716 Abriß der Rhetorik. Denkens, oder die philosophisch entwickelnde; aber auch der Ausdruck der Empfindung und des Affects kaun sich in diesem Gebiete der Prosa halten (z. B. in Briefen), ivird jedoch häufig ins Oratorische übergehen oder zu einer Art lyrischer Poesie werden. 3. Die oratorische Prosa, welche, die beiden vorhergehenden Elemente mit einander verbindend, den Stoff theils als einen gege¬ benen auffaßt, theils aus dem Innern werden läßt, immer aber der Form nach aus dem Momente heraus spricht, und ihrem Wesen nach stets iv oll end, d. i. mehr innerlich han¬ delnd, als darstellend ist, indem sie alle Dar¬ stellung einzig auf den Einen Zweck richtet, bei andern eilten Willensentschluß, eine Zu- stilnmung hervorzubringen. Ihr eigentlicher Gesichtspunkt ist also auf die Zukunft gekehrt, lvie er bei der historischeil auf die Vergangen¬ heit oder Vollendung, und bei der philosophi- scheil auf die unmittelbare Gegenwart gerichtet ist. Die historische Prosa gilt vorzugsweise dem Gedächtniß, die philosophische dem Ver¬ stände, uild die oratorische dem Willen. Die¬ sen drei Grundformen der Prosa entsprechen in der Poesie die epische, die lyrische, die dramatische. (Siehe unten bei der Poetik, 8. 18, S. 750.) Einzelne besondere Formen der Prosa lassen sich auf die eine oder andere der Grund¬ formen zurückführen, oder sind gemischter Art. Die Briefe können je nach ihrer Fassung zu allen dreien gehören, je nachdem sie erzäh¬ len, beschreiben, philosophircn, Gefühle aus¬ sprechen oder zu einem Entschlüsse bestimmen ivollen; ihr Eigenthümliches besteht nur darin, daß bei dem Schreiben immer zugleich die Person mit einwirkt, an welche sie gerichtet werden. — Der Dialog ist eineKunstsorm, welche, tveitn es wahrhaft ein Dialog ist, in der Mitte zwischen Drama und oratorischer Darstellung liegt; denn auch die Rede ist ihrem Wesen nach Gespräch (vergl. den Aussatz Nr. 72, Seite 621). — Geschästsaufsätze ge¬ höreil als solche nicht der eigentlichen Dar¬ stellung an; sie erfordern nur die Kenntniß gewisser conventioneller Formen; wo sie in Darstellung übergeheil, wird sich auch eine der drei Grundformen als vorwiegend be- merklich machen, und zivar meistens historischer Bericht oder oratorische Anrede. 8- 3. Die Rhetorik nun im weiteren Sinne sollte sich über alle diese verschiedenen Darstellnngs- weisen verbreiten; allein die historische Prosa und, ihrem Wesen nach, auch die philosophische haben zunächst nur die Eine Aufgabe: wahr und klar zu sein; der Stoss hängt lediglich 1. bei dem Historischen non dem Vorrath des thatsächlich Gegebenen, und 2. bei dem Philosophischen von dem persönlichen Ge- dankenreichthum ab; alle übrigen etivaigen Anforderungen werden im Einzelnen mit dem¬ jenigen zusammenfallen, ivas die eigentliche Rede zu leisten hat, die da einen Gegenstand bis zur vollen Ueberzeugung eines Andereil darstellen soll; daher auch Name und Inhalt der Rhetorik sich zunächst auf die or atvrisch e Darstellung beschränkt hat. Wir geben im Folgenden nur die Grund¬ züge der Rhetorik, wie sie schon bei den Alken, besonders durch Aristoteles, Cicero und Duitu Man, gestaltet und durch alle Zeiten im We¬ sentlichen festgehalten worden sind. Dabei ist aber zweierlei zu bemerken: 1. daß alle Theorieen von Künsten ilur geivisseHaltpnnkte, oft nur Namen bieten für das, was bei dein Künstler und Denker selbst unbewußt aus der Natur seines Geistes quillt, und daß daher nicht die Theorie, sondern vorzüglich eigene Uebung den Meister zu machen fähig oder förderlich ist; 2. daß durch die unvermeidliche Form der Rhetorik scheinbar ein Element der kalten Berechnung und der künstlichen Ueber- redung sich hindurchzieht, welches eben so sehr dem höheren Princip der sittlicheil Wahrheit, als dem tiefer wurzelnden der wahren Knilst widerspricht. Der beste Redner ist der, welcher mit gründlicher Wissenschaft und Einsicht eine volle uild warme Ueberzeuguilg verbindet und dazu dann die Gabe des Wortes von Gott empfangen hat. I. Ueber die Mfiuduug. 8. 4. Der Gegenstaild einer Rede ist eiltweder 1. eiil allgemeiner (thesis), z. B. über bett Werth der Tugend; oder 2. ein besonderer (hypothesis), z. B. Vertheidigung des Sokrates. — Dem Zwecke nach gibt es drei Arten von Reden: 1. die erweisende (oratio demon¬ strativa), zum Lobe oder zunl Tadel, mm Personen oder Sachen; dazu gehören die meisten Gelegenheits- uild Belehrungsreden; 2. die berathschlageilde (or. deliberativa), zur Anrathung oder Abrathung; dazu besonders die sogenannten parlamentarischen Reden; 3. die g er i ch t l i ch e (or. judicialis), zur Anklage oder Vertheidigung vor Gericht. Die Erfindung nun (inventio) hat es zu thun mit der Aufsuchung des Gedankenstosfes für die einzelnen Theile der Rede. Die Haupt- theile einer umfassenden mld eindringlichen Darstellung sind der Natur der Sache nach: 1) Der (Hittgaug (exordium). 2) Die Darlegung der Sache (expositio s. narratio).