96 Sokrates, immer hab' ich den Weisen bewundert, sein Bildnis 140. Unaufhörlich betrachtet, ihn sah ich im Traum. Da nannt' er Seinen unsterblichen Namen: „Ich Sokrates, den du bewunderst, Komm' aus den Gegenden über den Gräbern herüber. Verlerne, Mich zu bewundern! Die Gottheit ist nicht, wofür wir sie hielten, Ich in der strengeren Weisheit Schatten, ihr an Altären. Ganz die Gottheit dir zu enthüllen, ist mir nicht geboten. Sieh', ich führe dich nur den ersten Schritt in den Vorhof Ihres Tempels. Vielleicht, daß in diesen Tagen der Wunder, Da die erhabenste That der Erde geschieht, daß ein beßrer, Höherer Geist kommt und dich in das Heiligtum tiefer hineinführt. 150. So viel darf ich dir sagen, und dies verdiente dein Herz dir: Sokrates leidet nicht mehr von den Bösen, Elysium ist nicht, Noch die Richter am mächtigen Strom. Das waren nur Bilder Schwacher, irrender Züge. Dort richtet ein anderer Richter, Leuchten andere Sonnen als die in Elysiums Thale. Sieh, es zählet die Zahl, und die Wagschal wägt, und das Maß mißt Alle Thaten! Wie krümmen alsdann der Tugenden höchste Sich in das kleine, wie fliegt ihr Wesen verstäubt in die Luft aus! Einige werden belohnt, die meisten werden vergeben. Mein aufrichtiges Herz erlangte Vergebung. O drüben, 160. Portia, drüben über den Urnen, wie sehr ist es anders, Als wir dachten! Dein schreckendes Rom ist ein höherer Aufwurf Voll Ameisen, und eine der redlichen Thränen des Mitleids Einer Welt gleich. Verdiene du sie zu weinen! Was diese Heilige Welt der Geister sehr ernst jetzt feiert, und was mir Selbst nicht enthüllet ward und ich von fern nur bewundre, Ist: der größte der Menschen, wofern er ein Mensch ist, er leidet, Leidet mehr, wie ein Sterblicher litt, wird am tiefsten gehorsam Gegen die Gottheit, vollendet dadurch der Tugenden größte. Und dies alles geschieht um der Menschen willen! und jetzo! 170. Sieh, ihn sah dein Auge! Pilatus richtet den Thäter Dieser Thaten! und fließt sein Blut, so hatte noch niemals Lauter der Unschuld Blut gerufen!" Hier schwieg die Erscheinung. Aber sie rief, inbent sie verschwand, ans den Fernen herüber: „Schau!" — Ich schaute, da waren um mich aufbebende Gräber, Hingen dicht an die Gräber von allen Himmeln herunter Schwere Wolken; die rissen sich auf bis zur obersten Höhe. Und ein Mann, dem Blut entströmte, ging in die Wolken, Wo sie sich öffneten. Scharen unzählbarer Menschen zerstreuten Sich auf den Gräbern und schauten mit offnen, verlangenden Armen 160. Jenem Blutenden nach, der in die Wolken hineinging. Viele von ihnen bluteten auch. Die weiten Gefilde Tranken ihr Blut und bebten. Ich sah die Leidenden leiden; Aber sie litten mit Hoheit und waren bessere Menschen Als die Menschen um uns. Ein Sturm kam jetzo herüber; Schreckend schwebt' er einher und hüllte die Felder in Nacht ein. Da erwacht' ich." Sie schwieg. So stutzt ein letzter Gedanke,