134 seine Jugendlichkeit und Frauenhaftigkeit erkannt, so darf auch die dritte Eigentümlichkeit desselben, das Musikalische, Klangvolle seiner Form, nicht übergangen werden. Die meisten dieser Lieder wurden von den Dichtern selbst gesungen, pflanzten sich durch Gesang fort und waren auf die Begleitung mit der Zither und Geige berechnet, weshalb wir denn auch von einigen unter ihnen sogar noch die Noten haben. Uns Neuern nun, die wir von keinem dieser Lieder die Gesangsweise kennen, die wir sie nur mit den Augen singen hören, indem wir die steifen toten Buchstaben, durch die sie uns aufbewahrt sind, lesend durchlaufen, uns ist das mannigfaltige Leben der Töne, das sie durch¬ wob, eigentlich verloren gegangen. Und dennoch schallt uns auch noch jetzt aus ihnen ein wunderbares Gewimmel von Klängen entgegen, von denen keiner dem andern ähnlich klingt, so sehr ein Grundton durch sie hindurch geht; dennoch lassen sie uns auch jetzt noch durch ihre klangreiche volle Sprache, durch ihren Wohllaut des Reimes, durch ihre bald kurzabgebrochenen, bald langgezogenen Zeilen, durch ihren künstlichen dreiteiligen Strophenbau ahnen, daß sie zu ihrer Zeit wie Musik, wie Gesang der Waldvögel geklungen und die Herzen der Hörer aufs höchste bezaubert haben. Diese Dichter haben sich selbst Nachtigallen genannt, und fürwahr, man vermöchte den überreichen und nie zu erfassenden Ton dieser Lieder kaum passender auszudrücken, als durch dieses vom Vogelgesang entnommene Gleichnis. Denn wenn wir auch von weitem in diesen Minnepoesieen einen Grundton zu vernehmen meinen, so will doch, wenn wir näher treten, keine Weise der andern gleich sein; es ist der¬ selbe Hauptgedanke, aber in der verschiedensten Mannigfaltigkeit. So darf man denn in Wahrheit sagen, daß von keinem dichtenden Volke die geheimnisvolle Natur des Reimes und der ganze Schmelz und Zauber der Sprache so offenbart ist, als von unserem deutschen Volke in der Minnepoesie. Wem die süßen melodischen Klänge derselben bekannt sind, dem wird es nicht im entferntesten einfallen, die Italiener um die Melodie ihrer Sprache zu beneiden, denn hier ist ein viel größerer Liebreiz, eine viel reichere Musik der Verse, als in allen Sonetten und Kanzonen Welschlands. K. ISarthet, Die klassische Periode der deutschen Nationallitteratur im Mittelalter. 31. Die Tiersabel. Die Poesie, nicht zufrieden, Schicksale, Handlungen und Gedanken der Menschen zu umfassen, hat auch das verborgene Leben der Tiere bewältigen und unter ihre Einflüsse und Gesetze bringen wollen. Ersten Anlaß hierzu entdecken wir schon in der ganzen Natur der, für sich selbst betrachtet, aus einer poetischen Grundanschauung be¬ ruhenden Sprache. Indem sie nicht umhin kann, allen lebendigen.