf dem eine Vergleichung des
Sonst und Jetzt so sehr zu Gunsten der Gegenwart spricht als das
des Verkehrs. Gerade unser heutiges Verkehrswesen zeigt am schönsten,
wie mächtig die Menschen werden, wenn sie zusammenwirken, welch groß-
artige Hindernisse sie bewältigen können.
Auf der wirtschaftlichen Urstuse des Menschengeschlechtes und be-
sonders bei Völkern mit Sklaverei wurde die Kraft des Menschen als
Transportmittel benutzt. Erst auf einer höheren Kulturstufe dienten
190
106. Von den Verkehrsmitteln und Verkehrswegen.
dem Menschen hierzu die Lasttiere. Ägypten und das Morgenland, die
Wiege der heutigen Kultur, bedienen sich derselben auch jetzt noch im
ausgedehnten Maße. Wer wollte die Wüsten bereisen, wenn es nicht
das Kamel, das Schiff der Wüste, gäbe! Der hohe Norden wäre un-
bewohnbar ohne das Renntier; im heißen Indien befördert der Elefant
die Lasten; im südlichen Afrika (Kapland) bedient man sich des Reit-
ochsen; in den Alpen, Pyrenäen und im Kaukasus tragen Saumroffe,
Maultiere und Maulesel die Reisenden über die Höhen.
In Europa machte man bis ins 17. Jahrhundert die Reisen
größtenteils zu Pferd. Allerdings erfahren wir, daß schon im 15. Jahr-
hundert die deutschen Hofmeister zu Wagen reisten; im 16. Jahrhundert
wurde dieser Gebrauch bei vornehmen Leuten allmählich häufiger; trotz-
dem machten die Rüstigen noch immer ihre Reisen lieber zu Pferd.
Um 1550 kamen von Ungarn her die aus dem Morgenlande stammenden
Arben nach Deutschland, wo sie Gutschen (Kutschen) genannt wurden.
Man hielt es jedoch für eine unmännliche Weichlichkeit sich solcher Fuhr-
werke zu bedienen. Erst nach Einführung der Posten wurde das Reisen
zu Wagen gebräuchlicher.
Die Anfänge des deutschen Postwesens sind die „Briefftälle" und
„Reitposten", welche der Deutsche Orden zu Ende des 14. Jahrhunderts
in Preußen einrichtete. Auch die Hansa hatte Posten, und zwar bereits
Fahrposten. Im Jahre 1516 richtete auf Maximilians I. Anregung
Franz von Thurn und Taxis den ersten regelmäßigen Postkurs zwischen
Brüssel und Wien ein. Nach diesem Vorbilde kamen dann in ver-
schiedenen Reichsländern — das Reichsoberpostamt war seit 1545 beim
Hause Taxis — Posten auf, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts
auch die Beförderung von Personen zu übernehmen anfingen. Doch
war bis ins 18. Jahrhundert der Personentransport hauptsächlich wegen
der schlechten Beschaffenheit der Wege mehr Nebensache. Einen erfreu-
lichen Wendepunkt im deutschen Postwesen bezeichnet erst die Einrichtung
der Eilwagenkurse von 1824 an.
Dieser Aufschwung hängt zum Teil zusammen mit der Ver-
besserung der Verkehrswege. Als die natürlichsten Vermittler für Handel
und Verkehr sind die Wasseradern zu betrachten. Allmählich wurde
aber auch die Errichtung von Landwegen notwendig, mit deren Pflege
es jedoch in früheren Zeiten schlecht bestellt war. Noch vor 100 Jahren
war der Zustand derselben in sehr vielen Gegenden Deutschlands so
erbärmlich, daß das Reisen zu Wagen geradezu mit Lebensgefahr ver-
bunden war. Bei anhaltend schlechter Witterung waren die Wege fast
unfahrbar. Man reiste am liebsten gar nicht, wenn es nicht unbedingt
106. Von den Verkehrsmitteln und Verkehrswegen. 191
sein mußte. Der Kaufherr konnte seine Waren nur mit großem Kosten-
aufwand weiter befördern, wodurch dieselben sehr verteuert wurden.
Erst in neuerer Zeit fing man an dem Wegbau eine größere Auf-
merksamkeit zu schenken. Die ältesten Steinstraßen findet man bei den
Chinesen und Römern. In Deutschland jedoch wurde erst 1753 die
erste Kunststraße von Öttingen nach Nördlingen gebaut. Friedrich der
Große ließ 1757 eine Chaussee in Preußen anlegen. Die Hauptzeit
der Chausseebauten fällt in die Jahre von 1830—1860. Jetzt erstreckt
sich der Bau von neuen Verkehrswegen fast ausschließlich auf die An-
legung von Eisenbahnen. Schon in Herkulanum und Pompeji gab es
Steinbahnen, bei welchen die Wagenräder auf schmalen Steinstreifen dahin-
rollten. Auch das alte Ägypten kannte solche Steinbahnen. In den
Freiberger Blei- und Silberbergwerken waren schon im Mittelalter
Holzbahnen üblich, auf denen die „Hunde", b. i. die Erze führenden
Karren, nach der Schachtöfinung geschoben wurden. Seit etwa
100 Jahren bedient man sich in den Bergwerken eiserner Bahnen, deren
Wagen durch Pferde gezogen wurden. Sie gaben in England den
Anstoß zum Eisenbahnbau.
Der erste Versuch Kohlenwagen auf eisernen Spurbahnen mittels
einer durch Dampf getriebenen Maschine fortzuziehen wurde 1804 in
Südwales gemacht.
Die erste Dampfeisenbahn, welche dem Personen- und Güterverkehr
diente, wurde 1830 von Robert Stephenson, dem Erfinder der Loko-
motive, eröffnet. Sie verband Manchester und Liverpool. In Deutsch-
land wurde die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth 1835
erbaut. Jetzt aber umspannt ein gewaltiges Eisenbahnnetz einen großen
Teil der Erde.
Eisenbahnen führen jetzt über schmale Meeresarme, z. B. in Schott-
land, und durch sandige Wüsten, wie z. B. zwischen Alexandrien und
Suez; sie durchschneiden die Lagunen von Venedig, erklimmen hohe
Berge, wie Rigi und Vesuv, und übersteigen Alpenpässe; sie rollen
durch die Prärie und durch den Urwald. In Berlin geht die Stadt- und
Ringbahn hoch über dem Menschenverkehr hin; in London durchbraust
der Zug den Tunnel unter der Themse; ja man hat sogar den kühnen
Plan gefaßt einen Tunnel unter dem Meere zwischen England und
Frankreich anzulegen.
In Europa können wir bereits ununterbrochen von Madrid bis
nach Konstantinopel gelangen und von Brindisi in Süditalien bis nach
Petersburg. Rußland hat jüngst durch den Bau der Transsibirischen
Bahn sein Schienennetz von der Wolga durch Asien hindurch bis an den
192
106. Von den Verkehrsmitteln und Verkehrswegen.
Großen Ozean ausgedehnt. Die Pyrenäen, der Brenner und der Sein-
mering sind schon überschient; der Mont Cenis-Tunnel durchbricht die
Westalpen und seit 1882 ist sogar ein Tunnel von 2 Meilen durch den
St. Gotthard gebaut. Der Gotthard-Tunnel gehört zu den größten
Wunderwerken der Neuzeit. Louis Favre hat dieses Riesenwerk in
8 Jahren ausgeführt. Dieser Tunnel, der bei Göschenen in der Schweiz
einmündet und bei Airolo in Italien wieder aus dem Schoße dieses
ungeheueren Alpenberges heraustritt, verbindet Deutschland und die
Schweiz unmittelbar mit Italien und hat den Verkehr zwischen diesen
Ländern bedeutend erhöht. Noch großartiger aber ist der im Jahre 1905
vollendete Simplon-Tunnel, durch den die Beziehungen zwischen dem
Norden und Süden sich noch viel lebendiger und mannigfaltiger ge-
stalten.
Dieses ungeheuere Netz von eisernen Verkehrswegen hat die größte
Umwälzung im Handel und Verkehr verursacht. Große Strecken des
östlichen und inneren Mitteleuropa sind durch die schnellere Waren-
beförderung erst wirtschaftlich in die Höhe gekommen.
Die europäischen Bahnen erweisen sich als höchst wichtige Be-
förderer des Weltverkehrs; noch mehr hat dieser durch die großen
Eisenbahnen Nordamerikas gewonnen. Zahlreiche Pacisicbahnen ver-
binden dessen Ost- und Westküste. Diese Bahnen übersteigen reißende
Ströme und riesige Abgründe; wo früher der Büffel hauste und der
Indianer jagte, da stehen jetzt Eisenbahnstationen. An diesen wachsen
mit Riesenschritten große Städte empor und das Land links und rechts
verwandelt sich in fruchtbares Gefilde. Ja, man geht jetzt an die Aus-
führung des Riesenwerkes, eine neue Überlandbahn von Neuyork über
Norfolk nach San Francisco zu bauen, wodurch der Weg gegen die bis-
herige kürzeste Überlandzeit zwischen den beiden Ozeanen um etwa
34 Stunden gekürzt wird.
Die Bedeutung dieser Bahnen für den Welthandel tritt immer mehr
hervor und sie erschließen immer größere Gebiete dem Weltverkehr.
China, Japan, Indien und Australien mit ihren reichen Hilfsquellen
sind in einem großartigen Aufschwünge begriffen. Ihr Handel mit Tee,
Seide und Wolle nimmt schon jetzt teilweise seinen Weg über die Pacific-
bahnen. Die Dampferfahrten China—Japan nach S. Francisco mehren
sich beständig. Reisende nehmen nun viel lieber den Westweg nach Ost-
asien als den Weg über Suez. Da die deutschen Postdampfer die Fahrt
über den Atlantischen Ozean in der Regel in 7— 8 Tagen machen,
so können wir jetzt schon in 12—13 Tagen an der Küste des Großen
Ozeans sein, nachdem wir ein Weltmeer und einen Weltteil durcheilt
106. Von den Verkehrsmitteln und Verkehrswegen. 193
haben. Nehmen wir von S. Francisco aus die Dampferlinie über
Jokohama in Japan, Hongkong in China, Indien, Aden, Suez, so können
wir wohl in 70 Tagen rund um die Erde reisen. Besteigen wir aber
in Ostasien, in Port Arthur oder in Wladiwostok, die sibirische Über-
landbahn, so wird die Fahrt um die Erde noch weiter beschleunigt.
Wie auf den Stationen der Eisenbahnen, so ist auch bei den
Dampferlinien Ankunft und Abfahrt genau bestimmt. Auch die zahl-
losen Segelschiffe, welche die Güter der Erde bis an die entlegensten
Küsten tragen, halten auf ihrer Fahrt im allgemeinen eine bestimmte
Zeit und einen bestimmten Kurs ein. Fürwahr, ein großartiges Bild
des Weltverkehrs!
Wer euch sagt, daß ihr anders reich werden könnt als durch Arbeit
und Sparsamkeit, der betrügt euch, der ist ein Schelm. Franklin.
Die große Zauberformel der Gegenwart lautet: „Arbeit, abermals
Arbeit und immer Arbeit." Gambeua.
Der Baum der Enthaltsamkeit hat Genügsamkeit zur Wurzel, Zu-
friedenheit zur Frucht. Diderot.
Denke nicht, wenn etwas dir schwer ankommt, daß es nicht menschen-
möglich sei! Vielmehr, wenn etwas für einen Menschen möglich und
seiner Natur angemessen ist, so glaube, es sei auch für dich erreichbar!
Kaiser Marc. Aurel.
Die Freiheit besteht darin nur von den Gesetzen abzuhängen.
Voltaire.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. *
13
IV. Teil.
Kràchte die Vàri
List -u erschöpft, bedrückt von Leid,
Von dem dn gern dich sah'st befreit,
Und möchtest lernen die erhabnen Lehren,
Vom Herzen Schwäche, Schlaf vom Geist zu wehren:
Zu Berg und Wald geh! Ver Uatur
Gesicht trübt keine Tränenspur. LongMow
107. I)er Mensch, ein Glied der Aatur.
„Und als das Wasser geschieden war von dem Land und die Erde
aufgehen ließ Gras und Kraut und fruchtbare Bäume, die da Früchte
trugen und sich besameten, ein jegliches nach seiner Art; als es Licht
geworden und die Feste, genannt der Himmel, geschieden war von Land
und Meer; als die Erde hervorgebracht lebendiges Getier, Vieh, gefiedertes
Gevögel, Gewürm, ein jegliches nach seiner Art: da schuf Gott den
Menschen nach seinem Bilde."
Als das letzte Werk der Schöpfung ward der Mensch geschaffen,
und obgleich dem Schöpfer zum Bilde, konnte er doch nur nach festen
Voraussetzungen und Naturgesetzen in die Welt eintreten und in ihr
erhalten werden. Obwohl hervorgegangen aus der Hand des Schöpfers,
ist er doch unablösbar eingefügt in die Natur, in unablöslichem Zu-
sammenhang eingereiht in die ganze Kette ihrer Kräfte und Erscheinungen.
Selbst an das geringste grüne Zellgewebe zu seinen Füßen ist sein
Dasein in unverrückbarer Abhängigkeit geknüpft; denn alles organische
Leben auf der Erde würde eine Unmöglichkeit sein ohne das Vorhanden-
sein des Pflanzenhalmes, den das leiseste Lüftchen bewegt — der Mensch
eine Unmöglichkeit ohne den an die grüne Pflanzendecke der Erde ge-
knüpften festen, fertigen Bestand aller ihrer physischen Kräfte und Er-
scheinungen.
307. Der Mensch, ein Glied der Natur.
195
Und nicht allein der leibliche Mensch auch seine geistige Eigenart
entwächst dem Naturganzen unseres Planeten. Die Schwingen, welche
die Seele emportragen über die organische Welt, haften doch in dem
Raum- und Wirkungskreise eben dieser und nehmen die Kraft und die
Richtung ihres Fluges aus dem Bereiche der Sinnesempfindungen.
Schwach und hilflos tritt der Mensch ins Dasein. Ihn übertreffen
gar viele Geschöpfe an Schärfe der Sinne, an Größe des Leibes wie
an Stärke der Muskeln. Sein Leben umfaßt, auch wenn es hoch kommt,
nur wenige Jahrzehnte; denn der einzelne Mensch ist der Natur unter-
tan. Auch die Menschengeschlechter, die gelebt haben und noch leben
werden, konnten und können sich dem natürlichen Lauf der Dinge im
ganzen und großen nicht widersetzen. Das Leben der Menschen gestaltet
sich nach den Gesetzen, die wir ahnen, aber nicht zu erklären vermögen.
Dennoch hat der Letztling der Schöpfung eins voraus, das ihn weit
über das Tier, auf den Thron der Welt selbst hinstellt: den denkenden,
vernünftigen Geist. Während das Tier, der dunkeln Gewalt der Triebe
unterworfen, nur empfindet und vielleicht ahnt, ist es dem Menschen
möglich in seinem Innern sich eine eigene Welt zu bauen, den großen
Gedanken der Schöpfung nachzudenken und sich zur Weisheit und Sitt-
lichkeit zu erheben. Sinnig hat ihn darum unsere Sprache „Mensch"
genannt, d. i. der Geistbegabte, der Denker.
Aber wenn man hier ganz absieht von der unsterblichen Seele des
Menschen und allein die äußere Erscheinung betrachtet, so ist doch auch
diese vollkommener und edler als irgend ein anderes Gebilde. Unser
Leib spiegelt die höhere geistige Natur wieder; er weist trotz aller Ver-
wandtschaft jeden eigentlichen Vergleich aus dem Reiche der tierischen
Formen zurück. Frei tritt die Brust hervor, und den Wuchs zu krönen,
richtet sich das Haupt auf und zeigt dem Himmel das freie Angesicht.
Hier schwindet jede Ähnlichkeit mit dem Tier; es ist ganz nur der
Mensch, der auffchauende, weitschauende Sohn des Himmels. Aus der
Verschleierung des Haares wölbt sich die marmorne, gedankenstrahlende
Stirne hervor; unter dem markigen Bogen der Nase schließt sich der
Mund, nicht mehr gewaffnet mit dem Zahn des Raubtiers, aber zu
verständiger Rede und zum anmutigen Lächeln sich öffnend. Über
dieses alles hinweg schmiegt sich endlich die duftig warme Haut, welche
die verschiedensten Farbentöne durchläuft. Die wunderbare Röte der
Scham, die Todesblüffe der Furcht und das beredte Spiel der Mienen
werden der Ausdruck dessen, was in seiner Seele vorgeht. Und dennoch,
was wäre alles Ebenmaß des Leibes und aller Reiz des Antlitzes ohne
das Auge! Klar und ruhig nimmt der Blick den Eindruck der Gegen-
13*
196
108. Der Mensch, der Herr der Natur.
stände auf und bringt in die Unendlichkeit der Welten. Das höchste
körperliche Gut des Menschen ist seine Sprache. Nur der Mensch kann
sprechen, weil er denken kann; und was keine andere Gewalt der Natur
vermag, das bewältigt das einfache Wort. Das Geschrei, Geheul, Gebrüll
des Tieres, selbst der Gesang des Vogels, was sind sie gegen den
schmeichelnden Laut des Kindes, gegen das überzeugende Wort des Vaters,
gegen das begeisternde Wort des Redners, gegen die ergreifende Macht
des Gesanges! Die Sprache macht erst den Menschen zum Herrscher
über das ganze Gebiet des Sichtbaren und verbindet dieses mit dem
Unsichtbaren, mit Gott; sie gibt Zeugnis von seiner göttlichen Abkunft.
Nach Engel und Masius.
108. vor Mensch, der Herr der Natur.
Der Mensch ist ein Teil der Natur und ist ihren Gesetzen
unterworfen. Aber der Mensch steht auch gewissermaßen außer-
halb der Natur und kann daher auch in ganz anderer Weise
als alle übrigen lebenden Geschöpfe wieder auf sie zurückwirken,
sie umgestalten und bis zu einem gewissen Grade beherrschen,
ja ihr Gesetze vorschreiben. Kultur und geistige Entwicklung
sind die Mittel, durch welche der Mensch sich nach und nach
von der Herrschaft der Natur losgemacht hat, durch welche er
gleichsam von der Stellung eines Dieners in die eines Herrn
übergegangen ist.
Es liegt nicht in der Natur des Menschen gleich den Fischen
in die Tiefe der Fluten zu dringen; doch die Taucherglocke ge-
stattet ihm den Boden des Meeres zu betreten und stundenlang
darauf zu verweilen. Wie schwach und kraftlos ist des Menschen
Arm gegen die Gewalt, welche im Rüssel und im Fuße des Ele-
fanten oder im Schwänze des Walfisches liegt, der mit einem
einzigen Schlage gewaltige Boote zertrümmert und in die Luft
schleudert 1 Doch der Mensch verlängert seinen Arm mit dem
Hebel und mittels der Winde bewegt und hebt er die größten
Lasten. Der Nagezahn des Bibers durchschneidet wohl mäßige
Baumstämme; aber Säge und Axt rotten in der Hand des Menschen
den mächtigen Urwald aus, indes der Bohrer tiefer als je der
Schnabel eines Vogels oder der Rüssel eines Insektes in das
härteste Holz jeder Art zu dringen und selbst Steine und Metalle
zu durchbrechen vermag. Des Menschen Auge hat bei aller Voll-
kommenheit nicht die Schärfe des Falkenauges, da es Gegen-
stände, welche mehr als um ihren 3000fachen Durchmesser von
108. Der Mensch, der Herr der Natur.
197
ihm entfernt sind, nicht mehr zu erkennen vermag; aber bewaffnet
mit dem Fernrohr (Teleskop) erkennt er die fernsten Gegen-
stände und die Erhabenheit des Weltbaues erschließt sich seinem
Auge, während unter dem Vergrößerungsglas (Mikroskop) sich
dem Forscher eine wundervolle Welt im kleinsten Raum offen-
bart. Was ist des Menschen Stimme gegen das Brüllen des
Wüstenkönigs und anderer gewaltiger Tiere? Dennoch überbietet
er sie alle an Stärke des Lautes durch Anwendung des Sprach-
rohres oder der Dampfpfeife. Und wie mächtig spricht nicht
für ihn der Donner der Geschützei
Vor Jahrtausenden schon zwang der Mensch das starke Roß
und den gewaltigen Elefanten in seinen Dienst; heute schafft er
sich selbst ein Pferd aus Eisen, das er mit Feuer und Wasser
ernährt und das ihn mit hundertfach stärkerer Kraft im Fluge
durch ganze Länder hinzieht. Diese gewaltige Naturkraft trägt
ihn in schwimmenden Häusern und Festungen über weite Meere
und in die entlegensten Winkel der Erde, arbeitet wie ein Riese
der Fabelwelt in gewaltigen Werkstätten, wo die harten Metalle
wie Wachs sich fügen müssen oder eiserne Hände Wunder an
Feinheit und Genauigkeit verrichten, die des Menschen Hand
allein nicht zu schaffen vermöchte. Höher als der Adler erhebt
er sich im leichten Ballon in die Lüfte und schauerliche Tiefen
durchforscht er mit Fühlfaden, Erdbohrer und Senkblei.
Der Mensch weist nicht allein dem Blitze seinen Weg; er
macht das geheimnisvolle Wesen desselben sogar zu einem dienst-
baren Geiste, der bald auf sein Geheiß mit Gedankenschnelle
seine Botschaften über Länder und Meere trägt bald in stiller
Werkstätte die verschiedensten Metalle zu kunstvollen Gebilden
erwachsen läßt! Endlich zwingt der Mensch den Sonnenstrahl
ihm als Zeichner zu dienen und derselbe besorgt sein Amt mit
einer Raschheit, Pünktlichkeit und Treue, deren keine Menschen-
hand fähig ist.
Sogar Dinge, welche die Natur zwar besitzt, aber niemals
und nirgend unvermischt enthält, stellt der Mensch rein dar, wie
eine Menge von Metallen, Luftarten, Pflanzensäften, Ölen, Alko-
holen und viele chemische Verbindungen.
Soweit der Erdboden Menschen trägt, haben sie die Ober-
fläche der Erde umgewühlt, die natürliche Pflanzenwelt, die wilden
Schlangen verdrängt und nur dem Raum, Leben und Fortpflanzung
vergönnt, was dem Menschen nützlich, was seinem Auge wohl-
198
108. Der Mensch, der Herr der Natur.
gefällig oder seinem Geruch angenehm ist. Er hat den Urwald
ausgerodet und den Bäumen nur so weit das Dasein gestattet,
als sie des Menschen Dasein begünstigen. Er hat unter den
Bewohnern der Wälder, unter den wilden Tieren, eine ver-
nichtende Verheerung angerichtet, so daß sie fast ganz von dem
bewohnten Erdenrund verschwunden sind. Was nicht für den
Menschen lebt, dem nimmt er das Leben; was das Menschen-
dasein erleichtert und begünstigt, dem gibt er Leben um es
ihm wiederum zu nehmen. Die gezähmten Tiere leben nur für
den Zweck des Menschenlebens.
Der Mensch hat die Pflanzenwelt wie die Tierwelt bereichert
durch Mischlingsarten, die er künstlich erzeugt, wie sie die freie
Natur nicht hervorbringt. Unzählige Apfelsorten sind aus dem
wilden Apfel entstanden, der jetzt verschmäht wird; der Mensch
hat diese Frucht veredelt, aber für sich.
Wo wir hinblicken, ist die Erde voll von Werken der
Menschen, welche die Werke der Natur verdrängt oder um-
gestaltet haben. Feld, Garten, Wiese, Haus, Straße, Dorf, Stadt,
alles ist Zeugnis des die Natur beherrschenden Menschengeistes.
Wo dieser waltet, bleibt ein Gebirge nicht, wie es war, bleibt
ein Wald nicht, wie er gewesen, bleibt ein Strom nicht, wie er
sich von Natur aus gestaltet. Hier wird ein Berg abgetragen,
dort ein Tal erhöht, hier ein Waldbrand angefacht, dort eine
neue Waldung angepflanzt, hier der Strom abgelenkt, dort ein
Wasserfall angelegt.
Will man Natur sehen, wie sie ursprünglich ist, so gibt es
bald keinen Ort mehr, wohin man den Blick richten kann, als
auf das Meer oder hinauf zum Sternenhimmel; das feste Erden-
rund ist ganz der Umgestaltung durch den Menschengeist preis-
gegeben.
Zwar hat dieser die Natur bezwungen durch deren eigene
Kräfte; aber das ist die wahre Herrscherweise, die zu walten
weiß über die Kraft des Dieners um sich durch diese den Diener
zu unterwerfen. Der Mensch, die höchste der Schöpfungen, hat
sich zum Herrscher über alles unter ihm Geschaffene auf-
geschwungen. Und in all seinen Werken schreitet der Menschen-
geist von Stufe zu Stufe fort und kein Stillstand tritt ein, außer
wenn des Menschen Gedanken und Begierden auf Irrwege ge-
raten und den Weg des Rechts, des Gesetzes und des Friedens
Verlassen. Nach Wiecke und Bernstein.
y> ----------------!---'---l--------I-----!>---FS--------!--------I--------------------}-
109. Vom Bau des menschlichen Körpers. 199
109. Worn Wau des menschlichen Körpers.
Unser Körper verdankt seine feste Grundlage den Knochen und
Knorpeln. Beide sind mit einer starken, sehnigen Haut (der Knochen-
und Knorpelhaut) überzogen, welche die Blutgefäße für die Ernährung
dieser Teile trägt. Zur Vereinigung der Knochen untereinander zu
einem festen Gerüste, zum Gerippe oder Skelett, dienen die festen, aber
biegsamen Knochenbänder. Sie verbinden die meisten Knochen beweglich
miteinander, bilden aus diese Weise die Gelenke und machen so aus
dem Gerippe ein in allen seinen Teilen sehr bewegliches Gerüste. Um
dessen Gewicht nicht zu schwer zu machen bestehen die Knochen nicht
durch und durch aus Knochenmasse, sondern haben in ihrem Innern
eine Menge Räume, die mit leichtem, weichem Fette, dem Knochenmark,
ausgefüllt sind; diese Fette bilden gleichzeitig auch ein weiches, schützen-
des Lager für die Gefäße und Nerven des Knochens. An das Knochen-
und Knorpelgerüste sind teils die weichen Teile, vorzugsweise die Muskeln
oder das Fleisch, angeheftet, teils bildet dieses Gerüste samt den Muskeln
Höhlen, in denen wichtige Organe geschützt liegen. Die Muskeln ver-
leihen unserem Körper seine Form und umkleiden seine Höhlen; sie ver-
mitteln aber auch, indem sie sich zusammenziehen und dadurch verkürzen
können, alle Bewegungen, die mit und in unserem Körper vor sich gehen.
Im Innern der von Knochen, Knorpeln und Muskeln umschlossenen
Höhlen (Schädel-, Augen-, Nasen-, Mund-, Brust-, Bauch-, Becken- und
Rückgrathöhle) befinden sich die sogenannten Eingeweide. Sie sind aus
den verschiedenartigsten Geweben aufgebaut und von der mannigfachsten
Gestalt. Ihre Tätigkeit bezieht sich entweder vorzugsweise auf die Unter-
haltung unseres Lebens (wie die Tätigkeit des Herzens, des Atmungs-,
Verdauungsapparats u. s. w.) oder sie haben für die Entwicklung des
geistigen Vermögens (wie des Gehirns, der Sinne und des Sprach-
apparats) zu sorgen.
Alle genannten Bestandteile unseres Körpers, die Knochen, Knorpeln,
Muskeln und Eingeweide, werden von einer größeren oder geringeren
Anzahl dickerer und dünnerer, elastischer Hautröhren durchzogen, die sich
entweder baumförmig oder netzartig verbreiten.
Diese Röhren heißen Gefäße oder Adern und enthalten in ihrem
Innern entweder eine rote Flüssigkeit, das Blut, oder eine Weiße, milchige
Flüssigkeit, die Lymphe. Darnach werden sie als Blutgefäße und Lymph-
gefäße bezeichnet. In den Blutgefäßen wird das Blut, die Quelle des
Lebens, durch den Druck des fleischigen Herzens, welches in der Brust-
höhle seine Lage hat, fortwährend im Kreise herumgetrieben (Blutkreis-
lauf, Zirkulation des Blutes).
200
110. Von Speise und Trank.
Außer den genannten Gefäßen durchziehen aber auch noch Weiße
Fäden wie Telegraphendrähte alle Teile unseres Körpers. Es sind die
aus ganz feinen Fäserchen oder Röhrchen zusammengesetzten Nerven;
sie verbinden die vereinzelten und sehr verschiedenartigen Teile unseres
Körpers zu einem innig zusammenhängenden Ganzen. Sie dienen ent-
weder den Empfindungen und Sinnen oder den Bewegungen. Um
diese ihre Aufgabe erfüllen zu können, befinden sich am Anfange wie
am Ende der Nerven Vorrichtungen; diese vermitteln entweder das
Fühlen, wie die Sinnes- und Empfindungsorgane, oder das Bewegen,
wie die Muskelapparate. Die aus einer größeren Nervenmasse be-
stehenden Gebilde werden Nervenmittelpunkte genannt; solche sind das
Gehirn, das Rückenmark und die Nervenknoten. Sie sind die Sammel-
stellen für die Nerven und hängen mit deren Wurzeln innig zusammen.
Diese Nervenmittelpunkte samt den Nerven bilden das Nervensystem; dieses
vermittelt, aber erst infolge der Anregung durch äußere oder innere Reize,
nicht nur alle Lebensregungen sondern auch die Verstandestätigkeit.
Die äußere Oberfläche des Körpers hat als allgemeine Bedeckung
die äußere Haut, welche aus drei übereinander liegenden Schichten zu-
sammengesetzt ist. Zu oberst befindet sich die Oberhaut, darunter die
Lederhaut und unter dieser die Unter- oder Fetthaut. Die innere Ober«
fläche — als solche werden die Wände der Höhlen betrachtet, in welche
man von außen durch die natürlichen Öffnungen an unserem Körper
eindringen kann — ist mit Schleimhaut bekleidet. Alle die genannten
Teile, welche unsern Körper zusammensetzen, sind mehr oder weniger
von Zell- oder Bindegeweben durchzogen oder umhüllt und mit der
Eruährungsflüssigkeit durchtränkt.
Dieses schöne organische Gebilde, den menschlichen Körper, richtig zu
pflegen und gesund zu erhalten, ist heilige Pflicht eines jeden Menschen.
Nach Bock.
110. Won Speise und Arank.
„Essen und Trinken erhält den Leib" ist eine alte und sehr wahre
Redensart. Mit dem Bau unseres Körpers verhält es sich ziemlich ähn-
lich wie mit dem Bau eines Hauses. Man braucht zu einem Hausbau
verschiedenes Baumaterial, wie Holz, Steine, Eisen, Glas, Lehm. Alle
diese Stoffe müssen aber ihrer Bestimmung gemäß verarbeitet werden, so
das Holz zu Brettern und Balken, das Eisen zu Platten und Nägeln.
Erst dann sind sie zur Herstellung von Wänden und Räumen mit Türen,
Fenstern, Öfen, Schlössern u. s. w. zu verwenden. Ganz dasselbe ist
der Fall mit dem Bau des menschlichen Körpers. Es ist dazu ebenfalls
eine Anzahl verschiedener Stoffe nötig, wie Wasser, Eiweiß, Fette, Salze,
110. Von Speise und Trank.
201
Kalke, Eisen. Diese Stoffe müssen aber innerhalb unseres Körpers für
den Aufbau vorbereitet und zu den kleinsten Körperteilchen, wie zu Bläschen
(Zellen), Fäserchen, Röhrchen, Plättchen und Häutchen verarbeitet werden.
Erst dann können sie zur Zusammensetzung der Knochen, Knorpel, Mus-
keln oder Fleisch und Nerven dienen.
Wie bekannt, gibt es an jedem Gebäude fortwährend auszubessern,
da es ja durch die Zeit und den Gebrauch außen und innen Schaden
leidet. Natürlich sind dann die Schäden nur mit demjenigen Material
auszubessern, aus welchem die beschädigten Teile gearbeitet waren; die
Fenster müssen durch Glas, die Mauern durch Steine, die Schlösser
durch Eisen repariert werden. — Ebenso verhält es sich mit unserem
Körper. Solange wir leben, nutzt sich derselbe fortwährend in allen
seinen Teilen ab; er kann nur ordentlich ausgebessert, dadurch aber
gesund erhalten werden, wenn das Abgenutzte immerfort wieder auf-
gebaut wird: das Fleisch durch Fleischstoffe, die Knochen durch Leim
und Kalk, die Nerven durch Eiweiß und Fett. Das fortwährende Ab-
nutzen (Absterben) unserer Körperteile und das immerwährende Wieder-
ersetzen (Erneuern) derselben nennt man den Stoffwechsel. So-
lange dieser vor sich geht, leben wir; hört er auf, dann sterben wir;
geht er schlecht und falsch vonstatten, dann sind wir krank. Der Stoff-
wechsel wird mit Hilfe des Blutes im Gang erhalten. Die Stoffe, aus
denen sich das Blut bildet, werden demselben durch die Nahrung mit
Hilfe der Verdauung übergeben; aus dem Blute aber bauen sich alle
Teile unseres Körpers auf. Deshalb wird das Blut als die Quelle
des Lebens bezeichnet.
In einem Gebäude werden wir uns aber nur dann wohl befinden
können, wenn in dessen Räumen eine angenehme Temperatur herrscht.
Wir heizen deshalb bei kaltem Wetter ein. — Auch innerhalb unseres
Körpers ist stets ein gewisser Grad von Wärme (-j- 37,6 0 C) nötig,
wenn der Stoffwechsel ordentlich vor sich gehen soll. Um diese Wärme
zu erzeugen heizen wir auch ein, und zwar mit Stoffen, die dem Ver-
brenuungsmaterial unserer Öfen (Holz, Stein- und Braunkohle) in ihren
Grundbestandteilen ähnlich sind. Zu ihnen gehören fettige, stärkemehl-
haltige, zuckerhaltige und spirituöse Stoffe. Einige davon, wie das
Stärkemehl und der Zucker, verwandeln sich in unserem Körper allmählich
in Fett; man nennt diese Stoffe auch Fettbildner.
Wir bedürfen also sehr verschiedener Nahrungsmittel. Nur die
Milch und die Eier enthalten alle jene Bestandteile, die unsern Körper
aufbauen; deshalb könnte der Mensch auch von Milch und Eiern allein
leben. Alle übrigen Nahrungsmittel dagegen enthalten nur den einen
202
110. Von Speise und Trank.
oder den anderen von den Stoffen, die wir dem Blute zuführen müssen.
Daher ist es am zweckmäßigsten, wenn unsere Nahrung eine gemischte,
nämlich aus tierischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln zusammengesetzt
ist. Zu einem gesunden, kräftigen Leben bedürfen wir der Abwechslung
in den Speisen. Würden wir bloß von magerem Fleische, von Käse
oder vom Weißen der Eier leben wollen, so müßten wir verhungern;
es können aber auch alle Mehlspeisen, besonders das Brot, nur dann
als nahrhaft gelten, wenn in ihnen außer dem Mehl auch noch Kleber
(d. i. der mit dem Weißen im Ei zu vergleichende Eiweißstoff, der dicht
unter der Schale der Getreidesamen lagert) vorhanden ist. Am zu-
sagendsten ist für den gesunden Menschen eine Kost aus Suppe, Fleisch
und Gemüse bestehend. Diese sogenannte Hausmannskost führt dem
Körper sämtliche erforderliche Nährstoffe zu und behütet ihn vor den
Folgen einer überfeinerten Küche.
Die Getränke sollen die wässerigen Bestandteile unseres Blutes
und Körpers ersetzen, die derselbe fortwährend durch Lungen, Haut
und Nieren verliert. Außerdem enthalten auch noch alle Getränke,
selbst das Trinkwasser, solche Nahrungsstoffe in sich, die zum Ersatz
der festen Körperbestandteile dienen. Unter allen Getränken sind für
den menschlichen Körper nur zwei ein wirkliches Bedürfnis: das Wasser
und im Kindesalter die Milch. Letztere kann für den Erwachsenen gleich-
zeitig als Getränk und als Speise dienen.
Wenn wir nun auch wissen, was wir essen sollen, so ist es ferner
von großer Bedeutung zu wissen, wie wir die Speisen genießen sollen.
Viele Menschen essen so, daß ihnen das Genossene den Nutzen
nicht bringt, den es bringen könnte. Alles Feste, das wir genießen,
ganz besonders das Fleisch, muß so zubereitet und im Munde mit den
Zähnen so lange verarbeitet (gekaut) werden, daß es im Magen und
Darmkanale von den Verdauungssäften, vorzugsweise vom sauern Magen-
säfte, leicht durchdrungen und aufgelöst werden kann. Je flüssiger und
breiiger ein Nahrungsmittel ist oder je schneller es im Magen in eine
solche Form verwandelt werden kann, desto verdaulicher ist es und
desto besser können seine Nahrungsstoffe ausgezogen und in das Blut
übergeführt werden. Deshalb kommt auf die Zubereitung und das Kauen
der Speisen sehr viel an. Ein gut gekochtes oder gebratenes, weiches
Stück Fleisch ist ebenso wie ein tüchtig zu Brei gekautes Stück weit
verdaulicher als hartes, wenig zerkautes Fleisch. Hartes Ei ist sehr
unverdaulich, weiches dagegen sehr leicht verdaulich. Feste, unlösliche (also
unverdauliche) Stoffe in unseren Speisen, wie Hülsen, Schalen, Körn-
chen, Blätter und dergleichen, erschweren das Eindringen des Magen-
111. Die Schädlichkeit des Tabakgenusses für die Jugend. 203
sastes in dieselben und hindern dadurch die Lösung dieser löslichen Stoffe.
So gehen nicht durchgeschlagene Hülsenfrüchte (auch Reis) fast ganz un-
verdaut wieder fort. Sehr fette Speisen werden ebenfalls unverdaulicher,
sobald das flüssige Fett, welches vom wässerigen Magensafte nicht durch-
drungen werden kann, eine Art Hülle rings um die löslichen Nahrungs-
stoffe bildet. — Trinkt man Milch langsam in kleinen Schlucken und ißt
dazwischen Brot, so gerinnt dieselbe im Magen nur in ganz kleinen
Teilen und wird dann für den Magensaft leichter durchdringlich und
löslicher. Dagegen bildet sich beim schnellen Trinken größerer Massen
Milch im Magen ein großer Klumpen Quark und dieser ist für den
Magensaft schwer zu lösen. Aus diesen wenigen Beispielen wird man
schon erkennen, daß auch auf das Wie beim Essen und Trinken viel
ankommt. Bo«.
111. Die Schädlichkeit des Aaöakgerrufles für die Jugend.
Es ist eine bekannte Erfahrung, daß vielen Menschen verbotene Früchte
besser schmecken als erlaubte, und zwar gerade darum, weil sie verboten
sind. Dies gilt ohne Zweifel im ausgedehntesten Maße vom Tabakrauchen
der heranwachsenden Jugend. Trotzdem Eltern, Lehrer und Meister den
jungen Leuten das Rauchen verbieten oder in wohlmeinender Absicht wider-
raten, so handeln doch viele dagegen und sündigen so wider ihre Gesundheit.
Wie viele junge Leute legen durch frühzeitiges Rauchen den Grund zu
späterem Siechtum, schwerer Krankheit und frühem Tod! Aber auch Er-
wachsenen bringt das übermäßige Rauchen die größten Nachteile für die
Gesundheit.
Die Tabakpflanze gehört zur natürlichen Familie der Nachtschattenarten,
die fast aus lauter Giftpflanzen gebildet wird; die Tollkirsche, das Bilsen-
kraut und der Stechapfel sind nahe Verwandte unseres Tabaks. Der giftig
wirkende Stoff des letzteren ist aber nicht der gleiche wie in den drei
genannten Giftpflanzen, sondern hat noch andere physikalische und chemische
Eigenschaften und unterscheidet sich auch hinsichtlich seiner giftigen Wirkungs-
art. Der Giftstoff führt den Namen Nikotin. Im reinen Zustand ist es
eine farblose, durchsichtige, leicht bewegliche Flüssigkeit von starkem, betäuben-
dem Tabakgeruch. ES ist eines der heftigsten Gifte, das dem Schierlings-
gift an Stärke etwa 16 mal überlegen ist. Frösche gehen in 1V2 Minuten
zu Grunde, wenn man ihnen einen Tropfen auf die Zunge bringt. Kommt
man mit einem in Nikotin getauchten Stäbchen dem Schnabel kleiner Vögel
nahe, so tritt bei diesen augenblicklich der Tod ein. Tauben verenden durch
einen Tropfen Nikotin in 30 Sekunden. Ja, mit acht Gramm Nikotin hat
man in 41/2 Minuten schon Pferde getötet.
Die Wirkung auf den menschlichen Organismus ist ebenfalls sehr stark;
selbst ein hundertstel Tropfen bereitet Brennen und Kratzen im Munde und
204 Hl. Die Schädlichkeit des Tabakgenusses für die Jugend.
Schlunde sowie starke Speichelabsonderung; bei 1/30 Tropfen treten Schwindel,
Kopfschmerz, Schläfrigkeit, Beklommenheit und Trockenheit im Schlunde ein.
Der Nikotingehalt des Tabaks ist aber keineswegs die alleinige Ursache
der schädlichen Wirkungen des Rauchens; es kommen hierbei auch noch andere
Stoffe in Betracht. Es ist nicht zu leugnen, daß ein Teil des Nikotins beim
Rauchen durch die Wärme zersetzt wird und daher der Tabakrauch verhältnis-
mäßig nur wenig Nikotin enthält. Aber die Zersetzungsprodukte, die aus
dem Nikotin durch Einwirkung des brennenden Tabaks auf den nicht brennen-
den entstehen, sind nicht viel weniger giftig als das Nikotin selbst; und
solche Zersetzungsprodukte bilden sich auch in großer Menge aus den übrigen
Bestandteilen des Tabaks, den organischen Säuren, dem Pflanzeneiweiß u. s. w.
Dadurch, daß man die Zigarren zwischen den feuchten Lippen hält, gelangt
außer dem Rauche beständig Nikotin in den Mund und diese Menge dürfte
unter Umständen noch größer sein als diejenige, welche durch den Rauch dem
Körper zugeführt wird. Beim Gebrauch einer Zigarrenspitze von genügender
Länge wird allerdings diese Aufsaugung des Giftes von seiten des Organis-
mus wesentlich vermindert.
Nichtsdestoweniger bleibt das Tabakrauchen, auch mit Spitze, eine für
die Gesundheit schädliche Angewohnheit; denn der aus dem brennenden Tabak
sich entwickelnde Rauch hat giftige Bestandteile; letztere entstehen eben erst
durch die Einwirkung der Wärme auf die übrigen Bestandteile der Tabak-
blätter, sind also Zersetzungsprodukte derselben. Es findet in der Zigarre
oder in der Pfeife ein ähnlicher Vorgang statt wie in der Gasretorte, wenn
in einer solchen Holz, Braunkohlen und Steinkohlen erhitzt werden; daher
sind auch die hierbei entstehenden Produkte teeriger Natur, beim Tabak der
sogenannte Tabakschmergel. Wir finden dieselben giftigen, stickstoffhaltigen
Basen, die aus dem Steinkohlenteer abgeschieden werden können, auch im
Tabakschmergel wieder und in Dampfform auch im Tabakrauch. In diesem
wird das Vorhandensein einer ganzen Reihe verschiedener giftiger Bestandteile
(Picolin- und Pyridinbasen) nachgewiesen. Pyridinbasen stellt man auch aus
Steinkohlenteer dar und verwendet sie zum Denaturieren des Spiritus für
gewerbliche Zwecke. Die Arbeiter, die mit solchem denaturierten Spiritus zu
tun haben, klagen, daß dieser Stickstoff Kopfschmerz erregt. Außer vielen
anderen Stoffen konnte auch noch das Vorhandensein kleiner Mengen von
Schwefelwasserstoff und Blausäure (Cyanwasserstoff) sowie von Kohlenoxydgas
und Kohlensäure im Tabakrauch nachgewiesen werden.
Aus all dem geht also unzweifelhaft hervor, daß das Tabakrauchen in
mehrfacher Hinsicht Gefahren für die Gesundheit zur Folge haben kann:
nämlich beim Zigarrenrauchen durch die unmittelbare Aufnahme von Nikotin
von seiten der feuchten Lippen und beim Zigarren- und Pfeifenrauchen durch
den entstehenden Rauch, welcher dem Körper die giftigen Picolin- und Pyridin-
basen zuführt. Außer diesen unmittelbaren kommt aber auch noch eine
mittelbare Wirkung in Betracht, die eine Schädigung der Gesundheit mit sich
112. Gesundheitspflege in der Werkstatt.
205
bringen kann. Solange sich nämlich Rauch in der Mundhöhle und den
Luftwegen befindet, ist selbstverständlich die Menge von atmosphärischer Luft
(Sauerstoff) auf das geringste Maß herabgedrückt; nun wird zwar der Rauch
wieder ausgestoßen und in demselben Augenblick tritt auch wieder frische
Luft in den Mund; aber die Menge der Luft, die in einer bestimmten Zeit
den Lungen zugeführt wird, ist doch immerhin bedeutend geringer, als wenn
in derselben Zeit kein Tabakrauch in den Mund gelangt wäre. Gerade
hierin liegt die große Schädlichkeit des Rauchens für die Jugend, die noch
im Wachsen und in der körperlichen Ausbildung begriffen ist. Der Stoff-
wechsel wird durch das Rauchen gehemmt und hierdurch die Entwicklung des
Körpers zurückgehalten, und zwar in einer Zeit, in welcher dies gerade am
allerwenigsten stattfinden sollte.
Durch die infolge des Rauchens verminderte Luftzufuhr erleidet der
gesamte Stoffumsatz eine Verzögerung und die Ausbildung des Körpers eine
Beeinträchtigung, zumal durch das Rauchen die Eßlust vermindert und das
Bedürfnis nach Trank erhöht wird. Vermehrte Speichelabsonderung, Husten-
reiz, Kopfschmerz, Schwindel bilden den Anfang der langen Reihe von Leiden,
die durch zu frühes und zu vieles Rauchen in immer höherem Grade sich
einstellen und mit Verdauungsbeschwerden, Krankheiten des Zentralnerven-
systems, Neuralgie (einseitigem Gesichtsnervenschmerz), Gliederreißen, ja selbst
mit frühzeitigem Tod enden.
Die Wirkung des Tabaks tritt langsam und nur im Ansang mit hef-
tigen, bald wieder verschwindenden Vergiftungserscheinungen auf; es kann
sogar Fälle geben, in denen der Raucher sich dabei ganz wohl fühlt und auf
die geringe Erscheinung gar nicht achtet, die das zu starke Rauchen unwill-
kürlich zur Folge hat. In der Tat gibt es auch viele Menschen, die trotz
des Rauchens ein hohes Alter erreichen, aber dies sind immer Ausnahmen.
Für die Jugend hat der Tabakgenuß stets eine Schädigung der Gesundheit
im Gefolge. Dr, Heppe,
112. Gesundheitspflege in der Werkstatt.
Die hohe Sterblichkeitsziffer der gewerblich tätigen Bevölkerung
würde bedeutend herabgehen, wenn in den Werkstätten die hauptsäch-
lichsten Forderungen der Gesundheitslehre mehr beachtet würden. Leider
begegnet man in dieser Beziehung oft einer Sorglosigkeit, die sich
schwer rächt.
Betreten wir des Morgens einen Arbeitsraum, in welchem tags
vorher mehrere Arbeiter beschäftigt waren, so fällt unser Blick zumeist
sogleich auf das Waschbecken. In dessen ganzem Umkreise besindet sich
oft eine Schicht von Schmutz, Seifenschaum u. dgl.; die Dielen sind
nicht selten durch das ununterbrochene Abtropfen des Wassers durch-
gefault; unter denselben haben sich bereits der Hausschwamm und andere
206
112. Gesundheitspflege in der Werkstatt.
Wucherungen eingenistet und dies alles zusammen schasst einen Herd
für die gefährlichsten Krankheitsstoffe, eine wahre Brutstätte für Bak-
terien. Blicken wir unter oder zwischen die Arbeitsbänke, so bemerken
wir häufig fettdurchtränkte Einwickelpapiere, Knochen, Wursthäute, Obst,
Stengel, Schalen und Kerne sowie andere Speisereste, welche den gün-
stigsten Boden für alle Abarten von Pilzen abgeben.
Hierzu gesellen sich die staubartigen Abfälle von Metallen, Stein,
Bein, Holz oder anderem Arbeitsrohmaterial, welche sich bei jedem
Schritte wolkenartig erheben und die Atmungsorgane erregen. Darum
sollen die Geschäftsführer, Werkmeister und Altgesellen jeden Arbeiter
anleiten die Werkstätte nicht als Ablagerungsort für ihre Speiseüberreste
zu betrachten. In solchen Werkstätten, in denen sich durch Drehen,
Schleifen, Sägen u. dgl. Materialstaub bildet, ist das Kehren mit
feuchten Sägespänen dringendst zu empfehlen.
Eine weitere Unsitte ist das Essen der Arbeiter während der Ar-
beitszeit ohne vorherige gründliche Reinigung der Hände und des Mun-
des. Viele Arbeiter nehmen leider ihre Vespermahlzeiten mit geschwärzten
Händen, mit all dem hieran haftenden Staub und Schmutz ein.
Welche Mengen von unverdaulichen, unorganischen Stoffen werden da-
durch dem Magen zugeführt! Es ist keine Frage, daß hierin der Ur-
grund mancher schweren Krankheit zu suchen ist. In dieser Richtung
könnten besonders die Vorstände der Werkstätten durch Belehrung und
Austlärung über die nachteiligen Folgen dieser Unvorsichtigkeit sehr er-
sprießlich für den Gesundheitszustand ihrer Untergebenen wirken.
Außer für Reinlichkeit muß auch für gesunde, frische Luft gesorgt
werden. Der kräftige, arbeitende Mensch verbraucht mit jedem Atem-
zug eine bedeutende Menge Luft. In Arbeitsräumen, in welchen sich
oft zehn und mehr Personen befinden, ist sonach der Luftverbrauch
ein großer. Ein ungenügend gelüsteter Raum sucht aber die verbrauchte
Luft zu ersetzen; er zieht diesen Ersatz aus den Wänden und aus dem
Boden. Die meisten Werkstätten sind ebenerdig gelegen, die aus dem
Boden gesogene Luft ist also bereits gesättigt mit Grubengasen und
Zersetzungsstoffen aller Art. Ja, in engen, ungelüfteten Räumen bilden
sich Stoffe, die für den Menschen zum todbringenden Gifte werden
können.
Dies können wir schon in einem nicht sehr geräumigen Schlaf-
zimmer, in dem sich mehrere Personen befinden, zur Genüge beobachten.
Beim Erwachen findet man sich nicht gestärkt, sondern schwächer als
vor dem Niederlegen; man fühlt sich übel, den Kopf eingenommen,
empfindet Mattigkeit in den Gliedern — und dieser Zustand schwindet
113. Die Folgen der Trunksucht.
207
erst, wenn die Fenster geöffnet werden oder wenn man selbst an die
frische Luft hinaustritt.
Es ist also mit größter Sorgfalt darauf zu achten, daß in den
Werkstätten wie in den Wohnräumen die Luft so oft als möglich er-
neuert werde. Ist eine Ventilation zu kostspielig oder schwer durch-
führbar, dann soll wenigstens in der Vesperpause und während der
Mittagszeit durch Öffnen der Fenster ein Austausch der Luft herbei-
geführt werden. Jene Arbeiter, die sich hieran gewöhnt haben und
den günstigen Einfluß empfinden, verabsäumen gewiß nie ans Fenster
zu eilen und dasselbe zu öffnen, sobald sie ihre Arbeitswerkzeuge
niederlegen.
Das dritte dringende Erfordernis ist Licht, nämlich das Tageslicht.
Dieses in größtmöglichster Menge dem Arbeiter zu bieten liegt im wohl-
verstandenen Interesse des Arbeitgebers selbst. Weiß doch jedermann,
daß die Arbeitsfreudigkeit an einem heiteren Tag eine ungleich größere
ist als an einem bewölkten. Auch die Arbeit wird bei entsprechender
Lichtfülle eine bessere.
Leider gibt es noch Werkstätten, welche an einem auffallenden Licht-
mangel leiden. Manche Tischler- und Schlosserwerkstätten, obwohl zur
Hälfte unter der Erde gelegen, haben die niedrigen Fenster unter einer
Kruste von Schmutz fast verborgen. Bei schlechter Öllampe arbeitet
der Mann vom Morgen bis zum Abend, während ihm die Reinigung
des Fensters mindestens für einige Stunden das schönste Licht umsonst
verschafft hätte. Andere Werkstätten sind in vormaligen Stallungen,
Schuppen u. dgl. untergebracht; eine geringe Auslage, welche durch
Ersparung von Beleuchtungsmaterial bald wieder eingebracht sein würde,
könnte hier ein schönes Oberlicht ermöglichen.
Die Abstellung solcher Übelstände würde das größte Gut, die Ge-
sundheit, erhalten und verlängern. Nach dem .Bildungsverein«.
113. Die Folgen der Trunksucht.
Die Natur hat uns das Wasser als Getränk zur Stillung des
Durstes gegeben. Die Menschen aber haben sich nicht damit
begnügt, sondern die Bereitung der gegorenen Getränke — Wein,
Bier und Branntwein — erfunden. Diese besitzen auch die Eigen-
schaft zu berauschen. Es ist nämlich in allen diesen gegorenen
Getränken ein giftiger Stoff enthalten, der Alkohol. Im Über-
maß genossen, wirkt er auf das Gehirn und ruft den Zustand
der Trunkenheit hervor, der im Grunde nichts anderes ist als
eine Vergiftung.
208
113. Die Folgen der Trunksucht.
Trotzdem genießen viele Menschen jene Getränke gewohnheits-
mäßig im Übermaß. Diese Trunksüchtigen sind sehr zu be-
klagen. Sie können zwar eine Zeitlang den giftigen Wirkungen
des Alkohols widerstehen; endlich aber wird ihre Gesundheit
durch das Gift unfehlbar zerstört. Die Folgen der Trunksucht
sind so schrecklich, daß mehr Menschen daran zu Grunde gehen
als an der Cholera und an der Diphtheritis.
Das Laster der Trunksucht prägt sich schon äußerlich in
der Erscheinung des Menschen aus. Auf zwanzig Schritt erkennst
du einen Trunkenbold; das schwammig aufgedunsene Fett, die
Kupfernase, der unsichere Gang, die zitternden Hände verraten
ihn. Mit leserlichen Zügen hat ihm die Natur das Wort »Trunken-
bold« auf die Stirne geschrieben. Aber was du nicht sehen kannst,
sind die schrecklichen Verheerungen, die der Alkohol im Innern
seines Körpers angerichtet hat.
Jeder Trinker hat einen kranken Magen. Die Magenschleim-
haut rötet und entzündet sich; sie überzieht sich mit einem zähen,
glasigen Schleim, welcher den Trinker des Morgens zum Würgen
und Erbrechen reizt; es entstehen manchmal Magengeschwüre,
welche die Magenwand durchbohren können. Viele Schnapstrinker
gehen durch Blutungen aus solchen Magengeschwüren zu Grunde.
Die Biertrinker leiden mehr an Magenerweiterung, welche quälende
Magenbeschwerden verursacht. — Im Darm tritt häufig ein lang-
wieriger Katarrh auf. — Die Leber des Trinkers entartet; es
entsteht Fettleber oder die schreckliche, unheilbare Leberver-
härtung. Dieses furchtbare Übel kommt fast nur bei Trinkern
vor, weshalb es von den englischen Ärzten auch »Leber der
Schnapstrinker« genannt wird. Diese Kranken bekommen schließ-
lich die Wassersucht und müssen unter den entsetzlichsten Qualen
sterben.
Die Nieren des Trinkers entzünden sich oder schrumpfen ein.
Es entsteht die gefürchtete Brightsche Krankheit, eine schleichende,
tückische, schwer heilbare Nierenentzündung, wobei viele Kranke
an der Wassersucht zu Grunde gehen. — Das Herz der Bier-
trinker ist vergrößert, krampfhaft erweitert und meistens ver-
fettet. Ein plötzlicher Tod an Herzlähmung, ein sogenannter
Herzschlag, ist gewöhnlich das Ende dieser Leute. — Kehlkopf
und Lungen werden empfindlich und zu Katarrhen geneigt; daher
die rauhe und heisere Stimme der alten Trinker. Die Milz
schwillt oder schrumpft ein; die Augen werden blutüberfüllt und
114. Die erste Hilfe bei Verletzten und Scheintoten.
209
schwachsichtig; das Gehör verliert seine Schärfe; Ohrensausen
und Schwerhörigkeit entstehen durch den oft wiederholten Blut-
andrang zum Kopfe. Gehirn und Nerven leiden schwer durch
den Einfluß des Alkohols.
Wohl treten diese schrecklichen Leiden nicht immer vereint
auf; doch vermag eines allein schon das Leben zur Qual zu
machen. Die besten Schutzmittel dagegen sind Mäßigkeit und
Enthaltsamkeit. Nach Winkler.
114. Pie erste Kitfe bei Werketzten und Scheintoten.
Gar mancher Verunglückte wäre wieder zum Leben zurückgerufen
worden, wenn man zur rechten Zeit zu den geeigneten Mitteln gegriffen
hätte. Die nachfolgenden Darlegungen mögen daher zur Beachtung dienen.
a) Wird eines der größeren Blutgefäße verletzt, so strömt das Blut
quellend oder im Strahle hervor. Bei Erwachsenen hat ein Verlust
von 2!/2 kg Blut unbedingt den Tod zur Folge. Kleinere Blutungen
können durch Kälte, Eintauchen des verletzten Gliedes in kaltes Wasser
gestillt werden, größere dadurch, daß man an der verwundeten Stelle
den Blutkreislauf durch Unterbinden hemmt. Ein Gummiband legt
man über der Wunde nach dem Herzen zu fest an. Statt dessen kann
man auch ein nasses Tuch mit einem Knoten benutzen; man bringt den
Knoten auf die Stelle, aus welcher das Blut hervorquillt, und stellt
durch möglichst festes Binden einen drückenden Verband her. Ärztliche
Hilfe ist sofort zu suchen. Nasenblutungen werden durch Einziehen von
kaltem Wasser, kalte Aufschläge oder in schweren Fällen durch Ver-
stopfen mit Baumwollenballen, welche mit blutstillenden Mitteln getränkt
sind, beseitigt. Bei tieferen Schnittwunden sind die Wundränder durch
einen dichten Verband ununterbrochen zusammenzuhalten. Der ver-
wundete Teil wird mit Eis gekühlt und in eine ruhige, wagerechte Lage
gebracht. Wunden verlangen eine sorgfältige Behandlung und große
Reinlichkeit. Bei kleineren Wunden nimmt man zur Vereinigung der
Wundründer Heftpffaster. Die Wände müssen verkleben und verwachsen;
Eiterbildung muß verhindert werden. Damit größere Wunden nicht durch
die Pilze der Luft in Fäulnis übergehen, legt man auf dieselben sogleich
Watte, welche mit 21/2°/oiger Karbollösung getränkt ist, und erhält die-
selbe stets feucht. Durch die Watte wird die Luft gereinigt, ehe sie an
die Wunde kommt; die Pilze werden zurückgehalten und zerstört. Ver-
wundete Glieder werden oft in lauem Wasser oder Kamillentee gebadet
oder gespült, aber nicht mit Schwämmen oder Tüchern abgewaschen, da
dieselben Schmutz und Pilze enthalten können.
Lesebuch für Gewcrbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. • 14
210 114. Die erste Hilfe bei Verletzten und Scheintoten.
Körperteile mit Brandwunden werden zur Linderung des Schmerzes
sofort in kaltes Wasser getaucht oder mit kalten Umschlägen bedeckt.
Leichtere Wunden, bei denen sich keine Blasen gebildet haben, kühlt
man mit Bleiwasser; schwerere behandelt man ebenfalls zuerst mit Kälte,
dann aber mit kühlenden Mitteln, wie Leinöl mit Kalkwasser, Pfeffer-
minzöl, Eigelb, frischer Butter, geschabten Kartoffeln. Hierauf bedeckt
man sie schonend mit Watte, welche in 1°/gige Karbollösung getaucht wurde.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß viele Handwerker oft unvorsichtig
und leichtsinnig mit scharfen und spitzen Werkzeugen umgehen, so daß
bei ihnen Verwundungen viel zu oft vorkommen. Dadurch verursacht
sich der einzelne selbst unnötig Schmerzen, stört den regelmäßigen Fort-
gang des Geschäftes und schädigt sich und seine Familie am Einkommen.
Daher Vorsicht!
Durch Stoß, Schlag, Fall und Sturz werden innere Zerreißungen
hervorgebracht, welche mit Blutergüssen unter der Haut und mit schmerz-
hafter Schwellung und Verfärbung verbunden sind und Quetschungen
heißen. Bis zur Ankunft des Arztes wendet man kaltes Wasser an
und löst alle engen Kleidungsstücke. Die Zerrung und Zerreißung der
Gelenkbänder und Quetschung der Gelenkenden nennt man Verstauchung.
Das Gelenk schwillt an. Ruhe und kalte Umschläge sind die ersten
Mittel bis zur Ankunft des Arztes. Die dauernde Verschiebung der
Knochenenden eines Gelenkes nach Zerreißung der Gelenkbänder nennt
man Verrenkung. Die Form des Gelenkes ist verändert, alle Be-
wegungsversuche sind sehr schmerzhaft. Das Gelenk muß möglichst bald,
jedoch nur vom Arzt, eingerichtet werden. Ein Knochenbruch heilt da-
durch, daß sich an den Bruchenden neue Knochenmasse bildet, welche
die Enden zusammenkittet. Die Masse ist anfangs weich, wird aber
in 2—6 Wochen hart. Sind während dieser Zeit die Bruchenden stets
unbeweglich in der richtigen Lage zueinander erhalten worden, so bleibt
keine entstellende Formveränderung nach der Heilung zurück. Im anderen
Falle heilt der Knochen schief oder mit Verkürzung zusammen. Der
Bruch wird deshalb vom Arzte eingerichtet, d. h. die Bruchenden werden
in die richtige Stellung zueinander gebracht. Das Verbleiben in der
letzteren wird durch Anlegung entweder von Schienen oder erhärtender
Verbände (Gips, Wasserglas) erzielt. Ist ein Arzt nicht sofort zu haben,
so muß man die Bruchstelle aufsuchen, die Kleider aufschneiden (nicht
ausziehen) und einen vorläusigen Verband Herstellen. Überall sindet
man zu Schienen und zur Befestigung für dieselben passende Dinge:
Latten, Besenstiele, Fußmatten, Zweige, Binsen, Stroh, Taschentücher,
Handtücher, Bindfaden, Hosenträger u. s. w. Nach dieser vorläufigen
114. Die erste Hilfe bei Verletzten und Scheintoten.
211
Anlegung der Schienen und des Verbandes lagert man den Kranken passend
auf einer Bahre oder einem Wagen und befördert ihn vorsichtig zum Arzt.
d) Bei Ohnmachtanfüllen bringt man den Kranken sofort in die
frische Luft, läßt ihn an scharf riechenden, belebenden Stoffen (Salmiak-
geist oder Kölnischem Wasser) riechen und gibt ihm etwas Wein oder
schwarzen Kaffee zu trinken. Außerdem fächelt man dem Ohnmächtigen
frische Luft zu, lockert die eng anliegenden Kleider, besprengt Gesicht
und Herzgrube mit kaltem Wasser, bürstet die Fußsohlen und kitzelt die
Nase, damit Niesreiz erfolgt. Bleiche, blutarme Personen müssen wage-
recht, vollblütige mit erhöhtem Kopf gelagert werden.
Der Scheintote hat ein totenühnliches Aussehen. Das Leben scheint
erloschen zu sein. Von der Atmung ist nichts zu merken, die Sinne
versagen den Dienst, von Gefühl zeigt sich keine Spur. In Wahrheit
bestehen aber die Herz- und Atembewegungen fort, freilich so schwach,
daß man dieselben ohne weiteres nicht wahrzunehmen vermag. Man
hat verschiedene Mittel um den Scheintod vom wirklichen Tod zu unter-
scheiden. Das Beschlagen eines vor die Nase gehaltenen kalten Spiegels
oder die Bewegung einer Flauinfeder lassen auf Scheintod schließen. Ein
sicheres Zeichen besteht im Auflegen von Senfteig, welcher bei Schein-
toten die Haut noch rötet.
Vermutet man Scheintod, so sind unverzüglich Wiederbelebungs-
versuche anzustellen. Man muß vor allem die fast erloschene Herz-
und Atemtätigkeit wieder anzuregen suchen. Dies geschieht teils durch
Reizung der Empfindungsnerven, wie dies bei der Ohnmacht schon
dargelegt wurde, teils durch alsbaldige Einleitung der künstlichen At-
mung selbst. Man entkleidet den Scheintoten, hüllt ihn in warme
Tücher ein, legt ihn bei etwas erhöhtem Kopf auf den Rücken und
zieht seine Zunge vor, damit die Luftwege ftei werden. Sodann stellt
man sich hinter den Kopf des Verunglückten, erfaßt seine beiden Arme
über dem Ellenbogen und zieht sie gestreckt, soweit es geht, über den
Kopf. In dieser Stellung beläßt man sie etwa zwei Sekunden. Da-
durch tritt Luft in die Lungen ein. Hierauf werden die Arme langsam
wieder zurückgeführt und zwei Sekunden an die Seiten der Brust ge-
drückt. Auf diese Weise tritt die Luft wieder aus. Im Takt des ruhigen
Atmens fährt man vorläufig eine Stunde lang fort. Aber man verliere
die Geduld nicht, sondern zeige große Ausdauer, denn die Arbeit der
Wiederbelebung glückt oft erst nach fünf Stunden. Hat man die Freude
Lebenszeichen wahrzunehmen, so wird die künstliche Atmung mit Unter-
brechungen schwächer und schwächer fortgesetzt. Nach dem Erwachen flößt man
dem Wiederbelebten etwas Wein ein und überläßt ihn dann dem Schlummer.
14*
212 115- Pferd, Rind, Kamel, Elefant und Renntier — als Arbeiter.
Diese Aufgaben sind bei allen Arten von Scheintod zu lösen. Jede
Art aber erfordert noch ein besonderes Verhalten.
Den Körper eines Ertrunkenen legt man unter Vermeidung alles
Rüttelns einige Sekunden lang mit dem Kopf und dem Oberkörper
etwas nach unten geneigt nieder. Zugleich reinigt man Mund und
Nasenhöhle von Sand und Schlamm, damit das Wasser aus der Luft-
röhre abfließen kann. Auf den Kopf darf der Ertrunkene nicht gestellt
werden. Nach genannten Vorbereitungen legt man den Oberkörper et-
was erhöht, befreit denselben von den Kleidern, trocknet ihn ab, hüllt
ihn in warme Decken oder durchwärmten Sand und leitet die künst-
liche Atmung ein. Gleichzeitig kann man die schon genannten Reizmittel
anwenden.
Erhängte sind behutsam, ohne daß man sie fallen läßt, abzuschneiden
und alsbald von der Einschnürung zu befreien. Dann beginnt die
künstliche Atmung.
Vom Blitzschlag Getroffene werden schnell entkleidet, warm einge-
hüllt und an die frische Luft gebracht. Ehe die künstliche Atmung er-
folgt, begießt man das Gesicht mit kaltem Wasser.
Ist jemand durch Kohlendunst (Kohlenoxydgas) dem Ersticken
nahe, so öffnet man Türen, Fenster und die Ofenklappe, entkleidet
den Kranken und bringt ihn in ein anderes Zimmer mit frischer Luft.
Ju Kellern und Brunnen sammelt sich oft ein schweres Gas an, die
Kohlensäure, in welcher ein Licht augenblicklich erlischt, ein Mensch
alsbald erstickt. Die Wiederbelebungsarbeiten sind dieselben wie beim
Scheintoten.
Einen Erfrorenen bringt man in ein kaltes Zimmer, entkleidet ihn,
bedeckt und reibt den Körper mit Schnee und Eis und legt denselben in
ein kaltes Bad, damit der Körper allmählich auftaut. Wegen der Brüchig-
keit geftorener Körperteile verfahre man recht ruhig und vorsichtig.
Zeigt sich das erwachende Leben in der Wärme der aufgetauten Haut
und dem Herzschlag, so reibe man den Körper mit kalten Tüchern,
bringe ihn erst jetzt in ein laues Bad, wende Reizmittel an, blase vor-
sichtig Luft in die Nase, reibe den Körper mit Spiritus ein und reiche
Wein und schwarzen Kaffee. Nach dem Lesebuch von Schanze.
115. Wferd, Wind, Kamel, Ktefant und Wenntier — als Arbeiter.
Die gütige Natur hat dem Menschen in allen Strichen der Erde
ein Tier an die Seite gegeben, das er an sich gewöhnt und gezähmt
hat, das ihm seine Arbeiten verrichten, seine Lasten tragen hilft, das ihn
oft kleidet und ernährt.
115. Pferd, Rind, Kamel, Elefant und Renntier — als Arbeiter. 213
Der Bewohner der nördlichen Polarzone hat für hundert ihm ver-
sagte Dinge das Renntier erhalten. In den weiten, pfadlosen Sand-
wüsten und großen, öden Steppen Südwestasiens und Nordafrikas ist
das Kamel dem Araber unentbehrlich. Im heißen Indien aber wurde
schon in den ältesten Zeiten der Elefant zu mancherlei Arbeiten ge-
braucht. Fast über die ganze Erde verbreitet sindet sich des Menschen
treuester Arbeitsgehilfe, das Pferd, und ebenso das Rind, welches die
Stelle desselben oft vertreten muß.
Das Pferd ist ohne Zweifel das folgsamste, mutigste und aus-
dauerndste, daher nützlichste aller unserer Haustiere. Es teilt mit dem
Menschen Mühe und Arbeit und begleitet ihn in die Gefahren des
Krieges. Geduldig bequemt es sich zum Pflug oder zieht den hoch be-
ladenen Erntewagen. Es schleppt schwere Frachten über Berg und Tal
oder eilt mit dem zierlichen Wagen des Vornehmen dahin. Die Pferde-
bahn, die jetzt vielfach durch die elektrische Bahn verdrängt worden ist,
beruht auf der Schnelligkeit und Ausdauer des Pferdes. Mit sicherem
Tritte trägt das Saumroß den Reisenden über die rauhen Pfade der
Gebirge. Selbst in die Eisfelder Sibiriens und in die von der Sonne
durchglühten Wüsten begleitet es seinen Herrn. Stets bleibt es ein be-
harrlicher, geduldiger Arbeiter, ein unermüdlicher, rüstiger Gänger, ein
behender Renner, ein treuer Wasfengenosse, ohne Falsch und Bosheit.
Auch noch im Alter, wenn es müde und matt zur Erde blickt, leistet
es am Karren wichtige Dienste. Alle Völkerschaften, besonders die
Araber, Türken, Perser, schätzen das Pferd sehr hoch. In seiner
Heimat (Zentralasien) wird es hauptsächlich als Milch und Fleisch
spendendes Tier benutzt; man weiß aber auch seine Kraft und Schnellig-
keit zu schätzen. Diese Eigenschaften machten es den asiatischen Horden
Mongolen, Hunnen, Magyaren) möglich, von Zeit zu Zeit in großen
Völkerschwärmen über die Nachbarländer bis in weite Fernen zu
stürmen. Insofern kommt dem Pferde auch eine weltgeschichtliche Be-
deutung zu.
Ebenso nützlich wie das Pferd ist dem Menschen das Rind. Es
dient ihm am Pfluge und Wagen, wird aber wegen seines langsamen
Ganges hauptsächlich zum Fortschaffen schwerer Lasten benutzt. In
einzelnen Teilen der Erde müssen Reitochsen die Stelle des schnelleren
Pferdes ersetzen.
Im nördlichen Afrika und in manchen Teilen Südwestasiens ist
dem Araber das Kamel unstreitig das nützlichste Haustier. Es wird
darum in all den Ländern gehalten, welche die Araber bewohnen.
Ohne seine Genügsamkeit, seine Fähigkeit den Durst lange zu ertragen,
214 115. Pferd, Rind, Kamel, Elefant und Renntier — als Arbeiter.
seinen schnellen Gang würden die durch Wüsten und Steppen ge-
trennten Völker nicht verkehren können. Das einhöckerige Kamel oder
Dromedar ist hier allein der Vermittler des Verkehrs. Es bildet den
Reichtum, die Kraft und die Nahrung des Arabers. Das Kamel er-
reicht nur in der Wüste seine höchste Entwicklung. Das Kamel der
Wüste, das Reittier, ist hoch und langbeinig gewachsen; das Lastkamel
der fruchtbaren Ebene ist plump und schwer. Letzteres tragt 350 bis
500 kg und legt damit täglich 8 bis 10 Meilen zurück. Gute Reit-
kamele durcheilen täglich eine Wegstrecke von 40 Meilen, wobei der
Reiter weniger ermüdet als auf einem anderen Tiere. Bei Wüsten-
reisen werden die Kamele mit nur 150 kg beladen. Vor Erbauung
der Eisenbahn von Kairo nach Suez waren auf diesem Wege täglich
600 Kamele auf dem Marsch um den Verkehr zu vermitteln. Die
ägyptischen Bauern halten sich die Kamele zum Ziehen der Wasserräder
und Tragen ihrer Habseligkeiten. Als das Kamel im 3. und 4. Jahr-
hundert nach Christi Geburt über Nordafrika verbreitet wurde, nahmen
Handel und Verkehr dort einen ähnlichen Aufschwung wie bei uns nach
Einführung der Eisenbahnen.
Dem Mongolen leistet in seinen Steppen das zweihöckerige Kamel
oder Trampeltier ähnliche Dienste wie dem Araber das Dromedar.
Das Trampeltier ist in Westasien bis an den Baikalsee und über die
Grenzen Chinas hinaus sehr verbreitet. Es erträgt alle Klimate, selbst
sehr kalte. Die Mongolen benützen es zum Lasttragen und spannen es
in das Joch an Wagen. Sie schaffen auf diese Art im Herbst die
größten Lasten fort, obwohl die Wege oft ganz grundlos sind.
Das gewaltigste Arbeitstier in Asien ist der Elefant. In Indien
werden die Lasten vielfach durch ihn befördert. Mit Leichtigkeit trügt
er 20 bis 40 Zentner. Minder Bemittelte halten ihn jetzt seltener als
früher, da der Elefant ungewöhnlich teuer ist; doch benützen ihn die
reichen Leute Ostindiens noch immer als Lasttier, besonders zum Herbei-
schaffen von Baumaterialien. Die Bauhölzer werden durch Seile an die
Stoßzühne befestigt und von ihm dann fortgeschleppt. Hierbei muß
aber seine sehr empfindliche Haut geschont werden, weil sonst leicht
eiternde Wunden entstehen. Es ist ein Beweis seiner großen Klugheit,
daß er den Stamm fallen läßt, wenn sich derselbe sperrt, ihn herum-
hebt und aufs neue faßt. Er wälzt große Fässer fort und schichtet
Kaufmannsgüter mit aller Sorgfalt auf. Man spannt ihn auch vor den
Wagen und auf Ceylon läßt man ihn den Pflug ziehen. Früher ver-
wendete man den Elefanten auch im Kriege. Seit Einführung der
Feuerwaffen ist er hierzu nicht mehr zu gebrauchen, weil er im Feuer
116. Die Lederindustrie.
215
nicht standhält. Er ist auch hier nur mehr Lasttier um den Heeren
Lebensmittel und Waffen nachzutragen. Die indischen Fürsten, welche Ställe
voll schöner Elefanten halten, verwenden ihn auch zur Jagd auf Tiger.
Wvhl leistet der Elefant mehr als 6 bis 8 Pferde, aber sein Unterhalt
ist viel kostspieliger, denn er frißt täglich 75 kg Heu, Rüben, Brot u. s. w.
Dem hohen Norden ist das Renntier unentbehrlich. Dieses ist
das einzige Haustier der nordischen Völker Europas und Asiens und
vertritt die Stelle unserer Schafe, Rinder und Pferde. Gezähmt als
Zug-, Reit- und Milchtier, liefert es Kleidung, Milch und Fleisch oder
dient am Schlitten zum Reisen und zur Herbeischaffung von Lebens-
mitteln u. dgl. Im wilden Zustand ist es als Jagdtier die beste Beute
des nordischen Jägers. Die zahmen Renntiere ziehen die schwersten
Wagen mit Fellen, Tüchern und Fischen beladen. Die Fuhrleute können
mit ihnen bis zu 10 Meilen im Tage in ebenen Tälern zurücklegen. Das
Renntier zieht den Schlitten an einem Seil, das zwischen den Beinen
durchgeht; das Leitseil hat es am Geweih. Bei größeren Reisen läßt
man es aber nur eine Person nebst etwa 10 Pfund Belastung ziehen.
Wegen seines schwachen Rückens wird es wenig zum Reiten benutzt;
man bindet ihm aber bei den Wanderungen leichtere Lasten auf. Die
Polarvölker verwenden vom Renntier alles: die Geweihe geben Schnee-
schaufeln, die Knochen Speere, Handgriffe zu Messern und Gabeln, die
Felle Kleidung.
116. Pie Lederindustrie.
Schon in frühester Zeit war der Mensch bemüht dem Tiere sein
Fell zu nehmen, um sich selbst daraus ein Kleid zu schaffen. Aber
diese Felle haben in ihrem natürlichen Zustande kaum einen Gebrauchs-
wert; denn im Feuchten gehen sie schnell in Fäulnis über und im
Trocknen werden sie hornartig. Um sie gebrauchsfähig zu machen sann
der Mensch auf Mittel, die dies ermöglichten. Die Auffindung dieser
Mittel hierfür müssen die ersten Schritte gewesen sein, welche der Mensch
auf der Bahn der Erfindungen getan hat. Am nächsten lag wohl das
Einreiben der rohen Felle mit Fettstoffen, Gehirn von Tieren, Fischtran,
Milch u. s. w., wie wir dies bei den verschiedensten Völkern bis in ihre
erste Entwicklung hinauf klar verfolgen können. Auf die Anwendung
des Fettes gründete sich die Sämischgerberei. Ein anderes sicheres Mittel
besteht in der Anwendung des Rauches. Die neuere Technik macht auch
hiervon Gebrauch; denn einen großen Teil der aus Amerika eingeführten
rohen Rindshäute räuchert man der vorläufigen Erhaltung halber und
216
116. Die Lederindustrie.
behandelt Felle und Bälge mit Kreosot. Letzteres ist aber eben der-
jenige Bestandteil des Rauches, der die Hautfaser gegen die Fäulnis
widerstandsfähiger macht. Die Anwendung von Alaun, die Grundlage
der neuen Weißgerberei, mag ebenfalls ein altes Verfahren sein;
wenigstens hatten schon die Römer neben starkem, festem Leder ein
weiches und geschmeidiges unter dem Namen Alaunleder.
Der wichtigste Teil der Gerberei, die Lohgerberei, gründet sich
auf die Benutzung gewisser Pflanzenteile, Rinden, Wurzeln u. s. w.,
welche die tierische Haut in einer für den Gebrauch höchst vorteilhaften
Weise umzuändern vermögen. Die Gerbstoffe sind so weit verbreitet,
daß die neuere Wissenschaft in den meisten Pflanzen dergleichen nach-
gewiesen hat; allein dem Zwecke des Gerbens dient am besten die aus
Eichen- oder Fichtenrinde hergestellte Lohe. Die gehörig vorbereiteten
Häute werden, abwechselnd mit Lohe geschichtet, in die Loh- oder Versetz-
gruben eingelegt. Sie werden mit Brettern und Steinen beschwert und
die Grube wird mit Wasser gefüllt. Die Gerbsäure wird durch das
Wasser aus der Lohe ausgezogen und der Hautfaser zugeführt. Nach
einiger Zeit nimmt man die Häute aus den Gruben; die ausgezogene
Lohe wird entfernt und die Häute werden aufs neue mit frischer Lohe
geschichtet, eingelegt und mit Wasser begossen. Man wiederholt dies so
lange, bis die Häute gar sind; dies erkennt man daran, daß die Haut
bei einem scharfen Schnitt keine lichten, hornartigen Streifen mehr zeigt
und gebogen werden kann ohne narbenbrüchig zu werden. Das an-
geführte Verfahren gilt besonders vom Sohlen- oder Pfundleder, wozu
man große und starke Häute, namentlich von Rindern verwendet; die
leichtere Ledersorte, sogenanntes Fahl- oder Schmallcder, wird in Loh-
brühen (Auflösungen von Gerbsäure) gegerbt; außerdem gibt es noch
ein Schnellgerbverfahren, welches meistens auf einem mechanischen Be-
wegen der Häute oder der Brühe, Anwendung von Druck u. s. w. be-
ruht. Nun folgt das Zurichten der lohgaren Häute; dieses ist je nach
dem Zwecke verschieden. Die Häute werden gewaschen und getrocknet,
auf der Innenseite geschabt und so von den Fleisch- und Fettgeweben
befreit, ausgestrichen, geglättet, mit Talg, Tran, Rizinusöl oder Gerbfett
eingerieben, gefärbt u. dgl. mehr. Eigentümliche Ledersorten sind das
Juchten- oder Insten-, das Safsian- oder Maroquin-, das Korduan- und
das lackierte Leder.
Die Weißgerberei verwendet namentlich Hammel-, Schaf- und
Ziegenfelle und bedient sich einer lauwarmen Lösung von Alaun und
Kochsalz. Man unterscheidet dabei drei Sorten: das gewöhnliche Weiß-
leder, das ungarische Leder und das Glaceleder.
117. Die Verarbeitung der Wolle.
217
Die Sämischgerberei verwendet die Felle von Rehen, Hirschen,
Gemsen, Schafen u. s. w. und bedient sich meist des Trans als Gerbe-
mittel. Das sämischgare Leder zeigt gelbe Farbe, ist weich und wollig,
sehr dehnbar und läßt sich waschen (Waschleder).
Das Pergament ist kein gegerbtes Leder, sondern die gereinigte,
von Haaren befreite, getrocknete und mit Kreide geglättete Haut kleinerer
Tiere (Esel, Schaf, Kalb u. s. w.). Soll darauf mit Tinte geschrieben
werden, so wird es mit einem Messer rauh gemacht; soll es aber mit
Bleistift beschrieben werden, so erhält es noch einen Anstrich von Blei-
weißölfarbe.
Das von den Gerbern bereitete Leder wird in mannigfachster
Weise verarbeitet. Reise- und Geldtaschen, Portefeuilles und Porte-
monnaies, Mappen, Visitentaschen u. s. w. werden von Sattlern und
Taschnern oder in Galanterie- und Portefeuillefabriken gefertigt. Die
Einführung des Portemonnaies an Stelle der früheren Geldbeutel kann
als einer der ersten Erfolge der feineren Lederindustrie betrachtet werden.
Eine andere neuere Geschmacksrichtung hat den Bedarf und die Er-
zeugung einer besonderen Ledersorte, des Lackleders, in unglaublicher
Weise gesteigert. Nicht nur für den Schuhmacher sondern auch für den
Sattler, Kutschenbauer, Mützenmacher ist steifes und weiches Lackleder in
allen Formen ein unentbehrliches Material. Aber auch für die kleinsten
Abfälle von Leder weiß die heutige Verzierungsknnst noch Verwendung.
So fertigt man aus Leder die zierlichsten Flechtwerke sowie künstliche
Lederblnmen, Rosetten, die als Möbelbeschläge und in anderer Weise
Verwendung stnden.
Unter den Industrien der feineren Lederverarbeitung nimmt die Hand-
schuhfabrikation ohne Zweifel die erste Stelle ein. Sie ist eine franzö-
sische Industrie und wurde schon vor mehr als 300 Jahren nach Deutsch-
land, und zwar zunächst in die Städte Magdeburg, Halberstadt und
Erlangen verpflanzt.
Der Schuhmacher steht von allen Arbeitern in Leder offenbar zu
jedem einzelnen in nächster Beziehung; er hat für gute Fußbekleidung zu
sorgen und das ist etwas Unerläßliches für das allgemeine Wohlbefinden
des Menschen. Nach Paulick.
117. Die Verarbeitung der Wolke.
a) Dem Menschen ist das Haar der Schafe, welches wegen seiner
gekräuselten Beschaffenheit den besonderen Namen Wolle erhalten hat, unent-
behrlich. Bei der Verarbeitung des Wollhaares zu Gespinsten und Geweben
kommen besonders seine Feinheit, Geschmeidigkeit und Festigkeit sowie die
gleichmäßige Dicke der ganzen Haarlänge in Betracht.
218
117. Die Verarbeitung der Walle.
Die Länge der Wollhaare, wie sie auf dem Schafe wachsen, heißt der
Stapel der Wolle; diese Länge ist bei einem und demselben Tier auf den
verschiedenen Körperteilen verschieden. Die natürliche Farbe der Wolle ist
meist weiß, seltener braun oder schwarz. Manche Wolle ist stumpf und glanz-
los, andere mehr oder weniger seidenartig glänzend. Ebenso verschieden ist
die Festigkeit. Als die wichtigste Eigenschaft der Wolle gilt die Feinheit;
demnach wird diejenige am teuersten bezahlt, welche unter sonst gleichen
Umständen die feinste ist. Übrigens herrscht eine außerordentliche Verschieden-
heit in der Beschaffenheit der Wolle. Die beste Wolle ist die Schurwolle,
welche entweder einschurig oder zweischurig ist. Man erhält erstere von
Schafen, die nur einmal, letztere von solchen, die zweimal im Jahre geschoren
werden. Die zusammenhängende Wollbedeckung eines Schafes, welche durch
die Schur dem Tiere abgenommen wird, heißt Vließ.
Die feinen, rauhen und krausen Haare, welche zur Verfilzung besonders
geneigt sind, werden zu Gespinsten und Geweben verwendet, die ein filz-
artiges Gefüge (Struktur) haben. Zu diesen gehören Streichgarne und streich-
wollene Zeuge, vor allem die Tuche und tuchartigen Stoffe. Dagegen werden
die wenig glatten und weniger gekräuselten, starken Garne meist zu Gespinsten
und Geweben verarbeitet, in welchen die Fasern sich nicht verfilzen, den
sogenannten Kammgarnen und kammwollenen Zeugen. Hiernach unterscheidet
man in technischer Hinsicht Streichwolle und Kammwolle. Die Streichwolle
wird in den Tuchfabriken verarbeitet. Die Fabrikation der Kammwollwaren
benutzt als Stoff nur längere, meist auch gröbere und weniger gekräuselte
Wollgattungen und erzeugt aus ihnen Gespinste von glattem Faden. Diese
Gewebe werden dem Walken nicht unterworfen, zeigen daher keine silzartige
Decke aus ihrer Oberfläche. Der Faden liegt bei ihnen offen wie bei den
leinenen und baumwollenen Stoffen. Ein beträchtlicher Teil der aus Kamm-
wolle hergestellten Gespinste ist nicht für die Weberei, sondern zum Stricken
und für die Strumpfwirkerei bestimmt. Hierzu wird die Wolle meist durch
Behandlung auf Kratzmaschineu vorbereitet ohne sie zu kämmen, während
das Spinnen auf den eigentlichen Kammwollspinnmaschinen geschieht. In
neuerer Zeit stellt man Kammgarn nicht nur aus Schafwolle sondern auch
aus Mohär- und Alpakawolle her. Ein noch junger Zweig der Wollen-
industrie ist die Herstellung von Kunstwolle, die sich von Nordamerika aus
in England und Deutschland verbreitet hat. Man zerreißt und zerkratzt
Lumpen von Wolle und verspinnt sie unter Zusatz von neuer Wolle.
Die beste Feinwolle lieferte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Deutsch-
land, und zwar Schlesien und Sachsen, außerdem "Mähren, Böhmen, Ungarn
und Frankreich. In neuerer Zeit haben Australien und Kapland die euro-
päische Produktion überflügelt. Im Wollhandel ist England der Mittelpunkt
des Weltverkehrs; der Stand des englischen Wollmarktes übt seinen Einfluß
bis in die entlegensten Länder Europas und der übrigen Erdteile. Unter
den zur Förderung des deutschen Wollhandels dienenden Wollmärkten sind
117. Die Verarbeitung der Wolle.
219
Breslau und Berlin maßgebend. Außerdem sind zu nennen Stettin, Posen,
Magdeburg, Nürnberg, Würzburg, Göggingen, Stuttgart.
b) Die Schafwolle dient meistenteils zur Bereitung des Tuches. Das
Tuch unterscheidet sich von allen anderen Geweben dadurch, daß die ein-
zelnen Fäden so fest miteinander verbunden sind, daß sie nicht ausfasern,
wenn man ein Stück abschneidet. In unverfilztem Zustande wird das Gewebe
Loden genannt. Zur Herstellung von Tuchen unterwirft man das Gewebe
einer Verbesserung der Oberfläche durch das Noppen, d. h. Abknäufen der
Knötchen mittels des Noppeisens oder der Noppzange. Hierauf wird es mit
Hilfe von Alkalien (Sodaseife) in den Waschmaschinen von den ihm anhaften-
den unreinen Stoffen befreit. Dann folgt das Ausspannen auf Rahmen und
ein zweites Noppen. Das Verfilzen wird in den Walkmiihlen in der Weise
vorgenommen, daß das Zeug bei mäßiger Wärme und unter Einwirkung
von Seife oder Walkerde fortwährend zusammengequetscht wird. Nach dem
Walken müssen auf derjenigen Seite, welche nach außen getragen wird, die
Haarenden des zum zweiten Male gewaschenen, ausgespannten und getrock-
neten Zeuges aus dem Filz wieder an die Oberfläche gezogen werden. Dies
geschieht durch die Arbeit des Rauhens, die entweder durch Streichen mit
der Hand mittels des Kar d en kreuz es oder, was jetzt allgemein gebräuchlich,
mit Rauhmaschinen ausgeführt wird. Das Kardenkreuz besteht aus zwei
rechtwinkelig übereinander befestigten Holzstäbchen, die ein Kreuz bilden,
dessen eine Hälfte mit Kardendisteln besetzt ist, während das frei bleibende
Ende als Handgriff dient. Bei der Rauhmaschine sind die Kardendisteln
durch Drahthäkchen (Metallkarden) ersetzt, welche den Beschlag einer sich um
sich selbst bewegenden Kardentrommel bilden. Zur Erzeugung einer ganz
gleichmäßigen haarigen Oberfläche gelangt der Stoff auf die Schermaschine
(Tuchschere, der gewöhnlichen Schafschere ähnlich). Schließlich werden die
Tuche, um den sogenannten Strich zu erhalten, in einer und derselben
Richtung anhaltend auf Bürstenmaschinen bearbeitet sowie gepreßt und
gekrumpt (dekatiert).
Die Tuchfabrikation ist em altes deutsches Gewerbe, welches aber zuerst
in den Niederlanden den höchsten Grad der Vollendung erreichte. Am Aus-
gange des Mittelalters waren als Tuchsabrikanten die deutschen Niederländer
und Italiener berühmt. Heute nehmen neben Preußen und Sachsen auch
Österreich, England, Frankreich und Belgien eine hervorragende Stelle ein.
Die deutsche Tuchfabrikation ist in der sächsischen und preußischen Lausitz,
in anderen Teilen von Sachsen und der preußischen Rheinprovinz am
meisten vorgeschritten. Besonders blüht sie in Aachen, Burtscheid, Lennep
und Kottbus. In Aachen nimmt die Wollspinnerei und die Fabrikation von
Tuch- und anderen Woll- und Halbwollstoffen unter allen Industriezweigen
die erste Stelle ein. Sie erzeugt jährlich 100000 Meterzentner Garn aus
meist überseeischer Wolle (aus dem Kapland und Buenos Aires). Eine
große Anzahl von Tuchgroßgcschäften bewirkt den Verkauf der hergestellten
220
118. Der Wert der Fische.
Waren nach allen Gebieten des Weltmarktes. In Kottbus besorgen zahlreiche
große und kleinere Tuchfabriken die Herstellung aller Arten von Tuch mit
einer jährlichen Produktion von vielen Millionen Mark. In Bautzen, dessen
Tuchindustrie schon im 17. Jahrhundert berühmt war, steht noch heute die
Tuchindustrie in großer Blüte. Daran reihen sich Eupen, Guben, Goldberg,
Görlitz und Neuruppin. In Bayern wurde die Tuchindustrie bis in die
neuere Zeit als Hausindustrie, namentlich in Niederbayern und der Oberpfalz,
getrieben. Heutigen Tages ist sie durch die Fabriktätigkeit vielfach verdrängt.
Bekannt durch ihre Tucherzeugnisse sind Augsburg, Waldmünchen, Tirschenreuth
und andere Orte.
118. Der Werl der Iische.
Kein anderes Tier dient wohl so allgemein als Nahrungsmittel wie
der Fisch. Vom winzigen Ei bis zum ausgewachsenen Tiere werden die
Fische von kleinen und großen Feinden vertilgt. Unter diesen nimmt
der Mensch nicht die letzte Stelle ein. Verschiedene Tiergruppen, selbst
viele Fische, leben von Fischen.
Ganze Völkerschaften sind fast einzig auf Fischnahrung beschränkt,
so die Eskimo, Grönländer, Tschuktschen. Viele Küsten- und Insel-
bewohner empfinden einen mißlungenen Fischzug ebenso schmerzlich wie
der Ackerbauer eine Mißernte. Der Fang, die Zubereitung und der
Handel mit Fischen geben vielen tausend Menschen einen bedeutenden
Erwerbszweig.
Wenn im Juni der volkstümlichste aller Nutzfische, der Hering, an
den Küsten von Norddeutschland, Norwegen und England in oft un-
geheuerer Menge erscheint, laufen Tausende von Schiffen und Booten
zu seinem Fange aus. Die Menge der gefangenen Heringe ist erstaunlich
groß und entspricht einem Werte von Millionen Mark. Der Hering
bildet einen bedeutenden Handelsartikel und kommt eiugesalzen und ein-
gepökelt in den Verkehr. In Norwegen bildet den Haupterwerb der
Stockfischfang, der besonders in dem Meere um die Lofoten reichen
Ertrag liefert. Der Fischfang und die Verarbeitung der Fische ist zur
Hauptindustrie des Landes geworden.
An der Küste der Bretagne blüht die Sardellenfischerei. Die
Küsten von Sardinien, Korsika und Neapel weisen außer Sardellen eine
reiche Ausbeute von Thunfischen auf. In Nordamerika ist am Golf
von St. Lorenz der Makrelenfang höchst ergiebig. Neben der Hochsee
liefert aber auch die Binnenfischerei reiche Erträgnisse. Alle unsere
Süßwasserfische, besonders aber Störe, Lachse, Forellen, Karpfen und
Hechte, sind für diese ungemein wichtig. Sie bilden ein hervorragendes
Nahrungsmittel, da der Gehalt ihres Fleisches sich dem des Ochsen-
118. Der Werl der Fische.
221
fleisches anreiht. Es ist meist zart, schmackhaft und leicht verdaulich.
Giftig ist an und für sich kein Fisch; doch hat der Genuß von manchen
Fischen mitunter gefährliche Zufälle, ja den Tod zur Folge. Dies ist
vielleicht einem durch Nahrung und Aufenthaltsort krankhaft veränderten
Zustande der Fische zuzuschreiben.
Die Fische bieten aber außer dem Fleische noch andere Vorteile.
Die Eier der Störe kommen als Kaviar in den Handel; der Fang dieser
Fische, welche aus dem Kaspischen und Schwarzen Meere aufsteigen,
bildet einen Haupterwerb der donischen Kosaken. Der rote oder schwarze
Kaviar ist eine beliebte Speise für Feinschmecker und kommt in manchen
Jahren in mehr als 100 Tonnen zum Versand. Aus der Schwimm-
blase der Störe, besonders des Hausens, wird die Hausenblase oder der
Fischleim gewonnen. Er ist weiß, geruch- und geschmacklos, hornartig,
durchscheinend und löst sich beim Kochen fast vollständig auf. Man
benutzt die Hausenblase zur Bereitung von Gallerte, des englischen
Pflasters, des Mundleims, zur Klärung trüber Flüssigkeiten, besonders
des Weines und Bieres; auch wird sie zu Glas- und Porzellankitt,
zum Leimen musikalischer Instrumente und zur Appretur seidener Zeuge
verwendet. Die Hausenblase läßt sich mit Ausnahme der Anwendung
als Klärmittel durch Knochenleim ersetzen. In Norwegen wird in und
bei Bergen aus der Leber des Kabeljaus der Lebertran gewonnen,
welcher vielfach als Arzneimittel Verwertung findet. Früher gebrauchte
man ihn auch in der Rot- und Weißgerberei. Der Fischtran (Walfisch-,
Robben-, Haifisch-, Heringstran) ist das leichteste aller fetten Öle und
brennt mit heller Flamme. Fischgalle wird wie Rindergalle bei der
Malerei und Wäscherei benutzt.
Aus den Abfällen der Fischerei (Fischen von wenig Wert, wertlosem
Fleische größerer Fische, Skeletten) wird ein Düngungsmittel dargestellt,
der Fischguano. Dieser enthält 10 o/g Stickstoff und 15 o/<> Phosphor und
übertrifft weit den Gehalt des Peruguanos. Er hat einen eigentüm-
lichen Geruch und eine hellgelbe Farbe. Der Fischguano wird in Eng-
land aus Sprotten, in Frankreich aus den Abfällen der Sardellen-
verarbeitung, in Norwegen aus den Abfällen des Walfisches und in
Nordamerika vom Kabeljau hergestellt. In Deutschland hat Meinert in
Leipzig (1853) viel für die Gewinnung dieses Guanos getan.
Die Aalhaut wird von unkultivierten Völkern an Stelle von Glas-
fenstern verwendet. Die Bevölkerung Ostasiens verarbeitet die gegerbten
Lachshäute zu Kleiderstoffen. Aus der Haut des Sägefisches wird
Sohlleder gewonnen. Die Haut der Haie und Rochen verwendete man
früher zu echtem Fischhautchagrin; dieses wird jetzt künstlich dargestellt.
222
119. Der Seidenspinner und die Seide.
Sie dient aber noch immer zum Abreiben von Holz und Elfenbein.
Auch mosaikartige, glänzende, glatte Futterale werden aus Fischhaut
bereitet. Die Fabrikation und Versendung von Fischhäuten findet vor-
zugsweise an den italienischen und portugiesischen Küsten statt.
Das Fleisch des Dorsches wird von den Gräten befreit, gut ge-
trocknet, gemahlen und zu Brot verbacken. Dieses sogenannte Fischbrot
soll an Gehalt das Ochsenfleisch viermal übertreffen. Der Geschmack
desselben ist sehr angenehm. Es wird vielfach als Nahrungsmittel für
die Truppen verwendet.
Die Schuppen der Laube benutzt man zur Darstellung von künst-
licher Perlmutter. Die Barschschnppen dienen zur Herstellung künst-
licher Blumen, Körbchen und anderer zierlicher Gegenstände. Aus dem
Silberglanz der Schuppen des Ukeleis (Karpfen) macht man unechte
Perlen. Das Fischbein wird aus den Barten des Wales hergestellt,
der aber zu den Säugetieren zählt.
Der vielfache Nutzen der Fische hat in neuerer Zeit einen großen
Aufschwung der Fischzucht herbeigeführt. In allen Staaten gibt sich
eine rege Förderung eines geregelten Fischereibetriebes kund. Derselbe
ist nunmehr durch gesetzliche Bestimmungen geschützt; dies ist ein Beweis,
wie sehr auch die Staatsregierungen die hohe Bedeutung der Fischerei
zu würdigen wissen. Welchen Geldertrag die Hochsee- und Binnenfischerei
liefert, ergibt sich daraus, daß Norwegen, welches mit England den
größten Fischereibetrieb aufweist, allein für 40 Millionen Mark Fische
an das Ausland liefert; Deutschland aber, welches, mit anderen Ländern
verglichen, nur einen geringen Fischverbrauch hat, führt für 30 bis
40 Millionen Mark Fische aus anderen Ländern ein. Europa erzielt
aus der Seefischerei einen Ertrag von 300 bis 350 Millionen und aus
der Binnenfischerei einen solchen von 200 bis 250 Millionen Mark.
119. Ser Seidenspinner und die Seide.
Seide liefern uns mehrere Naupenarten (Seidenwurm, Seiden-
spinner), indem sie sich mit einem glänzenden, feinen, aber verhältnis-
mäßig festen Faden zur Verpuppung einspinnen. Je nach der Raupen-
art ist auch die Seide verschieden. In Europa wird die Seidenraupe
auf den Blättern des weißen Maulbeerbaumes gezüchtet; doch gibt es
in Asien auch Seidenraupen, die auf Eichen, auf Judendorn und auf
den Blättern des gemeinen Wunderbaumes leben. In Württemberg und
Österreich ist die Einführung des Eichenspinners (Ailanthnsranpe) aus
Japan versucht worden.
119. Der Seidenspinner und die Seide.
223
Der Seidenwurm oder Seidenspinner gehört zur Familie der Nacht-
falter. Der Schmetterling mißt mit ausgebreiteten Flügeln in der Breite
4 cm, hat schmutzigweiße Flügel mit 2—3 dunklen Querstreifen und
auf den Vorderflügeln einen undeutlich gezeichneten bräunlichen Halb-
mond. Das Weibchen legt 200—300 bläuliche Eier; ihre gefräßigen
Raupen wachsen schnell, häuten sich viermal und spinnen sich dann ein.
Sie sind weißlich glänzend mit verschiedenen dunklen Flecken und haben
auf dem vorletzten Ring ein kleines Horn.
Bei der Züchtung der Raupe ist Verschiedenes zu berücksichtigen.
Für den Züchtungsraum ist eine gleichmäßige Wärme sowie ein ent-
sprechender Feuchtigkeitsgrad notwendig; auch muß die Wärme, bei
der die Raupen ausgekrochen sind, allmählich auf 18° R vermin-
dert werden. Ebenso hat fortwährend eine gleichmäßige Lüftung des
Züchtungsraumes und häufig eine Umlagerung und gleichmäßige Ver-
teilung der Raupen auf den Lagerplätzen stattzufinden. Die Fütterung
der Seidenraupen muß öfter und die Verteilung der Blätter gleichmäßig
erfolgen, damit ihre Entwicklung ebenso fortschreite. Mit jeder Alters-
stufe und zwischen den einzelnen Häutungen der Raupen steigert sich
deren Bedarf an Nahrung beträchtlich. — Ist die Raupe nach viermaliger
Häutung in ungefähr 30—35 Tagen zu ihrer vollkommenen Entwick-
lung gelangt, so wird sie unruhig, läuft hin und her, bis sie einen Ort
zum Einspinnen gefunden hat. Sie beginnt nun gewöhnlich zwischen
Baumzweigen ein merkwürdiges Gespinst zu verfertigen. Zunächst ankert
sie sich mit einigen unregelmäßigen Fäden, die in Form eines klebrigen
Saftes aus zwei Öffnungen neben dem Maule hervortreten und an der
Luft rasch erhärten, zwischen den Zweigen fest. Dann umgibt sie sich,
indem sie den Kopf hin und her bewegt und dabei einen dünnen Faden
hervorhaspelt, den sie mit den Vorderfüßen um sich wickelt, innerhalb
4 Tagen mit einem dichten, langen Gespinst (Kokon) von der Größe
und Gestalt eines Taubeneis. Aus demselben bricht sie nach 2—3 Wochen
als Schmetterling hervor. Diese Entwicklung läßt man aber nur zu
um das nächste Jahr Eier zur Zucht frischer Raupen zu erzielen.
Um davon keine zu verlieren setzt man das Schmetterlingsweibchen vor
dem Eierlegen auf ein Papier, an welchem die Eier haften bleiben.
Kommt die Zeit des Auskriechens, so bringt man die Eier in eine Stube
mit einer Temperatur von 14—22° R. Die jungen Raupen werden
gefüttert, indem man frische Maulbeerbaumblätter auf durchlöchertem
Papier über die Blätter des vorigen Tages legt, worauf die Raupen
durch die Löcher im Papier herauf nach der neuen Nahrung kriechen.
Soll der Kokon zu Seide verarbeitet werden, so muß man verhüten,
224
119. Der Seidenspinner und die Seide.
daß der Schmetterling auskriecht; denn dieser durchbricht die Hülle, nach-
dem er sie mit einer Flüssigkeit, die ihm aus dem Munde fließt, auf-
geweicht hat, und zerstört dadurch das Seidengespinst, dessen Faden über
3000 m Länge hat. Man tötet die Pnppen daher, indem man sie ent-
weder in einem Backofen 2—3 Stunden einer Hitze von 45—60°R oder
warmen Schwefel- oder Heißwasserdampfen aussetzt. Die Kokons sehen
weiß, fleischfarben, orange oder gelb aus und müssen zu Strähnen ab-
gehaspelt werden, wenn man sie nicht in die Fabriken roh verkaufen
will. Die einzelnen Schichten des Kokons sind von ungleicher Beschaffen-
heit. Die lockere äußere Hülle liefert die sogenannte Florettseide; die
mittlere besteht aus einem regelmäßigen, unverworrenen Faden von un-
gefähr 300 m Länge und ist die wertvollste; die innerste Schicht ist ver-
worren und bildet die sogenannte Seidenwatte.
Vor dem Abhaspeln wirft man die Kokons, nachdem sie vorher
sortiert sind, in einen Kessel mit heißem Wasser von 70—75° R, damit
sich die harzigen Teile des Gespinstes lösen. Wenn sie hier durchweicht
sind, bringt man sie in einen Kessel mit Wasser, unter dem ein müßiges
Feuer unterhalten wird und neben welchem ein Seidenhaspel steht. Das
Abhaspeln der Seidenfäden ist eine schwierige Arbeit, welche große Sorg-
falt erfordert und in vielen Städten in besonderen Fabriken (Filatorien)
betrieben wird. Durch Schlagen der Kokons in dem Kessel mit einem
Besen von Birkenreisig werden die Anfänge der Fäden gefunden, wobei
ein Teil als Flock- oder Florettseide in dem Reisig hängen bleibt. Die
Hasplerin vereinigt nun 3—8, mitunter auch bis 20 Kokonfäden und
führt sie durch gläserne Ringe oder Fadenleiter über einen Fadenführer
auf den vier-, sechs- oder achtarmigen Haspel. Der wagerecht hin- und
hergehende Fadenführer hat den Zweck, die noch klebrigen Fäden neben-
einander auf den Haspel zu legen und deren Zusammenkleben zu ver-
meiden. Die Güte der Seide hängt hauptsächlich von der Sorgfalt des
Abhaspelns ab; nun erst kommt das Zwirnen oder Filieren der auf-
gehaspelten rohen Seide.
Die Abfälle, welche bei dem Abhaspeln der Kokons als Florettseide
entstehen, verspinnt man in besonderen Spinnereien zu Seidengarn,
welches unter dem Namen Schappe vorkommt und entweder als reines
Seidengarn oder mit Wolle vermischt zu Tüchern, Decken, Möbel- und
Kleiderstoffen verwendet wird.
In den Seidenfärbereien werden die einzelnen Strähne, nachdem sie
gefärbt, gewaschen und ausgewunden sind, bis zu einem gewissen Grade
gestreckt. Durch das Strecken auf Streckmaschinen gewinnt die Seide
nicht nur an Glanz sondern auch an Dauerhaftigkeit.
120. Rohstoffe aus dem Tierreiche.
225
Die Seide stammt bekanntlich aus China. Obwohl sie schon im
frühen Altertum viel geschützt und begehrt wurde, kannte man doch den
Ursprung derselben nicht und glaubte, daß sie auf Bäumen wachse.
Erst im 6. Jahrhundert gaben griechische Mönche Aufklärung und holten
aus China Eier der Seidenraupe, die glücklich im Dünger ausgebrütet
wurden. In Griechenland betrieb man eine geraume Zeit Seidenbau
und Seidenweberei, deren Erzeugnisse die Venezianer in Europa ein-
führten. In der Folge kamen Seidenwürmer nach Sizilien und Unter-
italien, von wo aus nun die Seidenkultur sich rasch über Süd- und
Mitteleuropa verbreitete. Paul».
120. Rohstoffe aus dem Tierreiche.
Im Körper der Tiere findet sich eine Reihe von Stoffen,
welche für das gewerbliche Leben von hoher Bedeutung sind.
Die Knochen bestehen aus der Knochenerde (phosphor-
saurem Kalk) und leimgebendem Knorpel. In den durch letzteren
gebildeten Zellen lagert sich der Kalk ab, welcher den Knochen
Festigkeit verleiht. Wenn man die Knochen unter Luftzutritt
verbrennt, erhält man die Knochenerde. Die Knorpelmasse ver-
wandelt sich beim Kochen in Leim. Um erstere zu erlangen
legt man Knochen längere Zeit in verdünnte Salzsäure, durch
welche der Kalk aufgelöst wird. Knochen, unter Abschluß der
Luft gebrannt und dann zermahlen, liefern das Beinschwarz, eine
Malerfarbe. Werden die Knochen ausgekocht und gebleicht, so
kann der Drechsler daraus Kämme, Würfel, Messerbelege, Schach-
figuren u. s. w. fertigen. Den Knochen reihen sich die Geweihe
der Hirscharten an, aus welchen man Stockgriffe, Leuchter,
Zieraten verfertigt. Durch Härte, Feinheit und Dichtigkeit zeichnet
sich das Elfenbein aus. Die Stoßzähne des Elefanten, die Eck-
zähne des Flußpferdes und des Walrosses bestehen aus dem-
selben. Elfenbein ist weit wertvoller und haltbarer als Knochen.
Das Horn ist die Masse, aus welcher die Hörner der Zwei-
hufer und die Hornschuhe aller Hufsäugetiere bestehen. Man
gebraucht das Horn zu Knöpfen, Dosen, Kämmen, Messer- und
Gabelgriffen u. s. f. Die Hörner werden zunächst ausgebrüht,
•damit Fett- und Blutteile heraustreten. Nach Entfernung der
Spitzen schneidet man die Hörner der Länge nach auf. In
kochendem Wasser wird die Masse erweicht und dann zwischen
eisernen Platten gepreßt. Horngegenstände sind von der Hitze fern-
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 15
226
120. Rohstoffe aus dem Tierreiche.
zuhalten, sonst werden sie weich und rissig. Fischbein, aus
den Barten des Walfisches geschnitten, ist auch eine hornartige,
aber elastische Masse. Vielfach aus Hornplatten gefälscht wird das
Schildpatt, welches der Panzer der Charettschildkröte liefert.
Die Häute verschiedener Tiere werden zu Leder verarbeitet.
Aus kleinen Häuten und den Abfällen größerer Felle, aus
Knorpeln und Sehnen wird der Tischlerleim vom Leimsieder
gekocht. Setzt man die Bindegewebe und die Knorpelmassen
der Knochen, Sehnen und Bänder u. s. w. einer gesteigerten
Einwirkung des Dampfes aus, so werden einzelne Teile derselben
in flüssigen Zustand überführt. Dieses so erhaltene Fett kommt
als Kammfett in den Handel. Es wird zum Schmieren von
Maschinen und zur Herstellung von Schmierseife gebraucht.
Mannigfaltig ist die Verwendung der Tierhaare. Die
Roßhaare benutzt man, nachdem sie besonders zubereitet sind,
zum Polstern der Möbel. Mit den Haaren von Kälbern, Kühen,
Ziegen, Pudeln werden Stühle, Sättel u. s. w. ausgestopft. Zu
Bürsten und groben Pinseln verwendet man die Schweinsborsten;
die feinen Malerpinsel dagegen werden aus den Haaren des
Marders, des Dachses und der Fischotter hergestellt. Aus Hasen-
und Kamelhaaren bereitet man Filz; letztere werden auch zu
Tuchstoffen verarbeitet. Besonders wichtig ist die Wolle unserer
Schafe. Dieselbe wird geglättet, auf dem Spinnrad oder der
Spinnmaschine gesponnen und zu den verschiedensten Tuchsorten
verwebt. Das Lama Südamerikas und die Kaschmirziege Asiens
liefern die Wolle zu den allbekannten Stoffen. Aus der Wolle
der Angora- oder Kämelziege spinnt man das Kämelgarn.
Auch die Bekleidung der Vögel, die Federn, finden viel-
fache Verwendung. Sie dienen teils zum Schmuck teils zum
Füllen von Bettgefäßen teils noch zum Schreiben.
Die flüssigen Fette heißen Tran, die festen Talg. Die Härte
des Talges ist verschieden nach der Tierart. Hierher gehört auch
das Wachs, welches von den Bienen aus Pflanzenstoffen bereitet
wird. Gute Dienste leisten uns Talg- und Wachslichter. Selbst
die schlechten, ranzigen Fette finden bei der Seifenbereitung Ver-
wendung. Die Fette bestehen aus Fettsäuren, verbunden mit
Glyzerin. Wird letzteres durch Alkalien, z. B. Ätzkali, verdrängt
und ersetzt, so entsteht die Seife, welche uns unentbehrlich ist.
Sie spielt in gesundheitlicher Beziehung eine große Rolle.
121. Im Walde. — 122. Der Wald und seine Bedeutung. 227
Die Raupe eines kleinen Schmetterlings, des Seidenspinners,
liefert die Seide. Diese ist ein wichtiges Erzeugnis und wird
zu Bekleidungsstücken vielfach verwendet.
Ein bedeutender Handelsartikel ist der Schellack, welchen
die Gummilack-Schildlaus liefert. Er wird zu Siegellack, zu
Firnissen und Kitten verarbeitet. Eine vorzügliche rote Farbe
verdanken wir der Cochenillelaus. Die Schalen der Perlmuschel
versehen uns mit Perlmutter, aus welcher allerlei nützliche und
schöne Dinge hergestellt werden. Aus Korallen werden Schmuck-
gegenstände angefertigt. w. schanze.
121. Im
O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andacht'ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschüft'ge Welt;
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes ZeltI
Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Daß dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!
Wakde.
Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Tun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte, schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward's unaussprechlich klar.
Bald werd' ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn,
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel seh'n
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben;
So wird mein Herz nicht alt.
Eichendorff.
122. Per Wald und seine Wedeutung.
Groß ist die Bedeutung des Waldes für den Menschen wie für
den Haushalt der Natur. Wohin wir blicken, überall sehen wir Er-
zeugnisse des Waldes. Unsere Wohnungen, unsere Geräte, unsere
Schiffe, unsere Eisenbahnen, sogar unsere Bergwerke könnten nicht sein,
wenn der Wald nicht wäre. Des Winters Kälte würden wir erliegen,
Nahrungsmittel würden uns nichts nützen, da sie für uns erst durch
des Feuers Macht genießbar werden, die Kraft des Dampfes würden
wir nicht kennen, durch sie nicht über Land und Meer fliegen, wenn es
keine Wälder gäbe oder gegeben hätte.
15*
228
122. Der Wald und seine Bedeutung.
Die Fortschritte der Kultur sind an den Wald gebunden und doch
war dieselbe die größte Feindin des Waldes; sie ist es leider hier und
da noch jetzt. Deutschland, vormals mit dichten Eichen- und Buchen-
wäldern überdeckt, ist jetzt nur mehr strichweise mit schönen Waldungen
versehen; nackte Berge, wüste Ebenen sind da, wo vormals dichte Wälder
standen. Was nützt der Flugsand, was trägt die Heide? Was könnte
der Wald, den man vor grauer Zeit aus Unverstand oder Eigennutz
geschlagen, nützen? Immer fühlbarer wird der Holzmangel, immer
höher steigen die Holzpreise. Die Stein- und Braunkohlen wachsen
nicht nach; die Torfdecke des Moores gewinnt nur allmählich an Dicke;
mögen sie auch noch für Hunderte von Jahren Brennstoff liefern, so
wird doch diese Quelle einmal versiegen.
Am nächsten steht der Wald dem Menschen unstreitig als Er-
zeuger von Holz; denn das Holz ist ein ebenso unentbehrliches Lebens-
bedürfnis wie das Brot. Wenn das Holz jetzt auch als Brennmaterial
weniger benutzt wird, so ist doch seine Verwendung für Bau- und Nutz-
holz eine um so größere. Unsere Wohnungen können ohne Holz nicht
gebaut werden, und wollte und könnte man sie ohne solches aufführen,
so würden sie viel, sehr viel von ihren Annehmlichkeiten verlieren. Viele
Einrichtnngsgegenstünde des Hauses, manches Spielzeug des Kindes,
zahlreiche Geräte des Handwerkers sind ohne Holz nicht herzustellen.
Kein Gewerbe kann ohne Holz betrieben werden. Der Zimmer-
mann, der Wagner, der Tischler, der Böttcher, der Drechsler, alle ver-
arbeiten fast nur Holz, sind also auf dieses angewiesen. In vielen
anderen Gewerben — sogar beim Schmied und Schlosser — spielt das
Holz eine große Rolle; noch andere bedürfen zwar als Rohstoff kein
Holz, sind aber dennoch an das Vorhandensein desselben gebunden, weil
ihre Werkzeuge ganz oder teilweise aus Holz bestehen oder ohne solches
nicht hergestellt werden können. Ebenso ist für den Betrieb der Land-
wirtschaft, des Bergbaues, der Industrie und des Handels das Holz
unentbehrlich. In neuerer Zeit verwendet man das Holz auch zur Her-
stellung von Papier; aus dem auf mechanischem Wege zerteilten Holze,
dem Holzstoffe, bereitet man gröberes Papier; die Zellulose dagegen
liefert das feinste Papier.
Der Wald bietet zur Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen
nicht nur Holz sondern auch noch viele andere Erzeugnisse, die zum
Teil unentbehrlich sind znm Teil zur Annehmlichkeit des Lebens bei-
tragen. Der Wald ist die ursprüngliche Heimat unserer Kernobstbäume.
Die würzigen Erdbeeren, die gesunden Preiselbeeren, die saftigen Heidel-
and Brombeeren und die süßen Himbeeren werden zum größten Teil
122. Der Wald und seine Bedeutung.
229
aus dem Walde bezogen. Auch der Apotheker füllt einen Teil seiner
Büchsen mit den Erzeugnissen des Waldes und verschafft damit den
Leidenden Linderung ihrer Schmerzen. Die zur Bereitung des Leders
unentbehrliche Rinde liefert der Wald. Harz, Terpentin, Teer, Kienruß,
Pottasche und verschiedene Farbstoffe stammen ebenfalls aus demselben.
Der Wald ist endlich die Heimat der meisten jagdbaren Tiere und wird
dadurch zu einer reichen Quelle des Vergnügens für den Jäger.
Der Wald übt aber auch einen großen Einfluß aus auf die Er-
haltung und Fruchtbarkeit des Erdreichs. An steilen Abhängen ist der
unbedeckte Boden der Gefahr abgeschwemmt zu werden um so mehr aus-
gesetzt, je häufiger er gelockert wird; soweit er bewaldet ist, ver-
schwindet die Gefahr beinahe ganz; denn der moosige Waldboden saugt
gleich einem Schwamm viel Wasser in sich auf. Der Schnee schmilzt
im Walde langsamer als auf freiem Felde; das Abfließen des Wassers
verteilt sich daher auf einen längeren Zeitraum. Das Regenwasser
gelangt nicht unmittelbar auf den Boden; es füllt zuerst auf die Blätter
der Bäume und Sträucher; hier verdunstet ein bedeutender Teil des-
selben wieder, der andere Teil tropft nur allmählich auf die Erde. Der
Wald erhält aber den Boden nicht bloß sondern verbessert ihn auch;
werden demselben die abfallenden Nadeln und Blätter nicht entzogen, so
bildet sich im Laufe der Zeit eine weiche Erdschicht, die das Wasser
schwammartig aufsaugt und dem Boden dadurch eine große Fruchtbarkeit
verleiht.
Auf die Vorgänge in der Luft übt der Wald einen großen Ein-
fluß, und zwar sowohl auf den Wärmewechsel als auf die Luftströmungen
und die wässerigen Niederschläge. Während des Tages wird die wärmere
Luft über den Feldern durch die kältere des Waldes abgekühlt, die Hitze
auf dem offenen Felde also gemäßigt; in der Nacht aber wird die
kältere Luft der Felder durch die wärmere des Waldes gemildert, eine
starke Abkühlung also verhindert. Die Wälder können sonach als Aus-
gleicher der Temperatur bezeichnet werden. Sie werden es auch noch
dadurch, daß sie die Stürme brechen und die Luftströmungen überhaupt
mäßigen. In waldreichen Gegenden, besonders da, wo die Anhöhen
und Berge gut bewaldet sind, kommen seltener große Sturmverheerungen
vor als in waldarmen.
Wasser ist das notwendigste Lebensbedürfnis aller Pflanzen und
Tiere; ohne dasselbe kein Saft, ohne Saftströmung kein Leben. Der
Wald entzieht der Atmosphäre viel Wasser; er haucht aber auch wieder
viel aus. Bewaldete Gegenden haben in der Regel feuchte Atmosphäre;
es fällt reichlicher Regen und fruchtbarer Tau. Wie der Blitzableiter die
230
122. Der Wald und seine Bedeutung.
Gewitterwolken, so zieht der Wald die Regenwolken zu sich herab; sie
erquicken nicht allein ihn, sie kommen auch den benachbarten Feldern
zugute; in der Nähe des Laubwaldes findet man fast überall frucht-
bares Ackerland.
Durch den Einfluß, den der Wald auf die Bildung der Nieder-
schläge und das Abfließen derselben von den Bergen übt, wirkt er sehr
günstig auf die Entstehung der Quellen und auf den Wasserstand in
den Bächen und Flüssen. Die Mehrzahl der Flüsse entspringt auf be-
waldeten Gebirgen; der Wald erhält den Wassergehalt einer Gegend,
er ernährt ihre Quellen; in der Wüste versiegen dieselben.
Im Frühling schwellen die Ströme plötzlich an, ein Bergstrom
kommt zum andern und die Wassermasse stürzt mit Macht ins Tal
hinab. Bedeckt ein Wald des Gebirges Grund, fließen die Ströme
durch fruchtbares Land, so wird ein großer Teil des schmelzenden Schnees
von der lockeren Dammerde des Bodens aufgesogen und zurückgehalten,
während er da, wo ihn der Boden nicht aufnimmt, die Wassermenge der
Flüsse vermehrt. Seitdem die Wälder verschwanden oder über alle
Gebühr gelichtet wurden, sind die Überschwemmungen der Flüsse im
Frühjahr furchtbarer als je hervorgetreten.
Der wohltätige Einfluß des Waldes auf die Luftbeschasienheit einer
Gegend läßt sich nicht mehr in Zweifel ziehen. Der Gesundheitszustand
der Menschen und Tiere sowie das Gedeihen der Pflanzen ist von der
Luftbeschaffenheit einer Gegend abhängig. Wer hätte noch nicht den
Zauber der frischen Waldlnft auf Körper und Geist gefühlt? Manche
verheerende Krankheit, die wir vormals nicht kannten, hängt vielleicht
mit einer Verminderung der Wälder zusammen.
Der Wald hat aber auch noch neben der Schönheit und Annehm-
lichkeit, die er jeder Gegend verleiht, eine sittliche und volkstümliche
Bedeutung. In unseren zahlreichen deutschen Walddörfern blüht das
Volksleben noch im naturfrischen Glanze. Wie die See das Küstenvolk
siisch erhält, so wirkt in gleicher Weise der Wald im Binnenlande.
Der Waldbauer ist lustiger als der Feldbauer, er singt mit den Vögeln
des Waldes um die Wette. Ein Dorf ohne Wald ist wie eine Stadt
ohne geschichtliche Bauwerke, ohne Denkmäler, ohne Kunstsammlungen,
ohne Theater und Musik. Der Wald ist der Turnplatz der Jugend
und die Festhalle der Alten. Wir müssen den Wald erhalten, nicht bloß
damit uns der Ofen im Winter nicht kalt werde, sondern auch damit
die Pulse des Volkslebens warm und siöhlich weiter schlagen, damit
Deutschland deutsch bleibe. Nach Schacht und Bandelt.
123. Die Tischler- oder Schreinerarbeilen.
231
123. I>ie Kischter- oder Schreineraröeiten.
Unter allen Gewerben, welche die Verarbeitung des Holzes betreiben,
ist die Tischlerei zweifellos das ausgedehnteste.
Das vom Tischler am meisten benutzte Holz ist Tannen- und
Fichtenholz, welches vor anderen Holzarten den Vorteil eines geringen
Gewichtes, der leichten Verarbeitung und verhältnismäßigen Billigkeit
besitzt. Seltener findet Kiefernholz für Tischlerarbeiten Verwendung.
Dieses ist zwar durch Zähigkeit und Dauerhaftigkeit ausgezeichnet; doch
besitzt es einen unangenehmen Holzgeruch und reißt leicht unter dem
Hobel. Für besondere Zwecke verwendet aber der Tischler zahlreiche
andere Holzarten, teils in massiven Stücken teils in dünn geschnittenen
Tafeln (Fournieren), zur Bekleidung von Gegenständen aus weniger wert-
vollen Holzarten. Zu jenen gehören Ulmen, Ahorn, Eschen, Erlen,
Birken, Nußbaum, Birn-, Kirschen- und Pflaumenbaum. Seltener wird
Buchenholz benutzt, weil es sich stark wirft und leicht stockig wird; für
Anfertigung gröberer Maschinenteile ist das Rotbuchen- und mehr noch
das Hainbuchenholz seiner Zähigkeit wegen geschätzt.
Die Auswahl des Holzes beim Ankäufe wie die Art und Weise
der Aufbewahrung ist für den Tischler von höchster Wichtigkeit. Alan
kauft das Holz entweder in ganzen Stämmen oder bereits zu Brettern
geschnitten. Man beachte den Abstand der Jahresringe wie den Lauf
der Fasern! Je kleiner die Abstände zwischen den Jahresringen sind,
desto dichter, fester, dauerhafter ist das Holz. Drehwüchsiges Holz läßt
sich schon vor dem Zerteilen an dem spiralförmigen Lauf der Fasern
am Umfang erkennen, am deutlichsten jedoch, wenn die Rinde entfernt
wird; aber auch schon an der Rinde selbst pflegt diese Eigenschaft be-
merkbar zu sein. Holz mit gröberen Fasern läßt sich nur für die ge-
wöhnlichen Gegenstände benutzen, da es einem steten Werfen ausgesetzt
ist; Holz mit feineren Fasern dagegen wird zu wertvolleren Dingen, z. B.
Resonanzböden, verwendet.
Gesundes und trockenes Holz gibt bei großer Länge der Stämme
einen hellen, deutlichen Klang; ist dagegen der Klang hohl und dumpf
oder hört man denselben gar nicht, so läßt sich auf große Feuchtigkeit,
anbrüchige Stellen, Kernrisse u. dgl. schließen.
Sollen die Stämme nicht zu Brettern zerschnitten werden, so sorge
man für ein allmähliches Austrocknen durch teilweises Entrinden, Ver-
kleben der Hirnfiächen, Auflagern auf Querschwellen an einem freien,
luftigen, aber nicht sonnigen Orte. Bei längerer Aufbewahrung ist ein
öfteres Wenden notwendig. Wertvollere Hölzer versieht man mit einem
Wetterdache, welches sie vor der Einwirkung des Regens und der
232
124. Die fremden Hölzer.
Sonnenstrahlen schützt; freier Luftzug aber ist unbedingt notwendig.
Geschnittenes Holz bewahrt man in luftigen Schuppen auf. Die ein-
zelnen Bretter sind durch Klötze zu trennen und wo möglich hochkantig
zu stellen; mehrere Schichten müssen von Zeit zu Zeit umgesetzt werden.
Um das Holz vollständig lufttrocken werden zu lassen sind mehrere
Jahre erforderlich. Deshalb ist zum Betrieb einer Tischlerei ein für
mehrere Jahre ausreichender Holzvorrat und ein hinlänglich großer Raum
zur Aufbewahrung desselben unerläßlich.
Die Werkzeuge und Geräte des Tischlers sind allbekannt. Mit
Recht bürgern sich in neuerer Zeit Werkzeugmaschinen auch in kleineren
Tischlereien mehr und mehr ein. Eine Band- und Kreissäge, eine Bohr-
nnd Stemmaschine kann vorzügliche Dienste leisten. Auch kleine Fräs-
maschinen für Handbetrieb sind in vielen Werkstätten außerordentlich
nützlich. Hobelmaschinen führen in wenigen Minuten dieselbe Arbeit aus,
welche bei Handarbeit Viertel- oder Halbestunden beansprucht.
In den Bau- und Möbeltischlereien findet ein Verfahren Anwen-
dung, das sehr wichtig ist, das Fournieren. Man versteht darunter das
Bekleiden des Gegenstandes mit aufgeleimten dünnen Blättern aus wert-
volleren Holzarten. Dies Verfahren gewährt verschiedene Vorteile. Man
kann leichtere und billigere Holzarten für die Herstellung wühlen; beim
Fournieren lassen sich durch Znsammenfügung einzelner Stücke schönere
Zeichnungen hinsichtlich der Äderung des Holzes hervorbringen, als es
bei Herstellung aus massiven Stücken möglich ist.
Hand in Hand mit dem Fournieren geht häufig die Herstellung
eingelegter Arbeiten. Bestehen die eingelegten Zeichnungen aus ver-
schiedenfarbigem Holz, aus Metall, Perlmutter, Horn u. s. w., so heißt
die eingelegte Arbeit nach einem berühmten französischen Kunsttischler
Boulle-Arbeit. — Eingelegte Arbeiten, bei welchen durch eine große
Zahl sehr kleiner, nebeneinander gelegter Holzstückchen von verschiedener
Farbe figürliche Darstellungen oder Ornamente aller Art gebildet werden,
NeNNt Man HolzNwsaik. Nach Ledebur.
124. pie fremden Kötzer.
Unter den fremden Hölzern verstehen wir jene, die durch den Handel
mit dem Auslande zu uns gelangen. Viele derselben sind wegen ihrer
Haltbarkeit und Elastizität als Schiffbauhölzer von hohem Wert;
andere dienen wegen ihrer Masern oder sonstigen Färbung dem Kunst-
tischler zu Fournieren und wegen ihrer Härte dem Drechsler; endlich
zeichnen sich auch einige durch ihren Wohlgernch aus. Wichtiger als
letztere sind die Farbhölzer.
124. Die fremden Hölzer.
x .
233
Ansehnliche Holzmengen gehen aus unserem Vaterland als Schiff-
bauholz nach Holland und England, deren Waldungen den eigenen Be-
darf nicht decken. Frankreich, Spanien, Portugal und selbst Italien
kommen seit Jahrhunderten in der Holzffage wenig in Betracht. Eine
Ausnahme dürfte hierbei Algerien machen, das aus den Waldungen
des Atlas ansehnliche Mengen Eichen, Pinien, wilde Ölbüume und Lebens-
bäume nach Frankreich versendet. Das wichtigste Holz jenes Gebietes
ist für uns das des Buchsbaumes; dieses liefert fast ausschließlich den
Rohstoff für den Holzschnitt und steht deshalb sehr hoch im Preise.
Das italienische Nußbaumholz, das sich durch hübsche Färbung und zarte
Masern auszeichnet, wird mitunter auch nach Norddeutschland verhandelt;
seltener gelangen hierher das hellgelbe Zitronen- und Ölbaumholz. Un-
garn versieht die Werkstätten mit seinem Gelb- und Fisetholz.
Am wichtigsten für den Holzhandel sind unter den asiatischen Län-
dern Indien und die indischen Inseln. Als kostbares Schiffbauholz gilt
hier das Tiekholz wegen seiner Festigkeit, Elastizität und Dauerhaftigkeit.
Schiffe aus Tiekholz sollen eichene Schiffe um das Dreifache an Halt-
barkeit übertreffen. Java sichert sich durch forstliche Kultur eine dauernde
Ausfuhr. Am Fuße des Himalaja ist der Ebenholzbaum heimisch.
Unter dem Namen Ebenholz kommen im Handel eine große Menge
Hölzer vor. Wie man fast jedes schwarze Holz Ebenholz nennt, so
bezeichnet man im Handel ziemlich jede besonders harte Holzart als
Eisenholz. Die meisten Tropenländer haben ihre besonderen Arten auf-
zuweisen.
Die Inselwelt des Großen Ozeans, einschließlich Australiens, hat
zwar mancherlei schätzbare Hölzer, die aber der bedeutenden Entfernung
wegen wenig in den europäischen Handel gekommen sind. Die Eukalyptus-
arten Australiens zeichnen sich besonders durch ihre Schönheit aus. Sie
haben neben einem feinen Korn die lebhaftesten Farben und einen natür-
lichen Wohlgeruch. Auf den Sandwichinseln wird das köstlich duftende
Sandelholz in großen Wäldern besonders gepflegt.
Den stärksten Anteil am Holzhandel hat unter allen Erdteilen
Amerika, und zwar in den nördlicheren und mittleren Teilen seiner Ost-
küste. Ein wahres Holzland ist Kanada, das jährlich gegen 80 Millionen
Mark an Holz ausführt. Das Holz der weißen und gelben Tanne, der
roten Lärche und mehrerer Arten von Eichen wird in ähnlicher Weise
gewonnen und verstößt wie in unseren Gebirgswaldungen. Es gibt dort
Sägmühlen, in welchen über 100 Sägen im Gange sind.
In den Vereinigten Staaten liefert, gleich unserem Walnußbaum,
der Zuckerahorn schönes Maserholz, das als Vogelaugenholz in den
234
125. Pflanzen für gewerbliche Zwecke.
Handel kommt. Unter den 120 verschiedenen Eichenarten Amerikas ge-
nießt die Lebenseiche den größten Ruf. Von den zahlreichen Nadelhölzern
nennen wir nur die Weymouthskiefer und die sogenannten Lebensbäume.
Die Eibenzypressen bilden von Virginien bis Carolina ausgedehnte Sumpf-
waldungen. Die Mammutskiefern in Kalifornien gelten als die größten
aller bekannten Bäume, doch sind sie auch weniger wichtig für Technik
und Handel. Am bekanntesten sind bei uns jene Hölzer der südlichen
Staaten Nordamerikas und Westindiens geworden, die unter dem gemein-
schaftlichen Namen Zedernholz zu Zigarrenkisten und Bleistiften Verwen-
dung finden und zu diesem Zwecke vielfach nach Europa versandt werden.
Das gewöhnliche Zedernholz zu Bleistiften stammt von Wacholderarten,
die weißes Splintholz und einen rötlichen, wohlriechenden Kern haben.
Das sogenannte westindische und das Cubazedernholz dagegen kommt
von Zedrelaarten; es dient zur Anfertigung von Zigarrenkistchen und
kommt zu diesem Zweck in starken Blöcken zu uns. Die Zedrela ist
dem Mahagonibaum, der im Holzhandel eine Hauptrolle spielt, nahe
verwandt.
An Eisenhölzern zählt Mittelamerika viele vorzügliche Arten, wie
das Kieselholz der Antillen, das Ebenholz, das Korallenholz, die in der
Kunsttischlerei reiche Verwendung finden.
Die Farbhölzer Brasiliens bilden für das Land eine reiche Ein-
nahmequelle. Die vorzüglichsten darunter sind das Fernambukholz, das
rote Brasilienholz, das Blauholz und das gelbe Brasilienholz. Hierzu
kommen aber noch viele schöne von den Kunsttischlern gesuchte Hölzer,
z. B. das rote Ebenholz. Wunderbar schöne Verzierungen zeigt das
Padawaholz aus dem Wurzelstock einer Palmenart.
