* 291 zur Sophonisbe, von dem freien, gottgegebenen Erbteil schöner Menschlichkeit versöhnend sprechen, das an keines Stamms Geschlecht und Art gebunden sei. Und die völkerverbindende Menschlichkeit hat Geibel selbst als Dichter praktisch bewährt. Auch er ist ein Zögling jenes literarischen Universalismus, den wir seit Herder als einen Vorzug der Deutschen anfehen dürfen und der sich in Übersetzungen wie in stilistischen und formalen Nachbildungen betätigt. Auch in seinen Poesien erklingen die Stimmen der Völker. Der politische Gegensatz hinderte ihn nicht, die französische Lyrik von André Chénier) bis Viktor Hugo und François Coppée uns in meisterhaften Proben anzueignen. Und so übersetzte er aus Lord Byron. So übersetzte er spanische Romanzen und Lieder. So übersetzte er aus den Griechen und Römern. Und die Geister, die er in deutschen Laut, in deutsche Verse bannte, halfen ihm an der eigenen Arbeit. Seine reiche literarische Bildung spiegelte sich in den mannigfaltigen metrischen und stilistischen Formen, über die er verfügte. In ihm waren Klassisch und Romantisch keine Gegensätze. Merkt man in seinen Jugendpoesien den Einfluß des Volksliedes, den Einfluß von Uhland, Heine, Lenau, Eichen— dorff, so macht sich daneben doch bald das Muster von Platen geltend. Die Antike bestimmte von früh auf seinen Geschmack; und ein gütiges Geschick erlaubte ihm den Homer und den Sophokles auf griechischer Erde, auf griechischem Meere zu lesen. Dort am Ilissos tat er das ernste Gelübde, wie er sagt, mutig im Dienste der Kunst nach dem einfach Schönen zu ringen, wahr zu bleiben und klar und, was immer verwirrend die Brust und die Sinne bestürme, stets das geheiligte Maß fromm zu bewahren im Lied?). In antiken Formen hat er den tiefsten persönlichen Lebensgehalt aus— gesprochen und seine größte Originalität entfaltet. Aber die sangbaren Jugend— reime hatten den breitesten äußeren Erfolg. Der Beifall, den das einzelne Lied findet, hängt nicht von dem Grade der Originalität ab, sondern von dem reinen und starken Klang, der im Gemüte des Hörers einen lauten Widerhall weckt. Die Lieder des jugendlichen Dichters wurden von der Jugend vor allem mit Freuden ergriffen; und wie in Deutschland so oft der erste Eindruck entscheidet, so behielt Geibel den Stempel eines Dichters für die Jugend, obgleich er nach und nach viele Schätze seines Geistes in melodischen Strophen und Rhythmen niederlegte, deren Wert nur ein Mann ganz zu würdigen weiß. Ein weicher, sehnsüchtiger Laut, wie ihn die Jugend liebt, findet sich allerdings auch später noch leicht bei ihm ein. Er würde immer, wenn man die überwiegende Masse seiner Schöpfungen ins Auge faßt, nach Schillers Einteilung zu den sentimentalischen, nicht zu den naiven Dichtern gezählt werden müssen. In Griechenland sehnt er sich nach Deutschland; in Deutsch— land schaut er mit dankbarer Liebe nach Griechenland hin. Er geht selten im Jetzt und im Hier auf; er braucht einen Klang aus der Ferne, einen Schimmer aus einer anderen Welt. Die Gegenwart und der Besitz machen ihn nicht so beredt wie die Vergangenheit und der Verlust. Im Ruͤcblick erst gewinnen die Gestalten ihr frischestes Leben; da geht ihm die bezeichnende Situation und charatteristische Handlung auf. Vielleicht hat nie ein Dichter N 1762 als Sohn eines franz. Generalkonsuls in Konstantinopel geboren, wurde André de Qhénier 1784 ein Opfer' der Revolubn? ) „Ein Buch Slegien“, VIII (Werke, V, S. 96 19*