222 den Kern der Tagesfrage. An keinem Punkte war die Überzeugungslosigkeit, welche die Aufklärung mit sich brachte, brennender und gefährlicher als an dem der sittlichen Beurteilung. Hier war das Vaterland in Gefahr, waren die höchsten Güter in Frage gestellt: hier, wenn irgendwo, galt es zu zeigen, daß durch vernünftige Besinnung das Verlorene in höherer Gestalt wieder¬ gewonnen werden könne. Darum wendete Sokrates sich nicht an die Ge¬ lehrten, sondern an das Volk, nicht an einige, sondern an jedermann; darum sprach er nicht von hohen und fernen Dingen, von Sonne, Mond und Sternen, von ihrer Entstehung und Bewegung, sondern er suchte in der stets wiederholten Diskussion der Fragen des bürgerlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens die festen Begriffe der sittlichen Beurteilung klar¬ zulegen, welche bei aller Verschiedenheit der individuellen Interessen, Neigungen und Lebensläufe, unentwickelt und nicht zu vollem Bewußtsein gebracht, in allen schlummerten. Dem Objekte nach ist deshalb die sokratische Philosophie ethische Reflexion: die Begriffe, die sie sucht, sind die sittlichen. Mitten in dem Bildungsfieber seiner Zeit erscheint Sokrates als die einzige gesunde Natur. Er predigt das Eine, was not tut: Besinnung auf das Bleibende, das Allgemeine, das Gesetzgebende, das Normale. Er errichtet über dem Rausch und Taumel der selbstherrlich gewordenen Individuen den neuen Glauben an eine überindividuelle Vernunft. In ihr findet er wieder, was der Zeit verloren gegangen ist: die bindende Autorität. Die wahre Autorität, die¬ jenige, der sich der einzelne nur aus eigenem Urteil unterwerfen kann, der er sich aber bei rechter Besinnung unterwerfen soll, — diese wahre Autorität ist die Vernunft. Das ist der Gedanke des Sokrates, welcher ihm in der Geschichte nicht nur der Wissenschaft, sondern der gesamten Kultur einen ehrwürdigen Platz bereitet. Gegen den Individualismus und Relativismus proklamiert er das Recht der Vernunft. Er tut es, weil er überzeugt ist, daß in dem Universum selbst, welches den Gegenstand unserer Erkenntnis bildet, diese Vernunft allgestaltend walte. Wilhelm Windelband (gekürzt nach R. Biese). _ Dtsch. Lestb. f. Prima. 47. Das Christentum in dem römischen Reiche. Überblicken wir den Umkreis der alten Welt, so finden wir ihn mit einer großen Anzahl unabhängiger Völkerschaften erfüllt. Um das Mittel¬ meer her, soweit von den Küsten die Kunde in das innere Land reicht, wohnen sie, mannigfaltig gesondert, ursprünglich alle enge begrenzt, in lauter freien und eigentümlich eingerichteten Staaten. Die Unabhängigkeit, die sie genießen, ist nicht allein politisch: allenthalben hat sich eine örtliche Religion