Unstreitig bleibt dem Holzhandel noch ein sehr weites Feld offen.
Wenn das begonnene Netz von Eisenbahnen und Dampfschiffahrtslinien
die ganze Erde gleichmäßig umstrickt, wird es der Pflanzer nicht mehr
nötig haben den Wald als seinen Feind zu betrachten, den er nieder-
brennt um Kulturland zu gewinnen. Es wird dann auch in den
Tropenländern ein richtiges Ineinandergreifen von Wald und Feld an-
gebahnt werden, wie es zum Wohle des Ganzen notwendig ist.
Nach Paulick.
125. Instanzen für gewerbliche Zwecke.
g.) Einheimische.
Viele gewerbliche Anlagen verdanken Pflanzenstoffen ihr Bestehen.
In einer Anzahl von Fabriken wird der schöne weiße Zucker aus den
Zuckerrüben bereitet, welche im Sommer ausgedehnte Strecken unserer
125. Pflanzen für gewerbliche Zwecke.
235
Felder bedecken. Aus den Kartoffeln gewinnt man die blendend
weiße Stärke. Die langgrannige Gerste liefert den Brauereien das
Malz zum Biere. Durch Gärung erhält man in den Brennereien aus
dem Stärkmehl des Roggens oder der Kartoffel den Alkohol,
Weingeist oder Spiritus.
Unter den bei uns wachsenden Gespinstpflanzen sind Lein (Flachs)
und Hanf die wichtigsten. Die Hauptteile der Leinpflanze sind der an
Bastfasern reiche Stengel und die Kapseln mit den ölreichen Samen.
Die Kapseln werden durch Riffeln entfernt und in der Sonne getrocknet,
wodurch dieselben aufplatzen. Aus den Samen preßt man in Ölmühlen
das Leinöl. Es wird als billiges Speise- und Brennöl, als Heilmittel
bei Geschwüren und zu Firnissen verwendet. Die Holzteile der Flachs-
stengel werden in der Wasserröste erweicht. Der geröstete Flachs wird
in der Sonne getrocknet und gebleicht, dann im Backofen gedörrt. Durch
die Breche beseitigt man die Holzteile. Der Schwingstock und die Hechel
entfernen die härteren, kürzeren und verworrenen Bastfasern. Man nennt
dieselben Werg. Spinnrad und Webstuhl vollenden die Arbeit. Nach
mehrwöchigem Bleichen ist die Leinwand blendend weiß. Leinengewebe
mit schräg laufenden Fäden nennt man Köper und Zwillich. Der Damast
zeichnet sich durch eingewebte schöne Muster, der Batist durch die Fein-
heit der Fäden aus. Die Hanffasern sind dicker, fester und länger als
die Fasern des Flachses. Stricke, Ankertaue und Segeltuche werden
daraus gefertigt. Zu den Hanfgewüchsen rechnet man auch den Hopfen.
Er enthält im Grunde der Blattschuppen harzigen und gewürzhaften,
gelben Staub. Dieser Staub, das sogenannte Hopfenmehl oder Lupulin,
verleiht dem Biere Haltbarkeit und angenehmen Geschmack, während der
in den Blattschuppen enthaltene Gerbstoff dasselbe klärt. Aus den
Brennesseln kann man das feine Nesseltuch gewinnen. Gebrauchte
Leinwand und Stroh sind die Stoffe,, aus denen Papier hergestellt
wird. Die Fasern bestehen aus Zellstoff oder Zellulose. Diese stellt
gereinigt eine weiße, feste, in Wasser und an der Luft unveränderliche
Masse dar und ist einer der unentbehrlichsten Stoffe. Sie dient zu
Tausenden von nützlichen Dingen, vom armdicken Schiffstau bis zum
haarfeinen Faden. Die Zellulose wird durch Pressen und Durchtränken
mit gewissen Flüssigkeiten auf eine hohe Stufe von Härte, Festigkeit und
Leichtigkeit gebracht. In diesem Zustande werden Räder, Wände u. dgl.
daraus hergestellt.
b) Ausländische.
Die wichtigste ausländische Gespinstpflanze ist die Baumwolle.
Ihre Heimat ist Asien. Gegenwärtig wird sie auch in Südeuropa,
236
125. Pflanzen für gewerbliche Zwecke.
Ägypten und Amerika gebaut. Dichte, zarte, Weiße Fäden hüllen die
Samen der Kapseln schützend ein. Die aufspringenden Kapseln müssen
sogleich gesammelt werden, damit die Wolle nicht zur Erde fällt, zer-
streut oder beschmutzt wird. Die Baumwolle wird von den Samen
befreit, in Ballen gepreßt und versandt. In einer Reihe von Maschinen
wird sie aufgelockert und gereinigt, dann auf kunstvollen Maschinen ge-
sponnen und gewebt. Die bekanntesten Baumwollenzeuge sind Kattun,
Musselin, Schirting, Tüll, Pikee, Nanking und Manchester. Diese
Kleiderstoffe empfehlen sich durch ihre Leichtigkeit und Billigkeit sowie
durch ihr Warmhalten. Bei Erkältungen und Verbrennungen der Haut
verwendet man Baumwolle in Form von Watte zum Schutz gegen
die Kälte.
Große Fabriken beschäftigen sich jetzt mit der Verarbeitung des
Kautschuks oder Federharzes. Es ist im Milchsaft des Federharz-
baumes enthalten, welcher in Brasilien und Mexiko ganze Wälder
bildet. Leider wird er von den Indianern nach und nach ausgerottet.
Macht man in der Rinde des Baumes Längs- und Querschnitte, so
läuft der zähe Milchsaft aus. Mittels eines Blattes wird der letztere
auf tönerne Formen gestrichen und in dichtem Rauche getrocknet. Dies
wird so lange fortgesetzt, bis die Schicht die erforderliche Dicke erreicht
hat. Dann zerschlägt man das Tongefäß. Die auf diese Weise her-
gestellte Gummiflasche kann nach Belieben zerschnitten werden. Der
Kautschuk ist elastisch, verliert aber unter Null Grad die Elastizität.
Das Wischgummi zum Auslöschen der Bleististstriche ist Federharz, das
sich in einer Mischung von Steinkohlenteeröl und Terpentinöl auflöst.
Zeuge, damit bestrichen, werden wasserdicht. Mancherlei Instrumente
der Wundärzte und für die Krankenpflege, Überschuhe, Gürtel und
Schläuche bestehen aus elastischem Gummi. Ostindien bringt den Gutta»
perchabaum hervor, der gleichfalls einen Milchsaft liefert. Die Art
der Gewinnung ist dieselbe wie beim Kautschuk. Durch Kneten verliert
die braune Masse die Neigung in Schichten sich abzulösen. Bei ge-
wöhnlicher Temperatur ist die Masse lederartig, in warmem Wasser
erweicht sie. Auf 60° R erhitzt, wird sie wie Wachs, nimmt aber beiin
Erkalten ihre frühere Härte wieder an; in kochendem Wasser erweicht
sie und läßt sich in Fäden ziehen. Durch Pressen wird Guttapercha
so hart, daß es auf der Drehbank verarbeitet werden kann. Daß die
Masse so bildsam ist, gibt ihr einen großen Vorzug vor dem Kautschuk.
Man benutzt Guttapercha zu Schuhsohlen, chirurgischen Instrumenten,
künstlichen Gebissen, Zahnfüllungen und zu unterirdischen und unter-
seeischen Kabelanlagen. Werden Kautschuk und Guttapercha mit Schwefel
126. Die Getreidearten.
237
erhitzt, so entsteht das Hartgummi oder Ebonit. Dieses wird zur Her-
stellung von verschiedenen Gegenständen verwendet, wie Kästchen,
Kämmen, Federhaltern, Platten, Knöpfen, Spazierstöcken und dichten
Bällen.
Die Palmen geben den Bewohnern der heißen Zone Nahrung,
Kleidung und Wohnung. Das Mark der Sagopalme liefert den wohl-
schmeckenden echten Sago. Besonders aber bilden Teile der Kokospalme
sehr wichtige Handelsartikel. Nicht nur ganze Kokosnüsse werden zu
uns versandt, sondern wir erhalten auch das butterartige Kokosnußöl
oder Palmöl. Man gewinnt dasselbe durch Auspressen der Kerne,
welche aus der Milch sich bilden. Das Palmöl der Kokospalme und
das der Ölpalme Afrikas werden in großer Menge in Europa eingeführt,
um bei der Seifenfabrikation in ausgedehntem Maße Verwendung zu
finden. Nach W. Schanze.
126. I)ie Getreidearten.
Den ersten Rang unter den für die Ernährung des Menschen be-
stimmten Pflanzen nehmen die Getreidearten ein; sie gehören fast sämtlich
der Familie der Grasarten an und liefern uns in ihrem mehligen Eiweiß-
körper die nahrhaften Stoffe zur Bereitung des Brotes sowie auch die
Hauptbestandteile für die Erzeugung des Bieres, Branntweins u. s. w.
Die wichtigsten bei uns gebauten Getreidearten sind der Weizen, der
Roggen, die Gerste, der Hafer; an diese schließen sich an der Mais, der
Reis und der Buchweizen.
Das Vaterland des Weizens ist zwar mit Gewißheit nicht be-
kannt, man hält jedoch allgemein das wärmere Asien für dasselbe. Sein
Anbau ist über die ganze warme und gemüßigte Zone verbreitet und
reicht nördlich bis Schottland und einen Teil von Schweden und Nor-
wegen. Die Samen oder Körner dienen zur Bereitung von Mehl sowie
auch zur Gewinnung von Stürkmehl und zur Erzeugung des Weizen-
bieres. Das Stroh verwendet man als Viehfutter, zum Einstreuen und
zu Flechtarbeiten, deren feinste aber aus den festen, steifen und feinen
Halmen des italienischen Hutweizens gefertigt werden.
Der gemeine Roggen soll im 8. Jahrhundert durch die Hunnen
nach Deutschland gebracht worden sein, wo er nun in einem großen
Gebiete angebaut wird. Da er auch auf weniger gutem Boden gedeiht
und gegen Fröste nicht so empfindlich ist, so ist sein Anbau selbst in
nördlichern Ländern, ja bis Lappland noch lohnend. Er ist eine der
nützlichsten Getreidearten; die Samen liefern zwar kein so weißes Mehl,
aber das daraus bereitete Brot ist sehr nahrhaft und haltbarer als das
238
126. Die Getreidearten.
aus Weizenmehl. Man benutzt ihn ferner zur Bereitung von Brannt-
wein (Korn- oder Fruchtbranntwein) und Spiritus, welcher zur Her-
stellung vieler Fabrikate und Arzneimittel unentbehrlich ist. Das Stroh
dient jung zu Futter, später seiner Steifigkeit wegen zum Dachdecken,
Polstern, zu Strohseilen und Flechtarbeiten und zur Herstellung billigen
Papiers.
Als das Vaterland der Gerste gilt Vorderasien und das nördliche
Indien. Im südlichen Europa wurde sie in den frühesten Zeiten als
Brotfrucht benutzt, nach Deutschland kam sie über Italien. Sie wächst
sehr rasch und kann daher auch noch in den nördlichen Ländern gebaut
werden. Man benutzt sie besonders zur Bereitung des Bieres, auch zu
Graupen und Gries sowie als Kafieesurrogat. Zur Brotbereitung ist
das Gerstenmehl weniger geeignet; denn das daraus gebackene Brot
wird bald rauh und rissig.
Der Hafer soll aus dem nördlichen Asien stammen, war aber den
Deutschen und Galliern schon in frühesten Zeiten bekannt, er wurde von
ihnen zur Brotbereitung benutzt; jetzt dient er zu Grütze und besonders
zur Fütterung der Pferde sowie zur Mast anderer Tiere. Als Brot-
frucht wird er nur in den ärmsten Gegenden unseres Vaterlandes ver-
wendet.
Der Mais gehört zu den wichtigsten Getreidearten. In Europa,
Asien, Afrika und Amerika lebt ein großer Teil der Bevölkerung von
Maismehl. Da der Mais einer längeren Entwickelungszeit bedarf, so
gedeiht er nur in wärmeren Gegenden, bei uns nur in Gärten oder
besseren Lagen. Seine harten, fast knorpeligen Samen liefern ein sehr
weißes Mehl zu Brot und verschiedenem feinen Backwerk; man bereitet
auch Grütze daraus und in Italien die Polenta. Auch zum Bierbrauen
und Branntweinbrennen ist der Mais geeignet; die grünen Stengel und
Blätter geben ein gutes Viehfutter.
Der Reis erfordert als eine Sumpfpflanze zu seinem Gedeihen
feuchte, sumpfige Gegenden; Reisfelder werden häufig auch künstlich
längere Zeit unter Wasser gesetzt; solch natürliche oder künstlich her-
gestellte Sumpfgegenden sind der Gesundheit nicht zuträglich. Die Samen
bilden ein wichtiges Nahrungsmittel, welches mehr als der Hälfte der
Menschen zur Ernährung dient. Der Reis eignet sich nicht zur Brot-
bereitung, sondern wird gekocht. In Ostindien stellt man daraus durch
Gärung und Destillation, teils mit teils ohne Palmsaft, den Arrak her.
Die Samen der Hirse sind rund, gelb, grau oder schwarz und
werden zu Brot, Grütze sowie zur Bereitung geistiger Getränke und als
Mastfutter für Geflügel benutzt.
127. Mauersteine und Mörtel.
239
Der Buchweizen, nicht zu den Gräsern gehörend, ist ein Knö-
terich und heißt auch Heidekorn. Die dreikantigen Körner werden zu
Grütze und Mehl zermahlen. Das Mehl ist ohne Kleber und kann
deshalb nur mit Roggenmehl vermischt zu Brot gebacken werden.
Der Nutzen des Getreides gab in erster Linie Anlaß zu dem Acker-
bau. Mit diesem ging die feste Niederlassung der Menschen, die dichte
Besiedelung der Länder, die Zähmung und Abrichtung der Haus- und
Zugtiere Hand in Hand. Die Erhaltungsfühigkeit der Getreidekörner
veranlaßte die Menschen Vorräte für die Zeit der Not aufzuhäufen.
So entstanden Handel und Verkehr. Der Anbau der Getreidearten ist
deshalb von jeher als Förderer der Kultur und der Gesittung an-
gesehen worden; sie sind von großer Bedeutung für den Haushalt des
Menschen und für verschiedene Gewerbe.
Sie geben vielen Menschen Verdienst. Ehe wir Brot essen können,
muß der Landmann das Korn gebaut, der Müller es gemahlen und
der Bäcker es gebacken haben. Nach Hoffmann.
127. Mauersteine und Mörlek.
a) Es würde ein langes Verzeichnis abgeben, wollten wir alle die
Stoffe aufzählen, die von den verschiedenen Völkern der Erde zum Bau
der Häuser benutzt worden sind, von den Eis- und Schneehütten der
Eskimos bis zu den Marmorpalästen europäischer und asiatischer Fürsten.
Manche Völker, wie die Japaner, bauen ihre Wohnungen fast gänzlich
aus Holz; ja die Zwischenwände richten sie aus Papier in einer Weise
her, daß sie dieselben nach Belieben einschieben oder wegnehmen können.
Unsere Vorfahren haben schon seit Jahrhunderten dem festen Steinbau
den Vorzug gegeben.
Der gewöhnlichste Baustein ist bei uns der Ziegelstein; diese Stein-
sorte wurde schon in den ältesten Zeiten verwendet und wird noch heut-
zutage in den Ziegelbrennereien zu vielen Tausenden hergestellt.
Ein solcher Ziegelstein hat gar vielerlei durchgemacht, bevor er in
der Mauer zwischen seinen Kameraden wenigstens auf einige Zeit zur
Ruhe gekommen ist. Er besteht der Hauptsache nach aus einer Mischung
von Ton, Quarz und etwas Eisen; alle drei Stoffe waren in alten
Zeiten Bestandteile fester Felsen und Gebirge. Wind und Wetter hatten
so lange an den Felsen genagt, bis sie zerfielen und im Lauf der Zeiten
als feine Körnchen hinweggeschwemmt wurden. Wenn im Frühjahr die
Ströme hochgehen oder wenn sie nach heftigen Regengüssen anschwellen,
240
127. Mauersteine und Mörtel.
sind ihre Fluten dunkelgelb gefärbt. Dieses Aussehen erhalten sie lediglich
von den feinen Ton- und Sandteilchen, die das Wasser mit fortreißt.
Häufig überschwemmen die tobenden Fluten ihre Umgebung und setzen
jene Erdteilchen als Lehmschichten in den Wiesen und Feldern ab. Die
letzten Reste davon verlieren sie, sobald sie sich ins Meer ergießen. So
ist in manchen Gegenden der Lehm in Lagen von mehr als Haushöhe
aufgeführt worden und wird von den anwohnenden Leuten ausgegraben
um beim Bau der Wohnungen dienstbar zu sein.
Der Ton verleiht dem Lehm die Fähigkeit allerlei Formen an-
zunehmen und festzukleben; der Quarz befördert das Austrocknen und
verhindert das Aufreißen und Abbröckeln; das Eisen, das in ganz
kleinen Mengen enthalten ist und sich mit etwas Wasser verbunden hat,
gibt dem Gemenge die gelbe oder rötliche Farbe.
In manchen Gegenden wenden die Landbewohner den Lehm beim
Hüuserbau in sehr einfacher Weise an. Sie kneten ihn mit den Füßen
zu einem dicken Brei, mengen Stroh darunter und führen daraus die
Wände auf, die nachher außen geglättet werden, oder man schlägt den
nassen Lehm in Ziegelformen und trocknet diese. Solche sogenannte
Luftziegel sind aber porös und leicht zerbrechlich. Bei Herstellung der
eigentlichen Ziegelsteine verführt man sorgsamer. Man reinigt den Lehm
von beigemengten Steinen und knetet ihn tüchtig durch; dann formt
man ihn ebenfalls und trocknet ihn in luftigen Schuppen aus. Hierauf
setzt man die Lehmziegel zu Tausenden in den Brennofen (Ringofen),
macht ein starkes Feuer in diesen und unterhält dasselbe mehrere Tage,
so daß die Ziegel in Gluthitze kommen. Hierbei entweicht das noch in
den Ziegeln befindliche Wasser; auch dasjenige Wasser verschwindet,
welches mit den Eisenteilchen des Lehms verbunden war, und die letzteren
vereinigen sich statt dessen in der Glühhitze mit etwas Sauerstoff; sie
oxydieren und ändern dadurch ihre bisherige gelbe Farbe in eine rote
um. Ton und Sand backen fest zusammen, und wenn die Ziegel
besonders gut sind, fängt die ganze Masse an etwas glasig zu werden.
Manche Ziegelsteine erhalten auch wohl Glasur, ähnlich wie das Töpfer-
geschirr.
Die Ziegelsteine haben im Vergleich mit vielen anderen Steinen
mancherlei Vorzüge. Sie machen dem Maurer fast gar keine Mühe
mit dem Behauen und halten die Einflüsse des Wetters weit besser ab
als viele andere. Durch eine Wand aus Ziegelsteinen von % m Dicke
dringen Külte und Wärme ebenso schwer wie durch eine Marmor- oder
Kalksteinwand von 2/3 m im Durchmesser.
127. Mauersteine und Mörtel.
241
Noch viel vorteilhafter zeigen sich in dieser Beziehung die soge-
nannten porösen Ziegel. Die ersten Steine dieser Art wurden gefertigt,
als man die mächtige Kuppel der berühmten Sophienkirche in Konstan-
tinopel baute. Die Erde, aus welcher diese Ziegel hergestellt werden,
besteht größtenteils aus den kieseligen Schalen von Infusionstierchen. Sie
sind viel leichter als die gewöhnlichen. Ihr größerer Vorzug beruht
aber darin, daß der Würmewechsel nur sehr langsam sich durch
sie hindurch fortpflanzt und ebenso der Schall nur schlecht weiter ge-
leitet wird.
Man fertigt gegenwärtig auch hohle Ziegelsteine aus einem ton-
reichen, hartgebrannten Lehm. Sie haben die Gestalt der gewöhnlichen
Backsteine, sind inwendig aber hohl und nur durch zwei dünne, sich recht-
winklig kreuzende Wände durchzogen, die ihnen größere Festigkeit ver-
leihen. Jeder solche Stein enthält deshalb vier von Luft erfüllte Höh-
lungen, welche Wärmeveränderungen und Feuchtigkeit viel schwieriger
hindurchleiten, als es eine feste Steinmasse tun würde.
Von den anderen Steinen, welche man sonst noch zum Bau der
Wände benutzt, sind vor allem die Kalk- und Sandsteine zu nennen;
auch Basalt und Trachyt, Granit, Gneis, Syenit, Grünstein und Por-
phyr sinden bei unseren Bauten Verwendung, insbesondere bei größeren
Bauwerken.
b) Als Mittel die Steine fest miteinander zu verbinden und die Wände
außen glatt zu machen dient der Mörtel. Diesen stellt der Maurer aus
Kalk und Sand her. Der Kalk wird aus den Kalkbergen gewonnen;
in manchen Küstenländern, in denen solche Gebirge fehlen, sammelt man
Muschelschalen zu diesem Zwecke. Die meisten Kalksteine bestehen auch
aus Überresten von Muscheln und Schneckenhäusern, vorzüglich solcher
Arten, die im Meere lebten. Der gewöhnliche Kalk, zu dem auch die
Kreide gehört, wird als kohlensaurer Kalk bezeichnet, da er sich mit
Kohlensäure, einer Luftart, innig verbunden hat. In gleich inniger Weise
hat er auch einen Teil Wasser in sich aufgenommen, das durch gewöhn-
liches Austrocknen sich nicht entfernen läßt. Werden die Kalksteine da-
gegen im Kalkofen geglüht, so entweicht sowohl das Wasser als auch die
Kohlensäure; der zurückbleibende gebrannte Kalk zeigt ein sehr lebhaftes
Verlangen besonders Wasser wieder aufzunehmen; er ätzt, wenn wir ihn
auf die Haut bringen (Ätzkalk), da er die Feuchtigkeit aus letzterer an
sich zieht. Will man ihn zu Mörtel verwenden, so muß er gelöscht, d. h.
wieder mit Wasser verbunden werden. Er zerfällt dabei und erhitzt sich;
vieles Wasser wird durch die entstehende Wärme in Dampf verwandelt;
eine bestinimte Menge geht mit dem Kalk selbst wieder eine innige
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 16
242
127. Mauersteine und Mörtel.
Verbindung ein; 50 kg Kalk nehmen mehr als 15 kg Wasser in sich
auf. Der Maurer gießt aber noch mehr Wasser hinzu und rührt den
gelöschten Kalk (Wasserkalk, hydraulischen Kalk) zu einem weißen Brei
an, dem er Sand zusetzt.
Am liebsten nimmt man zum Mörtel scharfkörnigen Quarzsand;
dieser befördert am besten das Anhaften und verhütet das Reißen des
Putzes beim Austrocknen. Der Kalkmörtel nimmt aus der Luft Kohlen-
säure auf und gibt dagegen Wasser ab. Hierdurch wird der Wasserkalk
(hydraulischer Kalk) im Lauf der Zeit wieder in kohlensauren Kalk um-
gewandelt und erlangt eine größere Festigkeit. Daher kommt es auch,
daß an alten Bauwerken der Mörtel zwischen den Steinen mitunter fester
ist als letztere selbst. Die Ziegelsteine werden durch die Einwirkung von
Licht und Wärme mürbe, guter Mörtel dagegen fester. Beide Vorgänge
machen uns aber deutlich darauf aufmerksam, daß selbst in der scheinbar
toten Mauer allerlei Kräfte ununterbrochen tätig sind. Manche Kalk-
steinwände lassen das anschlagende Regenwasser leicht durchdringen.
Einige Kalksteine und Lehmarten enthalten außerdem noch andere Stoffe,
die begierig Feuchtigkeit aus der Luft und dem Boden an sich ziehen
und Salze bilden. Dergleichen Wände werden bald mürbe; sie erhalten
außen einen weißen Anflug, der aus kleinen Salzkristallen besteht. Ob-
schon dies nicht jedesmal Salpeter ist, so bezeichnet man doch gewöhnlich
solche Mauern als vom Salpeter oder „Mauerfraß" befallen und sucht
zum Schutz dagegen sogenannten hydraulischen Mörtel oder Zement an-
zuwenden. Letzteren stellt man aus Kalkarten her, die gleichzeitig eine
bestimmte Menge Kieselerde, etwas Ton, Eisen, Titan u. s. w. enthalten.
Man glüht sie im Brennofen und zermalmt sie zu feinem Pulver; auch
setzt man gern zerriebenen Traß (verhärtete vulkanische Asche) zu. Wird
solcher Mörtel mit Wasser angerührt, so verhärtet er bald, bekommt eine
besondere Festigkeit und läßt nachher kein Wasser mehr eindringen. Soll
der Mörtel auch Holzwerk bedecken, so wird letzteres zuvor mit Rohr-
stücken benagelt; in den Putz selbst werden auch wohl Kälberhaare ein-
gemengt um demselben größere Haltbarkeit zu verleihen.
Je mehr Feuchtigkeit eine Wand enthält, je jünger sie also ist oder
je leichter sie von außen her Wasser durchläßt, desto ungesunder wird
die Wohnung. Am gefährlichsten werden solche Mauern in Schlafzimmern.
Es ist also nicht nur für den Maurer sondern für jedermann, der ein
gesundes Heim haben will, von größter Wichtigkeit einen prüfenden Blick
auf die vier Wände zu werfen, die er bewohnt. Nach H. Wagner.
128. Die nutzbaren Gesteine.
243
128. Aie nutzbaren Gesteine.
Willst du, daß wir mit hinein
In das Haus dich bauen,
Laß es dir gefallen, Stein,
Daß wir dich behauen! Rückert.
I.
Die Gesteine ordnen sich nicht allein nach ihrem Alter sondern auch nach
ihren besonderen Eigenschaften, welche für ihre Bearbeitung und Benutzung
maßgebend sind. Die ältesten oder Urgesteine sind aus geschmolzenen Massen
erstarrt. Die verschiedene Farbe derselben, welche oft in schöner Zeichnung
hervortritt, die hohe Härte einzelner, welche eine schöne Politur erlaubt, die
große Dichtigkeit u. s. w. lassen diese Gesteine, trotzdem sie sehr schwierig zu
bearbeiten sind, für viele, namentlich für künstlerische Zwecke wertvoll erscheinen.
Den Urgesteinen stehen an Aussehen, Festigkeit u. s. w. eine Zahl jüngerer
Bildungen nahe, welche entweder selbst als geschmolzene Massen emporge-
drungen oder doch wenigstens durch solche umgewandelt worden sind.
Granit und Syenit sind Urgesteine, welche zu Bauten und Kunst-
werken verwendet und zu diesem Zweck durch Steinbruchbetrieb gewonnen
werden. Ihnen schließt sich der Grün stein oder Diorit an, genau von
derselben Zusammensetzung wie Granit und Syenit; er besteht nämlich aus
einem Gemenge von Quarz und Feldspat sowie aus dazwischen eingestreutem
Glimmer (Granit und Syenit) oder Hornblendekristallen (Diorit). Die Farbe
des Feldspates von Weiß bis in ganz entschiedenes Rot bedingt die Färbung
der Granite, welche oft sehr wirkungsvoll werden kann, namentlich wenn der
Glimmer von schwarzer Farbe und in deutlich ausgebildeten Tafeln auftritt;
der Quarz ist in der Regel weiß, braun oder bläulich. In den Grünsteineu
ist die Hornblende regelmäßiger und in kleineren Blättchen verteilt, daher
auch die Farbe gleichartiger und, wie schon der Name besagt, von einem
dunkelgrünen Tone.
Diese Gesteine bilden große Gebirge und selbst da, wo sie nicht an die
Oberfläche treten, ist der Granit die Ursache der Erhebung gewesen. Im Säch-
sischen Erzgebirg, im Harz, im Riesengebirg, im Böhmerwald wie im Baye-
rischen Wald und im Fichtelgebirg, in den Zentralstöcken der Alpen, in den
Gebirgen Schwedens und Norwegens ebenso wie in den Niederungen Ägyptens
oder in den Felsengipfeln des Himalaja finden wir derartige Gesteine.
Von den Abhängen der Gebirge lösten sich einzelne Blöcke los; diese
wurden auf den Rücken der Gletscher, welche in der Urzeit den größten Teil
des Festlandes der nördlichen Halbkugel bedeckten, zu Tal geführt und auf
weite Entfernungen in die Ebene befördert. Wir finden noch jetzt in der
Norddeutschen Tiefebene unzählige, oft häusergroße Felsblöcke; ihre Gesteins-
beschasfenheit beweist unwiderleglich, daß sie von den skandinavischen Gebirgen
abstammen und durch Gletscher oder Eisschollen hierher geschafft wurden.
Findlinge, Wanderblöcke oder erratische Blöcke nennt der Sprachgebrauch diese
Fremdlinge.
16'
244
128. Die nutzbaren Gesteine.
Die Urgesteine sind vielfach Gegenstand der Ausbeutung. Die grob-
körnigen Arten des Granits sind wertvolle Bausteine; die feinkörnigen da-
gegen bilden ein zu ornamentalen Vasen, Säulenschäften und dgl. viel ver-
wendetes Kunstmaterial. Eine blühende Steinindustrie finden wir in und
um Weißenstadt und Wundsiedel im Fichtelgebirge wie an vielen Orten des
Böhmer- und Bayerischen Waldes, bei Nabburg, Cham (Blauberg), Regen,
Metten und Vilshofen sowie in den Alpen bei Kiefersfelden.
Außer dem Granit ist der vielverbreitete Grünstein zu ähnlichen Verwen-
dungen wie jener geeignet. Aus diesem Gestein ist uns ein herrliches Denkmal
ägyptischer Bildhauerkunst (König Schafra) erhalten geblieben.
Die Porphyre enthalten ebenfalls Quarz, Feldspat und Hornblende.
Je nachdem ein oder das andere Material vorzugsweise auftritt, haben die
Porphyre verschiedene Farbe, Zeichnung und demgemäß auch Namen. Vor-
herrschend sind rote Färbungen. Die dichteren Arten werden zum Pflastern,
die blasigen zu Hochbauten benutzt; in diesen Beziehungen sind sie für manche
Gegenden Deutschlands (Darmstadt, Nahetal, Thüringen, Regensburg) sehr
wichtig. Der Tonporphyr wird seiner tonigen Grundmasse wegen, die eine
schöne Politur nicht zuläßt, nur als Baustein zu Türstöcken und gewöhnlichen
Steinmetzarbeiten verwendet. Der härtere Feldsteinporphyr dagegen wird von
den Künstlern hoch geschätzt.
Der Trachyt ist ein vulkanisches Gestein, welches fast allein aus Feld-
spat besteht. Er ist weiß, perlgrau, rötlich, dicht, porös oder porphyrartig.
Zu Platten und Quadern spaltbar, wird er vielfach zu baulichen Zwecken be-
nutzt, wie bei den älteren Teilen des Kölner Domes. Er läßt sich mit Meißel
und Säge bearbeiten und schneiden und ist außergewöhnlich wetterfest.
Besonders wichtig aber ist der Basalt, ein Gestein, dessen natürliche
Absonderung die Gewinnung brauchbarer Stücke sehr erleichtert. Der Basalt,
welcher schwärzlich-grau bis schwarz, dicht, bisweilen blasig erscheint, ist ganz
ersichtlich aus dem geschmolzenen, seurigflüssigen Zustand erstarrt und fest
geworden. Die Säulen des Basalts sind zuweilen gekrümmt, gewöhnlich aber
ganz gerade und fünf-, sechs- und siebenseitig; oft erscheinen sie mehr als
3 m lang und mit so ebenen, regelmäßigen Seiten, daß sie als Pfosten und
Treppenstufen verwendbar sind. Diese regelmäßige Säulenbildung gibt den
Basaltbrüchen oft ein sehr malerisches Ansehen. Bekannt sind in dieser Be-
ziehung die Insel Staffa, der Basaltberg Detonata in Siebenbürgen und der
Schloßberg von Stolpen. Der wunderbare Basaltkegel auf dem Parkstein bei
Weiden in der nördlichen Oberpsalz zeigt in seinen Flammenformen die vulka-
nische Entstehungsart dieses Gesteins, während der etwas nördlichere Rauhe
Kulm ein schönes Bild der regelmäßigen Säulenbildung dieser Basalte gibt.
Verwitterter Basalt liefert ein vorzügliches Pflastermaterial. Solche Steine
werden in der Oberlausitz, in der Wetterau, am Rhein, in Bayern besonders
in der nördlichen Oberpfalz und dem angrenzenden Oberfranken getvonnen.
Die Abfälle dienen zu Straßenbauten.
128. Die nutzbaren Gesteine.
245
II.
Der Kalk ist einer der verbreitetsten Grundstoffe der Natur. Eine sehr
große Anzahl der Mineralien zählt den Kalk zu ihren wefentlichsten Bestand-
teilen.
Er erscheint oft in zusammenhängenden meilenweiten Massenverbindnngen,
wie sie in der festen Erdrinde nur bei diesem Stoffe beobachtet werden.
Große Kalkgebirge, oft eine Mächtigkeit von mehreren tausend Metern er-
reichend, bestehen der Hauptsache nach ans nichts weiter als aus Kreide und
Kohlensäure. Der gewöhnliche Kalkstein, der Marmor, Kalkspat, Aragonit
und die Kreide sind kohlensaure Kalkerde. Mit Schwefelsäure verbunden,
bildet die Kalkerde den Gips. Alle diese Verbindungen sind mehr oder
weniger im Wasser löslich. Da nun die Kalkerde in vielen Mineralien vor-
kommt und in keiner Gebirgsart fehlt, so enthält auch jeder Ackerboden, der
ja erst aus der oberflächlichen Verwitterung des festen Felskörpers unserer
Erde entstanden ist, Kalkerde. In dem durchsickernden Wasser löst sie sich,
wird von der Pflanze aufgenommen und in Kraut und Stengel, Blüte und
Frucht mit übergeführt; so findet sie ihren Weg in das Tierreich, dessen
eigentliche Stütze sie wird, indem die Bildung von Knochen, Zähnen, Schalen
und Gehäusen lediglich durch die Kalkzufuhr, welche die Pflanze dem Tiere
vermittelt, ermöglicht wird.
Reiche Kalksteinausbeute liefern die Gegenden um Kelheim und Donau-
stauf. Große Zementlager finden sich südlich des Chiemsees, bei Staudach,
bei Miesbach und Tölz sowie am Peißenberg. Weltberühmt sind die Litho-
graphiesteine bei Solnhofen.
Der kohlensaure Kalk dient sowohl in seiner natürlichen Gestalt als
Baustein als auch in den edleren Spielarten des Marmors dem Bildhauer
als das ausgezeichnetste Material zur Ausführung seiner künstlerischen Ideen.
Für die zeichnenden Künste sind der Lithographiekalkstein und die Kreide
wertvolle Hilfsmittel. In der chemischen Technik ist die Kreide das viel ge-
brauchte Mittel bei der Fabrikation des Stärkezuckers. Zu manchen Zwecken
erfahren beide Körper eine besondere Behandlung, wodurch ihre chemische
Natur eine andere wird: sie werden gebrannt, und zwar der kohlensaure
Kalk um ihn von der Kohlensäure zu befreien und in Atzkalk zu verwandeln,
der Gips dagegen um seinen natürlichen Wassergehalt zu verjagen. So ist
der erstere nicht nur für unsere Bautechnik als Hauptbestandteil des Mörtels
ein unentbehrlicher Stoff, sondern er dient auch der Landwirtschaft als ein
ausgezeichnetes Düngmittel. Den Atzkalk machen seine Eigenschaften zu einem
sehr verwendbaren Körper bei der Seifenfabrikation, der Gasbereitung, der
Glasmacherei, der Sodafabrikation und der Darstellung von vielen chemischen
Produkten. Zum Brennen kann man die verschiedensten Kalksteine verwenden.
Das Brennen derselben geschieht entweder in Meilern, ähnlich wie bei
der Kohlenbrennerei, oder in besonders dazu gebauten festen Ofen, Kalköfen
(Ringöfen).
246
128. Die nutzbaren Gesteine.
Der Gips, die schwefelsaure Kalkerde, kämmt in der Natur in geringer
Menge fast in allen Gewässern vor, in größeren Massen jedoch nesterartig
in den Gebirgsgesteinen und in ganzen Gebirgszügen. In Bayern wird Gips
am Kochelsee und südlich von Murnau sowie ttt der Gegend des oberen Aisch-
grundes und im Bliestal in der Pfalz gewonnen.
Sehr häufig ist der derbe Gipsstein, welcher gepulvert mannigfache Ver-
wendung findet, z. B. in der Farbentechnik und in der Papierfabrikation.
Eine besonders reine Art des feinen Gipses ist der Alabaster, der viel zu
kleineren Bildhauer- und Drechslerarbeiten benutzt wird, da er seiner Weichheit
wegen sich viel leichter als Marmor behandeln läßt. Der gebrannte Gips
schwillt auf und bekommt solche Festigkeit, daß er eine starre Masse bildet.
Auf diese Eigenschaft gründet sich seine ganz eigentümliche, mannigfache Ver-
wendung. Mit Wasser angerührter, feiner Gipsbrei läßt sich in alle Formen
bringen, legt sich den feinsten Modellierungen an und bringt beim Festwerden
dieselben zum schärfsten Ausdruck; demnach leistet er als Abformungsmaterial
ausgezeichnete Dienste: nach dem Erhärten wird seine Festigkeit hinreichend
groß, so daß plastische Gegenstände, Abgüsse von Bildwerken, namentlich für
ornamentale Zwecke (Stuck oder Stuckatur), daraus auf sehr billige Weise
hergestellt werden können. Als Industriezweig wird die Gipsgießerei vor-
züglich in Italien betrieben.
Der Gips hat für die Welt eine hohe Bedeutung; denn er ist das ein-
zige Mittel der Vervielfältigung für Werke, von denen weder Beschreibungen
noch Abbildungen genügende Vorstellungen geben können. Ohne ihn würde
das Studium der alten Kunst ein höchst mühsames sein.
Der 'Marmorstein findet sich vorzüglich im Gebiete des Gneises,
Glimmer- oder Tonschiefers. Die Technik rechnet auch jene dichten, weißen
oder bunten politurfähigen Kalksteine, die sich leicht verarbeiten lassen, zum
Marmor. Solchen Marmor liefert in Bayern das Fichtelgebirge, die Gegend
um Berchtesgaden und Kelheim sowie Neubeuern bei Rosenheim. Den schönsten
Marmor weisen die südlichen Länder auf, vor allem Italien (Carrara, Mafia
und Seravezza).
In der Residenz zu München sind ganze Säulen aus einem einzigen
Stücke vom Untersberger Marmor gearbeitet; die Wandverkleidungen der
Basilika und Allerheiligen Hofkirche sowie die der Walhalla und Rnhmes-
halle sind aus Kelheimer Marmor, während die Bildsäulen in den beiden
letztgenannten Prachtbauten aus carrarischem Marmor hergestellt sind.
III.
Schiefer und Sandstein begreifen in ihrem weitesten Umfang Gebilde von
sehr verschiedenartiger Natur und weit auseinander liegenden Entstehnngszeiten
in sich. Das Gemeinsame aber haben sie, daß sich beide unter Wasser aus
den zu Boden gefallenen festen und ungelösten Bestandteilen gebildet haben.
Waren diese Bestandteile toniger Natur, so entstanden Schiefer; waren es
einzelne quarzige Körner, so entstanden Sandsteine.
128. Die nutzbaren Gesteine.
247
Von den Schiefern sind besonders der Dach- und Tafelschiefer für
die Industrie sehr wichtig. Der Tafelschieser dient tiberall zu Rechen- und
Schreibtafeln. Geringere Sorten geben als Dachschiefer eine leichte und
dauerhafte Dachbedeckung. Der im Frankenwald gewonnene Schiefer wird
fast ausschließlich zu Schreibtafeln verarbeitet.
,Jn Thüringen ist nächst Lehesten, woselbst die Brüche schon seit Jahr-
hunderten bedeutend ausgebeutet werden, die Umgegend von Gräfenthal mit
vorzüglichen Dachschieferlagern versehen. Hier kommen auch die zu Schreib-
tafeln und Griffeln tauglichen Steine vor, welche in vielen Fabriken mit
Rähmchen versehen und durch Sonneberger Händler in alle Welt verkauft
werden. Die Dachschieferbrüche zu Goslar am Harz wetteifern an Groß-
artigkeit mit denen zu Lehesten und Gräfenthal; auch sie liefern ein ganz
vorzügliches Dachbedeckungsmaterial, welches wie das des Thüringer Waldes
und des Rheinlandes sich durch Dünnspaltigkeit und große Festigkeit auszeichnet.
Der Sandstein ist ein der Hauptsache nach aus feinen und groben
Kieselkörnchen oder Sand bestehendes Gestein. Er zeigt verschiedene, graue,
gelbliche, rote und grünliche Farben, streifenweise in einem Stück, wodurch
das Gestein geflammt, gebändert oder geadert erscheint. Gewisse Sandsteine
haben wegen der Eigenschaft, in prismatische Stücke oder Quadern zu zerfallen,
den Namen Quadersteine erhalten. Je größer der Umfang dieser Stücke ist,
desto wertvoller ist der Stein. Ein guter Sandstein muß dem Froste ge-
nügend widerstehen; er darf nicht auffrieren und splittern, muß sich glatt
bearbeiten und sogar schleifen lassen. Die rauhkörnigen Sandsteine liefern
Mühl- und Schleifsteine; manche tonige Abarten, welche zum Bauen ganz
unbrauchbar sind, dienen als feuerfeste Steine für Eisenschmelzöfen und werden
weithin versandt. Wer die Naturwunder der Quadersteinbildung im engsten
Rahmen zusammengedrängt schauen will, der wandere hin zur Weckelsdorfer
Felsenstadt mit ihren wunderbaren Formen.
Die Sandsteinbrüche in der Sächsischen Schweiz, namentlich die bei
Pirna, dann in Böhmen, Liebethal, Cotta, sind von großem Umfang.
Ähnliche Felsbildungen treffen wir in Adersbach und bei Johnsdorf
in der Oberlausitz, wo in dem dortigen Quadersandstein die besten Mühl-
steine gebrochen werden. Letztere werden nicht mehr aus einem Stück her-
gestellt, sondern setzen sich aus vielen Hunderten von passenden Steinchen
zusammen, die dann eine feste Verkittung erhalten und schließlich durch einen
heiß umgelegten Eisenreifen gegen alles Zerspringen geschützt sind.
Die berühmten französischen Mühlsteine kommen aus dem Departement
Oise. Auch in Bayern liefern mehrere unterfränkische Orte und Miesbach
Mühlsteine; Schleif- und Wetzsteine finden sich in Unterammergau, Ohlstadt,
Schongau und Füssen.
Ganz nahe gelegene Orte verfügen oft über andere Sorten von Sand-
steinen, so das nahe bei Nürnberg gelegene Wendelstein, welches einen aus-
gezeichnet festen Sandstein — den sogenannten Ouarzit — liefert. Ähnliche
248
129. Der Ton und seine Verwendung.
Verhältnisse treffen wir bei dem Dorfe Sachsen in der Nähe von Ansbach.
Würzburg besitzt einen sehr feinkörnigen Sandstein mit tonigem Bindemittel
von wechselnder Güte; die Bayreuther Gegend gewinnt einen äußerst ge-
schätzten Bausandstein, welcher beim Bamberger Dom Verwendung fand.
Ziemlich alle Sandsteingattungen liefern Material zu Hochbauten. Von
der Güte der vortrefflichen Buntsandsteine zeugen die Dome von Straßburg,
Freiburg, Worms. Bekannt ist, wie sehr die Kenpersandsteine in ganz
Schwaben und Franken als Bausteine geschätzt sind. Auch die berühmten
Kapfelberger Sandsteine (bei Kelheim) wie die roten und weißen Sandsteine
der Haardt und des Odenwaldes finden vielfach zu Bauten Verwendung.
Nach Paulick.
129. I>er Kon und seine Werwendung.
1. Die Verarbeitung des Tons durch Formen und Brennen ist uralt.
Gebrannte Ziegel sind schon von den alten Ägyptern zu Bauten benutzt
worden. Die antiken Vasen beweisen die hohe Vollendung der Töpferei
(Keramik) bei den alten Griechen und Etruskern. Der Sturm der Völker-
wanderung vernichtete die Kunst der Tonbildnerei fast vollständig, so daß von
vorne begonnen werden mußte. Anregung, Vorbilder und Technik kamen
zuerst wieder nach Spanien durch die Mauren, deren glasierte und bemalte
Gesäße von der Insel Majorka „Majolika" genannt wurden. Die Mauren
(Araber, Perser) stellten gemusterte Fliesen für Fußböden und Wände her.
Später faßte die Kunsttöpferei in Italien festen Fuß, wo byzantinischer Ein-
fluß zur Wiederbelebung derselben beitrug. Hier wurde im 13. Jahrhundert
das Verfahren erfunden, die rote oder graue Tonmaffe mit einer weißen,
undurchsichtigen Glasur zu überziehen. Auf dieses Verfahren gründete dann
im 15. Jahrhundert Lucca della Robbia in Florenz seine Malerei auf Ton
mittels undurchsichtiger Zinn- und Bleiglasuren. Die Erzeugnisse der Stadt
Faenza erhielten den Namen Fayence. Im 16. Jahrhundert kam die
Majolika (Fayence) von Italien nach Frankreich, Deutschland (Nürnberg)
und Holland; die mit weißer, undurchsichtiger Glasur überzogenen Waren
Delfts, das chinesische Porzellan nachahmend, waren vom 16. bis zum 18. Jahr-
hundert hochberühmt. In Deutschland verbreiteten sich vom 15. Jahrhundert
an die grauen Steinzeugwaren. Diese wurden besonders im Nassanischen, bei
Koblenz und in Flandern hergestellt. Aus dieser Zeit finden sich herrliche alt-
deutsche Krüge hartgebrannt, mit Salzglasur, mit Kobaltblau bemalt und reich
ornamentiert. Den Höhepunkt seiner Vollendung in Farbe und Form erreichte
das Steinzeug, farbiges und weißes, durch Wedgwood in England (1760).
Einen großen Aufschwung nahm die Kunsttöpferei in Europa nach der
Entdeckung der Porzellanbereitung. Das Porzellan war in China schon seit
Beginn unserer Zeitrechnung bekannt, wurde aber erst seit dem 15. und
16. Jahrhundert massenhaft erzeugt und um diese Zeit auch in Europa ein-
geführt, wo man es mit Gold aufwog. Die vielversnchte Nachahmung gelang
dem Alchimisten Böttger i. I. 1709 mit Hilfe des weißen Tons, des Kaolins,
129. Der Ton und seine Verwendung.
249
worauf in Meißen die erste Porzellanfabrik erbaut wurde. Obwohl inan das
Verfahren geheimzuhalten suchte, verbreitete es sich doch allmählich durch
die Arbeiter. Bald entstanden Porzellanfabriken in Wien, Höchst, Fürsten-
berg, Berlin, Frankenthal und an anderen Orten. Statt des echten so-
genannten Hartporzellans wurde schon vorher das „Frittenporzellan" zu
St. Cloud und in Sevres hergestellt; seit 1774 wurde hier auch Hartporzellan
geliefert.
Das Porzellan verdrängte allmählich die Gesäße und Geräte aus Fayence
und Steinzeug, so daß dieses zum Bauerngeschirr herabsank, bis in neuester
Zeit auch diese Tonerzeugnisse neben dem Porzellan wieder zu Ehren gekommen
sind. Die neuere Chemie hat mächtig klärend und anregend gewirkt, nament-
lich durch Herstellung von Glasuren und Farben, welche sich einer jeden
Tonmasse und Brenntemperatur anpassen.
2. Unter dem Namen Ton wird eine chemische Verbindung von Kiesel-
erde und Alaunerde verstanden, welche sich mit Wasser zu einem zähen, bild-
samen Teige kneten läßt. Diese Eigenschaft macht den Ton verwendbar für
plastische Arbeiten, denen man durch Brennen Härte und Festigkeit und, wo
es nötig, durch Glasur Dichtigkeit geben kann.
Für die Verwendung des Tons zu Tonwaren sind besonders seine
Bildsamkeit im nassen Zustand und sein Festwerden durch Brennen wichtig.
Der Grad der Bildsamkeit des Tons ist verschieden, weil sie abhängig
ist von der Zusammensetzung des Tons und von der Form der Teilchen.
Beim Trocknen an der Luft wird der Tonteig fest, bleibt aber weich und
leicht zerreibbar; dabei „schwindet" er, und zwar um so mehr, je fetter er
ist. Die Berechnung des Schwundes ist daher bei der Tonwarenfabrikation
von großer Wichtigkeit. Zu rasches oder ungleichmäßiges Entweichen der
Feuchtigkeit hat bei Gegenständen von geringer Dicke häufig eine Veränderung
der Gestalt, ein Verziehen, bei dickeren ein Bersten zur Folge.
Die Hanptarten der durch die Industrie verwendeten Tonerden bilden
Kaolin, plastische und feuerfeste Tone. Das Kaolin ist weiß bis grau, brennt
sich aber ganz weiß; es ist wenig plastisch (knetbar), aber sehr feuerfest.
Wichtige Fundorte für Kaolin sind Morl, Senewitz, Trotha bei Halle (für
Berlin), Seilitz bei Meißen, Amberg und Passau. Die plastischen Tone
schwinden sehr stark und erhalten mehr oder weniger Beimengungen. Sie
sind weiß, gelblich, bläulich oder grau gefärbt, brennen sich nicht ganz weiß
und sind weniger feuerfest. Nach ihrer Verwendung unterscheidet man
Fayence-, Pfeifen- und Steinzeugton. Der Töpferton enthält noch mehr
Beimengungen, wodurch er für gewöhnliches Töpfergeschirr gelb bis braun
gefärbt erscheint. Er brennt sich gelb und rot und schmilzt bei hoher
Temperatur. Der Ziegelton, Lehm, Löß ist sehr eisen-, kieselsäure- und kalk-
reich (Tonmergel), sehr stark gefärbt und oft noch sehr bildsam; er bildet den
Rohstoff für Bauziegel. Die feuerfesten Tone für feuerfeste (Schamotte-) Steine,
Tiegel, Gasretorten u. s. w. nähern sich in der Zusammensetzung dem Kaolin.
250
129. Der Ton und stine Verwendung.
Die aus Ton hergestellten Waren kann man einteilen in Tonwaren mit
verglastem, nicht Porösem und in solche mit wenig oder nicht gesintertem,
porösem Scherben (Grundmasse). Der Scherben der ersteren ist auf dem
Bruche dicht und glänzend, undurchlässig für Gase und Flüssigkeiten. Zum
Brennen bedarf er einer hohen Temperatur. Ist die hergestellte Ware weiß,
so heißt sie Porzellan. Dieses wird gewöhnlich noch mit einer Glasur über-
zogen und dann als „echtes" bezeichnet. Unglasierte, weiße Ware nennt man
Biskuit. Wenn aber dieselbe mehr oder weniger gefärbt ist und ohne oder
mit Salzglasur gebrannt wird, gibt man ihr den Namen Steinzeug. Der
Scherben der nicht gesinterten Tonwaren ist auf dem Bruche matt, erdig,
durchlässig für Gase und Flüssigkeiten. Seine Temperatur ist niedriger als
bei den verglasten Waren. Fayence oder Steingut ist fast weiß bis grau
oder gelblich, das ordinäre Töpfergeschirr stark gefärbt. Die Glasur, welche
hier notwendig ist um die Gefäße undurchlässig zu machen, schmilzt niedriger
und enthält fast immer Bleiglas. Unglasiert sind die porösen Tonröhren,
Tonpfeifen, feuerfeste Ziegel, Ziegelsteine.
Die beiden Gruppen sind nicht scharf zu trennen. Nach der Verwendung
könnte man die Tonwaren einteilen in Gefäße (Geräte, Schmucksachen) und
Baumaterialien.
3. Das Porzellan ist die edelste der Tonwaren. Es ist härter als Glas
und Stahl und viel widerstandsfähiger gegen Temperaturwechsel und gegen
chemische Einwirkungen als Glas. Man stellt es aus Kaolin her und setzt
demselben je nach seiner Beschaffenheit mehr oder weniger Feldspat und
Quarz zu als Flußmittel. Die Mischungsverhältnisse sind immer bestimmten
Brenntemperaturen angepaßt und werden für ein und dasselbe Porzellan
möglichst festgehalten. Je weniger Flußmittel neben Kaolin vorhanden sind,
desto schwerer ist Porzellan zu brennen, aber desto widerstandsfähiger wird
es namentlich gegen Temperaturwechsel.
Bei der Verarbeitung wird das Kaolin geschlämmt. Die Mischung wird
durch öfteres Umpumpen aus einem Gefäß in ein anderes zu einer sehr
innigen gemacht. Der abgepreßte Brei wird durch Schlagen, Treten und
Kneten von Luftblasen befreit und gedichtet. Verunreinigung von Eisen und
Staub sucht man möglichst zu vermeiden. Zuweilen läßt man die Masse
noch monatelang im Wasser stehen und „faulen", auch wohl frieren, wodurch
die Ausschließung unzersetzter Stosse (Doppelsilikate) befördert und die Bild-
samkeit erhöht wird.
Das Formen der Masse ist wegen ihrer verhältnismäßig geringen Bild-
samkeit schwieriger als bei anderen Tonwaren. Das Hauptwerkzeug des
Formers ist die Töpferscheibe, eine wagerechte Drehscheibe, welche durch die
Füße, seltener durch Maschinenkrast getrieben wird. Auf dieser werden runde,
auch wohl ovale Gefäße (auf elliptisch rotierenden Ovalmaschinen) mit freier
Hand und mit Zuhilfenahme von Streichplatten (Schablonen) aus Messing
mit dem Profil des zu formenden Gegenstandes angefertigt. Man formt
129. Der Ton und seine Verwendung.
251
auch roh auf der Töpferscheibe und drückt den Gegenstand in Gipsformcn
oder in Formen von porös gebranntem Ton mit einem feuchten Schwamm
fest ein. Teller werden ans dünnen Tonlappen, „Schwarten", geformt, die
mit der Innenseite über eine Gipsform gedrückt und außen auf der Töpfer-
scheibe mit der Schablone profiliert werden. Die porösen Formen sangen
Wasser aus dem Ton an, so daß der geformte Gegenstand Festigkeit bekommt;
sie ermöglichen sogar das Gießen der breiförmigen Masse.
Glasiertes Porzellan wird zweimal gebrannt, einmal ohne, einmal mit
der Glasur. Nach sehr langsamem Trocknen im Schatten wird der sehr zer-
brechliche Gegenstand „verglüht", „roh gebrannt", bei Rotglut, etwa 700 bis
8000 o, damit er genügend Festigkeit und Porosität zur Aufnahme der Glasur
bekommt; dann wird er glasiert. Die Glasur muß denselben Schwindungs-
grad besitzen, sich im nämlichen Verhältnisse ausdehnen wie die Masse, damit
sie weder beim Brande noch nach dem Erkalten und beim Gebrauche Sprünge
oder Haarrisse bekommt. Sie darf ferner nicht blasig oder fleckig und soll
härter als Stahl sein.
Nach dem Trocknen folgt das Glatt- oder Garbrennen im Scharfseuer-
raum des Porzellanofens oder im Gaskammerofen bei etwa 1700 o C. Damit
das Porzellan nicht durch Flugstaub verunreinigt wird, mnß es sowohl beim
Roh- wie beim Glattbrand in Kapseln (Kassetten) von feuerfestem Ton ein-
gesetzt werden. Da das Porzellan zu erweichen beginnt, müssen größere
Stücke namentlich an den schwer belasteten Stellen gestützt werden. Der
Fortgang des Brennens wird durch Schaulöcher und an herausgenommenen
Proben beobachtet; die Dauer des Glattbrandes beträgt etwa 24 Stunden.
Die aus Porzellan hergestellten Gegenstände werden auch vielfach bemalt und
vergoldet. Das Bemalen geschieht entweder vor dem Aufträgen der Glasur
durch Unterglasur- oder Scharffeuerfarben oder nach dem Glasieren und
Brennen durch Muffel- oder Emailfarben. Auch bei dem Vergolden unter-
scheidet man zwei Arten, die Feuer- und die Glanzvergoldung. Bei ersterer
wird das Goldpulver mit Fluß gemengt, eingebrannt und dann poliert; erst
durch das Polieren erscheint der Goldglanz. Die zweite Art findet in der
Weise Anwendung, daß eine Lösung Gold in geschwefelten Ölen (Goldbalsam)
aufgetragen und eingebrannt wird. Es entsteht sogleich ein äußerst dünner
Überzug von metallglänzendem Golde. Versilbert werden Porzellangegenstände
selten, weil das Silber wegbrennt.
Nach dem Brande wird sortiert in Feingut, Mittelgut, Ausschuß und
Bruch. Der Verlust ist bedeutend durch Verbiegungen, rissige Glasur und
Masse, Blasen, Flecken, durch Ruß oder Kapselstückchen; namentlich tritt
leicht eine gelbliche Färbung ein. Man kann dies vermeiden durch Reduktions-
feuer und durch Beschleunigung der Abkühlung (Segersches Verfahren). Ein
größeres Service, ganz fehlerfrei und von tadellosem Weiß, ist eine Seltenheit.
4. Dem Porzellan reiht sich das Steinzeug an. Dieses ist aber nicht
durchscheinend wie das Porzellan, sondern fast weiß (feines Steinzeug) oder
252
129. Der Tvu und seine Verwendung.
stark grau, gelb und braun gefärbt (gewöhnliches Steinzeug). Es ist klingend
hart, wird vom Stahl nicht geritzt und ist sehr widerstandsfähig gegen
chemische Stoffe, dagegen weniger gegen Temperaturwechsel.
Feines Steinzeug ist die dem Porzellan sehr nahe stehende Wedgwood-
ware. Es wird in der von Wedgwood gegründeten Töpferstadt Etruria
hergestellt und ist hochberühmt durch die an die Antike sich anschließende
Form und Plastik. In der Regel erscheint es unglasiert, mit schönen matten
Farben. Die Masse besteht aus plastischem Ton, Feuerstein Schwerspat,
Gips u.s.w.
Zum gewöhnlichen Steinzeug gehört das altdeutsche Geschirr, das im
16. und 17. Jahrhundert in Deutschland allgemein verbreitet war und jetzt
wieder in die Mode gekommen ist. Als Rohstoffe dienen plastische Tone,
z. B. der von Vallendar bei Koblenz, welche schon genügend Flußmittel ent-
halten. Die Masse wird von gröberen Beimischungen getrennt, mit Ton-
knetmaschinen verarbeitet und aus der Töpferscheibe geformt; dann werden
die schönen Reliefs mit Gips- oder Metallformen eingedrückt oder aufgeklebt.
Die harten Fußbodenfliesen, Trottoirplatten (Mettlacher Plättchen) sowie
die hartgebrannten Ziegelsteine (Klinker) gehören ebenfalls zum Steinzeug.
Den Übergang zum gewöhnlichen Töpsergeschirr bildet das Bunzlauer
Geschirr, welches außen mit leicht schmelzendem, ockerigem Ton braun glasiert
ist, innen oft weiß durch ebenfalls bleifreie Erdglasur. Das Geschirr wird
bei hoher Temperatur gebrannt, mit ziemlich dichtem, gesintertem Scherben.
Alle glasierten Tonwaren mit erdigem Bruch nennt man heute Fayence
oder Steingut. Die feine Fayence, dem Porzellan ähnlich, erscheint mit
weißem Scherben und durchsichtiger Bleiglasur; die gemeine Fayence dagegen
mit mehr oder weniger gefärbtem Scherben und undurchsichtiger, weißer
Zinn-, Blei- oder farbiger Glasur. Fayence ist gegen plötzlichen Temperatur-
wechsel empfindlicher als Porzellan; sie wird vom Stahl geritzt. Die Glasur
wird leicht haarrissig, wodurch der poröse, rasch Schmutz aufnehmende Scherben
bloßgelegt wird.
Zu der gewöhnlichen Fayence (Steingut) mit stärkerem, gefärbtem Scherben
und undurchsichtiger Glasur gehören die Vasen und Ziergeräte, welche man
heute mit Majolika bezeichnet, die durch reine Plastik und die glänzenden
Emailfarben hohen Kunstwert besitzen können. Die alten italienischen Majoliken
zeigen oft durch dünne Metallüberzüge hergestellte Lüsterfarben (z. B. bei
Glas). — Die Ofenkacheln, die glasierten Wandfliesen u. s. w. sind ebenfalls
gemeine Fayence.
Das gemeine Töpsergeschirr schließt sich an die Fayence an. Die Masse
besteht aus gewöhnlichem Töpserton, der mehr oder weniger leicht schmilzt
und deshalb bei niedriger Temperatur gebrannt wird. Die Glasur, aus
Ton und Bleiglätte mit färbenden Metalloxyden gemischt, ist, um den
Schmelzpunkt zu erniedrigen, oft so bleireich, daß sie sich in essigsauren
Flüssigkeiten löst.
130. Das GlaS.
253
Unglasiertes Steingut, Terrakotta, dient zu Statuetten, Tonpfeifen,
Blumentöpfen, Zellen für galvanische Batterien, Drainröhren und Wasser-
kühlern, Alcarazzas, die zum Kühlhalten des Trinkwassers in südlichen
Ländern dienen.
Die gewöhnlichen gebrannten Mauerziegel, Backsteine, sind poröse Ton-
waren, die bis zum beginnenden Sintern gebrannt werden. Der dazu benutzte
Ton, Lehm, enthält meist viel Eisen und Kalk und soll auch etwas Kiesel u. s. w.
einschließen. Man läßt den Ton oft zum Zweck des Auflockerns auswintern
oder aussommern oder sumpft ihn ein, knetet und preßt ihn dann in
Ziegelmaschinen. Das Brennen geschieht jetzt bei einer Temperatur von
etwa 10000 6.
Ein unbestreitbares Verdienst um die bessere Ausnutzung der Wärme für
die Herstellung der Tonwaren erwarb sich der Großindustrielle Friedrich
E. Hoffmann, der die nach ihm benannten Hoffmannschen Ringöfen erbaute,
deren System aber neuerdings eine erhebliche Verbesserung erfuhr.
Deutschland besitzt zahlreiche Ziegeleien, die jährlich mehrere Milliarden
Ziegel herstellen. Großartige Werke für hartgebrannte Ziegel gibt es in
Schlesien. Ebenso finden sich in der Nähe von München infolge der reichen
Tonlager auf dem rechten Jsarufer bedeutende Ziegeleien. Auch Kolbermoor,
Schwandorf und Ergoldsbach wie Ludwigshafen liefern vorzügliche Ziegel.
Nach Paulick.
130. Da« Dias.
Das Glas ist uns zu einem unentbehrlichen Gegenstand ge-
worden. Für unsere Wohnungen ist der Glasverschluß unbedingt
notwendig. Die Straßenbeleuchtung, die großartigen Auslagen
der Läden wären ohne Glas ein Ding der Unmöglichkeit. Gläserner
Trinkgeschirre würden wir nur schwer entraten. Die Wissenschaft
hätte ohne Fernrohr (Teleskop) und Vergrößerungsglas (Mikro-
skop), ohne Gläser und Retorten die hohe Stufe, auf welcher sie
sich befindet, nicht erreicht.
Trotz der vielen Vorzüge ist jedoch der Verbrauch und die
allgemeine Verwertung des Glases sehr spät in Aufnahme ge-
kommen. Frühe schon lernte der Mensch den Ton und das
Erz verarbeiten; zur Herstellung des Glases aber, das ihm nicht
gleich als etwas Fertiges von der Natur geboten wurde, bedurfte
es schon bedeutender technischer Fortschritte. Ehe die Phönizier
das Glas erfunden, war dieses schon längst den Ägyptern bekannt.
Aber das ganze Altertum hindurch blieb es kostbar, dem Golde
ziemlich gleichwertig. Erst während der römischen Kaiserzeit
stieg die Glasbereitung und der Verbrauch ins Unglaubliche.
254
130. Das Glas.
Auch in Deutschland war schon in dieser Zeit die Glasbereitung
bekannt. Während der Völkerwanderung erhielt sich in Byzanz
die überlieferte Herstellungskunst. Mit dem beginnenden Mittel-
alter fand das Glas in Deutschland und Frankreich zunächst in
Kirchen als Fensterverschluß, in der Mosaik und Glasmalerei
umfangreiche Anwendung. Zur Zeit der Kreuzzüge begann die
Blüte der venezianischen Glasbereitung, deren Erzeugnisse Weit-
berühmtheit erlangten. Auch in Deutschland erwachte wieder
die schöpferische Kraft und erging sich in jenen derbkräftigen
Formen der Trinkgefäße, den reizvollen Glasmalereien und
Butzenscheiben, die uns noch heute anheimeln. Doch bald
begann auch wieder der Verfall der Glasindustrie und erst um
die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte sich eine Umkehr zum
Besseren. Heute steht die deutsche Glasfabrikation an erster
Stelle und erreicht durch vorzügliche Güte des Materials, durch
künstlerische Form auf dem Weltmärkte große Erfolge und
umfangreichen Absatz.
Die Bestandteile des Glases sind Kieselerde und Quarz,
welche mit Pottasche oder Soda gemengt und geschmolzen
werden. Je reiner die Stoffe sind, desto farbloser und schöner
wird das Glas. Um die Masse leicht schmelzbar zu machen
setzt man immer etwas Kalk oder auch Bleiglätte hinzu. Die
letztere macht das Glas schön glänzend und schwer, weshalb
man dieses Kristallglas nennt. Bunt wird das Glas dadurch,
daß man demselben Metalle beimischt; so wird es durch Gold
purpurrot, durch Kupfer grün, durch Zinnasche oder Knochen-
mehl milchweiß u. s. w. Aus gefärbtem Glas bestehen die un-
echten Edelsteine, die sich durch ihre geringe Härte leicht
von den echten unterscheiden lassen. Farbige Glassorten sind
auch die mannigfaltigen Arten von Email, welches auf Ziffer-
blättern, Ordenszeichen, Knöpfen, Halsketten u. dgl. in mancherlei
Farben angebracht und oft nach Art der Edelsteine eingefaßt
wird. Die Stickperlen macht man aus bunten Glasröhren oder
Glasstäben; sollen sie wie echte aussehen, so überzieht man
sie innen mit der glänzenden Masse der Schuppen des Weiß-
fisches.
Bei der Herstellung des Glases wird das gepulverte Material
in große Schmelztiegel gebracht und in runden, ziemlich ver-
schlossenen Ofen zur Weißglühhitze geschmolzen. In diese dick-
flüssige, glühende Masse wird dann die sogenannte Pfeife, eine
130. Das GlaS.
255
Art Blaserohr mit einem eisernen Ende und einem gleichen Mund-
stück, eingetaucht, gerade wie die Kinder den Strohhalm in
Seifenschaum stecken, wenn sie Seifenblasen machen wollen. Auf
gleiche Weise bläst auch der Glasarbeiter in sein Blaserohr, wo-
durch der am Rohre klebende Klumpen der glühenden Glas-
masse zu einer hohlen Kugel ausgedehnt wird. Derselben gibt
man nun mit eisernen Werkzeugen eine bestimmte Form und
bläst sie auch in tönerne oder metallene, hohle Formen hinein;
dabei kann der Arbeiter, wenn das Glas zu erkalten anfängt, die
verglühende Masse augenblicklich in dem glühenden Schmelzofen
wieder weich machen. In ähnlicher Weise wird auch das Fenster-
glas geblasen. Der Arbeiter gibt der Kugel, indem er sie auf
Eisen ringsherum aufdrückt, eine längliche Gestalt wie die einer
Gurke, zerstört dann das untere Ende derselben und gleicht mit
einem Eisenstabe die Biegungen der Kugel vollends aus. Er
zerschneidet dann mit einer Schere den unten offenen Zylinder
auf seiner langen Seite, breitet ihn auf einer Eisenplatte aus,
auf welcher eine eiserne Walze der Glastafel vollends eine ebene
Fläche gibt. Ebenso werden auch die gewöhnlichen Spiegel
hergestellt; die teueren werden gegossen und zwischen Metall-
platten geglättet. Sind die Glastafeln, Gläser und Gefäße fest
genug, daß sie sich nicht mehr verbiegen, so kommen sie in
den Kühlofen, wo sie sich langsam abkühlen, während sie in
freier Luft zu schnell erkalten und zerspringen oder doch sehr
spröde würden.
In rastloser Geschäftigkeit regt und bewegt es sich in den
vielen Glashütten Deutschlands. Einer hohen Wertschätzung
auf dem Weltmarkt erfreut sich die Glasindustrie Bayerns.
Unter seinen Glashütten ragen durch ihre vorzüglichen Leistungen
vor allem Theresienthal, Buchenau, Regenhütte, Lambachhütte
und die Schlierseerhütte hervor, letztere besonders mit ihren
Erzeugnissen von Antik- und Kathedralglas. Auch die Glas-
perlenhütten Oberfrankens sind weithin bekannt.
In der Oberpfalz ist der Hauptsitz der Spiegelglasschleifereien;
von 338 Betrieben im Deutschen Reiche weist dieselbe allein 227
auf. Von Bayern ging auch die Wiedererneuerung der Glas-
malerei in Bezug auf Schönheit und Dauerhaftigkeit der Farben
und stilvolle Zeichnung aus. München und Nürnberg sind
Hauptsitze der Glasmalerei.
256
131. Die Salze.
131. Pie Satze.
Die Salze sind in Wasser lösliche Mineralien, welche beim Ver-
dunsten des Wassers in regelmäßigen Formen oder Kristallen sich aus
demselben wieder absetzen. Zu den Salzen rechnen wir den Salpeter.
Er hat einen kühlenden Geschmack und verursacht, wenn man ihn auf
glühende Kohlen wirft, ein heftiges Verbrennen derselben. Man ge-
braucht daher Salpeter zu Salpeterschwamm, beim Feuerwerk, haupt-
sächlich aber zum Schießpulver, welches ein inniges Gemisch aus Schwefel,
Kohle und Salpeter ist. Aus dem Salpeter gewinnt man auch die
Salpetersäure oder das Scheidewasser, das besonders von Metall-
arbeitern gebraucht wird. Der Salpeter wittert an manchen Stellen
aus der Erde. Bei weitem der meiste wird jedoch künstlich dargestellt.
Der Alaun kristallisiert leicht in großen Kristallen, die einen süß-
lichen, zusammenziehenden Geschmack haben. Er wird hauptsächlich in
der Färberei und Kattundruckerei gebraucht, ferner beim Weißgerben,
zum Planieren des Papiers, damit es nicht lösche; auch in der Medizin
findet der Alaun Verwendung.
Minder häufig kommen Glaubersalz, Borax und Salmiak zur An-
wendung. Das Glaubersalz wird bei der Glassabrikation zuweilen
statt der Soda, sehr viel aber in der Medizin benutzt. Den Borax
gebraucht man bei der Herstellung feiner Gläser und beim Schmelzen
edler Metalle; der Salmiak wird in der Färberei und beim Löten ver-
schiedener Metalle verwendet.
Das Kochsalz ist unter allen Salzen das wichtigste und am meisten
verbreitete. Man findet es teils in festen Massen in der Erde und
nennt es dann Steinsalz, teils aufgelöst in Quellen, welche Salzsolen
heißen, teils im Meerwasser. Ist das Steinsalz klar und rein, was oft
der Fall ist, so kann es sogleich in den Handel gebracht werden; ent-
hält es aber erdige Beimengungen, so löst man es in Wasser auf, läßt
die erdigen Teile sich absetzen und dampft aus der unreinen Auflösung
das Wasser ab, woraus das Salz zurückbleibt. Auch aus den Salz-
solen entfernt man das Wasser durch Verdampfen; enthält die Sole
aber viel Wasser, so würde es zu viel Brennmaterial kosten um alles
Wasser durch Hitze zu verflüchtigen. Deshalb gradiert man die Sole,
d. h. man pumpt sie auf ein aus Balken aufgeführtes Haus, Gradier-
haus, dessen Wände mit Reisern von Weißdorn u. s. w. ausgelegt sind,
und läßt sie auf diese herabtröpfeln. Bei der großen Ausbreitung,
welche sie auf den Reisern erhält, verdunstet ein großer Teil des Wassers
und die salzreiche Sole sammelt sich in Behältern unter dem Gradier-
131. Die Salze.
257
Hause und wird nun in großen Pfannen über dem Feuer so weit ein-
gedampft, bis das Salz ausscheidet. Doch verschwindet diese Art der
Salzgewinnung immer mehr. Das See- oder Meersalz gewinnt man
hauptsächlich an den Küsten der wärmeren Länder während des Sommers.
Man leitet das Seewasser in sehr geräumige, flache Gruben am Strande,
läßt das Wasser an der Sonne verdunsten und harkt das auskristalli-
sierte Salz aus den Behältern heraus (Salzgärten).
Das Salz ist eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Wenn wir
unsere Speisen mit Salz würzen, genügen wir nicht etwa bloß dem
leckeren Gaumen, sondern wir erfüllen eine dringende Forderung der
ganzen Ernährungsweise. Unser Blut enthält Salz, zum Aufbau unserer
Knochen ist es erforderlich; um den Stoffwechsel, die Verdauung, möglich
zu machen muß es dem Magensafte beigemengt sein. Wir empfinden
deshalb einen Hunger nach Salz, wenn dasselbe nicht mehr in genügen-
der Menge im Körper enthalten ist, und es gewährt uns einen köstlichen
Reiz dieses Bedürfnis befriedigen zu können. Darum sagt ein wahres
Sprichwort: „Salz und Brot macht Wangen rot." Ohne Salz würden
wir nicht nur welken, der Mensch würde verhungern, wenn er gar kein
Salz im Fleisch, im Wasser, in den Früchten, in seinen Getränken
genösse. Auch das Wild unserer Wälder läuft gierig nach der Salzlecke;
dem Kamel der Wüste ist ein Stückchen Steinsalz die liebste Leckerei.
Wer kennt nicht die vielfache Verwendung des Salzes zum Auf-
bewahren von Fleisch und Gemüse, zum Einpökeln, zum Düngen, ganz
besonders aber zur Herstellung der Soda, auf welcher die Fabrikation
des Glases und der Seife mit all ihren unentbehrlichen Produkten be-
ruht? Auch stellt man eine nützliche Säure, die Salzsäure, daraus
her; diese gibt, mit Salpetersäure vermischt, das Königswasser, dessen
man sich zur Auflösung des Goldes bedient.
Ist das Kochsalz für Menschen und die höheren Tiere ein wichtiges
Nahrungsmittel, so wirkt es auf eine große Anzahl von niederen Tieren
sowie auf viele Pflanzen als ein rasch tötendes und zerstörendes Gift.
Eine Landschnecke, mit Salz bestreut, stirbt bald; ein Frosch geht im
Salzwasser alsbald zu Grunde; ein Baum, damit begossen, verdorrt
binnen wenigen Tagen; die Blätter vieler Kräuter schrumpfen zusammen
und Gras und alle Getreidearten gehen davon ein. Dagegen gibt es
auch eine große Anzahl von Pflanzen und Tieren, welche ausschließlich
im Salzwasser leben und gedeihen und denen das Süßwasser den Tod
bringt.
Die Salzquellen galten bei vielen Volksstämmen wegen ihrer her-
vorragenden Bedeutung für die Lebensentwicklung in früherer Zeit als
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 17
258
132. Das Eisen.
heilig; daher fanden auch häufig Kämpfe um dieselben statt. Das Salz
war auch einer der ältesten Handelsartikel. So führten von Bad Reichen-
hall nach verschiedenen Richtungen zahlreiche Straßen, die fast nur mit
Salzwagen befahren wurden. Die von denselben erhobenen Zölle bil-
deten eine reiche Einnahmequelle für Fürsten und Städte. Ihr haben
manche Orte, z. B. München, ihre Entstehung zu verdanken.
Nach Stötzner und Palm.
132. Jas Gisen.
Ohne Eisen könnten wir keinen Augenblick leben; denn das Eisen
rollt in unserem Blut und gibt ihm die rote Farbe; das Eisen fertigt
die Wiege des Säuglings und den Sarg des Toten; das Eisen baut
uns die Häuser, wärmt uns die Zimmer, schließt uns die Türen; das
Eisen pflügt unsere Äcker, mäht unsere Wiesen und Felder und hilft
das erworbene Gut uns schützen, wenn die Feinde den Herd und die
Freiheit bedrohen. Mit dem Eisen stärken wir den Huf unserer Pferde
und zügeln ihren wilden Mut; aus Eisen bereiten wir dem Dampf-
wagen eine Straße; durch Eisen erzeugen wir jenen elektrisch-magnetischen
Strom, der mit der Schnelligkeit des Blitzes auf dünnem Draht unsere
Gedanken fortträgt, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. In unserer
Zeit baut man Schiffe aus Eisen und errichtet eiserne Häuser und Kirchen.
Und selbst die feinsten Schmucksachen werden jetzt aus Eisen gegossen.
Das Eisen ist das allerunscheinbarste Metall und doch gewinnen wir
erst durch seine Hilfe die übrigen Metalle und können mit ihm alle
Metalle ersetzen; das Eisen ist wie das Getreide zur Notdurft und
Nahrung des Leibes und Lebens erschaffen; es ist uns nötig wie das
tägliche Brot.
Die gütige Vorsehung hat aber auch Sorge getragen, daß dieses
allernützlichste Metall in Hülle und Fülle auf Erden vorhanden ist, in
viel größeren Massen als jedes andere Metall. Sie hat es jedoch vor-
zugsweise den gemäßigten und kälteren Ländern gegeben. Unter dem
Äquator ist wenig davon zu finden. Die Nordamerikanische Union,
Deutschland und England, welche Staaten zugleich die größten Kohlen-
produzenten der Erde und die Hauptträger des wirtschaftlichen Lebens
der Gegenwart sind, liefern mehr als 78°/0 der Eisenmenge der Erde.
Auch Frankreich und Österreich-Ungarn sind mit Eisen gesegnet; beson-
ders eisenreich sind aber die nordischen Länder. In Schweden befinden
sich wirkliche Eisenberge, die fast nur aus Eisenerz bestehen.
Das Eisen, das nützlichste und am weitesten verbreitete Metall, hat
auch zugleich den geringsten Preis. Und doch kostet es viel größere
132. Das Eisen.
259
Mühe als bei den anderen Metallen aus dem Eisenerz das reine Metall
zu gewinnen; denn um das Eisen zu reinigen bedarf es der höchsten
Hitze, welche unsere Öfen hervorzubringen vermögen. Da dasselbe
eine große Neigung hat mit Sauerstoff, mit Schwefel, mit Kohle und
anderen Grundstoffen der Natur sich zu verbinden, sind die unge-
heueren Eisenmaffen fast überall in allerlei Steinen und Kieseln vererzt
und das reine, lautere Eisen muß durch Feuersmacht herausgeschmolzen
werden. Solches geschieht in den großen, turmhohen Öfen, die man
Hochöfen nennt. Dort wird abwechselnd eine Lage Eisenerz und eine
Lage Kohle übereinander geschüttet, dort
— Nähren früh und spät den Brand
Die Knechte mit geschäft'ger Hand;
Die Funke sprüht, die Bälge blasen,
Als gält' es Felsen zu verglasen. Schiller.
Die Kohle facht zugleich die heiße Glut an, welche das harte Metall
zum Schmelzen bringt, trennt das Eisen vom Sauerstoff und geht zum
Teil selbst eine Verbindung mit dem Metall ein. Wenn unten am Hoch-
ofen das Feuertor sich öffnet und die rötlichstrahlende Flüssigkeit mit
leuchtendem Glanze hervorbricht, sind bereits hundert Teile Eisen mit
fünf Teilen Kohle verschmolzen; und dieses Kohleneisen ist das schwarz-
graue Gußeisen, das spröde Metall, das mit dem Hammer nicht weiter
verarbeitet werden kann. Damit es nun aber auch für die Werkstätte
der Schlosser und Schmiede brauchbar werde, muß der Kohlenstoff mit
Gewalt entfernt werden. Solches geschieht, indem man die Eisenwürfel
in das Hammerwerk bringt und sie dort im Frischfeuer bis zur Weiß-
glühhitze erhitzt; daun schlagen die mächtigen Hämmer auf die erweichte
Masse, diese öffnet sich der Luft, dadurch wird die Kohle verbrannt
und kaum eine Spur des Kohlenstoffes verbleibt im Eisen. Das spröde
Metall ist auf diese Weise so zähe und dehnbar geworden, daß es sich
leicht schmieden, zu feinem Draht ausziehen und in ein dünnes Blech
auswalzen läßt. So gewinnt man das Stabeisen. Zwei Stücke des-
selben lassen sich sogar zusammenschweißen — eine Eigentümlichkeit, die
außer dem Eisen nur das Platin besitzt. Ohne daß eine Schmelzung
der beiden weißglühenden Teile erfolgt, werden sie durch bloßes Häm-
mern so vereinigt, daß sie fortan nur eine Masse bilden.
Noch merkwürdiger ist die Stahlbereitung. Nimmt man dem Guß-
eisen einen Teil seiner Kohle oder setzt man dem reinen Eisen ein bis
zwei Prozent Kohle zu, so entsteht wieder ein ganz anderes Eisen, das
sich von den beiden genannten Arten wesentlich unterscheidet: es läßt
sich härten, elastischer, dehnbarer machen und heißt nun Stahl. Dieser
17*
260
133. Der Bessemerstahl.
ist weißer als gewöhnliches Eisen, läßt sich trefflich polieren und wird
dann durch verschiedene Grade des Erhitzens zuerst blaßgelb, dann
dunkelgelb, orange, rot, dunkelrot, violett, blau und endlich blauschwarz.
Man kann diese Farbenreihe schon deutlich wahrnehmen, wenn man eine
Stricknadel in die Spitze einer Kerzenflamme hält und zum Glühen
bringt; an der heißesten Stelle wird der Stahl schwarz aussehen und
weiter und weiter in allen jenen Farbentöuen erscheinen. An sich ist
der Stahl weich und so schmiedbar wie das Stabeisen; läßt man ihn
aber glühen und kühlt ihn dann plötzlich im Wasser ab, so ist seine
ganze Natur verändert und umgewandelt; denn er ist jetzt im höchsten
Grade spröde, unschmiedbar und härter als jeder andere Körper, den
Diamanten ausgenommen. Ans diesem gehärteten Stahl werden Feilen
und Nadeln gemacht. Erhitzt man nun den gehärteten Stahl abermals
und läßt ihn langsam erkalten, so wird er wieder so weich und zähe
wie roher Stahl. Diese Umwandlung sindet um so vollkommener statt,
je stärker man den harten Stahl erhitzt; durch geeignete Hitzgrade lassen
sich Mittelstufen darstellen, auf denen der Stahl neben großer Härte
zugleich Geschmeidigkeit erhält. Feinste Messer läßt man nur blaßgelb
anlaufen, Rasier- und Federmesser goldgelb, Scheren, Äxte, Meißel und
gewöhnliche Messer braun bis purpurrot, Klingen, Uhrfedern und Bohrer
hellblau und endlich Sägeblätter dunkelblau.
Das Eisen ist in allen Verhältnissen des Lebens ein bequemes Werk-
zeug; es ist einerseits viel leichter als Gold, auch leichter als Silber,
Kupfer und Blei, anderseits wieder das härteste Metall, mit dem sich andere
Metalle und Steine bearbeiten lassen. An Zähigkeit und Dehnbarkeit wett-
eifert es mit dem Gold, und wie elastisch es ist, kann man schon an einer
Stahlfeder, einer Degenklinge oder einer Uhrfeder sehen. Den harten
elastischen Stahl kann weder Gold noch Silber noch Kupfer ersetzen.
Ungleich dem edlen Gold und Silber rostet aber das Eisen sehr gern.
Nach Grube.
133. Der Bessemerstahl.
Eine der wichtigsten Erfindungen der Neuzeit, die unser ganzes
Verkehrs- und Handelsleben beeinflußt hat, ist die Bereitung des Bessemer-
stahles. Noch vor 50 Jahren war Stahl ein seltener und teurer Handels-
artikel, seine Verwendung infolgedessen eine beschränkte. Dem Engländer
Henry B esse me r gelang es Stahl in billiger Weise und in großen
Massen herzustellen.
Das nach ihm benannte Bessemerverfahren beruht auf der Ent-
kohlung des flüssigen Roheisens mittels durch dasselbe hiudurchgepreßter
133. Der Bessemerstahl.
261
Luft. Es wird hierzu geschmolzenes, übergares Roheisen in ein birn-
förmiges Gefäß (Bessemerbirne) gebracht und atmosphärische Luft unter
hohem Druck durch dasselbe getrieben. Dadurch findet eine kräftige Ein-
wirkung der letzteren auf das Eisenbad und mithin ein schnelles Frischen
statt. Die im Roheisen befindlichen fiemden Bestandteile, besonders
Silizium (aus der Kieselerde der Erze) und Kohlenstoff, werden hierbei
als Brennstoff benutzt und erzeugen die zur Fliissighaltung des Eisens
nötige Wärme. Die Birne ist aus Eisenblech hergestellt und mit feuer-
fester Masse ausgefüttert. Als solche werden die verschiedensten Mate-
rialien angewendet, die sich jedoch alle darin gleichen, daß sie im wesent-
lichen aus Kieselsäure bestehen, welcher nur geringe Mengen Ton bei-
gemengt find. Die Windzuführung erfolgt stets durch eine der hohlen Achsen.
Die Regelung des Windstromes ist meist eine selbsttätige. Zur Erzeugung
des Windstromes dient eine Gebläsemaschine von 200—250 Pferdekrüften.
Ein dem Bessemerverfahren anhaftender großer Übelstand war
ftüher der, daß der Phosphorgehalt der Erze nicht genügend entfernt
werden konnte. Ein Phosphorgehalt aber im Stahl macht denselben
kaltbrüchig und schon 0,18 °/0 genügen den Stahl für Schienen, ge-
schweige für andere Zwecke, unbrauchbar zu machen. Man war des-
halb genötigt für das Bessemerverfahren nur reine Roheisensorten
auszuwählen, beziehungsweise phosphorfreie Erze für den Hochofen
zu beschaffen. Bei dem Mangel an genügenden Mengen phosphorfreier
Erze wurde die Ausdehnung des Verfahrens sehr gehindert. Erst durch
das Entphosphorungsverfahren der Engländer Thomas und Gilchrist ist
es möglich geworden, auch sehr phosphorhaltiges Eisen in den Bessemer-
birnen zu verarbeiten. In Deutschland wurde diese Herstellungsweise
des Stahles zuerst von dem Hörder Bergwerks- und Hüttenverein in
Hörde (Westfalen) eingeführt; gegenwärtig ist dieselbe in fast allen größeren
deutschen Hüttenwerken angenommen. Unter den bayerischen Eisenwerken,
welche sich dieses Verfahren angeeignet haben, ragt besonders die Maxi-
milianshütte in Rosenberg (Oberpfalz) hervor.
Durch die Erfindung des Bessemerprozesses ist der Stahl ein Ge-
meingut des Kulturlebens geworden. Zuvor beschränkte sich die Ver-
wendung des Stahles infolge seines hohen Preises auf feine Werkzeuge;
jetzt ist feine Bereitung eine so massenhafte, daß beispielsweise Stahl-
schienen heute billiger sind als vor 30 Jahren schlechte, kaltbrüchige und
weiche Eisenschienen. Zugleich ist die Leistungsfähigkeit der Werke aufs
Zehnfache angewachsen; während anderseits die früheren Eisenschienen
nur etwa 5 Jahre brauchbar waren, dauert die Stahlschiene mindestens
50 Jahre, in günstigen Terrainverhältuissen wohl noch weit länger.
Nach Schürmann.
262
134. Die Metallindustrie.
134. |>te Metallindustrie.
(Guß und Legierung.)
a)' Die Metalle unterscheiden sich von den Nichtmetallen oder Metallo-
iden hauptsächlich durch ihre Undurchsichtigkeit, ihren eigeiltümlichen Glanz,
den Metallglanz, der ans den Kristallflächen und im Polierten Zustand wahr-
zunehmen ist, und durch ihr hohes spezifisches Gewicht; außerdem besitzen
sie in höherem Grade das Vermögen Wärme und Elektrizität zu leiten und
sind zum Teil geschmeidig.
Fast alle Metalle nehmen die Politur an; doch ist diese nur bei
den edlen Metallen, beim Nickel und unter Umständen beim Stahl an der
Luft beständig. Nur Eisen, Platin und Palladium, in gewisser Beziehung
auch Blei und Kalium, besitzen die Schweißbarkeit, d. h. die Eigenschaft
sich in Weißglühhitze so zu erweichen, daß man getrennte Teile unmittelbar
miteinander vereinigen kann. Was das magnetische Verhalten der Metalle
betrifft, so sind besonders Eisen, Nickel und Kobalt geeignet Magnetismus
anzunehmen; durch den elektrischen Strom werden dieselben in zeitweise
Magnete verwandelt.
In dem Gießen der Metalle besitzt die Technik und das Kunstgewerbe
ein wichtiges, vielfach anwendbares Mittel um den Metallen die für irgend
einen Zweck erforderliche Gestalt zu geben. Zur Herstellung von Gußwaren
eignen sich alle diejenigen Metalle, welche bei nicht zu hoher Temperatur
dünnstüssig werden und nach dem Erstarren die Form vollständig ausfüllen,
ohne dabei porös und blasig zu werden. Diesen Bedingungen entsprechen
vor allem Gußeisen, Gußstahl, Bronze, Messing, Tombak, Zink, Zinn und
Blei. Gold und Silber finden ihrer Kostbarkeit wegen zu Gußwaren nur
selten Verwendung.
Die Erzeugnisse des Metallgusses sind sehr verschiedener Art; denn durch
denselben werden sowohl die einfachsten technischen Artikel und Gebrauchs-
gegenstände als die herrlichsten Kunstgegenstände hergestellt. Man unter-
scheidet Eisen-, Glocken-, Kanonen-, Maschinen-, Lettern-, Kunstguß u. s. w.
Die Gelbgießerei, wie das Gießen des Messings, und die Rotgießerei, wie
das des Tombaks und ähnlicher kupserhaltiger Legierungen, sind in ihrem
Betriebe der Eisengießerei ganz ähnlich, nur wird das Metall nicht in Kupol-
öfen, sondern meist in Tiegelöfen geschmolzen.
Die Eisengießerei scheint im 13. Jahrhundert in Franken in Gebrauch
gekommen zu sein, nachdem man schon lange vorher treffliche Geräte aus
Schmiedeisen hergestellt hatte. In neuerer Zeit hat die Eisengießerei einen
erstaunlichen Aufschwung genommen. Von den gewaltigen Säulen und Kesseln,
den ungeheuren Stahlblöcken und Geschützrohren bis zu den Ofen und Brat-
röhren, den Fensterrahmen und Türdrückern, den zierlichsten, eine hohe
künstlerische Ausbildung der Form bekundenden Nippsachen werden für alle
Gebiete des Lebens Gegenstände aus Gußeisen verfertigt. Daneben bringt
die Schmiedekunst vorzügliche Kunstwerke aus Schmiedeisen hervor. Die
134. Die Metallindustrie.
263
eigentliche Bronze- oder Erzgießerei befaßt sich hauptsächlich mit der Erzeu-
gung von Kunstgegenständen. Alle größeren Bronzegüsse werden als Hohl-
oder Kernguß ausgeführt. Die innere Gestalt des zu gießenden Gegenstandes
wird durch den Kern, die äußere Gestalt des Gußstückes durch den dasselbe
umschließenden Mantel hergestellt, während die Metallschicht den Raum
zwischen Kern und Mantel ausfüllt. Die bedeutendsten Erzgießereien für
Statuen, Büsten, Monumente u. s. w. sind die königlichen Erzgießereien in
Miinchen und Berlin.
In neuerer Zeit hat der Zinkguß erhöhte Bedeutung erlangt. Der-
selbe gibt die feinsten Vertiefungen und Erhabenheiten der Form mit gleicher
Schärfe wie der Eisenguß, zeigt aber eine ganz glatte Oberfläche; daher wird
er vielfach zu Ornament- und Kunstguß verwendet. In Zinkguß werden
viele Gebrauchsgegenstände hergestellt, wie Lampenfüße, Uhrgehäuse, Schreib-
zeuge, Schilder, dann auch wie aus Bronze Statuen, Büsten, Kronleuchter
und architektonische Verzierungen. Doch preßt man letztere in neuerer Zeit
auch aus Zinkblech. In der Messing gieße re i fällt das Schmelzen mit
der Legierung zusammen; hier kommt fast ausschließlich der Tiegelguß zur
Anwendung. In Messing werden zahlreiche kleinere Gebrauchsartikel, wie
Fingerhüte, Türklinken, Hähne, Maschinenteile, gegossen; größere oder zu-
sammengesetzte Gegenstände werden aus mehreren Teilen hergestellt, die dann
durch Löten vereinigt werden.
Das Zinn wird selten ohne Zusatz gegossen, weil es für sich die Formen
nicht ausfüllt und durch seine große Weichheit für den Gebrauch sich wenig
eignet. Daher werden in den Zinngießereien hauptsächlich die Legierungen
des Zinns mit Blei und Antimon (Britanniametall) in der mannigfaltigsten
Weise verarbeitet, namentlich zu allerlei Küchengeschirr, zu Kinderspielzeugen,
Lichtformen und zu verschiedenen Kirchengeräten. Mit Zinn werden eiserne,
kupferne, messingene, bronzene und andere Gegenstände überzogen um sie zu
verschönern oder gegen Rost und Angriff durch Säuren zu schützen. Einer
der gebräuchlichsten verzinnten Artikel ist das Weißblech. Das zu dünnen
Blättern ausgeschlagene Zinn heißt Zinnfolie oder Stanniol.
Auch Nickel, das sehr dehnbar und politurfähig ist, das sich walzen
und schneiden, aber nur schwer schmelzen läßt, wird rein tvenig gebraucht.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts beschränkte sich die Verwendung des
Nickels fast ausschließlich auf die Darstellung des Neusilbers oder Argentans,
das ans einer Legierung mit Kupfer und Zinn besteht. Die in dem Handel
als Chinasilber, Christoflemetall und Alsenide bekannte Masse ist galvanisch
versilbertes Neusilber. In neuerer Zeit bedient man sich in mehreren Staaten
des Nickels zur Herstellung von Münzen. Die Nickelmiinzen, welche in
Deutschland aus 25 Teilen Nickel und 75 Teilen Kupfer bestehen, zeichnen
sich durch Härte und Dauerhaftigkeit aus. Eine weitere neue Verwendung
des Nickels ist die Vernickelung des Eisens und Stahls auf galvanischem
Wege. Dadurch werden Eisenteile vor Rost geschützt und verschönert. Die
264
134. Die Metallindustrie.
galvanische Vernickelung findet bei Feuerwaffen, bei allen dem Anlaufen
unterworfenen Maschinenteilen, insbesondere an Feuerspritzen und Pumpen,
bei dem Wagenbau, den Türbeschlägen, Werkzeugen, chirurgischen Instrumenten,
Korkziehern und vielen anderen Metallgeräten ausgedehnte Anwendung.
In der Metallindustrie nimmt neben England und Belgien Deutschland
den hervorragendsten Rang in der ganzen Welt ein.
6) Die in den Gewerken verwendeten einfachen Metalle können selten
den Ansprüchen genügen, die der Arbeiter an dieselben stellt. So ist das
Kupfer für sich allein zur Gießerei unbrauchbar, weil es einen löcherigen
Guß liefert; das gegossene Zink ist spröde und leicht zerbrechlich. Die feurig-
gelbe Farbe des Goldes, die schöne, weiße Farbe des Silbers und die Eigen-
schaft beider Metalle nicht zu oxydieren machen sie zu dem gesuchtesten Material
für Schmuck- und Luxusgegenstände; wegen ihres hohen Preises und ihrer
Weichheit werden sie aber fast nie rein verwendet.
Daher hat man schon in frühester Zeit Mischungen aus verschiedenen
Metallen hergestellt; dabei wählte man die Zusammensetzungen so, daß eine
bestimmte Beschaffenheit in Bezug auf Härte, Festigkeit, Polierfähigkeit, Halt-
barkeit, Farbe u. s. w. diese Mischungen auszeichnete. Diejenigen Mischungen,
welche durch Zusammenschmelzen zweier oder mehrerer Metalle nach bestimmten
Verhältnissen entstehen, nennt man Legierungen und, wenn Quecksilber mit
angewendet wird, Amalgame. Die Legierungen bilden für die Gewerke ein
ebenso wichtiges Material wie die Metalle selbst. Die wichtigsten Legierungen,
die in dem Metallgewerbe, der Maschinenindustrie und dem Münzwesen
vielfache Verwendungen finden, sind Glocken- und Geschützmetall, Statuen-,
Maschinen- und Phosphorbronze, Messing, Tombak, deutsches Scheidemünz-
metall für Kupfer- und Nickelmiinzen, Neusilber, Aluminiumbronze, Silber-
und Goldlegierungen, welche zur Herstellung von Gold- und Silbermünzen
sowie zu Gold- und Silberarbeiten dienen.
c) Bei der Legierung des Silbers handelt es sich fast immer um eine
Erhöhung seiner Härte und Widerstandsfähigkeit gegen Abnutzung; man
verwendet dazu fast ausschließlich Kupfer; den Feingehalt drückt man nach
Tausendsteln aus. Der zur Verarbeitung erforderliche Feingehalt ist gesetzlich
geregelt und beträgt in Deutschland 7so von 1000; in England und Frank-
reich ist derselbe höher, wodurch die Ausfuhr von deutschen Silberwaren in
das Ausland leidet.
Gold wird im wesentlichen mit Silber und Kupfer legiert; über den
Gehalt eines Metalles an reinem Golde, den Feingehalt, bestehen in ver-
schiedenen Staaten gesetzliche Bestimmungen; der Goldgehalt wird nach
Karat, gleich dem 24. Teil einer Mark Feingold, ausgedrückt. So hat das
zu Schmnckgegenständen häufig verwendete sogenannte Dukatengold gewöhnlich
23 72 Karat Feingold, das am meisten in Deutschland verarbeitete 18, auch
16 und selbst 14 Karat. Eine neuere Bezeichnung drückt den Feingehalt wie
beim Silber in Tausendsteln aus; so müssen die deutschen Goldmünzen aus
134. Die Metallindustrie.
265
900/iooo Feingold haltendem Material geprägt werden. Bei den meisten Gold-
waren ist der Feingehalt durch einen Stempel bezeichnet. Auch zum Löten
von Edelmetallen wendet man Legierungen an, und zwar für Silber solche
aus Silber, Kupfer und Zink; für Gold aus Gold, Silber und Kupfer.
Das Löten ist eigentlich nur ein Zusammenkleben zweier Metallteile vermittelst
eines anderen Metalles, welches bei niedrigerer Temperatur als die beiden
anderen zu verbindenden in Fluß gerät; um das Oxydieren im Feuer zu
verhüten wird bei Goldschmiedarbeiten meistens gepulverter Borax gebraucht;
doch wird bei Edelmetallen das Löten selten angewendet, da das Feuer stets
die Farbe der Metalloberfläche verändert; gewöhnlich werden die einzelnen
Teile eines Ganzen durch Nieten, seltener durch Falzen verbunden. — Das
Silber ist löslich in Salpetersäure und kochender, konzentrierter Schwefelsäure.
Durch Bromkalium und Jodkalinm entstehen in einer Auflösung von Silber-
nitrat Niederschläge, die sich im Lichte verändern. Von dieser Eigenschaft
wird in der Photographie ein ausgedehnter Gebrauch gemacht.
Das Gold verbindet sich mit Quecksilber zu einer butterweichen Masse,
Amalgam; diese wird mit Bürsten auf die vorher blank gebeizte Fläche eines
Metallkörpers aufgetragen, worauf unter Anwendung von Feuer das Queck-
silber verdampft wird. Auf diese Weise werden Gegenstände in Feuer ver-
goldet. Beim Versilbern wird ein ähnliches Verfahren unter Anwendung
von Silberamalgam befolgt. Die Vergoldung und Versilberung kann aber
auch durch unmittelbare Aufpressung eines dünnen Blattes des Überzuges
auf kaltem oder warmem Wege geschehen. In neuerer Zeit jedoch verdrängt
die Vergoldung und Versilberung auf galvanischem Wege die anderen Ver-
fahrungsweisen immer mehr. Das galvanoplastische Verfahren wird auch
beim Gießen der Edelmetalle angewendet neben dem Schmelzen durch Feuer.
Außer der ursprünglichen Bearbeitungsweise der Metalle, dem Schmelzen
und Gießen, ist für die künstlerische Arbeit aus Gold und Silber das
Treiben sehr wichtig. Dabei wird das Material in Blechform, die man
aus dem Barren durch Hämmern oder Walzen herstellt, verwendet; das Treiben
beruht auf der Eigenschaft der Dehnbarkeit, welche dem Golde oder Silber
in hohem Grade zukommt. Ursprünglich wurde ein Holzkern mit der ge-
wünschten Form im Relief geschnitten und auf diesem das dünne Metall
aufgehämmert. Jetzt wird das Blech vermittelst ganz stumpfer Stahlmeißel
im Umlauf auf der Drehbank gegen den aus hartem Holz gedrehten Kern
angedrückt und nimmt so allmählich die Form dieses Kerns an. Auch durch
Hämmern wird dem Goldblech oft die gewünschte Form gegeben. Vielfach
walzt man dasselbe auf silbernem Untergrund auf. Die künstlerische Ver-
zierung von Metallwerk geschieht durch das Ziselieren. Das Wesen dieser
Arbeit besteht darin, daß der Schlag des Hammers vermittelst kleiner, mehr
oder weniger stumpfer Stahlmeißel, der Punzen, auf eine bestimmte Stelle
der Metallfläche Vertiefungen macht.
Ein Herausmeißeln von Formen aus einem festen Metallstück kommt in
der Goldschmiedeknnst bei kleineren Gegenständen wohl hier und da vor, wird
266
135. Silber aus Ton (Aluminium).
aber im allgemeinen selten geübt. Die Prägung und Pressung beruhen
darauf, daß die Form in vertiefter Weise in eine Matrize von härterem
Material, meist Stahl, gegraben wird; diese teilt dann infolge eines starken
Druckes (Pressung) oder Schlages (Prägung) ihre Form dem weicheren Edel-
metalle mit. Die Pressung wird für Bleche, die Prägung für feste Metall-
körper, namentlich für Münzen, angewendet.
Jede Verarbeitung der Edelmetalle zu künstlerischen Zwecken ist die Auf-
gabe der Goldschmiedekunst; doch umfaßt diese auch das Ausschmücken dieser
Metalle durch Edelsteine, durch Emaillieren und Niellieren. Emaillieren
nennen wir das Verfahren, durch welches Metallgegenstände mit leicht schmelz-
baren, durchsichtigen oder undurchsichtigen, meist farbigen Glasmassen bedeckt
werden; dies geschieht um sie vor der zerstörenden Einwirkung durch Flüssig-
keiten oder Dämpfe zu schützen oder um ihre Oberfläche zu verschönern. Niello
nennen wir einen schwarzen Schmelz, der vielfach aus einer Mischung von
Silber, Kupfer, Blei, Schwefel und Borax besteht.
Die Goldschmiedekunst wurde im Mittelalter besonders in Italien und
in Deutschland, namentlich in Augsburg und Nürnberg, gepflegt. Bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts gab Paris in dieser Kunst den Ton an. Doch
hat am Niederrhein, so in Cöln, Aachen und Trier, die kirchliche Gold-
schmiedekunst sich wieder den mittelalterlichen Vorbildern zugewendet und
München, Wien und Brüssel sind ihr gefolgt. Auch in weltlichen Schmuck-
gegenständen ist man in München, Nürnberg und Wien mit Glück auf die
Formen der deutschen Renaissance zurückgegangen. München gilt jetzt als
ein Hauptplatz der Goldschmiedekunst. Im deutschen Westen, in Stuttgart,
Pforzheim, Gmünd, Frankfurt a. M., entwickelt sich eine bedeutende Bijouterie-
Fabrikation.
135. Sitber aus Aon (Akuminium).
Auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1855 stand mitten unter
den Prachtstücken der Porzellanfabrikate von Sevres ein schmuckes Glas-
kästchen. Es barg einige kleine Barren eines silberweißen Metalls, welche
gleich kostbaren Edelsteinen aus schwarzem Samt gebettet lagen. Wie mag
sich dieses Metall hierher verirrt haben? Die Antwort aus diese Frage gab
die merkwürdige Überschrift: „Das Silber aus Ton." Die silberweißen
Metallbarren waren nämlich Aluminium, das aus dem Ton, dem Grund-
stoffe all unserer Töpfer- und Porzellanwaren, gewonnen werden kann.
Heute ist aus der kostbaren Seltenheit von damals ein alltägliches Metall
geworden. Früher für Geld kaum zu haben, ist es jetzt, wenn es auf
gleiche Menge der Metalle ankommt, billiger geworden als Nickel, Zinn
und Kupfer. Überall in großen und kleinen Städten, fast in allen Straßen
sieht man Aluminium. Dasselbe ist ein jedermann bekanntes Metall
geworden.
Bei der ersten Darstellung des Aluminiums im Jahre 1828 durch den
Chemiker Wähler in Göttingen gewann man dasselbe in so geringer Menge,
135. Silber aus Ton (Aluminium).
267
daß der Preis für 1 kg überhaupt nicht festgestellt werden konnte; 1834
kostete das Kilogramm noch 2400, heute aber nur noch 1,80 Mark. Diese
außerordentliche Verbilligung trat ein infolge der Darstellung des Metalls
durch den elektrischen Strom. Für diese Darstellung sind eine kräftige
Dynamomaschine und ein für diesen Zweck gebauter Ofen die nötigen Dinge.
Zu Neuhausen am Rheinsall wird die Aluminiumgewinnung auf diese Weise
in großartigem Maßstabe betrieben. Die Kraft, welche die Dynamomaschinen
in Umlauf setzen muß, wird durch Turbinen dem Rhein entnommen. Die
Maschinen entwickeln mächtige elektrische Ströme und diese sind fähig eine
große Wärme und gewaltige chemische Kräfte zu erzeugen. Die Schmelzöfen
sind oben offene Eisengefäße, welche an den Seiten mit Kohlenplatten aus-
gefüttert sind. Der Strom wird durch eine Anzahl ebensolcher Kohlenplatten
zugeführt, die an einer Kette in den Ofen hineinhängen. Der Ofen wird
mit Tonerde angefüllt. Die Hitze, welche der Ton entwickelt, schmilzt den
Inhalt des Ofens zu einer feurigslüssigen Masse. Die Tonerde wird in ihre
Bestandteile zerlegt, deren einer, das Aluminium, sich auf dem Boden an-
sammelt und von hier aus abgelassen werden kann. Die zerlegte Tonerde
wird von oben beständig durch neue ersetzt.
Diese Art der Aluminiumgewinnung wurde von Hall und Heroult
erfunden und nach derselben arbeitet heute bereits eine große Anzahl von
Fabriken in verschiedenen Ländern, so daß die Masse des täglich erzeugten
Metalls sich schon nach Tausenden von Kilogrammen beziffert.
Die mannigfache Anwendung des Aluminiums beruht auf seinen vor-
züglichen Eigenschaften. Es hat eine bläulichweiße Farbe und einen starken
Glanz, der sich an der Luft, selbst in der Glühhitze, unverändert erhält. Es
zeichnet sich durch seine Leichtigkeit aus; sein spezifisches Gewicht beträgt nur
2,6; es ist also dreimal so leicht als Eisen; auch läßt es sich sehr dehnen
und hämmern, so daß man es zu dünnem Draht ausziehen und zu feinen
Blättchen auswalzen kann. Es ist härter als Zinn, aber weicher als Zink
und Kupfer; es zeigt wenig Biegsamkeit und bricht mit unebener, zackiger,
feinkörniger Bruchfläche. Es schmilzt bei etwa 700° 6; geschmolzenes Alu-
minium hat das Aussehen von Quecksilber und ist ganz dünnflüssig; es füllt
die Gußformen bis in die feinsten Einzelheiten scharf aus.
Das Leitungsvermögen für Elektrizität ist etwa halb so groß wie bei
Kupfer. Gegen die Einwirkung der Luft, auch der feuchten, ist Aluminium
widerstandsfähiger als alle anderen Metalle, ausgenommen Gold und Platin.
Salpetersäure und Schwefelsäure wirken nur schwach und langsam ein. Essig-
säure äußert gar keinen Einfluß darauf, ebensowenig Schwefelwasserstoff, der
das Silber schwärzt. Die Abnutzung des Metalls in Süß- und Salzwasfer
ist verschwindend klein.
Aluminium läßt sich fast auf alle erdenklichen Arten bearbeiten, wobei
allerdings in einzelnen Fällen die Eigenheiten des Materials zum Durch-
bruch kommen. So erfordert die Behandlung desselben mit der Feile und
268
135. Silber aus Ton (Aluminium).
auf der Drehbank längere Einübung; sägen läßt es sich fast wie Holz. Die
Herstellung von Gefäßen und Hohlkörpern durch Treiben, Drücken, Stanzen,
Prägen, Ziehen, die Anfertigung von Röhren und Drähten ist leichter als
bei jedem anderen Metall. Mit Aluminium plattieren lassen sich nur Gold
und Silber; bei Eisen gelang es bisher noch nicht; auch das Löten macht
trotz vieler dafür angegebener Verfahrungsweisen noch Schwierigkeiten. Gal-
vanisch vergolden, versilbern, verkupfern u. s. w. läßt sich Aluminium mit
den gewöhnlich verwendeten Metallsalzen nicht; mit Kupfernitrat gelingt aber
die Verkupferung leicht; darauf kann Gold, Silber, Nickel u. s. w. anstandslos
niedergeschlagen werden.
Die mannigfaltigen Eigenschaften des Aluminiums gestatten und fordern
seine Anwendung in den verschiedensten Fällen. Das geringe spezifische Ge-
wicht allein macht es geeignet zu Gegenständen aller Art, wie Fingerhütcn,
Federhaltern, Schlüsseln, Uhrketten, Uhrgehäusen, Brillenfassungen, ferner 51t
Operngläsern und Fernrohren, Musikinstrumenten, den kleinsten Stücken von
Gewichtsätzen, die daraus nicht allzu unscheinbar ausfallen, zu Meßstäben,
Zirkeln, Geräten, Büchsen, Schachteln, Beschlägen und vielen anderen Dingen.
Für Luftschiffteile, überhaupt da, wo in erster Linie Leichtigkeit verlangt
wird, gibt es nichts Besseres als Aluminium.
Jufolge seiner Beständigkeit gegen Luft, Wasser und die meisten
Säuren und zugleich seiner Leichtigkeit wegen eignet es sich vorzüglich
zn Küchengeschirren; es ist selbst dann ungefährlich, wenn es mit Stoffen
in Berührung kommt, die es angreifen, da die Aluminiumoxyde nicht
giftig sind.
Fast noch wertvoller als das reine Aluminium sind seine Legierungen.
Die Zahl derselben ist groß, da es sich willig fast mit allen Metallen ver-
bindet. Es ist auffällig, wie sehr schou ganz geringe Zusätze von Aluminium
andere Metalle verbessern; die angenehmste Erscheinung dabei ist, daß alle
guten Eigenschaften des Aluminiums auf die Legierungen mit übertragen
werden, namentlich feine Beständigkeit gegen Luft und Wasser. Ein Beispiel
statt vieler Worte: 30 kg altes, gelbes Messing, das in der Hitze unter dem
Hammer zerfiel, wurde eingeschmolzen, ein einziges Kilogramm Aluminium
zugesetzt und verschiedene Gußstücke gefertigt; dieselben waren zäh und schmied-
bar wie schwedisches Eisen. Ein geringer Zusatz von Aluminium läßt die
schwierigsten Gußstücke in Kupfer herstellen und bewirkt fast überall dauer-
hafte, schöne Färbung. Allen voran steht eine Legierung mit Kupfer, die
Aluminiumbronze, ein Metall, das geschmiedet die Festigkeit des feinsten
Stahles erreicht und damit eine Dehnbarkeit verbindet, die man bisher über-
haupt nicht kannte. Die mechanischen Eigenschaften gerade dieser Bronze sind
unvergleichlich; sie ist zäh und schmiedbar wie feinstes Eisen, walzbar, nicht
rostend, wetterfest und säurebeständig. Im Torpedo- und Marinewesen wird
sie bereits viel verwendet zu Konstruktionsteilen und Schiffsschrauben, ebenso
im Maschinenbau, seit ganz kurzer Zeit auch in der Telephonie zu Leitungs-
136. Brennbare Mineralien.
269
draht. Rein-Aluminium ist vortrefflich geeignet als Ersatz für Lithographie-
steine. Aluminium ist das Metall der Zukunft.
Den Aluminiumbedarf der Alten Welt decken zumeist die großartigen
Aluminiumwerke zu Neuhausen am Rheinfall. In Amerika sind die gewal-
tigen Anlagen der Pittsburg-Reduktion-Komp., teils am Niagara teils int
kohlenreichen Pennsylvanien gelegen, die einzigen Aluminiumfabriken, aber
die bedeutendsten der Welt. Nach Hochländer.
136. Brennbare Mineralien.
Wenn wir nur Holz zur Feuerung hätten, so würden manche
Gegenden bald von den Menschen verlassen werden müssen.
Allein der weise Schöpfer hat noch für anderes Brennmaterial
gesorgt und solches unter der Erde aufbewahrt, mit dem sich
die Menschen wohl noch viele tausend Jahre wärmen können:
das sind die Steinkohlen, die Braunkohlen und der Torf. Vor-
dem kannte man dieselben wenig oder nicht, aber die Not hat
sie schätzen gelehrt. Für manche Zwecke taugt selbst das beste
Holz nicht so gut wie die Feuerung mit Steinkohlen, weil diese
eine viel größere Hitze geben als Holz. Für andere Zwecke ist
der langsam glimmende Torf und die ebenso ausdauernde Braun-
kohle vorzuziehen.
Die Steinkohlen sind aus ungeheueren Wäldern entstanden,
welche durch eine Umwälzung der Erdoberfläche verschüttet und
verkohlt sind. Sie werden gleich den Metallen durch Bergbau
zutage gefördert; glücklicherweise sind aber ihre Lager mäch-
tiger als die der Silber- und Kupfererze, sonst würde die saure
Arbeit der Bergleute nicht belohnt werden. Sachsen und
Preußen, Böhmen, Belgien und England haben reiche Kohlen-
lager. Auch in der Rheinpfalz (bei St. Ingbert) wie in Ober-
bayern (bei Miesbach und am Peißenberg) werden Steinkohlen
gewonnen.
Es gibt verschiedene Arten Steinkohlen, wie Schiefer-, Ruß-
und Kännelkohlen; die beste jedoch ist die Pechkohle, welche
pech- bis samtschwarz, sehr spröde und stark glänzend ist. Um
den flammenden Wasserstoff und den übelriechenden Schwefel
aus der Steinkohle zu entfernen, verkohlt man sie, d. h. man
verbrennt sie ohne Zutritt der Luft, wie das Holz im Meiler-
haufen zu Holzkohle verwandelt wird. So gewinnt man die
Koks (Kochkohlen), welche im kleinsten Raume den meisten
270
136. Brennbare Mineralien.
Wärmestoff bergen. Die Steinkohlen dienen nicht nur zur
Feuerung unserer Stubenöfen sondern werden auch in Schmelz-
und Glashütten, Siedereien und Brennereien, Schmieden u. s. w.
verbraucht; ferner bereitet man aus ihnen in gußeisernen, wohl
verschlossenen und stark erhitzten Retorten das Leuchtgas. Bei
der Gasbereitung gewinnt man auch den Steinkohlenteer, den
man teils zum Anstreichen benutzt, um dadurch Holz vor
Fäulnis zu sichern, teils aber durch Destillation mit Wasser
zur Gewinnung des Steinkohlenteeröles verwendet. Aus dem
Steinkohlenteer wird das Benzol, das Phenol oder die Karbolsäure
und das Naphthalin gewonnen. Das Benzol liefert die herrlichen
Anilinfarben.
Auch die Braunkohlen sind durch versunkene Wälder
entstanden, nur in jüngerer Zeit als die Steinkohlen. Es finden
sich in ihren Lagern noch ganze Stämme mit Asten und Blättern,
deren Gestalt sich deutlich erkennen läßt. Merkwürdig ist es,
daß in Gegenden, wo starke Braunkohlenlager sind, meistens
auch mineralische Wasser gefunden werden, wie in Hessen-
Nassau und Böhmen. Um sehr heftiges Feuer zu erzeugen
fehlt es den meisten Braunkohlen an Brennkraft; auch gilt ihr
Geruch noch für widerlicher als der der Steinkohlen.
Der Torf besteht aus einem dichten Filze von Wurzeln,
der mit erdigen Teilen vermischt ist. Diese Wurzeln entstehen
in Mooren mit ziemlicher Schnelligkeit und schon nach 10 bis
12 Jahren bringt eine ausgestochene Torfwiese wieder Torf
hervor. Dadurch wird die Torfgräberei an manchen Orten sehr
einträglich. Die Arbeit in den Abzugsgräben wie in den Torf-
lagern selbst ist zwar sehr beschwerlich, allein sie dauert auch
nur die wärmsten Monate des Jahres hindurch. Die ausge-
stochenen Platten müssen auf Haufen gesetzt und getrocknet
werden; die weniger feste Masse muß man sogar in Formen
drücken. Merkwürdig ist dabei, daß gewöhnlich die besten
Stücke am meisten zusammenschrumpfen, so daß also in der
Regel nicht die größten, sondern die kleinsten Torfplatten die
meiste Hitze geben.
Von den übrigen brennbaren Mineralien ist der Schwefel
am bekanntesten. Seine Farbe hat zu dem Ausdruck »schwefel-
gelb« Veranlassung gegeben. Er brennt an der Luft mit bläu-
licher Flamme, dabei entwickelt sich schweflige Säure, welche uns
am Atmen hindert und zum Husten reizt. Durch diese scharf
137. Das Leuchtgas.
271
riechende Luftart werden wollene Kleider gereinigt. Brennt es in
einem Schornsteine, so kann man durch Anzünden von Schwefel
den Brand ersticken. Daß der Schwefel auch in Bergwerken, bei
der Streichhölzchen-Fabrikation und in der Medizin Verwendung
findet, ist bekannt. Außerdem dient er zur Bereitung des Schieß-
und Sprengpulvers wie zum Schwefeln des Weins, der Körbe und
Strohgeflechte u. s. w. Er wird meistens aus der Erde gegraben,
besonders häufig in Sizilien und im Sächsischen Erzgebirg.
Außerdem sammelt man ihn auch aus manchen Quellen, in
denen er sich am Rand ansetzt; solche Wasser werden in der
Regel als Gesundheitsbrunnen gebraucht. Nach curtman.
137. Pas Leuchtgas.
Früher war turnt der Meinung, es gäbe nur eine einzige Art von
Luft und diese sei ein Element, d. h. ein einfacher Körper. Allmählich
aber hat man eine ganze Menge Luftarten kennen gelernt: leichte und
schwere, gesunde und giftige; solche, in denen ein Licht auslöscht, solche,
in denen es fortbrennt, und solche, die selber brennen. Luftarten oder
Gase der letzteren Sorte benutzt man heute zum Beleuchten der Straßen,
Werkstätten und Wohnungen.
Die brennbare Luft, das Leuchtgas, wird aus Steinkohlen her-
gestellt. Diese werden kleingeschlageu und dann in Röhren aus Ton
geglüht. Solche Röhren sind mehr als mannslang, ungefähr zwei
Spannen dick und etwas flach gedrückt. Sie liegen wagerecht zu mehreren
nebeneinander. In die Röhren wirft man Steinkohlen und verschließt sie
durch einen ausgeschraubten Deckel, der keine Luft von außen hineinläßt.
Dann macht man Feuer darunter, so daß die Röhren samt den Kohlen
darinnen glühend werden. Es entwickeln sich vielerlei verschiedene Luft-
arten aus ihnen, vorzugsweise das Leuchtgas. Dieses strömt durch
dünne Röhren in Gefäße, in denen es gereinigt wird. Die übrigen bei-
gemischten Luftarten werden davon getrennt und durch Kalkmilch, Salz-
lösungen u. dgl. zurückgehalten. Der Steinkohlenteer, der ebenfalls mit
entsteht, muß auch entfernt werden. Das gereinigte Leuchtgas leitet
man nachher in den Gasometer. Dies ist ein großes Gefäß aus Eisen-
blech; es ähnelt einem haushohen, umgestülpten Fasse, das die Öffnung
unten und den Boden oben hat. Es ist anfänglich mit Wasser gefüllt
und bleibt mit seinem Rand auch stets im Wasser stehen, so daß kein
Gas aus ihm entweichen kann. Sowie die brennbare Luft in den Gaso-
meter einströmt, hebt er sich höher im Wasser. Der Gasometer dient
nur zum Ansammeln des Leuchtgases; er ist das Vorratsmagazin für
272
137. Das Leuchtgas.
dasselbe. Von ihm aus führen große eiserne Röhren in kleinere und
immer dünnere, gleich einem Adernetz. Zuletzt leiten ganz dünne Röhren
das Gas in die Laternen an den Straßen und zu den Lampen in den
Stuben. Jede solche Röhre und Lampe kann durch einen Hahn ver-
schlossen werden. Je nachdem man den Hahn auf- oder zudreht, kann
das Leuchtgas ausströmen oder abgesperrt werden gerade so, wie man
mittels eines Hahns Bier oder Wein aus einem Fasse fließen lassen
kann. Sobald man eine Gaslampe anzünden will, öffnet man den
Hahn und hält eine Flamme an die Öffnung. Das Gas entzündet sich
dann sofort und brennt so lange, bis man den Hahn wieder zudreht.
Wenn der Hahn einer Gasleitung aufgedreht und das Gas nicht
angezündet wird, so sammelt es sich in dem Zimmer. Dann kann
großes Unglück entstehen. Wer in einem solchen Zimmer schläft, wird
betäubt und erstickt. Kommt jemand mit Feuer in einen solchen Raum,
etwa mit einem Licht oder mit einer brennenden Zigarre, so entzündet
sich das ganze Gas mit einem Male und richtet schreckliches Unheil an.
Das ausströmende Gas, welches nicht verbrennt, macht sich aber sehr
bald durch seinen starken, üblen Geruch bemerklich und warnt dadurch
die Leute, wenn sie nicht zu fahrlässig und unaufmerksam sind. Es
kommt deshalb selbst in großen Städten, in denen alle Abende viele
Tausende Gasflammen brennen, nur selten ein Unglücksfall mit dem
Leuchtgas vor, verhältnismäßig viel seltener als mit anderen Lampen.
Um eine gleichmäßige, ruhige Flamme zu erhalten sind an den
Mündungen der Rohre Brenner angebracht. Diese sind entweder von
Eisen, Porzellan oder Speckstein. Letztere führen den Namen Lava-
brenner. Die Brenner aus Porzellan und Speckstein haben vor denen
aus Eisen den Vorzug, daß sich die Gasausströmungsöffnungen nie
durch Oxydation verstopfen. Je nach der Form der Flammen unter-
scheidet man Strahl- und Flachbrenner. Bei dem Strahlbrenner strömt
das Gas aus einer oder drei senkrecht gebohrten, feinen Öffnungen aus
und bildet einen Flammenstrahl von kreisrundem Querschnitt. Diese
Flammenform ist für die Leuchtkraft des Gases die unvorteilhafteste;
denn ein großer Teil der ausgeschiedenen Kohlenteilchen wird im Innern
her Flamme aus Mangel an Sauerstoff nicht bis zum Glühen erhitzt.
Bei dem Flachbrenner bildet sich die Flamme durch einen Schnitt. Die
Flamme ist flach, mehr breit als hoch und findet bei der Straßen-
beleuchtung häusige Anwendung. Der Form der Flamme wegen nennt
man den Schnittbrenuer auch den Fledermausflügelbrenner. Vorzugs-
weise zur Zimmerbeleuchtnng wird der Argandsche Rundbrenner ver-
wendet; bei diesem wird die Flamme aus einer kreisrunden Reihe kleiner
138. Die Luftschiffahrt.
273
Strahlen gebildet, deren jeder aus einer besonderen Öffnung tritt. Beim
Dumasbrenner, dem vorigen ähnlich, kommt der Gasstrom aus einer
kreisrunden Schnittöffnung hervor.
In jedem Hause der Stadt, in welchem Gas gebrannt wird, ist
eine Vorrichtung (Gasuhr oder Gasmesser) angebracht um daran zu
messen, wieviel Gas alle Tage oder Monate verbraucht wird.
Dieselbe brennbare Luft benutzt man auch um große Luftballons
damit anzufüllen, mit welchen Personen bis in die Wolken hinauffahren
können. Zur einmaligen Füllung eines solchen Ballons ist freilich für
240 bis 300 Mark Gas nötig.
Die bei der Gasreiuiguug ausgeschiedenen Stoffe haben noch einen
großen Wert und werden sorgsam benutzt. Die wichtigsten sind der
Koks, das Gaswasser, Ammoniak enthaltend, der Steinkohlenteer, der
äußerst mannigfache Verwendung findet, z. B. bei der Fabrikation der
Dachpappe, zur Konservierung von Holz, Mauerwerk und Metallen, zur
Darstellung von Benzin, der Teer- oder Anilinfarben, der Karbolsäure,
des künstlichen Asphalts, der Gaskalk, der in der Gerberei und bei der
Bereitung von Berlinerblau gebraucht wird.
Sv vorzüglich auch das Gaslicht zu sein scheint, der nimmer ruhende
Erffndungsgeist hat doch noch eine bessere Art der Beleuchtung entdeckt —
das elektrische Licht, das an Helligkeit dem Sonnenlichte nahekommt und
deswegen zur Beleuchtung von Straßen und Plätzen, Werkstätten, Fabrik-
räumen, Verkaufshallen, Theatern, Konzertsälen u. s. w. heute immer
mehr Verwendung findet. Nach R. und G. W-gn-r.
138. Die Luftschiffahrt.
Das große Luftmeer, welches die Erde umgibt, war bis in unsere
Zeit für den menschlichen Verkehr noch so gut wie öde und leer. Nur
die Vögel gaben den Menschen ein unwiderlegliches Beispiel, daß dieser
ungeheure Ozean, der in der Höhe von 10—15 Meilen die Erde umgibt,
auch erfolgreich durchsegelt werden kann.
Die Erfindung von Flugmaschinen hat die Gelehrten schon vor
ungefähr 200 Jahren beschäftigt. Als die eigentlichen Erfinder der Luft-
schiffahrt müssen die Gebrüder Montgolfier gelten. Das Aufsteigen des
Rauches brachte sie auf den Gedanken einen Ballon durch ein darunter
angezündetes Feuer, das die Luft im Ballon erwärmte, mithin verdünnte,
zum Steigen zu bringen. Ihr erster öffentlicher Versuch fand im Jahre
1773 statt. Der Ballon stieg 1900—2200 m und ging 1% Meilen
von seinem Ausgangspunkt nieder.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 18
274
138. Die Luftschiffahrt.
Bei der Unvollkommenheit der Montgolfieren, wie man diese Ballons
nannte, wurde noch im Jahre 1783 ein Ballon mit Wasserstoffgas gefüllt.
Er stieg in 2 Minuten etwa 1000 na hoch und schwebte 3/4 Stunden in
den Lüften. Heutzutage werden die Ballons nicht mehr mit dem um-
ständlich und kostspielig darzustellenden Wasserstoffgas (dieses ist Vierzehn-
mal leichter als die Luft), sondern mit dem Leuchtgas der Gassabriken
gefüllt; dieses ist nur dreimal so leicht wie die Luft, erfordert daher
einen viel größeren Ballon. Da mit der Höhe der Luftdruck abnimmt,
so dehnt sich das Gas im Ballon um so mehr aus, je höher derselbe
steigt; man darf deshalb, um die Gefahr des Zerplatzens zu verhüten,
denselben nur etwa zur Hälfte füllen.
Den ersten Versuch einer Lenkung des Ballons machte der Franzose
Blanchard im Jahre 1784 mittels einer Art von Ruder, das aus zwei
Flügeln bestand; er erzielte aber keinen Erfolg. Am 7. Juni 1785 stieg
Blanchard auf den Klippen von Dover empor und kam in 3 Stunden
nach einer allerdings nicht ganz gefahrlosen Fahrt über den Kanal von
Calais. Dies erregte ungeheures Aufsehen und man glaubte, der Lenk-
barkeit des Ballons stehe nun kein Hindernis mehr im Wege; aber die
ferneren Versuche hatten nicht den gewünschten Erfolg; ja viele Luft-
schiffer büßten ihre Kühnheit sogar mit dem Leben.
Sämtliche Luftreisende schildern, ganz abgesehen von dem herrlichen
Anblick der Erde und von dem prachtvollen Schauspiel der Wolkengebilde
sowie des Sonnenauf- und -Unterganges, übereinstimmend das angenehme
Gefühl bei der geräuschlosen, staubfreien und äußerst sanften Fahrt in
der Gondel des Ballons. Da dieser mit derselben Schnelligkeit sich fort-
bewegt wie der Luftstrom, in welchem er schwimmt, so nimmt der Luft-
schiffer, wenn er sich in den Wolken befindet, eine Bewegung überhaupt
nicht wahr, auch wenn er mit unglaublicher Schnelligkeit vorwärts kommt.
Die Ruhe in der Gondel ist derart, daß ein Licht nicht flackert und
man lose Baumwolle auf der flachen Hand halten kann. Freilich muß
man sich vor dem Emporsteigen in jene Höhen hüten, in denen der ab-
nehmende Luftdruck Beschwerden beim Atmen, Stockungen im Blut,
Schmerzen in den Muskeln erzeugt und zugleich die niedere Temperatur
hemmend auf den Lebensvorgang einwirkt. Die größte Höhe, bis zu
welcher jemals ein Sterblicher vorgedrungen, ist die von ungefähr 12000 m.
Außer für wissenschaftliche Zwecke hat die praktische Benutzung des
Ballons sich bisher auch auf Kriegszwecke erstreckt. Seine erste Ver-
wendung fand er in der Schlacht von Fleurus; auch bei der Belagerung
von Charleroi wurde er benutzt. Im Deutsch-Französischen Kriege haben
139. Was ist eine chemische Verbindung?
275
die Ballons bei der Belagerung von Paris den Franzosen nicht zu
unterschätzende Dienste geleistet. In der Zeit vom 23. September bis
22. Januar wurden 65 Ballons abgelassen.
Die schon im 18. Jahrhundert gemachten Versuche, den Ballon mit
Segel und Steuer nach Art der Schiffe zu versehen und ihn selbständig zu
lenken, erwiesen sich lange Zeit als fruchtlos. Schnelligkeit und Richtung
hingen immer vom Winde ab. Doch zweifelte man in fachtechnischen Kreisen
keineswegs an dem einstigen Gelingen der Lenkbarkeit des Luftschiffes.
Fortgesetzt unternahmen kühne Lnftfahrer Aufstiege, allein die Erfolge
entsprachen keineswegs den gehegten Erwartungen. Vor allem waren
es Franzosen, welche auf dem Gebiete der Aeronautik Großartiges leisteten.
Doch war es einem Deutschen der Jetztzeit vorbehalten diese schwierige
Aufgabe, mit deren Lösung wohl der Keim von weiteren Entdeckungen
und Erfindungen verknüpft ist, zum Staunen der ganzen Welt zu voll-
enden. Durch die geniale Benutzung einer unendlichen Fülle von Vor-
arbeiten auf wissenschaftlichem und technischem Gebiete und die jahrelangen
Bemühungen, über das schrankenlose Reich der Lüfte die Herrschaft zu
gewinnen, gelang es dem weltberühmten Grafen v. Zeppelin, dem Meister
des Luftschiffbaues, ein lenkbares Luftschiff herzustellen und damit eine
Fahrt auszuführen, welche die Erwartungen aller Fachtechniker libertraf.
Seitdem ist die deutsche Luftschiffahrt von Erfolg zu Erfolg geschritten
und heute stehen die Deutschen mit ihren Leistungen hierin unter allen
Kulturvölkern der Erde unbestritten an erster Stelle. Nach Pauirr.
139. Was ist eine chemische Verbindung?
Über keinen Zweig der Wissenschaft herrschen im Volke
so wunderbare und sonderbare Begriffe wie über die Chemie.
Es gibt Unzählige, die sich vom Sauerstoff eine Vorstellung
machen, als wäre das etwas Saures; manche meinen, Wasserstoff
wäre noch zehnmal nässer als Wasser, und viele halten Stickstoff
für ein Ding, an dem Menschen ersticken, wenn es nur in die
Stube hineinguckt. Und doch hört man die Namen Sauerstoff,
Wasserstoff und Stickstoff so häufig, daß man meinen sollte, es
sei kein Mensch auf der Welt, der diese Dinge nicht genau
kennte. Was ist denn nun eigentlich Sauerstoff? — Gesetzt, es
brächte jemand einem Unkundigen eine Flasche voll Sauerstoff,
so würde dieser sicherlich behaupten, es sei eine leere Flasche.
Er würde die Flasche schütteln und finden, daß gar nichts darin
ist, denn Sauerstoff ist durchsichtig und farblos. Er würde den
Stöpsel aufmachen und hinriechen, aber auch dabei nichts finden;
18"
276
139. Was ist eine chemische Verbindung?
denn Sauerstoff ist ein geruchloses Gas. Er würde die Zunge
hineinstrecken um daran etwas zu schmecken, aber auch dabei
keine Spur entdecken; denn Sauerstoff ist auch geschmacklos.
Aber der Unkundige wird staunen, wenn er durch einige
Versuche erst sehen wird, was mit diesem Sauerstoff geschehen
kann. Wir wollen ein paar Versuche damit anstellen.
Man steckt Holzkohle auf einen Draht, erhitzt sie, daß sie
ein wenig glimmt, und bringt sie so in die Flasche mit Sauer-
stoff. Sofort sieht man, wie die Kohle mit wunderbar lebhafter
Flamme darin zu brennen anfängt. Zieht man sie schnell hervor,
so glimmt sie wieder nur; steckt man die Kohle wieder hinein,
so flackert sie wieder lebhaft auf, bis sie ganz und gar verzehrt
ist. In der Flasche muß also etwas anderes sein als gewöhn-
liche Luft. Wie aber, wenn man ein großes Stück Kohle zu
diesem Versuche nimmt? Wird sie immerfort so schön ver-
brennen? Dies wird nicht der Fall sein. Es wird nur eine
bestimmte Masse von Holzkohle in der Flasche verbrennen und
dann ist es aus, denn es ist kein Sauerstoff mehr in der Flasche.
Wo aber, muß der Unkundige fragen, ist der Sauerstoff hin-
gekommen? Und wo ist eigentlich die Kohle geblieben, die darin
rein aufgebrannt? Und endlich, was ist denn jetzt in der Flasche?
