Naturgefühl und Naturbeschreibung bei den Griechen und Römern. 283 südlichen Festlandes, fast überall gleichzeitig der Anblick dessen, was im Kontakt und durch Wechselwirkung der Elemente dem Naturbilde seinen Reichtum und seine erhabene Größe verleiht. Wie hätten auch jene sinnigen, glücklich gestimmten Völker nicht sollen angeregt werden von der Gestalt waldbekränzter Felsrippen an den tiefeingeschnittenen Ufern des Mittelmeeres, von dem stillen, nach Jahreszeit und Tagesstunden wechselnden Verkehr der Erdfläche mit den unteren Schichten des Luft- kreises, von der Verteilung der vegetabilischen Gestalten? Wie sollte in dem Zeitalter, wo die dichterische Stimmung die höchste war, sich nicht jegliche Art lebendiger sinnlicher Regung des Gemütes in idealische An- schauung auflösen? Der Grieche dachte sich die Pflanzenwelt in mehr- facher mythischer Beziehung mit den Heroen und Göttern. Diese rächten strafend eine Verletzung geheiligter Bäume und Kräuter. Die Einbildungs- kraft belebte gleichsam die vegetabilischen Gestalten; aber die Formen der Dichtungsarten, auf welche bei der Eigentümlichkeit griechischer Geistes- entwickelung das Altertum sich beschränkte, gestatteten dem naturbe- schreibenden Teile nur eine mäßige Entfaltung. Einzeln bricht indes selbst bei den Tragikern mitten in dem Gewühl aufgeregter Leidenschaft und wehmütiger Gefühle ein tiefer Natursinn in begeisterte Schilderungen der Landschaft aus. Wenn Ödipus sich dem Haine der Eumeniden naht, singt der Chor „den edlen Ruhesitz des glanz- vollen Kolonos, wo die melodische Nachtigall gern einkehrt und in hell- tönenden Lauten klagt‘; er singt „die grünende Nacht der Efeugebüsche, die von himmlischem Tau getränkten Narzissen, den goldstrahlenden Krokos und den unvertilgbaren, stets selber sich wiederzeugenden Ölbaum.‘“ Indem Sophokles seinen Geburtsort, den Gau von Kolonos, zu verherrlichen strebt, stellt er die hohe Gestalt des schicksalverfolgten, umherirrenden Königs an die schlummerlosen Gewässer des Kephissos, von heiteren Bildern sanft umgeben. Die Ruhe der Natur vermehrt den Eindruck des Schmerzes, welchen die hehre Gestalt des Erblindeten, das Opfer verhängnisvoller Leidenschaft, hervorruft. Auch Euripides gefällt sich in der malerischen Beschreibung von „Messeniens und Lakoniens Triften, die unter dem ewig milden Himmel, durch tausend Quellenbrunnen genährt, von dem schönen Pamisos durchströmt werden‘. Was wir, ich sage nicht in der Empfänglichkeit des griechischen Volkes, sondern in den Richtungen seiner literarischen Produktivität vermissen, ist noch sparsamer bei den Römern zu finden. Eine Nation, die nach alter, sikulischer Sitte dem Feldbau und dem Landleben vorzugsweise zugetan war, hätte zu anderen Hoffnungen berechtigt; aber neben so vielen Anlagen zur praktischen Tätigkeit war der Volkscharakter der Römer in seinem kalten Ernste, in seiner abgemessenen nüchternen Verständig- keit sinnlich weniger erregbar, der alltäglichen Wirklichkeit mehr als einer idealisierenden dichterischen Naturanschauung hingegeben. Diese Unterschiede des inneren Lebens der Römer und der griechischen Stämme spiegeln sich ab in der Literatur als dem geistigen Ausdruck allen Volks- sinnes. Zu ihnen gesellt sich noch, trotz der Verwandtschaft in der Ab- stammung, die anerkannte Verschiedenheit in dem organischen Bau der beiden Sprachen. Der Sprache des alten Latium wird mindere Bildsamkeit,