147 1. 1. Lenore fuhr ums Morgenrot Empor aus schweren Träumen. „Bist untreu, Wilhelm, oder tot? Wie lange willst du säumen?" — Er war mit König Friedrichs Macht Gezogen in die Prager Schlacht, Und hatte nicht geschrieben, Ob er gesund geblieben. 2. Der -König und die Kaiserin, Des langen Haders müde. Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede; Und jedes Heer mit Sing und Sang, Mit Paukenschlag und Kling und Klang, Geschmückt mit grünen Reisern, Zog heim zu seinen Häusern. 3. Und überall, allüberall, Auf Wegen und aus Stegen, Zog alt und jung mit Jnbelschall Den Kommenden entgegen. „Gottlob!" rief Kind und Mutter laut, „Willkommen!" manche frohe Braut; Ach, aber für Lenoren War Gruß und Kuß verloren. 4. Sie frug den Zug wohl ans und ab Und frug nach allen Namen; Doch keiner war, der Kundschaft gab Von allen, so da kamen. Als nun das Heer vorüber war, Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sich hin zur Erde Mit wütiger Gebärde. 5. Die Mutter lief wohl hin zu ihr: „Ach, daß sich Gott erbarme! Du liebes Kind was ist mit dir?" Und schloß sie in die Arme. „O Mutter! Mutter! Hin ist hin! Nun fahre Welt und alles hin! Bei Gott ist kein Erbarmen! O weh, o weh mir Armen!" 6. „Hilf, Gott, hilf! Sieh uns gnädig an! Kind, bet' ein Vaterunser! Was Gott thut, das ist wohlgethan. Gott, Gott erbarmt sich unser." „O Mutter, Mutter! Eitler Wahn! Gott hat an mir nicht wohlgethan. Lenore. (1773.) Was half, was half mein Beten? Nun ist's nicht mehr vonnöten." 7. „Hilf, Gott, hilf! Werden Vater kennt, Der weiß, er hilft den Kindern. Das hochgelobte Sakrament Wird deinen Jammer lindern." „O Mutter, Mutter! Was mich brennt, Das lindert mir kein Sakrament; Kein Sakrament mag Leben Dem Toten wiedergeben." 8. „Hör, Kind! Wie, wenn der falsche Mann Im fernen Ungerlande Sich seines Glaubens abgethan Zum neuen Ehebande? Laß fahren, Kind, sein Herz dahin! Er hat es nimmermehr Gewinn. Wann Seel' und Leib sich trennen, Wird ihn sein Meineid brennen!" 9. „O Mutter, Mutter! Hin ist hin! Verloren ist verloren! Der Tod, der Tod ist mein Gewinn! O wär' ich nie geboren! Lisch aus, mein Licht, aus ewig aus! Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus! Bei Gott ist kein Erbarmen. O weh, o weh, mir Armen!" 10. „Hilf, Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde! Sie weiß nicht, was die Zunge spricht; Behalt ihr nicht die Sünde! Ach, Kind, vergiß dein irdisch Leid Und denk' an Gott und Seligkeit, So wird doch deiner Seelen Der Bräutigam nicht fehlen!" 11. „O Mutter! Was ist Seligkeit? O Mutter! Was ist Hölle? Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit, Und ohne Wilhelm Hölle! Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus! Stirb hin, stirb hin in Nacht linb Graus! Ohn' ihn mag ich ans Erden, Mag dort nicht selig werden!" — 12. So wütete Verzweifelung Ihr in Gehirn und Adern. 10*