Motiv und Idee von Lessings Nathan der Weise, 251 drei sind gleich gut und darum von ihrem Vater gleich geliebt. Jeder wünscht den Ring zu erben, jeder bittet den Vater darum, und um keinen vorzuziehen, läßt dieser zwei andere Ringe machen, die dem ersten vollkommen gleichen, so daß er selbst den echten Ring nicht mehr zu unterscheiden weiß. Heimlich gibt er jedem seiner Söhne einen der Ringe. Nach dem Tode des Vaters meldet sich jeder zur Erbschaft, denn jeder hält sich für den Besitzer des echten Ringes und jeder will der Herr des Hauses sein. Es kommt zum Streit. Aber niemand weiß den echten Ring zu erkennen. So bleibt der Streit unentschieden. Jeder der Söhne beharrt dabei, sein Ring sei der echte; jedes der drei Völker beharrt dabei, seine Religion sei die wahre, und die Frage ist bis heute nicht gelöst. So weit die Erzählung Melchisedeks. Wir erkennen deutlich die Grund- züge zur Erzählung Nathans. Doch ist in einem Punkte eine sehr be- deutsame Differenz zwischen dem deutschen Dichter und dem italienischen; bei dem letzteren ist der Ring nichts weiter als ein Schatz, er berechtigt zu nichts anderm als zur Erbschaft und zur Herrschaft des Hauses; bei Lessing dagegen hat er außerdem noch eine höhere Bedeutung. „Er hat die Wunderkraft beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm, wer in dieser Zuversicht ihn trägt.‘ Hier hat der Ring eine herzgewinnende, darum auch eine herzver- edelnde Kraft, denn diese ist die Bedingung zu jener. Liebe erntet man nur, wenn man sie säet. Sollte es jetzt nicht möglich sein, den echten Ring zu erkennen und den Streit zu entscheiden? Wer die meiste Liebe empfängt, weil er die meiste gegeben, der besitzt unzweifelhaft den echten Ring. Aber alle drei streiten. Jeder hält sich für den Begünstigten und die andern für Betrüger. Sie hassen sich gegenseitig, So lange dieser Streit dauert, der gehässige, unduldsame, selbstsüchtige, ist der Schatz der Liebe bei keinem, so lange bleibt der echte Ring im Verborgenen, so lange sind die vorgehaltenen Ringe alle drei nicht echt! Und wie, wenn der echte Ring sich äußert? Wenn seine Kraft zu wirken beginnt? So ist einer der Geliebteste, also muß er sich die Liebe erworben, die Herzen der andern bezwungen haben. Wird er es können, so lange er nur sich liebt, seinen eigenen Wert dünkelhaft überschätzt? Wird er es können, wenn er nicht sich selbst innerlich demütigt, die eitle Selbstverblendung durchschaut, die dünkelhaften Scheinwerte fallen läßt, durch Selbstverleugnung sein Herz läutert, so läutert, daß auch in dem verborgensten Winkel desselben keine heimliche Stimme mehr flüstert, indem er selbstgefällig auf den andern hinschielt: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie dieser!“ Und ist einer der Geliebteste, so ist die Liebe und darum die Herzensläuterung auch bei den anderen. Werden sie jetzt noch miteinander streiten? Werden sie sich noch hassen? Nicht vielmehr jeder in dem Grade, als er sich selbst zu verleugnen die Kraft hat, den andern lieben, seine Weise verstehen und darum dulden? Es gibt eine Duldung, welche die Welt täglich empfiehlt, welche die meisten auch wirklich üben und sich wohlgefällig als Tugend anrechnen. Ist sie eine Tugend — diese Duldung —, so gehört sie wenigstens zu den Tugenden, vor welche die Götter den Schweiß nicht gesetzt haben! Denn