41 10 werden, wenn mit dem Schwinden des Tageslichtes zugleich unser Bewußtsein desto heller in uns erwacht und nun geschäftig ihre Fäden spinnen die Er— innerung und die Sehnsucht im Dienste der Bildnerin, der Zauberkünstlerin Phantasie. Wem Schnee des Alters den Scheitel deckt, der wird unter ihrem Wunder wirkenden Stabe wieder jung; die Zeit wandelt sich, er lebt noch einmal in Tagen knospenden, reifenden, sich erfüllenden Menschenglückes. Oder es sausen da draußen am grauen Wintertage die Stürme; da entführt uns der Zaubermantel in die Herrlichkeit des Sommers, wo man am Dünenhange, umflutet von Sonne, umrauscht vom Wellenschlage sich dehnt in innigstem Behagen. Aber die Phantasie hält auch die düsteren Bilder, die bitteren Stunden der Vergangenheit mit unerbittlicher Grausamkeit fest. Du kannst es nicht vergessen, wie du am ersten Sarge standest, wie ein Riß durch die sonnige Welt zu gehen schien; du kannst es nicht vergessen, jenes schmerzliche Bild, den Vater, die Mutter auf dem Totenbette; du kannst auch nicht vergessen jene Stunde, wo du zuerst erfuhrest: Freundesliebe ist selten so stark, daß sie über Neid und Eifersucht triumphierte, daß sie Schmerzliches mit dir trüge ohne den Schimmer von Schadenfreude, daß sie über gerechte Anerkennung ohne den leisesten Anflug von Mißgunst sich mit dir freute. Du kannst nicht vergessen die Wunden, die dir das Leben schlug; sie vernarbten, um immer wieder aufzubrechen. Und in solchen Stunden, wo du es empfindest, es gibt kein Kraut gegen diese Schwäche der Seele, gegen die unauslöschlichen Bilder, da verwünschest du wohl die entsetzliche Phantasie. Ja, wie manchen hat sie schon in Verzweiflung und Irrsinn getrieben! Der Erinnerung an vergangenes Leid und an vergangene Freude leiht die Phantasie Schwingen, und sie beschwört längst entwichene Gestalten wieder herauf; aber sie beflügelt auch die Furcht und die Hoffnung, so daß Zukünftiges vor dem inneren Auge entsteht. Was ist es, das in sorgenvoller Nacht am Bette des Kranken, in düsterer Vorahnung schrecklicher Begebenheit uns die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Nächten dehnt, das uns martert in der bangenden Ungewißheit, uns foltert in der Angst des Herzens, das uns die furchtbaren Gebilde des Möglichen schon wie greifbare Wirklichkeit vor die Seele stellt? Es ist die entsetzliche Phantasie im Bunde mit der bleichen Furcht. Goethe nennt im „Faust“ Furcht und Hoffnung die beiden „größten Menschenfeinde“. Der gemeinsame Begriff beider ist die Erwartung; so kann Aris bei den Griechen die Ahnung des Unheilvollen, die Furcht, wie auch die Sehnsucht nach Glück, die Hoffnung, bezeichnen. Die Furcht ist wahrlich eine arge Menschenfeindin, denn sie lähmt die Tatkraft, sie schwächt das Selbst— gefühl, versetzt in Unruhe, raubt den Mut, stört das Gelingen, sie macht feige. Und die Hoffnung? Baut sie nicht auch trügerische Luftschlösser, verführt sie nicht zu süßen, aber tatlosen, törichten Träumen, deren Folgen nur namenlose Enttäuschung und Verbitterung sind? Raubt sie nicht die Besonnenheit, setzt sie nicht Unmögliches als möglich oder das zu Leistende schon als getan, als mühelos errungen hin? Was stachelt den Ehrgeizigen und Habsüchtigen? Ist es nicht das Wahngebilde der entsetzlichen Phantasie, die ihn mit Hoffnungen, mit leeren Schemen äfft, die ihn ohne Rast und Ruh', ohne Genuß der Gegen— wart, ohne Freude am Errungenen durch das Leben peitscht? Umstrahlt von