Der Kundige antwortet darauf: »Der Sauerstoff ist nicht
verschwunden und die Kohle ist nicht verschwunden, sondern
beides ist noch immer in der Flasche; doch befindet sich jetzt
in der Flasche eine neue Luftart, die man Kohlensäure nennt.
Diese Luftart besteht aus Kohlen- und Sauerstoff, die sich
chemisch verbunden haben.«
Gewiß wird der Unkundige hierüber staunen und über das,
was man eine chemische Verbindung nennt, eine Aufklärung
haben wollen; denn das muß doch ein ganz eigentümlich Ding
sein, wenn es schwarze, rußige Kohle mit einer klaren, durch-
sichtigen Luftart, wie der Sauerstoff, so durcheinander arbeiten
kann, daß aus beiden zusammen eine neue Luft wird, die gar
nicht ein bißchen rußig ist.
Fast alle Dinge, 'die man im gewöhnlichen Leben oder in der
Natur zu Gesicht bekommt, sind nicht einfache Stoffe, sondern
sie sind zusammengesetzt aus verschiedenen Stoffen. Nur einzelne
Metalle, wie Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Blei, Zink u. s. w., sind
einfache Stoffe, Elemente, und kommen im gewöhnlichen Leben
vor Die Chemie hat sich aber die Aufgabe gestellt heraus-
199. Was ist eine chemische Verbindung?
277
zubringen, aus wieviel einzelnen Stoffen die Welt besteht, und
hat zu diesem Zweck alles, was nur zu haben ist, der Unter-
suchung unterworfen. Bei dieser Untersuchung fand sich dann,
daß die vielen Millionen Dinge, die auf der Erde vorhanden
sind, nur aus etwa siebzig einfachen Stoffen, die in verschiedener
Weise miteinander verbunden sind, bestehen.
Wer in aller Welt würde glauben, daß z. B. Kochsalz aus
zwei Dingen besteht, von denen das eine ein Metall und das andere
eine giftige Luftart ist, und doch ist es sol Das Metall heißt
Natrium und die Luftart Chlor. Diese beiden sind Grundstoffe,
die, wenn sie sich chemisch verbinden, Kochsalz werden.
Salz ist also kein Grundstoff. Aber man glaube ja nicht,
daß aus Natrium etwa nichts weiter gemacht werden könne als
Kochsalz oder daß das Chlor nur dazu gebraucht würde. Das
Natrium verbindet sich mit vielen anderen Stoffen zu ganz
anderen Dingen und das Chlor nicht minder. Und so ist es mit
allen Grundstoffen; sobald sie sich chemisch mit einem anderen
Stoffe verbinden, wird aus ihnen ein ganz anderes Ding, das
weder im Ansehen noch im Geschmack noch im Geruch den
Grundstoffen oder einer anderen Verbindung derselben ähnlich ist.
Wie aber ist es mit der chemischen Verbindung? Wie wird
sie bewerkstelligt? Wodurch wird sie hervorgerufen? Kann
man alle Dinge in der Welt chemisch verbinden? — Hierauf
gibt die Chemie folgende Antwort:
Die Grundstoffe oder Elemente haben die besondere Eigen-
schaft, daß unter gewissen Umständen die kleinsten Teilchen
eines Stoffes eine Anziehung ausüben auf die kleinsten Teilchen
eines anderen Stoffes, und dadurch verbinden sich zwei Stoffe
durch eine eigene Kraft der Anziehung und bilden in ihrer
Vereinigung ein ganz neues Ding, das den Stoffen oft gar nicht
mehr ähnlich ist.
Man bezeichnet diese Neigung eines Stoffes, sich mit einem an-
deren zu verbinden, gewöhnlich mit dem Namen »Verwandtschaft«
und sagt z. B.: »Der Sauerstoff hat eine chemische Verwandtschaft
zur Kohle und verbindet sich mit ihr chemisch um Kohlensäure
zu bilden.« Allein diese Bezeichnung »Verwandtschaft« führt leicht
irre, denn man glaubt, daß die Stoffe, die eine Verwandtschaft
zueinander haben, auch untereinander in irgend einer Weise sich
gleich oder ähnlich sein müssen, wie das eben im gewöhnlichen
278 140. Die vier Hauptbildner der organischen Natur.
Leben bei Verwandten der Fall zu sein pflegt. — Die Sache ist
aber gerade umgekehrt, je verschiedener und abweichender die
Eigenschaften zweier Stoffe voneinander sind, desto lebhafter
findet ihre Verbindung statt. Zwei Stoffe, die ihrer Natur, ihren
Eigenschaften nach sich ähnlich sind, verbinden sich gar nicht
miteinander oder nur äußerst schwer. Eisen und Silber z. B.
sind zwei Grundstoffe, die ihrer Natur nach viel Ähnlichkeit
miteinander haben, aber sie verbinden sich nicht chemisch mit-
einander. Dagegen hat Sauerstoff nicht die geringste Ähnlichkeit
mit Eisen und doch verbindet sich unter geeigneten Umständen
Sauerstoff mit Eisen und bildet unseren gewöhnlichen Rost, der
alles Eisen überzieht, wenn es der feuchten Luft ausgesetzt ist.
A. Bernstein.
140. Pie vier Kauptöikdner der organischen Watur: Kohlenstoff,
Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff.
a) Kohlenstoff.
Der Kohlenstoff ist ein fester Körper ohne Geschmack und Geruch. Er
ist in keiner bekannten Flüssigkeit löslich und so schwer schmelzbar, daß es
noch nicht gelungen ist ihn flüssig oder gasförmig darzustellen. Er verbindet
sich bei gewöhnlicher Temperatur mit keinem anderen Grundstoff und bleibt
im Wasser wie in der Luft unverändert. Man verkohlt deshalb Pfähle an
den Teilen, die in die Erde kommen, damit sie nicht so leicht verfaulen. Bei
erhöhter Temperatur ändert sich sein Verhalten sehr und man verwendet ihn,
um anderen Körpern Sauerstoff zu entziehen, namentlich glüht man Metall-
oxyde (Erze) mit Kohle um die Metalle zu gewinnen.
Der Kohlenstoff ist in der Natur sehr verbreitet, namentlich ist er ein
Bestandteil aller organischen Verbindungen; er ist also in allen Pflanzen-
und Tierteilen enthalten.
Werden organische Körper erhitzt, so erleiden sie eine Zersetzung; es
entstehen neue Verbindungen, die dampf- oder gasförmig sind und zum Teil
sich mit dem Sauerstoff verbinden. Ein ähnlicher Vorgang, der aber bei
gewöhnlicher Temperatur, besonders in Gegenwart von Wasser und langsam
erfolgt, ist die Verwesung. Bei dieser wie bei der Verbrennung geht die
Ausscheidung des Kohlenstoffes vor sich. Wird nun die atmosphärische Luft
ganz oder teilweise abgeschlossen, so kann die Verbindung von Kohlenstoff
und Sauerstoff nicht oder nur in geringem Maß erfolgen.
Hierauf beruht das Verfahren aus Holz Kohlen zu gewinnen. Der
Meiler ist durch einen Mantel aus Erde von der Luft abgeschlossen, welcher
nur durch einzelne Öffnungen so viel Zutritt gelassen wird um ein langsames
Brennen (Glimmen) zu erhalten. Der Sauerstoff reicht aber nicht hin um
auch die Kohle zu verbrennen.
140. Die vier Hauplbildner der organischen Natur.
279
Die aus organischen Körpern (besonders aus Knochen) abgeschiedene
Kohle hat die Eigenschaft Gase, Dämpfe, Farbstoffe, übelriechende Sub-
stanzen in sich aufzunehmen. Sie wird deshalb zum Filtrieren gebraucht
(Seinewasser zu Paris, Entfufeln des Branntweins).
Auch der Graphit oder das Reißblei und der kostbare Diamant sind
reiner Kohlenstoff.
Der Kohlenstoff verbindet sich mit Sauerstoff zu Kohlenoxyd und Kohlen-
säure. Kohlenoxyd entsteht durch Verbrennung von Kohlenstoff in einer un-
genügenden Menge von Sauerstoff und verbrennt mit blauer Flamme zu
Kohlensäure. Es wirkt eingeatmet giftig, verursacht Kopfschmerz, Übelkeit,
Ohnmacht und selbst den Tod. Es ist der Hauptbestandteil des so gefährlichen
Kohlendampfes. Die Kohlensäure wirkt in größerer Menge eingeatmet tödlich.
Sie entwickelt sich u. a. bei der Gärung des Weines; darum darf man Keller,
in denen viel Wein gärt, nur mit Vorsicht betreten. Man erkennt ihr Vor-
handensein an dem allmählichen oder raschen Erlöschen eines Lichtes. Kohlen-
säure wirkt in Flüssigkeiten erfrischend. Das Brunnen- und Quellwasser hat
seine Frische nur der Kohlensäure zu verdanken. Kohlensäurearmes Wasser ist
schal. Auch im Bier und besonders im Champagner ist ein ziemliches Maß
von Kohlensäure enthalten. Ferner atmen Menschen und Tiere neben Wasser-
dampf Kohlensäure aus.
Eine Verbindung des Kohlenstoffes mit Wasserstoff ist das Grubengas,
welches sich bei Fäulnis organischer Stoffe, namentlich in Steinkohlenlagern
und anderen Bergwerken, sodann im Schlamm der Sümpfe bildet. Mit
atmosphärischer Luft vermischt, bildet es die schlagenden Wetter in den
Bergwerken.
Die wichtigste Verbindung des Kohlenstoffes mit Wasserstoff ist das
ölbildende oder Leuchtgas, welches namentlich für Straßenbeleuchtung von
größter Wichtigkeit ist. Es kann gewonnen Werden aus Holz, Stein- und
Braunkohle, Torf, Harz, Fett u. s. w., und zwar auf dem Wege der trockenen
Destillation, d- h. durch Erhitzung der betreffenden Materialien in luftdicht
verschlossenen Gefäßen.
b) Der Sauerstoff.
Der Sauerstoff, welcher im Jahre 1784 entdeckt wurde, ist durch seine
Eigenschaften, sein Vorkommen in der Natur und seine hohe Bedeutung für
das Leben der Menschen, Tiere und Pflanzen sowie durch seinen unersetzlichen
Wert für die Technik und das Hauswesen von höchster Wichtigkeit.
Was das Vorkommen des Sauerstoffes in der Natur anlangt, so ist
dasselbe bedeutsamer als bei irgend einem der unseren Erdkörper bildenden
Grundstoffe. Er macht dem Raume nach 7e der atmosphärischen Luft und
73 des Wassers aus. Weiter kann man behaupten, daß er in jedem Körper
unserer festen Erdrinde enthalten ist. Auch alles Organische, folglich die
ganze Pflanzenwelt, von dem bescheidenen Moose bis zur mächtigen Eiche,
280 140. Die vier Hauptbildner der organischen Natur.
enthält den Sauerstoff als einen Hauptbestandteil, zu dem der Wasserstoff,
Kohlenstoff und Stickstoff im Pflanzen- und Tierreich und im menschlichen
Organismus hinzutreten.
Der Sauerstoff tritt niemals unvermischt auf. Erst auf chemischem Wege
kann er rein gewonnen werden, und zwar leicht und mit geringen Kosten aus
dem chlorsauren Kali. Er ist ein farbloses Gas ohne Geruch und Geschmack.
Hat man dieses Gas in einer Flasche und taucht man einen glimmenden
Span hinein, so fängt dieser an mit lebhafter Flamme zu brennen. Bringt
man einen Eisendraht oder eine Uhrfeder, woran man einen glimmenden
Zunder befestigt hat, in die Flasche und schließt dann diese, so verbrennt das
Eisen unter lebhaftem Funkensprühen. Schwefel brennt darin mit azurblauer
Farbe, Phosphor unter blendendem Glanze. Diese brennenden Körper ver-
zehren den Sauerstoff in der Flasche, d. h. sie gehen mit ibm Verbindungen
ein. Das Brennen in der atmosphärischen Luft sowie in unseren Ofen wird
ebenfalls nur durch den Sauerstoff der Luft unterhalten. Im Gegenteil
bringt man die Flamme durch Entziehung der Luft zum Erlöschen. Gleich-
wie ohne den Sauerstoff die Verbrennung des Brennmaterials im Ofen, also
die Bildung von Feuer und Wärme, nicht zustande kommt, so bedürfen ihn
auch die Gewebe des Körpers, um das mit den Ernährungssäften ihnen
zuströmende Material in geeigneter Weise zu zerlegen und hierdurch Wärme
und Arbeitsleistung zu ermöglichen.
Bei dem ungewöhnlichen Vereinigungsstreben des Sauerstoffes kann es
nicht auffällig erscheinen, wenn derselbe, gar häufig zu unserem Nachteile oder
Schaden, verändernd auf die uns umgebenden Dinge wirkt. Der Sauerstoff
verbindet sich zunächst mit einer Reihe von Metallen; er oxydiert dieselben,
wie der Chemiker sagt. Es überziehen sich die in der Regel blank polierten
Metalle mit einer mehr oder weniger dicken Oxydschicht und verlieren dadurch
Glanz und Farbe. Eisen rostet und wird an der Oberfläche rotbraun; Messing,
Kupfer, Bronze laufen in affen Regenbogenfarben an; Zinkartikel verlieren
ihren Glanz und werden matt.
Der Sauerstoff der Luft oxydiert auch alkoholhaltige Flüssigkeiten und
verwandelt den Alkohol in Essigsäure, wodurch Getränke, wie Bier und Wein,
bei längerem Stehen an der Luft sauer werden.
Fette und ätherische Ole werden durch den Sauerstoff der Luft ranzig,
verdicken und verharzen sich.
Der Sauerstoff wirkt endlich im Verein mit der Feuchtigkeit und Wärme
oxydierend und zersetzend auf manche Nahrungsmittel; rohe oder gekochte
Eier z. B. werden faul, Eingemachtes verdirbt, Speisen gehen in Gärung
über und werden sauer.
Wird einem Körper, welcher Sauerstoff enthält, letzterer ganz oder teil-
weise genommen, so sagt man: der Körper wird desoxydiert oder reduziert.
Beide chemische Vorgänge, die Oxydation und Reduktion, finden in der
Technik ungemein häufige Anwendung. So ist der Eisenhüttenprozeß, durch
141. Die Chemikalien des Kleingewerbes.
281
welchen das Roheisen aus den Eisenerzen gewonnen wird, nichts als eine
Reduktion: den Eisenerzen, in der Hauptsache Verbindungen des Eisens mit
Sauerstoff, wird durch Glühen mit Holzkohle oder Koks der Sauerstoff
entzogen.
e) Der Stickstoff.
Ein anderer Hauptbestandteil der Luft, von dem vier Raumteile auf
einen Raumteil Sauerstoff kommen, ist der Stickstoff. Derselbe läßt sich am
leichtesten aus der Luft gewinnen. Auch er ist ein farbloses Gas ohne Geruch
und Geschmack. So notwendig der Stickstoff in seiner Vermischung mit
Sauerstoff für den AtmungsProzeß ist, obwohl er bei diesem eine passive
Rolle spielt und nur zur Verdünnung des Sauerstoffes dient, so schädlich
wäre er, wenn man ihn allein atmete.
Mit dem Sauerstoff verbindet er sich in verschiedenen Verhältnissen.
Die wichtigste dieser Verbindungen ist die Salpetersäure, welche man aus
Stickstoff und Sauerstoff erhält, wenn man einen elektrischen Funken durch
das Gemisch leitet. Deshalb bildet sich auch solche Säure in der Atmosphäre
bei jedem Blitzschlag.
d) Der Wasserstoff.
Das Wasser besteht aus Wasserstoff (zwei Raumteilen) und Sauerstoff
(einem Raumteil). Dem Gewicht nach kommen acht Raumteile Sauerstoff
auf einen Teil Wasserstoff. Hieraus ergibt sich, daß der Wasserstoff um
vieles leichter ist als Sauerstoff; er ist mithin auch — und zwar um
14 ^2 mal — leichter als die atmosphärische Luft, weshalb er zum Füllen
der Luftballons verwendet wird. Er wird aus dem Wasser gewonnen,
welches in reinem Zustande nur Wasser- und Sauerstoff enthält. Bei ge-
wöhnlicher Temperatur zeigen beide Gase keine chemische Anziehung; beim
Verbrennen aber verbindet sich Wasserstoff und Sauerstoff und das Produkt
ist Wasser. Dieses ist aber nicht tropfbarflüssig, weil es über den Siede-
punkt erhitzt ist, sondern es entweicht als Dampf, den man aber durch
Abkühlung in den tropfbarflüssigen Zustand überführen kann. Verhältnis-
mäßig rein ist nur das Regen- und Schneewasser; chemisch reines Wasser
erhält man durch Destillation. Reines Wasser geht nicht in Fäulnis über.
Die dunkle Färbung, der unangenehme Geschmack und Geruch von gestandenem
Wasser rühren von der Fäulnis organischer Stoffe her. Chemische Ver-
bindungen des Wassers mit Oxyden heißen Hydrate, die entweder fest sein
können, z. B. Rost, gelöschter Kalk, oder flüssig, z. B. Schwefelsäure, Sal-
petersäure. Nach Fuchs.
141. Die tzhemikakien des Kleingewerbes.
Chemikalien finden in den Gewerben mannigfache Anwendungen. Viele
dieser Stoffe sind giftig oder wirken zerstörend; eine nähere Kenntnis von
den wesentlichsten Eigenschaften derselben ist daher unstreitig für jeden, der
damit zu tun hat, von Nutzen.
282
141. Die Chemikalien des Kleingewerbes.
Die Schwefelsäure.
Es gibt wohl wenig Gewerbe, in welchen dieser Körper nicht zu irgend
einem Zweck angewendet wird. Im alltäglichen Leben ist die Schwefelsäure
unter dem Namen Vitriol bekannt und besteht aus Schwefel, Sauerstoff und
Wasserstoff. Sie ist färb- und geruchlos und in konzentriertem Zustande
dickflüssig. Läßt man sie in offenen Gefäßen stehen, so zieht sie aus der Luft
begierig Wasser an, wird dadurch verdünnt und nimmt an Masse zu, so daß
ein ziemlich volles Gefäß bald überfließt. Deshalb muß die Schwefelsäure in
verschlossenen Gefäßen aufbewahrt werden, sonst verliert sie an Wirksamkeit.
Gießt man Wasser in dieselbe, so erhitzt sie sich außerordentlich heftig und
verspritzt zum Teil, wodurch in der Nähe befindliche Menschen und Gegen-
stände beschädigt werden. Darum soll man bei vorzunehmender Verdünnung
stets die Schwefelsäure langsam ins Wasser gießen, weil dann die Vereinigung
ohne Spritzen erfolgt. Die Schwefelsäure, auf die Haut gebracht, zerstört
dieselbe und erregt brennenden Schmerz. Holz, Kork, Zucker u. s. w. werden
in Berührung mit Schwefelsäure verkohlt, d. h. sie entzieht diesen organischen
Körpern die Elemente Wasser- und Sauerstoff, bildet damit Wasser und läßt
den dritten Bestandteil dieser Substanzen, den Kohlenstoff, als schwarze,
organische Kohle zurück. Leder- und Kleidungsstücke macht sie anfangs mürbe;
nach längerer Wirksamkeit der Säure zerfallen jene. Furchtbar ist ihre
Wirkung, wenn sie mit den zarten Schleimhäuten der Zunge und des Halses
in Berührung kommt. Der Genuß von Schwefelsäure verursacht meist unter
furchtbaren Schmerzen den Tod.
Alle diese Wirkungen der Schwefelsäure beruhen darauf, daß sie mit
großer Begierde und unter starker Erhitzung Wasser an sich zieht, also den
genannten Stoffen entzieht. Sehr verdünnte Schwefelsäure vermag kein
Wasser mehr aufzunehmen, weshalb sie nicht zerstörend wirkt. Immerhin
darf sie auf Kleider nicht gebracht werden, weil das Wasser verdunstet und
konzentrierte Säure zurückbleibt, welche rote Flecken hervorruft, das Gewebe
zerstört und durchlöchert. Die Säure muß man durch sorgfältiges Waschen
gänzlich entfernen oder man betupft die betreffenden Stellen alsbald mit
Salmiakgeist, einer alkalischen Flüssigkeit, welche als Gegensatz der Säure die
Wirkung derselben aufhebt, indem sie ein Salz bildet. Bei der Aufbewahrung
der Säure ist deshalb große Vorsicht nötig; sie geschehe in Flaschen mit
Glasstöpsel und mit der Aufschrift „Schwefelsäure" an solchen Orten, wo die
Flasche nicht zerschlagen wird und Verwechslung durch Unkundige nicht statt-
finden kann, also nicht in Werkstätten und Wohnräumen. Gold und Platin
werden von der Schwefelsäure gar nicht, Blei nur wenig angegriffen; im
verdünnten Zustand greift sie auch. Kupfer, Silber und Quecksilber nicht
bemerkbar an. Kupfer und dessen Legierungen werden durch Abreiben mit
genannter Flüssigkeit schön blank. Diese dient deshalb als Putzwaffer.
141. Die Chemikalien des Kleingewerbes.
283
Die Salpetersäure.
Sie ist ein Bestandteil des Salpeters, wird durch Erhitzen mit Schwefel-
säure aus dem Salpeter abgeschieden und ist unter dem Namen Scheidewasser
bekannt. Das käufliche Scheidewasser ist mit Wasser verdünnte, meist un-
reine Salpetersäure, eine Flüssigkeit von eigentümlichem Geruch, während die
farblose, rauchende Salpetersäure an der Luft schwache, weiße Dämpfe aus-
stößt. Die meisten Metalle, wie Eisen, Kupfer, Silber und Quecksilber,
werden von derselben unter Entwicklung rotbrauner, giftiger Dämpfe aufgelöst,
nur Gold und Platin nicht. Daher dient Salpetersäure als „Scheidewasser"
zum Abscheiden des Goldes von Silber. Sie ist reich an Sauerstoff, welchen
sie, auf organische Stoffe (Holz, Kork, Federn, Wolle) gebracht, teilweise an
diese abgibt. Dadurch werden dieselben gelb gefärbt und allmählich zerfressen.
Auf der Haut erzeugt die Salpetersäure gelbe Flecken, zuweilen Wunden.
Beim Verdünnen mit Wasser erhitzt sie sich nicht. Obschon sie aus der Luft
kein Wasser anzieht, muß sie in Gefäßen, welche mit Glasstöpseln versehen
sind, aufbewahrt werden, da sie sonst verdunstet und ihre Dämpfe nachteilig
auf die Gesundheit, namentlich auf die Atmungsorgane, einwirken. Durch
den Einfluß der Sonnenstrahlen wird diese Säure teilweise zersetzt, weshalb
sie an dunklen Orten aufbewahrt werden muß.
Die Salzsäure.
Wird Kochsalz mit Schwefelsäure zersetzt, so entwickelt sich ein farbloses
Gas, das stehend sauer riecht und mit dem in der Luft enthaltenen Wasserdampf
dicke Nebel bildet. Es wird Chlorwasserstoffgas genannt. Leitet man dieses
in Wasser, bis dasselbe damit gesättigt ist, so erhält man die wässerige
Chlorwasserstoffsänre, eine farblose, sauer riechende und schmeckende Flüssigkeit,
die jedoch weniger zerstörend als die bereits genannten Säuren wirkt. Da
zu ihrer Bereitung das gewöhnliche Steinsalz verwendet wird, so führt sie
den Namen Salzsäure. In ihrem Verhalten gegen die Metalle gleicht sie
der Schwefelsäure. Zink, Aluminium und Eisen lösen sich sehr leicht in
derselben auf. Sie vermag auch die Oxydschicht zu lösen, welche sich auf
vielen Metallen beim Liegen an der Luft bildet, und wird deswegen zum
Blankbeizen solcher Metalle benutzt. Dem Spengler ist sie als „Lötwasser"
bekannt. Gießt man Salzsäure auf gepulverten Braunstein, so entwickelt sich,
besonders bei gelindem Erwärmen, das durch seine bleichende Wirkung be-
kannte Chlorgas.
Versetzt man die Salzsäure bis zu 1/3 ihrer Masse mit Salpetersäure,
so entsteht eine gelbe, stark nach Chlor riechende Flüssigkeit, die man gewöhn-
lich „Königswasser" nennt. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß sie auch
alle diejenigen Metalle, welche in den gewöhnlichen Säuren nicht löslich sind,
äu lösen vermag. Man kann jedoch das Königswasser nicht längere Zeit auf-
bewahren, sondern stellt es am besten unmittelbar vor dem Gebrauch durch
Vermischen von 3 Teilen Salzsäure und 1 Teil Salpetersäure her.
284
141. Die Chemikalien des Kleingewerbes.
Der Chlorkalk.
Er ist eines unserer gebräuchlichsten Mittel zum Bleichen und Reinigen
verschiedenartiger Stoffe und «wird daher auch Bleichkalk genannt. Der
Chlorkalk ist eine feste, pulverige Masse von grauweißer Farbe und un-
angenehmem Geruch. Man kann den Chlorkalk als mit Chlorgas möglichst
gesättigten, gelöschten Kalk betrachten. Um den Chlorkalk zum Bleichen und
Reinigen zu benutzen, zerreibt man denselben in einer Schale mit wenig
kaltem Wasser zu Brei, gießt dann 10 Gewichtsteile kaltes Wasser zu und
rührt das Ganze gut um. Es entsteht eine milchartig trübe Flüssigkeit,
welche sich aber bei längerem Stehen in verschlossener Flasche klärt, indem
die ungelösten Kalkteilchen zu Boden sinken. Diese Lösung wird noch mit
viel Wasser verdünnt. Dann erst bringt man den zu bleichenden Stoff, der
vorher in sehr verdünnte Schwefelsäure eingetaucht wurde, in dieselbe. Durch
die dem Stoff anhaftende Säure wird das Chlor frei gemacht und dadurch
die bleichende Wirkung hervorgerufen. Das Chlor zerstört die Farben;
deshalb tritt die ursprünglich weiße Farbe des Stoffes wieder hervor. Die
Chlorkalklösung darf aber weder zu stark sein noch zu lange einwirken, weil
sonst die Stoffe selbst durch das Chlor ihre Festigkeit einbüßen oder ganz
zerstört werden. Seide und Wolle lassen sich gar nicht mit Chlor bleichen.
Der Chlorkalk ist ein Stoff, welcher sich leicht zersetzt. Man muß ihn
in gut verschlossenen Flaschen oder Steinbüchsen im Keller aufbewahren; auch
darf man ihn nie in heißem Wasser lösen oder seine Lösung zum Sieden
erhitzen, da sich der Chlorkalk in höherer Temperatur verändert und seine
Eigenschaft Chlor zu entwickeln, also bleichend zu wirken, verliert. Mit
der Haut in Berührung gebracht, wirkt der Chlorkalk nicht ausfallend;
nur innerlich, also nach dem Genusse, würde er giftig wirken. Daß der
Chlorkalk oder das aus demselben entweichende Chlor auch die bei an-
steckenden Krankheiten so gefährlichen Ansteckungsstoffe zu zerstören vermag
und daher ein sehr wirksames Desinfektionsmittel ist, bedarf hier nur der
Erwähnung.
Das Ammoniak.
Das Ammoniakgas, eine luftförmige Verbindung von Stickstoff und
Wasserstoff, ist farblos, von durchdringend stechendem, die Augen zu Tränen
reizendem Geruch und wird vom Wasser begierig aufgesaugt. Diese Auf-
lösung im Wasser heißt Salmiakgeist, Atzammoniak oder wässeriges Ammoniak.
Es greift die Haut an, aber nicht in zerstörender Weise, steht im Gegensatz
zu den Säuren und hebt die Wirkung derselben auf; es wirkt alkalisch.
Läßt man flüssiges Ammoniak verdunsten, so wird eine große Menge Wärme
gebunden, folglich eine starke Erniedrigung der Temperatur bewirkt. Man
benutzt es deshalb zur fabrikmäßigen Herstellung von Eis; der Salmiakgeist
wird bei Insektenstichen und Bissen giftiger Tiere zur Zerstörung des Giftes
in die Wunde gebracht.
142. Gärung und Fäulnis.
285
Die Pottasche.
Die Pottasche ist kohlensaures Kali, also das Kalisalz der Kohlensäure.
Die meiste Pottasche wird in holzreichen Gegenden Rußlands und Nord-
amerikas dargestellt. Man verbrennt das Holz zu Asche, zieht die Asche mit
Wasser aus und gewinnt durch Eindampfen der so gewonnenen Lauge zu-
nächst ein unreine, rohe Pottasche, die noch gereinigt wird. Die Pottasche
findet sich jedoch nicht fertig im Holze vor, sondern erst durch die Ver-
brennung desselben entsteht diese Verbindung. Die im Handel vorkommende
Pottasche besteht aus unregelmäßigen Stücken von schmutzig weißer Farbe,
hat einen scharf laugenartigen Geschmack, zerfließt allmählich durch Aufnahme
von Feuchtigkeit aus der Luft und löst sich im Wasser leicht und vollständig
auf. Sie ist wichtig für die Seifenbereitung sowie zur Darstellung des
Kalisalpeters, des Alauns, des Glases und des Atzkali.
Die Soda.
Die Soda ist kohlensaures Natron, also das Natronsalz der Kohlen-
säure. Bei ähnlicher Wirkung ist sie billiger als Pottasche, welche sie
vielfach verdrängt. In großem Maßstab wird sie aus Kochsalz hergestellt.
Nach Behandlung desselben mit Schwefelsäure und Glühen mit Kohle und
Kreide erhält man beim Auslaugen der Rohsoda mit Wasser eine Soda-
lösung. Durch Verdampfen derselben gewinnt man kristallisierte Soda,
welche gegen 63% chemisch gebundenes Wasser enthält. Die durch Erhitzen
dargestellte, entwässerte Soda nennt man kalzinierte Soda. Die geruchlosen
Kristalle sind im Wasser leicht löslich, ziehen aber aus der Luft keine
Feuchtigkeit an, sondern verlieren allmählich einen Teil ihres Kristallwassers,
sie „verwittern", zerfallen zu einem weißen Pulver. Aus der Soda gewinnt
man, besonders bei der Verwendung zur Seifenfabrikation, die ätzende
Natronlauge. In großer Menge bereitet man aus der Soda doppeltkohlen-
saures Natron. Dasselbe ist reicher an Kohlensäure und milder von Ge-
schmack als Soda. Dieses Salz dient besonders zur Darstellung von Soda-
wasser und bildet im Verein mit Weinsteinsünre das Brausepulver.
Nach Heigel.
142. Gärung und Aäulnis.
Der Körper der Pflanzen und Tiere ist ein Gebäude, wunderbar gefügt
aus mannigfachen Stoffen, die als solche bestehen und zusammenhalten, so-
lange der Hauch des Lebens in dem Gebäude waltet. Wenn aber das Leben
aus dem Körper entflohen ist, beginnen seine Bestandteile sich zu zersetzen.
Tier- und Pflanzenkörper bestehen aus verhältnismäßig wenigen Grundstoffen
oder Elementen, wovon als die wichtigsten Kohlen-, Sauer-, Wasser-, Stick-
stoff, Schwefel, Phosphor gelten; aber diese Stoffe verbinden sich ungemein
vielfältig. Beim Absterben des Tier- oder Pflanzenkörpers lösen sich die
Elementargruppen und die Grundstoffe ordnen sich zu einfacheren Verbin-
dungen, welche als Zersetzungsprodukte hervorgehen. Doch nicht allein die
286
142. Gärung und Fäulnis.
künstliche innere Zufaimnensetzung veranlaßt diesen Zerfall, auch die Ein-
wirkung des alle Körpe, umgebenden Sauerstoffes sowie das Wasser der
Atmosphäre tragen ganz wesentlich dazu bei; den Hauptanstoß zur eintretenden
Zersetzung geben aber die überall vorhandenen Keime von niedrigen Orga-
nismen. Noch rascher beginnt und vollendet sich diese unter dem Einfluß
und der gesteigerten Wirkung der Wärme.
Das Zerfallen organischer Körper in einfachere chemische Verbindungen
bei gewöhnlicher Temperatur und Einwirkung der Luft wird freiwillige
Zersetzung genannt. Unter verschiedenen Umständen erhält dieselbe jedoch
besondere Namen. Wir unterscheiden: die Gärung, Fäulnis, Verwesung
und Vermoderung.
I.
Unter Gärung versteht man gewöhnlich die vom Auftreten des Wein-
geistes begleitete Zersetzung zuckerhaltiger Flüssigkeiten. Allein man bezeichnet
auch mit dem Worte Gärung eine Reihe von Zersetzungserscheinungen,
welche darin übereinstimmen, daß ein gewisser Körper, welcher Erreger
genannt wird, auf einen Gärungsstoff einwirkt, ohne daß er zu diesem eine
chemische Verwandtschaft äußert und ohne daß er selbst an der Bildung
der neu entstandenen Gärungsprodukte Anteil nimmt. Ja, es ist in der
Regel eine kleine Menge von Erregern hinreichend um eine verhältnismäßig
große Menge von Stoff zu zersetzen. Der Erreger erleidet während der
Gärung selbst eine Zersetzung und verliert, sobald diese vollendet ist, seine
erregende Eigenschaft. Der Verlauf der Gärung und die entstehenden Erzeug-
nisse sind verschieden, je nach der Natur des Stoffes, des Erregers und der
Temperatur.
Die gewöhnliche Gärung, vorzugsweise geistige Gärung genannt, erfolgt
in allen zuckerhaltigen Pflanzensäften; auf ihr beruht die Herstellung der
geistigen Getränke, welche außer dem Zucker noch eine stickstoffhaltige Masse,
in der Regel Eiweiß oder Pflanzenfibrin, enthalten. Sobald eine solche
Flüssigkeit der Lust ausgesetzt wird, geht zunächst eine Veränderung mit
ihrem stickstoffhaltigen Bestandteil vor, indem derselbe Sauerstoff aufnimmt
und allmählich in Form eines bräunlichen Niederschlages sich ausscheidet, den
man Hefe nennt. Gleichzeitig beginnt die Zersetzung des in jenen Flüssig-
keiten enthaltenen Traubenzuckers in Weingeist und Kohlensäure. Die Flüssig-
keit nimmt einen geistigen Geruch an, während die Kohlensäure, die überall
in Bläschen sich erhebt, das Aufschäumen und Aufsteigen der Flüssigkeit
veranlaßt, woran der Gärungszustand zu erkennen ist.
Die Gärung hat ihre Vollendung erreicht, wenn aller Zucker der Flüssig-
keiten in Weingeist verwandelt ist. Bei der Gärung geht Rohrzucker durch
Aufnahme von Wasser vorerst in Traubenzucker über und dann tritt erst die
weitere Zersetzung ein.
Die hierbei als Bodensatz ausgeschiedene Hefe besitzt die Eigenschaft, daß
sie, mit einer neuen Menge von Zucker zusammengebracht, auch dessen Zer-
142. Gärung und Fäulnis.
287
setzung veranlaßt, und zwar reicht ein geringer Teil Hefe hin um die Gärung
von sehr viel Zucker zu bewirken. Endlich verliert aber die Hefe jede Er-
regungsfähigkeit, indem sie selbst die eigene Zersetzung vollendet hat. War
die gärende Flüssigkeit reich an stickstoffhaltigen Bestandteilen, was namentlich
bei den Malzauszügen der Bierbrauer der Fall ist, so findet auch eine Neu-
bildung und Vermehrung der Hefe statt. Unter dem Mikroskop erkennt man,
daß die Hefe aus kleinen, häutigen Bläschen besteht, die einen flüssigen Inhalt
haben und meist perlförmig aneinandergereiht sind (Hefenpilze). Diese Kügel-
chen treiben Knospen, welche sich vergrößern und ebenfalls ziemlich rasch
vermehren, ähnlich wie dies bei manchen mikroskopischen Pilzen der Fall
ist. In der Luft fliegen fortwährend die Keime solcher Hefenpilze sowie
anderer niederer Organismen umher; sie machen einen Teil der Sonnen-
stäubchen aus, die man wahrnimmt, wenn man einige Sonnenstrahlen in ein
dunkles Zimmer fallen läßt. Wegen ihrer Kleinheit sind sie dem bloßen
Auge nicht erkennbar. Diese Keime setzen sich auch auf den Schalen der
Früchte fest. (Von Weinbeeren, Pflaumen, Äpfeln u. s. w. läßt sich ein seiner
Beschlag abwischen.)
Die Gärung zuckerhaltiger Flüssigkeiten findet jedoch nicht unter allen
Umständen statt. Notwendig ist hierzu wenigstens anfängliche Berührung
mit Luft sowie eine Temperatur von 20—30° C. Unter 10° C geht sie
nicht vor sich. Auch verhindern gewisse Stoffe, wenn sie in sehr geringer
Menge den gärungsfähigen Stoffen zugesetzt werden, deren Zersetzung, wie
das flüchtige Ol des Senfbaumes, schweflige und salpetrige Säure. Die Hefe
verliert ihre erregende Kraft, wenn sie ganz ausgetrocknet oder auf 100" C
erhitzt oder mit Weingeist, Säuren oder Alkalien vermischt wird.
Die geistigen Getränke sind sämtlich Erzeugnisse der Gärung zucker-
haltiger Flüssigkeiten und werden entweder durch nachherige Destillation be-
reitet, wie der Weingeist und die verschiedenen Arten des Branntweins, oder
ohne Destillation, wie Wein und Bier.
Weinbereitung. Der Wein wird aus den Weintrauben bereitet.
Die Weinbeeren werden gepreßt (gekeltert); der süße Saft heißt Most. Dieser
wird in Gärkufen oder Fässer gefüllt und in genügend warmen, luftigen
Räumen, den Gärkellern, sich selbst überlassen. Schon nach 4—5 Tagen ist
er in voller Gärung begriffen, wird trübe, überzieht sich mit einer Schaum-
decke und gerät in heftige Bewegung. Aus der zischenden, scheinbar siedenden
Flüssigkeit entweicht Kohlensäure, welche für unsere Lunge schädlich wirkt;
zur Zeit der Weingärung dürfen darum die Keller nur mit besonderer Vorsicht
betreten werden. In etwa 10—14 Tagen ist die erste oder Hauptgärung
vorüber; die Flüssigkeit wird ruhig, klärt sich, indem die Hefe zu Boden sinkt,
und man erhält den jungen Wein, der aber meistens noch nicht klar ist.
Im kühlen Keller beginnt im nächsten Jahre, nach den heißesten Sommer-
monaten, eine zweite Gärung: der Wein trübt sich während derselben, schäumt
ein wenig und wird dann unter Hefeablagerung wieder klar. Darauf folgt
288
142. Gärung und Fäulnis.
noch eine dritte Gärung u. s. tu., zuletzt hört alle Gärung auf; der Wein
hält sich in wohl verschlossenen Flaschen jahrelang.
Schaumweine (Champagnerweine) erhält man aus süßen Trauben, wenn
man deren Nachgärung nach Zuckerzusatz in der Flasche vollenden läßt. Die
Flaschen stehen verkehrt, die Hefe sammelt sich auf dem Kork und wird durch
geschicktes Offnen derselben weggespritzt.
Nicht jeder Traubensaft hat gleich viel Zuckergehalt; die Weine der süd-
licheren Gegenden sind viel reicher daran als die der nördlicheren. Daher
sind diese Weine stärker und die Gärung ist nicht imstande allen Zucker zu
zersetzen, weshalb solche Weine einen süßen Geschmack behalten.
Weißwein bereitet man aus grünen oder roten Trauben, deren
Schalen und Stengel (Kämme) man vor der Gärung aus dem Moste entfernt;
Rotwein entsteht aus roten Trauben, deren Kämme man im Moste läßt.
Rotwein ist herber, wenn er mit den Kämmen vergoren war, da die Schalen
und Kämme Gerbstoff enthalten. Durch langes Lagern scheidet sich aus dem
Weine der Weinstein ab (im Rheinwein häufig). Der Weingeruch, der allen
Weinen, selbst den geringsten, eigen ist, rührt von dem Onanthäther her; im
alten Wein entwickeln sich angenehm riechende Stoffe (Blume oder Bukett),
die nur den seinen Weinen und in besonderem Grade den edlen Rheinweinen
eigen sind.
Geringere Weinsorten enthalten zu viel Säure und zu wenig Zucker.
Man bereitet aus ihnen auf künstlichem Weg einen ganz trinkbaren Wein,
indem man Most mit so viel Wasser versetzt, daß die Säure im Geschmack
zurücktritt, dann eine entsprechende Menge Zucker (Traubenzucker) hinzufügt
und gären läßt (Gallisieren des Weines nach dem Erfinder Gall).
Auf gleiche Weise wie im Safte der Trauben geht auch im Safte der
Äpfel, Birnen, Johannis- und Stachelbeeren, der Möhren u. s. w. eine solche
Umwandlung vor sich und wir gewinnen dadurch den Äpfel-, Birnen-,
Stachelbeerwein u. s. w.
Bei der Bierbereitung ist die Gärungsflüssigkeit nicht gegeben, sie
muß erst hergestellt werden. Hierzu benutzt man die an Stärke reichen
Getreidearten, insbesondere Gerste und Weizen. Gerste schüttet man in flachen
Haufen auf und befeuchtet sie. Sie erwärmt sich und beginnt zu keimen.
Man schaufelt die Haufen von Zeit zu Zeit um, damit die Temperatur nicht
zu hoch steigt. Wenn die Keime (Würzelchen) so lang wie das Korn ge-
worden sind, wird die Keimung unterbrochen, entweder durch Trocknen an
der Luft (Grünmalz) oder bei mäßiger Wärme (Darrmalz) oder in Trommeln,
wie Kaffeetrommeln (Farbmalz). Das Malz schmeckt süßlich, während das
Gerstenkorn einen rein mehligen Geschmack besitzt. In der Gerste entsteht
nämlich während der Keimung ein Stoff (Diastase), welcher die Fähigkeit
besitzt Stärke in Zucker umzuwandeln, am leichtesten und schnellsten bei
60—65 0 0. Malz mit Wasser längere Zeit gekocht, gibt eine schleimige,
nur schwach süßliche Lösung (Malzdekokt); dagegen mit Wasser aufgegossen
142. Gärung und Fäulnis.
289
(infundiert), eine bald süß werdende Flüssigkeit. Grünmalz gibt einen schwach
gelblichen, Darrmalz einen lichtbraunen, Farbmalz einen dunkelbraunen Auszug.
Grünmalz oder Darrmalz (beide geschroten) werden ausgezogen, entweder
durch Aufgießen oder durch teilweises Kochen. Aufgießen liefert rasch
gärende, sogenannte obergärige, Auskochen langsam gärende, sogenannte
untergärige Biere. Farbmalz dient nur zum Färben. Gewöhnliches Weiß-
bier und Braunbier sind obergärige, Lagerbier und bayerisches Bier unter-
gärige Biere. Die Auszüge werden aus den Bottichen durch Abziehen
von den Hülsen (Trebern) getrennt; sie sind süß und heißen Würzen.
Man kocht sie und versetzt sie mit Hopfen. Hopfen enthält ein aromatisches,
ätherisches Öl, einen Bitter- und Gerbstoff. Er macht das Bier haltbar,
bitterlich und aromatisch. Man klärt die gekochte Würze durch Seihen und
überläßt sie in großen Bottichen der ersten Gärung. Diese verläuft bei
Grünmalzwürze (durch Aufgießen erhalten), schwachem Hopfen, wenig Kochen
und hoher Gärungstemperatur (bis 15° C) rasch (in einigen Tagen); da-
gegen bei Darrmalzwürze (durch teilweises Auskochen erhalten), starkem
Kochen, viel Hopfen und niedriger Gärungstemperatur (5—10° 6) langsam
(in mehreren Wochen). Bei rascher Gärung steigt die Hefe mit dem Schaum
auf (obergäriges Bier), bei langsamer Gärung sinkt sie zu Boden (unter-
gäriges Bier). Je rascher das Bier gärt, desto kürzer, je langsamer, desto
länger hält es sich.
Das Bier besteht aus noch unvergorenem Malzextrakt, aus Alkohol von
vergorenem Zucker und aus Kohlensäure, die in dem Wasser gelöst sind. Kein
Bier darf ganz abgären. Es ist am wohlschmeckendsten, wenn ein richtiges
Verhältnis zwischen Malzextrakt, Alkohol und Kohlensäure vorhanden ist.
Da eine langsame Gärung nur in der kalten Jahreszeit möglich ist, so braut
man die haltbarsten Biere (die Sommerbiere, d. h. die im Sommer zu ver-
brauchenden) in den kältesten Monaten (Dezember, Januar, Februar). In
neuerer Zeit macht man sich durch Anwendung von Eis in den Kellern
unabhängig von der Temperatur der Jahreszeit.
Der Hopfen kann durch kein Mittel ersetzt werden. Versucht man es
dennoch durch andere Bitterstoffe, so ist dies stets eine Bierverfälschung,
welche dem Bier einen niedrigeren Grad der Güte, zum Teil eine schädliche
Wirkung auf den Körper verleiht. Daher ist nach bayerischem Gesetze jede
Verwendung anderer Stoffe zur Bierbereitung als Malz und Hopfen strafbar.
Auch bei der Bereitung des Branntweins vermischt man stärkemehl-
haltige Stoffe (Kartoffeln, Roggen, Weizen, Gerste, Mais, Reis u. s. w.)
mit Malz, stellt dadurch eine Gärungsflüssigkeit her und setzt dieser Hefe zu;
am dritten oder vierten Tag ist die Maische weingar oder reif. Der dabei
sich bildende Weingeist oder Alkohol — Spiritus — wird dann durch
Destillation in den Brennereien gewonnen. Ebenso kann Weingeist aus
gegorenen süßen Früchten (Zwetschgen, Kirschen), selbst aus Wein gewonnen
werden, wodurch man die verschiedenen Arten von Branntwein und Spiritus
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungrschulcn. Erweiterte Ausgabe. * 19
290
142. Gärung und Fäulnis.
erhält. Essig wird nicht unmittelbar durch Gärung, sondern erst aus den
durch Gärung erhaltenen Stoffen, also aus Wein, Spiritus u. s. w., gebildet.
Dabei wird durch Zufuhr von Sauerstoff der Luft der Weingeist in Essig-
säure verwandelt.
Die Zahl der angeführten Beispiele von Gärung könnte leicht vermehrt
werden. So ist das „Gehen" des Brotteiges eine Gärung; die Bildung
des Sauerkrautes beruht auf Gärung, ebenso das Sauerwerden der Milch,
wobei sich Milchzucker in Milchsäure verwandelt. Daraus ergibt sich die hohe
Bedeutung der Gärung für unsern Haushalt und unser gewerbliches Leben;
sind es doch tägliche Bedürfnisse, deren Befriedigung nur durch die Erzeugnisse
der Gärung möglich ist. Gleichwohl kann sie uns auch nachteilig werden,
indem Nahrungsmittel u. dgl. durch Gären verderben.
II.
Stickstoffhaltige Körper, wie Fleisch, Blut, Eiweiß, Käsestoff, Leim u. s. w.,
ergreift, wenn sie eine Zeitlang in der Wärme liegen, ein Zersetzungsprozeß,
welcher Fäulnis genannt wird. Die Fäulnis ist eine Art Gärung (faule
Gärung) und besteht in einer vollständigen Veränderung der organischen
Masse. Sie kündigt sich sofort durch höchst übelriechende, belästigende und
die Luft verpestende Gase an. Der üble Geruch rührt größtenteils von den
geringen Mengen Schwefel her, die sich beinahe in allen Teilen des tierischen
Körpers finden (im Fleisch, der Haut, dem Blute, der Wolle, den Haaren,
der Milch, dem Eiweiß, nicht in reinem Fett).
Alle Zersetzungsprodukte der Fäulnis haben einen großen Wert als
Nahrungsmittel der Pflanzen. Weil diese Verbindungen jedoch ohne Aus-
nahme sehr flüssig sind, so gehen dieselben durch Verdunstung verloren.
Man hat daher versucht, durch Zusatz von Kalk, Ton, Gips, Eisenvitriol diese
flüchtigen Stoffe an nicht flüchtige zu binden, wie es in Düngersabriken und
Leimsiedereien geschieht. Wegen der faulenden Stoffe aber, welche in diesen
Anstalten verarbeitet werden, legt man sie entfernt von den menschlichen
Wohnungen an.
Feuchtigkeit befördert bei angemessener Wärme die Zersetzung faulender
Körper, während Trockenheit, Siedhitze und strenge Kälte den Verfall ver-
zögern oder ganz aufhalten können. Alle wohlausgetrockneten Tier- oder
Pflanzenstoffe gehen nicht in Fäulnis über. Das Austrocknen geschieht ent-
weder an der Luft oder durch künstliche Wärme oder mittels eines Körpers,
der jenen Stoffen das Wasser vermöge großer Löslichkeit entzieht. Solche
sind das Kochsalz, auch wohl der Zucker; daher beruht auf den Eigenschaften
dieser Stoffe das Einsalzen und das Einmachen mit Zucker. Auch der Wein-
geist wirkt wasserentziehend auf die in ihm aufbewahrten Gegenstände. Im
Haushalt und im Gewerbe benutzt man den Eisschrank und den Eiskeller.
Umschließen mit Kohle und Räuchern (antiseptische Mittel) sind vorzügliche
Schutzmittel gegen Fäulnis.
142. Gärung und Fäulnis
291
An feuchten Orten verderben Vorräte, wie Holz, Mehl, Brot, Kleider,
Möbel fast regelmäßig. Man hüte sich vor dem Beziehen feuchter oder nicht
ausgetrockneter Wohnränme!
Wo Stoffe faulen, treten gewisse Pflanzen auf, die aus diesen Stoffen
ihre Nahrung nehmen. Dazu gehören die Pilze, und zwar nicht bloß die
größeren Arten, wie die bekannten „Schwämme" (der gefürchtete Hausschwamm,
auch tropfender Faltenschwamm und Tränenschwamm genannt, der „Schimmel"),
sondern auch jene kleinen, unscheinbaren, jedoch häufig sehr wirksamen Pflänzchen,
welche an dumpfen Stellen in feuchtwarmer Umgebung auf moderigem Boden
die Stoffzersetzung veranlassen und fördern. Sie werden deshalb Fäulnis-
erreger genannt. Erst durch das Mikroskop war es möglich diese oft schlimmen
Feinde näher kennen zu lernen, welche dem unbewaffneten Auge häufig als
feiner Staub erscheinen oder auch ganz entgehen. Ihre lebenden Keime sind
in der Luft und im Wasser sehr verbreitet, können leicht übertragen werden
und gedeihen bei mäßiger Wärme lebhaft.
Der Ursprung epidemischer Krankheiten läßt sich häufig von Fäulnis
großer Mengen tierischer und pflanzlicher Stoffe herleiten. Miasmatische
Krankheiten sind oft da epidemisch, wo beständig Zersetzung organischer Stoffe
stattfindet, in sumpfigen und feuchten Gegenden. Sie entwickeln sich epidemisch
unter denselben Umständen nach Überschwemmungen, ferner an Orten, wo
ein große Menschenzahl bei geringem Luftwechsel zusammengedrängt ist, auf
Schissen, in Kerkern und belagerten Orten. Niemals aber kann man mit
solcher Sicherheit die Entstehung epidemischer Krankheiten voraussagen, als
wenn eine sumpfige Fläche durch anhaltende Hitze ausgetrocknet worden ist,
wenn auf ausgebreitete Überschwemmungen starke Hitze folgt.
Um Nahrungsmittel vor dem Verderben zu schützen werden dieselben
teils getrocknet teils eingemacht und an passenden Orten aufbewahrt. Zum
Einmachen verwendet man Kochsalz, Zucker, Weingeist, Essig, Branntwein,
Öl. Doch erfordert ein richtiges Verfahren viel Sachkenntnis, handliche
Fertigkeit und besonders sorgfältige Reinlichkeit.
In Leith bei Edinburg, in Aberdeen, in Bordeaux und Marseille sowie
in manchen Orten Deutschlands haben sich Kochhäuser größter Ausdehnung
aufgetan, in welchen auf die reinlichste Weise Suppen, Gemüse, Fleischspeisen
aller Art zubereitet und auf die größten Entfernungen hin versendet werden.
Die fertigen Speisen werden in Büchsen von verzinntem Eisenblech ein-
geschlossen, die Deckel sodann luftdicht verlötet und in einem hierzu geeigneten
Ofen der Temperatur des siedenden Wassers ausgesetzt. Wenn dieser Hitz-
grad die Masse in der Büchse bis zur Mitte hin durchdrungen hat, was in
siedendem Wasser immer 3—4 Stunden dauert, dann sind diese Speisen
sehr viele Jahre hindurch haltbar. Wird die Büchse nach Jahren geöffnet,
so sieht der Inhalt gerade so aus wie in dem Augenblick, da er eingefüllt
wurde; die Farbe des Fleisches und der Gemüse, ihr Geschmack und Geruch
sind völlig unverändert. Diese schätzbare Aufbewahrungsmethode hat in
19»
292
142. Gärung und Fäulnis.
einer Menge Haushaltungen Eingang gefunden und die Hausfrauen in den
Stand gesetzt, den Tisch im Winter mit den seltensten Gemüsen des Frühlings
und Sommers sowie mit Gerichten zu zieren, die sonst nur zu gewissen
Jahreszeiten zu haben sind. Ganz besonders wichtig ist dieses Verfahren
zur Verproviantierung von Festungen und Armeen.
Manche Stosse, welche die Gärung aufheben, hindern oder verzögern
auch die Fäulnis, wie flüchtiges Senföl, Kreosot und namentlich Holzessig,
sodann Arsenik und Sublimat, Karbolsäure u. a. m. In verschiedenen Ge-
werben benutzt, man die Fäulnis, so bei der Flachsbereitung, bei der Her-
stellung von künstlichem Salpeter, in der Gerberei (Lohgerberei) und in der
Landwirtschaft.
Wenn Pflanzenteile längere Zeit der Wärme oder dem Einflufle der
Luft ausgesetzt sind, so verändern sie sich; Holz wird leichter, brüchiger,
später ganz mürbe (faules Holz) und verschwindet nach sehr langer Zeit
ganz und gar. Trockene Blätter werden braun, mürbe, pulverig und
bilden, mit der Erde gemischt, die sogenannte Dammerde. Auch trockene
tierische Substanzen unterliegen mit der Zeit derselben Veränderung, z. B.
Kleidungsstücke aus Wolle oder Leder. So vergeht alles, was den organi-
schen Reichen der Natur angehört, mehr oder weniger rasch und löst sich
scheinbar in nichts auf. Dieser großartige Zerstörungsvorgang heißt Ver-
wesung. Er unterscheidet sich von dem Gärungsvorgang äußerlich dadurch,
daß bei ihm vollständige Entmischung (Umwandlung in Gase) stattfindet,
und von dem Fäulnisvorgang, daß die entwickelten Gase geruchlos sind. Da
alle organischen Stosse Kohlenstoff enthalten, so muß unter den entwickelten
Gasen Kohlensäure sein.
Halbverweste Stoffe heißen vermodert. Auch bei dem Verwesungs-
vorgang spielen die niederen Organismen (z. B. Schimmelpilze) eine große,
ja die Hauptrolle. Sie nisten sich auf der Masse ein, zerstören dieselbe
oberflächlich und übertragen, indem sie sich entwickeln, den Sauerstoff der
Luft reichlich. Dadurch wird der Kohlenstoff zu Kohlensäure, der Wasserstoff
zu Wasser. Werden die niederen Organismen abgehalten oder ihre Ent-
wickelung durch Beseitigung der dazu nötigen Feuchtigkeit verhindert, so
wird auch die Verwesung sehr verlangsamt; daher sind Schutzmittel gegen
den Verwesungsvorgang: Bedeckung mit einer für die Luft schwer durch-
gängigen Schicht (z. B. Teeren, Lackieren oder Polieren von Holz), völliges
Austrocknen, völliger Abschluß der Luft, Durchdrungen mit Stoffen, welche
alle Poren ausfüllen (Imprägnieren von Holz mit Teer) u. dgl. m.
Durch Gärung, Fäulnis und Verwesung wird alles Organische zerstört
und geht, wenn diese Vorgänge ungehindert verlaufen, schließlich in unsicht-
bare Gase über. Die niederen Organismen befreien uns rasch von den
abgestorbenen Tier- und Pflanzenkörpern, welche außerdem bald die ganze
Erdoberfläche bedecken würden. Sie räumen das Tote hinweg und machen
143. Die Verklärung durch die Industrie.
293
Platz für neues Leben. Sie sind einerseits, indem sie unausgesetzt unsere
Werke vernichten helfen, unsere größten Feinde, anderseits aber, indem sie das
Gleichgewicht der lebenden Natur erhalten, wiederum unsere größten Wohltäter
Nach Arendt und Schödler
143. Die WerKkärung durch die Industrie.
Es ist doch ein eigenes Ding um die Jlldustrie. Nicht um Perlen
und Edelsteine dreht sie sich, nicht um Gold und Silber. Um das
Niedrige aber bewegt sie sich, um den unscheinbaren Flachs, die gewöhn-
liche Zuckerrübe, die flockige Baumwolle, die schmutzigen Kohlen, das ge-
meine Eisenerz und ähnliche Gebilde der Erde. Die Industrie bleibt aber
bei dem Niedrigen nicht stehen; sie steigt auch zu dem Verachteten hinab.
Des Bettlers Lumpen gewinnen in der Papierfabrikation wieder
Wert. Eine wunderbare Verwandlung geht mit ihnen vor; denn während
der Zentner wollener Lumpen nur einen Wert von 2—3 Mark besaß,
steigt er jetzt auf 20—30 Mark, wenn der Papierfabrikant eine richtige
Sichtung derselben vorgenommen hat. Viele Lumpen werden auch durch
die von Karl Thomas in Kriegstetten bei Solothurn erfundene Maschine
wieder aufgehaspelt und in ein schönes, neues Kleid, vielleicht auch in
eine schöne, neue Wolldecke verwandelt. So sammelt die Industrie die
übrigen Brocken, auf daß nichts umkomme, und verklärt sie im ewigen
Kreisläufe. Selbst was von wollenen Abfällen nicht mehr taugt, findet
noch seine Verwendung in den Fabrikzweigen der Pappe und der Tuch-
tapeten, des Filztuches oder des Berlinerblaus.
Sogar Papierschnitzel verwendet die Industrie. Sie weiß wohl, daß
im Pfennig der Zehner, im Zehner die Mark steckt und daß letztere end-
lich auch in unbeachteten, mit Füßen getretenen Papierschnitzeln ruhen
müsse. Zu diesem Zwecke zerstampft sie dieselben zu einem Teige, bringt
diesen in Formen, tränkt ihn mit Öl und Leimwasser, trocknet die Form,
drechselt sie ab, schleift sie mit Bimsstein, malt und lackiert sie endlich.
Wir sind in eine Papiermachefabrik getreten, wie sie sich in Nürnberg,
Dresden, Frankfurt a. M., Sonneberg u. s. w. sinden. Hier feiern die
ehemals verachteten Papierschnitzel ihre Auferstehung in herrlichen Dosen
und Masken, oft aber auch in Kunstwerken bedeutender Art, wie das
zwei herrliche Leuchter im Dome zu Erfurt beweisen. Der Papierteig
spielt auch eine große Rolle bei Herstellung von Puppenköpfen. Die
unbeachteten Sägspäne gesellen sich als Ausfüllung der Puppenleiber
den Papierschnitzeln an die Seite.
Nach einer anderen Seite hin besitzen die Hobelspäne eine gleich
große Bedeutung. Auf sie begründete der Mensch die Schnellessig-
294
143. Die Verklärung durch die Industrie.
fabrikation. Zu diesem Zwecke häuft er das wertlose Material in großen
Fässern zusammen und setzt ein zweites Faß mit Branntwein darüber;
dann läßt man denselben tropfenweise über die Hobelspäne hinweggleiten
unb gewinnt somit durch dieselben eine ungeheure Fläche auf engem
Raum, um durch sie den Spiritus mit der größtmöglichen Menge von
atmosphärischer Luft in Berührung zu bringen. Durch solch einfache Vor-
richtung zwingt der Fabrikant den Spiritus, sich mit dem Sauerstoffe der
Luft zu verbinden und den besten Essig auf die wohlfeilste Weise zu liefern.
Noch bemerkenswerter ist die Benutzung des Straßen- und Chaussee-
staubes. Die schönen Blumenampeln, die wir in den feinsten Zimmern
als herrliche und billige Zierden finden, sind Erzeugnisse aus demselben.
Auch die Abfälle des Meerschaums werden durch die Industrie ver-
klärt. Dies Mineral wird vorzüglich in Kleinasien gegraben, größten-
teils ausgeführt und nun zu Pfeifenköpfen geschnitten. Unendlich viel
Material ging früher bei dem Bohren und Schneiden verloren. Jetzt
weiß man auch den Abfall künstlich wieder zu benutzen; man fertigt aus
ihm die unechten Meerschaumköpfe dadurch, daß man ihn fein zerreibt,
siebt, mit Wasser und irgend einem Bindemittel, namentlich mit Pfeifen-
ton, zu einem Teige knetet und denselben getrocknet genau wie den echten
Meerschaum behandelt. Dieses Verfahren hat Christoph Dreiß in Ruhla
1772 erfunden. Auch die Abfälle der Pflanzen werden in vielfacher
Weise nutzbringend verwendet; so beruht auf den Resten der ausgekelterten
Weintrauben (den Trestern) zum Teil die Bleiweißfabrikation; auf der
Verbrennung der Weintrester und der abgeschnittenen Weinreben ist die
Bereitung des Frankfurterschwarz begründet.
Kein Tier stirbt, die Industrie weiß jeden Teil von ihm zu ver-
edeln. Ohne die Gedärme des Schafes würden wir keine Darmsaiten,
mithin kein Streichinstrument kennen; die Häute verwertet der Gerber,
die Flechsen und Sehnen der Leimfabrikant. Was der Weißgerber von
seinen Fellen als wertlos und unnütz abschabte, liefert diesem noch gegen
46 % Leim. Rindsfüße und Pergamentschnitzel geben noch 62°/0, Schnitzel
von Ochsenhäuten aus Buenos Aires 60°/0 Leim. Selbst einen abgenutzten
Handschuh verachtet er nicht. Daraus gewinnt er noch mit vielerlei Ab-
fällen der Lohgerberei gegen 42 °/0 Leim. Somit gründet sich wieder auf
Brocken ein neuer, wichtiger Fabrikzweig. Ohne ihn wäre kein Tischler
denkbar, ohne ihn keines der herrlichen Mahagonimöbel, welche nur durch
Aufleimen der sogenannten Fourniere verfertigt werden; ohne ihn würde
der Buchdrucker seine unentbehrliche Druckerwalze, zu der Sirup und Leim
verwendet wird, nicht besitzen. Ja, ohne diese Leimwalze würden wir
heute noch keine Schnellpresse huben.
143. Die Verklärung durch die Industrie.
295
Die Industrie läßt nicht einmal das Stückchen Leder umkommen, das
eben als unbrauchbar vom Tische des Schuhmachers fiel. Ist es noch
groß genug, verfertigt sie aus ihm einen brauchbaren ledernen Knopf.
War das Stückchen hierfür zu klein, dann übernimmt es mit Vergnügen
die Berlinerblau-Fabrik. Ihr kommt es nicht auf die Größe des Abfalls,
sondern lediglich auf diesen selbst und seine Billigkeit an. Sie glüht
den tierischen Stoff mit Pottasche, laugt das Verbrannte aus, versetzt
die Lauge mit Eisenvitriol und Alaun, worauf sich das kostbare Blau
erzeugt. Was einst der Mensch als Abfall mit Füßen trat, dient nun
in der Kattundruckerei als wichtiges Farbenmaterial zu Blau und Grün,
ebenso in den Färbereien der Seide, Wolle und Baumwolle.
Auch um den tierischen Knochen, der wertlos auf Wegen und
Angern herumlag, streitet sich die Industrie. Den wertvolleren wünscht
der Knopffabrikant, der ihn neben der Steinnuß zu Knöpfen verarbeitet;
jeder andere ist dem Zuckerfabrikanten recht. Ohne das schwarze Knochen-
mehl würde er den bräunlichen Zuckersaft nicht zu klären, keinen Raffinade-
zucker zu liefern imstande sein. Das gebrannte Knochenmehl wird auch
zur Bereitung von Stiefelwichse verwendet; der Erfinder derselben,
Habermann, wurde zum reichen Manne.
Seit Jahrhunderten sendet uns Aftika seinen Salmiak. Dieser ist
nichts als das Sublimat (durch Feuer Verflüchtigte) des Kamelmistes.
Aus dem Kuhmiste dagegen werden Farbstoffe gewonnen, welche in der
Türkischrotfärberei Verwendung finden. Das Horn des Ochsen liefert
die feinsten Kämme.
Wohin wir auch blicken im Gebiete der Industrie, überall tritt uns
das Bild der Verklärung des Niedrigen entgegen, den Geist erhebend und
belebend. Sie ist der Abglanz der Natur. Nichts geht in dieser ver-
loren, kein Stäubchen, kein Tropfen, kein Hauch, keine Kraft. Kein
Atemzug ist umsonst; denn die ausgehauchte Kohlensäure wird aus der
Luft wieder mit dem Regen niedergeschlagen, um noch, gleichviel wie-
wenig oder wieviel, als Pflanzennahrung zu dienen. Keine Zigarre
vermag der Raucher zu vernichten; sie muß verbrannt als neue Kohlen-
stoffverbindung wie die ausgehauchte Kohlensäure dienen. Kein Blitz kann
durch die Luft zucken, er muß aus dem Stickstoff und Wasserstoff der
Luft Ammoniak bilden. Wenn wir dasselbe auch kaum ahnen, führt es
der Regen den Pflanzen doch als neue, wichtige Quelle des unentbehr-
lichsten Stickstoffs als Nahrung zu. Wohin wir uns auch wenden, die
Natur macht alles gleichsam wieder zu Geld, das Kleinste, das Un-
bedeutendste. Das ist das Gesetz der weifen Sparsamkeit der Natur.
Nach K, Müller.
296
144. Bedeutung der Maschinen.
144. Bedeutung der Maschinen.
Jede Erfindung, welche die Naturkräfte in den Dienst mensch-
licher Arbeit zieht, kann im allgemeinen nur als ein Segen für
unser Geschlecht betrachtet werden. Indessen hat man auch viel-
fach eine entgegengesetzte Meinung gehabt. In gewerbfleißigen
Gegenden gewöhnen sich oft viele Menschen daran durch eine
besondere Beschäftigung, wie etwa Garnspinnen oder Nägel-
schmieden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn nun eine
Maschine erfunden wird, welche die Tätigkeit dieser Arbeiten über-
nimmt, so werden sie brotlos. Solchen Leuten ist es oft unmöglich
augenblicklich einen anderen Verdienst zu finden; daher geschieht
es, daß sie sich durch die Fortsetzung ihrer altgewohnten Ge-
schäfte in einen Wettlauf mit der Maschine einlassen. Dies aber
muß ihnen zum Schaden gereichen, indem sie immer wohlfeiler
und wohlfeiler arbeiten müssen, bis sie endlich in großes Elend
geraten. Diese Leute klagen dann die Fabriken an ihr Elend
verschuldet zu haben und das Mitleid, welches man mit ihnen
hat, verursacht hier und da den Glauben, die Erfindungen im
Maschinenwesen brächten mehr Schaden als Nutzen. Man kam
zu der irrigen Annahme, die Einführung von Maschinen mache
die menschliche Arbeitskraft überflüssig und beraube die arbeiten-
den Klassen ihres Lebensunterhaltes. Bei einiger Überlegung
aber wird sich zeigen, daß solche Befürchtungen als grundlos
bezeichnet werden müssen.
Die sämtlichen Arbeiter, welche zu einer gewissen Zeit
beschäftigt sind, leben nicht vom unmittelbaren Verkauf ihrer
Erzeugnisse, sondern vom Arbeitslohn; daher ist klar, daß um
so mehr Arbeiter beschäftigt werden können, je beträchtlicher
das Kapital ist, welches in der Industrie angelegt wird um teil-
weise als Arbeitslohn ausbezahlt zu werden. Das Maß der zu ver-
gebenden Arbeit hängt also von dem gleichzeitig verfügbaren
Kapital ab. Der Gebrauch der Maschinen führt aber nicht weniger
Kapital dem Gewerbewesen zu als früher; im Gegenteil, derselbe
vermehrt das Kapital, weil er dem ganzen Gewerbewesen immer
größere Vorteile bringt. Die Anwendung von Maschinen hat die
Kapitalien, welche im Gewerbe und in der Industrie angelegt
wurden, seit hundert Jahren um das Vier- bis Fünffache gesteigert.
Man könnte einwenden, das Kapital werde in Maschinen und
nicht als Arbeitslohn angelegt. Dies ist allerdings wahr; aber die
144. Bedeutung der Maschine,!.
297
Maschinen werden von Menschenhänden gemacht durch Menschen-
arbeit. Wird die menschliche Arbeit durch die Maschine unter-
stützt, so verhält sich die Sache nur etwas anders. Die Hand-
arbeit unterscheidet sich von der Maschinenarbeit dadurch, daß
bei ersterer fast alles durch Menschenkraft erreicht wird, die
Herstellung aber mühsam und die Menge des Hergestellten gering
ist; die Maschinenarbeit beschäftigt weniger Menschenkräfte bei
der Herstellung, dagegen sind mehr Arbeiter zur Verfertigung
der Maschinen selbst nötig und die Menge des Hergestellten ist
bei weitem größer.
Die Arbeit verteilt sich also auf andere Arbeiterklassen. Wenn
ein Kapitalist ein Kapital zur Verfertigung von Strümpfen ver-
wendet, die er mit der Hand stricken läßt, so geht sein Geld in
Form von Löhnen an viele Strickerinnen hin. Läßt er die Strümpfe
aber auf der Strickmaschine arbeiten, so gehen die Löhne in eine
andere Hand. Ein Mann reicht hin um die Maschine zu be-
aufsichtigen; aber die verschiedenen Personen, welche die Ma-
schine gemacht haben, erhalten Lohn aus derselben Quelle.
Unter diesen befinden sich Bergleute, welche Kohlen gruben um
Dampf für die Maschine zu schaffen, Bergleute, welche das Erz
zutage förderten, Arbeiter, welche das Erz schmelzten und Eisen
bereiteten, dann die verschiedenen Arbeiter, welche die Maschine
verfertigten.
So ist kein Grund zu fürchten, daß das Maschinenwesen
die Handarbeit vernichte. In der Tat hat auch die Erfahrung
gezeigt, daß dasselbe die Nachfrage nach Arbeit sehr vermehrt
und die Lage der arbeitenden Klasse ungemein verbessert hat.
Alle Waren sind durch Einführung der Maschinen in die Fabri-
kation viel billiger geworden; ihre Menge und Verbreitung ist
ungeheuer gewachsen.
Das Vorurteil gegen die Maschinen hat von jeher bestanden.
Vor vier Jahrhunderten machte die neu erfundene Buchdrucker-
kunst viele Abschreiber brotlos und doch beschäftigt jetzt der
Buchdruck wohl hundertmal mehr Arbeiter, als es im Mittelalter
Abschreiber gab. Allerdings ist in der Gegenwart das Bedürfnis
nach Büchern ein viel größeres als früher. Bis in den Anfang
des 19. Jahrhunderts wurde mit der Handpresse gedruckt; da
erschien 1811 die erste Schnellpresse. Die Buchdruckergehilfen
von Deutschland und Frankreich traten der Verbreitung einer
Maschine, von welcher sie die Vernichtung ihres Erwerbes
298
145. Die einfachen Maschinen.
befürchteten, feindlich entgegen, ja zerstörten an manchen Orten
die schon arbeitenden Schnellpressen. Die weitere Verbreitung
dieser Maschinen wurde aber hierdurch nicht aufgehalten; in
allen größeren Buchdruckereien sind sie jetzt eingeführt.
Durch die Maschinen sind die Arbeiter zu größerer Freiheit
gelangt, da ihnen jene die härteste und niedrigste Arbeit ab-
nahmen. Die reine körperliche Tätigeit wird mehr und mehr
durch die Arbeit des Geistes ersetzt.
Das Maschinenwesen kann aber nicht jede Handarbeit ver-
drängen; denn es gibt viele Arbeiten, welche sich nicht mit der
Maschine ausführen lassen. Dahin gehören namentlich alle kunst-
gewerblichen Erzeugnisse. Auch werden gewisse Handwerke nicht
durch den Großbetrieb mit Maschinen verdrängt werden. Das
sind diejenigen, welche jeden Augenblick neue Überlegung und
geistige Tätigkeit erfordern und die sich an das besondere Be-
dürfnis einzelner Personen anschließen. Die gesteigerte Hand-
geschicklichkeit wird stets die mechanische Arbeit der Maschine
Überflügeln. Nach Chun.
145. Die einfachen Maschinen.
Der Hebel und seine Anwendung.
Heben wir mit gestrecktem Arm eine Last in die Höhe, so findet im
Stützpunkte, dem Schultergelenk, eine Drehung statt. Zum Heben von
Lasten gebraucht der Mensch aber nicht nur seine Arme sondern auch
Stangen und Stäbe, die um einen Stützpunkt drehbar sind. Sie heißen
Hebel. Der Arbeiter im Steinbruch lockert mittels einer Eisenstange,
des Brecheisens, die Steine, die er mit der bloßen Hand nicht zu heben
vermag. Er vermehrt durch die Eisenstange seine eigene Kraft. Der
Drehpunkt der Stange liegt nahe dem unteren Ende derselben. Man
unterscheidet von ihrem Stützpunkt aus einen längeren und einen kürzeren
Teil. Am Ende des letzteren ruht die nach unten drückende Last, während
am Ende des ersteren die Kraft des Menschen gleichfalls nach unten
wirkt. Die vom Dreh- oder Stützpunkt ausgehenden Teile des Hebels
heißen Arme; den einen nennt man Last-, den anderen Kraftarm. Da
der eine lang, der andere kurz ist, so haben wir in dem Brecheisen einen
ungleicharmigen Hebel. Ein genau in der Mitte unterstützter Stab ist ein
gleicharmiger Hebel. Es kommt aber auch vor, daß der Drehpunkt an einem
Ende des Hebels liegt, so daß der letztere einarmig erscheint. Kraft und
Last wirken dann an derselben Seite, aber nach entgegengesetzten Richtungen
145. Die einfachen Maschinen.
299
Der gleicharmige Hebel findet nur geringe Anwendung, weil er
weder eine Kraftersparnis noch einen Gewinn an Geschwindigkeit der
bewegten Last gewährt. Im Maschinenwesen dient er nur dazu eine
ihm mitgeteilte Bewegung in umgekehrter Richtung weiter zu übertragen.
Seine wichtigste Verwendung erhält er bei der Wage. An den Enden
ihres Hebels befinden sich Schalen zur Aufnahme der Belastungen.
Der Hebel heißt Wagbalken; sein Stützpunkt besteht aus einer Stahl-
schneide, die auf einer polierten Pfanne von Stahl oder Achat aufliegt.
An den Enden des Wagbalkens sind zwei andere Schneiden angebracht,
damit die Wagschalen genau aufgehängt werden können. Zur Beobachtung
des Ausschlages ist an dem Balken ein Zeiger, die Zunge, angebracht,
der bei besseren Wagen nach abwärts geht und an einer Skala spielt.
Eine richtige Wage muß gleich lange und gleich schwere Balkenarme haben;
die Schalen müssen gleich schwer sein und der Balken muß im ständigen
Gleichgewicht sich befinden, sein Schwerpunkt muß also lotrecht unter
dem Stützpunkte liegen. Auch mit einer unrichtig gehenden Wage lassen
sich richtige Wägungen ausführen. Man legt den Körper in die eine
Schale und belastet die andere mit Sand oder Bleischrot so lange, bis
Gleichgewicht entsteht. Ersetzt man nun den Körper durch so viel Gewichts-
stücke, bis abermals Gleichgewicht vorhanden ist, so ergeben diese das
richtige Gewicht.
Der ungleicharmige Hebel überrascht uns durch seine auffallenden
Leistungen. Es genügen geringe, an sehr langen Hebelarmen wirkende
Kräfte zur Hebung bedeutender Lasten. Als der griechische Gelehrte
Archimedes zuerst die Gesetze des Hebels erkannte, soll er in der Begeisterung
den Ausspruch getan haben: „Gebt mir einen Stützpunkt und ich hebe
die Erde aus ihren Angeln!" Der ungleicharmige Hebel setzt den Menschen
in den Stand Leistungen über seine eigene Kraft zu erzielen. Es
werden Arbeiten verrichtet, die ohne denselben schwer ausführbar wären.
Der ungleicharmige Hebel findet in unzähligen Fällen Anwendung: als
Hebebaum, Brecheisen, Schlagbaum, Bohrer, Schlüssel, Zange, Schere,
Schnellwage u. s. w.
Auch der einarmige Hebel mindert die Schwere der Arbeit und
findet darum viele Freunde. Auf einem Schiebkarren wird die Last um
so weniger fühlbar, je näher man sie dem Rade rückt. Als Hebel-
presse, Futterschneidmesser, Zucker- und Flachsbreche, Nußknacker, Ruder,
Sicherheitsventil bei Dampfkesseln u. s. w. leistet dieser Hebel gute Dienste.
Bei der Brückenwage ist sowohl der zweiarmige als der einarmige Hebel
angewendet.
300
145. Die einfachen Maschinen.
Die Wirkungen der Hebel erfolgen mit Unterbrechungen. Um eine
fortdauernde Wirksamkeit derselben zu sichern, gibt man ihnen die Form
von kreisrunden Scheiben und nennt dieselben Rollen. Durch den Mittel-
punkt derselben geht eine leicht drehbare Achse, die in einer Schere ruht.
In den Rand der Rolle ist eine Furche eingeschnitten, in welche ein
Seil eingelegt wird. An dem einen Ende des letzteren wirkt die Kraft.
Kann die Rolle sich nur um ihre Achse drehen, aber nicht auf- und
abbewegen, so heißt sie feste Rolle. Sie wirkt wie der gleicharmige
Hebel. Man benutzt die feste Rolle um die Richtung der Kraft ab-
zuändern und um unbequeme und ungeeignete Zugsrichtungen in bequeme
zu verwandeln, z. B. um schwere Lasten durch die Zugkraft eines Pferdes
zu heben (Bauaufzug). Hängende Gegenstände lassen sich mittels der-
selben leicht verschieben. Wir finden z. B. die feste Rolle an der Zug-
vorrichtung bei Hängelampen, in den Scheunen zum Emporziehen von
Fruchtgarben, bei Bauten zum Hinausschaffen der Mörteleimer.
Eine Rolle, die nicht an ihrer Schere aufgehängt ist, sondern durch
ein Seil aufgezogen und niedergelassen werden kann, nennt man Zugrolle
oder lose Rolle. Das Ende eines Seiles wird an dem Haken eines
Balkens befestigt und darauf das Seil um die lose Rolle gelegt. Der
andere Teil des Seiles wird um eine feste Rolle des Balkens so ge-
zogen, daß das Ende an der Seite der festen Rolle herunterhängt. An
die Schere der losen Rolle hängt man eine Last und kann diese dann
mit der losen Rolle durch das herabhängende Seilende in die Höhe
ziehen oder niederlassen. Die bewegliche Rolle ist gleich einem ein-
armigen Hebel. Der Unterstützungspunkt ist da, wo das Seil den aus-
gehöhlten Rand der losen Rolle gerade noch berührt. Die Hälfte der
Last wird von dem festen Seilende getragen und so darf die Kraft nur
halb so groß als die Last sein um die bewegliche Rolle im Gleichgewicht
zu halten. Die bequemste Anordnung um mittels beweglicher Rollen
Lasten zu heben bietet der Flaschenzug, welcher aus zwei oder drei
festen und ebensoviel beweglichen Rollen besteht. Er wird mit Vorteil
zum Emporwinden bedeutender Lasten verwendet.
Eine einfache Anwendung des ungleicharmigen Hebels ist das Rad
an der Welle. Das Rad ist so mit der Walze, Welle genannt, ver-
bunden, daß es senkrecht auf der Wellenachse steht und daß sein Mittel-
punkt mit der Wellenachse zusammenfällt. Dieses kreisrunde Rad wird
in der Regel durch eine Kurbel ersetzt. Das Wellrad findet nicht minder
zahlreiche Verwendungen als der Hebel. Man benutzt es zu Aufzugs-
vorrichtungen, Kranen, als Haspel, als Göpel oder Erdwinde, als Tret-
rad und Fuhrmannswinde; auch die Zahnräder in den Maschinen sind
146. Die schiefwirkende Kraft.
301
Räder an Wellen. Das einfachste Beispiel des Rades an der Welle ist
der allbekannte Ziehbrunnen.
Eine besondere Anwendung findet in der Mechanik der Kniehebel.
Er besteht aus zwei durch ein Gelenk verbundenen Metallstäben, von
denen der obere an einem festen Widerlager angebracht ist, während der
untere sich auf eine Platte stemmt, welche einem auf sie wirkenden Drucke
nachgibt. Der Kniehebel wird mit Vorteil bei Druckpressen, Prägwerken
angewendet, bei welchen ein vorübergehender, aber äußerst starker Druck
ausgeübt werden soll. Bilden die Hebelarme miteinander einen Winkel,
in dessen Spitze die Drehungsachse liegt, so entsteht der Winkelhebel, wie
man ihn z. B. an Klingelzügen sieht.
146. Die schiefwirkende Kraft.
Der Fuhrmann, welcher ein schweres Faß auf seinen Wagen laden
will, hebt es nicht gerade hinauf, weil dazu seine Kräfte nicht ausreichen;
vielmehr legt er seine Schrotleiter an und rollt das Faß darüber hinauf.
Dabei kommt er mit geringeren Kräften aus. Wenn wir einen steilen
Berg erklimmen wollen, so steigen wir nicht gerade vorwärts zum Gipfel
hinauf, sondern folgen gemächlich dem auf Umwegen im Zickzack oder
schneckenförmig sich windenden Pfade (Serpentine).
Was an Kraft erspart wird, geht an Zeit verloren. Rollt man
das Faß auf ebener Erde fort, ffo wird das ganze Gewicht desselben
vom Boden getragen; nur der Reibungswiderstand erfordert eine Kraft
zur Fortbewegung. Die Schrotleiter ist eine schiefe Ebene. Auf
dieser wird das Gewicht des Körpers in zwei Kräfte zerlegt. Nur ein
Teil der Last wird von der Unterlage getragen. Der andere Teil wirkt
in der Richtung der schiefen Ebene abwärts. Dieser nach abwärts gerichtete
Zug ist neben der Reibung bei der Hebung zu überwinden. Je steiler
die schiefe Ebene ist, desto größer muß die Kraft sein um die Last empor-
zuheben; je weniger geneigt aber die Ebene ist, je mehr sie also der
wagerechten nahe kommt, desto geringer ist die Kraft, welche die Last
darauf emporzuheben vermag.
Die Verwendung der schiefen Ebene im täglichen Leben ist äußerst
mannigfaltig. An den Verladungsplätzen der Bahnhöfe baut man
Rampen; beim Bauen von Häusern legt man sogenannte Laufbrücken
an um Baumaterial hinauszuschaffen; an den Sägmühlen befinden sich
die schrägen Brücken um die Sügklötze darauf emporzuziehen; die
Kämme steiler Berge überschreitet man mittels schlangenförmiger Wege.
Die Steigung der Landstraßen soll in der Regel nicht über 5 °/0, die bei
Eisenbahnen nicht über 1,6% betragen. Treppen, Leitern u. s. w. sind
302
146. Die schieftvirkende Kraft.
fernere Beispiele der schiefen Ebene. Außerdem findet die schiefe Ebene
bei einer Menge von Instrumenten und Werkzeugen Anwendung. So
wird der Keil aus zwei schiefen Ebenen, welche zu einer Kante zusammen-
stoßen, gebildet. Seine gewaltigen Wirkungen lassen sich nur aus der
Kraftersparnis dieser Ebenen erklären. Je schmäler der Rücken des Keiles
im Verhältnis zu seiner Länge ist, desto leichter und langsamer wirkt er.
Wollen die Zimmerleute beim Bau eines Hauses einen aus der Richtung
gekommenen schweren Balken wieder in seine frühere Lage bringen, so
treiben sie einen eisernen Keil mit wuchtigen Schlügen unter denselben.
Die schwere Last hebt sich. Die Verwendung einer ganzen Reihe der
wichtigsten und alltäglichsten Werkzeuge in Haus und Werkstatt erklärt
sich uns aus den Wirkungen der schiefen Ebene. Der Holzhauer treibt
den Keil in die mächtigen Blöcke um sie zu. spalten. Beile, Äxte, Messer,
Scheren, Hobel, Meißel, Pflugmesser u. s. w. sind Keile mit möglichst
schwachen Rücken, damit sie geringen Widerstand erfahren. Diesen leisten
die durch den Keil auseinanderzutreibenden Wände. Letztere würden
den Keil nach jedem Schlage wieder herausschleudern, wenn die Reibung
nicht noch stärker wäre. Durch diese werden Nägel und Nadeln, die
nichts als schlanke Keile sind, in Holz und Mauern festgehalten. Keil-
förmig treibt selbst die Pflanze ihre Wurzeln in das Erdreich.
Die Schraube ist gleichfalls eine schiefe Ebene. Eine Schrauben-
linie entsteht, wenn man ein rechtwinkliges Dreieck, etwa aus Papier, um
einen Zylinder wickelt. Wird um diesen die Schraubenlinie in den
Zylinder eingeschnitten, so erhält man eine Schraubenspindel; die
Schraubenmutter ist ein zylindrisch durchbohrter Körper, der so aus-
gearbeitet ist, daß die Gänge der Schraubenspindel genau hineinpassen.
Wird die Spindel oder die Mutter gedreht, während der andere Teil
verhindert ist sich mitzndrehen, so schiebt sich die Spindel durch die
Mutter oder die Mutter über die Spindel. Man sieht daher, daß die
Schraube nichts anderes ist als eine um einen Zylinder gewundene
schiefe Ebene.
Die Schraube findet wohl unter allen Maschinen die meiste An-
wendung. Ihrem Wesen nach dient sie zum Auf- und Niederbewegen
von Lasten. Will der Zimmermann eine bedeutende Last emporheben,
so greift er zur Schraube. Er schiebt dieselbe unter den Balken und
dreht die Spindel mittels einer Hebestange herum, so daß sie sich auf-
wärts bewegt. Man verwandelt auch häufig die Hebung in einen Druck,
der auf die Last geübt werden muß, wenn diese sich nicht frei bewegen
kann. So drückt bei Buchdrucker- und Weinpressen die abwärts gerichtete
Spindel die unter ihr liegenden Massen zusammen. Außer diesen
147. Der einseitige Luftdruck.
303
Maschinen findet die Schraube noch Anwendung beim Bohrer und Kork-
zieher, bei dem Schraubstock, dem Schraubenboot und der Meßschraube
Mikrometerschraube). Wird die Schraubenspindel statt mit einer
Schraubenmutter mit einem Zahnrade verbunden, so erhält man die
sogenannte Schraube ohne Ende. Verwendung findet dieselbe namentlich
beim Drehen des Steuers an Danrpfschiffen und beim Aufziehen schwerer
Lasten.
147. Iler einseitige Luftdruck.
Die Luft ist ein Körper. Als solcher ist sie wie jeder andere Körper
dem Zuge der Schwere unterworfen. Alle höheren Schichten drücken
durch ihr Gewicht gegen die niedriger gelegenen und Pressen diese zu-
sammen. Die unterste Schichte endlich drückt gegen den Erdboden.
Daraus folgt, daß die obersten Schichten, auf denen kein Druck lastet,
äußerst dünn sein müssen und daß die Dichtigkeit zunimmt, je näher
eine Schicht dem Erdboden liegt. An der Grenze der Atmosphäre ist
der Luftdruck Null; er wächst mit abnehmender Höhe und erreicht seinen
größten Wert an der Erdoberfläche. Die Größe des Luftdruckes messen
wir durch die Höhe einer Quecksilbersäule, welche demselben das Gleich-
gewicht hält. Eine ungefähr 8O cm lange und 1 cm weite, einseitig zu-
geschmolzene Glasröhre wird unter Vermeidung allenfallsiger Luftblasen
vollständig mit Quecksilber gefüllt. Man verschließt die Öffnung mit
dem Finger und stellt die Röhre verkehrt in ein Gefäß, das ebenfalls
Quecksilber enthält, so daß die Mündung vollständig unter der Queck-
silberoberfläche liegt. Das Quecksilber im Rohre sinkt und bleibt in
einer Höhe von etwa 76 cm stehen; die Quecksilbersäule wird also vom
Luftdrucke getragen.
Hingen die kleinsten Massenteilchen der Luft, wie bei festen Körpern,
fest aneinander, so würde ein Druck nur nach unten stattfinden. Weil
aber die Teilchen nach allen Richtungen auseinanderstreben, so ist der
Luftdruck allseitig. Der Druck nach oben hebt jedoch den nach unten
auf, der Druck von links hält dem von rechts das Gleichgewicht. Der
Luftdruck ist demnach unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht bemerkbar
wirksam. Beseitigen oder vermindern wir den Druck aus einer Seite,
so wirkt er auf der anderen Seite ausschließlich oder doch im Überdruck.
Nur der einseitige Luftdruck kann wahrnehmbare Wirkungen hervor-
bringen. Beim Einatmen wird die Brusthöhle erweitert. Die in der-
selben vorhandene Luft erhält einen größeren Raum und wird verdünnt.
Dadurch bekommt der Luftdruck von außen das Übergewicht und preßt
die Luft in die Brust. Einen Strohhalm tauchen wir mit dem einen Ende
304
147. Der einseitige Luftdruck.
in Wasser; am anderen Ende ziehen wir durch Saugen die Luft heraus.
Durch den Luftdruck von außen, der im Innern des Halmes nunmehr
keinen Gegendruck sindet, wird das Wasser im Halm emporgetrieben.
Ein Trinkglas wird vollständig mit Wasser gefüllt, ein Papier darauf
gedeckt und das Glas umgekehrt. Das Wasser läuft nicht heraus. Der
nach oben wirksame, einseitige Luftdruck verhindert das Herabfallen des
Wassers. Taucht man eine in der Mitte erweiterte Röhre in Wasser,
so füllt sie sich mit demselben. Durch festes Auflegen des Daumens
aus die obere Öffnung wird die Luft hier abgeschlossen und der Luft-
druck von unten trägt die Wassersäule; das Wasser kann herausgehoben
und fortgetragen werden. Sobald der Daumen sich hebt, kommt auch
der Luftdruck von oben zur Geltung und gleicht den unteren aus. Ver-
möge seiner Schwere fällt das Wasser herab. Eine solche Röhre heißt
Stechheber. Eine gekrümmte Röhre, deren Schenkel ungleich lang sind,
wird Saugheber genannt. Der kürzere Schenkel steht in einer Flüssig-
keit. Durch Saugen am längeren Schenkel beseitigt man die Luft aus
der ganzen Röhre. Diese füllt sich mit der Flüssigkeit. Ununterbrochen
läuft die letztere hervor. Auch der Blasebalg des Schmiedes beruht auf
dem einseitigen Luftdruck. Wird der Deckel gehoben, so entsteht im
Innern ein luftverdünnter Raum. Die äußere Luft öffnet die Seiten-
klappe. Die erstere strömt hinein. Der Deckel wird heruntergedrückt,
die innere Luft wird zusammengepreßt und sindet den Ausweg durch das
Rohr, da das Ventil sich infolge des Druckes schließt.
Großen Nutzen zieht der Mensch aus dem einseitigen Luftdruck bei
den Pumpen. Die gewöhnlichste ist die Säugpumpe. Im Wasser-
behälter reicht bis unter den tiefsten Wasserstand das engere Saugrohr;
dieses wird am oberen Ende durch ein Ventil geschlossen, das sich nach
oben öffnet. Über diesem erhebt sich das weitere Steigrohr mit dem
Ausflußrohr. Im Steigrohr läßt sich der durchbohrte Kolben an der
Kolbenstange mittels des Schwengels, eines ungleicharmigen Hebels, auf-
und niederbewegen. Die Durchbohrung des Kolbens ist am oberen Ende
durch ein nur nach oben sich öffnendes Ventil geschlossen.
Beim Heben des Kolbens entsteht unter demselben ein luftverdünnter
Raum. Die Kolbenklappe schließt sich infolge des oberen Luftdruckes.
Dagegen treibt der Luftdruck auf die Wasserfläche im Brunnen das
Wasser im Saugrohr in die Höhe. Das Säugventil öffnet sich. Das
Wasser tritt in das Steigrohr. Der Kolben wird hierauf niedergedrückt.
Das Säugventil wird durch den Druck des Wassers geschlossen; das
letztere kann also nicht wieder zurückfließen. Zugleich öffnet das Wasser
das Kolbenventil und tritt über den Kolben. Beim nächstfolgenden Heben
147. Der einseitige Luftdruck.
305
nimmt der Kolben das Wasser mit hinauf. Es läuft aus dem Ausfluß-
rohr ab. Diese Vorgänge wiederholen sich bei jedem Zuge des Kolbens.
Kann nun durch eine solche Säugpumpe das Wasser in jede beliebige
Höhe gehoben werden? Dieses ist nicht der Fall. Weil die Luft nur
eine 76 cm hohe Quecksilbersäule trägt, so wird auch das Wasser nur
bis zu einer bestimmten Höhe emporgehoben. Wasser ist 13,6 mal so
leicht wie Quecksilber. Eine Wassersäule im Gewichte der 76 cm hohen
Quecksilbersäule ist demnach 13,6X76 om — 1033 cm — abgerundet
1000 cm — IO rn hoch. Die Luft trägt demnach eine IO m hohe
Wassersäule. Das Säugventil der Säugpumpe darf demzufolge höchstens
IO rn über dem Wasserspiegel sich befinden.
Ist das Wasser aus großer Tiefe zu heben, so bedient man sich
deshalb der Druckpumpe. Auch bei dieser steht das untere Ende des
Saugrohrs im Wasser. Der Kolben ist nicht durchbohrt. Er bewegt
sich in einem auf dem Saugrohr stehenden Rohr, dem Stiefel. Aus
diesem führt seitlich alsbald über dem Säugventil das Steigrohr. Die
untere Öffnung desselben schließt ein nach oben sich öffnendes Ventil.
Wird der Kolben gehoben, so steigt das Wasser in dem Saugrohr empor,
öffnet das Säugventil und tritt in den Stiefel. Geht der Kolben ab-
wärts, so schließt sich das Säugventil; das Steigventil aber wird durch
den Druck des vom Kolben vorgeschobenen Wassers geöffnet und das
Wasser tritt in das Steigrohr ein. Geht der Kolben abermals zurück,
so schließt das Gewicht des Wassers im Steigrohr das Steigventil. Mit
jedem weiteren Druck des Kolbens gelangen neue Wassermengen in das
Steigrohr, bis das Wasser zuletzt am oberen Ende austritt. Soll dieses
ununterbrochen geschehen, so verbindet man das Steigrohr mit zwei
Pumpenstiefeln, deren Kolben abwechselnd auf- und niedergehen. Soll
das Wasser in beträchtliche Höhen hinaufgebracht werden, so kann
Menschenkraft den Kolben nicht mehr abwärts führen. Man bedient
sich alsdann der Kraft eines Wasserrades oder einer Dampfmaschine. Die
Druckpumpe verwendet man zur Entwässerung von Bergwerken, bei der
hydraulischen Presse u. s. w.
Die Pumpen fördern mit jedem Hube (Drucke) des Kolbens eine
bestimmte Wassermenge; zwischen den einzelnen Förderungen liegt aber
ein mehr oder weniger langer Zwischenraum. Einen ununterbrochenen
Strahl erhält man aber, wenn man einen Windkessel (Heronsball) mit
zwei Druckpumpen verbindet. Darauf beruht die Feuerspritze. Das
von der Pumpe unter starkem Druck gelieferte Wasser preßt zunächst
die Luft im Windkessel kräftig zusammen und erhöht deren Druck. Letzterer
treibt nun das Wasser in einem kräftigen, ununterbrochenen Strahl empor.
itrsebuch für Bewerbt. Fortbildungsschulen Erweiterte Ausgabe. * 20
306
148. Das Barometer.
Auf dem Grundsatz, nach dem die Feuerspritze gebaut ist, beruht
auch die Einrichtung zur Wasserversorgung mancher Städte. Das in
geeigneten Becken gesammelte Wasser wird durch mächtige Pumpen in
große Windkessel gepreßt und von diesen aus durch das Rohrnetz bis
in die höchsten Stockwerke der Gebäude getrieben. So speist das Puinp-
werk im Englischen Garten von München die Springbrunnen in der
Ludwigstraße. Nach Ggh.
148. I)as Barometer.
Das Barometer ist jenes Instrument, welches im Volksmund den
Namen Wetterglas führt; denn es ermöglicht einen ungefähren Schluß
auf das kommende Wetter zu ziehen und ist zu diesem Behufe schon seit
langer Zeit im allgemeinen Gebrauch.
Dasselbe besteht aus einer ungefähr 80 ein langen Glasröhre, die
oben zugeschmolzen, unten umgebogen und mit vollständig luftfreiem
Quecksilber gefüllt ist. Der Raum über dem Quecksilber in der Glas-
röhre ist luftleer.
Der Form nach teilt man die Quecksilberbarometer ein in Heber-
und Gefäßbarometer. Bei dem ersteren sind die Schenkel von gleicher
Weite, bei letzterem ist der bedeutend kürzere Schenkel zu einem birnen-
förmigen Gefäß aufgeblasen. Die Gefäßbarometer haben eine feste Ein-
teilung nach Millimeter; ihr Nullpunkt befindet sich in gleicher Höhe
mit der Quecksilberoberflüche im kurzen Schenkel. Bei dem Heberbaro-
meter muß die Glasröhre mittels einer Schraube, nach dem verschiedenen
Luftdrucke, der den Stand des Quecksilbers immer ändert, bald hinaus-
geschoben bald heruntergelassen werden, bis das Quecksilber ini kürzeren
Schenkel in gleicher Höhe mit dem Nullpunkt steht. Der Höhenunter-
schied des Quecksilbers im geschlossenen und offenen Schenkel wird Baro-
meterstand genannt. Die Barometer dienen uns zum Messen des
Luftdrucks.
Sämtliche Quecksilberbarometer leiden an dem Übelstande, daß sie
sich schlecht tragen lassen, weshalb man in neuerer Zeit Aneroidbarometer
hergestellt hat, d. h. Barometer ohne Flüssigkeit, gewöhnlich Metall-
barometer genannt. Diese besitzen als Hauptbestandteil eine luftleere
Kapsel, die durch zunehmenden Luftdruck zusammengedrückt wird, bei ab-
nehmendem sich wieder ausdehnt. Diese von der Kapsel beschriebenen
Bewegungen sind aber so gering, daß man sie mit bloßem Auge gar
nicht wahrnehmen kann; deshalb verstärkt man sie durch ein Hebelwerk
und überträgt sie auf einen Zeiger, der sich über einer kreisförmigen
Skala bewegt.
148. Das Barometer.
307
Der Luftdruck ist fortwährenden Änderungen unterworfen und nur
selten und am gleichen Orte mehrere Tage oder auch nur Stunden gleich
hoch. Auch an verschiedenen Orten herrscht zu gleicher Zeit im allge-
meinen verschiedener Druck. Man nennt diese Veränderungen des Baro-
meterstandes das Steigen und Fallen desselben. Von der Luftdruckver-
teilung hängt aber die Windrichtung und mithin die Witterung ab. Die
Luft bewegt sich von Orten höheren zu denen niedrigeren Druckes; die
Bewegung ist um so rascher und heftiger, je größer der Druckunterschied
der betreffenden Orte ist. Bei sehr großen Druckunterschieden entstehen
Orkane und Stürme, bei kleineren mehr oder minder heftige Winde. Ist
der Luftdruck auf ganzen Landstrichen verhältnismäßig hoch und nahezu
gleich, so haben wir in der Regel heiteres, ruhiges Wetter und im Sommer
große Hitze, im Winter strenge Kälte. Bei niedrigem Barometerstand
herrschen hingegen erfahrungsgemäß sehr häufig Winde, trübes Wetter,
Regen und Schneefälle. In dieser Hinsicht kann das Barometer als
Witterungsanzeiger oder Wetterglas dienen. Doch setzt uns das Baro-
meter allein nicht in den Stand sichere Wetterregeln anzugeben.
Das zu erwartende trockene und nasse Wetter tritt meist erst ein,
wenn das Steigen oder Fallen aufhört, und setzt sich auch noch längere
Zeit fort, wenn bereits die entgegengesetzte Bewegung eingetreten ist. Die
Grenze für hohen und niederen Stand bildet der mittlere Luftdruck des
Beobachtungsortes. Derselbe wird aus dem Jahresmittel aller an den
einzelnen Tagen abgelesenen Barometerstände berechnet und beträgt an
der Meeresoberfläche in unseren Breitengraden 760 mm und in München
716 mm. Die Bezeichnungen: „Schön Wetter" — „Veränderlich"
könnten weggelassen sein; finden sie jedoch Anwendung, so muß das
Wort „Veränderlich" mit dem mittleren Barometerstand genau zu-
sammenfallen.
Außer zur Aufstellung von Wetterbestimmungen kann das Baro-
meter noch als Höhenmesser gebraucht werden. Neben den Quecksilber-
barometern, die zu diesem Zweck eigens hergestellt sind und sich ver-
hältnismäßig leicht tragen lassen, verwendet man auch Aneroidbarometer,
die besonders für Höhenmessungen gearbeitet und sehr zuverlässig sind.
Steigen wir vom Meeresspiegel aus aufwärts, so vermindert sich über
uns die pressende Luftsäule; das Barometer muß daher stetig sinken.
Es füllt nach je 10,5 m Erhebung um 1 mm. Bezeichnet man sich nun
am Fuße eines Berges oder in irgend einer Höhe den Stand seines
Barometers, so kann man die relative Höhe des betreffenden Berges,
nachdem man seinen Gipfel erreicht hat, ohne weiteres am Barometer
bestimmen. Besteigen wir z. B. den Turm der Peterskirche in München,
20*
308 149. Die Schwere, das absolute und spezifische Gewicht.
besichtigen auf der Plattform den mitgenommenen Höhenbarometer und
finden vielleicht, daß derselbe um ungefähr 5 mm gefallen ist, so können
wir daraus schließen, daß wir uns etwa in einer Höhe von 52,5 m be-
finden. Ist nun noch die Seehöhe des Ausgangsortes bekannt, so ergibt
sich durch einfache Zusammenzählung die absolute Höhe. Fast sämtliche
Höhenangaben der geographischen Lehrbücher sind durch Barometer-
Beobachtungen gefunden Worden. Nach Schulze.
149. Die Schwere, das absolute und spezifische Gewicht.
Wollen wir einen Stein vom Boden, ein Buch vom Tische
aufheben, so brauchen wir dazu eine gewisse Kraft, die bald
größer bald kleiner ist, je nach dem Gewicht des zu hebenden
Körpers. Lassen wir den gehobenen Körper los, so fällt er, und
zwar so lang und so tief, bis er durch irgend ein Hindernis im
weiteren Fallen aufgehalten wird, also bis er wieder auf dem
Erdboden, auf dem Tisch oder sonst auf einer Unterlage auf-
liegt. Wir sehen demnach, daß die Körper das Bestreben zeigen
gegen die Erde zu fallen; es muß also etwas den Körper gegen
die Erde hinziehen. Die Anziehung der Körper gegen die Erde
nennen wir die Schwerkraft; die Eigenschaft der Körper aber
der Wirkung dieser Kraft Folge zu leisten heißt ihre Schwere.
Die Richtung der Schwerkraft haben wir uns gegen den Mittel-
punkt der Erde zu denken, nach dem hin alle Körper mit Gewalt
angezogen werden. Die Schwerkraft zwingt alle Körper nach der
Erde hin, bringt die frei schwebenden zum Fallen und nötigt die
liegenden einen gewissen Druck gegen ihre Unterlage auszuüben.
Diese anziehende Kraft wirkt aber nicht nur auf die Oberfläche
eines Körpers sondern auch auf sein ganzes Innere, also auf
seine ganze Masse. Je größer und dichter demnach die Masse
eines Körpers ist, um so stärker wird er von der Erde angezogen,
um so mehr brauchen wir Kraft ihn zu heben, mit um so größerer
Gewalt fällt er, sich selbst überlassen, zur Erde hin; er drückt
aber auch, wenn er in Ruhe ist, um so mächtiger auf seine Unter-
lage. Darin liegt der Grund, daß Körper aus verschiedenen Stoffen,
gleiche Größe vorausgesetzt, verschiedene Schwere haben.
Infolge der Schwerkraft übt jeder Körper einen gewissen
Druck auf seine Unterlage aus. Die Größe dieses Druckes
nennen wir sein Gewicht, genauer sein absolutes Ge-
wicht.
150. Die zehnteiligen Maße und ihre Entstehung. 309
Ditz Gewichtsstücke sind Körper von einem bestimmten
Druck. Um Gewichte verschiedener Körper miteinander zu
vergleichen bedienen wir uns der Wage.
Verschiedene Körper von gleicher Größe besitzen meist ver-
schiedenes absolutes Gewicht. Ein Stück Eisen ist z. B. viel
schwerer als ein gleich großes Stück Holz und ein mit Petroleum
gefülltes Gefäß wiegt weniger als das gleiche Gefäß voll Wasser.
In vielen Fällen ist es von großer Wichtigkeit das Gewichts-
verhältnis verschiedener Körper bei gleichem Rauminhalt durch
Zahlen auszudrücken; man hat zu diesem Zweck das Gewicht
des Wassers bei einer Temperatur von —f- 4° nach dem Thermo-
meter des schwedischen Naturforschers Celsius als Einheit an-
genommen. Die Gewichte aller Körper werden mit dem Ge-
wicht eines gleich großen Raumes Wasser verglichen und die
Zahl, welche anzeigt, wievielmal schwerer oder leichter ein
Körper ist als ein gleiches Volumen Wasser, nennt man das
spezifische Gewicht des Körpers.
Aus dem metrischen Maß- und Gewichtssystem wissen wir,
daß 1 ccm Wasser ein 1 g wiegt. Wiegen wir nun z. B. 1 ccm
Quecksilber, so gibt uns die Wage dieses Gewicht zu 13,59 g an.
Es ist somit das Quecksilber 13,59 mal schwerer als ein gleiches
Volumen Wasser, mithin ist 13,59 das spezifische Gewicht des
Quecksilbers. Oder wiegen wir 1 1 Petroleum, so finden wir für
dasselbe 800 g. Dali Wasser 1000 g wiegt, so ist das spezifische
Gewicht des Petroleums ^ = 0,8. NaCh Bachmann.
150. Die zehnteiligen Maße und ihre Entstehung.
Es ist eine hochbedeutsame Errungenschaft des Deutschen Reiches
den vielerlei Maßen, welche früher innerhalb Deutschlands im Gebrauch
waren, ein Ende gemacht und eine Maßeinheit geschaffen zu haben.
Schon vor der Gründung des Deutschen Reiches wurde mit Gesetz vom
17. August 1868 für den damaligen Norddeutschen Bund eine auf dem
Dezimalsystem aufgebaute Maß- und Gewichtsordnung erlassen. Nach
der Gründung des Deutschen Reiches wurde die Ordnung des Maß-
und Gewichtssystems der Reichsgesetzgebung unterstellt. Infolgedessen
gelangte die vorher erwähnte Maß- und Gewichtsordnung mit Reichs-
gesetz vom 16. November 1871 ab 1. Januar 1872 auch in Bayern
zur Einführung. Mit Reichsgesetz vom 11. Juli 1884 erfuhr dieselbe
die jetzt gültige Gestaltung. Den Vollzug der Maß- und Gewichts-
ordnung nach den für das Deutsche Reich geltenden Grundsätzen und
310 150. Die zehnteiligen Maße und ihre Entstehung.
Vorschriften überwachen die zwei Normal-Eichungskommissionen in Berlin
und München, welchen eine große Anzahl von Eichämtern und Eich-
anstalten unterstellt ist.
Unter Maß versteht man jede gegebene Größe, welche als Ein-
heit dient um andere Größen damit zu vergleichen. Man untersucht
also, wievielmal die letztere in der zu messenden Größe enthalten ist.
Das Messen war der erste und wichtigste Schritt zur Erforschung der
Gesetze, welche die Naturerscheinungen beherrschen. Alles Messen ist
wesentlich ein dreifaches: Messen des Raumes, der Masse (des Ge-
wichts) und der Zeit. Es ist klar, daß beim Messen von Längen eine
Länge oder Linie, beim Messen von Flächen eine Fläche, beim Messen
von Körpern ein körperlicher Raum als Einheit oder Maß angenommen
werden muß. Ebenso kann das Gewicht eines Körpers nur durch Ver-
gleichung mit einem anderen als bekannt angenommenen Gewicht be-
stimmt werden; die Einheiten des Flächen- und Körpermaßes lassen sich
von der Einheit des Längenmaßes herleiten. Da die Größe jeder Maß-
einheit an sich willkürlich ist, so kann es nicht auffallen, daß die Maße
der einzelnen Länder sehr verschieden sind.
In der ältesten Zeit hat man die Einheiten deS Längenmaßes
(Elle, Fuß, Daumen) von dem menschlichen Körper entlehnt, eine Be-
stimmung, die offenbar große Verschiedenheiten zur Folge haben mußte.
Kam es doch vor, daß in Deutschland bis 1872 jedes Land, ja jede
Provinz und selbst manche Stadt einen eigenen Fuß hatte, dessen Länge
von dem anderen mehr oder weniger abwich. Die Größe des Fußes
war willkürlich. Deswegen war man darauf bedacht eine Maßeinheit
zu sinden, die auf einem festen, unabänderlichen Grundverhältnis be-
ruht. Als Grundlage desselben dient der Erdmeridian. Dieser wurde
vou der Französischen Republik im Jahre 1799 nach neunjährigen
Untersuchungen als natürliches Einheitsmaß angenommen. Der vierte
Teil des Meridians (Erdquadrant) wurde in 10 Millionen gleiche Teile
zerlegt. Dieser vierzigmillionste Teil des durch die Pariser Sternwarte
gehenden Meridians ist das Einheitslängenmaß oder das Meter (Meter-
stab). Man ließ zwei Urstäbe aus Platin anfertigen, deren einer im
Staatsarchiv, der andere auf der Sternwarte zu Paris hinterlegt
wurde und die als Normalmaß noch heute gelten, obgleich die inzwischen
vollzogenen genaueren Messungen ergeben haben, daß der Normalstab
etwas zu kurz ist. Von dem Pariser Maßstab sind auch für andere
Staaten, in denen das Meter gleichfalls als Einheitsmaß eingeführt
wurde, Normalstäbe hergestellt worden. Für das Deutsche Reich be-
findet sich ein Normalmeter in Berlin.
150. Die zehnteiligen Maße und ihre Entstehung. 311
Auf diese Einheit ist das ganze seit 1800 in Frankreich geltende
sogenannte metrische Maß- und Gewichtssystem gegründet, welches jetzt
auch in Deutschland, Österreich, Italien, den Niederlanden, Belgien,
Norwegen, der Schweiz und anderen Staaten eingeführt ist.
Die höheren und niederen Einheiten des gesamten metrischen Systems
werden nach dem Dezimalsystem gebildet, und zwar in der Weise, daß
man sich für die Vielfachen griechischer, für die Teile lateinischer Be-
nennungen bedient. So teilt sich das Meter (m), die Einheit für die
Längenmaße, in 10 Dezimeter, 100 Zentimeter (cm) und 1000 Milli-
meter (mm), während 10 Meter 1 Dekameter, 10 Dekameter (oder 100 m)
1 Hektometer, 10 Hektometer (oder 1000 na) 1 Kilometer (km), endlich
10 Kilometer (oder 10000 na) 1 Myriameter bilden. Das Dekameter
dient als Meßkette, das Kilometer und Myriameter als Maß für größere
Entfernungen.
Das Quadratmeter bildet die Grundlage des Flächenmaßes. Wie
beim Längenmaße, gelten auch hier die gleichen Bezeichnungen Quadrat-
dezimeter (qdm), Quadratzentimeter (qcm), Quadratmillimeter (qmm),
mit dem Unterschiede, daß beim Flächenmaß je 100 Einheiten des
niedrigen Maßes zur nächst höheren Einheit erforderlich sind. Das
forst- und landwirtschaftliche Flächenmaß ist das Ar (a) — 100 qm und
das Hektar (du) — 100 a; zu geographischen Flächenbestimmungen dient
neben dem Quadratkilometer das Quadratmyriameter (— 100 a).
Aus den Längenmaßen ergeben sich auch die Körpermaße. Als
Einheit gilt das Kubikmeter (cbm), ein Würfel, dessen Kante 1 m lang
ist. Hier werden 1000 Einheiten des niedrigeren Maßes zur Einheit
des nächst höheren zusammengenommen. Man teilt das Kubikmeter in
Kubikdezimeter, Kubikzentimeter und Kubikmillimeter ein. Brennholz
wird nach Kubikmetern gemessen und heißt hier das Kubikmeter Ster,
deren 3 ungefähr eine bayerische Klafter bilden.
Zur Bestimmung von Mengen flüssiger Körper gebraucht man die
Hohlmaße. Der Rauminhalt eines Kubikdezimeters erhielt den Namen
Liter (1); 100 Liter nennt man Hektoliter. Nach den gesetzlichen Be-
stimmungen werden auch die Petroleummesser, Meßsiaschen, Fässer und
Herbstgefäße (Tragbutten, Kübel oder Ständer und Stützen) zu den
Flüssigkeitsmaßen gezählt und ihr Inhalt nach Litern bestimmt.
Das Gewicht wurde ebenfalls aus dem Raummaße hergeleitet. So
ist das Kilogramm (kg) das Gewicht eines cdm destillierten Wassers,
bei dessen größter Dichtigkeit (4 0 C) im luftleeren Raum gewogen. Das
Kilogramm wird in 1000 Gramm eingeteilt. Das Grammgewicht ist
ein Stück Metall, welches die gleiche Schwere besitzt wie ein Kubikzenti-
312 150. Die zehnteiligen Maße und ihre Entstehung.
meter Wasser bei 4° 0. Für Schiffsladungen und sehr schwere Belastungen
werden je 1000 Kilogramm unter dem Namen Tonne st) zusammengefaßt.
Außer vorgenannten Gewichten haben die Handels-, Präzisions- (Apo-
theker), Goldmünzen- und Postgewichte noch verschiedene Abstufungen.
Alle Gewichte, Maße und Wagen, deren sich ein handeltreibender
Gewerbsmann bedient, müssen gehörig geeicht und gestempelt sein. Die
Eichung und Stempelung erfolgt bei den öffentlichen Eichämtern durch
Einschlagen, Einätzen, Einschleifen u. s. w. Maße und Gewichte, welche
in Deutschland, aber außer Bayern geeicht sind, müssen in Bayern
nachgeeicht werden. Der Eichzwang besteht für eine Menge Gewerb-
treibender, namentlich Eisen- und Metallhändler, Waffen- und Kupfer-
schmiede, Gerber und Lederhändler, Metzger, Seifensieder, Bäcker, Melber,
Krämer, Spezerei- und Materialhändler, Wagner, Tapezierer u. s. w.
Das Zeitmaß wird bestimmt durch astronomische Erscheinungen.
Die Zeit, in welcher die Erde ihre Achsendrehnng vollendet, nennt man
einen Tag. Dessen Grenzen kann man genau bestimmen durch den
Zeitpunkt, in dem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, also um
Mittag. Man setzt aber diesen Zeitpunkt nicht als Anfangs-, sondern als
Mittelpunkt des Tages an und beginnt den Tag selbst mit 12 Uhr nachts
oder Mitternacht. Allgemein üblich ist die Einteilung des Tages in
24 Stunden, der Stunde in 60 Minuten, der Minute in 60 Sekunden.
Die Zeit, in welcher die Erde ihren Weg um die Sonne zurücklegt, nennt
man ein Jahr, das wieder — nach den Umlaufszeiten des Mondes —
in 12 Monate eingeteilt wird.
Die Erde vollendet ihren Umlauf um die Sonne in 365 Tagen
5 Stunden 48 Minuten 50 Sekunden. Deshalb nimmt man je drei
Jahre zu 365 und das 4 te zu 366 Tagen (Schaltjahr) um das jähr-
liche Mehr von nahezu 6 Stunden auszugleichen. Weil aber an
6 Stunden noch 11 Minuten 10 Sekunden fehlen, so fällt das Schalt-
jahr in je 400 Jahren dreimal aus.
Anstatt der bisherigen Ortszeit wurde am 1. April 1893 in
Deutschland die mitteleuropäische Einheitszeit eingeführt, zu deren Be-
rechnung der Meridian von Stargard dient. Infolgedessen mußten alle
östlich von Stargard liegenden Orte ihre Uhren entsprechend zurück-
stellen, die westlich gelegenen Orte dagegen dieselben vorrücken. Sv
wurden in München, welches S1^0 westlicher liegt als Stargard, die
Uhren an diesem Tag um 13 Minuten vorgerückt. Diese Einheitszeit ist
jetzt für ganz Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, die Schweiz u. s. w.
eingeführt. Dadurch ist eine bedeutende Erleichterung besonders für den
Verkehr erfolgt; diese wird sich noch steigern, wenn einmal eine Einheits-
zeit für die ganze Erde eingeführt wird.
151. Die Wärme.
313
151. 2>te Wärme.
Die mächtigste Arbeitskraft der Natur ist die Wärme. In ihr finden
wir die Grundbedingung aller Bewegung und alles Lebens, des steten
Wechsels und ununterbrochenen Kreislaufs im großen Reiche der Natur.
Ohne Wärme wäre aller Stoff einer unabänderlichen Erstarrung verfallen;
ohne sie gäbe es keinen Wechsel der Jahreszeiten, keinen Tropfen fließenden
Wassers, keine Bewegung der Luft, keine Pflanzen, keine Tiere. Wir erliegen
ihrem Übermaße so gut wie ihrem Mangel; sie wirft uns aufs Krankenlager
und wird unser Arzt; wir erkennen in ihr die Beherrscherin unseres gesamten
Wohlbefindens.
Für die verschiedensten Verhältnisse hat der unermüdlich forschende Geist
des Menschen die Wärme nutzbar zu machen gewußt. Sie übernimmt die
Arbeit von tausend Händen; sie spinnt und webt für uns; sie scheidet die
Metalle aus ihren Erzen und macht sie schmelz- und schweißbar; sie führt
mit Sturmeseile Menschen und Waren über Land und Meer. Die Wärme
ist somit ein mächtiger Hebel der Industrie und des Handels, der Künste
und Wissenschaften.
Die vorzüglichste und wichtigste Quelle der Wärme ist die Sonne. Die
Versuche mit dem Brennglas und selbst die gewöhnliche Wahrnehmung
lehren, daß die Sonnenstrahlen nicht nur erleuchtend sondern auch erwärmend
wirken. Wärme rufen wir aber auch hervor, wenn wir zwei Körper an-
einander reiben, stoßen oder schlagen. Bei kaltem Wetter reiben wir unsere
Hände um sie zu erwärmen. Streichhölzchen entzünden sich durch Reibung;
durch das starke Reiben werden mitunter auch die Achsen von Bahnwägen,
wenn dieselben nicht gut geschmiert sind, heiß, ja sogar glühend, so daß
der Wagen ausgestoßen werden muß. Feilen, Sägen, Bohrer und andere
Werkzeuge, namentlich wenn sie zur Bearbeitung von Metall dienen,
befeuchtet man während der Arbeit mit Ol oder Wasser um die Reibung
und allzu große Erhitzung zu vermindern. Mühl- und Schleifsteine laufen
sich warm. Es ist bekannt, daß die Naturvölker durch Aneinanderreibeu
geeigneter Holzstücke sich Feuer verschaffen, daß ein Schmied durch geschicktes
Hämmern einen Nagel ins Glühen versetzen kann. Beim Feuerschlagen mit
Stahl und Stein ist die durch den Stoß entwickelte Wärme so bedeutend,
daß losgerissene Stahlteilchen glühend werden und den Zunder entzünden.
Die durch den Stoß des Zündstiftes hervorgerufene Wärme bewirkt beim
Gewehr die Sprengung der Ladung. Werden Gegenstände sehr stark
zusammengedrückt, so werden sie warm. Münzen, welche den Prägstock ver-
lassen, Bleche, welche ausgewalzt, Drähte, welche durch das Zieheisen gezogen
werden, zeigen sich stark erhitzt. Rasch zusammengepreßtes Gas erwärmt
sich sehr bedeutend (pneumatisches Feuerzeug). Selbst Eis schmilzt durch
anhaltendes Reiben.
Sehr viele und bedeutende Wärmeerscheinungen finden statt, wenn sich
gewisse Körper auf chemischem Wege zu einem Körper verbinden, z. B.
314
151. Die Wärme.
ungelöschter Kall mit Wasser. Die im menschlichen Körper vorgehende
chemische Zersetzung der Speisen ist eine reichliche Quelle der Wärme. Der
hervorragendste chemische Vorgang, durch welchen Wärme entwickelt wird,
ist die Verbrennung als diejenige künstliche Wärmequelle, welche allgemein
und ausschließlich im menschlichen Leben benutzt wird. Holz, Steinkohlen,
Torf, angezündeter Spiritus oder Gas u. s. w. erzeugen bei der Ver-
brennung bedeutende Wärmegrade. Auch bei Körpern, die in Fäulnis
übergehen, entsteht Wärme. Dünger oder feuchtes, dumpfes Stroh rauchen
in der Luft; in gärenden Körpern, z. B. in Teig, Wein und Bier, wird
Wärme erregt.
Außerdem besitzt die Erde an und für sich eine gewisse Wärme, die an
ihrer Oberfläche als solche zwar wenig empfunden, jedoch in der Tiefe fühl-
barer wird, so daß man Grund hat anzunehmen, im Innern der Erde herrsche
gesteigerte Wärme. Die heißen Quellen und feuerspeienden Berge sind die
besten Beweise hierfür.
Erwärmen kann man die Körper von allen Seiten. Aber in verschiedenen
Körpern verbreitet sich die Wärme nicht gleich schnell nach allen ihren Teilen.
Ein Stück Kupfer, das mit einem Ende im Kohlenfeuer liegt, kann man
nicht sehr lange in der Hand halten, weil das andere Ende bald sehr heiß
wird. Ähnlich verhält es sich mit anderen Metallen. Entzünden wir aber
ein Stück Holz an einem Ende, so vermögen wir dasselbe so lange in der
Hand zu halten, bis die Flamme die Hand beinahe erreicht. Körper, welche
die Wärme schnell fortleiten, nennt man gute Wärmeleiter. Leiten Körper
die Wärme nur langsam in ihren Teilen fort, so werden sie schlechte
Wärmeleiter genannt. Im Winter schützt uns ein Pelz gegen die Kälte.
Aber dieser Pelz selbst enthält keine Wärme; doch verhindert derselbe, daß
uns durch die Kälte unsere Körperwärme entzogen wird. Das Pelzwerk ist
ein schlechter Wärmeleiter, denn es nimmt nur sehr langsam Wärme an,
entzieht also dem Körper keine Wärme. Aus diesem Grunde sind die warm-
blütigen Tiere mit Pelzen oder Federn versehen. Unsere Zimmer bekleiden
wir mit Tapeten, belegen den Boden derselben mit Holz und Teppichen und
sehen in vielen Gebirgsgegenden trotz der Feuergefährlichkeit die Dächer der
Häuser mit Stroh oder Holz bedeckt um das Entweichen und Eindringen
der Wärme zu verzögern. Strohdächer und Holzwände verlangsamen das
Schmelzen des Eises im Eiskeller; Stroh bewahrt die Feldgruben, denen
der Landmann den Überfluß seiner Bodenernte vertraut, vor Frost. Die
Schneedecke verhütet das Erfrieren der Saaten. Hölzerne Griffe schützen
an Ofentüren, Bügeleisen, Feuerzangen, Schürhaken u. s. w. vor Brand-
verletzungen. Die Henkel irdener heißer Kochtöpfe lassen sich mit bloßer Hand
angreifen, die eisernen aber nicht. Eiserne Ofen werden schnell heiß, kühlen
aber ebenso schnell ab, Tonöfen, Kachelöfen nicht. In glasierten Porzellan-
gefäßen oder in Behältern, die glatte Flächen haben, halten sich warme
Speisen länger warm als in solchen mit rauhen oder berußten Flächen,
151. Die Wärme.
315
denn Gefäße mit rauhen Flächen geben schneller die Wärme ab, wie sie die-
selbe auch schnell annehmen. Will man Speisen längere Zeit heiß halten,
so bedeckt man sie mit dicken wollenen Decken oder Kissen (Kaffeemütze,
norwegische Kochkästen).
Eine der am meisten in die Augen fallenden, durch die Wärme ver-
ursachten Erscheinungen ist die Ausdehnung der Körper. Sie ist ein wert-
volles Mittel, um die Wirkungen der Wärme und somit die Steigerung dieser
selbst zu vergleichen. Wir nennen den Grad der Erwärmung eines Körpers
seine Temperatur.
Die festen Körper dehnen sich bei Erwärmung nach allen Richtungen
aus und ziehen sich "bei Abkühlung wieder ebenso zusammen. Ausdehnung
und Zusammenziehung erfolgen mit großer Kraft. Obwohl die Ausdehnung
sehr klein ist, so bietet sich doch häufig Gelegenheit dieselbe wahrzunehmen;
es ist für einzelne Zweige des Gewerbes, wie für Eisenarbeiter, Spengler,
Glaser, Bodenleger, notwendig aus derselben Nutzen zu ziehen oder durch
ihre Berücksichtigung Schaden zu verhüten. Der Schmied zieht den eisernen
Reifen im heißen Zustand auf das Rad. Bei nachfolgender Abkühlung
zieht sich das Eisen zusammen und bildet mit dem Holzkranz ein festes
Ganzes. In gleicher Weise wirken die heiß aufgezogenen Schutzringe bei den
Kruppschen Ringgeschiitzen. Die Rohre der Gas- und Wasserleitungen müssen
in den Muffen Spielraum haben, damit kein Werfen bei Erwärmung und
Reißen bei Abkühlung erfolgt. Die gleiche Vorsichtsmaßregel ist beim Legen
der Eisenbahnschienen, bei Einsetzung der Glastafeln in Fenster und Türen
zu beachten. Aus demselben Grunde werden die Zinkplatten der Dachungen
übereinander gefalzt und bei mittlerer Temperatur auf die Dächer genagelt,
damit sie im heißen Sommer nicht wellig werden. Nägel und eiserne Bänder
in Holz und Mauerwerk werden mit der Zeit locker. Der in das Nagel-
eisen festgehämmerte, heiße Stift springt nach dem Erkalten leicht heraus.
Mauern, welche auszubrechen drohen, zieht man sehr fest nach innen, indem
man sie durch heiße eiserne Stangen verschraubt; diese ziehen beim Erkalten
die Mauern herein. Glas mit einem glühenden Eisen oder einer glühenden
Kohle berührt, springt (Sprengkohle). Eine scheinbare Ausnahme von der
Ausdehnung der Körper durch die Wärme bildet frisches Holz; dieses zieht
sich durch die Wärme zusammen, weil es Feuchtigkeit verliert. Ein Haupt-
erfordernis gediegener Arbeiten in der Holzindustrie ist darum gut getrocknetes
Holz. Wollen Bodenleger einen Fußboden herstellen, der ohne merkliche
Fugen sein soll, so muß das Legen der Riemen in der wärmsten Jahreszeit
geschehen. In allen anderen Zeiten muß in dem betreffenden Raum mehr
oder minder geheizt werden, damit das Holz nicht zuviel Feuchtigkeit auf-
nimmt und später schwindet. Auch beim Tone tritt die Erscheinung des
Schwindens auf. Seine Masse verringert sich ebenfalls beim Trocknen, noch
mehr beim Glühen, und zwar um so mehr, je fetter er ist. Der Töpfer
muß ihn darum mit Sorgfalt behandeln um seine Arbeiten vor Verzerrungen
und Rissen zu bewahren.
316
152. Das Thermometer.
152. Das Thermometer.
Auf dem Gesetz, daß sich die Körper bei zunehmender
Wärme ausdehnen und bei abnehmender Wärme wieder zusammen-
ziehen, beruht die Einrichtung des Thermometers.
Das Thermometer, ein Wärmegradmesser, ist von Kornelius
Drebbel zu Anfang des 17. Jahrhunderts erfunden und von
Röaumur, Celsius und Fahrenheit vervollkommnet worden.
Es besteht aus einer Glasröhre, welche oben zugeschmolzen,
unten aber zu einer Kugel ausgeblasen ist. Diese Kugel und Röhre
werden bis zu einer gewissen Höhe mit Quecksilber oder auch Wein-
geist gefüllt. Bei Erwärmung der Kugel dehnt sich das Quecksilber
aus und steigt im Rohre, bei Abkühlung sinkt es. An dieser Aus-
dehnung (dem Steigen) oder an dem Zusammenziehen (dejn Fallen)
des Quecksilbers erkennen wir das Zu- und Abnehmen der Wärme.
Das Quecksilber ist zur Herstellung von Thermometern am
geeignetsten; denn es ist für einen Wechsel der Temperatur sehr
empfindlich, es hat einen hohen Siedepunkt (400° C) und tiefen
Erstarrungspunkt; es dehnt sich wie keine andere Flüssigkeit im
gleichen Verhältnisse mit der Temperaturzunahme aus. Zur
Messung tiefer Kältegrade (unter —35° C) läßt es sich, weil die
Ausdehnung in der Nähe seines Gefrierpunktes unregelmäßig
wird, nicht mehr verwenden; man bedient sich alsdann eines
Thermometers, welches mit gefärbtem Weingeist gefüllt ist, der
bei keiner bei uns vorkommenden Temperatur erstarrt.
Taucht man die Thermometerröhre in frischgefallenen Schnee
oder schmelzendes Eis, so bleibt das Quecksilber auf einem tiefen
Punkt stehen. Diesen Punkt wird das Thermometer stets dann
zeigen, wenn die Temperatur so niedrig ist, daß Wasser in Eis
sich verwandelt; man nennt ihn daher Eis- oder Gefrierpunkt,
wohl auch — da er mit Null bezeichnet wird — Nullpunkt.
In kochendes Wasser gebracht, wird das Quecksilber in der
schwachen Glasröhre schnell und hoch steigen und endlich auf
einem festen Punkt stehen bleiben; man nennt diesen darum
den Siedepunkt. Der Thermometerstand unter dem Nullpunkt
wird mit — (minus), der über demselben mit -f- (plus) bezeichnet;
doch wird letzteres Zeichen häufig weggelassen.
Gefrier- und Siedepunkt sind demnach zwei feste Punkte,
welche an jedem Thermometer angegeben sein müssen. Den
Abstand dieser Punkte teilt man in eine bestimmte Anzahl Teile
153. Uber Pferdekraft und Atmosphärendruck.
317
oder Grade ein: Reaurnur hat 80, Celsius 100 und Fahrenheit
180 Grade angenommen.
Da es also mehrere Arten von Thermometern gibt, so ist bei
der Angabe von Graden stets hinzuzufügen, nach welcher Ein-
teilung sie zu verstehen sind; aus demselben Grund ist es aber
auch wünschenswert die Thermometergrade nach den verschiedenen
Skalen umrechnen zu können. 80° R sind 100° C oder 180° F;
daraus folgt, daß 4°R — 5°C — 9°F sind. Nun hat aber
Fahrenheit einen noch viel tieferen Nullpunkt festgesetzt, so daß
sein 32. Wärmegrad der Nullpunkt der beiden anderen Einteilungen
ist. Die Zahl der Fahrenheitschen Einteilung von seinem Null-
bis zum Siedepunkt beträgt 180 -f- 32 = 212 Grade. Bei Um-
rechnung in Fahrenheitgrade und umgekehrt ist also die besondere
Lage des Fahrenheitschen Nullpunktes zu berücksichtigen. Beträgt
der Thermometerstand 1° R, so ist dieses 6/4° C oder 9/4 -f- 32° F.
Der Gebrauch des Thermometers ist ein vielfacher. Man
bestimmt damit die Wärme der atmosphärischen Luft und be-
nutzt dieses Instrument zu Höhen- und Tiefenmessungen; der
Kunstgärtner regelt mit Hilfe desselben die Temperatur des
Gewächshauses, der Arzt die des Bades und des Krankenzimmers,
der Seidenbauer die Wärme der Räume für seine Seidenraupen
und der Brauer die Hitze des Malzes auf der Dörre.
153. Aber WferdekrafL und Atmosphärendruck.
Wie leicht schleudert die Hand den Ball hoch in die Lüfte bei lustigem
Spiel, wie mühsam aber hebt sie die schwere Last nur wenige Finger breit
empor! Hier braucht's eben einen größeren „Kraftaufwand". Diesen
kann man genau seiner Größe nach bestimmen; der Techniker mißt ihn nach
Kilogramm (kg) und sagt etwa: um einen Wagen auf einem Geleise zu
verschieben braucht man eine Kraft von 20 kg, also dieselbe Kraft, die nötig
ist um ein Gewicht von dieser Größe zu heben.
Sobald dieser Kraftaufwand nicht bloß an einer Stelle sondern längs
einer Wegstrecke stattfindet, wenn du z. B. ein Gewicht 1 m hoch emporhebst,
dann spricht man von der geleisteten Arb eit. Auch diese mißt der Techniker
zahlenmäßig, und zwar nach „Meterkilogramm" (mkg).
Man findet die geleistete Arbeit in dieser Einheit, wenn man die längs
einer Strecke aufgewendete Kraft mit der Länge dieser Strecke multipliziert.
Denke dir z. B. ein mit Kohlen beladenes Boot; die Kohlen müssen ans ihm
12 m in die Höhe (ans den Lagerplatz) geschafft werden. Sind in einer
Abteilung 30 Tonnen — 30000 kg, so braucht man also dazu die Arbeit
12 X 30000 mkg — 360000 mkg. Diese Arbeit muß von Kohlenträgern
oder von einem Hebewerk, einem Kran oder sonstwie geleistet werden.
318
154. Die Dampfmaschine.
Dabei ist aber sicher ein großer Unterschied in der Zeit, in der das
geschieht. Brauchen die Träger viele Stunden, so macht's der Kran vielleicht
in 20 Minuten, er ist leistungsfähiger für diese Hebearbeit als der Mensch.
Natürlich ist auch hier der zahlenfrohe Techniker sofort wieder da und will
diese „Leistungsfähigkeit" in Zahlen ausgedrückt haben. Wie er das macht,
errätst du wohl selbst: er fragt einfach: „Welche Arbeit wird in der Zeit-
einheit, am besten in einer Sekunde, geleistet?" und nennt die Zahl, die sich
da ergibt, den „Effekt", ausgedrückt in „Sekundenmeterkilogramm (secmkg).
Jener Kran leistet in 1200 Sekunden 360000 mkg, also in einer Sekunde
300 mkg, demnach ist sein „Effekt", seine Leistungsfähigkeit in diesem Falle
3OO secmkg oder 4 Pserdekräfte; denn für 75 866mkg wird eine Pferde-
kraft gerechnet.
