92 III Tages- und Jahreslauf, Fleiß und Frömmigkeit. „Ja, ja! und da wollte ich eben der Witwe sagen. . ." „Sie weiß nichts davon und sonst niemand als wir." „Ich will nur gleich hinaufgehen; ich komme bald wieder." „Bleiben Sie doch eine Weile. Reden wir doch zuerst ein wenig allein miteinander," sagte der Buchhalter gegen die Wand gekehrt, ohne mich anzusehen. Auch ich kann nicht aufschauen, und es ist mir, als ob mich ein Schuß ins Herz getroffen hätte. Der Buchhalter ist gar wohlgemut; er hält den zusammengefalteten Schuldschein vor den Mund und pfeift darauf ein lustig Lied, ein ganz lustiges, und es ist, wie wenn zwei Menschen pfeifen würden, so zer¬ schneidet das Papier den Ton. Mir wirbelt's im Kopf; ich weiß nicht mehr, wo ich bin, und was ich mein Lebtag nicht gewagt hätte, tu ich doch, ich setze mich rittlings auf den lederbesetzten, hohen dreibeinigen Stuhl, der vor dem Pult des Stotz steht; da hat er immer gesessen und hat markten können, daß er einem das Blut unter den Nägeln herausgedrückt. Jetzt ist der Stuhl leer, und auf dem Pult liegt kein Papier und wartet auf die Unterschrift. Darf man nicht von dem Butgelde wieder holen, was man kriegen kann? So geht's mir durch den Kopf; aber ich kann kein Wort reden. Der Buchhalter wendet sich aus seinem Drehstuhle um und reicht mir die Hand. Diese Handreichung sagt viel. Niemand weiß von dem Guthaben als er und ich. Der Buchhalter tut mit, er tut gern mit, wenn ich ihm einen Teil gebe, und die Sache ist aus. Ich bin plötzlich bei Vermögen, und warum soll ich nicht? Der Stotz hat großen Verdienst an mir gehabt und ist reich, sehr reich, und ich — wenn ich jetzt zur Tür hinausgehe, bin ich plötzlich ein Mann von Vermögen, aber was noch außerdem? Pah! Tausende von Menschen würden an deiner Stelle zugreifen und vergnügt weiter leben. Wie viele haben es gewiß schon so mit dem Buchhalter abgemacht; warum willst du allein der ehrliche Narr sein? Friß, derweil du an der Krippe stehst! Wie lange mußt du arbeiten, bis du so viel nur verdienst, viel weniger, daß du es erübrigen kannst! — Ich stehe auf, ich will einen Schritt gehen; aber ich kann nicht vom Fleck, und ich stampfe auf und sage „nein" fast laut; aber etwas in mir hat doch „ja" gesagt und fast noch lauter, und ich denke, wie mich jeder Mensch auslachen wird, dem ich erzähle, daß ich ein ehrlicher Narr gewesen bin. Ich gestehe, die Versuchung war stark. Der Buchhalter schaut mich an, lächelt und nickt, und dann kritzelt er wieder etwas aufs Papier. Ich kann darauf schwören, daß ich's zuerst gedacht habe, bevor er was gesagt hat. Mir war's, als säße ich drüben im Bräuhaus am runden Tisch in dem Erker, und vor mir sitzt der Buchhalter, und wir stoßen fröhlich mit einander an. Und wie ich das so denke, sagt der Buchhalter: „Wollen wir hinüber ins Bräuhaus? Es wird eben frisch angestochen?" Es muß sein, daß es Minuten gibt, wo einer dem andern ins tiefste Herz hineinschaut. Und ich sag': „Da haben wir einen Ge¬