292 Christian Graf zu Stolücrg (1748—1821.) Christian Graf zn Stolberg. (1748—1821.) Geb. ani 15. Ortober 1748 zu Hamburg, ftubirte in Göttingen die Rechte, gehörte zum Hainbünde, wurde 1777 Amtmann zu Tremsbüttel, 1800 dänischer Kammerherr, und starb am 18. Januar 1821. — Er schrieb einiges Lyrische, Schauspiele mit Chören und Uebersetzungen aus dem Griechischen. An meinen Kruder. Zum Geburtstage 7. Itavcmbcr (1778). Auf! mit des Adlers Schwingen fleuch ! Lodert in der Jünglinge Brust, Hin zu ihm, mein Gesang, und mit dir Mein frohlockender Morgengruß! Hin zu ihm, der mir ist, Was kein Sterblicher je Sterblichen war! Röthliche Schimmer erwachen schon; Sie verkündigen den Tag, Ach, den entzückenden, Der dich, Lieber, ins Leben rief! Seht, wie er pranget im herbstlichen Schmuck! Feiernd naht er und stolz, umtanzt Von der Stunden Reigen, und begrüßt Von der Sonne, dem Mond und dein weilenden Eile, der du mir schwebst Auf der lechzenden Lippe, Bruderkuß! Schnell gleit' auf dem ersten Strahl, Feuervoll und erquickend, wie er, Hin zn ihm, der mir ist, Was kein Sterblicher je Sterblichen war! Lagre behend auf seine Lippe dich, Scheuche nicht den Morgentraum, Der mit duftenden Kränzen, Der mit windenden Epheuranken Fesselt den Schlummernden! Träufle deinen Honig, und laß das Bild Ach, mein Bild! Vor seiner ahnenden Seele schweben, und mit ihm Schmachtende Sehnsucht, ach, nach mir! Dann erweck' ihn ungestüm, mit dem Fit- Der Lieb', und ruf' es laut stichschlag Mit Flaminenwort ihm zu: Daß er mir sei, Was kein Sterblicher je Sterblichen war! Mein Bruder! Siehe, wie sie bebt Der Freude Zähre, Daß du's bist, und daß du Mehr denn Bruder und Freund, Daß du bist Meines Herzens Vertrautester! Sage, keimte dir je, Sproßte mir je ein Gedank', Dessen Hülle nicht du Hobest, nicht ich? Wie, durch der heil'gen Natur Tief verborgne Wunderkraft, Der unberührten Leier Saite bebt, Wenn des Sängers Stimme den Ton Der bebenden hallt: O, so stimmte Mutter Natur Unsrer Zwillingsseelen Immer tönende Harmonie! Tönend, wenn das Feuerblut Tönend, wenn der Rührung Zähre sanft Ueber die blässere Wange rinnt. Bruder! uns ist gefallen das Loos Lieblich, unser Erb' ist schön! Ach, aber warum traust In des Jubels Becher die Thräne? Ach, warum sind ivir getrennt? Heute getrennt? Wie nach dem Thau das Sommergefild, Wie die Sonne lechtzt nach des MeeresSchooß', Wie der Weinstock nach der beschattenden Ulme strebet: (Stern! O, so streb' ich, so lechz' ich nach dir, Der du mir bist, Was kein Sterblicher je Sterblichen war! Kehre wieder, du der Freude Tag, Segenschwanger und triefend Deine Tritte von Milch, Von Honig Und von der Nebe Blut! Immer komm, die Schläfe bekränzt, Mit herbstlichem Schmuck! j Ach, bald nahet auch uns Unser Herbst! Auch er komme, die Schläfe bekränzt, Mit unvergänglichem Schmuck; Und mit Früchten, o! mit Früchten, Mit unvergänglichen, Reich beschwert! Nimmer sind' uns dann, schöner Tag, Wie heute getrennt! O, Erfüllung, Erfüllung, Des sehnlichsten Wunsches Erfüllung! Hell blickt mein Aug' In der Zukunft Fern', es späht Goldne Tag' am Ende der Bahn! Endlich koinnit der Winter einher, Ein sanfter freundlicher Greis, Beut uns beiden die Hand, und führt, O der Wonn'! uns ungetrennt Dorthin, wo unter Lebensbäumen, Wo, in Lauben der Himmlischen, Ach, unter eurem fruchtbelasteten, Ruhe gewährenden Feigenbäume, Dorthin, ach! wo unter eurem Freud' und Schatten Bietenden Weinstock, Bester Vater! und du, Die mich gebar, beste Mutter! Wechsellos blühet Ewiger Lenz.