MerargeschichLlLcher Überblick. obald ein Volk im Verfolg seiner Entwickelung zum Selbstbewußtsein gelangt, d. h. sobald es sich als Gesamtheit fühlt, beginnt seine Geschichte. Anfangs freilich ist dies Selbstbewußtsein eben nur erst ein mehr oder minder dunkles Gefühl; allmählich indes reist dasselbe zur vollen, klaren Erfassung der geschich tlichen Existenz heran und wird dann zugleich, bedingt durch den Einfluß fremder Elemente, der Träger der Sittlichkeitsbegriffe. Da nun ferner der Jdeenkreis, das geistige Ver¬ mögen eines Volkes, stets seinem jedesmaligen geschichtlichen oder sittlichen Standpunkte entsprechen wird, so ergiebt sich, daß dasselbe in seiner ersten Entwickelungsperiode die Ereignisse gleichsam mit dem Auge eines Kindes ansieht, will sagen, daß ihm alles nicht in der wahren Gestalt, sondern immer größer erscheint und ihm somit seine eigene Geschichte zur Sage wird. Hieraus aber folgt weiter, daß die ersten von ihm selbst ausgehenden Kundgebungen eines Volkes poetischer, und zwar epischerNatur sein müssen, und in der That finden wir denn auch die Richtigkeit dieser Schlußfolge überall bestätigt. Immer und überall geht der eigentlichen Geschichte eines Volkes ein Kreis von Sagen („Mythen") voraus, die ihrer äußeren Form nach stets auch den Charakter der Dichtung an sich tragen. Mit dem Zunehmen der Selbstän¬ digkeit verliert sich jedoch das mythische Element je länger je mehr; die poetischen Produkte erhalten ein mehr reales Gepräge, denn nun liefern die Thaten der Helden und Könige, oder aber wichtige Ereignisse, von der Ge¬ samtheit des Volkes empfunden, den Stoff, dem gegenüber? die Subjektivität des Dichters fürerst noch ganz in den Hintergrund tritt. Erst im weiteren Entwickelungsgänge nnd je mehr das Volk mit der Außenwelt in Berührung trtit, löst sich dieses Gebundensein an jene Objekte; die Wahl des Stoffes wird immer freier und auch die Behandlung desselben insofern von der früheren verschieden, als jetzt die Subjektivität des Dichters mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Die Völker des Altertums vermochten in Folge ihrer größeren Abgeschlossen¬ heit begreiflicherweise sich selbständiger zu entwickeln als die Völker der Neuzeit, die unter sich mehr oder weniger wechselseitig verbunden sind, und bei den letzteren macht sich denn auch fast immer, je nach den Zeitverhültnissen, der Einstuß des einen Volkes über das andere auch in Beziehung auf die Poesie geltend und wirkt bald störend oder hemmend, bald fördernd. Unterliegt nun ein Volk nach dieser Seite hin fremdem Einflüsse, so schwindet sein Nationalgefühl, übt es dagegen umgekehrt selbst Einfluß auf ein anderes aus, so ist dies ein Zeichen von innerer Kraft, von moralischem Selbstbewußtsein. Wir unterscheiden somit unter Bezugnahme auf das Vorhergehende drei Entwickelungsperioden der Dichtkunst. In der ersten Periode begegnen wir nur dem mythischen Epos; in der zweiten neben dem eigentlichen he¬ roischen Eposden Anfängen der Lyrik; in der dritten Periode endlich erhebt F. Knauth, Sieben Bücher d. Dicht. 6. Aufl. ]_