24 HI. Mittelhochdeutsche Zeit. A. Erste Blütezeit der deutschen Dichtung. 45 Nun wohl erkennend, wie ihr Sang Des Söhnleins Herz so sehnend zwang, Schwur Haß den bösen Vögeln sie, Und daß ihr Singen nie mehr hie Ihr Kind betrübe, sandte Knechte 50 Sie aus, dieVöglein, gut'und schlechte, Zu fangen all' und umzubringen. Doch Vöglein waren wohl beraten; Gar manche schlüpften ans den Schlingen, Und süßer nur durch Hain und Saaten 55 Schien nun ihr Liedchen zu erklingen. Der Knabe drauf zur Kön'gin sprach: „Was stellt man doch den Vöglein nach ? Weh, Mutter, wende ihre Not, Gieb ihnen Frieden noch zur Stund'!" 60 Die Mutter küßt' ihn auf den Mund Und rief: „Wie tonnt' ich das Gebot Des höchsten Gottes auch verkehren, Der sie zu Freuden nur erschuf!" Der Knabe horchte ihrem Ruf 65 Mit Acht und sagte: „Laß mich hören, Mutter mein, was ist das: Gott?" „Mein Sohn, ich sag' dir sonder Spott," Begann sie, „wie der Tag so licht Ist er, von Menscheuangesicht; 70 Ihn flehe au in jeder Not, Denn stete Hilfe immer bot Barmherzig er der Welt und liebend! Doch einer heißt der Hölle Wirt; Schwarz ist er, Untreu'stets nur übend. 75 Wie der auch lockend dich umgirrt, Stets wende von ihm die Gedanken, Von ihm und von des Zweifels Wanken!" So lernt' er Licht und Finstres unterscheiden Und Gutes üben und das Böse meiden. 80 Gar herrlich wuchs der Knab' heran, Mit Mut und Stärke angethan. Schon warf den Jagdspieß er gewandt, Und mancher Hirsch wird sroh verzehret, Ten er erlegt mit seiner Hand. 85 Es fand das Wild sich arg beschweret Durch seine Kunst; denn gleicherweise, Ob blumeusprossend, ob von Eise Die Erde starrend war, ihm galt Es einerlei, er ging zum Wald. Und also nahm er zu an Kraft, 90 Daß oft er heimkam so beladen, Daß kaum ein Maultier ohne Schaden Die Beute hätte weggeschafft. So ging er auch an einem Tag Nach seiner Art dem Weidwerk nach, 95 An einem Berghang niederschweifend Und auf dem Blatt dem Wilde pfeifend. Da tönte Hufschlag zu ihm her. Er greift geschwind zu seinem Speer Und lauscht. „Was war's, das ich 100 vernommen? Will etwa gar der Teufel kommen ! Mit Zornes Grimm ? Er mag nur g ehu Ich würd' ihn sicherlich bestehn. Die Mutter Grauses von ihm sagt; Doch mein' ich, an Mut ist sie verzagt." 105 So stand er da in Streitbegehr, Sieh, da trottierten Ritter her, Gewappnet alle gar und ganz, Hell blitzend in der Sonne Glanz; Der Knabe wähnte sonder Spott, 110 Ein jeder ihrer sei ein Gott. Drum warf er nieder auf die Knie' Sich mitten in den Weg und schrie: „Hilf, Gott; denn du kannst Hilfe reichen!" Der Vorderste hieß zornig weichen 115 Den unberatenen Waleisen, Der ihn im vollen Laufe still Zu halten zwang mit seinem Preisen; Wobei ich nur bemerken will: Den einen Ruhm wie an uns Bayern 120 Muß ich auch an Waleisen feiern; Denn tapfer zwar, täppischer doch Als bayrisch Volk sind diese noch; Wer sein Geschick in diesen beiden Landen Zur Welt mitbringt — ein Wunder ist vorhanden. 125