734 Abriß der Poetik. ». Abris; dcr Poetik. (Vergleiche hierzu die Lesestücke Nr. 74-78. S. 626—647. worin namentlich über dag Wesen der Poesie und über die verschiedenen Dichiarien so vieles zusammengestellt ist. daß sie einen hinreichenden Stoff zur mündlichen Besprechung bieten, und wir gerade über diese wichtigsten Abschnitte der Poetik uns hier kurz fassen können.> Einleitung. §. 1. Poesie. Poetik ist die Lehre von der Dichtkunst, d. h. von den allgemeinen Regeln und Ge¬ setzen derselben, wie sie sich aus dem Wesen der Poesie und aus der Betrachtung der wirklichen Dichterwerke erheben. Der Zweck der Poetik ist: 1. dem wirklichen Dichter Anleitung und Haltpunkte zu geben; zum Dichter als solchem muß einer geboren sein; aber wie jede Kunst, so hat auch die Dicht¬ kunst vieles, was erlernt werden kann und erlernt werden muß; 2. die Dichterwerke besser zu verstehen und zu würdigen; und dadurch 3. die ästhetische Bildung des Geistes zu fördern. Keine andere Kunst ist dafür so allgeinein geeignet, als die Poesie, weil keine andere sich eines so allgemeinen Mittels bedient, nämlich der Sprache, und weil die Poesie im weiteren Sinne zugleich die Seele aller anderen Künste ist. Poesie ist die Darstellung des Schönen durch die Sprache. Das Wesen des ästhetisch Schönen beruht in der Versinnlichung des Geistigen, und daher auch umgekehrt in der Vergeistigung des Sinnlichen, indem ja da¬ durch das Sinnliche nur als der Ausdruck von etwas Geistigem nachgewiesen wird. Das Geistige kann man im Allgemeinen Idee nennen; tritt nun die Idee in einer anschau¬ lichen, d. i. versinnlichten Form unmittelbar wie ein Lebendiges vor unsere Seele, so sind mir im Genusse des Schönen; es muß also nicht die Idee als solche und daneben die Form als solche sich geltend machen, sondern beides muß in lebensvoller Einheit erscheinen, wie der menschliche Leib nüt dem Ausdrucke der Seele. Gottes Schöpfung ist die gött¬ liche Darstellung des Schönen; alle seine Werke sind schön; denn in allem ist das höchste Geistige vollkommen versinnlicht und in Form getreten. Aber die Schönheit der göttlichen Werke ist für uns getrübt durch die Sünde; wir sehen nicht mehr im Steine un¬ mittelbar die geistige Schönheit, kaum noch in der Fülle des Frühlingslebens; ihre An- ¡ schauung muß erst wieder vermittelt werden durch eine Erhöhung unseres geistigen Blickes, durch die Poesie, durch die schönen Künste. Das höhere mystische Leben (vergl. S. 704, Nr. 433) ist gleichsam eine fortwährende vollendete Kunstanschauung; daher auch die echt mystischen Schriften durch und durch poetisch find. Eben so mußte das Leben im Paradiese eine fortwährende vollkommene An¬ schauung und Darstellung des Schönen sein, selbst in Stimme und Bewegung. Ja, die Sprache als solche, das lebendige Wort, ist durch sich selbst schon eine Darstellung des Schönen, eine Kunstausübung, indem dadurch etwas Geistiges versinnlicht wird; aber die unmittelbar anschauliche Form des Wortes ist verblichen und muß erst durch die Kunst des Sängers wiederaufgefrischt werden; im Jugendalter der Völker aber offenbart die na ürliche Poesie des Wortes überall ihre Ge¬ walt, und die ersten Sprachwerke sind ge¬ wöhnlich Dichterwerke. Aus dem Wesen des Schönen, als einer Versinnlichung des Geistigen, ergeben sich die allgemeinen Anforderungen an ein schönes Kunstwerk. Das Sinnliche ist seiner Natur nach wahrnehmbar für die Sinne; daher die Anforderung der Anschaulichkeit, der durch¬ sichtigen Klarheit, der unmittelbaren Ein¬ wirkung auf den betreffenden Sinn. Das Sinnliche ist seiner Natur nach ein Vielfaches, ein Ausgebreitetes; das Geistige ist seiner Natur nach ein Einheitliches, Einfaches; da¬ her die Hauptanforderung an das Schöne; Einheit in der Manchfaltigkeit. Die vollen¬ dete Verbindung des Geistigen mit dem Sinn¬ lichen leidet nichts Ueberflüssiges in der Form und eben so wenig Mangelndes; daher die Anforderung, daß das Kunstwerk ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sei, und daß es im Einzelnen eine organischeNothmendigkeit offen¬ bare, kurz, daß die Form wie aus der Idee, oder vielmehr zugleich mit der Idee heroor- gewachsen erscheine. Das Geistige ist seinen; Ursprünge nach aus Gott; daher die An¬ forderung der Würde, des Edlen, des der Sittlichkeit nicht Widerstrebenden, kurz, des Idealen im reinen Sinne des Wortes. §. 2. Der Stoff. Bei einem Gedichte, wie bei jedem Kunst¬ werke, kann man unterscheiden: t. den S t o f f; 2. den Gehalt, und 3. die Form. 1. Der Stoff besteht in dem eigent¬ lichen Objecte der Darstellung, in dem Gegen¬ stände. der poetisch erfaßt, gestaltet und zur Anschauung gebracht werden soll. Er ist als solcher ein gegebener, selbst dann, wenn ihn der Dichter erfindet; soll ja auch der ersun-