Dadurch wird dir die Bedeutung des vielgebrauchten Wortes „Pferde-
kraft" klar geworden sein: es bezeichnet nicht eine Kraft im oben gezeigten
Sinne, sondern eine „sekundliche" Arbeitsleistung. Eine Maschine von
1 Pferdekraft kann 75 kg in einer Sekunde 1 m hoch oder auch 25 kg 3 m
hoch heben u. s. w. Ein Pferd selbst kann nicht soviel leisten, sondern
ungefähr 50 secmkg, um ein Drittel weniger als jene aus England stammende
Bezeichnung vermuten ließe.
Bei jeder Antriebsmaschine, bei Motoren aller Art, bei Dampfmaschinen
wird man nach ihrer meist in Pferdekräften angegebenen Leistungsfähigkeit
fragen. Bei einer Dampfmaschine hängt sie natürlich ab von dem im Kessel
herrschenden Dampfdruck, den man am Manometer ablesen kann; schon öfter
hast du vielleicht gelesen oder gehört vom 6 Atmosphären-Druck, ohne daß
dir diese Bezeichnung klar war. „Atmosphäre" nennt man zunächst die Luft-
schicht, die unsere Erde umgibt. Die Luft wiegt etwas; die in deinem Zimmer
wiegt vielleicht zwei bis drei Zentner! Vermöge dieses Gewichts drückt sie
auf jeden Flächenteil; jeder Quadratzentimeter muß einen Druck von etwa
1 kg aushalten, mehr oder weniger je nach dem herrschenden Luftdruck.
In der Technik versteht man unter einer Atmosphäre gerade den Druck
von 1 kg auf einen Quadratzentimeter, mag dieser Druck hervorgebracht sein
durch ein Gewicht oder durch die Spannkraft eines Gases oder sonstwie.
Je größer im Dampfkessel der Dampfdruck ist, desto kräftiger wird im Zylinder
der Kolben angetrieben, desto mehr kann die Maschine leisten, desto mehr
Pferdekräfte entwickelt sie. So hängen der Atmosphärendruck und der Effekt
der Maschine zusammen,und sind doch beide etwas ganz Verschiedenes.
Goller.
154. Die Dampfmaschine.
Eine der großartigsten und nützlichsten Erfindungen, die der rastlos
forschende und unaufhaltsam weiterstrebende menschliche Geist in der
neueren Zeit gemacht hat, ist ohne Zweifel die Erfindung der Dampf-
maschine. Die Eigenschaft des Wassers durch Wärme in Dampf sich
aufzulösen hat Anlaß zu dieser Erfindung gegeben. Man bemerkte
154. Die Dampfmaschine.
SIS
nämlich durch fortgesetzte Beobachtungen, daß das Wasser, wenn man
es über dem Feuer in Dampf verwandelt, einen sechzehnhundertmal
größeren Raum verlangt, als es im tropfbarflüssigen Zustand ein-
nimmt. Man gewahrte ferner, daß das Wasser, wenn es in Dampf
übergeht, sich mit einer Kraft auszudehnen sucht, der nur schwer etwas
zu widerstehen vermag.
Auf diese Wahrnehmung fußend, ist man endlich auf den Gedanken
gekommen die ungeheure Kraft des Dampfes dem Menschen dienstbar
zu machen und der Engländer James Watt war der Erste, der die
Dampfkraft zum Treiben einer Maschine genau regelte. Natürlich war
dieser Versuch wie bei jeder Erfindung noch mangelhaft. Doch der
menschliche Geist rastet nicht. Hunderte von scharfsinnigen Köpfen
sannen über die einmal angeregte Sache weiter nach. Verbesserungen
folgten auf Verbesserungen; und so sehen wir denn jetzt, daß die Dampf-
maschine ein mächtiger Matrose, ein pfeilschnelles, gewaltiges Pferd, ein
unermüdlicher Wasserpumper, ein tausendarmiger Baumwollenspinner,
ein rastloser Weber, ein ausgezeichneter Müller und wer weiß, was
alles noch ist und sein wird.
Eine Dampfmaschine ist ein höchst kunstvoll zusammengesetztes Werk
und selbst in der ausführlichsten und sorgfältigsten Beschreibung würde
dem Leser noch gar vieles dunkel und rätselhaft bleiben. Deshalb möge
es hier an folgenden allgemeinen Umrissen genug sein.
In jeder Dampfmaschine muß natürlich zuerst eine Vorrichtung
angebracht sein, wodurch beständig Wasser in Dampf verwandelt werden
kann. Deshalb befindet sich an jeder solchen Maschine ein großer, fest
verschlossener Kessel, der ungefähr zwei Drittel mit Wasser angefüllt ist.
Unter diesem Kessel wird gewöhnlich mit Steinkohlen gefeuert und so
das Wasser darin zum heftigsten Sieden gebracht und in Dampf ver-
wandelt. Dieser Dampf steigt aus dem Kessel durch eine Röhre in
einen starken, aus Gußeisen verfertigten Zylinder, d. h. ein langes, dreh-
rundes Gefäß. In diesem Zylinder bewegt der Dampf, indem er ver-
möge einer besonderen Vorrichtung abwechselnd bald unten bald oben
einströmt, einen an die Wände des Zylinders ganz eng anschließenden
Kolben abwechselnd auf und nieder. An diesem fortwährend auf- und
niedersteigenden Kolben ist eine Eisenstange befestigt, die mit dem Kolben
auf- und niedergeht. Diese Stange wird an ihrem oberen Ende mit
einer anderen verbunden, welche, gleich einem Wagebalken, auf einem
Unterstützungspunkte ruht und wagebalkenähnlich bewegt wird. Das
andere Ende dieses Schwebebalkens oder Hebels steht wieder mit einer
Stange in Verbindung, welche endlich an einer sogenannten Kurbel, d. h.
320
155. Vom Magnetismus.
einer gebogenen, gekrümmten Handhabe, das Schwnngrad nnd mittels
desselben die ganze Maschine in Bewegung setzt.
Nachdem der Dampf seine Kraft auf den Kolben im Zylinder
ausgeübt hat, wird er durch kalte Röhren aufgefangen, darin wieder
zn Wasser verdichtet und als solches wiederum in den Kessel zurückgeführt.
Früher waren die Dampfmaschinen deshalb im höchsten Grade
lebensgefährlich, weil bei Überheizung der Maschine der Kessel leicht
zersprang und dabei die furchtbarsten Verwüstungen anrichtete. Allein
auch hier wußte der Scharfsinn des Menschen Abhilfe zu schaffen. Jetzt
wird an jedem Dampfkessel eine Klappe angebracht, die, sobald sich im
Kessel zu viel Dampf entwickelt, sich von selbst öffnet und den über-
flüssigen Dampf unter gewaltigem Zischen und Sausen ausströmen läßt.
Diese Klappe heißt Sicherheitsventil.
Erwägt man selbst nur den einzigen Umstand, wie großartig die
Leistungen und Wirkungen der Dampfwagen auf den Eisenbahnen sind,
wie eine einzige Lokomotive über 1000 Menschen in 30 bis 40 Wagen
fast pfeilschnell dahinfährt, so ist es nicht zu viel gesagt, wenn man be-
hauptet, die Dampfmaschine ist die Königin aller Maschinen.
Bei der Lokomotive, deren Erfindung wir dem Engländer Stephenson
zu verdanken haben, befindet sich Kessel, Kraft- und Arbeitsmaschine auf
einem Wagen. Weil kein Schwungrad vorhanden ist, besitzt die Loko-
motive zwei Zylinder, deren Kolben sich aber nicht gleichzeitig vorwärts
bewegen. Durch die Lokomotive und Eisenbahn wurde eine vollständige
Veränderung der Verkehrsverhältnisse herbeigeführt. Die Eisenbahn von
Liverpool nach Manchester war die erste, welche dem Verkehr 1830
übergeben wurde, und 10 Jahre später waren schon viele Städte Eng-
lands untereinander durch Eisenbahnen verbunden. In Deutschland
führte die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth (1836).
Von großer Bedeutung ist auch die Fortbewegung der Schiffe
durch die Dampfmaschine geworden. Der erste Erbauer größerer Rad-
dampfer ist der Amerikaner Robert Fulton. Dieselben haben sich aber
auf hoher See wenig bewährt, weil die Sturmwellen eine zerstörende
Wirkung auf die Räder ausüben. Diesem Mangel half die von Joseph
Ressel erfundene Schiffsschraube ab. Im Jahre 1839 wurde der erste
Schraubendampfer gebaut. Nach Meten.
155. Vom Magnetismus.
Der Magnet.
Eine Art Eisenerz hat von Natur die Eigenschaft leichte
Eisen- oder Stahlstücke anzuziehen. Diese Eigenschaft des Erzes
155. Vom Magnetismus.
321
wird Magnetismus genannt und solche Erzstücke, bei denen die-
selbe besonders stark hervortritt, heißen natürliche Magnete. Die
Kraft des Magnets wirkt auch auf Eisen und Stahl, wenn eine
dünne Glasscheibe oder ein Pappdeckel dazwischen liegt. Die
magnetische Kraft zeigt sich bei einem Magnet hauptsächlich an
seinen beiden Enden, fast gar nicht in der Mitte. Legt man
nämlich einen Magnet in einen Haufen Eisenfeilspäne, so hängen
sich dieselben nur an seinen beiden Enden an, welche Pole
genannt werden. Gar keine Wirkung hingegen äußert der Magnet
auf Kupferspäne, Papier- und Holzstückchen. Der Magnet zeigt
auch noch eine andere Eigenschaft, wenn er frei aufgehängt ist,
so daß sich seine beiden Pole hin und her bewegen können. Das
eine Ende der auf einer Spitze drehbaren Magnetnadel richtet
sich immer nach Norden, das andere nach Süden. Werden die
Enden bewegt, so stellen sie sich doch wieder nach diesen beiden
Himmelsgegenden, sobald die Bewegung nachläßt. Man nennt
das eine Ende den Nordpol, das andere den Südpol des Magnets.
Wird der Südpol eines Magnets dem Nordpol eines anderen nahe
gebracht, so ziehen sie einander an; bringt man jedoch die beiden
Nordpolenden aneinander, so stoßen diese einander ab. Die
gleichen Pole stoßen sich also ab, die ungleichen ziehen sich an.
Streicht man gut gehärteten Stahl mehrere Male mit einem natür-
lichen Magnet, so wird er zu einem künstlichen. Bricht man einen
Magnet in der Mitte durch, so ist jeder Teil ein vollständiger
Magnet mit seinen besonderen Polen. Eisen, das magnetisch ge-
worden ist, zieht auch anderes Eisen oder Stahl wieder an. Die
künstlichen Magnete erhalten meist die Form eines Hufeisens. An
die beiden Enden eines solchen wird ein Stück weiches Eisen
gehängt, das man Anker nennt. Der Anker hängt am Magnet fest
und trägt nach einiger Zeit selbst Stücke Stahl oder Eisen, die
ihm angehängt werden. Durch Übung kann die Kraft eines
Magnets gestärkt werden, so daß letzterer nach und nach größere
Gewichte trägt. Reißt man den Anker vom Magnet los, so wird
dieser geschwächt.
Der Kompaß.
Der Kompaß ist ein für den Seefahrer, den Feldmesser u. s. w.
bestimmtes Instrument, durch das die Himmelsgegenden genau
angegeben werden. Er besteht aus einer Scheibe, auf der die
genaue Einteilung der Himmelsgegenden verzeichnet ist. Eine
von Norden nach Süden gezogene Linie bildet die Grundlage hierzu.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 21
322
1b6 Die Elektrizität.
Diese Zeichnung stellt einen Stern mit 32 Strahlen dar und hat
eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Rose; daher bezeichnet man
sie mit dem Namen Windrose. In der Mitte dieser Windrose ist
eine Magnetnadel so auf ein rundes Eisenstiftchen gelegt, daß
sie sich frei herumdrehen kann. Durch die Richtung der einen
Spitze der Magnetnadel weiß man überall, wo Norden, durch
die andere, wo Süden ist, da ihre beiden Pole stets nach der-
selben Richtung zeigen. Der Kompaß ermöglicht es zu Wasser
und zu Land (besonders inmitten großer Wälder, in Bergwerken)
immer die Himmelsrichtungen zu finden. Erst nach Erfindung
des Kompasses konnte die Schiffahrt, die bis dahin nur Küsten-
schiffahrt gewesen war, Weltschiffahrt werden; erst dann war
man imstande auf dem unermeßlichen Weltmeer neue Inseln
und Festländer zu entdecken. Die Chinesen sollen den Kompaß
schon 121 n. Chr. benutzt haben; doch ist es nicht sicher, ob
die Magnetnadel unmittelbar aus China oder durch die Hände
der Araber nach Europa gekommen ist. Flavio Gioja hat das
Verdienst einen nadelförmigen Magnet zuerst in eine Kapsel
eingeschlossen zu haben (1302—20).
156. pic Elektrizität.
So manch Geheimnis der Natur
Durchblickt der freie Menschengeist:
Doch was er findet, ist nur Spur,
Die wieder auf Geheim'res weist. —
In der Erscheinung nur allein
Zeigt sich ein stetes Wechselwalten;
Das Wesen bleibt. Im Neuentfalten
Und ew'gen Werden ruht das Sein.
Löwe.
a) Harz, Siegellack, Bernstein oder eine Glasröhre, welche auf einem
Stück Wollen- oder Seidenzeng gerieben werden, ziehen kleine Holunder-
stückchen, Holzspänchen, Papierschnitzel und dergleichen leichte Körperchen
an. Reibt man diese zuerst genannten Gegenstände in einem dunkeln
Zimmer auf Wolle oder Seide, so bemerkt man, daß kleine, bläuliche
Funken mit etwas Knistern an den Finger springen, wenn man letzteren
an den geriebenen Gegenstand hält. Man nennt die Kraft, welche sich
in den geriebenen Körpern entlvickelt, Elektrizität. Sie war schon den
alten Griechen am Bernstein bekannt; daher gaben sie ihm den Namen
Elektron. An anderen Körpern wurde die Elektrizität erst von dem
Engländer Gilbert (1600) entdeckt. Bringt man den geriebenen Siegellack
nahe an ein Stückchen Kork, das an einem Hanffaden hängt, so entzieht
dasselbe dem Siegellack die Elektrizität. Der Kork zeigt aber keine
elektrische Kraft, da dieselbe von dem Faden und der menschlichen Hand
156. Die Elektrizität.
323
zuletzt nach dem Erdboden abgeleitet wurde. Hieraus sieht man, daß
die erregte Elektrizität von einem Körper nach einem anderen abgeleitet
werden kann. Aber nicht alle Körper leiten die Elektrizität in gleichem
Maße ab. Man unterscheidet daher gute und schlechte Leiter der Elek-
trizität. Zu den guten Leitern zählt man alle Metalle, ganz besonders
Kupfer, feuchte Gegenstände, Wasser, Pflanzen, den menschlichen Körper
und Tiere — zu den schlechten Leitern rechnet man Wolle, Haare, Seide,
Fett, Harz, Leder, Glas oder trockene Luft. Man kann die Ableitung
der Elektrizität verhindern, wenn der elektrische Körper von schlechten
Leitern umgeben wird. Dadurch wird die Berührung des elektrischen
Körpers mit einem anderen gestört, er wird abgesondert oder isoliert.
Reibt man einen Lampenzylinder sehr warm und legt ihn dann ganz
nahe an einen Eisenstab, so springt ein Funke von dem Glaszylinder
nach dem Eisen; bringt man aber an den geriebenen Zylinder ein Stück
Siegellack, so springt vom Glas an dasselbe kein Funke. Klemmt man
in einen Glaszylinder die Hälfte eines gebogenen Drahtes, reibt dann
den Zylinder warm und hält den anderen Teil des Drahtes an ganz
kleine, leichte Körper, z. B. Papierschnitzel, dann zieht der Draht die-
selben an; denn er ist elektrisch geworden. Steckt man Siegellack in
den geriebenen Glaszylinder, so wird ersterer nicht elektrisch. Es zeigt
sich also der Draht als ein guter, Siegellack als schlechter Leiter. Bringt
man in den geriebenen Glaszylinder eine dünnere Glasröhre, so wird
dieselbe auch nicht elektrisch, da Glas ebenso schlecht leitet. Die Elek-
trizität, welche durch geriebenes Glas erregt wird, heißt positive und die,
welche durch geriebenes Harz oder Siegellack hervorgerufen wird, negative
Elektrizität. Beide Arten befinden sich in den Körpern, die man für
unelektrisch hält, vereinigt. Durch das Reiben wird die eine Art Elek-
trizität von der anderen getrennt. Solange beide vereinigt sind, bemerkt
man an einem solchen Körper keine elektrische Kraft. Die positive Elek-
trizität heißt Glaselektrizität, die negative Harzelektrizität. Die beiden
Arten suchen sich miteinander zu vereinigen; dagegen stoßen sich zwei
gleiche Arten Elektrizität ab, ähnlich wie die magnetischen Pole.
d) Das Gewitter. An schwülen Tagen wird der Himmel mitunter
plötzlich mit dunkeln Wolken bedeckt. Bald zuckt ein heller, leuchtender
Strahl oder Blitz durch die Wolken, dem ein heftiges Rollen oder
Donnern folgt. Diese großartige Naturerscheinung heißt Gewitter; sie
entsteht, wenn sich die Dünste in der Luft plötzlich verdichten und Wolken
bilden. Die Elektrizität entladet sich durch den Blitz oder durch den
großen Funken, der aus einer elektrischen Wolke in eine andere über-
springt. Der Weg des Blitzes ist gewöhnlich eine vielfach gebrochene
21'
324
166. Die Elektrizität.
Linie; man sagt, der Blitz geht im Zickzack. Der Blitz treibt eine Menge
Luft vor sich her und preßt sie dadurch zusammen. Die Luft widersteht
aber mit ihrer Spannkraft dem Blitz und zwingt ihn oft von der geraden
Richtung nach der Seite abzuspringen. Den Donner bringt der Blitz da-
durch hervor, daß er auf seinem Wege die Luft erhitzt und diese so stark
verdünnt, daß die Luftmassen sogleich heftig gegeneinander prallen. Ist der
Weg des Blitzes kurz, so hört man nur einen Donnerschlag; kommt der
Blitz aber aus weiter Ferne, so ist eine ganze Reihe von Donnerschlägen
vernehmbar. Nicht immer springt der Blitz aus einer Wolke in eine
andere über; zuweilen nimmt er auch ein anderes Ziel. Dies geschieht be-
sonders, wenn eine Gewitterwolke sehr nahe der Erde ist. Alsdann fährt
der Blitz mitunter in sehr hohe Gegenstände, Türme, Bäume oder Häuser,
die der Gewitterwolke am nächsten stehen. Durch diese gelangt dann die
Elektrizität sehr schnell nach dem feuchten Erdboden. Solche Blitze Pflegen
einzuschlagen und zu zünden. Dünnere Metallgegenstände werden durch
den Blitz geschmolzen, Bäume gespalten, Menschen und Tiere getötet.
Um diesen Gefahren vorzubeugen versieht man Gebäude und Schiffe
mit Blitzableitern. Als der eigentliche Erfinder desselben gilt der Ameri-
kaner Benjamin Franklin. Doch hat schon vor ihm der böhmische Geist-
liche Prokop Dyivicz (Divis) die anziehende und ausgleichende Wirkung,
welche metallische Spitzen auf elektrisch geladene Körper ausüben, nach-
gewiesen und einen Blitzableiter hergestellt.
Der Blitzableiter gleicht die verschiedenen Elektrizitäten aus und
leitet den einschlagenden Blitz unschädlich zur Erde. Er setzt sich aus
zwei Teilen zusammen, der Auffangstange und den Ableitungsdrähteu.
Erstere ist aus Eisen und auftecht auf dem höchsten Teile des Gebäudes
angebracht. Sie endigt in eine Spitze, die zum Schutze gegen Rost ver-
goldet oder aus Platin hergestellt wird. Mit der Auffangstange stehen
in ununterbrochen leitender Verbindung Kupferdrähte oder Drahtseile,
die in die feuchte Erde hinabführen. Die Enden der Drähte werden in
der Erde mit Kohlen umgeben um sie vor Rost zu schützen und zugleich
die Leitung zu verbessern. Größere Metallmassen aul Gebäude, z. B.
Dachrinnen, eiserne Gitter u. s. w., werden in die Leitung eingeschaltet,
weil dieselben sonst für sich den Blitz anziehen. Nach vielfachen Er-
fahrungen schützt eine Auffangstange auf einem Umkreis, dessen Halb-
messer die 1^/2fache Länge der Auffangstange beträgt. Längere Gebäude
müssen daher mehrere Aufsangstangen haben; diese werden durch eine
über den Dachfirst hinlaufende Stange verbunden, von der die Leitung
zu Boden führt. Die Blitzableiter müssen zur rechten Zeit auf ihre
Güte geprüft werden; denn ein schlechter Blitzableiter ist gefährlich.
157. Verwendung der Elektrizität.
325
157. Verwendung der KteKtriziLät.
Der Funke wird den Erdenball regieren.
Der Blitz, der stets ein Hauptzerstörer warl
Die Dampfkraft wird den Herrscherstab verlieren.
Sie beut dem Funken ihre Dienste dar.
Sein Licht wird unsre Nächte bläulich zieren
Und seine Macht, so groß als wunderbar.
Wird uns von Ort zu Ort im Fluge tragen
Und Preis um Preis der Wissenschaft erjagen.
Löhn-Siegel.
Seit undenklichen Zeiten waren zwei Dinge die fast ausschließlichen
Belenchtungsmittel: der harzige Kienspan und die rußige Öl- und Tran-
lampe. Einen großartigen Aufschwung sowohl in der Zimmer- als auch
in der Straßenbeleuchtung brachte die Erfindung des Leuchtgases, neben
welchem später das Petroleum als ebenbürtig anerkannt wurde.
Gas und Petroleum sind als leicht explodierbare Körper schon oft
die Ursache unsäglichen Elends geworden. Und noch ein Übelstand haftet
diesen Beleuchtungsmitteln an: man erhält nur dadurch Licht, daß der
Körper verbrennt. Ein brennender Körper aber erzeugt Wärme und gibt
Verbrennungsprodukte ab, so daß die Luft verdorben und dadurch der
menschliche Organismus geschädigt wird. Es strahlt z. B. von einer
Gasflamme mit altem Schnittbrenner so viel giftige Kohlensäure in den
Raum, als in der gleichen Zeit acht Menschen ausatmen. Außerdem ist
mit der älteren Beleuchtungsmethode noch ein wirtschaftlicher Nachteil
verbunden; denn die vom brennenden Körper erzeugte Lichtfülle ist im
Verhältnis zur gleichzeitig entwickelten Wärme sehr gering.
Fast völlig frei von allen Schattenseiten der älteren Leuchtkörper ist
dasjenige Licht, welches in allerneuester Zeit die Kraft der Elektrizität er-
zeugt und das daher elektrisches Licht genannt wird. Man unterscheidet
gegenwärtig Bogenlicht und Glühlicht.
Das elektrische Bogenlicht entsteht, wenn ein starker elektrischer
Strom von einer Kohlenspitze zu einer anderen übergeht, die durch eine
kleine Strecke erhitzter Luft voneinander getrennt sind. Von den glühen-
den Kohlenenden reißen fortwährend Teilchen ab und fliegen glühend durch
die Luftschicht hindurch zu der gegenüberliegenden Kohlenspitze. Durch
den elektrischen Strom werden die Kohlenspitzen weißglühend und es bildet
sich zwischen den beiden Kohlenspitzen ein leuchtender Flammenbogen.
Auf die Güte der Kohlenstifte kommt sehr viel an; wenigstens leuchtet
mit minderwertigen Stiften auch die beste Lampe schlecht.
Von dem Bogenlicht unterscheidet sich wesentlich das Glüh licht.
Dieses ist eine Erfindung des geistreichen Nordamerikaners Edison, der
zuerst in Neuyork einen ganzen Stadtteil mit elektrischen Glühlampen
glänzend beleuchtete. Die Glühlichtlampe besteht aus einer luftleeren,
ovalen Glaskugel von der Größe eines Gänse-Eies. Im Innern be-
326
157. Verwendung der Elektrizität.
findet sich eine verkohlte Faser, meist von Bambusrohr, in Form eines
Bügels und von der Stärke eines Pferdehaars. Wird die Lampe mit
einem elektrischen Strom in Verbindung gesetzt, so gelangt die Faser
infolge des Widerstandes, welchen sie dem Durchgang des elektrischen
Stromes entgegensetzt, zum Glühen.
Von den bis jetzt bekannten Vorteilen des elektrischen Lichtes sei hier
nur folgendes erwähnt: das elektrische Glüh licht entwickelt wenig
Wärme und entnimmt der umgebenden Lust keinen Sauerstoff zur Ver-
brennung, so daß es nicht schädlich auf die Gesundheit wirkt, da hier
kein Verbrennungsprozeß stattfindet. Auch kann man es ohne Gefahr
in Räumen verwenden, in welchen feuergefährliche Stoffe vorhanden
sind. Das elektrische Bogenlicht liefert für Werkstätten und große
Räume eine sehr ausgiebige Beleuchtung, deren Preis im Verhältnis zur
gelieferten Lichtmenge ziemlich gering ist. Ferner läßt es alle von ihm
beleuchteten Gegenstände in ihren natürlichen Farben erscheinen. Beide
Lichtquellen haben den gemeinsamen Vorzug, daß man mit ihnen Räume
beleuchten kann, die von dem Orte der Erzeugung des elektrischen Stromes
weit entfernt liegen.
Die elektrische Beleuchtung hat ihren Siegeslauf über die ganze
Erde angetreten. In vielen Städten hat sie rasche Fortschritte gemacht
und ist in scharfen Wettbewerb mit der gesamten Gastechnik getreten.
Kaufhäuser, Werkstätten und Fabriken, Häfen und Bahnhöfe, Eisen-
bahnen und Schiffe, Theater und Konzertsäle, Gasthöfe und Privat-
wohnungen, Straßen und Plätze, ganze Städte, ja auch Märkte, Dörfer
und einzelne Gehöfte sind mit elektrischem Licht versehen. In der Gestalt
des Glühlichtes finden wir es in feuergefährlichen Räumen, z. B. in
Bergwerken. Selbst der Arzt bedient sich desselben. Mit Hilfe des
Glühlichtes ist es ihm ein leichtes das Ohr, die Nasen- und Rachen-
höhle u. s. w. zu beleuchten, mittels Spiegelung den krankhaften Zustand
zu erkennen und alsdann ein richtiges Heilverfahren anzuwenden.
Ferner kann man die Elektrizität zur Leistung von Arbeit benutzen
und dadurch Motoren in Bewegung setzen. Vermittelst elektrischer Leitung
vermag man die Kraft, die an einem Orte gewonnen wird, auf einen
anderen, wenn auch weit entfernten Ort zu übertragen. So brachte zu-
erst Jacobi in Petersburg das Rad eines Bootes mit einer elektromagne-
tischen Maschine in Bewegung. Diese trieb das Boot auf der Newa
mit mäßiger Geschwindigkeit fort. Dem Kleingewerbe ist durch die Kraft-
übertragung die Möglichkeit geboten allzeit betriebsbereite, zuverlässige
und billige Motoren in seinen Werkstätten in Betrieb zu setzen. Auf dem
gleichen Gesetz beruhen auch die elektrischen Eisenbahnen. Werner Siemens
158. Der Telegraph.
327
in Berlin hat noch eine andre wichtige Anwendung der elektrischen Kraft-
übertragung gezeigt, nämlich Lasten auf große Höhen zu bewegen (elek-
trische Aufzüge).
Einen besonderen Aufschwung hat die Verwendung der Elektrizität
genommen, seitdem es durch die Erfindung des Physikers Plante (1860)
möglich geworden ist die Elektrizität in tragbarer: Apparaten, sog. Akku-
nmlatoren oder Elektrizitätssammlern, aufzuspeichern. Dadurch kann an
Geschäfte der Strom auch ohne Verbindung mit einem Zentralwerk ab-
gegeben werden. Auf diese Weise ist jedem die Möglichkeit geboten sich
zu jeder Zeit, auch wenn das Elektrizitätswerk nicht arbeitet, mit elek-
trischem Strom zu versehen.
Außer zu Beleuchtungszwecken wird der elektrische Strom auch zur Erwär-
mung verwendet, so daß jede Hausfrau imstande ist mit demselben zu kochen.
Ebenso ist der elektrische Strom auf dem Gebiet der Chemie von
hoher Bedeutung geworden. Mit ihm kam: man chemische Verbindungen
trennen und Metalle aus ihren Lösungen ausscheiden. Leitet man z. B.
den elektrischen Strom durch eine Lösung von Kupfervitriol, so scheidet
sich an dem einen Pol metallisches Kupfer ab, bei Silberverbindungen
metallisches Silber u. s. w. Dadurch ist man in den Stand gesetzt, Gegen-
stände mit einem dünneren oder dichteren Überzug eines Metalls zu ver-
sehen. Hierauf beruht die Galvanoplastik. Mit Hilfe dieses Verfahrens
hat man es sogar dahin gebracht genaue metallische Abdrücke vou Skulp-
turen zu erhalten; ja mittels der Galvanoplastik hat man sogar lebens-
große Figuren in Erz hergestellt. Und welch großartige Erfolge wir der
vorsichtigen Verwendung elektrischer Strahlen im Gebiete der Medizin
verdanken, grenzt geradezu an das Wunderbare.
Mit Hilfe des elektrischen Stromes vollführt der Mensch jetzt Stau-
nenswertes. Werner Siemens, der Schöpfer der Elektrotechnik, hatte
darum recht, als er sagte, daß der elektrische Strom der Menschheit noch
die wesentlichsten Dienste leisten werde. Zwerger.
158. Der Uekegraph.
Die wichtigste Anwendung des Elektromagnetismus ist der Telegraph.
Schon 1807 schuf Sömmerring in München eine telegraphische Einrichtung;
diese beruhte auf der Kraft des galvanischen Stromes Wasser zu zersetzen.
Gauß und Weber in Göttingen hatten 1833 einen elektromagnetischen Tele-
graphen hergestellt, der sich auf die Ablenkung der Magnetnadel durch den
galvanischen Strom gründete. Eine wirklich brauchbare Verwendung fand
der Telegraph indes erst nach mehrfachen Verbesserungen und Vervollkomm-
nungen von 1837 ab in England. Im nämlichen Jahre legte Steinheil,
der sich um die Vervollkommnung des Telegraphen große Verdienste erworben
328
158. Der Telegraph.
hat, die erste größere Telegraphenleitung zwischen dem Akademiegebäude in
München und der Sternwarte in Bogenhausen an. Er entdeckte auch die
Rückleitung der Telegraphieströme durch die Erde.
Heutzutage sind hauptsächlich zwei Arten von elektrischen Telegraphen
im Gebrauch: der Nadel- und der Schreibtelegraph. Letzterer ist weitaus
der wichtigere und seine einfachste Form ist der von dem Amerikaner Morse
erfundene und nach ihm benannte Telegraph. Bloß auf Zentralstationen
benutzt man die kostspieligen Drucktelegraphen, welche die Depeschen in ge-
wöhnlichen Lettern wiedergeben.
Der Nadeltelegraph beruht darauf, daß die an der Ankunftstelle
einer Depesche aufgestellte Magnetnadel gezwungen wird, nach links oder
nach rechts von ihrer normalen Stellung abzuweichen, je nachdem man an
der Abgangsstelle der Depesche den Strom in der einen oder anderen Richtung
durch die Leitungsdrähte gehen läßt.
In Deutschland benutzte man zunächst den Zeigertelegraphen und jetzt
zumeist den Schreibtelegraphen. Beim Zeigertelegraphen stehen die Buchstaben
des Alphabets und ein leeres Feld in gleichmäßigem Abstande voneinander
so am Rande einer Scheibe wie etwa die Ziffern auf dem Zifferblatte einer
Uhr; ein im Mittelpunkte der Scheibe drehbarer Zeiger kann über dieselben
hinwegbewegt werden. Eine solche Scheibe befindet sich an jedem Orte, von
dem aus eine Depesche abgeht, wie auch da, wohin sie gelangen soll. Den
Zeiger der ersteren bewegt der die Nachricht befördernde Beamte. Durch den vom
Telegraphisten gehandhabten Apparat hindurch geht der von der galvanischen
Batterie erzeugte Strom. In demselben Augenblick nun, in dem der Strom
zur nächsten Station gelangen kann, bewirkt er, daß daselbst ein vom Leitungs-
draht mehrfach umwundenes, hufeisenförmig gestaltetes Stück Eisen zum
Elektromagnet wird und einen quer über seinen Polen liegenden Anker
anzieht. Ist dann im nächsten Augenblick am Zeichengeber der Strom
abgeschnitten, so verliert jenes Hufeisen ebenso schnell seine anziehende Kraft
und läßt den von einer Feder angezogenen Anker ohne Widerstand los. Die
Bewegungen des Ankers zum Elektromagnet hin und von demselben weg
sind es, wodurch das Fortrücken des Zeigers über der Buchstabenscheibe des
Zeichenbringers bewerkstelligt wird.
Der von dem Amerikaner Morse erfundene und von den Deutschen
wesentlich vervollkommnete Schreibtelegraph verzeichnet mittels eines
Stiftes Punkte und Striche auf einem Papierstreifen und es bedeutet in
dieser eigentümlichen Schrift . — A, — . . . B, — . — . C, — . . D, . E,
. . — . F,-----. G u. s. w. Während bei dem Zeigertelegraphen der Anker
am Elektromagnet ein gezahntes Rädchen samt dem daran befestigten Zeiger
in Bewegung setzt, ist beim Schreibtelegraphen mit dem vom Elektromagnet
bewegten Anker ein Hebel verbunden, an dessen Ende sich ein Metallstift
befindet, der die Zeichen in farbiger Schrift darstellt, über eine durch
Gewichte gleichmäßig bewegte Rolle nämlich läuft ein angemessen straff ge-
159. Telephon und Phonograph.
329
spannter Papierstreifen. Wird nun auf der Abgangsstation der Depesche
der galvanische Strom einen Augenblick geschlossen, so wird der Anker des
Elektromagnets auf der Ankunftstation gleichfalls nur einen Augenblick an-
gezogen und somit hat der Stift am Hebel auch nur einen kurzen Stoß
auf den vor ihm vorübergehenden Papierstreifen ausführen und einen Punkt
machen können. Bleibt jedoch der Strom eine Weile hergestellt und demnach
der Anker des Elektromagnets länger angezogen, so wird auch der Stift
länger an den fortrückenden Papierstreifen gedrückt und dadurch auf dem-
selben ein Strich gebildet. Sonach hängt die Bildung von Strichen und
Punkten nur davon ab, ob der galvanische Strom kürzere oder längere Zeit
wirksam bleibt.
Im Jahre 1850 wurde sogar eine unterseeische Telegraphenverbindung
zwischen Calais und Dover hergestellt. Eine solche Leitung heißt Kabel.
Die Leitung besorgen 5—7 spiralförmig zusammengedrehte, biegsame Kupfer-
drähte. Zur Isolierung sind dieselben von vier Schichten Guttapercha um-
schlossen. Die letzteren werden durch eine dicke Schicht geteerter Seide ge-
schützt. Einen festen Halt bekommt das Ganze durch Umwickelung mit Seilen
von galvanisiertem Eisendraht. Da im Kabel die elektrischen Ströme ver-
zögert und nur schwach an der Empfangsstation ankommen, so verwendet
man hier den Nadeltelegraphen.
Für häusliche Zwecke (zu Glockenzügen), in Gasthöfen (um die Diener-
schaft herbeizurufen) benutzt man heutzutage in der Regel einen Telegraphen,
der aus einem Taster zum Stromschluß und einer Alarmklingel besteht. Zur
Leitung gebraucht man Knpserdraht, der längs der Wände gespannt ist; zur
Erzeugung des elektrischen Stromes verwendet man außer den bekannten
Elementen in neuerer Zeit auch Trockenelemente. Die elektrischen Uhren dienen
zur Zeitübertragung von einer Normaluhr auf entfernte Zifferblätter.
Wie ein Zaubernetz spinnen sich die telegraphischen Drähte durch Länder
und Meere und mit einer Schnelligkeit, die mit dem Fluge der Gedanken
wetteifert, gleiten in ihnen Meldungen und Wünsche, Fragen und Antworten,
Unheil und Freude verkündende Botschaften hin und her. Durch den elek-
trischen Telegraphen sind die entferntesten Punkte der Erde näher aneinander-
gerückt. Nach dem kath. Schulblatt.
159. Aetephon und Phonograph.
g.) Durch das Telephon ist unser an Erfindungen und neuen Einrich-
tungen so reiches Zeitalter abermals um ein Verkehrsmittel vermehrt worden.
Einen der wichtigsten Bestandteile desselben bildet ein Stahlmagnet, der an
einem Pole mit feinem Kupferdraht umwunden ist. Die Windungen dieses
Drahtes sind isoliert und bilden eine Spirale. Vor dem Ende des Magnets
und durch einen geringen Zwischenraum von demselben getrennt, befindet sich
ein sehr dünnes Eisenplättchen (die sogenannte Membrane) und vor diesem
330
159. Telephon und Phonograph.
ein hölzerner Deckel, welcher in der Mitte eine trichterförmige Öffnung ent-
hält; an diese wird ans der einen Station der Mund des Depeschenabsenders,
auf der anderen das Ohr des Empfängers gebracht.
Spricht oder singt man nun in die trichterförmige Öffnung, so schwingt
das Eisenplättchen mit. Durch das, wenn auch nur in den geringsten Grenzen
stattfindende Auf- und Abschwingen desselben vor dem Magnetpol wird der
Magnetismus des Stabes vermehrt oder vermindert. Jede Schwankung des
Magnetismus m dem Stahlmagnet ruft aber weiter in der denselben um-
gebenden Drahtspirale einen elektrischen Strom hervor; dieser ist in seinem
Verlaufe der erregenden Schallwelle vollkommen ähnlich, da er mit der
Schwingung des Eisenplättchens beginnt, in seiner Stärke steigt und fällt.
Dieser Strom setzt sich durch die Drähte fort, durchläuft am entfernten Orte
die Drahtspirale des zweiten Telephons, des Hörtelephons, und bringt hier
in dem Magnet dieselben Änderungen des Magnetismus hervor; dadurch
wird das Plättcheu nunmehr durch den Magnet zu Veränderungen seiner
Lage, mithin zu Schwingungen veranlaßt, welche denen entsprechen müssen,
die am ersten Orte durch die Schallwellen erzeugt wurden. Die Schwingungen
des Eisenplättchens am zweiten Orte bringen dann dieselben Schallwellen
hervor, d. h. die gesprochenen oder gesungenen Laute; es wird demnach jeder
Ton unserem Ohr vernehmlich, wenn wir den Fernsprecher unserem Ohr
nahe bringen. Aber nicht nur einzelne Töne werden auf diese Weise über-
tragen sondern auch die menschliche Rede und ganze Musikstücke. Bei einiger
Übung erkennt man bald unzweifelhaft die Stimme des Redenden. Die
Empfindlichkeit der Eisenplättchen ist so groß, daß sie jeden Laut der in der
Nähe geführten Gespräche mitteilen, sobald sie von den Schallwellen erreicht
werden. Das einfache Telephon erzeugt nur sehr schwache elektrische Ströme
und eignet sich nicht für eine Übertragung der menschlichen Sprache aus
größere Entfernungen. In der praktischen Telephonie wird zur Er-
zeugung der Wechselströme der Sender (Mikrophon) benutzt, welcher durch
Leitungsdrähte mit dem Hörtelephon in Verbindung steht; die Töne sind
ganz deutlich vernehmbar, selbst auf weite Entfernungen. In dieser Anord-
nung hat das Telephon in unseren Tagen eine ausgedehnte Anwendung
gefunden.
Der Erfinder des Fernsprechers ist der Lehrer Philipp Reis (geb. 1834
in Gelnhausen), der seine ersten Versuche in Friedrichsdorf bei Homburg an-
stellte. Große Verdienste um die Verbesserung erwarben sich der Amerikaner
Bell und der Deutsche Siemens, dessen Fernsprecher in der Reichs-Telegraphen-
verwaltung allgemein zur Anwendung gelangt ist.
Alle großen Städte des Reiches sind jetzt schon mit einem dichten Netze
von Fernsprechdrähten übersponnen und die Reichs-Postverwaltung hat eine
Verordnung erlassen, welche die Benutzung dieses neuen Verkehrsmittels
regelt. Seine Brauchbarkeit hat sich trefflich bewährt als Signaleinrichtung
für Feuermeldungen und Wasserleitungen, in Gasthöfen und großen Fabriken,
159. Telephon und Phonograph.
331
bei Eisenbahnen und im Verkehr der Handelshäuser, Geschäftsstellen und
Wohnungen. Auch ist durch den Fernsprecher der Anschluß einer größeren
Zahl kleiner Orte an das Telegraphennetz möglich geworden.
Der Fernsprechverkehr wird durch die Post vermittelt. Jede Stelle wird
durch eine besondere Leitung aus Kupferdraht, welcher entweder über oder
unter der Erde fortgeführt wird, mit deni Fernsprechamte verbunden. Dieses
hat die Aufgabe die einzelnen Leitungen nach dem jedesmaligen Wunsche
der Stelleninhaber miteinander in Verbindung zu setzen, wenn ein Gespräch
erfolgen soll.
b) Der Phonograph oder Klangschreiber ist eine Erfindung des
Amerikaners Edison. Er besteht aus einer kleinen Messingwalze und einer
Schallkapsel. Ein im Innern des Apparats angebrachter Elektromotor setzt die
Walze in Bewegung und führt die Schallkapsel über die Walze langsam von
links nach rechts weg. über die Messingwalze lassen sich ähnlich geformte Hohl-
walzen aus einer harten Wachsmischung leicht auf- und abstreifen. Letztere
sind bestimmt die phonographisch eingeritzten Zeichnungen aufzunehmen. An
der Schallkapsel befindet sich ein Nickelring, welcher ungefähr die Größe eines
Zweimarkstücks besitzt. Er enthält ein lose eingesetztes, wagerecht gestelltes,
höchst biegsames Glasplättchen (Membran). Unterhalb und inmitten des
Glasplättchens befindet sich ein Stiftchen aus sehr hartem Edelstein, welches
entweder scharf geschliffen zum Einritzen der Schrift oder stumpf abgerundet
zur Wiedergabe derselben dient.
Wird der Apparat in Bewegung gesetzt, so muß vorher der wachsartige
Überzug der Messingwalze mittels eines äußerst harten, scharfen Edelstein-
messerchens spiegelglatt abgeschliffen werden.
Spricht man in das Schallrohr oder leitet man gesprochene Worte,
Gesang, Töne von Instrumenten in den Apparat, so wird das Glasplättchen
in Schwingung gesetzt. Diese Schwingungen aber veranlassen das Stiftchen
im Fortgleiten über die sich drehende Wachswalze feine, kaum sichtbare
Zeichnungen in das Wachs einzudrücken. Bei der Wiedergabe derselben wird
das abgerundete Stiftchen eingefügt und dann veranlaßt, den nämlichen Weg
über die eingeritzten Zeichnungen zu gehen. Hierdurch wird es in zitternde,
schwingende Bewegung versetzt, welche sich der über ihm liegenden Glas-
meinbran mitteilt. Diese Schwingungen des Glasplättchens sind gleich-
bedeutend mit leisen Tönen. Die schwachen zurückgebildeten Töne der Glas-
membran werden nun, durch Schalltrichter verstärkt, wieder deutlich zu Gehör
gebracht.
Die phonographischeu Aufnahmen lassen sich viele Tausendmal wieder-
holen, beliebig lang aufbewahren, auch als Briefpakete verschicken. Ein und
dieselbe Walze kann, nachdem die vorherige Aufnahme abgeschliffen wurde,
immer wieder zu neuen Aufnahmen benutzt werden. Bei Aufnahmen mehrerer
Stimmen oder Instrumente zu gleicher Zeit lassen sich die gemeinsam auf-
genommenen Töne auch später alle zugleich deutlich und klar zurückgeben.
332
160. Die Kleinmotoren im Gewerbbetrieb.
Der Apparat gibt die Stimme samt der Klangfärbung genau wieder,
daß man sofort hört, von wem auf die Rolle gesprochen wurde; ebenso ver-
nimmt man jede in die Sprache oder den Ton gelegte Empfindung aufs
deutlichste. Dadurch ist die Möglichkeit geboten, daß die Stimmen großer
Männer fortan der Nachwelt ebenso erhalten werden können wie ihre Photo-
graphien. Man braucht nur die betreffende Rolle in verschloffener Kapsel
aufzubewahren, damit sie viele Jahre nach deut Ableben der fraglichen Person
geöffnet und zur allgemeinen Kenntitis, beziehungsweise Vervielfältigung
gegeben werde. Aber auch im geschäftlichen Leben wird der Phonograph sich
nützlich erweisen, und zwar insbesondere zur Niederschrift oder mündlichen
Wiedergabe von Diktaten, Reden, gerichtlichen Zeugenaussagen; für diese
Zwecke darf er als die vollkontmenste Stenographiermaschine gelten, da er ja
zugleich die für das Verständnis oft so wichtige Betonung vermittelt. Außerdem
wird er zur Übertragung von Gesangstücken, zum Vorlesen, zur Korrespondenz
und sogar im fremdsprachlichen Unterricht mit Vorteil verwendbar sein. In
Verbindung mit Telephon und Telegraph wird der Phonograph auch dem
gewerblichen Leben noch ungeahnte, große Vorteile bringen.
Nach Schürmann.
160. Pie Kleinmotoren im Gewerböetrieö.
Nachdem die Dampfmaschine ihre ersten Triumphe gefeiert hatte,
verfiel man vor siebzig Jahren auf den Gedanken den immerhin etwas
teuern und gefahrvollen Betrieb mit Dampf durch eine andere bewegende
Kraft zu ersetzen. So entstanden die Heißlnftmaschinen. Der Erfinder
derselben ist der Schwede Erikson, der im Jahre 1833 in London die
erste fünfpferdige Maschine herstellte. Doch die gehegten Erwartungen
erfüllten sich nicht und bald kam man zu der Erkenntnis, daß die Heiß-
luftmaschinen nicht imstande seien die Dampfmaschinen im großen und
ganzen zu verdrängen. Mußte man die Hoffnung in der Expansivkraft
der erwärmten Luft einen billigen Ersatz für den Dampf zu finden
auch gänzlich aufgeben, die Maschine blieb; und einige Jahrzehnte später,
als das Bedürfnis sich geltend machte, dem Kleingewerbe eine billige,
gefahrlose, überall verwendbare Betriebskraft zu Verfügung zu stellen,
griff man auf die Konstruktion erwähnter Maschinen zurück. Von der
Dampfmaschine mußte schon deshalb abgesehen werden, da sie bei un-
genügender Aufsicht nicht allein dem Besitzer sondern auch der Nachbar-
schaft gefährlich wird und nicht überall aufgestellt werden darf. Zudem
ist bekannt, daß sie in kleiner und kleinster Ausführung in der Regel
unökonomisch arbeitet. So begrüßte man mit großen Hoffnungen die
ersten Motoren für das Kleingewerbe (1852), welche die Spannkraft der
erhitzten Luft als motorische Kraft verwendeten. Diese Motoren sollten
von den Mängeln der Dampfmaschine frei sein und außerdem noch
160. Die Kleinmotoren im Gewerbbetrieb.
333
andere Vorzüge haben, die ihre Anwendung überall möglich und emp-
fehlenswert machen. Fragen wir, welche Eigenschaften muß ein Klein-
motor haben um wirklich eine möglichst allseitige Anwendung sinden zu
können, so werden es folgende sein:
a) Er muß überall sich aufstellen lassen, selbst in bewohnten Räumen
höherer Stockwerke;
b) er muß ohne Explosionsgefahr sein und deshalb keiner Bau-
erlaubnis bedürfen;
e) er muß sich schnell aufstellen und auseinander nehmen lassen,
man muß mit ihm „ziehen" können;
ä) er muß keine Belästigung für die Umgebung mit sich führen,
sei es durch Geräusch, Geruch oder fliegende Schmutzteile;
6) er muß keiner besonderen Wartung bedürfen;
f) er muß möglichst billig arbeiten.
Daß die Dampfmaschinen sich am wenigsten dieser Eigenschaften
rühmen können, ist bekannt; aber bei den jetzt wirklich in Betracht
kommenden Kleinmotoren sind dieselben fast alle oder doch in der Mehr-
zahl zu finden. Deshalb haben sie auch in den letzten 30 Jahren eine
so rasche und zahlreiche Verbreitung gefunden, daß ein ganz neuer Zweig
des Maschinenbaues durch sie ins Leben gerufen worden ist. Diese
Kleinmotoren werden in den verschiedensten Größen hergestellt, abwärts
von 1—1ho, aufsteigend von 1—10, ja bis zu 20 und 40 Pferdekraft; sie
haben schon die Dampfmaschine aus mancher Stellung verdrängt und ihre
Alleinherrschaft beschränkt. Die Zuckerfabrik Elsdorf bei Cöln hat sogar
zwei Stück 60pferdiger Gasmaschinen (System Ottos neuer Motor) und
ihre eigene kleine Gasanstalt, in welcher sich der Preis des selbst ange-
fertigten Gases pro Kubikmeter auf 1—3 Pfg. stellen soll. So viel hat
sich schon jetzt herausgestellt, daß je nach der Art des Betriebes und des
örtlichen Gaspreises eine Gaskraftmaschine von 10—12 Pferdekraft dem
Dampfmaschinenbetriebe vorzuziehen ist. An Sicherheit und Bequemlichkeit
wird aber die Gaskraftmaschine von den elektrischen Motoren übertroffen.
Sehen wir nun auf die Naturkrüfte, die man für Motorenzwecke
auszunutzen gesucht hat, so sind es folgende:
1. Die Spannkraft der erhitzten Luft — Heißluftmotoren;
2. die Explosions- und Spannkraft brennbarer Gasgemenge —
Gasmotoren;
3. die in den Wasserleitungen der Städte zur Verfügung stehende
Wasserkraft — Wassermotoren;
4. die elektrische Kraft — elektrische Motoren;
5. die Windkraft Windmotoren. Schürmann »nd Wmdmöller.
334
161. Die Ehre GotleS auS der Natur.
161. Pie Köre Gottes aus der Watur.
1. Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre,
Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.
Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere;
Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort!
2. Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?
Wer führt die Sonn' aus ihrem Zelt?
Sie kommt und leuchtet und lacht uns von ferne
Und läuft den Weg gleichwie ein Held.
3. Vernimm's und siehe die Wunder der Werke,
Die die Natur dir aufgestellte!
Verkündiget Weisheit und Ordnung und Stärke
Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt?
4. Kannst du der Wesen unzählbare Heere,
Den kleinsten Staub fühllos beschau'n?
Durch wen ist alles? O, gib ihm die Ehre!
Mir, ruft der Herr, sollst du vertrau'n.
5. Mein ist die Kraft, mein ist Himmel und Erde;
An meinen Werken kennst du mich,
Ich bin's und werde sein, der ich sein werde,
Dein Gott und Vater ewiglich.
6. Ich bin dein Schöpfer, bin Weisheit und Güte,
Ein Gott der Ordnung und dein Heil;
Ich bin's, mich liebe von ganzem Gemüte
Und nimm an meiner Gnade teil!
Gellen.
V. Teil.
ferne Fand und Flute kennen!
Manches Land hab' ich gesehen,
Manches Volk hab' ich geschaut;
Übles müsse mir geschehen.
Wollt' ich's nicht bekennen laut:
Vie hat mir gefallen
Fremder Lande Brauch;
Frei drum sag' ich's auch:
Deutscher Brauch ist über allen!
Von der Elbe bis Min Vhein,
Von dem Vhein bis Ungarland
Mag der Völker erstes sein,
Die ich in der Welt erkannt.
Kraft und reine Minne,
Treue unverzagt,
Mut, der alles wagt,
Deutschland hält ste stets im -Zinne.
Deutschland, du sollst mächtig sein
Uber jedes Volk der Welt,
Wie ein Eichenlaub im Hain
Über alle Wipfel schwellt;
Mag in wildem Schwanken
Volk um Volk vergehn,
Du bleibst feste stehn,
Deutschlands Stärke wird nicht wanken!
Kinkel (Walter v. d. Vogelweide).
162. Aas Wayerland.
„Dich hat der Herr gesegnet,
Mein liebes Bayerland!"
Von den walddunklen Kuppen des ostbayerischen Grenzgebirges bis
hinüber zu den grünen Rebenhügeln der Haardt, vom sagenreichen
Fichtelgebirge bis zu den schneeglänzenden Häuptern der Alpenwelt dehnt
sich unser schönes Bayerland aus. Auf diesem Erdenraum bietet es einen
so reichen Wechsel der Natur, eine solche Fülle der Erzeugnisse, ein so
336
162. Das Bayerland.
mannigfach geartetes Volksleben und so viele und große Werke mensch-
lichen Schaffens, daß wir mit gutem Recht sagen dürfen, Bayern besitze
alles, was ein Land in den Augen seiner Bewohner wie in denen seiner
Besucher schön und herrlich macht.
Im Süden ragt das Hochgebirge der Alpen auf mit seinen maje-
stätischen Bergriesen, seinen glänzenden Seen und rauschenden Wasser-
fällen, seinen leuchtend grünen Almen und erffischenden Bergwäldern;
Böhmerwald und Fichtelgebirge, Spessart und Haardt prangen im
Schmucke dunklen Tannengrüns und lichter Buchenhaine und die Frän-
kische Schweiz lockt den Naturfreund herbei durch ihre malerischen Berg-
formen und kristallklaren Gewässer, durch ihre Höhlen und wunder-
samen Versteinerungen.
Und von diesen Bergen fließen nach allen Richtungen zahllose Ge-
wässer, die ihr befruchtendes Naß durch alle Gaue tragen und sich
zuletzt in den Hauptflußadern des Landes, in der Donau, dem Main
und dem Rhein, vereinigen.
Da Bayern, dank seiner Lage in der gemäßigten Zone, sich fast
überall, namentlich in den tiefer gelegenen Landesteilen, auch eines milden
Klimas erfreut, so bringt der Boden Erzeugnisse mannigfacher Art hervor.
Zwar fehlt es da und dort nicht an Ödungen, an Mooren und Heiden,
namentlich auf der Oberdeutschen Hochfläche, doch treten diese im Gesamt-
bilde zurück hinter den überaus ergiebigen Getreideländern an der unteren
Donau, im schönen Schwabenland und insbesondere im Rhein- und
Maintal. Hier, wo die Sonne ihre Strahlen glühender zur Erde sendet,
schmücken auch blühende Obsthaine die Talgründe und üppige Reben-
gelände die Höhen.
Der Reichtum unseres Landes ist aber damit keineswegs erschöpft.
In unseren Flüssen und Seen leben schmackhafte Fische, in den Waldungen
wird edles Wild gehegt und selbst im Schoße der Gebirge finden sich
kostbare Schätze.
So entbehrt unser Heimatland nichts, was zum Unterhalt seiner
Bewohner erforderlich ist, und mit Stolz dürfen wir bekennen: Bayern
ist ein reiches, ein gesegnetes Land.
Aber nicht bloß die Gaben einer gütigen Natur machen unser
Heimatland schön und rühmenswert; ebenso preiswürdig ist es durch
das, was Menschenhand und Menschengeist darin hervorgebracht hat, so
durch seine alten, geschichtlich merkwürdigen Reichs- und Residenzstädte,
seine jungen, aufblühenden Fabrikorte, seine Schlösser und Burgen,
seine Tempel und Paläste, seine Pfiege der Künste und Wissenschaften.
Wer kennt nicht das altehrwürdige Speyer mit seinem Kaiserdom? Wer
163. So is 's dein uns in Boarnland.
337
Hütte nicht gehört von Augsburgs Pracht vor den Zeiten des unglück-
seligen Dreißigjährigen Krieges, von seinem Rathaus, seinen kunstvollen-
deten Brunnen, von seinen reichen Handelsherren, den Fuggern und
Welfern? Wer verweilte nicht mit Lust in dem alten, aber immer noch
frischlebigen Nürnberg, einer Stadt, ebenso ruhmwürdig durch viele
wichtige Erfindungen als reich an Werken der Kunst und des Gewerbe-
fleißes? Und wie viele Tausende zieht es nicht alljährlich nach des
Landes schöner Haupt- und Residenzstadt München, deren Kunstschütze
und Kirchen, deren Prachtbauten und Hochschulen so berühmt sind wie
ihr Erzeugnis aus Hopfen und Malz! Und wie viele andere Städte
an der Donau, am Main und Rhein wären noch zu nennen, bald
hervorragend durch ihre Industrie, wie das mit wunderbarer Schnelligkeit
aufblühende Ludwigshafen am Rhein, das glücklich sich entwickelnde Kaisers-
lautern, bald ausgezeichnet durch die schöne Eigenart der Bauten, wie das
mittelalterliche Rothenburg ob der Tauber!
Wenn wir all das überblicken, dann drängt es uns zu dem Aus-
ruf: ja, Bayern ist ein glückliches Land, glücklich durch die reichen
Gaben seiner Natur, glücklich durch die Schaffensfreudigkeit seiner Be-
wohner, glücklich vor allem auch durch die weise und ruhmvolle Negierung
unseres erlauchten Regentenhauses, dem unser teures Vaterland
so viele von aller Welt bewunderte Schöpfungen auf den verschiedenen
Gebieten der Kultur zu danken hat. Jeder echte Sohn des Bayerlandes
hängt darum mit inniger Liebe und unverbrüchlicher Treue an seinem
Heimatland, stets bereit, wenn Gefahr droht, mit Gut und Blut es
zu schützen und zu schirmen. Geistbeck.
163. So is 's öein uns in Woarnkand.
1. Deutsch woll' ma' sei', san's allwei' g'west,
Aber boarisch woll' mer aa' bleib'n
Und halt'n an unsern Kini fest,
Dees soll uns niem'd vertreib'n.
2. Frei woll' ma' sei' und aber aa treu
Und lass'n uns drum nit schelt'n;
Wo koa' Glaab'n und Treu', is 's a Lumperei,
„A Mann, a Wort" muaß gelt'n.
3. Grad woll' ma' sei' und redli' und frumm,
Des Erbtoal woll' ma' derhalt'n,
Und kehret sie aa' die ganz' Welt um,
In den Stuck laß' ma' 's beim Alt'n.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 22
338
164. Von der Floßfahrt.
4. So is 's bein uns in Boarnland
Und drüber woll' ma' wacha,
Und wem 's nit recht in sein Verstand,
Dem woll' ma's scho' recht macha! Kobeu.
164. Won der Itoßfahrt.
Die ältesten Fahrzeuge auf den Wasserstraßen sind die Flöße.
Wie früher sind sie auch jetzt noch im Gebrauch wegen ihrer Einfachheit
und der geringen Kosten, welche ihre Beförderung verursacht. Eine
Anzahl nebeneinander liegender, durch Pflöcke, Weidenbänder, Quer- und
Bindehölzer zusammengekoppelter Holzstämme bilden das Floß. Die
Stämme sind zugleich das talwärts zu schaffende Frachtgut oder Floß-
holz. Alis größeren Flüssen und Strömen mit starkem Gefäll wird
auf diese Weise eine Menge von Holz verfrachtet. Die Flöße von
Stammholz (Lang-, Bau- und Zimmerflöße) dienen zur Beförderung
von Bau- und Zimmerholz, Dielen, Brettern und Latten. Man belädt
sie aber auch mit Kohlen, Kalk, Zement, Ziegeln u. s. w. Sie sind
das billigste aller Beförderungsmittel und für manche Gegenden von
außerordentlichem Werte.
Der Holztransport vermittelst der Flöße ist in Deutschland am
stärksten auf dem Rhein, der Weser, der Elbe, der Oder, der Weichsel
und der Donau. Für die Rheinflöße liefern der Schwarzwald, der
Spessart, das Fichtelgebirge, der Frankenwald, der Hunsrück das Holz,
welches mittels kleinerer Flöße auf der Murg, Enz, Kinzig, dem Neckar
und Main sowie der Mosel dem Rhein zugeführt wird. Die Holländer
Flöße (so genannt nach ihrem Bestimmungsorte) bestehen aus Tannen-
und Eichenstämmen, die zum Schiffbau taugen. Diese Bäume wurden
früher in der Nähe von Mannheim, Kastei, Andernach und Koblenz
zu großen Flößen zusammengefügt; jetzt geschieht dies selten mehr. Für
die Weserflöße liefern Thüringen, der Sollinger Wald und der Harz das
meiste Holz. Vom Harze kommt dasselbe auf der Ocker und Aller zur
Weser. Auch auf der Elbe und Moldau, der Oder und Weichsel wird
das Flößergeschäft noch immer schwunghaft betrieben. Die Flöße dienen
hier neben dem Holztransporte vielfach auch der Beförderung von Waren.
Besonders ist Danzig ein Stapelplatz, wo die mächtigen Flöße Lager finden.
Die Donau hat eine starke Flößerei bis Wien und Budapest.
Ihre Nebenflüsse, besonders Lech, Isar und Inn, führen ihr zahlreiche
Flöße zu. Im 18. Jahrhundert wurden die Lechflöße vielfach zum
Personentransport benutzt. In den Türkenkriegen und im Spanischen
165. München.
339
Erbfolgekriege beförderten zugerichtete Flöße Max Emanuels Truppen
und Geschütze zu Tal; auch Kriegsgefangene wurden von Nlm nach
Ingolstadt auf Flößen gebracht. Besonders rege war im Mittelalter
die Flößerei auf der Isar, als die stolzen Kaufleute Venedigs in Mitten-
wald ihre Niederlagen hatten. Wein, Südfrüchte, Gips, sogar Seide
wurden auf den Flößen verfrachtet. Wie auf der Donau die soge-
nannten Ordinarischiffe gingen, so fuhren hier Ordinariflöße talwärts,
welche den Personenverkehr und die Post vermittelten. Heutzutage
gehen die Flöße auf der Isar zum größten Teil nur bis München.
Einschließlich der Loisachzufuhr landen hier jährlich 5 bis 6000 Flöße.
An den Ufern des Oberlaufes der Isar, so in Lenggries, Anger,
Mittenwald, Tölz, herrscht reges Leben. Hier werden die riesigen
Baumstämme zu Flößen zusammengefügt oder in großen Holzsägen zu
Brettern und Balken geschnitten um dann verfrachtet zu werden. Ein
Teil dieser Flöße setzt die Fahrt von München aus weiter bis an die
Donau und von hier abwärts oft bis Wien fort.
Obwohl die Flößerei immer noch ein eigenes Gewerbe bildet und
viele Betriebe, wie Holzfägwerke, Zimmereigeschäfte, Baugewerke, Bau-
und Möbelschreinereien, mit billigen Arbeitsstoffen versieht, nimmt die
Floßfahrt doch im allgemeinen bedeutend ab. Es mögen hieran neben
dem wechselnden Wasserstande so vieler Gebirgs-, besonders Alpenflüsse
die Dampfschlepperei, die großen Sägmühlen in den Gebirgen, die
Verwendung des Eisens statt des Holzes (z. B. zu Schiffsmasten), die
Konkurrenz der Eisenbahnen und auch die Verminderung der Wald-
bestände schuld sein.
Die Flößerei wurde in früheren Zeiten als ein Vorrecht der Landes-
regierung angesehen und daher von dieser nur gegen eine bestimmte
Abgabe gestattet. Nach der Deutschen Reichsverfassung gehört nunmehr
die Gesetzgebung über die Flößerei auf Flüssen, welche mehreren deutschen
Staaten gemeinschaftlich angehören, in die Zuständigkeit der Neichsgesetz-
gebung, während die Regelung der Flößerei auf den anderen Flüssen
den einzelnen Landesregierungen überlassen blieb.
165. München.
In geringer Entfernung von dem Gebirgswalle der Alpen liegt
auf einer weiten Hochebene zu beiden Seiten der grünen Isar die
Hauptstadt Bayerns. Sie ist eine Gründung Heinrichs des Löwen.
Aber als ihren zweiten Gründer kann man König Ludwig I. betrachten,
der eine Menge Prachtgebäude in allen edlen Baustilen errichtete und
22*
340
165. München.
München zu einem Sammelplatz der ausgezeichnetsten Künstler sSchwan-
thaler, Cornelius, Kaulbach, Schwind n. s. w.) machte. Wenn auch die
Stadt aus einer wenig fruchtbaren Ebene gelegen ist und nach Gustav
Adolfs Ausspruch „einem goldenen Sattel auf dürrer Mähre" gleicht,
so gibt es doch auch hier manchen anmutigen Platz. Ein solcher ist der
Englische Garten, unter dem man sich einen reizenden Park mit hoch-
stämmigen, alten Bäumen, grünen Wiesen, rauschenden Wasserarmen,
die sich von der Isar abzweigen, vorzustellen hat. Auch die Gasteig-
und Jsaranlagen bieten landschaftlich schöne Punkte, wie überhaupt
längs der Isar reizende Landschaftsbilder zu finden sind.
Den Mittelpunkt des Verkehrs und des öffentlichen Lebens der
Stadt bildet noch immer der Marienplatz. Hier wurden früher die
Getreidemärkte oder Schrannen unter freiem Himmel abgehalten. An
ihm steht das neuerbaute, im gotischen Stil aufgeführte Rathaus, dessen
Hauptfrontcn von geradezu architektonischer und künstlerischer Schönheit
sind. Der Alte Hof ist der noch erhaltene, nicht mit der königlichen Residenz
in Verbindung stehende Teil der Hofburg, welcher von Herzog Ludwig dem
Strengen 1255 erbaut wurde. Von der Kirche zum Heiligen Geist aus
gelangt man in der Richtung gegen die Isar nach dem schönen Jsartor,
welches Kaiser Ludwig der Bayer errichtet und König Ludwig I. 500 Jahre
später in seiner ursprünglichen Bauart wiederhergestellt hat.
Mehrere Jsarbrücken führen nach der Vorstadt Au, welche der
Fremde schon wegen der im gotischen Stil erbauten schönen Pfarrkirche
Mariahilf nicht unbesucht lassen darf. Neunzehn hohe Fenster mit den
herrlichsten Glasmalereien, die Geburt und das Leben der Jungfrau
Maria darstellend, schmücken die Kirche. Auch die Kirchen in Haidhausen
und Giesing sind im gotischen Stil erbaut. In dem gleichen Baustil
erhebt sich die größte Kirche der Stadt, die Frauenkirche; die beiden
Türme derselben aber sind nicht mit Helmen, sondern mit Kuppeln gekrönt,
die als Wahrzeichen Münchens weit über das Häusermeer sich erheben.
Durch das Karlstor gelangt man in der Richtung nach dem
Bahnhof auf den Karlsplatz mit dem großartigen Justizpalast. In der
Nähe desselben liegt der Glaspalast, welcher für Kunst- und Industrie-
ausstellungen errichtet wurde. Auf der Theresienwiese steht die Ruhmes-
halle, aus Marmor vom Untersberg erbaut und die Marmorbüsten
solcher Männer enthaltend, die sich in Krieg oder Frieden um das Vater-
land verdient gemacht haben; Martin Behaim, Reuchlin, Sickingeu,
Peter Bischer, Eck, Fugger, Hans Sachs, Tilly, Pappenheim, Fraun-
hofer, Cornelius, Gabelsberger und Pschorr sind unter ihnen. Vor
diesem Ruhmestempel erhebt sich die Kolossalfigur der Bavaria, ein
165. München.
341
Meisterwerk Schwanthalers; sie hält in der Linken einen Larbeerkranz
und hat den bayerischen Löwen neben sich. Das aus türkischen Kanonen
gegossene Bildwerk ist 19 m hoch, der Zeigefinger desselben allein 92 cm
lang. Die ganze Figur wiegt mehr als 80000 kg. Im Innern kann
man in die Höhe steigen und in der Höhlung des Kopfes finden nicht
weniger als sechs Personen Platz.
Eine der schönsten Straßen Münchens ist die Lndwigstraße. Sie
reicht von der Feldherrnhalle bis zum Siegestor und ist mit pracht-
vollen Bauten des Architekten Gärtner geziert. Zu den hervorragendsten
unter ihnen gehören die Universität, die Ludwigskirche, mit Fresken von
Cornelius geschmückt, die Staatsbibliothek und die Akademie der bildenden
Künste. Das Siegestor stellt einen römischen Triumphbogen dar, aus
welchem die Bavaria mit einem Löwengespann thront. Durch die
schöne Maximilianstraße, nach den Ideen König Maximilians II. erbaut,
erreicht man jenseit der Maximiliansbrücke das Maximilianeum. Dieser
Prachtbau bildet einen würdigen Abschluß der Maximilianstraße, in
welcher sich das schöne Denkmal ihres Begründers erhebt. Zwischen der
Maximilian- und der Ludwigstraße befindet sich die königliche Residenz.
Sie besteht aus drei Teilen, der Alten Residenz, der Reuen Residenz
(Königsbau) und dem Festsaalbau, und ist durch herrliche Wandgemälde
aus der Odyssee und dem Nibelungenliede geschmückt.
Am Königsplatz, in der stillen Umgebung lieblicher Busch- und
Baumanlagcn, liegt die Glyptothek, ein Museum für alte und neue
Bildwerke, während das gebenüberliegende Kunstausstellnngsgebäude zur
Ausstellung der Werke Münchener Künstler dient. Den herrlichen Platz
schließen gegen Westen die Propyläen ab, ein von jonischen, dorischen
und korinthischen Säulen gebildetes Prachttor, das König Ludwig I.
zur Verherrlichung der Wiedergeburt Griechenlands errichten ließ. Die
in der Nähe befindliche Bonifaziuskirche ist in dem Stile der öffentlichen
Gerichtshallen der alten Griechen und Römer gebaut. Nicht weniger
als 66 gewaltige Säulen, welche 8 m hoch und aus einem Stück ge-
arbeitet sind, teilen das Innere des herrlichen Baues in fünf Abteilungein
In der Alten Pinakothek (Gemäldesammlung) find besonders Meister der
altdeutschen und niederländischen Schule vertreten. Wer die Leistungen
der Meister unserer Zeit und besonders die der Münchener Schule kennen
lernen will, findet dazu in der Neuen Pinakothek Gelegenheit. Die Samm-
lungen des Nationalmuseums in der schönen Prinzregentenstraße sind von
höchstem kulturgeschichtlichen Werte, da sich hier Waffen, Möbel, Gefäße,
überhaupt Erzeugnisse der Kunst und des Knnstgewerbes, allen Gegenden
Bayerns und allen Jahrhunderten entstammend, aufgespeichert finden.
342
165. München.
Wichtige Erfindungen, die für die Kunst von höchster Bedeutung
waren, wurden in München gemacht. Hier erfand Senefelder die Kunst
der Lithographie; hier lebte und starb Gabelsberger, der Begründer der
Stenographie in Deutschland; hier kam M. Ainmiller, angeregt durch
S. Frank, hinter die Geheimnisse der Glasmalerei und übte die alte Kunst
mit solchem Erfolg, daß seine Gläser noch die der alten Meister übertrafen.
Die Erzgießerei ist (seit 1824) in München heimisch und leistet Erstaun-
liches. Das Kunstgewerbe hat in München eine treffliche Heimstätte ge-
funden, besonders seit der Kunstgewerbe-Ausstellung im Jahre 1876. Die-
selbe hat bahnbrechend auf das ganze deutsche Kunstgewerbe gewirkt.
Heute steht München an erster Stelle unter allen Städten, welche Kunst-
blätter und vor allem Prachtwerke der Kunst auf den Wettmarkt bringen.
Im Buchhandel und Buchgewerbe reiht es sich unmittelbar nach Leipzig
und Berlin und hat also bereits die altehrwürdige Buchhändlerstadt Stutt-
gart überflügelt. Auch in edlen und unedlen Metallen, in Holz und Stein,
in Leinwand und Seide, in Leder und Papier entstehen hier Kunsterzeug-
nisse, die den Ruhm Münchens durch die ganze Welt tragen. Weithin
bekannt ist Münchens Möbelindustrie; hervorragendes sind auch seine Eisen-
werke und seine Industrie in Farbwaren; seine hygienischen Apparate
und Einrichtungsgegenstände für Wohnungen u. s. w. genießen Weltruf.
Die Bierindustrie hat sich hier ganz besonderer Leistungen zu rühmen;
denn München braut in einem Jahre mehr als 3 Mill. Hektoliter. Die
stetig wachsende Industrie hat auch den Handel wesentlich gehoben, zu-
mal Eisenbahnverbindungen denselben nach allen Richtungen begünstigen.
Alte Volksbräuche beobachtet man in München bei den Festlichkeiten
des Schäfflertanzes und Metzgersprunges. Der Schäfflertanz (seit 1635
oder 1637), ein fröhlicher Umzug durch die Gassen der Stadt, hatte ur-
sprünglich den Zweck die Bewohner, denen durch die todbringende Pest aller
Lebensmut genommen war, wieder zum alten Frohsinn zurückzubringen.
Der Metzgersprung wurde von zwei Münchener Bürgerssöhnen von Nürnberg
hierher verpflanzt (1426) und soll an die Treue der Bürger, namentlich der
Metzger, zu Kaiser und Reich erinnern. Auch bei ihm findet ein Umzug
statt, dessen Ziel der Fischbrunnen auf dem Marienplatz ist. Das Oktober-
fest ans der Theresienwiese ist ein landwirtschaftliches Fest, bei welchem
Tiere und landwirtschaftliche Erzeugnisse ausgestellt werden und Rennen
stattfinden. Ein damit verbundenes Festschießen, an dem sich Schützen
aus allen Gauen Bayerns beteiligen, dauert die ganze Woche hindurch.
Bietet auch die nächste Umgebung von München wenig landschaft-
liche Reize, so gelangt man doch auf bequemen Schienenwegen rasch nach
der schönen Gegend südlich von München und von Miesbach und
166. Augsburg.
343
anderen Orten aus sind die Berge der bayerischen Alpen leicht zu er-
reichen. Nicht minder lohnend ist ein Ausflug nach dem lieblichen, mit
schmucken Dörfern und Landhäusern umgürteten Starnberger See oder
nach dem ernsten Ammersee mit seinen bewaldeten Uferhöhen. Der be-
scheidene Naturfreund wird aber auch nicht ohne Interesse jene nörd-
lich von München sich ausdehnenden, sumpfigen Landstriche besuchen,
welche Dachauer und Erdinger Moos genannt werden. Hier findet er
nicht nur einen eigenartigen Pflanzenwuchs sondern auch eine ursprüng-
liche Bevölkerung. Näher bei München liegt das Schloß Nymphenburg,
das den Besucher lebhaft in die Zeit der glänzenden Hofhaltungen des
17. und 18. Jahrhunderts versetzt und dessen Hofgarten prächtige
Wasserkünste, Baumgänge und Lusthäuser aufzuweisen hat. Eines hohen
Rufes erfreut sich die in Nymphenburg befindliche Porzellanfabrik.
Nach KSppen.
166. Augsburg.
An dem Vereinigungspunkte der Wertach mit dem Lech liegt Augs-
burg, die Hauptstadt des Kreises Schwaben. Die Stadt zerfällt in drei
Teile, die obere, die untere und die Jakobervorstadt, und besitzt, obgleich
zum Teil noch altertümlich und unregelmäßig gebaut, doch herrliche
Straßen, mehrere große, mit Springbrunnen gezierte öffentliche Plätze
und viele schöne, merkwürdige Gebäude. Die Bürgerhäuser sind in der
Regel stattlich und lassen der Bewohner Tüchtigkeit, Wohlhabenheit,
Fleiß und Ordnungssinn schon von außen erkennen. Der schönste Teil
dieser anziehenden Stadt und dasjenige Gebäude, in welchem sich Augs-
burgs große Vergangenheit am deutlichsten wiedererkennen läßt, ist das
von Elias Holl (1616—1620) im Renaissancestil erbaute Rathaus.
Zu seiner äußeren und inneren Verzierung haben alle Künste des 16.
und 17. Jahrhunderts ihr Bestes beigesteuert. Im sogenannten goldenen
Prunksaale, der, ohne von Säulen getragen zu sein, eine Länge von
31 na hat, weilt man staunend und begreift nicht, wie der Rat einer
einzelnen Stadt es vermochte solche königliche Pracht um sich zu häufen.
Das Zeughaus und die Fuggerschen Paläste stammen aus der näm-
lichen Zeit; der ehemalige Bischofshof dient jetzt als Sitz der könig-
lichen Oberbehörden des Kreises. Die bedeutendste von den elf katho-
lischen Kirchen ist die Domkirche mit sehr alten Glasgemälden; unter
den fünf protestantischen besitzt die St. Annakirche gute Bilder von
Lukas Kranach und anderen Meistern.
Schon im Beginn unserer Zeitrechnung war Augsburg eine Kolonie
ver Römer und fünf Jahrhunderte früher als im mittleren Deutschland
glänzte hier das Kreuz auf christlichen Tempeln. Als Rom sank, ging
344
166. Augsburg.
auch diese Kolonie unter; in den Verheernngsstürmen der eindringenden
Barbaren erlag diese als erste Beute. Lange blieb sie wüst; unter
Theoderich erst gelangte Augsburg als ostgotische Stadt wieder zu
einiger Bedeutung und um 600 machte es sich als Bischofssitz bemerk-
lich. Karl der Große befestigte die Stadt und im 8. und 10. Jahr-
hundert rauschten die blutigen Entscheidungsschlachten Karls gegen die
Bayern unter Tassilo und der Deutschen gegen die neuen Weltstürmer,
die Ungarn, an ihren Mauern hin über das Lechfeld. Später entwickelte
sich, obwohl unter häufig wiederkehrenden, schweren Bedrängnissen, die
Kraft des Gemeinwesens, die Macht des Magistrats und der patrizischen
Geschlechter, aus deren Mitte sich der erstere erneuerte. Hand in Hand
damit ging der Zuwachs an Handel und Reichtum in Augsburg, welcher
aus der im 12. Jahrhundert begonnenen engen Verbindung mit Venedig,
Genua und den freien Städten der Lombardei sich entwickelte. Als
im Jahre 1368 die Macht des patrizischen Magistrats brach und er
dieselbe mit den Zünften teilen mußte, stand Augsburg in höchster
Blüte. In allen Ländern galt sein Ansehen und die Augsburger
Handelsherren konnten es stolz mit Fürsten aufnehmen, die öfters auch
an sie Gesandte schickten. Daneben standen Kunst und Gelehrsamkeit
in verdienter Anerkennung. Die Kaiser weilten gerne und oft in dieser
gastfreundlichen Stadt und hielten häufig hier Reichstage ab.
Nun folgte eine Zeit des überschwenglichen Reichtums, aber auch
der Prachtsucht und der Üppigkeit. Die Fugger schwangen sich vom
Webergesellen an durch Geist, Fleiß und Glück in kurzer Zeit zu den
reichsten Kaufherren der Stadt empor. Die Welser sandten ihre Schiffe
nach allen damals bekannten Meeren.
Aber die übergroße Macht sollte nicht lange dauern. Augsburg
hatte mit Venedig einerlei Schicksal. Der Handel, der sich nach Aufi
finden des neuen Weges nach Indien und nach Amerikas Entdeckung
der alten Bahn entfremdete, suchte andere Hauptsitze auf. Augsburgs
Verkehr nahm von Jahr zu Jahr ab, zugleich sein Wohlstand. Viele
Kaufleute zogen weg nach den Niederlanden und Hamburg. Die Re-
formation und ihre Folgen, namentlich der Dreißigjährige Krieg, halfen
mit den Verfall der Stadt beschleunigen. Zwar erhob sich Augsburg
durch Gewerbefleiß wieder; doch der Glanz, welchen ihm der Welthandel
gegeben hatte, war dahin. Im Jahre 1805 erlosch auch seine seit 1276
als freie Reichsstadt ununterbrochen behauptete Unabhängigkeit.
Aber seine Vereinigung mit dem Königreich Bayern hob seine Be-
deutung wieder und diese stieg noch mehr, seitdem es Mittelpunkt eines
nach allen Richtungen auslaufenden Bahnverkehrs geworden. Als
167. Negensburg. Die Walhalla und die Befreiungshalle. 345
Wechselplatz hat Augsburg hohe Bedeutung und als Fabrik- und
Handelsstadt reiht es sich Nürnberg und Fürth an; im Buchhandel
nimmt es eine der namhaftesten Stellen in Deutschland ein. Großartig
sind die Augsburger Spinnereien und Webereien; daran reihen sich
Tabakfabriken, Fabriken zur Verfertigung von Messing- und Fischbein-
waren, für Gasapparate und Chemikalien. Reicht auch das heutige
Augsburg in Bezug auf Handel und Gewerbe bei weitem nicht an den
Glanz des alten, so nimmt es doch immerhin einen hervorragenden
Rang in Süddeutschland ein. Nach Meyer.
167. Hlegensöurg. I>ie Wakñassa und die WefreiungsKalle.
Regensburg zeigt zwar keine solche Fülle altertümlicher Bauten
wie Nürnberg; doch geht seine Geschichte viel weiter zurück als die
Nürnbergs. Denn schon die Römer trafen hier eine keltische Ansiedlung
und wandelten diese der günstigen Lage wegen in ein befestigtes Lager
um. Wie sie durch Anlegung von Heerstraßen die Bahn zum Handel
geöffnet haben, so versuchte sich ihre Industrie hier in Errichtung von
Fabriken und Werkstätten zu betätigen. Schöne gebrannte und gemalte
Geschirre und andere Gefäße, gegossene Waffen, Kleiderstücke und ver-
schiedene Farbstoffe, vorzüglich aber feine Purpur- und Scharlachfarben
wurden besonders in Regensburg verfertigt. ' Zu den Zeiten des Königs
Arnulf wird Regensburg als die berühmteste deutsche Stadt geschildert,
in welcher täglich viele Schiffe ankamen und abfuhren. Die hier ge-
fertigten Damaste, kostbaren Tücher und schön übermalten Decken wurden
in verschiedene Länder verschickt; ein reicher Kaufmann hatte bereits eine
Niederlage in Kiew.
Regensburg gewann eine noch größere Bedeutung, als es der Sitz
der Agilolsinger und Karolinger und der bayerischen Herzoge wurde.
Namentlich aber entfaltete sich seine Macht, als es sich zur freien Reichs-
stadt emporschwang. Durch lebhafte Handelsverbindungen mit Venedig
erreichte Regensburg seine höchste Blüte im 13. Jahrhundert. Die Stadt
war damals Hauptplatz für den Weltverkehr, der auf der Donau den
Osten mit dem Westen verknüpfte. Ihr „Hansgraf" hatte die Oberaufsicht
über den Handel in verschiedenen Donaustädten. Regensburger Schiffer
fuhren bis ins Schwarze Meer und nach Konstantinopel und viele Kreuz-
fahrer wurden von ihnen auf dieser Wasserstraße nach Palästina befördert.
Mit dem Falle Venedigs sank auch Regensburgs Handelsgröße und unter
dem Weh des Dreißigjährigen Krieges mit seinem Gefolge von Plün-
derungen, Brand und Pest verminderte sich seine Bevölkerung um die
Hälfte. Erst als der Reichstag dauernd hierher verlegt wurde, eröffneten
346 167. Regensburg. Die Walhalla und die Befreiungshalle.
sich der Stadt einige neue Erwerbsquellen. Im Jahre 1810 kam sie an
Bayern und hat sich seitdem wiederum außerordentlich gehoben. Ihre
Gewerbtätigkeit ist äußerst mannigfaltig und genießt einen guten Ruf; der
Handel ist lebhaft und besteht vorzugsweise in Spedition, in Tabak-,
Salz-, Holz- und Getreidehandel, der sowohl durch die aufblühende
Dampfschiffahrt als auch durch die hier einmündenden Eisenbahnen be-
günstigt wird; hier schneiden sich die Schienenwege von Berlin nach Nom
und von Cöln nach Wien. Mancherlei Gewerbe blühen hier: Fabriken
für Tabak, Bleistifte, Porzellan, Werkstätten für Messerschmiedwaren und
Gewehre, Bierbrauereien, Wachsbleichereien und Buchdruckereien.
Das Innere der Stadt trägt den Stempel der alten deutschen,
großen Reichsstädte. Weit überhängende uralte Häuser mit Erkern uud
ungleichen Fenstern, hohen, der Straße zugekehrten Giebeln, bisweilen
alte Streit- und Rittertürme füllen die engen, winkeligen, doch reinlich
gehaltenen Gassen der Altstadt. Die freien Plätze sind unregelmäßig,
doch groß, wie der Emmeram- und Dominikanerplatz; die schönste Straße
ist die Maximilianstraße mit neueren Gebäuden. Fast alle Kirchen
ziehen den Kunstfreund durch irgend ein bedeutendes Werk an, so die
St. Jakobs- und St. Emmeramkirche. Letztere birgt die Gebeine des
Glaubenspredigers Emmeram, des letzten Karolingers, Ludwigs des Kindes,
und des Herzogs Arnulf von Bayern. Das schönste und ehrwürdigste
Denkmal deutscher Kunst ist der weltberühmte gotische Dom zu St. Peter.
König Ludwig I. ließ ihn in umfassender Weise restaurieren, seine Türme
mit ihren durchbrochenen Helmen wurden aber erst 1871 vollendet. Im
Rathaus, einem düsteren, unre> elmäßigen Gebäude, hatte fast zwei Jahr-
hunderte hindurch bis 1806 der deutsche Reichstag seinen Sitz. Noch stehen
viele schöne Paläste, in welchen die Gesandten der siemden Mächte sich
aufhielten, und eine Straße, welche die meisten von ihnen bewohnten,
heißt noch jetzt die Gesandtenstraße. Bemerkenswert ist das sehr alte
Gasthaus zum Goldenen Kreuz, ein hohes, weitläufiges und burgartiges
Gebäude, in dem bereits Karl V. seine Wohnung aufgeschlagen hatte.
Vor dem Ostentore liegt in unmittelbarer Nähe der Donau die prächtige,
im gotischen Stil aufgeführte Königliche Villa. Der zum Teil neu erbaute
Palast des Fürsten von Thurn und Taxis zeichnet sich durch seine Schön-
heit im Äußern wie durch seine kostbare Einrichtung im Innern ans.
Durch eine uralte Steinbrücke wird Regensburg mit Stadtamhof auf dem
linken Donauufer verbunden.
Zwei Stunden unterhalb der Stadt Regensburg erhebt sich liillz
der Donau auf hoher Bergesstufe als ein „Tempel deutscher Ehren"
168. Der Bayerische Wald.
347
die im griechisch-dorischen Tempelstil erbaute Walhalla; sie leuchtet
mit dem blendenden Weiß ihrer Marmorsäulen weit in die Ebene
hinaus. Marmortreppen, auf gewaltigem Mauerwerke ruhend, führen bis
zu den mächtigen, terrassenförmig aufgeführten Unterbauten des groß-
artigen Tempels empor. Am 18. Oktober 1830, dem Gedenktage der
Schlacht bei Leipzig, führte König Ludwig I. die Hammerschläge auf
den Grundstein. „In dieser sturmbewegten Zeit," so sprach er, „lege
ich den Grundstein zu diesem Gebäude, im felsenfesten Vertrauen auf
die Treue meiner Bayern; mögen, sowie diese Steine sich zusammen-
fügen, alle Deutschen kräftig zusammenhalten!" Und als zwölf Jahre
später, am gleichen Gedenktage, der hehre Bau feierlich eingeweiht
wurde, sprach der König: „Möchte die Walhalla förderlich sein der
Erstarkung und Vermehrung deutschen Sinnes! Möchten alle Deutschen,
welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, daß sie ein gemeinsames
Vaterland haben, ein Vaterland, auf das sie stolz sein können, und
trage jeder bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung!" Die auf
das reichste ausgestattete, mit Oberlicht erhellte Halle enthält in zwei
Reihen die Marmorbüsten und die mit Gold geschriebenen Namen
deutscher Geistesfürsten und Helden. Zwischen den Büsten erheben sich,
aus weißem karrarischen Marmor gebildet, die himmlischen Gestalten der
Walküren, welche die Edlen in der Walhalla bewillkommnen und ihnen
deutsche Eichenkränze reichen. Auch der königliche Erbauer dieses Pracht-
tempels hat hier in einem schönen Denkmal seine Aufnahme gefunden.
Mehrere Stunden stromaufwärts ragt auf dem Michelsberge bei
Kelheim ein zweiter, ebenfalls von König Ludwig I. erbauter Ehren-
tempel empor, die BefreiungsHalle. Zur Erinnerung an die Be-
freiungskriege errichtet, tragen Metallschilde die Namen der Schlachten,
durch welche die Freiheit vom fremden Joch erkämpft worden ist. In
der Mitte der Halle ist in den Marmorfliesen die Inschrift eingegraben:
„Möchten die Teutschen nie vergessen, was den Befreiungskampf not-
wendig machte und wodurch sie gesiegt." Von der Höhe herab schweift
der Blick über das Donauland mit seinen gesegneten Fluren und statt-
lichen Dörfern.
168. Per Bayerische Watd.
Der Bayerische Wald, im Munde des Volkes schlechthin „der Wald"
genannt, ist kein für sich abgeschlossenes Gebirge, sondern ein Teil des
mächtigen Böhmerwaldes, und zwar seines südwestlichen Abfalls. Im
Nordwesten gegen die Oberpfalz zu steht er durch den Pfälzer Wald
mit dem hufeisenförmigen Fichtelgebirge, gegen Südosten aber mit dem
348
168. Der Bayerische Wald.
Böhmisch-Österreichischen Gebirge in Verbindung. Er umfaßt den von
der Donau nördlich gelegenen Teil Niederbayerns und die östliche
Oberpfalz.
Der Bayerische Wald enthält zwei von Südost nach Nordwest
streichende Hauptketten, nämlich das Böhmisch-Bayerische Grenzgebirge
(mit dem Arber, Rachel und Lusen) vom Dreisesselberge bis zum Furth-
Tauser Paß und das Donaugebirge (mit dem Dreitannenriegel) von
Regensburg bis unterhalb Passau. Zwischen den beiden Hauptzügen
breitet sich ein mehr hügeliges Land aus, welches den Namen Pfahl-
gebirge führt. Der Kern des Gebirges besteht aus Granit, Gneis und
Glimmerschiefer. Der Pfahl ist ein mächtiger Quarzgang, der mitten
durch das Gebirge schnurgerade hinstreicht und sich vom Fuß des Drei-
sesselberges bis Bodenwöhr in der Oberpfalz erstreckt. Graphit und
Porzellanerde kommen als Einlagerungen im Gneisgebiet vor.
Im Donaugebirge hat sich nur mehr weuig vom Wald erhalten.
Dagegen sind die übrigen Gebiete des Gebirges, namentlich der hintere
Zug, von großartigen Wäldern bedeckt. Die hochschaftigen Stämme
der Bäume gleichen Riesensäulen; bogenartig wölben sich die grünen
Gipfel der Buchen übereinander um von dunklen Tannen überragt
zu werden. Feierliche Stille herrscht in diesem Helldunkel, nur morgens
und abends von der klangvollen Stimme der Drossel unterbrochen. In
höheren Lagen bemerken wir das Auftreten des Ahorns. Bald verläßt
uns auch die Tanne und die Fichte ist fast ausschließlich an ihre Stelle
getreten; allein sie ist nicht mehr hochstämmig und schlank, sie büßt an
Höhe ein, was sie an Breite der Krone gewinnt. Der Stamm verdünnt
sich kegelartig, die Zweige aber erreichen einen bedeutenden Umfang
und hängen weit herab. Man nennt jene Fichten „Spitzfeichten".
Das Holz derselben zeichnet sich durch besondere Feinheit der Jahres-
ringe sowie durch eine seltene Gleichmäßigkeit aus. Diese Eigentümlich-
keiten machen es besonders zu Resonanzböden für musikalische Instru-
mente geeignet.
Das Klima ist rauh und der Boden liefert geringen Ertrag. Daher
sind die Bewohner schon von Haus aus auf Genügsamkeit hingewiesen.
Im inneren Walde bilden Kraut, Kartoffeln, grobe Mehlspeisen, saure
Milch und Schwämme die wichtigsten Bestandteile des bäuerlichen Tisches.
Der Bayerische Wald zählt ungefähr 250000 Bewohner, die sich
selbst „Waldler" nennen. Der Abstammung nach sind sie Altbayern.
Das Landvolk zeigt im ganzen einen kräftigen Körperbau. Im südöst-
lichen Teile, besonders im Passauer Walde, haust ein schöner Menschen-
schlag. Der Waldler ist etwas derb, aber gutmütig, dabei genügsam
169. Bauernhaus und Gehöfte in Nordbayern. 349
und religiös. Er hängt treu an seinen heimatlichen Bergen, liebt Gesang
lind Tanz.
Die Haupterwerbszweige der Bewohner des Bayerischen Waldes
sind Ackerbau, Viehzucht und in den höher gelegenen Teilen des Waldes
die Ausbeutung des Holzreichtums. Die eigentliche Holzindustrie be-
schränkt sich besonders auf die Herstellung von Brettern, Pfosten,
Dachschindeln, Zündhölzchendraht; das hervorragendste und edelste
Erzeugnis des Böhmer- und Bayerischen Waldes ist das kostbare
Resonanzbodenholz; es wird in alle Welt versendet, bis nach England
und Amerika.
Weit älter als die Holzindustrie ist im Bayerischen Walde die Glas-
fabrikation, die zu den wichtigsten Industriezweigen des Waldes gehört.
Die ersten Glashütten sind wahrscheinlich schon im Mittelalter in der
Nähe des Goldenen Steiges, eines Weges von Passau nach Prachatitz
in Böhmen, entstanden. Es gibt in ganz Europa kaum ein zweites
Waldgebirge, das so viele Glashütten aufzuweisen hätte wie der Böhmer-
und der Bayerische Wald. Besonders zahlreich sind die Glashütten um
Zwiesel. Die Leinwandindustrie des Bayerischen Waldes, vorzugsweise
im Bezirksamt Wegscheid, ist ein in hoher Blüte stehender Erwerbszweig
der dortigen Bevölkerung. Die Leinwand dieser Gegend, im Handel
unter dem Namen „Passauer Linnen" bekannt, wird als gediegenes
Fabrikat sehr geschätzt. Außerdem beschäftigt die Gewinnung und Ver-
arbeitung verschiedener nutzbarer Mineralstoffe zahlreiche Hände. Es
findet sich bei Bodenmais Schwefelkies, aus welchem Vitriol, Alaun u.s. w.
gewonnen wird, feine, weiße Porzellanerde besonders bei Wegscheid, ebenso
schwarze Töpfererde und guter Graphit. Der hohe Wert des Passauer
Graphits liegt darin, daß er wegen seiner blätterigen Struktur (im
Gegensatz zum böhmischen Graphit) allein zur Fabrikation von Schmelz-
tiegeln verwendbar ist. Diese werden in Obernzell bei Passau gefertigt;
Bayern besitzt hierin fast ein Weltmonopol.
169. Mauernhaus und Gehöfte in Nordbayern.
Bodengestaltung und vorhandenes Baumaterial sind beim Bau des
Hauses maßgebend. Da das Fichtelgebirge und seine Ausläuser Reichtum
an weichem Werkholz bieten, so ist dort auch Fachwerk und Schindeldachung
vorwaltend. Das Giebeldreieck des Wohnhauses, nicht selten der ganze Ober-
stock, ist mit Brettern verschalt. Bei den großen, mehrfirstigen, geschlossenen
Gehöften bilden Wohnhaus und Nebengebäude drei Seiten, eine hohe Holz-
wand mit gedecktem Gang bildet die vierte; das Ganze gleicht einer hölzernen
Festung. Im Innern trennt die Hausflur Stube, Schlafkammer und Küche
350 169. Bauernhaus und Gehöfte in Nordbayern.
Von der Stallung. Die Einrichtung ist auf das Unentbehrlichste beschränkt;
Farbenschmuck fehlt.
Die Weberhütten im nördlichen und östlichen Bergvorland vereinigen in
der Regel Flöz, Küche, Schlafkammer und Wohngelaß in einem Raum, in
dem außer Webstuhl und Familienliegerstätte kaum ein bißchen Platz um den
Kachelofen sich findet.
Mehrfirstige Bauerngehöfte erheben sich an der Eger und unteren Kössein.
Hier steht das Wohnhaus mit der angebauten Stallung einerseits, die Heu-
schupfe anderseits, in der Tiefe die Stadeltenne und gegen die Straße die
abschließende Planke mit der Einfahrt; auf der Hausseite breitet sich die
Dungstätte aus; in der Mitte des Hofes steht der Taubenschlag und daneben
der granitene Hausbrunnen. An die Stadeltüre ist ein Geier mit aus-
gespreizten Schwingen angenagelt, damit der Hof vor Wetterschlag sicher sei.
Außerhalb der Umfriedung ist das eingezäunte Hausgärtchen, von einer Birke
spärlich beschattet. Der Starenkobel darf nicht fehlen; denn wie die Schwalbe,
gilt auch der Star als glückbringend und unverletzlich.
Im unteren Regnitzgrund und im flachen Maintal finden wir Stein-
bau, in der Hügelregion Riegelbau mit bloßliegendem Fachwerk, meist ein-
stöckig mit mäßig steiler Dachung, wenig vorspringenden Sparren. Die Türe
ist an der Breitseite.
Äußerst eigenartig ist das Bauernhaus im Frankenwald, namentlich an
der Rodach, der oberen Kronach und Haslach. Holzreichtum ist Ursache, daß
der Holzbau in allen möglichen Formen vom Blockhaus mit den einfachsten
Balkenwandungen bis zum buntesten und launigsten Riegelwerk vorkommt.
An den Hausecken finden sich oft erkerühnliche Anbaue; selbst einer Art ge-
deckter Laubgänge begegnen wir da und dort, namentlich als Verbindung
zwischen Haupt- und Nebengebäuden.
Die innere Einrichtung entspricht so ziemlich der im Bayreuther Land;
doch haben die Flößerdörfer des Frankenwaldes mehr bürgerliche als bäuer-
liche Eigenart.
In den Hochdörfern des Jura treffen wir neben der Ärmlichkeit auch
Schmutz. Da der zerklüftete Jurakalk kein Wasser hält, muß damit gegeizt
werden. Statt der „Ofenbruck" geht eine feste Bank an den beiden Fenster-
seiten der Stube hin. Die Bedachung der Häuser besteht fast durchgehends
aus den weißschimmernden Jurakalkplatten.
Die Gegensätze von Berg- und Flachland sind in Mittelfranken weniger
scharf und entschieden als in Oberfranken; deshalb ist auch ein geringer
Unterschied in den Bauernhäusern. Die Hügelzone macht sich nur durch
vorwaltenden Fach- und Riegelbau gegenüber der Ebene bemerkbar, die vor-
zugsweise Bruchstein bis an das Kranzgesims zeigt. Das langgestreckte Haus
bildet mit der Stallung eine Flucht, hat seinen Eingang an der Breitseite
und ist mit Platten gedeckt; Türe und Fensterstöcke, alles lot- und wagerecht,
aber recht nüchtern.
169. Bauernhaus und Gehöfte in Nordbayern.
351
Die innere Einrichtung ist wie in Oberfranken. In der Stube steht
mit dem brodelnden Wasserkessel der Ofen, der auf der Eichstätter Alp eisern
ist und dem deshalb die trauliche Ofenbank mangelt. Das Ansbacher Land
dagegen hat den alten Kachelofen mit Aselstangen und Ofenbank.
Der altbayerische und oberpfälzische Bauer ist bekanntlich weniger be-
weglich und lebendig als der fränkische, dessen leicht erregbare Gemütsart
seine Neugierde und Redfertigkeit erklärt. Diese Eigenschaft kommt in der
Gestaltung seines Hauses zu unverkennbarem Ausdruck. Die kleinen Fenster
auf dem platten Lande Südbayerns gönnen der Neugierde kaum einen Ein-
blick in die Häuslichkeit. Das fränkische Bauernhaus hat dagegen große
Fensteröffnungen; damit ist die Einsicht erleichtert und die Aussicht eine
unbehinderte. In Südbayern ist das Wirtshaus das bedeutendste und
schmuckste Haus an der Kirche; in Nordbayern dagegen spielt dasselbe eine
bescheidene Rolle.
Das Wohnhaus in den Gauländern am Mittelmain trägt städtisches
Gepräge. Mit der Giebelseite gegen die Straße gerichtet, meist zweistöckig,
ist es von Grund auf gemauert. Die Langseite kehrt sich dem Hofe zu, den
eine Mauer von der Straße abschließt. Wie das Einzelhaus, so ist das ganze
Gaudorf nüchtern.
Steigen wir die Haßberge oder den Steigerwald aufwärts, so treffen
wir eine reiche Zahl von Weilern und Einzelgehöften, nach allen Richtungen
zerstreut. Der tiefere Haßwald birgt viele zierliche, hochgiebelige Riegel-
bauten mit bloßliegendem, braun gebeiztem Fachwerk und breiten Doppel-
fenstern.
Das Rhöner Gebirgshaus ruht auf gemauertem Unterbau von Basalt
oder Buntsandstein. Dieses niedere, tief liegende Erdgeschoß enthält die
Stallung. Darüber erhebt sich von Fachwerk das Wohngelaß, zu dessen
Flur eine steinerne Freitreppe führt. Das mächtig erhöhte Dach ragt an der
Langseite etwas vor. Eine vorspringende Wetterschräge zieht sich über die
Fenster, häufig auch längs der ganzen Vorderseite des Hauses hin. Die
Einrichtung ist einfach und formlos. Besser ist es im Saalegrund und im
Grabfeld. Hier trifft man ab und zu eine Täfelung im Wohngelaß, zier-
liches Geräte und geschnitzte Stühle mit bunter Malerei.
Die Hütten der Dörfer im Hochspessart sind vorwiegend klein und un-
ansehnlich. Die aus Lehm und Luftziegeln erbauten niederen Behausungen
decken schwarzgraue Schindeldächer.
Eine besondere Erwähnung verdient noch der Südostwinkel der Spessarter
Mainbucht, die Hochplatte zwischen dem Fluß und der Haslach. Hier wohnt
ein stilles, ernstes, nüchternes Völklein. Das Bauernhaus zeigt das Gepräge
der Ordnung und Reinlichkeit und ist im Innern wohnlich und sauber, dabei
im vollsten Maß einfach und anspruchslos, das Hausgeräte trotz aller Wohl-
habenheit auf das Notwendigste beschränkt.
Nach SBenj.
352
170. Nürnbergs und Fürths Industrie.
170. Nürnbergs und Aürtsts Industrie.
Wenn einer Deutschland kennen
Und Deutschland lieben soll,
Muß man ihm Nürnberg nennen,
Der edlen Künste voll,
Dich, nimmermehr veraltet,
Du ewig deutsche Stadt,
Wo Dürers Kraft gewaltet,
Hans Sachs gesungen hat.
Schenkendorf.
Nürnberg verdankt sein Emporkommen nicht der Gunst äußerer
Verhältnisse; im Gegenteil, es stellen sich diese, im ganzen genommen,
als wenig förderlich dar. Kein starker Strom bietet dem Handel eine
bequeme Wasserstraße; der Boden birgt weder nützliche Metalle noch
Kohlen; ja er lohnte in seinem ursprünglichen Zustand selbst den An-
bau nur spärlich; denn es war eine unfruchtbare Sandfläche und nur
mit dünner Fruchterde bedeckt. Aber vielleicht lag gerade in dieser
Ungunst der äußeren Verhältnisse für die Bewohner Nürnbergs ein
Sporn zu möglichster Kraftentfaltung. Weil ihnen die Natur nicht mit
freigiebiger Hand Schätze gespendet, suchten sie sich dieselben durch größere
Rührigkeit des Geistes und der Hände zu verschaffen.
Dem Unternehmungsgeist und der Bildung seiner Bürger verdankt
Nürnberg seinen Wohlstand. Besonders günstig auf die Blüte seiner
Gewerbe wirkte der Umstand, daß die Kunst mit dem Handwerk sich
eng verschwisterte. Dies beweisen die vielen Ersindungen, die in Nürn-
berg und von Nürnbergern gemacht wurden, so das Drahtziehen, die
Taschenuhren, die Windbüchse, die Klarinette u. a. m.
Die Industrie der Stadt Fürth stammt aus jüngerer Zeit und
gelangte erst nach dem Dreißigjährigen Kriege zu einiger Bedeutung. Die
größere Freiheit des Gewerbes, die billigere Lebensweise und niedrigere
Besteuerung, Nürnberg gegenüber, sowie die Vorsorge der markgräflich-
ansbachischen, preußischen und bayerischen Regierung hoben die Stadt
rasch empor; sie kann sich jetzt der älteren Schwester ebenbürtig zur
Seite stellen. Beide Städte unterstützen und ergänzen sich gegenseitig
in ihrer Gewerbtätigkeit. Die Masse der Gewerbserzeugnisse, welche in
Fürther Werkstätten für Nürnberger Kaufleute gefertigt wird, kommt viel-
leicht derjenigen gleich, welche Nürnberg auf Fürther Bestellung liefert.
Die Gewerbtätigkeit Nürnbergs und Fürths beschränkt sich aber
nicht bloß auf die beiden Städte, sondern hat sich allmählich auf einen
weiteren Umkreis ausgedehnt und umfaßt nun verschiedene Orte in
größerer oder geringerer Entfernung von diesen beiden Hauptmittelpnnkten
der Industrie und des Handels. Zu diesem Nürnberg-Fürther Industrie-
170. Nürnbergs und Fürths Industrie.
353
bezirk gehören noch Stein, Doos, Burgfarrnbach, Kadolzburg, Lauf,
Schwabach und andere Orte. Die Mannigfaltigkeit der Gewerbserzeug-
nisse dieses Gebiets ist außerordentlich groß; man kann sich von der-
selben einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß ein wohl ausge-
stattetes Manufaktur-Warenlager viele Tausend Nummern zählt. Die
Verfertigung dieser Waren geschieht teils fabrikmäßig teils aber auch in
sehr weit gehender Zergliederung der Arbeit handwerksmäßig in kleineren
Werkstätten. Mit dem Vertriebe befassen sich in der Regel Kaufleute,
auf deren Bestellung verschiedene Werkstätten arbeiten. In dem Packraum
eines solchen Handlungshauses kann man die verschiedensten Artikel
nebeneinander liegen sehen, die in alle Erdteile wandern. Da stehen
Kisten, für Indien oder China bestimmt, neben anderen, welche nach
Neuyork, Mexiko, San Francisco, nach Kairo oder Sansibar gehen.
Mancher Gewerbszweig hat seinen Sitz hauptsächlich in Nürnberg,
ein anderer mehr in Fürth; viele aber sind beiden Städten gemein.
Den ersten Platz behauptet die Metallindustrie, und zwar steht in erster
Reihe die Messingfabrikation und die Verfertigung von Messingwaren.
Das bedeutendste Handwerk war von jeher das der Rot- und Gelb-
gießer. Auch der eigentliche Kunsterzguß findet dort würdige Ver-
tretung. Sehr bedeutend sind Gürtlerei, Drahtzieherei und namentlich
Metallschlägerei. Aus dem Gürtlerhandwerk ist die Stahlbrillenindustrie
hervorgegangen und es werden sowohl die Brillengestelle als Brillen-
gläser im Nürnberg-Fürther Bezirk massenhaft verfertigt. Draht wird
aus Eisen, Stahl, Messing, Kupfer, Gold und Silber gezogen. Ein
besonderer Zweig dieses Geschäfts sind die sogenannten leonischen Drähte,
nämlich versilberte, vergoldete, vernickelte und zementierte Drähte, rund
und geplättet, wie sie im großen außer in Nürnberg nur noch in Lyon
und Wien verfertigt werden. Die Erzeugnisse der Feilenhauer, Ahlen-
schmiede, Flaschner, Zinngießer und Kompaßmacher finden ebenfalls im
Großhandel Absatz; die Zirkel- und Reißzeugverfertigung ist Gegenstand
eines eigenen Handwerks geworden; wegen seiner chirurgischen, mathe-
matischen, optischen und physikalischen Instrumente hatte Nürnberg von
jeher guten Ruf.
Für Bleistiftfabrikation ist Nürnberg der erste Ort der Welt.
Neben der Faberschen Fabrik zu Stein liefern die von Johann Faber
und von Kurz die bedeutendsten Bleistiftfabrikate der Erde. Kaum
weniger umfassend ist die Glasindustrie, namentlich das Schleifen und
Belegen von Glasplatten für Spiegel. Nach Fürth allein gehören 40
Schleifereien an fränkischen und oberpfälzischen Flüssen. Auch die Her-
stellung von Spiegelrahmen in allen Größen und Formen beschäftigt
Lesebuch für Gewerbe Fortbildungsschulen, Erweiterte Ausgabe. » 23
354
170. Nürnbergs und Fürths Industrie.
eine Menge von Händen. Mannigfach sind die in den Handel kommenden
Erzeugnisse der zahlreichen Schreiner-, Drechsler- und Kammacherwerkstätten.
Die Papierindustrie ist auch eine weitverzweigte: Tapeten, Buntpapiere,
Bilderbogen und Bilderbücher, in neuester Zeit die so beliebten Abzieh-
bilder, Papparbeiten, Buchbinder- und Portefeuillewaren, Spielkarten,
allerlei Gegenstände aus Papiermache sinden einen weitverbreiteten Absatz.
Von besonderer Wichtigkeit sind die chemischen Fabriken geworden und
unter diesen stehen die Farbfabriken obenan. Großartig sind auch die in
neuerer Zeit entstandenen Maschinenfabriken. Die bedeutendste, überhaupt
eine der namhaftesten auf dem europäischen Festland ist die von Klett & Komp.,
die sich nun mit der Maschinenfabrik Augsburg vereinigt hat.
Am gewaltigsten aber hat sich in kurzer Zeit ein Industriezweig
emporgeschwungen, von dem man vor etwa dreißig Jahren noch kaum
eine Ahnung hatte: das Gebiet der Elektrotechnik, das in Süddeutsch-
land in dem Nürnberger Schlickert*) seinen Hauptvertreter fand und das
dessen Namen geradezu weltberühmt machte. Die „Elektrizitäts-Aktien-
gesellschaft, vormals Schuckert & Komp.", ist die Schöpfung dieses großen,
unermüdlich vorwärts strebenden Mannes. Tausende von tüchtigen Ar-
beitern sind in der Fabrik beschäftigt. Elektrische Glüh- und Bogen-
lampen, Heiz- und Kochapparate, Telegraphen- und Telephonleitungen,
Motormaschinen und Kraftanlagen, Bahnen und Straßenbahnwagen so-
wie riesige Scheinwerfer, mit denen die Kaiserliche Marine das Meer
zu Aufklärungszwecken zu beleuchten sucht: all das legt beredtes Zeug-
nis ab für die hohe Leistungsfähigkeit der Riesenfabrik. Im Jahre 1903
kam eine Vereinigung der Nürnberger Elektrizitäts-Aktiengesellschaft mit
der Berliner Miengesellschaft Siemens & Halske zustande.
Damit ist die Reichhaltigkeit der Nürnberg-Fürther Gewerbtätigkeit
nur in allgemeinen Umrissen und lange nicht erschöpfend vorgeführt;
es lassen sich noch gar viele namhafte Industriezweige aufzählen, die
jeder anderen Stadt schon den Stempel einer Fabrikstadt aufdrücken
würden, so Baumwollen- und Strnmpfwarenfabriken, Weberwerkstätten,
Spinnereien und Zwirnereien, Zigarren- und Tabaksabriken, Fabriken
für Handschuhe u. s. w. Nürnberger Lebkuchen und Spielwaren sind
auf der ganzen Welt beliebt. Das Aufgezählte mag hinreichen einen
Einblick in das bewegte Treiben dieser beiden Fabrik- und Handelsstädte
zu verschaffen. Wer Nürnberg oder Fürth an einem Werktage besucht,
dem tritt überall ein Hämmern, Rasseln und Summen, überhaupt eine
Beweglichkeit entgegen, welche man mit der eines Bienenstockes vergleichen
') Er starb am 17. Sept. 1895.
171. Würzburg.
355
möchte. Die Straßen aber sind, abgesehen von den dahinrollenden Fracht-
wagen und den geschäftig vorbeieilenden Arbeitern, verhältnismäßig nur
schwach belebt. Ein anderes Bild bieten sie dagegen an Sonntagen.
Da eilt alles aus den rauchigen und staubigen Werkstätten um nach
den arbeitsvollen Wochentagen auch einen Ruhe- und Erholungstag zu
genießen. Und wenn auch der Nürnberger und Fürther sechs Tage
ernst und rührig seiner Arbeit obgelegen, am siebenten Tage verleugnet
er seine heitere Frankennatur nicht; da gibt er sich gern in ungezwungener
Heiterkeit den Freuden des geselligen Lebens hin. Bei ihm trifft das
Dichterwort zu: „Saure Wochen — frohe Feste." Nach Berg.
171. TVürzburg.
Unter den vielen schönen Städten Bayerns am Main ist die
alte Bischofsstadt Würzburg, die Hauptstadt des Kreises Unter-
franken, die bedeutendste. Sie liegt in einem landschaftlich
reizenden Talkessel zu beiden Seiten des Mains. Der Hauptteil
der Stadt auf dem rechten Ufer ist mit dem kleineren »Mainviertel«
durch drei schöne Brücken verbunden. An einer der wichtigsten
Verkehrsstraßen des nördlichen Bayern gelegen, ist Würzburg
der Knotenpunkt der bayerischen Staatsbahnen nach Ansbach,
Bamberg, Nürnberg und Aschaffenburg und der badischen Bahn
Heidelberg—Würzburg; auch auf dem Main herrscht lebhafter
Verkehr. Von welcher Seite wir uns auch der Stadt nähern, immer
winkt uns die altersgraue ehemalige Bergfeste Marienberg und
die durch ein Tal von ihr getrennte, freundlich gelegene Wall-
fahrtskirche auf dem Nikolausberge, das Käppele, den ersten
Gruß zu. Dann taucht eine Turmspitze nach der anderen auf;
von dem Turme der Neubaukirche neben dem Universitäts-
gebäude schweift das Auge hinüber zu den vier Spitzen der reich
verzierten Domkirche, in deren Nähe die Neumünsterkirche mit
den Gebeinen des heiligen Kilian sich erhebt. Während wir in
der gotischen Marienkapelle eines der schönsten Denkmäler alt-
deutscher Kunst mit Bildsäulen von Riemenschneider bewundern,
erinnert uns die Kirche von Stift Haug mit majestätischer Kuppel
an die St. Peterskirche in Rom.
Unter den öffentlichen Gebäuden zeichnet sich das herrliche
Schloß mit dem großartigsten Treppenhaus in ganz Deutschland
aus. Ein hervorragender Bau ist auch das 1576 gestiftete große,
reiche und trefflich eingerichtete Juliushospital. Es wurde von
dem edlen Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn, dessen
Name im ganzen Frankenlande mit Ehrfurcht und Dank genannt
23*
356
171. Würzburg.
wird, für Arme, Elende und Kranke aller Art gestiftet. Auch
die Hochschule verdankt ihre Wiederherstellung diesem Fürsten,
dem König Ludwig I. durch ein schönes Denkmal auf der Julius-
promenade den Zoll der Dankbarkeit entrichtete. In einer Nische
an der äußeren Seite der Neumünsterkirche befindet sich das
Denkmal Walters von der Vogel weide, des größten und gefeiertsten
unter den mittelhochdeutschen Liederdichtern, der hier im Jahre
1230 sein ruhmvolles Leben beschloß. In der Nähe des Walter-
Denkmals ist an der nördlichen Seite des Domes der Grabstein
des berühmten Bildhauers Tilmann Riemenschneider eingefügt.
Von den Drangsalen im Bauern- und Schwedenkrieg sowie
in den französischen Kriegen hat sich die Stadt vollständig wieder
erholt. Seitdem Würzburg im Jahre 1866 seine Eigenschaft als
Festung verloren hat, dehnt es sich immer weiter aus. An der
Stelle der ehemaligen Festungswälle erheben sich zum Teil die
herrlichen Gebäude der Ringstraße, während eine schöne Park-
anlage den rechts des Mains gelegenen Stadtteil in einem großen,
ununterbrochenen Bogen umgibt. Seit dieser Zeit ist Würzburg
auch ein Mittelpunkt des Verkehrs von Süd Westdeutschland ge-
worden. Die Industrie ist in stetem Fortschreiten begriffen. Wichtig
sind besonders die Fabriken für Schaumwein, Bier, Tabak, Kunst-
wolle und Eisenbahnwagen. In der Nähe von Würzburg ist die
bekannte Schnellpressenfabrik von König und Bauer, die ursprüng-
lich in dem Kloster Oberzell sich befand. Diesem Orte fast
gegenüber liegt das Schloß Veitshöchheim mit einem großartigen
Park im Versailler Stil.
Sehr bedeutend ist der Handel, besonders mit Wein. Der
berühmte Leistenwein wächst an dem Abhang des Marienberges,
während auf den nördlich von der Stadt gelegenen Anhöhen
hart am Main der treffliche Steinwein gedeiht. Der Bau der
sogenannten Frankenweine beginnt oberhalb Zeil, zieht sich
längs des Maintinsses nach Schweinfurt, Volkach, Dettelbach,
Kitzingen, Ochsenfurt, Würzburg bis Aschaffenburg in einer
Länge von fast 400 km hin und tritt an dem Ausgang des
Spessart in Hörstein und Wasserlos zurück. Auch an den
Nebenflüssen des Mains, der Tauber, Wern und Saale, wird der
Weinbau in günstigen Berglagen betrieben. Der fränkische Wein-
bau umfaßt etwa 11500 ha, wovon auf Unterfranken allein 10760
entfallen. Außer Würzburg, dem Hauptstapelplatz des Franken-
weins, sind bedeutende Plätze für den Weinhandel noch Schwein-
furt, Kitzingen, Marktbreit, Marktsteft und Aschaffenburg.
172. Die Oberrheinische Tiefebene. Die Rheinpfalz. 357
172. Pie Oberrheinische Uiefeöene. Pie Mheinpfakz.
1. Vom Rheinknie bei Basel bis zur Einmündung des Mains in den
Rhein zieht sich zu beiden Seiten des Flusses die tiefe Talsenke der Ober-
rheinischen Tiefebene hin. Diese fruchtbare Ebene ist im Osten und Westen
von Gebirgsketten umsäumt, die den Strom auf seinem nördlichen Laufe
begleiten und mit zahlreichen Burgruinen und mächtigen Hochwaldungen
bedeckt sind. Hier ist der Schwarzwald mit dem Neckarberglande und dem
Odenwalde, zwischen welchen der Neckar sich zum Rhein ergießt; dort ist
die Gruppe des Wasgenwaldes mit dem Haardtgebirge. Beide Gebirgszüge
steigen im Süden wirkungsvoll empor, sinken gegen die Mitte und erreichen
im Norden wiederum eine bedeutendere Höhe. Beide Gebirge senken sich
nach der außerrheinischen Seite allmählich, fallen aber steil zur Rheinebene
ab. Dementsprechend gestalten sich auch die Täler. Der sanftere Abfall
zeigt minder tiefe Einsenkungen, während beide Gebirge nach der Rhein-
ebene zahlreiche kurze, tief eingeschnittene Täler senden. Diese sind besonders
in militärischer Beziehung sehr wichtig, so der Höllenpaß im Dreisamtal,
das Kinzigtal bei Ofsenburg durch die Schwarzwaldbahn, die großartigste
aller Gebirgsbahnen des Deutschen Reiches, und der Kniebispaß im Murg-
tal; der Paß von Zabern, durch welchen der Rhein-Marnekanal führt,
vermittelt den Verkehr zwischen der Oberrheinischen Tiefebene und dem
Pariser Becken.
Von Basel bis Straßburg ist das Gefälle noch sehr stark; trotzdem ver-
kehren auch hier schon in neuerer Zeit Schiffe. Die großartige Rheinschiffahrt
beginnt aber erst bei Mannheim. Mannheim, an der Mündung des Neckars,
ist der erste Handelsort Deutschlands am Oberrhein und der wichtigste
Rheinhafen Süddeutschlands; das gegenüberliegende Ludwigshafen strebt
ihm jedoch in neuester Zeit bedeutend nach. Das uralte Mainz bildete
von jeher den Schlüssel zu Deutschland und die mittlere große Furt am
Rheinstrom. Sind Speyer und Worms die Wiegen des deutschen Bürger-
tums, so ist Mülhausen in dem wieder gewonnenen Elsaß, der Mittelpunkt
einer großartigen. Baumwollenindustrie, eine wohleingerichtete Arbeiterstadt.
2. Auch ein Teil unseres lieben Heimatlandes Bayern, die Rheinpfalz,
liegt in der Oberrheinischen Tiefebene und in dem sie im Westen begrenzenden
Hochlande. Das Tiefland, die Vorderpfalz, erhebt sich kaum 100 m über
dem Meeresspiegel und zieht sich als eine durchschnittlich 15 km breite,
tafelförmige Ebene zwischen der Haardt im Westen und dem Rhein im Osten
hin. Die Ufer des Stromes selbst sind ohne besondere landschaftliche Reize
und niedrig. Das Land kann gegen den stürmischen Alpenstuß nicht einmal
durch Dämme vollständig geschützt werden und wird zuweilen von Über-
schwemmungen heimgesucht (31. Dez. 1882). Daher halten sich die Nieder-
lassungen mehr in einiger Entfernung vom Rhein und nur drei pfälzische
Städte liegen am Flusse selbst: die Festung Germersheim, die Kreishaupt-
stadt Speyer mit ihrem ehrwürdigen Dom und das rasch aufblühende
358 172. Die Oberrheinische Tiefebene. Die Nheinpfalz.
Ludwigshafen. Letzterer Ort war vor sechzig Jahren noch eine kleine Rhein-
schanze, hat sich jetzt aber zur größten Stadt des Kreises emporgeschwungen.
Seine Anilin-, Alaun- und Sodafabriken wie seine chemische Industrie über-
haupt zählen zu den bedeutendsten Deutschlands, wie es auch im Maschinen-
bau eine wichtige Stelle einnimmt. Das benachbarte Frankenthal besitzt eine
der größten Zuckerraffinerien Deutschlands sowie bedeutende Kesselschmieden;
hier wurde auch die große Kaiserglocke des Kölner Domes gegossen.
Die Ebene der Vorderpfalz selbst ist zwar landschaftlich sehr einförmig,
zeigt aber bei großer Fruchtbarkeit die sorgfältigste Bodenbewirtschaftung.
Neben reichem Ertrag an Getreide liefert sie Gemüse, Obst, Tabak, Hanf
und Hopfen. Wo sich die Ebene sanft ansteigend zu den Vorhügeln der
Haardt erhebt, wächst köstlicher Wein. Die Weine von Neustadt, Dürkheim
Deidesheim u. s. w. genießen Weltruf. Die Pfalz ist das weinreichste Gebiet
von Deutschland, wie auch die Rebenkultur und die Weinbereitung hier auf
sehr hoher Stufe stehen. Es sind gegen 14000 ha mit Weinbergen bestanden,
deren Ertrag in guten Jahren auf weit über 2 Millionen Hektoliter in einem
Werte von mindestens 20 Millionen Mark berechnet wird. Unmittelbar am
Westende der Rheinebene zieht in einer mittleren Höhe von 500 m das
Haardtgebirge hin, eine an Höhe abnehmende Fortsetzung des Wasgeuwaldes,
von dem sie durch die Lauter getrennt ist. An den Ostabhäugen gedeiht
neben den herrlichsten Pfälzer Weinen auch die Edelkastanie. Hier wohnt
wie in der Ebene eine zahlreiche, lebensfrohe Bevölkerung in einer Menge
von schönen Dörfern und Städten, welche, von Burg- und Klosterruinen
überragt, freundlich in die Ebene blicken.
Nach Westen zu verbreitert sich das Gebirge, indem es allmählich au
Höhe abnimmt; es geht langsam in den Westrich über, welcher im all-
gemeinen einförmig und weniger fruchtbar ist. Einen tvichtigen Erwerbs-
zweig bildet im Westen die Gewinnung der Steinkohle des Saarbeckens.
Sie wird besonders bei St. Ingbert und Bexbach zutage gefördert und
bringt verschiedene andere Industrien mit sich, so in St. Ingbert lebhafte
Eisenindustrie. Pirmasens versendet seine Schuhwaren in alle Welt. Bei
Zweibrücken sind die ausgedehnten Wiesenstächen die Vorbedingung für eine
treffliche Pferdezucht.
Nordwestlich der Haardt findet sich eine bedeutende Einsenkung, die
Senke von Kaiserslautern. Die mit Recht gerühmte Schönheit des Pfälzer
Landes und die Milde seines Klimas sind hier nicht zu finden; es ist viel-
mehr eine wenig fruchtbare, mit Wald bedeckte, oft aber von Torfmooren
unterbrochene Hochfläche. Desto größere Bedeutung hat diese Einsenkung für
den Verkehr; durch sie führt die wichtigste Eisenbahnlinie der Pfalz. Hier
liegt auch an einem Knotenpunkte von Straßen die gewerbtätigste und zweit-
größte Stadt der Pfalz, Kaiserslautern. Außer einer großartigen Kammgarn-
spinnerei bestehen hier mehrere Nähmaschinenfabriken, Eisengießereien, Fabriken
für Kattun, Ultramarin sowie mehrere mechanische Werkstätten, Kesselfabriken,
173. Deutschland.
359
Baumwollspinnereien, Möbel-, Zigarren-, Seifen-, Bilderrahmenfabriken und
zahlreiche größere Brauereien, die ihre Erzeugnisse weithin versenden. Kaisers-
lautern hat auch einen sehr bedeutenden Fruchtmarkt und treibt wichtigen
Holzhandel.
Im Nordosten dieser Einsenkung erhebt sich der Gebirgsstock des
Donnersberges, dessen höchster Punkt der Königstuhl ist. Nach Westen
hin verflacht sich das Gebirge zu einem welligen Hügellande, in welchem
Waldwirtschaft, Getreidebau und Viehzucht betrieben wird; das Donners-
berger und Gloner Vieh ist berühmt. Die Erze des Gebirges werden
in großen Eisen- und Kupferwerken bei Winnweiler und Kirchheimbolanden
verarbeitet.
So ist das Pfälzer Land, dem wir unsere Regenten in Bayern ver-
danken, im allgemeinen ein schönes und fruchtbares Land. „Bayern und
Pfalz, Gott erhalt's!"
173. Jeutschkand.
„Deutschland, Deutschland über alles!
Deutschland, das wir mit Stolz unser Vaterland nennen, ist eines der
größten und mächtigsten Reiche in Europa. „Vom Fels zum Meer", von
den Alpen bis zu den Gestaden der Nord- und Ostsee sich hindehnend, wird
es in seinem Gebietsumfang nur von Rußland und Österreich-Ungarn und
in seiner Bevölkerungszahl nur von Rußland übertroffen. Dazu hat eine
gütige Natur ihm alle Gaben beschert, wodurch ein Volk stark und groß zu
werden vermag. Zwar die Fülle und der Reichtum südlicher Gefilde ist
ihm versagt; der Boden spendet seine Früchte erst nach harter Arbeit und
auch aus der Tiefe der Erde müssen die nutzbaren Mineralien mühsam her-
vorgeholt werden. Nichts bietet die Natur als ein Geschenk dar, alles wird
erst durch ernste Anstrengung der körperlichen wie der geistigen Kräfte erworben.
Aber gerade diese Eigenart der Naturverhältnisse des Deutschen Reiches ist
ihm zum Heile geworden und seinen Bewohnern sind hieraus die Segnungen
der Arbeit erwachsen: körperliche Tüchtigkeit, Wohlstand und
Geisteskultur.
Schon die geographische Lage Deutschlands im Herzen Europas
ist von hoher Wichtigkeit. In seiner Umgebung breiten sich die mächtigsten
Staaten des Erdteils aus und wohnen die tätigsten und reichsten Völker.
Mit ihnen unterhält es äußerst regen Verkehr und deren Verbindungswege
untereinander führen vielfach durch deutsches Land. Nichts aber ist für die
Entwicklung und Förderung der Handelsbeziehungen Deutschlands belang-
reicher als dessen Lage am Meer. Ist doch das Meer die Quelle der Völker-
größe und unentbehrlich für die Erhaltung und Mehrung des deutschen
Handels, wie ja daraus erhellt, daß auf der Berührung Deutschlands mit
der Salzflut in hervorragendem Maße dessen wirtschaftlicher Aufschwung
in den letzten Jahrzehnten beruht. Das Meer, die älteste und beste aller
360
173. Deutschland.
Verkehrsstraßen, verknüpft unser Vaterland einerseits mit den Gegengestaden
der Ostsee, während die Nordsee auf den Atlantischen Ozean und die trans-
atlantischen Länder hinweist. Nicht weniger als 7/io seines gesamten Außen-
handels gehen bereits über See. Deutschland ist eben kontinental und
ozeanisch zugleich, letzteres besonders im Norden und Westen. Von den
Einflüssen des Meeres wird besonders auch das Klima im nordwestlichen
Teile des Reiches beherrscht und die deutschen Ströme, deren Zahl und
Größe nur von den russischen übertroffen wird, namentlich Rhein, Elbe und
mehr und mehr auch die Oder, tragen ozeanisches Wesen tief ins Innere
des Landes hinein. Schon zur Zeit der Hansa nahmen denn auch die
Deutschen eine gebietende Stellung auf den nordischen Gewässern ein;
deutsche Kaufleute legten Quartiere in London, Bergen, Wisby (Gotland)
und Nowgorod (am Jlmensee in Rußland) an und die Flotten Lübecks und
Hamburgs machten die Königsthrone von Schweden und Norwegen erzittern.
Hauptsächlich der Dreißigjährige Krieg, der Deutschlands Wohlstand auf
Jahrhunderte vernichtete und dessen Flußmündungen den Feinden auslieferte,
gab der Hansa und vor allem dem Ostseehandel den Todesstoß und England
riß das Erbe der Hansa an sich. Erst mit dem wirtschaftlichen Zusammen-
schlüsse der deutschen Volksstämme, namentlich aber seit der Wiederaufrichtung
des Deutschen Kaisertums im Jahre 1871 gewann Deutschland mit erstaun-
licher Raschheit wiederum Seegeltung und heute ist ihm nur mehr die englische
Handelsflotte, freilich noch um mehr als das Fünffache, überlegen.
Die Vorteile der geographischen Lage werden noch vermehrt durch die
Oberflächengestaltung des deutschen Bodens. Nahezu die Hälfte vom
Boden des Deutschen Reiches entfällt auf das Tiefland (250500 qkm); aber
auch das Bergland, welches die andere Hälfte einnimmt (278 700 qkm),
stellt dem Verkehr nirgends wesentliche Hindernisse entgegen; insbesondere
ist es durch breite und tiefe Talungen und Paßeinsenkungen allenthalben
aufgeschlossen und von Eisenbahnen durchschnitten. Ja selbst die Alpen, die
uns von den sonnigen Gestaden des Mittelmeers trennen, sind durchbohrt
oder überschient worden und so ist uns auch dieses Meer jetzt wesentlich
nähergerückt.
Dank der glücklichen Verteilung seiner Erhebungen erfreut sich unser
Vaterland auch in allen seinen Teilen einer reichlichen Bewässerung;
senden doch die Gebirge nach allen Richtungen das lebenspendende und leben-
erzeugende Element. Die Ströme des Tieflandes ermöglichen wiederum eine
lebhafte Binnenschiffahrt und überdies hilft ein immer mehr sich aus-
dehnendes Kanalnetz den riesenhaft angewachsenen Eisenbahnverkehr entlasten
und die Frachtkosten vernündern. Und durch welche Fülle landschaftlicher
Schönheit entzücken Deutschlands Fluß- und Gebirgsszenerien! Welches
Land hat ein Strombild wie das des Rheins aufzuweisen, einen Natur-
park wie den Thüringer Wald, Waldpartien wie im Schwarzwald, Spessart
und Harz!
173. Deutschland.
361
Da endlich Deutschland infolge seiner Lage in der gemäßigten Zone fast
überall, besonders in den tiefer gelegenen Gebieten, auch ein günstiges Klima
beschieden ist, so erklärt es sich, daß unser Vaterland zu den produktenreichsten
Ländern Europas gehört.
Deutschland, im Herzen Europas gelegen, begünstigt durch hohe Vor-
züge der Natur und bewohnt von einem Volke, das durch ernste und
andauernde Arbeit groß geworden, darf aber auch den Anspruch erheben
nicht bloß der geographische sondern auch der geschichtliche Mittel-
punkt des Erdteils zu sein. Mit dem Eintritt der Gerinanen in die
Weltgeschichte beginnt eine neue Epoche. Deutsche Völkerstämme hindern die
Römer sich im Herzen Europas festzusetzen und stiirzen endlich das morsch
gewordene Weltreich, um auf seinen Trümmern neue, lebenskräftige christ-
liche Staaten zu gründen. Das mit der ganzen Tiefe und Innigkeit des
deutschen Gemüts aufgenommene Christentum tragen deutsche Glaubensboten
zu den skandinavischen Völkern, den Slaven und Magyaren und damit
zugleich höhere Bildung und Gesittung. Vor den Anstürmen barbarischer
Völker des Ostens (der Ungarn, Mongolen und Türken) retten deutsche
Heere die christliche Kultur des Abendlandes. Kaiser und Papst sind im
Mittelalter die „Herrscher der Welt" und das deutsche Volk war bis znm
Beginn des 17. Jahrhunderts das reichste, mächtigste und gebildetste Volk
Europas. Der schreckliche 30jährige Krieg aber stürzte Deutschland von der
Höhe, die es erklommen, und sein Fall wurde das Zeichen zum Ansturm
der umliegenden Feinde und die Ursache ununterbrochener Kämpfe und unsäg-
lichen Elends in unserem Vaterlande und in ganz Europa. Deutschland
ward zum ständigen Tummelplatz fremder Kriegshorden, Grenzmark um
Grenzmark ging verloren.
Erst unter dem Drucke Napoleonischer Fremdherrschaft begannen die zer-
splitterten deutschen Volkskräfte sich wieder zu sammeln. Aber an 70 Jahre
und dreier blutiger Einigungskriege bedurfte es um des Reiches Einheit und
Macht wiederherzustellen. Kein Volk hat seine Einigung jemals mit solchen
Opfern erkauft.
Seitdem ist Deutschland, stark durch seine militärische Macht, ein Hort
des Friedens in Europa geblieben und alle Segnungen des Friedens sind
ihm in reichem Maße zuteil geworden. Handel und Industrie haben einen
ungeahnten Aufschwung genommen; nicht bloß das Großkapital ist gewachsen,
auch die Lebenshaltung der minder bemittelten Kreise hat sich gehoben, die
Auswanderung ist auf ein geringes Maß zurückgegangen und auf nahezu
eine Million beläuft sich die jährliche Zunahme der Bevölkerung im Reiche.
In keinem Großstaat Europas ist die allgemeine Volksbildung so weit
verbreitet, nirgends der Gedanke der nationalen Wehrpflicht tiefer in den
Geist des Volkes eingedrungen, die soziale Gesetzgebung zur Ausgleichung
der wirtschaftlichen Gegensätze weiter fortgeschritten als in unserem Vater-
lande. Auch seine höchsten Güter hat das deutsche Volk zu wahren gewußt:
362 474. Des Knaben Berglied. — 175. Die Flüsse, die Lebensadern rc.
Glaube und Religion, Ehrfurcht vor Gott und den Gesetzen, Tugend und
Recht. Und solange diese Säulen jeden Volkstums, gepaart mit hin-
gebender Liebe und Begeisterung für das große, geeinte Vaterland, nicht
wanken^ darf auch in Zukunft Deutschlands Wohlfahrt als geborgen gelten.
