400 Neue und neuste Zeit. 3. Dei' Lindenbaum. 1. Am Brunnen vor dem Thore, da steht ein Lindenbaum; ich träumt’ in seinem Schatten so manchen süßen Traum; ich schnitt in seine Binde so manches liebe Wort, es zog in Freud’ und Leide zu ihm mich immer fort. 2. Ich mußt’ auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht, da hab’ ich noch im Dunkel die Augen zugemacht; und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu: Komm her zu mir, Geselle, hier find’st du deine Buh’! 3. Die kalten Winde bliesen mir grad’ ins Angesicht, der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort, und immer hör ich’s rauschen: Du fändest Buhe dort! XV. Dichter geistlicher Lieder. In der Abhandlung über das evangelische Kirchenlied (S. 164 — 167) ist bereits ausgeführt -worden, wie das geistliche Lied am Ende des vorigen Jahrhunderts immer verflachter und .glaubensärmer wurde, wie dann aber durch die furchtbare Not der Franzosenzeit und der Befreiungs¬ kriege, durch welche eine sittliche Wiedergeburt des Volkes herbeigeführt wurde, auch dem geistlichen Liede ein neues Glaubensleben eingeflößt wurde. Diese Einwirkung ist nicht wieder verloren gegangen; aber auch von den Romantikern ging eine starke Anregung aus. Im allgemeinen hatten sie ja Rückkehr zur alten Glaubensinnigkeit, zur alten Treue gegen Gott gefordert, dann aber hatte der talentvollste der Romantiker, Friedrich von Hardenberg (Novalis), in seinen geist¬ lichen Liedern vortreffliche Vorbilder geschaffen. Das Gottvertrauen und die Demut der Freiheit¬ sänger, die Glaubensinnigkeit und Hingebung des Novalis und seiner späteren Geistesverwandten (Schenkendorf, Eichendorff) beseelten auch später Dichter, deren eigentliches Schaffensgebiet die religiöse Dichtung ist. Reich ist die Zahl ihrer geistlichen Lieder im eigentlichsten Sinne; es sind Lieder, in denen in herzlichschlichter Sprache und edler Form das ganze Glaubensverhältnis des Menschen zu Gott dargestellt wird. Das sündenbeladene Herz bekennt und bereut seine Schuld und findet heilsbegierig den wahren Trost in Jesu, dessen Dienst er sich widmet. Das neugeborene Kind wird zur Taufe gebracht, mit den Konfirmanden, dem Brautpaare und den Beichtenden treten wir vor den Altar, die Glocken laden zum sonntäglichen Gottesdienst und zur Festfeier ein. Für jede Tageszeit bietet sich ein Gebetslied dar. das Tagewerk beginnt mit frommem Spruch und alle Arbeit wird in dem Herrn gethan. Die harmlosen, stillen Freuden des Lebens werden ge¬ weiht und veredelt durch den Hinweis auf Gott; in Not und Trübsal werden Lieder vom Stillesein und von Geduld angestimmt. Dann klingt die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat hindurch, und auf die Lieder vom Sterben folgen die Lieder vom Wiedersehen. Die Sänger dieser Lieder waren Geistliche, in ihren Liedern spricht sich die reiche Erfahrung des Seelsorgers aus, der mehr als jeder andere mit dem Elend und den Tiefen des Menschen¬ lebens in engste Berührung kommt; die Lieder legen Zeugnis ab von der Schwere und von der Erhabenheit des geistlichen Berufes. Einige unter diesen Dichtern, besonders Gerok und Sturm, haben sich aber nicht auf das eigentliche religiöse Gebiet beschränkt, sie schildern, auch wieder aus eigener Erfahrung heraus, auch weltliche Verhältnisse, Dinge und Ereignisse des alltäglichen Lebens im häuslichen und bürgerlichen Leben und in der Natur; aber auch diese Lieder sind von einem echt frommen, christlichen Geiste durchweht. Gerok und Sturm haben in ihren Dichtungen auch geschichtliche Stoffe aus der deutschen Vergangenheit und Gegenwart glücklich behandelt, besonders aber haben sie an den herrlichen Thaten und Ereignissen unter König und Kaiser Wilhelm I. den lebhaftesten Anteil genommen; und wenn sie in ihren Gedichten die Tapferkeit und Treue des Heeres, die Opferfreudigkeit des Volkes rühmen, so vergessen sie auch nicht auf Gott hinzuweisen, von dem damals alles Große und Herrliche geschehen ist. Die bedeutendsten unter diesen Dichtern sind Knapp, Spitta, Gerok und Sturm.