200 I. Fabel. „Auch aus Grüften," sagt' die Blüte, „Ruft mich Gottes Macht und Güte, Heller noch, denn todte Schriften, 10. Sein Gedächtniß hier zu stiften. Und ich blühe tröstend fort, Ein lebendig Gotteswort *)." A. E. Fröhlich. 78. Die Bürger. Bienen von dem Höchsten schwätzen, Das an ihnen sei zu schätzen. Eine meint, den ersten Preis Soll man geben ihrem Fleiß. 5. Nein, der Kunst, glaubt eine zweite, So den Bau und Seim1 2) bereite. Einer dritten ist das Wahre, Daß man das Erworbne spare. Andre sagen, schöner sei 10. Ihres Wohlthuns Lust hiebei. Alles dies, heißt es dagegen, Ist nur unsrer Eintracht Segen. Und das Höchste ist der Muth. Preisen andre, selbst sein Blut 15. In dem Kampfe hinzugeben. Und das Allerhöchste ist, Ruft die Mutter in den Zwist Jeder Tugend treu zu leben 3 *). A. E. Fröhlich. 79. Barmherzigkeit. Das Thal schreit auf zum Föhn^): „ Was wirft dein wild Gestöhn Lawinen ab 5 *) den Höhn, Die Bäche zu empören 6), 5. Die Matten 7) zu zerstören? Kannst du denn nicht gelind Den Winterschnee zerthauen?" „Nein!" ruft der Frühlingswind, „Tief liegen noch die grauen 10. Schneewolken-in dem Land; Groß ist der Widerstand, Mit dem die Norde kämpfen. Wollt ich sie gütlich dämpfen, Und sollte nur gemach, 15. Tropfweise nach und nach Der Schnee geschmolzen werden; Würds maien8 *) nie auf Erden. Des Kampfgetümmels Spuren Deck ich mit grünen Fluren^)." A. E. Fröhlich. 80. Der Hänfling. (Vgl. Nr. 76.) 1. Ein Hänfling, den der erste Flug Aus seiner Eltern Neste trug 10), 1) „Der unerschütterliche Glaube an ein ewiges Leben ist darin vortrefflich zur Anschauung ge¬ bracht." H. Kurz. Und diesen Glauben sprechen die mit vergoldeten Buchstaben geschriebenen Sprüche auf dem Leichensteine (5) in Worten, spricht die Blüte d»er Rose noch deutlicher durch ihr Wachsen ans. Nr. 236, 5. — 2) Altnord, seimr ist, was man allmählich in die Länge ziehen kann, davon mhd. Leim, eine dickliche Flüssigkeit, besonders Honig, daher Honigseim. — 3) Fleiß, Kunst, Sparsamkeit, Wohlthun, Eintracht, Vaterlandsliebe sind an sich schöne Tugenden, aber sie sollen nicht einzeln geübt werden, sondern zusammen: das ist das Allerhöchste, sagt die erfahrene alte Biene. „Der Dichter zeigt, daß das höchste, alles in sich begreifende Leben im Christenthum liege, denn während die Wissenschaft, die Kunst, die Weltweisheit, die Philantropie (Menschenliebe), der Patriotismus (Vaterlandsliebe), der Heldenmnth in Einseitigkeit sich verlieren, schließt das in seiner hohen Bedeutsamkeit aufgefaßte Christenthum jedwede, also auch diese Tugenden und Kräfte in sich." H. Kurz. — 4) So heißt in der Schweiz der Südwind, (Frühlingswind 8), ans dem ital. favonio, lat. favonius = bei' liebliche Westwind. Die Glut des Feuers begegnet der des Windes, und so mögen favoninL, lavilla (Asche) und goth. fern, suna (Feuer) wurzelverwandt sein. — 5) Die Präpo¬ sition ab ist allmählich aus dem Gebrauch gekommen; manche Grammatiker gehn aber zu weit und stellen den präpositionalen Gebrauch geradezu in Abrede. In einer andern Fabel sagt Fröhlich: „Gehn wir ab den offnen Wegen !" Haller (Versuch eines patriotischen BlättleinS): „Messe er ab ihm selber ab, wie ruhmredige Bezeugungen aufgenommen werden." Schlegel (Karl und Roland): „Daß erschrocken ab dem Rosse er gesunken." Rückert (ges. Ged. 3, 77): „Bevor die Sonn ab ihrem (Tagewerks ruht." Schulgr. §. 401. Kl. Gr. §. 130. Lawine, wahrscheinlich von ahd. Ie- wina, lowin = Sturzbach, mittellat. lavina, labina, von lat. labi =* fallen. — 6) Empören — emporsteigen macken, in diesem Sinne nur noch dichterisch: „Wie Windeswirbel Laub und Staub em¬ pört." Voß. „Hinter ihm empörte sich die Flut." Chamisso. „Empöret steigt das Meer." Schil¬ ler.— 7) Die Matte (mhd. der inate, ahd. dcr mato, älternhd. die Matte) ist Grasland von reichem, erfreulichem Aufwuchst. — 8) Schon mhd. meien und inoiZen --Mai werden, wie im Mai aufleben. Auch Uhlaud (an den Tod) sagt: „Wo es in der Seele mait." Und Rückert (ges. Ged. 3, 220): „Wie herrlich auf unsern Fluren es mait." — 9) „Stellt die Wohlthat harter Prü¬ fungen dar." H. Kurz. — 10) „Ein junger Mensch bei seiner ersten Ausflucht in die Welt, oder in den Jahren, wo er einen Stand wählt." Vetterlein.