Betrachtung der Kunstwerke. 307 weise mich anzudeuten begnügen: ich müßte mich aber aus Mangel der Zeit auf das Gesicht einschränken. Die Form der wahren Schönheit hat nicht unterbrochene Teile. Auf 9 diesen Satz gründet sich das Profil der alten jugendlichen Köpfe, welches nichts Linealmäßiges, auch nichts Eingebildetes ist; aber es ist selten in der Natur, und scheint sich noch seltener unter einem rauhen, als glücklichen Himmel zu finden: es besteht in der sanftgesenkten Linie von der Stirn bis auf die Nase. Diese Linie ist der Schönheit dermaßen eigen, daß ein Gesicht, welches, von vorne gesehen, schön scheint, von der Seite erblickt, vieles ver¬ liert, je mehr dessen Profil von der sanften Linie abweicht. Diese Linie hat Bernini, der Kunstverderber, in seinem größten Flor nicht kennen wollen, weil er sie in der gemeinen Natur, welche nur allein sein Vorwurf gewesen, nicht gefunden, und seine Schule folgt ihm. Aus diesem Satze folgt ferner, daß weder das Kinn noch die Wangen, durch Grübchen unterbrochen, der Form der wahren Schönheit gemäß sein können: es kann also auch die mediceische Venus, die ein solches Kinn hat, keine hohe Schönheit sein; und ich glaube, daß ihre Bildung von einer bestimmten schönen Person genommen ist, sowie zwei andere Venus' in dem Garten hinter dem Palast Farnese offenbare Porträtköpfe haben. Die Form der wahren Schönheit hat die erhobenen Teile nicht stumpf, 10 und die gewölbten nicht abgeschnitten; der Augenknochen ist prächtig erhaben, und das Kinn völlig gewölbt. Die besten Künstler der Alten haben daher den¬ jenigen Teil, auf welchem die Augenbrauen liegen, scharf geschnitten gehalten, und in dem Verfalle der Künste im Altertum, und in dem Verderbnis neuerer Zeiten, ist dieser Teil rundlich und stumpf vertrieben, und das Kinn ist insgemein zu kleinlich. Aus dem stumpf gehaltenen Augenknochen kann man unter anderem urteilen, daß der berühmte, fälschlich so genannte, Antinous im Belvedere zu Rom nicht aus der höchsten Zeit der Kunst sein kann, so wenig wie die Venus. Dieses ist allgemein gesprochen von dem Wesentlichen der Schönheit des Gesichts, welches in der Form besteht: die Züge und Reizungen, welche dieselbe erhöhen, sind die Grazie, von welcher besonders zu handeln ist. Aber ich merke, daß ich meinen Vorsatz überschreite, welchen mir die Kürze der Zeit und meine überhäufte Arbeit setzen; ich will hier kein System der Schönheit, wenn ich auch könnte, schreiben. Eine männliche Figur hat ihre Schönheit wie eine jugendliche; aber da ii alles einfache Mannigfaltige in allen Dingen schwerer ist, als das Mannig¬ faltige an sich; so ist eben deswegen eine schöne jugendliche Figur groß zu zeichnen (ich verstehe in dem möglichen Grade der Vollkommenheit) das schwerste. Die Überzeugung ist für alle Menschen auch von dem Kopfe allein. 20*