513 ging bet Mann vorüber und Clementine taumelte, wie vom Schwindel überfallen, und die Verzweiflung zuckte auf ihrem blassen Gesichte. Doch nach einem Augenblicke ward ihr Antlitz heiterer; sie erhob sich schnell und freudig, wie wenn man Rettung sieht. „Ein Hund das Nattergift aus ihrer Wunde saugen?" sagte sie; „das wird ein Hund nicht thun; aber eine Mutter kann es, eine Mutter thut es!" und hastig zog sie ihre Tochter an sich, als ob sie von einem Abgrunde sie wegriß, und drückte die sanften Lippen auf die Wunde und sog, und sog so innig und lange, als könnte sie hundertjähriges Leben aus dieser Wunde saugen. Indem sah Antonio den Vater sich nähern, stürzte ihm ent¬ gegen und erzählte ihm, was geschehen war und was die Mutter jetzt thue. Vor Entsetzen erbleichte der junge Mann und wankte und hielt sich an dem nächsten Baume. „Was machst du, Vater? rief der Knabe und sprang auf ihn zu, als wollte er ihm helfen; aber noch ehe er ihn umfaßte, bebte er wieder zurück vor einer todten Schlange, die er jetzt an des Vaters Stab gewunden erblickte, und stammelte: „Ach, die Nat¬ ter war es, ja, so eine Natter hat unsere liebe Franziska gebissen!" — „Nun Gottlob! Gottlob!" jauchzte der Vater; „das ist keine Natter, das ist eine unschädliche Schlange, die niemand todten kann." Mit nasien Augen erreichte er die Hütte, umfaßte die Tochter mit der Mut¬ ter und schloß sie lange an seine Brust und rief mit trunkener Freude: „Böses, treffliches Weib, wie hast du mich erschreckt! Aber Gott sei Dank, die Schlange war nicht giftig; der Herr sei gepriesen, wir bleiben noch beisammen, und deine Mutterliebe werde ich nie vergessen, und keins von deinen Kindern wird sie je vergessen; und diese Hand, auf deren Wunde du deine mütterlichen Lippen drücktest, wird einstens gewiß dein graues Haar mit Rosen- und Myrtenkränzen zieren." In schweigendem Entzücken traten nun die Gatten, von ihren Kin¬ dern begleitet, in die Stube, durch deren Fenster eben die untergehende Sonne den einladenden Tisch mit ihrem Rosenschimmer röthete, und der Säugling in der Wiege sah mit weit offenen Augen ruhig um sich und lächelte den glücklichen Eltern entgegen. 7. Der Neugierige. (in. Musterstück von Kellner.) (Wortfamilie des Wurzelwortes: Hören.) Das Weihnachtsfest nahte heran. „Emma," sagte daher eines Abends Heinrich zu seiner Schwester, „ich möchte nur hören, was die Eltern jetzt bisweilen mit einander reden. Wenn ich es nicht ver¬ hört habe, so sprachen sie von unsern Geschenken. Sie redeten so leise, daß ihre Worte kaum hörbar waren; allein ich habe ein feines Gehör und glaube doch, daß ich recht hörte. Vielleicht erhören sie meinen Wunsch und schenken mir ein Paar Schlittschuhe." — „Du mußt nicht horchen," antwortete Emma. „Die Eltern haben das verboten, und Kindern ziemt Gehorsam. Du sollst nicht bloß Hö¬ rer (Jakobus 1, 22), sondern auch Thäter des Wortes sein; dann Hacsters' Lesebuch für Oberkl. Simultan-AuSg. 33