299 In dünne gläserne Röhren eingesperrt, hast du es gewiß schon oftmals in der Stube am Fenster auf einem schmalen, langen Brette hängen sehen. Da ist es gar ein Wetterprophet und prophezeit dir, ohne daß es hinaussieht, was draußen für Wetter eintreten wird, und sagt dir, ob du einen Sonnenschirm oder einen Regenschirm aus deinen Spaziergang mitnehmen sollst. Dem Schisser auf dem Meere kündigt es einen bevorstehenden Sturm an, damit er seine Einrichtung danach treffe; den Gebirgsreisenden und kühnen Luftschiffern aber sagt es sogar, wie hoch sie über dem Meere sind. Auch weiß es besser als du, wie warm es ist, und während es als Wetterprophet oft ein Schalk ist und statt Regen Sonnenschein ankündigt, womit es dann den Wäscherinnen einen Streich spielt, so täuscht es als Wärmemesser niemals. In eine kleine, oben und unten verschlossene Glasröhre eingesperrt, steigt es gradweise höher, je wärmer die Luft wird, und füllt, wenn die Wärme wieder nachläßt. Ohne diesen empfindlichen Wärmemesser würden wir nicht wissen, wie warm oder wie kalt es in anderen Ländern ist, und der Ofen¬ heizer eines Treibhauses würde immer in Angst sein, ob er seinen Blumen auch wohl die rechte Luftwärme gäbe. Siehe, so wird ein Gift in der Hand des verständigen Men¬ schen sein treuer, gehorsamer Diener. Du begreifst nun wohl, war¬ um sich der Mensch auch in die dunkeln Tiefen der Erde hinabläßt und dort im Schweiße seines Angesichts Tag und Nacht arbeitet, um diesen dienstbaren Geist aus seinem Verstecke an das Tageslicht zu beschwören. Gude. 153. Der rohe Edelstein. Ein roher Edelstein lag im Sande zwischen vielen anderen ge¬ meinen Steinen. Ein Knabe sammelte von diesen zu seinem Spiele und brachte sie nach Hause zugleich mit den: Edelsteine, aber er kannte diesen nicht. Da sah der Vater des Knaben dem Spiele zu und bemerkte den rohen Edelstein und sagte zu seinem Sohne: „Gieb mir diesen Stein!" — Solches that der Knabe und lächelte, denn er dachte: „Was will der Vater mit dem Steine machen?" Dieser aber nahm und schliff den Stein künstlich in regelmäßige Flächen und Ecken, und herrlich strahlte nun der geschliffene Demant. „Sieh", sagte darauf der Vater, „hier ist der Stein, den du mir gabst." Da erstaunte der Knabe üknr des Steines Glanz und herrliches Funkeln und rief aus: „Mein Vater, wie vermochtest du dieses?" Der Vater sprach: „Ich erkannte des rohen Steines Tugend und verborgene Kräfte, und darum befreite ich ihn von der verhüllen¬ den Schlacke. Jetzt strahlt er mit seinem natürlichen Glanze." Danach, als der Knabe ein Jüngling geworden war, gab ihm der Vater den veredelten Stein als ein Sinnbild von des Lebens Wert und Würde. Krummacher.