712 Aphorismen. 82. Gegner glauben uns zu widerlegen, wenn sie ihre Meinung wiederholen und auf die unsrige nicht achten. Goethe. 83. Die wahre Liberalität ist Anerkennung. Goethe. 84. Was man mündlich ausspricht, muß der Gegenwart, dem Augenblicke gewidmet sein; was man schreibt, widme man der Ferne, der Folge. Goethe. 85. Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, ivie Kindheit sich zu Kind ver hält, so das Verhältniß Volkheit zuni Volke ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr; dieses weiß niemals vor lauter Wollen, was es will, und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der all¬ gemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt, den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt. Goethe. 86. Eine politisch-religiöse Feierlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen die irdische Majestät vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer Macht; aber indem sie sich vor der himmlischen beugt, bringt sie uns die Gemeinschaft beider vor die Sinne; denn auch der Einzelne vermag seine Verwandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu bethätigen, daß er sich unterwirft und anbetet. Goethe. 87. Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Conflict des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der.Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitivelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und, wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nach- weit, weil sich niemand gern mit Erkenntniß des Unfruchtbaren abquälen mag. Goethe. 88. Die leisen Stimmen der Erinnerung lehren uns oft weit mehr, als der Donner der Gegenwart mit seinem betäubenden Eindrucke. Sailer. 89. Schicksal war den blinden Heiden blinde Nothwendigkeit; die Nothwendigkeit bekain im Mosaismus ein Auge, hieß Providenz; erhielt im Chriftenthume ein Herz, und heißt ewiger Wille der heiligen Liebe. Sailer. 90. Ueber Geschichte kann niemand urtheilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Goethe. 91. Gibt es einen Zufall in Kleinigkeiten, so kann die Welt nicht mehr gut sein, noch bestehen. Fließen Kleinigkeiten aus ewigen Gesetzen, wie ein Säeulum aus unend¬ lichen Tagen von selbst besteht, so ist es eigentlich die Vorsehung in den kleinsten Theilen, die das Ganze gut macht. Hamann. 92. Gott hat die Natur nicht sich und dein Menschen als Spiegel hingestellt, damit dieser nur sein Bild selbstgefällig wiederfinde, sondern damit er in ihr und durch sie Gott in sich gewahre, und in Liebe zu ihm neige. Hat er nur sich in der Natur gefunden, dann hat diese sich in ihm gefunden, und die Uebermüchtige zieht ihn zu sich herab; hat er aber Gott in ihr und, im Reflexe von ihr, in seinem eigenen Wesen wahrgenommen, dann hat Gott auch seiner wahrgenommen, und der Starke zieht ihn zu sich hinauf, und er ist jener niederziehenden Wucht entnommen. Görres. 93. Einige Weltweise von der glänzenden Bank können sich nicht genug daran ärgern, daß andere die Erde als ein Jamnicrthal ansehen. Allein auf die Worte kommt es ja nicht an; und Jammer ist doch da, und viel Jammer ist da, und keine Weltweisheit und keine Wissenschaft hat noch den Samen des Jammers gelödtet. Das ist die Sache; das Wort kann man wohl preisgeben. Sailer. 94. Leiden sollen läutern, sonst hat man gar nichts von ihnen. Zurückgeschlagen werden sie nicht durch Freuden; diese führen sie nur ergrimmter zurück;. sondern durch tapfere Arbeit und Anstrengung. Tragen ist schwerer als Thun, weil jenes länger dauert;