Geistbeck.
174. I>es Knaben Wergtied.
1. Ich bin vom Berg der Hirtenknab',
Seh' auf die Schlösser all herab;
Die Sonne strahlt am ersten hier,
Am längsten weilet sie bei mir;
Ich bin der Knab' vom Berge!
2. Hier ist des Stromes Mutterhaus,
Ich trink' ihn frisch vom Stein heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Ich fang' ihn mit den Armen auf;
Ich bin der Knab' vom Berge!
3. Der Berg, der ist mein Eigentum,
Da zieh'n die Stürme rings herum;
Und heulen sie von Nord und Süd,
So überschallt sie doch mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge!
4. Sind Blitz und Donner unter mir,
So steh' ich hoch im Blauen hier;
Ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh'!
Ich bin der Knab' vom Berge!
5. Und wann die Sturmglock' einst erschallt,
Manch Feuer auf den Bergen wallt,
Dann steig' ich nieder, tret' ins Glied
Und schwing' mein Schwert und sing' mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge! uhland.
175. vie Flüsse, die Lebensadern des Natur- und Völkerlebens.
Die Flüsse und Flußtäler werden überall die Sammler alles
Lebendigen. In dem häufig genetzten Schlamme der Flußtäler
entwickeln sich die Pflanzenkeime; hier schießen die Bäume in
dichten Waldungen auf; hier sind die Ausdünstungen des Flusses,
die Nebel und die Tauniederschläge am stärksten und die Gräser,
Kräuter und Wiesen werden davon getränkt. Auch sind die Flüsse
überall die Hauptverbreiter des Gesämes der Pflanzen, das sie
fortführen und an ihren Ufern zerstreuen; und dieser Umstand
wirkt mit dazu, daß die Flußniederungen die Sammler der
buntesten und reichsten Flora werden.
Die Tiere der Wildnis sind in ihrem Lebenshaushalt in
demselben Grade wie die Pflanzen an die Quellen, Bäche und
Flüsse gefesselt. Viele von ihnen sind bei ihrer Nahrungsweise
geradezu an die Wesen, welche im Wasser leben, gebunden und
diese müssen dann notwendig ihre Wohnung hart am Ufer
bauen. Keines aber ist, das des Wassers entbehren könnte.
Finden sich daher auch nicht alle ihre Höhlen in der Nähe, so
haben sie doch ihre Sammelplätze an den Ufern und stellen ihre
Wanderungen längs derselben an.
176. Die deutschen Ströme.
363
Vas Leben des Menschen, des Herrn der Schöpfung, der sich
alles dienstbar macht und dem die Tiere in und außer dem
Wasser, die Pflanzen an den Ufern und das Wasser selber gleich
nützlich und unentbehrlich sind, ist daher noch viel inniger und
noch weit mannigfaltiger mit den Fäden der Flüsse verwebt. Der
Mensch siedelt sich an den Flüssen und Quellen an, weil ihm
das Wasser zu seiner Nahrung als Getränk, zur Sättigung seines
Viehes, zur Benetzung seiner Gärten und Acker ganz unentbehr-
lich ist. Als Fischer baut er seine Hütte an die Ufer der Flüsse
hin, wo er der reichsten Beute gewiß ist. Auch die Hirten
kommen ihr Vieh zu tränken und zu baden zu den Flüssen
und finden hier die fetteste Weide. In manchen Gegenden der
Erde können sie sogar nur längs der Flüsse auf Weide hoffen.
Der Ackerbauer findet hier die fruchtbarsten Landstriche, die
mit schöner Fruchterde überzogenen Niederungen. Für seine
Fabriken und Maschinen benutzt der Mensch das fließende Wasser
als treibende Kraft, wo die Anstrengung seines eigenen Armes
nicht mehr ausreicht. Auf dem glatten Wasser schafft er größere
Lasten fort als auf dem festen Boden und so zeigen sich die
Flüsse als die natürlichsten, großartigsten und schätzbarsten
Vermittler und Bahnen für Handel und Verkehr und die Fluß-
ufer als die Hauptsitze der vornehmsten Markt- und Handels-
plätze der Welt. Kohl.
176. pte deutschen Ströme.
Laßt uns die deutschen Ströme singen
Im deutschen, festlichen Verein
Und zwischendurch die Gläser klingen,
Denn sie beschenken uns mit Wein;
Auf ihre Töne laßt uns lauschen,
Die alle jetzt herüberweh'n,
Und bald der Wellen lautes Rauschen
Bald ihren leisern Gruß verstehn!
Zuerst gedenkt des alten Rheines,
Der flutend durch die Ufer schwillt.
Und seines goldnen Labeweines,
Der aus der Traube lustig quillt!
Denkt seiner schön bekränzten Höhen
Und seiner Burgen im Gesang,
Die stolz auf jene Fluren sehen,
Die jüngst das deutsche Volk bezwang!
Tief in des Fichtelberges Klüften,
Mit grauem Nebel angetan,
Umweht von nördlich kalten Lüften,
Beginnt der Main die Heldenbahn.
Er kämpft im mutigen Gefechte
Sich hin bis zu dem Vater Rhein
Und dräügt, bekränzt mit Weingeflechte,
In seine Ufer sich hinein.
Im Land der Schwaben auferzogen,
Eilt rasch und leicht der Neckar hin;
Wenn auch nicht mit gewölbten Bogen
Gewalt'ge Brücken drüber zieh'n,
Doch spiegeln, gleich den schönstenKränzen,
Sich Dörfer in der klaren Flut
Und dunkelblau mit sanftem Glänzen
Der Himmel, der darüber ruht.
364
177. Der Schwarzwald.
Gestiegen aus verborgnen Quellen
Im grünen, luftigen Gewand,
Um welches tausend Falten schwellen,
Strömt weit die D onau durch das Land.
Die Städte, die sich drin erblicken,
Erzählen von vergangner Zeit
Und fragen dann mit stillem Nicken:
„Wann wird die alte Pracht erneut?"
Durch alle Gau'n der freien Sachsen
Ergeht sich stolz das Riesenkind;
Es sieht wie sonst die Eichen wachsen,
Doch sucht es seinen Wittekind;
Und denkt es der gesunknen Helden,
Dann zögert es im raschen Laus
Und wünscht, was alte Sagen melden,
Herauf, aus seiner Flut herauf.
O preist die hochbeglückten Lande,
Wo Zwingherrnblut die Erde trank
Und nach gelöstem Sklavenbaude
Das Römerjoch zu Boden sank!
Vernimm, o Weser, unsre Grüße,
Sie sollen jubelnd zu dir zieh'n!
Voll Ernst und stiller Würde fließe,
Du Freiheitsstrom, zum Weltmeer hin!
Es sei der Oder jetzt gesungen
Der letzte schallende Gesang;
Einst hat ja laut um sie gerungen
Das deutsche Volk im Waffenklang.
Als es sich still und stark erhoben
In seiner starken Riesenmacht,
Da half der Helfer ihm von oben!
Geschlagen ward die Völkerschlacht.
So rauscht, ihr Ströme, denn zusammen
In ein gewaltig Heldenlied!
Zum Himmel schlagt, ihr hellen Flammen,
Die ihr im tiefsten Herzen glüht!
Eins wollen wir uns treu bewahren,
Doch eins erwerben auch zugleich:
Du, Herr, beschütz' es vor Gefahreu
Und zu uns komm dein freies Reich!
Schenkendorf.
. 177. Aer Schwarzwald.
Es ist ein herrliches Stück Land, unser Schwarzwald! Bis nahe an 1500 m
steigen gewaltige, schön geschwungene Berge empor, von denen immer einer
den andern überragt. Kuppen und Hochtalsohlen sind hier von saftigen Alpen-
wiesen überdeckt, dort vom köstlichsten Walde. Häufig zeigen sich Felsgebilde
von starrer Wildheit, ja stundenlang sich fortziehende enge Felsenschluchten. Durch
diese Schluchten, diese Täler eilen hell blinkende, immer rauschende Bäche und
Flüßchen, welche manchen schönen Wassersall bilden. Üppige Feldfluren ziehen
sich die niederen Höhen hinauf. Obst- und Weingelände umgeben zahllose Sied-
lungen in den wärmeren, westlichen und südlichen Teilen. Aber Städtchen und
Dörfer sind auch hoch hinaus über das ganze Gebirgsland zerstreut. Die Sied-
lungen strecken sich bald lang hin in den Tälern bald weit und breit in mehr ver-
einzelten Höfen über die breiten, welligen Höhen fort. Alle diese Wohnstätten
der Menschen machen den wohltuendsten Eindruck durch ihre Gediegenheit, Sauber-
keit und viele durch ihre ins Auge springende Wohlhabenheit. Dazu begegnet
der Wanderer überall altersgrauen Mauern, für Geschichte oder Sage bedeu-
tungsvollen Burg- und Schloßtrümmern.
Der Name des Gebirges deutet darauf hin, daß sich ein ausgedehnter Be-
stand von Nadelholz hier finden muß, und derselbe ist in seiner Größe und Voll-
kommenheit in der Tat eine Pracht an sich selbst. Aber auch herrliche Laubwälder
bedecken Teile des Gebirges. Aufwärts steigend findet man vor allem Buchen,
Ahorn und Eichen; erst darüber tritt der eigentliche „Schwarzwald" herrschend
177. Der Schwarz Wald.
365
auf, die Kiefer, Fichte und Tanne, aus den Hochebenen der Kuppen auch das
Knieholz der Legföhre und ganz oben grüßen uns die Alpenwiesen. Übrigens
steigt an vielen Stellen bei dem fruchtbaren Boden der ertragreiche Feldbau
bis 1000 m hoch. An den Hängen des Gebirges im Westen und Süden reift,
abwechselnd mit Obst, köstlicher Wein.
Der Schwarzwald erstreckt sich über einen Flächenraum von fast 7000 qkm.
Er bildet breite Rücken mit zahlreichen Kuppen und besteht hauptsächlich aus
Granit, Gneis und Porphyr. Die höchsten Gipfel zeigt der südliche Teil. Hier
finden wir den Feldberg, bis 1495 m aufragend. Von demselben aus hat man
eine herrliche Rundsicht nach der Schneekette der Ällpen, dem langen, blauen
Zuge des Wasgaus, den Kuppen des Schwarzwaldes und den vulkanischen Fels-
kegeln des Hegaus. Fast ebenso hoch ist der Belchen. Unter den kleinen, male-
rischen Bergseen ist der Mummelsee der berühmteste und sagenreichste.
Diese Seen sowie feuchte Bodenstrecken sind ein wahrer Segen für das Land;
denn ihnen entströmen Bäche und Flüsse, deren tiefeingeschnittene Täler an
Naturschönheiten sehr reich sind und deshalb von Fremden viel besucht werden.
Daher hat sich auch hier die Fremdenindustrie stark ausgebildet und sich höher
entfaltet als in andern süddeutschen Mittelgebirgen. Eines der verkehrsreichsten
Täler ist das Murgtal, das sich nach Rastatt zu öffnet und in dessen Nähe am
Oosbache der weltberühmte, schon den Römern bekannte Kurort Baden-Baden
sich ausbreitet. Andere besuchte Täler sind das der Kinzig, Dreisam und Enz,
in welch letzterem der glänzende Badeort Wildbad gelegen ist.
Wesentlich gehoben wurde der Fremdenverkehr durch die gute Entwicklung
der Wege und Schienenstraßen. Die badische Hauptbahn, welche von Heidel-
berg über Karlsruhe und Freiburg nach Basel und Konstanz am Bodensee führt,
begleitet den West- und Südrand des Schwarzwaldes seiner ganzen Länge nach.
Drei kostspielige Bahnlinien (von Freiburg und Ofsenburg nach Donaueschingen
und von Ofsenburg nach Freudenstadt in Württemberg) überschreiten das Ge-
birge und stellen die Verbindung mit dem Württembergischen Bahnnetz her,
welches von Osten die Zufahrt vermittelt.
Neben der Fremdenindustrie sind aber im Schwarzwalde noch viele andre
Industrien und Erwerbszweige heimisch und haben durch die Emsigkeit und das
Verständnis der Bewohner eine hohe Stufe der Vollkommenheit erreicht. Die
rauschenden Gewässer und herrlichen Waldbestände des Gebirges sind die Schätze,
welche der Schwarzwälder trefflich zu heben weiß. Die gefällreichen Flüsse des
Gebirges werden in steigendem Maße auch dem Großgewerbe dienstbar gemacht,
so daß sich im Süden die Spinnerei und Weberei mächtig entwickelt hat. Die
sorgfältig betriebene Waldwirtschaft wirst für Handel und Gewerbe große Er-
trägnisse ab. Die schönsten Tannen werden als Hollündertannen die Bergwasser
hinab in den Rhein und nach den Niederlanden geflößt und manche Schwarz-
wäldertanne hat als Schiffsmast „die Meere befahren und fremde Länder ge-
schaut". Weiter dient das Holz der eigenartigen Uhreniudustrie, welche im schwä-
bischen und badischen Schwarzwald ein weit verbreitetes Gewerbe bildet. Eines
366
177. Der Schwarzwald.
Weltrufes erfreuen sich hierin Furtwangen, Neustadt, Triberg und Lenzkirch,
ferner Schramberg und Schwenningen, die aber sämtlich noch durch verschiedene
andre industrielle Betriebe bedeutsam geworden sind.
Von der einfachsten Wanduhr, welche fast ganz aus Holz gefertigt ist und
in Deutschland noch für 3 Mark gekauft wird, bis zu den künstlichen Spieluhren
mit Kuckuck und Orgelwerk, welche in Indien und China, auch in Moskau und
Spanien mit 300—3000 Mark bezahlt werden, gehen Kisten auf Kisten voll aus
den stillen Bergdörfern in alle Lande. Millionen von Uhren und Uhrwerken
wandem alljährlich in die ganze Welt hinaus. Reges Leben herrscht allenthalben.
Still sind nur die sinnigen, künstlerischen Meister und ihre Arbeiter; sonst hämmert,
pocht, hackt, bohrt, klappert und sägt es lustig Tag und Nacht die Täler entlang.
Hier werden Zifferblätter in allen Größen geschnitzt, lackiert und bemalt, dort
nur Zeiger gegossen und gefeilt, hier die Gewichte, dort die Ketten dazu bereitet,
anderswo das Räderwerk gefertigt; endlich setzt der Meister die Uhr zusammen
und große Kaufhäuser, wie in Neustadt, besorgen die Versendung. Gefertigt
in der Waldeinsamkeit von einem kunstsinnigen, zum Nachdenken geneigten Volke,
haben diese Schwarzwälderuhren in bezug auf Genauigkeit des Ganges einen
hohen Grad von Vollkommenheit erreicht. Es gibt Meister auf dem Walde,
welche Kunstarbeiten geliefert haben und noch liefern, die nicht nur bei uns son-
dern auch in Frankreich und England als Probestücke eines erfinderischen Geistes
rühmliche Anerkennung gefunden haben.
Hierzu gesellt sich die Erzeugung von Eisen- und andern Metallwaren. Die
trefflichen Schlosserarbeiten des Schwarzwaldes sind weithin bekannt. Auch die
Waffenindustrie hat hier eine Stätte gefunden: sie wird in hervorragender Weise
gepflegt in der berühmten Waffenfabrik von Mauser in Oberndorf, welche sich
mit ihren Gewehren in gleicher Weise wie die Firma Krupp mit ihren Kanonen
einen großen Teil der Kulturwelt erobert hat. Im Jahre 1884 lieferte die Mauser-
sche Fabrik das patentierte Repetiergewehr für die ganze deutsche Armee. Die
Jagdbüchsen, Revolver und Karabiner dieser Firma sind weltbekannt und fast
andauernd sind Kommissionen von Offizieren fremder Länder zu Proben und
Abnahmen in Obemdorf anwesend.
Zur sog. Schwarzwaldindustrie gehört auch die Holzschnitzerei, die Sägerei,
Holzschleiferei und Bürstenfabrikation, ferner die Stroh- und Bastflechterei so-
wie die Herstellung von Ton- und Emailwaren, so daß viele Teile besonders des
südlichen Schwarzwaldes bedeutende Industriegebiete geworden sind. Während
die alten Hammerschmieden verschwunden sind, findet man mehrfach Glas-
hütten besonders an den Ufern der Alb, Wutach und Haslach. Die letztere
stürzt wild herab aus den Wäldern von Dittishausen, wo stämmige Holz-
hauer ein hartes Gewerbe treiben und früher bei nie verlöschenden Feuern rußige,
wild blickende Schmiede schafften. Hier und da liegt in dunkler, schweigender
Einsamkeit eine Terpentinschwelerei oder eine Pechhütte, deren gerade aufsteigende
Rauchsäule weithin ihre Düfte verbreitet. Dort, wo der Bach hastig hinabzieht,
lugt aus dem tiefen Grün die Hütte des Holzflößers.
178. Elsaß.
367
Trotz des ausgedehnten industriellen Betriebes haben die Schwarzwülder
ihre Naturfrische und ihre Eigenart bewahrt, die sie von andern Jndustriebezirken
unterscheidet. Zwei Männer, Hebel und Bertold Auerbach, haben durch ihre
wertvollen Erzählungen und Gedichte den Schwarzwald in ganz Deutschland
und darüber hinaus bekannt gemacht. Nach Dame,
178. Elsaß.
Den Berg hinab fährt sacht der Wagen,
0 legt ihm nur den Hemmschuh an,
Daß ich mein Elsaß mit Behagen
Nach Herzenslust betrachten kann!
Willkomm, ihr heimatlichen Täler,
Beschirmt von hoher Berge Wall,
Und ihr, der Vorzeit graue Mäler,
Ihr Sagenreichen Schlösser all!
Willkomm, ihr grünen Rebenhügel,
Wo purpurrot die Traube schwillt,
Wo unter heißer Lüfte Flügel
Des goldnen Weines Feuer quillt!
Sieh, wie vom Himmel reich gesegnet
Das weite Fruchtgebilde sprießt,
Wo kaum ein Fleck dem Aug’ begegnet,
Der nicht von Segen überfließt!
Und sieh die trauten Dörflein alle,
Von Obstbaumgärten rings umlacht,
Die Städtchen dort mit Turm und Walle,
Wo Bürgermut das Land bewacht!
Und sieh, wie dort im Abendglanze,
Wo silbern blinkt des Rheines Strom,
Aus Straßburgs altem Mauerglanze
Gen Himmel ragt der schlanke Dom!
Und weiter siehst du dort erglänzen
Des Rheines schillernd Silberband.
Ein Land, o ja, nicht scharfe Grenzen,
Das ganze Rheintal ist ein Land!
Ob jenseit andre Mächte thronten,
Die Herzen blieben sich verwandt;
Die hüben und die drüben wohnten,
Sie reichen sich die Bruderhand.
Stöber.
368
179. Der Rheingau.
179. Der WHeingau.
Das Taunusgebirge, welches von Homburg bis Rüdesheim in
westlicher Richtung streicht, setzt dem Rhein bei Biebrich einen Damm
entgegen, der ihn nötigt seinen bisherigen nördlichen Lauf zu verlassen
und mit dem westlichen des Gebirgs zu vertauschen; erst bei Rüdes-
heim gelingt es ihm dasselbe zu durchbrechen und, den Hunsrück vom
Taunus loßreißend, seine alte Richtung zu verfolgen. Von Basel bis
Biebrich ist das rechte Rheinufer nach Westen gewendet, von Biebrich
bis Rüdesheim gibt ihm die Wendung des Stromes eine südliche Lage,
welche die Güte seiner Reben nicht wenig bedingt. Der glühenden
Mittagssonne ausgesetzt, vor schädlichen Winden durch eine hohe Gebirgs-
wand gedeckt, von der Wärme, die von dem schiefrigen Boden wie von
dem Spiegel des Rheines zurückstrahlt, doppelt und dreifach angeglüht,
bringen sie im Rheingau die süßeste, köstlichste Frucht zur Reife. Noch
ein anderer Umstand trägt dazu bei den Nheingau zum Paradies der
Rebe zu machen. Einst, so meldet die Sage und die Naturkundigen
finden sie bestätigt, ehe der Rhein das Gebirge bei Rüdesheim durch-
brochen und den Weg zum Ozean gefunden hatte, bildete das Rheintal
zwischen Basel und Bingen und das Maintal zwischen Mainz und der
Wetterau einen großen See, dem erst ein gewaltsames Naturereignis
einen Abfluß nach Norden verschaffte. Als sich darauf das Wasser in
seine heutigen Schranken zurückzog, ließ es auf dem Boden des alten
Sees einen kalkigen Niederschlag zurück, der teils von den Wassern des
Jura teils von den Gehäusen kleiner Schnecken herrühren mag. Dieser
Kalkniederschlag verleiht den Reben üppiges Wachstum. Sie sind des
Rheingauers Stolz, und mit Recht; denn er verdankt sie nicht dem
Klima und dem Boden allein, sondern ebenso sehr seinem Fleiß und
seiner Kunst.
Der Reisende, welcher nur auf der breiten Rheinstraße oder gar
im Flug auf der Eisenbahn durch den Rheingau fährt, wird von dem-
selben nicht den rechten Begriff gewinnen. Er hält ihn vielleicht für
ein ganz ebenes, nur von fernen Höhen begrenztes Land. Erst wenn
er eine der steilen Höhen erstiegen hat, z. B. die bei der verfallenen
Baben- oder Bnbenhansener Kapelle unweit Nauenthal, und das Tal
von Mainz bis Bingen, von Kastel bis Rüdesheim überblickt, so luirb
er sich überzeugen, daß hier das Erhabene mit dem Schönen, das Groß-
artige mit dem Lieblichen gepaart ist — und doch hat er hier den
Nheingau nur von einer Seite gesehen; der Niederwald, auf dem sich
das herrliche Nationaldenkmal besindet, zeigt ihn von der anderen Seite.
180. Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald. 369
Den stolzen Namen „Krone des Rheingaus" trägt mit Recht
Schloß Johannisberg, auf einem breiten Hügel unweit Geisenheim gelegen.
Früher dem Abt von Fulda gehörend, ward es 1805 von Napoleon
nebst dem Gute dem Marschall Kellermann geschenkt. Dieser verkaufte
im Sommer 1811, als noch niemand wissen konnte, ob der Wein auch
nur reif würde, den ganzen bevorstehenden „Herbst" an einen Kölner
Weinhändler für 32000 Gulden. Es folgte nun der berühmte, bis zu
unserer Zeit noch nicht übertroffene elfer Jahrgang und der Kölner
Kaufmann hatte ein Geschäft gemacht, wie es in Wein wohl auch nur
alle hundert Jahre vorkommt; denn er erzielte 65 Stückfässer und ver-
kaufte ein einziges derselben um 11000 Gulden! Was dem „Johannis-
berger" seine vorzügliche Güte verleiht, ist nicht der Boden allein, nicht
die geschützte Lage an den sonnigen Abhängen, nicht die Rheingauer
Behandlungsweise der edlen Rieslingsrebe, sondern mehr als dies alles
die späte Lese der Trauben. Im Jahre 1813 übertrugen die Ver-
bündeten Mächte diese wieder erworbene Besitzung dem Kaiser von
Österreich und dieser belehnte den Fürsten Metternich damit gegen den
Weinzehnten.
Diesen Weingarten Deutschlands mit seinen sanft geschwungenen
Hügeln bewohnen lebensfrohe Menschen, die ein fröhliches, heiteres
Leben führen, treu an den Sitten der Väter hängend ohne sich gegen
Besseres zu verschließen. Nach Simro-r.
180. Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald.
Der 28. September 1883 war ein Festtag ohnegleichen für
ganz Deutschland. Da weihte Kaiser Wilhelm I., umgeben von
den Fürsten des Reiches, den Heerführern des letzten Krieges,
den Abgeordneten der Volksvertretungen, der Universitäten, der
Städte und zahlloser Vereine, unter dem Jubelruf einer unge-
heuren Volksmenge das Nationaldenkmal, zu dem ganz Deutschland
beigesteuert, »den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur
Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung«.
In einer der schönsten Rheinlandschaften, nahe dem wein-
gesegneten Rüdesheim, ragt das Denkmal 25 m hoch über die
Bergspitze des Niederwaldes empor.
Auf mächtigem Unterbau erhebt sich die aus Bronze ge-
gossene Kolossalfigur der Germania. In majestätischer Ruhe
steht sie da, den Blick nach Westen gerichtet. Das wehende
Haar umwallt Schulter und Rücken. Ein Eichenkranz ruht auf
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 24
370 180. Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald.
dom wunderschönen Haupt und ein Lorbeerkranz rankt sich um
die Krone, welche sie in der hoch erhobenen Rechten dem Sieger
darbietet, der sie gewonnen. Lorbeer umwindet auch das mächtige
Schwert, das sie mit der Linken umklammert. Die Gewandung ist
reich und edel gehalten. Mit dem rechten Fuß etwas zurück-
tretend, steht das königliche Weib hoch emporgerichtet vor dem
Thronsessel, dessen Lehne zwei Greife zieren. Es ist eine Ger-
mania, wie sie so groß und schön bisher von keiner Künstler-
hand geschaffen wurde. Von mächtiger Wirkung sind auch die
anderen Figuren des Denkmals. In der Mitte des unteren Sockels
befindet sich eine Bronzegruppe: der Rhein übergibt der Mosel
das Wächteramt. Auf den beiden Ecksockeln erheben sich zwei
gewaltige, allegorische Figuren — links der Krieg, rechts der
Frieden — in vorzüglicher Ausführung. Zwischen beiden ist nun
auf dem zweiten Sockel das große Hauptrelief angebracht, das
nach des Künstlers eigenen Worten »die Wacht am Rhein« ver-
körpert in dem Augenblick, als sich die deutschen Krieger um
ihren königlichen Führer scharen. In der Mitte derselben sitzt
Kaiser Wilhelm hoch zu Roß, umrahmt von den Fahnen deutscher
Städte. Die Rechte hat er auf die Brust gelegt und das Haupt
gen Himmel gerichtet. Zu beiden Seiten befinden sich die Fürsten
und Heerführer, die 1870 und 71 ihm begeistert gefolgt sind,
nahe an 200 Figuren, die meisten in Lebensgröße und porträt-
ähnlich. Die Seitenreliefs stellen in ergreifender Weise »des
Kriegers Abschied« und »des Kriegers Heimkehr« dar. Vom
Unterbau der Vorderseite strahlt die Inschrift herab: »Zum An-
denken an die einmütige, siegreiche Erhebung des deutschen
Volkes und an die Wiederherstellung des Deutschen Reiches 1870
und 71.« Auf der Rückseite stehen im oberen Sockel die Worte:
»Frankfurter Friede am 10. Mai 1871« und weiter unten gedenkt
eine eherne Tafel der Schöpfer des großartigen Werkes mit den
Worten: »Urheber und Bildner, Johannes Schilling. Erbauer,
Karl Weißbach aus Dresden.«
Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald ist das Sinnbild
deutscher Kraft und Größe, deutscher Gesittung und Gesinnung.
Möge es eine Friedensstätte für alle Zeiten bleiben!
Nach d. Leseb. v. Ernst.
181. Der Thüringer Wald und seine Industrie.
371
181. Per Würinger Wakd und seine Industrie.
So ziemlich in der Mitte von Deutschland, gleichweit von dem
Meere und den Alpen entfernt, liegt ein wahrhaft bezauberndes und
daher vielfach von Wanderern besuchtes Gebirgsland, der Thüringer
Wald. Auf der beinahe 200 km langen, von Südosten nach Nord-
westen laufenden Hauptkette führt ein fahrbarer Weg hin, der sogenannte
Rennsteig oder Grenzweg, von welchem aus man nach beiden Seiten
hin, nach Franken und Thüringen, blicken kann. Zugleich bildet das
Gebirge die Wasserscheide für drei Hauptströme: Elbe, Weser und Rhein.
Alle kleineren Gebirgswasser wenden sich der Saale, der Werra oder
dem Main zu.
Zu den höchsten Erhebungen gehören der Veerberg und der wegen
seiner hervorragenden Gestalt und reizenden Aussicht bekannte Jnsels-
berg. Von ihm aus erblickt das Auge eine prächtige Landschaft mit
Städten, Dörfern, Schlössern und Burgen. Das liebliche Gotha und
Erfurt mit seinen ehrwürdigen Domtürmen tauchen auf; von Norden
her blickt die sang- und sagenrciche Wartburg aus den grün umlaubten
Bergen heraus und in noch weiterer Ferne gewahrt man den Kyffhäuser
und den Brocken.
An herrlichen Aussichtspunkten, seltenen Naturmerkwürdigkeiten und
geschichtlichen Erinnerungen ist der Thüringer Wald reicher als viele andere
Gebirge. Nirgends ist er unwirtbar; seine Höhen sind mit Holz freundlich
bewachsen, die Wände derselben mit malerischen Felsen geziert und seine
Täler und Wiesengründe von klaren Bächen durchflossen.
Und wie die Wälder und Berge schön und anmutig, so sind die
Menschen dort treu und bieder; ihr ganzes Wesen äußert sich in Zu-
friedenheit und anspruchslosem Selbstbewußtsein. Die durch Tanz, Ge-
sang und Spiel sich kundgebende Lebenslust findet man selbst da, wo
es keine goldenen Auen und duftigen, getreidefunkelnden Täler gibt.
Der ärmliche Köhler, Rußbuttenmann und Hinterwäldler ist so heiter,
fröhlich und gefällig wie der reichste Bauer des Landes.
Neben dem stillen Naturleben des Thüringer Waldes, besonders in
dem Südostteile, wo reiche Schiefer-, Holz- und Eisenvorräte zu finden
sind, hat seit langer Zeit Gewerbfleiß aller Art seine Werkstätte viel-
fach aufgeschlagen. Wir finden daselbst Glashütten, Porzellanfabriken
und -Malereien von bewährten Namen, ferner jene weit verbreitete
Stahlindustrie, die bei Suhl, Schmalkalden, Zella und Mehlis als
Gewehrfabrikation, in Ruhla und Steinbach als Messerfabrikation,
in Ichtershausen bei Arnstadt als Nähnadelfabrikation einen hohen
24*
372
182. Leipzig und seine Messe.
Grad der Entwicklung erreicht hat. Ichtershausen ist Wohl die größte
und leistungsfähigste Nadelfabrik der Erde. Im Thüringer Wald gibt es
vor allem jene allbekannten feinen Spielwaren, die von Sonneberg und
Umgegend nach den Hauptorten Europas, z. B. Nürnberg, und über den
Ozean zu allen Völkern gehen und die Herzen der Kinder erfreuen wie
den indianischen Häuptling, der sich mit ihnen schmückt.
Die Sonneberger Waren, hauptsächlich aus Kinderspielzeug bestehend,
sind entweder aus Holz, Schiefer und Papier oder aus Glas, Eisen,
Blech und Leder gefertigt. Was insbesondere die Holzwaren anlangt,
so werden sie in ungeheurer Mannigfaltigkeit geliefert und sind meist die
winterliche Arbeit der Bauernfamilien in den umliegenden Dörfern. Aus
diesen kommen Sonnabends die Spielwaren: Trommeln, Pfeifen, Ge-
wehre, Kugeln, Nußknacker, Klappern und Tiere, dann die Nutzwaren
vom Salzfaß bis zum zierlichen Nähkästchen, Schachteln und sonstige
Hausgeräte in Körben und Schubkarren haufenweise nach Sonneberg,
das sich durch seine großartige Gewerbe- und Handelstätigkeit einen
weltberühmten Namen erworben hat.
Der Umsatz dieser Waren ist von um so größerer wirtschaftlicher
Bedeutung, als der Arbeitslohn die Kosten des Materials weit übersteigt.
Nach dem sächsischen Lesebuch (Dresden).
182. «Leipzig und seine Wesse.
Wer hat noch nicht von Leipzig, der freundlichen Lindenstadt an
der Pleiße, gehört? Hier siel Gustav Adolf als Sieger (1632); hier
unterlag Napoleon I. den Verbündeten; hier wurden berühmte Männer,
wie Leibniz (1646), Thomasius (1655) und Richard Wagner (1813),
geboren; hier wirkte und starb der berühmte Tonkünstler Sebastian
Bach. An der blühenden Universität, die auch Goethe besuchte, lehrte
einst Gellert. Jetzt ist Leipzig auch der Sitz des Reichsgerichts, des
obersten deutschen Gerichtshofes in Strafsachen.
Ein äußerst belebtes Bild bietet Leipzig namentlich zur Zeit der
Oster- und Michaelimesse; die Neujahrsmesse gilt nur für eine halbe
Messe. In der inneren Stadt entstehen dann Budenreihen, über-
all werden Kisten, Kasten und Warenballen abgeladen; in den Häu-
sern, welche „Meßlage" haben, gehen Umwälzungen vor, indem die
bisherigen Ladeninhaber ihre Lager räumen um den fremden Kauf-
leuten Platz zu machen. In Hausfluren, in Höfen und auf Gängen
werden Verkausitände errichtet. Die Meßfremden werden in Privat-
wohnungen aufgenommen, während die Bewohner des Hauses sich auf
182. Leipzig und seine Messe.
373
den geringsten Raum beschränken und sich einstweilen in der Küche,
in Kammern und auf Gängen häuslich einrichten. Auf allen freien
Plätzen sieht man Buden aufgebaut; es entsteht in der Stadt gleich-
sam eine zweite Stadt. Der lebhafteste Verkehr findet auf dem Brühl
und auf den Straßen statt, welche von dort nach dem Markt und
der Grimmaschen Straße führen. Hier sieht man fast in jedem
Fenster bis zum zweiten Stockwerk hinauf die Firmenschilder fremder
Kaufleute.
Leipzig ist in dieser Zeit die Hauptstadt von Europa; denn alle
Erdteile senden ihre Käufer und Verkäufer oder mindestens ihre Pro-
dukte zur Messe. Mancher Amerikaner, mancher Armenier, Perser,
Inder, Japaner weiß nichts von Sachsen, kaum etwas von Europa,
aber von Leipzig und seinen Messen hat er Wohl reden hören. Goethe
hat diese Stadt einmal ein „Klein-Paris" genannt; aber während
der Meßzeit läßt sie sich vergleichen mit der Welthandelsstadt an der
Themse, sie wird zum „Klein-London". Was London für den See-
handel, das ist Leipzig für den Landhandel — ein Weltmarkt ersten
Ranges.
Während der Messe sieht man Waren aller Art aufgestapelt; be-
sonders bedeutungsvoll ist die Ledermesse, der Tuch- und Pelzwaren-
handel. Amerika, Rußland, der Norden Europas senden Hundert-
tausende von Häuten auf die Leipziger Messen. Ein einziges riesiges
Tuchwarenlager schon zählt selten weniger als 100000 Stück in einem
Gesamtwert von 6—9 Millionen Mark, meist Erzeugnisse Deutsch-
lands und der Niederlande, und in diesem Fabrikationszweig des vater-
ländischen Gewerbfleißes nimmt Sachsen den ersten Rang ein. Da kaufen
die Länder des Mittelmeers, das ferne China, Ostindien, Südamerika
und Mexiko, Nordamerika, das östliche und westliche Europa ihren
Bedarf an Tuchen der verschiedensten Gattungen und nur der Norden
Europas versorgt sich gegenwärtig von Hamburg aus mit diesem
Artikel.
Im Pelzwarenhandel ist Leipzig der erste Platz der Welt geworden.
Deutschland liefert Pelzfelle vom Fuchse, Edel- und Steinmarder, Iltis,
Otter, Dachse und Hasen, dann Kaninchen, Katzen- und Lammfelle;
Rußland sendet die Felle der Hermeline, Zobel, der weißen und blauen
Füchse, Hasenfelle, persische, astrachansche und russische Lammfelle; auch
Grönland, Schweden und Norwegen bieten ihre Vorräte; ebenso die
Staaten von Nordamerika, diese namentlich Pelze des Bibers, des
Bisams, der roten, schwarzen, weißen und blauen Füchse, der Bären,
Seeottern, Luchse, Wölfe, Zobel u. s. w.
374
183. Berlin.
Aber auch an Musikbanden fehlt es nicht. „Ohne Meßmusik keine
Leipziger Messe." Wo man nur hinhorcht, singt's, dudelt's, bläst's
oder harft's dem Besucher entgegen. Hier ist eine Reihe Tierbuden; dort
lockt uns ein Zirkus mit seinen prächtigen Pferden, seinen Kunstreitern,
seinen Spaßmachern an.
Bald jedoch hat die Flut einströmender Menschen und Waren ihren
Höhepunkt erreicht; man merkt, daß die Messe ihrem Ende entgegen-
geht. Der Donnerstag ist der Zahltag, der Tag, an welchem die
Wechsel eingelöst werden müssen.
Mit dem Ende der allgemeinen Leipziger Ostermesse beginnt die
Buchhändlermesse. Von der Großartigkeit der Preßerzeuguisse in Leipzig
kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß von hier
aus über 500 Buchhandlungen ihre Bücher in alle Welt hinausseuden.
Der deutsche Buchhandel gliedert sich in den Verlags-, Sortiments- und
Kommissionshandel. Verlags- und Sortimentshändler verhalten sich zu-
einander wie Groß- und Kleinhändler. Der erstere stellt die Druckwerke
her und bringt sie auf den Markt. Der Sortimentshündler bezieht seinen
Bedarf vom Verlagshändler und muß immer die gangbarsten Bücher
vorrätig halten. Der Kommissionshändler ist der Vermittler zwischen
beiden. Durch den Kommissionshandel stehen alle deutschen Buchhändler
miteinander in Verbindung.
Die Stätten der Industrie befinden sich besonders in den Vorstädten
und Vororten. Für Pianoforte-Fabrikation ist Leipzig der erste Platz
Deutschlands. Außerdem sind die Schriftgießerei und die Herstellung
von Wachstuch und ätherischen Ölen, von Gold- und Silberwaren u. s.w.
von hoher Bedeutung. In Lindenau befinden sich Eisengießereien und
eine Baumwollspinnerei; außerdem werden hier Näh- und Strickmaschinen,
Chemikalien, Dachpappe, Holzzement, Stühle, Zigarren u. v. a. im
großen hergestellt. Nach Schanze und Stötzner.
183. Werlin.
In einer flachen und sandigen Gegend zu beiden Seiten der schiff-
baren Spree liegt Berlin, die Hauptstadt des preußischen Staates und
des Deutschen Reiches. Es ist die volkreichste Stadt in ganz Deutschland;
ja Groß-Berlin hat bereits Paris an Volkszahl überflügelt und zählt
jetzt 3 Millionen Bewohner.
Zur selben Zeit, als Heinrich der Löwe den Grund zu München
legte, gab Albrecht der Bür den Anstoß zum Emporkommen Berlins
und wie München, so ist auch Berlin, und zwar rascher noch als jenes,
hauptsächlich in den beiden letzten Jahrhunderten mächtig gewachsen;
183. Berlin.
375
im Jahre 1640 zählte es erst 6000 Einwohner. Seitdem es aber die
Residenz der preußischen Könige geworden war, nahm es einen sehr
raschen Aufschwung. Aber nicht bloß der Umstand, daß Berlin der
Sitz einer so kräftig aufstrebenden Königsmacht war, wirkte vorteilhaft
auf dessen Wachstum sondern auch seine günstige Lage. Es liegt näm-
lich nahezu in der Mitte der Norddeutschen Tiefebene und in der Mitte
zwischen Oder und Elbe, mit welch beiden großen Strömen es durch
Spree, Havel und deren Kanäle aufs vorteilhafteste verbunden ist. Dadurch
steht es mit zwei Meeren, der Nord- und Ostsee, in Verbindung, so daß
Berlin heute zu den größten Binnenhäfen Europas zählt und zu einem
Weltverkehrsplatz ersten Ranges geworden ist. Es kreuzen sich hier mit
der westöstlichen Hauptverkehrslinie Norddeutschlands die Straßen von
Süddeutschland über Thüringen nach der Ostsee sowie jene von Wien
über Schlesien nach der Nordsee. Wie es für den Bahnverkehr einer
der wichtigsten Knotenpunkte ist, so hat es sich auch zu einer der ersten
Fabrik- und Handelsstädte Deutschlands erhoben.
Unter den Straßen der Stadt ist die „Unter den Linden" am
großartigsten und schönsten und hat wie keine andere eine Reihe Meister-
werke der Baukunst, Paläste und Bildsäulen aufzuweisen. In westlicher
Richtung führt sie zu dem Brandenburger Tor, einem herrlichen, mit
fünf Durchgängen versehenen Portal, auf dessen Höhe das Viergespann
der Viktoria prangt. In östlicher Richtung kommt man zu dem König-
lichen Schlosse. Dieses bildet ein großes, längliches Viereck mit fünf
Portalen. Hohe Feste werden hier gehalten und im großen Weißen
Saale die Landtage eröffnet und geschlossen.
Sehenswerte Bauwerke sind die Ruhmeshalle, das Opernhaus, das
Rathaus, die Börse, die Museen, das Reichstags- und Reichspostamts-
Gebäude, der Palast der Neichsbank, der Kaiserhof u. a. Westlich von
Berlin liegt der Tiergarten, ein herrlicher Park, mit vielen Denkmälern
geziert. Der Zoologische Garten macht einen Teil des Tiergartens aus.
Seit 1867 hat Berlin auch ein Aquarium, das von dem berühmten
Naturforscher Brehm angelegt wurde.
In Charlottenburg, 4 km von Berlin, befindet sich das berühmte
Mausoleum, die Todesstätte der preußischen Könige. Eine anmutige
Lage hat Potsdam, das von der Havel umspült und von malerischen
Hügeln umgeben ist. Sanssouci mit seinen schönen Gartenanlagen
erinnert an Friedrich den Großen. Im Neuen Palais, das von Fried-
rich II. erbaut wurde, starb Kaiser Friedrich III.; jetzt ist es die
Sommerresidenz Kaiser Wilhelms II. In Babelsberg weilte Kaiser
Wilhelm I. am liebsten.
376
183. Berlin.
Berlin ist der Sitz der meisten Reichsbehörden sowie der Behörden
des preußischen Staates, nämlich des Bundesrats, des Reichstags,
der beiden Häuser des preußischen Landtags, des Oberkirchenrats, des
Kammergerichts u. s. w. In den inneren und ältesten Stadtteilen liegen
das Königliche Schloß, das Rathaus, die Kriegsakademie, die Bank, die
Münze, das Hauptpostamt, die Börse und viele Bank- und Großhandels-
Häuser. Die glänzendsten Kaufgeschäfte sind in Altcölln und Friedrichs-
werder. In der Friedrichsstadt, besonders in der unteren Wilhelm-
und Leipziger Straße, befinden sich das Reichskanzleramt, das General-
postamt, die meisten Ministerien, Gesandtschaften und außerdem glänzende
Verkaufsgeschäfte und eine Anzahl großer Gasthöfe. Die Stadtteile
Moabit und Wedding bilden den Hauptsitz der Großindustrie, haupt-
sächlich im Maschinenbau. Hier wirkte seit 1836 Borsig, der schon 1873
seine 3000. Lokomotive baute. Die an die Oberspree sich anlehnenden
Stadtteile schließen bedeutende Spinnereien, Webereien und Färbereien
in sich, während jenseit des Schiffbauerdamms in den Vorstädten die
großen Brauereien und chemischen Fabriken zu finden sind.
Berlin ist vor allem Industriestadt und seine Bedeutung als solche
steigert sich von Jahr zu Jahr. Mit Erzeugnissen ihres Maschinenbaues,
von der Lokomotive bis zum feinsten physikalischen Meßapparat und
Mikroskop, versorgt die Hauptstadt einen großen Teil Deutschlands. An
zweiter Stelle steht die Möbeltischlerei. Wäsche und Kleidung werden
für die Ausfuhr gearbeitet. Zu diesen Industriezweigen gesellen sich alle
Arten der Kurzwarenfabrikation, der Luxus- und Kunstindustrie. Die
Industrie der Nahrungs- und Genußmittel ist besonders durch Bier-
brauerei und Tabakverarbeitung vertreten; in der Bierindustrie nimmt
Berlin unstreitig die erste Stelle auf dem Festlande, ja vielleicht in der
ganzen Welt ein.
Unerreicht sind die Verkehrseinrichtungen Berlins. Es hat eine
Stadt- und eine Ringbahn sowie eine Hoch- und Untergrundbahn; außer-
dem wird der Verkehr im Sommer auf der Spree durch eine stattliche
Anzahl kleiner Dampfer vermittelt. Auch besitzt es das ausgebreitetste
Telephonnetz unter allen europäischen Großstädten.
Berlin beherrscht den Handel Norddeutschlands. Die ankommenden
Schiffe bringen hauptsächlich Mauersteine, Dachziegel und Tonröhren,
ferner Erde. Lehm, Kies, Holz, Steine und Steinwaren, Steinkohlen,
Zement und Kalk, Roggen und Kartoffeln. Für den Handel mit
Spiritus ist Berlin Hauptplatz Deutschlands. Eine sehr erhebliche Aus-
fuhr findet statt in chemischen Farbwaren, Wollwaren, Möbeln, Näh-
maschinen, Geldschränken, Lampen, Dampf- und Telegraphenapparaten.
184. Rheinisch-westfälische Industrie.
377
Als Geldmarkt ist Berlin jetzt fast so bedeutend wie London; in
„auswärtigen Werten" schließt man hier die größten Geschäfte ab. Es
gibt viele hundert Bankgeschäfte in der Stadt, von denen einzelne von
höchster Wichtigkeit sind. Hier hat auch die Reichsbank ihren Sitz,
deren Zweiganstalten über ganz Deutschland verbreitet sind.
184. Weinisch-westfätische Industrie.
g.) Der Lebensnerv der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen ist
die Industrie. Sie übertreffen hierin alle anderen preußischen Provinzen und
können sich den bedeutendsten Industrieländern der Erde zur Seite stellen.
In der Rheinprovinz ist die industrielle Tätigkeit am meisten zusammen-
gedrängt in zwei Bezirken, von denen jeder gleichsam eine große, weite Fabrik
bildet: der eine in der Gegend an der belgischen Grenze, wo Aachen mit
Burtscheid, Stolberg, Eupen, Malmedy, Montjoie und andere Orte aus-
gezeichneter Betriebsamkeit sind; der andere auf der östlichen Seite der Provinz,
an der durch die Industrie so berühmt gewordenen Wupper.
Aachen und Burtscheid, die man fast für eine Stadt halten möchte,
bilden einen Hauptsitz der deutschen Tuchfabrikation. Dieser Industrie dienen
hier zahlreiche Betriebe. Damit stehen ansehnliche Wollspinnereien in Ver-
bindung, die vorzüglich ausländische Wolle verarbeiten. Von besonderer
Wichtigkeit sind hier auch die Nähnadelfabriken, die jährlich etwa 1600
Millionen Stück Nadeln versenden.
Die Wupper mit ihren Nebenbächen zog durch die günstigsten Verhält-
nisse, die sie der Anlegung von Wasserbetriebswerken darbot, die Industrie
ganz besonders an ihre Ufer. So reihen sich denn an ihren Zuflüssen in
den Kreisen Lennep, Elberfeld und Solingen fast ohne Unterbrechung
Spinnereien, Tuchfabriken, Bleichereien, Färbereien, Eisenhämmer, Schleif-
mühlen aneinander, in denen Werkzeuge für jeden Gebrauch, Gegenstände
zur Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse wie des feinsten Luxus
erzeugt werden. Einen der bedeutendsten Mittelpunkte der Industrie im
Deutschen Reiche bildet die Doppelstadt Elberfeld-Barmen im Wuppertal.
Die Gründung dieser Städte wird auf das Bleichen des Leinengarns zurück-
geführt, indem die Wupper, als ein klares und zur Bleiche besonders ge-
eignetes Wasser, sowie die bequemen Ufer die Bewohner zuerst einluden sich
diesem Geschäft zu widmen. Allmählich erreichten sie darin einen hohen
Grad von Vollkommenheit und daraus entstand ein zweiter Industriezweig,
das Spinnen des Leinen- und Baumwollengarns, wozu später noch die
Herstellung von Schnürriemen und Schnüren kam, welche Artikel in der Folge
zur höchsten Wichtigkeit stiegen und einen großen Teil des Wohlstandes be-
gründeten. Hierzu trat auch bald die Weberei von allerhand Leinenzeugen,
besonders von Borten und Bürten, wovon große Sendungen ins Ausland,
namentlich nach Westindien, gingen.
378
184. Rheinisch-westfälische Industrie.
Im 18. Jahrhundert fing man an außer gefärbten und gestreiften
Leinen auch halbbaumwollene Zeuge zu machen. Nach und nach stieg die
Zahl der Artikel von baumwollenen Zeugen bedeutend. Es entstanden
auch Maschinenspinnereien, die Türkischrotfärberei verbreitete sich und den
Banmwollenfabriken folgten Seidenfabriken. Außerdem gesellten sich noch
andere Industriezweige und Fabrikanstalten hinzu und es entwickelte sich ein
wichtiger Handel; zugleich entstand ein sehr bedeutender Wechselverkehr, da
sich der durch die Fabriken erzielte Geldumsatz aus etwa 60 Millionen Mark
beläuft. Elberfeld liegt zwischen mäßig hohen Bergen zu beiden Seiten der
Wupper ganz offen und ohne regelmäßige Anlagen. Unmittelbar an Elber-
feld, flußaufwärts, schließt sich das ausgedehnte Barmen an. Von dem bei
Elberfeld gelegenen Hardterberge, der zu einer öffentlichen Anlage umgeschaffen
ist, genießt man die schönste Aussicht auf die beiden Städte und die zahllosen
Fabrikgebäude, Färbereien und Garnbleichen im Tale; das Ganze erscheint
als eine große Stadt, die sich 8 km in der Länge ausdehnt.
Nicht der Gunst der Naturverhältnisse, sondern dem Fleiß und der
wirtschaftlichen Einsicht der Bewohner verdankt auch die nahe am linken
Rheinufer gelegene Stadt Krefeld ihre Bedeutung. Wenige Städte in der
Rheinprovinz haben in so beschleunigtem Maß an Wichtigkeit zugenommen;
im Jahre 1722 war Krefeld noch ein Flecken von kaum 1000 Bewohnern
und heute zählt es über 129 000 Einwohner. Unter ihren mannigfaltigen
Industriezweigen haben besonders die Samt- und Seidenindustrie eine hohe
Stufe der Entwicklung erreicht und die Kreselder Samtbänder erfreuen sich
geradezu eines Weltrufs. Auch Düsseldorf am Rhein war vor hundert
Jahren noch eine unbedeutende Stadt; aber nachdem es mit dem nahen
rheinisch-westfälischen Kohlengebiet durch eine Schienenstraße in Verbindung
gebracht und die Rheinschiffahrt vollständig frei geworden war, da wuchs
auch die Bevölkerung und der Wohlstand Düsseldorfs und die hier heimische
Webeindustrie empfing eine mächtige Förderung. Daneben entwickelte sich in
der kunstsinnigen Stadt besonders die Eisenindustrie und Düsseldorfs hohe
industrielle Bedeutung hat sich vor allem gezeigt in den glanzvollen rheinisch-
westfälischen Industrie- und Gewerbeausstellungen.
d) In dem Bezirk, welcher schon öoit alters her durch seine bedeutende
Eisen- und Stahlwarenfabrikation ausgezeichnet ist, bildet Solingen, eine
offene Stadt unweit der Wupper, teils ans einem Berge teils an dessen
Abhang gelegen, den Mittelpunkt. Die jetzige Fabriktätigkeit der Bewohner
teilt sich in drei Hanptzweige, nämlich in die Schwert-, Messer- und Scheren-
fabrikation. Außerdem werden ungemein viele Nebenartikel, wie Ladestöcke,
Bajonette, Lanzen, Korkzieher u. a. m., geliefert. Diese Gegenstände werden
aber auch im Umkreis von mehreren Kilometern von den Arbeitern gefertigt;
sie stellen die einzelnen Teile von Messern und Gabeln, Degen- und Schwert-
klingen, Scheren und eine erstaunliche Menge anderer kleiner Eisen- unb
Stahlwaren in ihren eigenen Werkstätten teils roh teils fertig her und ver-
184. Rheinisch-westfälische Industrie.
379
kaufen sie an die Fabrikverleger, welche sie schleifen und zusammensetzen lassen.
Fabrikmäßig betrieben wird nur das Schleifen und Polieren. Die Solinger
Klingen haben eine unnachahmliche Güte und man versteht sie so zu Härten,
daß sie Eisen durchhauen können ohne eine Scharte zu bekommen. Man
nimmt an, daß Solingen jährlich viele tausend Millionen Messer, Gabeln
und Scheren nach allen Weltgegeuden absetzt.
In etwas anderer Beziehung ist Remscheid bedeutend geworden. Die
in und um die Stadt fließenden 18 Bäche sind mit Hämmern und Werken
aller Art ganz besetzt, so daß es an Platz für neue Anlagen fehlt. Es
werden zahllose Artikel von verschiedenen kleinen und sogenannten kurzen
Eisen- und Stahlwaren verfertigt und der Handel damit ist sehr ver-
breitet. Andere Erzeugnisse der Remscheider Jndilstrie sind z. B. raffinierter
Stahl von allen Sorten, Sicheln, Strohmesser, Sägen, von den größten
Mühlsägen bis zur feinsten, Werkzeuge für die verschiedensten Gewerbe,
alle Sorten von Wirtschafts-, Haushaltungs- und landwirtschaftlichen Ge-
räten.
In großartigster Weise hat sich die Industrie aber im Essener Kreise
entwickelt. Unterstützt durch die reichen Steinkohlengruben des mittleren
Ruhrgebiets, entstanden hier die gewaltigsten Eisenfabriken. Ihnen allen
voran steht die weltberühmte Kruppsche Gnßstahlfabrik. Essen ist, obgleich zum
Rheinlande gehörig, mit dem westfälischen Eisen- und Kohlengebiet innig
verwachsen und führt uns in dasselbe über.
e) Auch die Industrie Westfalens ist eine uralte und gegenwärtig sehr
bedeutende. Am ausgezeichnetsten ist die Gegend zwischen Iserlohn und
Schwelm durch ihre Eisenindustrie. Im Mittelpunkt dieses Bezirks liegt
die Stadt Hagen. Schon von ferne machen uns die hochaufragenden Kamine,
die auf allen Seiten den Bahnhof von Hagen umgeben, darauf aufmerksam,
daß wir hier in eine rege Jndustriewelt eingetreten sind. Es ist das Land,
wo, wie Arndt singt, „der Märker Eisen reckt". Wie der unteren Ruhr und
der Ebene des Hellwegs, besonders den Gegenden von Dortmund, Bochum
und Essen, der Steinkohlenbergbau ihre Eigentümlichkeit gibt, so ist es vor-
zugsweise die Eisen-, Stahl- und Messingwaren-Fabrikation, welche das
„märkische Söderland", d. i. Südland von Westfalen, auszeichnet. Ein sehr
reger Gewerbfleiß hat sich in diesen Tälern und auf den Höhen ringsumher
seit langer Zeit entwickelt. Und heute, seitdem die Kraft des Dampfes und
der Elektrizität in den Dienst der Industrie getreten ist, hat dieses gewerb-
liche Leben wahrhaft großartige Ausdehnung angenommen.
Überall stößt man auf Hütten- und Puddelwerke, in welchen Roheisen,
Stab-, Band- und Schieneneisen, Puddelstahl, Weißblech, Schwarzblech,
Raffinierstahl, Zementstahl in großen Massen erzeugt wird. Die Metall-
waren-Fabrikation der Kreise Hagen, Iserlohn und Altena ist eine der
blühendsten der Welt. Die Nadeln, Knöpfe, Messer, Sensen, Strohmesser,
Hämmer, Ambosse, die mannigfaltigsten sonstigen Eisen-, Stahl-, Messing-,
380
185. Hamburg.
Neusilber-, Zinn- und Bronzewaren, welche hier in Tausenden von Werk-
stätten erzeugt werden, wandern weit in die Ferne nach allen Teilen der
Erde. Daran reihen sich viele andere industrielle Unternehmungen: Tuch-
und Kattunfabriken, Nesselfärbereien, Tabakfabriken und wie alle die Zweige
gewerblicher Tätigkeit heißen mögen. „Rad an Rad wälzt sich geschäftig um,
von dem Strom des dienstbaren Wassers getrieben; Schlot an Schlot ragt
empor und über ihnen wehet des Reiches Fahne, das Banner der arbeit-
samen Männer, welche mit der Macht des Feuers den Trotz der Metalle
brechen." Talauf, talab tönt dumpf der Fall des Hammers und rollt die
Walze in geräuschvollem Umlauf; in anderen Orten schnurrt die Spindel
und klappert hastig der Webstuhl. Dort sind es Eisen, Stahl, Messing, Zinn,
Silber, hier Seide, Wolle, Leinen, Baujnwolle, welche unter kunstreicher
Hand im Dienste der Gewerbe sich mannigfach umgestalten. Verschwunden
ist schon in einigen Bezirken der alte Gegensatz von Stadt und Land: —
Gewerbe überall! Meilenweit zieht sich in ununterbrochener Reihe die Zeile
der Häuser hin. Nach Daniel und Natorp.
185. Kamvurg.
Wer die Elbe hinabführt, von Dresden bis nach Cuxhaven, der
sieht verschiedene große und schöne Städte; aber die bedeutendste, reichste
und wichtigste von allen ist die zum Deutschen Reiche gehörende alte
Reichs-, Hansa- und Handelsstadt Hamburg. Sie hat über 1 Mill.
Einwohner und ist der erste Handelsplatz in Deutschland und der
zweitgrößte in Europa, ja einer der hervorragendsten in der ganzen
Welt.
Hamburg liegt 100 km oberhalb der Elbemündung am rechten
Flußufer, also dicht vor einem der großen Ein- und Ausgangstore
Deutschlands. Die Elbe teilt sich oberhalb der Stadt in mehrere Arme,
vereinigt aber unterhalb derselben ihre Wasserfülle allmählich zu einem
stundenbreiten Strome, dessen Wogen mit Hilfe der weit aufwärts
reichenden Flut die größten dreimastigen Segelschiffe bis dicht an die
Stadt herantragen.
Hamburg ist eine Reichsstadt; an der Spitze des Staates stehen
zwei Bürgermeister und 24 Senatoren oder Ratsherren.
Die Stadt ist sehr alt; denn schon Karl der Große ließ daselbst
eine Burg und eine Kirche bauen. Bereits im 13. Jahrhundert war
Hamburg eines der bedeutendsten Glieder in dem großen Städtebunde
der Hansa, welchen diese zum Schutz gegen Edelinge und Seeräuber
errichtet hatten, und konnte zur Sicherung des Handels ein Heer und
Kriegsschiffe stellen.
185. Hamburg.
381
Die Stadt hat aber auch ihre Leidensgeschichte. In ältester Zeit
von den Königen Dänemarks und Norwegens oftmals beraubt und
zerstört, wurde es 1813 durch Davoust, einen Feldherrn Napoleons,
heimgesucht, der die Stadt auf die unmenschlichste Weise bedrückte und
brandschatzte. Im Jahre 1842 brach eine schreckliche Feuersbrunst aus;
sie wütete drei Tage und vier Nächte, zerstörte fast 2000 Häuser und
machte 20000 Menschen obdachlos. Auch die Cholera, welche in der
zweiten Hälfte des Jahres 1892 hier in schrecklicher Weise hauste,
brachte der Stadt unsägliches Leid.
Durch die angestrengte Tätigkeit seiner Bewohner und durch die
günstige Lage als Welthandelsplatz ist es Hamburg jedesmal gelungen
sich aus dem Elend zu neuem Reichtum und neuer Macht zu erheben.
Wer auf dem Dampffchiffe die Elbe herabfährt, der erblickt zunächst
am rechten Elbufer einen dichten Wald von Masten, auf deren Spitzen
lange, bänderartige Wimpel und Flaggen oder Fahnen in allen Farben
und mit den Wappen aller Nationen wehen. In drei- und vierfachen
langen Reihen liegen die gewaltigen Seeschiffe nebeneinander, durch
starke Taue und Ketten an mächtigen, in den Strom eingerammten
Pfählen und durch eiserne, spitzzähnige Anker im Grunde des Flusses
festgehalten. Dort rüstet sich einer dieser Meerriesen zur Fahrt in den
Ozean; die ungeheuren Segel blähen sich bereits vom Winde und ge-
wandte Matrosen sind auf den schlanken Masten beschäftigt deren
immer mehr zu entfalten. Vom Lande her kommen kleine, flinke Boote
durch die Wellen geschossen und bringen Reisende noch zur rechten
Stunde an Bord; denn kaum haben sie das Schiff bestiegen, so winden
die Matrosen den Anker aus dem Grunde herauf und kurz danach setzt
sich das riesige Gebäude langsam in Bewegung.
Hier kommt ein mächtiger Dampfer aus entfernten Erdteilen an;
schwarze Rauchwolken steigen aus seinem gewaltigen Schlote. Der
Kapitän steht auf der Schiffbrücke und nach seinen Befehlen bewegt
sich der Riesenleib des Schiffes; es birgt in seinem Innern die Er-
zeugnisse eines Erdteils: Baumwolle, Zucker, Kaffee, Tabak, Indigo,
Reis, Elfenbein, Seide, edle Metalle u. s. w. Eine Menge kleinerer,
mannigfach gestalteter Fahrzeuge bedeckt den Strom und versorgt aus
den Nachbarländern die Stadt mit Fischen, Fleisch, Milch, Gemüse
und Obst. Buntfarbige Gondeln tragen eine fföhliche Gesellschaft über
die blitzenden Wellen und schwerfällige Frachtkähne führen Güter und
Waren in die Speicher, welche sich 7—8 Stock hoch meist dicht am
Ufer erheben. An dem mit Mauern eingefaßten Ufer (Kai) wogt eine
dichte Menschenmenge, ein Gemisch aller Nationen, verschieden in Farbe,
382
186. Die Nord- und Ostsee.
Gestalt und Tracht, geschäftig durcheinander. Ein eben angekommener
Dampfer bringt neue Gestalten an das Ufer: singende Matrosen, eilende
Reisende und Kaufleute, denen man an ihrer Hast ansehen kann, daß
Zeit ihnen Geld ist. Rollwagen arbeiten sich die Straße hinauf, Kutschen
und Reiter jagen auf und ab, Lastträger schreien, Verkäufer rufen ihre
Waren aus, Diebe greifen nach fremden Taschen und müßige Zuschauer
treiben sich umher.
Wir besinden uns am Hafen von Hamburg; der großartige Handel
tritt uns hier lebendig und anschaulich entgegen; denn was die Erde Köst-
liches hervorbringt, liegt hier nicht nur verborgen in Schiffen und Speichern
sondern auf offener Straße in gewaltigen Fässern, eisenbeschlagenen
Kisten, in mächtigen Rollen, Körben und Ballen aufgestapelt wie wertlose
Dinge. Jährlich bringen über 14000 Schiffe die Erzeugnisse von allen
Erdteilen hierher und fast ebensoviel führen die Produkte Europas aus.
Unter den Gebäuden Hamburgs ragt außer dem prächtigen Rathause,
vor dem das großartige Denkmal Kaiser Wilhelms sich erhebt, besonders
die stattliche Börse hervor. In deren weiter Halle versammeln sich zu
bestimmten Tageszeiten die Kaufleute, Makler, Schiffsherren und Schiffs-
kapitüne der Stadt um über alles, was Handel und Wandel betrifft, mit-
einander zu sprechen, Geschäfte abzuschließen und Verkehr mit Geld,
Papieren von Geldeswert und Waren zu betreiben. Hier wimmelt es
von Käufern und Verkäufern. Von allen möglichen Waren werden Proben
gezeigt, die Makler rennen hin und her, suchen hier zu überreden und
dort zu schlichten. Käufe von ganzen Schiffsladungen, im Werte von
vielen Tausend Mark, werden hier abgeschlossen.
Der Handel der Hamburger Kaufleute reicht über das Meer, wo
sie Geschäfte besitzen wie in Hamburg. Wie unbedeutend ist der Handel
verhältnismäßig im Innern des Landes, während Hamburg mit seinem
Handel die ganze Welt umfaßt! Nach Leuckhardt.
186. Z)ie Word- und Ostsee.
Deutschland hat Anteil an zwei Meeren, der Nord- und der Ostsee.
Die Nordsee, auch das Deutsche Meer genannt, gilt als eine „Mord-
see" für den Schiffer wegen der vielen Weststürme und der unsicheren Küsten.
Sie ist aber auch eine Mordsee für die Flachküsten selbst; denn diese sind
durch die Tätigkeit von Ebbe und Flut in fortwährender Umbildung und
Zerstörung begriffen. Die Inseln, die sich in einer Reihe von der Nord-
spitze der Halbinsel Holland bis nach Jütland hinziehen, sind nur die Über-
reste größerer Landgebiete, die einst mit dem Festlande verbunden waren, aber
in geschichtlicher Zeit von dem Meere verschlungen wurden. Auch die tiefen
Einbuchtungen, wie die Zuidersee, der Dollart und der Jadebusen, verdanken
186. Die Nord- und Ostsee.
383
dem Eindringen der Sturmfluten ihre Entstehung. Menschliche Tätigkeit
sucht durch Deiche (Dämme) die Dünen oder natürlichen Sandwälle zu er-
setzen, welche der Festlandsküste des Deutschen Reiches an der Nordsee gänzlich
fehlen. Der Kampf mit dem Meere machte seine Anwohner mutig und see-
männisch tüchtig, vorsichtig, berechnend und klug. Der Mut und die Kraft
der Friesen finden aber auch in der Geschichte ihre Anerkennung.
An der deutschen Nordseeküste konnten sich nur Flußhäfen bilden, weil
die Küste selbst flach ist, die Schiffe also nicht an dieselbe heranfahren können.
Daher liegen die Städte an den Mündungen der Flüsse, zum kleineren Teil
auch an Stellen, bis zu welchen früher Schiffe gelangen konnten. An der
Mündung der Ems finden wir Emden, am Jadebusen Wilhelmshaven, den
Kriegshafen des Deutschen Reiches an der Nordsee. Bremen liegt an einer Stelle
der Weser, bis wohin die Flut noch spürbar ist; doch können größere Schiffe die
Stadt nicht erreichen. Daher wurde der Vorhafen Bremerhaven an der Stelle
gegründet, wo die seebusenartige Mündung des Flusses beginnt und die
3—4 m hoch gehende Flut auch den größten Seeschiffen das Einlaufen gestattet.
Bremen verkehrt vorzugsweise mit Nordamerika; es sind also Tabak, Baum-
wolle und Petroleum die hauptsächlichsten Einfuhrartikel. Im Norddeutschen
Lloyd gründeten die Bremer die erste deutsche Schisfahrtlinie nach Amerika; die
Dampfer dieser Gesellschaft befahren jetzt auch die Reichslinien nach Afrika, Asien
und Australien. Seitdem die Stadt durch Schienenwege mit dem rheinischen
und westfälischen Jndustriebezirke verbunden ist, vermittelt sie für diese auch
die Einfuhr von Rohmaterial und die Ausfuhr ihrer Fabrikerzeugnisse.
Auch Hamburg liegt zwar 100 km vom Meere entfernt, kann aber mit
Hilfe der weit aufwärts steigenden Flut von den größten Handelsschiffen
noch erreicht werden. Die ehemalige Hansastadt steht, was den Ausland-
verkehr betrifft, mit London, Antwerpen und Neuyork in einer Linie; Liver-
pool und Rotterdam sind von Hamburg schon längere Zeit überflügelt. Der
Hauptverkehr findet mit Großbritannien und Südamerika statt. Durch die
Elbe und das sich immer mehr ausdehnende Eisenbahnnetz reichen die Ver-
bindungen der Stadt weit nach dem Süden und Südosten Deutschlands, so
daß selbst in Wien noch mehr Kolonialwaren über Hamburg als Triest be-
zogen werden.
Das Hinterland des niedrigen Küstenstrichs ist eine tiefgelegene, nicht
selten waldleere Fläche; das niedrige, feuchte Gebiet besteht aus fruchtbaren
Marschen, die höher gelegenen Striche (Geestland) sind oft noch anbaufähig,
häufig aber nichts als Sandsteppen, die mit Heidekraut überzogen sind.
Zwischen der Ost- und Nordsee besteht durch das Skagerrak und Kattegat,
den Sund, den Großen und Kleinen Belt eine natürliche Verbindung. Eine
künstliche Wasserstraße bildet der Eiderkanal, welcher die Kieler Bucht mit
Tönning verbindet. Seit dem 21. Juni 1895 ist durch den „Kaiser-
Wilhelms-Kanal" ein Schifsahrtverkehr mit der östlichen deutschen Küste
hergestellt. Diese Wasserstraße ist nicht nur für den Seehandel sondern vor
allem für die Erhöhung der deutschen Wehrkraft von hoher Bedeutung.
384
186. Die Nord- und Ostsee.
Derselbe beginnt in der Nähe der Elbeinündung unweit Brunsbüttel,
wendet sich von da an Rendsburg vorbei nach dein Eiderkanal, dessen Richtung
er nun folgt, und mündet bei Holtenau in die Kieler Bucht. Der Wasser-
spiegel dieses fast 99 km langen Kanals beträgt 65 m, seine Tiefe 9 m, so
daß den größten Kriegs- und Handelsschiffen ein sicherer Durchgang möglich
ist. Durch die Erbauung dieses Kanals, der in seinen Maßverhültnissen
den Suezkanal übertrifft, wird die Wehrkraft der deutschen Flotte sehr ge-
hoben, da sie sowohl in der Nordsee als im Baltischen Meere verwendet
werden kann. Aber auch der Handelsschiffahrt erwächst durch die bedeutende
Abkürzung des Weges großer Vorteil, zumal die Schiffe hier vor den ge-
fährlichen Strömen des Skagerraks, Kattegats und Sunds sicher sind.
Die Ostsee, auch Baltisches Meer genannt, zeigt deutlich alle Merk-
male eines Binnenmeeres: sehr geringen Salzgehalt, unbedeutende Tiefe,
leichtes Gefrieren, außerdem fast vollständiges Fehlen der Gezeiten. Die
deutsche Ostseeküste ist infolge eines Höhenrückens höher als die der Nordsee.
Durch diese Gestaltung und durch Dünen ist sie gegen das Meer geschützt;
doch wüten in den trichterförmigen Buchten bisweilen furchtbare Sturm-
fluten. Eine Reihe von Sandinseln wie in der Nordsee fehlt ganz; denn
Rügen und die dänischen Inseln bestehen zum Teil aus Kreidefelsen, Got-
land aus Kalkfelsen und Bornholm aus Granit. An den Flußmündungen
treten die eigentümlichen Bildungen der Haffe auf, d. h. Strandseen mit
süßem Wasser, die durch schmale Landzungen (Nehrungen) oder durch dicht
aneinander schließende Inseln vom Meere getrennt sind. Das Hinterland
der Ostsee ist höher gelegen und mannigfacher gestaltet als das der Nordsee.
Einzelne Punkte, wie die Gegenden um Oliva und Danzig, genießen den
Ruf hoher landschaftlicher Schönheit. Am Fuße der mit üppigen Wäldern
gekrönten Höhen und Kuppen liegen stolze Burgen, große Parke und
lachende Seen.
Da die Ostseeküste höher ist als die der Nordsee, so finden sich hier auch
günstigere Hafenplätze, die zudem ein besseres Hinterland haben. Die Ost-
küste Schleswig-Holsteins weist tiefe, den großen Seeschiffen zugängliche
Hafenplätze auf. Kiel ist der schönste Hafen der Ostsee und beherbergt einen
großen Teil der deutschen Kriegsflotte.
An der Lübecker Bucht liegt Lübeck mit dem Vorhafen Travemünde. Im
Mittelalter war Lübeck der bedeutendste Seeplatz an der Ostsee und das Haupt
der Hansa; denn es lag am nächsten dem industriereichen Sachsen und West-
falen. Mit den großen Entdeckungen am Ende des 15. Jahrhunderts wurden
die Länder am Atlantischen Ozean zu bedeutenden Seemächten, was Lübecks
Fall nach sich zog. An der Küste Pommerns liegt der wichtigste Seeplatz
Preußens, Stettin. Die Bedeutung dieser Stadt, die der deutschen Flotte
und dem Auslande die stattlichsten Schiffe liefert, gründet sich auf das aus-
gedehnte Hinterland sowie darauf, daß es der Hafen Berlins an der Ostsee
ist. An der Küste Westpreußens ist von Bedeutung das altertümliche Danzig,
187. Von Deutschlands Binnenhandel und Verkehr. 385
die zweite Seehandelsstadt Preußens und eine der stärksten Festungen; an
der Küste Ostpreußens bildet die Krönungsstadt Königsberg ein Hauptboll-
werk gegen Rußland.
Außer dem Bernstein, der namentlich an der Küste von Danzig bis
Memel gewonnen wird, bestehen die Ausfuhrprodukte der Ostseehäfen
namentlich in den Erzeugnissen der Landwirtschaft, wie Getreide, Holz,
Flachs und Hanf.
Trotz der günstigeren Häfen der Ostsee entwickelte sich an der Nordsee
ein lebhafteres Handelsleben. Dazu trägt vor allem bei, daß die letztere
dem Weltverkehr näher gerückt ist und mit den großen Seestraßen in Ver-
bindung steht. England und die Nordseeküste liegen im Mittelpunkte der
bewohnten Welt. Ihre große Bedeutung erlangten diese Gestade mit den
Entdeckungen zur See. Damit wurden sie gleichsam erst in den Mittelpunkt
der bewohnten Welt gerückt. Die Ostseegestade entbehren auch des reichen,
durch die Fluten gebildeten Marschgürtels der Nordsee, infolgedessen sie auch
weniger bevölkert sind. Zudem haben die Nordseehäfen in den Provinzen
des westlichen Deutschland sowie in Sachsen und Böhmen ein an Industrie-
produkten weit reicheres Hinterland.
In der Reihe der seefahrenden Nationen nimmt Deutschland die zweite
Stelle ein, wenn man dieselben nach der Größe der Handelsflotten ordnet.
Der Seeverkehr der deutschen Häfen erstreckt sich zumeist auf die Zufuhr von
Rohprodukten, wie Baumwolle, deren die Industrie in jährlich größeren
Mengen bedarf, sowie von Kolonialwaren und anderen Genußmitteln, deren
Verbrauch mit der Zunahme der Industrie sich steigert. Die deutsche Reederei
dient aber nicht nur dem einheimischen Handel, sondern eine große Zahl der
Schiffe fährt gleich den norwegischen für fremde Nationen, vorzüglich in
den asiatischen Gewässern, da dieselben wegen der Tüchtigkeit ihrer Beman-
nung vielfach denen anderer Staaten vorgezogen werden. Zur Ausbreitung
des Handels hat die deutsche Kriegsmarine, die in Kiel und Wilhelmshaven
zwei gute Kriegshäfen besitzt, wesentlich beigetragen, indem sie allenthalben
der deutschen Flagge Schutz und Ansehen verschaffte.
187. Won Deutschlands Binnenhandel und Werkehr.
Handel und Verkehr dienen dazu die Erzeugnisse der Landwirtschaft
und Industrie sowie die Rohprodukte in Umlauf zu setzen. Den Handel
im eigenen Lande nennt man den Binnenhandel; entwickelt er sich im
Verkehr mit den Nachbarstaaten, so wird er Außenhandel genannt; dehnt
er sich auf überseeische Gebiete und Kulturländer aus, so wird er zum
Welthandel. Ein gut eingerichteter Binnenhandel sorgt dafür, daß die
einheimischen Erzeugnisse im Jnlande abgesetzt werden und die Güter
schnell und sicher in alle Teile des Vaterlandes kommen. Im Mittel-
alter war der Handel sehr erschwert, weil es an Kunststraßen mangelte
Lesebuch für Bewerbt. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 25
386 187. Von Deutschlands Binnenhandel und Verkehr.
und die Wege unsicher waren. Gegenden, die fern von den großen
Handelswegen lagen, waren von den Segnungen eines regen Verkehrs
ausgeschlossen.
So herrschte manchmal in einzelnen Gegenden Deutschlands infolge
schlechten Ernteausfalls Teuerung, Not und Elend, während in anderen
Gegenden Überfluß an Nahrungsmitteln vorhanden war. Im einzelnen
wurden derartige Zustände erst beseitigt, als mit der Verwertung der
Dampfkraft und Elektrizität im Verkehr ein schneller Güteraustausch
ermöglicht und auch innerhalb unseres Vaterlandes dadurch das Absatz-
gebiet wesentlich erweitert wurde. So sind nicht nur durch den Auf-
schwung des Weltverkehrs sondern auch durch den sorgsam und bis
ins einzelne gegliederten Binnenhandel Kaffee, Tee, Reis, Gewürze und
andere Erzeugnisse der Tropen, die früher nur Wohlhabende erwerben
konnten, nunmehr Gegenstände des Massenverbrauchs und so Volks-
nahrungs- und Genußmittel geworden.
Der Grad der Entwicklung des Binnenhandels hängt von der
Wegsamkeit eines Landes ab. So ist z. B. der Binnenverkehr in Nor-
wegen trotz der neuzeitlichen Verkehrsmittel nicht hoch entwickelt, weil
die Landesnatur mit ihrer Unwegsamkeit in dieser Beziehung große
Schwierigkeiten macht. Das Deutsche Tiefland dagegen zeigt sich für
die Anlage eines viel verzweigten Kunststraßennetzes recht günstig und
ähnlich ist es auch mit den südlichen Hochländern.
Von der höchsten Bedeutung für den Binnenverkehr sind die Wasser-
straßen, an denen Deutschland sehr reich ist.
Der Rhein würde die wichtigste Wasserstraße sein, wenn sein
Mündungsgebiet nicht in fremden Händen läge. So aber nimmt er
trotz seiner für den deutschen Binnenhandel so günstigen Stromentwick-
lung immer erst die zweite, ja nach der Anzahl der Fahrzeuge sogar
erst die dritte Stelle unter den deutschen Strömen ein.
Die Ems bleibt ziemlich eisfrei und gestattet bei ihrem Wasser-
reichtum eine rege Kahnschiffahrt. An die Ems schließt sich das große
ostfriesische Kanalsystem an, welches größtenteils durch die Entwässerung
von Torfmooren hervorgerufen worden ist und dem Torfhandel und
Ortsverkehr dient. Die Weser ist zeitig eisffei und bleibt in manchen
Wintern immer zugänglich. Dampfer gehen auswärts bis Münden.
Sobald die begonnene Schiffbarmachung der Fulda zwischen Münden
und Kassel vollendet sein wird, fahren die Handelsschiffe bis Kassel.
Die Elbe ist von allen deutschen Strömen für den Binnen-
handel am wichtigsten. Ihre Schiffbarkeit beginnt mit dem Einfluß der
Moldau. Der bedeutendste Flußhafen an der Elbe ist Magdeburg.
188. Der Außenhandel des Deutschen Reiches.
887
Von ihren Nebenflüssen ist die Havel selbst für große Flußschiffe und
Dampfer fahrbar. Die Oder ist der bedeutendste deutsche Strom des
Ostseebeckens und wetteifert hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für den deutschen
Binnenhandel mit dem mächtigen Rheinstrome. Bei Ratibor wird sie
für kleinere, bei Breslau für größere Flußschiffe fahrbar; Seeschiffe
gelangen bis Stettin. Die Schiffbarkeit der Donau beginnt bei Ulm,
die Dampfschiffahrt wird aber jetzt nur mehr von Regensburg an betrieben.
Der Verbesserung der Flußläufe (Korrektion) zum Zwecke des Handels
und Verkehrs sowie der Verbindung der einzelnen Flüsse untereinander
durch Kanäle wird in neuester Zeit besondere Sorgfalt zugewendet.
Das wichtigste Beförderungsmittel des neuzeitlichen Binnenhandels
sind die Eisenbahnen. Das deutsche Eisenbahnnetz weist eine große
Anzahl von Knotenpunkten auf. Seit 1871 entstanden hauptsächlich
solche Linien, welche die großen Mittelpunkte des Handels unmittelbar
miteinander verbinden. Das Eisenbahnwesen Deutschlands hat jetzt das
seiner Nachbarländer überflügelt, so daß Deutschland unter den euro-
päischen Staaten in dieser Beziehung fast die erste Stelle einnimmt. Die
dichtesten Bahnnetze sind im Deutschen Tieflande mit dem Knotenpunkt
Berlin und im Rheingebiet mit den Knotenpunkten Düsseldorf, Cöln,
Frankfurt a. M. und Straßburg; im südöstlichen Deutschland bilden
München und Nürnberg wichtige Mittelpunkte des Verkehrs.
Zu den Verkehrsmitteln gehören auch das Post-, Telegraphen- und
Telephonwesen. Den gewaltigsten Aufschwung nahm das Postwesen seit
der im Jahre 1874 auf Betreiben des deutschen Generalpostmeisters
Or. v. Stephan erfolgten Gründung des Weltpostvereins, dessen Aufgabe
es ist den Weltpostverkehr auf alle Weise zu fördern und zu erleichtern.
In Bezug auf das Telegraphenwesen steht Deutschland in Europa
an erster Stelle; in der Ausbildung und Anwendung des Telephons
aber übertrifft es alle Länder der Erde. Nach Tromnau.
188. Iler Außenhandel des Deutschen Hleiches.
Die hervorragende Stellung des Deutschen Reiches im Welthandel
beruht zum großen Teil auf seinen mannigfachen und teilweise großartigen
Industriebetrieben. Sie liefern die verschiedensten Gegenstände zur Ausfuhr,
müssen aber ihre Rohstoffe größtenteils aus dem Anslande beziehen, während
das Reich an Rohstoffen fast nur Kochsalz und Kohlen ausführt.
An Erzeugnissen der Landwirtschaft bleibt die Ausfuhr hinter der Einfuhr
ungeheuer zurück. Deutschland kauft Getreide besonders in Rußland, Österreich-
Ungarn und den Niederlanden, in Nordamerika und Ostindien (Weizen);
seine Getreideausfuhr ist verschwindend klein. Auch an Vieh und Fleisch
25*
388
188. Der Außenhandel des Deutschen Reiches.
deckt Deutschland seinen Bedarf nicht. Es bezieht vom Auslande Pferde
(fast aus allen Nachbarländern), Rindvieh (aus Dänemark, Österreich-Ungarn),
Speck, Schmalz, Rauchfleisch und Fleischextrakt (besonders aus Amerika). Die
Viehausfuhr erstreckt sich hauptsächlich auf Schweine und Schafe. Eine große
Einfuhr von Heringen findet aus England, Skandinavien und den Nieder-
landen statt.
Auch der deutsche Wald befriedigt nicht alle Bedürfnisse der Industrie.
Bau- und Nutzholz wird aus Österreich-Ungarn, Rußland und Skandinavien
eingeführt; ausländische Hölzer für den Eisenbahn- und Schiffbau sowie die
Möbelindustrie liefern Mittelamerika, Mexiko, die Antillen (Bau- und Gelb-
holz, Mahagoni, Palisander, Zedern) und Südamerika (Quebrachaholz,
Ebenholz, Mahagoni) sowie Ostindien und die ostasiatischen Inseln (Blauholz.
Ebenholz, Sandel-und Tiekholz); dem gegenüber steht eine geringe Ausfuhr
besonders nach Westen.
Das Ergebnis des Bergbaus gestattet eine bedeutende Ausfuhr. Die
Einfuhr englischer Steinkohlen und böhmischer Braunkohlen wird durch eine
ganz bedeutende Steinkohlenausfuhr nach den westlichen Nachbarländern sowie
nach Rußland, der Schweiz und Österreich-Ungarn überwogen. Salz wird
besonders nach Belgien und den Niederlanden, der Schweiz und Österreich-
Ungarn ausgeführt. Die Einfuhr an Erzen (Eisenerzen aus Frankreich, den
Niederlanden, der Balkanhalbinsel) übertrifft die Ausfuhr an Wert, wenn sie
auch an Gewicht hinter ihr zurückbleibt, da Deutschland viele wertvolle
Metalle vom Auslande beziehen muß (z. B. Zink aus Ostasien, Großbritannien,
Österreich-Ungarn).
Kolonialwaren (Kaffee, Tee, Zucker, Kakao, Reis, Gewürze, Tabak),
Südfrüchte, Wein und feine Spirituosen sowie Petroleum bezieht das Reich
fast nur vom Auslande. Amerika, Indien und Ostasien liefern die Kolonial-
waren hauptsächlich über Großbritannien und die Hansastädte, teilweise auch
über Rußland. Deutschland hat jedoch eine großartige Ausfuhr von Zucker,
namentlich nach England und den überseeischen Gebieten. Südfrüchte (Zitronen,
Orangen, Weintrauben, frisch und getrocknet, Datteln, Feigen) kommen besonders
aus den Mittelmeerländern. Petroleum wird aus Rußland und den Ver-
einigten Staaten eingeführt. Weine kommen aus Frankreich, Italien, Österreich-
Ungarn, der Pyrenäen-Halbinsel und einigen Gegenden fremder Erdteile.
Ausgeführt wird wenig Wein, aber viel Bier, vor allem aus Bayern (nach
allen Erdteilen und in Europa besonders nach Belgien und Frankreich).
Die Rohstoffe der Webeindustrie kommen aus Australien und Südamerika
(Schaf-, Lama- und Alpakawolle), Rußland (Flachs), England, den Ver-
einigten Staaten und Ostindien, der Schweiz und Italien. Ein Hauptmarkt
für die Erzeugnisse dieser Industrie sind die Vereinigten Staaten, außerdem
die deutschen Kolonien und andere überseeische Gebiete. Die Fabrikate der
deutschen chemischen Industrie finden großen Absatz in allen Nachbarländern
sowie in den Vereinigten Staaten und Asien, ebenso deutsches Papier und
188. Der Außenhandel des Deutschen Reiches. 389
deutsche Pappe. Sehr bedeutend ist die Ausfuhr in fertigen Lederwaren,
besonders in Handschuhen. In den Gegenständen der Maschinenindustrie ist
die Ausfuhr bedeutender als die Einfuhr. Fast alle europäischen Länder
beziehen von Deutschland Nähmaschinen, landwirtschaftliche Maschinen und
Lokomotiven; groß ist auch die Ausfuhr von Musikinstrumenten; die Einfuhr
von Taschenuhren (aus der Schweiz) überwiegt die Ausfuhr. Gegenstände
der Metallwarenindustrie finden in den Nachbarstaaten und der Union Absatz.
Da in vielen Gegenständen die Ausfuhr steigt, so ist damit ein kräftiger
Trieb zur Weiterentwicklung der deutschen Industrie gegeben. Derselben ist
durch den hoch entwickelten Handelsverkehr ein weites Absatzgebiet geöffnet.
Zu dem ungeheueren Aufschwung, den Deutschlands Weltverkehr genommen,
haben die deutschen Dampfergesellschaften (so der Norddeutsche Lloyd in
Bremen) wesentlich beigetragen. Auch der Weltpostverein hat auf denselben
großen Einfluß geübt.
Mit den deutschen Kolonien und anderen überseeischen Ländern sind un-
mittelbare Dampferlinien hergestellt worden, wodurch ein regelmäßiger Post-
verkehr stattfindet. Kein Land der Erde erfreut sich eines so lebhaften telegra-
phischen Verkehrs mit dem Auslande wie Deutschland. Eine hervorragende
Aufgabe Deutschlands auf dem Gebiete der Verkehrspolitik ist deshalb auch
die Mitwirkung besonders bei Herstellung eines unterseeischen Kabelnetzes.
Von den internationalen Kabeln sind bisher nur wenige in deutschem Besitz,
die meisten Kabel gehören den Engländern. Die Bedeutung dieser Tatsache
ist erst in letzter Zeit anderen Staaten recht fühlbar geworden durch die
jüngsten kriegerischen Ereignisse in Südafrika und Ostasien. Seitdem haben
auch die Deutschen, Franzosen u. a. sich mehr bemüht eigene, von England
unabhängige Kabelvcrbindungen zu schaffen und das große englische Kabelnetz
durch ein nichtenglisches zu ergänzen.
Seit dem Jahre 1897 besitzt Deutschland ein selbständiges Kabel von
Emden nach Vigo in Spanien und von hier über die Azoren durch den
Atlantischen Ozean nach Neuyork. Der riesenhafte Verkehr machte aber bald
die Legung eines zweiten Kabels notwendig. Dieses wurde in den Jahren
1903 und 1904 von Borkum unmittelbar über die Azoren und von dort
nach Neuyork geführt. Hierdurch ist Deutschland wenigstens für den ameri-
kanischen Telegraphenverkehr vollständig unabhängig von ausländischen Kabel-
linien. Gleichzeitig wurden in Ostasien in Verbindung mit amerikanischen
und niederländischen Kabelunternehmungen Linien eröffnet, welche für den
chinesischen Kabelverkehr eine von England unabhängige Verbindung mit
deutschen, holländischen und amerikanischen Kolonien einerseits und für diese
anderseits den Anschluß an das amerikanische Kabelnetz durch den Großen
Ozean herstellen. Das deutsche Kabelnetz nimmt jetzt eine immer weitere
Ausdehnung an; jedes neue deutsche Kabel ist ein neuer Schritt vorwärts
in der Verbreitung deutscher Kultur und deutschen Gewerbfleißes.
Nach Brust und Berdrow.
390
189. Die Schweiz.
189. Sie Schweiz.
Die Schweiz umfaßt das Mittelgebiet der Alpen, welche es zum
höchsten Land Europas machen. Sie ist kein durch bestimmte Naturgrenzen
abgeschlossenes Ganze; ihr Hauptteil, das Gebiet des Hochrheins, gehört
vielmehr in natürlicher Beziehung wie hinsichtlich des Volkstums zu Deutsch-
land. Der Gebirgskuoten des Gotthard bildet für das Gebirgs- und Ge-
wässersystem der Schweiz einen Mittel- und Ausgangspunkt; eine Linie
von der Nordwestecke bei Basel gegen diesen Punkt scheidet die Ost- und
Westschweiz, 83oit ihm aus ziehen in der Richtung von Nordost nach Süd-
west die beiden Haupttäler der Schweiz, nämlich die des Rheins und der
Rhone. Beide zeigen im ganzen und im einzelnen überraschende Ähnlich-
keiten; sie sind auf der Südseite eingefaßt von der Uralpeuzone der Rätischen,
Lepontischen und Penninischen Kette, auf der Nordseite von den größten-
teils aus Kalk aufgebauten Glarner, Vierwaldstätter und Berner Alpen.
Wie der größte Teil der Schweiz dem Rheingebiet angehört, so ist denn
auch dies ganze Quelland des Rheins sowie das Rhonetal im oberen Wallis
und der größere Teil des Jnntales im Engadin von Deutschen bewohnt.
Eine Art Naturgrenze für die Schweiz bilden die Läuterungsbecken der
Flüsse: der Boden- und Genfer See; außerdem ist sie von Italien durch
höchste Teile der Zentralalpen geschieden. Die gleichlaufenden Wälle des
Jura trennen die Schweiz von Frankreich.
Der zwischen dem Boden- und Genfer See gelegene Landstrich, etwa
ein Drittel des Ganzen, kann als ebene oder flache Schweiz bezeichnet
werden. Zwischen Jura und Alpen gelegen, bildet sie, ein durch Hügel-
ketten gegliedertes Gelände, den Anfang der Schwäbisch-Bayerischen Hoch-
ebene. Sie unterscheidet sich aber von letzterer durch südlichere, nach Westen
geneigte Lage, durch geringere Seehöhe, milderes Klima und größere
Gliederung (Hügel und tief eingeschnittene Flußtäler). Die Schweizerische
Hochebene ist die Kornkammer für das Gebirge, indenr hier der Ackerbau
zwar mit Anstrengurig, aber Erfolg betrieben wird; sie ist zugleich die Gegend
der Städte und der städtischen Gewerbe mit einer Bevölkerung, die im
allgemeinen in gewerblicher und kaufmännischer Tätigkeit den Gebirgs-
bewohnern voraus ist. In der Alpengegend, deren Bevölkerung oft durch
Gletscher und Hochgebirgsketten voneinander geschieden sind, kann Land-
bau nur dürftig betrieben werden; Städte- und Fabrikanlagen fehlen hier
fast durchaus und bildet die Viehzucht den Haupterwerbszweig.
Die schöne Schweiz ist von der Natur gerade nicht mit Reichtümern
bedacht. Eisen ist wenig vorhanden (zwei Fünftel des Bedarfs), Kohlen
noch weniger. Obst hat sie in Fülle, folglich auch Obstmost; aber ihre Weine
decken bei weitem nicht den Bedarf. Auch das Getreide, das die zum Acker-
bau geeigneten Landstriche hervorbringen, ist viel zu wenig zur Ernährung
189. Die Schweiz.
391
der jetzigen Bevölkerung. Sie muß gar vieles vom Auslande beziehen.
Mit Wiesen- und Alpenmatten gesegnet, hegt sie einen schönen und zahl-
reichen Viehstand; alljährlich werden mehrere tausend Kühe und viele
Zuchtstiere in die Fremde verkauft. Der durch die Alpenwirtschaft gewonnene
Käse bildet einen bedeutenden Ausfuhrartikel.
In mehreren Kantonen, besonders in St. Gallen, Zürich und Außer-
rhoden, Basel und im Aargau, auf und am Jura hat sich immer mehr
ein industrielles Leben entwickelt, das gegenwärtig auf einer Höhe steht,
die Erstaunen erregt.
Nennen wir zuerst die Uhrenfabrikation. Ihre Hauptsitze sind in La
Chaux de Fonds, Le Locke, im Traverstal sowie in andern Juratälern,
besonders auch in Genf, „der Hochschule der Uhrmacher". Der europäische
Markt ist für sie längst zu eng. Gens betreibt ferner, teils mit der Uhr-
macherei verbunden teils als selbständige Industrie auftretend, die Ver-
fertigung von Gold- und Silberwaren, wodurch genannte Stadt zu einer
Art „Klein-Paris" wird. Die Herstellung von Musikdosen, ein Neben-
zweig des Uhrgeschäftes,-ist fortdauernd in Blüte; ihre Fabrikate gehen
bis nach China. — Gleich wichtig ist die Verarbeitung der Baumwolle,
der Hauptindustriezweig der Schweiz; sie hat ihre Hauptsitze in der
Nordostschweiz. Ihr schließt sich in Appenzell und St. Gallen die Weiß-
stickerei und Musselinfabrikation an. Zu den Spinnereien und Webereien
kommen noch die Anstalten zum Färben, Bleichen, Zeugdrucken u. s. w.
— Auch das Korbflechten nimmt viele Hände in Anspruch; man verbindet
dabei mit dem Roggenstroh Manila, H^nf, Roßhaar, Seide und Bastfaser.
Wichtiger ist die Seidenmanufaktur, die in den letzten Jahrzehnten überaus
bedeutend geworden ist. Doch muß, wie die Baumwolle und das Metall
zu den Uhren, so auch größtenteils die rohe Seide vom Auslande be-
zogen werden und dennoch ist der Gewinn außerordentlich.
Von höchster Bedeutung für die ganze Schweiz ist jedoch die Fremden-
industrie, bedingt durch die Naturreize des Landes. Nirgends in der Welt
dürfte diese Industrie einen so großen Teil am Erwerb des Volkslebens
haben wie in der Schweiz, nirgends wird sie aber auch mit solcher Voll-
kommenheit betrieben.
Der regen wirtschaftlichen Betätigung ist die großartige Ausbildung
des Verkehrswesens zu danken. Ungeachtet ihrer vielen und hohen Gebirge
besitzt die Schweiz ein so dichtes Eisenbahnnetz wie außer Belgien, Eng-
land und Deutschland kein andres Land der Erde. Zu den Bahnen ge-
sellen sich wohleingerichtete Dampferlinien auf allen größeren Seen.
Rühmlich bekannt ist das Schweizer Post-, Telegraphen- und Telephon-
wesen, wie auch der Schweizer Ingenieur sich eines glänzenden Rufes
in der ganzen Welt erfreut.
Nach Schacht-Nohmeder.
392
190. Wien.
190. Wien,
Wien hat eine in jeder Beziehung bedeutungsvolle Lage. Es ist
erbaut am Berührungspunkte dreier Völker: der Deutschen, Slaven
und Magyaren; am Kreuzungspunkte zweier weitreichender Verkehrs-
wege: der Donau und der gewaltigen Schienenverbindung zwischen dem
Nordpunkte des Adriatischen Meeres und den norddeutschen Stromge-
bieten. Wien wurde durch diese bevorzugte Lage nicht nur der mächtige
Mittelpunkt des osteuropäischen Verkehrs sondern blieb auch stets, von
den Zeiten der Kreuzzüge bis auf unsere Tage, das feste Bollwerk des
Westens gegen östliche Barbaren, an welchem dreimal (1526, 1529,
1683) die Schrecken verbreitende Macht der Türken scheiterte. — Die
Donau teilt sich bei Wien in mehrere Arme und bildet einige Inseln.
Man hat im Jahre 1868 den in viele Arme gespaltenen, weitab von
der Stadt und nutzlos für dieselbe dahinfließenden Strom in ein ge-
meinsames, der Residenz nahe gelegenes Bett gefaßt. So zweigt sich
nun oberhalb der Stadt der Donaukanal ab und trennt die innere
Stadt von der tiefer liegenden Leopoldstadt, die somit nebst dem Prater
und der Brigittenau eine große, zwischen dem Donaukanal und dem
Strome liegende Insel bildet. Unterhalb der Stadt vereinigt sich der
Donaukanal wieder mit dem Hauptstrome. In den Kanal ergießt sich
das 31/2 Meilen von der Stadt im Wiener Walde entspringende Flüß-
chen Wien. — Um zugleich seine Residenz zu verschönern und aus
Rücksicht auf die Gesundheit und Bequemlichkeit der Einwohner verord-
nete Kaiser Franz Joseph I. (1857) zum Zweck einer besseren Ver-
bindung der inneren Stadt mit den sie umgebenden Vorstädten die
Verwendung des Glacis zu Bauplätzen, sowohl für Privatbauten als
für Staatsbauten. So entstand denn in wenigen Jahren die großartige
fast 60 m breite Ringstraße, welche an Pracht der Privathäuser, Park-
anlagen und monumentalen Bauten die Pariser Boulevards überbietet.
Unter den öffentlichen Gebäuden ragt die sog. Burg oder der von der
kaiserlichen Familie bewohnte Palast ganz besonders durch Größe her-
vor, darf aber vielleicht am wenigsten auf Schönheit Anspruch machen;
denn es ist ein in verschiedenen Zeiten entstandener Massenbau von Ge-
bäuden sehr verschiedenen Geschmacks und ohne übereinstimmenden Zu-
sammenhang. Hoch über das Häusermeer empor ragt der Stephans-
turm in Gestalt einer durchbrochenen Pyramide, 134 m hoch, das
höchste Bauwerk in Österreich. Weithin ist des Turmes Spitze sichtbar.
Im Osten der Stadt liegt eine bedeutende Donauinsel, ursprünglich
ein Auland wie so viele Inseln der Donau, wo sie Flachland durch-
190. Wien.
393
strömt, aber im Laufe der Zeit zu einem reizenden Gemisch von Wiese
und Wald, von Park und Tummelplatz, von bewegtestem Leben und
stillster Einsamkeit geworden. Viele Wiener mag es geben, welche die
Schönheiten ihres Praters nicht kennen, wenn er auch noch so besucht
ist; denn so betäubend das Gewimmel an einigen Stellen, so einsam
ist es an anderen; man könnte wähnen, wenn man die Wiesen und Ge-
hölze entlang schritte, müsse man eher zu einer stillen Meierei gelangen
als zu der riesenhaften Residenz einer großen Monarchie; aber gerade
die riesenhafte Residenz braucht einen riesenhaften Garten, in den sich
ihre Bevölkerung ausgießt und der doch noch Teile genug leer läßt für
den einsamen Wanderer und Beobachter.
Eine Stadt wie Wien muß man auch von außen überschauen.
Den schönsten Überblick derselben genießt man vom Wiener Berge
aus. Aufgetan vor unseren Augen liegt die Tiefe wie ein Tempel,
über dem sich der blaue Himmel als Decke wölbt. Glänzend und
funkelnd breitet sich die Stadt aus; ihr zur Seite schimmern die
Silberfluten der Donau und die grünenden, blühenden Anen; die Ferne
umfaßt ein Alpengurt und an den näheren Bergen hängen Wälder
wie grünes Moos. Man übersieht die Residenzstadt mit einem Blicke
in ihrer ganzen Herrlichkeit und Pracht, man sieht sie in der Fülle
ihres Lebens.
Und dies ist ganz bedeutend. Sieben Bahnen, deren Schienen-
stränge mit ihren weitverzweigten Ausästungen alle Teile des Reiches
durchziehen, münden in Wien. Daneben herrscht auf der Donau und
dem Donaukanal reges Leben. Denn die Stadt bildet den Mittelpunkt
des Handels, von dem aus sich der Warenverkehr im Innern der
Monarchie entwickelt und insbesondere die Mode- und Luxusartikel be-
zogen werden. Auch im Auslande hat sich die Wiener Industrie be-
deutende Absatzgebiete erobert. Im Verein mit den Vororten fabriziert
Wien alle Arten von Baumwollwaren, Seidenzeugen, Gold- und
Silberarbeiten. Schlosser-, Galanterie- und Tischlerwaren, feuerfeste
Kassen und Schränke, Wagen, Klaviere, Handschuhe u. s. w. Aus-
gezeichnet ist auch die Bierbrauerei. Mächtig entwickelt sich das Geld-
und Kreditwesen, dessen Mittelpunkt die Börse ist. Dabei herrscht
in der schönen Donaustadt Frohsinn und heiteres, geselliges Leben;
denn sie ist auch der Sammelpunkt der gesellschaftlichen Kreise des
ganzen Landes. Zugleich ist Wien der politische und durch seine groß-
artige Universität der geistige Mittelpunkt der gesamten Monarchie.
394
191. Frankreich.
191. AranKreich.
Frankreich zerfällt seiner natürlichen Beschaffenheit nach in zwei
Teile. Das Land nördlich der Loire und der Berge von Auvergne gehört
schon dem Norden und nähert sich dem Klima Deutschlands und Eng-
lands; das Land südlich der Loire bis an das Mittelmeer und die
Pyrenäen hat bereits die Natur des Südens und doch ist es noch nicht
ganz Südland wie der größte Teil Italiens und Spaniens. Das
Deutschland benachbarte Frankreich bildet seiner Lage nach das Über-
gangsland vom romanischen zum germanischen Europa. Romanen
und Germanen haben sich hier vermischt. Eine solche Doppelnatur
seiner eigenen Gesittung hat dieser sowohl in den Ländern des Südens
als in denen des Nordens leichten Eingang verschafft. Daher war
Frankreich in den letzten Jahrhunderten neben seinem bedeutenden Ein-
fluß in den politischen Verhältnissen auch zu einer gewissen geistigen
Weltherrschaft über Europa gelangt; seine Sprache war lange Zeit die
Sprache der Gebildeten der verschiedensten Völker.
Es springt sofort in die Angen, daß Frankreichs Flußsysteme höchst
günstig für den Binnen- und Außenverkehr angeordnet sind. Nach ver-
schiedenen Richtungen laufend, setzen sie das Innere mit dem Atlantischen
Ozean und dem Mittelmeere sowie den Rheinlandschaften im Nordosten
in leichte Verbindung. Da ihre Wasserscheiden überall Lücken und Sen-
kungen darbieten, so konnten die einzelnen Flüsse leicht untereinander
in Verbindung gesetzt werden. Infolge der früh erlangten politischen
Einheit des Landes ist dies großartige, ganz Frankreich überspannende
Kanalnetz schon längst vollendet, während wir Deutsche erst in neuerer
Zeit dem Kanalbau erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden. Doch hat die
maßlos betriebene Entwaldung der Berge einen sehr ungünstigen Ein-
fluß auf Wasserstand und Binnenschiffahrt ausgeübt. Mächtige Über-
schwemmungen infolge der Sommergewitter und zunehmende Versandung
der Flußbette werden überall beklagt.
In Bezug aus den natürlichen Reichtum seines Bodens, den hohen,
alle Schichten der Bevölkerung weit gleichmäßiger denn anderswo durch-
dringenden Wohlstand nimmt Frankreich unbestritten die erste Stelle
unter den europäischen Staaten ein. Deshalb verdient dieses Land,
welches freilich nicht die vielgestaltige Mannigfaltigkeit Spaniens und
Italiens besitzt, mit vollstem Rechte den Namen „das schöne Frank-
reich". Es ist reich an herrlichem Wein, an Getreide und Obst. Man
zieht im Süden schon den Ölbaum und einzelne Südfrüchte, auch den
Maulbeerbaum mit der Seidenraupe. — Da es die mitteleuropäische
Zone mit der des Mittelmeeres in sich vereinigt, so ist Frankreichs
395
192. Italien.
Pflanzenwelt sehr reich. Man pflegt das Land in die Zone des Ge-
treides (Nordfrankreich), des Maises (Mittelfrankreich) und der Kastanie,
der Feige und des Ölbaumes (Südfrankreich) einzuteilen; die Hoch-
gebirgspflanzen der Alpen und Pyrenäen hat es mit den übrigen Alpen-
ländern gemeinsam.
Desgleichen stimmt seine Tierwelt im ganzen mit der von Mittel-
und Südeuropa überein und zeigt Unterschiede nur darin, daß Nord-
frankreich mehr Rinder und Schafe zählt als Südfrankreich, daß die
Pferdezucht im allgemeinen dem Bedarf nicht genügt, Wölfe und
Wildschweine noch nicht ausgerottet sind und im Süden Frankreichs
Bienen (Honig von Narbonne) und noch mehr die Seidenraupen eifrige
Pflege finden. Das Meer liefert reichlichste Ausbeute an Fischen (Thun-
fischen, Heringen, Sardinen) und an Seesalz. — Auch der Boden birgt
große Schätze an Eisen, Blei, Stein- und Braunkohlen, Erdharz,
Schiefer und dergleichen. Dazu kommen endlich noch zahlreiche, in
allen höheren Gebirgen sprudelnde, sehr wirksame Mineralquellen. Be-
schäftigt der Ackerban auch noch die Mehrzahl der Bevölkerung, so ist
doch Frankreich im Lauf unserer Zeit auch ein wichtiger Industrie-
staat geworden. Der Zahl der Baumwollenspindeln nach ist Frankreich
das zweite Land Europas und die Wolleverarbeitung liefert ansehn-
liche Ergebnisse. Vorzügliches leistet der Gewerbefleiß in Luxuswaren.
Unübertroffen ist das Kunstgewerbe der Hauptstadt des Landes und
die Pariser Erzeugnisse, namentlich die der Mode, gehen gleich der Seide
von Lyon, dem Öl aus der Provence und den Weinen von Bordeaux
und der Champagne durch die ganze Welt. Nach Buchholz.
192. glasten.
Italien, die mittlere der drei Halbinseln Südeuropas, ist an allen Seiten
durch Meere oder Hochgebirge von dem übrigen Europa getrennt. Trotz-
dem hat es durch seine Lage im Mittelpunkte der Lander, welche das
Mittelineer umgeben, eine völkerverbindende Weltstellung. Diese benutzte
es schon im Altertum sowohl zur Unterhaltung eines lebhaften Handels-
verkehrs mit den Nachbarländern als zur Begründung einer Herrschaft über
dieselben. Der Vorzug jener Lage wird jedoch bedeutend geschnrälert durch
die geringe Küstenentwicklung und den Mangel an geräumigen und sicheren
Häfen. Daher ist die Bevölkerung Italiens im Altertum im ganzen mehr
eine ackerbauende als eine handeltreibende gewesen. Auf der Italischen Halb-
insel ist die breitere und fiuchtbarere Westküste von jeher weit mehr der Sitz
der Kultur und der Ausgangspunkt des Handelsverkehrs als die schmale,
einförmige Ostküste ohne Längentäler, ohne tiefe Hafenbuchten und in der
Nähe liegende Inseln.
396
192. Italien.
Italien wird im Norden vom übrigen Europa durch die Alpen getrennt,
die sich in einem Halbkreise um Norditalien herumziehen. Im Süden der
nach Italien steil abfallenden Alpenketten breitet sich die fruchtbare Lombar-
dische Ebene aus, welche an vielen Stellen gegen das Adriatische Meer
durch Dämme geschützt werden muß. Sie erhebt sich südwestlich sanft zum
Apennin, welcher die Gestalt der ganzen Halbinsel bestimmt. Außer der
Lombardischen Ebene finden sich ebene Striche auf der Westseite Italiens am
untern Arno, sodann weiter nach Süden die Campagna di Roma mit den
Pontinischen Sümpfen und endlich bei Neapel die Campagna Felice, an deren
Südseite sich der Vesuv erhebt. Auf der Ostseite ist die Apulische Ebene die
bedeutendste.
Italien hat nur ein einziges größeres Flußsystem, das des Po, der die
gesegnete Lombardische Tiefebene durchströmt. Er empfängt von den Alpen
eine Reihe von Zuflüssen, die zum Teil ihr Gerölle in den herrlichen nord-
italischen Alpenseen abgelagert haben.
Das schmale Apenninenland gönnt an keiner Seite größeren Gewässern
Raum zur Entwicklung. Selbst Arno und Tiber, die bedeutendsten
Apenninenflüsse, sind nur mit kleinen Schissen befahrbar. In den Küsten-
strichen sind die Flüsse von Maremmen begleitet, unheimlichen, fieberglühen-
den Sumpfniederungen. Die Fieberlust, die sich hier entwickelt, sucht man
jetzt zu bekämpfen durch massenhaftes Anpflanzen des australischen blauen
Gummibaumes, der befähigt sein soll das Sumpfwasser durch Aufsaugen
unschädlich zu machen.
Mit dem milden Klima des Südens gesegnet, von lauwarmen Lüften
angehaucht, trägt der Pflanzenwnchs nahezu tropische Fülle und Form. Eichen-
und Kastanienwälder bekränzen die Gipfel der Berge und weiter abwärts
grünen Olivenwäldchen, blühen und duften Orangenhaine, wallen Getreide-
felder, prangen Weingelände und Gärten mit den mannigfachsten, reich-
behangenen Fruchtbänmen laden zur Ruhe und zum Genusse ein.
Prächtige Städte, stattliche Dörfer, malerische Villen, zierliche Kapellen,
umfangreiche Klöster und erinnerungsreiche Ruinen des Altertums und Mittel-
alters bedecken weit und breit dieses herrliche Land.
Da der Boden überall sehr fruchtbar und ergiebig ist, so bildet die
Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle der Bevölkerung, während die Vieh-
zucht nur in der Poebene in größerer Blüte steht. Durch vorzügliche Kultur
und treffliche Bewässerung des Bodens zeichnen sich besonders die Poebene
und Toskana aus. Der Ackerbau liefert alle Getreidearten, besonders Reis
und Mais, in großer Menge zur Ausfuhr. Von den Handelspflanzen wird
Hanf als Ausfuhrartikel gebaut. In der Seidenraupenzucht ist Italien das
erste Land von Europa; ebenso geht es in der Kultur des Olivenbaumes
allen übrigen Staaten Europas voran. Der Weinbau ist sehr umfangreich
und liefert zum Teil hochgeschätzte Sorten. Die Waldungen bieten in den
zahlreich vertretenen, wertvollen Nutzhölzern für die Industrie ein ungemein
192. Italien.
397
reiches Feld, das aber bis jetzt noch nicht genügend ansgebeutet wird. Der
Bergbau stand vor alters in großer Blüte, geriet aber im Laufe der Zeiten
sehr in Verfall und bildet auch heute, wenn man von dem Salinenbetrieb
und der Schwefelgewinnung absieht, einen minder wichtigen Teil der ita-
lienischen Volkswirtschaft. Von nicht geringer Wichtigkeit ist die See-, ins-
besondere die Korallenfischerei.
Die Industrie Italiens nimmt zwar nicht den ersten Rang in Europa
ein, doch ist sie in einzelnen Zweigen immerhin bedeutend genug und hat in
neuerer Zeit besonders in Toskana und Norditalien einen lebhaften Auf-
schwung genommen. Die Wagenfabrikation ist in Mailand von hervor-
ragender Bedeutung. Im Schiffbau nimmt Italien unter den Seestaaten
einen sehr ehrenvollen Rang ein. Musikinstrumente werden in allen größeren
Städten hergestellt; insbesondere sind die Streichinstrumente von Cremona
weltberühmt und Darmsaiten werden nirgend so gut verfertigt wie in den
Abruzzen. In großer Blüte steht in Rom, Neapel, Mailand, Genua uud
Venedig die Herstellung von Gold- und Silberartikeln, wie die Erzeugung
von Bronzewaren ein alter Zweig des italienischen Gewerbefleißes ist.
Italien besitzt ferner großen Reichtum an Marmor, der in Massa und
Carrara in den schönsten Farben und Zeichnungen gebrochen wird. Durch
Alabasterbrüche und Herstellung von Alabasterwaren zeichnet sich der Bezirk
Volterra in der Provinz Pisa aus. Einer Weltberühmtheit erfreut sich die
Erzeugung von Kameen und Mosaiken in Rom, Neapel und Florenz sowie
die Herstellung von Korallenwaren in denselben Städten, dann in Livorno
und Genua. Auch die Industrie in Tonwaren wird in Italien von jeher
mit großem Erfolg betrieben; Terrakotten werden in der geschmackvollsten
Weise und in bewundernswerten Formen hergestellt. Hervorzuheben ist von
Venedig und der Insel Murano die Fabrikation von Schmelz- und gewickel-
ten Glasperlen, die nach allen Weltteilen ausgeführt werden. Aus den
Lagunen Toskanas gewinnt man Borsäure; Weinstein- und Zitronensäure
werden jährlich in großen Mengen ausgeführt. Die Seifenfabrikation und
die Erzeugung von Krapprot ist ebenfalls sehr bedeutend. Auf dem Gebiete
der Industrie in Nahrungsmitteln ist die Mehlerzeugung sowie die Bereitung
von Teigwaren (Makkaroni), von Pökelfleisch und Würsten, auch die Her-
stellung von Likören ganz besonders im Schwünge. Der wichtigste Industrie-
zweig Italiens ist die Seidenindustrie. Die Seidenweberei ist am blühendsten
in Como, Genua, Rom, Mailand und Turin. Ausfuhrartikel sind die Hanf-
gewebe der Provinzen Bologna und Ferrara, wo auch die Seilerei eine
große Rolle spielt. Die Baumwollindustrie ist dem Umfang nach ebenfalls
ein ganz bedeutender Erwerbszweig. Endlich ist die in technischer Hinsicht
sehr vorgeschrittene Papierindustrie und die weltberühmte Strohwaren-
erzeugung, insbesondere die Strohhutfabrikation in Florenz und Umgebung
namhaft zu machen. Der Handel, durch die höchst günstige Lage des Landes
gefördert, ist ein sehr lebhafter und umfaßt in der Ein-, Aus- und Durch-
fuhr einen hohen Wert.
398
193. England.
Von den Städten Italiens spielten schon im Mittelalter das herrlich
gelegene Genua, 'die Lagunenstadt Venedig, das mächtige Mailand, das kunst-
liebende Florenz eine bedeutende Nolle im Handel. Nom dagegen beteiligte
sich im Mittelalter wenig an demselben, während es im Altertum auch hierin
die erste Stelle einnahm. Das heutige Rom, seit 1871 Hauptstadt von ganz
Italien, im Altertum fast nur auf der linken Seite des Tiber auf sieben
Hügeln erbaut, umfaßt jetzt beide Seiten desselben und elf Hügel. Die
Stadt erstand im Mittelpunkt der größten Ebene Mittelitaliens, wo die
letzten Hügel sich an den Tiberufern erheben und wo die Schiffbarkeit des
Flusses für gewöhnliche Zeiten endigt. Reich an geschichtlichen Erinnerungen,
an Bauwerken und Kunstschätzen aus allen drei Zeitaltern der Geschichte
wie keine andere Stadt der Erde, Mittelpunkt der katholischen Kirche, ist
Rom, inmitten der öden, braunen, aber in ihrer Einsamkeit schönen Campagna,
jahraus, jahrein das ersehnte Ziel einer großen Menge von Fremden. Seine
Erhebung zur Hauptstadt des Königreichs Italien verdankt es wesentlich nur
geschichtlichen Erinnerungen wie Athen in Griechenland. Seitdem verändert
übrigens Rom zusehends sein altes Gepräge; denn der starke Zuzug von
Beamten und vielen anderen Bewohnern bedingt eine umfangreiche Bau-
tätigkeit; diese drängt sich um die bisher gemiedenen und geschonten Über-
reste des Altertums und schon manche der herrlichen mittelalterlichen Villen
sind durch einförmige, moderne Häuser ersetzt worden. So droht die „ewige
Stadt" das malerische Gepräge zu verlieren, das sie noch zur Zeit Goethes
zierte. Vor den Toren Roms dehnen sich die Katakomben aus, unter-
irdische Grabstätten, in denen in ältester Zeit die Christen ihren Gottesdienst
feierten.
193. Kngkand.
Schon in der frühesten Zeit wurde in England der Entwicklung
der Volkskraft in gewerblicher Hinsicht große Sorgfalt gewidmet. Lange
vor der Verkündigung des Christentums war das englische Volk mit
dem Gebrauche von Webstoffen, trefflichen Waffen und glänzenden Ge-
schmeiden vertraut geworden, welche von Phönizischen und karthagischen
Seefahrern nach den Britischen Eilanden gebracht oder später von den
Römern dort eingebürgert wurden.
Die Bewohner des Landes tauschten dafür Eisen, Zinn und Wolle
aus und versuchten später selbst Waren, zu welchen die Rohstoffe von
ihnen entlehnt wurden, im eigenen Lande herzustellen. Durch freiwillige
Einwanderung oder wohlberechtigte Heranziehung kunstgeübter Arbeits-
kräfte aus den Jndustriebezirken anderer Staaten hob sich die Gewerb-
tätigkeit ungemein. Mit jedem Jahre wuchs die Zahl der gewerb-
lichen Niederlassungen.
Die wirtschaftlicheu Lebensbedingungen sind aber auch für Groß-
britannien in einer Weise günstig wie bei keinem anderen Land: insulare
193. England.
399
Lage mit reicher Küstenentwicklung, so daß kein Punkt über 120 Irin vom
Meer entfernt liegt, mildes, gleichmäßiges Klima, reiche Niederschläge,
Abwechslung in der Bodengestaltung, zahlreiche schiffbare Flüsse und ein
fruchtbarer, mineralreicher Boden. England hat darum in volkswirt-
schaftlicher Beziehung alle Länder der Erde überflügelt. Die industrielle
Entwicklung des Landes unverwandt im Auge behaltend, haben die
Engländer einen Staat aufgebaut, welcher Länderbesitz in allen Erd-
teilen aufweist und mit dessen Macht, Wohlfahrt und Glanz nicht leicht
ein Staat des Altertums oder der Neuzeit verglichen werden kann. Wie
zur See, so stellten sie auch auf allen Festländern in industrieller Be-
ziehung eine gewisse Herrschaft Großbritanniens her. Maschinen, Dampf
und Freihandel erwiesen sich als unwiderstehlich. Mit ihrer Hilfe ist
England der Spinner, Weber, Schiffbauer, Metallarbeiter, Ingenieur
und Verfrachter für die halbe Welt geworden.
Dieser überlegene Einfluß wurde aber hauptsächlich erst im Laufe
des 19. Jahrhunderts errungen. Nach Beendigung der Napoleonischen
Kriege schien die Kraft des europäischen Festlandes zur Hervorbringung
neuer Gewerbserzeugnisse gelähmt zu sein. Durch die langwierigen
Kriege war das Land vielfach verheert und der Ackerbau aufs tiefste
geschädigt; deshalb suchte man die Landwirtschaft nach Kräften zu
fördern. Gewerbe und Fabriken lagen in beengenden Banden. In
jener Zeit allgemeiner Abspannung gewann England den kaufmännischen
und industriellen Vorsprung. Eine Anzahl verbesserter mechanischer Vor-
richtungen zur Verarbeitung von Rohstoffen wurden durch englische Ge-
schicklichkeit, Beharrlichkeit und kühne Unternehmungslust zur praktischen
Geltung gebracht. Hargreaves Spinn-Jenny, Lees Wirkapparat, Arkwrights
mechanischer Webstuhl, Watts Dampfmotor und Stephensons Lokomotive
spenden den Segen ihrer Erfindungen der Mit- und Nachwelt.
Kolonialbesitz, Ausbreitung der Schiffahrt, billige Kapitalien und
unermeßliche mineralische Bodenschätze erleichterten, förderten und hoben
mächtig die Maschinenindustrie. Mit Beginn der Zeit des Dampfes
wurden die Tiefen des Erdkörpers mit immer mehr steigender Hast
aufgewühlt um Kohle und Eisen in genügender Menge für den Maschinen-
bau und die beflügelten Maschinen aufzubringen. Die Verteilung der
Kohlengebiete über ganz Großbritannien, von denen die wichtigsten Durham,
Northumberland, Jork, Derby, Nottingham und Lancashire sind, er-
möglichte die bequeme und billige Herbeischaffung dieses wertvollen
Brennstoffes zum Betriebe. Diese Bezirke sind naturgemäß die Haupt-
sitze der Industrie. Am innigsten ist aber diese Vereinigung in der
„schwarzen Gegend" von Staffordshire.
400
194. Die Wolga.
Die Schiffswerften standen ebenfalls im Dienste der Industrie.
Die ungeheuersten Dampfschiffe wurden ausgerüstet um den Werkstätten
in immer größerer Menge Rohstoffe zuzuführen und die in denselben
erzeugten Stoffe nach den Weltmärkten zu bringen. Die englische
Industrie, welche anfänglich Kunstfertigkeit und Geschmack von anderen
Völkern erlernen mußte, fand in den Maschinen den mächtigen Hebel
allen auf dem Weltmärkte den Rang abzulaufen. Mit Hilfe des
Dampfes hatten sich die Arbeitskräfte des Landes gleichsam um Millionen
Hände vermehrt. Auf Grund dieser geänderten Verhältnisse entwickelte
sich die Massenherstellung der Gewerbserzeugnisse. Die einzelnen Industrie-
zweige vereinigten sich an gewissen Hauptpunkten (Lancashire, Leeds,
Birmingham, Sheffield, London) und riefen ein ungeheures Wachsen dieser
Fabrikstädte hervor. Alle Industrien sind jetzt nach ihren besonderen Arten
(Spezialitäten) auf die einzelnen Fabrikorte verteilt. Die den Welthandel
beherrschenden beiden Hafenstädte, London, die Königin des Handels, und
Liverpool, eroberten sich unermeßliche Absatzgebiete. Die Großartigkeit des
Handels und der Schiffahrt übertrifft alles, was die seefahrenden Völker der
Vergangenheit und Gegenwart hierin geleistet. Auf dem ganzen Gebiete
der Technik dürfte schwerlich ein Zweig zu nennen sein, welchen die englische
Fabrikindustrie nicht in ihren Bereich gezogen hätte. Fertige Häuser und
Kirchen, Brücken und Eisenbahnen, Schiffe und Kanonen sind neben
Spitzen, Seidenstoffen und Elfenbeinwaren in den Handelslisten verzeichnet.
Die wachsende Blüte feuerte aber auch den gewerblichen Fortschritt
bei den anderen Völkern an. Auf den Ausstellungen wie auf den Welt-
märkten treten nun Nordamerika, Deutschland, Frankreich und andere
Staaten in Wettbewerb mit England und es ist ihnen auch gelungen in
einzelnen Zweigen der Industrie ein gewisses Übergewicht zu gewinnen.
Allein trotz dieses Wettkampfes ist die britische Industrie bisher im-
stande gewesen ihren ansehnlichen Vorsprung zu behaupten, indem der
Verlust von einzelnen Absatzgebieten durch die Gewinnung von neuen
ausgeglichen wurde. Nach Scherzer.
194. Die Wolga,
Rußlands Haupt ström.
Die Wolga ist der mächtigste Strom unsres Erdteiles und der Stolz
jedes Russen. Und in der Tat, was verdankt nicht das unermeßliche
Zarenreich diesem Strom! Ohne denselben wäre es großenteils eine
Wüste, da er das ungeheure Gebiet, das er selbst oder seine Nebenflüsse
durchfurchen, trefflich befruchtet.
Im Wolkonsker Walde befindet sich inmitten unergründlicher Sümpfe
die Quelle des Stromes. Als winziger Bach fließt nun die Wolga der
194. Die Wolga.
401
Reihe nach durch eine große Anzahl von Seen und wächst durch Zuflüsse
bald darauf zu einer bedeutenden Größe an.
Durch ihren langen Lauf und ihre Wasserfülle ist die Wolga seit
alter Zeit die Haupthandelsstraße Rußlands geworden und sie wird
diese Stellung niemals durch Landstraßen und Eisenbahnen verlieren. Auf
den unbehilflichen, riesigen Schiffen (Barschen), welche sich zu Tausenden
auf der Wolga bewegen, wie aus den Dampfern der Neuzeit werden die
Schätze des ungeheuren Gebietes nach allen Seiten hin verbreitet. —
Da der Boden der Wolga von der Quelle bis zur Mündung aus
Flugsand besteht, so ist ihr Strombett außerordentlichen Umwandlungen
ausgesetzt; diese hemmen, ja gefährden die Schiffahrt. Auch die vielfach
aufgeführten Deichbauten haben diese Verhältnisse wenig gebessert.
Auf der unteren Wolga hat die Schiffahrt außerdem durch furcht-
bare Windstöße zu leiden, welche gewaltige Wellen erzeugen. Die
Haupthäfen der Wolga bilden Twer, Rybinsk, das durch seine Messe
weltberühmte Nishnij Nowgorod und das im Mündungsgebiete gelegene
Astrachan.
Die Ufer der Wolga sind von ihren Quellen bis in die Nähe
von Nishnij Nowgorod ziemlich einförmig; sie erheben sich nur mäßig
über den Spiegel des Stromes und sind vielfach sogar sumpfig. Auf
dieser Strecke liegen die Städte und Dörfer auf Hügeln in der Nähe
des Stromes um vor der Überschwemmung geschützt zu sein. Hier
steigt die Kälte im Winter so hoch, daß nicht selten das Quecksilber
des Thermometers gefriert. Der Boden bringt nur spärlichen Ertrag
an Hafer, Roggen und Flachs; dagegen breiten sich durch die Gegend
weithin und bis in die Nähe des Stromes gewaltige Wälder aus.
Die Bevölkerung treibt hier hauptsächlich Gewerbe (Gerberei, Schuh-
macherei, Flachsspinnerei und Weberei, Kürschnerei, Eisenwaren- und
Mattenfabrikation).
Die Lage von Nishnij Nowgorod ist eine außerordentlich glückliche
zu nennen; denn ihr gegenüber mündet die Oka in die Wolga; dieser
Nebenfluß verbindet wiederum eine unermeßliche und dabei sehr reiche
Gegend mit Nishnij Nowgorod. Die Makarimesse daselbst ist nicht bloß
in ganz Europa sondern auch im Innern Asiens, in der Bucharei,
China, Persien u. s. w. berühmt. Während dieser Messe stehen an
den Ufern der Oka die ungeheuren Warenmagazine der Kaufleute und es
herrscht in dieser Zeit ein ungemein reges Leben. Da trifft der
französische, englische, deutsche Kaufmann mit asiatischen Kaufleuten zu-
sammen; der Russe spielt den Vermittler zwischen den verschiedensten
Völkern. Nach der Messe verschwindet dieses rege Verkehrsbild; dann
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. • 26
402
194. Die Wolga.
ist Nishnij Nowgorod mit seinen morastigen oder staubigen Straßen so
einförmig, daß jeder Westeuropäer froh ist seiner Heimat wieder zueilen
zu können.
Von Nishnij Nowgorod an verändern sich Boden und Klima. Schon
bei dieser Stadt steigt das rechte Ufer in stattlicher Höhe über den Wasser-
spiegel empor. In der Nähe von Kasan werden die Ufer, namentlich
rechts, immer schöner und zeigen dem Auge Landschaftsbilder, wie sie
dem verwöhntesten Reisenden gefallen müssen. Auf der einen Seite sieht
man die blauen Fluten des Riesenstromes, dessen linkes Ufer im grauen
Nebel am fernen Horizonte verschwindet, während das rechte Ufer immer
höher und steiler wird und als Gebirgszug in die Wolken strebt. Gebirge
und Hügel sind hier von riesigen Bäumen bedeckt. Die Bildungen und
Schichtungen des Gebirges sind an dieser Stelle so seltsam großartig,
daß das Auge des Reisenden die Trümmer von Bergfesten wie am Rhein-
strom zu schauen meint. Aber Totenstille herrscht auf dem Strom und
im Gebirge, so daß man sich in einer unbewohnten Wüste zu finden
glaubt.
Von Zarizyn an wird das Klima ein ganz anderes. Der heiße und
dürre Sommer währt hier schon acht Monate und ihm folgt ohne Über-
gang der Winter, wie denn auch Tag und Nacht ohne Übergang mit-
einander abwechseln. Auch der Boden ist an der mittleren Wolga ein
ganz anderer; er bildet eine der fruchtbarsten Gegenden Rußlands. Eine
tiefe, fruchtbare Ackererde bedeckt hier fast die ganze Oberfläche von vier
Gouvernements, so daß Roggen und Gras Mannshöhe überschreiten
und ungeheure Ernten erzielt werden. In diese Gegenden ziehen zur
Erntezeit viele Tausende rüstiger Männer und Frauen und von hier
werden ungeheure Getreidemassen in die weniger fruchtbaren Teile Ruß-
lands sowie in das Ausland ausgeführt. Freilich sind gerade diese
Gegenden bei andauernder Dürre, die durch die asiatischen Steppenwinde
erzeugt wird, mehr als andere Landstriche dem Mißwachs und oft sogar
der Hungersnot ausgesetzt. Die letztere geht an denjenigen Wolga-
anwohnern spurlos vorüber, welche zum Ackerbau auch Viehzucht, Garten-
bau und Industrie gefügt haben.
Unterhalb Zarizyn verflachen sich die Ufer der Wolga; der Strom
durchwandert weite, wasserlose, sandige Steppen, die wegen ihrer un-
erträglich heißen Sommer und furchtbar kalten Winter kaum die Horden
halbwilder Kalmücken und Kirgisen zu ernähren vermögen. Dann be-
ginnt auch der Strom sich mehr und mehr zu teilen, bis er zuletzt
unterhalb Astrachans sich in etwa 200 Armen in das Kaspische Meer
ergießt. In dieser Gegend ist die Umgebung des Stromes wieder von
195. Europas Überlegenheit über die anderen Erdteile. 403
außerordentlicher Fruchtbarkeit und erzeugt besonders ungeheure Massen
von Obst und Wein; noch größer aber sind die Erträge des Fischfanges.
Nach Richter.
195. Europas Überlegenheit; über die anderen Erdteile.
In dem frühesten Alter der geschichtlichen Welt glänzt
Asien noch ganz allein. Doch sind es nun schon mehr als
2000 Jahre, daß dieser Erdteil das Zepter der Bildung an Europa
abgetreten hat. An keinem anderen Punkte der Erdoberfläche
hat des Menschen Geist es so geschickt verstanden über die Natur
zu herrschen wie hier. So ist denn Europa der mächtigste aller
Erdteile, der Glanzpunkt der ganzen Erde. Europa erregt unser
Staunen aber nicht durch so ungeheure Ausdehnungen, wie sie
Asien und Amerika besitzen. Seine höchsten Gebirge erreichen
kaum die Hälfte der Höhe des Himalaja und der Anden. Seine
größten Hochebenen (in Bayern und Spanien) verdienen kaum
der Erwähnung im Vergleich zu denen von Tibet und Mexiko.
Und was sind seine Halbinseln gegen Indien und Arabien,
wovon jedes fast ein halbes Europa an Größe ausmacht 1
Nirgend besitzt es so gewaltige Ströme wie die, welche Asiens
und Amerikas unermeßliche Landflächen reich mit Wasser be-
fruchten und beleben; nirgend hat es solch dichte Urwälder, daß
es dem Menschen unmöglich wird sich einen Weg hindurch zu
bahnen; nirgend findet man solche Wüsten, vor deren unend-
licher Ausdehnung wir zurückschaudern. Wir gewahren in Europa
weder die überwältigende Hitze des Äquators noch die erstarrende
Kälte des Nordens. Europa ist so das Bild der bescheidenen
Mitte, der Mäßigkeit. Auch die Pflanzen und Bäume erreichen
in Europa nie den kräftigen Wuchs, die riesige Höhe und Dicke,
wie sie in der Tropenwelt überall unser Erstaunen erregen.
Weder Blumen noch Insekten noch Vögel zeigen in Europa die
unendliche Mannigfaltigkeit und die feurig glänzende Farben-
pracht wie am Äquator. So sind die europäischen Verhältnisse
auch in dieser Hinsicht mild und gemäßigt.
Aber in allem, was das Werk des Menschen ist, ragen die
Völker Europas vor denen der anderen Weltteile hervor. Die
einfachsten Erfindungen der mechanischen Künste mögen zum
Teil dem Morgenlande gehören; aber wie sind sie nicht alle durch
Europäer vervollkommnet worden I Von dem Webstuhl der Hindus
bis zu der Baumwollspinnmaschine, von dem Sonnenzeiger bis
26*
404
196. Pflanzen- und Tierwelt Asiens.
zu der Seeuhr, die den Schiffer über den Ozean führt, von der Barke
des Wilden bis zu dem gewaltigen, eisengepanzerten Dampfschiffe,
welch ein Unterschied! Auf allen Weltausstellungen, in Europa
sowohl als auch in Australien und Amerika, zeigte sich die Über-
legenheit der europäischen Industrie über die der übrigen Erdteile.
Und auch in politischer Beziehung war und ist Europa von
großem Einfluß auf alle anderen Erdteile. Wie überstrahlte der
Ruhm der Europäer die Erde, seitdem durch Kolumbus Amerika
entdeckt und von Vasko da Gama der Weg nach Ostindien ge-
funden war! Die Neue Welt war sofort ihre Beute; mehr als der
dritte Teil Asiens unterwarf sich dem russischen Zepter; Kauf-
leute an der Themse und der Zuidersee rissen die Herrschaft
Indiens an sich. Es mag sein, daß jene Eroberungen mit Härte,
mit Grausamkeit verbunden waren; aber Europäer wurden doch
nicht bloß die Tyrannen, sie wurden auch die Lehrer der Welt;
an ihre Fortschritte scheint die Bildung und der Fortschritt der
Völker immer enger geknüpft. Nach Buchholz.
