156 Johann Wolfgang Goethe. Nimm die Brüder von der Eb'ne, Nimm die Brüder von den Bergen Mit, zu deinem Vater mit!" 7. „Kommt ihr alle!" — Und nun schwillt er Herrlicher; ein ganz Geschlechte Trägt den Fürsten hoch empor! Und im rollenden Triumphe Gibt er Ländern Namen, Städte Werden unter seinem Fuß. 8. Unaufhaltsam rauscht er weiter, Läßt der Türme Flammengipfel, Marmorhäuser, eine Schöpfung Seiner Fülle, hinter sich. 9. Zedernhänser trägt der Atlas Auf den Riesenschultern; sausend Wehen über seinem Haupte Tausend Flaggen durch die Lüfte, Zeugen seiner Herrlichkeit. 10. Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger Freudebransend an das Herz. Oie beiden des jungen Werther. 1774. Aus dem 1. Buch. I. Am 10. Mai. Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich dem süßen Frühlingsmorgen, den ich mit ganzer Seele genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen niir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen an meinem Herzen fühle und fühle die Gegenwart des All¬ mächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, — mein Freund, wenn's dann um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: Ach, könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! — Mein Freund — Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.