123 6. Oas Märchen ist eine historische Dichtung, in welcher sich das Natürliche mit dem Uebernatürlichen ver¬ eint. Seinen Stoff entnimmt es meist den alten Volkssagen und berichtet, wie mit über¬ natürlichen Kräften ausgerüstete Wesen, als Gnomen, Feen, Kobolde, Riesen, Zwerge, Zauberer u. s. w., je nach ihrer Gemüthsart, entweder wohlwollend und hilfreich, oder boshaft und schadenfroh in die Geschicke der Menschen eingreifen. Die reichste Quelle und die ansprechendste Form des Märchens ist das sogenannte Volksmärchen; sein Stoff ist dem einheimischen Sagenbuche entnommen. Andere Märchen verdanken ihr Entstehen dem freien Spiele der Phantasie. Die Einkleidung kann poetisch sein, ist es aber ge¬ wöhnlich nicht; die prosaische Schreibart gleicht dem Style des Romans. Da das Märchen zunächst nur der Phantasie ein ergötzliches Spiel bereiten will, so fordert es auch, daß die Begebenheiten nur mit derselben, nicht aber mit dem urtheilenden Verstände aufgefaßt werden. Das Wahrheitsgefühl, so zart es auch sein mag, wird durch das Märchen nicht verletzt. 1. Rübezahl, der Geist des MesengeSirges. Eines Tages sonnte sich der Geist (Rübezahl) an der Hecke seines Gartens; da kam ein Weiblein ihres Weges daher in großer Unbefangenheit, die durch ihren sonderbaren Aufzug seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie hatte ein Kind an der Brust liegen, eines trug sie auf dem Rücken, eines leitete sie an der Hand, und ein etwas größerer Knabe trug einen ledigen Korb nebst einem Rechen; denn sie wollte eine Last Laub fürs Vieh laden. Eine Mutter, dachte Rübezahl, ist doch wahrlich ein gutes Geschöpf, schleppt sich mit vier Kindern und wartet dabei ihres Berufs ohne Murren, wird sich noch mit der Bürde des Korbes belasten müssen. Diese Betrachtung versetzte ihn in eine gutmüthige Stimmung, die ihn g> neigt machte, sich mit der Frau in Unterredung einzulassen. Sie fetzte ihre Kinder auf den Rasen und streifte Laub von den Büschen; indessen wurde den Kleinen die Zeit lang und sie fingen an, heftig zu schreien. Alsbald verließ die Mutier ihr Geschäft, spielte und tändelte mit den Kindern, nahm sie auf, hüpfte mir ihnen singend und scherzend herum, wiegte sie in Schlaf, und ging wieder an ihre Arbeit. Bald darauf stachen die Mücken die kleinen Schläfer, sie fingen ihren Gesang von Neuem an; die Mutter wurde darüber nicht ungeduldig, sie lief ins Holz, pflückte Erdbeeren und Himbeeren, und legte das kleinste Kind an die Brust. Diese mütterliche Behandlung gefiel dem Geiste. Allein der Schreier, der vorher auf der Mutter Rücken ritt, wollte sich durchaus nicht befriedigen lassen, war ein eigensinniger, störriger Zunge, der die Erdbeeren, die ihm die liebreiche Mutter darreichte, von sich warf und dazu schrie, als wenn er gespießt wäre. Darüber riß ihr doch endlich die Geduld aus: „Rübezahl," rief sie, „komm und friß mir den Schreier!" Augenblicks versichtbarte sich der Geist in der Köhler¬ gestalt, trat zum Weibe und sprach: „„Hier bin ich, was ist Dein Begehr?"" Die Frau geriet!) über diese Erscheinung in großen Schrecken; wie sie aber ein frisches herzhaftes Weib war, sammelte sie sich bald und faßte Muth. „Ich ries Dich nur/' sprach sie, „meine Kinder schweigen zu machen; nun sie ruhig sind, bedarf ich Deiner nicht, sei bedankt für Deinen guten Willen." „„Weißt Du auch,"" entgegnete der Geist, „„daß man mich nicht ungestraft ruft? Äch halte Dich beim Wort, gieb mir Deinen Schreier, daß ich ihn fresse; so ein leckerer Bissen ist mir lange nicht vorgekommen."" Darauf streckte er die rußige Hand aus, den Knaben in Empfang zu nehmen. Wie eine Gluckhenne, wenn der Weih hoch über dem Dache in den Lüften schwebt oder der schäkerhafte Spitz auf dem Hofe hetzt, mit ängstlichem Glucksen vorerst ihre Küchlein in den sichern Hühnerkorb lockt, dann ihr Gefieder empor¬ sträubt, die Flügel ausbreitet und mit dem stärkeren Feinde einen ungleichen Kampf