196. Wffanzen- und Gierwett Asiens.
Asien greift mit seinem nördlichen Gebiet weit in die Polargegenden
Hinein, während das Südende des Festlandes fast bis zum Äquator
reicht. Es besitzt daher auch bei dem reichen Wechsel des Klimas die
verschiedenartigste Pflanzen- und Tierwelt.
a) Ein beträchtliches Stück des Erdteils ist von den armseligen
Tundren-, Wüsten- und Hochgebirgspflanzen bedeckt und auch in den heißen
Teilen steht Asien gegen die Pflanzenfülle der Urwälder Südamerikas zurück;
dafür besitzt es aber eine größere Anzahl nutzbarer Pflanzen, die sich
von hier aus über alle Erdteile ausgebreitet haben. So stammen aus
Vorderasien die meisten unserer Getreidearten: die Südküste des Kaspischen
Meeres ist das Heimatgebiet des Weinstocks, der hier üppig wild wächst,
die Küste des Schwarzen Meeres das des Kirschbaums. Iran gilt als
die Heimat des Pfirsichs, der Aprikose und der Mandel; auch die
Kastanie, der Nußbaum und andere Pflanzen stammen aus Asien. —
Die üppigste Pflanzenentwicklung finden wir in Indien, das besonders
durch seine Pflanzenfülle neben den früher häufig gefundenen Edel-
steinen zu dem Rufe fabelhaften Reichtums gelangte. Unter der Schwüle
eines nebelbedeckten Himmels erreichen hier Bäume die Höhe von
mehr als 30 m, Farnkräuter die Größe europäischer Waldbäume, Gräser,
wie das Bambusrohr, eine Dicke, deren Halme zu Fässern und Eimern
benutzt werden. Die tropischen Waldungen enthalten Sandel-, Eben-
196. Pflanzen- und Tierwelt Asiens.
405
und Tiekholz, Drachenbäume, Kohl- und Sagopalmen; die Kokospalme,
die Banane und der Brotfruchtbaum liefern reichliche, wohlschmeckende
Nahrung. Doch bildet der Reis, der in ganz Süd- und Ostasien in
ungeheurer Menge wächst, das wichtigste Volksnahrungsmittel, während
Tee, der besonders in China und Japan in vortrefflicher Güte gedeiht,
das beliebteste Getränk ist.
Der aus Afrika stammende Kaffeebaum hat seine neue Kulturheimat
in Arabien und von dort seine Verbreitung zunächst nach Indien ge-
funden; hier, auf Ceylon und Java, liefert er die besten, dem Mokka-
kaffee kaum nachstehenden Bohnen. Das Zuckerrohr hat allenthalben
in den wärmeren Landstrichen Anbau und Pflege gefunden ebenso wie
die Baumwollenstaude und der Maulbeerbaum.
In dem südlichen Ostindien und Australasien zeigt sich neben der
Saftfülle amerikanischer Vegetation auch der Wohlgeruch der afrikanischen
Pflanzenwelt in den oft ungepflegt wuchernden Gewürzbäumen, dem
Zimtstrauch, dem Ingwer, Pfeffer und noch vielen anderen Gewürz-
pflanzen. Diese Gegenden liefern auch den köstlichen Weihrauch (Sandel-
holz) und die nützlichen Gummisäfte (Guttapercha). Die Rosengärten
von Schiras in Persien wurden in herrlicher Weise von dem Dichter
Hafis besungen.
b) In inniger Beziehung zu den Pflanzen des Landes steht die Tier-
welt. Das eisige Sibirien ist das Land der Pelztiere, besonders der
Biber, der Füchse und der Sumpfottern, des Zobels und des Hermelins.
Auch Wolf und Bär kommen vor. Das Renntier ist neben dem Hund
das geschätzteste Zugtier. Weiter südlich dagegen sind Schaf und Pferd
allgemein verbreitet und in der Nachbarschaft der Wüsten fehlt das
Kamel (Dromedar und Trampeltier) nicht. Die arabischen Pferde sind
durch ihre Schönheit und Trefflichkeit noch mehr bekannt als die Schafe
und Ziegen Tibets mit der feinsten Wolle und dem schönsten Haar.
In Indien dienen neben dem seit uralten Zeiten gezähmten Elefanten,
dem heilig gehaltenen Zebu oder Buckelochsen, dem Büffel und dem Kamel
die in Europa verbreiteten Haustiere dem Menschen. Für Papageien,
Pfauen und das Perlhuhn ist Indien, für den Kasuar die östlichste
Inselgruppe die Heimat. Überhaupt besitzt Indien unter allen Ländern
der Erde wohl den größten Reichtum an Tieren. Die ausgedehnten
Reisfluren Bengalens, die Snmpfwaldungen der Flüsse und Küsten-
ebenen Indiens sind die Heimat des Elefanten, des Königstigers, Löwen,
Panthers und Nashorns wie ungeheurer Eber oder Schlupfwinkel der
lauernden Riesenschlange, des Krokodils und noch vieler gefürchteter
Amphibien, Die südlichen Gebiete besitzen eine große Menge von
406
197. Der Suezkanal.
Flattertieren und Affen, darunter die menschenähnlichen Vierhänder
Gibbon und Orang-Utan. China ist die Heimat der Prachtfasane, der
Goldfische und der Seidenraupe. Nirgend findet sich auch ein solcher
Artenreichtum an Fischen wie in den indischen Meeren. An Menge kann
nur Sibirien und das nordwestliche Gebiet des Großen Ozeans mit ihm
wetteifern.
Wie Asien die Wiege des Menschengeschlechtes ist, so sind von ihm
aus auch die wichtigsten Kulturpflanzen und die verschiedenen Haustiere
nach den übrigen Erdteilen verpflanzt worden.
197. I)er Suezkanak.
Wie eine unüberschreitbare Naturgrenze schied seit Jahrtausenden die Land-
enge von Suez zwei Meere voneinander und sperrte die Wasserstraße, welche
Europa, Asien und Afrika eng verbinden kann. Die Landenge von Suez, ein
steiniges Sandmeer, bildet eine Landbrücke zwischen Asien und Afrika, aber eine
Brücke, die nicht bloß die Wasserstraße der Meere trennt sondern auch in ihrer
Wüstenbeschaffenheit und Unwirtbarkeit nur einen kümmerlichen Übergang von
Festland zu Festland bildet.
Schon vor Jahrtausenden unternahmen es die Pharaonen vom Nil aus
bis zum Roten Meere einen Kanal zu graben und durchbrachen so das steinige
Sandmeer zwischen Asien und Afrika. Doch barbarische Züge auftauchender
Völker zerstörten diese künstliche Wasserstraße und weihten die Häfen des Mittel-
meeres dem Verfall.
In früheren Zeiten, in denen vornehmlich England und Holland die Han-
delswege nach den reichen Küstenländern Asiens aufsuchten, führte die Schiff-
fahrt dahin nur auf gewaltigem Umweg um das Festland von Afrika. Der Suez-
kanal, der in 160 üm Länge das Mittelländische Meer mit dem Roten Meere
verbindet, macht diesen Umweg unnötig. Er verkürzt Zeit und Raum und ver-
wandelt die Wüstenei in die Stätte eines blühenden Verkehrs.
Das Unternehmen ging von Frankreich aus, stieß aber auf Mißtrauen und
Besorgnis, namentlich in England. Gleichwohl ist nach Überwindung zahlreicher
Hindernisse die Durchführung vor sich gegangen und mit großer Umsicht voll-
endet worden. Der französische Generalkonsul in Alexandria, Ferdinand von
Lesseps, war es, welcher den Bau des Suezkanals neu anregte und unter der
Begünstigung der französischen und ägyptischen Regierung eine Gesellschaft
gründete, welche die Ausführung übernahm. Im Jahre 1859 wurde der erste
Spatenstich hierzu getan und im November 1869 der Kanal eröffnet.
Zunächst wurde vom Nil aus ein Kanal gegraben und eine Wasserleitung
nach der Wüste hergestellt, welche stellenweise die Ode in einen blühenden Garten
verwandelte, gutes Trinkwasser an die Arbeitsstätten führte und die Beschaffung
von Lebensmitteln für die Arbeiter möglich machte. An die Stelle der ägyp-
tischen Arbeiter, die wenig leisteten, traten Arbeitsmaschinen. Der Dampf voll-
endete, was Menschen nicht hätten durchführen können.
197. Der Suezkanal.
40?
Es war notwendig an beiden Enden des Kanals geschützte Häfen anzulegen
und die Steinmassen hierzu künstlich herzustellen. Wo der Boden weich und
sandig war, mußten nach oben hin die Böschungen stark verbreitert werden um
das Herabstürzen der Erdmassen in den Kanal hinein zu verhüten. Ein Teil
des Kanals durchschneidet einzelne steinige Anhöhen, den Ballah- und Timsahsee
sowie das Becken der Bitterseen. Allein letztere, 11 m tiefer als die beiden
Meere liegend, mußten mit den Gewässern des Roten und des Mittelländischen
Meeres ausgefüllt werden um einen gleichen Wasserstand herzustellen.
Damit die Strömung im Kanal durch Flut- und Sturmwellen nicht allzu
heftig werde, sind längs der ganzen Strecke Schleusen angebracht.
So steht der Kanal fertig da, breit und wasserreich genug um von großen
Seeschiffen befahren zu werden. Docke und Magazine sind angelegt zur Aus-
besserung, zur Ausrüstung und Verproviantierung von Schiffen; Vorrichtungen
sind getroffen um die Schisse mit Trinkwasser und Brennmaterialien zu ver-
sorgen; Warenlager bewerkstelligen den Handelsaustausch an Ort und Stelle
und Handlungshäuser vermitteln die Geschäfte.
Der Suezkanal beginnt bei Port Said und ist 9 m tief und 100 m breit,
also tief genug um Schiffe von größtem Tiefgang aufzunehmen und breit genug,
daß die Schiffe bequem einander auszuweichen vermögen. Er besitzt außer-
dem weite Binnenhäfen, in denen ganze Flotten vor Anker gehen können; von
den zwei prachtvollen Außenhäfen ist der bei Port Said nächst dem von Mar-
seille der bequemste und sicherste des ganzen Mittelmeeres. Zwei ansehnliche
Städte, Port Said und Jsmaila, sind aus dem Sand erstanden und fast 60 000
Menschen haben sich in diesen Ebenen niedergelassen, in die sich sonst der Wan-
derer rmr zagend wagte.
Seitdem man darangegangen ist den Kanal trotz der großen Kosten zu er-
weitern, kann die Durchfahrt wesentlich beschleunigt werden. Da früher die nicht
mit elektrischem Licht versehenen Schiffe bei Nacht häufig anlegen mußten, so
brauchten sie etwas über 48 Stunden, während sie jetzt, da vielfach mit voller
Dampfkraft gefahren werden kann, im allgemeinen kaum mehr als 18 Stunden
benötigen. Seit jedoch die begonnene Erweiterung und Austiefung besonders
zwischen den Bitterseen und Suez noch weiter fortgeführt ist, kann die Durch-
fahrt wohl in ungefähr 12 Stunden bewerkstelligt werden. Trotz des hohen
Kanalzolles hat der Dampferverkehr in der neuesten Zeit einen ungeahnten Auf-
schwung genommen. Die Segelschiffe dagegen nehmen wegen der Enge des
Kanals und wegen der ungünstigen Windverhältnisse noch immer den Weg nach
Indien um die Südspitze von Afrika.
Seit der Eröffnung dieser Weltverkehrsstraße sind nicht bloß die Mittel-
meerhäfen wieder in den Brennpunkt des Orienthandels getreten, sondern auch
der Welthandel hat dadurch eine der nachhaltigsten und größten Umwälzungen
erfahren. Der wichtigste Vorzug des Kanals ist die Abkürzung der Entfernung
von Europa nach Indien. So wurde der Weg von Hamburg nach Bombay um
23 und der von Southampton nach Sansibar um 10 Tage abgekürzt. Auch muß
darauf hingewiesen werden, daß die größten und bedeutendsten deutschen Dampfer-
linien, diejenigen nach Ostasien, durch die Eröffnung des Panamakanals nicht
berührt werden; denn sämtliche ostasiatischen Häfen sind über den Suezkanal
von Hamburg aus in kürzerer Zeit zu erreichen als über den Panamakanal. Und
408
198. Deutschlands Kolonien.
dies gilt sogar für das australische Festland, da beispielsweise die Entfemung
von Hamburg nach Sydney über Suez nur 11 833 Seemeilen beträgt, während
sie über Panama sich auf 12 936 Seemeilen bemißt. Wohl aber wird der übrige
deutsche Handel, besonders derjenige der Pazifischen Küste von Nord- und Süd-
amerika, in Mitleidenschaft gezogen werden.
Nach Bernstein.
198. Deutschlands Kolonien.
I.
Schon in den frühesten Zeiten führte der Wandertrieb der Germanen
Angehörige unseres Volkes nach den verschiedensten Ländern, wo sie sich
oft unter unsäglichen Mühen eine neue Heimat schufen und an der Ent-
wicklung des neuen Vaterlandes fleißig mitarbeiteten. So haben Deutsche
Kurland, Livland und Preußen zu deutschen, kultivierten Ländern gemacht.
Sachsen wanderten nach Siebenbürgen; später zogen viele Deutsche nach
Rußland und gründeten dort Kolonien. Zur Zeit Karls V. nahmen die
Welser in Augsburg einen Teil der Nordküste von Südamerika in Besitz,
konnten aber dieselbe nicht behaupten. Der Große Kurfürst legte eine
Kolonie an der Küste von Oberguinea an, die aber später wieder verloren
ging.
Doch damit war die Idee Kolonien zu erwerben aus Deutschland
nicht verschwunden. Deutsche Gelehrte waren es vor allem, welche im
19. Jahrhundert den Schwarzen Erdteil erforschen halfen. Als das ge-
einigte Deutschland imstande war, durch seine mächtig aufblühende Flotte
die Handelsinteressen seiner Angehörigen auch im Auslande zu schützen,
war es ganz selbstverständlich, daß Deutschland zum Schutze seines Han-
dels gewisse Gebiete für sich in Anspruch nahm. Die Bedrückung deutscher
Kaufleute in Togo und Kamerun waren die Veranlassung, daß Deutsch-
land im Jahre 1884 mit der Besitzergreifung dieser an der Westküste Afrikas
gelegenen Länderstrecken in die Reihe der europäischen Kolonialmächte
eintrat.
Das T o g o l a n d wird im Westen von englischem, im Osten von
französischem Besitztum begrenzt; die Nachbarn im Norden sind die wilden
Aschanti und Dahome. Der Flächeninhalt ist etwa so groß wie der Würt-
tembergs. Das Klima ist ein völlig tropisches. Die Europäer haben viel
vom Fieber zu leiden. Dem Klima angemessen ist auch die Tier- und Pflan-
zenwelt eine völlig tropische. Die Einwohner bauen Mms, eine der Kar-
toffel ähnlich schmeckende Wurzel, Kassawa, eine Rübenart, ferner süße
Kartoffeln, Mais, Reis, Bohnen, Bananen und Baumwolle. In den
Wäldern findet sich die Olpalme. Diese liefert das Palmöl, den Haupt-
handelsartikel des Togolandes. Außerdem werden auch noch die zahl-
reichen harten Kerne der Palmölfrucht nach Europa verfrachtet und bilden
einen ebenso wichtigen Handelsartikel wie das Palmöl selbst. Der größte
198. Deutschlands Kolonien.
409
Ort dieses Schutzgebietes ist Togo, wonach das ganze Land den Namen
führt; der wichtigste Küstenort ist Lome. Der kaiserliche Kommissär hat
aber seinen Sitz in Anecho, da dieser Ort das den Europäern zuträglichste
Klima aufweist.
Eine dreitägige Fahrt von Togoland aus bringt uns nach der süd-
licher gelegenen deutschen Besitzung Kamerun. Sie breitet sich an
den Ufern des Kamerunflusses aus. Die Faktoreien der europäischen
Kaufleute erheben sich unmittelbar am Flusse. Das Klima ist hier für
den Europäer noch mörderischer als in Togoland. Denn Kamerun liegt
nur 2° nördlich vom Äquator; dazu hält die Regenzeit mehrere Monate an.
Während derselben strömen täglich Gewittergüsse herab. Das ist die Zeit
der vielfach tödlich verlaufenden Sumpffieber. Die Hitze ist das ganze
Jahr hindurch so andauernd, daß sie völlig entkrüftigend und entnervend
wirkt; irgend welche Arbeit, die mit körperlicher Anstrengung verbunden
ist, vermag der Europäer deshalb nicht vorzunehmen; er kann nur als
Kaufmann und Aufseher in den Faktoreien tätig sein. Weiter landein-
wärts erhebt sich das Kamerungebirge, dessen höchster Berg, der Götter-
berg, bis 4000 m aufsteigt. Im Gebirge nimmt die Hitze ab; in der Höhe
von 1000 m findet der Europäer ein fieberfreies Klima, die Temperatur
Griechenlands und Italiens. Die Pflanzenwelt ist eine überaus üppige.
Ölpalmen, Brotfruchtbäume, Zitronen- und Apfelsinenbäume wechseln in
bunter Folge mit Kaffee- und Guttaperchabäumen ab. Gewaltige Fluß-
pferde tummeln sich in den Fluten der Ströme. Das Sumpfland des
Deltas ist der Aufenthaltsort zahlloser Wasservögel; auf den ©artfr&änieu
sonnen sich die Krokodile. Wo das Land bergig wird, schaukeln sich Affen,
besonders Schimpanse, Paviane und Meerkatzen ans den Zweigen. Unter
den Schlangen ist besonders die giftige Puffotter gefürchtet. Die Mos-
kitos werden in den Sommernächten fast zur unerträglichen Pein.
An Haustieren züchten die Eingeborenen Schafe, schlappohrige Ziegen,
Schweine und Hühner. Vor allem werden sie durch die Flüsse mit schmack-
haften Fischen versorgt. Der Brotfruchtbaum liefert die Pflanzennahrung.
Feldbau wird fast gar nicht betrieben. Nur selten schwingt sich der Neger
dazu auf. Der Boden liefert ohne jede Pflege den denkbar reichsten Er-
trag. Er eignet sich zum Plantagenbau; Baumwolle, Kaffee, Zuckerrohr,
Tabak, Mais, Reis, der die Chinarinde liefernde Baum, Kakao sowie alle
Arten Gewürze gedeihen hier auf das vorzüglichste. Jetzt ist der Haupt-
handelsartikel Palmöl.
Das deutsche Kamerungebiet ist größer als das Deutsche Reich. Es
umfaßt 761 000 qlan. Die Bewohner gehören der Negerrasse an. Sie
sind körperlich wohl gebildete Leute; auch betreffs der geistigen Anlagen
nehmen sie eine verhältnismäßig hohe Stufe ein. Sie betreiben Töpferei
und verstehen aus Holz und Elfenbein allerlei brauchbare Gerätschaften
und Schmncksachen herzustellen.
410
198. Deutschlands Kolonien.
Von Kamerun aus gelangen wir südwärts nach Deutsch-Süd-
westafrika, das sich nördlich des Oranjeflusses ausdehnt. Der wich-
tigste Ort an der Küste ist das rasch aufblühende Swakopmund; dieses
hat eine Wasserleitung mit einem weitverzweigten Anschlußnetz sowie
mehrere Hotels und Warenhäuser, in denen für alle Bedürfnisse des
Lebens gesorgt ist. Im Tale des Swakopflusses führt eine Eisenbahn
von Swakopmund nach dem Regierungssitz Windhuk. Von der sandigen
Küste steigt das Land allmählich zum Plateau an. An der Küste ist
kein Baum, kein Strauch, nicht einmal ein Grashalm zu sehen. Das
Klima ist hier wesentlich anders als in Kamerun. Auf eine heiße, trockene
Jahreszeit folgt die etwas kürzere Regenzeit, in der sich der Boden mit
würzigem Gras und einem reichen Blumenflor bekleidet. An den Fluß-
ufern wird Tabak gebaut; in den Gärten gedeihen der Feigenbaum, der
Weinstock, Granaten, Pflrsiche, Datteln und Mandeln. Wälder flndet
man nirgends; doch kommen gegen vierzig Arten von Niederholz und
Gebüsch vor. Der Reichtum der Bewohner besteht in Rinder- und
Schafherden. An Raubtieren sind zu nennen neben Panther und Leopard
der Löwe, graue und rote Wildkatzen, die Hyäne, der Wolf, wilde Hunde
und Schakale. Von den Vögeln ist besonders der Strauß zu erwähnen,
dessen Zucht in erfreulichem Aufschwung begriffen ist.
Das Land ist reich an wertvollen Mineralien und an Rindern.
Verschiedene Missionsanstalten arbeiten bei den einzelnen Stämmen an
der Verbreitung des Christentums. Die Eingeborenen teilen sich in die
Hauptstämme der Nama und Herero.
II.
Deutsch-Ostafrika umfaßt das Hinterland der Sansibarküste
sowie die Küste selbst; es ist das wichtigste Schutzgebiet des Deutschen
Reiches und etwa doppelt so groß als dieses selbst. Die Küste ist auch
hier sumpfig und ungesund. Die wichtigsten Küstenplätze sind Dar es
Salam, wo bald eine deutsche Volksschule eingerichtet wurde, Baga-
moyo und Pangani. Die Hochebenen und Berglandschaften senken sich
im Innern nach dem Gebiet der großen Seen; zu der Küste fallen sie
in Stufen steil ab. Es wechseln hier sehr fruchtbare Gebiete mit
wüstenartigen Wildnissen und grasreichen Steppen. Diese sind die
Heimat der Antilopenherden, Büffel, Giraffen und Zebras und das
Jagdgebiet der Leoparden, Schakale, Hyänen und Löwen. In Sumpf-
waldungen und Urwaldgebieten herrscht der üppigste, farbenprächtigste
Pflanzenwuchs. Hier hausen Affen und das Volk der Dickhäuter Jnner-
afrikas, die Elefanten und Nashörner. In den Flüssen und Seen
wimmelt es von Flußpferden, Krokodilen und Fischen. Inmitten dieser
Wildnis trifft man fruchtbare, wohlbevölkerte Landschaften mit schönen
198. Deutschlands Kolonien.
411
Fruchtgärten und ausgedehnten Getreidefeldern an. Hier herrscht in der
Regel auch ein für den Europäer gesundes Klima.
Die Fruchtfelder der Eingeborenen zeigen Jams, Reis, Hirse und
Hülsenfrüchte. Unter den Fruchtbänmen ist die Banane unerschöpflich
in den Gaben, welche sie den Menschen gewährt. Außerdem gedeihen
Mais und Zuckerrohr sehr gut.
Der Handel ruht im Binnenlande jetzt noch in den Händen der
Araber und eingewanderten Inder. Elfenbein, Kautschuk, Sesam und
Häute bilden die Hauptwaren, die von großen Trägerkarawanen nach
der Küste gebracht werden; doch führt auch eine Eisenbahn von Dar es
Salam nach den Seengebieten. Der Islam, welcher sich durch die
Araber an der Küste festgesetzt hatte, findet keine weitere Verbreitung,
dafür aber das Christentum durch eine Anzahl von Missionsstationeu,
welche oft mit Militärstationen verbunden find.
III.
Das Kaiser Wilhelms-Land nimmt den nordöstlichen Teil
der Insel Neuguinea ein und hat etwa */3 von der Größe des Deutschen
Reichs. Die Küste hat nur zwei größere Einbuchtungen, aber mehrere Häfen,
unter denen der Finsch-, Friedrich Wilhelms- und Prinz Heinrichs-Hafen
hervorzuheben sind. Das Bismarck-Gebirge im Innern zählt zu den
höchsten der Erde. Vor den Bergketten liegt ein breites Tiefland, das
der Ottilienfluß und der Kaiserin Augusta-Fluß durchziehen. Der letztere
wird mit Dampfern befahren. Das Klima ist tropisch, aber nicht so
ungesund wie das in Afrika. Die Pflanzenwelt ist üppig. Aus der
Tierwelt find Schweine und Beuteltiere, Paradiesvögel und Kasuare zu
nennen. Die papuanische Bevölkerung wohnt in Pfahlbauten. Ihre
Nahrung besteht vorwiegend aus Pflauzenkost. Die Früchte der Kokos-
palme, ferner Bananen und Sagopalmen, Reis, Jams, Zuckerrohr, Gurken,
Bohnen, wilde Feigen u. s. w. liefern Nahrungsmittel. Der Charakter
der Bewohner ist im allgemeinen ein gutmütiger. Die Hafenplätze blühen
immer mehr empor. Finschhafen ist bereits ein schmuckes Städtchen mit
zahlreichen Wohn- und Arbeitshäusern, Schuppen und Werkstätten.
Von den deutschen Kolonien in der Südsee umfaßt der Bismarck-
Archipel die Inseln: Neu-Pommern, Neu-Mecklenburg, Neu-Lauen-
burg und Neu-Hannover. Die Natur der Juseln erinnert an das Kaiser
Wilhelms-Land. Die Eingeborenen, Papuas, sind kriegerisch und von
wilden Sitten, aber tüchtig als Arbeiter. Die Versuche mit Plantagen-
bau haben die besten Erfolge gezeitigt. Ausfuhrstoffe sind namentlich
Kopra oder getrocknete Kokoskerne und Sago.
Auf den Marschall-Jnseln gedeiht nur die Kokospalme vor-
trefflich und liefert den Eingeborenen alles, was sie brauchen: Nahrung,
frischen Trunk, Material zum Hausbau und zu Geräten und im Kopra-
412
199. Amerika.
ftoff einen wertvollen Handelsartikel. Außerdem finden sich hier noch
der Brotfruchtbaum und die Aarons. Die hellfarbigen Bewohner sind
friedlich und harmlos. Sie leben größtenteils von Pflanzenkost und
verkaufen wohl manches Stück ihrer Haustiere um von den Europäern
dafür Reis, Brot und Zucker einzuhandeln. Leider ahmen die Bewohner
mehr die Laster als die Tugenden der Europäer nach.
IV.
Die jüngsten deutschen Erwerbungen im Großen Ozean sind:
Kiautschou, Samoa und die Karolinen. Kiautschou liegt am Gelben
Meere in China und bietet einen eisfreien und wohlgeschützten Hafen,
der ein natürlicher Ausgangspunkt für Handel und Verkehr im nord-
östlichen China ist. Eine besondere Bedeutung hat Kiautschou als
Kohlenstation; denn China besitzt im Hinterlande Schantung großartige
Kohlengebiete. Durch den Bau der Eisenbahn von Tsingtau nach dem
Innern ist Kiautschou als Stapelplatz von hohem Wert. Von Tsing-
tau aus, das sich mehr und mehr zu einem Ausgangspunkt europäischer
Kultur und zu einer hervorragenden Stätte deutschen Schaffens in
Ostasien entwickelt, wird ein großer Teil der Provinz Schantung auf
der Bahn mit Jndustrieerzeugnissen versorgt.
Der Samoa-Archipel gehört nicht nur zu den anmutigsten
sondern auch zu den ergiebigsten Eilanden der Südsee. Deutschland
besitzt hiervon die herrlichen Inseln Sawaii und Upola mit dem be-
deutenden Hafenort Apia. Auf dem fruchtbaren Boden der schönen
Küstenebenen entfaltet sich bei dem tropischen, aber keineswegs ungesunden
Klima eine üppige Vegetation. Die Inselgruppe kommt besonders in
Betracht als Bezugsquelle für Palmkerne und Kopra; außerdem wachsen
hier noch Kaffee, Kakao, Bambusrohr und Baumwolle. Der Handel
der Inseln liegt hauptsächlich in deutschen Händen.
Westlich von den Marschall-Jnseln breiten sich die Karolinen
und Palau-Jnseln aus. Diese Inselgruppen, die nebst einem Teil
der Marianen das Reich von Spanien erworben hat, bilden einen
wichtigen Stützpunkt für die deutsche Flotte in der Südsee. Die Eilande
erfreuen sich eines sehr milden Klimas und sind teilweise außerordentlich
fruchtbar. Den Haupthandelsartikel bildet die Kokospalme.
199. Amerika.
Man hört dieses Festland häufig die Neue Welt neunen; es fragt
sich, warum? — Zunächst, weil es früher unbekannt und in der Tat
bei seiner überraschenden Entdeckung etwas durchaus Neues für den
Europäer war; neu oder jugendlich vielmehr zeigte sich aber auch sein
ganzes Äußeres, sowohl was den Boden als was die Bevölkerung
betraf. Seine weiten Räume fanden sich nur an wenigen Stellen zum
Anbau benutzt: unermeßliche Wiesenländer lagen herdenlos da; mächtige
199. Amerika.
413
Urwälder waren noch nicht gelichtet; die Wildheit der Ströme war
noch ungebändigt; die Metallschätze im Innern des Bodens lagen noch
unberührt; die spärlichen Bewohner standen meist noch in der Kindheit
des geselligen Lebens und somit war beinahe alles in einem Zustande,
der fast auf eine jüngere Schöpfungszeit hinzuweisen schien. Amerika
konnte also in zweifacher Hinsicht neu heißen. Betrachtet man aber die
Kultur, die auf seinem jugendlich frischen Boden, unter einem rasch an-
wachsenden Menschengeschlechte sich dort vor unseren Augen gestaltet
und die offenbar einer großen Zukunft entgegenstrebt, so ist die Benennung
Neue Welt dreifach gerechtfertigt.
Im Gegensatz zu dieser Neuen Welt wird nun unser Europa zur
Alten gerechnet und nicht mit Unrecht; denn die europäische Geschichte
reicht bekanntlich mehr als ein paar Jahrtausende rückwärts und die Jugend
unserer Völker liegt unstreitig schon längst in der Vergangenheit.
Amerika mit seinen umgebenden Meeren nimmt nach der gewöhn-
lichen Darstellung der Erde fast ganz allein die westliche Hemisphäre
ein, gehört aber sowohl der nördlichen als der südlichen Halbkugel an.
Denn es hat unter allen Erdteilen die größte Ausdehnung von Nord
nach Süd und nimmt, mit Ausnahme der südlich kalten, an allen Zonen
der Erde teil.
In Amerika herrscht die Tieffandbildung vor; eine Folge davon
ist der große Wasserreichtum seiner Ströme. Da seine Hochgebirge nicht
in der Mitte, sondern an der Westseite liegen, so haben die Flüsse einen
gewaltigen Raum zu durchlaufen; zwei davon, der Misfouri-Mississippi
und Amazonenstrom, gehören zu den größten der Erde. Zum Großen
Ozean fließen nur im Norden einige größere Ströme, im Süden nur
kurze Küstenslüsse; fast alle bedeutenden Wasseradern sind demnach auf
der Ostseite und weisen den Erdteil mit seinem Verkehr wesentlich auf
das Atlantische Meer hin.
Der Erdteil Amerika ist in seiner ganzen Ausdehnung von Süden
nach Norden von dem längsten Hochgebirge der Erde durchzogen, einer
über 2000 Meilen langen Meridiankette. Es erstreckt sich im äußersten
Westen längs der Küste des Ozeans. Man nennt diesen mächtigen
Gebirgswall gewöhnlich Anden oder die Cordilleros de los Andes. Er
teilt das ganze Festland in zwei sehr ungleiche Teile: in das schmale
Gebiet des Großen Ozeans im Westen und in die viel ausgedehnteren,
dem Atlantischen Ozean zugewandten und zugehörigen Gebiete im Osten.
An den Fuß dieses Hochgebirges legen sich nämlich im Osten weite
Tiefebenen, deren Zusammenhang durch das Karaibische Meer und den
Golf von Mexiko unterbrochen ist; im Osten dieser Tiefebenen, gegen
414
199. Amerika.
die atlantische Küste hin, treten dann einzeln stehende, niedrige Gebirgs-
systeme auf, zwischen denen an einzelnen Stellen Glieder der großen
Ebene bis ans Meer heranreichen.
Die ganze Bodengestalt scheint Amerika auf Europa hinzuweisen.
Von diesem ging auch in der Tat die Neubesiedelung des Erdteils aus.
Es war besonders der Metallreichtum, der anfänglich die Europäer nach
dem neu entdeckten Lande zog. Denn die Schätze an Gold und Silber,
welche die Spanier und Portugiesen vorfanden, waren staunenswert.
Auch später wurde neben der Übervölkerung im eigenen Lande die Sucht
nach diesen edlen Metallen die Haupttriebfeder der Einwanderung. Während
die genannten Völker mehr dem Süden sich zuwandten, lenkte sich der
Strom der einwandernden Engländer, Franzosen und Deutschen haupt-
sächlich nach dem Norden. Die letzteren bevorzugten namentlich die Ver-
einigten Staaten von Nordamerika oder die Union.
Die Union ist reich an mineralischen Schätzen; Californien gilt als
eines der ersten Goldländer der Erde. Auch birgt es ebenso wiePennsylvanien
fast unerschöpfliche Mengen an Petroleum; bis vor kurzem bezog Europa
seinen ganzen Bedarf dieses Brennstoffes von Amerika; erst in jüngster
Zeit macht dem amerikanischen Petroleum das russische Konkurrenz.
Die Steinkohle ist in großer Menge über das ganze Gebiet ver-
breitet. Eisen findet sich allenthalben, Kupfer in der Nähe der Seen,
östlich vom Mississippi sowie auch im Felsengebirge. Blei, Zinn und Zink
werden in mehreren Staaten massenhaft zutage gefördert. Auf Grund
der von der Natur gebotenen Hilfsmittel hat sich denn auch eine große
Gewerbtätigkeit entwickelt. Die Industrie (namentlich in Baumwoll-
waren und Maschinenbau) hat besonders in den nordöstlichen Staaten
einen solchen Auffchwung genommen, daß man in manchen Zweigen
vom Ausland unabhängig ist. Viele Städte und ganze Gegenden
erinnern an unser Fabrikland Kleve-Berg, an Belgien und England;
die Ohiostadt Pittsbnrg heißt schon ein Birmingham im kleinen und
wie in Großbritannien, so ist in den vorderen Vereinsstaaten die Stein-
kohle das eigentlich goldbringende Mineral und der Dampf das Segel
der Industrie. In dem Lande, in welchem man zum erstenmal einen
Fluß mit Dampf befuhr, mußte auch die Anwendung dieser Kraft vor-
herrschend werden. Sehr zahlreich sind die Dampfmaschinen in den
Fabriken und auf den Schiffen; auf den Seen, auf dem Mississippi und
seinen Nebenflüssen sind Hunderte von Dampfern in Bewegung und die
Dampfschiffahrt zwischen Amerika und Europa ist im vollen Gange. Die
Manufakturen des Nordens und die Vaumwollpflanzungen des Südens
fördern sich gegenseitig.
200. Das Meer.
415
Zur Hebung der Industrie tragen auch die zahlreichen Eisenbahnen
sehr viel bei. Von hervorragender Wichtigkeit sind besonders die Linien,
welche den Atlantischen mit dem Stillen Ozean verbinden (Pacisicbahnen).
Durch diese Bahnen wird die Wechselwirkung zwischen der Alten und der
Neuen Welt immer mehr verstärkt und dem riesenhaft anwachsenden Über-
schuß an Produkten nach beiden Seiten ein Abzug eröffnet.
Auch Mittel- und Südamerika mit ihren reichen Schätzen treten
immer mehr in innigeren Verkehr mit der Alten Welt.
Nach Schacht-Rohmeder.
200. I)as Meer.
Das Meer macht auf jeden Menschen, der es zum ersten Male
sieht, einen überwältigenden Eindruck. Unabsehbar breitet sich die Flut
vor seinen Augen aus. Ein frischer Seewind weht landeinwärts; die
Brandung toset. Welle auf Welle schießt heran. Scharen von See-
vögeln umschwärmen das Ufer, auf und nieder schwebend mit den Wellen
kosend, ein Abbild der schaukelnden Brandung. Wird der Wind aber
zum heulenden Sturme, dann türmen sich die Wellen zu gewaltiger Höhe
auf und drohen das User zu verschlingen. Balken und Fässer kommen
brausend auf den Wogen daher; dort erblickt man Trümmer eines ge-
scheiterten Schiffes. Die gewaltige Sprache, welche das empörte Meer
im donnernden Sturme zu der zitternden Seele redet, kann niemand in
Worte fassen; niemand kann die Gewalt des Aufruhrs und die Schauer
des Todes uachempsinden, außer wer sie erlebt hat.
Der Meeresgrund oder der Meerboden ist die Fortsetzung der
trockenen Erdrinde. Er zeigt ähnlich wie die Oberfläche der Erde Mulden
und weite Ebenen, Anhöhen, Berge und ganze Gebirge. Doch erscheint
im allgemeinen der Meerboden einförmiger als das Festland, weil er
gegen den zerstörenden Einfluß der Luft geschützt ist. Die Berge, welche
sich vom Meeresgrunde bis über den Wasserspiegel erheben, erscheinen
als Inseln, Klippen oder Sandbänke. Der Meeresspiegel stellt fast ein
(arithmetisches) Mittel dar zwischen der höchsten Erhebung des Bodens
auf dem Lande (8840 m Gaurisankar) und der tiefsten Senkung desselben
im Meere. Die tiefsten Stellen weist der Pacifische Ozean auf; so
fand man in der Nähe der Marianen eine Tiefe von 9636 m, im
Tonga-Archipel 9400 m; nordöstlich von Japan hat man eine Tiefe
(Tuskaroratiefe) von 8500 m gelotet.
Das Meer zeigt eine wechselnde Färbung; die vorherrschende
Farbe des hohen Meeres ist ein grünliches Blau. Das Mittelmeer er-
scheint an manchen Stellen purpurfarbig. Das Rote Meer und weite
Strecken des Atlantischen Ozeans werden durch mikroskopische Zellenpflanzen
416
200. Das Meer.
rot gefärbt. Die Ostsee zeigt sich in der Ferne düsterblau, um die
Schiffe wogt sie in grünlichen Wellen. Prachtvoll erscheint das Meer
in trockenen, heiteren Nächten, wenn es leuchtet. Was ist die Ursache
dieser eigentümlichen Erscheinung? Wie die Johanniswürmchen besitzen
viele Seetiere ein ähnliches Leuchtvermögen. Die Quallen mit ihrer
schleimigen Brut, deren Menge unzählbar ist, die Meerinfusorien, die
Polypen, manche Weichtiere, auch etliche Würmer, Krebse und Fischarten —
diese zahlreichen Geschöpfe in Verbindung mit den faulenden Stoffen des
Meerwaffers bedingen die großartige Erscheinung des Meerleuchtens.
Das Meer erfüllt im Haushalt der Natur eine große Aufgabe.
Die beständige Verdunstung von der ungeheuren Wasserfläche des Meeres
gibt der Atmosphäre den Wassergehalt, der zur Erhaltung des Lebens
ans dem Land unentbehrlich ist. In den Wolken häufen sich die Wasser-
dünste; die Winde führen dieselben oft 1000 Meilen vom Meere her über
unsere Gefilde um diese durch Regen, Nebel und Tau zu speisen und alles
Leben zu tränken. Wie dein Herzblut alle Adern des Leibes durchströmt
und wieder zum Herzen zurückkehrt, in ähnlicher Weise kreiset das Wasser,
das dem Meer in Dunstform entsteigt, durch die irdische Schöpfung.
Das Wasser des Meeres ist in einer Weise abgewogen und zu-
sammengesetzt, daß die möglichste Lebensfülle, Schönheit und Vollkommen-
heit der Erde daraus entspringt. In dem Meere herrscht eine ungeheure
Lebensfülle. Darin wimmeln Tiere von winziger Gestalt neben Riesen-
tieren der Schöpfung. Dort schwimmt der Walfisch, 25—30 m lang;
dort segelt der Pottflsch von ähnlicher Größe, der Schrecken aller Be-
wohner der Fluten. Nicht minder groß ist das Reich der Meerpflanzen
und Pflanzentiere des Ozeans. Die seichteren Gegenden des Meeres
sind mit einem dichten Pflanzenteppich, mit unterseeischen Gärten, Wiesen
und Wäldern bekleidet, welche bei heiterm Sonnenschein in prächtigen
Farben schillern. Büschelartige Tang- und Meeralgen und bäum- und
strauchartige Pflanzentiere wechseln von der Größe des kleinsten Mooses
bis zu dem 500 m langen Blasentang. Das Meerwaffer enthält durch-
schnittlich Z^o/g Salze, von denen 2°/0 Kochsalz sind. Diese Stoffe geben
dem Meerwaffer einen bitteren, widerlichen Geschmack und machen es für
den Menschen untrinkbar; aber sie sind für den Haushalt der Natur von
großer Wichtigkeit. Der Salzgehalt mindert die Strenge des nordischen
Winters, weil das Salzwasser erst bei einer niedrigeren Temperatur ge-
friert als das Süßwasser. Das Salzwasser hat auch eine größere Trag-
fähigkeit als das Süßwasser, was für die Schiffahrt von Wichtigkeit ist.
Die regelmäßig zweimal des Tages wiederkehrende Hebung und
Senkung des Meeresspiegels nennt man Ebbe und Flut. — Diese
200. Das Meer.
417
Erscheinung beruht hauptsächlich auf der Anziehungskraft des Mondes und
der Sonne. Die Flutwelle steigt am höchsten, wenn Sonne und Mond
mit vereinten Kräften nach derselben Richtung wirken. — Eine andere Be-
wegung des Meeres sind die kalten und warmen Meeresströmungen. Der
Wärme spendende Golfstrom mäßigt das Klima des nordwestlichen Europa.
Was verdankt der Mensch dem Meere? Die Küstenbewohner finden
gerade am Meere und seinen Ufern vorzugsweise ihre Nahrung und
zugleich ist ihnen der Verkehr am ehesten ermöglicht. Die zahllosen Fische
und Muscheln, welche das Meer in der Nähe der meisten Küsten beleben,
sind eine reiche Quelle des Unterhalts. Tausende von Schissen fahren
allein zum Fange des Stockfisches aus. Der Hering, der besonders gern
die Nordseeküsten besucht, bietet Tausenden Erwerb und Hunderttausenden
Nahrung. Krebse, Austern u. a. Muscheltiere geben für viele Menschen
eine beliebte Speise ab. Der Walfisch-, Seehund- und Robbenfang ge-
währt nicht nur vielen tausend Menschen Beschäftigung sondern liefert
eine Fülle von Stoffen, die im gewerblichen Leben ihre zweckmäßige Ver-
wendung finden. Am Meere winken Häfen dem Handel zur Einkehr;
hier lernen die Menschen einander kennen, begegnen und mischen sich die
Ideen, Menschen und Völker. Die bedeutendsten Handelsstädte entwickeln
sich an den Küsten und blühen rasch empor, namentlich die in unserer
Zeit angelegten Hafenorte weisen ein staunenswertes Wachstum auf. So
war San Francisco im Jahre 1847 noch ein elendes Fischerdorf mit
459 Einwohnern; jetzt ist es eine Weltstadt und der bedeutendste Hafen-
platz an der amerikanischen Westküste. Welches rege Leben herrscht in
Bremen, Hamburg, Lübeck, Stettin, Danzig, Königsberg, den wichtigsten
Häfen der Nord- und Ostsee! Der Strand und die Küstengewässer bieten
den Bewohnern die bequemsten Wege und gestatten ihnen am leichtesten
Fische und andere Waren auszutauschen. Die Anfänge des Handels
liegen deshalb hier; der Handel erstreckt sich in der Gegenwart nach allen
Richtungen über Länder und Meere um die zerstreuten Schätze zu sammeln
und ein Netz von Lebensadern zu schaffen, das die Welt verjüngt.
Der stetige Kampf mit den Wogen macht die Küstenbevölkerung stark
und furchtlos; sie trotzt dem Tod unter tausend Gestalten. Da der Kampf
mit den Elementen sie jeden Augenblick herausfordert und zum Sieg über
die erzürnte Natur nicht der aufflammende Mut der Begeisterung, sondern
der der zähen Überlegung gehört, so sind die Küstenbewohner kaltblütig,
ausdauernd. Ihre Gedanken sind nüchtern und kraftvoll, aber einförmig
wie das Meer, selten sanfter Natur, vielmehr oft gewaltsam heftig.
Groß sind die Gefahren der hohen See, noch größer die Schrecknisse
der Küsten. Den Schiffbrüchigen zu retten dazu bedarf es mehr als
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe * 27
418
201. Der Golfstrom.
Wissenschaft und Kunst, nämlich Mut und wirkliche Nächstenliebe. „Die
Deutsche Gesellschaft zur Rettung von Schiffbrüchigen", die sich 1866
bildete, pflegt diese edlen Tugenden. Überall an den Küsten und auf
den Schiffen sind Rettungswerkzeuge u. s. w. zu sehen. Zahlreiche
Rettungsanstalten sind von Borkum bis an die russische Grenze errichtet.
Nach Schanze- Lesebuch.
201. I)er Golfstrom.
Die Flüsse haben bestimmte Quellen, aus denen sie entspringen, und
nehmen eine bestimmte Richtung, in der sie jahraus, jahrein dem Ozean
zuströmen. Ganz anders ist es mit den ozeanischen Strömen oder den
Meeresströmungen; diese haben keine bestimmte Stelle, die ihren Ursprung
oder ihre Quelle bezeichnet; ihre Richtungen und Grenzen sind verschieden
je nach den Jahreszeiten oder Störungen, die durch Wind, Temperatur,
Ebbe und Flut u. s. w. bewirkt werden. Ihr Wasser hat natürlich die
Eigenschaft des ozeanischen; es ist salzig. Sie bieten, sagt Alex. v. Humboldt,
das merkwürdige Schauspiel dar, daß sie von bestimmter Breite das Meer
flußartig durchkreuzen, während nahe Wasserschichten unbewegt sind und
gleichsam das Ufer bilden.
Wir kennen noch nicht alle Gesetze, die den mächtig sich dahinwälzenden
Fluten diese stromartige Natur geben. Werfen wir einen Blick auf die Karte,
so finden wir vier Hauptrichtungen heraus, in denen die ozeanischen Gewässer
unseren Planeten umströmen, von Osten nach Westen, von Norden nach Süden
und umgekehrt. In den Äquatorialgegenden ist die Hauptrichtuug von Osten
nach Westen, in den gemäßigten und kalten Zonen dagegen eine nördliche
und südliche. Hierdurch scheint ein Streben nach Herstellung eines gewissen
Gleichgewichtes ausgedrückt zu sein. Das kalte Wasser strömt von den beiden
Polen den Äquatorialgegenden zu und nimmt eine höhere Temperatur in
diesen Breiten an; es wird zum Äquatorialstrom, der seine warmen Wasser-
fluten in südwestlicher oder nordöstlicher Richtung den kälteren zusendet. So
findet hier wie in der ganzen Natur ein ewiger Kreislauf statt.
Die bekannteste und für uns Europäer wichtigste Meeresströmung ist
der Golfstrom. Dieser ozeanische Fluß warmen Wassers hat seinen Ursprung
im Golf von Mexiko zwischen Cuba und der Südspitze von Florida und
tritt bei den Bahama-Jnseln in den offenen Atlantischen Ozean. Er strömt
der Küste von Florida nahe in nördlicher Richtung, entfernt sich dann aber
in seinem weiteren Laufe mehr und mehr von den Küsten der Vereinigten
Staaten nach Nordosten; bei der Bank von Neufundland, wo die von Norden
kommenden Eisberge durch den warmen Strom geschmolzen werden, lenkt er
nach Osten ab und sendet nun seine Wassermassen teils nach Nordosten
teils nach Osten und Süden. Der bedeutendste Ausfluß ist wohl der gegen
Nordost, nach Europa; er bespült Irland, England und Norwegen und
201. Der Golfstrom.
419
mit Recht kann man sagen, daß seine Mündung im Nördlichen Eismeer zu
suchen ist.
Die Geschwindigkeit, Breite und Temperatur des Stromes ist natürlich
eine sehr verschiedene und nur in einigen Gegenden bekannt. Man hat be-
rechnet, daß ein Boot ohne Segel, ihm ganz überlassen, etwa in drei Jahren
den Kreislauf vollenden würde. Im Durchschnitt mag die Strömung 4 km
in der Stunde betragen, ja an einigen Stellen erreicht sie sogar 8 km. Die
Strömung des Wassers ist nur eine oberflächliche; denn sie reicht an der
tiefsten Stelle etwa nur 360 m.
Die Temperatur hängt natürlich von den verschiedenen Breiten ab, in
denen der Strom fließt. Aus dem Golf von Mexiko tragen seine Gewässer
eine so große Wärmemenge nach dem Norden, daß dieselbe hinreichen würde
Berge von Eis zu schmelzen. Im Golf von Mexiko beträgt die Wärme
des Stromes an der Oberfläche etwa 210 R. Auf der Höhe von Kap
Hatteras und selbst noch an der Neufundlandsbank ist das Wasser des Golf-
stromes an einem Wintertag 8—13 °R wärmer als das des Atlantischen
Ozeans.
Gegen die Tiefe hin wird das Wasser natürlich kälter; der ganze Golf-
strom läuft auf einem Bette von kaltem, ruhendem Wasser. Aus der Höhe
von Neufundland kommen die warmen Gewässer des Golfstromes und die
daraus entsteigenden Wasferdünste mit der vom Norden herbeigeführten
eisigen Luft in Berührung. Die dadurch entstehenden Nebel bilden eine
der schönsten Naturerscheinungen, welche die kalte Zone darbietet. Dieselben
entschädigen aber nicht für die Gefahren, welche der Gegensatz warmer und
kalter Temperatur in Luft und Wasser hervorruft. Der Golfstrom erzeugt
die heftigsten Stürme auf der Erde; nur das Chinesische Meer und der
nördliche Stille Ozean sind in dieser Beziehung dem Golfstrom einiger-
maßen ähnlich.
Der Golfstrom hat auf die Entwicklung der Menschheit einen großen
Einfluß gehabt. Nirgend in der ganzen Alten Welt ist die Zone, die vor
allen geeignet ist die Entwicklung der Menschheit zu fördern, so breit und
ausgedehnt wie in Europa. Das gemäßigte Klima, das den Fleiß heraus-
fordert, aber auch lohnt, ist der eigentliche Erzeuger und Fortbildner der
Kultur; er hat dieselbe in Europa hervorgerufen und zu der Blüte gebracht,
in der sie jetzt steht. Bei einer nördlichen Breite, wo in Hammerfest noch
glückliche Menschen leben und eine lustige Sommermesse Tausende von Fremden
vereinigt, finden wir Ostasien in ewigen Schnee eingeschlossen. Dem Korn-
und Gartenbau von Drontheim entspricht etwa das Kap Navarin im Lande
der Tschuktschen, denen Fische, Renntiere und einige dürftige Wurzeln die
einzige Nahrung sind. Und wer möchte die blühenden Fluren von Holstein
mit den traurigen Öden von Kamtschatka vertauschen? Und alles das ver-
dankt Europa dem Golfstrom, der ihm die Wärme der heißen Zone zuführt; er
ruft da noch Leben und Kultur hervor, wo sonst alles im eisigen Tod absterben
27*
420
202. Die Erde als Stern unter den Sternen.
würde. Schwerlich wäre auch Amerika entdeckt, hätte nicht der Golfstrom
fortwährend lebende und tote Boten aus der Neuen Welt in die Alte ge-
sendet um diese zu neuen Taten anzuspornen. An die Küsten der Azoren
angeschwemmte Leichen von unbekannten Völkerstämmen, Bambusrohr u. dgl.
waren es vorzüglich, die Kolumbus veranlaßten die für die damalige Zeit
unerhörte Fahrt nach dem unbekannten Westen zu wagen. Sicher hätte es
ohne diese Mitwirkung des Golfstromes noch Jahrhunderte gedauert, ehe
Amerika für die europäische Kultur gewonnen worden wäre.
202. I>ie Erde als Stern unter den Sternen.
g.) Folge mir hinaus, junger Freund, in eine Gegend, in welcher der
Ausblick nach jeder Richtung frei und ungehindert ist! Es erscheint uns
dann die Erde als eine weite, fast ebene Fläche, der Hinimel als große Hohl-
kugel, in deren Mittelpunkt wir uns befinden. Wohl kann unser Blick nach
allen Seiten hin frei schweifen, aber überall findet er ein Ziel, über das er
nicht hinauskommt. Drehen wir uns um uns selbst herum, so sehen wir,
daß diese Begrenzung unserer Fernsicht einen Kreis bildet, den Gesichtskreis
oder Horizont. Benutzen wir ein Fernrohr, so erblicken wir die entfernteren
Gegenstände deutlicher und schärfer, aber der Gesichtskreis erweitert sich nicht.
Steigen wir jedoch auf einen Turm, so erscheinen uns neue Orte und Gegen-
stände, welche weiter von uns entfernt sind: unser Gesichtskreis hat sich mit
der Erhöhung unseres Standpunktes erweitert. So hoch wir uns aber
erheben mögen, immer sehen wir nur einen Teil der Erde, eine Halbkugel.
Wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit der Sonne zu! Wir sehen sie
als eine glänzende Scheibe am Himmelsgewölbe und wissen, daß sie unsere
Erde beleuchtet und erwärmt, daß sie die Spenderin alles Lebens auf der-
selben ist, daß sie hauptsächlich den Wechsel der Witterung bedingt und die
Tages- und Jahreszeiten hervorruft. „Wie kann aber eine so kleine Scheibe
eine so große Wirkung hervorrufen?" fragst du verwundert. Aber die Sonne
ist in Wirklichkeit nicht so klein, als sie uns erscheint. Die Oberfläche der-
selben ist 12100 mal so groß als die der Erde und würde in ihren Umfang
1331000 Erdkugeln aufnehmen können. Dabei ist ihre Masse in glühendem
Zustande von einer brennenden Atmosphäre umgeben, so daß bei größerer
Annäherung unserer Erde an dieselbe wir nicht mehr leben könnten. Nun
ist diese aber von ihr etwa 20 Millionen Meilen, also ungefähr 400mal
weiter als vom Monde, entfern:. Deshalb erscheint sie uns auch so klein
und deshalb sind ihre Strahlen für uns nicht mehr verderbenbringend,
sondern segenspendend.
Beobachten wir im Laufe eines Tages das Himmelsgewölbe, so sehen
wir morgens die Sonne am Horizonte aufgehen (Osten); sie steigt immer
höher, erreicht mittags ihren höchsten Punkt (Südpunkt, kulminiert), nähert
sich von da an der Gegend des Horizontes, welche dem Ausgang gegenüber
202. Die Erde als Stern unter den Sternen. 421
liegt, und geht abends unter (Westen), um am nächsten Tage an denselben
Ausgangspunkte des Horizontes wieder zu erscheinen. Die Regelmäßigkeit
in der Wiederkehr des Aufgangs der Sonne zwingt uns zu der Annahme,
daß dieselbe auch unter dem Horizonte einen ähnlichen Bogen beschreibt.
Daher hat man auch den Punkt, welcher dem Südpunkt gegenüber liegt, den
Mitternachtspunkt oder Norden genannt.
„Die Sonne geht aber nicht immer an der gleichen Stelle auf und
unter," wirfst du zweifelnd ein; „wie erklärt sich das?" Beginnen wir
unsere Betrachtung am 21. März und setzen sie bis zum gleichen Tage des
folgenden Jahres fort! Am 21. März (Frühlingsanfang) geht die Sonne
um 6 Uhr morgens genau im Ostpunkte auf und um 6 Uhr abends genau
im Westpunkte unter. In der darauf folgenden Zeit rückt der Ausgangs-
punkt täglich etwas weiter gegen Nordosten, der Ort, an welchem sie unter-
geht, gegen Nordwesten. Die Sonne beschreibt infolge ihrer größer werdenden
Annäherung an unsere nördlichen Gegenden allmählich größere Kreisbogen,
geht früher auf und später unter. Die Sonnenstrahlen fallen immer steiler
auf und spenden der Luft und dem Erdboden mehr Wärme. Am 21. Juni
hat die Sonne ihren nördlichsten Punkt und mittags ihre größte Höhe er-
reicht. Wir haben den längsten Tag und die kürzeste Nacht; es ist Sommer-
anfang. Von da an werden die Kreisbogen wieder kleiner, die Tage kürzer,
die Luft allmählich kühler. Der Ausgangspunkt nähert sich dem Ostpunkle
und erreicht ihn am 23. September (Tag- und Nachtgleiche, Herbstanfang), an
welchem Tage dieselben Erscheinungen eintreten wie am 21. März. — Von
jetzt an entfernt sich die Sonne mehr von den nördlichen Gegenden der Erde
nach den südlichen; der Ausgangspunkt nähert sich der südöstlichen, der Unter-
gangspunkt der südwestlichen Richtung. Die Tage werden kürzer, bis die
Sonne am 21. Dezember ihren südlichsten Punkt erreicht hat und für uns
der Winter mit dem kürzesten Tag und der längsten Nacht beginnt. Von
da an rückt die Sonne wieder mehr gegen Norden herauf, die Tage werden
länger, bis am 21. März Tag und Nacht wieder gleich lang sind. Die
Bewohner der südlichen Halbkugel haben natürlich immer die entgegenge-
setzten Jahreszeiten wie wir.
Setzen wir unsere Betrachtungen während der Nacht fort, so sehen wir
am Himmel zahlreiche Sterne von verschiedener Helligkeit; man hat sie in
einzelne Gruppen (Sternbilder) eingeteilt um sich leichter zurecht zu finden.
Schon bei flüchtiger Durchmusterung bemerken wir eine regelmäßige Bewe-
gung vieler Gestirne. Sie erheben sich in einer Gegend unseres Gesichts-
kreises, steigen auf, erreichen ihren höchsten Stand und sinken wieder unter
den Horizont, um nach einer bestimmten Zeit an derselben Stelle, an der
wir sie zuerst entdeckt haben, wieder zu erscheinen.
b) Wir sehen also das ganze Himmelsgewölbe mit der Sonne, dem
Monde und den zahlreichen Sternen um uns, als den Mittelpunkt, sich im
Kreise bewegen; wir und die von uns zum Himmelsgewölbe wie auch durch die
422
202. Die Erde als Stern unter den Sternen
Erde hindurch zum entgegengesetzten Ende gedachte Linie bilden die Achse,
um die sich das ganze Weltgebäude dreht (Weltachse). Und doch ist dies
alles nur ein Schein; genau das Gegenteil ist der Fall. „Wie ist das aber
möglich?" fragst du. Ich will es dir an einen, Beispiele erklären. Du bist
gewiß schon im bequemen Eisenbahnwagen gefahren und hast, vor dich hin-
sehend, gar nicht bemerkt, daß du dich von der Stelle bewegst. Lenkst du
aber deinen Blick zum Fenster hinaus, so gewahrst du die merkwürdige Er-
scheinung, daß Felder und Wiesen, Bäume und Häuser rasch dahinlaufen,
und zwar gerade dir entgegen. Du weißt aber doch ganz gewiß, daß diese
Gegenstände sich nicht bewegen, wohl aber, daß du mit dem Eisenbahnwagen
vom schnellen Dampfrosse dahingezogen wirst. Du nimmst also die Bewegung
nur an den Gegenständen außerhalb des Eisenbahnwagens wahr. Siehst du,
so ist es auch mit der Erde und dem Weltgebäude! Die Erde ist gleichsam
der Eisenbahnwagen, in dem wir sitzen. Ihre Bewegung ist eine viel ruhi-
gere und dennoch viel raschere als die des Wagens; denn du legst mit ihr in
einer Sekunde über 4 Meilen zurück. Wie wir die Fortbewegung im Eisen-
bahnwagen nur an den Bäumen u. s. w. gewahren, so bemerken wir die
Bewegung der Erde auch nur an den Dingen, die außerhalb derselben liegen,
bei Tag also an der Sonne, bei der Nacht an den Sternen. Auch diese
fahren der Erde scheinbar entgegen, während in Wirklichkeit doch die Erde
gegen die Sterne sich bewegt. Die Sonne geht uns also im Osten auf und
im Westen unter, weil sich die Erde von Westen nach Osten um sich selbst (ihre
Achse) bewegt. Zu dieser Drehung braucht die Erde genau 24 Stunden oder
einen Tag. Es sehen also alle Orte, die östlicher liegen, die Sonne früher
auf- und untergehen als westlich gelegene. Da der Umfang der Erde in
360 Längengrade eingeteilt wird und jeder Ort innerhalb 24 Stunden alle
Längengrade, somit 1 Grad in 4 Zeitminuten durchläuft, so hat von zwei
Orten, die um einen Grad Länge voneinander entfernt sind, der östliche um
4 Minuten frühere Tageszeit als der westliche. Wien z. B. liegt fast 5°
(Grad) östlich von München, folglich geht die Wiener Uhr der Münchener
um fast 20 Minuten voraus. Um die dadurch bedingten, für den Verkehr
von unangenehmen Folgen begleiteten Zeitunterschiede auszugleichen wurde
am 1. April 1893 für Mitteleuropa eine Einheitszeit eingeführt.
„Also ist auch die Bewegung der Sonne um die Erde nur Schein?"
Gewiß ist dem so. Nicht die Sonne bewegt sich um die Erde, sondern diese
um die Sonne, die ja 300000 mal schwerer ist als die Erde und diese wie
andere Gestirne anzieht. Die Bewegung der Erde um die Sonne erfolgt in
länglich runden Bahnen (Ellipsen) in etwas mehr als 365 Tagen. Diesen
Zeitraum nennen wir ein Jahr. Da aber die Erde zu ihrer Wanderung um
die Sonne jährlich fast 6 Stunden mehr braucht als 365 Tage, so ergibt
dies alle 4 Jahre fast wieder einen Tag, den wir im Februar einschalten.
Dadurch daß die Erde der Sonne bald mehr die nördliche bald mehr die
südliche Hälfte zuwendet, entstehen die vier Jahreszeiten.
„Bewegen sich nun die Sterne um unsere Erde?" Nein, auch sie stehen
202. Die Erde als Stern unter den Sternen. 423
der Mehrzahl nach still; denn sie sind gleich unserer Sonne Fixsterne oder
Sterne, die ihre Stellung im Welträume wenig verändern. Auch sie sind
Sonnen, die alle viel tausendmal größer sind als unsere Erde, aber wegen
der ungeheueren Entfernung von uns so klein erscheinen. Unsere Erde, die
uns so groß und wichtig dünkt, ist nur ein ganz unscheinbarer, ver-
schwindender Punkt im gewaltigen Weltgebäude, das der Schöpfer so wunder-
voll geschaffen hat.
o) „Wie steht es aber mit dem Monde?" Der Mond ist nächst der
Sonne für uns der wichtigste Himmelskörper; er ist der beständige Begleiter
der Erde. Mit dem unbewaffneten Auge zeigen sich auf der Mondoberfläche
helle und dunkle Stellen, die wir mit dem Fernrohre als Gebirge und Ebenen
erkennen. Da wir immer die gleichen Erscheinungen wahrnehmen, so schließen
wir daraus, daß uns der Mond stets dieselbe Seite zukehrt. Wir können
diese Beobachtungen deshalb viel leichter machen, weil der Mond derjenige
Himmelskörper ist, der uns am nächsten steht. Daher erscheint er uns
auch größer als die übrigen Gestirne, obwohl er das kleinste unter denselben
ist. Sein Flächeninhalt ist etwa so groß wie der Amerikas; aus dem Kubik-
inhalt der Erde könnten wir 50 Kugeln von der Größe und 80 Kugeln
vom Gewichte des Mondes machen.
„Woher kommt es, daß wir oft nur ein Stück vom Monde sehen und
oft gar nichts?" Der Mond bewegt sich in Schlangen- oder Wellenlinien
um die Erde, und zwar in etwa 29^2 Tagen (Monat) und mit dieser um
die Sonne. Er strahlt nicht mit eigenem Lichte, sondern wird wie die Erde
von der Sonne beleuchtet; es fällt also stets nur auf die eine Hälfte des-
selben das Sonnenlicht. Da der Mond der Erde immer dieselbe Hälfte zu-
wendet, so können wir ihn natürlich nicht sehen, wenn er zwischen Sonne
und Erde steht, da die der Erde abgewendete Seite beleuchtet ist (Neumond).
Nach etwa 8 Tagen ist der Mond in seiner Bewegung um die Erde soweit
fortgerückt, daß die westliche Hälfte unseres Mondes erleuchtet ist (erstes
Viertel). Abermals nach einer Woche hat der Mond sich so weit von der
Sonne entfernt, daß er jetzt dieser und der Erde gegenübersteht. Es ist
nun die ganze der Erde zugewendete Scheibe beleuchtet; wir haben Voll-
mond. Nach Ablauf der dritten Woche erhellt die Sonne die östliche Mond-
seite (letztes Viertel) und nach wiederum 8 Tagen tritt der Mond zwischen
Sonne und Erde. Er hat seinen Umlauf beendet (synodischer Monat).
„Wann entsteht nun eine Mondfinsternis?" Es ist klar, mein junger
Freund, daß nur bei Vollmond eine Verdunklung oder Verfinsterung des
Mondes stattfinden kann. Dieselbe wird dadurch hervorgerufen, daß der
etwa 200000 Meilen lange Schatten der Erde auf den Mond fällt. Tritt
der Mond ganz in den Erdschatten, so wird er vollständig (total) verfinstert;
kommt er nur durch den Rand des Schattens hindurch, dann haben wir
eine teilweise (partielle) Verfinsterung. Kommt aber der Mond bei seinem
Umlaufe um die Erde in gerader Linie zwischen Sonne und Erde zu stehen,
so wirkt er wie ein Lichtschirm, hält also das Sonnenlicht von einem Teile
424
202. Die Erde als Stern unter den Sternen.
der Erde ab; wir haben dann eine Sonnenfinsternis. Halten wir die Hand
zwischen unser Auge und ein Licht, so ist natürlich die uns zugekehrte Seite
der Hand dunkel, die von uns abgewendete dagegen erleuchtet; aus demselben
Grunde kann nur bei Neumond eine Sonnenfinsternis stattfinden. Je nach-
dem uns der Mond die ganze Sonne oder nur einen Teil derselben ver-
deckt, wird die Finsternis total oder partiell sein. „Es müßte also bei jedem
Neumonde die Sonne, bei jedem Vollmonde der Mond verfinstert werden?"
Ganz recht, mein junger Freund. Allein die Bahn des Mondes ist gegen
die der Erde (Ekliptik) geneigt und schneidet sie in zwei Punkten (den sog.
Knoten); es kann somit nur dann eine Finsternis stattfinden, wenn der Mond
in der Nähe eines dieser Knoten steht.
„Es ist staunenswert, wie der menschliche Geist dies alles entdeckt und
den Himmelsraum so vielfach durchforscht hat." Gewiß haben die Astro-
nomen schon vieles geleistet und uns mit Hilfe von Ferngläsern den Himmel
gewissermaßen näher gebracht; aber noch viel bewundernswerter ist die
allmächtige Hand, die dies alles in so weiser Ordnung geschaffen hat, leitet
Und regiert. Nach Hästers.
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündiget
seiner Hände Werk" (Psalm 19). Ja, majestätisch, erhaben und uner-
meßlich ist das Weltall mit seinen unzählbaren Himmelskörpern; aber
größer und unendlich erhabener und majestätischer als dieses unermeß-
liche Gebäude ist das allmächtige Wesen, welches dasselbe aus nichts
ins Dasein gerufen. Darum „Ehre dem Wunderbaren, der unzählbare
Welten in den Ozean der Unendlichkeit aussäte und sie mit Heerscharen
Unsterblicher füllte, daß sie ihn liebten und selig wären durch ihn!"
VI. Teil
Erkenne Gottes Walten in deines Kolkes #sfdjidjtr!
Man liest doch nichts lieber als seines
Volkes Geschichten. Sie stellen die alten Be-
gebenheiten dar, als wäre man dabei, rufen
die Geister der Entschlafenen aus ihren Gräbern
und lehren uns handeln als unter ihren Augen
in guten Dingen zur Ermutigung, in schlechten
zur Beschämung und zeitigen Rückkehr. Sie
trösten und geben Rat im gegenwärtigen
Unglück, gleichwie sie winken zur Vorsicht und
Mäßigung im Glück, auf daß sich kein Unglück
daraus erzeuge. Bedeutung geben sie manchem
Platz, an welchem wir sonst ohne Gedanken
vorübergingen . . . Harms.
203. Muttersprache.
Muttersprache, Mutterlaut!
Wie so wonnesam, so traut!
Erstes Wort, das mir erschallet,
Süßes, erstes Liebeswort,
Erster Ton, den ich gelallet,
Klingest ewig in mir fort.
Ach, wie trüb ist meinem Sinn,
Wenn ich in der Fremde bin,
Wenn ich fremde Zungen üben,
Fremde Worte brauchen muß,
Die ich nimmermehr kann lieben,
Die nicht klingen als ein Gruß!
Sprache, schön und wunderbar,
Ach, wie klingest du so klar!
Will noch tiefer mich vertiefen
In den Reichtum, in die Pracht;
Ist mir's doch als ob mich riefen
Väter aus des Grabes Nacht.
Klinge, klinge fort und fort,
Heldensprache, Liebeswort!
Steig empor aus tiefen Grüften,
Längst verschollnes altes Lied,
Leb' aufs neu in heil'gen Schriften,
Daß dir jedes Herz erglüht!
Überall weht Gottes Hauch,
Heilig ist wohl mancher Brauch;
Aber soll ich beten, danken,
Geb' ich meine Liebe kund,
Meine seligsten Gedanken,
Sprech' ich wie der Mutter Mund!
Schenkendorf.
426 204. Die ersten Zusammenstöße der Römer mit den Bayern.
204. Zie ersten Zusammenstöße der Wömer mit den Wayern.
Es war etwa im Jahre 15 vor Christus, als zum erstenmal ein
fremder Eroberer an den südlichen Grenzen des Landes, das die Vor-
fahren der Bayern inne hatten, erschien. Durch die Pässe der Scharnitz
zog Drusus, der Stiefsohn des römischen Kaisers Oktavianus Augustus,
in die Vorberge unseres Vaterlandes, wohl der erste Römer, dessen Blicke
von den Höhen bei Ettal aus auf den unermeßlichen Waldflächen und
spärlichen Fruchtebenen Bayerns ruhten.
Damals war Bayern wie überhaupt das alte Deutschland ein noch
rauhes und unwirtliches Land, voll großer Sümpfe, Moore, öder Strecken
und weitgedehnter Wälder. Zahlreiches Wild lockte zur Jagd; neben
Rot-, Dam- und Hochwild und dem Schelch, einem Riesenhirsche, hausten
auch Auerochsen, Luchse, Füchse, Wölfe und Büren im undurchdring-
lichen Dickicht.
Der Boden war eben wegen der vielen Waldungen nicht in der
Ausdehnung bebaut wie heutzutage. Doch trugen die Felder Hafer,
Gerste, Weizen und Roggen; daneben war der Flachs- und Hanfbau
verbreitet; auch an mancherlei Gemüsearten fehlte es nicht: Bohnen,
Erbsen, Linsen waren vorhanden, dazu Spargel, Zuckerwurzeln und
Rettiche, deren Größe die Bewunderung der Römer erregte. Der Obst-
bau war noch sehr beschränkt.
Dagegen gab es herrliche und grasreiche Weiden, da es der besondere
Stolz unserer Vorfahren war einen guten Viehstand zu haben; nach
ihm wurde das Vermögen des einzelnen geschätzt. Die Kuh wurde in
Zahlung genommen als Buße; auch Abgaben wurden in Kühen oder in
Ochsenhäuten geleistet.
Das notwendigste aller Gewürze, das Salz, quoll da und dort
aus dem Boden hervor und unsere Ahnen schätzten dasselbe so sehr,
daß bisweilen zwischen einzelnen Gauen Streitigkeiten und heiße Kämpfe
um den Besitz von Salzquellen entstanden. Auch das nützlichste aller
Metalle, das Eisen, hat hier und dort der Boden schon geliefert; doch
ruhte das meiste Metall noch im Schoße der Erde und harrte der
hebenden Hand.
Kein Wunder, daß bei solchem Reichtum des Bodens unsere Vor-
fahren ihr Land über alles liebten; sie waren ja auch als freie Männer
darin geboren und die Beschaffenheit des Landes half ihre Freiheit
schützen. Die Wälder und Sümpfe hatten bisher den Feind geschreckt;
die Jagd auf wilde Tiere hatte die Körper der Männer gestählt und
bei einfacher, natürlicher Kost waren sie zu so hohen Gestalten empor-
gewachsen, daß sie besonders von den Römern bewundert und gefürchtet
427
204. Die ersten Zusammenstöße der Römer mit den Bayern.
wurden. Sie zeichneten sich auch durch Frömmigkeit, Tapferkeit und
Wagemut, Keuschheit und Reinheit der Sitten, Wahrhaftigkeit und Gast-
fteiheit, Redlichkeit und Treue aus.
Und trotzdem wurden sie von den Römern, die im regelrechten
Kampf überlegen waren, damals unterworfen.
Schwer mußten sie die Hand des Siegers fühlen. Nur die nötigsten
Kräfte blieben zur Bestellung des Ackers zurück; die kräftige, streitbare
Jugend wurde fortgeführt und in die römischen Heere eingereiht.
Nach ihrer Gewohnheit teilten die Römer das eroberte Land in Pro-
vinzen ab, die sie mit Heerstraßen durchzogen und mit Kastellen und
Lagern bedeckten. An deren Stelle erwuchsen viele der heutigen Städte
südlich von der Donau, so Regensburg, Augsburg, Passau, Kempten,
Partenkirchen, Memmingen u. a. Als Schutzwehr errichteten sie einen
ungeheueren Erdwall von Kelheim längs der Altmühl bis hin zum
Neckar, Main und mittleren Rhein, wovon noch jetzt unzerstörbare Reste
da und dort sichtbar sind. Das Volk nennt die Überreste dieses Grenz-
walles Teufelsmauer.
Eine der Römerstraßen, die von Salzburg nach Augsburg führte,
zeigt noch deutlich erkennbare Reste, so bei Gauting an der Würm, bei
Schöngeising an der Amper, bei Grünwald an der Isar. In der Nähe
des letzteren Ortes bezeichnen an dem rechten steilen Jsaruser noch die
ziemlich hohen Überreste dreifacher Verschanzungen den Punkt, an dem
einst die römischen Legionen den Fluß überschritten.
Obwohl die Römer als Eroberer auftraten, haben sie doch auch
segensreich während dieser Zeit gewirkt. Der Boden wurde mehr an-
gebaut, die Gewerbe bildeten sich aus, Städte wurden gegründet und
der Handel fand Förderung. Im Innern des Landes handelte der
römische Kaufmann Pferde und Rinder, Pelzwerk und Felle, Daunen,
Wolle, ja selbst Wollengewebe ein. Rauchfleisch, Honig, Rüben, Rettiche
wurden nach Rom versandt; Spargel und einige köstliche Fischarien aus
deutschen Flüssen wie auch seltene Arten Geflügel kamen als Leckerbissen
auf die Tafel des römischen Schwelgers. Mit dem deutschen Goldhaar
schmückten sich römische Frauen.
Aber auch das mächtige Römerreich verfiel dem unwandelbaren
Gesetz alles Irdischen. Und gerade deutsche Völker waren es, die es
zum Falle brachten. Nach vierhuudertjähriger Herrschaft über die Länder
südlich von der Donau unterlag es dem Ansturm einer ungeheuren
Völkerbewegung, die länger als ein Jahrhundert über Europa sich hin-
wülzte und die „allgemeine Völkerwanderung" genannt wird.
Nach Schlicht.
428 205. Die Einführung und Verbreitung des Christentums in Bayern.
205. Die Einführung und Verbreitung des Christentums in
Bayern.
Unter der Regierung der Agilolfinger über Bayern vom
sechsten bis achten Jahrhundert geschah zur Einführung und
weiteren Verbreitung des Christentums sehr viel. Die vereinten
Bemühungen der Herzoge und der von ihnen ins Land berufenen
Glaubensboten waren auch von segensreichstem Erfolg.
In der Gegend von Füssen und Kempten verkündete der
Irländer Magnus das Christentum. Bei Regensburg predigte
der fromme Bischof Emmeram, der, vom Herzog ins Land
gerufen, von dessen Sohn wegen eines falschen Verdachts auf
die grausamste Weise ermordet wurde. Der Herzog ließ zur
Sühne den Leichnam des Bischofs nach Regensburg bringen
und erbaute über seiner Ruhestätte ein Kloster.
Bald darauf wurde der Bischof Rupert von Worms nach
Regensburg berufen. Herzog, Adel und Volk vernahmen aus
seinem Munde mit empfänglicher Seele das Wort Gottes. Er
zog lehrend und taufend umher und weihte an vielen Orten, so
in Regensburg, Altötting, Eichstätt, Gotteshäuser ein. Dabei
gelangte er an die Trümmer der zerstörten Römerstadt Juvavia,
des heutigen Salzburg. Die Lage dieses Ortes gefiel ihm so sehr,
daß er dort eine Kirche und ein Kloster baute und so den
Grund legte zum nachmaligen Erzbistum Salzburg.
Von einem anderen agilolfingischen Herzog wurde ein ge-
lehrter fränkischer Bischof Korbinian zum Verweilen in Bayern
veranlaßt. Er errichtete auf einem Berge bei Freising ein Bet-
haus, das heutige Weihenstephan, und wirkte für das Christen-
tum höchst segensvoll.
Um die Bekehrung des bayerischen Volkes völlig zu Ende
zu führen und überhaupt die religiösen Angelegenheiten des
Landes zu ordnen, wurde von Herzog Odilo, dem Vater des
letzten Agilolfingers, der Engländer Winfried, unter dem Namen
Bonifazius bekannt, nach Bayern eingeladen. Durch ihn
wurden die bischöflichen Sprengel von Regensburg, Freising,
Passau und Salzburg geordnet. Überall, wohin er Bekehrungs-
reisen machte, hatte er mit dem Aberglauben der Heiden zu
kämpfen. Später wurde er zum Erzbischof in Mainz ernannt.
Von dort zog er als Greis an das Gestade der Nordsee um die
heidnischen Friesen zu bekehren. Diese aber achteten seinen
heiligen Beruf nicht, sondern erschlugen ihn (755).
206. Karl der Große.
429
Das Christentum durchdrang nach und nach das innere
Leben des Bayernvolkes; der gutmütige Sinn der Bewohner
erleichterte den Eingang der christlichen Religion in ihre Herzen
und die agilolfingischen Herzoge unterstützten und förderten
die Glaubensprediger eifrigst in ihrem frommen AVirken, da sie
wohl einsahen, daß ohne Gottesfurcht wahres Völkerglück nicht
bestehen kann. Nickias.
206. Karl der Große.
768—814.
Karl der Große ist der Gründer des mächtigen Fränkischen Welt-
reiches. Viele Jahre und heiße Kümpfe waren nötig um den Bau auf-
zurichten. Es reichte von der Eider und dem Deutschen Meer im Nor-
den bis zum Garigliano und Ebro im Süden und von der Elbe und
der Theiß im Osten bis zum Atlantischen Ozean im Westen. Dieses
Frankenreich umfaßte alle germanischen Volksstümme, nur die Angelsachsen
in England und die Normannen in Skandinavien ausgenommen. Am
meisten Mühe und Blut hat es gekostet den großen Sachsenstamm in
den Nahmen dieses Reiches hinein und zur Taufe zu zwingen. An der
Saale, an der Elbe, an der Havel und an der Raab baute Karl starke
Befestigungen und gründete germanische Ansiedlungen als feste Marken
gegen die Slaven. Aus einer derselben, aus der Ostmark an der Naab,
erwuchs das Ostreich, Österreich.
Karl, der große Kriegsmann, war auch ein weiser Landesvater.
Sein weites Land brachte er in die beste Ordnung. Damit alles wohl
verwaltet werde, teilte er das ganze Reich in viele kleinere Bezirke oder
Gaue, an deren Spitze er angesehene und erfahrene Männer stellte, die
Grafen genannt wurden. Deren Tätigkeit ließ er durch eigene Send-
boten überwachen und überzeugte sich von Zeit zu Zeit selbst in den
verschiedensten Teilen des Reiches von der Handhabung der Ordnung.
Strenge hielt er darauf, daß überall im Reiche sein Wille gelte. Rück-
sichtslos verfuhr er gegen diejenigen, die sich seinem Willen wicht beugen
wollten. So mußte Thassilo II., der Herzog von Bayern aus dem
Geschlechte der Agilolfinger, seine Macht fühlen: er wurde seines Herzog-
tums entsetzt (788) und in ein Kloster verwiesen, Bayern aber dem
Frankenreiche einverleibt.
Die christliche Religion und Kirche lag ihm sehr am Herzen. Er
sorgte, wo er nur konnte, für gute Geistliche und erwies ihrem heiligen
Berufe große Achtung. Um den Kirchengesang zu verbessern ließ er
Sänger und Orgelspieler aus Italien kommen. Die Erziehung der
430
206. Karl der Große.
Jugend war ihm höchst wichtig. Daher stiftete er viele Schulen und
bestellte geschickte Männer zu Lehrern. An seinem Hofe mußten alle seine
Diener, hohe und niedere, ihre Söhne in die Schule schicken. Rastlos
war er selbst bemüht seinen Geist auszubilden. Da er als Knabe nicht
schreiben gelernt hatte, so setzte er sich als Mann noch hin um die Buch-
staben nachbilden zu lernen; ja er hatte in seinem Bett unter dem Kopf-
kissen Tafeln und Blätter liegen, aus welchen er sich nachts, wenn er
aufwachte, im Schreiben übte. Doch seine des Schwertes gewohnte Hand
brachte es darin nie zu großer Fertigkeit. Eiftig las er fromme Bücher
und Heldengeschichten. Seine Muttersprache war ihm teuer. Die alten
deutschen Volks- und Heldenlieder ließ er sammeln. Doch sprach er auch
ganz geläufig Lateinisch und im Griechischen konnte er wenigstens ein
Buch verstehen. Wie sehr er die Wissenschaften liebte, zeigte er durch
die hohe Achtung und Ehre, welche er gelehrten Männern erwies.
Manche derselben zog er an seinen Hof und verkehrte mit ihnen wie mit
Freunden. Sie waren zugleich die Lehrer seiner Söhne; denn er hielt
darauf, daß diese nicht nur alle ritterlichen Übungen lernten sondern auch
in den Wissenschaften unterrichtet wurden. Seine Töchter dagegen mußten
sich nach guter alter Sitte mit Wollarbeiten, Spinnen und Weben beschäftigen.
Auch für Handel und Verkehr, für Ackerbau und Landwirtschaft war
der sorgsame Kaiser ungemein tätig. Zur Hebung des Verkehrs be-
absichtigte er durch einen Kanal den Rhein mit der Donau zu ver-
binden, ein Werk, das freilich zu jener Zeit noch nicht glücken wollte.
Um den Ackerbau zu fördern ließ er Dörfer anlegen, Wälder ausrotten,
Sümpfe trocknen und öde Strecken in fruchtbare Gefilde umwandeln. In
der Pflege der Landwirtschaft ging er selbst mit dem besten Beispiele
voran. Auf seinen Gütern herrschte die größte Ordnung. Der Ackerbau
wurde dort nach seinen eigenen Anordnungen ganz musterhaft betrieben;
denn er selbst war ein sehr kundiger Landwirt, der seinen Verwaltern
die trefflichsten Vorschriften erteilte über die Zucht der Haustiere und
Bienen, die Bereitung des Weines und Bieres, des Honigs und Wachses
sowie über den Feld- und Obstbau, die Gärtnerei und Fischerei. Auch
die Gewerbe fanden in den Pfalzen weise Pflege. Die Baukunst konnte
sich durch Errichtung von Kirchen (Aachen) und Klöstern sowie kaiser-
licher Burgen entfalten.
So lernen wir in Karl dem Großen nicht bloß einen großen Krieger
und Gesetzgeber sondern auch einen Pfleger jeder Kultur, der Wissenschaften,
der Künste und der Gewerbe, und einen erfahrenen Landwirt kennen.
Es ist kein Wunder, daß er heute noch in Sage und Dichtung fortlebt.
Nach Fischer.
431
207. Einfluß der Klöster auf das Gewerbe.
207. Kinffuß der Klöster auf das Gewerbe.
(Eine Klosterwerkstätte.)
Die von dem heiligen Augustin, von Benedikt von Nursia und
Bernhard von Clairvaux gestifteten Klöster waren nicht nur Wohnsitze
der Frömmigkeit und Mäßigkeit sondern wurden auch in Deutschland die
Pflanzstätten der mittelalterlichen Kultur. Die frommen Mönche griffen
zur Axt und fällten Bäume um den Wald zu lichten und Bauholz zu
gewinnen, um den Boden urbar zu machen und sich die Stätte zu be-
reiten, von welcher aus sie durch Lehre und Beispiel als Arbeiter wirken
konnten.
Durch die Klöster wurden die Deutschen vielfach erst mit dem
Ackerbau vertraut; durch sie kamen viele unbekannte Kulturpflanzen
in das Land; durch sie wurden öde, unwirtliche Gegenden in lachende
Auen und fette Weiden verwandelt. Eine ganz besondere Sorgfalt
widmeten die Klosterbewohner dem Weinbau. Die vorzüglichsten Reb-
gelände in Deutschland gehörten nicht allein den Klöstern sondern waren
anch von ihnen angelegt.
Aufmunternd wirkten die Klöster auch auf die notwendigsten Ge-
werbe. Die Bereitung des eigentlichen Bieres aus Malz von Gerste
oder Hafer und Hopfen scheint von den Klöstern ausgegangen zu sein,
ebenso die Destillation und Herstellung verschiedener alkoholischer Getränke.
Da sie ihre Mühlen nicht einzig für den Hausbedarf oder den ihrer
Angehörigen beschäftigen konnten, so versandten sie das Mehl und wohl
auch andere Erzeugnisse der Landwirtschaft in entferntere Gegenden. Zu
diesem Zwecke betrieben sie die Schiffahrt und legten Wege an oder ver-
besserten die bestehenden.
Bis zum 11. Jahrhundert gingen fast alle industriellen Erfindungen
und Verbesserungen von den Klöstern aus; die wissenschaftliche Technik
wurde dort noch mehrere Jahrhunderte lang ausschließlich gepflegt und
die ganze gewerbliche und sogar künstlerische Tätigkeit verrät lange Zeit
den Einfluß des Klosters. Hier konnten sich die Gewerbe am besten
entwickeln; denn hier kam ihnen die ganze Wissenschaft, worüber das
Zeitalter verfügte, zu Hilfe. Chemie, Physik und Technik wurden dort
getrieben und äußerten bald ihren Einfluß auf die Gewerbe. Aus den
Klöstern ging die Arbeit frei hervor, um sich dann in den Städten unter
dem Schutze der Vereinigungen der Gewerbetreibenden zur großen Industrie
auszubilden.
Betrachten wir einmal eine Klosterwerkstätte, wie sie zum Segen
des deutschen Gewerbes, der Wissenschaft und Kunst z. B. in Heiligen-
432 207. Einfluß der Kloster auf das Gewerbe.
kreuz bei Wien, in Reichenau im Bodensee oder in Tegernsee sich ent-
faltete und wirkte.
Zuerst wurde gezimmert und gemauert um das Gotteshaus und
die eigene Heimstätte zu errichten. Schmuck- und kunstlos waren die
ersten Kloster und Gotteshäuser, zu welchen Glocken aus Eisenblech die
Gläubigen riefen. Erst allmählich wurden die Glockentürme und später
die Kirchen und Klöster selbst ans Manerwerk hergestellt und kunstvoll
verziert. In letzteren war stets ein größerer Raum, eine Werkstütte, in
der die Mönche ihre Geschicklichkeit in der Herstellung von verschiedenen
Gerätschaften betätigten und auch andere darin unterrichteten. Da wurde
genäht und geschustert, gehobelt und geleimt, gezimmert und gefeilt; da
wurden aber auch feine Arbeiten in Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Holz
und Stein hergestellt; da wurde die Kenntnis der Griechen von allerlei
Farben und Farbenmischungen, der Toskaner Bereitung des Emails,
der Araber Kunst im Treiben, Gießen und Ziselieren der Metalle, die
Gefäßbildnerei und der Elfenbeinschnitt der Italiener und die Glas-
malerei der Franzosen gelehrt und geübt. Dabei wurde mit bewunderungs-
würdiger Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit, mit mühseliger Genauigkeit
und Zierlichkeit gearbeitet.
Eine der Hauptbeschäftigungen in den Klosterwerkstätten war das
Bücherschreiben. Zu diesem Zwecke wurde zunächst aus den Häuten von
Tieren das Pergament zugerichtet, und zwar mit den einfachsten Mitteln,
oft so weiß und dünn wie jetzt unser feinstes Postpapier. Dann wurden
Linien auf das Pergament gezogen und endlich wurde dasselbe beschrieben.
Dies war eine unendlich mühselige Arbeit, da die Bücher nicht in unserer
jetzt üblichen Schreibschrift, sondern in Kursivschrift geschrieben wurden.
Die Anfangsbuchstaben wurden gewöhnlich künstlerisch verziert, oft auch
mit Bildern in Farben und Gold geschmückt (Miniaturmalerei); ja hier
und da wurde das Pergament selbst mit Purpurfarbe gefärbt und mit
silberner oder goldener Tinte beschrieben.
Dies alles geschah mit so vieler Kunst, daß sich der Glanz des
Goldes, des Silbers und der Farben bis jetzt, also neunhundert oder
tausend Jahre lang, so schön erhalten hat, als wären diese Bücher erst
vor einigen Tagen geschrieben worden. Die beschriebenen Pergament-
blätter wurden dann in dicke Bretter gebunden, diese mit Leder über-
zogen und mit Elfenbein oder Metall künstlerisch verziert. So sind uns
durch die emsige, kunstverständige Tätigkeit der Klosterbrüder viele Werke
von unschätzbarem Wert erhalten worden.
Auch die Wandmalerei und die Ölmalerei übten gar manche Mönche,
während andere Sättel und hölzerne Möbel kunstvoll bemalten. Bald
433
208. Gründung Münchens 1158.
befriedigte aber die Malerei auf Pergament, Holz oder Mörtel nicht
mehr; man versuchte sich in Glas-, Email- und Mosaikmalerei und auch
hier in staunenswert künstlerischer Weise. Dabei wurde dem Künstler in
keiner Weise vorgearbeitet; er selbst mußte den Schmelz- und Kühlofen
bauen, selbst die Asche aus Buchenholz brennen und mit Sand mischen,
selbst die Glashafen formen und brennen und endlich selbst das Glas blasen.
Ebenso waren die Künstler in Metallarbeit gezwungen ihre Werk-
zeuge selbst zu machen und die Arbeitsplätze und Öfen einzurichten.
Ihre Tätigkeit war eine weit ausgedehnte: das Gießen, Treiben und
Formen verschiedener Kelche und anderer Metallgefüße, das Gießen der
großen Glocken, der Handglocken und Glockenspiele, die Herstellung
zierlicher Kunstwerke aus Kupfer, Zinn und Eisen, die mannigfaltigsten
Schöpfungen der Goldschmiedekunst.
So herrschte in den Klosterwerkstätten allenthalben fröhliche
Schaffensfreudigkeit und kunstverständige Pflege der Gewerbe. Sie
bildeten die Pflanzschulen für die Handwerker in den immer mehr sich
entwickelnden Städten. Doch konnten sie nicht unberührt bleiben von
den Veränderungen, die sich im bürgerlichen und wirtschaftlichen Leben
allmählich vollzogen. Als die Städte ebenfalls den Gewerben Schutz
gewährten, nahm das bürgerliche Gewerbe den Wettbewerb mit der
Klosterwerkstätte auf deren eigenem Boden auf. Allmählich wurde die
gewerbliche Tätigkeit fast ganz aus den Klöstern verdrängt.
208. Gründung Münchens 1158.
Etwa eine Stunde nördlich der jetzigen Hauptstadt Bayerns,
an dem steilen Ostufer der Isar, liegt das Dorf Oberföhring.
Schon zur Zeit der Weifenherrschaft gehörte es zum Bistum
Freising und blieb demselben bis zum Anfange des 19. Jahr-
hunderts. Nun war früher der Ertrag der Zölle eine der Haupt-
einnahmen des Landesherrn; in Bayern war einer der vorzüg-
lichsten Handelsgegenstände das Salz aus den Sudwerken Reichen-
halls, welches Schwaben und Burgunder, Franken und Rhein-
länder, ja selbst die Sachsen in langen Reihen zweiräderiger
Karren an Ort und Stelle abholten. Eine der meistbefahrenen
Salzstraßen führte von den Pfannen durch Oberbayern und
überschritt bei Föhring die Isar. Hier, auf ihrem Gebiete, hatten
deshalb die Bischöfe von Freising eine Brücke und Zollstätte
errichtet; dort mußte Zoll und Brückengeld in gutem Metall
bezahlt werden, welches in der daneben befindlichen Münzstätte
in Scheidemünze umgeprägt wurde.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. ' 28
434
209. Friedrich Barbarossa.
Als Heinrich der Löwe 1156 das Herzogtum Bayern erhalten
hatte, verlangte er, daß der Bischof die Zollstätte aufhebe. Otto
von Freising, der berühmte Geschichtschreiber und Oheim des
Kaisers, welcher damals den Bischofstuhl inne hatte, verweigerte
das Begehren des Herzogs. Da ließ dieser bei dem alten Dorfe
Munichen, einer schon im achten Jahrhundert vorkommenden
Besitzung des Klosters Schäftlarn, eine Brücke schlagen, die
Straße dahin abzweigen, ein Zoll- und Münzhaus erbauen und
Stätten zur Lagerung des Salzes errichten. Nachdem alles ge-
ordnet war, überfiel er in einer Nacht des Jahres 1158 unerwartet
die Zollstätte zu Föhring mit gewaffneter Hand, brach die Brücke
ab und zerstörte den Platz. Darüber führte der gekränkte
Bischof bittere Klagen bei dem Kaiser. Dieser aber wollte den
mächtigen Herzog nicht zum Feinde haben, die Hilfe des treuen
Freundes auf seinen italienischen Zügen nicht entbehren und
stiftete einen Vergleich; durch denselben wurde die neue Ein-
richtung bestätigt; der Herzog mußte jedoch den dritten Teil
der Einkünfte des Zolles und der Münzstätte an Freising überlassen.
Von nun an blühte der neue Markt zu München, wohin
sich wegen des Handels und der Münzstätte viele Ansiedler
zogen, immer mehr auf. Schon zwölf Jahre später erscheint
dessen erster bekannter Pfarrer Herbot als Dekan des Kapitels
und einer nicht unwahrscheinlichen Überlieferung zufolge soll
schon Heinrich der Löwe sich hier eine Wohnung erbaut und
den Ort mit Wall und Gräben, umschlossen haben. Der
eigentliche Glanz der neu entstandenen Stadt beginnt aber erst,
als mit dem Regierungsantritt der Wittelsbacher 1180 die alte
Hauptstadt des Herzogtums (Regensburg) zur Reichsstadt ge-
worden war und als nach der ersten Teilung des Landes 1255
Herzog Ludwig der Strenge sich hier ein Schloß — die alte
Feste — erbaute und seine ständige Residenz nahm, spmner.
209. Ariedrich Waröarossa.
1152—1190.
In Friedrich, von den Italienern Barbarossa (Rotbart) genannt,
war dem Reiche wieder ein Kaiser erstanden, der an Bedeutung neben
Karl dem Großen und Otto dem Großen steht.
Er suchte das Deutsche Reich vor allen Reichen der Erde groß und
herrlich zu machen. Seinem Streben traten jedoch große Schwierigkeiten
in den Weg. Ein Streit mit dem Papst und Zwistigkeiten mit den
209. Friedrich Barbarossa.
435
lombardischen Städten, welche die Oberhoheit des Kaisers über Italien
nicht anerkennen wollten, zwangen ihn, wiederholt über die Alpen zu
ziehen. Sechsmal führte er eine gewaltige Heeresmacht in das auf-
ständische Land um das kaiserliche Ansehen zu wahren. Allein so sieg-
reich und ruhmvoll er auch kämpfte, Italien wurde nicht bezwungen.
Einen kräftigen Gegner hatte Friedrich auch in Deutschland zu be-
kämpfen. Das war Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern,
aus dem stolzen Geschlechte der Welfen, der Gründer Münchens. Durch
den Besitz zweier Herzogtümer unter allen Fürsten Deutschlands der
mächtigste, hatte er seine Herrschaft durch glückliche Kriege gegen die
Wenden noch erweitert. Sie erstreckte sich von den Ufern der Nord-
und Ostsee bis über die Donau in die südlichen Gebirge. Da versagte
er dem Kaiser den schuldigen Gehorsam, als dieser, in Italien von
Feinden bedrängt, seiner Hilfe am meisten bedurfte. Selbst flehentliches
Bitten des Kaisers vermochte den stolzen Sinn Heinrichs nicht zu ändern.
Sein Trotz blieb aber nicht ungestraft. Friedrich kehrte nach beendetem
Kampfe wieder nach Deutschland zurück und forderte den Herzog ans,
wegen seines Ungehorsams sich auf einem Reichstag zu verantworten.
Da Heinrich nicht erschien, wurde er in die Reichsacht erklärt und verlor
seine beiden Herzogtümer. Sachsen wurde an mehrere Fürsten verteilt;
Bayern erhielt (1180) der tapfere, dem Kaiser treu ergebene Otto von
Wittelsbach, der Stammvater des jetzigen bayerischen Fürstenhauses, für-
treu geleistete Dienste. Zwar griff nun Heinrich der Löwe zu den Waffen
um sich seine Besitzungen zu erhalten; allein er vermochte sich nicht gegen
den Kaiser zu behaupten und bat diesen endlich fußfällig um Gnade.
Sie wurde ihm gewährt, aber unter harten Bedingungen. Friedrich
hatte seine Macht wiederhergestellt und das Kaiserreich erstrahlte in neuem
Glanze. Die lombardischen Städte erkannten des Kaisers Oberhoheit an,
erhielten jedoch von Friedrich die freie Wahl ihrer Obrigkeiten zugestanden.
Damit trat neben Adel und Geistlichkeit ein neues Glied in die Reihe
der mittelalterlichen Reichsstände, das Bürgertum. Auf Süditalien
erwarb sich das Haus der Staufer Anwartschaft durch die Ehe, welche
des Kaisers ältester Sohn Heinrich mit der Erbin von Neapel und
Sizilien schloß.
Am Abend seines Lebens unternahm der ritterliche Kaiser noch einen
Kreuzzug nach dem Gelobten Land. An der Spitze eines zahlreichen
Heeres zog der greise Held ans nach dem Morgenlande. Aber er sollte
das Ziel seiner Kreuzfahrt nicht erreichen; er fand in den Fluten des
Flusses Saleph seinen Tod. So beschloß Friedrich seine Heldenlaufbahn.
Unbeschreiblich war die Trauer des Heeres, unbeschreiblich der Schmerz
28«
436 210. Einfluß der Kreuzzüge auf Handel und Städtewesen.
des ganzen Volkes, als die Kunde seines Todes nach Deutschland ge-
langte. Das Volk konnte es lange gar nicht glauben, daß sein großer
Kaiser, der gewaltige Barbarossa, wirklich gestorben sei. Und noch lebt
er fort in der Sage. Im Thüringer Land, erzählt sie, tief unten im
Kyffhüuserberge, sitzt er schlafend, das Kinn gestützt auf einen steinernen
Tisch, durch den sein Bart gewachsen ist. Den Gipfel des Berges um-
kreisen Raben; endlich aber wird ein Adler kommen und sie hinweg-
scheuchen. Dann erwacht der alte Barbarossa aus seinem Schlummer
und bringt die alte Macht und Herrlichkeit des Deutschen Reiches wieder.
Nach Andrä.
210. Kinssuß der Kreuzzüge auf Kandel und Städtewesen.
Die Stürme der Völkerwanderung hatten das entwickelte Gewerbe
so gründlich zerstört, daß wieder aus Jahrhunderte der Landbau allein
die Beschäftigung der überwiegenden Masse der Bevölkerung bildete.
Vorher aber mußte eine vollständige Umgestaltung nicht bloß der Sitten
und Gebräuche sondern auch der gesellschaftlichen Einrichtungen erfolgen.
Ein bedeutender Handelsverkehr vermochte erst dann zu entstehen, wenn sich
in weiteren Kreisen der Geschmack an ftemden Erzeugnissen einstellte und
dem Anslande Tauschwerte für dieselben geboten werden konnten.
Und diese Umgestaltung kam. Die Kreuzzüge, das Werk religiöser
Begeisterung und ritterlicher Abenteuerlust, bewirkten sie. Aus diesem
Grunde müssen sie für das folgenschwerste Ereignis des Mittelalters
gelten, obgleich sie nach zweihundertjährigem Kampf ohne das erstrebte
Ergebnis blieben.
Das Wiederaufleben des Handels in Europa hebt von den Kreuz-
zügen an. Die seit Jahrhunderten fast gänzlich unterbrochene Verbindung
zwischen Abendland und Morgenland wurde durch sie wiederhergestellt.
Dort hatte das Griechische Reich wenigstens teilweise die Beziehungen zu
Asien und Afrika unterhalten und bezog die Erzeugnisse beider Erdteile auf
den Handelswegen über Alexandria, Kleinasien und die Küstenländer des
Schwarzen Meeres. In Konstantinopel, in Kleinasien und Syrien trat den
Kreuzfahrern deshalb eine neue Welt entgegen. Der Glanz, die Pracht und
die Üppigkeit des Lebens, der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der nie
gesehenen Gegenden setzte sie in Erstaunen. Jeder, der nach Erfüllung
seines Gelübdes in die Heimat zurückkehrte, trug neue Bedürfnisse und
neue Wünsche mit zurück. Dem Kaufmann, der für Bestiedigung derselben
sorgte, öffneten sich die Tore der Burgen und Schlösser, die bisher für
ihn geschlossen gewesen. Dieselben Schifte, welche neue Kreuzfahrer nach
dem Gelobten Lande beförderten, brachten nun auf der Rückreise die Er-
zeugnisse des Orients mit.
437
210. Einfluß der Kreuzzüge auf Handel und Städtewesen.
Noch andere Wirkungen zeigten sich in den Ausgangsländern dieser
Züge. Die ununterbrochene Fahrt von hoch und gering nach dem
Heiligen Grabe verschaffte den Gutsherren Absatz für ihren Überfluß an
Getreide, Vieh u. dgl. und dies mußte namentlich in der Nähe der
Einschiffungsorte bedeutende Geldsummen in Umlauf bringen. Nicht
minder hat darauf die kostspielige Ausriistung der Ritter und ihres Ge-
folges gewirkt, wodurch mancher gezwungen wurde Teile seiner Be-
sitzungen zu verkaufen oder zu verpfänden. Auch löste sich manche Fessel,
welche die vorhergegangenen Jahrhunderte den kleinen Grundeigentümern
angelegt hatten. Viele Kreuzfahrer verordneten für den Fall ihres
Todes die Freilassung ihrer Hörigen und Leibeigenen.
Groß ist der Umschwung, welchen die Kreuzzüge unmittelbar und
mittelbar in den städtischen Verhältnissen hervorriefen. Zwar hatten sich
viele Städte meist schon vor dieser Zeit von der Obergewalt der Bischöfe
und Fürsten losgerissen und tatsächlich ihre Unabhängigkeit errungen,
da sie nur die Oberhoheit der kaiserlichen Gewalt anerkannten. Aber
diese Freiheit kam nur den ehemaligen Lehensleuten und Altfreien, welche
ritterlichen Rang besaßen, zugute. Diese bildeten das Patriziat; diese
führten das Regiment und neben ihnen stand rechtlos die ganze übrige
Bevölkerung, aus Hörigen, Kaufleuten, Handwerkern und Dienern zu-
sammengesetzt. Jene waren die Herren, diese die Knechte, ganz wie auf
dem offenen Land.
In diese rechtlose Masse, die arbeitende und tätige Bevölkerung,
kam jetzt auf einmal Leben und Bewegung. Die Kaufleute und Geld-
wechsler stiegen jetzt in demselben Maße an Ansehen, als sie sich durch
den Handel bereicherten und man ihrer bedurfte.
In ähnlicher Weise veränderte sich die Stellung der meisten Ge-
werbe, namentlich derjenigen, welche Ausrüstungsgegenstände verfertigten.
Der ungeheure Bedarf an Waffen, Harnischen u. s. w. erhob die Waffen-
schmiede schnell zu großer Bedeutung; daß sie auch in technischer Be-
ziehung Fortschritte machten, beweist der Ruf, welchen die italienischen
und deutschen Waffen von da an genossen. Sie gehörten bald zu den
wichtigsten Ausfuhrartikeln unseres Vaterlandes. Der wachsende Wohl-
stand dieser Klassen, welcher sich notwendigerweise auch auf die übrigen
Gewerbe ausdehnte, wie ihre zunehmende Zahl und Kraft verlieh ihnen
früh großes Selbstgefühl; dies mußte bald mit den bisherigen Herren
der Stadt zu Streitigkeiten führen. Noch während der Kreuzzüge ge-
wannen in Italien, in Frankreich, in den Niederlanden und in Deutsch-
land die in Zünfte geteilten Gewerbe Anteil am Stadtregiment; ja in
vielen Fällen bildeten sie, wenn auch erst nach blutigen Kämpfen, den
438 211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe im Mittelalter.
Kern der Stadtgcmeinde, zu welcher die bisherigen Patrizier nur dann
gehörten, wenn sie sich in eine der Zünfte aufnehmen ließen.
Die Zünfte gliederten sich militärisch und schufen eine großartige
Industrie, namentlich in Wollstoffen, Waffen, Leder, Färberei u. s. w.
Die Kaufleute schlossen sich zu Gilden zusammen und suchten sich in
anderen Städten Privilegien oder Vorrechte zu verschaffen. Um Gleiches
im Auslande zu erlangen vereinigten sich Gilden verschiedener Städte zur
Hansa, der es gelang den Handel mit England, Skandinavien und
Nordrußland an sich zu bringen. Damals mußte der Kaufmann seine
Waren selbst von Markt zu Markt begleiten, sie in gewissen Städten
feilbieten und vielfachen Zoll bezahlen; deshalb reiste man in Karawanen
und suchte sich durch Privilegien gegen Benachteiligung zu sichern.
Hiermit war das Feudalwesen durchbrochen; das Bürgertum, d. h.
die politische Freiheit und Selbständigkeit der Handel- und gewerbetreiben-
den Klassen, hatte sich aus den Banden der Unfreiheit herausgearbeitet.
Die Frucht dieses Sieges erblicken wir in dem überraschend schnellen
Aufschwung, welchen die Städte von da an nehmen, gestützt auf die
Wechselwirkung zwischen Industrie und Handel. Die späteren Städte-
bündnisse sind der beredteste Ausdruck dieses Umschwunges der Dinge
und in ihrer Machtentfaltung, vor der sich selbst Könige beugten, viel-
leicht das stolzeste Denkmal, das je dem Handelsgeist gesetzt worden ist.
Engelmann.
211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe im Mittelalter.
Im ganzen Altertum mangelt die freie Arbeit; denn selbst das
Kastenwesen, wie es bei den Indern und Ägyptern bestand, konnte bei
der großen Einschränkung dieselbe nicht fördern, wenn es auch große
technische Fertigkeiten entwickelte dadurch, daß der Beruf in der Familie
erblich war. Bei allen Völkern des Altertums aber, mit Ausnahme der
Chinesen, finden wir die Einrichtung der Sklaverei. Woher erklärt sich
das wohl? Nach der Anschauung der Alten war die geistige und poli-
tische Tätigkeit die einzige Aufgabe des Mannes und mit der eigentlichen
Handarbeit unvereinbar. Wenn sich ein freier Mann, wie z. B. in Athen,
dem Gewerbe zuwandte, so genoß er keine Achtung und vermochte es
auch zu keinem Erwerb zu bringen, weil er die Konkurrenz mit der
Sklavenarbeit, die ja sehr billig war, nicht bestehen konnte. Die Gering-
schätzung des Handwerks traf selbst den Künstler, dessen Werke man
bewunderte.
Die gewerbliche Arbeit war in der alten Welt im eigentlichen
Sinne Hauswirtschaft. Zu einem größeren Hause gehörten, abgesehen
von der persönlichen Bedienung und der Bewirtschaftung der Landgüter,
211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe im Mittelalter. 439
auch die gewerblichen Unternehmungen, so daß die Zahl der Sklaven in
einem Haushalte bis zu Tausenden stieg. Dadurch konnte allerdings die
Arbeitsteilung zu einem hohen Grade gedeihen und damit die Aus-
bildung der Handgeschicklichkeit und Kunstfertigkeit. Immerhin aber mar-
es ein roher Zustand; denn er bewirkte eine große Verschwendung der
Arbeitskraft. Und damit hängt auch die Erscheinung zusammen, daß
das Altertum zu großen technischen Erfindungen, wie sie bei den
neueren Völkern hervortreten, nicht gelangen konnte. In Rom wurden
z. B. die Stunden des Tages durch Sklaven ausgerufen; damit kam
es nicht zur Erfindung der Uhr; die römische Staatszeitung wurde von
Sklaven geschrieben und vervielfältigt. Es war also kein Bedürfnis
nach Erfindungen vorhanden.
Da im Altertum nur die Richtung auf politische Interessen und
wissenschaftliche Beschäftigung Würde und Ansehen verlieh, konnte sich
ein freier, gewerbtreibender Mittelstand nicht bilden. Die Wiege der
freien Arbeit ist das Mittelalter; hier und da, besonders in Deutschland,
erfolgte die Erziehung des Volkes zur Arbeit namentlich auch dadurch,
daß sie als eine religiöse Pflicht, als Gottes Werk betrachtet wurde.
Infolgedessen entfaltete sich das Gewerbe in Deutschland ungemein rasch
zu hoher Blüte und überflügelte bald die gewerbliche Tätigkeit im
Altertum, obwohl die Deutschen zur Zeit von Roms höchster Kultur-
entwicklung noch fast gänzlich der Gewerbtütigkeit ermangelten. Denn
diese setzt schon einen höheren Grad von Kultur und eine Bevölkerung
voraus, welche größere Bedürfnisse hat. Die Hirten und Landbauer
verfertigten ihre Geräte und Kleidungsstücke selbst und erbauten sich mit
eigenen Händen ihre einfachen Wohnungen. Erst nach und nach ent-
stand die Arbeitsteilung und damit eine Gliederung der Erlverb-
tätigkeiten.
In ältester Zeit scheint in Deutschland nur die Herstellung von
Waffen einigermaßen gelverbsmäßig betrieben worden zu sein. Doch
finden wir in den von den Römern begründeten Städten an der Donau
und am Rhein schon bald nach Christi Geburt Halldel und Gelverb-
tätigkeit; so hatte z. B. Regensburg schon im zweiten Jahrhundert
Mafien- und Wollmanufakturen und Bierbraliereien.
In das Innere von Deutschland aber brachten erst im siebten und achten
Jahrhundert christliche Mönche den ersten Samen der Kultur. Sie drangen
in die dichten Wälder ein, rodeten sie aus, gründeten Klöster und lehrten
die Deutschen mit dem Christentum auch die ersten Alfiänge der Land-
wirtschaft und Gewerbe. — Ähnliche landwirtschaftliche und gewerbliche
Bestrebungen entwickelten sich auch nach und nach auf den Landsitzen
440 211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe im Mittelaller.
und in den Pfalzen des Adels, der Fürsten und der Bischöfe, besonders
auch auf den Meierhöfen Karls des Großen. Da diese in allen Teilen
des Reiches zerstreut lagen, wurden auch Landwirtschaft und Gewerbe
in alle Teile des Reiches getragen. Auf jedem ansehnlichen kaiserlichen
Kammergute gab es Eisenschmiede, Gold- und Silberarbeiter, Schuster
und Schneider, Drechsler, Wagner, Sattler, Zimmerleute, Seifensieder,
Bierbrauer, Bäcker und Glockengießer. Zur Errichtung seiner Paläste
und anderer Bauten ließ Karl Werkleute aus allen Ländern kommen
und rief dadurch das Gewerbe der Steinmetzen auf deutschem Boden ins
Leben. Die fremden Künstler spornten die einheimische Kunsttätigkeit an
und in den Klöstern und Stiftern sindet man seitdem Maler, Bildhauer
und Erzgießer in ansehnlicher Zahl.
Aus den königlichen Pfalzen erwuchsen allmählich Städte; andere
wurden von den Fürsten gegründet und wieder andere entstanden durch
die Bemühungen der Geistlichen und Bischöfe, zum Teil aus den Trümmern
der zerstörten Römerstädte. In all diese Orte hielten die gewerblichen
Arbeiten ihren Einzug und durch die mit den kirchlichen Festen verbundenen
Messen und Märkte fanden Verkehr und Handel immer neue Pflege und
Förderung. Die reichste Blüte durch Gewerbefleiß und Handel entfaltete
sich in den Rhein- und Donauländern in denjenigen Städten aus rö-
mischer Zeit, welche zugleich ein Bistum und eine königliche Pfalz in sich
schlossen. Allen voran standen Regensburg, Mainz und Cöln; dann
folgten im südlichen Deutschland Augsburg, Nürnberg und Ulm, im
nördlichen Bremen, Hamburg und Danzig. Seit dem vierzehnten Jahr-
hundert wurden gewerbliche Arbeiten fast ausschließlich nur in den Städten
gepflegt; die Klosterarbeit hörte allmählich auf, nachdem sie wohltätig
fördernd auf das Gewerbe eingewirkt hatte.
Die meisten Hände wurden durch Gewerbe beschäftigt, welche sich
auf die Bereitung von Leder, Tuch und Kriegsgeräten bezogen. So
zählte man zu Augsburg im Jahre 1466 siebenhundert dreiundvierzig
Webermeister und die Zahl mehrte sich von Jahr zu Jahr. In Nürn-
berg bewohnten die Weber einen eigenen Stadtteil; dieser umfaßte die
Wohnungen und Arbeitstätten für alle Abteilungen des Gewerkes, für
Wollkämmer, Tuchscherer, Walker, Tuchhefter, Tuchspanner und andere,
und enthielt zugleich auch den Tuchrahmen, das Tuchhaus, das Zunft-
haus und die Trinkstube der Genossen.
Mit den Webern erscheinen fast gleichzeitig die Färber, die Schwarz-,
Schön- und Waidfärber. Weil man damals Leder und Pelz weit mehr
als gegenwärtig zur Kleidung brauchte, so standen auch die Ziinfte der
Gerber und Wildwerker in hoher Blüte. An diese schlossen sich die
211. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe im Mittelalter. 441
Schuster, Schneider und für die Verfertigung lederner und wollener
Handschuhe und Hosen die Handschuhmacher und Hosenstricker an. Die
weiteste Arbeitsteilung fand bei den Eisen- und Metallarbeitern statt. Als
besondere Handwerker trennten sich die Hufschmiede von den Messer-
schmieden, von den Schlossern, von den Ketten- und Nagelschmieden; die
Waffenschmiede zerfielen in Hauben- und Helmschmiede, Schilderer oder
Plattner, Harnischmaler, Harnischpolierer und Panzerweber. Die Gold-
und Silberschmiede, die Rot- und Kupferschmiede sowie die Arbeiter in
Holz und Stein lieferten so kunstvolle, treffliche Arbeiten, daß wir sie
heute noch als nachahmenswerte Muster betrachten. Im Bauhandwerk
galten im 14. und 15. Jahrhundert die Deutschen als die ersten Bau-
meister der Welt. Auch die Bäckereien waren weit berühmt, so daß die
Venezianer bei ihren Staatsbacköfen nur deutsche Bäcker anstellten. —
Die Bierbrauerei war ursprünglich ein bäuerliches Nebengeschäft; denn
die Grundholden waren verpflichtet Malz- oder fertiges Bier an die
Herrschaft abzuliefern. Erst auf den ausgedehnten Gütern der Kirche
und der Hofkammer vervollkommnete sich die Brauerei zu einem förm-
lichen Gewerbe, das im großen Maßstabe betrieben wurde.
Alle Handwerksleute waren anfangs noch Sklaven, Leibeigene und
Hörige. Es gab noch keinen freien, selbständigen Handwerksstand, der
für sich auf eigene Hand und für eigenen Gewinn arbeitete. Die Fürsten,
Bischöfe, Klöster und freien Eigentümer auf dem Land und in den all-
mählich entstehenden Städten ließen lediglich durch ihre eigenen Leute
ihre Güter bewirtschaften, den Absatz ihrer Erzeugnisse vermitteln und die
verschiedenen Handwerksarbeiten verrichten.
Durch Freilassung wurde vielfach das frühere Verhältnis der Leib-
eigenschaft gelöst und als Zinsleute blieben die früheren Hörigen gegen
bestimmte Abgaben im Besitz der Häuser und Güter, welche sie bis dahin
im Namen und auf Rechnung ihrer Herren bewirtschaftet hatten. Solche
Abgaben bestanden in Geld, Wachs und Naturalleistungen. Die Hand-
werker hatten oft nicht bloß schwere Fronen zu leisten sondern waren
auch verpflichtet, wenn der Kaiser oder der Landesherr in die Stadt
kam, für ihn und sein Gefolge alle nötigen Bedürfnisse herbeizuschaffen.
Selbstverständlich hatten sie auch keinen Anteil an der Verwaltung der
Städte; denn nur der Freie konnte Bürger werden und in den Besitz
aller Rechte treten.
Der Übergang aus der Hörigkeit zur Freiheit wurde aber all-
mählich leichter; denn die Handwerker erwarben sich immer mehr Ver-
mögen und konnten sich dadurch ihre Freiheit erkaufen; auch die Kaiser
begünstigten durch mehrfache Vorrechte den Handwerkerstand. So mußte
442 212. Zünfte und Innungen im Mittelalter
derselbe nach und nach zu einer immer größeren Freiheit und selbständigen
Stellung gelangen. Aber erst im 15. Jahrhundert finden wir nach langen
Kämpfen die Handwerker allenthalben fiei und mit gewissen Rechten
ausgestattet.
212. Zünfte und Innungen im Mttekatter.
Zu den Errungenschaften, welche sich die Gewerbe im l3. und
14. Jahrhundert erkämpften, trug viel die Vereinigung der einzelnen
Handwerker zu Zünften bei. Zunächst feierten die Handwerker eines
und desselben Gewerbes gemeinsam das Fest ihres Schutzpatrons und
verbanden sich zur Begehung dieser religiösen Feier zu Bruderschaften.
Diese erhoben Beiträge zu kirchlichen und wohltätigen Zwecken und
traten in ein festes Verhältnis zu einer bestimmten Kirche. Die Mit-
glieder waren verpflichtet die Sonn- und Feiertage zu heiligen, einander
in der Not beizustehen, für die Hinterbliebenen eines verstorbenen Ge-
nossen zu sorgen und für den Verstorbenen selbst zu beten. Aus den
Bruderschaften entstanden die Innungen und Zünfte; andere bildeten
sich aus den früheren hofrechtlichen Vereinigungen. Als die ältesten
werden 1073 die Innungen zu Goslar und 1106 die Fischerzunft zu
Worms, dann 1134 die der Kürschner und Tuchmacher in Quedlinburg
genannt. In Cöln wird 1149 den Bettzeugmachern das Recht einer
Bruderschaft verliehen; in Regensburg finden wir um das Jahr 1150
schon mehrere Zünfte. In München bestand bereits im Jahre 1294
eine Innung der Schuhmacher und Lederer; auch andere Gewerbe hatten
sich hier im 13. Jahrhundert zu Zünften zusammengetan.
Die Zunftgenossen sollten alle in brüderlicher Liebe und Treue
einander anhängen, stiedlich und einmütig untereinander leben und ge-
meinsam das Beste der Stadt zu fördern suchen. Eine wichtige Aufgabe
war die gegenseitige Unterstützung für alle gemeinsamen Zwecke des
Lebens und die Förderung des Handwerkes. Daher sorgten sie vor
allem für den makellosen Ruf der Genossen; wer eine entehrende Strafe
erlitten hatte, wurde aus dem Gewerbe ausgestoßen. Müßiggang, nächt-
liches Fernbleiben aus dem Hause des Meisters, Trunk und Spiel wurde
den Lehrlingen und Gesellen strenge untersagt. Die Aufnahme der
Lehrlinge wie die Freisprechung derselben erfolgte durch die Zunft,
ebenso die Festsetzung der Wanderzeit der Gesellen, die Prüfung des
Meisterstückes und die Aufnahme als Meister. Wie nur eine gewisse
Anzahl von Meistern eines und desselben Gewerbes je nach dem Be-
dürfnis in einer Stadt zugelassen wurde, so durfte auch jeder Meister
nur eine bestimmte Zahl von Lehrlingen und Gesellen halten und keinen
212. Zünfte und Innungen im Mittelalter. 443
aufnehmen, der von einem anderen Genossen entlassen worden war oder
der sich gegen das Handwerk oder die gute Sitte vergangen hatte.
Der Meister mußte sich selbst der Arbeit unterziehen; es gab daher
keine bloßen Unternehmer, sondern nur wirkliche Arbeiter. Er durfte
aber auch nur gute und tadellose Ware liefern; deshalb machten die
Zunftvorsteher oder die eigens aufgestellten Beschauer mit Abgeordneten
der städtischen Behörden (in Regensburg z. B. mit einem „Beisitzer aus
der Hans") regelmäßige Umgänge in den Werkstätten zur Prüfung der
fertigen Waren;, ungenügende Stücke wurden mit Beschlag belegt oder
gar vernichtet. Auf Anfertigung und Verkauf schlechter Ware, auf
Fälschung und Betrug standen Geld- und Körperstrafen. Verkaufte
z. B. in Regensburg ein Bäcker schlechtes oder zu leichtes Brot, so
„verlor er die Hand" oder er wurde „geschupft".
Um gute Ware liefern zu können, wurde deshalb auch häufig der
Rohstoff gemeinsam angeschafft und nach Bedürfnis unter die einzelnen
Genossen verteilt oder es wurden bestimmte Einkaufplätze und Einkauf-
zeiten festgesetzt. Auch war jeder Meister gleichmäßig berechtigt zur Be-
nutzung der gemeinschaftlichen Anstalten der Zunft. Ebenso regelte die
Zunft den Arbeitslohn der Gesellen und überhaupt das ganze Verhältnis
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
In Bezug auf den Verkauf der Erzeugnisse stand jeder Genosse
dem anderen gleich. Deshalb erließ man genaue Preisbestimmungen für
die einzelnen Waren, setzte Ort und Zeit des Verkaufs fest, untersagte
dem einzelnen mehr als eine Verkaufstätte zu halten und verbot den
Hausierhandel. Das ganze Vermögen der Zunft gehörte der Genossen-
schaft und diente den einzelnen Mitgliedern zur Nutzung; denn es
wurden nicht bloß die Kranken, Armen und Witwen unterstützt sondern
auch Vorschiisse und Darlehen an bedürftige Mitglieder gegeben.
An der Spitze der Zunft stand der Erz- oder Zunftmeister; ihm
waren die Zunftältesten oder Altmeister als Beigeordnete zur Regelung
der Verhältnisse zur Seite gestellt. Die Einkünfte sowie die Satzungen,
Urkunden und das Siegel der Zunft, desgleichen die von der Obrigkeit
gegebenen Ordnungen wurden in der „Lade" aufbewahrt. Dieselbe
befand sich gewöhnlich in dem Gasthaus oder der Herberge der Zunft.
Hier versammelten sich die Zunftgenossen an bestimmten Tagen um „vor
offener Lade" ihre Angelegenheiten zu besprechen und zu ordnen.
So waren alle Verhältnisse der Zunft aufs sorgfältigste geregelt.
Die Zunftgenossen bildeten eine politische und auch militärisch geschlossene
Körperschaft. Sie konnte den Kamps aufnehmen mit den bisher bevor-
zugten alten Geschlechtern, den Patriziern. Und aus diesen Kämpfen
444 213. Lehrlings- und Gesellenwesen in früherer Zeit.
gingen allenthalben die Zünfte als Sieger hervor: sie errangen sich das
Recht an der Regierung und Verwaltung der Stadt teilnehmen zu
dürfen, ja bald waren sie die eigentlichen Herren.
Als die Handwerker endlich aus ihrer früheren Unfteiheit heraus zu
freien Bürgern geworden waren, da füllten sich die deutschen Städte
mit geschickten Meistern aller Handwerke, durch deren Hände sich nun
alles in Stadt und Land besser und schöner gestaltete.
Durch das blühende Gewerbe wurde Deutschland auch im 13., 14.
und 15. Jahrhundert der Mittelpunkt des Welthandels. Dadurch wurde
aber das deutsche Volk selbst aus der anfänglichen Beschränktheit und Un-
wissenheit zu Bildung und Reichtum emporgehoben. — Aus dem Hand-
werkstande hatten sich auch die Künste herausgebildet; es gab in jener Zeit
in ganz Deutschland eine außerordentliche Menge Meister in allen Fächern
der Kunst, namentlich in der Bildhauerkunst (Skulptur) und Malerei. Die
Holzschnitzkunst wurde im 14., die Kupferstecherkunst im 15. Jahrhundert
erfunden; Kunst und Handwerk waren damals auf das innigste ver-
bunden ; die Künstler waren Handwerker und die Handwerker Künstler. —
Dabei durchwehte diesen Stand ein geistig reges Leben, das in den
Meister- und Singschulen seine Nahrung fand und manches dichterische
Talent hervorrief. Wer hat noch nicht von dem geistreichen Schuster
und Meistersinger Hans Sachs in Nürnberg gehört?
So entwickelte sich am Ende des Mittelalters der Gewerbestand zu
einer hohen Blüte; er hatte das Rittertum nicht nur überlebt sondern
war auch zu Ansehen und Macht gelangt.
213. Lehrlings- und Gefellemvesen in früherer Zeit.
Für den Gewerbestand waren zu allen Zeiten persönliche Eigen-
schaften am wertvollsten und die persönliche Tüchtigkeit half gar oft
über die Schwierigkeit der Verhältnisse hinweg. Zur Heranbildung
tüchtiger Handwerker waren schon im Mittelalter bestimmte Vorkehrungen
getroffen, und zwar gleich vorteilhafte für die gewerbliche wie sittliche
Ausbildung. Der zukünftige Gewerbtreibende mußte die Lehrlings- und
Gesellenzeit gewissenhaft zugebracht haben um dann endlich als Meister
eine selbständige Stellung einnehmen zu können. Freilich suchte man
dadurch auch den Zugang zum Gewerbestand in bestimmten Grenzen zu
halten, ja später sogar ungebührlich einzuschränken.
Daß schon in den ältesten Zeiten für den Betrieb eines Gewerbes
der Nachweis der Befähigung gefordert war, geht aus mehreren gesetz-
lichen Bestimmungen hervor. Diese Forderung blieb bestehen bis tief in
das 19. Jahrhundert hinein.
213. Lehrlings- und Gesellenwesen in früherer Zeit. 445
Wer als Lehrling aufgenommen werden wollte, mußte erst ehe-
liche Geburt und ehrliches Herkommen, ja sogar manchmal Abstammung
von einem Bürger oder einem Meister des Handwerks nachweisen. Seit
dem 16. Jahrhundert war meistens das 14. Lebensjahr das früheste Ein-
trittsalter. Die Aufnahme des Lehrlings hing nicht vom Meister allein
ab sondern vom ganzen Handwerk. Deshalb fand sie in aller Form,
vor dem Zunftmeister bei offener Lade statt. Damit hing auch die wohl-
tätige Einrichtung zusammen, daß der Meister nur in beschränkter Zahl
Lehrlinge aufnehmen durfte. Das Verhältnis zwischen Meister und
Lehrling konnte in der Regel nur entweder durch den Tod des Meisters
oder die Lossprechung des Lehrlings nach Beendigung der Lehrzeit ge-
löst werden. Daher ging dem endgültigen Eintritt in die Lehrzeit eine
Probe von mehreren Wochen voraus. Die Aufnahme kostete nicht
selten ziemlich viel; diese Gebühren wurden teils in barem Geld teils
in Kerzen entrichtet. Die Dauer der Lehrzeit war nach Ort und Be-
schaffenheit des Handwerks verschieden und schwankte zwischen einem und
sechs Jahren. Auch das Lehrgeld war verschieden hoch. Verließ ein
Lehrling ohne erhebliche Ursache nach Ablauf der halben Lehrzeit den
Meister, so war dem letzten das volle Lehrgeld zu entrichten. Während
der Lehrzeit lebte der Lehrjunge im Hause des Meisters und stand unter
der hausväterlichen Zucht desselben. Konnte der Knabe am Ende der
Lehrzeit keine genügenden Kenntnisse aufweisen, so kam es vor, daß er
von Handwerks wegen zu einem anderen Meister gebracht wurde, und
dem nachlässigen Meister oblag die Tragung der Kosten und die Ent-
richtung eines Strafgeldes. Nach erfolgreicher Beendigung der Lehrzeit
wurde der Jüngling, wenn er sein Gesellenstück verfertigt hatte, vor der
Lade losgesprochen und hatte dafür wieder gewisse Gebühren zu ent-
richten. Hierauf erfolgte unter sehr umständlichen Formeln die Aufnahme
des Losgesprochenen unter die Gesellen.
Damit war aber die Zeit des Lernens noch nicht beendigt. Zum
späteren, selbständigen Gewerbebetrieb war erforderlich, daß der Ge-
selle mehrere Jahre bei verschiedenen Meistern arbeitete und eine ge-
wisse Anzahl von Jahren auf die Wanderschaft ging. Hierbei war in
sittlicher Beziehung von unschätzbarem Wert, daß die Gesellen im Hause
des Meisters Kost und Wohnung hatten. War ein gewanderter Geselle
nicht von dem Orte gebürtig, in dem er das Meisterrecht suchte, so mußte
der häufig eine Reihe von sog. Mutjahren absitzen; dann erst wurde
er zum Meisterstückmachen, dem „Stucken", zugelassen. Das Stückemachen
war aber nicht bloß eine sehr umständliche, zeitraubende sondern auch
kostspielige Sache und wurde zur Zeit der Entartung des Zunftwesens
nur darauf angelegt, das Meisterwerden möglichst zu erschweren.
446 214. Ein Bild der Städte aus dem 13. Jahrhundert.
Es ist ein Gesetz, daß menschliche Einrichtungen vergänglich oder
wenigstens veränderlich sind. Nun haben sich die alten Bestimmungen
über die Lieferung des Befähigungsnachweises im wesentlichen zwar so
lange erhalten wie die Zünfte; allein wie diese haben sie auch im Laufe
der Jahrhunderte einschneidende Änderungen erfahren. Zu einer durch-
greifenderen Umgestaltung scheint indessen erst die Französische Revolution
den Hauptanstoß gegeben zu haben; in Frankreich erfolgte die Beseiti-
gung der Zünfte im Jahre 1791 mit einem Schlag; an ihre Stelle
trat völlige Gewerbefreiheit. In Preußen wurde 1810 die Gewerbe-
freiheit eingeführt; doch konnten die Zünfte als freie Innungen fort-
bestehen; in Österreich, Baden, Sachsen, Oldenburg, Württemberg, den
Hansastädten, endlich in Bayern begann man erst ein halbes Jahr-
hundert später der Gewerbefreiheit sich zuzuwenden. Dann wurde 1868
und 1869 das Jnnungswesen, wie es jetzt allgemein heißt, von seiten
der Norddeutschen Bundesregierung gesetzlich geregelt. Nach der Grün-
dung des Deutschen Reiches wurde das Gewerbewesen für ganz Deutsch-
land einheitlich gestaltet. Nach Krallmger.
214. Din Bild der Städte aus dem 13. Jahrhundert.
Hohe, oft doppelte Mauern, Graben und Wall umgürteten
das streitbare Geschlecht in den Städten, das immer des An-
griffs gewärtig sein mußte. Wehrtürme krönten die Mauern.
Sie ragten in gemessenem Abstand empor und waren von
mannigfacher Bauart, rund, eckig, spitz, flach. Um die Städte
war das ganze Weichbild mit einem Graben, einer Landwehr,
umzogen, deren Zugänge feste Warten bezeichneten. Wächter
lugten aus ihnen nach den Landstraßen aus, meldeten durch
Zeichen jede Gefahr oder das Herannahen reisender Kaufmanns-
züge, denen in unsicherer Zeit ein bewaffnetes Geleit entgegen-
ging. Inwendig an der Mauer der Stadt durfte sich niemand
anbauen; dergleichen Anbauten drohten Gefahr des Verrats oder
hinderten das Besteigen der Zinnen. In den meisten Städten
wanden sich die Straßen gekrümmt, oft im Sacke endend, hin
und her. Seit den Zunftkämpfen schloß man sogar einzelne
Gassen durch Tore oder hing nachts Sperrketten ein. Das
Rathaus, auch wohl Bürgerhaus genannt, ragte über alle Gebäude
weltlichen Gebrauchs hervor; auf seinem schlanken Turme hing
die Glocke mit den Glöcklein, die zur Rats- und Gemeindever-
sammlung riefen. Auf ihm lugte der Wächter ins Weichbild aus.
Kirchen und Rathäuser, Kaufhallen und Zunfthäuser wurden
214. Ein Bild der Städte aus dem 13. Jahrhundert. 447
gemeinsam mit großer Ausdauer meist herrlich aufgebaut, be-
sonders die Kirchen. Himmelhoch erhoben sich die Türme.
Soest, das späterhin fast bis zum Dorfe herabsank, zählt noch
jetzt sechs betürmte Kirchen und Kapellen. Zur Zeit seiner
Blüte hatte es zehn stattliche Gotteshäuser und gegen achtund-
zwanzig Kapellen, die Krankenhäuser, Pilgerherbergen, Marien-
gärten und anderen kirchlichen Anstalten nicht gerechnet.
Die Bürgerhäuser blieben Jahrhunderte hindurch sehr ein-
fach. Sie bestanden nur aus Fachwerk und ragten mit dem
Giebel nach der Straße. Die oberen Stockwerke traten über
die unteren hervor und verengten die schmalen Gassen so sehr,
daß man kaum den Himmel erblicken konnte. So leichte, be-
engte Bauart begünstigte die ungeheuren Feuersbrünste, welche
alle unsere Städte in schrecklicher Wiederkehr heimsuchten, aus
denen sie aber auch ebenso schnell sich wieder erhoben. Die
häusliche Einrichtung entsprach der Einfalt des Zeitalters. Der
Hausrat, ohne Putz, war dem einfachsten Bedürfnis gemäß und
roh gearbeitet. Beim Mahl aßen Mann und Frau aus einem
Teller; ein oder zwei Becher dienten der ganzen Familie; Fackeln
und Laternen leuchteten bei Nacht den Schmausenden; Kerzen
gab es nicht. Die Glasur irdener Gefäße kam um diese Zeit
erst auf. Dennoch fand selbst schon jenes Jahrhundert gesetz-
liche Beschränkung der Prunkliebe und Schwelgerei nötig, die
besonders bei Festen geübt wurde. Das erste Gesetz der Art
finden wir bei den fröhlichen, prassenden Wormsern im Jahre 1220.
Unter den Künsten blühte besonders die Goldschmiedkunst.
Sie schuf köstliche Schreine für die Leiber der Heiligen, Kelche
mit heiligen Bildern, Kreuze mit der Gestalt des Erlösers. Auch
die Kunst der Siegelschneider stand in hohem Ansehen. Die
Städte hatten seit dem Ende des zwölften Jahrhunderts überall
ein besonderes Wappen, welches meistens das reich verzierte
Bild des Patrons der Hauptkirche enthielt. Lübecks Siegel zeigt
bedeutsam das Schiff auf hoher Flut; der alte Steuermann mit
spitzer Kappe leitet das Fahrzeug durch die Wogen; ein Jüng-
ling am Tauwerk weist nach oben. Cöln hatte als ältestes Wappen
den heiligen Petrus mit den Schlüsseln, auf dem Stuhle sitzend.
