163 daß er dorthin sich zu wenden habe, wo sie sich frei von den Mängeln entfaltet hatte, die an den Meistern der Heimat, selbst dem Vater Ra¬ phaels, noch gehaftet. Unter diesen Umständen konnte die Wahl nicht lange schwankend bleiben. Von den Meistern der umbrischen Maler¬ schule hatte zu dieser Zeit keiner einen so weit verbreiteten Ruhm und so viele Aufträge, als Pietro Vannucci von Citta della Pieve, und da er um jene Zeit in Perugia sich niedergelassen und viele junge Künstler als Schüler bei sich aufgenommen, so kam auch Oheim Ciarla mit dem Vormund Don Bartolommeo Santi überein, das überraschend sich entfaltende Talent Raphaels dem Meister in Perugia anzuvertrauen. Wer in sich — und wär' es im bescheidensten Maße — das Glück des künstlerischen Schaffens empfunden, wem es nur einigermaßen ge¬ lungen, das, was Aug' und Herz im Leben und in der Natur erfreut, nachzubilden, daß es mit dem Schein der Wirklichkeit vor ihm steht; oder gar, Gestalten aus der Erinnerung oder aus der Phantasie auf das Blatt oder die Tafel überzutragen; ja, wer selbst nur aus der Be¬ trachtung fremden Lebens die Wonne kennt, mit der ein erwachendes Talent seinen Erstlingsversuchen sich hingiebt: der wird sich in die Seele des beglückten Knaben versetzen können, dem, was er unternahm, ohne Mühe und Fehler gelang, dem die Hand folgte, wie der Fittig dem Vogel, zum Erstaunen und zur freudigen Bewunderung aller, die es sahen. Aber er weiß auch, daß ein unbefriedigter Drang das Talent vorwärts treibt, daß der Erfolg seiner Thätigkeit ihm nie oder nur un¬ vollkommen genügt, und daß sich damit das Verlangen nach Unterweisung regt und zur Begierde steigert, der Kenntnisse und Fertigkeiten der Er¬ fahrenen teilhaft zu werden. Wie lebhaft muß diese Sehnsucht in dem Knaben Raphael gewesen sein, der noch in späteren Jahren, wo er längst das Entzücken der Welt geworden, von sich sagte, daß er einem Ideal nachstrebe, ohne es erreichen zu können! Wie groß muß seine Freude gewesen sein, als sein Oheim ihm den Entschluß mitteilte, ihn zu einem Meister in die Lehre zu geben! und wie mag er gejubelt haben, da er erfuhr — kein anderer, als der bedeutendste von allen, die er¬ nennen gehört, den schon sein Vater hoch gepriesen, dessen Name durch das ganze umbrische Land von Mund zu Mund getragen, von jeher sein Herz mit tiefer Achtung und ahnungsvoller Sehnsucht erfüllt, kein anderer als Meister Pietro in Perugia solle sein Lehrer werden und sei bereit, ihn in seine Schule aufzunehmen! Zum erstenmale erschloß sich vor den Augen des zwölfjährigen Knaben die weite Welt. Denn wenn er auch mit seinem Vater vielleicht in Cagli gewesen, als dieser dort beschäftigt war: — unendlich weiter ii*