Älles, was wir sprechen und schreiben, ist entweder Poesie oder
Prosa. Aber nicht alles, was in Versen geschrieben ist oder sich
reimt, ist deshalb Poesie. Eben so wenig ist alles, was nicht in
Versen ausgedrückt ist, darum Prosa; es kann auch Poesie sein.
Der Inhalt also und die Art des Ausdrucks muß entscheiden, ob
es Poesie oder Prosa sei.
Das, was in Versen geschrieben ist, nennen wir gebundene
Rede, gleichviel ob es Poesie oder Prosa ist; denn es giebt auch
gereimte Prosa. Das, was nicht in Versen geschrieben ist, heißt
ungebundene Rede, und diese kann sowohl Poesie als Prosa
sein. Jedoch besteht die meiste Poesie in gebundener, und die
meiste Prosa in ungebundener Rede; nur darf dies nicht als
Regel angenommen werden.
Wodurch unterscheiden sichnunPoesieund Prosa? —
Die Prosa drückt das ans, was wir gedacht, die Poesie das,
was wir empfunden oder was wir durch die Einbildungskraft
erzeugt haben. In jener herrscht also der ruhig betrachtende Ver¬
stand, in dieser das aufgeregte, begeisterte Gefühl. Jene soll
Andere von der Wahrheit dessen, was ich sage, überzeugen; sie
sollen meinen deutlich ausgedrückten Gedanken folgen; es sollen
dieselben Gedanken in ihnen erzeugt werden, damit sie die Richtig¬
keit meiner Aussprüche einsehen. Der Hauptzweck der Prosa ist
also Wahrheit. — Die Poesie dagegen geht von der Begeisterung
des Gefühls für das Schöne, Edle, Große, und von einer lebhaften
Einbildungskraft aus. Der Dichter läßt seinen Empfindungen
freien Lauf, drückt sie in einer edlen, lebhaften Sprache, in einer
ansprechenden Form aus, und findet in dem Herzen jedes fühlenden
Literaturgesch. v. Nesselt. I. 6. Aufl. 1