München weist durch sein Wappen mit dem Mönch auf seinen
Namen hin. Die Dreihelmenstadt Landshut deutet durch ihr
Wappen auf die Tapferkeit seiner Bürger hin, wie das Wappen
Speyers an seinen herrlichen Dom erinnert. Hinter den düsteren
448
215. Der Handel im Mittelalter.
Mauern der Städte wurde Gesang und Saitenspiel gepflegt. Auch
die Kunst bildete sich nach der Sitte der Zeit in Zunft und
Schule aus und erheiterte das ernste Leben der Bürger. Manche
Städte unseres Vaterlandes waren erfüllt mit einer Anzahl von
Spielleuten; Fiedel, Harfe, Pfeife und Zinke waren ihre Instru-
mente. Alte Heldensagen ließ man in Liedern erklingen. Auch die
Lust an der Natur war aus dem freien Landleben in die dumpfen
Gassen eingezogen. Überall sehen wir in deutschen Städten das
Frühlingsfest mit Jubel und Tanz im Freien begehen. Man
dachte sich den Winter als einen feindseligen Riesen, den
Sommer als einen holden, noch knabenhaften, aber starken
Jüngling, welcher gewaffnet in den Wald zog. Er trug Laub-
und Blumenkränze um Stirn, Brust und Schultern und kehrte,
nachdem Scheinkämpfe im Walde gehalten waren, als Sieger mit
Jubel heim. Sein Gefolge führte zum Beweise des Sieges grüne
Birkenzweige mit sich. Ein hoher, glattgeschälter Baum mit
grüner Krone, der Maienbaum, wurde aufgepflanzt. Unter Leibes-
übung und Spiel, Gesang und Tanz verlebte man den Tag.
Das Kriegswesen lag noch den Bürgern ob. Jeder zünftige
Meister mußte mit Waffen versehen sein. Diese waren von
der verschiedensten Art und den wunderlichsten Namen. Im
gewöhnlichen Leben, auf Markt und Gassen, zumal vor Gericht,
war das Tragen derselben verboten. Auf Reise und Fahrt ging
dagegen jedermann bewehrt. Jede Zunft war im Besitz eigener
Banner und Zeughäuser. Die Zunftmeister waren die Führer
gegen den Feind. Als Waffe, die am geeignetsten sich der
Faust des Zünftlers bot, hatte das 13. Jahrhundert die Armbrust,
deren Erfindung dem Morgenlande gehört. Die Bürger gebrauchten
sie zur Verteidigung ihrer Städte. Es entstanden die Schützen-
gilden der Kaufleute und Handwerker. Mit Freudenspielen
mancherlei Art ergötzte sich die Bürgerwehr. Bei all dem
heiteren und fröhlichen Leben zeigte jene Zeit aber auch ihre
Schattenseiten. Nach Barthold.
215. Per Kandel im Mittelalter.
In der ersten Hälfte des Mittelalters behauptete Konstantinopel als
Welthandelsplatz die hervorragendste Stelle.
Von hier aus gingen die Waren des Ostens (der Levante) die Donau
aufwärts in das Innere von Europa. Dieser Strom bildete lange Zeit
eine der wichtigsten Verkehrsadern zwischen dem Osten und Westen. Denn
449
215. Der Handel im Mittelalter.
die Handelswege Mitteleuropas gewinnen leichte Berührung mit ihr, so die
alte große Handelsstraße aus dem Weichselgebiet, welche die March abwärts
über Wien nach Südeuropa führt. Daher entstanden an der Donau schon
in frühester Zeit bedeutende Handelsplätze. Die günstigste Stelle von allen
Flußstrecken ist Regensburg zugefallen, das der große Stapelplatz des Donau-
handels im Mittelalter war.
Allmählich aber begründeten die italienischen Städterepubliken ihre
Handelsmacht, die sich wesentlich auf den Verkehr mit dem Osten stützte.
Amalfi und Venedig gingen voran; es folgten Pisa, Genua und später
Florenz. Anfangs beschränkten sich die Italiener auf den Verkehr mit Kon-
stantinopel; dann wurde ihnen Ägypten zugänglich und Alexandria zu einem
wichtigen Stapelplatz; die Kreuzzüge eröffneten ihrem Unternehmungsgeist
ein noch weiteres Gebiet. In den italienischen Handelsstädten bildeten
sich auch die neueren technischen Formen und Hilfsmittel des Handels
aus, namentlich die Buchführung, das Bankwesen, der Wechselverkehr, die
Meßabrechnung u. s. w. Im nördlichen Europa belebten sich mittlerweile die
Nord- und Ostsee als neueröffnetes Schiffahrtgebiet immer mehr. Einer-
seits gelangten die flandrischen Städte in Industrie und Handel zu immer
größerer Bedeutung, anderseits breitete die deutsche Hansa ihre Haudels-
macht immer weiter aus und trug nicht wenig dazu bei der Kultur neuen
Boden im Osten zu erobern. Dieser Bund umfaßte über 70 Städte,
beherrschte mit seinen Flotten die nordischen Meere, eroberte ganze Länder
und beugte mächtige Könige. Das Haupt desselben war Lübeck. Die Größe
und Macht der Hansa beruhte wesentlich auf dem Handel der Ostseefahrer;
denn damals war das Baltische Meer der große Fischbehälter Europas.
Dadurch wuchsen Lübeck, der Vorort der Hansa, Wismar, Rostock und
Greifswalde mit wunderbarer Schnelligkeit zu hohem Wohlstand empor.
An der Nordsee blühten schon frühzeitig Hamburg und Bremen auf.
Im binnenländischen Europa hatte der mittelalterliche Handel freilich
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; denn es fehlte vor allem an guten
Straßen und Verkehrsmitteln; auch die drückenden Weg- und Wasserzölle,
die Vorzugsrechte der eingesessenen Bürger gegenüber den Fremden, die
Stapel-, Umlade- und ähnliche Rechte, wie die Unsicherheit der Straßen
und das Strandrecht stellten dem Handel mannigfache Hindernisse entgegen.
Gleichwohl gelangten auch viele deutsche Binnenstädte durch ihren
Handel zu hoher Blüte. Durch die Geistlichkeit und den christlichen Gottes-
dienst wurde der Handel vorzüglich belebt; daher denn auch an den Dom-
kirchen und Klöstern die wichtigsten Märkte und Handelsniederlagen ent-
standen. An den hohen Festen und Namenstagen der Heiligen strömte das
Volk in großer Menge zu den Dom- und Klosterkirchen um daselbst dem
Gottesdienste beizuwohnen. Dies benutzten die Kaufleute und hielten an
den Vorabenden der Feste und den Festtagen selbst ihre Waren feil. Die
Geistlichen begünstigten diesen Handel aus allen Kräften, weil die Vorteile,
welche für ihre Stifter und Klöster erwuchsen, augenscheinlich waren. Kost-
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen Erweiterte Ausgabe. » 29
450
216. Ludwig IV., der Bayer.
bares Räucherwerk, wie Bernstein und Weihrauch, dann Wachs zu Kerzen,
endlich wertvolle Zeuge und Teppiche zur Bekleidung der Altäre waren
Bedürfnisse für den Gottesdienst. Endlich hatten auch die Geistlichen aus-
ländische Stoffe zu ihrer Bekleidung nötig. Getrocknete und gesalzene Fische
wurden als Fasteuspeisen in großer Menge verbraucht und machten einen
Handelsartikel von nicht geringer Bedeutung aus.
Bald kamen Scharlach, Samt, kostbare gewebte Teppiche, Gold- und
Silberstoffe, künstlich gearbeitete Gefäße von edlen Metallen und Edelsteinen
in Gebrauch. Kostbares Pelzwerk war sowohl den geistlichen als den welt-
lichen Großen zu Schmuck unentbehrlich, daher eine gesuchte Ware.
Nächst der Geistlichkeit beförderte der Kriegerftand den Handel durch
den Verbrauch vieler auswärtiger Waren. Es gehörten dazu Waffen, wie
Schwerter, Dolche, Lanzen, Pfeile; ferner Lederwerk, wie Handschuhe, Bein-
bekleidung, Zäume, Sättel, Degenkoppeln und alle Gattungen von Leder.
Dieses waren die Hauptartikel des Handels schon in den ersten Zeiten nach
der Gründung der Städte. Das Bedürfnis darnach, war allgemein und
stieg mit der Zunahme der Bevölkerung; deshalb hatten die Kaufleute einen
ansehnlichen Gewinn.
Der Handel hat einen entschiedenen Einfluß aus das Gedeihen der
deutschen Städte gehabt. Im nördlichen Deutschland gelangten Magdeburg,
Halle, Goslar und Cöln durch ihren Handel zu hohem Ansehen und Reich-
tum. Im südlichen Deutschland waren Regensbnrg, Augsburg, Nürnberg,
Ulm durch ihre Handelstätigkeit weithin berühmt. Sie unterhielten nament-
lich den Verkehr mit Italien; von dort bezogen sie auch die Produkte des
Morgenlandes, um sie auf den flandrischen Märkten gegen die nieder-
ländischen Fabrikate und die nordischen Waren der Hansastädte auszutauschen.
Der Handel hat auch zum Aufschwung der Gewerbe in den Städten
wesentlich beigetragen; denn Handel und Gewerbe stehen im innigsten
Zusammenhange miteinander.
216. Ludwig IV., der Wayer.
1301—1347.
Zählt man die hervorragendsten Herrscher aus dem Hause Wittels-
bach auf, so darf Ludwig IV., der Bayer, nicht fehlen. Er verdient in
vielfacher Beziehung unsere volle Bewunderung. Obwohl sanften und
menschenfreundlichen Herzens, zeigte er doch auch in den vielen Kämpfen
während seiner Regiernngszeit große Festigkeit des Charakters und ziel-
bewußte Stärke des Willens. Trotz der schwierigen Zeiten leistete er
für die innere Wohlfahrt Deutschlands, insbesondere Bayerns, ganz Er-
staunliches.
Ludwig war am Anfang des Jahres 1282 geboren. Als sein
Vater Ludwig der Strenge das Zeitliche gesegnet hatte, regierten die
216. Ludwig IV., der Bayer. 451
beiden hinterlassenen Söhne bis 1310 das Land gemeinschaftlich. Ludwig
residierte in München, Rudolf in Ingolstadt.
Bald entbrannte ein Kampf um die Vorinnndschaft über die nieder-
bayerischen Prinzen; Ludwig sowohl als auch Herzog Friedrich von
Österreich beanspruchten dieselbe. Da mußte das Schwert entscheiden.
Bei Gammelsdorf kam es zur Schlacht. Ludwig trug den Sieg davon;
dankbar erkannte er die Verdienste seiner tapfern Bayern an. Ihren
Heldenmut zu ehren setzte er den Jngolstädtern den blauen, feuer-
speienden Panther, den Landshutern drei ritterliche Helme in das Banner.
Ganz Deutschland schaute mit Bewunderung auf Ludwig, und als
bald darauf der deutsche Königsthron zu besetzen war, wurde Ludwig
1314 zu Frankfurt für denselben auserkoren. Eine Minderheit aber
wählte Friedrich den Schönen von Österreich. Daraus entstand ein
langwieriger Krieg.
Nach vielfachen gegenseitigen Plünderungen kam es auf der Ebene
zwischen Mühldorf und Ampfing zum Kampfe; zum zweiten Male siegte
der Bayer über den Österreicher, hauptsächlich durch das entscheidende
Eingreifen des Burggrafen Friedrich von Nürnberg. Friedrich der Schöne
selbst wurde gefangen genommen und auf die Burg Trausnitz in der
Oberpfalz abgeführt.
Um diese gewaltige Schlacht schlingt sich ein Kranz anmutiger Sagen.
So wird einem greisen Ritter, Seifried Schweppermann, die Oberleitung
der Schlacht zugeschrieben, obgleich ein Anführer dieses Namens gar nicht
dabei gewesen fein soll. Bei Verteilung der spärlich vorhandenen Lebens-
mittel nach erfochtenem Siege soll Ludwig die bekannten Worte gesprochen
haben: „Jedem Mann ein Ei, dem ftommen Schweppermann zwei!"
In der siegreichen Schlacht hatten sich besonders die Bäcker von
München ausgezeichnet. Ludwig schenkte ihnen daher ein Haus an der
Hochbrückenstraße in München, das heute noch eine Tafel mit einer Auf-
schrift trügt, und erteilte ihnen die Erlaubnis einen Adler in ihrer Fahne
zu führen. Ein Bäcker namens Gotthard Grießenbeck soll sechs öster-
reichische Banner erobert haben. Ludwig schlug ihn auf dem Schlacht-
felde zum Ritter.
Der Sieg bei Ampsing beendete den Krieg. Alle Kurfürsten erklärten
sich für Ludwig. Der länderarme König suchte nun durch Vermehrung
feiner Hausmacht sein Ansehen zu erhöhen; deshalb verlieh er seinem
ältesten Sohne Ludwig die erledigte Markgrafschnft Brandenburg (1319).
Aber schon nach einem halben Jahrhundert ging diese wertvolle Besitzung
dem Hause Wittelsbach wieder verloren. — Als die niederbayerische Linie
ausstarb, vereinigte Ludwig Niederbayern mit seinen Landen und herrschte
29-
452
216. Ludwig IV., der Bayer.
somit über ganz Bayern. Dazu kamen noch zwei weitere Erwerbungen.
Die von ihrem ersten Gemahle geschiedene Gräfin von Tirol, Margareta
Maultasch, ehelichte des Kaisers Sohn Ludwig von Brandenburg. So
kamen Tirol und Kärnten zu Bayern. Aber auch diese schönen Gebirgs-
länder gingen nach zwanzigjährigem Besitz wieder verloren. — Als Kaiser
Ludwigs Schwager, Wilhelm IV. von Holland, kinderlos starb, nahm
Ludwig Holland, Seeland, Friesland und Hennegau in Besitz.
Dieser große Ländererwerb durch Kaiser Ludwig erweckte die Besorgnis
der deutschen Fürsten und machte ihm viele Feinde. Deshalb und
auch noch aus mancherlei anderen Ursachen war Ludwigs ganze übrige
Regierungszeit von Kriegsstürmen durchtobt. Auch der damalige Papst
war ein Gegner von ihm. Er sprach über Ludwig den Bann aus und
belegte das Land mit dem Interdikte. Nach demselben durften keine
Glocken mehr geläutet und der Gottesdienst nur in aller Stille abge-
halten werden.
In dieser Bedrängnis suchte Ludwig zunächst eine Aussöhnung mit
dem gefangenen Friedrich. Er begab sich selbst auf die Trausnitz. Die
Versöhnung kam zustande (1325). Friedrich erkannte Ludwig als König
an und versprach, auch seine Brüder dazu bewegen zu wollen. Zugleich
gelobte er, am Johannistage freiwillig in die Gefangenschaft zurückzu-
kehren, wenn ihm die Ausführung seines Versprechens nicht gelingen
sollte. Zur Besiegelung der übernommenen Verpflichtungen empfingen
beide das heilige Abendmahl.
Friedrichs Vorstellungen und Bitten bei seinen Brüdern blieben
ohne Erfolg. Darum kehrte er trotz aller Einreden der Seinen am
bestimmten Tag in die gefürchtete Gefangenschaft zurück. Der edle
Sinn Ludwigs wußte solche Treue zu würdigen; er behielt Friedrich bei
sich in München und teilte sich mit ihm in die Regierung.
Später zog Friedrich in sein Stammland zurück und starb 1329
auf seinem Schlosse Gutenstein in Niederösterreich.
Ludwig hatte die Früchte des Sieges von Ampfing eingeerntet: die
deutsche Königskrone und eine starke Hausmacht. Noch fehlte aber nach
der Anschauung jener Zeit der wertvollste Preis, die römische Kaiser-
krone. Er unternahm daher einen Römerzug. In Mailand empfing er
die Eiserne, seine Gemahlin die Goldene Krone der Lombardei. Darauf
hielt er auch in Rom seinen Einzug und ließ sich krönen. Auf seiner
Rückkehr nach Deutschland schloß er mit seinen Neffen Rudolf und
Ruprecht den Hausvertrag von Pavia (1329), wodurch er diesen die
Rheinpfalz und einen Teil des Nordgaues (Oberpfalz) überließ. Nach
dem Aussterben der einen Linie sollte die andere in die Erbfolge ein-
216. Ludwig IV., der Bayer. 453
treten. Das geschah nach dem Aussterben der Ludwigschen Linie im
Jahre 1777.
Ludwig setzte in Wort und Schrift gegen Papst Johann XXII.
und dessen beide Nachfolger den Kampf fort, wobei der größte Teil
des deutschen Volkes, besonders die Reichsstädte und der Franziskaner-
orden, auf seiner Seite standen. Da Ludwig noch nicht allenthalben
als Kaiser anerkannt wurde, so erklärten 1338 die Kurfürsten zu Reuse
am Rhein und hernach zu Frankfurt, daß jeder von der Mehrzahl der
Kurfürsten gewählte Fürst schon durch die bloße Wahl König und
Kaiser sei und die Neichsverwaltung erlange. — Kein Kaiser hat sich
den Städten so gewogen gezeigt und ihre Bestrebungen so nachhaltig
durch Verleihung vieler Freiheitsbriefe gefördert wie Ludwig, der auch
der Städtekönig heißt. Namentlich danken ihm Nürnberg und Regens-
burg viel; Amberg, Wasserburg, Ingolstadt u. s. w. gab er städtische
Rechte; vor allem aber war das geliebte München von seiner landes-
väterlichen Sorge beglückt. Handel, Gewerbe und Landwirtschaft suchte
er überall zu fördern und streng sah er auf Handhabung des Land-
friedens. Die Städte wiederum waren in ihrer treuen Anhänglichkeit
die festeste Stütze seines Thrones.
Trotz der vielen Kriege setzte sich Ludwig durch seine segensreiche
Friedenstätigkeit ein herrliches Denkmal. Er stellte das verderbliche
Faustrecht ab und ordnete den Landfrieden an. Landwirtschaft und
Handel wurden durch seine Kriege in Bayern wenig gestört; denn
während seiner Regierung betrat nie ein Feind Bayerns Boden. Die
Residenz in München erweiterte er beträchtlich; und als ein Teil der
schindelbedeckten Holzhäuser der Hauptstadt abgebrannt war, befahl er,
daß alle neuen Häuser aus Stein zu erbauen und mit Ziegel zu decken
seien. Die neuen Straßen mußten breiter angelegt und der Marktplatz
mußte erweitert werden.
Ludwig starb 1347 in der Nähe von Fürstenfeld während einer
Bärenjagd in den Armen eines Bauern auf der sogenannteu Kaiserwiese.
Zu München in der Frauenkirche hat ihm im Jahre 1622 Kurfürst
Maximilian I. ein prachtvolles Grabdenkmal errichtet. Auch das dank-
bare München ehrte den großen Fürsten durch ein Denkmal am alten
Rathause und ein neues aus dem nach ihm benannten Ludwigsplatz.
Das schönste Denkmal aber hat der Fürst, ein Mann von heiteren und
sanften Sitten, tapfer in der Schlacht, liebevoll im Umgang, ein Vater
der Armen und Bedrückten, sich im Herzen des Volkes gesetzt, dessen
Liebe er voll und ganz besessen hat. Nach ®ärtner.
454 217. Erfindungen und Entdeckungen.
217. Erfindungen und Entdeckungen.
Selbst erfinden ist schön; doch glücklich von
andern Gefund'nes
Fröhlich erkannt und geschätzt — nennst
du das weniger dein?
Goethe.
Im Verlauf des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts folgten
sich in verhältnismäßig kurzen Zwischenräumen Ereignisse, deren Wirkungen
die Lebensverhältnisse der abendläitdischen Völker gründlich umgestalteten.
Es erscheint daher berechtigt, wenn man von etwa 1500 an eine neue
Zeit zu rechnen Pflegt. Zu diesen Ereignissen gehören vor allem wichtige
Erfindungen und Entdeckungen, dann ein bedeutender Umschwung auf
dem Gebiete der Wissenschaften und Künste und endlich ans dem des
kirchlichen und religiösen Lebens.
Die Erfindung des Schießpulvers hat eine völlige Umbildung
des Kriegswesens herbeigeführt. Das ohnedies schon heruntergekommene
Rittertum wurde dadurch vollständig aus seiner führenden Stellung ver-
drängt; das feudale, mit Speer und Schwert belvaffnete Reiterheer wurde
durch das ans dem Volk stammende, mit der neuen Feuerwaffe ausge-
rüstete Fußvolk ersetzt. Die wichtigste Folge dieser Erfindung war, daß
sie den Europäern ein entschiedenes Übergewicht über alle Völker der
anderen Erdteile verlieh. Auch zu den friedlichen Werken der Kultur
lernte man das Pulver gebrauchen und sprengt damit besonders Felsen,
was bei Anlage von Gebirgsstraßen und Eisenbahnen viel Zeit und
Kraftaufwand erspart.
Eine zweite, höchst folgenreiche Erfindung war die des Kompasses,
die man dem Italiener Flavio Gioja (um 1313) zuschreibt. Mit Hilfe
desselben wurde erst eine ozeanische Schiffahrt möglich. Denn vorher,
solange man die Richtung der Himmelsgegenden nur aus dem Stande
der Gestirne ersehen mußte, war die Schiffahrt auf Binnenmeere, wie
das Mittelmeer, die Nord- und Ostsee, beschränkt. Erst seitdem man
auch bei bedecktem Himmel durch die Richtung der Magnetnadel die
Himmelsgegenden zu finden vermochte, konnte nian es wagen weit in
die offenen Ozeane zu fahren.
Dazu drängte aber gegen Ende des Mittelalters das wachsende
Bestreben einen Seeweg nach Indien zu finden. Die Erzeugnisse dieses
reichen Landes waren bisher durch Karawanenhandel über Iran und
die Euphratländer nach Syrien und Kleinasien geschafft worden, wo sie
die Schiffe der italienischen Seestädte abholten. Seitdem sich aber die
rohen Osmanen in Vorderasien und auf der Balkanhalbinsel eingedrängt
217. Erfindungen und Entdeckungen.
455
hatten, erlitten jene alten Handelsverbindungen vielfache Störungen;
daher wurde im Abendland der Wunsch immer reger selbst zur See
nach Indien zu fahren. Zwei Wege schienen dorthin führen zu können:
man mußte fortwährend die Küste Afrikas bis um ihr Südende herum
verfolgen oder von Europa aus beständig in westlicher Richtung fahren.
Auf dem ersteren Wege gelangten die Portugiesen wirklich nach Indien;
auf dem letzteren fanden die Spanier unter Führung des Kolumbus
einen neuen Erdteil.
Wie die Spanier Amerika, die Portugiesen die afrikanischen Küsten
und Südasien erforschten, so erschlossen die Russen auf dem Landwege
das nördliche Asien (seit 1580); endlich entdeckten die Holländer um
1600 den kleinsten Erdteil; man nannte ihn Neuholland oder auch
Australien, d. h. Südkontinent.
Infolge dieser Entdeckungen sank die Bedeutung der italienischen
und der deutschen Seestädte; denn der Handel war nun nicht mehr auf
die süd- und nordeuropäischen Binnenmeere beschränkt und weder Deutsch-
land noch Italien waren in ihrer politischen Zerrissenheit imstande mit
den westlichen Reichen Europas gleichen Schritt zu halten.
Während durch die Reichtümer dieser fremden Länder das materielle
Leben der europäischen Völker (Erwerbsverhältnisse, Auswanderung, Geld-
wert, Nahrungsmittel u. s. w.) vielfach umgebildet wurde, ging auch auf
geistigem Gebiet eine Umgestaltung vor sich. Sie wurde mächtig ge-
fördert durch die Erfindung der Buchdruckerkunst. Diese konnte
sich um so leichter entwickeln, als kurz vorher das Linnenpapier erfunden
worden war.
Es war ein Deutscher, der den Gedanken ausführte statt des
früher gebräuchlichen Baumwolleupapiers Papier aus leinenen
Lumpen herzustellen. Aber wir kennen weder seinen Namen noch das
Jahr der Erfindung. Vor 1300 kommt kein leinenes Papier vor; aus
den Jahren 1318, 1326, 1331 aber hat das Archiv des Hospitals
Kaufbeuren Urkunden aufzuweisen, die auf leinenes Papier geschrieben sind,
ein Beweis, daß man diese Papierart zuerst in Deutschland anfertigte.
Auch der Gewerbfleiß wurde durch mehrere Erfindungen bereichert
und unterstützt. PeterHenlein in Nürnberg erfand 1509 die Taschen-
uhren, Jürgens in Braunschweig 1530 das Spinnrad, der Eng-
länder Lee 1589 den Strumpfwirker stuhl.
All diese Entdeckungen und Erfindungen trugen dazu bei eine neue
Zeit anzubahnen, in der an Stelle der körperlichen und materiellen Kraft-
entwicklung die Herrschaft des Geistes die führende Nolle übernimmt.
Nach Stöckel.
456
218. Die erste Buchdruckerei in Bamberg.
218. JHe erste Wuchdruckerei in Wamöerg.
Wir kennen keine bedeutungsvollere Erfindung als die Buchdrucker-
kunst. Früher gab es nur geschriebene Bücher, die meist von Mönchen
herrührten. Selbstverständlich waren damals die Bücher ungemein teuer.
Eine einzige schön geschriebene Bibel kostete 800 bis 1000 Mark. Die
Kenntnisse und Wissenschaften konnten deshalb zumeist nur durch das
mündliche Wort der Geistlichen und Mönche in der Kirche und in den
Klosterschulen verbreitet werden. Dies wurde anders durch die groß-
artige Erfindung der Buchdruckerkunst.
Um die Ehre und den Ruhm die Geburtsstätte dieser hohen Kunst
zu sein stritten sich früher siebzehn Städte; bevorzugtes Anrecht haben
unter denselben besonders vier: Haarlem in Holland, Straßburg, Mainz
und Bamberg. In Haarlem wurden schon im Jahre 1420 kleine Gebet-
bücher durch Lorenz Koster hergestellt, indem man Figuren und kleine
Unterschriften oder Erzählungen auf einem hölzernen Brettchen so aus-
schnitt, daß sie etwas hervorstanden. Man bestrich dieselben mit Farbe
und druckte sie dann so oft ab, wie man wollte.
Ohne Zweifel gebührt vor allem Johann Gutenberg, der wahr-
scheinlich in Mainz geboren ist, das Verdienst Buchstaben einzeln in
hölzerne Stäbchen ausgeschnitten, also bewegliche Lettern aus Holz an-
gefertigt zu haben. Da jedoch diese hölzernen Lettern leicht zersprangen,
so kam er auf den Gedanken die Buchstaben aus Metall zu fertigen.
Dazu hatte er sich mit dem reichen Goldschmied Johann Fust und dessen
Schwiegersohn Peter Schöffer vereinigt. Das Geheimnis der Zusammen-
setzung des Metalls wurde sorgfältig gehütet.
Zu gleicher Zeit übte Albrecht Pfister, der früher bei Gutenberg
gelernt hatte, in Bamberg die Kunst mit beweglichen Lettern zu drucken.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er die Kunst mit gegossenen, beweg-
lichen Metallettern zu drucken seinem eigenen Scharfsinn zu danken hat.
So viel ist mindestens erwiesen, daß Pfister zu gleicher Zeit an dem Druck
einer lateinischen Bibel arbeitete wie Fust und Schöffer an dem Psalter.
Und mag auch die Erfindung des Druckes mit beweglichen und ge-
gossenen Lettern streitig sein: der Ruhm gebührt Bamberg und dem
Buchdrucker und Dichter Albrecht Pfister das erste Buch in unserer
Muttersprache gedruckt zu haben. Er setzte überhaupt eine Ehre darein
die neue Kunst für die Verbreitung deutscher Werke nutzbar zu machen.
Durch den Druck in beweglichen Lettern auf Linnenpapier erfolgte
ein ungeahnter Aufschwung auf geistigem Gebiete. Die Lust zum Lernen
und Lesen wurde geweckt, die Kenntnis des Lesens immer mehr verbreitet.
219. Die Renaissance.
457
Was früher nur wenigen zugänglich war, das konnte nunmehr in alle
Fernen, von einem Volke zum anderen, in alle Schichten der Bevölke-
rung getragen werden. In Stadt und Land, in den Palästen der
Reichen wie in den Häusern der Minderbemittelten konnten die Erzeug-
nisse des Geistes von nun an rasch sich einbürgern und zum Gemeingut
aller Werden. Lesebuch von NicklaS.
219. I>ie Kenaissarrce.
Das Bestreben die Errungenschaften der griechisch-römischen Kultur
möglichst wieder ins Leben einzuführen hatte nirgend einen schöneren Erfolg
als auf dem Gebiete der Kunst. In der Baukunst hatte das Mittelalter
zwei Stilarten entwickelt, den sogenannten romanischen oder Rundbogenstil,
welcher der sächsischen und fränkischen und den Anfängen der staufischen
Kaiserzeit angehörte, und den Spitzbogenstil, den man den gotischen genannt
hat. Der letztere ist der eigentliche Stil der Kulturhöhe des Mittelalters.
In Italien war er nie besonders beliebt; hier wurde er auch am ersten
wieder verlassen, als man durch die neu erwachte Begeisterung für die Reste
des Altertums auf neue Kunstformen kam. Gerade in Italien hatten sich
aus der römischen Kaiserzeit genug Denkmäler erhalten, die sofort die Bau-
kunst zu beeinflussen ansingen, sobald man antikes Wesen wieder zu schätzen
begann. Während die gotische Baukunst den zum Himmel gekehrten Sinn
in der Zeit der Kreuzzüge in der senkrechten Linie sehr bezeichnend zum
Ausdruck bringt, gelangte jetzt in den Gebäuden wieder mehr die wagerechte
Linie zur Geltung. Zugleich kam man, vorerst im Kirchenstil, auf den
Kuppelbau, für den man im Pantheon zu Rom ein herrliches Muster aus
dem Altertum besaß. Das Vollendungsjahr der ersten Domkuppel, die
Brunelleschi 1420 in Florenz wölbte, rechnet man sogar als Anfang des
neuen Stils. Man hat ihn den der Renaissance genannt, weil in ihm die
Formen und Gesetze der antiken Kunst besonders der römischen Kaiserzeit
eine Wiedergeburt, aber auch eine Weiterbildung und Umgestaltung erfuhren.
Die großartigste Kuppel ist die der neuen Peterskirche in Rom, wie dieses
Bauwerk überhaupt das mächtigste der ganzen Renaissance ist. Demselben
nachgebildet sind unter anderen die Theatinerkirche in München und die
Kirche zu Stift Hang in Würzburg. Auch das Tonnengewölbe wurde jetzt
mit Vorliebe angewendet und neben dem Kirchenstil auch der Palastbau zu
mustergültiger Schönheit ausgebildet. In späterer Zeit aber artete die
Renaissance in Barock und Rokoko aus.
Wie in der Baukunst, so wirkte das neu erwachte Studium der Antike
auch in der Bildhauerei und Malerei ungemein fördernd. In diesen Künsten
hatte das Mittelalter fast nur Unzulängliches zu schaffen vermocht, da es
eine gewisse Scheu fühlte den Körper nach der Natur zu studieren. Durch
die zahlreichen, aus dem Schutte der zerstörten Orte hervorgegrabenen Bild-
säulen und das Studium derselben wurde die Anschauung des Mittelalters
458
219. Die Renaissance.
umgeändert; man sah ein, wie die kurz- und dünnbeinigen, langarmigen und
großköpfigen Gestalten, die man bisher gezeichnet, gemalt und gemeißelt, in
den Verhältnissen arg mißraten waren. Man nahm auch hier die Alten,
zugleich aber auch deren Lehrerin, die Natur, zum Vorbild. Man gab sich
mit jugendlicher Begeisterung dem Studium der Antike wie der Natur hin,
zumal feinsinnige Fürsten, wie Lorenzo der Prachtliebende (1469—1492)
aus dem Hause Medici in Florenz, und kunstliebende Päpste, wie Julius II.
(1503—1513) und Leo X. (1513—1521), den Künstlern großartige Aufgaben
stellten und in freigebiger Weise die nötigen Mittel zur Ausführung
beschafften.
Es war ein glückliches Zusammentreffen, daß Italien zu jener Zeit eine
ungewöhnlich große Zahl hochbegabter Männer hervorbrachte, unter denen
Bramante, von dem der Entwurf der Peterskirche stammt, und Palladio
als Architekten, Michelangelo Buonaroti als der gewaltigste unter den
Bildhauern, Raffael Sanzio, Leonardo da Vinci und Tizian als die bedeutend-
sten unter den Malern zu nennen sind.
Dieses großartige Beispiel Italiens wirkte auch auf die anderen Länder.
In Frankreich pflegte der prachtliebeude König Franz I. (1515—1547)
Wissenschaften und Künste und zog vorübergehend Leonardo da Vinci wie
Benvenuto Cellini an seinen Hof. In Deutschland förderte der ritterliche
Kaiser Maximilian I., bei welchem Albrecht Dürer aus Nürnberg in hoher
Gunst stand, die Renaissance, während der zweitgrößte deutsche Maler jener
Zeit, Hans Holbein der Jüngere aus Basel, in Heinrich VIII. von England
einen Gönner fand. Lukas Kranach malte zu Wittenberg als Zeitgenosse
Luthers uud Friedrichs des Weisen von Sachsen, Rubens um 1600 in den
Niederlanden (Antwerpen), Velasquez und Murillo (um 1650) in Spanien
(Sevilla).
Es hängt mit der jugendlichen Empfänglichkeit jener Zeit zusammen,
daß neben den bildenden auch die sogenannten redenden Künste eine herr-
liche Entfaltung nahmen. Man suchte eben die tausendfältige Anregung,
die man aus dem Studium der Alten zog, in allen Äußerungen des mensch-
lichen Geistes zu verwerten. So schuf Palestrina (seit 1555 päpstlicher
Kapellmeister) Werke, von denen die ganze neuere Musik (besonders der
feierliche Kirchenstil) ihren Ausgang genommen. Aber auch den Literaturen
der abendländischen Völker kam das Studium der Alten sehr zugute. In
der epischen Dichtkunst wurde der Italiener Ariosto (um 1500) der Vater
des neueren romantischen Epos, dem der ernstere Torquato Tasso (um 1570)
folgte. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte jedoch die Dichtkunst in
dem Engländer Williaiu Shakespeare (ff 1616), den man den Vater des
neueren Dramas nennen darf. .In der französischen und deutschen Literatur
zeitigten Humanismus*) und Renaissance ihre glänzendsten Früchte etwas
0 Humanismus nennt man die wissenschaftliche Richtung der Renaissance,
welche zu einer allgemein menschlichen, („humanen") Bildung dadurch zu gelangen
220. Kurfürst Maximilian I. von Bayern.
459
später. So erhielt Frankreich erst unter Ludwig XIV. sein klassisches Z
Dreigestirn: Corneille, Racine, Moliere; Deutschland, dessen geistige Ent-
wicklung durch den verheerenden Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts
aufgehalten wurde, erreichte erst gegen Ende des 18. und im Beginn des
19. Jahrhunderts seine zweite Blütezeit (Lessing, Goethe, Schiller).
Wie die „schöne Literatur" oder die Dichtung aus dem Humanismus
und der Renaissance neue Nahrung und Bereicherung an Kunstformen zog,
so hob sich unter dem Einflüsse des Humanismus auch die Wissenschaft, und
zwar nicht bloß die Sprachenkunde sondern auch die Geschichte und Alter-
tumskunde, die Geographie, Mathematik und Astronomie. Jetzt erst erhielt
man eine zuverlässige Kenntnis von den Taten und Schicksalen der vor-
christlichen Völker; jetzt erst lernte mau auch in Deutschland die Urzeit des
eigenen Volkes aus den Geschichtsbüchern der Griechen und Römer kennen
und begeisterte sich an König „Ehrenfest" (— Ariovist) und dem Cherusker-
helden „Hermann" (— Armin). So sog aus dem Humanismus auch die
vaterländische Begeisterung Nahrung, und zwar zumeist in Deutschland und
Italien.
Die Geographie konnte erst jetzt, seitdem die Entdeckungen allmählich
einen Überblick über den Erdball verschafften, zu Wert und Bedeutung
gelangen. Nun fertigte der Nürnberger Jakob Behaim, der sich jahrelang
in Portugal und auf den Azoren aufhielt, den ersten Globus (um 1500);
sein Zeitgenosse Amerigo Vespucci aus Florenz zeichnete Karten der Neuen
Welt, die nach ihm benannt wurde; der Niederländer Krämer, der nach
damaliger Gelehrtenweise seinen Namen in Mercator übersetzte (um 1500),
verfertigte Karten, besonders auch Seekarten, in der nach ihm benannten
Projektion; Nikolaus Kopernikus aus Thorn in Westpreußen (um 1500)
wies nach, daß die Erde und die übrigen Planeten sich um die Sonne
bewegten, was später (um 1600) durch den Deutschen Keppler und den
Italiener Galilei bestätigt wurde. Nach Stöckel.
220. Kurfürst Marimitian I. von Wayern.
1597—1651.
a) Vielfache Teilungen des Landes hatten Bayerns Macht geschwächt
und sogar Kriege unter den einzelnen Fürsten hervorgerufen. Diesem
Übelstande suchte Albert der Vierte, der die verschiedenen Teile der
bayerischen Lande in einer Hand vereinigte, dadurch abzuhelfen, daß er
am 8. Juli 1506 das Gesetz der Erstgeburt aufstellte: Bayern
suchte, daß sie die Literatur der Griechen uud Römer nach jeder Richtung nach-
zubilden trachtete.
0 Klassisch — mustergültig, besonders von den Kulturerscheinuugen des
Altertums gebraucht, da die Griechen uud Römer zuerst in der Geschichte Muster-
gültiges auf den verschiedenen Lebensgebieten geleistet haben (die Griechen in Kunst
und Wissenschaft, die Römer im Staats- und Rechtsleben).
460 220. Kurfürst Maximilian I. von Bayern.
soll künftighin ein unteilbares Herzogtum sein; nur der Erstgeborene hat
nach dem Tod eines Regenten Anspruch auf den Thron; die jüngeren
Söhne dagegen sollen Grafen von Wittelsbach heißen und nur mit mäßigen
Einkünften ausgestattet werden. Seit diesem zeitgemäßen Gesetze wurde
Bayern nicht mehr geteilt und es erfuhr bald eine Erhöhung seines
Ansehens und seiner Macht, besonders unter Maximilian I.
Maximilian I. war unzweifelhaft der bedeutendste deutsche Fürst
seiner Zeit. Er besaß eine Festigkeit des Charakters, eine Unabhängigkeit
des Willens und eine Selbständigkeit des Urteils, wie sie selten einem
Menschen beschieden sind.
Er genoß eine sorgfältige Erziehung. An der Universität Ingolstadt
betrieb er mit regem Eifer das Studium der Sprachen, der Rechts-
wissenschaft, Mathematik und Kriegskunst. Nachdem er auf Reisen die
Welt kennen gelernt hatte, nahm er eifrigst an den Staatsgeschäften teil.
Von früher Jugend an Ordnung, Mäßigkeit und Arbeitsamkeit gewöhnt,
verwendete er seine großen Geistesgaben nur für das Wohl seines Landes
und den Sieg der katholischen Sache, der er jederzeit Gut und Blut
zu opfern bereit war.
Als er die Regierung übernahm, war der Staatshaushalt zerrüttet,
die Schuldenlast drückend; dazu hatten sich Mißbräuche aller Art ein-
geschlichen. Der Herzog stellte letzter^ ab, beschränkte den Aufwand
des Hofes, führte eine genaue Prüfung der Ausgaben und weise Spar-
samkeit ein und hob durch Förderung des Salzwesens (Solenleitung
von Reichenhall nach Traunstein), des Handels und Gewerbfleißes die
Einnahmen des Staates. Sein Hauptaugenmerk aber richtete er auf
Herstellung einer ansehnlichen Kriegsmacht. Sein Scharfblick erkannte
wohl, daß die beständigen Reibereien zwischen den beiden Religions-
Parteien, die unter Kaiser Rudolfs II. (1576—1612) Regierung wieder
besonders heftig geworden waren, unvermeidlich zum Kriege führen mußten.
Deshalb bildete er stets schlagfertige Kerntruppen aus Landeskindern,
sorgte für Waffenvorräte, befestigte München und andere Orte und
verstärkte die Werke um Ingolstadt. Seine Feldherren Alexander von
Haslang und der äußerst kriegskundige Niederländer Tilly standen ihm
hierbei treu zur Seite. Daneben aber war der Herzog auf allen Ge-
bieten zur Beförderung des Volkswohles in einer geradezu staunens-
werten Weise tätig. Die Armen erstellten sich seiner Fürsorge; das
Schulwesen suchte er zu heben; ebenso begünstigte er die Wissenschaften,
namentlich das Studium der vaterländischen Geschichte, und die Kunst
fand in ihm einen stets opferwilligen Freund. Maximilians streng recht-
220. Kurfürst Maximilian I. von Bayern.
461
sicher Sinn verlangte nach besseren Rechtszustünden; daher ließ er das
bayerische Landrecht ausarbeiten.
Das dicht bevölkerte, lebhafte und seiner gesunden Luft halber ge-
priesene München galt schon bei Maximilians Regierungsantritt als die
schönste Stadt Deutschlands. Er fügte seinen Prachtbauten die jetzige
Alte Residenz hinzu, ein nach den Entwürfen des Niederländers Peter
de Witte (Candidus) aufgeführtes Gebäude. Von seiner erloschenen
äußeren Pracht geben heute nur noch der eine wiederhergestellte Hof
und die großartigen Portale und Erzbildwerke Zeugnis. An ihn schloß
sich würdig der Hofgarten, welcher in größerem Maßstab dieselbe meister-
hafte Verbindung von Baukunst, Bildnerei, Malerei und Gartenkunst
zeigte wie noch gegenwärtig der lauschige Grottenhof der Residenz. In
dieser bereitete Maximilian den von seinen Vorgängern begonnenen
Kunstsammlungen prächtige Stätten und vervollständigte dieselben, von
gründlichem Wissen und feinem Geschmack geleitet, durch eigene Ankäufe.
Die Tuchweberei erfuhr durch die Berufung niederländischer Meister
und Abordnung einheimischer Knaben an die berühmten Tuchfabriken
in den Niederlanden eine wesentliche Hebung. Herrlich sind die Wand-
teppiche, welche er durch Hans van der Biest in München wirken ließ,
sowie die Elfenbeinschreine, welche Christoph Angermayer in seinem Auf-
trag anfertigte; die von Hans Kruncper gegossenen Erzbildwerke, womit
er sein Schloß und den Marienplatz zierte, die Kupferstiche Amlings,
Sandrarts, Raphael Sadelers und der Brüder Kilian sowie die Münzen
und Medaillen, die Paul Zeggin modellierte, reihen sich würdig dem
Vesten an, was die Renaissance schuf.
Bedeutende Künstler zog Maximilian an seinen Hof; begabte junge
Leute ließ er im Ausland auf seine Kosten ausbilden. Kunstgewerbe
aller Art suchte er in München heimisch zu machen und zu heben. Von
hier gingen ziselierte Waffen und Harnische nach Italien, Frankreich und
Spanien; von hier erbat man sich aus Madrid Lehrmeister für die
Anfertigung marmorgleichen Stucks. Wie sehr Maximilian darauf be-
dacht war alles mit künstlerischem Schmucke zu verschönen, zeigen die
prachtvollen Geschütze, welche jetzt vor dem Münchener Armeemuseum
aufgestellt sind.
b) Aber auch an Taten des Krieges war seine Regierung leider sehr
reich. Das erste Mal ergriff Maximilian die Waffen, als in der Reichs-
stadt Donauwörth eine katholische Prozession gestört und sein Gesandter
von der protestantischen Mehrheit der Stadt verhöhnt worden war.
Nun besetzte er das geächtete Donauwörth mit des Kaisers Rudolf II.
Zustimmung 1607 und machte es zur bayerischen Landstadt. Nachdem
462
220. Kurfürst Maximilian I. von Bayern.
die katholischen Fürsten sich 1609 in der Liga vereinigt hatten, wurde
Maximilian zum militärischen Haupt derselben erwählt; sein Vetter,
Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz, stand an der Spitze der pro-
testantischen Union. Noch unter Kaiser Matthias (1612—1619) brach
der verderbliche Dreißigjährige Krieg (1618—1648) aus, und zwar
begann er in Böhmen. Nach des Kaisers Tod wählten hier die Stände
nicht den Kaiser Ferdinand II. (1619—1637), sondern den Kurfürsten
Friedrich V. von der Pfalz zu ihrem Könige. Maximilian rückte mit
der Armee der Liga in Böhmen ein und sein Feldherr Tilly gewann
1620 über den „Winterkönig" einen ebenso raschen wie vollständigen
Sieg am Weißen Berge bei Prag. Zum Andenken an denselben ließ
der Herzog zu München die Mariensüule errichten. Auf dem Reichstage
zu Regensburg 1623 wurde Maximilian vom Kaiser mit der Kurwürde
auf Lebenszeit belehnt. Im Jahre 1628 erhielt er den größten Teil
der Oberpfalz mit Cham und die Pfalz rechts des Rheins.
Nach dem Siege über den Dänenkönig Christian IV. bei Lutter
am Barenberg bezwang Tilly 1631 Magdeburg. Von nun an aber
begann der Glücksstern des greisen Feldherrn, der in mehr als dreißig
Schlachten den Sieg errungen, rasch zu erbleichen. Seine erste empfind-
liche Niederlage erlitt er durch den in Deutschland erschienenen Schweden-
könig Gustav Adolf 1631 bei Breitenfeld in Sachsen, worauf er nach
Bayern zurückkehrte. Im nächsten Frühjahr wollte er dem Schweden-
könig, der die Nheinpfalz erobert hatte, bei Rain am Lech den Eingang
nach Bayern wehren; doch wurde er schwer verwundet und gab seine
feste Stellung auf. Bald darauf starb Tilly in Ingolstadt. Sein
Gegner aber, der diese Festung nicht bezwingen konnte, lenkte seinen
Siegeszug über Landshut, Moosburg und Freising der Landeshauptstadt
zu, in der er strenge Kriegssteuern erhob, in religiöser Hinsicht aber
milde verfuhr. Da die Stadt die aufgelegte hohe Brandschatzung nicht
zahlen konnte, wurden 42 Geiseln mit weggenommen, die erst nach
Jahren und nach Duldung unsäglicher Beschwerden wieder heimkehren
durften. Nun wurde Wallenstein, der in Niedersachsen Tillys Schlacht-
genosse war und auf Maximilians Veranlassung hin seine Entlassung
1630 erhalten hatte, der Befreier Bayerns von dem schwedischen Könige.
Auf dem Schlachtfelde zu Lützen in Sachsen ereilte diesen 1632 der
Tod. Auch der bayerische Reiterführer Pappenheim, das erhabenste
Bild eines ritterlichen Kriegers, fand hier den Heldentod. Jetzt begann
die schrecklichste Zeit des Krieges, der immer mehr in planloses, wildes
Morden und Rauben ausartete. Die Bayern zeichneten sich in manchen
Gefechten aus unter Johann Mercy und Tillys Landsmann, dem kühnen,
463
221. Frankreichs Raub an Deutschland.
abenteuerlichen Johann von Werth, welch letzterer die Schlacht bei Nörd-
lingen 1634 zum Nachteil der Schweden entschied. Diese hätten nun unser
Vaterland verlassen müssen, wenn sie nicht an Frankreich, welches Deutsch-
land noch mehr verderben wollte, offene Unterstützung gesunden hätten.
Mercy siegte bei Tuttlingen und Mergentheim, fiel aber bei Allersheim
1645 und Johann von Werth drang mit seinen Neiterscharen znm
Schrecken der Pariser bis St. Denhs vor. Später wurde er als Ge-
fangener nach Paris gebracht und sodann gegen den schwedischen General
Horn ausgewechselt.
Bayern wurde nun wiederholt von schwedischen und französischen
Truppen so arg verheert, daß sich der Kurfürst zu einem Waffenstill-
stand mit ihnen veranlaßt sah, weshalb Johann von Werth sich den
Truppen des Kaisers Ferdinand III. (1637—1657) anschloß. Gar bald
aber rückten die Bayern gegen die früheren Feinde wieder ins Feld
und von neuem drangen Franzosen und Schweden verwüstend in die
Pfalz und in Bayern ein. Da endlich erscholl die Kunde von dem
Frieden, der in Westfalen zu Münster und Osnabrück abgeschlossen
wurde (1648). Maximilian durfte die Oberpfalz und die Kurwürde
als erbliches Lehen behalten, mußte aber die Nheinpfalz an Karl
Ludwig, den Sohn Friedrichs V., herausgeben, der die neuerrichtete achte
Kur erhielt.
Die Folgen des Krieges waren furchtbar. Das Deutsche Reich war zu
Grunde gerichtet, der Kaiser seiner Macht und seines Ansehens beraubt. Zwei
Dritteile der Bevölkerung waren ausgestorben; Bayern allein war etwa um
80000 Familien ärmer geworden und wohl 2000 Höfe waren unbewohnt.
Handel und Gewerbe lagen vollständig darnieder; die Werkstätten standen
leer. Entlassene Soldaten zogen bettelnd und stehlend im Lande umher;
Räuber und Raubtiere machten die Gegenden unsicher. Die Dörfer
waren in Schutthaufen verwandelt; das Vieh fehlte; die Obstbäume
waren verschwunden; vorher blühende Fluren lagen als Unkrautflächen
da. Es bedurfte des angestrengtesten Fleißes und des innigsten Gott-
vertrauens unserer Ahnen um die schweren Schäden zu heilen.
Maximilian hatte den ganzen Krieg durchlebt; ihm ging das Leid
seiner Untertanen tief zu Herzen; nach Kräften suchte er ihnen fördernd
beizustehen. Als ein Greis von 79 Jahren beschloß er im Jahre 1651
sein taten- und ruhmreiches Leben. Nach Stieve.
221. Arankreichs Kaub an Deutschland.
König Heinrich II. von Frankreich unterstützte den Herzog Moritz
von Sachsen im Kriege gegen den Deutschen Kaiser Karl V., zog in die
464
221. Frankreichs Raub an Deutschland.
drei Bistümer Metz, Tul (Toul) und Virten (Verdun), besetzte sie und
behielt sie in seiner Gewalt. Im Westfälischen Frieden bereicherte sich
Frankreich wieder auf Kosten Deutschlands.
Die Städte im Elsaß, die noch ihre Freiheit besaßen, wurden unter
der Regierung Ludwigs XIV. mitten im Frieden auf einmal derselben
beraubt. Widerstrebende Städte wurden in Schutt und Asche verwandelt
und die Einwohner auf die grausamste Weise ermordet. Noch stand
Straßbnrg, diese an der Mündung der Jll in den Rhein gelegene Perle
der Städte von Elsaß, in aller Reichsherrlichkeit aufrecht. Dieser Stadt
ließ Ludwig jetzt ankündigen, daß sie sich ihm ebenfalls zu unterwerfen
habe. Die Bürger der Stadt wie auch der Kaiser ließen es an wieder-
holtem, ernstem Einspruch nicht fehlen. Allein eine starke Heeresmacht
näherte sich der Stadt, die sich keines Angriffes versah. Plötzlich ver-
breitete sich unter der Bürgerschaft die Nachricht: „Unsere Reichsschanze
ist von den Franzosen besetzt!" — Alles eilt auf die Mauern, da sieht
man schon neue Massen nachrücken. An gutem Willen gegen den Feind
zu kämpfen fehlte es bei der Mehrzahl der Bürger nicht, wogegen die
meisten der obrigkeitlichen Personen vom Widerstand abrieten. Nun kam
die Forderung und Drohung an die Bürgerschaft: Ergebung oder Ver-
wandlung der Stadt in einen Aschenhaufen und Behandlung der Bürger
als Aufrührer! Es folgte die Ergebung unter Entgegennahme der üb-
lichen Zusicherungen, daß der Stadt alle Gerechtsame in Ehren gehalten
werden sollten. Kaum aber hatten die Franzosen festen Fuß in der Stadt
gefaßt, so wurden diejenigen verlacht, die jene Versicherungen für Ernst
genommen hatten. Es galt nur mehr der Wille des französischen Königs.
Der Raub Straßburgs wurde am 16. September 1681 ausgeführt;
vierzehn Tage später hielt Ludwig seinen feierlichen Einzug in die Stadt.
Es galt nun den Raub zu sichern. Ludwig gab der Stadt eine
starke Besatzung und ließ in derselben den Bau einer starken Festung in
Angriff nehmen. Doch genügte ihm dies noch nicht. Deutschland mußte
beschäftigt werden um nicht durch Sendung einer Heeresmacht den Ver-
such zur Zurückeroberung Straßburgs zu machen. Dazu boten Unruhen
im Osten des Reiches günstige Gelegenheit. Ungarn, höchst unzufrieden
mit dem Regierungsverfahren des Deutschen Kaisers, suchte sich mit den
Türken gegen Leopold zu verbinden. Eifrig schürte der „allerchristlichste"
König Ludwig die Flamine und half es bewirken, daß ein großes türkisches
Heer in Österreich einfiel. Hatte Frankreich bisher die Verwüstung des
Westens Deutschlands betrieben, so war sein Einfluß nun auch im Osten
zu gteichem Zwecke mit wirksam. Die Errettung Wiens (1683) durch
Sobiesky kam dem Könige von Frankreich sehr ungelegen; denn er hatte
465
221. Frankreichs Raub an Deutschland.
schon längst bei der zunehmenden Schwäche Deutschlands auf einen
neuen Raub gesonnen. Bald bot sich ihm eine erwünschte Gelegenheit.
Der Kurfürst Karl von der Pfalz starb und mit ihm erlosch der Zweig
Psalz-Simmern. Nach klarem Rechte sielen die Erbländer an Pfalz-
Neuburg und nur die Allodialgüter gingen als Erbteil an des Ver-
storbenen Schwester, die Gemahlin des Herzogs von Orleans, über.
Da trat Ludwig plötzlich mit der Behauptung auf, die Herzogin sei
auch Erbin der pfälzischen Länder; jedoch wollte er nicht der Herzogin
diese Länder zuwenden, sondern er beabsichtigte sie Frankreich einzuver-
leiben.
In derselben Zeit beschäftigte ihn eine andere Angelegenheit ebenso
lebhaft. Der erzbischöfliche Stuhl von Kurcöln war erledigt und nun
begehrte er von den Reichsständen, daß sie den französisch gesinnten
Bischof von Straßburg zum Bischof von Cöln erheben sollten. Da
dieses Verlangen nicht erfüllt wurde, so erklärte er 1688 dem Deutschen
Reiche den Krieg. In Wilhelm III. von Oranien, dem Könige von
England, war ihm aber ein gewaltiger Gegner erstanden. Um nun
seine ganze Kraft gegen diesen Feind sammeln zu können, kam Ludwig
auf einen wahrhaft teuflischen Plan. Er beschloß, die an Frankreich
grenzenden Gebiete Westdeutschlands völlig auszuplündern und darauf
in Wüsteneien verwandeln zu lassen. Einen breiten Wüstenstrich zwischen
Frankreich und Deutschland zu legen, schien ihm das einfachste Mittel
zu sein den Anzug der deutschen Heere von Osten her zu verhindern.
Melac hieß der General, der dazu ausersehen war, die gesegnete,
deutsche Pfalz in eine Wüste zu verwandeln. Es wälzten sich die
Scharen von Ort zu Ort, und wenn sie weiter wanderten, hinter-
ließen sie rauchende Trümmerhaufen, während die ihnen folgenden Züge
von Wagen mit den geraubten Gütern größer und größer wurden.
Es war mitten im Winter; aber kein Erbarmen regte sich in den Seelen
der Mordbrenner bei dem Gedanken, daß hilflose Weiber, Greise und
Kinder der Kälte erliegen mußten. Heidelberg war die erste Stadt,
welche den Unmenschen zum Opfer fiel. Wichtige Gebäude, die dem
Feuer widerstanden, z. B. das berühmte Schloß, wurden durch Spren-
gungen zerstört, ebenso die Stadtmauern. Aber auch die herrlichen
Weinberge und Baumgärten erlagen der Verheerung. Nun folgten zu-
nächst die Ortschaften der Bergstraße bis Weinheim. Im März 1689
wurde Mannheim dem gleichen Geschick überantwortet. Im April er-
folgte die Besetzung Speyers. Die Stadt wurde ausgeplündert. Wagen
und Pferde zur Wegschaffung der Beute nach Frankreich mußte die
Stadt noch obendrein geben. Die Schöffen hatte man im Rathaussaale
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 30
466
222. Die Mordweihnacht bei Sendling.
so lange ohne Nahrung hinter Schloß und Riegel gefangen gehalten,
bis die ungeheure Summe, die der Stadt zur Zahlung auferlegt, her-
beigeschafft worden war. Mit Peitschen wurden die Bürger angetrieben
ihre eigenen Mauern niederzureißen. Nun kam der Befehl, die Ein-
wohner sollten nach Lothringen oder Burgund auswandern. Bürger,
die sich über den Rhein zu retten suchten, wurden von Soldaten, die
im Ufergebüsch versteckt lagen, erschossen. Da zugesagt worden war den
herrlichen Kaiserdom zu schonen, hatten viele Bürger ihre Habe in ihn
geflüchtet. Ihr Hoffen aber war ein vergebenes. Am dritten Pfingst-
feiertage wurden die Hauptgebäude der Stadt und unter denselben auch
der Dom, in dem die Gebeine von acht Deutschen Kaisern ruhten, an-
gezündet. Darnach wälzte sich der Zug der Mordbrenner nach Worms
und Trier und von da nach Cöln und Jülich. Die unglücklichen Be-
wohner wurden genötigt ihre Fruchtbäume und Weinstöcke abzuhauen
oder durch Feuer zu zerstören und das halbreife Getreide unterzupflügen.
Der „allerchristlichste" Ludwig ließ zum Andenken an die Helden-
taten seiner Soldaten eine Münze schlagen, welche das brennende Schloß
von Heidelberg zeigt mit der Umschrift: „Der König gebot und es geschah!"
Nach Schmidt.
222. Die Mordweihnacht öei Sendling.
Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701—1714) hatte sich Bayern ans die
Seite Frankreichs gestellt. Die vereinigten Bayern und Franzosen wurden
aber in der Schlacht bei Höchstädt (1704) so entscheidend geschlagen, daß
der Kurfürst Max Emanuel über den Rhein fliehen mußte und Bayern von
den Österreichern besetzt wurde. Da ging durch das unglückliche Land die
Losung: „Lieber bayerisch sterben als kaiserlich verderben!" Bald erhob sich
denn auch das Volk und griff zu den Waffen. Namentlich waren es die
Oberländer Bauern, welche in Begeisterung für ihren Landesherrn die
Hauptstadt von den Feinden befreien wollten. Mitten im Winter eilten gegen
5000 Bauern nach München. Ihr Anführer war der französische Hauptmann
Gauthier. Bei Schäftlarn ordnete er die Schar und brach am Abend vor
der Christnacht gegen München auf. Die Bürger der Stadt waren im Ein-
verständnis mit den Landesverteidigern.
Es war schon elf Uhr vorüber, als der Vortrab der Oberländer Bauern
hinter Harlaching herankam und in die Spitzen des Tannenwaldes vorrückte,
welcher damals noch weit gegen das Giesinger Bergkirchlein und die wenigen
um dasselbe gescharten Wohnhäuser heranreichte.
Gauthier hatte den Befehl erlassen nur mit der äußersten Behutsamkeit
vorzugehen und alles unnötige Geräusch zu vermeiden; als aber die ersten
Schützen gegen die Felder vorrückten und eine Schar von Reitern gewahrten,
222. Die Mordweihnacht bei Sendling.
467
welche hinter Giesing Posten gefaßt hatten, waren Befehl und Vorsicht im
Ungestüm der Kampfbegierde vergessen und die ersten Schüsse knallten
verräterisch durch die Nacht. Mit Jubelgeschrei sahen die Schützen einige
der Reiter stürzen, die übrigen aber abschwenken und in die Nacht davon-
sprengen. Im Sturmschritt und in gedrängten Hansen ging es den Giesinger
Berg hinab, dann längs desselben unter den kurfürstlichen Jagdhäuseln bis
an das Panlanerkloster hin; bei diesem sollte die erste Abteilung der Münchener
stehen und die Ankommenden empfangen.
„Wer da?" rief es hin und „Bayerische Landesverteidiger!" scholl es
zurück und von beiden Seiten wurden die willkommenen Freunde mit Hände-
druck und Umarmung begrüßt. Es war die streitbare Schar der Zimmer-
leute aus der Vorstadt Au, welche mit Schurzfell und Beil sich bereit
hielten, falls man ihrer bedürfen sollte beim Brückensturm.
Unangefochten erreichte man das Ende der Vorstadt. Der Brückeneingang
war unbesetzt; drüben ragte der Rote Turm, ein viereckiges, festgefügtes
Gebäude, unheimlich herüber; nichts regte sich als die Wellen der Isar.
Auch die Landesverteidiger standen fest wie Mauern und geräuschlos
wie Schatten — sie harrten der entscheidenden Stunde und des Zeichens
zum Angriffe. Jetzt kündeten von den Türmen der Stadt die Uhren die
Mitternachtstunde — dann war es wieder still; kein Glockengeläute rief zur
Mette; kein Feuerzeichen stieg über den finstern Giebeln empor um zu
verkünden, daß die Genossen bereit seien die Befreier zu empfangen. Immer
langsamer verstrichen den Harrenden die Augenblicke und jede Viertelstunde
schien sich zu einer Unendlichkeit zu erweitern; immer unruhiger, immer
ängstlicher schlugen die Herzen und ein unheimliches Geflüster durchlief die
Reihen. „Was hat das zu bedeuten?" hieß es. „Nun sind wir da —und
nun lassen uns die Bürger im Stiche?" Es war aber nur ein einziger
Augenblick des Zagens, der die Gemüter beschlich; im nächsten ward es allen
klar, daß die Münchener sicherlich nicht wortbrüchig waren, daß es also nur
die Gewalt sein konnte, die sie verhinderte. Ein riesenhafter Mann, welcher
mit den Auer Zimmerleuten zuvorderst stand — der Volksmnnd nennt ihn
den Kochler Schmiedbalthes — gab den Ausschlag. Mit hochgeschwungener
Eisenkeule rief er: „Was besinnen wir uns lange! Wort halten heißt's.
Vorwärts, Kameraden! Mutter Maria, steh uns bei!"
Voran stürmten die Scharen, die Zimmerlente an der Spitze — aber
so still es im Roten Turme gewesen, schien man die Ankommenden dennoch
erwartet zu haben; denn kaum hatten die ersten Reihen die Brücke betreten,
als es aus allen Turmluken aufblitzte und große und kleine Kugeln in die
dichtgedrängte Menge todbringend einschlugen. Viele stürzten; mancher,
unfähig sich zu halten, taumelte über das niedere Geländer in den Fluß
hinab. In der ersten Verwirrung stockte der Anlauf; aber die Vordersten
hatten schon den Turm selbst erreicht: gewaltsam dröhnten und schmetterten
die mächtigen Zimmermannsbeile an das Tor. Die Eichenbohlen des
Tores vermochten in die Länge den Hieben nicht zu widerstehen; krachend
30*
468 222. Die Mordweihnacht bei Sendling.
stürzten die Flügel nach innen. Aber den darüber Eindringenden blitzte ein
noch wilderer Kugelregen entgegen; denn die Kaiserlichen hatten sich im Tor-
wege geschart und ein wütendes Handgemenge begann. Da waren die
Keulen, die Äxte und Morgensterne an ihrem Platze; gegen sie fruchtete kein
Widerstand: ehe eine halbe Stunde verging, lag die Turmbesatzung erschlagen
und die Landesverteidiger stürmten dem inneren, dem eigentlichen Jsartore
zu, bis zu welchem der Zwischenraum mit Holzplätzen und Gärten ausgefüllt
war; eine kleinere Abteilung schwenkte rechts gegen das „Kosttörl" ab, das
die Bürger zu öffnen versprochen hatten. Am Jsartor erwartete die Bauern
ein weit furchtbarerer Widerstand: die Brücke über den Graben war auf-
gezogen und es galt nun vor allem sie niederzuzwingen. Während einzelne
versuchten durch den Graben zu schwimmen, um an den Mauern empor-
zuklimmen und die Brückenseile zu durchhauen, mußten die Schützen sich
darauf beschränken mit ihren nie fehlenden Kugeln die Mauern von ihren
Verteidigern zu säubern; andere schleppten die beiden im Roten Turm erbeuteten
Geschütze herbei und begannen das Tor zu beschießen. Schon war es einigen
Waghälsen gelungen, in der Tiefe des Grabens mit Leitern an Turm und
Mauern zu gelangen, und der begeisterten Todesverachtung der Bauern hätten
auch diese Bollwerke nicht mehr auf lange zu widerstehen vermocht.
Da dröhnte von fern ein Kanonenschuß durch die Nacht. Im Rücken
der Stürmenden begann es unruhig zu werden; das entmutigende Fluchwort
„Verrat, Verrat!" wurde immer lauter, immer häufiger. Das ganze Vor-
haben, hieß es, sei den Kaiserlichen haarklein verraten gewesen; der Kriechbaum
und der Wendt seien von Anzing da und ständen den Angreifern im Rücken.
Vergebens bemühten sich die Führer zu halten und anzuspornen. Vom Gasteig
begannen die Kugeln Wendts unter den Bauern einzuschlagen; das Geschrei
im Rücken von der Brücke her wurde immer lauter und wilder; die Besatzung
der Landesverteidiger im Roten Turme wurde aus diesem gedrängt und warf
sich auf die übrigen. Schon sah man die Säbel der Panduren über den
hintersten blinken, da fiel auch die Brücke des Jsartors herab; die Kaiser-
lichen fielen wütend aus und von zwei Seiten drohte das Verderben der
treuen Schar.
Ungeübt in regelmäßigem Kampfe, weit schwächer an Zahl und ungleich
an Waffen, vermochte diese nicht standzuhalten; aber sie floh nicht:
mannhaft geschlossen, immerfort fechtend, zogen sich die Landesverteidiger
Schritt um Schritt zurück, in ihrer Mitte Gauthier, überall der Erste, wo
die Gefahr am höchsten war — über ihren Häuptern die Marienfahne. So
zogen sie sich längs der Isar bis an die Thalkirchner Fluren hin, aber nur
um neuen Feinden, zu begegnen. Eine Abteilung Panduren war oberhalb
über den seichten Fluß gegangen und fiel ihnen jetzt in die Flanke; so von
allen Seiten umschwärmt und gedrängt, schwankte die immer kleiner werdende
Schar dem Höhenzuge von Sendling zu.
Die zweite Abteilung der Bauern, welche auf dem linken Ufer der
Isar gegen München vorgerückt war, hatte lange vergeblich vor dem Sendlinger
223. Friedrich der Große.
469
Tor auf die verabredeten Zeichen gewartet. Als diese ausblieben, vom
Jsartor aber das Schreien und Schießen herüberhallte, unternahmen sie
einen Angriff auf das ebenfalls durch Graben und Zugbrücke gedeckte Tor.
Eine Abteilung des Wendischen Korps aber, die bei Föhring über die Isar
gegangen war und die Stadt umzingelt hatte, faßte sie von der Seite und
zwang sie nach hartnäckigem und blutigem Gefechte zum Rückzüge. Der die
Straße beherrschende Sendlinger Kirchhof erschien vollkommen geeignet diesen
zu decken; er war rasch besetzt und die Straße durch einen Verhau abgesperrt.
Gauthier mit dem Reste seiner Schar kam eben recht sich mit ihnen zu ver-
einigen. Es schlug sieben Uhr auf dem Turme der Dorfkirche; aber es war
fast noch vollständig finster; denn die Winternacht weicht langsam und spät
von den Fluren der Hochebene.
Ein neuer, letzter Kampf begann, kurz und hoffnungslos; denn die
überlegene Zahl der Feinde hatte auch von der Landsberger Straße her die
Anhöhe umgangen und umringte die Bauern. Da der Verhau unhaltbar
geworden, verblieb ihnen keine andere Schutzwehr als die Mauern des
Kirchhofs. In einem Winkel desselben stand bald der letzte Rest der Kämpfer
um Gauthier, darunter vierunddreißig Mann von den wackeren Auer Zimmer-
leuten und ein letztes Häuflein derer aus Lenggries, Tölz und Jachenau;
nur wenigen war zu entfliehen gelungen.
Es war kein Gefecht mehr, nur ein Gemetzel; auch die sich auf Zu«
sicherung des Lebens ergeben hatten, wurden trotz der Zusage niedergehauen;
bald stand kein Mann mehr aufrecht im Kirchhof von Sendling.
Endlich blitzte die Sonne des Weihnachtmorgens empor über dem leichen-
besäten, blutgetränkten Schneefelde; von der Stadt her ertönte feierliches
Glockengeläute und rief zu Gebet und Gottesdienst in allen Kirchen — auf
dem Kirchhof hörte niemand mehr den Ruf: sie ruhten aus; denn sie hatten
wacker geholfen sie mitzufeiern — die Mordweihnacht von Sendling.
Nach Schmied.
223. Friedrich der Große.
1740—1786.
Das Todesjahr Friedrich Wilhelms I. war nicht allein für
Preußen sondern für ganz Deutschland ein folgenschweres; denn
es starb im Oktober dieses Jahres auch der Deutsche Kaiser
Karl VI. Dieser hinterließ nur eine Tochter, Maria Theresia.
Da aber im Hause Habsburg die Krone auf Töchter gesetzlich
nicht vererben konnte, so hatte er eine besondere Verfügung
getroffen, nach welcher alle österreichischen Erbländer nach
seinem Tod an seine Tochter Maria Theresia fallen sollten.
Kaum war aber der Kaiser gestorben, so traten mehrere
Fürsten mit Erbansprüchen hervor. Auch Friedrich II. von
470
223. Friedrich der Große.
Preußen, Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelms I., forderte
einige schlesische Herzog- und Fürstentümer zurück.
Österreich wies eine solche Forderung Preußens ab. Fried-
rich II. rückte sogleich mit seinem Heer in Schlesien ein, schlug
die Österreicher zum Erstaunen der Welt bei Mollwitz (1741) und
endigte diesen ersten Schlesischen Krieg durch den Frieden zu
Breslau (1742), durch den ihm Ober- und Niederschlesien mit
der Grafschaft Glatz zugesprochen wurden.
Da aber Maria Theresia Anstalten traf ihm ihr geliebtes
Schlesien wieder zu entreißen, so eröffnete Friedrich II. 1744
den zweiten Schlesischen Krieg mit der Erstürmung von Prag
und sah sich 1745 nach den Schlachten bei Hohenfriedberg und
Kesselsdorf durch den Dresdener Frieden (25. Dezember 1745)
im Besitz Schlesiens bestätigt.
Maria Theresia aber konnte Schlesien nicht verschmerzen.
Im geheimen verband sie sich mit Frankreich, Rußland, Schweden,
Sachsen und vielen Reichsfürsten um Friedrich II., den König
von Preußen, zum Markgrafen von Brandenburg zu erniedrigen
und dessen Staaten mit ihnen zu teilen. Allein Friedrich II.,
welcher längst diesen furchtbaren Sturm geahnt und sich im
stillen darauf kräftig gerüstet hatte, kam seinen zahlreichen
Feinden zuvor. Er hatte an England einen Bundesgenossen
gefunden; von den Reichsstaaten aber standen nur Hannover,
Kurhessen, Braunschweig, Anhalt und andere kleine norddeutsche
Fürsten auf seiner Seite. Im Jahre 1756 brach er unerwartet
in Sachsen ein, schlug kurz darauf mit 24 000 Mann 70000 Öster-
reicher bei Lobositz und nahm dann die ganze sächsische Armee
bei Pirna gefangen. So begann der dritte Schlesische oder
Siebenjährige Krieg. Heldenmütig focht der große König in
diesem langen Kampfe gegen einen sechsmal stärkeren Feind,
der ihn von allen Seiten bedrängte, und hielt mit seinen Soldaten
die halbe Welt im Zaume. Sein treues Volk ertrug die Drang-
sale des langen Krieges mit Mut, Geduld und Ausdauer. Von
seinen großen Feldherren glänzen besonders der edle Schwerin,
der kühne Seydlitz, der fromme Ziethen, der tapfere Keith,
der besonnene Prinz Heinrich von Preußen und der rasche
Prinz Ferdinand von Braunschweig. Zwar erfocht er herrliche
Siege, aber auch schwere Niederlagen blieben ihm nicht erspart. -
Auf dem sächsischen Jagdschlösse Hubertusburg kam endlich
1763 der Friedensschluß zustande, durch welchen Friedrich
224. Maximilian HI. Joseph von Bayern. 471
alles blieb, was er nach dem Breslauer und Dresdener Frieden
besessen hatte.
Die ersten 23 Jahre seiner Regierung hatte Friedrich der
Große gerungen und die Waffen geführt; noch 23 Jahre regierte
er als ein weiser Landesvater. Den Landesteilen, welche vom
Krieg am meisten mitgenommen waren, erließ er auf längere
Zeit die Abgaben. Er begünstigte Spinnereien, Leinwand- und
Tuchwebereien und äußerte einst froh: »Ich bin zufrieden, wir
haben für fünf Millionen Taler Leinwand und für mehr als eine
Million Taler Tuch an Ausländer verkauft.« Dem preußischen
Handel suchte er durch Anlage von Kanälen und Schiffbar-
machung der Oder aufzuhelfen; die Landwirtschaft förderte er
durch Austrocknung des Oderbruches. Auch den Künsten, be-
sonders der Musik, wandte Friedrich seine Fürsorge zu. Um
derselben eine würdige Stätte zu bereiten ließ er in Berlin ein
Opernhaus aufführen. Die Bibliothek wurde ansehnlich vermehrt
und eine Münzsammlung angelegt. Berlin und Potsdam ver-
schönerten sich von Jahr zu Jahr durch eine Reihe neuer Ge-
bäude, von denen das Invalidenhaus, die katholische und die im
Jahr 1893 niedergelegte Domkirche, vor allem aber das schöne
Sommerschloß Sanssouci (Ohnesorge) bei Potsdam zu nennen sind.
Alle Jahre pflegte er Reisen in seinen Ländern zu machen
um sich vom Wohlstand derselben zu überzeugen und Musterungen
über die Truppen zu halten. Wo er auch erschien, wurde der
»alte Fritz« mit Ehrfurcht und Jubel empfangen. Er starb auf
seinem Schlosse Sanssouci. Nach Bender.
224. Warimitian III. Joseph von Wayern.
1745—1777.
Auf Karl Albrecht, den von 1742—45 die deutsche Kaiserkrone schmückte,
folgte auf dem kurfürstlichen Thron sein Sohn Maximilian III. Joseph.
Nach Kräften war der edle Fürst bemüht die Wunden zu heilen,
die der Österreichische Erbfolgekrieg seinem Lande geschlagen. Vor allem
strebte er nach möglichster Sparsamkeit im Hof- und Staatshaushalt.
Um dem Volke die Lasten zu erleichtern wurde der Hofstaat und das
Militär vermindert und aller Prunk abgeschafft.
Ein Hauptaugenmerk richtete der ebenso einsichtsvolle als wohl-
wollende Fürst auf die Hebung der Landwirtschaft und der Gewerbe,
des Handels und Verkehrs sowie auf die Förderung der geistigen Wohl-
fahrt der Bevölkerung. Zunächst suchte er durch seinen früheren Erzieher
472 224. Maximilian III. Joseph von Bayern.
Jckstatt die Universität Ingolstadt zu heben. Mit Wärme unterstützte die
Negierung die Bestrebungen zur Hebung des Volksschulwesens, wobei sich
der Stiftskanonikus Heinrich Braun große Verdienste erwarb. Realschulen
wurden errichtet, den Gymnasien eingehende Sorgfalt gewidmet und
die Güter des 1773 aufgehobenen Jesuitenordens Bildungszwecken zu-
gewendet. Im Jahre 1759 entstand durch die Bemühung der Räte
Lori und Linprunn die Akademie der Wissenschaften zu München, durch
deren Mitglieder vorzüglich das Studium der vaterländischen Geschichte
gepflegt wurde. Die Feiertage wurden beschränkt und die müßigen
Bettler streng zur Arbeit angehalten. Zur Verbesserung der Rechts-
pflege arbeitete der Gelehrte Kreittmayr ein Gesetzbuch aus. Das Straf-
gesetzbuch war zwar mit Härte geschrieben und grausam waren die Strafen,
welche selbst für geringe Verbrechen verhängt wurden. Doch wäre es
ungerecht daraus einen Schluß auf das Herz des Kurfürsten ziehen zu
wollen. Selbst eine durch und durch rechtliche und makellose Natur,
wollte er auch sein Volk sittlich heben und man mag es begreiflich sinden,
wenn er bei der damaligen Verwilderung des Volkes mit seinen Räten
in den Irrtum siel durch möglichst strenge Gesetze diesen Zweck zu er-
reichen.
Doch war jedwede Härte seinem milden, wahrhaft väterlichen Herzen
ftemd und seine Absichten waren die reinsten und wohlwollendsten. Das
bewies er bei der furchtbaren Teuerung von 1771 und 1772 und es
zeigte sich da am besten der unbegrenzte Wohltätigkeitssinn des Kur-
fürsten. Die Hofleute hatten ihm des Volkes Not verheimlicht. Als er
aber eines Morgens aus der Kirche ging, umringte ihn ein Haufen
bleicher, abgezehrter Menschen. „Brot," riefen sie, „Brot, Herr, wir
müssen verhungern!" Mit Entsetzen vernahm Max Joseph die Schilde-
rung der Hungersnot. Er gab den Bittenden all das Geld, das er bei
sich trug, und versprach ihnen fernere Hilfe. Und er hielt Wort. Sofort
ließ er das Wild in den fürstlichen Jagden schießen und die Kornspeicher
öffnen; auch ließ er aus eigenen Mitteln Getreide aus Italien bringen
um den hungernden Untertanen Brot zu verschaffen.
Als am 30. Dezember 1777 der Kurfürst starb, war es im Lande,
als wäre aus jedem Hause ein Vater gestorben. Nicht höfische
Schmeichelei, sonderrl kindliche Liebe eines dankbaren Volkes hat ihm
den Beinamen des Vielgeliebten gegeben.
Max Joseph III. war der letzte Nachkomme Ludwigs des Bayern;
nach seinem Tode ging die Regierung des Landes an die Pfälzer Linie
über und Bayern und Pfalz wurden unter Karl Theodor nach mehr
als fünfthalbhundertjähriger Trennung wieder vereinigt.
473
225. Wittelsbacher Worte.
225. Wittetsbacher Worte.
Aönig INaximilian I.
Von den hohen Regentenpflichten durchdrungen und geleitet, haben
Wir Unsere bisherige Regierung mit solchen Einrichtungen bezeichnet,
welche Unser fortgesetztes Bestreben das Gesamtwohl Unserer Untertanen
zu befördern beurkunden. — Bayern! seht in der Verfassung die
Grundzüge eines Königs, welcher das Glück seines Herzens und den
Ruhm seines Thrones nur von dem Glücke des Vaterlandes und von
der Liebe seines Volkes empfangen will.
Aönig Ludwig I.
Prägen Sie *) Meinem lieben Max nur recht ein, daß Ich es für
töricht halte sich etwas auf den durch die Geburt bekommenen Stand
zugute zu tun, daß gerade ein solcher uns anspornen soll der Welt zu
zeigen, daß wir dessen nicht unwürdig sind! Nicht nur scheinen, selbst
etwas Tüchtiges zu sein; dahin gehe des Fürsten Streben, daß er als
Mensch Wert habe. —
Nicht nur gelehrt, gezogen muß die Jugend werden. —
Es soll angelegentlichst getrachtet werden Kunst in die Gewerbe zu
bringen.
Aönig Maximilian II.
Mein Volk besitzt Eigenschaften des Geistes und Herzens wie nicht
leicht ein zweites; es braucht ihm nur die Gelegenheit geboten zu werden
sie zu entwickeln.
Was im Hinblick auf Gott den Herrn und in seinem Geist unter-
nommen wird, das wird bestehen.
Ich will Frieden haben mit Meinem Volke.
Das Glück seines Volkes ist das seines Fürsten.
Das Wohl und das Glück des bayerischen Volkes ist die Aufgabe
Meines Lebens; sie zu lösen Mein unermüdliches Streben.
Meine Gesinnung ist deutsch. Nur durch eine feste Vereinigung der
deutschen Stämme kann jeder Gefahr von außen begegnet werden.
Aönig Ludwig H.
Groß und schwer ist die Mir gewordene Aufgabe. Ich baue auf
Gott, daß er Mir Licht und Kraft schicke sie zu erfüllen. — Treu dem
Eide, den Ich geleistet, und im Geist Unserer durch fast ein halbes
Jahrhundert bewährten Verfassung will Ich regieren. — Meines geliebten
') Der Hofmeister Hohenhausen.
474 226. Kurfürst Maximilian Joseph IV., erster König von Bayern.
Bayernvolkes Wohlfahrt und Deutschlands Größe seien die Zielpunkte
Meines Lebens. —
Indem Wir der aus Anlaß des Jubiläums der 700 jährigen Regie-
rung Unseres Hauses errichteten, den Namen der Wittelsbacher tragenden
Landesstiftung hiermit Unsere landesherrliche Bestätigung erteilen, geben
Wir Uns der Erwartung hin, daß diese Stiftung in steter Mehrung
ihrer Mittel dem bayerischen Handwerke zu friedlichem Wettkampfe, zu
wachsender Blüte und zu sich steigerndem Wohlstände dauernde Quellen
der Förderung erschließen und so zum Nutzen und Frommen Unseres
vielgeliebten Bayernlandes wirken werde.
jDrinzregent Luitpold.
Solange nach Gottes gnädigem Ratschlüsse Mein Leben währt,
ist Bayerns Wohl das Ziel all Meines Handelns. Hierbei die Verfassung,
das Palladium des innern Friedens, unverbrüchlich zu wahren ist Mir
heiligste Pflicht. Dem vielgeliebten Vaterlande galten von Jugend auf
und immerdar Meine heißesten Wünsche. Gott segne und schirme Bayern
fort und fort!
Pflege der Jugend schafft rüstiges Alter.
226. Kurfürst Maximilian Joseph IV., erster König von Wayern.
1799—1825.
Es hat uns nicht betrogen
Das Wittelsbacher Blut;
Es hat nicht scheu erwogen,
Es ist vorangezogen
Mit ritterlichem Mut.
Zedlitz.
Mit Karl Theodor war der Sulzbacher Zweig am vielhundert-
jährigen Stamm der Schyren abgestorben. Noch blühte aber das edle
Reis von Pfalz-Birkenfeld, an Macht und Reichtum das geringste, in
seinem Fürsten Maximilian Joseph. Dieser, ein Sohn des weisen und
guten Pfalzgrafen Friedrich Michael von Birkenfeld, war es, auf dessen
Haupt alle Kronen von Pfalz und Bayern vereinigt wurden. Maxi-
milian war als der jüngste Sohn des Pfalzgrafen ohne Aussicht und
Hoffnung auf eine eigene Herrschaft; er trat deshalb schon frühzeitig
in französischen Militärdienst. Als aber Herzog Karl von Zweibrücken,
sein Bruder, ohne Söhne zu hinterlassen aus dem Leben geschieden
war, hatte Maximilian mit Pfalz-Birkenfeld das Herzogtum Zweibrücken
und vier Jahre später die gesamten pfälzischen und bayerischen Lande
ererbt. An demselben Tage, da Karl Theodor erblaßte, ward Maxi-
226. Kurfürst Maximilian Joseph IV., erster König von Bayern. 475
milian Joseph in den Straßen Münchens zum Herrn von Pfalz und
Bayern ausgerufen.
Viele fürchteten des neuen Herrn Liebe zu den Waffen, unter
welchen feine Jugend verstrichen war und zu denen das eiserne Zeit-
alter rief. Andere aber, die der Anmut und Leutseligkeit seines Wesens
gedachten oder die sich erinnerten, wie er als junger Fürst gegen Karl
Theodor und Wien für die Unteilbarkeit des bayerischen Stammlandes
eingetreten, weissagten bessere Zukunft.
Nach wenigen Wochen hielt er seinen Einzug in die Hauptstadt.
Mit ihm kamen seine Gemahlin Karoline, eine Fürstin des alterlauchten
Hauses von Baden, und seine Kinder. Als ihn die Bayern erblickten
in seiner stattlichen Gestalt, in seinem Antlitz den gemütlichen Bieder-
sinn, in seinem Wort und Wesen die ganze Huld der alten Fürsten zu
Bayern, begrüßte ihn das ganze Volk aufs freudigste und sprach: „Wahr-
lich, dieser ist Maximilian Joseph der Andere, aber tm Kreise schöner
Kinder glückseliger als der Erste!" Er war es.
Doch sturmvoll und mühsam war der Beginn seiner Herrschaft:
das ganze Land von den Kriegsvölkern Österreichs angefüllt, die nun
über den Lech zum Rhein drängten, welchen die Feldherren Frankreichs
schon feindselig überschritten hatten; das bayerische Heer zum Schirm
des Vaterlandes ohne Übung, Zucht und Stärke; der Staatsschatz er-
schöpft; die Schuldenlast des Staates sowie der wahre Ertrag der
Gefälle kaum recht bekannt; das Steuer- und Aufschlagwesen ohne
Verhältnis und Ebenmaß; die Staatsführung ohne Einheit und Kraft,
in vielerlei Landesverwaltungen zersplittert. Die Staatsverfassung,
alten Zeiten entstammt, war anders in Bayern, anders in der oberen
Pfalz, anders im Herzogtum Neuburg; die ständische Landschaft ohne
Achtung, ohne Wert für das öffentliche Heil; die Erziehung des Volkes
versäumt; die Freiheit der Presse vernichtet; die Bevölkerung durch
Kriege, durch Erschwerung der Ehen für die Grundholden, durch Un-
trennbarkeit der Bauerngüter sowie durch Fesseln des Gewerbfleißes
geschwächt.
So fand Maximilian Joseph Bayern. Selten empfing ein Fürst
aus der Hand des Schicksals eine schwerere Aufgabe des Lebens.
Vor allem lag Maximilian Bayerns Selbständigkeit am Herzen.
Im September 1805 schloß er sich zu Würzburg in dem beginnenden
Kriege Frankreichs mit Österreich und Rußland dem Kaiser Napoleon
an, worauf die Österreicher in Bayern einrückten. So tief betrübend
es ist Bayern im Bunde mit Frankreich zu sehen, so ist anderseits
nicht zu vergessen, daß damals kein deutscher Staat das Wohl Deutsch-
476
227. Die Befreiungskriege.
lands, sondern nur eigene Vorteile im Auge hatte, und zwar gerade
die Großmächte Preußen und Österreich vor allem, daß ferner Öster-
reich immer gerne bereit war an Napoleon Gebietsteile abzutreten, wenn
es dafür bayerische Länder als Entschädigung erhielt. Dieses Bündnis
des Kurfürsten mit Napoleon war also ein Gebot der Notwendigkeit.
In den Kriegen von 1805, 1806, 1809 und 1812 kämpften darum die
bayerischen Truppen an der Seite der Franzosen.
Die Rücksichtslosigkeit aber, mit welcher Napoleon nach den Siegen
bei Lützen und Bautzen (1813) jeden Friedensantrag, auch den von
Bayern gestellten, zurückwies, führte in König Max den Entschluß her-
bei die Sache Napoleons zu verlassen und sich mit Österreich gegen
Frankreich zu verbinden.
Unter den furchtbarsten Kriegen und Umwälzungen des Weltteils,
da alte Throne und Reiche vergingen, neue emporstiegen, nichts blieb,
wie es gewesen, gründete Maximilian Bayerns Zukunft. Er verbesserte die
Staatsverwaltung, das Gerichtswesen, sorgte für die Sicherheit im Land
und erstrebte nach Kräften eine gleichmäßigere und gerechtere Besteuerung
der Staatsbürger; zugleich erweiterte er die Grenzen seiner Lande. Im
siebenten Jahre der Herrschaft (1806) setzte er die Königskrone auf
sein Haupt.
Um seinem Lande die guten Einrichtungen, welche es ihm verdankt,
auch für die Zukunft zu sichern, gab er demselben am 26. Mai 1818
eine Verfassung (Konstitution). Seitdem ist das Königreich Bayern ein
konstitutioneller Staat, d. h. kein Gesetz kann endgültig zustande kommen
ohne die Zustimmung des Königs und der Landesvertretung, welche
aus dem Reichsrat und der Zweiten Kammer besteht. — Maximilian
Joseph war ein König „vom besten Herzen", ebenso ausgezeichnet durch
Herablassung und Einfachheit wie durch Milde und Wohltätigkeit.
227. Pie Befreiungskriege.
Napoleon I. hatte sich in den siegreichen Kämpfen der ersten Fran-
zösischen Revolution als der hervorragendste Feldherr bewiesen und sich
zum Kaiser der Franzosen emporgeschwungen (1804). Nun strebte er
mit allen Mitteln die Aufrichtung eines Weltreichs unter Frankreichs
Führung an. Um dies zu erreichen zertrümmerte er zuerst das fast
1000 jährige Deutsche Reich und brachte es zum Teil unter seine Gewalt-
herrschaft. Infolgedessen legte am 6. August 1806 Kaiser Franz II. die
deutsche Kaiserkrone nieder; vier Kurfürsten und zwölf andere Fürsten hatten
sich vorher schon feierlich vom Reiche losgesagt und mit Napoleon den
Rheinbund geschlossen. Deutschland geriet in seine tiefste Erniedrigung;
477
227. Die Befreiungskriege.
denn als Preußen 1806 an Frankreich den Krieg erklärte, drang Napoleon
rasch bis ins Herz Deutschlands vor. Bei Jena und Auerstädt wurde
das preußische Hauptheer, mit dem auch die Sachsen verbunden waren,
gänzlich geschlagen. Am 24. Oktober zogen die Franzosen in Berlin ein.
Es begann für ganz Deutschland die Zeit der schlimmsten Fremdherrschaft,
zugleich aber auch eine Zeit innerer Läuterung und sittlicher Erstarkung. —
An Joachim Nettelbeck, Neidhardt von Gneisenau, Ferdinand von Schill,
an den Tirolern unter Andreas Hofers Führung (1809) sowie an der
spanischen Erhebung nahmen sich die Männer, die noch ihr deutsches
Herz sich rein erhalten hatten, ein leuchtendes Beispiel. Sie suchten
nach Mitteln das täglich unerträglicher werdende Joch der Fremdlinge
abzuschütteln oder wenigstens sich vorläufig seiner zu erwehren. Gott
selbst kam ihnen zu Hilfe. Nach dem Brande Moskaus wurde Napoleons
Heer auf seinem entsetzlichen Rückzug durch die beständigen Angriffe der
umherschwärmenden Kosaken, durch Hunger und Külte fast vollständig
aufgerieben. Das niedergebeugte Europa sah in jenem grausigen Unter-
gang das Strafgericht Gottes selbst und erhob sich in kühner Begeisterung
für die Wiedereroberung der Freiheit. Preußen ging mit edlem Beispiele
voran.
Durch eine mit den Russen abgeschlossene Übereinkunft (30. Dezember
1812) trennte der preußische General Jork, der bis dahin im fran-
zösischen Heere hatte mitkämpfen müssen, sein Heer von den Franzosen
und verbündete sich mit den Russen. Was Jork getan hatte, war der
Wunsch von Millionen Deutschen; man fühlte, daß mit dein Nenjahrs-
tage 1813 eine neue Zeit, die Auferstehung und Rettung des Vater-
landes, beginne.
Am 3. Februar erfolgte der Aufruf des preußischen Königs Wil-
helm III. zur Bildung freiwilliger Jägerkorps; diese wurden dazu
bestimmt vaterlandsliebende Jünglinge aus dem nicht preußischen, rhein-
bündischen Deutschland aufzunehmen. Das berühmteste dieser Freikorps
ist das Lützowsche geworden, das durch Theodor Körner vor allen ver-
herrlicht worden ist. — Am 10. März wurde der Orden des Eisernen
Kreuzes gestiftet und am 16. März geschah die Kriegserklärung an
Frankreich, der tags darauf jener berühmte Aufruf des Königs: „An
mein Volk!" nachfolgte. — In großartiger Weise rechtfertigte auch das
Volk das Vertrauen seines Königs. Im Sommer 1813 stellte Preußen
bei der damaligen Bevölkerung von 5 Millionen Einwohnern 271000
Streiter ins Feld und in rührendem Wetteifer brachte das Volk
freiwillige Gaben dar zur Ausrüstung und Verpflegung des Heeres. —
Ernst Moritz Arndt schildert die Begeisterung jener Zeit mit folgenden
478 227. Die Befreiungskriege.
Worten I „In dem unvergeßlichen Frühjahre und Sommer von 1813
war nur eine Stimme, ein Zorn und ein Streben: das Vaterland
zu retten und Deutschland zu befreien. Jünglinge, die kaum wehr-
haft waren, Männer mit grauen Haaren und wankenden Knien,
Offiziere, die wegen Wunden und Verstümmelungen lange ehrenvoll
entlassen waren, reiche Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahlreicher
Familien und Verwalter weitläufiger Geschäfte, in Hinsicht jedes
Kriegsdienstes entschuldigt, wollten sich selbst nicht entschuldigen; ja
sogar Jungfrauen unter mancherlei Verstellungen und Verlarvungen
drängten sich zu den Waffen. Alle wollten sich üben, rüsten und für
das Vaterland streiten und sterben. Jede Stadt, jeder Flecken, jedes
Dorf schallte von Kriegslust und war in einen Übungs- und Waffen-
platz verwandelt; jede Feueresse war eine Waffenschmiede. Das war das
Schönste bei diesem heiligen Eifer und fföhlichen Gewimmel, daß alle
Unterschiede von Ständen und Klassen, von Altern und Stufen vergessen
und aufgehoben waren; daß jeder sich demütigte und hingab zu dem
Geschäfte und Dienste, wo er der Brauchbarste war; daß das eine große
Gefühl des Vaterlandes und seiner Freiheit und Ehre alle anderen Ge-
fühle verschlang." Die erste große Freiheitsschlacht wurde am 2. Mai
bei Lützen oder Großgörschen geschlagen. Obgleich die Übermacht der
Franzosen siegte, erkannte Napoleon doch, daß ihm jetzt ganz andere
Truppen gegenüberstanden als 1806. Nochmals war Napoleon bei Bautzen
(20. und 21. Mai) und bei Dresden (26. und 27. August) siegreich; aber
seine Generale, die an der Elbe, in Schlesien und gegen Böhmen hin
feste Stützpunkte für ihn halten sollten, wurden geschlagen, so durch
Blücher in der Schlacht an der Katzbach (26. August), bei Deunewitz
(6. September). Napoleon zog seine Armeen bei Leipzig zusammen:
hier wurde er in der blutigen Völkerschlacht vom 16. bis 19. Oktober 1813
durch die verbündeten Heere Preußens, Österreichs und Rußlands nach
hartnäckigem Kampfe vollständig geschlagen.
Nachdem sich Napoleon bei Hanau durch einen blutigen Kampf
mit den Bayern unter Wrede seinen Rückzug erzwungen, eilte er über
den Rhein nach Frankreich. Schnell drangen die Verbündeten in drei
Heeressäulen in Frankreich ein. Blücher ging schon in der Neujahrs-
nacht 1814 bei Caub über den Rhein. Am 31. März zogen die Ver-
bündeten in Paris ein; Napoleon wurde als Kaiser der Franzosen
abgesetzt und nach der Insel Elba verbannt. Leider mußte 1815 der
Kampf von neuem begonnen werden; denn Napoleon war wieder nach
Frankreich zurückgekehrt und von den Franzosen begeistert aufgenommen
worden. Da rückte Blücher, der preußische Feldmarschall „Vorwärts",
228. Am 18. Oktober 1813.
479
abermals ins Feld und auch ein englisch-niederländisches Heer erschien
auf dem Kampfplatze. — Blücher wurde zwar bei Ligny am
16. Juni geschlagen und geriet beinahe selbst in die Gefangenschaft; aber
schon am 18. Juni 1815 konnte er dem von Napoleon bei Waterloo
angegriffenen Herzog von Wellington zu Hilfe eilen und den Sieg
entscheidend herbeiführen helfen. Bereits am 7. Juli zogen die Ver-
bündeten zum zweitenmal als Sieger in Paris ein. Napoleon wurde
nach St. Helena verbannt; Deutschland, ja ganz Europa konnten wieder
frei aufatmen.
Durch den Wiener Kongreß (1814—1815) wurde eine neue Ord-
nung der staatlichen Verhältnisse in Europa begründet. Das alte
deutsche Kaiserreich wurde zwar nicht mehr erneuert, doch schloffen sich
die 38 deutschen Staaten im „Deutschen Bunde" zusammen.
228. Am 18. Oktober 1813.
Hör', liebe deutsche Jugend, an,
Was heute Gott, der Herr, getan,
Nimm's wohl zu Ohr und Herzen!
Das Land, wo ihr geboren seid,
Das Land der Treu' und Redlichkeit,
War einst ein Land der Schmerzen.
Ein fürchterlicher Zwingherr kam,
Der uns die liebe Freiheit nahm,
Uns schlug mit eisern Nuten.
Der Vater mußte fronen gehn,
Der Sohn weit weg zu Felde stehn,
Für unsern Dränger bluten.
Da sah der Herr vom Himmel drein,
Erbarmt' sich unsrer Not und Pein
Und fuhr herab in Wettern;
Held Blücher und Held Schwarzenberg,
Von Gott erseh'n zum großen Werk,
Die wurden Deutschlands Retter.
Bei Leipzig in der Völkerschlacht,
Da ward dem Feind Garaus gemacht;
Wir schlugen ihn zu Boden;
Und Fürst und Volk fiel auf die Knie;
„Gott hat's getan!" So riefen sie
Und schöpften wieder Odem.
480 229. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe in neuerer Zeit.
Drum, wer ein Deutscher heißen mag,
Halt im Gedächtnis diesen Tag
Auf ew'ge, ew'ge Zeiten!
Und kommt ein Feind, gebt euch die Hand,
Laßt uns fürs liebe Vaterland
Wie die bei Leipzig streiten!
Wetzei.
229. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe in neuerer Zeit.
Die neue Zeit brachte für den Handwerkerstand mannigfache Ver-
änderungen. Dies wurde hauptsächlich bewirkt durch die 1492 erfolgte
Entdeckung Amerikas. Dieselbe hatte zunächst für Deutschland nur üble
Folgen. Dieses war bisher der Mittelpunkt des Welthandels gewesen
und die Erzeugnisse seines Gewerbfleißes wurden nach allen Seiten hin
ins Ausland gebracht. Nun entstanden auch in anderen Ländern, nament-
lich in Frankreich und England, Fabriken und Werkstätten, deren Erzeug-
nisse immer mehr mit den Deutschen in Wettbewerb traten. So kam für
den deutschen Handwerkerstand eine schwere Zeit, die durch das Unheil
des Dreißigjährigen Krieges noch gesteigert wurde. Da durch denselben
die Macht des Kaisers gebrochen war, vermaß sich jeder noch so kleine
Fürst sein Land mit fast unübersteiglichen Zollschranken zu umschließen.
Dadurch wurde dem Handel das Leben unterbunden und so mußten
auch die Gewerbe erlahmen, die ohne Handel nicht bestehen können.
Aber auch die innere geistige Regsamkeit, das Streben das Alte durch
Neues zu verbessern erschlaffte. Infolgedessen kam statt jenes frischen
und kräftigen Lebens, das die Städte im Mittelalter reich und mächtig
gemacht hatte, über die Zünfte ein engherziger, kleinlicher Geist, der unter
dem Namen des „Spießbürgertums" sprichwörtlich geworden ist. Jeder
dachte nur an seinen Vorteil und suchte die Ausübung seines Handwerks
durch andere zu beschränken. Diesem unseligen Zustande hat erst die
Französische Revolution ein Ende gemacht. Wohl hat sie und mit ihr
ein 25 jähriger Krieg, der ganz Europa durchzog, Millionen Menschen
das Leben, Tausenden von Familien Hab und Gut entrissen; aber die
Welt war anders, war besser geworden. Auch der Handwerkerstand
hatte die Erschütterung bis in die niedrigsten Werkstätten gefühlt, aber
mit wohltätigen Folgen. Zunächst kam die vollständige Gleich-
berechtigung des gesamten Handwerkerstandes mit allen
anderen Gliedern des Staates. Durch diese Freiheit, durch das gleiche
Recht und die gleiche Ehre entfaltete derselbe jetzt eine erfreuliche Tätig-
keit, einen zielbewußten Erfindungs- und Unternehmungsgeist. Jetzt fingen
481
229. Geschichtliche Entwicklung der Gewerbe in neuerer Zeit.
auch die Verwaltungen der Staaten an, Handel, Gewerbe und Industrie
ihre sorgende Tätigkeit zuzuwenden. Dazu trat noch die Verbindung
der Kunst und Wissenschaft mit dem Gewerbe: Mathematik
und Physik, Chemie und Mineralogie, Volks- und Länderkunde, Land-
wirtschaft und selbst die Kunst vereinigten sich, um die Erzeugung und
Bearbeitung menschlicher Bedürfnisse zur möglichsten Vollkommenheit zu
bringen.
Bisher hatten fast sämtliche Gewerbe alles mit mühseliger Hand-
arbeit erzeugen müssen und die meisten Werkzeuge, welche ihnen bei
ihren Arbeiten zu Gebote standen, waren bis jetzt unvollkommen gewesen.
Nun aber verwendete man die Kraft des Dampfes und die Dampfmaschine,
zu deren vollendeter Ausführung mehr als ein Jahrhundert nötig war.
Zugleich hatte sich auch die technische Mechanik dieser Riesenkraft
bemächtigt. Sie erfand dazu eine Menge Maschinen, die durch jene Kraft
getrieben wurden oder selbsttätig Dinge hervorbrachten, die sonst nur
durch Menschenhände hergestellt werden konnten.
Das Fabrikmaschinenwesen, das dadurch hervorgerufen wurde,
hat eine vollständige Umgestaltung des Handwerkes herbeigeführt. Aus
dem Kleingewerbe wuchs das Großgewerbe hervor. Neben die Werk-
stätte des Handwerkers trat die Fabrik und das Magazin des Groß-
industriellen. Zunächst war es die mechanische Weberei, welche das
uralte Handwerk der Weber fast vernichtete. Im Jahre 1774 hatte
Arkwright die Spinnmaschine erfunden; ihr folgte die Webemaschine des
Engländers Corkwright 1792 und die Seidenwebmaschine des Franzosen
Jaquard zu Lyon 1810, ferner Dressur-, Appretur-, Klopf-, Auspreß-
und Schermaschinen. Im Jahre 1809 erfand ein Engländer eine
Maschine, auf der mit wunderbarer Schnelligkeit ein feines, netzartiges
Gewebe, der Tüll, verfertigt wird. Durch die Ersindung des Walzdruckes
kann das Bedrucken eines ganzen Stückes, z. B. von Leinwand, und
zwar in 2—5 verschiedenen Farben, in wenigen Minuten geschehen.
Eine gleich erstaunliche Wirksamkeit entwickelte das Fabrikmaschinen-
wesen den Metallarbeiten gegenüber. Es gibt Maschinen, die gießen,
schmieden, walzen, schneiden, sägen und bohren, hobeln, drehen, Prägen
und andere Arbeiten vollführen, und zwar mit einer Schnelligkeit, Regel-
mäßigkeit, Genauigkeit und Kraft, wie dies dem Menschen mit seinen
Händen nicht möglich ist. Und so hat die Maschine in fast allen Zweigen
des Gewerbes eine Umgestaltung herbeigeführt.
Neben dieser riesenhaften Kraft des Dampfes schritt die Gewerb-
tätigkeit auch auf anderen Gebieten zu einer gleich erstaunlichen Voll-
kommenheit vor. Zunächst war schon der Einfluß dieser Gcwerbtütigkeit
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 31
482
230. Der Handel der neuen Zeit.
auf die Erzeugung und Herbeischaffung der Rohstoffe ungeheuer. Es
bildete sich jetzt ein Welthandel, der alle Teile der Erde umfaßte
und die Erzeugnisse aller Länder und Völker herbeiführte. Was nur
die Erde hervorbringt an Nahrungs- und Genußmitteln, z. B. an Ge-
treide, Reis, Zucker, Kaffee, Tee und edlen Früchten, an Kleidungs-
stoffen und anderen Erzeugnissen für das Haus, dessen Einrichtung u. s. w.,
wie Hölzer, Leder, Häute, Spinn-, Färbe- und Beleuchtungsstoffe, fließt
aus allen Zonen in Europa zusammen. So außerordentlich groß aber
die Masse dieser Stoffe ist, so außerordentlich mannigfaltig wurde deren
Behandlung und Anwendung. Welch großartige Entfaltung hat die
Färberei, die Verarbeitung des Eisens und der übrigen unedlen und
edlen Metalle von dem zartesten Galanterie- und Bijouterie-Artikel bis
zu den 1000 Zentner schweren Geschützen, die kunstreiche Entwicklung
der Schreinerei und Malerei, die Herstellung der Spiegel, der Uhren,
des Porzellans, der Wagen und Maschinen erfahren! Und welche Wunder
wird die Elektrizität noch hervorbringen! Eine solche Menge der glän-
zendsten Entdeckungen und Erfindungen, eine solch beispiellos rasche Ent-
wicklung des Gewerbes von dem tiefsten Verfall in der Mitte des
18. Jahrhunderts bis zu den großartigen Leistungen der Gegenwart
ist geradezu bewundernswert.
230. Der Kandel der neuen Zeit.
Wer das grüne kristallene Feld
Pflügt mit des Schiffes eilendem Kiele,
Der vermählt sich das Glück, dem gehört die Welt;
Ohne die Saat erblüht ihm die Ernte. Schiller,
a) Die Länderentdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert eröffneten eine
ganz neue Welt und führten eine vollständige Umgestaltung des Weltverkehrs
herbei. Der Richtung, welche dieser nunmehr einzuschlagen gezwungen war,
entquillt größtenteils die seitherige Kulturentfaltung Europas. Aus dem
kleinen Kreise, der sich im Altertum und wesentlich auch im Mittelalter noch
der Hauptsache nach um das Mittelmeer bewegte, tritt jetzt der Handel und
Verkehr hinaus in die weiten Ozeane und umspannt nun die ganze Erde.
Die Auffindung des Seeweges nach Ostindien zog den Verkehr von den
alten Handelsstraßen, die über Italien und Deutschland führten, ab und
lenkte ihn in ganz neue Bahnen; die Entdeckung Amerikas wies denselben
überhaupt nach einer ganz anderen Richtung, nach Westen. Dadurch hörte
vor allem Italien auf im Mittelpunkt des Weltverkehrs zu liegen; nament-
lich stieg Venedig in seinem versteckten Meereswinkel herab von seiner hohen
Bedeutung. Damit sank aber auch der Glanz der oberdeutschen Städte, die
ja die Vermittlerinnen des orientalischen Handels nach Norden und Westen
waren. Der Bund der Hansa zerfiel immer mehr, nachdem derselbe schon
230. Der Handel der neuen Zeit.
483
durch die aufstrebende Industrie anderer Völker sowie durch innere Zwistig-
keiten bedeutend gelitten hatte. Die deutschen Städte konnten sich vom
16. Jahrhundert an nicht mehr auf der alten Höhe des Reichtums und der
Macht erhalten und der Dreißigjährige Krieg führte vollends eine tiefgehende
Zerrüttung der deutschen Volkswirtschaft herbei.
Der Handel und Verkehr wandte sich jetzt von den Ländern am Mittel-
meer und im Innern Deutschlands weg nach den Ländern am Atlantischen
Ozean. Diesen fiel der Löwenanteil an den Früchten des Verkehrs mit den
neu erschlossenen überseeischen Ländern zu. Die Portugiesen verdrängten
zunächst alle anderen Völker aus dem ostindischen Handel, traten selbst mit China
und Japan in Handelsverbindungen und ihre Flotten beherrschten alle Meere
von der Westküste Afrikas bis zur Südsee. Sie besetzten eine Anzahl von See-
städten an der Nordwestküste von Afrika, begründeten mehr durch kluge Behand-
lung der indischen Fürsten und Völker als durch Waffengewalt ihr Handels-
monopol in Südasien vom Persischen Meerbusen bis zur Halbinsel Malaka
und gewannen in Amerika Brasilien, das im Jahre 1500 Cabral entdeckt hatte.
Die Spanier setzten sich in den neuentdeckten Ländern in Amerika fest.
Von Cuba aus dehnten sie ihre Herrschaft über das blühende Mexikanische
Reich, über das goldreiche Peru und andere Länder Amerikas aus, während sie
auch in Afrika und Asien einzelne Gebiete an sich rissen. Doch verstanden es
Spanier und Portugiesen schlecht ihre Eroberungen wirtschaftlich auszunutzen.
Zu diesen geringen Erfolgen trug namentlich das unter Karl V. eingeführte
Merkantilsystem bei, nach welchem der Reichtum eines Volkes vorzugsweise auf
der Masse baren Geldes, also auf dem Besitz des Edelmetalls, beruht. Daher
beschränkte sich anfangs die Ausnutzung der eroberten Gebiete von seiten Spaniens
auf die Gewinnung edler Metalle, deren Ausfuhr nach anderen Ländern auf das
strengste verboten wurde. Da die fortgesetzte Einfuhr von Edelmetallen den Be-
darf weit überschritt, so mußten diese im Verhältnis fallen; in der Zeit von 1550
bis 1650 entwertete sich das Geld in Europa so rasch, daß alle Güter ungefähr
2^ mal so teuer wurden als früher. Bei dieser allgemeinen Teuerung trat den
Spaniern die Konkurrenz des Auslandes, namentlich der Niederländer, entgegen.
Als Philipp II. von Spanien durch die Eroberung Portugals (1580)
auch Herr der portugiesischen Niederlassungen geworden war, untersagte er
den von der Herrschaft Spaniens abgefallenen Holländern den Zwischen-
handel mit ostindischen Waren. Da gingen diese selbst nach Ostindien, ver-
mieden aber anfangs die portugiesischen Niederlassungen auf dem Festlande
Indiens und wandten sich nach den Sundainseln. Im Mutterlande selbst
bildete sich eine Handelsgesellschaft, die Ostindische Kompagnie. Diese erhielt
von den Generalstaaten (1602) nicht nur das alleinige Recht des indischen
Handels sondern auch die Hoheitsrechte über die künftigen Eroberungen und
Niederlassungen in Indien, deren Mittelpunkt Batavia ward. Bald ver-
drängten die Holländer die Portugiesen aus den indischen Gewässern, ver-
trieben sie aus China und Japan und entrissen ihnen auch die wichtigsten
Plätze auf den Küsten von Vorderindien. Die Holländer entdeckten auch um
31*
484
230. Der Handel der neuen Zeit.
die Mitte des 17. Jahrhunderts das Festland von Australien und die benach-
barten Inseln. Auch den westindischen Handel erhielt (1621) eine privilegierte
Gesellschaft (Kompagnie), welche ihre Tätigkeit nicht bloß auf Westindien
sondern auch auf Brasilien und die Westküsten von Afrika richtete.
Die Franzosen suchten nach manchen erfolglosen Kolonisationsversuchen
sich bleibend in Nordamerika, und zwar in Neuschottland und Canada, aus-
zubreiten. Auch sie haben gleich den Spaniern und Portugiesen aus ihren
überseeischen Unternehmungen kaum wirkliche Vorteile gezogen.
Desto besser gelang dies den Engländern, obwohl auch sie das
Merkantil- und Monopolsystem beibehielten, zu welchen Spanien das Beispiel
gegeben hatte. Die Königin Elisabeth erteilte 1600 einer Gesellschaft Lon-
doner Kaufleute ein ausschließliches Vorrecht für den Handel nach Ostindien.
Diese stiftete einige Niederlassungen auf den Küsten von Vorderindien, später
auch auf den indischen Inseln. Von diesem Standpunkt aus breitete sich die
Kolonialmacht Englands und im Verein damit sein Handel nach allen Welt-
teilen aus und suchte an allen wichtigen Punkten Niederlassungen zu gründen.
Mit der den Engländern eigentümlichen Zähigkeit und dem unternehmenden
Handelsgeiste gelang es ihnen, in allen Meeren und Ländern der Erde Erobe-
rungen zu machen und feste Niederlassungen anzulegen, so daß Englands
Kolonien und auswärtige Besitzungen jetzt einen mehr als 70 mal größeren
Umfang haben als das Mutterland. Alle Zonen find im Britischen Reiche ver-
treten und es kann kaum ein Erzeugnis genannt werden, das nicht in irgend
einer britischen Provinz in vorzüglicher Güte hervorgebracht würde. Sein
Handel erstreckt sich recht eigentlich als Welthandel über alle Teile der Erde.
Eine abermalige, neue Umwandlung des Welthandels beginnt mit der Un-
abhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika (1776),
wodurch sie sich von England lossagten. Während bis dahin die überseeischen
Länder unter dem Drucke des Kolonialsystems litten, erhebt sich jetzt in Nord-
amerika eine Nation, die in Wettbewerb tritt mit der Kultur und dem Handel
Europas. Damit beginnt zugleich die lange Reihe der Erfindungen, durch
welche sowohl die Masse der auszutauschenden Produkte als auch die Mittel
zur Beförderung derselben eine noch immer fortschreitende Vermehrung erfahren
haben. Diesem gewaltigen Anwachsen der Produktion und der Verkehrsmittel
konnte auch das alte, starre Schutzsystem uicht widerstehen. England gab zuerst
das bisherige Ausbeutungssystem auf und machte die Kolonien möglichst un-
abhängig und frei. So werden Indien, Canada und Australien, ähnlich wie
die Vereinigten Staaten, mehr und mehr zu wichtigen Gliedern des Welt-
handels. Zugleich ist auch die Sprödigkeit der alten Kulturländer Ostasiens,
Chinas und Japans, allmählich überwunden und Afrika der Zivilisation und
damit dem Welthandel einigermaßen erschlossen worden.
Gegenwärtig ist fast keine Gegend der Erde mehr dem Handel ver-
sperrt, wie auch alle Länder, namentlich Europas, am Handel teilnehmen,
so daß dieser nun in Wahrheit die ganze Erde umspannt und die fernsten
Gebiete einander näher bringt.
230. Der Handel der neuen Zeit.
485
b) Bei allen Handelsgeschäften gilt als eines der ersten Erfordernisse die
Zeit und den Weg, welche zwischen der Absendnng der Güter und ihrem Ein-
treffen liegen, mit möglichster Schnelligkeit und Billigkeit zu überwinden. Dieser
Umstand hat den Verkehr von den Landstraßen und Kanälen auf die Eisenbahnen,
von den Segelschiffen auf die Dampfer gezogen und die Bedürfnisse des Schnell-
verkehrs haben auch das rasche Wachsen des Telegraphen- und Telephonnetzes
herbeigeführt. Der Weltpostverein, auf dessen Schöpfung das Deutsche Reich
gerechte Ursache hat stolz zu sein, umfaßt alle kultivierten Staaten der Erde.
Die Wege des Welthandels lausen auf der nördlichen Halbkugel in west-
östlicher Richtung, weil hier die vier größten Verdichtungsmittelpunkte der
Menschheit, die Union, Europa, Indien und China, aneinandergereiht sind.
Die Unzugänglichkeit des südlichen Asien nötigt diese Straßen zu einer größeren
Abschweifung nach Süden bis an den Äquator. Die Reise um die Welt
erfordert auf diesem Wege nur noch 69 Tage. Auch auf der südlichen Halb-
kugel hat der Weltverkehr das Bestreben tunlichst die westöstliche Richtung
einzuhalten, wird jedoch durch das starke Vordringen von Afrika und Süd-
amerika nach Süden zu weiten Ablenkungen in gleicher Richtung gezwungen.
Ein bedeutender Umweg ist ihm aber in dieser Beziehung bereits erspart
worden durch die Anlage des Suezkanals im Jahre 1869; ebenso wird die
baldige Eröffnung des Panamakanals, der die Voraussetzung für eine wesent-
liche Steigerung des Verkehrs zwischen der Alten und Neuen Welt bildet,
eine weitere Zeit- und Raumersparnis bedingen. Einigermaßen dienen diesem
Zwecke die zahlreichen Pacificbahnen, welche Nordamerika von Osten nach
Westen durchqueren. In ähnlicher Weise erfährt der Weltverkehr eine Be-
schleunigung durch die im Jahre 1911 vollendete Transandinische Bahn in
Südamerika, welche von Buenos Aires nach Valparaiso führt.
Auch dem Deutschen Reiche kommt wegen seiner Lage in der Mitte Europas
ein großes Stück der westöstlichen Straßen des Weltverkehrs zugute. Dieser
benutzt besonders die Linie Ostpreußen—Berlin—Cöln, daneben auch die
Linie Ostpreußen—Leipzig—Frankfurt, weniger die süddeutschen Wege, auf
denen sich jedoch der Personenverkehr mit dem Orientexpreßzug immer mehr
steigert. Nach Süden zweigen sich von den genannten Hauptstraßen die
Alpenbahnen, nach Norden die Handelsbahnen nach den Seehäfen ab. Von
diesen geht ein lebhafter Handelsverkehr nicht bloß in das Innere Deutsch-
lands und Europas sondern auch nach allen Teilen der Erde. Die Gesamt-
werte des deutschen Außenhandels beziffern sich auf 12 Milliarden Mark jähr-
lich und hiervon entfallen volle 70% auf den Seehandel. Während vordem
Jahre 1870 nur wenige deutsche Firmen am Weltverkehr und Welthandel sich
beteiligten, schätzt man jetzt die Zahl der direkt oder indirekt vom überseeischen
Handel und Verkehr lebenden Deutschen auf 10 Millionen. Die deutschen
Schiffahrtsgesellschaften, der Bremer Lloyd und die Hamburg-Amerika-Linie,
sind die größten der Welt und besitzen auch die schönsten Salondampfer.
Zum Aufschwung des Handels und Verkehrs haben wesentlich auch die
Handelsverträge beigetragen. Als Deutschland durch den Wiener Kongreß
486
231. Einst und jetzt.
(1815) neugestaltet wurde, war nicht nur jeder Staat von dem anderen,
sondern es waren sogar die einzelnen Provinzen eines und desselben Staates
voneinander durch Zollschranken abgesperrt. Dadurch wurden Handel und
Gewerbe aufs äußerste benachteiligt, ohne daß die Einnahmen des Staates
erhöht wurden. Durch den Deutschen Zollverein wurden diese hemmenden
Schranken einigermaßen beseitigt und durch Handelsverträge mit Österreich,
Frankreich und Italien neue Absatzgebiete eröffnet. Das neue Deutsche Reich
war von Anfang an bemüht alle Schranken, welche dem Verkehr entgegen-
standen, zu beseitigen. Und diesen Bestrebungen ist es in Verbindung mit
dem Aufschwung der Gewerbe gelungen, Deutschland auch unter den handel-
treibenden Völkern eine ehrenvolle Stellung zu verschaffen.
231. Kinst und jetzt.
Unser Zeitalter wird stets als eines der bewunderungswürdigsten
gepriesen werden in Anbetracht des unaufhaltsamen Fortschritts und
rastlosen Wetteifers auf allen Gebieten der Wissenschaften und Künste,
des Handels und Gewerbes. In staunenswerter Weise hat sich gegen-
wärtig die Wissenschaft aufs engste mit den Bedürfnissen des Lebens
verbunden, alle Arbeit zu erleichtern und zu verschönern.
Das ganze Leben ist ein anderes geworden. Wenn ihr euch heute
in eurer Eltern Zimmer, draußen auf den Straßen oder vor den Stadt-
toren umseht, so werdet ihr alsbald eine Menge Dinge bemerken, die
man zur Zeit, als euer Vater oder gar der Großvater so alt war, wie
ihr jetzt seid, noch nicht kannte, ja, von denen man vor sechzig oder
siebzig Jahren kaum eine Ahnung hatte. Da hängen z. B. die Photo-
graphien von Vater, Mutter, Oheim und Base an der Wand. Wie treu
geben diese Abbildungen die kleinsten Einzelheiten wieder! Selbst jedes
Glied der Uhrkette erscheint da mit einer Genauigkeit, wie dies früher
durch die allerfeinste Ölmalerei nicht hergestellt werden konnte! Und wie
teuer kamen solche Ölgemälde zu stehen! Heute lassen wir uns die viel
naturgetreuern Photographien für einige Mark gleich dutzendweis machen;
denn nicht mehr die Hand des Menschen, sondern nur der Strahl der lieben
Sonne malt jung und alt so vortrefflich ab. Für das Gewerbe läßt man
sich sogar photographische Musterkarten herstellen. Die Photographie ist
aber erst anfangs der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgekommen.
Horcht! Es klingelt! Seht zu, wer vor der Türe steht! Es ist
der Briefträger; er bringt einen Brief, auf welchen eine Marke geklebt
ist; er gibt ihn ab und fordert nicht einen Pfennig Zustellgebühr oder
Bringerlohn. Ihr alle wißt, daß mit der aufgeklebten Marke die freie
Zustellung des Briefes verbunden ist und daß heute von der türkischen
Grenze bis Hamburg ein Schreiben für nur zehn Pfennig in wenigen
231. Einst und jetzt.
487
Tagen befördert wird, während früher ein Brief erst nach Wochen an
den Adressaten gelangte und oft bis einen Taler Bestellgebühr kostete.
So schnell und sicher aber auch unsere Posten von weither die Briefe be-
fördern, der Telegraph bringt doch die Nachricht noch rascher. Und zwar be-
dient man sich nicht mehr des alten optischen oder Zeigertelegraphen, der
früher, auf einem Turme oder einer Anhöhe angebracht, seine eckigen Arme in
die Luft streckte und Zeichen gab, welche Buchstaben bedeuteten, sondern des
elektrischen Telegraphen. Die Stangen und Drähte desselben sieht man
gegenwärtig überall und seine Kabel, in die Weltozeane versenkt, verbinden alle
Erdteile miteinander. Was heute morgen in London oder in Neuyork sich
ereignet, das weiß man mittags oder abends in Berlin und Wien und am
Abend oder am folgenden Tag steht es bereits in allen Zeitungen; oder
wenn Vater oder Mutter vom Onkel in Australien wichtige Nachrichten er-
warten, in der allerkürzesten Zeit und für wenig Geld erhalten sie Aus-
kunft durch ein Telegramm, welches noch dazu ins Haus gebracht wird.
Horch! Was klingelt so stark auf dem Kontor? Es läutet am
Telephon. Unser Geschäft ist nämlich an das Telephonnetz angeschlossen,
das wie die Telegraphendrähte ober- oder unterirdisch nach den ver-
schiedensten Orten läuft. Soeben spricht unser Vater mit einem Geschäfts-
steund in Berlin über den Stand der dortigen Börse; dann ruft er
einen Geschäftsfreund in Nürnberg an, dem er infolge der Mitteilung
aus Berlin umfangreiche Aufträge erteilt.
In der Photographie, dem schnellen und billigen Briefverkehr, dem
Telegraphen und Telephon habt ihr vier höchst wichtige, die großen
Fortschritte unserer Zeit bezeichnende Dinge kennen gelernt, ohne daß
ihr noch einen Fuß auf die Straße gesetzt habt. Wir wollen nun aber
einmal durch die Straßen der Stadt wandern und uns hier ein wenig
umschauen! Wir benutzen die erhöhten Fußwege neben den Straßen
oder, wie die Franzosen sagen, die Trottoirs um uns bequem und
gemächlich zu ergehen und dem eiligen Auf- und Abfahren der Wagen
auszuweichen. Infolge des Gewühls auf der Fahrstraße und dem Fuß-
steige ist es recht staubig, dazu brennt die Sonne heiß hernieder. Alles
sehnt sich nach Wasser, der Mensch, das Tier, die Pflanze. Früher
war man auf die wenigen Stadtbrunnen beschränkt, die bisweilen sogar
versiegten; im besten Fall gab es eine sogenannte „Wasserkunst", von
der nur wenige Nutzen ziehen konnten — jetzt gewährt uns die
Wasserleitung so viel des köstlichen Nasses, als wir zum Trinken, zum
Begießen der Blumen, zum Waschen, zu allerhand gewerblichen Zwecken
gebrauchen, und dadurch sind unsere Städte reinlicher und gesünder
geworden. Gewiß eine große Wohltat für alle! Wurde es dunkel, so
488
231. Einst und jetzt.
vermied man früher die weniger belebten Straßen und auf dem schlechten,
spitzen Pflaster lief man Gefahr Arme und Beine zu brechen. Ohne
eine kleine Taschenlaterne ist daher der Großvater abends, vor sechzig
Jahren und später noch, kaum einmal ins Wirtshaus gegangen, wo er
mit seinen Freunden Karten spielte und seine Pfeife Tabak schmauchte.
Wie anders jetzt! Kaum sinkt der Abend hernieder, da erstrahlt hell
und glänzend die Gasflamme, weit schöner und herrlicher noch das
elektrische Licht. Über das glatte Pflaster schreitet man sicher seines Weges
dahin und ein Spaziergang ist in der Nacht nicht gefährlicher als bei
lichtem Tag. Der Vater, der abends ein Glas gutes Bier oder einen
Schoppen trinkt, raucht dazu die bequeme Zigarre und findet in den
Gasthäusern der Stadt noch obendrein eine Menge Zeitungen mit und
ohne Bilder, zur Belehrung und Unterhaltung; so erführt man rasch,
was im Lande oder in der Welt überhaupt vorgeht.
Und nun horcht auch nach der Seite, wo die Bahnhöfe stehen! —
Was pfeift so schrill, Mark und Bein durchdringend? Ihr alle wißt, daß
die Lokomotive diesen Ruf ausstößt; ihr wißt auch, daß ein Eisenbahnzug
abgeht oder ankommt; denn ihr alle kennt den so ausgedehnten Verkehr und
die erstaunliche Schnelligkeit der Weiterbeförderung auf den Eisenbahnen;
ihr wißt, wie auf ihnen Menschen aus allen Teilen unseres Erdballes
zusammengeführt werden und wie rasch sie den Austausch der Waren und
Erzeugnisse des Fleißes vermitteln. Diese Anstalten können als zutreffendes
Wahrzeichen des rastlosen Fortschritts unserer Zeit gelten. Wie ganz
anders vormals! Unsere Vorfahren wußten nicht einmal, was ein Omnibus
ist; und wie erleichtert nicht schon diese Einrichtung den Verkehr!
Eisen- und Pferdebahnen sowie elektrische Bahnen durchziehen
heutzutage die Straßen der Hauptstädte und verbinden die äußersten
Vorstädte mit dem Mittelpunkt. Du ersparst das Geld für eine Droschke,
zahlst kaum ein Fünftel des Fahrpreises für eine solche und führst auf
der Straßenbahn ebenso bequem, ja oft noch bequemer. Du bist nun
auf dem Bahnhof und kehrst aus der Fremde in die Heimat zurück.
Wie schnell ist die Fahrkarte genommen, der Koffer gewogen! Und nun
fliegst du dem Ziele zu. Deine Mutter braucht ebensoviel Zeit, unterdessen
dein Lieblingsgericht zuzubereiten, wie du zu deiner Heimreise. Dein
Schwesterchen sieht beständig nach der Uhr; denn es will dich von der
Bahn abholen und kann deine Ankunft auf die Minute berechnen; steht
doch dies alles in Büchern gedruckt, gehen und kommen doch die Züge
mit der äußersten Genauigkeit. Und sonst? — Da saß man in der
schwerfälligen Postkutsche eng und dicht zusammengepreßt. Schien die
liebe Sonne zur Sommerszeit recht warm hernieder, so keuchten die
232. König Ludwig I.
489
Pferde auf sandigem Wege dahin; regnete es, so konnten sie die Hufe
kaum in dem Lehmgrunde fortbewegen, denn achl die Kutsche war ja
meist schwer bepackt. Bei Frostwetter dagegen hieß es: „Die Pferde
stürzen, es ist Glatteis." Nur langsam kam man vorwärts. Dies alles ist
anders geworden; und obgleich die älteste Eisenbahn in Deutschland erst
seit dem Jahre 1835 die Städte Nürnberg und Fürth miteinander ver-
bindet, so führt doch schon jetzt in unserem lieben Vaterlande fast nach
jeder kleineren Stadt, ja nach zahllosen Dörfern eine Bahn. Eisenstraßen
ziehen jetzt über die Höhenzüge der Alpen durch Steiermark und Tirol
nach Italien sowie durch den St. Gotthard, den Simplon, aus den Rigi,
die Jungfrau u. s. w. Man kann heute von dem westlichen Ende Europas,
von Lissabon, unmittelbar nach dem fern im Osten liegenden Konstantinopel
in derselben Zeit kommen, welche man früher brauchte um von Berlin
nach Leipzig zu reisen. Wahrlich, gewaltige Veränderungen in einem halben
Jahrhundert! Nach Otto.
232. König Ludwig I.
1825—1848.
Eine der hervorragendsten Fürstengestalten auf dem bayerischen
Thron ist König Ludwig I.; in ihm hat Bayern seinen größten König,
das deutsche Volk einen seiner edelsten Söhne und Vaterlandsfreunde,
die ganze gebildete Welt einen eifrigen Beförderer und Schirmherrn der
bildenden Künste zu verehren.
Ludwig wurde am 25. August 1786 zu Straßburg als der älteste Sohn
des damals in französischen Diensten stehenden Generalmajors Psalzgrafen
Max Joseph von Zweibrücken geboren. Beim Ausbruch der Französischen
Revolution mußte er mit seinen Eltern aus Straßburg fliehen und
vorübergehend an verschiedenen Orten als Flüchtling leben. In frühester
Jugend machte er so eine rauhe Schule des Lebens und der Erfahrung
durch; dadurch wurde sein Charakter gestählt und jene Genügsamkeit,
Bedürfnislosigkeit und Selbstbeherrschung großgezogen, die ihn zeitlebens
begleiteten und die er auch von seinen Untergebenen forderte. Aus
solchen Jugenderfahrungen erwuchs aber auch seine unversöhnliche Ab-
neigung gegen die Franzosen. Nur mit schwerem Herzen leistete Ludwig
unter Napoleons Adlern die ersten Waffendienste. Als endlich die mit
Übermut und Grausamkeit behandelten Völker Europas sich gegen den
Zwingherrn erhoben, da wirkte Ludwig zuerst und am tatkräftigsten am
bayerischen Hofe für den Anschluß an die Verbündeten.
Nach Wiederherstellung des Friedens gab sich der Kronprinz ganz
seiner weiteren wissenschaftlichen und künstlerischen Ausbildung hin und
machte viele Reisen ins Ausland. Besonders gern und oft verweilte er in
490
232. König Ludwig I.
Nom, der ewigen Stadt, der Mutterstätte der Kunst. In der Heimat
nahm er den lebhaftesten Anteil an allen Staatsangelegenheiten. So
hatte er das größte Verdienst an dem Zustandekommen der bayerischen
Verfassung und deren Gestaltung im volksfreundlichen Sinn.
Mit dem Wahlspruch: „Gerecht und beharrlich!" bestieg er 1825
den Thron. Seine erste Sorge war die Ordnung des zerrütteten Staats-
haushaltes, die Einführung zweckmäßiger Ersparungen durch richtige
Gliederung des öffentlichen Dienstes und die Hebung des allgemeinen
Kredits. Dem Handel, Gewerbe und dem Landbau widmete er große
Fürsorge. Er erbaute den Donau-Mainkanal, wirkte für die Gründung
des Zollvereins, führte die Dampfschiffahrt und die Eisenbahnen in Bayern
ein, errichtete Landwirtschafts-, Gewerbe- und Polytechnische Schulen und
stiftete Kreishilfskassen für arme Landwirte und Handwerker. Nicht minder
erfreuten sich die Wissenschaften seiner besonderen Sorgfalt; er verlegte
die Universität von Landshut nach München, berief ausgezeichnete Lehrer
an dieselbe und richtete die Akademie der Wissenschaften und der Künste
neu ein. Indem er allen Zweigen der bürgerlichen Tätigkeit seine
persönliche Aufmerksamkeit und seine wärmste landesväterliche Fürsorge
widmete, schuf er eine beneidenswerte geistige und materielle Blüte
seines Volkes.
So groß aber auch des Königs rastlose Tätigkeit in der Verwaltung
seines Landes war, auf dem Gebiete der Kunstpflege hat er noch ungleich
Größeres geleistet; ist es ja sein Ruhm als Beförderer der bildenden
Künste, der seinen gefeierten Namen durch die ganze Welt erschallen läßt.
Er hat es verstanden durch eine Kunstpffege ohnegleichen seinem Bayern
die Achtung und die Bewunderung von ganz Europa zu gewinnen.
Der Religion und der Poesie, dem Vaterland und der Geschichte,
den Wissenschaften und der Kunst, dem Unterricht und anderen öffent-
lichen Zwecken hat er die prachtvollsten Bauten, geschmückt mit den
schönsten Kunstwerken der Bildnerei und Malerei, geschaffen und den
Edelsten des Volkes die herrlichsten Denkmale errichtet. Und in welcher
Vielseitigkeit hat er nicht die Kunst gepflegt! Die Baukunst wurde in
den Stilen aller hervorragenden Kulturvölker geübt: im dorischen Stil
entstanden die Walhalla, die bayerische Ruhmeshalle und die Propyläen,
im jonischen die Glyptothek, im korinthischen das Kunstausstellungsgebäude
und das Siegestor; der altgriechische Stil fand Anwendung bei der
Basilika, der byzantinische bei der Allerheiligenhofkirche, der romanische
bei der Ludwigskirche, der Staatsbibliothek und dem Universitätsgebäude,
der Feldherrnhalle und der Neuen Pinakothek; im gotischen Stil er-
heben sich die Auer Kirche und der Wittelsbacher Palast, in der
233. König Maximilian H.
491
Renaissance die Residenzbauten. Die Bildhauerei bewegte sich ebenfalls
in allen Formen und Stilen, schuf in allen Größen, arbeitete in jedem
zweckdienlichen Material: in Ton und Gips, in Holz und Metall, in
Sand-, Kalk- und Marmorstein, und ihre Werkstätten erlangten einen
Weltruf. Die Malerei erhielt ein unübersehbares Feld der Tätigkeit
angewiesen; sie stellte heidnische und christliche, mittelalterliche und Stoffe
der neueren Zeit dar, brachte die bewunderungswürdigsten Werke in
allen Gattungen und allen technischen Darstellungsarten, in Fresko und
Öl, auf Porzellan und Glas, hervor. Dazu gründete und vermehrte
der König eine große Zahl herrlicher Sammlungen von Statuen und
Gemälden, Vasen und Terrakotten u. s. w. und machte diese Schätze
unvergänglichen Ruhmes als eine Quelle der edelsten Volksbildung jeder-
mann unentgeltlich zugänglich.
Wenn Ludwig auch die übrigen Städte nicht vernachlässigte, wandte
er doch seiner Residenzstadt die treueste Liebe und Sorgfalt zu. „Ich
will," so sprach er bald nach seiner Thronbesteigung, „aus München
eine Stadt machen, die Deutschland so zur Ehre gereichen soll, daß
keiner Deutschland kennt, wenn er nicht auch München gesehen hat."
Der edlen Verheißung folgte bald die herrliche Erfüllung. Was wäre
heute München, hätte nicht der kunstsinnige Fürst das arme Jsarkind
so herrlich, so unvergänglich geschmückt!
Auch nach seiner Thronentsagung (1848) unterstützte Ludwig mit
gleicher Liebe wie zuvor Künste und Wissenschaften, während er Arme
und Bedrängte großmütig mit reichen Gaben bedachte. Er starb am
29. Februar 1868 zu Nizza in einem Alter von 82 Jahren; seine sterb-
lichen Überreste sind in der von ihm erbauten herrlichen Basilika in
München beigesetzt. Nach Reidelbach.
233. König Maximilian H.
1848—1864.
Maximilian II. bestieg den Thron seines Vaters in einer Zeit
großer Aufregung. Das Volk war mit den bestehenden Verhält-
nissen unzufrieden und wollte für Deutschland eine neue staat-
liche Ordnung schaffen. Abgeordnete aller deutschen Stämme
traten daher in Frankfurt a. M. zusammen um eine Reichs-
verfassung auszuarbeiten (1848). Im nämlichen Jahre wurde
Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser ernannt
und im folgenden König Wilhelm IV. von Preußen zum erb-
lichen Kaiser erwählt; aber dieser lehnte die Würde ab. Wäh-
rend dieser Verwirrung und Uneinigkeit des deutschen Volkes
492
233. König Maximilian H.
brach in der Pfalz ein republikanischer Aufstand los, der mit
Gewalt unterdrückt werden mußte. Eine zwischen den Ministern
und der Volksvertretung Bayerns über die Auslegung der Ver-
fassung entstandene ernste Meinungsverschiedenheit ward bei-
gelegt durch die königlichen Worte: »Ich will Frieden haben
mit meinem Volke U
Nach Herstellung der gesetzlichen Zustände unternahm
Max II. eine Rundreise durch ganz Bayern, allenthalben begrüßt
von dem lauten Jubel und begleitet von der Liebe und Treue
seiner Untertanen. Getreu seinem Wahlspruch: »Gesetzmäßig-
keit und Freiheit!« hat er viele Wünsche seines Volkes erfüllt.
Die bisherige Berufung der Abgeordneten nach Ständen ward
aufgehoben und ein allgemeines Wahlrecht eingeführt; es wurden
die Schwurgerichte ins Leben gerufen und in Bezug auf die
Rechtspflege die öffentlichen und mündlichen Verhandlungen
angeordnet. Das Gesetz über Aufhebung und Ablösung der
Grundlasten (bestimmte bäuerliche Abgaben und Dienste) be-
freite die Kleinbegüterten von drückenden Verpflichtungen, die
bisher auf ihnen ruhten. Damit waren vielfach neue Verhält-
nisse geschaffen, welche dem Lande zum Segen gereichten. Mit-
leidigen Herzens und mit offener Hand gedachte der König
besonders der Armen und Notleidenden, die noch heute von
dem durch ihn gestifteten »Johannisverein« unterstützt werden.
Für Förderung von Kunst und Wissenschaft war Maximilian
landesväterlich bemüht; seiner sorgenden Aufmerksamkeit er-
freute sich die Volksschule wie die Universität. Er gründete
das Nationalmuseum zu einer Sammlung gewerblicher Erzeug-
nisse aus allen Jahrhunderten und das Maximilianeum zu un-
entgeltlicher höherer Ausbildung besonders befähigter studieren-
der Jünglinge.
Hoch hielt er die Religion; dies bekundet besonders folgende
vom König selbst herrührende Aufzeichnung: »Darauf soll bei
der Wissenschaft bei aller sonstigen Freiheit gesehen werden,
daß die Achtung vor göttlicher und staatlicher Ordnung stets
gewahrt bleibe, daß der Mensch das Menschliche dem Göttlichen
unterzuordnen habe.«
Handel und Gewerbe blühten durch Erbauung neuer Eisen-
bahnen, Herstellung eines Telegraphennetzes und Errichtung von
Handels- und Gewerbekammern. Neben dieser Fürsorge, die
Maximilian dem Vaterlande widmete, bekundete er seine echte
234. König Ludwig II.
493
deutsche Gesinnung durch die Teilnahme an dem Geschick der
Herzogtümer Schleswig-Holstein, welche unter der drückenden
dänischen Oberherrschaft sich nach einem eigenen deutschen
Fürsten sehnten. Eben als diese Angelegenheit ganz Deutsch-
land in Aufregung versetzte, machte der Tod dem Leben des
geliebten Königs unerwartet ein Ende (1864). Wie eine Familie
um den Vater, so trauerte das ganze Land um den teuren
Monarchen, dessen Regierung eine glückliche Zeit gesegneten
Friedens war. Stets besorgt um das Wohl seines Landes, trug
er, eingedenk seiner hohen Worte, sein Bayernvolk von Jugend
auf treu in seinem Herzen; es war der Gegenstand seiner Arbeiten,
seiner Sorgen, seiner Leiden und Freuden; darum wird sein
Name auch fortleben in den dankerfüllten Herzen seines Volkes.
Nach Polack.
234. König Ludwig II.
1864—1886.
Wohl selten bestieg ein Königssohn so jung an Jahren, in so
verhängnisvoller Zeit den Thron wie König Ludwig II. Der junge Fürst
gab den Gefühlen der Achtung und Liebe für seinen Vater dadurch
offenen Ausdruck, daß er alle Schöpfungen desselben in unveränderter
Weise fortbestehen ließ und ihnen nicht minder warme Pflege widmete,
daß er insbesondere in der politischen Haltung Bayerns keine Wand-
lung eintreten ließ. In Gesetzgebung und Verwaltung wurden die schon
vom Vater angebahnten Verbesserungen durchgeführt; in den kirch-
lichen Angelegenheiten wurde am Grundsatz der Duldung festgehalten.
In der Schleswigschen Frage trat König Ludwig II. ebenso fest
wie sein Vater für das Selbstbestimmungsrecht der Schleswig-Holsteiner
ein und suchte die Mitwirkung aller deutschen Regierungen in dieser
Angelegenheit zu erwirken. Umsonst! Österreich und Preußen nahmen
allein den Kampf auf und überwältigten mit geringer Anstrengung die
Dänen; die Herzogtümer mußten nach den siegreichen Kämpfen von
Düppel und Alfen an die beiden Großmächte abgetreten werden. Doch
gerade dieser Kampfpreis wurde der Anlaß zu Zwist und Kampf
zwischen ihnen. Es brach der unselige Deutsche Krieg aus (1866), in
welchem sich Bayern auf die Seite Österreichs stellte. Preußen ging
als Sieger aus demselben hervor und erwarb sich eine bedeutende Ge-
bietsvergrößerung. Der Deutsche Bund löste sich auf; dagegen ver-
einigten sich die Staaten nördlich des Mains unter Preußens Führung
in dem Norddeutschen Bunds.
494
234. König Ludwig II.
Mit diesem trat Bayern in engere Beziehungen durch ein Schutz-
und Trutzbündnis, das es mit Preußen schloß. Dies betätigte sich
glänzend, als Frankreich 1870 Preußen in beleidigender Weise zum
Kriege herausforderte. „Mit Begeisterung werden Meine Truppen an
der Seite ihrer ruhmgekrönten Waffengenossen für deutsches Recht und
deutsche Ehre den Kampf aufnehmen", telegraphierte er an König Wilhelm
von Preußen. Und die bayerischen Truppen haben in dem beispiellosen
Siegeszug der Deutschen alle Eigenschaften bewiesen, die den guten
Soldaten kennzeichnen: strengen Dienstgehorsam, Tapferkeit und Gleich-
mut in der Gefahr, Unverdrossenheit bei den größten Anstrengungen
und Entbehrungen. Der König selbst erteilte seine Zustimmung zu den
Versailler Verträgen, infolge deren auch Bayern in das neue Deutsche
Reich eintrat. Er war es, der viel zur Wiederaufrichtung des Deutschen
Kaisertums beitrug.
In der Zeit des goldenen Friedens aber war Ludwig II. eifrigst
bestrebt das Glück seiner Untertanen zu fördern und den Wohlstand
des Landes zu heben. Die Gemeindeordnung, das Gesetz über Armen-
und Krankenpftege, das Wehrgesetz, das Heimat-, Verehelichungs- und
Aufenthaltsgesetz, das Gesetz über einheitliches Maß und Gewicht
trugen viel zur günstigen Weiterentwicklung der bayerischen Verhält-
nisse bei.
Für den Aufschwung von Kunst und Wissenschaft ist auch sein
Königswalten von hervorragender Bedeutung. Vor allem begünstigte
er die Tonkunst sowie das Schauspiel und stellte der Baukunst und dem
Kunstgewerbe neue, hervorragende Aufgaben.
Von seinen herrlichen Schloßbauten: Linderhof, Herrenchiemsee,
Neuschwanstein, sei besonders die letztere Burg hervorgehoben, die an
Größe wie an Kühnheit und Geschmack die sagenberühmte Wartburg
weit übertrifft. Die Ausstattung dieser Schlösser, wobei Kunst und
Kunstgewerbe ihr Bestes boten, fand nach des kunstsinnigen Königs
eigener Anordnung statt. Insbesondere der Wiedereinführung der Kunst
in das Haus wurde in Bayern erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet und
das Streben nach Veredelung des Geschmacks fand von seiten des
Herrschers eifrige Unterstützung. Durch reiche Bestellungen spornte er
die Befähigten an das Höchste zu versuchen; und es sind denn auch
unmittelbar auf seine Anregung in kunstgewerblicher Beziehung Leistungen
gelungen, die als künstlerische Taten bezeichnet werden dürfen. Bei der
1876 veranstalteten kunstgewerblichen Ausstellung in München lag es
für jeden klar zutage, wie ernst es dem Bürger ist mit „der Väter
Werken" rühmlichen Wettkampf zu wagen.
235. Heerbannlied.
495
Große Sorgfalt wandte Ludwig ferner dem Schulwesen zu, be-
sonders der Volks- und Mittelschule. Jeder Bayer kann in dem Fache,
wozu er Talent und Neigung hat, eine vollkommene Ausbildung im
eigenen Lande finden. Die Unterrichtsanstalten, namentlich die technischen,
hatten keinen Vergleich zu scheuen. In München wurde eine Technische
Hochschule errichtet und für ihre Zwecke ein Prachtbau aufgeführt, der
sich würdig an die Schöpfungen Ludwigs I. anreiht. Noch prächtiger
erhebt sich in der Nähe des Siegestores das neue Akademiegebäude. Die
wichtigeren Gewerbe- und Handelsplätze erhielten Real- und Industrie-
schulen und Realgymnasien.
Auch zur Lösung der sozialen Frage beizutragen war ein ernstes
Ziel seiner landesväterlichen Fürsorge. Alle Festlichkeiten ablehnend,
verordnete der König, daß die zur Verherrlichung der Säkularfeier des
Wittelsbachschen Hauses bestimmten Summen zur Hebung des Handwerks
verwendet werden sollten (Wittelsbacher Stiftung). Aus seiner eigenen
Privatkasse spendete er Jahr für Jahr unermeßliche Summen für regel-
mäßig fortlaufende und zeitweise Unterstützungen an Arme und Hilfs-
bedürftige, ohne daß je davon, außer durch Zufall oder auf Umwegen,
Kunde in die Öffentlichkeit drang. Am 13. Juni 1886 fand der Fürst
in den Wellen des Starnberger Sees seinen Tod.
Nach v. Heigel.
235. Keeröanntied.
Ernst ist mein Sinn und schlicht
und recht,
Mein Bart ist gleich dem Flachse,
In Dün' und Wald blüht mein Ge-
schlecht,
Daß übers Meer es wachse —
Ich bin der Sachse.
Mein Bart ist rot, der Berg mein
Schloß,
Mir blüht des Liedes Gabe;
Die Sturmfahn' schwing ich; Schwert
und Roß,
Sie gehn mit mir zu Grabe —
Ich bin der Schwabe.
Mein Mark ist stark, ist Löwenmark,
Kein andrer Stamm ist freier.
Komm her, kein Teufel ist so stark,
Noch schlägt ein Herz getreuer —
Ich bin der Bayer.
Ein blanker Stahl ist meine Brust,
Doch ftöhlich mein Gedanke,
Am Reigen hab' ich meine Lust
Und einem firnen Tranke —
Ich bin der Franke.
Nach Süd, Ost, West, Nord stehn
wir hier
Zum Schutz der deutschen Eiche
Und rauscht Sankt Michaels Panier,
Sind unsre Schwerterstreiche
Ein Hort dem Reiche.
Die Feinde schicken wir nach Haus,
Bedeckt mit Blut und Schrammen;
Und kommt die Hölle selbst zum
Strauß,
Wir lachen ihrer Flammen
Und stehn zusammen.
Lingg.
496 236. Anteil Bayern? am Deutsch-Französischen Kriege (1870—1871).
236. Anteil Wayerns am Aeutfch-ArariMschen Kriege(1870—1871).
Die Einigung Deutschlands nach dem Kriege von 1866 erschien
dem Kaiser der Franzosen, Napoleon III., welcher bis dahin den
Schiedsrichter in Europa gespielt hatte, bedrohlich. Angetrieben von
den über Preußens Erfolge erbitterten Franzosen, führte er 1870 durch
das zudringliche Vorgehen seines Gesandten eine Beleidigung König
Wilhelms herbei, wodurch der Bruch mit Deutschland erfolgte. Da
erhob sich unter den Klängen der „Wacht am Rhein" ganz Deutsch-
land wider den alten Erbfeind, und was Ludwig XIV. und Napoleon I.
an Deutschland gesündigt hatten, es wurde gesühnt durch Frankreichs
Niederlagen.
Der Tag von Weißenburg eröffnete den deutschen Armeen den Elsaß;
der Tag von Wörth sicherte seinen Besitz. Gerade dem dritten Armee-
korps, das die süddeutschen Heere vereinigte und bei welchem die Prinzen
des bayerischen Königshauses standen, war es beschieden den ersten
kühnen Vorstoß ins Feindesland zu wagen: alle die Bahn versperrenden
Festungen wurden zur Übergabe genötigt. Auch an jenen entscheidenden
Schlachttagen vom 30. August bis zum 1. September hatten die Bayern
den ruhmvollsten Anteil: bei Beaumont, Bazeilles, Balan, Sedan
flatterten die weißblanen Fahnen. Dem bayerischen General von Mail-
linger wurde zuerst unmittelbar vor den Mauern der umzingelten
Festung Sedan die Meldung gebracht, daß Kaiser Napoleon den frucht-
losen Kamps aufgeben wolle und bereit sei sich zu ergeben; bayerische
Reiter bildeten die Begleitung bei jener denkwürdigen Fahrt Napoleons
nach Donchery, wo der Eiserne Kanzler die Bedingungen der Unter-
werfung vorschrieb. Als das Ungeheure, Unglaubliche sich vollzogen
hatte, die Gefangennehmung einer Armee von 100000 Mann mit ihrem
Herrn und Kaiser, wurden vorzugsweise bayerische Krieger dazu aus-
.ersehen die Gefangenen nach Deutschland zu führen; denn neidlos
wurde von allen eingestanden, daß sie im Entscheidungskampf den ersten
Kranz errungen.
Im beispiellos beschwerlichen Winterfeldzug 1870—71 bewiesen
die Bayern sich in jeder Beziehung als vorzügliche Soldaten. Gegen
die französische Armee an der Loire, die, durch Gambetta gleichsam
„aus dem Boden gestampft", zum Entsatz der eingeschlossenen Haupt-
stadt bestimmt war, wurde General von der Tann mit einem aus Bayern
und Preußen bestehenden Heere abgeschickt. Die Siege bei Artenay am
10. und bei Orleans am 11. Oktober öffneten ihnen die Tore der
Stadt Orleans. Zwar mußte sie einige Tage später dem an Zahl
weit überlegenen Feind geräumt werden; es folgte der bange Tag von
237. Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. 497
Coulmiers; dann aber, als durch Vereinigung mit dem Korps des
Prinzen Friedrich Karl einigermaßen das Gleichgewicht der Kräfte her-
gestellt war, fand ein zweiter Kampf statt, der mit dem Sieg und dem
Wiedereinzug in die Loirestadt endigte. Auch bei der Belagerung von
Paris sprachen die bayerischen Batterien ein gewichtiges Wort; das
Plateau von Chatillon wurde von General Hartmann im Sturm ge-
nommen. Das Oberkommando ehrte die kühne Leistung, indem es dieser
Stellung den Namen „Bayernschanze" gab. Bald darauf ward der
letzte Wunsch der deutschen Kämpfer erfüllt; Paris erklärte sich für
besiegt (28. Jänner 1871). Durch den Triumphbogen, den man von
der Bayernschanze aus im Häusermeer deutlich unterschieden hatte, zogen
die deutschen Truppen, darunter auch die Bayern, mit klingendem Spiel
und fliegenden Fahnen.
Zwar war der Krieg mit der Übergabe der Hauptstadt noch nicht
beendet; allein der ersehnte Friede konnte nicht mehr lange verzögert
werden. Der endgültige Friedensschluß wurde am 10. Mai 1871 zu
Frankfurt am Main vollzogen. Aus einem glorreichen Feldzug ohne-
gleichen brachten unsere siegreichen Heere die alten Reichslande Elsaß-
Lothringen und Kaiser und Reich zurück. Nach v. Heigei.
237. Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.
Herrlich war die Frucht der glorreichen Siege in den Jahren
1870 und 1871. Alle Schmach, die uns der übermütige Erb-
feind seit drei Jahrhunderten zugefügt, war gerächt und getilgt
und deutsche Lande an unserer Westgrenze waren für Deutsch-
land wiedergewonnen. Noch herrlicher aber war die Frucht,
die aus dem glücklich beendeten Kriege für den innern Ausbau
unseres Vaterlandes hervorging, die Wiederaufrichtung des ehr-
würdigen, durch Frankreichs Gewalttätigkeit und Frevelmut
zertrümmerten Deutschen Kaisertums.
Schon im November 1870 kamen die Verträge zum Ab-
schluß, durch welche die süddeutschen Staaten mit dem Nord-
deutschen Bunde sich zu einem Deutschen Reiche verbanden.
Als daher König Wilhelm in den Herrscherpalast der alten
Bourbonen eingezogen war, da richtete der mächtigste der übrigen
deutschen Fürsten, der jugendliche, patriotische König Ludwig II.
von Bayern, im Namen sämtlicher deutschen Fürsten an das
Bundesoberhaupt die Einladung, die im Gedächtnis des deutschen
Volkes nie geschwundene Herrlichkeit deutscher Nation durch
Erneuerung der Kaiserwürde und Übernahme der Kaiserkrone
Lesebuch für Gewerbliche Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 32
498
237. Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.
zu vollenden. Am 18. Dezember nahm König Wilhelm denselben
Wunsch von den Abgesandten des Norddeutschen Bundes ent-
gegen und verhieß, er werde sich dem Rufe des gesamten Vater-
landes nicht entziehen. So ward denn auf Frankreichs blut-
getränkten Gefilden der Grundstein zum neuen Deutschen Reiche
gelegt und der Krieg hatte gerade das Ziel so herrlich gefördert
und verwirklicht, das der Nationalfeind in seiner Tücke und
Arglist hintertreiben wollte.
Es geschah am 18. Januar 1871, an dem Tag, an welchem
170 Jahre vorher Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg sich die
preußische Königskrone aufs Haupt gesetzt, in dem Spiegelsaale
Ludwigs XIV. zu Versailles, von welchem so unheilvolle Pläne
zur Erniedrigung und Zersplitterung Deutschlands ausgegangen
sind. Hier erklärte König Wilhelm im Kreise deutscher Fürsten,
Heerführer und Abgeordneten, daß er für sich und seine Nach-
folger auf dem Throne Preußens die ehrwürdige Deutsche
Kaiserwürde annehme. Ganz Deutschland jubelte auf bei
der frohen Kunde und alle Herzen begrüßten mit Preis und
Dank die Worte, mit welchen die kaiserliche Proklamation
schloß: »Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußt-
sein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und
seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Un-
abhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinigte Kraft seines
Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung,
daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner
heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem Frieden und
innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die
seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe
Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an
der Kaiserkrone wolle Gott verleihen allezeit Mehrer des Deutschen
Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an
den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler
Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.«
Das neu erstandene Deutsche Reich umfaßt 26 Staaten,
nämlich zunächst diejenigen Länder und Freien Städte, welche
schon zum Norddeutschen Bunde gehörten, und außerdem auch
noch Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt und Elsaß-
Lothringen. Der erste durch allgemeines, unmittelbares Stimm-
recht gewählte deutsche Reichstag genehmigte eine Ver-
fassung, wonach die Einzelstaaten in ihrer Eigenart unan-
237. Die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. 499
getastet bleiben. Da8 Reich bildet demnach nicht einen Staat,
sondern einen Bund, an dessen Spitze der König von Preußen
als Deutscher Kaiser steht. Dieser vertritt das Reich den frem-
den Völkern gegenüber, erklärt Krieg, schließt Frieden — nach
Zustimmung des Bundesrates — geht Bündnisse ein und ernennt
die Reichsbeamten.
Für eine Reihe von Angelegenheiten werden die Gesetze für
das ganze Deutsche Reich gemeinschaftlich durch den Bundes-
rat, d. h. die Vertreter der Regierungen der einzelnen deutschen
Staaten, und durch den Reichstag, d. h. die vom Volke gewähl-
ten Vertreter, beschlossen und vom Kaiser im Reichsgesetzblatt
verkündigt (publiziert). Wo das Reichsrecht eine Vorschrift gibt,
kann das Landesrecht nicht eingreifen. Daher hat jede Staats-
regierung in ihrem Lande die Reichsgesetze zu vollziehen; der
Kaiser überwacht die Ausführung derselben.
In allen übrigen Angelegenheiten ist jeder Staat in Gesetz-
gebung und Regierung selbständig.
Vorsitz und Geschäftsleitung im Bundesrat und Gegen-
zeichnung der Reichsgesetze und kaiserlichen Verfügungen ob-
liegt dem verantwortlichen Reichskanzler oder dessen Stellver-
treter.
Im Kriege stehen die Truppen aller deutschen Staaten unter
dem unmittelbaren Oberbefehle des Deutschen Kaisers.
Der Gesetzgebung des Deutschen Reiches unterliegen Bun-
des- und Staatsangehörigkeit, Paß- und Fremdenwesen, Gewerbe-
und Versicherungswesen, Handel, Zölle und andre Abgaben für
das Deutsche Reich, Münze, Papiergeld und Bankwesen, Maß
und Gewicht, Eisenbahnen, Post, Telegraphen; Schiffahrt und
Flößerei auf gemeinsamen Wasserstraßen, Militär und Marine,
das gesamte bürgerliche Recht und die Beglaubigung der öffent-
lichen Urkunden, das Strafrecht u. s. w.
Doch ist Bayern im wesentlichen rücksichtlich des Eisen-
bahnwesens sowie der Post und der Telegraphen in Bezug auf
inneren Verkehr und Verwaltung selbständig; außerdem ist der
König von Bayern auch der oberste Kriegsherr der bayerischen
Truppen und nur im Kriegsfälle führt der Kaiser als Bundes-
feldherr den Oberbefehl über dieselben.
32*
500 238. Die Krone im Rhein. — 239. Wilhelm l., Deutscher Kaiser.
238. Zie Krone im Mein (1871).
Es lag eine Krone im tiefen Rhein,
Hehr Prunkend von Gold und von Edelgestein,
Sie lag dort versunken seit uralter Zeit
Mit des Reichs längst verschwundener Herrlichkeit;
Davon hat das Volk sich die Sage erzählt,
Es sei ein zukünftiger König erwählt
Zu heben die Krön' aus der Fluten Schoß,
Der würde als Kaiser dann mächtig und groß.
Wohl ging noch im Volke die Sage umher,
Doch klang sie zuletzt gar traurig nur mehr.
Vorbei war ja Glaube und Hoffnung zugleich
Auf ein Wiedererstehen von Kaiser und Reich. —
Da plötzlich von Westen her Kriegslärm erschallt,
Wildbrausend der Strom im Bett aufwallt,
Wie Waffengetös tönt's herauf aus dem Grund —
Der Sieg war errungen zur selbigen Stund.
Als heim übern Rhein zog das siegreiche Heer,
Lag unten im Grunde die Krone nicht mehr;
Sie strahlte hellfunkelnd im schneeigen Haar
Des Kaisers der Deutschen. — So würd' es denn wahr,
Was im Herzen des Volkes als Hoffnung geblüht,
Was treu sich erhalten in Sage wie Lied,
Was sinnig bedeutet die Krone im Rhein:
Es soll ein Kaiser, ein Reich wieder sein!
t>. Destouches.
239. Wilhelm I., Deutscher Kaiser.
1861—1888.
Wilhelm I. wurde am 22. März 1797 geboren; seine früheste Kindheit
hatte noch den Glanz des alten Preußen gesehen, wie es Friedrich der
Große hinterlassen, sein beginnendes Knabenalter den Fall und das uner-
meßliche Leiden der Monarchie, seine erste Jünglingszeit die Erhebung des
Vaterlandes und die herrlichen Befreiungskriege. Da er ursprünglich
schwächlicher Gesundheit war, so gestattete der Vater, König Friedrich
Wilhelm III., dem 16jührigen Jüngling erst nach der Schlacht bei
Leipzig den Feldzug mitzumachen. Bei Bar sur Aube erwarb er sich
das Eiserne Kreuz; beim Einzug in Paris begleitete er die Monarchen.
Erst nachdem der Krieg beendet, konnte an seine letzte Jugendausbildung
und an seine Konsirmation gedacht werden. Damals schrieb er in
239. Wilhelm L, Deutscher Kaiser.
501
seinem von ihm selbst aufgesetzten Glaubensbekenntnisse: „Meine Kräfte
gehören der Welt, dem Vaterland. Ich will daher unablässig in dem
mir angewiesenen Kreise tätig sein, meine Zeit auf das beste anwenden
und so viel Gutes stiften, als in meinem Vermögen steht." In diesem
altpreußischen Sinne strenger Pflichterfüllung reifte er heran und be-
sonders war es der Dienst im Heer, dessen er sich mit ganzer Seele
annahm und dessen höhere Stellen ihm vom Vater, dessen Gesamt-
befehl ihm schließlich vom Bruder übertragen wurde. Das Jahr 1848
reichte auch ihm den Kelch bitterer Erfahrungen; aber schon 1849 stand
er wieder an der Spitze des Heeres und dämpfte den Aufstand in
Baden; dann lebte er, namentlich seit den diplomatischen Niederlagen,
die Preußen durch Österreich erlitten, in fürstlicher Stille zu Koblenz.
Nachdem er von 1858 an als Prinzregent die Zügel der Regierung
geführt hatte, bestieg er 1861, in einem Alter von 64 Jahren, selbst
den Thron. Der Greis war ein Jüngling an Tatkraft; im Felde war
er bei allen Anstrengungen einfach und anspruchslos in seiner Lebens-
weise. Gemeinsam mit Österreich entriß er 1864 den Dünen die
deutschen Herzogtümer Schleswig und Holstein. Größere Erfolge brachte
der siegreiche Feldzug von 1866 gegen Österreich; mehrere Provinzen
wurden dem Königreich Preußen einverleibt und für das bisher zersplitterte
Deutschland die langersehnte politische Einigung angebahnt. Ruhm und
Achtung zollte die Welt dem König, in dessen Hand der Oberbefehl gelegen
war, den umsichtigen Führern und den braven Truppen. Nun war in
Deutschland Frieden und Einigkeit. Der Sonnenschein des Glückes
aber wurde noch einmal gestört. Die nach Ruhm dürstenden Franzosen
erklärten im Juli 1870 an Preußen den Krieg. Ganz Deutschland
erhob sich wie ein Mann. Der 73 jährige König stärkte sich durch ein
Gebet an der Mutter Grab. Ihre Worte, die sie ihm einst ans Herz
gelegt hatte, standen vor seiner Seele. Die Zeit der Vergeltung war
gekommen. Sieg auf Sieg erfochten die Deutschen. Die wichtigsten
Festungen mußten sich ergeben. Ganze Armeen wurden gefangen ge-
nommen. Als höchste Errungenschaft sollte jedoch aus diesem blutigen
Kriege die Einheit Deutschlands hervorgehen. König Wilhelm, der an
der Spitze der siegreichen Heere bis nach Paris vorgedrungen war,
sollte auch im Frieden Deutschlands Führer sein. In Versailles wurde
er am 18. Januar 1871 zum Kaiser ausgerufen. So hatten die Feinde
Deutschlands bei der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches helfen
müssen. Mit Recht nannte man den Kaiser Wilhelm I. den Siegreichen.
Die Fürsorge Kaiser Wilhelms um die Erhaltung der wieder-
gewonnenen Macht und des Ansehens des Reiches richtete sich vor allem
502
239. Wilhelm L, Deutscher Kaiser.
auf Vervollkommnung des Heerwesens. Die Friedenspräsenzstärke des
Heeres wurde erhöht, die deutsche Flotte vermehrt, gleichmäßige Be-
waffnung und Ausbildung der Heere aller deutschen Staaten erstrebt und
1888 ein neues Wehrgesetz eingeführt. Im Jahre 1887 legte Kaiser
Wilhelm den Grundstein zum Bau eines Kanals für Verbindung der
Nordsee mit der Ostsee. Derselbe wurde im Jahre 1895 vollendet und
Kaiser Wilhelm II. taufte ihn bei Legung des Schlußsteines zu Ehren
seines ruhmreichen Großvaters Kaiser Wilhelms-Kanal.
Das Gerichtswesen erfuhr eine durchgreifende Änderung durch Ein-
führung einer neuen Reichsgerichtsverfassung und Organisation der Amts-
gerichte mit dem Schöffengericht, der Land- und Oberlandesgerichte mit
dem Reichsgericht in Leipzig als oberstem Gerichtshof im Reiche. Den
Bundesstaaten wurde das Recht zugesprochen für bestimmte Fälle oberste
Landesgerichte einzusetzen; Bayern machte hiervon Gebrauch und errichtete
ein Oberstes Landesgericht sowie seinen Verwaltungsgerichtshof in München,
welcher die letzte Behörde in Verwaltungsstreitigkeiten bildet.
Handel und Verkehr wurden gefördert durch Aufhebung der letzten
im Reiche noch bestehenden Zollschranken, durch Einführung von gleichem
Maß und Gewicht und besonders eines einheitlichen Münzsystems.
Die unbeschränkte Gewerbefreiheit hatte im deutschen Gewerbestande
beklagenswerte Zustände herbeigeführt. Um das zurückgegangene kleine
Gewerbe wieder zu kräftigen wurde 1881 ein Jnnungsgesetz erlassen.
Dasselbe gestattet den Handwerkern, die ein selbständiges Gewerbe be-
treiben, zur Pflege des Gemeingeistes, zur Ausbildung der Lehrlinge,
Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Arbeitnehmern und den
Meistern sowie zur Fürsorge für das Herbergwesen u. dgl. die Ver-
einigung zu Innungen. Ein Gesetz über die Beschränkung des Hausier-
handels und der Wanderauktionen beschnitt diese verderblichen Auswüchse
am Lebensbaum des kleinen Gewerbes.
Die mißliche Lage der Landwirtschaft, deren Erzeugnisse durch die
billigeren Preise Rußlands und Amerikas tief herabgedrückt wurden,
suchte man zu verbessern durch Erhöhung der Zölle für eingeführtes
Getreide. In Bayern kam außerdem der Landwirtschaft die Gründung
einer staatlichen Kulturrentenbank zur Gewährung unkündbarer An-
nuitäten-Kapitalien an Landwirte für Knlturzwecke trefflich zustatten,
desgleichen die 1886 getroffene Änderung und Verbesserung des Flur-
bereinigungs- oder Arrondierungsgesetzes.
Der Aufschwung der Industrie (1871—1873) und die Entwicklung
des Fabrikwesens durch Einführung der Gewerbefreiheit und der Frei-
zügigkeit hatten zur Folge, daß die Geschicklichkeit des einzelnen Arbeiters
240. Luitpold, Prinzregent von Bayern.
503
im Massenbetriebe weniger hervortritt und für den Arbeiter die Mög-
lichkeit zur Selbständigkeit sich emporzuringen vermindert wird.
Dadurch sowohl als durch einen in der Überproduktion begründeten
Rückgang in Handel und Gewerbe wurde die Lage der Arbeiter
drückend. Um diese Übel zu beseitigen und dem Arbeiterstande helfend
beizuspringen, wurde im Jahre 1883 das Arbeiter-Krankenversicherungs-
gesetz und im folgenden Jahre das nicht minder wohltätige Unfall-
versicherungsgesetz gegeben. Die Kosten tragen die Berufsgenossen-
schaften, zum größeren Teil die Arbeitgeber, zum kleineren die Arbeiter.
Mit Gewissenhaftigkeit und Treue hatte so der Kaiser für das Wohl-
ergehen aller, selbst der Geringsten seines Volkes, zu sorgen gesucht.
Ruhe gönnte er sich auch im 91. Lebensjahre nicht. Noch in der letzten
Stunde oblag er seinen Herrscherpflichten. Ergreifend war sein letztes
Wort, das er am 9. März 1888 aussprach: „Ich habe nicht Zeit jetzt
müde zu sein." Er starb, von seinem Volke aufrichtig betrauert.
Ihm folgte in der Regierung seines Landes und als Deutscher Kaiser
Friedrich III., welchen die Krone aber nur 99 Tage schmückte. In
seinem Sohn und Nachfolger Wilhelm II. begrüßt das deutsche Volk
seit dem 15. Juni 1888 seinen dritten Kaiser.
240. Luitpold, H>rirrzregent von Wayern.
1886—1912.
Ein edler Sohn des großen Königs Ludwig I. übernahm nach dem
unglücklichen Geschick, welches das Herrscherhaus im Juni 1886 traf,
die Regierung Bayerns. In spätem Alter, in dem andere die Ruhe
und Bequemlichkeit suchen, wurde dem Prinzen Luitpold nach dem
unglücklichen Tode seines königlichen Neffen Ludwigs II. wegen der
Krankheit seines zum Throne bestimmten zweiten Neffen, des Königs
Otto, die schwere Bürde der Regentschaft übertragen.
Prinz Luitpold Karl Joseph Ludwig von Bayern erblickte am
12. Mürz 1821 in Würzburg als der dritte Sohn des damaligen Kron-
prinzen Ludwig das Licht der Welt. Inmitten eines glücklichen Familien-
lebens genoß er die trefflichste Erziehung und Ausbildung; denn neben
einer zärtlichen, geist- und gemütvollen Mutter stand ihm als Erzieher
ein weiser und gerechter Vater zur Seite. Der junge Prinz widmete
sich dem militärischen Beruf, erhielt aber auch gleichzeitig eine um-
fassende wissenschaftliche Bildung. An seinem vierzehnten Geburtsfeste
wurde Prinz Luitpold zum Hauptmann im ersten Artillerieregiment er-
nannt und stieg auf seiner militärischen Laufbahn bis zur Stelle des
504
240. Luitpold, Prinzregent von Bayern.
Generalinspektors des bayerischen Heeres. Im Kriege des Jahres 1866
erwarb er sich als Kommandant der dritten Division bei den blutigen
Gefechten von Helmstadt am 25. und 26. Juli unverweklliche Lorbeeren
der Tapferkeit und des Mutes. Obwohl sein Sohn, Prinz Ludwig, selbst
im Gefechte schwer verwundet worden war, blieb Prinz Luitpold an
der Spitze seiner Truppen und ermunterte sie zu tapferem Wider-
stand. Im ruhmreichen Feldzuge gegen die Franzosen in den Jahren
1870/71 teilte er sieben Monate mit dem tapferen Heer alle Ent-
behrungen und Anstrengungen des Krieges. Prinz Luitpold war es, der
dem König Wilhelm von Preußen das Schreiben überreichte, in welchen:
König Ludwig II. dem siegreichen Hohenzollern die Kaiserwürde anbot.
Als er im Jahre 1886, von tiefer Vaterlandsliebe beseelt und das
Wohl und die Würde des Landes höher schätzend als sein eigenes Ich,
der gebieterischen Pflicht gehorchte und die Regierung übernahm, sprach
er bei seiner am 28. Juni im Thronsaale der Residenz stattfindenden
feierlichen Eidesleistung die denkwürdigen Worte: „Die alte Königstreue
der Bayern hat sich glänzend bewährt in den schweren, fürchterlichen
Ereignissen, die Mein ganzes Haus und das Königreich mit denselben
Gefühlen der Trauer erfüllen. Am Abend Meines Lebens legt Mir die
Vorsehung die schwere Pflicht auf im Namen Seiner Majestät Unsres
Allergnädigsten Herrn die Zügel der Regierung zu leiten. Möge es Mir
vergönnt sein zum Wohle des treuen und geliebten Landes wirken zu
können. Das ist Mein sehnlichster Wunsch, das walte Gott!"
Und Gott segnete des Prinzregenten Wunsch. Mit unermüdlicher
Treue waltete der edle Fürst seines Amtes. In der Erfüllung seiner
Pflichten konnte er jedem seiner Landeskinder als Vorbild dienen. Alle
seine Regierungshandlungen zeugten von größter Gewissenhaftigkeit. Er
hatte ein warmes, liebevolles Herz für sein Volk und erblickte seines Herzens
Freude in unerschöpflicher Mildtätigkeit und in dem edlen Streben Tränen
zu trocknen, welche von der Not und vom Unglück ausgepreßt waren.
Jedem seiner Untertanen war er zugänglich; an seiner Tafel sah er mit
Vorliebe Vertreter der bürgerlichen Erwerbsstände, der Kunst und der
Wissenschaft. Von seinem Vater hatte er innige Liebe zur Kunst ererbt;
seine höchste Herrscheraufgabe sah er darin, das seiner Obsorge anvertraute
Volk glücklich zu machen und ihm die Segnungen des inneren Friedens
zu erhalten. Dafür lohnte ihn aber auch die Liebe und das Vertrauen seines
Volkes, welches namentlich am 12. März 1891, dem siebzigsten, am 12. März
1901, dem achtzigsten, und am 12. März 1911, dem neunzigsten Geburts-
tage seines erlauchten Regenten, wetteiferte diesem durch Veranstaltung einer
großartigen Feier seine innige Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen.
241. König Ludwig III.
505
Prinzregent Luitpold starb am 12. Dezember 1912 und wie einen
fürsorglichen, stets hilfsbereiten Vater betrauerte ihn sein Volk. Das Wort,
das der greise Fürst selbst geprägt: „Pflege der Jugend schafft rüstiges
Alter" ist an ihm selbst zur vollen Wahrheit geworden; er erreichte das
hohe Alter von fast zweiundneunzig Jahren und es war ihm vergönnt
bis zu seinem Tode seine Herrscherpflichten zu erfüllen.
Es war ein langes, reichbewegtes Leben, gewidmet der treuesten
Pflichterfüllung, der steten Fürsorge um das Wohl seines geliebten Landes,
an dessen Spitze er gestellt war.
Länger als ein Vierteljahrhundert hat Prinzregent Luitpold die Ge-
schicke Bayerns geleitet und der Erfolg dieser Lebensarbeit liegt klar vor
aller Augen. Rasch und stetig hat unser engeres Vaterland eine glänzende
Entwicklung genommen dank der weisen Leitung seines Herrschers. Er
hat in seinem langen Leben ein gut Stück Weltgeschichte vorüberziehen
sehen. Er sah Deutschland groß und mächtig werden und arbeitete, in der
Blüte des Mannesalters stehend, mit an diesem Riesenwerk. Sein Blick
als Bundesfürst war stets darauf gerichtet den Bau des Reiches zu festigen
und weiter auszubauen, indem er allezeit treu zu Kaiser und Reich ge-
standen.
241. König Ludwig III.
Nach dem Hinscheiden des greisen Prinzregenten Luitpold, der
Bayern und Deutschland mit gleicher Liebe umfaßte, übernahm dessen
ältester Sohn Prinz Ludwig die Regentschaft. Mit kräftiger Hand und
freudiger Zuversicht auf die Güte der Vorsehung ergriff er die Zügel
der Regiemng. Am 5. November 1913 erklärte er, gestützt auf unantast-
bare Rechte und in Erfüllung lang gehegter Wünsche seines treuen Volkes,
nach schwerem Entschlüsse die Regentschaft für beendet und die Landes-
regierung im eigenen Namen zu führen. Eine tieffreudige Bewegung
ging durch alle Gaue unseres Vaterlandes, als das bayerische Volk
diese frohe Botschaft vernahm. Die hohe Freude über diesen Schritt
kam vor allem am 12. November 1913 bei seiner feierlichen Thron-
besteigung zum Ausdruck, die sich tatsächlich zu einer großartigen Landes-
huldigung gestaltete. Sie zeigte so recht, daß die große Liebe, deren
sich sein erlauchter Vater während seiner mehr als fünfundzwanzig-
jährigen Regierung in stets steigendem Maße zu erfreuen hatte, auch auf
ihn übergegangen war. Denn der König war seinem Volke kein Unbekannter
mehr; bereits als Prinz hat er in dessen Mitte, allen sichtbar gelebt und schon
lange Zeit, bevor sein Vater die Regentschaft führte, ist er mit seinen poli-
tischen und volkswirtschaftlichen Anschauungen hervorgetreten und hat diese in
506
241. König Ludwig III.
Wichtigen Augenblicken der bayerischen Entwicklung in die Wagschale
geworfen. Überaus eifrig beteiligte er sich am parlamentarischen Leben
und an Vereinsversammlungen und häufig trat er hierbei als Redner
auf. Seine kernigen Reden, die sich durch ein hohes Maß praktischer
Kenntnisse auszeichnen, lassen immer ein unabhängiges, sachlich begrün-
detes Urteil vernehmen.
König Ludwig ist geboren am 7. Januar 1845, steht also bereits in
vorgerücktem Alter, aber die Jahre haben ihm von seiner ausgeprägten
Persönlichkeit und Frische des Lebens nichts geraubt. Sein Großvater
König Ludwig I. hielt ihn für den begabtesten seiner Enkel und sprach die
Hoffnung aus, daß seine Nachkommen die Liebe ernten würden, die ihn
für sein Volk durchdringe. Eine sorgsame Erziehung im elterlichen Hause
bereitete ihn schon frühe für ernste Aufgaben vor. Die Erziehungsknnst
seiner fürstlichen Mutter Auguste von Toskana, einer Frau von großer
Willensstärke und tiefer Religiosität, war von dem Gedanken geleitet,
daß nicht der Stand den Menschen, sondern der Mensch den Stand zieren
müsse. Sie war das Muster einer Gattin, Mutter und Hausfrau und
pflanzte in die Herzen ihrer Kinder den Sinn für Ordnung und Spar-
samkeit, Festigkeit und Hingabe an die erwählte Aufgabe. Durch Abhär-
tung und Übung wurden sie gestählt und befähigt zu vollbringen, was
Pflicht und Stellung von ihnen verlangte. Häufig wohnte die Mutter
selbst dem von Lehrern erteilten Unterrichte bei. Den Sommer verbrachte
die Fanrilie des Prinzen Luitpold an den Gestaden des herrlichen Boden-
sees, der Gelegenheit zu Vergnügungen und Leibesübungen bot, wie sie
der Jugend ganz besonders zusagen. Und so bildete sich der junge Prinz
zu einem tüchtigen Schwimmer und mutvollen Segler aus, eine Erholung
und gesunde körperliche Bewegung, welcher zu huldigen er bis heute nicht
aufgehört hat.
Überwacht von der liebevollen Aufsicht seiner Mutter und unterrichtet
von trefflichen Lehrern und Erziehern, entwuchs der Prinz allgemach der
ersten Jugend sowie den Vorbereitungsstudien für die Universität und
wurde nunmehr in die militärischen Wissenschaften eingeführt. Vom
Herbste 1862 an bis 1866 hörte er an der Universität München philosophische,
juristische und staatswirtschaftliche Vorlesungen und legte in jener Zeit
den Grund zu seinen tiefen, umfangreichen Kenntnissen.
Im Feldzuge des Jahres 1866 diente er seinem Vater als Adjutant;
ln dem Treffen bei Helmstadt wurde er, während er die Soldaten in dichtem
Kugelregen zu tapferem Ausharren ermutigte, durch eine feindliche Kugel
schwer verwundet und mußte aus der Schlachtlinie getragen werden.
241. König Ludwig III.
507
Die eingedrungene Kugel wurde damals nicht gefunden, sie senkte sich
und steckt ihm heute noch im Beine.
In der Folge widmete sich der Prinz mehr und mehr den liebge-
wonnenen Wissenschaften und besonders der Landwirtschaft, in der er
durch unablässige persönliche Arbeit an seinem eigenen, von der Natur
keineswegs reich gesegneten Landgut in Leutstetten eine Autorität geworden
ist. Ausgedehnte Reisen, eingehend und regelmäßig betriebene Studien
haben die wissenschaftlichen Grundlagen, welche er auf der Universität ge-
wonnen, wesentlich erweitert; dadurch hat er sich auf den Gebieten, welche
den Staatsmann vor allem interessieren, wie in der Nationalökonomie, in
der Land- und Forstwirtschaft, in der Geographie und Geschichte, ins-
besonders aber in der Geschichte des bayerischen Staates uub seiner Ein-
richtungen, aber auch in Technik und Maschinenwesen ein so umfangreiches
Wissen verschafft, daß er mit Fug und Recht zu den an tüchtigem Wissen
reichsten deutschen Fürsten und Politikern zu zählen ist.
Damit hängt auch die große Schürfe und Selbständigkeit seines Ur-
teils und seiner Auffassung zusammen. Schlagworte prallen an ihm ab.
Da er das Gesamtwohl des Vaterlandes im Auge hat, ist es auch ausge-
schlossen, daß er seine Fürsorge lediglich den Anschauungen einer bestinuuten
wirtschaftlichen Richtung zuwendet. Wohl ist er beispielsweise überzeugt
von der Bedeutung und Unentbehrlichkeit der Landwirtschaft für das
Volksganze sowie von der Notwendigkeit sie zu stützen; aber er ist nicht
etwa bemüht die Wohlfahrt eines einzigen Standes auf Kosten der übrigen
zu heben, sondern hat, wie erwähnt, die Förderung des Gesamtwohles
im Auge und wägt und handelt im Sinne eines praktischen Staatsmannes.
„Ich bin wohl," sagte er im Jahre 1891 zu München, „ein großer Freund
der Landwirtschaft und übe sie selbst aus; mein Blick geht aber weiter:
ich wünsche, daß die Landwirtschaft und ebenso die Gewerbe, die Indu-
strie und der Handel gedeihen, ich wünsche, daß das Volk überall vorwärts
schreite. Und wenn diese verschiedenen Sparten ineinandergreifen ohne
sich gegenseitig zu schädigen, dann wird das Land gedeihen." Es ist be-
kannt, daß er als Prinz auf seinen vielfachen Reisen durch das Land mit
den industriellen Kreisen durch Besuch von Fabriken in innige Berührung
getreten ist, wie man auch weiß, daß er mit seinem weiten Blick und groß-
zügigen Anschauungen auf dem Gebiete des Verkehrs, des Handels und
der Industrie dem wahren Fortschritt der Zeit huldigt, ja geradezu als
ein Bahnbrecher zu betrachten ist.
Wer wüßte nicht, daß der Fürst seit Jahren die Entwicklung der Binnen-
schiffahrt in Deutschland aufs eingehendste verfolgt und daß er der Schöpfer
eines gewaltigen Kanalbauprojektes ist, das beabsichtigt Bayern in groß-
508
241. König Ludwig III.
artiger Weise in den Weltverkehr einzugliedern. Main und Donau sollen
so miteinander verbunden werden, daß die großen Seeschiffe, ohne um-
zuladen oder zu leichtern, von den Rheinhäfen Amsterdam, Rotterdanr
und Antwerpen durch Bayern hindurch bis an die Donaumündung fahren
können. Auch München und Augsburg sollen an die Donau angeschlossen
werden und die Pfalz soll den Anschluß an das elsaß-lothringische und
damit an das französische Kanalnetz erhalten. Der tatkräftige Fürst möchte
mit der Verwirklichung dieses Planes sowohl dem engeren bayerischen als
auch dem gemeinsamen deutschen Vaterlande einen wesentlichen Dienst
erweisen.
Angesichts des Umstandes, daß der Fürst sein umfassendes Wissen
in den Dienst der allgemeinen Volkswohlfahrt stellte, ernannte ihn die
Universität München schon im Jahre 1872 zum Ehrendoktor der Staats-
wissenschaften und die Technische Hochschule zu München verlieh ihm 1901
als „dem eifrigen Förderer technischer Arbeit, dem weitblickenden Vor-
kämpfer für die Entwicklung der Wasserstraßen, dem einsichtsvollen und
erfahrenen Landwirt, dem treubesorgten Hüter der wirtschaftlichen
Wohlfahrt des Volkes" die Würde eines Ehrendoktors der technischen
Wissenschaft.
Wie es der König als seine ernste Herrscherpslicht erachtet, den Hoch-
schulen des Landes stets seine besondere landesväterliche Fürsorge zuteil
werden zu lassen, ebenso ist er auch von einer mächtigen Liebe zur Kunst
beseelt und hat von jeher den regsten Anteil an ihr genommen.
„Ich müßte nicht," so äußerte er sich im Reichsrate am 22. April 1890,
„ein Sprosse des kunstsinnigen Hauses Wittelsbach sein, das überall oder
nahezu überall, wo es geherrscht — und es sind viele Länder nicht nur
in Deutschland sondern in ganz Europa, wo dies der Fall gewesen —
Spuren seiner Kunsttätigkeit hinterlassen hat; ich müßte nicht der Enkel
sein des unvergeßlichen Königs Ludwig I., des Wiedererweckers der deut-
schen Kunst; ich müßte nicht der Sohn sein des eifrigen Freundes und
Förderers der Kunst und der Künstler, Seiner Königlichen Hoheit des
Prinzregenten, wenn ich nicht mit Freuden alles begrüßen würde, was
bestimmt ist die Kunst zu fördern. Die Bedeutung der Kunst für das ganze
Leben ist nicht hoch genug anzuschlagen. Sie soll den Sinn für das Edle
und Schöne wecken. Die Kunst hat aber auch materielle Vorteile
für das Land, besonders für die Stadt". Und ein andres Mal sprach
der kunstliebende Fürst den Wunsch aus, daß sie „das ganze Leben des
Volkes durchdringen möge, daß sie Eigentum des ganzen Volkes werde".
Welch hohe Wertschätzung und Liebe der König von jeher für
die Armee bekundet hat, ist überall bekannt. Er benutzte jede Gelegenheit
241. König Ludwig III.
509
um sein wärmstes Interesse für sie zum Ausdmck zu bringen. So
sprach er in Würzburg 1902 die denkwürdigen Worte: „Es gibt wohl nie-
manden, der so sehr wünscht wie ich, daß der Frieden erhalten bleiben
möge. Aber das steht leider nicht in meiner Macht noch in der von uns
allen hier. Was wir tun können, ist, daß wir wie in den letzten Dezennien
bestrebt sind, das Heer aus eine Stufe zu bringen und zu erhalten, daß jeder
Fremde sich besinnen wird Deutschland ohne Not anzugreifen." Jns-
besonders wendet er auch der kräftig aufblühenden vaterländischen See-
wehr das lebendigste Interesse zu.
Wie sehr der König an seinem Heimatlande Bayern hängt, beweisen
seine Worte, die er im Jahre 1892 in Würzburg sprach: „Es soll mein
volles und ganzes Bestreben sein — in welcher Stellung ich mich auch
immer befinden möge — daß Bayern, unser liebes Vaterland, fortfahre
zu blühen und zu gedeihen." Bei jeder Gelegenheit wies er auf das innige
Band hin, welches das bayerijche Volk mit dem Hause Wittelsbach ver-
bindet.
Doch über dieser Anhänglichkeit zu der engeren Heimat vergißt
er nicht die Liebe zum großen deutschen Vaterland. Was sein von
ihm hochverehrter Großvater König Ludwig I. an der Spitze seines
Testamentes geschrieben: „Meine Söhne, seid deutsch, deutsch in
Wort und Tat, unzertrennlich haltet an Deutschland!" das ist auch
ihm, dem Enkel jenes großen Königs, den er sich zum Vorbild ge-
nommen, ein HeiligesVermächtnis. Der Reichsgedanke ist dem Herrscher
in Fleisch und Blut übergegangen; sein unbedingtes Bekenntnis zum
Reiche kam z. B. in der von ganz Deutschland mit Begeisterung auf-
genommenen Begrüßungsrede, welche er beim 7. deutschen Turnfeste
zu München im Jahre 1889 hielt, zum offenen Ausdruck, indem er
es als unsere Aufgabe bezeichnete, „treu festzuhalten an Kaiser und
Reich und einig zu bleiben".
Das schöne Familienleben des Königs ist nach allen Seiten ein
vorbildliches. Seit 1868 ist er mit der hochgebildeten und kunstsinnigen
Prinzessin Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich-Este, vermählt.
Wie die hohe Fürstin, ausgezeichnet durch ihre Einfachheit, in treuer Liebe
und Hingabe an ihre zahlreiche Familie aufgeht, so ist sie auch in edel-
sinniger Weise bemüht fremde Not und Sorge zu lindern. Und wo es
gilt öffentliche Wohltätigkeitsunternehmungen zu fördern, da war sie von
jeher zu großen Opfern bereit. Mit lebhaftem Interesse nimmt sie an den
Bestrebungen vieler Wohltätigkeitsanstalten teil und unterstützt sie mit
Rat und Tat.
Nach Reidelbach.
510
242. Deutsche Worte.
242. Deutsche Worte.
Von allen Ländern in der Welt
Das deutsche mir am besten gefällt,
Es tränst von Gottes Segen;
Es hat nicht Gold noch Edelstein,
Doch Männer hat es, Korn und Weilt
Ultd Eisen allerwegen.
Von allen Sprachen in der Welt
Die deutsche mir am besten gefällt,
Ist freilich nicht von Seiden;
Doch wo das Herz zum Herzen spricht,
Ihr nimmermehr das Wort gebricht,
In Freuden und in Leiden.
Von allen Freunden in der Welt
Der deutsche mir an: besten gefällt,
Von Schale wie von Kerne:
Die Stirne kalt, der Bitsen warm,
Wie Blitz zur Hilfe Hand und Arm
Und Trost im Augensterne.
Von allen Sitten in der Welt
Die deutsche mir am besten gefällt,
Ist eine feine Sitte,
Gesund an Leib und Geist und Herz,
Zur rechten Stunde Ernst und Scherz
Und Becher in der Mitte!
Es lebe die gesamte Welt!
Dem Deutschen Deutsch am besten gefällt;
Er hält sich selbst in Ehren
Und läßt den Nachbar links und rechts,
Wes Landes, Glaubens und Geschlechts,
Nach Herzenslust gewähren.
Lübeck.
Uns knüpft der Sprache heilig Band.
Uns knüpft ein Gott, ein Vaterland,
Ein treues, deutsches Blut. Körn«.
O Muttersprache, reichste aller Zungen,
Wie Leuzwiud schmeichelnd, stark wie Wetterdröhnen,
In deren dreimal benedeiten Tönen
Zuerst erfrischt das Wort des Herrn erklungen;
Mit eisernen Banden hältst du uns umschlungen.
Geibel.
Wo deutsche Sprache waltet,
Da ist auch deutsches Land
Und Deutschlands Zepter kommet
In keines Fremdlings Hand. fr.
Was die Deutschen erreicht, haben sie nur durch harte, aus-
dauernde Arbeit errungen. So war es und so wird es immer sein.
Alle Hoffnungen des Deutschen Reiches ruhen auf der Kraft und
Tüchtigkeit des Volkes und darauf allein. v. Gi-sebrecht.
Anhang
1. Die Kaiidrverkskammern.
Da der einzelne Handwerker zu schwach ist seine Interessen im wirt-
schaftlichen Kampfe gegenüber den anderen Erwerbsständen wirksam zu ver-
treten, so haben sich von jeher Vereinigungen von Handwerkern gebildet,
welche es sich zur Aufgabe gemacht haben die Interessen ihres Standes zu
wahren. So schlossen sich bereits im 12. Jahrhundert die Handwerker zu
Zünften zusammen, die im 14. und 15. Jahrhundert sich zu schöner Blüte
entfalteten. Allmählich aber trat ein Verfall der Zünfte ein, bis durch die Ein-
führung der Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert mit dem Zunftwesen überhaupt
aufgeräumt wurde. Von da an begann die Zeit der freien Entfaltung der
Kräfte; es waren in erster Linie die Gewerbekammern und die Gewerbe-
vereine sowie später die Innungen und andere Verbände, welche die Ver-
tretung des Handwerks in die Hand nahmen. Allein die Handwerker waren
mit diesen Vertretungen nicht zufrieden und es ist ihren unermüdlichen
Bestrebungen in der neuesten Zeit gelungen, auch eine auf reichsgesetzlicher
Grundlage beruhende Organisation zu erhalten. Es wurde nämlich durch
das sogenannte Handwerkerorganisations-Gesetz vom 26. Juli 1897 bestimmt,
daß zur Vertretung der Interessen des Handwerks eines bestimmten Bezirks
Handwerkskammern zu errichten sind.
Die Handwerkskammern sind aus gewählten Vertretern des Hand-
werks zusammengesetzte Körperschaften, welche die Aufgabe haben die Gesamt-
interessen des Handwerks und die Interessen der in ihren Bezirken lebenden
Handwerker gegenüber der Gesetzgebung und der Verwaltung des Staates
zu vertreten. Dies geschieht sowohl durch Erstattung der von den Staats-
behörden einzuholenden Gutachten als auch durch eigene Anregungen. So-
dann haben die Handwerkskammern als Selbstverwaltungsorgane die Aufgabe,
diejenigen zur Regelung der Verhältnisse des Handwerks erlassenen Be-
stimmungen, welche noch einer Ergänzung durch Einzelvorschriften bedürftig
sind, für ihre Bezirke weiter auszubauen, die Durchführung der gesetzlichen
und der von ihnen selbst erlassenen Vorschriften in ihren Bezirken zu regeln
und, soweit erforderlich, durch besondere Beauftragte zu überwachen, endlich
solche auf die Förderung des Handwerks abzielenden Veranstaltungen zu
treffen, zu deren Begründung und Unterhaltung die Kräfte der örtlichen
Organisation nicht ausreichen.
Durch das erwähnte Gesetz sind der Handwerkskammer im einzelnen
insbesondere folgende Aufgaben zugewiesen: die nähere Regelung des Lehr-
lingswesens, die Überwachung der Durchführung der für das Lehrlingswesen
geltenden Vorschriften, Unterstützung der Staats- und Gemeindebehörden in der
Förderung des Handwerks durch tatsächliche Mitteilungen und Erstattung von
Gntachten über Fragen, welche die Verhältnisse des Handwerks berühren,
Stellung von Wünschen und Anträgen zur Förderung des Handwerks, Bildung
von Prüfungsausschüssen zur Abnahme der Gesellen- und Meisterprüfungen
sowie von Ausschüssen zur Verbescheidung über Beanstandungen von Be-
schlüssen der Prüfungsausschüsse; endlich hat die Handwerkskammer alljähr-
lich einen Jahresbericht über ihre die Verhältnisse des Handwerks betreffenden
Wahrnehmungen der Aufsichtsbehörde vorzulegen. Die Handwerkskammer
512 2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter dem Rechtsschutze u.s w.
soll überhaupt in allen wichtigen, die Gesamtinteressen des Handwerks oder
die Interessen einzelner Zweige desselben berührenden Angelegenheiten gehört
werden und ist befugt, der gewerblichen, technischen und sittlichen Ausbildung
der Meister, Gesellen und Lehrlinge näher zu treten sowie Fachschulen zu
errichten und zu unterstützen.
Wahlberechtigt sind die Handwerkerinnungen sowie diejenigen Gewerbe-
vereine und sonstigen gewerblichen Vereinigungen, welche mindestens zur
Hälfte ihrer Mitglieder aus Handwerkern bestehen.
Die Wahlen zu den Handwerkskammern erfolgen auf 6 Jahre, wobei
alle 3 Jahre die Hälfte der Gewählten ausscheidet, deren Wiederwahl jedoch
zulässig ist. Die Handwerkskammer kann sich bis zu einem Fünftel ihrer
Mitgliederzahl durch Zuwahl von sachverständigen Personen ergänzen
und zu ihren Verhandlungen Sachverständige mit beratender Stimme zu-
ziehen. Dieselbe ist berechtigt, aus ihrer Mitte Ausschüsse zu bilden und
mit besonderen, regelmäßigen oder vorübergehenden Aufgaben zu betrauen.
Die Bildung von Ausschüssen soll im wesentlichen dazu dienen wichtigere
Angelegenheiten, namentlich auch solche, welche die Verhältnisse einzelner
Handwerke betreffen, für die Beratung der Gesamtheit der Handwerkskammer
in engerem Kreise vorzubereiten oder auch selbstäudig zu erledigen. Von
diesen Ausschüssen der Handwerkskammern sind jedoch die Abteilungen der-
selben zu unterscheiden, welche für einzelne Teile des Handwerkskammer-
bezirkes oder für Gewerbegruppen gebildet werden.
Außerdem ist durch das Gesetz die Bildung eines Gesellenausschusses
bei der Handwerkskammer vorgeschrieben, weil die Gesellen ein berechtigtes
Interesse daran haben, in den ihre Angelegenheiten betreffenden Fragen auch
bei den Handwerkskammern gehört zu werden.
Die Errichtung einer Handwerkskammer erfolgt durch Verfügung der
Landeszentralbehörde. Diese hat auch die Verfassung der Kammer durch ein
Statut näher zu regeln. Die einzelne Handwerkskammer untersteht der
höheren Verwaltungsbehörde (Kreisregierung), in deren Bezirk sie ihren Sitz
hat. Die Handwerkskammern sind auch befugt, Zuwiderhandlungen gegen
die von ihnen erlassenen Vorschriften mit Geldstrafen bis zu 20 Mark zu
bedrohen. Die Festsetzung der Strafe erfolgt jedoch nicht durch die Hand-
werkskammer selbst, sondern auf Antrag ihres Vorstandes durch die untere
Verwaltungsbehörde (Bezirksamt oder Stadtmagistrat).
Wenn die Handwerkskammern segensreich wirken wollen, dürfen sie bei
Verfolgung ihrer Sonderinteressen auch das Wohl der übrigen Erwerbsstände
wie des Staates überhaupt nicht aus dem Auge lassen, da nur durch ein
gedeihliches Zusammenwirken aller Erwerbs- und Berufsstände der Staat
selbst gedeihen kann. Kemmer.
2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter dem Wechtsschuße
vor dem Gewerbegerichte.
In weiser Fürsorge sind zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Gewerbegerichte ausgestellt. In der
Regel wird für den Bezirk einer Gemeinde ein Gewerbegericht errichtet; doch
können sich auch mehrere Gemeinden zur Errichtung eines gemeinsamen
Gewerbegerichts vereinigen. Vor Errichtung sind sowohl Arbeitgeber und
2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter dem Rechtsschutze u.s.w. 513
Arbeiter der hauptsächlichen Gewerbezweige und Fabrikbetriebe in entsprechender
Anzahl zu hören und kann auf deren Antrag die Errichtung eines Gewerbe-
gerichts durch das Kgl. Staatsministerium des Innern verfügt werden. Das
Gewerbegericht ist zusammengesetzt aus einem Vorsitzenden, aus Beisitzern
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und aus einem Gerichtsschreiber. Der
Vorsitzende wird von der Gemeinde gewählt und von der Kgl. Regierung
bestätigt; die Beisitzer gehen aus der Wahl je der Arbeitgeber und Arbeiter
hervor; der Gerichtsschreiber wird von der Gemeinde aufgestellt. Die Zu-
ziehung der Beisitzer ist nur nötig bei Zeugenvernehmungen und anderen
Beweisaufnahmen, wie Anhörung von Sachverständigen und Vornahme
von Ortsbesichtigungen sowie insbesondere bei Urteilsfällungen. Mit wenigen
Ausnahmen werden die Streitfälle zunächst vor dem einfach besetzten
Gewerbegerichte (Vorsitzender und Gerichtsschreiber) behandelt und findet die
größere Zahl derselben ihre Erledigung durch Vergleich.
Die Gewerbegerichte stehen mit den Amtsgerichten auf gleicher Stufe;
eine Berufung gegen ihre Urteile zum Kgl. Landgerichte ist aber nur in solchen
Fällen zulässig, in welchen mehr als 100 Mark eingeklagt sind.
Die Gewerbegerichte sind zuständig für Streitigkeiten:
1. über den Antritt, die Fortsetzung oder die Auflösung des Arbeits-
verhältnisses sowie über die Aushändigung oder den Inhalt
des Arbeitsbuches oder Zeugnisses;
2. über die Leistungen und Entschädigungsansprüche aus dem
Arbeitsverhältnisse und über ausbedungene Strafen;
3. über die Berechnung und Anrechnung der von den Arbeitern zu
leistenden Krankenversicherungs-Beiträge;
4. über die Ansprüche, welche auf Grund der Übernahme einer
gemeinsamen Arbeit von Arbeitern desselben Arbeitgebers gegen-
einander erhoben werden.
Überall, wo Gewerbegerichte eingeführt sind, erweisen sich dieselben,
und zwar namentlich für den Arbeiter, als eine große Wohltat, da sie für
die gewerblichen Streitigkeiten eine unparteiische, besonders schleunige und
billige, in Vergleichsfällen sogar kostenlose Rechtspflege schassen. Aber nicht
von jedem, der sich Arbeiter nennt, und nicht von jedem Arbeitgeber kann
das Gewerbegericht angerufen werden. Seine Zuständigkeit erstreckt sich vielmehr
1. nur auf diejenigen Gesellen, Gehilfen, Fabrikarbeiter und Lehr-
linge, welche sich ständig in einem gewerblichen Arbeitsverhält-
nisse befinden;
2. auf gewerbliche Betriebsbeamte, Werkmeister und mit höheren
technischen Dienstleistungen betraute Angestellte, deren Jahres-
Arbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 Mark nicht übersteigt;
3. auf die sogenannten Heimarbeiter.
In wie vielen Fällen könnten empfindliche wirtschaftliche Schädigungen
gegenseitig erspart bleiben, wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer
es vermeiden würden, bei geringem Anlasse heftig und leidenschaftlich vor-
zugehen und den Ausgangspunkt des Vorkommnisses in sofortigem Verlassen
der Arbeit beziehungsweise in Entlassung ohne Kündigung zu suchen! Die
Erfahrung hat auch gezeigt, daß die weitaus meisten vor den Gewerbe-
gerichten verhandelten Streitfälle auf den Mangel an vorheriger genauer
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 33
514 2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter dem Rechtsschutze u. s. w.
Vereinbarung und auf Unkenntnis der einfachsten gesetzlichen Bestimmungen
zurückzuführen sind.
Die Rechte und Pflichten von Lehrherrn und Lehrling sind
in § 126 der Reichsgewerbeorduung in bester Weise geregelt. Während der
ersten 4 Wochen nach Beginn der Lehrzeit kann das Lehrverhältnis durch
einseitigen Rücktritt gelöst werden. Diese Probezeit kann bis zu 3 Monaten
— aber nicht aus länger — vereinbart werden. Für das Lehrverhältnis
nach Ablauf der Probezeit gilt Vertrag und Gesetz. Der Lehrvertrag kann
mündlich und schriftlich vereinbart werden, da auch das neue Bürgerliche
Gesetzbuch für den Vertrag eine bestimmte Form nicht vorschreibt. Doch
ist die schriftliche Festsetzung des Vertrages zu empfehlen.
Die Vorschriften über das für Minderjährige vorgeschriebene
Arbeitsbuch sind in § 107 und folgende der Reichsgewerbeordnung ent-
halten und finden sich diese Vorschriften in jedem Arbeitsbuch-Exemplare
abgedruckt. Wichtig ist, daß der Arbeitgeber das Arbeitsbuch aufzubewahren
hat und dasselbe nicht herauszugeben braucht, wenn und solange das
Arbeitsverhältnis als widerrechtlich gelöst anzusehen ist; im Zweiselsfalle
hat das Gewerbegericht, wo ein solches nicht besteht, die Gemeindebehörde
oder das ordentliche Gericht zu entscheiden. Umgekehrt aber müßte der Arbeit-
geber dem Arbeiter für allen Schaden aufkommen, der diesem daraus erwächst,
daß ihm der Arbeitgeber das Arbeitsbuch nicht sofort bei ordnungs-
mäßiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses ausgehändigt hat, obwohl er
dazu verpflichtet gewesen wäre.
Bezüglich der Kündigungsfrist ist zwischen vereinbarter und der
sogenannten Deutschen Reichskündigung zu unterscheiden. Letztere
beträgt, wenn nicht etwas anderes verabredet ist, bei Gewerbsgehilfen und
Fabrikarbeitern 14 Tage, bei Betriebsbeamten, Werkmeistern, Technikern,
Chemikern 6 Wochen und muß diese letztere Kündigung 6 Wochen vor Ablauf
des Quartals erklärt werden. Die vereinbarte Kündigung kann täglich,
wöchentlich, monatlich und auf längere Zeit lauten, nur muß sie wie die
Deutsche Reichskündigung für beide Teile gleich sein. Zu einer so-
fortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses ohne Aufkündigung ist sowohl
der Arbeiter als auch der Arbeitgeber befugt, wenn bestimmte gesetzliche
Voraussetzungen zutreffen. Für die Fabrikarbeiter sind die Entlassungs-
gründe in der gesetzlich vorgeschriebenen Fabrikordnung aufgezählt.
Wer vertragsbrüchig wird, ist schadensersatzpflichtig. Der
Arbeitgeber sucht sich in der Regel durch Rückbehaltung des Lohnes zu decken;
Arbeiter oder Arbeitgeber werden klagbar; die Gegensätze werden schärfer,
da beide Teile infolge der unvermeidlichen Zeitversäumnis im Erwerbe
gehemmt sind und immer mehr zu Schaden kommen, je hartnäckiger nachher
der Prozeß geführt wird. Es sollte deswegen auf beiden Seiten zur Ver-
meidung unliebsamer Vorkommnisse neben Ordnungsliebe gleich von vorn-
herein Ruhe und Besonnenheit walten und sollte jeder Beteiligte sich stets
daran erinnern, daß im Zweifel über Recht oder Unrecht die berufenen
Organe jederzeit zur Auskunfterteilung bereit sind und es klüger ist, nach
gesunden, wohlgemeinten Ratschlägen zu handeln als zum nachherigen Schaden
auf eigene Faust vorzugehen. Günther.
3. Geschichte der Metallarbeiter.
515
3. Geschichte der Metallarbeiter.
1. Der Eisenschmied.
Ohne Eisen gibt es heutzutage kein Brot und keinen Genuß, keinen
Frieden und keinen Krieg, keinen Handel und Wandel in der Welt. Darum
ist der Eisenarbeiter der erste und wohl älteste Handwerker unserer Erde.
Die Kenntnis des Eisens, seiner Eigenschaften und seiner Bearbeitungs-
fähigkeit reicht weit bis in die uns unbekannten Zeiten vor der Sintflut
hinauf. Dahin deutet schon eine Stelle im 1. Buche Moses. Alte griechische
Schriftsteller sagen uns, daß es eine Zeit gegeben habe, in welcher die Welt
des Gebrauches der Metalle beraubt war. Dies war jedenfalls die Zeit nach
der Sintflut und die Völker, welche zuerst wieder Feldbau und handwerk-
liche Beschäftigung betrieben, haben die Kunst der Metallbearbeitung neu er-
finden müssen. Sicher gab es eine Zeit, in welcher die Menschen keine
eisernen, auch keine metallenen Werkzeuge gehabt haben. Man findet aus
jener Zeit Hämmer, Meißel und Messer von Stein. Aber auch unter den
metallenen Werkzeugen und Gegenständen waren die eisernen nicht die ersten.
Bei den Ägyptern finden wir fast alle Werkzeuge aus Kupfer oder Bronze,
und selbst als sie das Eisen kannten, haben sie Kupfer noch lange zu allen
möglichen Dingen angewendet. Sie hatten es aber allerdings gelernt das-
selbe stahlhart zu machen. So finden wir denn bei den alten Ägyptern
sämtliche Werkzeuge, als Äxte, Hobel, Säge, Bohrer, ferner die Waffen und
daun alle Gerätschaften, die zum Nutzen wie zum Vergnügen dienten, aus
Bronze. Später verwendeten sie auch Eisen zu Werkzeugen, wie zu Äxten,
Meißeln, Hacken, aber man findet sie selten. Die Erze gewannen sie auf
eine sehr unbequeme, umständliche Art, indem sie dieselben in Mörsern mit
der Hand zu gröblichem Pulver zerstießen. Dieses zermahlten sie auf Hand-
mühlen so fein, daß das Schlämmen oder Waschen möglich wurde.
Eine gleiche Geschichte hat das Eisen bei den Griechen. Auch hier tritt
das Eisen nach der Bronze auf. Sie gebrauchten es zu Hämmern, Äxten,
Sägen, Schaufeln, Schlössern u. dgl. Den Stahl kannte schon der alte
Homer und wie er dadurch bereitet wurde, daß man glühendes Eisen schnell
in Wasser ablöschte. Am südlichen Ufer des Schwarzen Meeres gab es eine
Völkerschaft, welche in Verfertigung von Stahl und Eisen besonders erfahren
gewesen sein soll. Endlich erzählt uns Aristoteles, daß die Griechen es ver-
standen haben Eisen flüssig zu machen und zu schmiedbarem Eisen zu ver-
arbeiten.
Auch bei den Römern war anfangs die Bronze das vorherrschende Metall.
Mit ehernen Waffen haben sie ihre Weltherrschaft gegründet und die Bronze
nicht nur zu Zimmergeräten und Küchengeschirren aller Art sondern auch
zu Türpfosten, Schwellen und Säulenkapitälen verwendet. Doch später tritt
auch bei den Römern das Eisen mehr in den Vordergrund. Die spätere
Bewaffnung der Legionen war von Eisen. Man hatte auch eiserne Hämmer,
Äxte, Beile, Meißel, Sägen, Bohrer u. s. w. Sie lernten den orientalischen
Stahl kennen, den sie auch nachzuahmen verstanden. Die Römer wußten
die verschiedenen Eisenerze zu würdigen, aber die Behandlung derselben war
wie bei den Ägyptern.
33*
516
3. Geschichte der Metallarbeiter.
Das eigentliche eiserne Zeitalter beginnt erst, als die Germanen auf den
Schauplatz der Geschichte traten. Zwar ging auch hier diesem eisernen
Zeitalter das steinerne und bronzene vorher. Wir finden im Boden bronzene
Schwerter, Spangen und Schmucksachen, welche, teils geschmiedet teils ge-
gossen, von trefflicher kunstreicher Arbeit sind. Tacitus berichtet uns, daß
die Deutschen Eisen gegraben hätten. Als die Franken im 5. Jahrhundert
mitten in Europa ihre Herrschaft gründeten, war Eisen das vorherrschende
Metall. Schon im 7. Jahrhundert werden Eisenbergwerke in Böhmen und
Mahren erwähnt. Bei der Teilung des Reiches Karls des Großen
(817) wird der Bergwerke des Reiches ausdrücklich gedacht. Im 10. und
12. Jahrhundert zeigen sich Berg- und Eisenhüttenwerke in den Ardennen
und in den Niederlanden, im 12. und 13. in Bayern und Österreich, in
Ungarn, Spanien und besonders in Schweden. Aus Schweden wurde durch
die Hansa das sogenannte „Osemund", ein auf besondere Art gefrischtes,
sehr gutes Eisen, in die südlicher gelegenen Länder eingeführt. Die Sage
erzählt uns von tüchtigen Meistern in der Schmiedekunst, wie z. B. vom
Schmied Wieland. Wenn die Deutschen alles Handwerk verachteten, so war
das Schmiedehandwerk das einzige, das sie eines freien Mannes für würdig
hielten, so daß sie ihre Waffen selbst zu verfertigen sich nicht schämten. Die
Wörter aus dem Schmiedehandwerk sind alle deutsch, wie Haarn (Hammer),
Zanka (Zange), Anapoz (Amboß), Fil (Feile), Nagal (Nagel), Zuek (Zwecke).
Der Mord eines Eisenschmieds wurde bei den Saliern mit 25, bei den Ale-
manen und Burgundern mit 40 Solidi Z gebüßt. Die Entwendung einer
Pflugschar bestrafte man bei einem Freien damit, daß man zwei Ochsen
nebst ihrem Geschirr und einem vollständigen Pstnge als Buße verlangte.
Unter Karl dem Großen werden als eine besondere Abart von Eisenschmieden
die „Schilderen" oder Schildmacher genannt. Es ist dies wohl das erste
Beispiel einer Trennung des Gewerks.
Auf den Meierhösen Karls des Großen finden wir von Eisenarbeiten kleine
und große Sicheln, Äxte, Hacken, Beile, Schnittmesser, Ziehlinge, Spinde-
hobel, Bohrer und mit Eisen behauene Schaufeln und Spaten; Wagen und
Pflüge gab es aber nicht. Von den genannten wirtschaftlichen Gegenständen
finden sich nur wenige vor, ein Beweis, daß Eisen damals noch kostbar war.
Die Eisenschmiede waren noch lange nach Karl dem Großen Leibeigene
und Hörige.
War einer von den beschäftigten Leibeigenen besonders geschickt und ver-
stand es die Arbeiten zu leiten, so wurde er unter Gewährung verschiedener
Vorteile zum Aufseher der in seinem Fache arbeitenden Knechte ernannt; er
wurde Magister, aus welchem lateinischen Worte sich später das Wort Meister
bildete.
Das wesentlichste Moment für die freiere Entfaltung der Eisenschmiede
war das Entstehen der Städte und des Bürgertums. Die zahlreichen Fehden
und Kriege trugen dazu nicht unwesentlich bei. Bald ging aus den Eisenschmieden
ein weiteres Gewerbe hervor, die Waffenschmiede, welche wieder in mehrere
Unterabteilungen zerfielen. In vielen Städten traten sie zu Gesellschaften
zusammen, anfänglich wahrscheinlich zu rein gewerblichen Zwecken, später
0 Eine zweiseitig geprägte Goldmünze, an Wert — 9 Mark.
3. Geschichte der Metallarbeiter. 517
bildeten sich Bündnisse zu Schutz und Trutz aus, es entstauden die Zünfte,
Gilden, Innungen.
1104 finden wir Schwertfegerwerkstatten in Magdeburg, Straßburg und
Regensburg, besonders aber in den Niederlanden, in welchen Brustharnische,
Schilde, Helme, Eisenhüte und Eisenplatten verfertigt wurden. Als aber im
14. Jahrhundert die Plattenharnische aufkamen, worin die Ritter vom Scheitel
bis zur Zehe gehüllt waren, da waren es die Plattner oder Panzermacher,
die ihre Kunst zu einer bewunderungswürdigen Ausbildung brachten.
Aber auch in den Zeiten des Friedens schwang sich das Eisenschmiede-
gewerbe zu immer größerer Bedeutung und Kunstfertigkeit empor. Es teilte
sich in eine Menge von verschiedenen Gewerbszweigen, deren Arbeiten das
Leben immer bequemer machten. Einige von ihnen, wie das Schlosserge-
werbe, erhoben sich sogar in das Gebiet der Kunst. Im Laufe des Mittel-
alters treten nach und nach hervor die Zünfte der Schlosser, der Großuhr-
macher, der Kleinuhrmacher, Zirkelschmiede, Sporer, Windenmacher, Nagel-
schmiede, Feilenhauer, Bohrschmiede, der Beilmacher und Ringschmiede, der
Messerschmiede, Sägeschmiede, Klempner, Drahtbinder und Löffelschmiede. In
den letzten Jahrhunderten des Mittelalters verfertigte man besonders in den
Städten Regensburg, Augsburg und Nürnberg eine große Menge Metall-
arbeiten jeder Art, so daß sie die Grundlage eines weitverbreiteten Handels
abgaben. In Nürnberg gab es auch die ersten Drahtzieher (1360), die
ersten Nadler (1370) und Fingerhuter (1373), früh treffen wir in derselben
Stadt Sensenschmiede (1298), Drahtschmiede (1321), Blechschmiede (1328).
Nach der Rolle (Urkunde) von 1533, werden in Stettin als zu einem
Amte verbunden aufgeführt Grobschmiede, Kleinschmiede, Schwertseger,
Messerschmiede, Nagelschmiede, Kupferschmiede, Panzermacher und Grappen-
gießer.Z Die Mitglieder eines Werkes (Innung) bezeichnen sich selbst als
Werkesbrüder oder Amtsbrüder. 1624 scheiden die Kupferschmiede aus und
stiften zusammen mit ihren Genossen in anderen Orten eine besondere zunft-
artige Vereinigung, deren Vorort Stettin sein sollte. Wenig später erfährt
das Amt der Schmiede eine neue Erweiterung durch das Hinzutreten der
Büchsenmacher, Uhrmacher, Kreuzenschmiede, Bohrschmiede und Kurzmesser-
arbeiter.
Die Huf- und Wagenschmiede hatten laut einem alten Kohlenbriefe
allein das Recht Kohlen zu kaufen und Handel damit zu treiben. Gold-
schmiede, Schlosser, alle Professionisten und Privatleute mußten ihnen die
Kohlen abkaufen. 1593 entstand zwischen ihnen und den Goldschmieden
deshalb Streit, der zu Gunsten der Huf- und Waffenschmiede entschieden wurde,
nur mußten sie von den ankommenden Kohlen den 6. Korb ohne Gewinn
an die Goldschmiede verkaufen.
Eine ganze Anzahl von Zünften erklärte sich bei einer bestimmten Zahl
von Meistern für geschlossen, d. h. es durfte kein weiterer Meister mehr auf-
genommen werden.
Das Eisenschmiedegewerk war im Mittelalter also viel weiter gekommen
als im Altertum und besonders durch deutschen Fleiß und deutsche Kunst.
') Grappe (ital. gráppo, gráppolo; verwandt mit grappa, Haken, Klammer,
vom althochdeutschen krapfo, Krapfen, Haken) der Traubenkamm zur Weinlese.
518
3. Geschichte der Metallarbeiter.
Und nun hat es bis auf unsere Tage herauf nach jeder Richtung hin eine
Ausbildung erhalten, die zuletzt ins Außerordentliche, Bewunderungswürdige
überging. Die Eisenwerke haben sich nicht nur überall vermehrt, sondern es
wurde auch die Kunst, Eisenerz aus den Tiefen der Erde zu gewinnen und
dasselbe in gutes Eisen darzustellen, durch Mechanik und Chemie zur größten
Vollkommenheit gebracht.
Das uralte Pochen in Mörsern hatte sich bis ins 16. Jahrhundert
fortgeerbt, bis endlich Paul Grommestetter, aus Schwarz gebürtig, das erste
nasse Pochwerk erfand und es 1519 in Joachimsthal anlegte. Ebenso wurde
das Schmelzen verbessert; es geschah nicht mehr in Rennfeuern, sondern in
Hochöfen. Das Bergbauwesen, das bisher nur nach zufälligen Ergebnissen
der Erfahrung betrieben worden war, wurde auf bestimmte wissenschaftliche
Gesetze gegründet. Dies geschah besonders in Freiberg i. S. Hier wurde
1765 eine Bergakademie gegründet, welche fortan die Lehrmeisterin des Berg-
bauwesens für Europa, ja für die Welt war. Das Schmelzen des Eisens
erfolgte nun mit Steinkohlen und die Eisenproduktion erhielt eine ungeheure
Ausdehnung. Die Kunst das Eisen darzustellen und zu verarbeiten nahm
mit Hilfe der Mechanik und Chemie ebenfalls zu. Das gesamte Eisen teilt
man in Roh- oder Gußeisen und in Stab- oder Schmiedeeisen ein. Vor-
züglich waren die Fortschritte in der Stahlfabrikation. Das Verfahren,
Stabeisen dadurch in Stahl zu verwandeln, daß man es in anderes ge-
schmolzenes Eisen eintaucht, ist wohl schon eine mittelalterliche Erfindung
gewesen. Nun aber wurde der Zementstahl oder Brennstahl erfunden und
dann von Huntzmann in Sheffield 1740 der Gußstahl. Man lernte denselben
durch Schweißen zu verstählen, Stahl damaszierenZ, d. h. flammig ätzen
oder mit eingelegtem Gold oder Silber verzieren (Degenklingen), und endlich
gegossenes Eisen zu schmieden und zu löten. Viele Gegenstände, welche sonst
aus Eisen verfertigt wurden, machte man nun ganz oder teilweise von Stahl.
Ferner erfand man Eisen zu Blech zu walzen, anstatt zu schmieden, das
Blech zu verzinnen und zu moirieren, d. h. schöne, glänzende Farben darauf
hervorbringen, Eisen in Draht zu ziehen und Eisen zu gießen. Das Eisen
zu gießen war im Altertum und dem größten Teile des Mittelalters gar
nicht bekannt. Lange waren diese Erzeugnisse roh und kunstlos und be-
standen fast nur in Kanonen, Kugeln, Ofen, Töpfen u. s. w. Jetzt ist aber
diese Kunst soweit gefördert, daß die mannigfaltigsten Gegenstände gegossen
werden.
Das gesamte Eisenschmiedegewerbe ist durch größeren Reichtum des
Materials, bessere Darstellung desselben immer ansehnlicher und verzweigter
geworden. Neue Zeiterscheinungen, die Umgestaltung des Kriegswesens, die
Einführung der Personenwagen, verlangten eine erhöhte Tätigkeit von ihm.
Nun trat dem Schmiedegewerbe das Maschinenwesen zur Seite. Durch eine
Maschine konnte man die Riesenkraft des Dampfes nach Belieben regieren.
Und zu gleicher Zeit wurden nach und nach eine Menge Maschinen erfunden,
welche die Arbeit des Menschen mit tausendfältig vermehrter Kraft über-
nahmen, so daß sie nicht nur hämmerten, sägten, bohrten, feilten, drehten,
schnitten sondern Gegenstände, wie Nadeln, Ketten, Schrauben, Bänder u.dgl.,
*) v. damasquine, nach einem in Damaskus erfundenen Verfahren.
3. Geschichte der Metallarbeiter.
519
verfertigten, was sonst nur durch Menschenhände möglich gewesen war.
Dadurch hat sich nun auch aus dem bisherigen Eisenschmiedegewerbe ein
neuer Zweig herausgebildet, der Maschinenbauer und der Maschinenarbeiter.
Trotzdem die Maschinen aber so viele Menschenarbeit übernahmen, ist doch
das Schmiedegewerbe in bedeutendem Umfange erhalten geblieben, ja es ist
noch ein neues Gewerbe hinzugekommen, das eine große Anzahl von Menschen
beschäftigt, nämlich die Anfertigung von Stahlfedern.
2. Der Grob- und Hufschmied und der Wagner.
a) Die Grob- und Hufschmiede arbeiten an der Esse, auf dem Amboß
mit Hammer und Zange. Sie verfertigen vorzüglich die Geräte, die zur
Landwirtschaft nötig sind: Pflug, Spaten, Hacke, Harke, Schaufeln, Gabeln,
Sicheln und Sensen. Sie haben vor Jahrtausenden ebenso gearbeitet wie
heute.
Von Schmiedearbeiten finden wir bei den Ägyptern vor allen den Pflug,
kleine Handpflüge und große, welch letztere von Ochsen gezogen wurden.
Der Handpflug bestand aus einem kurzen, hölzernen Stabe, an welchem in
einem Winkel ein ungefähr 1 m langes gekrümmtes Holz mit dem starken
Ende angebunden war. Von der Mitte des Stabes ging ein Strick nach
dem krummen Holze, der demselben mehr Festigkeit verlieh. Die großen
schweren Pflüge hatten dieselbe Form, waren aber auch öfters mit zwei Pflug-
scharen versehen, die parallel nebeneinander standen und an einer Deichsel be-
festigt waren. Der Pflug war schon zu Josephs Zeiten in Ägypten bekannt.
Er war ohne Räder, man konnte damit den Erdboden nur aufschneiden, aber
keineswegs die Ackerkrume umwenden.
Der Hammer, ein Produkt des Schmiedes, hatte bei ihnen in vielen
Dingen eine symbolische Bedeutung. Es muß der Hammer eins der ersten
Instrumente gewesen sein, deren sich die Menschen bedient haben. Hammer-
schläge auf einen aufgehangenen Schild riefen das Volk zur Versammlung in
die heiligen Haine; mit drei Hammerschlägen wurden die Sitzungen der,
Handwerker eröffnet; durch einen Wurf mit dem Hammer wurde das Recht
auf Grund und Boden, Wasser und Flüsse bestimmt, mit ihm wurde
der Becher und die Braut geweiht. Noch heute wird bei öffentlichen Ver-
steigerungen der Zuschlag auf ein Gebot mit dem Hammer bewirkt. Ackerbau
wurde von den Deutschen so eifrig getrieben, daß gegen Ende des Mittel-
alters ganz Deutschland herrlich angebaut war. Demnach war der Pflug
stüh notwendig und sehr geschätzt. Die ersten Pflüge waren noch Hand-
pflüge, Räder hatten sie erst später, aber auch die räderlosen konnten mit
Rindern bespannt werden.
Hufschmiede hat es im ganzen Altertume nicht gegeben, weil man die
Pferde noch nicht zu beschlagen pflegte, sondern ihnen höchstens eine Art
Schuhe anzog. Sollten die Pferde Schuhe anbekommen, so zog jeder Reiter
seinem Pferde dieselben an. Die jetzt gebräuchlichen aufgenagelten Hufeisen
kannte man noch nicht. Erst um das Jahr 1000 kamen sie auf.
1038 holte ein reicher Fürst seine Braut ab, dabei war sein Gefolge so
prächtig geschmückt, daß die Pferde mit Silber beschlagen waren, selbst die
Hufnägel waren von gleichem Metall. Von jetzt ab häufen sich die Beweise
520
8. Geschichte der Metallarbeiter.
Vom Vorhandensein des Hufbeschlages und im 12. Jahrhundert gab es in
Mailand bereits eine öffentliche Taxe für den Hufbeschlag. Später hatte
jedes Dorf einen Grob- und Hufschmied. Das deutsche Hufeisen mit Griff,
Stollen und Feder oder Klappe mag wohl zuerst weder Stollen noch Griff
gehabt haben, aber der unsichere Tritt, den die Pferde dadurch erhielten,
nötigte zu diesen Vorrichtungen. Es mag langer Proben und Beobachtungen
seitens aufmerksamer Schmiede bedurft haben, um das rechte Verhältnis der
Größe, Form und Schwere der Hufeisen, wie sie eine jede Pferderasse und
der Boden eines jeden Landes bedingen, ausfindig zu machen, und jeder
Hufschmied weiß aus der Praxis, daß bei dem Husbeschlag sehr viele Um-
stände zu berücksichtigen sind. Entschieden ist aber das Hufeisen eine Erfindung
der Deutschen und dieses war nötig, denn der Kriegsdienst war fast nur zu
Pferd. Die Deutschen schätzten das Schmiedehandwerk von Anfang an hoch.
d) Wagen waren bei den Ägyptern nur im Kriege gebräuchlich, während sie
das Getreide und die anderen Feldfrüchte auf Eseln nach Hause schafften. Bei
den Ebräern und den Völkern des Alten Testaments finden wir Staats- und
Prachtwagen, Reisewagen, Fracht- und Gütertransportwagen und Kriegs-
wagen. Man nimmt an, daß die Wagen entstanden seien, indem man unter flache
Tafeln Rollen legte und sie fortwälzte.
Später brachte man die Achse unter solche Tafeln und an den beiden
Achsenenden kleine volle Scheiben, deren Nabe sich um die Achse bewegte.
Aus dieser einfachen Konstruktion entwickelte sich mit der Zeit das größere
Speichenrad.
Den ältesten Völkern waren schon Staats- und Prachtwagen bekannt.
Wenn wir unter Kutsche einen jeden bedeckten Wagen verstehen wollen, in
dem man mit Bequemlichkeit fahren kann, so ist ihr Alter bekannt; denn
schon das älteste römische Gesetz (454 v. Chr.) erwähnt ein Fuhrwerk (areera),
welches bedeckt war und dessen sich besonders kränkliche und schwache Per-
sonen zu bedienen pflegten. Eine spätere Erfindung war ein zweirädriger
Karren, der zuweilen mit Tüchern und Teppichen behängen gewesen zu sein
scheint. Noch später kam eine dritte Art von Kutschen bei den Römern auf,
die ein vornehmes Fuhrwerk sicher gewesen sind.
In Deutschland kamen Wagen erst spät in Gebrauch. Herren und Diener,
Männer und Frauen ritten hier auf Pferden und Maultieren und die Mönche
auf Eselinnen.
Ein- und Aufzüge großer Herren geschahen niemals im Wagen, sondern,
stets zu Pferde. Bis zum 15. Jahrhundert benutzte man die Wagen nur
zum Warentransporte, nie aber um in denselben zu fahren. Die Fracht-
wagen müssen sehr niedrig und schmal gewesen sein, da die Stadttore auch
sehr klein erscheinen. Das Wagenwesen konnte sich im Mittelalter nicht aus-
bilden, da es an geordneten Straßenverhältniffen fehlte und steinerne
Brücken höchst selten waren.
Doch fuhren die Cimbern und Teutonen mit zweirädrigen Karren in
die Ebenen Lombardiens ein, sie hatten ihre Weiber und Kinder darauf ge-
laden. Die Göttin Herda wurde in Deutschland jährlich auf einem Wagen
durch das Land gezogen. Die Wagen bestanden aus einem viereckigen
Kasten auf niedrigen Rädern, über den eine Decke zum Schutze gegen die
3. Geschichte der Metallarbeiter.
521
Witterung ausgebreitet war. Im Mittelalter erscheinen die Wagen in ver-
änderter Gestalt. Auf die ersten Personenwagen treffen wir in Frankreich.
König Ludwig der Schöne verbot den Bürgersfrauen in Paris sich der
Wagen gleich den Hofdamen zu bedienen. Der deutsche Hochmeister in
Preußen soll seine Reise in einem Hängewagen zurückgelegt haben, der mit
blauem Tuche ausgeschlagen war. Das sind die ersten Anfänge von Wagen-
federn.
1368 werden die Stellmacher als eine Zunft in Augsburg aufgeführt.
Die Stellmacher der Stadt Breslau erhielten 1439 die Freiheit Pflüge,
Wagengestelle, Achsen und Räder zu verfertigen.
Zur allgemeinen Einführung der Personenwagen führten die
Kutschen. Sie fingen an im 15. Jahrhundert sich von Ungarn aus zu ver-
breiten. Der Name Kutsche ist auch ungarisch. Es waren Personenwagen,
die am Hinterteile des Wagens in Riemen hingen und mit einem Verdeck
versehen waren.
Lange Zeit betrachtete man den Gebrauch der Kutschen als ein Vor-
zugsrecht fürstlicher Personen. Daß die Räder dieser Wagen mit eisernen
Reifen beschlagen waren, läßt sich sicher annehmen. 1631 kommt zuerst ein
„gläserner" Wagen vor. Es scheinen also bis dahin alle Kutschen nur mit
Tüchern verhangen gewesen zu sein.
Nun kommen mehr Glaswagen auf, die man auch die „kristallinen
Wägen" nannte.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Gebrauch der
Wagen bei dem niederen Adel so schlimm, daß der Herzog von Braunschweig
1588 seinen adeligen Vasallen das Kutschenfahren verbot. Allein dieses
Verbot half nichts, die Wagen wurden im 17. Jahrhundert immer allge-
meiner und auch die niederen Stände bedienten sich derselben. Das Wagen-
wesen erhielt unter Ludwig XIV. vom französischen Hofe aus einen großen
Aufschwung, der sich sofort ganz Europa mitteilte.
Zugleich kamen nach und nach Wagen von den mannigfaltigsten Formen
und Bestimmungen auf, so die Berliner Wagen, die Wiener und böhmischen
Chaisen, ferner die Jagdwagen, Kabrioletts und andere ähnliche Wagen. Im
Jahre 1680 war in Paris auch zuerst das Fiakerwesen eingerichtet worden.
Fiaker (franz. Dinare) hat seinen Namen von einem Bilde des heiligen
Fiacre Z, welches dem Hause in Paris Uns 8t. Martin, in dem der Erfinder
der Mietkutschen, ein gewisser Souvage, wohnte, als Schild diente.
Alle diese Arten von Wagen zeigten aber im allgemeinen eine sehr
schwerfällige Bauart, so prächtig sie auch sonst ausgestattet waren. Es fehlte
immer noch an guten Straßen, obgleich seit 1516 in Deutschland das Post-
wesen bestand. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurden aber in Deutsch-
land viele Kunststraßen angelegt und dieses Straßennetz ist mit der Zeit
immer verzweigter geworden.
Die Straßenpflasterung wurde auch immer allgemeiner und im 18. Jahr-
hundert gab es kaum ein deutsches Städtchen, das ungepflastert war. Mit
0 Fiacre, ein irischer Mönch aus dem 6. Jahrhundert, war der Schutzpatron
der Gärtner.
522
3. Geschichte der Metallarbeiter.
der Vermehrung und der Verbesserung der Straßen hielt nun die des Wagen-
wesens gleichen Schritt. Die ausgezeichneten Verbesserungen waren hohe
Räder und breite Radfelgen, eiserne Achsen, Hemmvorrichtungen und stählerne
Schwungfedern. Überhaupt zeigt sich nun ein leichterer, bequemerer Mechanis-
mus im ganzen Wagenbau; er wird schöner, zierlicher und geschmackvoller.
Dazu trug die Lackierkunst wesentlich bei.
Kurz, der Wagenbau erreichte eine hohe Stufe der Vollkommenheit
und vortreffliche Wagenfabriken, die mit den besten ausländischen wetteifern
können, gibt es in Altenburg, Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Gera,
Hanau, Landau, Leipzig, München und anderen Städten.
In allen mittleren und größeren Städten gibt es hinreichende Fahr-
gelegenheit, welche durch die Einführung der Straßenbahnen noch wesentlich
vermehrt wird.
Aber dieses Wagenwesen wird noch durch jenes übertroffen, das sich
auf unseren Eisenbahnen entwickelt hat. Hunderte von Reisenden werden in
einem einzigen Zuge, der oft aus 50 Wagen besteht, schnell befördert.
Unter diesen Wagen gibt es auch solche, welche kleine Salons bilden, die
mit aller Pracht und Bequemlichkeit versehen sind. Es sei hier besonders an
die Speise- und Schlafwagen erinnert.
o) Auch auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Geräte haben die Grob-
und Hufschmiede eine außerordentliche Tätigkeit entwickelt.
Die Landwirtschaft war seit dem Mittelalter der Gegenstand der Auf-
merksamkeit aller Stände, besonders auch des Adels bis zum mächtigsten
Fürsten hinauf geworden. Zunächst erfuhr das notwendigste landwirtschaft-
liche Werkzeug, der Pflug, eine Menge Verbesserungen.
Bald waren die englischen und niederländischen Pflüge wegen ihrer
leichten und zweckmäßigen Bauart berühmt.
In der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwachte auf dem Gebiete
der Landwirtschaft das Bestreben, die mühsame Arbeit dem Menschen so
viel wie möglich abzunehmen und sie auf die Maschinen zu übertragen. Zur
Verfertigung solcher Maschinen sind höchst bedeutende Fabriken entstanden,
die alle darauf bedacht sind für jede Art der Verrichtungen das nötige Werk-
gerät zu ersinnen und es so brauchbar als möglich zu gestalten. Pflüge,
Eggen, Maschinen zum Säen und Ernten, für Hof- und Scheunenarbeit u. s. f.
werden mit einer Sorgfalt und Genauigkeit ausgeführt, daß fast nichts zu
wünschen übrig bleibt.
Das uralte Gewerbe der Grob- und Hufschmiede hat sich zu einer außer-
ordentlichen Ausdehnung und Ausbildung erhoben. Es gilt hier nicht allein
die rohe Kraft der Faust sondern auch der feine, verständige Sinn. Grob-
und Hufschmiede sind in großer Anzahl durch das ganze Land verbreitet
Diesem Gewerbe ist das Maschinenwesen helfend zur Seite getreten und hat
es auf die Stufe seiner Entwicklung erhoben. Denn was ist der Arm des
kräftigsten Schmiedes gegen die Kraft einer Maschine, welche einen Hammer
von vielen Tausend Kilogramm spielend hebt und ihn in einer Minute
50—100 Schläge machen läßt? Rur so ist es möglich geworden Gegenstände
mit derselben Genauigkeit und Schärfe zu fertigen, welche man von der
Handarbeit eines geübten Schmiedes zu verlangen gewohnt ist.
3. Geschichte der Metallarbeiter.
523
Im Schmiedegewerbe ist die Ausbildung der größeren Betriebe auf
Kosten der kleineren erfolgt. Die Zahl der Hauptbetriebe zeigt daher eine
Abnahme, die Zahl der beschäftigten Personen aber eine Zunahme.
Die Herstellung von Wagenachsen, Ambossen, Hämmern, Pflugscharen,
schweren Ketten, Ofenröhren ging an die Großindustrie verloren, desgleichen
die Verfertigung von Sensen, Sicheln, Äxten, Beilen, Hacken, Schaufeln,
Spaten, Heu- und Düngergabeln.
Von dem ehemaligen großen Produktionsgebiete blieben für die Schmiede-
arbeiten der Wagenban (Lastwagen und sonstiges Fuhrwerk), der Hufbeschlag
und zahlreiche Reparaturen an eisernen Gerätschaften übrig.
Der Hufbeschlag erfordert aber heute einen besonderen Befähigungs-
nachweis, er kann nicht von allen Handwerkern ohne weiteres betrieben
werden. Der Schmied macht heute nur das Hufeisen passend und befestigt
es am Pferdefuße. Die Hufeisen werden fertig aus der Fabrik bezogen,
welche dieselben viel billiger liefert, als sie den Schmied bei eigener An-
fertigung kosten würden. Nur bei anormaler Fußgeftaltung des Pferdes
muß das Pferdeeisen besonders geschmiedet werden.
Größere Wagenfabriken haben meist ihre eigenen Werkstätten. Auch die
Wagenachseu werden fertig aus der Fabrik bezogen. Der Haupterlverb des
Schmiedes besteht in Reparaturarbeit und in Arbeiten für die Bautätigkeit.
In eiserne Baukonstruktionen und Bauarbeiten teilt er sich mit dem Schlosser,
weil beide dazu befähigt sind. Und auf dem Lande bleibt der Schmied eine
begehrte Person, auf den viele Arbeit an Wagen und den oft reparaturbe-
dürftigen landwirtschaftlichen Geräten wartet.
Eine Abgrenzung zwischen Schmied und Schlosser ist schwer; beide ver-
arbeiten Eisen und Stahl; der Schmied ist wohl das ursprüngliche Gewerbe.
Am Ende des Mittelalters unterscheidet man Grob- und Hufschmiede und
Schlosser und es wurden Arbeiten festgesetzt, die von diesen drei Gewerben
zugleich ausgeübt werden durften.
Die alten Ägypter hatten in ihren bereits wohl eingerichteten Häusern
und Zimmern Tore und Türen, die in Angeln hingen und die durch Riegel
verschlossen und mit einem einfachen Schlüssel gehoben oder zur Seite ge-
schoben werden konnten. Sie besaßen Schränke mit Flügeltüren und andere,
die mit Deckeln verschlossen wurden, worin man Kleider, Wäsche und andere
Dinge aufbewahrte. Ja, die Frauen hatten sogar verschließbare Kästchen für
ihre Schmucksachen. Bei den Griechen waren äußere Eingänge und innere
Gemächer mit Tür und Schloß verwahrt. Unter den Schlüsseln gab es eine
Art, welche einen dreizackigen Bart hatten und die lakonischen^) genannt
wurden. Noch häufiger waren die verschließbaren Schränke bei den Römern.
Die oft sehr großen Geldkisten waren' mit Metall beschlagen und mit einem
Schlosse versehen. Ebenso waren die prachtvollen Gemächer der römischen
*) Entweder haben diesen Schlüssel die Lakonier erfunden oder er ist von ibnen
3. Der Schlosser.
besonders häufig angefertigt worden.
524
3. Geschichte der Metallarbeiter.
Großen mit Türen und Schlössern versehen. Der Schlüsselbart hatte eine
große Ähnlichkeit mit unseren jetzigen Dietrichen. Sie besaßen aber auch
ganz kleine Schlüssel, die man als Fingerringe anstecken konnte. Die römischen
Schlosser müssen vortreffliche Arbeiter gewesen sein und auch sehr gutes
Werkzeug gehabt haben. Auch Vorlegeschlösser kannten sie schon, aber Schlösser
mit Schloßkasten und Feder nicht.
In Deutschland war die Schlosserkunst lange Zeit ebenso einfach wie
Haus und Hof und deren Einrichtung. Ein quer vorgelegter Balken ver-
sperrte das Öffnen der Tür. Dieses schwerfällige Sperrmittel vereinfachte
man später, indem man ein kleineres Stück Holz oder Metall, hin- und her-
schiebbar, an der Tür anbrachte und so den Riegel erfand. Der Riegel ließ
sich wohl leicht von innen, wo er angebracht war, handhaben, aber nicht von
außen. Es mußte ein Instrument erdacht werden, welches, durch eine in der
Tür angebrachte Öffnung gesteckt, den Riegel zurückschob. Hierin haben wir
den Anfang des Schlüssels. Der Schlüssel ist also älter als das Schloß.
So einfach die Schlüssel zuerst auch gewesen sein mögen, so nötigte aber
bald die Vorsicht diese Instrumente so einzurichten, daß sie nur für einen
Riegel paßten. Hierbei haben wir die ersten Anfänge des Bartes am
Schlüssel. Nach und nach erfand man kompliziertere Formen. Selten werden
wir in den früheren Jahrhunderten auf bestimmte Schlosserarbeiten hingewiesen,
wie z. B. auf die ehernen Torflügel an den Domen zu Mainz, zu Hildes-
heim (1015), zu Augsburg (1070) oder auf Reliquien- und Schmuckkästchen
und Altäre von Holz mit Mittelschrein und Nebenschreinen, die mit Flügeln
verschlossen werden konnten. Doch war das Gewerbe der Eisenarbeiter damals
noch völlig ungetrennt. Schlosser werden uns zuerst genannt in der Stadt
Nürnberg 1330, dann 1361 in Breslau und 1387 in Merseburg. Aber als
Zunft tritt uns das Gewerbe der Schlosser erst nach dem Ende des Mittelalters
entgegen, und zwar zuerst 1545 in Schmalkalden. Die Schlosser haben im
letzten Teile des Mittelalters sehr gute Leistungen zu verzeichnen. Dies be-
weisen die Schloßküsten und Beschläge, die Klopfer und Gitter, die man
heute noch an einigen Kirchtüren erblickt, z. B. in Nürnberg, Augsburg und
Freiberg. Die Schlüssel waren Rohrschlüssel; sie bestanden aus einem runden
oder drei- oder vieleckigen Rohre. Das Schloß hatte nun eben solche Dorne
oder massive Stifte, über welche das Schlüsselrohr paßte. Solche Schlüffel
trugen die Frauen des Mittelalters an ihrem Gürtel. Damit zeigten sie sich
als Herrinnen des Hauses. Die Schlosser des Mittelalters fertigten aber
nicht nur solche Arbeiten, von denen sie ihren Namen erhalten haben, sondern
auch mechanische Kunstwerke. Zu diesen zählten damals besonders die Turm-
uhren mit ihren künstlichen Räderwerken. Turmuhren kamen zuerst im
11. Jahrhundert auf und im 14. Jahrhundert wurden sie erst nach und
nach in größeren Städten eingerichtet, so in Augsburg (1364), in Breslau 1368,
in Straßburg 1370. Die Großuhrmacherkunst bildete sich besonders unter
den Schloffern au§. Ein Nürnberger Schlossermeister, Georg Heuls, hat
im Anfang des 16. Jahrhunderts das berühmte Uhrwerk in der Frauenkirche
gefertigt. Ein anderer Meister in Nürnberg, Meister Bullmann (si 1535),
fertigte um diese Zeit ein Uhrwerk, welches die Weltkörper bewegen ließ.
Dies war ein mechanisches Werk, wie bisher noch keins gesehen worden war.
Ferner erfand um 1500 Peter Henlein in Nürnberg die Taschenuhren.
3. Geschichte der Metallarbeiter.
525
Nun trat seit dieser Zeit in Nürnberg ein mechanisches Talent nach
dem andern auf. So erfand ein Nürnberger in den ersten Jahren des
16. Jahrhunderts an den Feuerbüchsen das Schloß mit Feuerstein und
stählernem Rade, eine treffliche Verbesserung für das unbequeme Luntenschloß.
Hans Ehemann wurde 1540 der Erfinder des Mahlschlosses oder Kombinations-
schlosses, welches durch seinen Mechanismus merkwürdig ist; denn es besteht
aus ineinanderhängenden Ringen, mit denen Tausende von Veränderungen
vorgenommen werden können. Es konnte nur derjenige das Schloß öffnen,
welcher die Ringe zu ordnen verstand. Derselbe Meister erfand auch noch
ein zweites Geheimschloß, das „Nürnberger Zankeisen" genannt. Von Leon-
hard Danner wurde 1550 die Brechschraube erfunden. Dies war eine kleine
Maschine, mit welcher man die stärkste Mauer zerstören und die festgeschlossensten
Türen einsprengen konnte. Nicht unerwähnt sei an dieser Stelle Schlosser-
meister Paulus Köhn in Nürnberg, der das große Gitter um den Schönen
Brunnen am Markte verfertigt hat. Heute noch erfreut sich jeder durch-
reisende Schlossergeselle an der daran befindlichen kunstvollen Arbeit. Michael
Mang (ch um 1630) fertigte eiserne Kassen, kleine Truhen mit künstlichem
Schloß und Riegelwerk. Bartholomäus Hoppert (geb. 1668) erfand ein künst-
liches Schloßwerk, welches man nur mit Hilfe mehrerer Schlüssel öffnen konnte.
Kurz, in Nürnberg herrschte ein reges Streben. Aber auch in anderen
deutschen Städten traten im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts Männer
auf, welche vortreffliche Arbeiten, wie Schlösser, Gitter, Winden, Schrauben,
Großuhren u. s. w., machten, so Christian Eckart in Augsburg (1690—1764),
Georg Beringer in Regensburg (1671—1720), Jakob Zipper in Frankfurt
(1781). An den Gitterwerken der Kirchen in Augsburg und Geislingen wie
an den im Nationalmuseum zu München aufgestellten ersieht man, wie
es dem Schlossergewerbe gelungen ist aus dem Schlossergewerbe in das
Gebiet der Kunst überzutreten. Schloß und Schlüssel wurden immer ein-
facher und schöner, dabei aber immer sicherer. Über die Erfindung des
sogenannten deutschen Schlosses fehlen alle Angaben. Dagegen soll das
sogenannte französische Schloß Meister Johann Gottfried Freitag in Gera
erfunden oder wesentlich verbessert haben. Dieses runde, dreimal schließende
Schloß fand bald allgemeinen Beifall.
Die Schlüssel zu den Schlössern wurden nun immer zierlicher. Die
Bärte schnitt man nach gewissen Linien und Schnörkeln aus und nach ihnen
mußten die Schlösser eingerichtet werden. Erfinderische Köpfe versuchten die
Herstellung von Vexierschlössern, die nur derjenige öffnen konnte, welcher
einen gewissen mit dem Riegel in Verbindung stehenden Schloßteil zu lösen
wußte. Von größerem Nutzen waren die Versuche Sicherheitsschlösser zu
verfertigen, welche sich nach gewissen Einschnitten und Handhabungen, die
nur dem Besitzer bekannt waren, öffnen ließen. Engländer und Amerikaner
suchten die Sicherheitsschlösser zu vervollkommnen und brachten es darin
ziemlich weit; sie bewiesen dies 1851 auf der Ausstellung in London. Auch
feuerfeste Geldschränke, die einem gewaltsamen Aufbrechen Widerstand leiste-
ten, waren ebenfalls auf der Londoner Ausstellung vertreten. Aber auch
Deutschland bewies, daß es in der Herstellung von Geldschränken hinter
England nicht zurückstand. Ein polierter eiserner Geldschrank wurde für das
schönste Stück der Ausstellung gehalten.
526
8. Geschichte der Metallarbeiter.
Und auf den folgenden gewerblichen Ausstellungen hat Deutschland mit
aller Energie seinen hohen Platz zu behaupten gesucht.
Auch im Schlossergewerbe ist die Ausbildung der größeren Betriebe
auf Kosten der kleineren erfolgt. Die Zahl der Hauptbetriebe nahm ab, die
Zahl der beschäftigten Personen hatte eine Zunahme.
Die Schlosserei erstreckt sich in unseren Tagen auf Bauschlosserei,
Kunstschlosserei, Maschinen- und Reparaturschlosserei.
In der Bauschlosserei werden eiserne Artikel hergestellt, die bei
einem Gebäude nötig sind: Schlösser, Schlüssel, Verankerungen, Bänder,
Drücker, Gitter, Treppengeländer, eiserne Treppen, Fenstergitter u. s. w.
Diese Artikel sind dem Schlosserhandwerk verloren gegangen; denn die
Herstellung derselben geschieht in Fabriken und ist so billig, daß sie der
Handwerker für diesen Preis nicht anfertigen kann. Die meisten der ge-
nannten Gegenstände sind in Eisenwarenhandlungen käuflich.
Zwar sind diese Produkte nicht immer dauerhaft und nur dort, wo be-
sondere Ansprüche an Haltbarkeit und Form gestellt werden, übergibt man
ihre Herstellung dem Handwerksmeister.
Ihm ist heutzutage meist nur das Anbringen aller jener Teile im Ge-
bäude geblieben. In größeren Städten gibt es Unternehmer, welche die
Teile aus Eisenhandlungen beziehen; sogenannte Anschläger (oft sogar
Tischlergesellen) führen die Anbringung aus.
Aber es gibt schon noch Gegenstände, welche für den speziellen Fall an-
gefertigt oder abgeändert werden müssen, so Treppengeländer, Anker und
verschiedene Baukonstruktionen. Es wird jetzt bei Neubauten verhältnis-
mäßig viel Eisen verwandt (schon wegen der Widerstandsfähigkeit bei Feuers-
gefahr). Aus Eisen werden auch Brücken, Bahnhofs- und Ausstellungshallen
hergestellt. Diese Arbeiten sind aber dem Kleinbetriebe verschlossen, es
fehlen ihm größere Werkstatt- und Lagerräume und vor allem das Betriebs-
kapital. Ganz aufgegeben hat der Handwerksmeister die Herstellung von
eisernen Geräten, Ofenschirmen, Kohlenschaufeln u. s. w. noch nicht, aber
meist muß er die Herstellung dieser Dinge dem Großbetriebe überlassen.
Werden nun diese Gegenstände in künstlerischer Form ausgeführt, dann
kommen wir auf das Gebiet der Kunstschlosserei. Der Sinn für diese
war besonders im 16. und 17. Jahrhundert sehr, ausgeprägt. Bis 1870
waren dann Kunstschlosserarbeiten fast nicht mehr gesucht, seit 30 Jahren
aber ist der Sinn dafür wieder erwacht und Kunstschlosserarbeiten werden
heute sehr begehrt. An Villen in jeder Stadt erblickt man künstlerisch voll-
endete Eisengitter, eiserne Fahnenstangen, Wetterhähne mit schönen Blumen
uni) sonstigen Verzierungen. In den Schaufenstern besserer Eisenwaren-
haudlungen sind Krön- und Tischleuchter, Kleiderständer, Kleiderhaken, Ofen-
schirme, Blumentische u. s. f. aus Eisen in kunstvoller Form geschmiedet
zu sehen. Kurz, die Kunstschlosserei ist sehr in Aufnahme gekommen und
erfreut sich zur Zeit einer großen Blüte.
Die beiden noch übrigbleibenden Gebiete des Schlosserproduktionsge-
bietes, Maschinenschlosserei und Reparaturschlosserei, kann man
für das Handwerk unter Reparatur zusammenfassen. In dem zünftigen
Produktionsgebiete des Schlossers waren auch die Maschinen enthalten. Im
3. Geschichte der Metallarbeiter.
527
Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich eine Maschinenindustrie ausgebildete
Das Schlossergewerbe ist das Stammgewerbe der Maschinenindustrie. Ganze
Maschinen werden aber heute selten vom Schlosser angefertigt. Sie bieten
ihm aber ein weites Feld der Tätigkeit auf dem Gebiete der Reparaturarbeit.
Denn die Zahl der Maschinen ist groß, groß aber auch die Reparaturarbett.
Jede Fabrik von nur irgend welcher Bedeutung hat eine eigene Schlosserwerkstatt.
4. Der Klingen- und Messerschmied.
Messer, Schwerter, Dolche und andere Schmiedewerkzeuge finden wir bei
allen Völkern. Zuerst waren diese Werkzeuge steinern, dann aus Bronze
und zuletzt aus Eisen. Auf Bildern der ägyptischen Grabmäler sehen wir
Männer, welche in Küchen und Schlachthäusern mit Messern arbeiten. Die
ägyptischen Krieger trugen gerade, zweischneidige Schwerter, auch Dolche und
krumme Säbel.
Die Klingen dieser Waffen hatten entweder eine grüne oder rote Farbe,
die Griffe eine gelbe. Oft waren Griff und Klinge mit eingelegter Arbeit ver-
sehen, Scheiden nicht gebräuchlich. Die Schwerter der Griechen und Römer
waren wesentlich gleich. Die römischen Legionen trugen breite, zweischneidige
Schwerter in Scheiden. Auch die Schneidewerkzeuge, die man zum häuslichen
und gewerblichen Leben brauchte, sind bei allen Völkern des Altertums
gleich. Bei Tische hatten sie weder Messer noch Gabeln. Die Speisen
wurden ganz klein zerschnitten den Gästen vorgesetzt, mit dem Löffel oder
den Fingern führte man sie zum Munde. Der Gebrauch der Messer ist un-
streitig alt. Schon in der Bibel wird ihrer Erwähnung getan. Die
Griechen scheinen einen Dolch, den sie stets bei sich trugen, als Messer
benutzt zu haben. Die Römer besaßen Messer von verschiedener Größe und
Form. Das Messer hatte auch, gleich dem Schwerte, in den Rechtsgebräuchen
der alten Zeit eine symbolische Bedeutung. So bezeichnete die Übergabe
eines Messers das Abtreten von liegenden Gütern. Bei dem Fehmgerichte
steckten die Schöffen, wenn sie einen Verbrecher im Walde aufgehängt hatten,
zum Zeichen ihres vollzogenen Urteils ein Messer in den Baum. Wer sich
im Kriege ergab, ging entweder ohne Waffe oder er faßte das Schwert an
der Spitze und reichte dem Sieger den Griff hin. Das Abgeben des Schwertes
findet heute noch statt, wenn ein Bewaffneter festgenommen wird.
So alt nun der Gebrauch der Messer ist, so neu dagegen ist der der
Gabel. Die Chinesen benutzen keine eigentlichen Gabeln. Sie haben feine
elfenbeinerne Nadeln oder Griffel, mittels welcher sie die Speisen in den
Mund bringen. Diese werden jedem Gaste vorgelegt, mit denen er das
Fleisch, überhaupt die Brocken, aus der Brühe hervorholt. Aber auch nicht
einmal dieses Hilfsmittel kannte man vor einigen Jahrhunderten in Europa,
überall bediente sich ein jeder der Finger. Italien scheint den Gebrauch der
Gabeln zuerst gekannt zu haben, und zwar in der letzten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren in Frankreich sogar bei
Hofe die Gabeln noch ganz neu, auch in Schweden waren sie in demselben
Jahrhundert noch nicht gebräuchlich. Dagegen ist das Wort Gabel von
hohem Alter, es ist wahrscheinlich von vielerlei Dingen gebraucht worden,
welche gespalten oder in zwei Zacken auslaufend waren.
528
3. Geschichte der Metallarbeiter.
Zu den Waffen der Germanen gehörte außer Keule und Axt das
Schwert; es war breit und zweischneidig und hatte die Form wie das
Schwert der griechischen Helden. Es wurde von allen Waffen am meisten
geehrt, nur der freie Mann durfte es immer an seiner Seite tragen. Die
Schwerter, welche man in Gräbern in zahlreicher Menge aufgefunden hat, sind
wahre Meisterstücke. Uralte Sagen von den Schmieden Wieland und Amilias
erzählen uns von der großen Schärfe der von ihnen angefertigten Schwerter.
Die Alemannen nannten ihr Schwert „Spada, Spate, Spatha". Die
Franken trugen das Schwert an einem um die Hüfte gehenden Gürtel, die
Goten an einem um die Schultern geworfenen Wehrgehänge. Von den
Sachsen wird erzählt, daß sie sich nach ihrem Schwerte genannt haben, da
„Sachs" das Schwert hieß. Ein solches war von beträchtlicher Länge und
Breite, zweischneidig und ohne Spitze. Es wurde mit beiden Händen gefaßt
und so der Streich mit der Kraft beider Arme auf den Feind geführt.
Die Schwerter der Ritter waren von gut gehärtetem Stahl gefertigt.
Die größten Schwerter, welche man in Rüstkammern aufbewahrt findet,
sind die sogenannten Flamberge. Sie wurden meist mit beiden Händen
regiert und hießen „Beidenhander". Die Klingen derselben sind häufig in
geschlängelter Flammenform geschmiedet. Die Turnierschwerter waren kleiner,
aber wohl eben so breit. Noch kleiner und schmaler waren die Geusen, mit
einem Rücken und etwas gebogen, mehr unserem jetzigen Säbel ähnlich.
Diejenigen, welche gerade, aber breit, gleichsam ein mit Gefäß versehenes
Stichmesser darstellten, hießen Genserich.
Die Ritter besaßen das Vorrecht ein Wappensiegel führen zu dürfen.
Um nun das Siegel immer zur Hand zu haben, ließen sie es in den Knopf
ihres Schwertes gravieren.
Die zweite Waffe, welche aus der Hand des Klingenschmiedes hervor-
ging, war der Dolch. Die Ritter trugen ihn an der rechten Seite des
Wehrgehänges in einer mehr oder weniger verzierten Scheide; er wurde auch
von Knappen und Knechten getragen. Der Griff war aus Holz, Elfenbein
oder Metall. Die berühmtesten aller Schwert- und Säbelklingen waren die
Damaszenerklingen (sie haben ihren Namen von der Stadt Damaskus). Sie
zeichneten sich durch einen sehr hellen Klang aus und waren sehr biegsam.
In den mittelalterlichen Zeiten war es allgemeiner Gebrauch geworden
Waffen zu tragen. Man erschien damit nicht nur dann öffentlich auf den
Straßen, wenn die Stadt von einem Feinde bedroht war oder der Befehl
des Rates und der Zunftmeister die Bürger unter die Waffen rief, sondern
man betrachtete sie als Zierde des Mannes und trug sie auch für unvor-
hergesehene Fälle stets bei sich. Leider machte man bei jedem kleinen Streit
von der Waffe Gebrauch.
Es wurde daher bald notwendig Gesetze gegen das Waffentragen zu
erlaffen. Das Tragen der Waffen in Friedenszeit ward im allgemeinen dem
Bürger untersagt.
Lange Messer kamen im 14. Jahrhundert aus Italien und Ungarn in
großer Menge in die Städte an der Donau. Arbeiten der Messerer (Messer-
schmiede) aus Mailand und Venedig wurden sehr geschätzt. Doch gab es in
Regensburg selbst schon früh Messerschmiede. Und aus der Zeit Karls des
3. Geschichte der Metallarbeiter.
529
Großen wird von Werkstätten der Schwertfeger berichtet. Auch in Nürnberg,
Nördlingen und Solingen gab es tüchtige Klingenschmiede. 1285 wird in
Nürnberg der Mezzerer-Messerer-Messerschmied Henricus Merndorfer als be-
sonders tüchtig genannt und 1290 waren die Messer- und Klingenschmiede
in Nürnberg ein namhaftes Handwerk. 1301 erscheinen die Messerer in
Augsburg als Zunft. Die Messer- und Klingenschmiede waren verpflichtet
ihre Zeichen in die Klingen einzuschlagen, damit der Käufer seine Rechte
geltend machen konnte. Im Jahre 1349 gab es in Nürnberg einen Streit
zwischen den Handwerkern und Adeligen um die Herrschaft in der Stadt.
Die Messerer hielten es aber mit dem Adel. Dafür wurde ihnen von Kaiser
Karl IV. eine Fastnachtsbelustigung bewilligt, die sie noch jahrhundertelang
unter dem Namen „Schönbartspiel" gefeiert haben. Allen anderen Hand-
werkern und Bewohnern Nürnbergs war jeder Fastnachtsscherz verboten *).
Es wird auch erzählt, daß von dieser Begebenheit das Wappen der Messerer
herrühre (eine Krone mit drei Schwertern im blauen Felde), welches ihnen
Karl IV. wegen ihrer bewiesenen Treue verliehen hätte.
Die Klingenschmiede scheinen eine allgemeine Verbindung aller ihrer
Handwerksgenossen im ganzen Deutschen Reiche angestrebt zu haben. Im
14. Jahrhundert bestanden bereits vier Hauptbruderschaften in Augsburg,
Basel, Heidelberg und München. Von diesen erhielten alle Streitigkeiten,
welche von den einzelnen Innungen nicht zu Ende geführt werden konnten,
ihre rechtsgültige letzte Entscheidung.
Diese alte Bruderschaft der deutschen Klingen- und Messerschmiede ist
schon lange verschwunden, dagegen erhielt ihr Gewerbe nach und nach eine
große Ausdehnung und Vervollkommnung. Sie hielten viel auf sich und
verlangten von jedem, der Meister werden wollte, ein Meisterstück. Die
Aufgaben bei dem Meisterstück waren sehr verschieden. An allen Orten
ersieht man aber aus denselben, daß Klingen- und Messerschmiede nur eine
Korporation bildeten.
Interessant ist auch die Fabrikation der Schere. Die langen Stäbe
aus Gußstahl werden in kleine Stücke für je eine Schere zerschnitten und
zugleich in diagonaler Richtung gespalten. Das so gebildete breitere Ende
soll später den Griff (Auge und Halm), das Schmale die Spitze eines
Scherenblattes bilden. Die Hämmer, unter welchen diese Teile ausge-
schmiedet werden, enthalten sogenannte „Gesenke", durch welche die spätere
Form gegeben wird. Nun trennt eine Presse das überschüssige Metall ab.
Hierauf wird das Scherenblatt befeilt, gehärtet, für die Schraube durchlocht
und in die Schleiferei gebracht. Das Schleifen der Scheren ist eine der
schwierigsten Arbeiten in der ganzen Solinger Industrie. Hand, Auge, Ohr
und Gefühl werden dabei gleichmäßig in Anspruch genommen. Die Ge-
schicklichkeit der Menschenhand kann durch keine noch so sinnreich erdachte
Maschine ersetzt werden.
Auch ein einfaches Taschenmess er ist ein ganz kompliziertes Werk-
stück. Selbst wenn es nur zwei Klingen aufweist, setzt es sich ungerechnet
0 Nur Metzger und Messerer hatten die Erlaubnis, weil beide Handwerke
auf Seite des Kaisers gestanden hatten.
Lesebuch für Gewerbl. Fortbildungsschulen. Erweiterte Ausgabe. * 34
530
3. Geschichte der Metallarbeiter.
der Schrauben und Niete aus 12 Hauptteilen zusammen: 2 Backen, 2 Schalen,
2 Federn, 2 Klingen, 1 Korkzieher und 3 „Erlen", d. s. Metallplättchen
zwischen Federn und Schalen. Die Klingen der Taschenmesser werden noch
sorgfältiger behandelt als die Klingen der Tischmesser. Der Gußstahl wird
nicht in Blöcke, sondern in flache Platten geschmiedet und gewalzt.
Schließlich sei noch der Rasiermesser gedacht, welche früher aus
englischem Stahl hergestellt wurden. Das ist jetzt anders geworden und
das ist das Verdienst der Solinger Industrie. Nur der beste Gußstahl darf
für die Klingen der Rasiermesser verwendet werden. Sie müssen dann, all-
mählich und nur kirschrot erhitzt, durch sehr sorgfältiges Schmieden den mög-
lichsten Grad von Dichtigkeit erhalten. Besondere Vorsicht ist beim Härten
und Schleifen geboten. Zuletzt erfolgt die Probe. Das Messer muß ein
lose herabhängendes Menschenhaar an einigen Stellen durchschneiden.
Die Tätigkeit der Klingen- und Messerschmiede erstreckt sich auch auf
die Verfertigung der stählernen Handwerkszeuge, wie sie die ver-
schiedenen Handwerker, Tischler, Drechsler, Glaser, Zimmerleute, Bildhauer,
Formstecher u. s. w. gebrauchen: Meißel, Grabstichel, Sägeblätter, Schnitt- und
Zugmesser, Hobeleisen, Bohrer. Auch hier kann Deutschland mit den Eng-
ländern vollkommen in Konkurrenz treten.
Auch chirurgische Instrumente werden hergestellt, wodurch das
Klingenschmiedgewerk sich in den Dienst der Wissenschaft, ja der leidenden
Menschheit stellt. Auch die feinen Wagen für wissenschaftliche Zwecke, die
mit absoluter Feinheit arbeiten, gehören hierher.
Früher waren Nogent und Paris die Hauptfabrikationsorte für diese
Instrumente, doch werden sie gegenwärtig auch in vielen deutschen Städten,
namentlich auch in München, kunstgewerbmäßig verfertigt.
So hat es ein gütiges Geschick gefügt, daß dasselbe Gewerbe, welches
die menschenmordenden Waffen fertigt, auch die Instrumente liefert, die dazu
bestimmt sind Menschenleiden zu lindern und Menschenleben zu retten.
Aus „Die Deutsche Fortbildungsschule" von Emil Schreiber.
Verzeichnis
der
namhaftesten Schriftsteller mit biographischen Notizen.
Auerbacher Ludwig, geb. 1784 in Türkheim (bayer. Schwaben), war Chor-
knabe im Kloster Diessen; 1809 wurde er Professor der deutschen Sprache
am Kadettenkorps zu München und starb 1847. Er verstand trefflich
im Volkston zu erzählen, z. B. die Abenteuer der sieben Schwaben in
seinem „Volksbüchlein".
Bodenstedt Friedrich, geb. 1819 in Hannover, war Erzieher in Moskau,
machte Reisen in Asien, wurde Redakteur verschiedener Zeitungen, 1854
Professor an der Universität in München, später Leiter der Meininger
Hofbühne; er starb 1891.
Bonn Franz, geb. 1830 in München, war im Dienste des Fürsten von
Thurn und Taxis Präsident der Domänenkammer in Regensburg.
Er hat Jugendschriften veröffentlicht unter dem Titel „Jugendlust und
-leid" und „Theaterstücke für die Jugend". Er starb 1894.
Caspari Karl Heinr., geb. 1815 zu Eschau in Unterfranken, besuchte die
Gymnasien zu Schweinfurt und Nürnberg und war Pfarrer zu Kulmbach
und München; in letzterer Stadt starb er im Jahre 1862.
Daniel Hermann, geb. 1812 zu Cöthen, wurde Professor am Pädagogium
in Halle. Er schrieb verschiedene Lehrbücher über Geographie. Er starb
1872 in Leipzig.
Eichendorff Joseph, Freiherr von, geb. 10. März 1788 in Schlesien, machte
die Befreiungskriege 1813 —1815 mit und starb 1857 zu Neiße. Er
ist einer der bedeutendsten deutschen Liederdichter.
Geibel Emanuel von, geb. 1815 zu Lübeck, war Erzieher in Athen, wurde
1852 Professor in München und gehörte zu dem Gelehrtenkreise, den
König Maximilian II. häufig bei sich sah; er starb in Lübeck 1884. Er
ist einer der beliebtesten Liederdichter der Neuzeit.
Gellert Christian Fiirchtegott, geb. 1716 in Sachsen, war Professor an der
Universität Leipzig und starb 1769. Auf die weitesten Kreise des Volkes
wirkte er durch seine einfachen, volkstümlichen Fabeln und seine geist-
lichen Lieder.
Goethe Wolfgang von, geb. 28. August 1749 zu Frankfurt a. M., lebte seit
1775 am Hofe des Herzogs Karl August in Weimar, bereiste wiederholt
die Schweiz und Italien; von 1794 an trat er mit Schiller in ein
enges Freundschaftsverhältnis und starb am 22. März 1832 in Weimar.
Goethe und Schiller werden die Dichterfürsten Deutschlands genannt.
34*
532 Verzeichnis der namhaftesten Schriftsteller mit biographischen Notizen.
Herder Johann Gottfried von, geb. 1744 zu Morungen in Ostpreußen,
wurde Hofprediger in Weimar und starb dortselbst 1803. Er ist einer
der umfastendsteu und geistvollsten Schriftsteller Deutschlands. Glänzend
zeigt sich seine dichterische Begabung in seinen Volksliedern.
Hebel Johann Peter, geb. 1760 in Basel, studierte Theologie, wurde 1605
Kirchenrat und 1819 Prälat in Karlsruhe und starb 1826 in Schwetzingen.
Er begründete seinen Ruf durch seine volkstümlichen Erzählungen sowie
durch seine „Alemannischen Gedichte".
Haushofer Max, geb. 1840 zu München, studierte Philosophie und Rechts-
wissenschaft. Seit 1868 wirkte er als Professor an der Technischen Hoch-
schule in München. Bayer. Nationalökonom. Gest. am 10. April 1907.
Heigel Karl Theodor von, geb. 23. August 1842 zu München, seit 1879 Pro-
fessor der Geschichte an der Universität seiner Vaterstadt. Er ist einer
der bedeutendsten Geschichtschreiber der Gegenwart.
Kobell Franz von, geb. 19. Juli 1803 zu München, wurde 1826 Professor
der Mineralogie (Gesteinslehre) an der Universität seiner Vaterstadt und
starb am 11. November 1882. Er ist einer der hervorragendsten Dichter
in bayerischer Mundart.
Krummacher Friedr., geb. 1767 in Westfalen; gest. als Pastor 1845 in Bremen.
Körner Theodor, geb. 1791 in Dresden, wurde Hoftheaterdichter in Wien
und fiel als Leutnant im Lützowschen Freikorps 1813. Seine Vater-
lands- und Kriegslieder haben einst die Jugend begeistert zum Kampfe
für Freiheit und Vaterland.
Lingg Hermann, geb. 1820 in Lindau, studierte Medizin; gest. am 18. Juni
1905 in München.
Pocci Franz, Graf, geb. 7. März 1807 zu München, war Zeremonienmeister,
Musikintendant und Oberstkämmerer am bayerischen Hof; er starb am
7. Mai 1876. Er war Dichter, Zeichner und Musiker.
Schiller Friedrich von, geb. 10. November 1759 zu Marbach in Württemberg,
studierte erst Rechtswissenschaft, dann Medizin, wurde 1780 Regiments-
arzt zu Stuttgart, zog sich die Ungnade des Herzogs Karl von.
Württemberg zu, weshalb er Stuttgart verließ. Im Jahre 1789 wurde
er Professor der Geschichte in Jena; 1794 trat er in freundschaftliche
Beziehungen zu Goethe, siedelte 1799 nach Weimar über, wurde 1802
geadelt und starb am 9. Mai 1805.
Simrock Karl, geb. 1802 zu Bonn; er wurde 1850 Professor der deutschen
Sprache in Bonn und starb dortselbst 1876. Er übertrug viele Meister-
werke der mittelhochdeutschen Literatur in das Neuhochdeutsche.
Walter von der Vogelweide, um 1170 in Tirol geboren, lebte an den Höfen
verschiedener deutscher Fürsten und Könige (Friedrichs II., Philipps von
Schwaben) und starb um 1230 in Würzburg. Er ist der größte und
gefeiertste unter den mittelhochdeutschen Liederdichtern.